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BAND 15
GEORG LUKACS
Entwicklungsgeschichte
des modernen Dramas
LUCHTERHAND
¥ 28 Mit dem Krisztina Lukécs-Preis der Kisfaludy-
LS Bs” Gesellschaft ausgezeichnete Preisschrift
46D Herausgegeben von der Kisfaludy-Gesellschaft
{ Gor aus den Mitteln der Arthur-Visérelyi-Wodianer-Stiftung
re) Budapest, Franklin-Tarsalat, 1911
bof IS Deutsche Originalausgabe
iibersetzt von
Dénes Zalan, Erlangen
Vorwort
Erstes Buch
Grundsatzfragen
1 Das Drama 17
1 Das moderne Drama 52
Zweites Buch
Drittes Buch
Viertes Buch
Der Naturalismus
Fiinftes Buch
Sechstes Buch
Personenregister 585
#2
Die Hauptfrage des Buches ist also: Gibt es ein modernes Drama und
welchen Stil hat es? Diese Frage ist aber wie jede Stilfrage vor allem eine
soziologische Frage. Die erschépfende Behandlung dieses Themas gehért
natiirlich nicht in den Rahmen dieses Buches. Ich kann nur einige allgemeine
Bemerkungen machen.’
Zwischen bestimmten Epochen sind die trennenden Unterschiede tiefer als
zwischen verschiedenen Individualitaten der gleichen Epoche. Jene grofen
Abweichungen, die z.B. bei der Beurteilung von Bildern oder Statuen
taglich vorkommen mégen, sind bei der Bestimmung einer Epoche viel
seltener.
Und doch: es gibt kaum Literatursoziologie. Die Ursache hierfir liegt
= glaube ich ~ in erster Linie in der Soziologie (davon abgesehen, da von
recht vielen Autoren jede wahre Synthese gescheut wird), in ihrer Ambition,
die wirtschaftlichen Verhiltnisse einer Zeit als letzte und tiefste Ursache
ihrer gesellschaftlichen aufzuweisen und dadurch die unmittelbare Ursache
der kiinstlerischen Erscheinungen aufzuzeigen. Und diese sehr plétzliche
und allzu einfache Verbindung ist so ins Auge fallend und grell inadaquat,
da8 auch die sich der Wahrheit inhaltlich anndhernden Resultate keine
tiberzeugende Wirkung hervorzurufen vermégen. Die gréften Fehler der
soziologischen Kunstbetrachtung sind, daf sie in den kiinstlerischen Schép-
fungen die Inhalte sucht und untersucht und zwischen ihnen und bestimm-
ten wirtschaftlichen Verhiltnissen eine gerade Linie ziehen will. Das wirk-
lich Soziale aber in der Literatur ist: die Form. Die Form macht das Erlebnis
des Dichters mit den anderen, mit dem Publikum, tiberhaupt erst zur
Mitteilung, und die Kunst wird - in erster Linie - durch diese geformte
Mitteilung, durch die Méglichkeit der Wirkung und die tatsichlich entste-
hende Wirkung eigentlich erst sozial. Freilich, in der Anwendung gibt es
viele Schwierigkeiten, da eben die Form niemals zum bewuften Erlebnis im
Aufnehmenden wird, ja, sogar nicht einmal in ihrem Schépfer. Der Aufneh-
mende glaubt wirklich daran, da8 die Inhalte auf ihn gewirkt haben und
nimmt nicht wahr, daf er mit Hilfe der Form iiberhaupt erst in die Lage
versetzt wurde, das zu konstatieren, was er als Inhalt ansieht: das Tempo,
den Rhythmus, die Hervorhebungen und die Weglassungen, die Einstellun-
* Diese Frage habe ich in meiner Arbeit »Zur Theorie der Literaturgeschichtee ausfihrlicher
besprochen. Sie erschien in der Festschrift fir Bernét Alexander. [Anm. v. G. L.]
Vorwort 11
gen von Licht und Schatten etc. -, da& diese alle die Form, alle ein Teil der
Form sind, alles Wege sind, die zur Form als zum unsichtbaren Zentrum
fahren. Der Aufnehmende nimmt nicht wahr, daf (in der Kunst) Nichtge-
formtes nicht existiert, und dafi also das, was er als inhaltliche Wirkung fihle,
dies in nur sehr kleinem Mage ist; da noch die starkste inhaltliche Wirkung
nur daher so stark ist, weil, eben mit Hilfe der Form und nur durch sie, aus
jeder Wirkungsméglichkeit der Materie tatsichliche Wirkung entsteht. Dem
schdpferischen Geist jedoch kommt selten die Form zu BewuStsein. Er hat
Erlebnisse und technische Probleme; er kampft um den unmittelbaren
Ausdruck, und seine Probleme liegen teilweise diesseits, teilweise jenseits der
Form. Und sehr oft kommt ihm in diesem Kampf auch nicht zu Bewuftsein,
da8 die technischen Lésungen nur Wege sind, die zur Form fiihren. Entwe-
der wei der Schipfer jetzt, da8 er zu ihr strebt oder nicht. Und noch
weniger Kiinstler fithlen, da das, was sie »Erlebnis«, Leben, und zwar
Leben als Stoff ihrer Dichtung, nennen, keinen Augenblick von der Form
unabhangig ist. Die Formvision eines Kiinstlers in sich selbst ist keine
isolierte seelische Erscheinung, die nur dann beginnt tatig zu werden, wenn
¢s sich um die Formulierung handelt, sondern sie ist ein sich stets mit
kleinerer oder gréferer Kraft betatigender Faktor seines Seelenlebens, beein-
flu&t stindig die Perspektive den Dingen und dem Leben gegeniiber. Jedes
»Erlebnis« ist - bis zu einem gewissen Grade — bereits sub specie formae
erlebt und der Erinnerungsstoff, die Beobachtung und die konstruierte
Psychologie, die die unmittelbare Materie der Schépfung sein wird, ist noch
starker auf die formalen Gestaltungsméglichkeiten bezogen. Die echte Form
des echten Kiinstlers ist a priori, eine stindige Form den Dingen gegeniiber,
etwas, ohne das er nicht fihig ware, die Dinge iiberhaupt wahrzunehmen.
Mit diesem Gesichtspunkt gelangen wir zu einer anderen sozialen Beziehung
der Form. Diese Beziehung ist, kurz gesagt, die zwischen Materie und Form.
Es erhebt sich also die Frage, ob und inwieweit das ganze uSere und innere
Leben einer Epoche, soweit es einem Dichter klar ist, geeignet ist, Wirkun-
gen zu erreichen, die die - vom Dichter in vieler Hinsicht unabhingig
entstehenden — Formen verlangen und erméglichen. Und ich meine hier das
ganze Leben, natiirlich in jeder seiner duferen und inneren Ausdrucksmég-
lichkeiten, ich meine, daf es bestimmte duSere Geschehnisse an sich hat, und
mit welcher sinnlichen Kraft es die inneren Geschehnisse widerzuspiegeln
vermag, welche Menschen in diesem Leben existieren, welches ihre Gefiihle,
Gedanken, Wertungen, Gebirden etc. sind. Also: Welchen Stoff gibt das
Leben der Dichtung und welchen schlieft es von der Dichtung aus - als
12 Vorwort
Tatsache und Wirkung ist (im Hinblick auf die Entwicklung) zufallig. Die
»Entwicklung« ist nur ein imaginares Ziel, zu dem tausend Wege fiihren,
und ein jeder Weg kann neue Wege schaffen; die Entwicklung kénnen wir
als eine nicht ausgesprochene und nicht formulierbare, aber fast genau
beschreibbare »Aufgabe« ansehen, in deren Richtung alle streben und wir
kénnen nur aus der Richtung und aus den Ursachen der Bewegungen auf das
Ziel folgern. Dieses Ziel ist also eine Abstraktion, ist keine »Wahrheit« und
sein Sinn und Wert kann nur dies sein: So viele Erscheinungen des Tatsa-
chen- und Ereigniskomplexes, den wir moderne Dramenliteratur nennen, so
klar zu ordnen, in so vielseitige, tiefe und doch widerspruchslose Beziige
hineinzustellen wie nur mdglich.
*
Die Erérterung der Methode ist immer eine Aufzihlung von mildernden
Umstinden. Hier ist es vielleicht deswegen notwendig, damit dieser Ver-
such, der auch im Hinblick auf das Erreichen der beabsichtigten Ziele als
Versuch genommen werden soll, nicht auf Grund dessen, was auferhalb des
Kreises seiner Zielsetzung fiel, verurteilt werde (bzw. dann soll er wegen
seiner Zielsetzung verurteilt werden). Dieses Buch strebt keine duSere
Vollkommenheit an, es ist nur bestrebt, die Linie der Entwicklung klarzule-
gen. Es will tiber moderne Dramenliteratur sprechen und nimmt jedes Wort
seines Titels buchstablich. Es bespricht also nicht die Schriftsteller, die nur
die auferen Ornamente der alten Werke aufnehmen und nachahmen; es
beschiftigt sich mit den Biihnenwerken, die nicht zur wahren Literatur
zahlen, nur in Anspielungen und Erwahnungen, ausgenommen, wenn die
Wirkung dieser Werke (wie beim franzésischen Tendenzdrama) in der
Entwicklung der Dramenliteratur eine Rolle spielt; und es lift die in
Dialogform geschriebenen, aber in ihrer inneren Form rein lyrischen Schrif-
ten der groSen Dichter (wie Browning, Swinburne, Verhaeren usw.) mit
tiefer Hochachtung aber vollkommen beiseite. Und es beschiftigt sich unter
den Schriftstellern, die zum eng gefaften Gegenstand gehéren, auch nur mit
denen, in deren Schriften es etwas Neues, etwas aus erster Hand gibt, die
Analyse von Werken der Epigonen, auch wenn sie die beriihmtesten sind,
hielten wir fir eine Beschaftigung nicht fruchtbar. (Deshalb wird von
Heyermans und Gorkij, den Epigonen von Hauptmann und von Rostand,
dem Epigonen von Victor Hugo usw. nicht die Rede sein.) Ich erwahne
noch, da& ich die auslindische Dramenliteratur bis zum Herbst 1909 bear-
beiten konnte, bei der Besprechung der ungarischen Dramenliteratur konnte
Vorwort 1S
Ich kann aber das Buch nicht aus meinen Handen geben, ohne daf ich den
Herren Professoren Bernat Alexander, Zsolt Bedthy und Frigyes Riedl*
meinen tiefen Dank zum Ausdruck bringe. Sie waren es, die die erste
Fassung des Buches, die zum Preisausschreiben der Kisfaludy-Gesellschaft
eingereicht wurde‘, mit solch verstindnisvollem und nachsichtigem Wohl-
wollen aufnahmen und deren gute Ratschlige und Hinweise mir bei der
Uberarbeitung von grofem Nutzen waren.
Um eventuelle Mifverstindnisse zu vermeiden, muf ich noch bemerken,
da8 die Hauptprinzipien meines Buches schon beim Preisausschreiben die
gleichen waren; nur der historische und soziologische Rahmen wurde
erweitert und die Formanalyse wurde stark vertieft. Ganz neu ist im Buch
nur das m. Kapitel. Ich erginzte und verinderte mehr oder minder alle
Kapitel, am meisten die Kapitel 1, n, x, xm, und xm. Da an dem xuv. Kapitel
viel verandert wurde, ist natiirlich; gerade dort konnte sich die Wertung tiber
die sich noch entwickelnden, noch nicht reifen, bei weitem noch nicht in
historischer Entfernung befindlichen Schriftsteller verindern. Gerade des-
wegen nahm ich in diesem Kapitel — ich glaube den aufmerksameren Lesern
wird das ohnehin auffallen - in Hinblick auf die Dichter und Tendenzen viel
zuriickhaltender Stellung, als in den vorhergegangenen Kapiteln oder in
irgendeinem meiner Aufsitze, die einen Schriftsteller, der hierher gehért,
behandeln. Das Buch wire nicht vollstindig, wenn es die heutigen Tenden-
zen nicht besprechen wiirde, eine sehr entschiedene Stellungnahme gegen-
tiber der Gegenwart wiirde aber nicht zum historischen Ton des Ganzen
passen. Daf dieser Gesichtspunkt fiir das Kapitel iiber die ungarische
Drameniliteratur in noch gréferem Mafe gilt, wird gewif fir jedermann
selbstverstindlich sein.
Erstes Buch
Grundsatzfragen
I Das Drama
L
Das Ziel des Dramas ist die Massenwirkung, und die Umstinde, unter denen
es dieses Ziel erreichen mu, sind eigentlich schon im Begriff der Massenwir-
kung enthalten, nimlich, da die Zeit, die zur Verfiigung steht, verhiiltnis-
méafig kurz sein muf. Was ergibt sich aus dem Verhiltnis dieses Zieles und
der Umstinde fiir die Natur des Stoffes (die wir vorerst nicht detaillieren
wollen), die die Wirkung hervorruft? Die stoffliche Folge der kurzen Zeit ist
vor allem die perspektivische Kiirzung der vorgetragenen Begebenheit. Man
kann also aus dem oder den menschlichen Leben, die die Handlung bilden,
entweder das isolierte Geschehen auswiahlen (und dieses ist auch nicht in
seiner vollen Breite und Vielseitigkeit darstellbar), oder wenn in der Hand-
18 Grundsatzfragen
lung mehrere Episoden dieser Leben eine Rolle spielen, so mu8 man sie noch
markierender, nur durch ihre wichtigsten Konturen begrenzt zeichnen. In
welche Richtung erstrecken sich diese Verkiirzungen? Was soll nach den
Forderungen der Umstinde, die mit einfachster und grdbster Allgemeinheit
das Zustandekommen des Dramas bestimmen, hervorgehoben und was
weggelassen werden? Auf die Massen wirkt nur das Allgemeine, die Masse
kann das rein individuelle Geschehen oder eine Betrachtung des Geschehens,
die sich nur aus individuellen Gesichtspunkten ergibt, nie spontan und stark
empfinden. Die Forderung dieser Allgemeinheit ergibt sich aus dem Begriff
der Masse selbst: das Geschehen muf& so sein, da es die Masse plitzlich
erschiittert, das Geschehen muf sich also auf hauptsichlich ahnliche Gefiihle
und Erlebnisse der Masse beziehen, damit es allgemein ist. Die Massenpsy-
chologie hilft, dem Begriff des Allgemeinen (der hier nur den Gegensatz zum
blo8 individuellen bedeutet) einen bestimmten und wirklichen Inhalt zu
geben. Die Aufnahmefihigkeit und die Bereitschaft der Masse erfordert
sowohl formal wie auch inhaltlich das Allgemeine sinnlich; oder genauer: sie
schlieft die blo& intellektuelle Allgemeingiiltigkeit aus. Formal kann man auf
die Masse, weil sie nur in Bildern denken kann, nur durch Bilder wirken, was
nicht nur eine durch viele Erfahrungen bestitigte Beobachtung ist, sondern
was sich aus der ersten Grunderscheinung des In-der-Masse-Seins, aus dem
Primitivwerden der Gefiihle der Menschen in der Masse, von selbst und
zwingend ergibt. Die inhaltliche Ursache dieser Forderung ist, da in der
Masse ein gewisser Ausgleich zwischen den einzelnen Menschen zustande
kommt (solange das Massengefiithl andauert) und nachdem das abstrakte
Denken am meisten und deshalb zutiefst isoliert individuell in allen ist, kann
es am wenigsten eine Rolle spielen. Erginzen wir das noch damit, daf in
allen starken Massengefiihlen in kleinerem oder gréferem Mae die Elemen-
te des religidsen Gefiihls vorhanden sind: der Mystizismus, das Uberwiegen
der Gefiihlselemente, die Gleichgiiltigkeit gegeniiber logischen Argumenten,
die Ungeduld, der Fanatismus der Anbetung und des Hasses usw. Die
natiirliche Folge davon ist, da& das Allgemeine, das von der Masse, wenn
auch unbewut, gefordert wird, das am meisten auf sie wirkt - genauso wie
das Allgemeine der Religiositat - inhaltlich nicht intellektuell, sondern das
Gefiihl oder den Willen betreffend ist; formal nicht dialektisch oder logisch,
sondern sinnlich, symbolisch ist. Aus der Natur der Masse, die fiir das
Drama in Frage kommt und noch mehr aus der Natur des Dramenstoffes
ergibt sich, daf in ihr das Ubersinnliche — wenigstens formal — keine Rolle
spielen kann. Daf das Drama auch historisch auf dem Boden der religidsen
I Das Drama 19
Gefiihle wuchs, lieSen wir hier absichtlich auer acht. Was als formale Folge
daraus fiir das Drama entsteht, kénnen wir - so glauben wir - anhand der
Eigenschaften einer Masse, die an einem gewissen Ort versammelt ist und
auf gewisse Sensationen wartet, ableiten. Daf diese Eigenschaften in einer
aus religidsen Griinden (oder unter der Wirkung von religidsen Traditionen)
versammelten Masse genauso, nur noch stirker vorhanden sind, mu8 wohl,
glaube ich, nicht weiter ausgefiihrt werden.
Eine inhaltliche Zusammendringung aber, die Notwendigkeit von groBen
Auslassungen, zwingt das Drama ebenfalls in Richtung des Allgemeinen, der
Symbolik. Aus der Zusammendringung selbst ergibt sich schon das Allge-
meine. Je kiirzer ich irgendein Geschehen erzahle, desto allgemeiner wird es,
desto starker ahnelt es anderen Geschehen; aus welchen Gesichtspunkten ich
auch viele Details weglasse. Denn eine Begebenheit wird durch ihre Details,
durch die Vielheit, Vielfaltigkeit ihrer Details, durch die Unméglichkeit,
diese unter einem Gesichtspunkt zu ordnen individuell (also so individuell,
daf sie sich nie mehr in der selben Form wiederholt). Sobald ich also in
irgendeiner Richtung sehr viele Details weglasse, wird die Begebenheit, auch
dann, wenn ich es nicht beabsichtigt hatte, einer anderen ahnlich, bei der ich
aus ahnlichen Gesichtspunkten von den Details absah. Und es ist gewi8, da8
dieser Proze8 beim gréften Teil der Begebenheiten — wenigstens nachtrig-
lich, in der Erinnerung - immer durchfihrbar ist. Die treffende Wirkung des
Epigramms, der Maxime, des Apercu ist immer eine solche: eine formale.
Zwei Ausspriiche die iiber die selbe Sache zwei entgegengesetzte Inhalte
aussagen, die mit groSer Zusammengedrangtheit konzipiert sind, werden mit
der gleichen Kraft der Wahrheit wirken: denn es ist gewif, da& mit jedem
zahllose Begebenheiten faSbar werden und es wird nur von der suggestiven
Kraft ihrer Formulierung abhingen, welche wie viele und welche Assozia-
tionen der Zugehérigkeit zu einzelnen Begebenheiten erweckt werden. Je
starker und konsequenter dieses Nicht-Sehen der Details, die Stilisierung ist,
desto allgemeiner wird die Begebenheit sein, desto mehr individuelles,
historisches Geschehen kann sie in sich fassen, kann sie bedeuten — kann sie
symbolisieren.
Die unmittelbare Wirkung auf die Masse erfordert also einerseits das Allge-
meine, die Symbolik des dargestellten Geschehens, andererseits zwingen
aber die durch seinen Umfang gesetzten Grenzen das Drama ebenfalls in
Richtung der Symbolik, der zusammenfassenden, aus der Ferne, aus der
Vogelperspektive vorgenommenen Betrachtung. Das Zusammentreffen oder
noch mehr die Verschmelzung dieser beiden Forderungen gibt dem Begriff
20 Grundsatzfragen
Verfiigung steht — nur Nachahmung sein kénnte und so miifte er mit der
Wirkung verglichen werden, wobei aber seine Wirkung nur viel schwacher
sein kann. Die Natur — hier verstehe ich darunter alles was den Menschen
umgibt — kann also im Drama nur eine sekundire Rolle spielen; sie kann nur
Hintergrund sein, wenn auch eventuell ein schéner und wichtiger Hinter-
gund, aber eine wesentliche, fiir die Form entscheidende Rolle kann sie nicht
spielen. Von den Abstrakta werden die rein philosophischen durch die
Forderung der unmittelbaren Massenwirkung, die geschichtlichen (die Not-
wendigkeit der Entwicklung usw.) durch den eng bemessenen Umfang
schon von vornherein ausgeschlossen. Alle Bereiche sind nur soweit und
insofern dramatisch, soweit sie sich in den Gefiihlen der Menschen unterein-
ander und in ihren Taten spiegeln und offenbaren. Dieselben Ursachen
schliefen auch aus dem Kreis der dramatischen Geschehnisse, aus dem Stoff
des Dramas, die Tatigkeit der iibernatiirlichen Krafte und Machte aus. Diese
kénnen von allen Kiinsten nur lyrisch, nur durch die Seele der Menschen,
durch jene Wirkungen, die die Seele der Menschen formen, ausgedriickt
werden. Oder sie werden ganz abstrakt signalisiert und die Erginzung, die
eigentliche Vorstellung der metaphysischen Erscheinung wird den Gedan-
ken und der Phantasie des Aufnehmenden iiberlassen. Es ist leicht einzuse-
hen, da all das - schon durch das bisher Gesagte - im Drama unmdglich ist.
Das Drama kann auch die metaphysischen Geschehen nur in der Form der
soziologischen Geschehen ausdriicken.
Wie sollen nun diese Menschen sein, wie sollen die Geschehen sein, die sich
zwischen ihnen abspielen, damit die durch die natiirlichen Voraussetzungen
geforderte Wirkung am sichersten zustande kommen kann? Mit anderen
Worten: welche Menschen, welche Teile des Lebens dieser Menschen sind
die geeignetsten Stoffe des Dramas? Oder noch einfacher: welche Lebensiu-
Berungen der Menschen sind diejenigen, in denen sich das ganze Wesen der
Betreffenden und die fiir sie typischsten Geschehen mit der unmittelbarsten
und sinnlichsten Kraft spiegeln? Was symbolisiert am reinsten das ganze
Leben eines Menschen? — Es ist allgemein bekannt, da8 das Drama die
Dichtkunst des Willens ist, da8 ein Mensch und sein Schicksal nur durch die
Anspannung seines Willens dramatisch werden kann. Sein Verstand, seine
Gefiihle, alle seine anderen auSeren und inneren Eigenschaften begleiten ihn
nur, sie dekorieren nur den dramatischen Menschen, sie sind nur dazu da,
def er nicht ganz als starre Abstraktion wirkt, sie helfen nur, die Illusion des
Lebens zu erwecken. Das Drama ist die Dichtkunst des Willens, denn das
ganze Wesen des Menschen kann sich mit unmittelbarer Energie nur in
22 Grundsatzfragen
seinem Willen und in seinen Taten, die durch seinen Willen entstanden sind,
offenbaren. Die Justiz der primitiven Vélker urteilt iiber die Menschen ganz
auf Grund ihrer Taten (also nach dem Willen, der sich in ihren Taten
offenbart). Sie geht von dem Gefiihl aus, da& der Titer identisch mit seiner
Tat ist, da& gerade die Tat am starksten und am sichersten das Wesen des
Menschen deckt, da& das Wesen des Menschen sich in seinem Willen
offenbart und es ist daneben nur untergeordnet wichtig, was dieser Mensch
empfindet und wie er denkt; die Motive seiner Tat sind nebensichlich. Diese
Tatsache kann fiir uns natiirlich nur eine symptomatische Bedeutung haben;
sie ist nur ein praktisches Beispiel dafiir, daS die Menschen, wenn sie das
ganze Wesen des Menschen erfassen wollen, ihren Willen und dessen
Offenbarungen als den reinsten Ausdruck des ganzen Menschen empfinden.
Denn das Gefiih! und der Gedanke sind in ihrer Form viel augenblicklicher
und verinderlicher, in ihrem Wesen viel flexibler und auferen Wirkungen
starker ausgesetzt als der Wille. Der Mensch weif von seinen eigenen
Gefiihlen und Gedanken vielleicht auch selber nie, inwiefern sie seine
Gefiihle und seine Gedanken sind (oder inwiefern sie wirklich zu den seinen
wurden), eigentlich wei& der Mensch nur dann mit voller Sicherheit von
ihnen, wenn irgendeine Gelegenheit sie auf die Probe stellt, wenn man also
in ihrem Sinne handeln muf, wenn sie Willenselemente werden und wenn
sich aus ihnen Taten ergeben.
Die reinste und ausdruckvollste Manifestation des Willens ist aber der
Kampf; er ist es insofern, da man in einem sehr weiten Sinne alle Manifesta-
tionen des Willens als Kampf ansehen kénnte. Und aus dem bisher Gesagten
ergibt sich, da& von allen Lebenserscheinungen (Kimpfen), die die Reaktion
des Willens hervorrufen, diejenige zum geeignetsten Stoff des Dramas wird,
in der am stiarksten dieser Kampfcharakter vorhanden ist, die am starksten
den Willen im dramatischen Menschen auslést. Die Handlung, die am
geeignetsten ist, das ganze Leben des betreffenden Menschen in seiner
formalen und inhaltlichen Isolierung zu symbolisieren, die den Menschen,
der eine Rolle in ihr spielt, so sehr in seinem Wesen erfaft, da neben der
iiber allem dominierenden Wichtigkeit seiner dadurch auf die Oberfliche
gelangten Eigenschaften all das wirklich nicht in Betracht kommen kann,
was man — wegen der Stilisierung, die durch die Okonomie des Dramas
gefordert wird - von ihm auf alle Falle weglassen muf. Das Ziel ist also, da8
der Kampf das ganze Leben des betreffenden Menschen (oder genauer
~ denn er reprisentiert auch -: des betreffenden Menschentyps) bedeutet;
das ganze Leben aus dem Blickwinkel des Konflikts betrachtet, von dem im
1 Das Drama 23
betreffenden Drama gerade die Rede ist. Es ist also eine inhaltliche Forde-
rung der dramatischen Form an den Konflikt, da er das zentrale Lebens-
problem des betreffenden Menschen (Menschentyps) sei, das natiirlich zu-
gleich auch fiir die in Frage kommende Masse genauso ein zentrales Problem
ist; die formale Forderung ist, da& der Konflikt so sei, da8 der Mensch auch
das Maximum seines Lebens geben kann und auch gibt, in dem sein ganzes
Leben mit der gréStmdglichen Kraft und Vielseitigkeit zum Ausdruck
kommen kann; vom Menschen selbst fordert die dramatische Form, daf er
- vom Gesichtspunkt des aktuellen Problems — das Maximum seines Typs,
ein Beispiel ist, das zum gréSten Kraftaufwand geeignet sein soll. Das ist der
dramaturgische Grund und die Berechtigung der Forderung nach einem
Helden im Drama, dem Byronschen »I want a hero«’, aber das zieht auch die
Grenzen fiir die Berechtigung der Forderung. Die Grae des Helden ist im
Vergleich zu den anderen Exemplaren seines Typs absolut, denn er ist dessen
Gipfelpunkt, er ist die dekorative Zusammenfassung alles in der Wirklichkeit
viel schwacher (weil verstreuter und weniger rein) Existierenden. Das Wil-
lenselement, das den Kampf hervorrief, mu in ihm mit der groSten Vehe-
menz vorhanden sein, es ist sogar notwendig ~ wenn die Natur des Konflikts
so ist, da& den Uberlegungen und Gefihlen gegeniiber dem Willen eine stark
hemmende Rolle zukommen kann —, da auch diese hemmenden Umstinde
in ihm in einem maximalen Grade vorhanden sind, damit er, alle Méglichkei-
ten seines Typs ausschépfend, doch dessen griftes Beispiel sei. Von allen
anderen Aspekten her gesehen, ist aber der Begriff des Helden und das
Ausma8 seiner Grdfe natiirlich unendlich relativ. Er ist nicht nur dem
Leben gegeniiber relativ, sondern auch gegeniiber der Welt des Stiickes. Die
Kraft und die Tiefe seines Kampfes gibt ihm die Maglichkeit, im Mittelpunkt
des Stiickes zu stehen, nicht seine sonstigen menschlichen Qualititen; der
Kampf macht Corneilles Cinna gegeniiber dem gréferen Augustet und
Tbsens Skule gegeniiber Hikon Hakonson zentral.
Die Frage ist nun: wie soll dieser Kampf formal beschaffen sein, damit in ihm
der Held das Maximum seines Wesens geben kann, damit er zum Symbol
seines ganzen Lebens emporwachsen kann? Die oberen und unteren Gren-
zen des Gebietes des Kampfes werden durch die natiirlichen Grenzen der
menschlichen Krafte und Fahigkeiten festgelegt, sie bestimmen das Maxi-
mum und Minimum der Intensitaét des Kampfes. Denn so sicher es auch ist,
daf eine Kraft sich in um so augenscheinlicherer Weise offenbart, je gré8e-
ren Widerstand sie vorfindet, so wahr ist es auch, daf& der zu grofe
Widerstand es unméglich macht, da& sie auf sinnlich wahrnehmbare Weise
24 Grundsatzfragen
titig ist, da sie sinnlich ist, also hier: damit sie dramatische Wirkung
hervorrufen kénne. Zwischen den kimpfenden Kraften mu daher immer
ein gewisses Verhiltnis vorhanden sein. Der Kampf muf, wenn er noch so
scharf und heftig ist, wenigstens scheinbar zwischen den gleichen Kriften
oder wenigstens nicht zwischen erdriickend verschieden starken Gegnern
ausgetragen werden. Obwohl der Ausgang des Kampfes objektiv - in der
Tragédie - in der Regel von vornherein entschieden ist, kann er subjektiv
nicht schon im voraus entschieden sein. Auch diese objektive GewiSheit
kann aber nicht mehr sein als ein Vorgefiihl mit ungewisser Wahrscheinlich-
keit. Der Kampf, der sich zwischen solchen Gegnern abspielt, die in keinem
Grd8enverhiltnis zueinander stehen (z. B. der Kampf des Menschen mit der
Gottheit oder mit einer anderen geheimnisvollen Macht, die eine absolute
Kraft darstellt, wie die Vererbung usw.) kann nicht dramatisch sein. Denn
dieser Kampf ist nur in einer sterilen Ekstase ausdriickbar, nur in Worten,
nur intim, lyrisch, individuell, hdchstens in lyrisch ergreifenden Ausbriichen
des ohnmichtigen Zorns oder der schmerzlichen Resignation. Hier liegt der
wahre tiefe dramaturgische Grund dafiir, da& der Stoff des Dramas nur ein
zwischenmenschliches Geschehen sein kann. Denn den Teil, der zwischen
dieses Maximum und Minimum des Kampfes fillt, machen gerade die
Kampfe eines Menschen mit einem anderen Menschen oder mit einer
Menschengruppe oder mit einer durch sie reprisentierten menschlichen
Institution aus. Und der »Gegenspieler«, der gegen den Helden auftritt und
miglichst gleichstark ist, ist der vollkommenste technische Ausdruck und
zugleich das Symbol dieser Situation. Der Kampf gegen die Natur ist
teilweise genauso unfruchtbar wie die oben skizzierten Kimpfe, aber auch
wenn er nicht so wire, wiirde er nur den physischen Menschen in Anspruch
nehmen oder wenigstens den in erster Linie, und so kann sich in ihm nicht
die ganze Persénlichkeit des Menschen offenbaren. Die Gottheit, wenn sie
im Drama vorkommt - und eigentlich spielt sie in einem jeden Drama eine
Rolle - kann sich nur in der Kraft des einzelnen Menschen oder der
Institution offenbaren. Der Kampf des Prometheus von Aischylos gegen
Zeus bleibt ein lyrischer Monolog und ist in keinem Moment wirklich
dramatisch. Der Kampf des Kénigs Oedipus, der sich ebenfalls gegen eine
Gottheit richtet, wird gerade dadurch dramatisch, da die Gottheit selbst
nicht erscheint, sondern sie erscheint nur in den Menschen, in den Taten der
Menschen und in den Institutionen der Menschen. (Denn wir diirfen nie
vergessen, daf die ganze Oedipus-Tragédie hinfillig ist, wenn man den die
Blutschande verbietenden moralischen Befehl — der letzten Endes eine
1 Das Drama 25
soziale Tatsache ist - nicht als unbedingt bindend betrachtet; wie auch
- natiirlich unberechtigt, denn er kritisiert ihn von einer Ethik her, die
au8erhalb des Dramas liegt — Jules Lemaitre diesen Befehl empfand.)*
Dasselbe macht das Schicksal von Ibsens Oswald undramatisch und macht
den Kampf von Frau Alving gegen dasselbe Geschick tief undramatisch. Die
Rache Aphrodites an Hippolytos in der Tragédie des Euripides kann nur
durch die Leidenschaft Phaedras dramatisch werden, und es ist die ganze
konkrete historische Situation des rémischen Reiches dazu nétig, damit der
Kampf des Ibsenschen Julianus Apostata gegen Christus dramatisch werde.
Und hier verursacht die metaphysische Natur des Themas und das Fehlen
des »Gegenspielerse iiberall die grdften und kaum zu bewaltigenden techni-
schen Schwierigkeiten. Der dramatische Kampf kann nur ein zwischen-
menschlicher Kampf sein, das Drama kann auch die aus metaphysischen
Griinden entstehenden Kimpfe nur in soziologischer Form darstellen.
Das Drama ist, wie wir sahen, ein Kampf, der mit bis zum Letzten
gespannten Kriaften ausgetragen wird, der das ganze Leben eines Menschen
symbolisiert. Es ist ein Kampf mit dem starksten Gegner, der vorstellbar ist,
denn wir sahen, da8 die obere Grenze nur formal ist, sie ist nur die
Umgrenzung der Erscheinungsweise des kimpfenden Gegners, sie bedeutet
nur, da8 der Kampf schon von vornherein entschieden ist, was aber nicht
vom ersten Augenblick an sichtbar ist. Es ist ein Kampf mit dem méglichst
miachtigsten Gegner, mit der Notwendigkeit in ihrer héchsten Form, und in
diesem Kampf muf der Mensch - ich verwende hier Wilhelm von Scholz’
Tragédienformel’ - immer untergehen. Das konsequente Zuendedenken der
stofflichen Forderungen des Dramas muf zur Tragédie fiihren. Denn was ist
die Tragédie — ganz allgemein -, wenn nicht der mit maximaler Kraftaufwen-
dung gefiihrte Kampf eines Menschen mit der auSeren Welt und dem
Schicksal um sein zentrales Lebensproblem? Das Drama erreicht seinen
Gipfelpunkt immer in der Tragédie; ein vollkommenes Drama kann nichts
anderes sein als eine Tragidie. Fiir die tragischen Gefiihle gibt es aber kein
adaquateres Ausdrucksmittel als das Drama, und es ist auch keines vorstell-
bar: alle seine formalen Forderungen fallen mit den Audrucksforderungen
der tragischen Gefiihle zusammen, es schlie&t nichts in sich, was nicht allein
fir den Ausdruck der tragischen Gefiihle, aber nicht nur fiir den Ausdruck
dieser Gefiihle geeignet wire. Es kann also kein Zufall sein, da8 die grofen
dramatischen Epochen (die griechische, englische, spanische, franzésische
Epoche) zugleich auch die Zeiten der grofen Tragédien waren. Wir wissen
sogar von keiner Epoche, in der das Drama wirklich in Bliite stand, ohne daf
26 Grundsatzfragen
es die Tragédienform beherrschte und da& mit dem Ende der tragischen
Gefiihle nicht auch die Blitezeit des Dramas zu Ende gewesen wire. Es
geniigt vielleicht, wenn ich mich auf das griechische Drama nach Euripides
und auf das englische Drama nach Ben Jonson, Beaumont-Fletcher, Ford
beziehe.
2
Das Wesen der dramatischen Form ist die paradoxe, intellektuell unverein-
bare sinnliche Vereinbarung von widerspriichlichen Anforderungen und
deren Auflésung in sinnliche Symbole. Diese Paradoxie ist - wie wir sehen
werden — in allen Details des Dramas vorhanden, und sie ergibt sich
eigentlich aus dem paradoxen Mifverhiltnis der beabsichtigten Wirkung
und der Mittel, die zur Verfiigung stehen. Die grofen Paradoxien der
dramatischen Form sind deshalb die folgenden: Der Inhalt des Dramas ist
das ganze Leben, ein ganzes, vollkommenes, in sich geschlossenes Univer-
sum, welches das ganze Leben bedeutet, das selbst das ganze Leben sein
muf. Die Mittel zur Darstellung dieses Universums sind aber riumlich und
zeitlich auferordentlich begrenzt. Das Drama mu8 mdglichst in cinem
kleinen Raum, in kurzer Zeit, mit einer begrenzten Zah! an Personen die
Illusion der ganzen Welt erwecken. Und von beiden Seiten her ist die
Bereitschaft stark, sich so weniger Mittel wie méglich zu bedienen und doch
soviel wie méglich in sich zu fassen. Diese Beschrinkung des Umfangs
zwingt das Drama sowohl zur Stilisierung des Geschehens wie auch zur
Stilisierung der Darstellung des Menschen, der in diesem Geschehen eine
Rolle spielt; statt durch die sinnliche Kraft des vielfaltigen Lebens kann das
Drama nur mit Hilfe der - immer begrifflichen, zur Abstraktheit neigenden
~ Verallgemeinerung, durch das Weglassen der Details wirken. Daraus
ergeben sich gleich zwei Paradoxien. Die Natur seiner Stilisierung zwingt
das Drama immer dazu, die Menschen abstrakt und ihre Konflikte in
dialektischer Form zu sehen, die Natur seiner Wirkung (Massenwirkung)
erlaubt ihm aber nur die méglichst primitiven, sinnlichen, unmittelbar
wirkenden Symbole; und die Natur seines Stoffes (lebendige Menschen und
ihre Handlungen) widersetzt sich auch dieser unvermeidlich notwendigen
Richtung der Stilisierung.
Die Welt des Dramas bedeutet die ganze Welt des Lebens, aber nachdem
seine inhaltlichen Méglichkeiten nicht mehr erlauben, als da& es einige
Abenteuer aus dem Leben einiger Menschen gibt, kann seine Universalitit
nicht inhaltlich sein, wie die der Epik (Epos, Roman), die ihr eigenes
I Das Drama 27
er, der bereit zur Suggestion war, mit geniigender Kraft zu suggerieren. Die
Weltanschauung kann nicht zum Diskussionsgegenstand gemacht werden,
oder hdchstens formal: nur ihre Anwendung, die Maglichkeit ihrer konse-
quenten Durchfihrung oder ihr Gelingen ist kritisierbar. Ihre Richtigkeit
oder Unrichtigkeit kann aber nie in Frage gestellt werden, ihr gegeniiber
kann die Frage des »warum« nicht gestellt werden; denn das Wesen der
Wirkung des Werkes ist gerade, daf wir es als wahr empfinden. Und wenn
die Wirkung auch eine, sagen wir, soziologische Voraussetzung einer gewis-
sen, eventuell unbewuften Abmachung um das Komplexum der Gefiihle,
die unter das Wort Weltanschauung gefaft sind, zwischen dem Dichter und
seinem Publikum ist, ist diese Frage schon von Zeit zu Zeit, sogar von
Person zu Person verinderlich und kann somit nicht das formale Problem
des Dramas sein; ein Problem, das die konstanten Elemente der Wirkung
sucht. Das Aufgebaut-Sein auf die Weltanschauung ist die formale Frage der
kausalen Struktur des Dramas. An die Weltanschauung sind nur formale
Forderungen zu erheben, es kann an sie nur die Frage gestellt werden, ob sie
- nachdem sie ein Element des Dramas ist, das die Konstruktion zusammen-
halt - fiir diese Aufgabe geeignet ist oder nicht und inwieweit sie dazu
geeignet ist. Wir werden spater Gelegenheit haben, darauf hinzuweisen, da
durch die Paradoxie der dramatischen Form die letzte Konstruktion, die
Weltanschauung, fast aus ihr verschwindet, wir konnen sie nie unmittelbar
empfinden. Wir kénnten sagen: nur das Fehlen der Weltanschauung ist
bemerkbar; oder mit anderen Worten: wenn die Konstruktion schon gelang,
ist die Weltanschauung iiberfliissig geworden, bzw. das Drama wirkt nun
ausschlieBlich durch seine Struktur. Die Weltanschauung mag vielleicht
inhaltlich veraltet sein, der Zuschauer aber projiziert unter der Wirkung der
groBen Impressionen, die von der Form verursacht wurden, eine seinen
Beobachtungen adaquate, von der urspriinglichen Sicht des Dichters gewif
verschiedene Weltanschauung hinter die Geschehnisse, die notwendigerwei-
se wirkten. Die Wirkung des »Kénig Ocdipus« ist vielleicht das grifte
Beispiel dafiir, denn heute miissen alle Menschen dieses Drama wegen
struktureller Ursachen, wegen der vollkommenen Durchfiihrung der analy-
tischen Lésung als Schicksalstragddie empfinden, obwohl der gré8te Kenner
des griechischen Dramas, Wilamowitz, von ihm sagt, da8 bei Sophokles vom
Schicksal als Ursache, als wirkender Kraft nirgends die Rede sei und auch
nirgends die Rede sein kénne."'
Die Totalitat und den Reichtum des Lebens kann das Drama nur rein formal
ausdriicken. Seine Ausdrucksméglichkeiten sind hier nicht einmal auf einer
30 Grundsatzfragen
Ebene mit der Wirklichkeit, sie sind nicht mehr ihre stilisierten Abbreviatu-
ren, vom Gesichtspunkt der Ordnung her, wo sie nur stirker ein Element
betonen, das auch dort vorhanden ist. Die inhaltliche Totalitat mu8 man
daher mit formaler Totalitét ersetzen, die extensive mit der intensiven, die
empirische mit der symbolischen Totalitit. Mit einem Wort: die Kategorie
der Totalitat ist hier durch die Kategorie der Geschlossenheit ersetzt. Die
Totalitét und der Reichtum bedeuten also im Drama, da& alle denkbaren
Méglichkeiten aufgeworfen sind und daf auf alle aufgeworfenen Fragen die
Antwort gegeben ist. Das Drama ist das typischste Beispiel fiir die kiinstleri-
sche Stilisierung, von der Simmel spricht, die alle Faden aus dem lebendigen
Leben herausreiftt und sie an ihren Enden zusammenbindet, damit es villig
in sich geschlossen, in sich vollendet ist, damit es mit nichts was au8erhalb
von ihm liegt, in Zusammenhang steht. So kommt ein neues Leben zustande,
dessen Charakter als Leben von der spontanen Illusion seiner Abgeschlos-
senheit gegeben wird. Wir empfinden es als vollkommen, denn in uns
entsteht nichts, in uns kann ihm gegeniiber keine Neugierde, kein Gefiihl des
Mangels entstehen; wir konnen uns auch nichts vorstellen, was noch in diese
Welt gehéren kénnte und ihr doch fehlt. Wenn wir nun diesem noch leeren
Grundprinzip einen Inhalt geben wollen und fragen, welches das Problem
ist, von dessen Gesichtspunkt her wir diese Fragen stellen miissen, die
zusammen mit ihren Antworten alles erschépfen und dadurch die Totalitat
zustande bringen; also was der Mittelpunkt ist, um den wir diese in sich
geschlossene Linie, diesen Kreis zichen, muf man wieder genauso antworten
wie damals, als wir das Ende der Kausalitatsreihen suchten, als wir zur
Weltanschauung gelangten. Wir sagten schon, da& der Gegenstand des
Dramas ein Geschehen aus dem Leben eines Menschen ist, das sich in der
Form eines oder mehrerer Kimpfe offenbarte, das so stilisiert ist, daf es das
ganze Leben dieses Typs bedeutet. Der Kampf dieses Menschen um sein
zentrales Lebensproblem, bzw. die Abstraktion dieses Kampfes, ist der
Mittelpunkt, um den sich alles gruppiert. Nur das vollkommene Zuendeden-
ken, das konsequente Zuendefiihren aller Méglichkeiten dieses Kampfes
kann dem Drama die Geschlossenheit geben, die von der Form gefordert
wurde, Und es ist klar, da& dieses Zuendedenken, nachdem von Kampf und
Antinomien die Rede ist, nur in einer abstrakten dialektischen Form vorstell-
bar ist. Sowohl diese dialektische Totalitat als auch die letzte Ursache, die die
Kausalitét erfordert, kann nur die Weltanschauung geben. Aus diesem
Blickwinkel ist die Weltanschauung ebenso eine entscheidende, konstrukti-
ve, formale Forderung des Dramas, wie sie es von dem anderen Gesichts-
I Das Drama 31
punkt her war. Aber ebenso hier wie dort ist sie nur das a priori des Dramas,
sie ist nur sein Grundrif; in den Geschehnissen selbst, die sich unmittelbar
vor uns abspielen, kann ihr keine Rolle zukommen. Und die Forderung der
Geschlossenheit, aus der sich die villige Auflésung aller Méglichkeiten
ergibt, fordert vom Kampf, der den Gegenstand des Dramas ausdriickt, von
einer anderen Seite her dasselbe, was wir schon aus dem Begriff des Kampfes
selber abgeleitet haben: sie fordert das Maximum des kimpfenden Menschen
und der sich gegen ihn richtenden Krifte, sie fordert also - ganz zu Ende
gedacht — die Tragédie.
Die letzte formale Forderung der Universalitit des Dramas ist, da8 die
Grundlage ihrer Stilisierung die Weltanschauung sei, also etwas, was dem
konkreten Drama formal vorgreift, was auferhalb der im engeren Sinn
genommenen Welt des Dramas steht. Die Forderung der unmittelbaren
Massenwirkung schlieft aber die abstrakte Begrifflichkeit aus dem Drama
aus, und sein Stoff (spontane Geschehen mit lebendigen Menschen) erlaubt
es nicht, da sie in einer nackt logischen, dialektischen Form erscheint. Die
Notwendigkeit der Geschlossenheit selber stellt aber neben diese Paradoxien
noch eine weitere. Denn sie fordert vom Drama einerseits als Fundament
seines Aufbaus ein Motiv, das auferhalb von ihm liegt, andererseits — das
ergibt sich aus dem Begriff der Geschlossenheit - schlieft sie die Moglichkeit
aus, da etwas fiir das Drama existiert, das auSerhalb von ihm liegt. Denn die
Welt des Dramas wird gerade dadurch zum Universum, daf sie alles in sich
fat, was tiberhaupt in sie hineinzudenken ist. Die Grundlage des Dramas ist
somit inhaltlich abstrakt und dialektisch, formal das Gegenteil; sie ist nur das
a priori des Dramas und es kann ibr in ihm nirgends eine unmittelbare Rolle
zukommen und sie mu§ doch - immanent — in ihm sein, auch in allen seinen
winzigsten Details.
Was wir so, ganz kurz, mit Hilfe der Formanalyse als dramatische Weltan-
schauung herauskristallisierten, offenbart sich in der unmittelbaren Wirkung
als die Atmosphire, als die Einheit des Tons. Sie ist die stillschweigende
Bestimmung dessen, was in der Welt, die vor uns liegt, mdglich und
unméglich ist; inwiefern und wie etwas mdglich ist. Sie ist die unsichtbare
Grenze und der Rahmen der Handlung, der Gefiihle und der Gedanken, sie
zerlegt die LebensiuSerungen der vorkommenden Menschen in unmittelbar
nicht wahrnehmbare Takte, sie fa8t sie in Rhythmen. Die Weltanschauung
ist die mystische, immanente Einheit der Welt des Dramas, die nur durch das
Ganze des Dramas unmittelbar zum Ausdruck kommen kann, deren Vor-
handensein beim Aufnehmenden desto weniger bewuft wird, je vollkomme-
32 Grundsatzfragen
ner das Drama gelést ist, aber bei deren Fehlen oder Inkonsequenz auch die
technisch perfekteste Komposition auseinanderfillt. Vielleicht kann eine
kurze Analyse der »Antigone« die Richtigkeit des Gesagten am klarsten
bestitigen. Sowohl die Stellung Antigones wie auch die Kreons ist am
Anfang des Stiickes, ganz bis zum Erscheinen von Tiresias, die mdglichst
reinste, sich mit gréSter tragischen Kraft entgegenstehendste. Kreon muf
unter der Wirkung von verschiedenen, aber gleichstarken moralischen Be-
fehlen die Beerdigung von Polynikes verbieten; Antigone muf ihn trotzdem
beerdigen, da jedoch Kreon jeden zum Tode verurteilen muf, der sich
seinem Befehl widersetzt, mu8 er seinen Befehl trotz allem an Antigone
vollziehen, nachdem es sich herausstellte, daB sie es war, die gegen den
Befehl verstie8. Wie es auch der Chor ausdriickt:
»Fromm sein dient zu frommem Werke,
Aber Macht, was Machtes Amt ist,
Duldet nicht, was sie bestritte:
Dich zerstért eignen Trachtens
Starrsinn.«"?
Wenn Tiresias erscheint, verindert sich alles. Es stellt sich heraus, da& Kreon
nicht recht hatte, als er die letzte Ehre fiir Polynikes verbot, daf er nicht
recht hatte, als er Antigone verurteilte, lebendig begraben zu werden. Und
der Chor iiberzeugt auch Kreon, er will seine Fehler gutmachen. Es ist aber
schon zu spit. Antigone starb und Hamon richtet sich selbst iiber ihrem
Leichnam. Was ist somit aus der Tragédie geworden, die am Anfang so
schén und gro8 war? Sie wurde eine Kette von ungliicklichen Zufallen.
Keine — weder eine aufere, noch eine innere - Notwendigkeit zwang Tiresias
dazu, sein Wort erst dann zu erheben, als es schon zu spat war. Und wenn er
ein wenig friiher gesprochen hitte, gibe es nicht einmal einen Konflike,
geschweige denn eine Tragédie, und so ist es auch nur ein unglicklicher
Zufall und nicht die notwendige Folge von Kreons und Antigones Lage, daf
Antigone tot aufgefunden wird. Und wenn man sich hier nicht verspatet
hatte, wo wire dann die Tragédie? Paul Ernst sieht diese Sache in seiner
Antigone-Analyse so, und er versucht die Einheit so herzustellen, daf er die
Notwendigkeiten der Taten in die Seele Kreons hineinverlegt, indem er sagt,
da8 ihm die Notwendigkeit der objektiven Pflicht fehle und stat dessen nur
Halsstarrigkeit, Mangel an Einsicht und Vermessenheit vorhanden seien.
Schon dadurch verlor das Drama an Notwendigkeit, da8 die Katastrophe
nicht nur durch objektive Situationen, sondern durch subjektive Eigenschaf-
1 Das Drama 33
Und es kann dann kein Drama mehr geben, sobald der Proze8 der Auflé-
sung so tief ist, sobald die Willenskrifte mit sich selber so weit entzweit sind,
da sie einander nicht mehr gegeniiberstehen, wenn also die Dialektik nur
noch intellektuell ist. Ganz kurz gesagt: die scholastische Dialektik ist noch
nicht dramatisch und die sophistische ist es schon nicht mehr; das Myste-
rium ist noch kein Drama und der platonische Dialog ist es nicht mehr.
Die paradoxe Verschmelzung des Konkreten und des Abstrakten, woriber
wir bis jetzt bei der Grundlegung des Dramas sprachen, zieht sich natiirlich
durch alle detailtechnischen, dramaturgischen Fragen. Das Wesen der Para-
doxie besteht darin, da& lebendige, spontan handelnde Menschen in den
spréd abstrakten Rahmen hineingestellt werden. Im ersten Augenblick
scheint es also und im grofen und ganzen ist es auch so, als ob im Drama das
Leben, das konkrete Element, vom Menschen, vom Charakter reprasentiert
wire und das abstrakte Element des Dramas sich in der Situation, in die der
Mensch hineingerat und in allem, was mit ihm geschieht, offenbaren wiirde.
Es ist gewif, da& die Handlung (hier im weitesten Sinne genommen)
symbolisch und konstruiert ist, sie ist also méglichst einfach, klar, durch-
sichtig, sie ist nur da, die dialektisch formulierte Weltanschauung auszu-
driicken. Und der Mensch ist — ich glaube das muf ich nicht detaillieren
- immer augenblicklich, irrational, kann sich in Abstraktionen nicht einfii-
gen, er darf sich sogar, nachdem er die Illusion des Lebens erwecken mu,
auch in keine beliebige Abstraktion einfiigen. Andererseits kann aber auch
die Rolle des am individuellsten gezeichneten Menschen im Drama nur die
Reprisentation sein, der dramatische Mensch ist immer ein Typus. Und
nachdem spontane Taten die Handlung bilden, kann auch das abstrakte
Vorausdenken diese nicht vor den zahllosen Zufallen des Augenblicks
bewahren. Von dem Gesichtspunkt des einen aus betrachtet wird der andere
immer irrational sein, nur das ist abstrakt und typisch, wovon wir ausgehen.
Von einer Charakter-Abstraktion ausgehend kann es immer nur ein Zufall
sein, ob der Typ sich gerade in dieser und nicht in einer anderen Tat oder
Situation offenbart und vom Gesichtspunkt der abstrakten Handlung gese-
hen, muf auch der am starresten stilisierte Mensch voll zufilliger Eigen-
schaften sein. Nachdem so der Charakter und die Handlung die Resultate
von Kraften entgegengesetzter Richtungen sind, sind ihre Richtungen wie-
der entgegengesetzt. Ihre Tempi sind einander entgegengesetzt: die Zeich-
nung des Charakters erfordert Langsamkeit; die Handlung Schnelligkeit.
Die Richtungen ihrer Stilisierung sind entgegengesetzt: Breite und Detail-
liertheit erfordert die Stilisierang des Charakters, eine grofe abstrakte
I Das Drama 35
setzt voraus, daf sie irgendwann verschieden waren. So stellte die Folge, da
das griechische Drama aus der Mythologie hervorwuchs, einen tiefen kiinst-
lerischen Wert dar und es machte die Stilisierung reiner, da es eine Leiden-
schaft mit einer Gottheit symbolisierte, die auf den Menschen von aufen
wirkte. Somit gab es seinem Schicksalscharakter durch die Personifikation
einen sinnlichen Ausdruck (z. B. Phaedra und Herakles von Euripides; es ist
lehrreich diese mit Alfieris ahnlich konzipierter, aber noch nicht psycholo-
gisch ausgedriickter Myrrha zu vergleichen). Der menschliche Wille, der
Mensch, wird (wie gebunden wir ihn uns auch vorstellen) immer das Prinzip
der Freiheit, der von ihm ausgehenden Handlung symbolisieren und all das,
was ihm gegeniiberstebt, an dessen Widerstand oder an dessen Angriff diese
Kraft gebrochen wird, wird die Notwendigkeit, die ber ihn triumphiert,
das Schicksal, symbolisieren. So kann man das dramatische Schicksal ganz
genau nur negativ umschreiben: es ist all das, was den Verlauf des Lebens
irgendeiner Person im Drama beeinfluft und was nicht aus ihrem Charakter
entspringt.
Daraus ergibt sich natiirlich auch die Relativitat der GroSe des Begriffskrei-
ses des Schicksals: die seelischen Tatsachen, die psychologischen Motive des
einen Menschen sind objektive Schicksale fiir den anderen. Die Situation
— auch wenn sie die gréfte Freiheit bietet- kann dem Menschen des Dramas
héchstens die Wahl zwischen zwei Méglichkeiten geben. Das heift, fiir
einen gewissen Charakter gibt es bei einer stark geschlossenen Situation
keine Wahl; die Notwendigkeit des dramatischen Geschehens ist vollkom-
men. Von einem Charakter ausgehend (um es so zu sagen: in einem
luftleeren Raum) sind fiir die Handlung zahllose Richtungen und Intensita-
ten vorstellbar; so gibt es in einem Drama, das fiir einen Charakter kompo-
niert ist, fiir die Lésung noch sehr viele Méglichkeiten, auch wenn sehr viele
Méglichkeiten von den Situationen vernichtet werden; die Suggestion der
Notwendigkeit ist viel schwerer zu erreichen. Antigones und Kreons Fall ist
dafiir vielleicht das klarste Beispiel. Es gibt in den Charakteren beider eine
gewisse, bis zum Letzten reichende Heftigkeit, keine von beiden ist der reine
Typ, den die gegebene Situation erfordert, von keinem der beiden Gesichts-
punkte her ist das Drama rein auf die Situation aufgebaut. Kreon schafft aber
fiir Antigone eine fertige Situation; Kreons Charakter ist fiir sie ein objekti-
ves Schicksal und nachdem sie nur zwischen zwei Méglichkeiten wahlen
kann, kénnte sie auch ohne die letzte Anspannung ihres Charakters nur das
tun, was sie getan hat; ihre Tragédie ergibt sich nicht aus ihren besonderen
Charakterziigen und das wirkt auch als vollkommen notwendig. Kreon
1 Das Drama 37
schafft sich aber, wie wir es in der vorherigen Analyse zeigten, mit seinem
Ungestiim seine Situation selber und die Komposition auf den Charakter
hebt bei ihm die Notwendigkeit dessen, was mit ihm geschieht, auf. Die
Wirkung der Notwendigkeit wird im Drama um so starker, je gréfer die
Rolle der Situation (der Handlung) und je kleiner im Verhiltnis dazu die des
Charakters in der Komposition ist. Der offensichtlichste Fall und zugleich
der hauptsachlichste Beweis dafiir ist, daf die tiberwaltigendste Wirkung der
Notwendigkeit in uns von jenen Dramen erweckt wird, in denen die
Situation alles bedeutet, wo schon am Anfang des Stiickes alles geschah und
die Handlung nur aus der Entwirrung der Vergangenheit besteht. So stark ist
hier das Gefiihl fiir die Notwendigkeit, da8 dadurch auch noch die zufilligen
Begebenheiten und die augenblicklichen Charakterziige in ihren Folgen
durch die Kraft des Schicksals norwendig werden. Es geniigt vielleicht, wenn
ich mich auf »Kénig Oedipus« und Ibsens »Gespenster«, auf die zwei
berihmeesten Beispiele beziehe.
Charakter und Handlung sind aber nur sekundare Ausdrucksmittel des
Dramas. Man kénnte fast sagen, da wir tiberhaupt nur mittelbar von ihnen
Kenntnis nehmen, wir sehen und héren unmittelbar nur Dialoge. So symbo-
lisiert die unmittelbare Erscheinungsweise der Form wieder die Dialektik
ihres Wesens. Der dramatische Dialog ist Thema und Behandlung, Stoff und
Form in einem und zugleich - ich verwende hier die Definition von Julius
Bab" — und aus diesem paradoxen Widerspruch ergeben sich alle formalen
und stofflichen Forderungen, die man an sie stellen kann. Und die Form und
der Stoff stehen fiir den Intellekt wieder in einem unvereinbaren Gegensatz
zueinander: der Stoff ist das lebendige Leben, die unmittelbare Manifesta~
tion der Seele des Menschen; die Form ist der tiefe weltanschauliche
Dualismus, die Manifestation der dramatischen Dialektik an einem Punkt.
Somit setzen die stofflichen Méglichkeiten des Dialogs die obere Grenze
seiner Stilisiertheit fest: die maximale Ausdrucksméglichkeit der betreffen-
den Person innerhalb der Grenzen, die von der gegebenen Welt gezogen
worden sind. Die formale Anforderung setzt seine untere Grenze fest: das
Maximum an Symbolik innerhalb dieser Grenzen. Der Dialog muf das
‘Wesen des Menschen, seinem dem Schicksal zugewandten und sich mit ihm
beriihrenden Teil in jedem Augenblick mit der AusschlieBlichkeit geben, die
die Lebensillusion eben noch zulaft. Dieser Teil des Wesens des Menschen
wird selbstredend nicht vom »Leben«, sondern von seinem Leben in der
inneren, in sich geschlossenen Welt des gegebenen Dramas bestimmt. Das
Pathos des Dramas ist z. B. keine Erhabenheit gegeniiber der Umgangsspra-
38 Grundsatzfragen
che, denn auch sie kann pathetisch sein und auch in der feierlichsten Sprache
kann Pathos fehlen; aber die Symbolik des Dialogs ist eine vollkommene
Konzentration, eine solche Stilisiertheit der Wdrter des sprechenden Men-
schen, da8 ihre Bilder den ganzen Menschen und sein ganzes Schicksal in
sich fassen. Aber: das Pathos des Dramas kann nur den Menschen und sein
Schicksal (bzw. alle immanent hierher gehérenden Typen) in sich fassen.
Uber eine gewisse Erhabenheit des Allgemeinen hinaus werden die Kreise
der Begriffe so weit gefa8t sein; die Bilder fassen soviel in sich, da sie nichts
Wirkliches und Bestimmtes mehr enthalten; sie sind aur noch intellektuell
und nicht mehr sinnlich. Das ist die ~ formale — obere Grenze der Symbolik
des Dialogs, die, ohne daf es begrifflich notwendig ware, in der Rege! mit
der oberen Grenze, die der Stoff erlaubt, zusammenfallt (von dieser Grenz-
ziehung hangt die Méglichkeit des Gebrauchs der Sentenz im dramatischen
Dialog ab).
Das Drama besteht nur aus Dialogen, was es aber ausdriicken muf ~ in
seiner letzten Analyse — liegt sowohl diesseits als auch jenseits der Kreise der
Ausdrucksméglichkeiten des Dialogs. So ist die tiefste und letzte Paradoxie
der dramatischen Technik vielleicht das: das Drama kann alles nur durch die
Psychologie ausdriicken und alles ist nur ein psychologischer Ausdruck; wir
sahen schon, da& das willkiirlich und ungeniigend sein mu. Dieselbe Frage
von einer anderen Seite her betrachtet: das Wesen der dramatischen Form ist
die Geschlossenheit, doch liegt die Abgeschlossenheit in sich und ihre letzte
Grundlegung auferhalb des unmittelbaren Kreises dieser geschlossenen
Welt. Im Hinblick auf die stoffliche Seite des Geschehens: das Drama kann
durch die Darstellung soziologischer Geschehen ganz an der Grenze der
mystischen Ekstasen stehende Gefiihle auslésen, die aber doch immer nur
durch die Seele der vorhandenen Menschen ausdriickbar sind, die nur als
ihre seelischen Tatsachen empfindbar sind. Die Verbindung der Tatsachen
ist somit scheinbar empirisch, (die einfache Folge der Tatsache aus der
Tatsache) und psychologisch, ihrem Wesen nach ist sie aber apriorisch und
geht iiber das blo& Psychologische hinaus. Der Begriff des Zufalls - der
scharfste Fall des Erwachens aus der dramatischen Illusion - kann nur so
interpretiert werden. Zufillig ist all das, was nur pragmatisch begriindet ist,
bei dem wir, wenn wir die Kette der Ursachen verfolgen, nicht zum
unsichtbaren, zum immanenten Zentrum gelangen, sondern bei irgendeiner
einfachen Tatsache stehenbleiben miissen, aus der sich der als zufillig
empfundene Fall ergibt - und von dem wir im Leben auch glauben wiirden,
da er sich aus ihr ergibt ohne etwas Stérendes daran zu finden. Die durch
1 Das Drama 39
die Pest bedingte Verspatung von Bruder Lorenzos Brief, die die unmittelba-
re Ursache von Romeos und Julias Untergang ist, ist ein klares Beispiel
dafiir. Deswegen ist die Intrige undramatisch, denn sie ist nichts anderes als
das bewufte Nacheinander solcher rein pragmatischen Geschehen. Sie la8t
teils wegen ihrer Pragmatik, teils dadurch, da8 sie mit ihrer Bewuftheit die
Geschehnisse zu sehr intellektualisiert keine wirkliche dramatische Wirkung
entstehen. Da man aber rein aus dem Charakter, nur mit Hilfe der
Psychologie nicht motivieren kann, glauben wir in den vorangegangenen
Ausfithrungen schon geniigend bewiesen zu haben.
Das Wesen der dramatischen Stilisierung ist, wenn man alles zusammenfa&t,
das folgende: man mu ein Abenteuer aus dem Leben eines Menschen so
darstellen, da dies das ganze Leben dieses Menschen bedeutet, daf dieses
isolierte Geschehen ein in sich geschlossenes, vollkommenes Ganzes, das
ganze Leben sei. Von hier ausgehend kénnen wir nun schon ~ mit Hilfe
von positiven und negativen Begrenzungen - dem dramatischen Konflikt,
dem Charakter und der Situation, deren Begriffe bis jetzt nur formal be-
stimmt und mehr oder weniger leer waren, einen ganz bestimmten Inhalt
geben.
Aus der Forderung der Geschlossenheit ergibt sich die Unauflésbarkeit des
Konfliktes, ergibt sich die Tragédie, auf deren notwendige Folge aus der
innersten Form des Dramas wir schon an mebreren Stellen hinwiesen.
Einerseits deshalb, weil, wie wir damals sagten, sie nur aus dem villigen
Ausschépfen der maximalen Méglichkeiten der Geschlossenheit zustande
kommen kann und das kann ~ nachdem von zwischenmenschlichen Konflik-
ten die Rede ist, nur zur Tragédie fiihren. Weiterhin, weil der Begriff der
Geschlossenheit selbst auch die Vorstellbarkeit eines eventuell anderen
Lésungsweges, als den, den das Drama gibt (hier fiihrt die Forderung der
Notwendigkeit in diese Richtung), ausschlieft. Eine Lésung ist aber - nach-
dem die dramatische Form die Dialektik der sich mit maximaler Kraft
gegeneinander richtenden Kriafte ist - nur dann vorstellbar, wenn der
Kampfende untergeht; denn der Sieg oder die Unentschiedenheit haben
immer tausendfiltige Méglichkeiten. Wenn also die Form einen einzigen
Weg fordert, so kann dies nur der zur Tragédie fiihrende sein. Dieser Weg
fabrt iiberdies deshalb zur Tragédie, weil fiir die Geschlossenheit - daf es
mit dem Ende des Dramas auch ein Ende fir alles Innerliche und AuSerliche
gibt - kaum ein anderer sinnlicher Ausdruck vorstellbar ist, als der Tod oder
mindestens eine so grofe Erschiitterung, die dem ganzen Leben der betref-
fenden Person ein Ende setzt. Nur durch den Tod sind alle Tiren des
40 Grundsatzfragen
Dramas tiber das Ende hinaus in Richtung auf die Zukunft verschlossen, nur
so werden alle seine aus dem Leben herausgerissenen Faden nach innen
gekehrt, nur so wird das Drama zu einem Kreis, zu einer Schlange, die sich in
ihren eigenen Schwanz bei8t. Denn gerade mit Hilfe der Motivation kann
man alle Fiden der Vergangenheit in den Kreis der Geschehen innerhalb des
Dramas einbeziehen und villig mit dessen Welt verschmelzen. Fir die
Zukunft gibt es keine solchen Mittel und nur die Tragédie kann sie endgiiltig
abschlieSen. So empfinden wir die letzten Szenen der Shakespearetragédien
~ wenn er sie wirklich aus Naivitat so schrieb — seine grofen Hinschlachtun-
gen, aus denen nie ein anderer Mensch lebendig fliehen konnte, als blof der
Zuschauer des Dramas, als der, der nur durch das Drama spazierte, der
eigentlich nicht im Drama lebte und nur Hintergrund der Geschehnisse war,
doch tief kiinstlerisch. Das gro&e Massaker ist das Symbol des grofen
Weltzusammenbruchs, der gerade der Gegenstand des Dramas ist: das Ende
des Dramas bedeutet auch das Ende jener Welt. So bleiben nur Horatio und
Fortinbras am Ende von »Hamlete, so bleiben nur Kent und Edgar am Ende
von »Kénig Lear« am Leben. Und wenn auch die untragischen Ausginge der
griechischen Tragédien durch die Worte von Gottern abgeschlossen worden
sind, empfinden wir sie nicht mehr als abgeschlossen und heute gibt es auch
keine géttlichen Erscheinungen mehr, deren Befeble den tragischen Schlu8
ersetzen kénnten. Der letzte Zusammenhang zwischen Drama und Tragédie
ergibt sich aber doch aus dem innersten Wesen des Dramas, er ergibt sich
daraus, da& das Abenteuer, das seinen Gegenstand bildet, das ganze Leben
bedeutet, und das ist nur beim tragischen Menschen und auch nur in seiner
tragischen Lebenslage zu erreichen. Denn iiberall anderswo ist das ganze
Leben nur ein Ganzes: eine jede Sache — und hat sie auch fiir sich genommen
eine noch so grofe, schéne und starke Wirkung — hat nur soweit eine
Bedeutung, als sie das ganze Leben entwickelt oder behindert; sie ist fiir sich
genommen nur eine Episode, ein Teil, sie erhalt nur in ihrer Beziehung zum
Ganzen eine wirkliche Bedeutung. Das tragische Erlebnis ist das einzige, das,
obwohl es nur ein Teil vom Ganzen ist, doch das Ganze bedeutet; es ist das
einzige, was das Symbol fiir das ganze Leben sein kann. Der tragische
Mensch ist die einzige Menschenart, die durch ein’ Abenteuer seines Lebens
symbolisierbar ist.
Die Form erfordert - wie wir sahen — den tragischen Menschen als den
geeignetsten Stoff des Dramas und jetzt kénnen wir vielleicht, indem wir
einige wichtige Typen ausschliefen (so genau es begrifflich méglich ist), das
Wesen des dramatischen Menschen umschreiben. Formal: der Mensch, der
1 Das Drama 4r
sich noch entwickelt, der noch auf dem Weg zu etwas ist oder bei dem die
Entwicklung das Leben selber ist (Goethe), kann nicht dramatisch sein; aus
dem einfachen Grund, weil fiir ihn alle einzelnen Geschehen nur ein
Stadium, eine Episode sein kénnen. Ganz zu schweigen von der technischen
Unausdriickbarkeit der Entwicklung, das hei&t davon, da8 die wichtigsten
Teile dieser Entwicklung innere, ausschlieflich psychologische Verschiebun-
gen und im Drama nicht ausdriickbar sind, — was sich, wie ich glaube, aus
der obigen apriorischen Unméglichkeit ergibt. Und auch der Weise kann
nicht dramatisch sein, fiir den alles nur soweit symptomatisch ist, da8 die
Taten ihn schon zu nichts mehr verpflichten, fiir den - aus einem anderen
Grund und aus einer anderen Perspektive — alle einzelnen Geschehen auch
nur Episoden sind und fiir den sich der ganze Sinn des Lebens, wenn er ihn
berhaupt als ausdriickbar empfindet, nie in einer Handlung offenbaren
kann. Ebenso ist auch der unerschiitterlich religisse Mensch vom Drama
ausgeschlossen, denn ihn kann nur rohe aufere Gewalt niedertreten und
deshalb ist mit seinem Tod - genauso wie bei dem Weisen — sein Leben noch
nicht zu Ende, sein Tod ist kein Abschlu&, keine Tragédie. Das ist die
Ursache der Unfruchtbarkeit der Mirtyrertragidie. Die » ... Unméglich-
keit des christlichen Theaters ist ...<, schreibt André Gide, »da8 sich der
letzte Akt notwendigerweise in der Kulisse abspielen mu8, ich meine im
Jenseits.«'* Das Ende des Dramas verliert sich im Unendlichen. Aber dieses
Unendliche ist hier (Faust 1) wenigstens einigermafen in einem sinnlichen
Symbol ausdriickbar; mit dem Tod ist das Leben des Weisen noch nicht zu
Ende, aber was dann folgt, kann man sinnlich nicht mehr erfassen.
Das sind die oberen Grenzen des tragischen Menschen. Die untere Grenze
ist viel leichter zu ziehen. Einerseits ist dazu ein solcher Grad an Intellekt
und Ausdrucksfahigkeit notwendig, da8 damit der Konflikt in der Form des
Dialogs ausdriickbar ist. (Die Kindertragédie von C. F. Meyer kénnte z. B.
nie dramatisch sein.) Andererseits ist eine Ethik in gewissem Grade — auch
wenn sie nur subjektiv, eventuell sophistisch, vielleicht nur die Sophistik
einer groSen Leidenschaft ist - dazu notwendig, um jemanden durch seine
Taten ausdriicken zu kénnen; damit er sich als Tater seiner Taten empfindet
und nicht als das Medium des Zufalls, mit dem die Geschehnisse geschehen;
damit er nicht einfach durch die Geschehen spaziert, ohne daf er sie
verpflichtend und ihn charakterisierend empfinden wiirde. Aus einigen
Zeilen des sehr talentierten Congreve spiire ich am klarsten heraus, warum
weder er noch seine anderen ebenfalls sehr talentierten Zeitgenossen ein
Drama schreiben konnten, warum die Epoche der Restauration trotz aller
42 Grandsatzfragen
3
Aus den Fragen der dramatischen Form ergeben sich die historischen
Fragen: die Soziologie des Dramas. Das bedeutet nicht, daf aus Verhiiltnis-
sen, den Skonomischen, sozialen usw. irgendeiner Epoche, ihre ganze
Literatur und Kunst - und damit auch ihre Dramenliteratur - einfach
ableitbar wire; da& wir glaubten, da8 man z. B. das Wesen der Persénlich-
1 Das Drama 43
keit und der Kunst Shakespeares anhand der soziologischen Analyse seiner
Epoche interpretieren kann. Diese Frage kénnen wir im Hinblick auf die
ganze Kunst und Literatur schon wegen der Okonomie, die durch den
Rahmen dieser Arbeit diktiert wurde, nicht aufwerfen. Wir fragen blog,
welche sozialen Méglichkeiten das Drama infolge seiner formalen Eigenhei-
ten, die wir oben nur aus seinem Begriff, ohne jede historische und somit
auch soziologische Beziehung ableiteten, haben kann. Unsere Frage ist also
im wesentlichen negativ: wir fragen, zu welchen Zeiten und inwiefern das
Drama méglich ist. Oder etwas positiver: welche Epochenstimmungen
erfordern die dramatische Form als ihre wirklich adaquate, prignante und
starke Ausdrucksform?
Ist aber diese ganze Fragestellung berechtigt? Kénnen wir iiberhaupt von
irgendeiner sozialen Determiniertheit des Dramas sprechen? Die Geschichte
beweist, da& wir es konnen. Man kann es kaum als Zufall betrachten, da es
nur dramatische Epochen gibt und keine isoliert auftretenden groSen Genies
in undramatischen Epochen. Wir wissen von allen grofen Dramatikern, da&
sie inmitten der grofen dramatischen Bliitezeiten lebten, da& sie in einem
starken Stilzusammenhang mit ihren Vorgingern standen und viele Nachfol- °
ger ihre Arbeiten fortsetzten, daf sie nur primus inter pares in einer grofen,
an Persdnlichkeiten reichen Epoche waren. (Alfieri ist vielleicht die einzige
Ausnahme.) Schon dieser Umstand wiirde vielleicht geniigen, diese Zusam-
mentreffen, denen vom Gesichtspunkt des Dramas meistens unfruchtbare
Jahrhunderte vorangegangen und nachgefolgt sind, nicht als Zufille zu
betrachten, sondern, daf wir die tieferen, iiber die individuellen Talente
hinausgehenden Ursachen suchen: die soziologischen.
Die Frage kann man natiirlich gegeniiber allen Kiinsten aufwerfen, die sich
in Epochen offenbaren, die gemeinsame kiinstlerische Eigenschaften haben.
Das ist die Frage der soziologischen Lésung des Stilproblems: es ist die
Frage, ob der Kunststil der einzelnen Epochen durch ihre sozialen Einrich-
tungen determiniert ist und wenn ja, wie. Hier werden wir nur iiber das
Drama sprechen und wir fragen: hat die dramatische Form ein solches
Element, und wenn ja, welches ist es, das zugleich ein tiefes bildendes
Gestalrungselement der Stimmung der Epoche, des allgemeinen Gefiihls ist,
ist es jener Teil der Gefiihle und Stimmungen der Epoche, dessen soziologi-
sche Determiniertheit unbezweifelbar ist? Auf diese Frage hat eigentlich
schon die vorherige Formanalyse geantwortet. So fassen wir nur ihre Ergeb-
nisse kurz zusammen. Sozial sind vor allem die Umstinde der dramatischen
Wirkung. Die Masse ist immer sozialer als der einzelne, isolierte Mensch, die
44 Grundsatzfragen
sen, die Kategorie der spontanen Wirkung erfordert. Dies fehlt bei allen
Dramen, die nicht aus dem Geist der Bihne hervorwuchsen, deren abstrakte
Dialektik nicht mit einer sehr starken, lebendigen, sinnlich kulturellen
Biihne oder wenigstens mit einer ahnlichen Institution verbunden war und
ihr sogar — sehr oft - aufgezwungen wurde, alle diese Dramen werden in
irgendeiner Richtung, die der Epochenstimmung adaquat ist, zu intellek-
tuell. Ihre Dialektik wird zu bewuft; ihre Symbole werden durch den zu
direkten Ausdruck von der Gefahr bedroht, sich zu Allegorien zu ver-
schlechtern; ihr Pathos wird von der Gefahr der Rhetorik, ihre Tradition
von der Gefahr, sich zu unfruchtbaren Konventionen zu versteifen bedroht.
Wann ist also ein Theater méglich? Diese Frage ist so kompliziert und ergibt,
wie wir spiter sehen werden, so sehr eine blof negative Bestimmung des
Dramas, da8 wir hier nur ganz kurz seine Elemente aufzihlen kénnen, Das
Theater setzt eine gewisse Freiheit der Moral, des politischen und religidsen
Lebens voraus; in einer kalten, asketischen, religiésen und moralischen
Epoche ist das Theater oder auch nur eine dem Theater ahnliche Erschein-
gung nicht méglich. Wenn es in ihm auch etwas gibt, was auf die Masse
wirkt, kann es nur eine dialektische, rein intellektuelle Form sein (wenn auch
sein Inhalt mystisch ist) und es gibt nichts Sinnliches in ihm, nichts Vehe-
mentes, Lyrisches, Orgiastisches; es kann kein Element des Mimischen in
ihm geben. Die andere Voraussetzung ist eine gewisse sinnliche Kultur: es ist
der Wunsch und die Kultur, sich an den schénen oder ausdrucksvollen
Bewegungen des menschlichen Kérpers, an der Schénheit der menschlichen
Stimme zu ergétzen; es ist ein — vielleicht trivialer und naiver - Wunsch, die
unmittelbare Versinnlichung der Geschehen zu sehen und zu horen; die
Liebe zum Pomp, zur Pracht (zum Festzug, zum Chor usw.). Und was sich
meistens daraus ergibt, ist die Méglichkeit, diese Wiinsche innerhalb der
betreffenden Kultur auch zu befriedigen.
Das ist aber, wie ich sagte, nur eine negative Voraussetzung. Es ist wahr,
ohne Theater gibt es kein Drama, aber an der Stufe der Kultur, wo vom
Drama die Rede sein kann, gibt es auch gewdhnlich ein Theater und es ist der
seltenste Fall - eigentlich ist auch das nur durch die groSe Kompliziertheit
der Kulturverhialtnisse der letzten zwei Jahrhunderte zustande gekommen -,
da cin entstehendes Drama keine fiir seine Ziele geeignete Biihne, oder
keine, die man dafiir einrichten kénnte, fand. Aus der Biihne selbst aber
kann das Drama nicht hervorwachsen. Es muf sich irgend etwas und etwas
ihr Fremdes, ein neues Element mit ihr kreuzen, damit aus ihrer Vereinigung
das Drama entstehen kann. Was ist dieses neue Element? Wir sagten es
46 Grundsatzfragen
schon: die Weltanschauung. Das Drama entwickelt sich dann aus der Biihne,
wenn die Weltanschauung des Publikums und des Dichters so ist, daf sie als
Ausdruck ihres innersten Wesens die dramatische Form erfordert; wenn das
gemeinsame Erlebnis der beiden ein am besten in einem Drama und nur im
Drama vollkommen ausdriickbares Erlebnis wird: das tragische Erlebnis.
Wann stellt sich dieser Zustand ein? Wann ist die Gefiihlswelt einer Men-
schengruppe so, daf sie das Leben in der Form der Dialektik der sich mit
unerbittlicher Energie vernichtenden Krifte sieht? Alle Dialektik ist ein
Zeichen des Zerfalls; die Dialektik ist sowohl ein Symbol des inneren
Zwiespalts, des inneren Problematisch-Werdens, wie sie auch ihr Aus-
drucksmittel ist. Schon die Tatsache, da& etwas begriindet werden muf, da8
es seinen aus ungebrochenen Gefiihlen entstandenen, mit der Kraft eines
unbezweifelbaren Dogma wirkenden Charakter verlor, schon das ist ein
Zeichen fiir die innere Unsicherheit und - nachdem hier von Kultur die Rede
ist — fiir den Zerfall, fir den Beginn des Verfalls. Wenn aber die dem
urspriinglichen Lebensgefiih! entgegenstehenden Ursachen, die als entgegen-
gesetzt empfundenen Tatsachen und andere in einen unvereinbaren Gegen-
satz geratenen Gefiihle schon so grof wurden, daf sie sich mit gleichgrofer
Kraft dagegenstemmten, dann stellte sich der wirkliche Verfall ein. Dann ist
eine heroische Zeit des Verfalls gekommen, in der man die Tugenden nicht
mehr hedonistisch beurteilen kann, wo man das Leben nicht mehr so sehen
kann, da& die Tugend Belohnung und die Siinde Siihne in ihm finden wird,
wenn aber in den Tugenden die potentielle Energie der unendlichen Intensi-
tit des alten Lebens noch vorhanden ist, das sich nicht mit den sich
verindernden Verhiltmissen abfinden kann und an ihnen zerbricht. Aber
wenn es auch eine Wahl hitte, wiirde es doch lieber den heroischen
Untergang wihlen, so stark ist in ihm noch die alte innere Notwendigkeit.
Und — das muf notwendigerweise damit zusammenfallen - neue Gefiihle
entstehen zwischen den alten Menschen und den alten Institutionen. Und
entweder wird die Seele der alten Menschen durch die unauflésbare Disso-
nanz des Neuen und des Alten zerrissen, oder die neuen Gefiihle werden
von den noch selbsttitig wirkenden Gewichten und Kriften der alten
Institutionen und Menschen zerschmettert. Das sind Zeiten, in denen das
Leben, da es villig problematisch geworden ist, fiir den ethischen Menschen
keinen zentralen Lebenswert mehr bedeutet. Und nachdem es in Gegensatz
zu den wichtigsten Werten des Menschen geriet, wird die Wertung fiir die
schon oder noch zum Tode Verurteilten entschieden: es wird die Ideologie
des schénen Todes geboren.
1 Das Drama 47
Aber wann stellt sich dieser Zustand ein? Wir wissen, da8 die Ruinen einer
Kultur meistens die Bausteine fiir die neu entstehende Kultur liefern und in
sehr vielen Fallen kénnen wir die eine von der anderen nur durch ihre
Extreme unterscheiden; unsere Unterscheidungen sind nur nachtragliche
Abstraktionen, sie sind keinesfalls so, da& aus ihnen tiefe ethische und
weltanschauliche ZusammenstéSe hervorwachsen miissen, die Tragédien
zustande bringen. Den Untergang vieler Kulturen ruft aber rohe aufere
Gewalt hervor, ohne daf sie in sich erschiittert gewesen waren, und was an
ihre Stelle tritt, ist ihr so wesentlich verschieden, da8 zwischen den beiden
nur ein roher, physischer Kampf, nicht die Dialektik innerer Widerspriiche
vorstellbar ist. Den Zustand der Gefihlswelt und der Wertung, den wir hier
skizzierten und der fiir seinen Ausdruck die Tragddie erfordert, kann nur ein
Problematischwerden von innen her hervorrufen. Was ist die tatsichliche
Aquivalenz dieses ideologischen Zustandes? Alle Kulturen werden von einer
gewissen Klasse dominiert; oder genauer: die Manifestationsformen der
Kultur werden von den Skonomischen, politischen Verhiltnissen dieser
Klasse, von der Form, vom Tempo, vom Rhythmus ihrer Lebensweise
bestimmt. Aber dadurch, da8 die Grundlagen problematisch werden, auf
denen die Herrschaft der betreffenden Klasse, also das Dominieren der
Kultur beruhte, miissen alle Gefiihle, Gedanken und Wertungen dieser
Klasse, die in einer nichtproblematischen Zeit fiir nichtproblematische Ver-
hiltnisse geschaffen wurden, problematisch werden. Der Verfallsproze&
wird sich sogar gerade durch das Problematischwerden der Wertungen
offenbaren. In erster Linie fiir den einzelnen Menschen, der nur das empfin-
det, was ihn unmittelbar beriihrt und dessen tiefere Ursachen ihm im
seltensten Fall bewuft werden. Die Paradoxie der dramatischen Wirkung,
da& die soziologischen Geschehen auf den Aufnehmenden mystisch oder
metaphysisch wirken, wird auf diese Weise nur ein Fall einer sehr allgemei-
nen Wahrnehmungsart. Die dramatische Epoche ist also, um das Gesagte
ganz kurz zusammenzufassen, die heroische Epoche des Verfalls der Klasse.
Es ist die Epoche, in der eine Klasse (die im Publikum des Dramas
dominierende Masse) in ihren Menschen, in ihren heroischen Typen, die ihre
hauptsichlichen Fahigkeiten reprisentieren, den tragischen Untergang des
typischen Erlebnisses und des ihr ganzes Leben symbolisierenden Gesche-
hens empfindet.
Eine aufstrebende Klasse, die das Leben vom Gesichtspunkt ihrer Ideologie
noch nicht problematisch empfindet, die, wenn sie um die Herrschaft mit
einer anderen Klasse kimpft, in deren Institutionen, also in vorlaufigen,
48 Grundsatzfragen
verinderbaren Ursachen die Quelle des Ubels sieht - kann kein Drama
haben. Auch dann nicht, wenn das Leben ein Problem aufwerfen wiirde,
dem im spiteren Verfallsproze8 eine entscheidende Rolle zukommen wiirde;
selbst dann nicht, wenn dessen Erscheinen im gegebenen Fall von einem
Dichter bemerkt werden wiirde. Beaumarchais’ Drama, »Les deux amiss, ist
vielleicht das klarste Beispiel dafiir, warum das Biirgertum des 18. Jahrhun-
derts kein echtes Drama haben konnte, obwohl es das Drama wollte, obwohl
es bewuft darum kimpfte und sehr talentierte Menschen damit experimen-
tierten, es zu erschaffen. Der Ausgangspunkt dieses Stiickes ist der eigentlich
tragische Gegensatz, da8 die Ideologie der Kaufmannsklasse den Kaufmann,
der bankrott wurde, notwendigerweise fiir ehrlos halten mufte; aber infolge
der stindigen Entwicklung der Verhiltnisse (die Konjunktur) kann auch der
ehrenhafteste Kaufmann bankrott werden, was, wenn er wirklich und tief
ehrenhaft ist und tief von der Unehrenhaftigkeit des Bankrotts tiberzeugt ist,
nur zur Tragédie fiihren kann. Beaumarchais empfand es nicht so. Er sah es
so, da& dies nur ein zufalliges Ungliick ist, aus dem sein Held durch
zufilliges Glick genauso gerettet werden kann. Beim technisch virtuosen
Autor des »Figaro« kann und darf man nichts auf die Technik schieben;
Beaumarchais konnte alles was er wollte technisch lésen, er wollte aber keine
Tragédie haben. »D’ailleurs« — schreibt er in seinem Aufsatz — »Essai sur le
genre dramatique sérieux« — »les coups inévitables du destin n’offrent aucun
sens moral a l’esprit. [. . .] Si l’on tirait une moralité d’un pareil genre du
spectacle, elle serait affreuse, et porterait au crime autant d’ames, 4 qui la
fatalité servirait d’excuse, qu’elle en découragerait de suivre le chemin de la
vertu, dont tous les efforts dans ce systéme ne garantissent rien.«'” Denn so
fiihlte Beaumarchais und so fiihlte, wenn auch unbewuft, sein Publikum,
das im Kampf stehende, aber an sich noch ungebrochene Birgertum des
18. Jahrhunderts, das damals am starksten emporstieg. Deshalb konnte auch
aus ihren wirklich dramatischen Beobachtungen kein Drama entstehen.
Denn, wenn wir das Problem ganz abstrakt nehmen, ist der Fall, den
Beaumarchais aufwarf, im wesentlichen derselbe (obwohl wahrscheinlich ein
wenig unfruchtbarer) wie der, der nicht einmal ein dreiviertel Jahrhundert
spiter in Hebbels »Maria Magdalena« zur grofen Tragédie des Birgertums
heranwuchs: der nimlich, da& es noch eine dynamische Tiatigkeit der
biirgerlichen Tugenden unter den Menschen zu einer Zeit gab, in der sie sich
schon gegen sich selbst gewandt und sich selbst zugrunde gerichtet haben; je
intensiver sie gefiihlt haben, mit um so gréferer Sicherheit haben sie sich
zugrunde gerichtet. Es kann kein Zufall sein, daf in England, wo damals das
I Das Drama 49
ohne Erfolge, wenn es diesen Zustand nicht mehr gibt. In allen grofen
Landern Europas, in Italien, Deutschland, Frankreich, England und Spanien
entwickelte sich die mittelalterliche Biihne gréStenteils ahnlich, und mit ihr
entwickelten sich die nur in ihren auSeren Formen dramatischen Spiele: des
Mysterium, die Moralitéten usw. in dhnlicher Weise. Am Anfang der
Neuzeit aber, in den Landern, wo im grofen, das ganze Mittelalter durchzie-
henden Kampf des Feudalismus und des Kénigtums das Kénigtum nach
blutigen Kampfen den Adel niederzwingt und eine provisorische Gleichge-
wichtssituation schafft, den Adel in seinem Pomp belaft und ihm nur die
tatsachliche Macht wegnimmt, — in diesen Lindern, in dieser kurzen Zeit,
bevor der Adel endgiiltig zum Hofadel herunterkommt oder bevor er sich in
seiner Lebenshaltung an die emporsteigende biirgerliche Klasse anpagt,
entwickelten sich kurze, aber intensiv leuchtende dramatische Epochen, die
Epochen der grofen Tragédien. Das ist die Zeit Shakespeares und seiner
Zeitgenossen, Calderons und Lope de Vegas, Corneilles und Racines. Und
es entstand kein Drama in Deutschland, wo im Kampf der Feudalismus
siegte und nicht in Italien, wo wegen der ganz besonderen Verhiltnisse sich
der Ubergang in die biirgerliche Kultur durch den Umzug des Adels in die
Stidte und dadurch, da& er zum Patriziat wurde, vollzog. Aber auch die
Blitezeit des griechischen Dramas fallt in die Zeit des gefihrlichen Stehen-
bleibens des alten Athen am Grat eines Abhangs, mitten in das Schillern
eines Verfallsprozesses. Das ist die Begleiterscheinung des Untergangs der
alten Athener Einwohner, der Eugeneis-Klasse. Und selbst Wilamowitz
stellt fest, da& derselbe Proze&, der auch das griechische Drama zustande
brachte- obwohl er es anders formuliert ~ auch der Grund seines Untergangs
sei, es sei derselbe Grund, der auch die Athener Kultur problematisch
werden lief,” Und Murray findet in seiner griechischen Literaturgeschichte,
daf Aischylos in der Religionskritik der Vorlaufer von Euripides sei (und
fast ein jedes Problem erschien im griechischen Drama in religiéser Form), er
empfindet ihn sogar geradezu als Vorlaufer der zersetzenden, der sophisti-
schen Bewegung, wie Euripides als ihren Nachfolger.”"
Aber wihrend die Soziologie einerseits auf die Frage antwortet, wann die
Tragidie méglich ist, hilft sie andererseits die Erklarung der Paradoxie der
tragischen Wirkung zu vertiefen. Die Schwierigkeit der Interpretation des
Freudengefiihls, das die Tragédie verursacht, bestand immer darin, da8
dieses Freudengefiihl durch die Betrachtung der Leiden und durch das
innere Miterleben der Leiden entstand und nicht durch deren schéne Dar-
stellung (z. B. tragische Gegenstinde in der bildenden Kunst). Die Quelle
1 Das Drama si
des Freudengefiihls ist das Leiden: das ist das Paradoxon der tragischen
Wirkung. Jemand geht zugrunde, er geht notwendigerweise zugrunde, und
es ist jemand, der uns selbst bedeutet, dessen Zugrundegehen das Symbol
unseres Lebens ist. Das konnte nur mit dem radikalsten Pessimismus
konsequent erklirt werden, und damit die tragische Erklarung nicht dahin
fabrt, hat man - mit der gro&en Hypostasierung eines praktischen dramatur-
gischen Ratschlags von Aristoteles - den Begriff der tragischen Schuld
erfunden.~ Daf man diesen Begriff fiir das neue Drama nicht verwenden
kann, darauf werden wir spater, bei seiner Behandlung hinweisen, wir haben
hier weder Zeit noch Gelegenheit dariber zu polemisieren. Wir beziehen
uns nur darauf — was Lipps sagt -, da die Begriffe der Schuld, der
poetischen Gerechtigkeit der Welt, die auSerhalb des Dramas liegt, in die
Beurteihung der Geschehen, die innerhalb des Dramas liegen, mit einbezie-
hen wiirde.” Sie wiirden dadurch nicht nur die Geschlossenheit des Dramas
aufheben, sondern auch die Méglichkeit aller kiinstlerischen Wirkung, die
Verschiedenheit des Lebens vom Werk und ihre Unvergleichbarkeit. Dazu
kommt, da& diese Theorie sogar bei Shakespeare, auf den sie viel leichter
anwendbar ist als auf die Griechen und auf die Moderne, an nicht nur einer
Stelle vollkommen versagt. Wohin ihre konsequente Durchfiihrung fihrt,
zeigt diese AuSerung des ausgezeichneten Dichters und tiefen Kunstisthe-
ten, Otto Ludwig iiber Shakespeare: »Schuld und Strafe proportioniert
Shakespeare in jeder Person jeden Stiickes. Wie gelind ist die Strafe der
Desdemona, der Cordelia fiir geringe Schuld [.. .] (!)«. Lipps sieht die
Problematik des Tragischen ganz klar: »Kein Leiden, wie es auch heifen
mag, kann durch sein blofes Dasein erfreuen«, schreibt er und an einer
anderen Stelle heift es: »Sondern das macht hier wie iiberall den Genuf&, da8
in dem Leiden ein positiv Wertvolles der Persdnlichkeit zutage kommt.«
Nachdem er vorher das Mitleid, das das wesentliche Element des Tragischen
ausmacht, aus dem Gefiihl ableitete, da& sich der Wert von etwas in einem
solchen Untergang offenbart, schreibt er: »Es mischt sich in unserem Gefiihl
des Bedauerns oder der Wehmut mit dem Schmerz um die Zerstérung cin
erhéhtes Bewufitsein des Wertes, ein erhdhter und eben durch den Schmerz,
vertiefter Genuf.<”5 Es wird vielleicht aus den bisherigen Ausfiihrungen klar
geworden sein und so kénnen wir es in wenigen Worten zusammenfassen,
was die von uns bezeichnete soziologische Lage der Tragédie und des
Tragischen zur Analyse von Lipps hinzufiigt, ohne daran nur etwas zu
verindern. Das Gefiihl, da8 wir den Wert von etwas am intensivsten gerade
in seinem Untergang empfinden, kann so allgemein sein, wie Lipps es
52 Grundsatzfragen
bezeichnet, aber wenn dies auch der wesentlichste Teil der Tragédie ist, ist er
doch nicht das Ganze. Darin ist auch eingeschlossen, da der Individual-
wert, der im Untergang zum Ausdruck kommt, typisch ist. Die Tragédie ist
nicht die maximale Relevation der Schénheit einer Sache, die auf diese Weise
nur dazu da wire, diese Maximalitat herauszuholen; es gabe Leiden und
Untergang nur deshalb, weil diese den Wert von etwas am starksten spiiren
lassen. In der Tragédie ist nicht das primi, es ist nur cine Nebenwirkung,
wenn auch die wichtigste. Das Wesentliche ist, wie wir Ofters sagten, daf ein
Leben im Untergang einen Ausdruck erhiillt, da der Untergang das typische
Leben ist, da& das Maximum des Lebens nur im Tod zu erreichen ist. Dieses
Gefiihl ist, zumindest als Massengefiihl, ein soziologisch bestimmtes Gefiihl.
In einem gewissen ideologischen Zustand, den die gesellschaftlichen Verhilt-
nisse verursachen, empfinden die Menschen so, miissen sie so empfinden.
‘Wenn die héchsten Lebenswerte im Leben kleinlich, haBlich oder eventuell
unter furchtbaren Schmerzen und Grausamkeiten vernichtet werden, dann
muf sich daraus, wenn ein grofartiger Tod dargestellt wird, ein Freudenge-
fil ergeben, wenn die unverstindlichen, aber sich in der Empirie immer
wiederholenden, unruhigen, stérenden Lebenserscheinungen in der Tragé-
die eine erhabene, metaphysische Notwendigkeit gewinnen. Die Tragédie
macht die Lebensprozesse bewuft und es ist eine berauschende Freude,
diesen in die Augen zu schauen und ihre Notwendigkeiten zu verstehen.
Daneben offenbart die Tragédie — das ist das Wesen ihrer Wirkung ~ infolge
ihrer kondensierenden Kraft im tragischen Erlebnis einen Lebensreichtum
und eine Intensitit, die sich im Leben selbst nie offenbart; das hebt den
Menschen der Tragédie - gerade durch seinen Untergang — weit iiber die
vorstellbaren Méglichkeiten des ihm entsprechenden Menschen des Lebens.
Gibt es ein modernes Drama und ist es méglich? Was bedeutet diese Frage?
Ganz allgemein bedeutet sie, ob die auSeren Umstinde, die vom modernen
Leben gegeben werden, das Zustandekommen des Theaters erméglichen und
wie dieses Theater sein kann. Sie bedeutet, ob es solche Phinomene des
seelischen Lebens gibt, die unter der Wirkung des modernen Lebens zustan-
de kamen, die geeignet zur Manifestation in der dramatischen Form sind,
oder die eventuell geradezu die dramatische Form als ihren Ausdruck
I Das moderne Drama 53
erfordern. Sie bedeutet, was einerseits das heutige Leben selbst dem Drama
als Stoff bietet, was andererseits die aus ihm hervorwachsenden Weltan-
schauungen als Stilelemente bieten. Mit einem Wort: sind die Elemente des
dramatischen Stils im modernen Leben vorhanden und wenn ja, welches sind
diese Elemente, wie und worin offenbaren sie sich?
Es scheint vielleicht iiberfliissig, diese Fragen aufzuwerfen, wenn wir wissen,
da8 es ein modernes Drama gibt, wenn seit uniibersehbaren Zeiten ein jedes
Theaterjahr eine ganze Menge never Dramen zutage Bringt, wenn die
bedeutendsten Dichter unserer Zeit ihre innersten Inhalte nur im Drama
oder zumindest im Drama zum Ausdruck bringen. Es wiirde nicht geniigen,
diese Tatsache festzustellen, von einem gewissen vorliufig jederzeit annehm-
baren Zeitpunkt an ist die Analyse der einzelnen Stiicke der Versuch der
Feststellung, was das Gemeinsame in allen ist, wann es beginnt und in was es
sich vom Vorherigen unterscheidet. Warum suchen wir das moderne Drama
nicht gleich empirisch, in seinen historischen Manifestationen (wie wir es
spiter machen werden), warum werfen wir diese Frage so vorliufig auf,
warum suchen wir es a prioristisch, ohne die Zufille einzelner Tatsachen und
Geschehen? Warum versuchen wir auch begrifflich und nicht blof historisch
zu bestimmen, was das Wesen des modernen Dramas ist?
Vielleicht liegt im letzteren Wort auch die Antwort. Das »Weseng ist rein
historisch kaum feststellbar; wir konnen nie ohne die Zusammenfassung der
einzelnen Tatsachen und ohne die aus ihnen gewonnenen Abstraktionen zu
ihm gelangen. Denn diese Abstraktionen werden - auch methodologisch
- immer willkiirlich; d.h. ihre Zweckmifigkeit, das Ordnen des ganzen
Komplexes auf ihrer Grundlage und ihre Trennung von anderen Komplexen
kann nie wirklich iiberneugend sein. Die vorherige begriffliche Feststellung
ist also deshalb notwendig, damit wir in einem méglichst engen und vielfalti-
gen Zusammenhang mit der ganzen modernen Kultur feststellen, was und
aus welchem Grunde wir dann als wesentlich auswahlen werden, wenn wir
die Erscheinungen historisch betrachten und was wir warum als trennenden
Unterschied betrachten werden.
Denn die Tendenz der reinen Historie ist - ob berechtigt oder unberechtigt,
fragen wir hier nicht - alle Geschehen in lauter sich nie wiederholende,
einzelne, atomistische Elemente zu zerlegen, alle streng trennenden Stilun-
terscheidungen als unberechtigte Abstraktion hinzustellen; den tiefen Un-
terschied zwischen den einzelnen Epochen zu verwischen, alles so darzustel-
len, als ob sie nur Uberginge, nur Beziehungen und nicht tiefe Trennungen
wiren. Es wire hier weder am Platze noch an der Zeit und es hitte keinen
54 Grundsatzfragen
Das moderne Drama ist das Drama des Biirgertums; das moderne Drama ist
das biirgerliche Drama. Die Gesamtheit dieser Ausfihrungen wird, so
glauben wir, diesem Satz einen ganz konkreten und realen Inhalt geben.
Jetzt wollen wir lediglich die Tatsache feststellen, da8 das neue Drama aus
dem Kampfe um das biirgerliche Drama erwachsen ist, welcher nach der,
dem Verblithn des Renaissance-, des feudalen und des héfischen Dramas
folgenden Periode der Sterilitat ausgefochten wurde. Und selbst wenn — gar
nicht sehr lange nach seiner Geburt — seine Weiterentwicklung auch in eine
ganz entgegengesetzte Richtung umschligt (indem das moralisierende Ten-
denzdrama zur Tragédie, sein naiver Realismus zu asthetenhaftem Stilsuchen
wird), so wird es doch stets die Spuren seiner Entstehung in sich tragen.
Seine Probleme werden stets auf einer Ebene bleiben mit den durch seine
Entstehung aufgeworfenen Problemen, und, sind sie auch in vieler Hinsicht
ganz andere geworden, so bleibt doch immer ein Gemeinsames zuriick.
Woraus ist das neue Drama geworden und welche Verhiiltnisse, welche
fertigen Ausdrucksmittel hat es bei seiner Geburt vorgefunden? Nehmen wir
einstweilen beide Probleme méglichst duferlich und sagen wir in Kiirze so:
Das neue Drama wurde von bewuften rationalistischen Bediirfnissen her-
vorgebracht und hat eine vollig ausgestaltete, in langen Traditionen gefestig-
te Biihne fertig vorgefunden. Dies bedeutet in erster Reihe zwei Negativa.
Einmal, da8 das moderne Drama das erste, bis nun einzige Drama ist,
welches nicht aus mystisch-religissem Empfinden hervorgegangen ist, wel-
ches im Verlauf seiner spateren Entwicklung dem Religidsen sich nihert,
wahrend das friihere Drama sich langsam aus dem Religidsen herauslést. Es
II Das moderne Drama 55
Wunsch, als pium desiderium und dann erst kamen die Dramen zustande.
Diese schlossen zum Teil einen Kompromif mit der bestehenden, fiir den
Ausdruck andrer Gefiihle bestimmten Biihne und fielen derart im Stil
auseinander, wurden unbestimmt. Zum Teil aber standen sie jedem wirkli-
chen Theater fern, waren, wie Goethe zu Kleists Dramen bemerkt, fiir ein
Theater geschrieben, »welches da kommen soll«.””
Jedoch, die neue Biihne kam nicht. Sie entstand nicht im Hamburg, wo sie
Lessing erhofft hatte, nicht in Weimar, wo Goethe, nicht in Diisseldorf, wo
Immermann einen grofen Teil seiner Lebensenergien daran setzte. Das
ernste Drama der Aufklirung hatte keine wirkliche Biihne; obgleich immer
noch am ehesten eine, gerade weil sie kiinstlerisch noch wenig Neues in sich
trug, also mehr seines Inhalts, nicht seiner Form wegen, ja vielleicht sogar
trotz derselben. Es hatte aber keine Bithne und konnte keine haben das
Drama des Sturms und Drangs, noch das der deutschen Romantik, und eine
revolutionire Minderheit war es nur, welche die verginglichen Erfolge der
franzésischen Romantik dem grofen Publikum und dessen Theatern ok-
troyierte. Und von hier an steht jeder grofe Autor ohne Biihne da bis zu der
kurzen Siegesperiode des Naturalismus. Damals wollte es an zwei Punkten
zu gleicher Zeit, in Berlin und in Paris, in den Theatern Brahms und
Antoines scheinen, als ob Theater und Literatur sich endlich vereinten, allein
auch von diesen eignet sich doch keines zur Verwirklichung allerhéchster
Ziele. Es vermag nur einen kleinen Bestandteil der Literatur zu gestalten
- wenngleich dieser auch kiinstlerisch der aktuellste war — nicht aber die
ganze neue Dramenliteratur. Und selbst auf dieser Hohe ist es nicht fahig,
sich lange zu halten. Allmihlich sieht es sich zu Kompromissen gendtigt, um
wenigstens einen Teil seines Programms verwirklichen zu kénnen, und doch
ist sein ganzes Programm nicht mehr als ein unbewuSter Kompromif. Und
mit der Zeit nimmt das Kompromifimifige immer mehr und mehr zu, bis
endlich auch dieses Theater das geworden ist, was die andern waren.
Hier ist nur der symptomatische Teil der Situation von Wichtigkeit. Da8
Drama und Bihne voneinander geschieden sind und da8 das wirklich neue
Theater nur als Ideal besteht, nur als etwas, das verwirklicht werden sollte,
was aber nicht verwirklicht werden kann. In Wahrheit gibt es nicht mehr
eine (den, die dramatische Form bestimmenden Massengefiihlen entspre-
chende) wirkliche Masse. Das wahre moderne Theater la&t sich nur um den
Preis grofer Kimpfe dem gro8en Publikum aufzwingen. Nur um den Preis
von Kompromissen la&t es sich aufrechterhalten, denn das heutige Publikum
nimmt wohl manchesmal, unter anderem, auch das Wesentliche auf, wenn
II Das moderne Drama 57
eben dieses mit anderem untermischt erscheint — allein jedoch vermag dieses
nie zu bestehen. (Zur Zeit Elisabeths — von den Griechen ganz zu schweigen
- war dieser Unterschied nicht vorhanden; jene Dramen konnten mehr oder
weniger gelungen sein, das Wesentliche der Intentionen jedoch war und
blieb sich iitberall gleich.)
So sind denn Drama und Theater - fast kénnten wir sagen endgiiltig
~ voneinander losgelést. Welches sind die Griinde dieser Scheidung? Wir
sahen, da8 es sich hier eigentlich nicht so sehr um ein Geschiedensein
handelt, als um ein nicht-ineinander-Wachsenkénnen. Zwei verschiedene,
wirklichem seelischen Bediirfnis entstammende Gebilde vermdgen — ob-
gleich sie es aus kiinstlerischen Griinden sollten - sich nicht zu vereinigen.
Wir sahen, das Drama war didaktisch und tendenzids. Eine der Waffen des
ideologischen Klassenkampfes der im Kampfe stehenden, aufwartsstreben-
den und in starkem Aufsteigen begriffenen Bourgeoisie; ein Mittel, zu
begeistern, zu ermutigen, zu mahnen, anzugreifen und zu lehren. Und das
Theater war — in dem kurzgefaBten Ausdruck ist keinerlei Pilschung gelegen
— lediglich Amiisement. Jedoch, was hier das Wichtige ist, in keinem der
beiden ist das enthalten, was jedem Element der alreren Entwicklung eigen
war; das Festliche, das Religidse oder das zumindest irgendeinen Wesensteil
religidsen Empfindens in sich Tragende. Die Vereinigung der beiden konnte
derart nicht einander steigernd sein, vermochte nicht eine neue, die Objekte
und Inhalte der Gefiihle vollstindig umgestaltende, deren Wesenheit aber
bewahrende Einheit hervorzubringen. Das lehrhafte, das moralisierende
Element konnte, indem es sich vielfach mit dem Amiisanten abfinden mufte,
nicht anders als verflachen, veroberflachlichen. Das Moralisieren niimlich ist
seiner Form nach so ausschlieBlich intellektualistisch, daf in seinem In-Er-
scheinung-Treven im konkreten Falle dieser Fall nur Beispiel sein kann,
woran die Moral irgendwo von aufenher angehingt ist, nur eine Fabel,
deren Lehre eben die »Moral« ist. Der Fall kann nicht zum Symbol werden,
wird bestenfalls zur Allegorie und sein Erscheinen in sinnlicher Gestalt,
vermag ihm nicht neue, kiinstlerische Werte zu verleihen. Und viel deutli-
cher noch ist es, da8 das Theater durch das Moralisieren noch weniger iiber
die Grenzen seiner eigenen Méglichkeit emporgehoben werden konnte.
Denn, was es ihm an neuer Interessantheit zu geben vermag, das kann nur
ein inhaltlich Interessantes, nur die Sensation einer Aktualitét sein; diese
aber kann nicht zur Quelle seiner formalen, kiinstlerischen Steigerung
werden.
So ist es denn das grofe Negativum, welches der Entstehung des modernen
58 Grundsatzfragen
da& zwischen jeder tiefen und ernsten Kunst und dem dafiir in Betracht
kommenden Publikum der Zusammenhang gegen friihere Zeiten sehr viel
lockerer geworden ist. Des weiteren darauf, da8 die gréften Maler der
italienischen und deutschen Renaissance, des hollindischen xvu. Jahrhun-
derts (von den Griechen, vom Mittelalter und von Byzanz ganz zu schwei-
gen) meistenteils auch die popularsten waren. Unsere nachtraglichen Urteils-
revisionen mégen auch viel mehr den Urteilen des xv. Jahrhunderts gelten,
als denen der Zeitgenossen. Demgegeniiber vermochte man im xix. Jabrhun-
dert eine neue Richtung der bildenden Kiinste dem Publikum nur in
schweren Kimpfen zu oktroyieren. Berufen wir uns schlieflich darauf, da8
die Grofstadt nur bis zu einem gewissen Grade wirklich kultursteigernd ist.
Uber einen gewissen Grad einer so gerichteten Entwicklung hinaus bringt
die Differenziertheit im gré8ten Teil des kiinstlerischen Empfindens ein
Seichterwerden mit sich. Das Suchen nach immer neuen und neuen Sensatio-
nen ist fiir die Entwicklung nicht jeder Kunst von Nutzen.” Und gerade das
Theater ist am stirksten bedroht von dieser Gefahr; das Theater, welches
sein tiber das Sensationelle hinausweisendes Wesen, seine religidse, festliche
Weihe nur als Rudiment in sich trigt, welches der stindigen Gefahr unter-
liegt, zum véillig leeren und inhaltslosen »Schauspiel« (in des Wortes ur-
spriinglichstem Sinne) zu werden. Und wir sehen in der Tat, da gerade in
den gréten Metropolen, in Paris und in London, sich Theater und Dicht-
kunst héherer Ordaung am energischsten scheiden. England hat seit der
Restauration keine lebendige und dichterisch in Betracht kommende Dra-
menliteratur. Das Theater wird dort immer mehr nur zum »Schau-Spiel«,
und die dialogische Dichtung, sofern sie iiberhaupt innerlich dramatisch ist
~ da nun einmal jede Beriihrung mit dem lebendigen Theater von vornherein
abgeschnitten ist —, wird meistenteils ausschlieBlich »literarische. Sie gestaltet
sich derart, da8 sie selbst unter den giinstigsten Umstanden nicht dramatisch
wirksam sein kann. ([Shelleys »Cenci« ist vielleicht das letzte in Betracht
kommende englische groBe Drama und wieviel asthetizistische Experimente
gibt es darin; von den Nachkommenden, von Browning, Swinburne usw.
ganz zu schweigen.]) Aber auch in Frankreich ist Victor Hugo der letzte
Dramatiker, der zugleich auch im Zentrum der Literatur steht, jedoch auch
er nicht auf Grund oder zumindest nicht nur auf Grund seiner Dramen. Und
auch seine Dramen erreichten den Sieg erst nach grofen Kampfen und
vermochten nicht, sich definitiv zu halten. Und weiterhin sind es immer
mehr blo8 Manner zweiten Ranges, von der Gesamtentwicklung aus gesehen
episodische Gestalten, die eine entscheidende Rolle im Drama spielen. In
60 Grundsatzfragen
soll, da8 das moderne Leben als Stoff in bezug auf das Drama ohnhin von
episierender, lyrisierender, formzersetzender Wirkung ist, so daf diese von
auern Umstinden bewirkte Scheidung auch von innern formalen Griinden
unterstiitzt wird.) In Deutschland ist einerseits die lebendige, alles in sich
aufsaugende Gewalt des Theaters geringer, andererseits scheint — vielleicht
gerade deshalb — seine definitive Vereinigung mit der Literatur niemals so
hoffnungslos zu sein. Der Miferfolg jedes einzelnen Versuchs wirkt eher als
wie nur durch Zufilligkeiten, durch individuelle Fehler verursacht. Und
andererseits gibt es Dramen, welche auf dieser imaginiren, irgendeinmal zu
realisierenden, nur im Abstrakten »wirklichen«, aber theoretisch zumindest
vorstellbaren Biihne wirksam sein kénnten und auf der bestehenden mitun-
ter auch zu wirken vermégen. Die diesem Drama innewohnende lebendige
Kraft, durch seine Tradition bewirkt, lat eine seiner Entwicklungsrichtung
in den anderen Lindern analoge Gestaltung nicht zu. So ist denn auch das
Problem blof in Deutschland ein brennendes und ist es grofenteils nur unter
nordischen und deutschen Einwirkungen auch wieder in Paris und London
geworden.
Dies hat jedoch die Scheidung nur erleichtert, hat es nur méglich gemacht,
da das Drama teils als rein lyrisches und philosophisches Buchdrama jedem,
mit der Wirklichkeit auszufechtendem Kampf entfliche, teils eine imaginire
Biihne suche. Notwendig konnte dadurch die Scheidung noch nicht gemacht
werden. Jeder iufere Umstand jedoch ist auch hier in einer solch tiefen,
innern Parallelitit mit den kiinstlerischen Problemen, daf es fast den An-
schein hat, als ob das eine blo& Symbol des andern ware. Das Buch
erméglicht dem Drama den Verzicht auf die unmittelbare Massenwirkung,
die Wirkung auf den einzelnen Menschen. Also: die rein individuelle statt
der allgemeinen, die differenzierte statt der primitiven, die intime und
stimmungshafte an Stelle der laut-monumentalen, die intellektuelle statt der
sinnlichen, die sich langsam einstellende statt der vehement-unmittelbaren.
Und was derart infolge auferer Umstinde méglich geworden ist, das wird
von inneren Stilursachen aus geradezu gefordert. Diese Stilprobleme zu
begriinden, ist eben der Zweck dieses Abschnittes; es geniigt also an dieser
Stelle nur in Kiirze auf sie zu verweisen. Vor allem nimlich darauf, daf die
Kultur, auf deren Boden das neue Drama gewachsen, intellektueller ist, als
jede vorangegangene. Was vom Gesichtspunkt der Darstellbarkeit der dra-
matischen Zusammenstife zu bedeuten hat: daf diese fast ausschlieBlich in
der Form innerer, leiser, kaum sichtbarer Verschiebungen und nicht in
starken und unvermittelt auf die Sinne einwirkenden Handlungen in Er-
II Das moderne Drama 63
scheinung treten. Je mehr cin Konflikt ein typisch bestiger ist, um so viel
weniger wird es méglich sein, ihn in einer sofort fiir jedermann verstandli-
chen und die Sache dennoch in ihrer ganzen Tiefe und mit all ihren
Feinheiten umfassenden symbolischen Handlung auszudriicken. Der Intel-
Iektualismus gibt den typischen Geschehnissen eine Form, durch welche
diese fiir die Masse schwer apperzipierbar werden. Parallel damit geht die
Wirkung dessen, da8 auch dem neuen Leben, welches einerseits der Stoff des
Dramas, andererseits der die Phantasie von Autor und Publikum gestaltende
Faktor ist, das sinnliche Element, das Sichtbare und Hrbare, das Greifbare
und nicht zu Definierende immer mehr verschwindet. Die Rationalisierung,
der Wunsch, alles auf Ziffern und Formeln zu reduzieren, nimmt hingegen
(bekanntlich nicht nur in den reinen Naturwissenschaften, sondern auch in
den mehr historischen (Soziologie]) immer mehr zu. [Die Tendenz der
modernen Wissenschaft ist, um Simmels Worte zu gebrauchen, die qualitati-
ven Bestimmungen auf rein quantitative zurickzufihren.”? Daf z. B., wie
wir so qualitative Unterschiede, wie die Licht- und Tondifferenzen es sind,
perzipieren, wird durch quantitative Unterschiede bestimmt. Man kénnte
sich noch auf die sehr allgemeine Tendenz beziehen, die die Notwendigkei-
ten der zwischenmenschlichen, soziologischen Geschehen auf statistische,
zahlenmiiGige Zusammenhiinge zuriickfihren will usw.]
Von all diesem ist hier soviel von Wichtigkeit: die Entwicklung fihrt von der
unmittelbaren sinnlichen Art der Apperzeption zur mittelbaren, intellektu-
ellen; die Kategorie des Qualitativen wird verdringt von der des Quantitati-
ven, oder — in der Sprache der Kunst gesprochen — das Symbol durch die
Definition, die Analyse.
Diese Umgestaltung des Lebens jedoch und mit demselben resp. durch
dasselbe die des dramatischen Geschehens formt nicht allein das Drama in
der angedeuteten Richtung um, seine unmittelbare und allgemeine Wirkung
erschwerend, sondern zersprengt auch noch die Masse, welche ihm sonst zur
Verfiigung stehen kénnte. Der Intellektualismus namlich, als Form der
seelischen Prozesse, hat unbedingt die starkste Tendenz, jede Gemeinschaft
zu zersetzen, die Menschen voneinander zu isolieren und ihre Unvergleich-
barkeit zu betonen. (Daf die intellektualisierten Erlebnisse inhaltlich einan-
der verwandter sind oder vielleicht leichter zu schematisieren, kommt hier
nicht in Betracht.) So gestalten die heutigen Gefiihlsformen das Drama
cinerseits derart, da es schwer auf eine beliebige Menge wirken kénnte und
erschweren andererseits die wahrhaft starke und unmittelbare Wirkung jeder
Art von Dramen. Und daf diese zwei, aus derselben Quelle entspringenden
64 Grundsatzfragen
etwas zu bedeuten hatte. All dies - dem Sehnen der an ihrer Isoliertheit tief
Ieidenden Dichter auf halbem Wege entgegenkommend - half ein neues
Theater, das Theater der Minoritat, das neue intime Theater hervorzubrin-
gen. Strindberg wirft die Idee in seinem Vorwort zu »Fraulein Julie« das
erstemal in der Form eines bestimmten Programmes auf und sie verwirklicht
sich das erstemal in Paris,.um dann von Berlin und noch einigen Stadten
aufgenommen zu werden. Es gab eine Zeit, in der von ihr die Lésung der
ganzen Theaterfrage erwartet wurde; heute haben diese Hoffnungen aufge-
hort. Heute erscheint das Ganze als interessantes, in seiner Bedeutung und
seinem Wert aber sehr problematisches Experiment; als interessante artisti-
sche Pikanterie, als ein fiir den Ausdruck einiger feinerer Nuancen vielleicht
etwas tauglicheres Instrument. Die Lésung des grofen, des Kardinalpro-
blems, kann man heute nicht erwarten und erwartet auch keiner mehr von
ihm.
Daf dieser Versuch geschehen mufte, das haben wir gesehen, daf er nur
Versuch bleiben konnte, dessen auSere und innere Griinde sind kurz gefaft
die folgenden. Zunachst: das Theater der Minoritat kann aus ékonomischen
Grinden, in Wirklichkeit nie auf jene Minderheit rechnen, welcher es seine
Entstehung verdankt, welches es braucht, und umgekehrt, von dem es
begebrt wurde, um wirklich das zu werden, wofiir es zustande gekommen
ist. Das intime Theater (zumal es doch die grof&e Masse notwendig ausschlie-
fen mu8) kann nur wenigen Menschen feinste Kunst darbieten. Gerade
deshalb jedoch kann sein Publikum, eben da es die Minoritit ist, aus
wirtschaftlichen Griinden sich nur aus einer Minoritat der Reichsten zusam-
mensetzen. Ein Publikum also, das in keinerlei notwendigem Zusammen-
hang steht mit dem hier gedachten, wirklichen Publikum. Ja, es schlieft
dessen gréSten und vielleicht besten Teil von vornherein aus und ist gend-
tigt, einen Teil des eigentlich auszuschlieenden grofen Publikums, und
zwar keineswegs den besten (aus Mode- und Sensationsgriinden) heranzu-
locken. Das Publikum des intimen Theaters also ist lediglich kleiner als das
der groSen Theater. An Qualitit aber bringt es nicht und kann nicht jene
wesentliche und einzig entscheidende Wandlung bringen, welche die Idee
seines Zustandekommens heischte.
Hier aber war auch eigentlich nicht davon die Rede, sondern von mehr, von
Kihnerem und noch Unmiglicherem. Vielleicht, wenngleich uneingestan-
den, davon, daf der primitive, unintellektuelle Massenkunstcharakter des
Theaters aufgehoben werde, da& es von Mensch auf Mensch wirkend
gemacht werde. Dieses Bediirfnis wurde nicht von augern Umstanden
66 Grundsatzfragen
hervorgebracht. Nicht lange, nachdem die Idee ins Stadium der Verwirkli-
chung gelangt war, traten immer éfter Autoren auf mit Dramen, die our
individuelle Konflikte zum Gegenstand hatten, in ganz individueller Manier
vorgetragen. Mit Dramen, fiir welche die laute, die allgemeine und tiefe
Wirkung, z.B. die Wirkung auf eine ganze Klasse, aus inhaltlichen wie
formalen Griinden vornherein ausgeschlossen war. Dramen, fiir welche,
sofern sie einer Bihne bedurften (und aus verschiedenen Griinden z. B. ihres
dekorativen Charakters wegen bedurften sie ihrer), diese nur eine solche, die
Primitivitit des Massenempfindens iiberwindende Bihne sein konnte. Dies
ist der grundlegende prinzipielle Irrtum des intimen Theaters, um dessent-
wegen es selbst dann unrealisierbar wire, wenn ihm alle auferen Umstande
mit der Energie entgegenkimen, mit welcher sie in Wahrheit sich ihm
widersetzen. Der groSe prinzipielle Irrtum liegt darin: der Massencharakter
einer Masse wird nicht durch die Zahl der in ihr eingeschlossenen Menschen
bestimmt (oder zumindest nur unter einer gewissen Grenze, einer so niedri-
gen, welche hier kaum in Betracht kommen kann). Und wenn einmal ein
Massenempfinden zustande gekommen ist, so hat auf dessen Qualitiit die
Einzelqualitat der die Masse bildenden Menschen kaum einen entscheiden-
den Einflu&. Das Intime des intimen Theaters indert entweder nichts am
Wesen der Theaterwirkungen oder es ist hdchstens imstande, dieselben
abzuschwachen. Es ist fahig, mittels allerlei Stimmungesrequisiten die Men-
schen bis zu einem gewissen Grade voneinander zu isolieren, das Zustande-
kommen einer groSen mystischen Ekstase zu verhindern. Dennoch aber ist
es nicht fahig, jeden Zusammenhang abzuschneiden. Immerhin wird es
unmdglich bleiben, da& zwischen Werk und Geniefer die intime Nahe der
einsamen Lektiire zustande komme. Dariiber gar nicht zu reden, daf selbst
das von nichster Nahe gesehene, aus feinsten Schwingungen zusammenge-
fiigte Drama seiner Form wegen nicht geeignet ist, von solcher Perspektive
aus geschaut zu werden. Unmdglich, da8 das Gefiihl des In-der-Masse-seins
jede Wirkung vollkommen verliere, wie sehr es auch abgeschwiacht und um
seine positive Kraft gekommen sein mag. Die im intimen Theater erreichbare
Wirkung kann — bis auf einige hier nicht in Betracht kommende schauspiele-
rische und bihnentechnische Errungenschaften — nur die nimliche sein, wie
die jedes anderen Theaters. Was mit seinen Mitteln zu erreichen ist, ist
lediglich eine Schwachung der unmittelbaren Wirkung um einer tief proble-
matischen, wahrscheinlich nie zu ereichenden, mittelbar intellektuellen Wir-
kung willen.
Das ganze intime Theater ist eine prinzipiell paradoxe Institution: ein
II Das moderne Drama 6&7
aristokratisches Theater gibt es nicht und kann es nicht geben, weil einer
seiner Wesensteile durch den anderen vernichtet werden muf. Ein Theater
kann nicht die Uberwindung des primitiven Massenempfindens anstreben,
ohne sich selbst zugrunde zu richten. Das intime Theater ist schon wegen
der prinzipiellen Problematik seiner Grundlagen zu ewigen Kompromissen
gendtigt, um iiberhaupt in irgendeiner Form realisierbar zu werden. Aus den
Kompromissen aber kann, wie wir sahen, nur eine Schwachung der alten
Wirkungen hervorgehen, nicht aber die Méglichkeit neuer Wirkungen. Die
ganz konsequente Durchfiihrung des Grundprinzips (eigentlich also: in
einem Zimmer fiir ein paar Menschen zu spielen) ist jedoch nicht allein
praktisch undurchfiihrbar, sondern auch wegen der dem Drama eignen
Perspektive a priori unméglich.
So vermochte denn das intime Theater und seine intime Schauspielkunst das
Problem von Drama und Biihne nicht zur Lésung zu fiihren. Was es an
positiver Wirkung erreicht hat, konnte im wesentlichen nur eine gréfere
Verwirrung des Verhiiltnisses der beiden sein. Das Resultat nimlich war, da8
die Schauspielkunst des Buchdramas zustande kam, ohne aber, daf dieses zu
einer auf wirklich massenbewegender Kraft beruhenden allgemeinen Gel-
tung gelangt ware. Das Biihnenmiafige differenzierte sich; das ganze indivi-
duell-, das nur augenblicklich-, das relativ-Bedeutungsvolle, das Lyrische,
die »Stimmung« fanden schauspielerische und biihnenmifige Ausdrucksfor-
men. Es ist méglich geworden, da im Tiefsten ihrer Anschauungsweise
unbiihnenmafig, ja undramatisch gedachte Werke dennoch ganz aus der
Seele des Schauspielers heraus empfunden seien, da sie, um des schauspiele-
rischen Ausdrucks willen, die Biihne als ihre formale Vollendung dennoch
verlangten. ©
Nicht lange wihrte es und - parallel mit dem AuSerkurskommen des
Naturalismus und der daraus erwachsenden Richtungen und in engem
Zusammenhang damit — hatten es gerade die feinsten Kiinstler durchgefihlt,
da8 dieser Weg nirgends hinfiihre. Und so trachteten sie denn, dem Beispiel
der bildenden Kunst folgend, sich von den intimen, naturalistisch und
impressionistisch sterilen Feinheiten zu entfernen, und eine, an das Tiefste
des Empfindens aller rithrende, auf ganz allgemeine, gleichsam schematisch
allgemeine, Grundlagen zuriickfiihrende Monumentalitat zu erreichen. Von
den literarischen Einzelheiten dieser Richtung wird noch spiterhin ausfiihr-
licher die Rede sein, hier ist nur das Verhiltnis von Theater und Literatur
von Wichtigkeit. Sie sahen, weil sie einsehen muften, das kiinstlerisch
Sterile, fir héchste Ziele Ungeeignete, selbst innerhalb ihrer eigenen be-
68 Grundsatzfragen
2
Dieser Kampf, so wie wir ihn hier dargestellt haben, wiirde — kénnte er in
dramatischer Form ausgedriickt werden - vielleicht das typischste moderne
Drama sein. Als solches ist es ein vollkommenes Symbol der Entwicklung,
welche jenes Drama hervorgebracht, zu dessen Ausdruck dieses entstanden
ist. Auf eine kiirzeste Formel gebracht (und spitere Ausfiihrungen und die
Analysen einzelner Werke von einzelnen Schriftstellern werden erweisen,
da8 diese Formulierung selbst in ihrer abstrakten Starrheit richtig ist),
kénnte man vielleicht sagen: Aus dem Ausdruck des historischen Erlebnisses
ist das hervorgegangen, was wir modernes Drama nennen; aus dem Erlebnis
heraus, welches von der zweiten Hilfte des xvi. Jahrhunderts angefangen
bis zu unsern Tagen, dem Biirgertum, dieser typisch doktrinaren Klasse,
durch alles mit ihr und um sie her Geschehende geradezu aufgezwungen
wurde. Wir nennen dies hier nur in Ermangelung eines bessern Ausdrucks
das historische Erlebnis, weil in diesem das historische Empfinden erzeugen-
den Erlebnis dieses Gefiihl sich am reinsten symbolisiert. Das Gefiihl selbst
aber durchdringt in tausend Formen und tausend Variationen jede erdenk-
liche Auferung des moderneri Lebens. Wir denken hier an das grofe
Erlebnis der Franzésischen Revolution, um nur ein Erlebnis symbolischster
Art anzudeuten. Der Rahmen dieser Arbeit gestattet ohnehin nicht, daf wir
mehr geben wollten, als die Einwirkung der Gefiihle auf Stoff und Stil des
Dramas. Wir denken an jenes Erlebnis, in welchem sich die Ohnmacht der
nur theoretischen, rein ideologischen, rationalistischen, von innen hinaus-
70 Grundsatzfragen
eigentlich Abstracta. Vielleicht, daf die beiden Fille ganz von fern und ganz
aus der Héhe gesehn eigentlich doch eins sind und an dem tiefsten Punkte
der kiinstlerischen Verarbeitung sich auch vereinen. Stets aber muf das
konkret werden, von welchem aus wir das andre sehen, und abstrakt bleiben
das, was wir sehen. Aus diesen Lebensformen, aus ihrer Beziehung zueinan-
der und zu der dramatischen Form kénnen die wichtigsten Stilprobleme des
neuen Dramas abgeleitet werden: aus der Abstraktheit des das Leben
beherrschenden Prozesses (weil wir doch im Drama, so wie im eigenen
Leben die Welt aus der Perspektive nur eines Menschen ansehen kénnen) die
Abstraktheit des dramatischen Konfliktes; aus der sich an den Tatsachen
brechenden Ideologie (denn die Tatsachen sind es, die wir primar wahrneh-
men kénnen) die allem Frithern gegeniiber starker, gewichtiger geworden,
konkrete Bedeutung des Hintergrundes, des Milieus. »Die Tragédie liegt
hier«, so schreibt Dilthey, indem er bei Lessing den Anfang des neuen
Dramas sucht, »vielmehr in der ginzlichen Heterogenitit des moralischen
Affektes zu der umgebenden Welt und in der so entstehenden Unmdglich-
keit fiir das sittliche Heldentum, sich ihr gegeniiber zu behaupten.«””
Abstrakt ist der Konflikt, weil der Kampf sich fiir Abstracta, um Abstracta
dreht, weil das was — in einer letzten Analyse der Dinge — den Sieg
davontrigt gegeniiber dem um ein Abstractum in den Kampf gezogenen
Helden, ein Abstraktes ist. Und konkret ist der Hintergrund, weil es gerade
die Konkretheit der Tatsachen ist, an welcher die Heterogenitat, das vorn-
herein Hoffnungslose und Tragische des abstrakten Strebens, offenbar wird.
Jedes moderne Drama ist derart im Vergleich zu jedem fritheren ein histori-
sches Drama. Es ist es, weil in Wirklichkeit sein Held, wenngleich er auch
nie und nirgends wirklich erscheint, ein historischer Proze& ist. Und weiter-
hin auch deshalb, weil er - dies ist die andere Seite des historischen Sehens
- in Raum und Zeit immer ein Konkretes, ein Einmaliges, ein sich nie und
nirgends Wiederholendes ist. Alles Geschehen ist aufs engste und untrenn-
bar verkniipft mit dem konkreten Ort und der Zeit, mit jenen konkreten
Umstinden, unter welchen es sich gerade abspielt. Ben Jonson konnte in der
Auflage von 1616 des »Every Man in His Humoure, ohne sein Stiick
wesentlich abindern zu miissen, den Schauplatz (der Auflage von 1601
gegeniiber) von Florenz einfach nach London verlegen. Fiir die Schriftsteller
der Elisabethanischen Zeit war die Plazierung der Handlung rein Sache der
Konvention. [Und - ich zitiere hier Schellings Monographie - die Atmo-
sphire von »Der Widerspenstigen Zahmung« sei ganz die der »Die lustigen
Weiber von Windsor«, und obwohl Padua der Schauplatz sei und der Held
72 Grundsatzfragen
vergessen ist auch, da8 auch im Drama der Shakespeareschen Zeit alle
Klassen der Gesellschaft vorkamen. Warum empfinden wir das moderne
Drama dennoch als mebrschichtig gegeniiber dem aus einem Stoff Gearbei-
teten aller friheren? Zunichst: wenn in den Dramen der elisabethanischen
Zeit auch Angehérige mehrerer Klassen vorkommen, so entstammen die
wahren Menschen, die dramatischen Gestalten doch simtlich einer Klasse.
Eine grofe Ausnahme ist es, wenn auch nur einer vom Kleinadel vorkommt,
wie z. B. in »Arden of Feversham«."' Die niedrigern Klassen steuern teils
nur komische Episoden bei oder sind zum andern Teil nur da, damit ihre
seelische Minderwertigkeit die Vornechmheit der Helden besser hervortreten
lasse. Die Klassen haben also keine entscheidende Rolle im Handlungs- und
Charakteraufbau dieser Dramen. Gerade weil sie die Menschen ganz absor-
bieren, indem sie sie nicht nur (unter anderem, und so von unterscheidbar
andersartig wirkenden Umstinden) determinieren helfen, sondern indem sie
bestimmte Eigenschaften im Positiven und im Negativen jedem zuteilen und
bestimmte Méglichkeiten vor ihnen von vornherein verschliefen. Und all
dies ist doch noch so ganz natiirlich, entbehrt noch so vollkommen jedes
Schattens einer Méglichkeit des Problematischwerdens, da8 es in ihnen
ebensosehr die Funktion eines nicht weiter analysierten und auch nicht zu
analysierenden Charakterzuges hat, wie z. B. unter normalen Umstinden
die Wirkung des Lebensalters auf das Temperament nicht weiter analysier-
bar ist und auch keiner Analyse bedarf. So da8 es schon in der Tragikdefini-
tion dieser Zeit enthalten ist, da& die Helden nur auf den Gipfeln der
Gesellschaft stehende Menschen sein kénnen. Was auch natiirlich ist in
jedem Zeitalter, dessen Lebensformen von denen des Adels bestimmt wur-
den; von den Lebensformen einer Klasse, fiir welche das in der Weltordnung
Verwurzelte ihrer herrschenden Stellung und die natiirliche Vorziiglichkeit
und Vornehmheit der fiir sie wichtigen Eigenschaften, schon ihrer histori-
schen Prazedenzien, ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage wegen, niemals
problematisch werden konnte. So bemingelt die Asthetik der elisabethani-
schen Zeit (z. B. Sir Philip Sidney, An Apology for Poetry) sogar, daf in den
ersten Dramen selbst nur komische Rollen andern zugeteilt wurden, als
vdie dahin gehdrten«.? Und da die Dramatiker, wenngleich sie in diesem
Punkte nicht ganz so streng dachten, dieser Auffassung nicht allzu fern
standen, beweist in der einleitenden Szene von Beaumont-Fletchers »The
Knight of the Burning Pestle« die schonungslose Verspottung jenes Londo-
ner Biirgers, der sich zu wiinschen vermift, daf in den Stiicken nicht immer
nur Kénige vorkimen, sondern daf dem Publikum auch einmal gewahrt
76 Grundsatzfragen
Cato«.“] Daran denkt er wohl auch [Lessing], indem er schreibt: »Es liegt in
der Natur des Menschen, daf ihn nur bewegt, was Seinesgleichen zusto&t:
Kénige sind darum Unsresgleichen allein durch die natiirlichen Empfindun-
gen [. . .] die alle Stinde zu einem einzigen, dem des Menschen vereint.« Das
feudale Drama gestaltete seine griechischen und rémischen Helden und
italienischen Patrizier in Feudalherren um. Das biirgerliche Drama hinwie-
der trachtete mittelst der Fiktion des allgemein Menschlichen eine Verbin-
dung herzustellen zwischen allen Menschen und - im Asthetischen — die
ewigen Symbole der alten Dichtung und die Symbolméglichkeiten der Sagen
und der Geschichte fiir sich zu erobern. Jene Klasse aber war — soziologisch
~ in der Lage, die Existenz anderer Gefiihls- und Wertungsformen gar nicht
wahrnehmen zu miissen, ja nicht einmal deren relativ-subjektive Berechti-
gung neben der eigenen. Daher vermochte sie, wenigstens fiir sich selbst,
eine solche soziale Uniformierung des Weltbildes, seine Umformung nach
ihrem eigenen Bilde restlos durchzufiihren. Dies schlof sich fiir die biirger-
liche Klasse von vornherein aus. Die Sehnsucht danach war zwar natiirlich
immer vorhanden, die soziale Situation jedoch gestattete nie, davon abzuse-
hen, da& die Gefiihle, Gedanken und Wertungen der Menschen ihren
Verhialtnissen gema& verschieden sind. Bis zur Franzdsischen Revolution
konnten noch viele glauben, da& dies nur temporar sei, daS man die
Menschen nur aufzuklaren, nur zu befreien habe, damit alles anders werde.
Nachher aber waren nur noch die verblendetsten Doktrinare imstande,
demgegeniiber die Augen zuzudriicken, nicht aber das Leben, das Wesent-
liche des Lebens rein, tief und stark erschauende Dichter.
Mit all diesem tritt zwischen die das Drama bewegenden Krifte eine neue
ein: das Werten: Im neuen Drama prallen schon nicht mehr nur Leiden-
schaften aneinander, sondern Ideologien, Weltanschauungen. In den Zusam-
menstdfen von differenten Situationen entstammenden Menschen mu& den
Wertungen eine mindestens so wichtige Rolle zukommen, wie den rein
individuellen Charaktereigenschaften. Ja, der aus grdSerer Ferne erfolgen-
den Berihrung wegen nimmt die bewegende Kraft der Menschen hiufig
noch zu, obgleich jeder Teil in den meisten Fallen iiberzeugt davon ist, da
¢s sich nur um seine ganz spezielle Gefiihlsweise handeln kann. Die Gegen-
tiberstellung der zweifachen Wertungen der beiden Welten ist anfanglich
allerdings nur sozial. Die verschiedene Weltbetrachtung zweier Klassen setzt
Menschen in Bewegung und stellt sie einander gegeniiber. Und lange Zeit ist
nur in der den Stoff des Dramas bildenden Wirklichkeit und in der Kraft,
durch welche sie den Autor, gleichsam gegen seinen Willen, diese Zweiheit
78 Grundsatzfragen
sto& gekommen wire, lediglich weil sie einer Familie entstammten, entweder
weil die durch die volle Entfaltung ihrer Persdnlichkeit entwickelte zentrifu-
gale Kraft die Kohision der Familie sprengen mu&, ob sie auch selbst
zugrunde geht in diesem Kampfe; oder weil infolge der zwingenden Energie
einer kontinuierlichen Entwicklung die einander Nichststehenden in den
scharfsten Gegensatz zueinander geraten miissen. Denn der Zeiten Lauf ist
derart, daf er die Kinder in den iiber ihr Leben encscheidenden simtlichen
Fragen zu Anschauungen dringt, welche ihre Eltern hassen und verachten
miissen; und zwingt mit derselben Energie jeden der Teile, gegen eine
solche, das Leben bedeutende Anschauung des andern zu kampfen; je besser
und ehrlicher er ist und je mehr er den ihm gegeniiberstehenden liebt und
dessen Heil vor Augen hilt, mit desto intensiverer Kraft.
Paul Ernst sagt einmal, da& die Darstellung des Generationskonfliktes in
Form des Gegeniiberstehens der Anschauungen die dichterisch unreife Form
des Kampfes ist. Denn hier ist die denkbar grofte Kraft der Gegensatze nicht
zu erreichen und das Interesse witd von der Hauptfrage, vom Zusammen-
stofe selbst, auf nebensichliche Gesichtspunkte, auf die neuen Uberzeugun-
gen hingelenkt. Darum sei eine reinere und tiefere Wirkung zu erzielen,
wenn der Kampf zwischen Vater und Sohn etwa um ein Bauerngut geht,
welches zur Erhaltung einer, nur einer, Familie ausreicht; oder gleichviel, um
den Thron zwischen dem alternden Kénig und seinem Sohn.“ Dies ist sehr
wahr, doch darf auch nie vergessen werden, da& das Einander-Gegeniiber-
stehen der Meinungen, der Ethiken und Wertungen, die einzige Moglichkeit
ist, derartige Zusammensté&e bis zum Grad der dramatischen Dialektik
bewuft zu machen. Nur das Gefiihl, ein dem alten gegeniiber besseres,
héherwertiges Leben zu vertreten, kann der neuen Generation die Kraft
verleihen, mit der Autoritit auf gleicher Stufe den Kampf aufzunehmen. Nur
zum Lebensgefiihl geworden, kann diese Zweiheit es erméglichen, daf
dieser Kampf in seiner abstrakten (hier also von individuellen Mangeln nicht
komplizierten) Reinheit als den Lebensprozef bedeutend, als dramatisch
empfunden werde. Méglich, da die Ausschaltung des ideologischen Teils
das Drama héherwertig macht, sobald dieser Zustand schon eingetreten ist.
Es ist aber nur méglich, weil auch in dem Ernstschen Beispiel, in dem Kampf
zwischen dem greisen Kénig und dem Thronfolger, das Gealtertsein des
Kénigs sich nur im Nichtverstehen der neuen Verhiltnisse, in der Unfahig-
keit, sich ihnen anzupassen, aufern wird. Wo dies nicht vorhanden, wo das
Weltgefiih! vollkommen stabil ist, dort wird aus einem solchen Konflikt nie
ein Drama, wie oft das Leben es auch produzieren mége; nicht einmal dann,
II Das moderne Drama 83
wenn die Situation auch in einer dichterischen Vision da ist. Shakespeare ist
hier wiederum das gré8te Beispiel. Im zweiten Teil von Heinrich 1v., als der
Konig im Sterben liegt, wacht Prinz Heinrich an seinem Krankenbett, und
im Glauben, da8 der Konig bereits gestorben sei, setzt er seine Krone auf
und zieht sich zuriick, um sich in einsamen Gedanken fir seine groSe und
schwere Aufgabe vorzubereiten. Der Kénig aber war nicht gestorben, er
schlief blo&, erwacht, und die Situation ist hier mit solch unendlich sinnli-
cher Kraft herausgearbeitet, wie bei Shakespeare gewdhnlich und bei den
Modernen fast niemals - und dennoch wird sie nicht zum Drama. Warum?
Weil Heinrich sich hier die Krone nur irrtiimlich aufgesetzt hat und das
Mi8verstindnis in einer wundervoll lyrischen und ergreifenden Szene auszu-
gleichen ist. Indem in der abstrakten Situation und in der sie tragenden
gesamten Shakespeareschen Weltanschauung keine Rede davon ist, da
Vater und Sohn Menschen aus zwei getrennten Welten sind, konnte hier das
Drama nur aus der Schuld des einen oder andern Teiles entstehen und derart
nicht das Drama der Generationen sein.
Wir haben uns mit diesem einen Fall, der Scheidung des alten und neuen
Dramas, so eingehend beschiftigt, damit das Prinzipielle der Scheidung samt
seinen Griinden so deutlich werde, da& ihre Unterschiedlichkeit an jedem
Punkt (von dieser Perspektive aus) nun nicht mehr allzusehr demonstriert
werden miisse. Der Generationskampf ist nur ein extremer starkstwirkender
Fall jener aus allgemeinem Gefiihl geborenen neuen Tatsache im Drama, daf
der Schauplatz fast iiberall der Treffpunkt zweier zeitlich getrennter Welten
ist; da8 die Welt des Dramas die Welt des in-einem-Punkt-Zusammenlau-
fens der »schon« und der »noch«, der »nicht mehr« und »noch nicht ist.
Da8 das, was wir im Drama Gegenwart nennen, der Augenblick der
Selbstbesinnung, der aus dem Vergangenen geborenen Zukunft, ihrer Loslé-
sung von diesem und ihres sich-ihm-Gegeniiberstellens ist. Mit dem Ende
jeder Tragédie fallt eine ganze Welt zusammen. Das neue Drama bringt nur
das neue, da8 der Zusammenbruch von einem sich vom alten an Qualitit
unterscheidenden gefolgt ist, wihrend bei Shakespeare der Unterschied ein
quantitativer war — von der Ethik aus: dem Schlechten folge das Gute, oder
wenigstens das, was besser als das Alte war, aber doch der nimlichen Art.
Goethe hat in Goetz von Berlichingen einen Weltzusammenbruch gegeben;
¢ine Tragddie kann nur daraus und deshalb entstehen, weil Goetz gerade in
diese Zeit hineingeboren ist. Ein Jahrhundert oder vielleicht nur eine Gene-
tation friiher wire noch ein legendarischer Held aus ihm geworden, auch
blo8 um eine Generation spiter: vielleicht nur schon ein tragikomischer Don
84 Grundsatzfragen
Quixote. Diesen Gegensatz hat — den Akzent natiirlich auf die soziale Seite
legend ~ Beaumarchais in den Mittelpunkt seiner Figarokomédie gestellt.
Im Drama jedoch erscheinen die zeitlichen Gegensitze auch im Raum (und
umgekehrt), und so bringt die mehrschichtige Gliederung im Zeitlichen
notwendig auch die raumliche mit sich. Goethe schreibt unmittelbar nach
dem Goetz — dessen Pendant von diesem Gesichtspunkt aus — den Clavigo.
Auch hier kénnte man die zwei einander gegeniiberstehenden Ethiken, die
des Carlos und der Familie Beaumarchais, als einander folgend ansehen (und
starker noch vielleicht die Gefiihlsart der zwei Welten der Stella). Ebenso
aber erscheint im Goetz von Berlichingen auch das Nacheinander von
Mittelalter und Neuzeit in der Form des Nebeneinanderseins. Jeder einzelne
Mensch ist in Zeit und Raum, an jedem hier nicht weiter zu detaillierenden
Punkte seines zwischenmenschlichen Lebens in ein derartiges System einge-
stellt. Diese Systeme selbst sind aber kaum mehr in ein neueres System zu
fassen oder zumindest, sie treffen sich in iiber das Formulierbare hinausge-
henden Variationen in den einzelnen Menschen.
So ist jedes Klassifizieren eigentlich nur ein Gesichtspunkt der Theorie; im
gegebenen Falle handelt es sich immer um untrenabar Verschmolzenes. Die
Klassifizierung bekommt aber einen realen Sinn durch die Tatsache, dag
diese Gesichtspunkte immerhin verschiedene Seiten, wenn auch derselben
Sache, bleiben, da sie dennoch aus divergenten Richtungen kommen, die
sich eben in jenem Punkte begegnen. Und durch das Abhingigsein der
Vielseitigkeit und der Einheit von diesem Gesichtspunkte kommt wiederum
jene Relativitat der konkreten und abstrakten Elemente zustande, welche wir
anlaGlich der Hintergrundfrage im allgemeinen erértert haben. So erhalten
namlich die Abstracta gerade durch diese ihre Anhaufung eine ganz bis ans
Irrationale konkrete, anscheinend nur aus dem Charakter folgende Erschei-
nungsform. Denn dieses Abstraktwerden ist in seinen Griinden, Folgen,
Auferungsformen immer nur aus einem Gesichtspunkt, und vom andern
abgesehen, von abstrakter Wirkung. In der Wirklichkeit aber sehen wir es
niemals isoliert und nie gerade nur aus jenem einen Gesichtspunkt, so da&
seine Abstraktheit nur mittelst nachtraglicher Analyse festzustellen ist.
So handelt es sich hier also um das mehrseitig Determinierte der dramati-
schen Charaktere; darum, da8 man sie in verschiedener Richtung, von
allerlei Gesichtspunkten aus umkreisen kann, daf sie komplexer sind, als es
die Charaktere der alten Dramen waren, daf in ihnen verwickeltere Faden
zusammenlaufen und sie durch verwickeltere Verkniipfungen miteinander
und mit der durch das gegenseitige Verhiltnis zueinander ausgedriickten
II Das moderne Drama 85
Aufenwelt verflochten sind. Der Begriff der Aufenwelt wird derart relativer
dadurch, als er ehemals gewesen. Uber das Drama haben wir, allgemein
gesprochen, ausgesagt, das Schicksal sei das, was dem Menschen von aufen
her gegeniibertritt, und in einem griechischen, ja auch in einem Shakespeare-
schen Drama kénnen wir den Menschen und seine Umgebung oder, um vom
Gesichtspunkt des Dramas aus zu reden, den Helden und sein Schicksal
leicht voneinander trennen. Hier aber verschwimmt diese Grenzlinie. So
vieles str6mt vom Zentrum aus gegen die Peripherie und so viel von dorther
zum Zentrum des Menschen, da8 im grofen Reichtum der bestindigen
Wechselwirkungen die trennenden Begriffe ihren Sinn beinahe verlieren:
Mensch und Umgebung, Kérper und Luft, Wille und Umstinde, Held und
Schicksal, Charakter und Situation. Schicksal ist, was von aufen her dem
Helden entgegentritt; dabei muf man — ob es im Leben wahr sei oder nicht
- einmal bleiben, damit das Drama komponiert bleiben kénne; damit die
kimpfenden Parteien (in der zweidimensionalen Komposition) einander das
Gleichgewicht halten, und ebenso Vordergrund und Hintergrund (in der
nach riickwirts orientierten, der raumlichen Komposition). [Das Fehlen
dieses Gleichgewichts spiirt Schiller, als er Goethe iiber »Wallenstein«
schreibt, da8 darin dem Helden im Gegensatz zum Schicksal eine zu grofe
und starke Rolle zukomme“; und das sucht Otto Ludwig, wenn er sagt, da&
die ganze Komposition des Dramas durch das Schuld-Problem determiniert
sei.] Hier iiberall handelt es sich darum, da8 im Drama — in diesem
mystischen Spiel zwischen dem Menschen und seinem Schicksal - die nur
irgendwo jenseits der Wirklichkeit existierende, in der Empirie der konkre-
ten Ereignisse nicht deutlich aufweisbare, durch diese aber dennoch hin-
durchschimmernde Ausgleichung der tragischen Schuld und Siihne zu fin-
den sei. Oder, an Stelle dieser alten Terminologie, besser, weil deutlicher
ausgedriickt: gesucht wird das Gleichgewicht zwischen Menschen und
Aufenwelt, die Beziehung, in welcher der Mensch zu seiner Tat steht,
inwiefern er seine Tat auch wirklich tut.
Je mehr der den Menschen bestimmenden Umstinde, desto schwieriger
scheint diese Frage zu sein. Um so mehr hat es den Anschein, [~ wie
Lublinski es iiber die Menschen der naturalistischen und impressionistischen
Autoren sagte —] da8 die Atmosphire alles aufsaugt: es gibt keine Menschen,
keine bestimmten Umrisse, nur Luft, nur Atmosphire.*! Alles, was das
moderne Leben an Bereicherung des Gesichts und Gefiihls gebracht hat, all
das wichst nur der Atmosphire zu, auf Kosten der Komposition. Die
Menschen werden durch die Bereicherung ihrer riumlichen und zeitlichen,
86 Grundsatzfragen
sozialen und innerhalb des Sozialen vor sich gehenden Gliederungen immer
verwickelter und ihre Zusammenhinge miteinander erhalten eine immer
gréfere und entscheidendere Rolle. Die Menschenanordnung der alten
Dramen war ahnlich der Komposition vieler italienischen und japanischen
Stiche, wo die Hauptgestalt, damit sie in dem Mafe dominiere, als es die
innern kiinstlerischen Griinde erheischen, ihnen einfach an physischer
Gréfe und Gewaltigkeit iiberlegen ist und sie schon dadurch — auch
abgesehn von der lokalen Anordnung ~ in der Komposition beherrscht (so
wie auch die Kénige Homers die Masse ihres Volkes um Haupteslinge
tberragen). AuSerdem sind diese Nebenfiguren tiberhaupt nur existent in
ihrer Berthrung mit dem Helden und seinem Schicksal. Ich verweise hier auf
die ganze Welt der Diener, der Narren, der Vertrauten, der Intriganten usw.,
welche auch noch bei Shakespeare nur ein Leben innerhalb des Rahmens
ihres Typus und ihrer traditionsgemiSen dramatischen Funktionen haben.
Diese Kategorien hérten auf und muften aufhéren, sobald das Naturnot-
wendige des Uber- und Untergeordnetseins der Menschen problematisch
geworden ist, sobald es nur mehr eine Frage der individuellen Anschauung
wurde, welcher sich dem andern iiber- oder untergeordnet fihlt. Das
im-Zentrum-Stehn ist derart nur schon situationsmafig, oder zumindest
nicht notwendigerweise mehr als situationsma8ig gegeben, und mit dem
Aufhéren der natiirlichen, objektiven Hervorhebung wird die Frage des
Zentrums, das Heldsein des Helden, rein zur Kompositionsfrage.
Hierdurch wiirde nur das Komponieren erschwert werden; das Verwischt-
sein der Grenzen ist hier nur noch im eigentlich Kiinstlerischen vorhanden.
Die Verwicklung der Verkniipfungen jedoch wirkt nicht allein als Resultat
(also unmittelbar) auf die Komposition ein, sondern auch mittelbar mitvelst
des ihm zugrunde liegenden Lebensgefiihls. Es beeinfluBt die Art, wie der,
der kiinstlerischen Stilisierung vorangehende, das Leben anordnende Proze8
gesehn wird. Die Gesamtheit dieser komplizierten Zusammenhinge und
ihrer wechselseitigen Wirkungen macht nicht nur das Anordnen der Gestal-
ten verwickelter, sondern verwischt auch deren Grenzen. Es wird unbe-
stimmt, was das wirkliche Wesen des Menschen und was die Aufenwelt ist;
was von dem, was er tut, von innen heraus, und was unter der Wirkung
auferer Umstinde geschieht. Auch schon die lebenbewegende Kraft der
abstrakten Ursachen hilft, dieses clair-obscur des Auferlichen und Innerli-
chen der Motive zu steigern. Wer auf Grund einer Anschauung, einer
Wertung, eines Abstractums handel: handelt er wahrhaft so sehr aus nur
inneren Griinden heraus, wie der, den eine grofe das Leben erfiillende
II Das moderne Drama 87
Leidenschaft beherrscht? Vielleicht. Ja, wenn die Kraft der Wertung so gro8
ist, da® sie ihn bis zur Tragddie zu treiben vermag (z. B. Marquis Posa,
Gregers Werle), dann sicherlich. Jedoch auch hier, wie in jedem Abstrakten,
ist im Tiefsten seines Handelns doch etwas, was nicht nur ihm angehért, was
ihn mit irgend etwas AuSenstehendem verbindet. Gerade in dem, was das
Tiefstwesentliche seiner Tragddie und so auch seines Wesens Zentrum ist, ist
doch etwas enthalten, welches nicht ganz sein, welches (wenngleich in von
ihm unzertrennlicher Weise) gleichzeitig auch anderem zugeordnet ist. Und
je weniger dimonisch diese Leidenschaft der Ideologie - weshalb sie noch
nicht notwendig weniger tragisch zu sein braucht -, um so starker ist dieser
Zusammenhang mit anderem, ist dieses auch von augen her Wirkende der
bewegendsten Kraft der Tragédie, das Hinawsriicken ihres Zentrums. Je~
doch wir wissen, da& die meisten dramatischen Abstracta, die Ideologien,
mit sehr konkreten Umstinden, sozialen Situationen, verbunden sind, so
da& diese Verschiebung gleichbedeutend ist mit einer Verschiebung der
Motivation in der Richtung des Sozialen. Sie bedeutet, da& die tragischen
Handlungen Funktionen bestimmter, meistenteils sehr verwickelter, zwi-
schenmenschlicher Situationen sind. Was das erstemal vielleicht von Lenz
ganz deutlich erkannt wurde, als er Diderots Plan verwirklicht und tragische
Geschehnisse als notwendige Folge einzelner sozialer Situationen (Der
Hofmeister, Die Soldaten) zu konstruieren versucht hat. Vielleicht bedarf es
keiner weiteren Analyse, da& diese Anschauungsart, welche das individuelle
Leben als von je mehr sozialen Bindungen bestimmt auffaft, im Leben
sowohl als in der Kunst immer mehr erstarkte (Milieutheorie, historischer
Materialismus usw.). Und diese, das von aufen her Determinierte der
Handhungen betonende Richtung der Menschenbetrachtung wird so stark,
da8 sie selbst innerhalb des Einzelmenschen die Einheit sprengt. Es tauchen
immer mehr und mehr solcher Motive auf, welche den Menschen gegen
seinen Willen (als dramatis persona, also: gegen seine Persénlichkeit, sein
Ich) beeinflussen. Immer starker wird das Geftthl der Wirkungskraft der
verschiedenen physiologischen Zustinde, bis es endlich dazu kommt, da8
ein sich ausschlieSlich im Innern vollziehendes Ungliick vom Drama aus
gesehen ganz von aufen her kommend, ganz schicksalhaft empfunden wird
(Oswald). [Und es ist sonderbar, daf hier - wie auch an vielen anderen
Stellen - die ganz moderne Betrachtungsweise die griechische beriihrt, die
die Liebe Phaedras, das Rasen Herakles’ und Pentheus’ ebenfalls als ganz
von Augen gekommen, als ganz schicksalsschlagmafig empfindet. Bei ihnen
ethielt das freilich dadurch, da es durch Gétter symbolisiert wurde, kiinst-
88 Grundsatzfragen
lerisch einen solch reinen Ausdruck, von dem im modernen Drama keine
Rede sein kann; es ist der Ausdruck von etwas, was im gewissen Mafe auch
aus dem abstrakt dramatischen Charakter abstrahiert werden kann. Aber nur
im gewissen Mage, weil der Held und sein Schicksal zusammenhingen und
nachdem sie einander begegneten, kénnen sie nicht wieder getrennt werden.
Es gibt jedoch einen Punkt, wo sie sich begegnen und vorher waren sie sehr
wohl verschieden. So gehéren die Krankheit zu Oswald, der Wahnsinn zu
Herakles wie die Ermordung Duncans zu Macbeth und nicht wie der
Wahnsinn zu Lear.]
Also: Wie weit ist hier der Mensch Titer seiner Tat? Wie weit und bis wann
ist die Tat, in welcher sich sein ganzes Wesen auswirkt, durch welche er
wirklich zu sich selbst gelamgt, die seine? Inwiefern hat der Mensch sein
Zentrum ganz tief in seinem Innern? [Die Beziehung des Titers zu seiner
Tat: damit gelangten wir zu einem der zentralen Probleme des modernen
Dramas.] Der Stil jedes Dramas wird in erster Linie von dieser Beziehung
bestimmt. Alle Stilisierung, alles Anordnen baut sich darauf auf, wo diese
sich scheiden und wo sie ineinanderschmelzen, wo das eine vom andern
bestimmt wird. Diese Bezichung ist fiir das ganze Drama am wenigsten
geklart, weil das Leben es nicht zu klaren vermochte. So kommt es, daf die
Hauptfrage jedes Nachdenkens iiber das Drama dies geworden ist: Wie
gelangt der Mensch zur tragischen Tat? Ist es wirklich er, der dahingelangt?
Und durch was? Der wahre Hintergrund der ganzen tragischen Schuldtheo-
rie ist diese Frage: War der tragische Mensch wirklich Tater seiner tragischen
Tat, und wenn nicht, kann sie dann noch tragisch sein? Und die ganze
Schuldkonstruktion hat ihren wahren Sinn darin: die Briicke zu bauen
zwischen Tat und Tater; einen Punkt zu finden, von welchem gesehn, trotz
alles Gegenteiligen, alles doch von innen ausgeht; einen Gesichtspunkt,
welcher die Autonomie des tragischen Menschen rettet.
[So erscheint das Problem der tragischen Schuld, das im Zentrum der
dsthetischen Spekulation des xvi. und xx. Jahrhunderts stand, als keine
original und ausschlieflich asthetische Frage, sondern als gedankliche Spie-
gelung des soziologischen Zustandes: die asthetische Gegebenheit, von der
dieses Nachdenken ausgeht, ist nicht zeitlos, sondern das Formproblem des
modernen Dramas und die daran ankniipfende Metaphysik hat eine Hypo-
stasierung dieser Soziologie zur Voraussetzung.]
Die Probleme der Theorie tauchen auf, wenn etwas im Leben problematisch
geworden ist. Von diesem Gesichtspunkt ist ihr Auftauchen, ihre Allgemein-
heit, ihre grofe und tiefe Wirkung symptomatisch von auferordentlicher
II Das moderne Drama 8&9
keines mehr. Was er getan hat, ist schon so stark, da& er nicht mehr
zuriickkehren kann, wahrend Coriolan zuriickgekonnt hat. Die Menschen,
die er lange in Bewegung gehalten hatte, bewegen nun ihn, die Verhiltnisse,
welche er aufgewiihlt hat, beherrschen schon ihn. Den Zusammensto8 der
vielen, grofen, feindlichen Krifte, deren gleichsam blo& zufialliger Treff-
punkt seine Person ist, kann seine EntschlieSung nicht mehr hintanhaken,
noch kann sein eventuelles Zuriicktreten ihren Zusammensto an seinem
Leibe hindern. Wir sagten es: die Mittel werden zu Zwecken und ewig
unberechenbar ist die potenzielle Energie der Dinge.
Dies das Abstrakte des dramatischen Konfliktes. Da& der Mensch nur
Treffpunkt grofer Kriifte und daf auch das nicht sein ist, was er getan. Auch
das gerit hinein in deren, von ihm unabhingiges, ihm gegeniiber ewig
gleichgiiltiges und eben deshalb seinen Willen zerschmetternd feindseliges
System. Und wofiir er es tut, ist auch niemals ganz sein, und was er als
innerste bewegende Energie empfindet, auch das ist mit ein Teil des ihn
zugrunde richtenden grofen Komplexes. Die dialektische Kraft ist nur mehr
ausschlieBlich in der Idee, im Abstrakten enthalten. Die Menschen sind blo&
Schachfiguren, ihr Wille ist nur ihre Bewegungsméglichkeit, und es ist das
ihnen ewig Fremde (das Abstractum), welches sie bewegt. Die Bedeutung
der Menschen geht nur so weit, daf dieses Spiel eben doch nur mit ihnen zu
spielen ist, da8 sie die einzig méglichen Hieroglyphen sind, aus welchen die
mystische Aufschrift sich zusammenfiigt.
Das tragische Erlebnis wird reiner und tiefer, wird befreit von jedem
Nebengesichtspunkt und jeder Nebenriicksicht, wenn es auch dadurch an
Kraft des sinnlichen Ausdrucks eingebiift haben mag. Nichts bleibt in ihm
zuriick, als die gro&e Frage: Wie kann ein Sterben das Leben bedeuten, ein
Zugrundegehn das Emporgehobensein, eine Vernichtung den gréSten
Reichtum? Und es kommt hinzu das Verstehn dieses weit iiber das Indivi-
duelle Hinausgehenden, das starke Durchfiihlen seines tief-Abstraktseins,
was am reinsten vielleicht Rilke ausgedriickt hat:
»und ahnend einzusehn wie unpersénlich,
Wie iiber alle hin das Leid geschah .. .«*
3
Das neue Drama ist dennoch das Drama des Individualismus, und dies mit
¢iner Kraft, einer Intensitit und AusschlieBlichkeit, wie es ein Drama noch
niemals gewesen ist. So sehr, da8 eine Geschichtsanschauung des Dramas,
welche hier das zutiefst Trennende zwischen altem und nevem Drama sieht,
92 Grundsatafragen
nicht undenkbar wire; ein Gesichtspunkt, demgemé8 das neue Drama dort
anfangt, wo der Individualismus bereits dramatisch zu werden beginnt.
Jedoch der Widerspruch, welcher zwischen einem solchen Sehen und dem .
Vorangegangenen zu sein scheint, ist in Wirklichkeit nicht einmal so gro8, ja,
es ist vielleicht auch tatsachlich kein wirklicher Widerspruch vorhanden. Wir
hatten gesagt, jedes neue Drama sei ein biirgerliches Drama, jedes sei
historisch; und sagen jetzt, da& jedes ein Drama des Individualismus sei.
Und durch diese drei Formeln wird auch eigentlich eine und dieselbe
Abgrenzung ausgesprochen, nur da& jede das Auseinandergehen der Wege
von anderswoher sieht. Der erste Gesichtspunkt ist die Frage der soziologi-
schen Basis, jener Grundlagen, aus welchen die beiden andern sich herausge-
lést und entfaltet haben. Er besagt nur so viel, da8 jene sozialen und
Skonomischen Formen, welche damals den noch bestehenden Resten der
feudalen Ordnung gegeniiber von der Bourgeoisie vertreten wurden, vom
xvi. Jahrhundert angefangen, lebenbeherrschend geworden sind. Daf also
das Leben sich in deren Umrahmungen und in dem von dieser diktierten
Tempo und Rhythmus abspielt und da& deren Probleme eben eins sind mit
den Problemen des Lebens; mit einem Wort, da die heutige Kultur
biirgerliche Kultur ist. Dies freilich kann hier in keiner Weise eingehend
erértert werden. Ich méchte hier nur auf einige, vielleicht allercharakteri-
stischste Beispiele dafiir, wie sehr die Skonomischen Formen einer [- nach
Sombart -]** Klasse das ganze Leben beherrschen, hinweisen. So berufe ich
mich darauf, da& dem mittelalterlichen Handel und Gewerbe (den typisch
biirgerlichen Berufskategorien) eine nicht rationalisierte Technik eigen war,
daf sie auf ausschlieRlich individuellen Fahigkeiten beruhend, streng geregelt
usw. waren, sie fiigten sich villig in die mittelalterlich feudale Wirtschafts-
ordnung ein (Zunftwesen) und in der 6konomischen Existenz ihrer Zugehd-
rigen war die Produktion ebensosehr allein vom Konsum bestimmt, wie bei
den kulturtragenden Klassen. Und demgegeniiber [— ebenfalls nach Sombart
-] darauf, da& heute die agrarische Produktion (der Teil des Wirtschaftsle-
bens also, auf welchem der Feudalismus beruht) immer mehr kapitalistisches
Wesen annimmt. Des weitern kénnen wir darauf hinweisen, wie sehr sich
damals alle Wissenschaften in den Formen des Mittelalters bewegten, selbst
jene, welche ihrem Wesen nach die gerade entgegengesetzte Methode erfor-
derten (Astronomie, Chemie usw.); demgegeniiber wir heute eine derart
starke Herrschaft der gegenteiligen Richtung bebobachten kénnen, daf das
Schematisieren, die allgemeine, alles auf Quantitatsdifferenzen zuriickfih-
rende, wissenschaftliche Richtung, auch in die ausschlieBlich menschlichen
II Das moderne Drama 93
ich hier das Gegenteil zum rationalistischen Gefiihl], welches die Komposi-
tion sowohl als die Psychologie in gleicher Weise umfangt und durchdringt.
Dieses ist dem alten Drama von seinem religidsen Ursprung eigen und
gelangt in ihm zu einem fast unbewuft-naiven Ausdruck, ja, sofern es in
dieser Richtung eine bewufte Tendenz hat, so hat sich diese mehr auf dessen
Ausschaltung gerichtet. (Euripides ist hier vielleicht das gréBte Beispiel.) Die
Grundlagen des neuen Dramas hingegen sind rationale, von seinem Ur-
sprung her ist ihnen keinerlei mystisch-religidses Gefiihl eigen. Ein wirkli-
ches Drama kam erst zustande, als dieses im Leben wieder aufzutauchen
beginnt, und zwar nimmt es anfangs als ausschlieflich kiinstlerische Forde-
rung, spiaterhin als einheitliche Grundlage des Lebens und der Kunst seinen
Platz in ihm ein. Dieses metarationale Element [dieses Mystikum] aber,
dieses ewig Unauflésliche, konnte niemals mehr den Stempel des Bewuften,
des Aposteriorischen abstreifen, konnte niemals mehr die alles einheitlich
umhiillende Atmosphire der Dinge sein. Charakter und Schicksal: beides
bekommt das paradox Zwiespiltige des mystisch Irrationalen und des
geometrisch Konstruierten. [Mit dem Mystikum des modernen Dramas
verhiilt es sich somit so wie das Leonardo da Vincis im Vergleich zu einem
primitiven Menschen aus Florenz oder noch mehr aus Siena. Dort be-
herrscht und durchdringt dieses mystische Lebensgefiihl so sehr alles, da8 es
auf eine undefinierbare und unfaSbare Weise iiberall und doch nirgends
vorhanden ist; besonders in den Képfen, in den Gesichtsausdriicken, in der
Psychologie ist es nie auffindbar. Das Mystikum Leonardos ist in den
Képfen; im geheimnisvollen, unerklirbaren Blick und Licheln der Ge-
sichter.]
[Der Ausdruck des Metarationalen] wird derart (im Psychologischen) ge-
heimnisvoller, als wie alles friihere, andererseits (im Technischen) rationaler,
faBbarer. [Was bedeutet es dramatisch, wenn wir sagen, daf das Mystikum
der Charaktere des neuen Dramas in den Képfen und nicht in der Atmo-
sphire liegt? (Vom Kompositionsproblem wird in einem anderen Zusam-
menhang die Rede sein.)]
Das Drama baut sich auf der Mathematik eines verwickelten Gewerbes von
Abstraktionen auf und der Charakter ist in ihm von diesem Gesichtspunkt
lediglich als Treffpunkt von Bedeutung, so da8 er, wie Hofmannsthal einmal
sagt, nichts anderes ist, als eine kontrapunktische Notwendigkeit. Indes ist
es gerade das in keinerlei System Einzuordnende, was das Menschentum
jedes Menschen ausmacht (und ein Drama ohne Menschen ist undenkbar).
So fallt das Dramatische und das Charakteristische des neuen Menschen
100 Grundsatzfragen
nicht zusammen. Was ihn wirklich zum Menschen macht, muf in gewisser
Hinsicht auSerhalb des Dramas liegen. Vom Leben aus gesehen: die Persén-
lichkeit wird dermafen nur innerlich, nur seelisch, und die Tatsachen
werden derart abstrakt und uniform, daf eine wahre Beriihrung zwischen
beiden unméglich wird. Die Tatsache, die sich in der AuSenwelt manifestie-
rende Aktion, kann den ganzen Menschen nicht in Anspruch nehmen und er
vermag nicht zu einer Tat zu kommen, in welcher dieser sich offenbaren
kénnte. (Dies der tiefste Stilwidersinn des intimen Dramas: je seelischer das
Drama wird, desto mehr geht es am Zentrum der Persénlichkeit vorbei.)
Daher wird — gerade wegen der unaufléslichen Irrationalitat der Menschen-
darstellung - das neue Drama zumeist so sehr von Theorie belastet. Das
innerste Zentrum des Charakters und der Punkt, an welchem Mensch und
Schicksal sich begegnen, fallen nicht notwendig zusammen; es muf mittelst
nachtraglicher Theorien eine dramatische Verbindung zwischen denselben
hergestellt werden. Man kénnte sagen: in Wirklichkeit ist die Aufrechterhal-
tung der Individualitat durch die Gesamtheit der Tatsachen gefahrdet. Die
Tatsachen sind imstande, die Persdnlichkeit aufzusaugen, diese aber hat
— vermége ihrer Verinnerlichung — die Méglichkeit, jeder einzelnen Tatsache
zu entfliehen, ihr auszuweichen, in keinerlei Beriihrung mit ihr zu kommen.
Das Leben, als Stoff der Dichtkunst, ist - ganz kurz gesagt — epischer, oder
genauer noch, romanhafter geworden, als es je gewesen ist (wobei hier
natiirlich der psychologische Roman gemeint ist, nicht der primitive). Die
Transponierung ins Drama ist immer nur durch Symptomatisierung der
Lebenstatsachen zu erreichen. Hier, wegen der verminderten Bedeutung der
einzelnen Auferlichkeiten vom Gesichtspunkt des dramatischen Menschen,
nur dadurch, da& das Bedrohtsein der Persénlichkeit fast zum Gegenstande
theoretischer Diskussion wird. Nur bei einer ganz abstrakten und dialekti-
schen Problemstellung ist es erreichbar, da& das einzelne Geschehen, wel-
ches den Stoff des Dramas bildet, auch das innerste Wesen des dramatischen
Menschen beriihre und zum Ausdruck bringe. Er mu8 bewuft empfinden,
da& in dem gegebenen Falle, um welchen es sich gerade handelt, die
Méglichkeit des Aufrechterhaltens seiner Persénlichkeit auf dem Spiele
steht. Deshalb ist das neue Drama das Drama des Individualismus, der
bewuftgewordenen Persénlichkeitsforderung (die Frage nur mehr von
kiinstlerischem Gesichtspunkt betrachtet). Deshalb sind die Uberzeugun-
gen, die Ideologien der Menschen kiinstlerisch so wichtig, weil nur diese den
Tatsachen eine symptomatische Bedeutung zu geben, nur diese die dramati-
schen und charaktermaSigen Zentren zusammenzubringen vermdgen. Die-
II Das moderne Drama 101
ser Zusammenhang aber ist immer problematisch, immer nur eine »Lésung«,
nur ein an Wunder grenzendes Zusammenfassen auseinanderstrebender
Krifte; denn die Ideologie fiihrt wiederum den Charakter der Reduktion zur
»kontrapunktischen Notwendigkeit« entgegen. [Der Zusammenhang ist so
wie bei der Heiligen Familie Leonardo da Vincis, um das vorherige Beispiel
zu widerholen, die mathematische Unfehlbarkeit der Dreieckskomposition
hingt mit dem sibyllinisch mysthischen Blick der Gestalten zusammen und
sie werden doch nicht ganz eins.)
Daher unterscheidet sich der Heroismus der neuen Dramen so sehr von dem
der alten und in dieser Beziehung steht ihnen die franzésische tragédie
classique am nichsten. Dieser Heroismus ist einerseits passiver, mit weniger
au8erem Glanz, Erfolgen und Siegen verbunden (es sei hier nur wiederum an
Hebbels Theorie von Leiden und Handeln erinnert), andererseits bewuSter,
berechneter und im Ausdruck pathetischer, rhetorischer als der alte. Dies
mag angesichts der wortkargen Einfachheit vieler moderner Dramen viel-
leicht etwas befremden, doch bezieht sich das Wesen der Frage hier nicht auf
das Rhetorische oder Nichtrhetorische des unmittelbaren Ausdrucks, son-
dern darauf, wie nahe, bezichungsweise wie ferne ihm die Grundstimmung
der pathetischen Szenen ist. Und von dieser Voraussetzung aus werden wir
im Tode von Hebbels Clara, von Ibsens Hedda oder selbst auch von
Haupemanns Henschel (um die duferlich mindest pathetischen Abschliisse
zu nennen) gerade den Todesstimmungen der Corneille-Racineschen Hel-
den verwandte Gefiihle finden. [Im Vorwort zu seiner Antigone-Uberset-
zung weist Jebb darauf hin, wie sehr die Todessehnsucht, die Todesekstase
am Ende des Stiickes fehle, die beim spateren Bearbeiter des Themas, beim
Klassizistischen Alfieri z.B. so stark vorhanden sei.”] Die Helden der
griechischen Dramen und die der Shakespeareschen waren dem Tode gegen-
iiber gefaBt. Ihr Pathos ist das dem Tod mutig ins Auge Sehen, das stolze
Ertragen des Unausweichlichen. Den Helden der neuen eignet stets etwas
Rauschmafiges, etwas vom BewuStwerden des Gefiihls, da& die Erhebung,
die Gréfe, die Erleuchtung, welche das Leben nicht zu bringen vermag, vom
Tode gewahrt werden kann [z. B. Sophokles’ und Alfieris Antigone]; da
ihre Persdnlichkeit durch den Tod erfiillt und vollendet wird, wahrend bei
den alten dieses Gefiihl nur in den Zuschauern entstand. Daher empfand
Schopenhauer, der diese Stimmung, die Resignation, wie er sie nennt, fiir das
Wesentliche der Tragédie ansieht, die moderne Tragédie héherwertig, als die
ake.“ Hier ist das aufere Geschehen ganz innerlich geworden — dies der
Moment, in welchem diese zwei Zentren am ehesten zusammenfallen - die
102 Grundsatzfragen
Form ist in einem gewissen Sinn zum Inhalt geworden. Wir kénnten sagen:
die Alten sehen die Tragédie naiv. Die Tragédie ist vom Gesichtspunkt der
handelnden Personen und der Stilisierung der Welt aposteriorisch. Daher ist
auch das theoretische zu-Ende-Gedachtsein des Problems weniger notwen-
dig. Die Neuen hingegen nehmen als erste die Tragddie wahr und sehen in
deren Beleuchtung die einzelnen Erscheinungen des Lebens, die Menschen
und Geschehnisse des Dramas; die Tragédie ist hier dem Leben gegeniiber
apriorisch,
Jedoch nicht nur diese Antinomie des Individualismus, welche gegeniiber
der Aufenwelt in engerem Sinn zum Ausdruck kommt, wird zum dramati-
schen Problem. Wir sahen, eine der wichtigsten der neuen Lebensformen
geht darauf zuriick, da& die Gebundenheit sich den Abstracta gegeniiber
ebenso sehr verstirkt und vermehrt, als sie sich den einzelnen gegeniiber
geschwacht und gelockert hat. Die dem andern gegeniiber empfundene
Autonomie des einzelnen Menschen nimmt standig zu. Stets unertraglicher
wird ihm jede Gebundenheit von Mensch zu Mensch, die blo& persénlicher
Natur ist, welche also — dem Wesen der Sache nach — die Persénlichkeit
starker in Anspruch nimmt, als eine auf ein Abstraktes bezogene. Simmel
fihrt fiir diese gefiihlsmafige Wandlung ein interessantes Beispiel an. Zu
Beginn der Neuzeit — sagt er — verlor ein verarmter Edelmann in Spanien
seinen Adel nicht, wenn er sich in die persénlichen Dienste eines Reichen
begab (z. B. als Diener oder Lakai zu einem solchen eintrat), wohingegen er
diesem Schicksal nicht entging, wenn er ein Handwerk ergriff. Und im
Gegensatz dazu wiirde es beispielsweise eine heutige Amerikanerin gar nicht
als beschimend empfinden, in einer Fabrik zu arbeiten, wohl aber sich als
Dienstbote in hausliche Dienste zu begeben.“* Dadurch werden die Zusam-
menhinge zwischen den Menschen weitaus verwickelter. Denn, damit das
Geltendmachen der Persénlichkeit nicht zur leeren Ideologie werde, muf sie
sich an jemand bewahren. Dieser Jemand aber fuhlt die Heiligkeit der
Autonomie seiner Persénlichkeit geradeso, wie der, welcher iiber ihn zu
herrschen trachtet und kann eine Einmengung ebensowenig ertragen. So
kommt es denn, da& gerade dort, wo die alte Gesellschaftsordnung das
Verhaltnis des Uber- und Untergeordnetseins stabilisiert hat, (Herr und
Diener; Gatte und Gattin; Eltern und Kinder usw.) wo also die in das
persénlichste Leben des anderen eingreifenden Tendenzen von den poten-
ziellen Energien vielhundertjahriger Traditionen gefestigt und gehalten sind,
diese neue Gefiihlsgestaltung ganz neue Zusammenstife erzeugt. Und so
erscheint von einem anderen Gesichtspunkt das neue Drama wiederum als
II Das moderne Drama 103
Drama des Individualismus. Denn es wird eine der gréSten Antinomien des
Individualismus zu seinem Hauptthema: da das Geltendmachen der Per-
sdnlichkeit nicht denkbar ist ohne die Unterdriickung der Persénlichkeit des
anderen, deren Bewahrung wiederum unerbittlich die Vernichtung der
ersteren zu bedeuten hitte.
In formaler Beziehung bringt dies eine neue Verwicklung der Beziehungen
unter den Menschen im Drama mit sich. Nachdem das Lebensgefihl, auf
dessen Grundlage die ganze Persdnlichkeit eines Menschen ganz ausgefiillt
wird von seiner Beziehung zu einem anderen, erloschen oder zumindest in
Abnahme begriffen ist, miissen aus dem Drama jene Gestalten (Diener,
Vertraute usw.) verschwinden, deren seelische Rolle auf dieses Gefihl
gegriindet ist, welche nur bei der Allgemeinheit dieses Empfindens mehr
sind, als leere, illusionstérende, technische Requisiten. Vom franzésischen
und spanischen Drama, in welchem dies ganz offenkundig ist, braucht hier
vielleicht gar nicht die Rede zu sein, es sei aber darauf hingewiesen, wie sehr
Kents ganze Persénlichkeit ausgefiillt wird von seiner Beziehung zu Lear,
wie sehr die Horatios von der Beziehung zu Hamlet. Und sowohl in
Goethes wie auch in Schillers erstem Stiick tritt das Motiv auf, da8 der
Diener im entscheidenden Moment sich gegen den Herrn wendet (Weislin-
gen-Franz; Franz Moor-Hermann), daf er aufhért, nur in der Relation zu
ihm zu existieren. Das Mittel wird auch hier, wie iiberall, unabhingig von
dem, der es zu benutzen trachtete, gewinnt ein neues Leben, wird zum
Zwecke. Und wie auf so viel anderen Gebieten, so kénnen wir auch hier
sehen, wie sehr das neue Leben rein dekorative Verhiltnisse zersprengt
dadurch, daf seine Relationen sich verwickeln, daf es dort, wo ehemals nur
die Gesten miteinander in Beriihrung waren, psychologische Verbindungen,
verwickelte und schwer ausdriickbare Wechselwirkungen schafft.
rn
Von diesen Bedingungen, von den durch das neue Leben bewirkten Ver-
schiebungen in den Beziehungen der Menschen zueinander (dem dramati-
schen Stoffe) und der Art, diese Beziehungen zu sehen und zu werten (dem
dramatischen principium stilisationis) wird das Stilproblem bestimmt. Die
durch diese Méglichkeiten gezogenen Grenzen sind die Grenzen der Aus-
drucksméglichkeiten des neuen Dramas; die aus ihnen und aus ihrer Bezie-
hung zueinander sich ergebenden Fragen: seine Stilprobleme. Ganz kurz
kénnen wir die von hieraus auftauchenden Fragen etwa so formulieren: wie
ist der Mensch, den dieses Leben hervorbringt und wie ist er dramatisch zu
104 Grundsatzfragen
gestalten? Und ferner: wie ist das Schicksal, das typische Geschehen, in
welchem es sich offenbaren kann und wie dessen adaquater dramatischer
Ausdruck?
In welcher Beziehung steht der Mensch des neuen Lebens zu den Menschen
der ihn umgebenden Welt? So muf die Frage gestellt werden, um zum
dramatischen Menschen zu gelangen. Der isolierte Mensch kann im Drama
nicht vorkommen; aus einer der Portratkunst entsprechenden Isoliertheit
des menschlichen Seins vermag keinerlei Art Literatur hervorzugehen. Da-
durch, da& die Literatur den Menschen nur in der Aufeinanderfolge der
Gefiihle und der Gedanken zu gestalten vermag, kann sie die Ursache dieser
Gefiihle und Gedanken oder wenigstens eines Teiles derselben — das sie
unmittelbar Veranlassende: die Aufenwelt — héchstens etwas verhiillen, nie
aber ginzlich ausscheiden. Fir jede andere Literatur besteht aber die Még-
lichkeit, diese als nur aus der Seele eines Menschen heraus gesehen in
Betracht zu ziehen, nur als einen bereits durch seine Seele zu Impressionen
verarbeiteten Stoff. Mit anderen Worten, es besteht die Méglichkeit, das
Verhiltnis von Mensch und Aufenwelt einseitig, nicht als ein Gewebe
verwickelter Wechselwirkungen anzusehen. Dies schlieft die dramatische
Form aus und reduziert zugleich die Beziehung zur Aufenwelt auf die
Beziehung zu den andern Menschen. So ist die Frage nach dem dramatischen
Menschen gleichbedeutend mit der Frage, wie der Mensch in seiner Bezie-
hung zu den andern Menschen ist. (Von der Gesamtheit dieser Beziehung,
d. h. von der durch diese Gesamtheit symbolisierten Einheit, von dem sog.
Schicksal war bereits in anderem Zusammenhang die Rede und wird noch
des weiteren die Rede sein.) Wie beriihren sich demnach die Menschen?
Oder genauer: Was sind die maximalen Méglichkeiten ihrer Annaherung
zueinander, und was die Maxima ihres sich Entfernens voneinander? Oder
noch genauer: in welchem Grade sind die Menschen des modernen Dramas
isoliert, in welchem Grad und inwiefern sind sie vereinsamt? [Es braucht
vielleicht nicht eigens hervorgehoben zu werden, wieviel grdfer die Einsam-
keit ist, die alle Menschen umgibt, wie sie einst war und bei der Unbezwei-
felbarkeit der Tatsache ist es vielleicht auch iiberflissig, iiber ihre Ursachen
zu sprechen.] Zweifelsohne gibt es viel des Nichtverstehens zwischen den
Menschen der alten Dramen. Dieses kann sozialer Natur sein und darauf
zurtickgehen, daf fiir den Menschen niederer Abkunft und Gesinnung jede
Vornehmheit ein ewiges Ratsel bleiben muf. Dieses Verstehen und Nicht-
verstehen aber wird gerade wegen der sozialen Unterschiede nicht zum
Problem. Oder es kann moralischer Natur sein, in dem Sinne namlich, da&
II Das moderne Drama Tos
die vornehme Seele (wie Claudius iiber Hamlet sagt), »being remiss, most
generous and free from all contriving«, einfach nicht imstande ist, sich
vorzustellen, daf es noch andersartige Menschen auf der Welt gibt; es ist dies
die Blindheit der edlen Giite gegeniiber der sie ganzlich durchschauenden,
berechnenden Schlechtigkeit. Das Nichtverstehen ist derart immer auf ratio-
nale Griinde zuriickzufiihren: auf die Eigenschaften bestimmter Menschen
oder auf die Folgen bestimmter Umstinde. Daher ist es bereits im Schema
des Dramas, darin, wie die Menschen gleichsam noch im luftleeren Raume
einander gegeniiberstehen, worauf das Stiick sich - von diesem Gesichts-
punkte aus — aufbaut, von vornherein gegeben. Bestimmte Menschen verste-
hen einander, bestimmte Menschen nicht; und das eine Verhiltnis ist ebenso
absolut und konstant wie das andere. Daf es Vertraute geben konnte, ist
auch schon ein Zeichen dafiir, da& die Méglichkeit des absoluten Verstehens
zwischen den Menschen nie angezweifelt wurde. Das neue Drama schaltet
die Vertrauten aus, d. h. sofern sie noch vorhanden sind, miissen sie als
storendes technisches Requisit empfunden werden. Es gibt kein allgemeines
Gefiihl mehr im Leben, fiir welches sie nur Symbol sein kénnten, welches sie
derart iiber ihre nur technische Rolle hinausheben kénnte und sie nur als
Stilisierung von etwas in der Wirklichkeit Vorhandenem und nicht als wie
etwas damit in keiner Weise Zusammenhingendes erscheinen lieSe. Dieses
Geféhl kann aber nur das der absoluten Verstindigungsméglichkeit sein.
Der Rolle Horatios neben Hamlet, um die verwickeltste und unserem
Gefiihl nachststehende von Beziehungen dieser Art herauszugreifen, vermag
nur das Berechtigung zu geben, daf zwischen ihnen keine seelische Disso-
nanz besteht, noch auch bestehen kann; daf alles was Hamlet tut von
Horatio mitsamt seinen Motiven richtig und in seinem Sinne gesehen und
gewertet wird. Was er ihm sagt, wird so verstanden und empfunden, wie es
verstanden und empfunden war. Hamlet also - so merkwiirdig es auch
klingen mag — ist nicht einsam. Indem er stirbt, kann er es in dem sicheren
Bewuftsein, da& es einen Menschen gibt, in dessen Seele die seine sich ganz
rein, ohne jede mifverstandliche Stérung spiegelt. Im neuen Drama gibt es
keinen »confident«: als Symptom bedeutet dies, da das Leben den Glauben
der Menschen an ein einander-verstehen-Kénnen aufgehoben hat; »nous
mourrons tous inconnus« sagt irgendwo Balzac. Die tiefsten und intimsten
Freundschaften zwischen den Menschen, die tiefsten und innersten Gemein-
samtkeiten werden problematisch, voller geheimer Wirbel und Gefahren.
Nur in der Sehnsucht ist ein Vorgefiihl der grofen Gemeinsamkeiten
vorhanden und nur im Handereichen grofer pathetischer Begegnungen oder
106 Grundsatzfragen
in der Ekstase der Vernichtung ist, wenn auch nur fiir einen AuSenblick,
etwas wie der Schatten einer Erfiillung méglich. Das wahre Wesen eines
jeden Menschen ist eine einsame Insel inmitten des brausenden Meeres, und
es gibt keine Stimme, welche zu ihm so zu dringen verméchte, da8 die
Stimme des ihn umbrausenden Meeres, sich in seine Rede mischend, diese
nicht falschte; sofern sie nicht tiberhaupt, villig erdriickt wird, dermagen,
daf er nur die sich sehnsuchtsvoll entgegenstreckenden Arme des andern zu
gewahren vermag — auch dann noch dessen Gesten mifdeutend. Ich will hier
nicht von Faustens Alleinsein sprechen, noch von dem Tassos; nicht von der
Einsamkeit Kaiser Rudolfs bei Grillparzer, oder von der des Herodes bei
Hebbel, neben welchen niemals ein verstehender Freund stand und kein
solcher stehen konnte. Ich verweise jedoch auf die erste groRe Freundschaft
des neuen Dramas, auf die des Carlos und Posa (und in geringerem MaS
allerdings auf die Clavigos und Carlos’), auf die des Kandaules mit Gyges,
Gregers Werles mit Ekdal, Borkmanns mit Foldal usw. Und daf dies nicht
die Konsequenz der geistigen Grdfe ist, das erhellt sich auch daraus, da8
weder Hebbels Klara, noch Hauptmanns Henschel oder Rose Bernd je einen
Menschen finden, der ihnen so nahe zu kommen vermichte, wie es Horatio
zu Hamlet méglich war. Die Menschen sind gar nicht imstande, das auszu-
sprechen, was wahrhaft wesentlich in ihnen und wirklich das Bewegende
ihres Tuns ist und verméchten sie auch in seltenen Momenten Worte zu
finden fir das Unaussprechliche, so wiirden diese doch ungehdrt vorbeihu-
schen an der Seele des andern, oder blof in ihrem Sinn gewandelt zu ihm
gelangen kénnen.
Derart mengt sich in den Dialog ein neues Element ein, oder genauer, der
Dialog ist vor eine neue Stilfrage gestellt. Vor die Frage, diesen Verschiebun-
gen einen dialogischen Ausdruck zu geben; den Veranderungen des Sinnes
und des Tonfalls, welche im Verlauf eines Dialogs zwischen Sagen und
Verstehen vor sich gehen (z. B.: intendiertes Sagen und dessen Gelingen und
Verstehen; oder: etwas vor dem andern, ja vor dem Sprechenden selbst
verbergen wollen und es dem andern, ja auch sich selbst gegeniiber, tatsich-
lich erreichen usw.). Das Paradoxon des dramatischen Dialogs wird dadurch
noch schirfer: was er ausdriicken will und dessen Ausdruck sein Wesentlich-
stes ist, liegt in noch erhéhtem Mafe zugleich diesseits und doch auch
jenseits der unmittelbaren Ausdrucksmdglichkeiten des Dialogs. Im Dialog
wird das, was gesagt wird, stets nebensichlicher gegeniiber dem, was nicht
auszudriicken ist. Die Melodie des Dialogs wird immer starker von der
Begleitung unterdriickt, das offene Aussprechen vom Ahnenlassen, vom
Il Das moderne Drama 107
fassenden Charakter aufzuheben. Das Problem aber ist nicht das des Zusam-
menfassens, sondern des Findens der Begleitstimme: das Ahnenlassen des
Nichtzusammenfafbaren durch die Begleitung. Daher und wiederum nicht
wegen der Natiirlichkeit ist das ebenfalls glossierende »beiseite« des Dialogs
derart deplaciert. Auch dieses ist nicht imstande, etwas anderes als ein
bestatigendes Ja oder Nein iiber das im Dialog vor sich gehende zu formulie-
ren, obgleich das eigentlich Auszudriickende ebensowohl jenseits und dies-
seits dieser Formel, als des durch die Worte des Dialogs Formulierten liegt.
Der Dialog des neuen Dramas muf also immer impressionistischer werden.
Er wird immer atmosphirischer in dem Sinn, daf seine Worte nichts
vollkommen in sich schlieBen, sondern gleichsam an beiden Enden offen,
eher Behiilter eines hin- und herschwingenden Etwas, als wie festumrissene
Gefa&e bestimmter Inhalte sind. Noch zittern die letzten Wellenringe des
ihnen vorangehenden Redens oder Schweigens in ihnen nach und dieses
Schweigen, das verstehende oder nichtverstehende Aufmerken, welches sie,
aufnimmt, modifiziert sie, und die Antwort wirft in ihnen schon ihren
Schatten voraus. Der Dialog wird derart immer relativistischer dadurch, da8
die Schatten und Lichter des in Worten nicht Ausdriickbaren immer mehr
Herrschaft gewinnen iiber den absoluten Sinn der Worte. Er wird immer
atomistischer dadurch, da& die andeutende Tendenz seinen konstruktiven
Aufbau immer mehr zersprengt. Diese eigentiimliche Zwischenform war das
Produkt eines der schwierigsten Stilkampfe, den das moderne Drama zu
bestehen hatte (in jeder naturalistischen Bewegung ist dies das wichtigste
Ziel gewesen). Jedoch nicht nur der dahinfihrende Weg war Gegenstand des
Problems, sondern mit dem Erreichen des Zieles werden neue schwerere und
tiefere Stilprobleme aufgeworfen. Zunachst das Problem, inwieweit diese
Art Dialog iberhaupt dramatisch sein kann. Ob, wenn er den addquaten
Ausdruck der seelischen Beziehung der dramatischen Menschen zueinander
gefunden hat, er deshalb nicht endgiiltig um sein Dramatisches gekommen
ist. Denn ein Dialog wird dramatisch durch seinen Symbolwert, durch seine
sich iiber das Augenblickliche hinaushebende Energie und Geschlossenheit.
Die einzige Mdglichkeit dieses Dialoges wird aber lediglich durch die
Auflésung der, der dramatischen Form entsprechenden, schematischen Um-
rahmungen erreicht. Jenes grundlegende Paradoxon des dramatischen Dia-
logs, da& er zugleich Stoff und Form, da er gleichzeitig unmittelbare
Lebensauferung und Symbol tiefer Lebensprozesse ist, erscheint dadurch
aufs schirfste pointiert. Es wird fraglich, ob das Pathos, die vollkommene
dramatische Konzentration des Dialogs, bei einem so weitgehenden Relati-
II Das moderne Drama 109
haben, weil er ja nicht recht hat. Und wenn sie, von dimonischen Leiden-
schaften getrieben, sich iiber jede sie sonst absolut bindende Norm hinweg-
setzen, dann ist jede Einfiihlung in die seelische Verfassung des andern,
zumal des Gegners vermége der Natur der bewegenden Krifte vollends
ausgeschlossen. Endlich gestattet ein sich blo& zwischen Personen abspielen-
der Kampf, gerade weil er irrational ist, kaum, im Gegner auch etwas anderes
als den Todfeind zu sehen. Ganz anders gestaltet es sich bei einem Konflikt,
in welchem die einzelnen Menschen blo8 Vertreter von etwas Aufenstehen-
dem, etwas Objektivem sind; wo es fast nur ein Zufall ist, daf es gerade diese
sich Gegeniiberstehenden sind, welche von den sich kreuzenden Notwen-
digkeiten einander gegeniiber gestellt wurden. Deshalb ist es unméglich, da8
bei den in der wilden Wut unbezahmbarer Leidenschaften einander zerrei-
Benden Menschen der Shakespearischen Zeit ein Gemeinsamkeitsgefih!
entstehen kénnte denen gegeniiber, welche sie zugrunde richten und von
welchen sie zugrunde gerichtet werden. Und eben deshalb ist es méglich,
da& Goethes Stella und Cicilie einander verstehen und lieben kénnen;
deshalb sind die stets aufblitzenden Momente des Verstehens mdglich in der
Don-Carlos-Tragédie; deshalb miissen Immermanns Zar Peter und Alexis,
Hebbels Kénig Kandaules, Ibsens Frau Alving das, woran ihr Leben zu-
grunde ging und die Taten dessen, durch welche es geschah oder geschehen
wird, rickblickend begreifen, ja berechtigt empfinden. Dies ist der Grund,
aus welchem - um das starkste Beispiel anzufiihren - Hebbels Herzog Ernst
den Richtspruch iiber seine Tat selbst auf seinen Sohn iibertragt, dessen
Leben und Gliick er eben dadurch zugrunde gerichtet hat. Er kannes in dem
sicheren Gefiihl tun, daf dieser seine Tat nicht anders zu beurteilen vermag
wie er es getan, als er sich dazu entschlossen hatte.
Hieraus folgt zunichst das Uberfliissig- ja Stérendwerden der Intrige. Dieses
Allesverstehen duldet es nicht, da& eine wie immer geartete menschliche
Schlechtigkeit als letzte Ursache der Geschehnisse angesehen werde (wie z. B.
noch Jago bei Shakespeare). Der Herzog in Emilia Galotti ist die erste
Station dieser Entwicklung und nach den wilden Ubertreibungen seiner
ersten Dramen gelangt Schiller in der Anschauung Philipps gleichsam gegen
seinen Willen an diesen Punkt. Und wieder ist es Hebbel, der die Situation in
ihrer ganzen theoretischen Reinheit erfa&t, indem er findet, da& der Wert des
Dramatikers um so gréfer ist, je weniger Bésewichte er in seinen Dramen
braucht."” [Diese Auffassung kénnen wir iibrigens auch schon in den theore-
tischen Schriften Schillers finden, wenn er sie auch in seinen Tragédien nicht
iiberall befolgt.]
II Das modeme Drama Ir
All dieses vertieft den dramatischen Konflikt zweifellos sehr (vom Gesichts-
punkt der an ihm beteiligten Menschen aus gesehen). Schopenhauer empfand
die Tragédie als die héchstwertige, in welcher die Menschen ohne jede
besondere Leidenschaft oder Bosheit, in unausweichlicher Konsequenz ihrer
gegenseitigen Situationen einander zugrunde richten miissen."* Und es ist
auch natiirlich, daf die tragische, mit keinem andern menschlichen Einsehen
und Wollen vergleichbare Wucht dieses einander Zugrunderichtens nur
gesteigert wird, wenn es zwischen Menschen geschieht, welche sich lieben,
welche einander wohl wollen; wenn sie sehen, daf der ihnen Gegeniiberste-
bende so handeln muf&, wie er eben handelt, und daf sie vielleicht nicht
»recht« haben, indem sie tun, was sie tun miissen. Dadurch ist das tragische
Erlebnis villig in die Welt der absoluten Notwendigkeit emporgehoben. Es
verschwindet aus ihm, selbst aus seiner Erscheinungsform, alles, was nur
persdnlich, nur empirisch ist. Und nichts bleibt in ihm zuriick als der blofe
tragische Inhalt, als eine Anschauung vom Leben in der Form unlésbarer
tragischer Konflikte. Jedoch das Verstehen oder intuitive Durchfiihlen des
gegenteiligen Standpunktes ist auch von grofer Gefahr fiir das Drama. Es
werden dadurch die dramatischen Konflikte nicht nur vertieft, sondern
sowohl diesseits als jenseits einer gewissen Grenze auch verwischt. Alles
wird zur Frage des Gesichtspunkts. Die extreme Subjektivitat sinkt gleich-
sam aus der Seele der handelnden Personen in die Grundlagen des Stiickes
hinab. Es wird lediglich Frage des Gesichtspunkts, ob etwas tragisch ist oder
nicht. Es entsteht die Tragikomidie, die Kunstgattung, deren Wesen darauf
beruht, daf ein sich vor uns abspielendes Geschehen gleichzeitig und
untrennbar komisch und tragisch ist. Die positive Bedeutung dessen ist sehr
gering; es ist in der Praxis ohnehin undurchfihrbar, weil diese gleichzeitige
Doppelseitigkeit des Sehens doch nie zum spontanen Erlebnis werden und
die tragische Seite eines komischen Falles, oder die komische eines tragi-
schen, nur nachtriglich - und zwar grofenteils intellektuell - empfunden
werden kann. So wird ein derartiges Bestreben, mag es auch das Lustspiel
vom Gesichtspunkt einer Weltanschauung vertiefen, die Reinheit seines
Stiles stéren und die Tragédie héchstens auf die Stufe des Banalen und
Trivialen hinunterdriicken oder bis ins Groteske verzerren. [AuSerdem wird
dieses Gefiihl in der Comédie larmoyante und in der ihr nachfolgenden
Literatur zu einer niedrigen weinerlichen Sentimentalitit, die alle starken
Offenbarungen des Individuums und somit das Dramatische lahmt, Und
Maeterlincks Theorie nach kann es dort gar keine Tragédie geben, wo es
einen Weisen gibt; vor der Kraft des Alles-Durchschauens und des Alles-
112 Grundsatzfragen
scheinen mir alle Vorginge und Konflikte, von Szene zu Szene, recht
eigentlich nur dadurch herbeigefiihrt, da& sich die Leute in einer unmdgli-
chen Weise betragen und die denkbar schlechteste Manier an den Tag legen.
Mit dem bescheidensten Aufwand an natiirlichem Takt, an notdiirftiger
Zuriickhaltung und so viel Respekt vor sich und den anderen, als auch bei
sehr einfachen Menschen im Leben recht hiufig ist, wiirden die meisten
dieser Zusammensti&e und Verwicklungen vermieden und das Ganze in sich
zusammenfallen.«”* Jede Tragédie hat das Pathos des Lebens stilisiert und
durch ihre Konzentriertheit seines Heroismus zu ihm sonst unerreichbaren
Gipfeln emporgesteigert. Das Publikum der Shakespeare-Dramen aber
kannte aus dem Leben Tragédien (Essex, Maria Stuart), welche ihrem Stoffe,
ihrer unmittelbaren Erscheinungsform nach sich nicht allausehr von denen
der Literatur unterschieden. Corneilles Publikum hatte zum groSeren Teile
die Kimpfe der Fronde noch mitangesehen, ja sogar selbst an ihnen teilge-
habt. Dort also war das Pathos im Leben bereits in (quasi) dramatischer
Form vorhanden. Das Pathos des neuen Lebens mufte umstilisiert, durch
bewufte kiinstlerische Stilisierung dramatisch gemacht werden. Die grofe
Gefahr dessen aber ist, da& gerade die wichtigsten charakteristischsten und
wertvollsten seelischen Qualititen, welche das neue Leben hervorbrachte,
hierdurch verlorengehen.
Das neue Leben hat keine Mythologie, und dies bedeutet, da& die Themata
der Tragédien in einer kiinstlichen Distanz vom Leben gehalten werden
miissen. Denn die asthetische Bedeutung der Mythologie ist zwiefach. Die
eine ist, da& sie die Lebensgefiihle der Menschen iiber die tiefsten Probleme
ihres Lebens in die konkreten Symbole konkreter Fabeln projiziert. Und
diese Fabeln sind noch nicht so weit erstarrt, um im Falle von Gefiihlsver-
schiebungen oder Verinderungen jene nicht in sich einschmelzen zu kénnen.
Dies jedoch derart, da& das Zuriickgebliebene immer noch mehr sei, als das
neue, das sinnliche Geschehen mehr, als die neue Art, es zu werten. Das
andere und vielleicht noch wichtigere aber ist, da& der so ausgedriickte
tragische Fall in starker und natiirlicher Distanz vom Publikum gehalten
wird. In starker Distanz, weil er das Geschehen in zeitlich grofe, fast
nebelhafte Fernen projiziert. In natiirliche Distanz, weil sein Gegenstand
und Inhalt, ja auch seine Form sich in der Mitte des Publikums gebildet und
geformt hat, als etwas, woran ihr eigenes Leben einen Anteil hatte, was im
Leben ihrer Vater enthalten war, ohne welches das Leben selbst kaum
vorstellbar wire. Was Gegenstand des Mythos zu werden vermochte, ist
schon seinem Stoffe nach poetisch. Das heift, er hat in der ewig paradoxen
II Das moderne Drama 1Is
Art jeder Dichtung eine gleichzeitig ferne und nahe Distanz zum Leben; er
tragt ohne jede bewufte Stilisierung sein real-irreales, in naiver Weise alles
bedeutendes, spontan symbolisches und einfach pathetisches Geprage an
sich. Der mythologische Ursprung oder das Mythologischwerden der Ver-
gangenheit (wie es zum Beispiel der Kampf der Rosen fiir Shakespeare
geworden ist) nimmt den Gegenstinden der Dichtung ihr zufilliges, ihr
beliebiges, ganz auf individuelle Willkiir gestelltes und auch in ihrer Wir-
kung der Willkiir des individuellen Geschmackes ganz ausgeliefertes Wesen,
was sie bei aller etwaigen »Interessantheit« dennoch tief trivial macht.
Wir sagten bereits: der Stoff des Lebens ist nicht mehr dramatisch; es besteht
nicht mehr die Méglichkeit, da& das zeitlos Poetische und das erregend
aktuell Empfundene in naiver Synthese verschmelzen. Es ist wie in der
tragédie classique (obgleich dort immer noch etwas von der alten Einheit
vorhanden war), wo ein Motiv, um wirklich poetisch zu werden, um das
Pathos der Tragédie wirklich zu erreichen, kiinstlich vom Leben entfernt
und zwischen ihm und dem Leben eine grofe Distanz geschaffen werden
mute. Das neue Drama ist das Drama des Biirgertums ~ und es gibt kaum
biirgerliche Dramen. Ibsen ist der einzige wahrhaft groSe Dichter der ganzen
Entwicklung, dessen Lebensarbeit in ihrem iiberwiegenden Teil’ von der
Schépfung biirgerlicher Tragddien ausgefiillt war. Bei jedem andern bleibt es
blo& ein durchaus episodischer Versuch, ein Experiment, welches kaum
mehr von irgendeinem wiederholt wurde. Theorie und Praxis stimmen darin
iiberein, unterstiitzen es durch tausenderlei sachliche und formale Griinde,
da8 das biirgerliche Drama etwas auch schon an sich Problematisches ist;
da8 das Drama auch abgesehen von den allgemeinen Stilproblemen jedes
modernen Dramas, in seiner ganzen Basis problematisch wird, sobald einmal
sein Gegenstand ein zwischen biirgerlichen Menschen sich abspielendes
birgerliches Schicksal ist. Das Thema des biirgerlichen Dramas ist allzu nahe
und daher trivial; das natiirliche Pathos seiner Menschen ist nicht dramatisch
und in der Steigerung zum Dramatischen gehen seine feinsten Werte verlo-
ren; seine Fabel ist erfunden, willkiirlich, es ist nicht und kann niemals in ihr
die natiirliche und poetische Resonanz jeder alten Oberlieferung enthalten
sein. Daher sind die meisten ~ ob in eine bestimmte Zeit oder in zeitlose
Fernen eingestellten - modernen Dramen historisch, und ihr Historisches
erhalt von hier aus gesehen einen neuen Sinn. Die Geschichte soll die
Mythologie ersetzen, kiinstliche Distanzen schaffen, Monumentalititen er-
zeugen, Trivialititen beseitigen und ein neues Pathos produzieren. Diese
mittelst des Historischen erreichte Distanzierung ist jedoch nicht nur be-
116 Grundsatzfragen
wufter als die alte, sondern gerade deshalb mutloser; muS mehr an Tatsa-
chen appellieren, sich stirker, weil feiger, an empirische Wirklichkeiten,
halten. Das Wesen der historischen Distanzierung ist, da8 sie an die Stelle
des heute Geschehenden das lang vorher Geschehene setzt. Aber stets ein
Geschehen an die Stelle des andern, niemals ein Symbol an die Stelle einer
Wirklichkeit. (Ich denke hier natiirlich nicht an die triviale »historische
Wahrheite; ein modernes Marchendrama ist historisch, weil es den Tatsa-
chen gegeniiber weniger frei ist, als ein Shakespearesches historisches
Drama.)
Das Pathos, die untere Grenze der Tragédie, ist sozial sowohl als auch
seelisch tiefer geriickt als je und hat eine unendliche Bereicherung der
Gegenstinde des Dramas, der Feinheiten und Raffinements gebracht. Jedoch
die Tragédie selbst ist dadurch problematisch geworden. Es gibt namlich
derart keinerlei absolutes, unbestreitbares, auSeres, unvermittelt sinnfalliges
Kriterium mehr dafiir, welches Schicksal welches Menschen tragisch zu sein
vermag. Das Tragische wird ausschlieSlich zum Gesichtspunkt und — was
den Ausdruck anlangt - zum ausschlieSlich innerlichen, seelischen Problem.
Nur die suggestive Kraft des Ausdrucks vermag etwas tragisch zu machen,
und nur seelische Intensititen kénnen ihm das Pathos der Tragédie verlei-
hen. Um so mehr, weil dies ja doch nur ein Symptom dafiir ist, da8 die
Untergrenze der Tragik auch im Leben verschoben ist. Was bei jedem
andern Publikum vorhanden war, das gibt es heute nicht mehr: es ist kein
sicherer, kein fixer Begriff mehr, welche Schicksale iiberhaupt noch tragisch
sein kénnen.
Daher ist der Heroismus des neuen Dramas stilisierter, rhetorischer, als es
der der alten gewesen ist: das Heldsein des Helden muf bewuft hervorgeho-
ben werden. Einerseits, damit sein tragisches Erlebnis zu den ihm entspre-
chenden, sich aber nicht in tragischer Form auSernden Geschehnissen des
Lebens in der Distanz der Tragédie bleibe; andrerseits, damit sein Schicksal
innerhalb des Dramas — wo die Méglichkeiten des objektiven Heraushebens
nicht vorhanden sind - das seinem Pathos gemif{e Gewicht und die dement-
sprechende Bedeutung erhalte. Jene Wesensseite der Helden, mit welcher
und der zufolge er in der Tragédie steht, ist derart bewuft stilisiert und auf
bewuften Heroismus stilisiert. Gekiinstelt und hart, sich vom Leben entfer-
nend wird die dramatische Charakterzeichnung iiberall, wo sie sich zur
Tragédie erheben will. Sie wird von einer um so starrern und kiltern
Majestat, die Reichtiimer und Feinheiten des Lebens um so folgerichtiger
ausschlieBend sein, je starker sie sich den wirklichen tragischen Hohepunk-
IT Das moderne Drama , 117
ten des Lebens annahert oder sie erreicht. Was Ludwig bei seinem grofen
Antipoden Hebbel so richtig erkannt hat, daf er die ganze moderne Art der
tragischen Stilisierung charakterisiert, indem er seine bespricht. »{. . .] Heb-
bels Charaktere«, so schreibt er, »sind Tag und Nacht in ihrer vollen
Wappenzier; jede seiner Personen ist bestindig auf der Jagd nach den
eigenen charakteristischen Ziigen. - Der Charakter ist bei jedem bis zur
Monomanie gesteigert. [.. .] Die Charaktere sind durchaus blo& mit ihrer
Lokalfarbe gemalkt [. . .].<”
Reicht aber diese schon an sich sehr bedenkliche Stilisierung aus, um den
Zweck zu erreichen, so wie sie noch bei den Vertretern der tragédie classique
ausgereicht hat? Die Natur dieses Pathos verleiht seinen Tragern eine
gewisse Abstraktheit. Ihr Heroismus hilt sie in einer solchen Entfernung
von allem Leben, da& er auch ihr — auf das Stilisierteste interpretierte
~ Menschsein gefahrdet, sie zu leeren Schemata zu erstarren droht. Und
zwar — dies ist der entscheidende Gesichtspunkt - erstarren sie zu einem
Schema, welches fiir nichts mehr Symbol sein kann; dessen aus blofen
Konturen Gebildetsein nicht mehr Monumentalitit, sondern nur Leere ist,
und ihr heroisches Pathos nur mehr schéner Worte nichtssagendes Klingen,
(Bei den Schiller-Epigonen zeigt sich diese Gefahr am deutlichsten.) Bei den
Franzosen des xvu. Jahrhunderts und teils auch noch bei Schiller war diese
Stilisierung, wenngleich auf Kosten grofer Opfer, so doch durchfiihrbar.
Weil sie aus den dramatisch in Betracht kommenden Eigenschaften der
Menschen etwas Wesentliches, wenn auch nicht ihre AuSerungsweise, stili-
sierte; weil die Stilisierung sich, wenn auch nicht in einer Ebene, so doch in
einer Richtung mit dem Leben bewegte. Schillers Posa, seinem Max Piccoli-
mini oder Mortimer - von Cid ganz zu schweigen — stand irgendein
Analogon im Leben gegeniiber; ein Wildenbruchscher »Held«” konnte nur
mehr ein villig leeres Schema sein. Diese Stilisierung hat langsam ihren Sinn
verloren — parallel damit, daf& der doktrinare Idealismus des xvi. Jahrhun-
derts (dessen idealisierte Projektion sie war) seine Bedeutung fiir das leben-
dige Leben verloren hat, respektive, wo er als Gefiihlsform noch vorhanden
war, eine ganz andre Gestalt annahm. Allerdings konnte diese Stilisierung
immer nur fiir einen Teil der fiir das gro&e Drama wichtigen Probleme, fiir
den mit dieser Ideologie eng zusammenhingenden, ein einigermafen ad-
Gquates Ausdrucksmittel sein. Fiir alles andre war sie villig ungeeignet. Hier
konnte nur mehr davon die Rede sein, wie eine ihrer Natur nach sich nicht
dramatisch auSernde Eigenschaft bis zum Dramatischen hin zu steigern
wire. Diese Stilisierung kann aber nicht mehr einfach das Pathos des
118 Grundsatzfragen
abstrakten, des bewuten Heroismus sein. Sie kann nur die, bis zu einem im
Leben nicht zu findenden gigantischen Ausmaf gehende Stilisierung einer
Eigenschaft und das von dieser Eigenschaft Beherrschtsein des ganzen
Menschen und seines Schicksals sein. Oder, in die Sprache des Lebens
umgesetzt: Pathologie. Denn was bedeutet dieses ins duferste Emporgestei-
gerte anderes, als wie Krankhaftigkeit, als eine pathologische Uberwuche-
rung eines bestimmten Etwas im Leben des Menschen? Was natiirlich noch
erhoht wird durch den aus dem Stil des Dramas folgenden starken Motiva-
tionszwang: wenn diese Maximalitat aus psychischen Griinden heraus zu
beweisen ist, so kénnen diese keinesfalls aus dem Kreis der normalen
Psychologie gewahlt sein und zwar je starker dramatisch die Situation des
Menschen ist, um so weniger. Schon in Lessings Tellheim sind die ersten
Spuren dessen vorhanden, was in den Briidern Moor bei Schiller sich
ungemein verstarkt, um iiber Kleists Kithchen und Penthesilea sich in
Hebbels Helden und Heldinnen bis zu dem héchsten Grade zu erheben; auf
die Modernsten hinzuweisen ist von diesem Gesichtspunkt aus vielleicht
iberfliissig.
Daf die Pathologie ein technisches Bediirfnis und mit den hier skizzierten
Problemen zusammenhingt, hat bereits Schiller empfunden, indem er iiber
die Iphigenie an Goethe schrieb: »Orest selbst ist das Bedenklichste im
Ganzen; ohne Furien ist kein Orest, und jetzt, da die Ursache seines
Zustandes nicht in die Sinne fillt, da sie blo& im Gemiit ist, so ist sein
Zustand eine zu lange und zu einformige Qual ohne Gegenstand.«’”> Wenn es
keine Mythologie gibt - darum ist vielleicht dieser Fall klarer als jeder andre
— muf alles aus dem Charakter heraus begriindet werden. Die rein auf den
Charakter gestellte Motivation, die ausschliefliche Innerlichkeit des Schick-
sals aber treibt den Charakter immer an die Grenze der Pathologie. Der
Orest des Aeschylos war nicht pathologisch, weil bei ihm von aufen
herkam, was bei dem Goetheschen von innen; so war bei ihm Schicksal, was
beim modernen Dichter Charakter ist. Wo der Gestalt irgendeines alten
Dichters ein pathologischer Zug eigen ist (Herakles, Ajax, Lear, Ophelia
usw.), dort ist das Schicksal einer jeden, so zu werden, ihre Tragédie, da8 sie
dahin gelangt; ihre Tragédie wachst aber nicht daraus hervor, daf sie so war.
Und wo die Tragédie sich auch auf einer pathologischen Situation aufbaut,
wie in Phaedra, selbst dort ist sie ganz nach aufenhin projiziert: die Gottheit
hat sie ihr geschickt. Dies scheint ein nur technisches Problem zu sein; es
k6nnte scheinen, als ob es kein entscheidender Unterschied sei, ob Orest von
den Furien verfolgt wird, oder von seinen eigenen erregenden Vorstellungen,
II Das moderne Drama 119
ob es das lockende Wort der Hexen ist, was das stiirmische Machtverlangen
in Macbeth zur Reife bringt, oder das Suchen des eigenen Untergangs bei
Holofernes. In der Wirkung aber ist der Unterschied unvermeidlich, daf,
was von aufen kommt, was Gott auf Menschen herabschickt, das Allgemei-
ne, das Schicksal ist. Es kann mit jedem in gleicher Weise und in gleichem
Mafe geschehen, und letzten Endes lag es gar nicht an der Zusammenset-
zung eines bestimmten Charakters, oder zumindest nicht nur daran, daf dies
zum Schicksal geworden ist. Sobald alles nur inneres Geschehn ist, nur aus
dem Charakter folgen kann — wenn es dem Wesen des Betreffenden nicht so
unendlich fern steht, da8 es ihn gar nicht mehr dramatisch zu machen
vermag (Oswald, Rank) - mu seine Intensitat, um tiberhaupt sichtbar und
hérbar zu werden, bis zum Krankhaften gesteigert sein. Die Pathologie ist
die einzige Méglichkeit des Dramatischmachens undramatischer Menschen.
Diese nur vermag ihnen jene Konzentriertheit des Handelns zu geben, jene
Intensitét der Empfindungen, welche die Tat und die Situation symbolisch
machen, die Gestalten aus dem Gewohnlichen, aus dem Alltiglichen heraus-
zuheben. »In der Krankhaftigkeit«, sagt Kerr, »liegt die erlaubte Poesie des
Naturalismus . . . Das riickt eine Gestalt in unendlichere Luftschichten und
bleibt doch real begriindbar.«”*
Die Technik jedoch ist hier, wie iiberall, nur Symptom. Sie bedeutet, da& das
Leben selbst die typischen Konflikte nicht zu tragischen Hohen emporstei-
gert. Sie bedeutet ferner, da& das, was von aufen kommt, das Schicksal, die
Menschen langsam erdriickt, langsam aufsaugt. Ihre Erschépfung in aller-
hand kleinlichen Fehden, ihr langsames Verkommen und Zugrundegehen:
dies ist die wahre Form ihrer Tragédie. So ist der gro&e moderne Roman
nicht auf die Pathologie angewiesen, zumindest nicht in dem Mage wie das
Drama. Denn dort ist dieses von AuSen-her-kommende in seiner in tausend
Partikelchen zerkleinerten Trivialitit darstellbar und kann derart Schicksal
bleiben. Es mu8 um der Erméglichung der Konzentration und der Heraus-
hebung willen sich nicht in den Charakter fliichten und diesen pathologisch
machen. Es ware beispielsweise interessant, die Madame Bovary aus diesem
Gesichtspunkt mit Hedda Gabler zusammenzuhalten, oder den Frédéric
Moreau der »Education sentimentale« mit einem im Milieu ertrinkenden
Helden irgendeines neuen Milieudramas. Wie ist Hebbel gendtigt, Meister
Antons Ehrbegriffsfanatismus bis zur Pathologie zu steigern; so wie Goethe
die Sensibilitat des Tasso, damit der konkrete Konflikt nicht ausgeglichen
werde. Denn das Leben gleicht die meisten konkreten Zusammenstéfe aus,
our durch die Gesamtheit derselben (also episch) werden die Menschen
120 Grundsatzfragen
5.
Um alles zusammenzufassen: was das neue Leben als Stoff und als Form den
Lebensauferungen des dramatischen Menschen gebracht hat, war durchweg
formzersprengender Art. Und weil es tiberdies mit seinem Relativismus die
reine Scheidung von Mensch und Schicksal aufléste, gefahrdet es auch an
diesem Punkte die Form. Der einzige Weg fiir die Ldésung des Stilproblems
liegt in der Lésung des Schicksalproblems. Nicht nur die Gestaltung des
Lebens, sondern auch kiinstlerische Notwendigkeiten zwingen das Drama,
seinen Schwerpunkt hier zu suchen: auferhalb des Menschen. Was der
Mensch, der unmittelbar dargestellte Svoff, dem Drama gebracht hat, das
alles war zentrifugale Energie. Das Wesen des Stilproblems konnte also nur
sein, die zentripetalen Krafte zu suchen, oder, was mit dieser Frage gleichbe-
deutend ist, das Zentrum zu finden, von welchem aus die das Leben
bewegenden Krifte im Gleichgewicht sind. Wir sehen, die Frage ist aus dem
Kreis der blof kiinstlerischen, technischen Fragestellungen herausgehoben.
Die Lésung dieser technischen Aufgabe wird zum Lebensproblem: zum
Suchen eines Lebenszentrums. Fiir alte Zeiten und ihre Dramen war diese
Frage kein Problem; ihnen war gerade dieses Zentrum, um welches sich alles
gruppierte, gegeben. Fiir die jahrhundertelang sozusagen ausschlieflich un-
ter der Wirkung zentripetaler Krafte lebenden Menschen wurde es zum
packenden tragischen Erlebnis, daf es auch andre Krifte gibt. Daf diese auf
$0 felsenfesten Grundlagen ruhende Weltordnung in einzelnen Fillen den-
noch ins Wanken geraten kann, wenn auch nur fiir einen Augenblick, wenn
auch nur, damit ihre aufgepeitschten Wogen den unter sich begraben,
welcher sie aus ihrer Ruhe aufgescheucht hat und die Oberflache sodann
wieder still und unbewegt werde, als ob sich daran nichts geandert hatte. Das
neue Leben wichst unmittelbar aus dem grofen Chaos heraus, die Ruinen
¢iner alten Ordnung mit den fiir ewig abgebrochenen Fragmenten des neuen
Freiheitspalastes vermischend. Die Tendenz des neuen Lebens war das
Zersprengen der alten Ordnung und die Errichtung einer neuen, minder
festgefiigten, den Menschen mehr Autonomie verleihenden. In diesem Le-
ben konnte nichts absolut fest, nichts von vornherein jeder Moglichkeit, zur
Diskussion gestellt zu werden, entrickt sein. Jene vieldimensionale Gliede-
Tung, von der schon innerhalb der Welt des Dramas die Rede war, ist im
122 Grundsatzfragen
die ewige, heute bis zum Impressionismus und zur Pathologie gesteigerte
Irrationalitat der menschlichen Seele organisch und unlésbar, die Illusion des
Zusammengewachsenseins erweckend, mit der starren Gesetzmafigkeit des
Schemas verkniipft werden? Diese Verkniipfung geschieht nicht an einem
Punkt, weil es sich ja nicht um die Verkniipfung zweier Elemente von
gleicher Qualitit handelt, sondern an unziahligen Punkten, in tausenderlei
Art; gerade, weil sie ganz heterogenen Stoffes sind und sich vereinigen, und
zwar in absoluter Weise vereinigen miissen.
Das Wesen des Schemas ist: die unerbittliche Notwendigkeit des Gesche-
hens; starker, in gesteigertem Maf als bei anderen Dramen. Diesem Drama
steht ja eben nur dies, die formale Notwendigkeit, zu Gebote und in den
ihren Stoff bildenden Charakteren ist mehr des Irrationalen und nicht
Notwendigen als je. Es geschieht also etwas, weil es geschehen muf; es
vernichtet den, welcher sich dem, da& es geschehe, widersetzen will; es
schiebt den beiseite, der es beschleunigt hat; st68t beiseite den, welcher es
aufhalten will; wirft den ihm als Werkzeug dienenden Menschen weg, sobald
es seiner nicht mehr bedarf. Das erste, das einfachste und primitivste Band ist
in der Seele des Menschen. Darin, da® sie von Anbeginn an oder im
Augenblick der tragischen Begegnung die Beziehung zwischen sich und
ihrem Schicksal erkennt. Dadurch erhilt das Schicksal, welches in seiner
unmittelbar sinnlichen Wirkung nur als Summe der zufalligen Handlungen
einzelner Menschen erschien, seine echte schicksalhafte Beleuchtung. Wir
sehen hinter das, was unmittelbar geschieht, bis dahin, wo die eigentlich
bewegenden Krafte am Werke sind. Das verbindende also ist, ganz allgemein
gesprochen, die Ideologie; da& der im Drama kampfende Mensch den
theoretischen Kampf auch theoretisch empfindet. Mit der Kraft seines
Sehens gibt er ihm seinen abstrakten Symbolismus, durch die ihm gegeniiber
sich auSernde Schwache seiner Einsicht dessen unendliche Kraft und durch
die Vereinigung der beiden seine Notwendigkeit. Dies freilich ist ausschlie8-
lich ein formales Problem, das Inhaltliche in all diesem kann also beliebig
sein. So, wenn in Henschel die irrationale Zusammenhanglosigkeit der
Geschehnisse die Katastrophe verursacht und sein alles verzeihendes Nichts-
verstehenkénnen das Pathos der Tragédie ist, so handelt es sich vom
Gesichtspunkt der formalen Lésung um dasselbe, als wie wenn Hebbels
Kandaules oder Hieram einsehen, welch abstrakten historischen Notwen-
digkeiten sie zum Opfer fallen.
Jedoch auch in jenen auSeren Umstanden und in ihrer Beziehung zueinander
(und, wie wir sagten, jeder Mensch ist vom Gesichtspunkt des andern ein
II Das moderne Drama 125
sau8erer Umstand«) wird auch schon an und fiir sich das Schema der
Notwendigkeit offenbar. Ist doch dieses nur seiner Form nach abstrakt. Ja,
auch das nur in der Beziehung zur Seele des Menschen, fiir den es Schicksal
ist; nur als ein Ganzes, nur in der nachtriglichen Analyse des Dramas. Sein
Inhalt ist eben die konkrete Wucht der Tatsachen, die fiirchterliche, alles
hinwegfegende potentielle Energie des wechselseitigen Zusammenhanges der
Dinge. Es erhilt also einen ganz unmittelbaren Ausdruck in der vielfachen
und vielseitigen, verwickelten Gesetzmafigkeiten unterworfenen Verkniip-
fung der auferen Umstinde: Darin, durch welche Art von Verkniipfungen
und mit welcher Kraft alle Menschen des Dramas untereinander verflochten
sind; darin, welchen Umstinden welche bewegende Kraft und Rolle zufallt
in den Motiven ihrer Handlungen, Gedanken und Empfindungen. In der
Starke der Situationen also und in der Richtung ihrer beeinflussenden Kraft:
Darin, welche Bedeutung der Situation zukommt, in welcher der Mensch
handeln muf, dafiir, was er selbst etwa als villig spontanes Handeln
empfindet; welche Bedeutung all dem zukommt, was ihn in diese Situation
gebracht hat, allem, was seine spiteren Handlungen beeinfluft. Mit einem
Wort gesagt: dem Milieu.
Das Milieu stellt den Menschen ins Schema ein, das blo&e Milieu jedoch
reicht dazu nicht aus. Denn das System der von ihm produzierbaren
Verkniipfungen ist so grof und verwickelt, daf seine zentripetal gedachten
Krifte wieder zentrifugal werden und statt zusammenhaltend zu sein, die
Form noch mehr zersprengen wiirden. Das Milieu also, selbst das detaillier-
test naturalistische, ist symbolisch und stilisiert. Diese Stilisiertheit jedoch ist
anders und mehr als die fiir jede dramatische Person und Tatsache von der
Form aus gebotene Stilisierung. Die Richtung der Stilisiertheit wird anders,
weil die Gesichtspunkte, von welchen aus die perspektivische Verkiirzung
und die Reduktion auf das Symbolische geschieht, andre sind. In diesem
Milieu gibt es nichts, was nur real ist, nichts, was seine Bedeutung nicht
ausschlieBlich von dem erhielte, worauf es bezogen ist und dennoch gibt ihm
gerade seine Realitit die konstruktive Kraft. Symbolisch nimlich wird es
durch die grofe Intensitit jener Realitatskraft, jener konkreten Macht, kurz
der Milieuhaftigkeit, womit es auf die eingestellten Menschen und ihre
Handlungen wirkt. Hier gibt es auch zwischen den naturalistischsten und
am stirksten stilisierten Dramen nur Gradunterschiede, nur Unterschiede
des Zusammenraffens, je nachdem, auf wie wenige Menschen oder Tatsa-
chen es das Milieu zu reduzieren vermag; im Prinzip und in der Hauptrich-
tung der Stilisierung ist keine entscheidende Abweichung. Das Wesen des
126 Grundsatzfragen
Milieubegriffs ist die dem Menschen gegeniibergestellte Kraft der ihm ewig
fremden Dinge; ihre von den anderen Notwendigkeiten getriebene und ihn
dennoch mit der Energie der Notwendigkeit treibende Natur. Die Stilisie-
rung zum Milieu kann demnach — welcher Art ihre Technik auch sei - nur
diese Kreuzung der vielfachen und aus verschiedenen Richtungen kommen-
den Notwendigkeiten, diese Wirkung der feindselig fremden Energie der
Dinge anstreben. Jeder Mensch also, welcher das Milieu mitgestaltet, wendet
sich - mit der von der Okonomie der Stilisierung jeweils abhangigen Kraft
— mit der Seite seines Wesens dem von ihm beeinfluSten Menschen zu, in
welcher die durch ihn hindurch diesem zulaufende Notwendigkeit sich
offenbart. So bedeutet es fiir den Betreffenden, ob es bewuft wird oder
nicht, ein Abstraktum, ein Symbol dieser Notwendigkeit, und die Gesamt-
heit von all diesem bedeutet das Milieu. Seine Stilisiertheit beruht aber nur
auf dem da- oder dorthin Gewendetsein dieser seiner schicksalhaften Seite,
sein Symbolismus auf der Wirkungsweise dieses Gewendetseins und ist
durchaus unabhingig von der durch die allgemeine Form gebotenen Stilisie~
rung. Diese Stilisiertheit ist einem Menschen gegeniiber blo& Gesichtspunkt,
nur die zu einer so gerichteten Beurteilung nétigende Einstellung seines
Wesens und seiner Handlungen. Diese selbst miissen hierdurch nicht er-
schépft, ja nicht einmal tief beriihrt sein. Das Symbolische des Milieus ist das
Symbolische der Wirklichkeiten; die Versinnlichung dessen, welche Systeme
der von ihnen unabhingigen Notwendigkeiten durch die einzelnen Men-
schen hindurchlaufen, oder, welche in ihnen zusammenlaufen. Seine Mittel:
einerseits die in die Systeme dieser Richtungen gefafte, konzentrierte Inten-
sitat der Bezichungen der Menschen zueinander, ihrer Wirkungen aufeinan-
der; andrerseits der Zusammenhang zwischen Einzelmenschen und abstrak-
ten Prozessen, wie er in der Gesamtheit von all diesem und in dessen
Beziehung zum besondern Leben des einzelnen Menschen offenbar wird.
Dabei stellen freilich sowohl der Naturalismus als die stilisierenden Richtun-
gen das Milieu auch in blof illustrativen Episoden dar, was aber von nur
dekorativer, also aushelfender Wirkung ist. Es vermag eine bereits begriinde-
te Wirkung zu steigern, indem es die Situation sinnlicher gestaltet, die
Wirkung selbst aber nicht hervorzubringen. Ein interessantes Beispiel dafir
ist der als Uhr verwendete Artaxerxes in »Herodes und Mariamne«; insbe-
sondre durch seine Placierung: nach der vollkommenen Zuspitzung der
tragischen Situation, nur eben vor ihrem Bewuftwerden und ihrem Aus-
druck.
Dies ist das Symbol dafiir, da8 die Menschen fiir einander Schicksal werden.
II Das moderne Drama 127
den, dieser viel mannigfaltiger zerlegbare Stoff muf in einige groRe Punkte
zusammengedrangt und durch die dahin filhrenden Wege blof leise ange-
deutet werden, wie viel in einem solchen grofen Augenblick verdichtet ist.
Jeder solche Augenblick ist das Welthistorischwerden eines individuellen
Schicksals (selbst in den biirgerlichen Dramen, z.B. Maria Magdalena).
Geheimnisvolle Begegnung eines grofen, iiber das Menschliche hinausge-
henden Prozesses mit dem Schicksal eines Menschen, Zusammendringen des
Ganzen einer Lebensbeziehung in cin Ornament. Denn nur ihre ornamenta-
le, dekorative Kraft vermag diesen Punkten das Symbolische zu geben; nur
_ ein so stark dekoratives alles in sich Zusammenfassen der Gesten, der
Begegnungen, da& das Abstrakte nur mehr um der inhaltlichen Erlauterung
willen vonnéten ist. Es mu8 nur sagen, wessen Symbol es ist, zu seiner
Symbolik aber kann es nichts mehr hinzufiigen.
Das alles zusammenhaltende Schema ist die groSe Notwendigkeit; zum
Ornament kann etwas nur durch seine absolute Notwendigkeit werden.
[»Die vornehmste Eigenschaft eines guten Ornamentes ist nicht die Freiheit,
sondern die innere Notwendigkeit der Krafteverhialtnisse<, schreibt Scheff-
ler.£°] Die Notwendigkeit also ist das Schema respektive das System der
Notwendigkeiten, welches durch alle Punkte des Dramas hindurchgeht, es
mit den anderen verkniipfend, welche irgendwo in einem Zentrum zusam-
menlaufen, sich vereinigen. Dieses Zentrum ist freilich ebenfalls ein formales
Postulat; sein Inhalt kann auch das sein, da8 es nichts gibt, was diesen das
Leben beherrschenden Gesetzmafigkeiten Sinn und Bedeutung geben
kénnte (Dantons Tod; der Graf von Charolais). Die grofen, die alles
hinwegfegenden, alles mit unerbittlicher Kraft beherrschenden Notwendig-
keiten sind die Grundlagen des Dramas. Die grofe metaphysische Notwen-
digkeit, die gro&e Notwendigkeit des Lebensprozesses, in der Vision des
Dichters, was durch das Drama nur hindurchdimmert, wovon das Drama
nur eine kleine, vielleicht zufallige Offenbarung ist. Und dabei die konkreten
Notwendigkeiten: die pragmatisch, zwangsweise Verkniipfung von Tatsache
an Tatsache, was die groSe Notwendigkeit manchesmal verdeckt; ferner die
das innerhalb der einzelnen Menschen Geschehende zur Einheit zusammen-
raffende Notwendigkeit. Und all dies ist - wir sagten es - nur formal; diese
Notwendigkeiten haben keinen konstanten, von jedermann akzeptierten
Inhalt: ihre Wirkung kann nicht die Steigerung eines existenten Gefihles,
sondern nur Suggestion, Unterjochung der Willen sein. Darum ist heute das
Problem der Ausschaltung des Zufalls von solcher Wichtigkeit. Solange der
notwendige Zusammenhang gewisser Prazedenzien mit gewissen Konse-
I Das moderne Drama 129
erreichen; unter ihnen sind vielleicht Goethe und Ibsen die gréften Beispiele
fir das eine, Schiller und Hebbel fiir das andere Extrem.)
Dasselbe ist die Paradoxie des Dialogs des neuen Dramas: die Paradoxie des
Atmosphirischen und der scharflinigen Stilisierung. Einerseits das bis ins
Extreme Verfeinerte und in ihrer letzten Analyse dennoch Hoffnungslose
der Berithrungen, das paradoxe Zusammenschmelzen von Einsamkeiten und
Verstehen. Andrerseits die Paradoxie des Stoffes und der Materie. Daf das
eine das in tausend Schattierungen Vibrierende der Augenblicklichkeit des
nur individuellen Lebens erfordert, das andre die strenge Lebensferne des
Tragers der Abstraktion erfordert. Das eine - die naturalistisch-psychologi-
sche Richtung - wiirde den Dialog wegen seiner Atomisiertheit undrama-
tisch machen, das andre - die stilisierende - ihn zur leeren Abstraktion
erstarren lassen. Das eine wiirde es im Formalen undramatisch machen; das
andre inhaltlich. Das eine wire nicht imstande, sich bis zum Symbolischen
zu erheben; das andre wiirde in der Welt der Allegorie erstarrt bleiben. Das
erste ist nicht imstande, die durch das Nahegeriicktsein erreichte Wirkung
zu steigern und aufrechtzuhalten, das andre vermag nur zu steigern und wei8
nicht, von wo auszugehen. [Hier ist die Notwendigkeit einer Synthese noch
offensichtlicher und auch hier fiihren zwei Wege zur Synthese: entweder
mu& die Sprache des gewohnlichen Lebens, indem sie in Symbole gepreft
wird, in die abstrakte Héhe, zum rein das Schema ausdriickenden Pathos
gesteigert werden (Ibsens letzte Dramen), oder die abstrakte Situation mu&
so tief in sinnlichen Bildern erlebt werden, daf - obwohl sie nur skizzenhaft
komponiert ist -, ihre erregten Verwebungen, ihre im ersten Augenblick
kaum zu ordnende Ornamente eine dem Atmosphirischen ahnliche und es
in seiner Wirkung ersetzende Vibration entstehen lassen (Heinrich von
Kleist).]
Beide Paradoxien sind aber zugleich die der abstrakten dramatischen Form
und beide hingen sowohl in der reinen Formanalyse als in der Untersuchung
der neuen Elemente des neuen Dramas mit dem tief Widerspruchsvollen
derselben zusammen. Damit, da& das Drama nur mittels der Psychologie
alles auszudriicken vermag und daf nicht nur das jenseits der Psychologie
liegt, was es auszudriicken hat, sondern da& die Psychologie als Weg, als
Ausdrucksmittel willkiirlich ist und unzureichend. Was also die Formen des
Lebens dem Drama als Stoff und Stilméglichkeit gegeben haben, das stellt es
dennoch nicht vor ganz neue Probleme. Es zerbricht die Form nicht
endgiiltig, indem es beweist, da es zum Ausdruck dieser Erlebnisse unge-
eignet und unzureichend ist. Daf also irgendeine ganz neue Form zustande
132 Grundsatzfragen
kommen miifte, damit die tragische Vision dieser Zeit einen adaquaten
Ausdruck finde. Die Paradoxien gestaltet sie zwar scharfer, so scharf, wie sie
noch nie gewesen sind und macht es fraglich, ob ihre Synthese, ihr Zusam-
menschmelzen mit dem sinnlichen Erlebnis iiberhaupt noch erreichbar ist.
Jedoch es macht nur ein Grundparadoxon noch paradoxer, ein Grundpro-
blem noch problematischer, eine Schwierigkeit noch schwieriger. Die hier zu
geschehende Offenbarung des stets gereinigten tragischen Erlebnisses kann
sie nicht hindern und verhindert sie auch so nicht.
Und an diesen Punkt gelangt, miissen wir unsre Hauptfrage mit zweifachem
und durchaus zweierlei Nachdruck stellen: ob es ein modernes Drama gibt,
ob es iiberhaupt eines geben kann. Historisch ist allerdings erwiesen, da8 es
eines gibt, weil bewiesen ist, da es anders, prinzipiell anders ist, wie jedes
alte, wenn auch im Grunde problematisch. Ob man dennoch iiber modernes
Drama sprechen kann, ob kiinstlerisch gliicklichere Zeiten das, was wir als
neuen Stil zu analysieren und zu begreifen versucht haben, nicht als absolute
Stillosigkeit bezeichnen wiirden, ist schwer zu entscheiden. Es ist gewif, da8
alle ihre Grundlagen problematisch sind — ist aber nicht alle heutige Kunst
problematisch? Das Drama ist, weil seine Bedingungen mehr im Sozialen
wurzeln, problematischer als viele andre Kiinste. Nicht als alle freilich, und
es fragt sich, ob die, welche nicht problematisch wurden, ja welchen das
Problematische der strengen Formen sogar forderlich war, nicht niedrigerer
Ordnung sind. Jedoch es ist fraglich und hier auch in Form der Frage
fruchtlos: ist dieser Unterschied wirklich so gro und entscheidend? Ist es
nicht berechtigt, wenn man iiberhaupt von moderner Kunst sprechen kann,
auch das moderne Drama als existent und — relativ — wichtig und viel
ausdriickend zu empfinden? Denn das entscheidende Ja oder Nein kann
doch erst ausgesprochen werden, wenn einstens iiber das wirklich Kultur-
hafte unserer ganzen Kultur entschieden werden soll.
133
Zweites Buch
Das asthetische und das Lebensproblem, der Wille, der die dramatische
Form sucht, und der Wunsch, die spezifisch neuen Seiten des neuen Lebens
auszudriicken, fanden sebr schwer und sehr langsam zueinander. Zur kiinst-
lerischen Form kénnen natirlich nur Erlebnisse werden, die schon seit
langem herausgebildet wurden und schon bewuft sind, und wir wissen, wie
lange es immer dauert, bis sich das, wenn auch nur in Form eines zum Teil
sicheren und harmonischen Gefihls, einstellt. Dazu kommt noch das Unhi-
storische des 18. Jahrhunderts, der Wiege der neuen Gefiihle, das den
Dichtern zu ihrer Zeit das Neue, das noch nie Vorhandene, das sich in
seinem Ausdruck von allem Alten unterscheidet und somit nach einem sich
von allem Alten unterscheidenden neuen Ausdruck verlangt, zu erkennen
verwehrte. Die Suche nach dem neuen Drama war ausschlie8lich ein astheti-
sches Problem, ein Stilproblem, aufer, wenn es sich um den rohen Ausdruck
der neuen Inhalte handelte und nicht um die die Formen modifizierende
Wirkung der neuen Gefiihle und Anschauungen. Das Drama wurde gesucht
und insofern es bewu8t wurde, da es sich um eine neue Sache handelt,
empfand ein jeder seine Stilprobleme als seine persdnliche Eigenart, als
etwas, zu dessen Lésung, wenn es einen anderen Weg gibt als die geniale
Intuition (und alle wu8ten, daf es einen gibt), nur der Weg zum Erkennen
der Notwendigkeit der dramatischen Form, das Studium der alten grofen
Dramen und das Auffinden ihrer Geheimnisse fihren konnte. Die Gegensit-
ze und Scheidungen sind durch die nachahmenswerten Vorbilder und durch
die Art der Nachahmung der Vorbilder zustande gekommen; dadurch,
inwiefern jemand die Griechen oder Shakespeare oder die Spanier fiir
nachahmenswerte Vorbilder hielt. Was speziell neu war, gelangte unbewuSt,
infolge der sozialen Determiniertheit des Erlebnisses in die Dramen, da-
durch, wo und worin sie einen verwandten Ton spiirten, als sie den
adiquaten Ausdruck fiir ihre Gefiihle gesucht haben. Die Kraft der Neuheit
bestand gerade darin, daf sie - ohne es zu merken - die Alten mifverstanden
134 Die geschichtlichen Voraussetzungen
gen alle Dramen problematisch werden lassen. Es ist hier vom Versuch der
Erschaffung eines zeitlosen, abstrakten Dramas die Rede, von einem Experi-
ment, das nicht gelang und nicht gelingen konnte. Es konnte deshalb nicht
gelingen, weil infolge der Paradoxie der Form gerade eine solche reinste und
tiefste Formsuche vom wahren Wesen der Form am starksten wegfiihren
muf.
1
Bei Lessing liegt das Problem noch nicht darin. Bei ihm ist tatsichlich davon
die Rede, da& aus dem rein und ungebrochen aus dem 18. Jahrhundert
stammenden Gefihl kein Drama hervorwachsen kann; daf es vor der
Franzésischen Revolution oder wenigstens vor den Erlebnissen, die ihr in
der Richtung der Wirkung auf die biirgerliche Gefiihlsweise thnlich sind,
noch kein Drama gibt. Und daf dieses Grundgefiihl sich gegen das Drama
richtet, kann kein theoretischer Klarblick, sei er auch der tiefste, und kein
dichterisches Talent, wenn es auch eine unmittelbarere Kraft besife als
Lessings Talent, ersetzen. Somit erscheint uns in der Position Lessings die
Problematik des neuen Dramas in einem hellen Licht. Lessings Verhiltnis zu
den Stimmungen seiner Epoche ist unzweifelhaft grof und stark, aber er
steht auch hoch genug iiber der Epoche, um nicht einzelne Fille aus dem
Kreis der gewohnlichen Geschehnisse des gewohnlichen biirgerlichens Le-
bens herauszugreifen, wie die durchschnittlichen biirgerlichen Dramen,
sondern er faBt ihre wichtigsten Schicksale in Symbole und lift die fiir sie
am reinsten charakteristischen Menschen in typischen Gestalten zu Wort
kommen. In Lessings Kunst gibt es keine Isoliertheit vom Leben; seine
Dramen sind einerseits die Zusammenfassungen der groSen Epochenstim-
mungen, andererseits stehen sie mit der lebendigen Biihne in einem starken
und engen Zusammenhang. Aber beide Zusammenhinge, deren Fehlen
spatere Dramatiker vom wahren Dramatischen entfernen, stdéren auch seine
Dramatik. Seine Biihnenwirksamkeit ist nur eine Bihnenmiigkeit, die fir
den Ausdruck einzelner Fille geeignet ist, die Lessing schon fertig tibernahm
und nur bis zur Méglichkeit entwickelte und verbesserte, denn es stand ihm
keine andere Technik zur Verfiigung. Bei ihm spricht man, auch seine
gré8ten Verehrer, von der kalten Mathematik der Dramen. Diese Mathema-
tk ist eigentlich dieselbe wie die der franzésischen Dramen seiner Epoche, es
ist dieselbe Mathematik, die nicht sehr verandert als die Technik Scribes und
seiner Nachfolger im 19. Jahrhundert vorherrschen wird, um in Ibsen ihre
letzte Vollendung zu erreichen. Es ist eine von aufen in die Welt des Dramas
136 Die geschichtlichen Voraussetzungen
nen Umstinde, die den sinnlos heroischen Selbstmord erméglichen, sind nur
Symptome dafiir, da8 er innerlich nicht wirklich tragisch ist. Denn das
eigentliche tragische Problem besteht in der Frage, wozu dieses Opfer nétig
ist, ob es geschehen kann und darf; die unauflésbare grofe Dualitit des
»Kann« und »Darf«, des tief Notwendigen und ebenso tief Unniitzen, der
tiefen moralischen Selbstaufopferung und der schonungslosen egoistischen
Immoralitat ist nicht einmal aufgeworfen, wurde kaum beriihrt. Das Ganze
ist ein interessanter tragischer Fall; es ist die Méglichkeit eines tragischen
Menschen, einer tragischen Situation, die aber kaum aufgeworfen, geschwei-
ge denn ausgeschdpft wird. Lessing gelangt in »Emilia Galotti« viel naher
zur Tragédie, ohne sie auch hier wirklich zu erreichen. Alle wissen und alle
hoben schon hervor, warum. Aber fiir uns, die wir die Tragddie der
Galotti-Familie als notwendige Folge aus den Verhiltnissen, die das Drama
uns zeigt, empfinden, ist es unverstindlich, warum Lessing fiir das Erreichen
eines solch unvermeidbaren Zieles einen solch gekiinstelten Weg wiahlen
mufte, der die unmittelbare und natiirliche Wirkung des Sich-Einstellens der
Tragédie verhindert. Alle erwarteten vom ersten Augenblick an dieses Ende,
und doch gibt es niemanden, der sich mit diesem erwarteten Ende, wenn es
da ist, abfinden wiirde. Wie ist das méglich? Die Technik kann hier keine
Erklirung dafiir sein, denn sie ist nur der Weg, der dorthin fihrt, und die
Frage ist eben, warum Lessing diesen Weg wihlte, der am wenigsten und am
wenigsten gerade zum Ziel fihrt? Wozu ist Mathematik da, wenn sich aus
den Charakteren und aus der Situation ohnehin alles von selbst ergibt? Es
scheint so, als ob sich doch nicht alles mit so unbezweifelbarer Kraft ergibt,
¢s scheint so, als ob nur wir es sehen wiirden, da aus der gegebenen
Vorgeschichte sich die Tragédie ergeben mu8. Lessing wufte aber auch, daf
¢s sich sehr oft, vielleicht meistens so verhilt, und verband seine kiinstleri-
sche Einsicht - die die Tragédie erforderte — mit dieser Einsicht und
Beobachtung; in seinem Gefiihl war aber nie eine solche Forderung vorhan-
den. Maeterlinck beschreibt einmal, indem er die Vermeidbarkeit des Ge-
schicks aufzeigen will, wie schwankend dieses Geschick ist, da8 es nicht mit
unerbittlicher Kraft zuschlagt und wie sehr es immer vom Willen und vom
Mut des Menschen, der ihm gegeniibersteht, abhangt, wie sehr ein starker
Entschlu8 sogar in letzter Minute alles verindern kann.” So ist das
Geschick in »Emilia Galotti« beschaffen. Das Gefiihl aller Menschen (und
jeder Mensch ist fir den anderen ein Geschick oder wenigstens ein Teil
davon) ist so, da& ein Wort alles in eine andere Richtung lenken kénnte
~ und tatsichlich lenkt es auch oft alles in eine andere Richtung. Diese
138 Die geschichtlichen Voraussetzungen
Gefiihle erfordern nicht die Tragédie, sie gehen nirgends bis zum Letzten;
sie sind zu fein oder schwach, einsichtig oder kleinmiitig dazu. Es ware
schwer zu definieren, an was es hier allen Menschen zum Tragischen
mangelt, auf keinen Fall aber an etwas Allgemeinem und Konstantem. Nur
gerade die ganze Atmosphire aller Wesen Lessings ist so, da sie mit
zwingender Kraft von den tragischen Punkten divergieren. Das iiberlegene
Licheln Minna von Barnhelms und Nathans tiefe, alles verstehende Weisheit
wuchsen aus demselben Gefiihl heraus; nur ist aus ihnen dort grofer
kiinstlerischer Wert geworden, wahrend sie hier Dissonanz sind. Die Lésung
in »Minna von Barnhelme kommt ganz von aufen und sie ist eigentlich
- wenn wir die Frage vom spréden technischen Aspekt her betrachten — viel
gewollter als die Lésung in »Emilia Galotti«. Aber nachdem sowohl hier wie
auch dort die Atmosphire das Tragische ausschlieft, verleiht der Zuschauer,
der unter der Wirkung dieser Atmosphire steht, dem deus ex machina eine
Notwendigkeit, die von der Tragédie wegfiihrt, wihrend er die komplizier-
ten psychologischen Wege, die zur Tragédie fihren, als dissonant empfin-
det. Was ist der Grund fiir dieses Gefithl? Vermutlich liegt er darin, da8
Lessing die Vorliufigkeit, Verinderbarkeit und die Verwurzelung in den
sozialen Verhiltnissen der Galotti-Tragidie klar sah; wegen seiner alles
durchdringenden Intellektualitat schimmert aber dieses Gefiihl durch, nicht
so sehr in den einzelnen Menschen, wie in ihren Beziehungen zueinander,
und das erlaubt es nicht, da8 sie sich ganz in der Tragédie befinden. Das
Pathos der Verzweiflung des jungen Schillers konnte der von einem sehr
hohen Gesichtspunkt her gesehen ebensowenig wirklich tragischen Welt der
»Kabale und Liebe« eine Tragik verleihen. Lessings Pathos besteht aber
gerade im Begreifen und Durchschauen und das kann hier nicht zur Trago-
die fiihren. Deshalb bendtigte er — so glauben wir - die komplizierte Vielheit
der technischen und psychologischen Beziehungen, damit er auf artistischem
Wege etwas tragisch machen konnte, was sein spontanes Gefiih] nicht
tragisch zu machen vermocht hitte. Und doch beginnt das neue Drama mit
Lessing. Doch ist er der erste, in dessen Dramen die biirgerlichen Gefiihle,
Menschen und Schicksale die kleinlichen Wechselfille des gewdhnlichen
Lebens verlassen und sich den grofen, das Leben umfassenden Symbolen
anndhern. Seine Dramen sind die ersten, in denen das Pathos der damaligen
Menschen, der neuen Menschen, neue Téne findet; wenn auch Voltaires
Dramen z.B. die Humanitit, die Alfieris die Sehnsucht nach Freiheit
ausdriicken, der Ton, in dem sich das Gefiihl offenbart, ist jedoch nur die
abstrakt gewordene Sprache der franzésischen tragédie classique.
III Das deutsche klassische Drama 139
Gegenstand dieser Stiicke sind die neuen Schicksale der neuen Menschen.
Das neue Schicksal, die Ohnmacht der Menschen gegeniiber der Macht der
Verhiltnisse, kommt fast gegen den Willen Lessings in die Dramen. Es findet
sich aber mit unendlich gro8er Kraft in den zufalligen Aufschwiingen, die
das Schicksal Tellheims bestimmen, in der passiven Ohnmacht der Galotti-
Familie, im von seiner Lage bestimmten Charakter des Herzogs Gonzaga
usw. (und nur nebenbei erwahnen wir, da auch Lessing sich viel mit
Dramenplanen beschiftigt hat, die der Schicksalstragédie ahnlich sind).
Wenn auch die Herrschaft der Situation nicht ganz bewuft wurde, so doch
schon ihre Folgen: das zeigt sich im Erkennen der Determiniertheit der
Menschen und ihrer Taten und in dessen bleibenden Folgen, in der Liberali-
tat, im Ausmerzen des absolut Schlechten (die Darstellung des Hofes in der
Galotti-Tragddie). Der neue Typ ist wichtiger, denn er ist bewuSter und von
groBerer Wirkung. Ich spreche nicht vom Marwood-Orsina-Typ, der iibri-
gens auch von Lillo kommt und der auSer der Adelheid des »Gétz« und
Schillers Milford kaum eine wichtige Fortsetzung findet. Nicht einmal der
Typ des alten Galotti ist so bedeutend, obwohl eine ganze Reihe der
biirgerlichen Dramen ihn mindestens ein halbes Jahrhundert hindurch fort-
gesetzt haben, vielleicht - wenn auch mit anderen und wichtigeren, aber mit
ebenfalls von hier stammenden Elementen vermischt - hin bis Hebbels
Meister Anton und Ludwigs Erbférster. Der wahre neue Typ ist der Typ des
theoretischen Menschen, es ist das Dramatischwerden des doktrinaren Idea-
lismus des 18. Jahrhunderts: Tellheim und Philotas und hauptsachlich das,
was ihnen gemeinsam ist, ihre Gesten hauptsichlich dem Leben, den anderen
Menschen und Schicksalen gegeniiber (in » Nathan« gibt es auch viele solche
Gestalten, dort entsteht aber aus ihren Begegnungen ein platonischer Dialog
der Meinungen, der »Anti-Gétze, Numero Zwilf«, wie es Friedrich Schlegel
sagte)“, Die abstrakte Moral und das Leben: das ist hier das Problem, denn
die Neuheit und die Bedeutung des Typs liegt in seiner Bewegung, sie ist nur
vor die Probleme, nur vor seine Probleme gestellt. Dieses Problem ist das
Gemeinsame im Schicksal von Philotas und Tellheim, das Schicksal des
unreifen heroischen Jiinglings und des mutigen und humanen Majors des
Siebenjahrigen Krieges, und wie sie ihr Schicksal nehmen, macht sie so sehr
ahnlich. »Die Helden« [...] — schreibt Dilthey iiber Lessings Dramen
~»sind [. . .] bewegt [. . .] von dem moralischen Affekt. Indem dieser, als die
lebendige Sprungfeder ihres Wesens, in Konflikt gerit mit Kriften anderer
Art, entstehen die groSen Emotionen, welche diese Dramen erfiillen.«®
Worin bestehen diese anderen Krafte, mit denen der moralische Affekt in
140 Die geschichtlichen Voraussetzungen
einen Gegensatz gerat? Dilthey berihrt auch das an einer anderen Stelle
seiner Abhandlung tiber Lessing, wenn er die Heterogenitat dieses Affekts
gegeniiber der Umwelt, die ihn umgibt, betont, und bei der Analyse von
Odoardo weist er auch auf diesen Konflikt hin. In Odoardo vereinen sich
namlich laut Dilthey die -grofe Kraft des in der Aufklarung beliebten
moralischen Gefiihls und die gréStmégliche Ohnmacht den Tatsachen ge-
geniiber. Deshalb ist er seiner Frau und Tochter so sehr fremd und deshalb
steht er allen Geschehnissen, die mit ihnen und um sie geschehen, so
ohnmichtig gegeniiber; die Wirklichkeit spiegelt sich somit ganz verzerrt in
seiner Seele - und nach Dilthey wire dieser Seelenzustand die Erklirung fir
die Katastrophe. Odoardo kénnte aber, allein schon infolge der Beziehung
von Untertan und Herrscher, nie Herr der Lage sein; in diesem Seelenzu-
stand kann also dort kein reiner Konflikt und keine Katastrophe hervor-
wachsen. Bei Philotas und Tellheim ist es ebenso. Blindheit und Egoismus
sind die Seiten des moralischen Affekts, die sich in den Aktionen offenbaren;
sie sind die Manifestationsformen der Seele des abstrakten Menschen, sobald
er handeln mu&, sobald sich die Ordnung der in ihm bereitstehenden und
unerschiitterlichen, stark empfundenen Moralitét mit den nicht in einer
Ordnung fafbaren Dingen, Konkreta und Tatsachen in Berihrung kommt.
Das wird vielleicht in Brownings »Pippa-Passes« von der Mutter am klarsten
ausgedriickt, als sie so zu ihrem Sohn spricht, der fiir die abstrakte, revolu-
tionare Ideologie in den Tod gehen will:
Well, you shall go. Yet seems this patriotism
The easiest virtue for a selfish man
To acquire: he loves himself — and next, the world -
If he must love beyond, — but nought between:
As a short-sighted man sees nought midway
His body and the sun above.”
Das ist die Gefiihlsweise und Handlungsform der Schiller-Helden; die Welt
des Marquis Posa, in dessen Seelenleben und Schicksal dieser Menschentyp
und seine typische Tragédie vielleicht seinen starksten Ausdruck erreicht.
Denn der wahre Inhalt der Posa-Tragédie, der iibrigens der nicht blof in
zwei, sondern mehrere Stiicke zerfallenden komplizierten Haufung der
Geschehnisse im Drama eine Einheit gibt, ist einerseits das Zerbrechen der
Ideologie an der Unberechenbarkeit und ewigen Irrationalitat der Tatsachen,
andererseits ist es der Bankrott des blinden Egoismus Posas (Schiller selbst
spricht von »despotischer Willkiir«"*), der alle Menschen und menschlichen
Beziehungen nur als Mittel fiir sein grofes Ziel betrachtet hat, der ihn nichts
III Das deutsche klassische Drama 140
aus ihnen, aus ihrem sonstigen Leben, aus ihrem Menschsein wahrnehmen
lieR oder wenn doch, fiir sich nicht in Betracht zog. Dieser Fanatismus des
abstrakten Idealismus bewegt ihn, die Liebe von Carlos zu unterstiitzen,
womit er seinen Freund und die K6nigin der gréften Gefahr aussetzt, denn
seine daran gekniipften Plaine kénnen vom ungliicklichen Liebenden nichts
erwarten, vom gliicklichen aber sehr wohl. Er beniitzt das Ganze, um in
seinem Freund jugendliche Liebe zu erwecken; sobald dies geschieht, wird
die Kénigin nicht mehr bendtigt. (»Also selbst dieses Hindernis, das sich
seiner groSen Angelegenheit entgegenwarf, selbst diese ungliickliche Liebe,
wird jetzt ein Werkzeug zu jenem wichtigeren Zwecke umgeschaffen [. . .}«,
schreibt Schiller. Wenn er dann - ich kann hier nur die wichtigsten
Momente skizzieren - Gelegenheit hat, direkt auf den Kénig zu wirken, als
Carlos nicht mehr die einzige Méglichkeit ist, um seine Ziele zu erreichen,
beschaftigt er sich sehr stark mit dem Gedanken, auf diesem neuen Weg
seine Plane zu verwirklichen; Carlos bleibt auch dann eine Trumpfkarte in
seiner Hand, und die Ké ist wieder die sicherste Moglichkeit, auf
Carlos einzuwirken. Die komplizierten Intrigen miissen fehischlagen. Nur
¢in Posa kann glauben, da& Kénig Philipp fir seine Zwecke ein geeignetes
Mitel sein kénnte, und kurz danach sieht er es auch ein, und resigniert
verwirft er diesen idealistisch frivolen Plan (»Den Konig geb’ ich auf. [.. .] In
diesem starren Boden bliiht keine meiner Rosen mehr - [. . .]«™.) Zu dieser
Zeit ist es aber auch fiir seinen Carlos-Plan zu spat und in seinem letzten
verwegenen Versuch opfert er sein eigenes Leben; wieder ziellos, wieder
nichts erreichend. Das groSe Ziel macht ihn blind und grausam allem und
allen gegeniiber; so sehr sah er deswegen niemanden, daf alle tatsichlich nur
Mitel, ein Weg zu diesem Ziel sein konnten. Da er es eben nicht sehen
konnte, konnte er nicht wirklich damit rechnen und im entscheidenden
Augenblick muBte alles aus seinen Hinden gleiten. Dieser heiSe Wunsch
nach dem abstrakten Ideal macht das mitreifende Pathos des Stiickes aus;
seine Kritik, die hier noch gré8tenteils fast unfreiwillig ist, die nur das
Zutagekommen der Heterogenitat an einzelnen Stellen ist, ergibt die Tragé-
die. Schiller erblickte den tief im Drama liegenden Konflikt noch nicht,
obwohl er ihn in seinen Briefen iiber das Stiick oft zu erfassen scheint:
er sieht nicht die Relativitat des moralischen Wertes des abstrakten Idea-
lismus, da& die tiefste Moralitét unter einem anderen, ebenso tie-
fen und berechtigten Gesichtspunkt, die tiefste Amoralitat bedeutet. Er
vermutet auch etwas sehr Ahnliches in den an Prosa gerichteten Worten der
Konigin:
142 Die geschichtlichen Voraussetzungen
jede entschuldigende Moral ist, was Minor sehr treffend tiber Posa feststellt,
da sich in ihm die erhabenste Selbstaufopferung und der unverhiillteste
Egoismus in eine unzertrennbare Einheit verschmelzen.”
Die Entwicklung fiihrte immer stirker zur Erschiitterung der moralischen
Grundlagen des moralischen Affekts. Das Wesen des Seelenzustandes, das
Wesen der Weltauffassung und das Verhalten ihr gegeniiber bleiben aber
bestehen. Nachdem es jedoch die Illusion der Berechtigung eines solchen
Lebens nicht mehr gab, nimmt der Konflikt andere Erscheinungsformen an.
Immermanns »Alexis« ist von diesem Gesichtspunkt her gesehen ein interes-
santer Gegensatz zu »Don Carlos«. Hier wie dort stehen Vater und Sohn,
Kénig und Kronprinz gegeniiber. In beiden Dramen bedeuten die Zusam-
mensté8e der Unterschiedlichkeit der Zeiten, des Eilens zum neuen Ziel und
des Stehenbleiben-Wollens, des Erlésenwollens der Welt mit abstrakten
Ideen und der Wunsch, das Alte zu bewahren, den eigentlichen Kampf; der
tragische Gegensatz von Vater und Sohn ist in beiden nur das Symbol dafiir.
Aber in den zwei Tragédien sind die Rollen der Generationen vertauscht.
Zar Peter reprasentiert hier den Carlos-Posa-Typ und Alexis den Stand-
punkt Kénig Philipps gegeniiber den Neuerern. Das hat vor allem eine grofe
symptomatische Bedeutung; es bedeutet, dai dieser Typ immer stirker zu
veralten beginnt, er pa&t nicht mehr zu den Verhiltnissen; der »Erbférstere
und Meister Anton sind Endstadien dieser Entwicklung. Bei Immermann
entsteht wabrscheinlich unter der Wirkung der Geschehnisse am Anfang des
1g. Jahrhunderts eine Sicht des Problems, die die historische Empfindungs-
weise (die hier Alexis reprasentiert) als lebendiger, als aktueller und jiinger
empfindet. Bei Hebbel und Ludwig - bei Ludwig wirken vielleicht auch die
Ereignisse von 1848 — liegt in diesem Typ schon etwas Donquijotehaftes, in
seinem Kampf gibt es etwas Bizarres, Groteskes, etwas, was bis zur Grenze
der Tragikomik reicht, ein blinder und zielloser Starrsinn; in seiner Doktri-
niertheit ist eine offensichtliche Beschrinktheit. Obwohl Ludwigs Grac-
chus-Plan, der ihn in seinen letzten Jahren beschiftigte, in dem er die
Tragédie eines jugendlich idealistischen Politikers schreiben wollte, den
Kampf eines Menschen, der aus Menschenliebe gewalttatig und aus Mitleid
grausam usw. wird, noch ganz klar das tragische Schema zeigt. (Brand,
Stockmann und Gregers fiihren dann diesen Typ bis zur auSersten Tragiko-
mik.) Bei Immermann ist zunachst wichtig, da der eigentliche Besiegte
doch Zar Peter ist. Die Welt, die er aus dem Nichts, aus den Abstraktionen
der Ideen auf die Erde bringen will, die abstrakte Entwicklung, die er den
Ebenen Asiens aufzwingen will, ist aber doch schwacher als das Beharrungs-
146 Die geschichtlichen Voraussetzungen
vermégen der alten Welt, die sich trage und feige gegen sie stellt. Bei Schiller
war der Sieg des Alten iiber das Neue nur provisorisch, hier ist er endgiiltig;
dort fiihrte nur rohe duSere Gewalt das Alte zum Sieg, hier stiirzt die
lebensunfahige Weltbegliickung nach grofen und blutigen Siegen in sich
zusammen. Und dem starken, gewaltigen, genialen Zar Peter gegeniiber
bleibt sein schwacher, feiger, niedertrachtiger Sohn siegreich, vergebens lie8
er ihn hinrichten, vergebens rottete er alle seine Freunde mit blutiger Gewalt
aus. Auch Carlos und Posa bleiben gerade nach ihrem Untergang siegreich.
Nachdem Zar Peter alles erreicht hat, stirbt er verzweifelt mit dem tiefen
Gefiihl seiner inneren Niederlage:
~ Es sei der Chaos anerkannt
In seiner Allerhéchsten Machtvollkommenheit!
BeschlieZen, heift ein Knabe seyn in grauem Haar.
Absicht ist Blédsinn . . .**
Das ist auch das Erlebnis von Grillparzers Kaiser Rudolf. Blo& war dort der
Zusammenbruch eines Lebens nicht nétig, damit es sich entwickelt. Wir
haben dort, wie bei allen Menschen und Werken Grillparzers, den Eindruck,
da8 so ein Zusammenbrechen dem ganzen Leben vorangegangen sein
konnte. Dieses Auseinanderbrechen der Projizierung aus dem Innern, diese
ewige Nicht-Obereinstimmung der Ideologie und der Handlungsméglich-
keit ist das a priori der Grillparzerschen Welt. Von diesem Gesichtspunkt
her ist »Der Traum ein Leben« seine typischste Arbeit, denn in ihr kommt
dieses Erlebnis am direktesten zum Ausdruck. Rustan ist am Anfang so wie
der von Lessing-Schiller ausgehende Heldentyp im 19. Jahrhundert, der sich
stindig entwickelt (denken wir z. B. an die Verwandtschaft von Jaromir und
Karl Moor), aber stehenbleibt, bevor er aufbricht; die Tragik der Richtung
seines Aufbruchs wird ihm zum Erlebnis, bevor er wirklich etwas erlebt
hatte; alle Handlungsenergien bleiben ihm unterdriickt, bevor er etwas getan
hatte. Das Erlebnis, das in der Tiefe dieses Traumes liegt, ist das Gefihl
derselben Heterogenitat, wenn wir es von dem ein wenig kleinbiirgerlichen
Moralisieren befreien; es ist das Gefiihl, da8 die Vorstellungen vom Leben,
die Traume als das Leben bewegende Krifte sich nie ins Leben einfigen
kénnen. Bei Grillparzer weitet sich das aber auf alle Manifestationen des
ganzen Lebens aus, seine Dichtung wird die Dichtung der Enttduschung, sie
ist mit den Dichtungen aller verspiteten Romantiker verwandt. Dieser
Seelenzustand ist bei Grillparzer und bei allen seinen Helden schon rein
ausschlieBlich ein Seelenzustand; keine Moralitat unterstiitzt und begriindet
ihn, es gibt nichts, was ihm eine Berechtigung gabe. Man muf nur von
III Das deutsche klassische Drama 147
usw.) war die Blindheit der Vornehmheit, des Doktrinarismus oder wenig-
stens eines gleichstarken Fanatismus (Egmonts Damonie z. B., die dann in
Kleists ahnlichen Helden ganz pathologisch wird). Die eine Blindheit gehért
also — ganz allgemein - dem Aristokraten, die andere dem Ideologen (oder
dem kranken Menschen); die eine Blindheit offenbart sich nur im Nicht-Se-
hen der praktischen Verhiltnisse, die andere in der Blindheit gegeniiber den
Tatsachen; die Ziele der einen Blindheit sind nicht praktisch, und deshalb
sind es ihre Mittel auch nicht, bei der anderen versagen die praktischsten
Mittel fiir die praktischsten Ziele; bei der einen ist somit die tiuschende
Berechnung oder Niedertrichtigkeit gegeniiber dem GroSmut ndtig, damit
die Tragédie zustande kommen kann, bei der anderen geniigt irgendeine
Tatsache, um sie hervorzurufen. Jago rechnet ebenso mit Othellos edler
Blindheit wie Antonius mit der des Brutus, wie alle Intriganten Shakespeares
der Blindheit aller seiner Helden gewif sind. Egmont lauft selbst in eine
Falle, die Alba ihm gar nicht gestellt hat. Antonio rechnete nicht mit der
Blindheit Tassos, denn er konnte gar nicht damit rechnen; in den Zusam-
menstdfen hat die Giite und Liebe der Herzogin einen genauso grofen
Anteil wie ihre Bosheit, denn beide sind gleichfalls Tatsachen, und deshalb
sind sie fiir die innere Welt Tassos gleichfalls unerkennbar und unberechen-
bar. Auch Posas Zusammenbrechen wurde nicht von seinen Feinden, son-
dern von seinen eigenen Kartenhausern verursacht. Bei Shakespeare war
diese Blindheit ein wesentlicher Bestandteil der Vornehmheit der Helden,
hier gibt es zwischen den beiden keinen Zusammenhang; deshalb war es
Niedrigkeit, die der Blindheit dort gegeniibertrat, wahrend hier der Gegner
gleichrangig, sogar noch edler sein kann. Die Blindheit war dort ein soziales
a priori, hier ist sie ideologisch.
Und wir sprachen auch schon iiber das Wesen des Schicksals: es ist die
Brechung der Projizierung auf dem, was ihr so sehr und so tief fremd ist. Es
ist der Sieg der grofen Notwendigkeit iiber den kleinen menschlichen
Willen, es ist der Sieg der geschichtlichen Krafte - auch dann, wenn in ihm
scheinbar von keiner Geschichte die Rede ist - iber die Wiinsche und Ideen
des einzelnen Menschen. Die ersten Stiicke Goethes und Schillers sind hier
die symbolischen Anfange des neuen Dramas. Bei Goethe schlagen die
Wellen der Zeit iiber den Képfen derer zusammen, die nicht mit ibr
schwammen; bei Schiller siegt eine kleinliche, héSliche und schlechte Ge-
meinschaft iiber den grofen und edlen Willen, der ihr mit solch vehementer
Kraft gegeniibertritt, daf ihr Triumph eigentlich darin liegt, daf dieser Wille
vor seinem Sieg zuriickschreckt. Obwohl wir wissen, daf dieser Sieg prinzi-
III Das deutsche klassische Drama Ist
piell ausgeschlossen war und die Entwicklung nur die Betonung der Ursa-
chen der Niederlage sein konnte. Das ist einerseits das immer starkere
Bewuftwerden der anderen Menschen und die Forderung ihrer Rechte
gegeniiber dem, der souverin mit ihnen spielt; andererseits ist es die immer
starkere Einsicht der Berechtigung der Verhiltnisse, an denen der einzelne
Mensch zerbricht.
Es ist also davon die Rede, da8 die zwischenmenschlichen Beziehungen sich
komplizieren, daf die rein dekorativen Bezichungen aufhéren zu existieren
und sich in unvorhersehbare Wechselwirkungen auflésen. Das Wesentliche
ist, da8 es keine Herrschaft der Menschen iiber die Dinge mehr gibt. Fir
einen Menschen, fiir die von uns skizzierten Typen besonders, ist der andere
immer nur ein Mittel in Richtung von etwas.
Das Problem liegt dort, daf dieser Mensch aufhért Mittel zu sein und ein
selbstindiges Leben gewinnt. Schon bei den ersten zwei Dramen - wie wir
bereits sagten ~ ist dieses Motiv im Verhiltnis Weislingens zu Franz und
Franz Moors zu Hermann vorhanden. Daf dies konsequent und stindig
starker ausgebaut wird, ist die eine Seite der Entwicklung, die zu Hebbel
fahrt, wo sie einen ihrer Gipfelpunkte erreicht. Der Sturm und Drang hat die
den Menschen erdriickende AuSenwelt so stark betont, daf der Held bei
Lenz schon ginzlich verschwand und das Drama die Ganzheit komplizierter
Wechselwirkungen wurde, denen nur eine gesellschaftliche Situation, der
Gesichtspunkt eines Problems mehr oder weniger eine Einheit geben
konnte. Aber auch dort, wo die Handlung auf wenige Menschen reduziert
war, zeigt sich dasselbe, vielleicht sogar noch starker. Uberall gleitet das
Schicksal der einzelnen Menschen aus den Hinden der anderen, und sogar
die Dinge gewinnen ein unabhingiges Leben denen gegeniiber, die sie zu
lenken wahnten. Das ist in allen Dramen des jungen Schiller der Inhalt der
komplizierten Intrigen (»Fiesko«, »Kabale und Liebe«, »Don Carlose), da
ein Mensch, den man nur fiir ein williges Mittel hielt, im entscheidenden
Augenblick ein eigenes Leben gewinnt; ein Leben, das dem ganz entgegen-
gesetzt ist, was sein Lenker von ihm hielt und somit seine gut vorbereiteten
Pline umwirft. Das empfindet auch Wallenstein, als er am Scheideweg steht,
der gerade deswegen bereits kein Scheideweg mehr fiir ihn ist:
Bahnlos liegt’s hinter mir, und eine Mauer
Aus meinen eigenen Werken baut sich auf,
Die mir die Umkehr tiirmend hemmt!'?
Das ist der Inhale der Intrigen, die »Maria Stuart« bilden, das war auch der
wahre tiefe Inhalt des Warbeck-Planes und sehr vieles ist davon auch ins
152 Die geschichtlichen Voraussetzungen
Dadurch nimlich, da8 die abstrakte Idee aus ihren klaren Héhen, aus ihrer
¢insamen Erhabenheit niedersteigen und an der rohen Gewohniichkeit der
Tatsachen nicht nur zugrunde gehen muf, wenn sie ihnen ihre inneren
Inbalte aufzwingen will, sondern auch, nachdem sie sich gegeniiber Tatsa-
chen nur in Tatsachen offenbaren kann, ihre Reinheit und ihre unberiihrte
Makellosigkeit verliert. Der junge Goethe, in dessen ganzem CEuvre dieser
Konflikt eine sehr grofe Rolle spielt, sieht dieses Thema in seinem Maho-
met-Plan schon in seiner ganzen Klarheit. Der tragische Inhalt dieses
Dramas wire nimlich gewesen, wie ein grofer Mensch, der seine innewoh-
nenden géttlichen Krifte in der rohen Welt verbreiten will, in’ seinen
Handlungen sich doch der Welt anpassen muf, bis er das verliert, wofiir er
in den Kampf zog: er verstrickt sich in die géttlichen, ewigen, menschlichen
Tatsachen und in gewdhnliche menschliche Schicksale. Das durchzieht auch
den Kampf von Schillers Idealisten mit der Welt, nur wird es
— wie auch ihre
wagische Dialektik — im seltensten Fall ganz bewuft. Octavio sieht aber diese
Situation ganz klar, als er mit seinem Sohn dariiber spricht, was in der
Zukunft zu tun sei:
[...] Es ist nicht immer mdglich,
Im Leben sich so kinderrein zu halten,
Wie’s die Stimme lehrt im Innersten.'*
Und der wichtigste Teil des Demetrius-Planes wire gewif das folgende
gewesen: wie wird aus dem reinen und edlen Demetrius unter der zwingen- —
den Macht der Kraft der Wirklichkeit ein bewuSter Betriiger und Schurke.
Dieser Teil dieses typischen Erlebnisses fand aber sein reinstes Symbol
wieder bei Grillparzer, in »Libussa«. Libussa hatte den Mut und wollte das
tun, wovor ihre Schwestern zuriickschreckten: aus den erhabenen Héhen
der Reinheit der Ideen niederzusteigen, zu tun, zu handeln, zu leben, sich in
das Leben anderer, in das ganze Leben einzumengen. Und sie muf unterge-
hen, ohne daf sich gro8e Katastrophen ereigneten, ohne daf ihr eine groBe
Niedertracht gegeniiberstiinde, denn die Tatsachen kénnen nur Tatsachen,
die Menschen kénnen nur Menschen bleiben. Und ihre reine Erhabenheit
kann die Menschen nie zu sich emporheben, und es war ihr noch weniger
gegeben, sich zu ihnen wirklich herabzulassen, sich unter sie zu mengen, so
zu werden, wie sie sind. Und Libussa stirbt, ihre Schwestern verschwinden
von der Erde, als die Menschen zu sich kommen und die Erde fir sich
erobern wollen. Primislaus bleibt aber unter ihnen, und er wird herrschen,
er, der der Beste unter ihnen ist, den auch Libussa liebte; der sie aber doch
nicht zuriickhalten kann, vielleicht trigt er am meisten zu ihrem Tod bei.
154 Die geschichtlichen Voraussetzungen
2
All das bedeutet von einer anderen Seite, von aufen, vom Gesichtspunkt
des
objektiven Geschehens her die Herrschaft der auferen Verhiltnisse iiber den
Menschen, das bedeutet die Herrschaft der vom Menschen unabhangigen
Notwendigkeiten und Schicksalhaftigkeiten iiber alles, was geschieht, das
bedeutet - in einem sehr allgemeinen Sinn - die Schicksalstragédie. Die
Beziehungen zwischen dem deutschen klassischen Drama und der Schicksals-
tragdédie sind sehr eng, sehr innig und sehr kompliziert. So sehr, da es
schwer, kaum médglich ist, hier, unter solchen Umstinden dariiber zu
sprechen. Es ist gewif, daf die grofen deutschen Dichter in Wirklichkeit
nichts mit dem zu tun haben, was unter dem Namen Schicksalstragédie iiber
die Biihnen ging und Jahrzehnte hindurch auf der ganzen Welt beriichtigt
war. Aber ebenso gewif ist es auch, da die Gedanken, die Grundstimmun-
gen, deren grdter duferlicher und einseitiger Ausdruck sie waren, auch bei
ihnen tief vorhanden waren. Alle diese Dichter beschaftigten sich sehr oft
und sehr eingehend mit den theoretischen Problemen der Schicksalstragédie,
und wir finden unter ihren Plinen immer etwas, was ihr sehr nahesteht. Es
kann freilich auch von zufalligen Umstinden verursacht gewesen sein, da
Goethe selbst in Weimar die erste wirkliche Schicksalstragddie, Werners
»Vierundzwanzigster Februar«, spielen lie8. Wir wissen aber z. B., da&
Schiller sich bei Crabb Robinson sehr interessiert nach Lillos »Fatal curiosi-
tys, dem literarischen Ahnen der Schicksalstragédien, erkundigte.'* Minor
weist aber auch darauf hin, da& Lessing sich, schon lange bevor seine
Weltanschauung zum Determinismus tendierte, sehr stark mit Plinen be-
schiftigt hatte, die der Schicksalstragédie nahestanden, und man wiirde
Plane dieser Art auch bei Schiller finden.'” Das Drama der romantischen
Schule (der junge Tieck, »Alarkos« usw.) steht diesen Tendenzen sehr nahe,
und es ist - trotz Brahms Analyse’ - schwer, die Verwandtschaft der
»Familie Schroffenstein« zu den Schicksalstragddien zu leugnen. Denn deren
aufere Attribute spielten bei Kleist, von »Katchen« einmal ganz abgesehen,
HII Das deutsche klassische Drama 155
sogar im Guiscard-Plan eine grofe Rolle. Und ebenso verhilt es sich mit den
Anfangen Grillparzers und Ludwigs, bei dem die einzelnen Motive auch
noch in den »Erbférster« hineinspielen. Grabbe hegte — sogar um die Zeit
seiner Shakespeare-Abhandlung - groSe Sympathien fiir die Schicksalsge-
danken und billigte sogar die Bearbeitung Miillners."” Fiigen wir noch
hinzu, da& simtliche auferen Requisiten der Schicksalstragédie (Prophezei-
ungen, Triume, geheimnisvolle Einmischungen, geheime Michte usw.) in
nahezu allen Werken der grofen Dichter dieser Epoche eine grofe Rolle
spielen; es geniigt vielleicht, wenn wir uns hier auf »Wilhelm Meister«
bezichen.
Diese au8eren Beziehungen kénnten schon an sich sehr wichtig sein, sie
gewinnen aber dadurch ein noch gréferes Gewicht, da& sie eigentlich nur
Manifestationen der inneren Beziehungen sind. Der Schicksalsgedanke wur-
zelt so tief in allen Dramatikern dieser Zeit, da& man die eigentliche
Schicksalstragédie fast als ihr Produkt, als Nachahmung ihrer Auferlichkei-
ten und als unwillkiirliche Travestie ihrer Tendenzen betrachten kénnte.
Man mu natiirlich deswegen nicht so weit gehen wie Hettner, der die ganze
Schicksalstragédie aus der »Braut von Messinac ableitet.''° Die Schicksalstra-
godie suche die groBe Notwendigkeit, sie leugne die Zufille, in denen sie die
Manifestationen einer héheren Macht sehe, die nur dem Menschen als Zufall
erscheint, schreibt Minor, denn auch die unbedeutendsten Umstinde der
Geschehnisse stiinden in einem tiefen Zusammenhang mit der Kraft, die alles
bewegt.'"" Die groRe Notwendigkeit, der Zusammenhang der Geschehen
mit der unerbittlichen Logik wurde iiberall gesucht und in der griechischen
Tragédie bzw. in der beinahe dafiir ausschlieBlich charakteristisch gehalte-
nen, im »Kénig Oedipuse, wurden sie gefunden. Die Zeit der Beziehungen
zwischen Goethe und Schiller wurde dramaturgisch vollkommen von dieser
Frage beherrscht: Wie ist bei den Ausdrucksméglichkeiten des modernen
Dramas die michtige, fatalistische Schicksalhaftigkeit der griechischen Tra-
gédie zu erreichen? Wie sehr bei Kleist diese Frage im Vordergrund stand,
wird unter anderem auch dadurch bewiesen, wie stark sich die Technik des
»Zerbrochenen Kruges« daran entwickelte und dadurch so meisterhaft
wurde; da8 auch »Guiscard« nach diesem Schema komponiert war, miissen
wir vielleicht auch nicht weiter ausfiihren. Und Grillparzer sagt, da der
antike Schicksalsgedanke der Poesie mehr zusage als die Vorstellung von der
Vorsehung und daf nur die unpoetische moderne deutsche Literatur dage-
gen protestieren kénne.'" Er sucht sogar spiter (1845-46) auch seine weltan-
schauliche Rechtfertigung im Determinismus.' Goethe schligt einen sehr
156 Die geschichtlichen Voraussetzungen
ahnlichen Ton an, als er die Berechtigung der Anwendung der Astrologie
Schiller ausfiihrt. Er sagt nimlich, da& die Wirkung der Gestirne auf sehr
viele Naturerscheinungen ganz zweifellos sei, und es lasse sich nicht sagen,
wo diese Wirkung eigentlich aufhére.""*
Es ist aber vielleicht noch wichtiger als alles andere, mit welcher Kraft das
Gefiihl der Schicksalhaftigkeit aller Handlungen den Menschen sozusagen
aufgezwungen wird. Bei Wallenstein, bei Maria Stuart, in der Tragédie der
»Braut von Messina« kénnte man das Schicksalsproblem als eine rein
kiinstlerische Frage betrachten. Johannas, Wilhelm Tells und Demetrius’
Taten werden ihnen jedoch schon von solch unwiderstehlichen auBeren
Kriften und von solchen Verkniipfungen der von ihnen ganz unabhingigen
Geschehnissen aufgezwungen, daf das hier schon weit iiber das rein Artisti-
sche hinausgeht. Auch in Goethes Menschen beginnt das bewuSt zu werden,
als z. B. Egmont spiirt, daf8 der Mensch nur glaubt, seine Taten selbst zu
lenken, in der Wirklichkeit jedoch treibt ihn etwas mit unwiderstehlicher
Kraft zu seinem Schicksal. Und er verspiirt das vielleicht am starksten bei der
Tat von Orestes (im scharfen Gegensatz z. B. zu Aischylos’ Orestes):
Mich haben sie zum Schlachter auserkoren,
Zum Mérder meiner doch verehrten Mutter,
Und, eine Schandtat schindlich richend, mich
Durch ihren Wink zu Grund’ gerichtet."'®
Und in den »Wahlverwandtschaften« wird die schicksalhafte Notwendigkeit
aller menschlichen Handlungen in einem gewaltigen Symbol zum Ausdruck
gebracht; es ist ist kein Wunder, da& Hebbel hier die Anfinge des ganzen
modernen Dramas sieht.''® Spater wird der Glaube an die Notwendigkeit
immer stiérker, und auch die hirtesten Tyrannen, die Helden mit der
aktivsten Energie, empfinden ihr Dasein und Schicksal als schicksalhafr, als
Zwang des Schicksals (Zar Peter; Zacharias Werners Attila). So sieht Grabbe
den Kampf zwischen den Welfen und den Hohenstaufen und betrachten er
und Buchner und in vielerlei Hinsicht auch Grillparzer (der Schluf im
»Bruderzwist in Habsburg«) die ganze Geschichte.
Das Gefiihl fiir die Schicksalhaftigkeit ist somit viel breiter und allgemeiner,
als es fiir die im weitesten Sinne verstandene Schicksalstragédie sein konnte.
Jegliche Notwendigkeit, die dem Menschen villig fremd ist, kann fiir ihn
nur das Schicksal bedeuten, und wenn man diesem einen plastischen, drama-
tisch symbolischen Ausdruck verleihen will, kann man es sehr oft kaum
anders als durch Einfassung in Schicksalssymbole, durch Anniherung an die
Schicksalstragédie. So kommt Ludwig Robert in seinem »Die Macht der
III Das deutsche klassische Drama 157
Bei Lessing ist diese Dissonanz eigentlich nur die Inkongruenz von Theorie
und Praxis. Er, der in seiner Polemik gegen Corneille es so nachdriicklich
ausspricht, daf es keinen fruchtbareren Gedanken gabe, als zu sehen, wie
Menschen ohne Selbstverschulden ungliicklich werden, schreibt in seiner
einzigen wahren Tragédie die Tragddie von vollkommen schuldlosen Men-
schen. Bei Schiller bringt diese Unvereinbarkeit einen tiefen und das Wesen
der Stiicke beriihrenden Dualismus. Das Wesen dieses Konflikts liegt fiir ihn
vielleicht darin, da& die Schicksalskonzeption bei ihm in erster Linie eine
kiinstlerische Forderung, die Konsequenz der dramatischen Form ist und sie
ist nur zu einem geringen Teil die Betrachtungsweise der Welt und bedeutet
auf keinen Fall, da& das Weltbild auf sie gebaut wird. Seine Menschenbe-
trachtung hingegen ist moralisierend, stammt aus dem 18. Jahrhundert und
setzt den freien Willen, die Handlungsautonomie des Individuums voraus.
Diese Betrachtung ist so, daf sie es als untragbar empfinden mufte, wenn
jemand, ohne schuldig zu sein, in eine tragische Situation geraten ist. Die
vorher beschriebene Betrachtungsweise erforderte aber gerade den Aufbau
der Tragédien auf dieser Situation. Das bedeutet in erster Linie, da der
dramatische Mensch in eine solche Situation hineingestellt ist, aus der in
keiner Richtung ein Weg hinausfiihrt, die, was auch geschieht, zur Tragédie
fiihren mu8. Seinem Charakter haftet aber im gewissen Mafe eine Schuld,
die »tragische Schuld« an; von der man sagen kénnte, daf er wegen ibr
sithnt, obwohl sein Untergang in keinem organischen Zusammenhang mit
ihr steht. Die Gestalt ist somit in der Konzeption, in der spontanen
Menschenbetrachtung schuldig, im Aufbau des ganzen Dramas ist sie bereits
weniger schuldig, und in der Ausfiihrung wird sie geradezu zum Martyrer.
Die schwerwiegendste Folge davon ist, daf der Dichter alle Menschen und
Umstinde verringern und herabsetzen muf, die ihn hierher brachten; er
muf viel aus ihrer subjektiven, gleichen Berechtigung wegnehmen; er mu8
die tiefe Notwendigkeit des Geschehens aufheben. In »Maria Stuarte sind
diese Dissonanzen vielleicht die auffilligsten, sie sind also auch mit Hilfe der
allgemeinsten Analyse verstindlich. Schiller fihlte sich schon infolge der
Technik der Schicksalhaftigkeit des Themas, von der Ahnlichkeit zum
Ocdipus-Thema hingezogen, davon, daf alles schon in der Vorgeschichte
gegeben ist und da& die Handlung alles nur abwickelt und zutage bringt.
Dem entspricht die historische Konzeption vollkommen. Elisabeth mu8
Maria hinrichten lassen, und der Kampf spielt sich eigentlich zwischen ihr
und dieser Notwendigkeit ab; ihre Niederlage in diesem Kampf stellt die
Schicksalhaftigkeit dar, die sich Maria mit niederschmetternder Gewalt
III Das deutsche klassische Drama 159
nahert, Schiller konstruiert aber zunichst die Schuld Marias, indem er ihre
Jugendsiinden ins Gedachtnis ruft, die aber auf die Geschehnisse innerhalb
des Dramas keinen Einflu8 haben und auch nicht haben kénnen. Sie dienen
nur dazu, durch ihre iibertriebene Betonung (die demiitigenden Szenen am
Anfang fallen gerade mit dem Todestage Darnleys zusammen, und Maria
empfindet die Geschehnisse als Siihne) die Reinheit der eigentlichen Tragé-
die zu stéren. Aber gerade deshalb muf Schiller Maria in ihrer Begegnung
mit Elisabeth und in ihrem Tod noch mehr emporheben, um dieses gro8e,
elegisch erschiitternde Pathos, das er suchte, dennoch zu erreichen. Die
einzige Méglichkeit dazu ist, Elisabeth von der Héhe herabzusetzen, wohin
sie durch die tragische Notwendigkeit ihrer Lage vom Thema gehoben
wurde. Die Schuld ist hier nétig, damit Maria Stuart zu keiner Martyrerin
wird, aber gerade wegen der Schuld bzw. wegen der Lage, die sie schafft,
wird Maria Stuart noch mehr, noch ausschlieSlicher schuldig. Und dadurch
geht die gro®e Kraft des Themas verloren: die groSe Notwendigkeit. Die
Situation verfiigt iiber eine oedipushafte Kraft, wenn die Vollstreckung des
Unteils unvermeidbar ist, und je mehr die Notwendigkeit dieser Vollstrek-
kung Elisabeth weh tut, desto wahrer und tiefer ist die Notwendigkeit, desto
mehr Aussicht besteht, die Erhabenheit des Oedipus zu erreichen. Die
Erscheinungsform dieser Notwendigkeit kann aber in diesem Fall nur poli-
tisch, nur geschichtlich sein; sie kann nur das Gefiihl sein, daf dies gesche-
hen mu&te, ob Maria schuldig ist oder nicht, ob Elisabeth es will oder nicht,
was auch Burleigh, Lester und Mortimer wollen und tun. Bei Schiller
existierte diese Notwendigkeit nur in der Formvision, seine Geschichtsbe-
trachtung erreichte diesen Punkt noch nicht, und seine Menschenbetrach-
tung protestierte geradezu dagegen. Deshalb mufte das eine der Wirkung
des anderen im Wege stehen: die Ethik (das an Kant erstarkte 18. Jahrhun-
dert) stand dem rein asthetischen Schicksalsgedanken im Wege. Der tragi-
sche Konflikt verliert an Intensitat, denn die Kraft und Bedeutung dessen,
was dem tragischen Menschen gegeniibersteht, muf verringert werden,
womit zugleich auch das wahre Pathos des Menschen vermindert wird.
Deswegen ist diese Tragédie fiir Schiller so charakteristisch, und diese
zweiseitige Problematik erklart, warum Ludwig, der letzte groRe Apostel
der tragischen Schuld, so heftig gegen Schiller kimpfte. Weil er nimlich die
gesuchte Schuld, die durch die Schuld zustande gekommene Beziehung des
Menschen zu seinem Schicksal bei ihm nicht fand. Das erklart aber auch,
warum selbst Hebbel, der gréfte Antipode Ludwigs, er, der die dramatische
Notwendigkeit am tiefsten durchschaut, Schillers Dramen als problematisch
160 Die geschichtlichen Voraussetzungen
und nicht als den Weg zum neuen Drama empfand. Er spiirte - die Analyse
der »Braut von Messina« beweist es -, da8 der Schicksalsbegriff bei Schiller
noch formal ist, da8 er ihn nur von aufen hereinnimmt und solchen
Menschen aufzwingt, die nicht in diese Welt gehéren, da& zwischen Mensch
und seinem Schicksal keine wahre und tiefe Beziehung besteht. » Warum
geschieht dies alles?« schreibt er, » Was wird mit diesem Blut abgewaschen?
Wo sind die Griuel, die so ungeheurer Siihne bediirfen? Man fragt sich
umsonst! Das Schicksal spielt im Stiick Blindekuh mit den Menschen.«'”
Bei Goethe erscheint diese Stildissonanz anders, aber ebenso typisch. Nach-
dem er seine Fragen fast nie so theoretisch gestellt hat wie Schiller, konnte
die Beziehung des Menschen zum Schicksal bei ihm nie die Inkongruenz
zweier Abstraktionen sein. Der Hintergrund, der bei Schiller nur das
Symbol des Schicksals oder nur ein Mitel seines Waltens war, war bei ihm
die volle Wirklichkeit. Oder genauer: Goethe empfand die Tragédie in der
Form der ganz konkreten, nie wiederkehrenden Beziehung von Mensch und
Hintergrund, von Mensch und Umwelt. Das Stilproblem, das Gleichge-
wichtsproblem war aber im wesentlichen dasselbe. Der Unterschied besteht
nur darin, da& Goethe die eigentliche Schuldfrage nicht einmal aufwirft. Bei
ihm offenbart sich auch nur die tief darin verborgene Gefiihlsdualitat in der
Beziehung von Mensch und Umwelt. In der Beziehung, die zeigt, inwiefern
das Zentrum der Ursachen aller Geschehnisse im handelnden Menschen liegt
und inwiefern in den Umstinden, unter denen er handeln mu&. Im »Eg-
mont« ist diese Situation vielleicht am auffalligsten. Mit Ausnahme des
»Gétz« ist vielleicht in keinem seiner Dramen der Hintergrund so schin und
reich wie hier, und dennoch, was mit Egmont geschieht, ist mit dem
Hintergrund nicht in eine wahre, enge Beziehung gebracht. Es ist wahr, viele
und interessante Zusammenhinge verbinden das eine mit dem anderen, aber
ihre Kraft und Tiefe geniigt doch nicht, um zwischen ihnen eine wabre, ganz
organische Einheit zu schaffen. Der Hintergrund, das Geschehen ist zur
Tragédie Egmonts nicht unbedingt notwendig, d. h., es gibt manche Augen-
blicke, in denen alles aus ihnen hervorgewachsen zu sein scheint, und es gibt
solche, in denen alles von ihnen véllig unabhingig ist. Heute empfindet
vielleicht jeder Schillers Bearbeitung, die Margarete Parma und Machiavelli
einfach aus dem Drama tilgt, als Barbarismus, das Drama ist jedoch auch
ohne sie vorstellbar; es wire ohne Zweifel dadurch armer, aber dieses
Herausreifen ist nicht lebenswichtig, es greift nicht das Zentrum an. Ob-
wohl gerade die Perspektive dieser Szene den wirklich tragischen Charakter
Egmonts - und Wilhelm von Oraniens - ausmacht. Sie hebt sein Schicksal
III Das deutsche klassische Drama 161
aus der Welt der gewohnlichen traurigen Fille heraus und macht das, was
mit ihm geschieht, zur wahren Tragédie. Denn die Damonie, die Egmont in
seinen Untergang treibt, ist nur dann wirklich Damonie, wenn sie die
dimonische Blindheit eines Menschen ist, der sich in einem welthistorischen
Augenblick, an einem welthistorischen Ort befindet. Nur das kann dem
leichtsinnigen Spiel und Tanz am Rande des Abgrunds eine tragische Kraft
geben, nur das kann der schénen Lyrik der Klarchen-Szenen eine dramati-
sche Bedeutung verleihen. Diese Beziehung ist aber nicht konsequent durch-
gefiihrt; sie bleibt eine Episode, sie ist so sehr eine Episode, daf - die
ahnlichen Folgen zeigen die Ahnlichkeit der Ursachen - Goethe Egmonts
»Gegenspieler«, Herzog Alba, ebenso herabsetzt wie Schiller Kénigin Elisa-
beth; er sieht und 1a8t in ihm ausschlieBlich den Feind Egmonts sehen. Und
dieses so ganz persénliche Schicksal wird nur durch lyrische Ekstasen mit
der Sache der hollindischen Freiheit in Beziehung gesetzt (in der letzten
Szene). Im »Gétz« sind die Beziehungen noch lockerer, obwohl ihm nur die
Einheit des Hintergrundes eine wahre Einheit zu geben vermocht hitte. Es
ist wahr, in der ersten Fassung ist der Bauernaufstand begriindet, er ist nicht
nur das ziellose BlutvergieSen von wahnsinnigen Horden; aber den Zusam-
menhang zu Gdtzens Schicksal bewirken nur Zufille. Auch Martin Luthers
Rolle ist nur dekorativ; auch er erscheint nur, gibt aber nur den Geschehnis-
sen eine Perspektive, er steigert und bereichert nur die Schinheit des
Hintergrundes; dramatisch wird er nie, organisch hingt er mit nichts
zusammen. Und ebensowenig gelang es Goethe, die der Franzésischen
Revolution vorangegangenen Zustinde in die Fabel der »Natirlichen Toch-
tere, wenn auch nur symbolisch, aber organisch einzuschmelzen. Auch dort
ist die Tragédie, die mit den einzelnen Menschen geschieht, vom Hinter-
grund und von der historischen Notwendigkeit, die jedoch die wahre tiefste
Ursache der Tragédie sein miifte, getrennt.
Die offensichtlichste formale Konsequenz davon ist, da8 - wie Immermann
mit treffender Selbstkritik tiber seinen »Kaiser Friedrich der Zweite« gesagt
hat - das politische, das historische Schicksal sich nicht mit dem Menschen-
schicksal verneint und nicht in einen engen Zusammenhang mit ihm gebracht
wird." Es ist vielleicht ausreichend, wenn ich mich aufer den bis jetzt
gebrachten Beispielen, nur noch auf die offensichtlichsten beziehe: auf die
Max-Thekla-Episode oder auf den Zusammenhang von Tells Schicksal mit
dem der Schweizer oder auf die komplizierten Praktiken, mit denen Grill,
parzer die Familientragédie Konig Ottokars in seine politische Tragédie
einbauen méchte.
162 Die geschichtlichen Voraussetzungen
Bei Kleist ist diese Dissonanz - weil er alle Seiten viel starker vertieft - noch
tiefer. In seinem »Guiskard« wire diese Bezichung vielleicht noch vorhan-
den gewesen; vielleicht war es gerade diese Beziehung, nach der er so
intensiv gesucht hat und deren Gelingen ihn in seiner Verzweiflung zum
Vernichten des Ganzen gezwungen hat. Und dann hitte Wieland mit
bewunderungswiirdiger Intuition die Bedeutung des »Guiskard« erkannt,
namlich, da sein Dichter den Platz im deutschen Drama einnehmen wird,
den Goethe und Schiller nicht erreichen konnten.'” In der »Penthesilea«
beherrscht aber die pathologische Leidenschaft der Hauptgestalt so sehr
alles, da& ihr Konflikt mit den Gesetzen der Amazonen, der ihren Kampf
wirklich vertieft, - da sie in der Schlacht nicht einen gewissen Menschen
suchen darf — kaum zur Geltung kommt, also nur einen ganz balladenartigen
Eindruck vermitteln kann (der in vielem Hofmannsthals »Elektra« ahnlich
- aber unendlich gréfer ist). »Kathchen von Heilbronn« wird durch das
Miflingen anderer Beziehungen verdorben, und was fiir ein komplizierter
und schwer annehmbarer Mechanismus verbindet das Menschenschicksal
mit dem gottlichen im »Amphytrion«, und wie sehr Homburgs hysterische
Pathologie aus der harten preufischen Atmosphire des Stiickes herausfille!
Hier sind die zwei Tendenzen am starksten zugespitzt, dennoch kommt er
hier der Einheit am nichsten, ganz erreicht er sie auch hier nicht. Sogar ein
so fanatischer Anhanger Kleists wie Hebbel glaubte, diesem auch von ihm
empfundenen Ubel dadurch abhelfen zu kénnen, wenn er solche Seelenzu-
stande des Helden im Drama einfach fiir tiberfliissig, fiir ein schénes
Ornament erklarte. Womit er natiirlich im dramatischen Sinne, hauptsach-
lich im Hebbelschen Sinne das Todesurteil iiber das Drama gefallt hat-
te, denn so gibe es zwischen den zwei entscheidensten Teilen des Dramas
tatsichlich keine wahre Beziehung mehr. Diese Beziehung ist nicht nur
vorhanden, sondern auch sehr stark — wenn sie auch nicht ganz gelést ist:
Erstens dadurch, da Friedrich Wilhelm, nachdem er mit den pathologi-
schen Zustinden Homburgs spielt, in gewissem Grade nur Ursache aller
Ereignisse wird (bzw. Hohenzollern, der es ihm riet), und als Resultat wird
das Ganze von einem komplizierten Motivgewebe durchzogen, was jede
Auffassung von Schuld oder Unschuld sinnlos erscheinen lat. Die véllige
Ausschépfung des Problems, die Vollkommenheit der Dialektik des Dramas
war nur auf die Weise zu erreichen, wenn — wie wir auch theoretisch den
Konflikt formulieren ~ die auSersten Extreme auf beide Seiten verteilt sind:
auf der einen Seite steht die preufische Soldatendisziplin, auf der anderen die
nur auf augenblickliche Eindriicke reagierende seelische Empfindlichkeit;
HII Das deutsche klassische Drama 163
wenn das Symbol des Konfliktes der beiden ein Sieg ist, der gerade unter der
Wirkung solcher Stimmungen und trotz aller militérischen Einsicht zustan-
de gekommen ist. Je starker also dieser Seelenzustand Homburgs akzentuiert
ist, desto offensichtlicher ist der Konflikt und von desto ergreifenderer Kraft
ist die Entwicklung. Nur gelingt hier diese Verschmelzung nicht ganz. Sie
konnte nicht gelingen, weil beide nur nebeneinandergestellt sind, weil sie nur
auBerlich in Berihrung kommen: von Homburgs Gesichtspunkt her gese-
hen ist es fast zufillig, da8 er tiberhaupt in den Konflikt hineingerit. Nur
durch den Zusammensto& kommt irgendeine Beriihrung zwischen den
Extremen zustande, in ihrer Begegnung gibt es nichts Notwendiges. Bei
Posa - oder bei irgendeinem anderen Helden Schillers - ergibt sich der
Konflikt schon notwendigerweise aus der Natur seines Seelenzustandes; bei
Hebbel verbinden starke Beziehungen die innersten bewegenden Krafte mit
den duferlichsten hemmenden Umstinden; bei Kleist sind die Seelenzustin-
de letzte Tatsachen, letzte Ursachen, sie werden durch nichts mehr erklirt.
Gerade deshalb hebt ihre vom Dramatischen geforderte Maximalitit sie aus
der Atmosphire des Stiickes heraus, macht sie ganz sonderbar und la8t ihren
Konflikt der Typik entbehren. Oder man kénnte das Typische in ihnen our
um den Preis finden, wie Hebbel es tat. Der Konflikt selbst mu& aber
unbeabsichtigt einen raffinierten und ausgekliigelten Eindruck erwecken.
Ouo Ludwig, der das bei Kleist mit solch scharfer Hirte festgestellt hat'”*,
wie man es nur seinen eigenen Fehlern und Gefahren gegeniiber tun kann,
versuchte auf eine ganz andere Weise zur Lésung zu gelangen, erreicht aber
ihnliche oder vielleicht noch cinschneidendere Dissonanzen. Bei ihm ist die
Problemstellung einseitiger: er schlie&t aus dem Konflikt jede Abstraktion
aus; er baut alles auf Menschen, auf Seelenzustiinde der Menschen und auf
ihre Wirkungen untereinander auf. Die erste Vision aller seiner Dramen ist
¢in Mensch, der mit bestimmten Worten und Gesten eines gewissen Seelen-
zustandes wie lebendig vor ihm steht. Alle seine Dramen eilen in Richtung
eines solchen Punktes, und er will in ihnen seinen Menschen die gré8tmog-
liche Ganzheit des Lebens geben. (»Ich wei& wohl«, schrieb er iiber die
Fehler des »Erbforsters« an Julian Schmidt, »ich hatte dergleichen Ausstellun-
gen vorbeugen kénnen, wenn ich das Verhiltnis abstrakt hatte markieren
wollen.«)'5 Das bedeutet hinsichtlich des »Erbforsters«, der Ludwigs cha-
takteristischtes Drama ist, daS die Tragédie nur durch Ulrichs (Meister
Antons ahnlichem) blindem und veraltetem Doktrinarismus und durch seine
steife Beharrung in diesem Doktrinarismus tief notwendig werden kénnte;
dessen Konflikt mit Stein nur das Symptom, nur die charakteristische und
164 Die geschichtlichen Voraussetzungen
pragnante Manifestation der Notwendigkeit ware. Statt dessen baute Lud-
wig, der nur das Konkrete sieht und alles andere bewuft meidet, den
Konflikt auf den Charakteren von Stein und Ulrich auf. Deshalb bleibt
gerade das entscheidendste Motiv - da8 Ulrich kein Recht auf Widerstand
gegen seinen Herrn besitzt, an das er unerschiitterlich geglaubt hat, und
demzufolge er den Kampf aufnahm -, nur episodisch, es enthilt nicht die
groBe Bedeutung, die es innerlich wie auSerlich verdient hatte. Auferdem
wird das Drama, wie alle nur fiir Charaktere komponierten Dramen, in
seiner Bedeutung willkiirlich, und als Folge davon wird es in seiner Weiter-
fiihrung voller Zufille. Die Begriindung ist willkiirlich, weil das Zusammen-
treffen, die Freundschaft und das Zusammenbleiben Steins und Ulrichs nicht
begriindet ist; willkiirlich ist aber hauptsichlich die Weiterfihrung der
Handlung. Nachdem zwischen ihnen jene Zusammenstdfe alltiglich sind,
von denen einer die Tragédie hervorruft, muf eine ganze Reihe von Zufiallen
dazwischenkommen, damit nicht auch dieser sich legt, damit der Zusam-
mensto& zum tragischen Schlu8 fiihren kénne. Es gibt sogar noch spater,
als das Drama bereits in Richtung Tragédie sich bewegt, in einem jeden
Augenblick Auswege, es miissen in jedem Augenblick ungliickliche Zufille
auftauchen, damit die Tragédie entstehen kann, damit Ulrich zur »Ich habe
Unrecht«-Geste gelangt, was das Ziel des Dramas gewesen ist. Aus Steins
Charakter miifte sich eigentlich die Versshnung ergeben, sie wiirde auch
stattfinden, wenn nicht die Nachricht dazwischenkime, da& Andres, der
Sohn Ulrichs, seinen Sohn Robert erscho8. Zur Vorbereitung des Ganzen
bendtigt er jedoch die Gestalt des »Buchenjagers«, der auch nicht zum
Konflikt gehdrt, und einen Wilderer, der sich an ihm rachen will - zusitzlich
komponiert er noch dazu, daS auch Andres einen Grund hitte, sich an dem
Buchenjager zu rachen. Nicht einmal das reicht: der Wilderer mu8 das
Gewehr von Andres stehlen und alle miissen — natiirlich zufallig - im Wald
auch so zusammentreffen, da8 die Leute Steins in Andres den Morder des
Buchenjagers erkennen, und Roberts Rache an dem wahren Mérder erfahrt
Ulrich auf die Weise, da8 Roberts Kugel Andres zur Strecke brachte. Hier
liegen die grofen Zufalle des Dramas und nicht dort, da8 er schlieBlich seine
Tochter ermordet, weil er seinen Sohn an Robert richen will. Wenn auch
Ludwigs Rechtfertigung hier richtig ist - womit er natiirlich nur ein wenig
die tragische Bizarrheit der Situation zu mildern vermag -, da8 nimlich das
Madchen absichtlich vor die Kugel gelaufen sei — was erreicht er damit? Das
Wesen der fertigen Tragédie ist folgendes: Im Glauben, da8 Andres getétet
wurde, wollte er Robert tdten, es stellt sich aber heraus, daf Andres am
III Das deutsche klassische Drama 165
Leben blieb ... Und wenn Andres tatsichlich gestorben ware? Ware die
Situation, die den Kern des wahren, des tragischen Stoffes bildet, weniger
tragisch?
Es richt sich vielleicht bei Ludwig am starksten, daf er abstrakte Konflikte
nicht abstrakt sehen wollte, da& er dem Stoff eine Betrachtungsweise auf-
zwingen wollte, die der Natur seines Stoffes widersprach. Denn in den
Gesten Ulrichs, die das Stiick beginnen und beschlieSen, gibt es wirklich
eine notwendig tragische Beziehung — nur nicht im Stiick. Sie ist im Leben,
das dem Stiick entspricht, vorhanden, und man kénnte sie innerhalb des
Stickes konstruieren, wenn die Gestalten streng zum Hintergrund kompo-
niert waren. Nachdem Ludwig das bewuft vermied, konnte er nur durch das
Geflecht komplizierter Intrigen und Gegenintrigen zum tragischen Ende
gelangen, dorthin, wohin — im abstrakten Thema - sichere und gerade Wege
gefithrt haben. Und der »Erbforster« ist noch die stirkste Komposition
dieses ungliicklichen, grofen Dichters. Die Tragodie der Makkabier zerfallt
schon in so viele Stiicke, wie sie Hauptdarsteller hat, und alle seine spateren
Dramenpline verlieren sich in das Labyrinth der unvorstellbar vielfaltigen
psychologischen Méglichkeiten. Zwei Dinge charakterisieren diese Pline
hauptsichlich: erstens, da& er nicht das Zentrum finden kann (wie viele
verschiedene Lésungen hat er allein fiir das Thema der Bernauerin!), und
zweitens seine verzweifelten, hoffnungslosen Bestrebungen, die Handlung
der geplanten Stiicke zu vereinfachen und die Intrigen aus ihnen auszumer-
zen. Keines der Vorhaben konnte gelingen, denn die psychologische Lésung
konnte schon allein wegen ihrer Natur nicht notwendig sein (fiir alle
Handlungen sind tausend und abertausend seelische Motive vorstellbar) und
eine Handlung, die nicht auf der Notwendigkeit aufgebaut ist, kann von
nichts anderem gebildet werden als vom Geflecht von Intrigen, die mit
Zaufillen spielen und Zufille hervorrufen.
Grillparzer hat seine Dramen, ebenso wie Ludwig ~ blo8 nicht so radikal
~ auf Personen aufgebaut, und er ist ebenso wie Kleist - blof nicht mit solch
fanatischer Wildheit — in die geheimnisvollsten Winkel des seelischen Lebens
hinabgestiegen, um nach seelischen Motiven fiir neue Dramen zu suchen.
Sein Stilproblem .ist somit im Vergleich mit den anderen weniger auf die
Spitze gestellt, seine konziliante Natur spitzt die Konflikte weniger zu, und
dennoch strebt er unter der Wirkung Goethes und Schillers, der spanischen
und griechischen Dramen immer starker nach Synthese. Eine Lésung konn-
ten auch seine klugen Kompromisse nicht herbeifiihren, obwohl er ihr
vielleicht am nachsten kam. Das klassische deutsche Drama rechnete nicht
166 Die geschichtlichen Voraussetzungen
3
Ungelést blieb aber das Hintergrundproblem auch von einem anderen
Gesichtspunkt: der Distanz zum ganzen Stick. Hier gibt es vielleicht zwei
nennenswerte Daten und die zwei Daten - um ganz und gar die Sprache der
Literaturgeschichte zu sprechen - bezeichnen zwei grofe, auf das neue
Drama einwirkende Krifte. Die Daten: »Gétz von Berlichingen« und
»Wallenstein»; die Krafte: Shakespeare und die griechische Tragédic.
Was bedeutet Shakespeare und was bedeuten die Griechen fiir das neue
Drama? Es ist in beiden Fallen, wie wir schon sagten, nicht davon die Rede,
daf sie wirklich verstanden worden wiren: beide Male projizierten sie das
Ideal des neuen Dramas in die alten groSen Dichter, da sie etwas ahnliches in
ihnen fanden, sahen und lasen sie es in die Werke dieser grofen Dichter
hinein und waren im Glauben, ihnen zu folgen, als sie das Neue, das sie
schaffen wollten, gesucht haben. Beide umfassen natiirlich den grofen und
nie ganz konstanten Komplex der Ziele (ich beziehe mich hier nur auf das
eine: wie verschieden und in vieler Hinsicht véllig gegensitzlich der Scurm
und Drang und die Romantik Shakespeare gesehen hat). Es ist daher sehr
schwer, kurz zu definieren, welches Stilproblem eigentlich in den Vorder-
grund gedringt wird, wenn die eine oder die andere Richtung »befolgt« oder
»nachgeahmt« wird. Sicher ist nur so viel, da& Shakespeare und die Griechen
immer zwei Pole bedeutet haben; der Kompromif, neigte cinmal zum einen,
ein anderesmal zu den anderen, bis in der Romantik theoretisch und bei
Kleist auch praktisch das Problem der Synthese in den Vordergrund trat;
seitdem folgte - auch Grabbe nicht ausgenommen - nur Ludwig einer
* Tendenz, natiirlich einer ganz anders aufgefaBten Shakespearschen Tendenz.
Doch ganz allgemein: Shakespeare bedeutete die Totalitat und das antike
Drama die Einheit (beide einseitig genommen; die eine, wenn es notwendig
wire, durch die Aufopferung der anderen erreichend). Shakespeare bedeutet
den Reichtum und den farbigen Glanz des Lebens (das Tiecksche »Klima der
Begebenheiten« bedeutet in der Romantik auch nur dies), die Griechen
bedeuteten die Zusammenfassung dieses Lebens in wenigen grofen Symbo-
len. Die eine bedeutet die Charakteristik des einzelnen Menschen, die andere
III Das deutsche klassische Drama 167
die Stilisierung auf grofe tragische Schicksale; die eine bedeutet den frei-
en Willen des autonomen Individuums (da8 z. B. Schiller die geringe
Schicksalhaftigkeit der Hexenszenen des Macbeth tilgt), die andere die
unerbittliche Notwendigkeit, das Schicksal, das Farum. Die eine bedeutet
den historisch bestimmten Ort, die Zeit und die Umstinde der Geschehnis-
se, die andere die Raum- und Zeitlosigkeit der ewigen seelischen Konflikte.
Vom Gesichtspunkt der Distanz her bringen aber alle zwei beide Tenden-
zen. Shakespeare bringt die freskenhafte Monumentalitit und die naturalisti-
sche Detailliertheit. Aber auch das griechische Drama erfordert gleichfalls
beide Tendenzen, nur gehdrt hier die Monumentalitat mehr in den Bereich
der griechischen Baukunst und die Betrachtung aus der Nahe, die Detail-
liertheit liegt im feinen Nacheinander der seelischen Nuancen. »Gétz« und
»Wallenstein« sind die starksten und in ihren Folgen die wichtigsten Zuspit-
zungen dieser zwei Tendenzen (neben »Wallenstein« kénnte man héchstens
»Iphigenie« und »Tasso« als den Anfang der andersartigen, mehr der Racine-
schen verwandten Antikisierung stellen). Wir sahen schon ihre Stilprobleme,
was bedeuten sie nun von den genannten Gesichtspunkten her? Das Problem
der Distanz ist die Frage des Ausgleichs von Totalitét und Einheit. Sie
besteht im Auffinden des Punktes, von dem aus betrachtet alles eins ist und
alles sich gegenseitig steigert und alles nur existiert, um sich gegenseitig
steigern zu kénnen; von dem aus gesehen jedoch auch ein jedes einzelne
Ding die ganze Intensitét seines eigenen, auch an sich interessanten Lebens
zu geben vermag. »Gétz« ist der erste gtof&e Versuch, diesen Punkt (»[. . .]
den geheimen Punkt, den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat
[...Je*, schreibt der junge Goethe in seiner Shakespeare-Rede), in der
Nihe der Geschehnisse zu finden; aus dem Nebeneinandersetzen von
kleinen, lebensspriihenden Szenen eine ganze, grofe und vollkommene Welt
aufzubauen. »Wallenstein« ist der schirfste Gegensatz dazu; da ist gerade die
Einheit das primaire Erlebnis. Wie wir es auch auffassen, entweder wie
Heinrich von Stein, der es so sieht, da& das Ganze »[...] die Darstellung
eines menschlich bedeutsamen Zustandes, des Krieges [...J«'” ist, oder
konkreter, es ist gewi8, daf die Einheit frither da ist, und alle Teile haben nur
auf sie bezogen eine Bedeutung. Das ist hier gerade das Problem: dieses
groBe Schema muf mit so viel Inhalt wie nur méglich gefiillt werden, ohne
da8 es dabei explodiert. Ist es aber moglich, diese Probleme zu lésen? Kann
ein Drama, das im Stil von »Gétz« geschrieben ist, wirklich einheitlich sein?
Oder mit anderen Worten: kann das neue Drama Shakespeare nachfolgen?
Und kann dberhaupt die Warme und Vielfarbigkeit des Lebens in einem
168 Die geschichtlichen Voraussetzungen
Drama vorhanden sein, das die Spuren der Griechen verfolgt und streng
stilisiert und distanziert? (Schillers Berihrungen mit Shakespeare in man-
chen seiner Motive diirfen uns nicht irrefiihren. Er suchte ein Drama, das
dem der Griechen ahnlich sein sollte, und bei Shakespeare wirkte nur noch
das wirklich auf ihn, was man auf diese Weise sehen konnte, z. B. »Richard
m.« als Schicksalstragédie, als die notwendige Abwicklung von allem Voran-
gegangenem; oder der nicht individualisierte groSztigig typische Stil der
Massenszenen in »Julius Caesar«.)
Die Antwort auf die erste Fragestellung ist deutlicher negativ. Goethe sah
auch selbst ganz klar, da8 sein Anfangsweg nirgends hinfihrt, und auch die
ganze Unfruchtbarkeit des ihm folgenden Dramas ist cin Beweis dafiir. Und
erst nach Jahrzehnten versuchen Grabbe und Biichner auf diesem Weg zum
neuen grofen Drama zu gelangen: sie wollen mit Hilfe der Zusammenset-
zung von detaillierten und winzigen Bildern einer Zeit ~ und eventuell eines
in sie hineingestellten groSen Mannes - die ganze Zeit und in ihr das grofe
Schicksalsverhiltnis ausdriicken, fiir das das ganze historische Geschehen
nur ein Symbol, nur eine fast zufallige Erscheinungsform ist. Hier handelt es
sich also um zwei Fragen: ist auf diese Weise die Einheit und die Symbolik
zu erreichen? Im wesentlichen haben beide Fragen nur eine Bedeutung: kann
man mit einer Technik, die von einer solchen Betrachtungsweise erfordert
wird, den Menschen und sein Schicksal in eine enge Beziehung bringen? Ist
es méglich, die Geschehnisse so darzustellen, da& sie die Symbole nur dieses
Schicksals sifd? Ist es méglich, ein Bild von einer ganzen Epoche zu geben,
das in seiner Ganzheit auf dieses eine Zentrum bezogen ist? Denn es ist
gewif, da kein anderes Streben nach Einheit eine dramatische Einheit
schaffen kann, und da& auch die detaillierteste, vielseitigste dramatische
Epochendarstellung nicht eine solche reale, empirische Lebenseinheit bilden
kann wie eine epische (»Krieg und Frieden«). Warum ist das unerreichbar?
Alle Versuche dahin zu gelangen blieben unfruchtbar: was ist das Gemeinsa-
me in diesen Versuchen und wo verlauft die Linie bei allen, iiber die sich nie
ein Versuch erheben kann? Als wir iiber »Gétz« sprachen, beriihrten wir
schon diese Frage. Ein jeder spiirt, da& Gétzens Tragédie im engsten
Zusammenhang mit seiner Epoche steht, und da diese Formel sogar nicht
einmal unberechtigt ware: Die Tragédie Gétzens besteht darin, daf er in
dieser Epoche geboren wurde.
Im abstrakten Thema also, wir kénnten sagen, im Stadium, in dem das
Drama noch nicht geschrieben oder schon so weit von der unmittelbaren
Wirkung entfernt ist, da& alle einzelnen Tatsachen und Details bis zur
III Das deutsche klassische Drama 169
Unkenntlichkeit verblaft sind, hingen beide tief und eng zusammen und
werden auch zu einer Einheit. Im Stiick selbst aber nicht und auch nicht in
den historischen Dramen von Lenz, Biichner und Grabbe, die auf solche
Weise geschrieben worden sind. Der Punkt nimlich, von dem her gesehen
das Ganze einheitlich ware, liegt in einer so weiten Entfernung, die sich mit
dem Drama nicht vereinbaren lift. Diese Betrachtungsweise kénnte nur die
ganz abstrakt gefafte Perspektive des Schicksalsverhiltnisses des Menschen
zu seiner Epoche sein, in der das Ganze der Epoche, die Verflechtung ihrer
unzahligen Wirkungskrifte die Katastrophe zustande bringt, wo wir spiiren,
da8 zwar alles, was geschieht, zufillig ist, denn es ist zufillig, mit welchen
Tatsachen der Mensch in Berithrung kommt, wo wir aber auch spiiren, da&
nichts zufallig ist, weil das Zusammentreffen des Menschen mit anderen
ebenso zufilligen Tatsachen dieselbe Tragédie hervorgerufen hatte. Die
Technik jedoch, die diese Betrachtung aus der Vogelperspektive zum Aus-
druck bringen will, ist ein Betrachten aus der gréf&tméglichen Nihe. Sie
vermag somit, weil sie einzelne Dinge detailliert, realistisch ausgedriickt, nur
dem Zufall einen Ausdruck zu geben und nicht der gro8en Notwendigkeit,
die dahinter steht. In »Gétz« ist eine rein epische Wirkung die Folge davon.
Dort ist nicht einmal die eigentliche Frage aufgeworfen, und es gibt keine
Bestrebung zur vollkommenen Totalitat. Die auseinanderstrebenden Ele-
mente selbst sind ganz roh nebeneinandergestellt, und die — dramatische
~ Uneinheitlichkeit des Ganzen wirft deshalb noch keinen Schatten auf die
Schénheiten der Teile. Grabbe versucht das Problem auszuschépfen und
zugleich alle Dissonanzen aufzulésen. Dadurch werden seine Perspektiven
sehr labil. Die Szenen bewegen sich stindig zwischen Realitat und Symbolik,
und ihre unausgeglichenen Dissonanzen erwecken manchmal eine ganz
groteske Wirkung (die Schlachtszenen des »Napoleone). Die grofe Verbin-
dung kann er aber auch nicht schaffen. Das fast kinematographische Nach-
einander der vielen kleinen Geschehnisse kann sich nicht zu einer grofen,
symbolisch dramatischen Handlung zusammensetzen. Und wenn er einen
Helden in die lange Reihe der Geschehnisse hineinstellt, muf er ihn von
allem, was um ihn geschieht, véllig isolieren; es gibt keine einzige wirkliche
Sache, in der sich seine Persénlichkeit offenbaren kénnte, mit der er also in
Kontakt kommen kénnte. Wo er das zu erreichen versucht (Kaiser Friedrich
Barbarossa), erreicht er auch nicht die Wirkung der organischen Einheit.
Denn ein Zufall, eine nur reale Begebenheit (in der dramatischen Sprache:
¢in episodisches Geschehen) kann dadurch noch nicht symbolisch werden,
da die in ihr vorkommenden Menschen eine etwas mystische, historische
170 Die geschichtlichen Voraussetzungen
Willen der Dichter schiebt sich hier eine andere Frage dazwischen: Wie
vermag das dennoch die sich stindig verindernden Reichtiimer des Lebens
zu umfassen?) Die Aufhebung des Charakteristischen ist sowohl hier als
auch dort die einzige Méglichkeit dazu. Schiller erkannte das ganz klar, als er
um die gleiche Zeit iiber den Wert des Verses Goethe schrieb, daf er alle
Charaktere und alle Situationen auf Grund eines Gesetzes behandele, er
fiihre sie trotz ihres inneren Unterschiedes in einer Form aus, und dadurch
nétige er sowohl den Dichter als auch seinen Leser, von allen noch so
charakteristisch-verschiedenen Gestalten etwas Allgemeines, rein Menschli-
ches zu verlangen.'” Also: Beim Dialog ist es der Vers, bei seiner ganzen
Komposition ist es die »poetische Fabel«, die sowohl im Ganzen als auch in
den Details jeglicher Kleinlichkeit, jeglichem blo8 Wahrscheinlichen gleich-
sam fernsteht, was allen fernsteht, dessen aus der Nahe gesehene Vielfaltig-
keit das Leben auf so uniibersichtliche Weise trivial und verworren macht.
Es ist also das Ideal des griechischen Dramas. Schiller beschéftigt sich zur
gleichen Zeit auch viel damit, ob die »idealen Masken« des griechischen
Dramas nicht geeignetere Stoffe fiir die Tragédie sein wiirden als Shakespea-
res Menschen. Das griechische Drama ist also etwas, wie sie es gesehen
haben, das der klassischen franzésischen Tragédie sehr nahesteht. (Man darf
nicht vergessen, da Goethe Voltaires »Tancréd« und »Mahomete, Schiller
Racines »Phaedra« iibersetzt hat; wie sehr sich beide fiir Sophie Mereaus
Cid-Ubersetzung interessiert haben, aus welchem Grund sich Goethe fir
Friedrich Schlegels »Alarkos« exponiert hat usw.) Kurz gesagt liegt das Ziel
darin, den Dialog in Verse zu fassen und dadurch von allem rein Persdnli-
chen und Charakteristischen zu befreien, die unendlichen Verschiedenheiten
der einzelnen Menschen in musikalischer Einheit zu verschmelzen und die
Beherrschtheit ihrer seelischen Manifestationen von Augenblicken mit Hilfe
der scharf formulierten Gedanklichkeit der streng stilisierten Sprache oder
durch die poetische Verallgemeinerung der Bilder, dadurch, daf die Bilder
nicht ausschlieBlich aus ihrer Seelenwelt stammen, aufzuheben. Und das
Ganze betreffend: es ist die enge Beziehung von einigen grofen Ereignissen
im Spiegel des Gefiihls, die in den sie bewegenden, durch sie heraufbeschwo-
renen wenigen, grofen und nur grofangelegten Manifestationen dargestellt
ist. Schiller spiirte —- wie er es ausfiihrlich im Vorwort der »Braut von
Messina« beschreibt -, was fiir ein Verlust es war, daf das neue Leben
kompliziert wurde und in kleine Beziehungen zerfiel.'* Das Ziel seiner
Stilsuche, die bei »Wallenstein« beginnt, ist es, diese stérende Vielfarbigkeit
des Lebens mit Hilfe der Kunst aufzuheben und die grofe, edle und
172 Die geschichtlichen Voraussetzungen
den — wenn auch der Ausdruck hier ein wenig paradox klingt - hauptsachlich
die Fehler beifallig aufgenommen: die nicht gelésten Teile, die Unreinheiten
des Verhiltnisses zwischen Freiheit und Gebundenheit; die »schénen« Stel-
len, die Rhethorik, die Sentimentalitat, die Sentenzen. Er, der die sprédeste
Notwendigkeit gesucht hat, wurde als der »Dichter der Freiheit« bezeichnet,
weil es iiberall in seinen Stiicken Menschen gab, die mit schénen Worten
iiber die Freiheit sprachen. Seine tatsichlichen Probleme wirkten nicht, seine
Nachfolger ahmten nur seine Fehler nach. Man kann nicht stark genug
betonen: hier ist von der groSen, allgemeinen und lebendigen Wirkung die
Rede, dariiber, wie Schiller auf das breite Publikum, auf das Publikum der
Theater gewirkt hat — insofern er iitberhaupt gewirkt hat - und nicht dariiber,
inwiefern er von einigen herausragenden Geistern richtig gesehen wurde und
inwiefern er von ihnen nach seinem Verdienst geschatzt wurde. Bei Schiller
war aber noch eine Beziehung zur 6ffentlichen Stimmung vorhanden, wenn
auch um den Preis des Mifverstindnisses seines Wesens und des Verlustes
seines wichtigsten kiinstlerischen Wertes. Bei den anderen war nicht die Spur
einer solchen Beziehung vorhanden. Kleist konnte nie auf der Biihne wirken,
Grabbe und Biichner gelangten kaum auf die Bihne, auch Immermann sehr
selten, und die Dramenversuche der Romantiker waren weit von jeder
Méglichkeit einer Wirkung entfernt. Aber auch Ludwigs Dramen konnte
man dem Publikum kaum aufzwingen. Und wie zufallig Grillparzers Erfolge
in seiner Jugend waren - ganz abgesehen davon, daf sie nicht allgemein
waren —, beweist auch der dumme, unmotivierte und drastische Durchfall
von »Weh dem der liigt« und Grillparzers tiefes Unsicherheitsgefiih! der
Biihne gegeniiber beweist, da er sich nachher von der Biihne zuriickzieht.
Seit Schiller hatte kein deutscher Dramatiker eine wirklich tiefe und breite
Wirkung.
Sie konnten sie auch nicht haben. Dieses Drama war von Anfang an nur ein
asthetisches Drama und deshalb konnten ihre duferlichen Triumphe nur
zufillig sein. Es gab aber eine Zeit, zu der es schien, als ob die Lésung doch
in dieser Form vorstellbar ware: als Goethe und Schiller zusammen in
Weimar waren. Und Paul Ernst, der davon ausgeht, welche immensen Krafte
die beiden ineinander freigelegt haben, denkt dariiber nach, zu welchen
Héhen der Weg der deutschen Dichtung gefiihrt hatte, wenn nach Goethe
und Schiller, Kleist, Hélderlin und Grillparzer und nach ihnen Hebbel,
Ludwig und Keller nach Weimar gekommen waren und drei Generationen
von Dichtern und von Publikum, die einander unterstiitzend ihre Arbeiten
fortgesetzt und all das zu Ende gefiihrt hatten, was Goethe und Schiller
III Das deutsche klassische Drama 179
begonnen haben.'* Denn sie empfanden ihre Arbeit tatsichlich als Anfang
und nicht als Abschlu&, nicht als »klassisch«. Diese Frage hat, abgesehen von
ihrer praktischen Unfruchtbarkeit einen groSen und bedeutenden Sinn. Und
zwar, ob es iiberhaupt vorstellbar ist, da& dies hatte geschehen kénnen. Mit
anderen Worten: wie ist Goethes Weimar zustande gekommen? Ist es zufal-
lig gewesen, da& einige sich entsprechende und sympathische Menschen
durch einen gliicklichen Zufall aufeinandertrafen? Oder hat sie eine tiefe und
iiber die Eigenschaften der einzelnen Menschen hinausgehende Notwendig-
keit zusammengebracht, eine ahnliche wie die, die alle groen Englander in
das Elisabethanische London zog, oder auch nur eine so starke Notwendig-
keit, die in den goer Jahren alles in Berlin konzentrierte? Ich glaube, da be-
reits in der Frage die Antwort enthalten ist. Wenn jemand Goethes Stellung
und - was hier das Wichtigere ist - die Stellung des Theaters in Weimar
naher kennt, wei, wie wenig hier von einer Befriedigung einer unausgespro-
chenen, aber organischen Notwendigkeit die Rede ist, sondern von den
genial isolierten, gewaltsamen Experimenten eines genialen Menschen.
Goethe hat Weimar kiinstlerisch gepragt und nicht umgekehrt. Mit Goethe
und Karl August mufte die Goethe-Epoche zu Ende gehen; was sie auf-
nahm, das wurde von privaten Beziehungen entschieden. Weimar wurde auf
den privaten Beziehungen Goethes und Karl Augusts, Goethes und Schillers
aufgebaut, und deshalb kann Weimar nur fiir ihre ganz persénlichen Lebens-
probleme eine Lésung sein und nicht fiir allgemeine. Deshalb konnte es hier,
hat es hier keine Fortsetzung gegeben, es konnte und es hat auch nirgendwo
etwas gegeben, was Weimar ahnlich gewesen ware.
Weimar war ein asthetischer Traum, der gréfte und grofartigste von allen.
Als solcher ist Weimar das reine und wunderbare Symbol der Situation, die
wir hier zu skizzieren versucht haben. Die tiefe Wurzellosigkeit, unter der
dieses grofartige Drama litt, hatte in nichts einen starkeren Ausdruck
erhalten kénnen, als darin, da die Tatsachen ihm Gelegenheit boten,
Wurzeln zu schlagen. Aber nur aufere Tatsachen gaben ihm diese Gelegen-
heit, nicht ihr inneres Wesen: »zu Hause« war dieses Drama ebenso heimat-
los wie bei der Suche nach einer Heimat, und die tatsichliche Resonanz war
ebensowenig ein wirkliches, die Lautstirke steigerndes Echo seines Wortes,
wie das gewohnliche Schicksal, der Ruf in die Wiiste.
Das Drama, von dem wir sprachen, war ein asthetisches Drama, war das
erste und das gréfte asthetische Drama. Alle Probleme der spiteren Zeiten
tauchen hier als formales Problem auf. Wegen der Paradoxie der dramati-
schen Form konnte aber nicht einmal ihre geniale Antwort eine Antwort
180 Die geschichtlichen Voraussetzungen
sein. Sie kann es nicht sein, weil ihre tiefgreifendste Frage nicht die wirkliche
Frage ist. Und wenn alle spateren Dramen - wenn auch aus anderen
Griinden - ebenfalls problematisch sind, ist diese Problematik bei den
Dramen der spiteren, viel kleineren Dichter doch nicht vorhanden. Deswe-
gen wagen wir es, die wirklich Grofen als Wegbereiter des neuen Dramas
und nicht als ihre Kronung zu betrachten, mit deren Werken verglichen alles
Nachfolgende nur Verfall wire.
Seit Mitte der vierziger Jahre treten in Frankreich bis zu den sechziger
Jahren in schneller Folge viele neue Dichter auf. Es sind neue, frische
Menschen voller Erfindungskraft; man spiirt, da® sie etwas ganz Neues
bringen und dennoch nicht unbequem sind, sie brechen nicht ganz mit den
alten und erprobten Traditionen der Biihnenwirkungen. Und diese jungen
Menschen, Dumas und Augier, Sardou und Pailleron, Meilhac und Halévy,
beherrschen nicht nur die franzésische Biihne — wie sie es im gewissen Mafe
auch heute noch tun -, sondern erobern ganz Europa; sie bestimmen nicht
blo8 iiberall die Theaterprogramme, sie gestalten auch die Dramenliteratur
der betreffenden Vélker und sogar ihre Schauspielkunst um.
Sie treten in der giinstigsten Zeit auf. Scribe schuf schon vor ihnen die
moderne franzésische Biihnentechnik bzw. er brachte eine Technik in
Mode, die auf der Grundlage alter Traditionen wuchs und fiihrte sie zum
Triumph. Das Wesen dieser Technik ist das schnelle Nacheinander von
Situationen grofer Wirkung; wie diese zustande gekommen sind, ob sie
wahrscheinlich oder auch méglich sind, ist nebensichlich. »Il ne faut pas
trop chicaner les gens«, sagt Sarcey, »qui ont la bonne enive de nous faire
riree,"° Aber die Popularitit Scribes selbst, der diese Technik bis zur
groBtmbglichen Vollkommenheit brachte, begann schon um diese Zeit
bereits ein wenig zu sinken, er bot schon viel zu oft dasselbe, was er
produziert, begann schon zu sehr ein FlieSbandprodukt zu sein, wurde
allmahlich langweilig und einténig; er hatte schon eine ganze Biihnenstiick-
Fabrik mit bezahlten Mitarbeitern. Und das romantische Drama - dessen
Triumphe ebenfalls in die dreifiger Jahre fallen - beginnt die Zuschauer zu
langweilen. Das Pariser Biirgertum wollte nicht mehr ins Theater gehen, um
dort verspottet zu werden, um Ideen zu héren, die seinen entgegengesetzt
IV Das franzésische Tendenzdrama 181
waren. Zur Premiere von »Burgraves« (1843) konnte man keine solche
begeistert demonstrierende Jugend mehr zusammenbringen wie damals zur
Premiere von »Hernani«.'°” Die Situation selbst legte die Richtung fiir diese
jangen Menschen fest. Die Scribe-Technik mufte zum neuen Leben erweckt
werden. Es gibt zwei Méglichkeiten: entweder die Steigerung und Verfeine-
rung der melodramatischen Wirkungen (Sardou), oder die Annaherung an
das gegenwiartige Leben durch die Propagierung solcher Ideen, die denen der
damaligen Pariser Bourgeoisie entsprechen (Dumas und Augier). Ferner
k6énnen sie im Farbenreichtum und hauptsichlich in der Charakterzeich-
nung, die Errungenschaft des romantischen Dramas, die starke Kontrastwir-
kung verwenden. Bei Scribe ist noch iiberhaupt keine Spur von Charakter-
zeichnung vorhanden. In den fritheren franzésischen Dramen sind die
Menschen aus einem Stiick geschnitzt; die Romantiker entdecken die Anti-
these und erheben sie zum Kunstprinzip, und sie ist, auch wenn sie ebenso
mechanisch und starr ist wie die alte Einheitlichkeit, auf alle Fille interessan-
ter, aufregender. Die brilliantesten, bewuftesten und talentiertesten unter
ihnen sind Augier und Dumas. Sardou ahmt sie in seinen gesellschaftlichen
Dramen nach; und die Stiicke, mit denen er seine spektakulirsten Erfolge
erzielt hat, (»Patriec, »Fédora«, »Tosca«), fallen ganz aus dem Kreis der
kanstlerischen Wertung. Sowohl Augier wie auch Dumas erklarten sehr friih
und sehr bestimmt, was sie wollten; Augier, - der viel friher die Buhne
eroberte als Dumas - schlie&t sich gleich der Ponsardschen antiromanti-
schen, die Biirgertugenden verherrlichenden »école des bon sens« an. Dumas
proklamiert im Vorwort von »Fils naturel« unmifverstandlich das »théatre
utilee, er erklart, da& das Theater kein Selbstzweck sei, sondern ein Mittel
zur Verkiindung gewisser Ideen, daf er keine leerere, nichtssagendere Phrase
kenne als das l’art pour l’art, da8 jede Literatur, die kein niitzliches und
moralisches Ziel habe, krank und tot geboren sei. '*
Sie wollen also erziehen. Sie weisen auf die Fehler hin, die vermieden werden
miissen und sie zeichnen menschliche Vorbilder als nachahmenswerte Bei-
spiele; sie greifen die veralteten Institutionen an, aber sie verteidigen das, was
am Bestehenden gut ist; sie betrachten die Biihne nur als Kanzel. Daran ware
an sich noch nichts Neues: das gesellschaftliche Drama stand seit seiner
Entstehung immer im Dienste der moralischen und gesellschaftlichen Ten-
denzen. Neu ist ihre Entschlossenheit; ihre Absicht zu ihrer Zeit. Ihre
Vorganger (Scribe und die Romantik) kiimmerten sich nicht viel um Ten-
denzen, oder zumindest sind diese Tendenzen viel allgemeiner, viel weniger
praktisch, sie halten die Lésungen gewisser Fragen weniger vor Augen. Neu
182 Die geschichtlichen Voraussetzungen
sind - zumindest auf der Biihne und fiir das gro&e Publikum - die Ideen,
denen sie ihre Dramen widmen.
Um es in einem Satz auszudriicken: das Hauptziel dieser ganzen Literatur
war die Starkung und Verteidigung des biirgerlichen Lebens und im beson-
deren des biirgerlichen Familienlebens gegen alle inneren und auferen
Feinde. Bei Augier spielt das ffentliche Leben verhiltnismaig selten cine
Rolle und dann auch nur, um seine schadliche, zerstérende Wirkung auf
einzelne Familien zeigen zu kénnen (»Les Fils de Giboyer«) oder um das
- ihrer Meinung nach — abschreckende Ebenbild der Hochstapler grofen
Stils darzustellen (Vernouillet in »Les Effrontés« und in »Le Fils de Gibo-
yer«, d’Estrigand in »La Contagione und in »Lions et Renardse), Dumas
interessierten solche Fragen anscheinend iiberhaupt nicht. (Der Verrat am
Vaterland dient in »La femme de Claude« nur der melodramatischen Wir-
kung.) Rein individuelle Fragen, rein innerliche, seelische Probleme kennen
sie nicht; die Hauptprobleme des groSen germanischen Dramas, die Kon-
flikte des Gegensatzes zwischen Menschen und Welt kennen sie noch
weniger.
Die Grundlage der richtigen Ehe ist die Liebe oder vielmehr die gegenseitige
Zuneigung und Ehre. Die Liebe kénne man, sagt Dumas im Vorwort zur
»Kameliendame«, lenken und vervollkommnen."? Und wenn auch manch-
mal einige Madchen, z. B. Anette in »Francillon«, jemanden sehr entschlos-
sen lieben, ist diese Liebe so begriindet, so niichtern, ist so wenig an rein
individuelle, irrationale Eigenschaften gebunden, da8 wir ruhig sagen kén-
nen: hier wird jede ehrbare Frau den lieben, oder wenigstens wird sie ihn
lieben lernen, der gerade um ihre Hand anhalt. Und Diane de Lys macht
ihrem Mann tatsachlich in einem solchen Ton Vorwiirfe, weil er sie nicht
lehrte, ihn zu lieben, da& wir sehen: es lag an ihm, wenn er es gewollt hitte,
wire es gegliickt. Und die Enttauschungen der Frauen sind auch nicht
Folgen seelischer Differenzen; wer vor seiner Heirat ein braver, ehrenhafter
Mensch zu sein schien, bei dem stellt sich heraus, daf er es nicht ist; das ist
das Ganze. Aber wie gro8 auch ihre Enttiuschung ist, eine ehrbare Frau hat
zur Tréstung, zum Ehebruch kein Recht, und die wirklich ehrbare Frau
kann ihn auch nicht begehen (»Francillon«). In dieser Literatur wird noch
jede Frau, die einen Ehebruch begeht, vom Dichter verurteilt. Die gesetz~
liche Festlegung der Méglichkeit der Scheidung wird deshalb so stark
gefordert, damit die Frau wenn die Ehe schon auf keinen Fall bestehen
bleiben kann, wenigstens einen ehrbaren Weg hat, ihr Gliick zu finden.
In all diesen Gedanken findet sich eine starke und bewufte Reaktion auf die
IV Das franzésische Tendenzdrama 183
Oliver de Jalin verhindert mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln, da8
sein Freund Raymond Susanne D’Ange (»Demimonde«) ehelicht, aber
Camille darf Jeaninne (»Les Idée de Madame Aubray«), Montaiglin Ray-
monde (»Monsieur Alphonse«) und Bardannes Denise heiraten. Sie glauben,
da alle gesellschaftlichen Schranken dem unehelichen Kind gegeniiber
ungerechtfertigt seien. Dumas - der es persdnlich erlebte - kampft in vielen
seinen Dramen fiir die Gleichberechtigung der unehelich Geborenen (z. B.
»Le Fils Naturel«, »Monsieur Alphonse« usw.), ¢s ist aber charakteristisch
und interessant, daf die unehelich Geborenen - und es gibt viele — in seinen
Stiicken entweder ideale Wesen oder zumindest auferordentlich sind
(Noémi Clarkson in »L’Etrangére«). Augier sieht das genauso, bei ihm
opfern sie sich melodramatisch auf und sind Idealisten (»Le Fils de Gibo-
yer«. Bernard in »Les Fourchambault«). Also auch hier ist von der Lage der
biirgerlichen, sogar nur der vornehmen biirgerlichen Familie die Rede,
dariiber, wie ein — im Guten, eventuell im Schlechten - auferordentliches
Wesen innerhalb der Familie seinen Platz einnehmen kann, wenn es gegebe-
nenfalls unehelicher Abstammung ist. Es ist also nicht - auch nicht im
sozialen Sinne - vom ganzen Problem die Rede, (von dessen seelisch
dramatischen Seiten ganz zu schweigen, die z. B. die Warbeck- und Deme-
trius-Dramen beriihren), sondern nur von seinen Reflexen auf den Frieden
der biirgerlichen Familie.
Es ware allzu billig, die Kleinlichkeit und Engstirnigkeit dieser ganzen
Weltauffassung - wenn man sie iiberhaupt so bezeichnen kann — detailliert
aufzuzeigen, zu beweisen, daf ~ grob ausgedriickt — die ganze Moral Dumas’
und Augiers sich eigentlich darum dreht, wer salonfahig sei und wer nicht.
Da z.B. von der schlimmen Lage der unehelichen Kinder, - die zu
verbessern ja ihr wichtigstes und am heiesten verteidigtes Prinzip ist — das
am starksten auf sie wirkt, ob ein solcher Mensch die Tochter einer ehrbaren
biirgerlichen, eventuell aristokratischen Familie heiraten kann. Fiir uns sind
diese Prinzipien nicht einmal an sich wichtig, sondern deshalb, weil wir
wissen, daf& die Dichter, die sie verfechten, ihre Stiicke in ihren Diensten
schrieben; sie wollten diese Prinzipien in dramatischer Form ausdriicken
und fiir uns hei&t nun die allererste Frage, inwieweit es ihnen gelang, ihren
Gedanken eine dramatische, kiinstlerische Form zu geben.
Wir wissen, da es ihnen nicht gelang. Wenn wir auch vorliufig von der
grundsatzlichen Problematik aller Tendenzdramen absehen, also nur danach
fragen, was dieses Drama ausdriicken wollte, inwiefern es ihm gelang, das so
auszudriicken, da& die Form doch den Inhalt wiedergibt, wie minderwertig
IV Das franzésische Tendenzdrama 185
der Inhalt und wie problematisch die Ausdrucksweise auch seien, miissen
wir dennoch die negativste Antwort geben. Sogar in Lillos »The London
Merchant«, in diesem primitiven, bewuft moralisierenden biirgerlichen
Stiick, das den Untergang eines schwachen, seiner eigenen Sinnlichkeit und
der Macht der verfiihrerischen Frau nachgebenden Menschen darstellt, um
ihn seinen Zeitgenossen als abschreckendes Beispiel vorhalten zu kénnen, ist
dieses Einzige vorhanden: wie primitiv, minderwertig und in jeder Hinsicht
veraltet das Drama auch ist, es driickt das aus, was der Dichter sagen will.
Das, was gesagt werden soll, und die Ausdrucksmittel liegen, wenn sie auch
nicht zu einem organischen Ganzen zusammenwachsen, wenigstens auf
einer Linie, es gibt wenigstens eine Beziehung zwischen ihnen. Das Gesche-
hen ist zwar kein Symbol eines auf andere Weise ausdriickbaren Schicksals-
verhaltnisses, es ist nur eine Illustration der Moral, es ist blo& ein Beispiel fiir
ihre Allgemeingiiltigkeit, ein Mirchen, auf das die Lehre folgt, aber die
Lehre ergibt sich tatsichlich aus dem Marchen, die Illustration ist tatsichlich
die Illustration dieser Moral.
Diese Beziehung zwischen Tendenz und Stiick hat im franzésischen Ten-
denzdrama immer gefehlt. (Lillos schwaches Talent wurde manchmal von
der Kraft der Tradition der elisabethanischen Epoche unterstiitzt.) Zola
zieht mit treffender Ironie aus »Les Fourchambault« die folgende Lehre:
wenn wir die Klavierlehrerin verfiihren, miissen wir sie heiraten, um gliick-
lich zu leben und nicht bankrott zu werden.'' Trotzdem ist dieses Stiick
eines der am strengsten konstruierten Stiicke Augiers, und seine Stiicke sind
immer organischer als die seiner Zeitgenossen. »Le Fils Naturel« ist ein
Ichrreicheres Beispiel. Die Tendenz ist - wie wir wissen -: es darf keine
unehelichen Kinder geben. Wenn schon der Fehler begangen wurde, muf
man sie adoptieren, muf man ihnen einen Namen geben. Die Fabel: Sternay
verfahrte Clara Vignot und lie sie - auf den Rat seiner Mutter hérend
~ einer guten Heirat halber sitzen. Der verlassenen Frau, die vom Vertiihrer
nichts annahm, wurde ein grofes Gliick zuteil. Ein physisch herunterge-
kommener junger Magnat, der damit die vielen Siinden, die er (im allgemei-
nen!) gegen die Frauen beging, ausléschen wollte, hinterlaft ihr seinen
ganzen Reichtum, eine halbe Million Franken. Der Sohn wird von seiner
Mutter natiirlich, hervorragend erzogen, und er ist — ebenfalls natiirlich - ein
hervorragender, bezaubernder und guter Mensch, auf den eine grofe Zu-
kunft wartet. Er lernt zufallig die Nichte seines Vaters kennen, sie verlieben
sich und wollen heiraten. Aber vor der Hochzeit kann man natiirlich die
Dokumente nicht verheimlichen, es stellt sich alles heraus (wovon der Junge-
186 Die geschichtlichen Voranssetzungen
er ist 25 Jahre alt! — keine Ahnung hatte). Sternays Mutter, eine hochmiiti-
ge Magnatenfrau, will jetzt natirlich nichts von der Hochzeit horen. In der
Zwischenzeit wird Jacques Sekretér des Ministers. Sein Onkel - ein vorneh-
mer alter Herr — méchte ihn adoptieren, aber das will nun auch schon
Sternay, der sich davon die Erfiillung seiner Ambitionen erwartet. In der
Zwischenzeit ist Jacques wieder verreist, und dadurch lést er die ganze
Frage: er wird Konsul und Ritter der Ehrenlegion. Sternay und die ganze
Familie warten auf sein Heimkommen, um ihn in ihre Familie aufnehmen zu
kénnen. Jacques kommt auch nach Hause, er nimmt aber — natiirlich — das
ehrenvolle Angebot nicht an. Im Gegenteil, er erwirkt - ungebeten — beim
Minister fiir Sternay den Grafentitel. (Daf er seine Geliebte heiratet, glaube
ich nicht sagen zu miissen.) Was anderes ist das, wenn wir von einigen
geistreichen Reflexionen absehen (was man sehr leicht tun kann), als ein ganz
gewohnliches, stark mit Tricks arbeitendes, von Zufillen wimmelndes Boule-
vard-Melodrama im Scribe-Stil? Und wo ergibt sich daraus, da& man die
unehelichen Kinder adoptieren mu? Denn Jacques hat es so gut, und wird
nicht das geringe Leid, das ihm die Zuriickweisung verursachte, vielfach
durch sein jetziges ruhiges, unabhiangiges Gliick ausgeglichen? Wenn freilich
seine Mutter wegen materieller Not heruntergekommen ware (wie die
meisten gefallenen Frauen), wenn sein ganzes Leben unter dem Gewicht der
Vorurteile voller Pein und Leid gewesen wire (wie das der meisten uneheli-
chen Kinder), wenn ... ja, wenn Dumas’ Drama nur insoweit mit seiner
Gedankenwelt im Zusammenhang stiinde wie das der primitivsten Englin-
der, gibe es méglicherweise auch kein gutes Drama, es ware jedoch, wenn
auch in geringem Mage, organisch.
Das franzésische Tendenzdrama ist in seinem Ausgangspunkt anorganisch,
also unkiinstlerisch. Es wollte neue Gedanken im Drama ausdriicken und
iibernahm unverandert eine Form, die nicht ausdriicklich fiir die Darstellung
solcher Inhalte entstand. Es sah und suchte nicht danach, ob diese Form fir
den Ausdruck seiner Inhalte geeignet sei. Es ist erwiesen, daf sie es nicht
war. Damit ist aber die Frage des Wertes des franzésischen Tendenzdramas
noch nicht ganz entschieden. Wenn es auch seinen gedanklichen Inhalt nicht
organisch ausdriickt, kann es - eventuell - dennoch vollkommen dramatisch,
also kiinstlerisch sein. Und tatsichlich war die sogenannte franzésische
Technik lange Zeit fast ausschlieSlich die Form des modernen Dramas. Sie ist
es noch in vieler Hinsicht auch heute in Frankreich, England und in Ungarn.
Vielleicht verschwand sie nur bei den Deutschen und bei den Vélkern im
Norden endgiiltig aus der ernsten Literatur.
IV Das franzésische Tendenzdrama 187
Wir kennen das Wesen dieser Technik: méglichst viele Situationen von
starker Wirkung — der offizielle Fachausdruck dafiir ist »scéne a faire« - in
méglichst schnellem Nacheinander zu bringen. Die erste Aufgabe besteht
also darin, die Faden der Handlung méglichst schnell zu verwickeln, das
Publikum von der ganzen Vorgeschichte méglichst frih zu informieren und
die Hauptdarsteller des Dramas so bald wie méglich zusammenzubringen.
Scribe hatte fiir die Exposition eine sehr bequeme Methode: der erste
Aufzug diente nur dazu, das Publikum mit allem bekannt zu machen, das
eigentliche Stiick beginnt erst nachher. Das ist natiirlich eine etwas zu
primitive Lésung, wenn auch die Pariser sie durch Jahrzehnte hindurch
akzeptiert haben; das modernere Drama mufte - nicht aus dramatischen,
kinstlerischen Griinden, sondern weil es auf ein erregbareres und blasiertes
Publikum wirken wollte — fiir eine aufregendere und interessantere Exposi-
tion sorgen, oder wenn es nicht méglich war, mufte die Handlung schon im
ersten Aufzug einsetzen. Die Information des Publikums geschieht auch hier
noch so einfach wie méglich. Rémonin und Mauriceau treffen sich nach 23
Jahren (»L’Etrangére«) und was ist da natiirlicher, als daf sie einander in
einem langen Gesprich alles erzahlen, was zum Verstandnis fiir das Folgende
nétig ist. Genau so ist auch - um mich nur auf die auffalligsten Beispiele zu
beziehen - der Dialog Barantins und Valmoreaus beschaffen, der das Stiick
erdffnet (»Les Idées de Madama Aubray«), in dem wir iiber alles, iiber
Jeannine, iiber die Familie Aubray ganz genau informiert werden. Der
andere Zweck der Exposition ist es, die Menschen, die zum Drama benétigt
werden, zusammenzubringen; hier geht die Exposition in die eigentliche
Handlung iiber. In einem solchen franzésischen Stiick kommen viele Men-
schen der verschiedensten Interessenkreise, oft der verschiedensten gesell-
schaftlichen Stellung zusammen und deshalb haben sich die Dichter sehr
viele Kniffe ausgedacht, um diese Schwierigkeit zu bewiiltigen. Ein solcher
Kniff ist in erster Linie der neutrale Ort, namentlich das Musikzimmer eines
Badeortes, eine Spielhdhle, Gesellschaft usw. Es gibt kaum ein Stiick aus
dieser Zeit, falls sich das Drama nicht véllig innerhalb einer Familie abspielt
(z. B. »Le Gendre de Monsieur Poirier«), wo ein solcher Ort nicht auch
6fters vorkame. Hier kann natiirlich das ganze Personal bequem zusammen-
treffen, und wenn vom Gesichtspunkt des Dramas her eine groSe Szene
zwischen einem gewissen Paar nétig ist, dann gehen die anderen schén
hinaus, entweder spielen sie Karten oder trinken Kaffee oder ... denn in
grofer Gesellschaft kann man immer einen Grund finden, um ungelegene
Personen zu entfernen. (Vielleicht ist es in dieser Hinsicht am lehrreichsten
188 Die geschichtlichen Voraussetzungen
den m. Aufzug von »La Contagion« zu lesen.) Aber noch einen grofen
Vorteil bietet die groBe Gesellschaft: am Ende des Aufzuges, wenn die
Aufregung den Siedepunkt erreicht, wenn die grofe Szene da ist, gibt es
Zeugen, vor denen man entweder die Aufregung niederkimpfen muf, oder
die Leidenschaft bricht vor ihnen eventuell um so stirker aus. Wenn eine
Privatwohnung der Schauplatz des Aufzuges ist, dann ist die Lage scheinbar
etwas schwieriger. Aber es scheint nur so, denn auch hier gab es viele und
sehr wirkungsvolle Lésungen. Ich zihle einige auf: es ist niemand von den
Bewohnern zu Hause, sie werden erwartet und in der Zwischenzeit erledi-
gen die Wartenden ihre Angelegenheiten, wenn diese auch sehr wichtig sind,
wenn man sie auch jede Minute unterbrechen kénnte und es gefahrlich,
verhingnisvoll wire. (Z. B. die Unterhaltung zwischen Olivier und Ray-
mond in der Wohnung Susannes.) Wenn in der vorherigen Szene jemand von
den Gastgebern bendtigt wird, in der nichsten jedoch nicht, so mu& er
entfernt werden. Die Tochter oder die Frau haben stets hausfrauliche
Pflichten, der Ehemann hat immer irgendeine Arbeit. So ist der erste Aufzug
von »Les Effrontés« beschaffen, wo der Marquis Vernouillet in der Woh-
nung Chamiers einen Rat gibt, der fiir sein ganzes Leben, fiir den ganzen
Gang des Stiickes von entscheidender Bedeutung ist, indem er fiir die Dauer
dieser - aber nur dieser - Szene Chamier entfernt. Wie iiberhaupt die
Menschen - und das kénnte man an vielen Beispielen illustrieren — in diesen
Stiicken ganz offensichtlich so kommen und gehen, wie der Dichter es
bendtigt. Ein seelisches Motiv fiir ihre Auftritte oder ihre Entfernung gibt es
nicht.
Man muf natiirlich auSerdem die zwischenmenschlichen Kontakte erleich-
tern. Bei schwerfalligen, verschlossenen, miftrauischen, wortkargen Men-
schen oder bei solchen, die eine viel zu differenzierte Seelenwelt und
Feingefiihl besitzen, dauert es lange, bis der eine mit dem anderen in eine
Beziehung kommt, in der er ihm seine Sorgen sofort erzihlt oder sich fiir die
Angelegenheiten anderer zu interessieren beginnt. Hier tragt ein jeder
Mensch sein Herz auf der Zunge und erkundigt sich warm nach den
Angelegenheiten des anderen. Sie freunden sich schnell an, natiirlich ohne
daf sie von tiefer seelischer Gemeinsamkeit oder von einer schon unertriigli-
chen Einsamkeit gezwungen waren, also ohne da& sie einen besonderen
Grund dafiir hitten. Raymond ist nach der ersten Begegnung ein innig guter
Freund Oliviers, er erzahlt ihm — was nur technische Griinde hat — seine
Gefiihle Susanne gegeniiber, seine ganze Lage. Die anderen Menschen sind
nicht minder offenherzig; de Ryons erzahit ganz programmatisch, daf er ein
IV Das franzdsische Tendenzdrama 189
Frauenfreund sei und was alles damit zusammenhinge; genauso offen er-
zahlt Noémi (»L’Etrangére«) Cathrine die Geschichte ihres Lebens. Einan-
der gegeniiber sind sie genauso ehrlich; z. B. Albertine (»Le Pére Prodigue«)
beschreibt schén den ganzen Charakter des Herrn de Tournas, fiir ihn - oder
vielleicht fir das Publikum? Diese Menschen schrecken nicht einmal vor
einer kleinen Geschmacklosigkeit zuriick (und zwar diejenigen, die der
Dichter nicht als geschmacklos zeichnen wollte), z.B. die Rihrseligkeit
Camilles und seiner Mutter vor Fremden (»Les Idées de Madame Aubray«).
Die Technik erfordert manchmal auch ein wenig Indiskretion, wie wiirden
wir sonst erfahren, was zwischen zwei Aufziigen geschah? Dazu ist z. B.
ndtig, da8 Montégre (»L’Ami des Femmes«) das letzte Stadium des zwischen
ihm und Jane sich abspielenden Liebesromans Frau Leverdet erzahit. Sogar
die Feinde sind offen zueinander: sie proklamieren ihren ganzen Kriegsplan:
wenn du das machst, werde ich das tun usw. (Olivier und Susanne). Um
notwendige Situationen zustande zu bringen, schrecken sie spater auch nicht
vor den gréSten Unwahrscheinlichkeiten zuriick. Wir erwahnten den Ari-
stokraten, der sein ganzes Vermégen Clara Vignot hinterli&t (»Le Fils
Naturel«). Ahnlich verhilt es sich in »Diane de Lys«, wo die Heldin mit
cinem Menschen, der ihr gleichgiiltig ist, - ganz entgegen ihrer Gewohnheit
~ ein Stelldichein im Atelier des Helden hat; Handschuhe, ein Brief usw.
lassen sie einander interessant erscheinen. Und eine vollkommen uamégliche
Begegnung (einer ihrer gemeinsamen Freunde ruft Paul spat am Abend von
der Strafe in die Wohnung) bringt sie zusammen. Noch auffilliger ist es in
»La Contagion«, in dem der alte Chellebois am Anfang des Stiickes einen
Brief verliert; sein Sohn findet den Brief und vergift ihn zuriickzugeben; er
wird von einer eifersiichtigen Dame aus seiner Tasche gestohlen, da sie
glaubr, daf jemand den Brief an den Jungen gerichtet hatte. Und diese Sache
spielt - wie wir sehen werden — im Leben eines dritten Menschen eine
entscheidende Rolle.
Die gro8en Szenen, die iiber den Erfolg der Sticke entscheiden, in deren
Richtung sich das Drama stets bewegt, die vom Dichter mit tausend kleinen,
geschickten Griffen hinausgezdgert werden, um die Spannung zu steigern,
arbeiten mit zweierlei Mitteln. Einerseits mit rein rhetorischen Ausbriichen
und ZusammenstiSen, andererseits mit einigen unerwarteten Wendungen,
z.B. mit dem Bekanntwerden eines Geheimnisses, mit der Lésung eines
Dilemmas, mit dem Entkommen aus einer schwierigen Situation. Diese zwei
Mittel spielen freilich in der Regel eine gemeinsame Rolle. Man kénnte
sagen, daf es keine solche Szene in dieser ganzen Literatur gibt, in der die
190 Die geschichtlichen Voraussetzungen
rhetorischen Mittel nicht eine kleinere oder gréfere Rolle spielen. Eine rein
rhetorische Hauptszene kommt aber — unter den entscheidenden — selten
vor. Und das ist auch selbstverstindlich. Zwei Menschen gehen in einer sehr
zugespitzten Situation aufeinander los, um sich beklagen und austoben zu
kénnen, um einander die Meinung sagen zu kénnen. Eine solche Szene kann
natiirlich meistens nur kurz sein, sonst ware sie sehr einténig, ohne jede
Bewegung, ohne Weiterentwicklung; interessant kénnen solche Szenen nur
durch gegenseitige, intensive seelische Wirkungen werden, und hier ist
davon iiberhaupt keine Rede. Deshalb stehen solche Szenen auch gewdhn-
lich am Anfang der Stiicke, z.B. die Szene zwischen Thouvenin und
Fernand (»Denise«). Eine solche Szene wird interessanter, aufregender,
wenn sie in einem entscheidenden Augenblick unterbrochen wird, beson-
ders, wenn die Dinge, die sonst einfach zur Sprache kommen, mit Hilfe der
unterbrechenden Szene eine gréfere Bedeutung gewinnen. So ist z. B. der
zweite Aufzug von »Le Fils Naturel« gestaltet. Jacques erfuhr, da er ein
uneheliches Kind ist. Er rast nach Hause, er muf alles von seiner Mutter
erfahren. Sie will ihm gerade alles erzahlen, als Sternay dazwischenkommt.
Es gibt eine gro®e Szene zwischen Vater und Sohn, Sternay erwahnt
verdachtigend, woher Jacques und seine Mutter ihren Reichtum hitten.
Dann kommt Clara usw. Hier ist es ganz klar, wozu die Unterbrechung
dient: wenn Clara einfach alles ihrem Sohn erzahlen wiirde, was von einem
duGeren Zufall verhindert wird, gabe es keine Wirkung, wahrend sie sich auf
diese Weise einstellt. Die unerwarteten Wendungen werden meistens von
jemandem bewuft vorbereitet, damit das an den Tag kommt, was alle so
aufgeregt erwartet haben. Das ergibt sich manchmal aus den Situationen,
ohne da die Figuren es beabsichtigt hatten. So ist der Schlu8 in »Les Idées
de Madame Aubray«. Frau Aubray will, da8 der leichtsinnige, nun aber
reuige Valmoreau Jeannine, diese tapfere gefallene Frau heiratet. Es stellt
sich heraus, daf der Sohn der Frau, Camille, Jeannine liebt und heiraten will.
Jetzt wiedersetzt sich die Frau plétzlich der Sache. Was ist die Lésung?
Jeannine wagt nicht einmal an dieses Gliick zu denken, sie glaubt, sie
verdiene es nicht und sagt deshalb zu Camille, um ihn zu enttduschen: »Der
Fehleritt, den Sie mir vergeben [. . .], ist nicht der einzige, den ich begangen
habe.« Frau Aubray kann so viel GroSmiitigkeit nicht widerstehen: »Sie
liigt! Heirate sie, mein Sohn!« und ~ das Stiick ist aus.'*? Meistens wird aber
das Schicksal der Menschen durch bewufte Intrigen, durch gut- oder
schlechtgemeinte Fallen entschieden. So stellt Olivier mit einer Scheinnach-
richt Susanne eine Falle, um seine wabre Persdnlichkeit aufzudecken, um fiir
IV Das franzésische Tendenzdrama 191
Raymond nicht mehr gefahrlich zu sein. Das gutgemeinte Pendant dazu ist
der Schlu8 von »Francillon«: die Tauschung Frau Smiths, mit der sie die
Wahrheit aus Francillon herauslockt. Es hingt alles an einem diinnen Faden,
wenn sie nur eine Minute spater eingreifen, ist alles zu Ende.
Der Zufall spielt somit eine ungeheuer grofe Rolle. André (»La Contagion«)
ist bereits moralisch verloren, als ihm in einer sehr seltsamen Gesellschaft ein
Brief seiner Mutter in die Hinde fillt, der durch eine Kette von Zufillen
hierher gelangte. Sehr oft ist aber nicht nur die Lésung auf einem solchen
Zufall aufgebaut, sondern das ganze Stick und das Interesse kommt dadurch
zustande, wie der beliebte Held oder die Heldin dieser Situation entrinnen
kann (»L’Ami des Femmes«). Die Uberraschungen jagen einander natiirlich
in schneller Folge. Nachdem jemand von der Wahrheit der Nachricht
tiberzeugt ist, handelt er in ihrem Sinne, und es stellt sich nur dann heraus,
da sie nicht wahr war, als es schon fast zu spit ist (Diane de Lys). Und man
kann es nicht stark genug betonen, daf diese Zufille, Uberraschungen, diese
zugespitzten Situationen nicht der Ungeschicklichkeit des Autors entsprin-
gen, daraus, daf er seine Menschen nicht anders aus den selbstgeschaffenen
Situationen befreien konnte. Nein, es ist alles mit klarer, mathematischer
Prazision gemacht. Fiir diese Situation wurde das Stiick geschrieben. Das ist
das Ziel, in dessen Richtung es sich dringt. Rémonin (»L’Etrangére«) ist
schon am Anfang des Stiickes iiberzeugt, da& Cathérine nichts zustofen
kénne, der Ehemann werde schon irgendwie aus dem Wege geschafft. Und
am Ende des letzten Aufzuges wird Septmonts tatsichlich von Clarkson
ermordet.
Die Menschen sind in diesen Stiicken bekleidete, mit Namen versehene
Roboter. Ihre Aufgabe ist innerhalb des Stiickes mit der groStméglichen
Prizision bestimmt: wenn sie ihre Aufgaben erledigt haben, diirfen sie
verschwinden, sie werden nicht mehr bendtigt. Sie sind wie die Rader der
groBen Maschinen, sie drehen sich und damit bewegen sie die Maschine, ein
tigenes Leben haben sie nicht.
Einzelne Gestalten werden ausschlieSlich von der Technik erfordert. Ihr
ganzer Charakter wird dadurch bestimmt, daf sie eine - vom Gesichtspunkt
der Handlung her - wesentliche Sache verrichten miissen. Pinguet z. B. hat
die Aufgabe, den mit Francillon verbrachten Abend so zu erzihlen, da& wir
daraus nichts Bestimmtes erfahren. Eigenschaften besitzt er nur, um diese
Aufgabe erfiillen zu kénnen. Das technische Erfordernis brachte die Gruppe
der Freundinnen und aller anderen Vertrauten zustande. Kassner stellte zwar
als gro&e Neuerung Diderots fest, da er im Drama den Vertrauten abschaff-
192 Die geschichtlichen Voraussetzungen
te", aber dieses Drama, das in so vielen Hinsichten ihn weiterfiibrt, folgt
hier den iltesten franzésischen Traditionen. Dieses Drama kehrt im Gegen-
satz zur Tendenz des seelisch Kompliziert-Werdens, was dort durch Dide-
rots Anfange ausgedriickt wurde, zur gréStméglichen Vereinfachung der
Charaktere und Verhiltnisse, zu ihrer Zusammensetzung aus wenigen Zi-
gen zuriick, um die wirkungsvollen Szenen bequem gestalten zu kénnen.
Die-Aufgabe dieser Vertrauten ist einerseits rezeptiv: sie miissen all das, was
der Held oder die Heldin iiber den eigenen Seelenzustand berichtet, anhé-
ren, andererseits haben sie die Aufgabe, sie mit guten Ratschlagen zu
versehen. Ihr Charakter ist also ein fiir allemal von ihrer Situation bestimmt:
er umfaft Giite, Klugheit, Reife und nichts anderes. Und nachdem es in sol-
chen Verhiltnissen nichts Individuelles gibt, besitzen sie alle diese Eigen-
schaften, sie unterscheiden sich also nur durch ihre Namen und durch einige
Kuferlichkeiten voneinander. Auch der Raisonneur wird von der Technik
erfordert: er verbindet das Stiick mit der Tendenz; er erklirt, was der
Dichter will. Dieser glinzende Salon-Sherlock Holmes kennt die Geheim-
nisse aller Herzen, er hat unerschépflich viel Geist, Giite und Nachsicht. Er
fiihrt die Intrige, hilt das Schicksal der Menschen in seiner Hand, manchmal,
wenn man schon denkt, da& nicht einmal er imstande sei, seinen Schiitzling
zu retten, schneidet er stolz den gordischen Knoten durch. Alles gelingt
diesem. Wundermenschen, nur eines nicht, — ein Mensch zu sein. In ihnen, in
ihrem dramatischen Auftritt erhalt die Stillosigkeit dieser Form sozusagen
die Form; sie sind der kiinstlerische Ausdruck dafir, daf die Form unkinst-
lerisch ist. Ihr Wesen ist der einzige Punkt, wo sich Form und Inhalt treffen,
wo die dichterische Aussage zu Form wird, aber diese Form ist nicht die
wahre Form, denn sie ist kein lebendiges, organisches In-Symbole-Fassen,
sondern eine einfache, im wesentlich rohe, nicht kiinstlerisch gewordene
Erzahlung des Inhaltes. Das Geistreiche erscheint hier nur als Schwulst, den
man sowohl in Gedanken wie auch in der Praxis leicht zu Tage bringen
kann. Der Raisonneur ist gewéhnlich schon infolge seiner Konzeption weit
davon entfernt, ein lebendiger Mensch dieser Welt zu sein. Obwohl seine
Lebendigkeit die einzig vorstellbare Méglichkeit wire, irgendeine Einheit
zwischen der Fabel und ihrer Tendenz, zwischen dem Drama und seinem
Problem, zwischen dem Inhalt und seiner Form zu schaffen. Wenn beide
sein tiefgreifendes Erlebnis waren, dann kénnten sie sich — wenn auch nicht
dramatisch ~ in der Einheit seiner Gestalt vereinen. Er hat indes nur
Verstand und Geist, aber kein Leben; er hat nur Worte und Einfille, aber
kein Erlebnis, und er kann auch nie eines haben. Die Hauptgestalten sind
IV Das franzésische Tendenzdrama 193
keine lebendigen, aus Fleisch und Blut und Nerven bestehenden Menschen.
Sie sind aus cinigen Eigenschaften zusammengesetzt, die von. Situationen
beherrscht werden, von den Situationen, durch die das Stick lebt. In dem
schon oft erwahnten »Le Fils Naturel« wird z.B. Sternays Charakter
- Schwiche und einige sympathische Ziige ~ dadurch bestimmt, daf er es
war, der Clara verfihrte und auch verlie8, er verdient aber doch keine
Verachtung, denn das wiirde auf diese Frau, die als Ideal gezeichnet ist, ein
schlechtes Licht werfen. Und es ist charakteristisch, da8 Augier, als er in
»Les Fourchambault« eine verwandte Situation bendtigte, in einem anderen
Milieu dieselbe Gestalt zeichnete wie Dumas.
Niemand hat Plaine, die aus spontanem Entschluf, aus starken Gefiihlen
hervorgegangen wiren. Alle Gestalten, die grofen ebenso wie die kleinen,
sind Sklaven des Nacheinanders der aufgebauten Situationen. Betrachten wir
nur das Schwanken und die Unsicherheit von Diane de Lys im rv. Aufzug,
wo es im ersten Augenblick vielleicht so scheint, als ob eine wirklich
schwache und nervése Frau gegen sich ankampfen wiirde. Die Situation am
Anfang ist, da8 sie mit ihrem Mann aus Paris abreist, um ihrem Vater ihre
Scheidung bekanntzugeben; der Aufzug endet damit, daf der Ehemann
Paul, dem Verehrer der Frau, erklirt, da8 er ihn, wenn er ihn noch einmal
bei seiner Frau finde, erschie8en wiirde. Wie gelangen wir hierher? Diane ist
verzweifelt, es gibt keine Nachricht aus Paris. Ihr Mann iiberredet sie, sich
wegen der Gesellschaft nur tatsichlich und nicht gesetzlich zu scheiden. Eine
ihre Freudinnen erscheint, sie bringt eine Nachricht iiber Paul: er wage es
nicht, die Verantwortung fiir die Sache auf sich zu nehmen, er schicke auch
den Ring zuriick, den Diane ihm gab. Er sei nun auf Grund der Uberredung
der Freundin gewillt, zu entsagen, und die Freundin teilt das dem Ehemann
auch mit. Aber plétzlich erscheint Paul: er sagte alles nur zur Tauschung, er
liebe sie, sie wollen zusammen fliehen. Sie brechen bereits auf, als der
Ehemann eintritt. Ich glaube es ist ersichtlich, da8 die sich hier in so kurzer
Zeit einstellenden starken Schwankungen nicht die Folgen des Kampfes der
zerrissenen Frauenseele sind, im Gegenteil, ein jeder neuer Plan ist die
logische Folge der gegebenen Situation. Die Schwankungen ergeben sich mit
tiner solch harten Logik aus diesen Situationen, daB, wenn der Autor nicht
drei Uberraschungen fir diesen Aufzug planen wiirde, Diane eine Frau von
starker, fester Seele ware; wenn ihm freilich drei Uberraschungen nicht
reichen und er fiinf oder sechs hintereinander bringt, wiirde dieselbe Frau
hysterisch, willenlos wirken. Wo ist also ihr individueller Charakter?
An alledem ist natiirlich viel beabsichtigt. Die Dichter wollten keine rein’
194 Die geschichtlichen Voraussetzungen
»qui ont besoin d’étre dominées [. . .]«.° Auch starke Gefiihle driicken sie
programmatisch und bewuft aus, so z. B. Osip in »Les Danicheff«: »Ne
pouvant en faire une femme j’en ai fait une sceur.«' Und selbstverstindlich
ist es unméglich, mit dieser genau abgezirkelten, mechanischen und nor-
mierten Sprache starke, spontane Gefiihle zum Ausdruck zu bringen. Un-
mittelbarkeit und Naivitit: das fehit den Gestalten Augiers und Dumas’ und
das ist der Grund dafir, warum man sie nicht als lebendig empfindet. Die
Leblosigkeit der dramatischen Gestalten ist keine Neuheit im franzésischen
Drama. Die Menschen der Tragédien waren immer Schemata, was dort
Iebendig ist, kénnte man nur in den Gestalten einiger Lustspiele finden.
Aber auch hier erreichen sie nie die Lebendigkeit der Menschen der grofen
germanischen Dramen. Wenn wir sie naher betrachten, sehen wir, wie starr
sie sind, was natiirlich nicht die gréBte Beweglichkeit ausschlieft, sie eilen
blo8 aus einer Situation in die andere, in Wirklichkeit geschieht nichts mit
ihnen, es wirkt nichts auf sie ein, was sie verwandeln wiirde. Und diese
Menschen sind bewu8t, schrecklich niichtern, was besonders bei den Frauen
auffallig ist. Darauf pflegt man zu antworten, daf die franzésische Frau eben
80 sei. Es ist méglich. Aber dann gibt es eine dramatische franzésische Frau,
denn Moliers und Dumas’ fils’ Frauengestalten sind gleichermafen bewuft,
und eine franzésische Frau, die im Roman lebt, die von Balzac oder Flaubert
gezeichnet ist, — ist mindestens so spontan, impulsiv, organisch wie die der
groften germanischen Poeten. Daf sogar die ernsten Stiicke der gréften
Franzosen kalt wirken, kann also keine spezifische Ursache haben. Die
wahre Ursache liegt in der Form des franzésischen Dramas, und deshalb
verhilt es sich so, da&, wihrend in der Romanliteratur von Rabelais bis heute
eine ganze Reihe von lebendigen Menschen erscheint, die Gestalten der
Dramen Schemata sind.
Diese Schematisierung war in der groBen Tragédie trotzdem die Quelle
gro8er Schénheit. Wenn auch ihre Steifheit, Feierlichkeit, ihre Rhetorik, die
wahren Aktionen ausschlieft, die Tragédie vieler Schénheit beraubt, konnte
sie mit diesem Verzicht gerade an den entscheidenden Stellen, in der letzten
tragischen Dialektik viel naher an héchste Werte gelangen als die Tragédie,
die nicht mit Schemata gearbeitet hat. Was Corneille und Racine in ihren
unvollkommenen Dramen von diesen Werten entfernt, ist die Tatsache, da
sie ihre eigene Technik nicht radikal genug zu Ende gefiihrt haben; auch die
Fehler ihrer vollkommensten Tragédien entstehen eher trotz ihrer Aus-
drucksweise als wegen dieser, was durch das Beispiel ihres Nachfolgers
Alfieri, der vielleicht groSer ist als sie, glinzend bewiesen wird. Ihre
196 Die geschichtlichen Voraussetzungen
Tradition blieb aber ohne ihre wahren Werte erhalten. Es ist jene — trotz
allem — tiefe und wirklich tragische Weltanschauung verlorengegangen, auf
die das Drama gebaut wurde, deren starke Dialektik ein dramatisches Leben,
wenn auch kein menschliches, in die im Mittelpunkt der Konflikte stehenden
Menschenschemata brachte, deren rhetorisches Pathos die Ausbriiche der
Gefiihlsabstraktionen bis zu den tiefsten tragischen Schauern zu steigern
imstande war. Auferlich blieb natiirlich die Tradition bis heute erhalten,
indem sie auf den Spuren Corneilles und Racines leblose Schemata produ-
ziert. Dieses Drama hat nur negativ mit ihnen zu tun: dadurch, da& die
Stilisierung dieses Dramas auf den gleichen Grundlagen aufgebaut wird: auf
der Situation und nicht auf dem Charakter; dadurch, da& die gleiche
Richtung der Ausdrucksweise vorherrscht: Rhetorik und keine Psychologie.
Und von diesem Gesichtspunkt her gesehen stellt auch das Drama der
Romantik, wie wir vorher zeigten, keine wirkliche Neuerung dar. Hier
handelt es sich um die Analogie des Gegensatzes zwischen Freiluft- und
Ateliermalerei, und die Romantik brachte im Vergleich zum Klassizismus
lokale Farben, die nur untereinander im starkerem und lebhafterem Gegen-
satz stehen. Das Problem wire aber hier gerade die Auflésung der lokalen
Farben. Das franzdsische klassizistische Drama erhilt seinen hauptsachlich-
sten Wert durch die duferste Zuspitzung seiner Dialektik. Dieses Drama
schlieBt aber jegliche Dialektik aus, denn sein Ziel besteht nicht darin, eine
im Leben empfundene Dissonanz bis zum Letzen zu spannen, sondern im
Gegenteil darin, die gegensatzlichen Krafte im Leben auszugleichen, dort,
wo es scheinbar keine Lésung mehr gibt, Kompromisse, Lésungen zu
finden. Dieses Drama ist also in seinem Wesen antidialektisch und je starker
darin die formale Dialektik, das rhetorische Duell der gegensitzlichen
Meinungen, ist, je gro8eren Platz sie darin einnimmt, um so antidialektischer
ist es. Denn dieser Kampf ist nur ein Gang zwischen hervorragenden
Fechtern zur Unterhaltung eines vornehmen Publikums; der Kampf selbst
ist nicht ernst: vor und nach dem Fechten geben einander die Gegner die
Hand und man sieht immer, da sie Kopfschutz tragen und sich ein Knopf
am Ende ihres Floretts befindet. Der Kampf kann nicht ernst sein, denn
diese Dichter schrieben zum Schutz gerade der biirgerlichen Gesellschafts-
ordnung, deren Ubel sie erblickten. Sie sahen nicht die wahren und tiefen
Ursachen der Ubel, die sie bemerkten, weil sie diese weder sehen wollten
noch sehen konnten, sie sahen nicht, da& diese Ubel nur Symptome sind
(wogegen das groSe deutsche Drama nur das Symptomatische sah). Nie-
mand unter ihnen dachte an die Problematik der Grundlagen, auf denen sie
IV Das franzésische Tendenzdrama 197
standen, Niemand dachte daran, denn das hatte zur Tragddie fiihren miissen,
und was lag diesen Dichtern ferner als mit ihr konfrontiert zu werden? Denn
diese Dichter reprisentierten ja das Biirgertum des zweiten Kaiserreichs in
Paris. Sie griffen zwar dieses Biirgertum scharf an, sie driickten aber dessen
Gefihle aus, sie verdanken ihre grofen und dauernden Erfolge der Gefiihls-
gemeinschaft mit diesem Biirgertum. Sie sahen stets nur ein einziges tatsach-
liches Obel, und das wollten sie auch nicht als endgiiltig, als unheilbar
ansehen, sie glaubten sogar das Heilmittel in ihren Dramen selbst zu finden.
Jede Situation, jede Verkniipfung ohne tragische Dialektik freilich ist will-
kirlich, und je willkiirlicher sie ist, desto weniger lebt der Mensch, der in sie
hineingestellt ist. Denn eine Situation an sich kann keine zwingende Kraft
haben: sie entstand immer nur durch zufillige Umstinde, und es hangt von
Zufallen ab, was aus ihr wird. Denn ein »Fall« erweckt immer cine zufallige
Wirkung; daf er nicht als Zufall wirkt, erméglicht nur die Anschauung, die
ihn nicht als einen Fall betrachtet, ihn in die Kette der Notwendigkeit
cingliedert. Das vermeidet - gréftenteils bewuSt — dieses Drama. Es will nur
Fille geben, nur pragmatisch begriindete Fille, die nicht einmal allgemein,
sondern nur irgendwie begriindet sein miissen; denn dort ist ja die Moral, die
Tendenz, die ihnen ihre allgemeine Bedeutung gibt.
Die Willkiirlichkeit ist somit das formale Wesen dieses Dramas. Wenn ein
Stiick nur auf pragmatisch begriindete und verkniipfte Situationen aufgebaut
ist, braucht es Intrigen, um zu diesen Situationen zu kommen. Es bendtigt
untereinander kimpfende Willensgruppen, die sich in augeren Handlungen:
in Fallenstellen, Intrigen, in gegeneinander gerichteten Kampfen offenbaren.
Der Erfolg einer jeden Intrige ist aus dem Gesichtspunkt des Intriganten und
des Zuschauers zufillig. Je gegliickter und geschickter, also je feiner und
raffinierter die Intrige ist, desto mehr Gliick (Zufall!) ist dazu ndtig, um
Erfolg zu haben. Diese Zufalle hingen natiirlich immer von der Willkiir des
Dichters ab, der nach Belieben itber sie disponiert und nur das Ziel vor
Augen hat, zur Situation zu gelangen. Er baut das Ganze und jedes Moment
sehr genau auf und rechnet alles mit mathematischer Prazision aus, das
Ganze erweckt den Eindruck eines sehr feinen Stoffes mit schén und genau
hineingewobenen Muster, es hing aber von der Willkiir des Dichters ab,
welche Muster er in den Stoff hineingewoben hat. Ein solches Drama kann
also nie eine starke und tief fesselnde Wirkung haben, denn das Wesen der
dramatischen Wirkung entsteht durch das Gefiihl der Notwendigkeit, die
unbedingte Folge dieser Form ist aber die Willkiirlichkeit. Eine Notwendig-
keit kann dem Drama nur die grofe Dialektik, eine begrenzte, aber doch
198 Die geschichtlichen Voraussetzungen
(aber auch nicht dessen notwendige und einzige Form). All das, was an der
Intrige im ernsten Drama Brutalitét war, wird hier nicht bendtigt; das
Geistreiche hangt hier nicht nur nebensichlich am Stiick, sondern kann auch
organisch ins Stiick gelangen. Die Intrige wirkt nicht so aufdringlich, wenn
man sie bewuft, mit einer gewissen ironischen Grazie fiihrt, denn stark
komische Situationen erlauben die Unwahrscheinlichkeit der Vorgeschichte
eher als tragische. Die Glitte der Sprache ist hier weniger gefahrlich,
hauptsachlich deswegen, weil der Ton des Lustspiels ihre Rhetorik ohnehin
abstumpft. Und da allgemein bekannt ist, daf es leichter ist, ein Individu-
um komisch zu gestalten als dramatisch, sind hier die Menschen weniger
schematisch als dort; aber auch sonst ware ihre Starrheit, also ihr Chargen-
charakter, weniger stérend als die der tragischen. Und bis heute blieben
einige Meilhac-Halévy- oder Pailleron-Komédien lebendiger und frischer als
alle ernsten, groSen Dramen der Epoche.
Wenn also das franzésische Drama von Anfang an undramatisch ist, kann
jetzt noch eine Frage auftauchen, nimlich die, warum die grofen Dichter,
die von der franzésischen Literatur im vergangenen Jahrhundert in so grofer
Zahl hervorgebracht wurden, die Stendhals und Balzacs, die Constants und
Flauberts, nicht versucht haben, mit ihren neuen, modernen, auch im Ro-
man dramatisch wirkenden Gestalten die Biihne zu erobern, sondern sie
lieber kleineren, von ihnen gering geschitzten Menschen iiberlieSen; da8
das, was sie fiir die Bihne geschrieben haben wenig, unbedeutend und nur
im Ansatz gut war. Wir finden hier gerade die gegenteilige Lage vor wie in
Deutschland. Die Biihnentradition — denn man darf nie vergessen, daf seit
Scribe, sogar in vieler Hinsicht auch vor ihm, dieses Drama die Bihne
beherrscht hat, und zwar ernsthaft, stark und ausschlieflich ~ erlaubte es
keinem anderen Drama, daneben auch eine Geltung zu erlangen. Die Grife
der franzésischen Kultur, namlich, da8 die einmal erlangten Werte in ihr nie
mehr verlorengehen (was vielleicht in der Malerei am meisten zu bewundern
ist), verhinderte an diesem einen Punkt die dramatische Kultur, Zwar kannte
man bereits Shakespeare (und teilweise Schiller und Goethe), er blieb aber
ohne Wirkung, vergebens wurde er Stendhal, mit seinen bewuften Proble-
men Racine gegeniibergestellt, im lebendigen Gefiihl waren Drama und
Bithne doch verbunden, und das war eben in Paris vorhanden. Frankreich
hatte — gerade wegen der lebendigen Kraft dieser Tradition - kein Buchdra-
ma und kein Drama, das von der Biihne abstrahiert war; seine Dichter
kannten kein abstraktes, vom wirkungsvollen Drama ganz unabhingiges
und vollkommen verschiedenes Drama: das Drama. Wenn die grofen
200 Die geschichtlichen Voraussetzungen
Sensationen hungrige Publikum, das deshalb das schlimmste sei, nicht gleich
wirke — das sei schlecht. Sie trennen deshalb die Bihnenliteratur von der
sonstigen Literatur, sie nehmen in ihr ganz andere Wertungen vor. Sie sagen
z. B. auf Grund der Tradition (was hier eine 20-3ojahrige Praxis bedeutet),
da8 der komplizierte Mensch nicht auf die Biihne gehére und das Publikum,
das natiirlich das Simple mehr liebt als das Komplizierte, jubelte, wenn es die
wissenschaftliche, asthetische Begriindung dafiir las. Die Schauspieler waren
natiirlich den Stiicken ahnlich, und die Stiicke wurden fiir die Schauspieler
geschrieben. Es gibt keine kleine Gestalt, die nicht wenigstens eine kleine
Tirade hatte; eine andere Rolle hatte sie eventuell iiberhaupt nicht, sie hatte
aber eine Tirade. Wir sehen sie nur, wenn sie vor den Souffleurkasten tritt,
um ihre Diktion herunterzuleiern, sie wartet noch auf den Applaus und
verschwindet dann. Die groSen Rollen sind natiirlich blo& fiir wirkungsvolle
Auferlichkeiten geschrieben. Diese Schauspieler aber verdienten und
wiinschten kaum etwas anderes. Ich will jetzt nicht iiber Antoine oder iiber
die Goncourts sprechen, aber wir lesen z. B., wie sehr Porel am Anfang der
Soer Jahre iiber seine Schauspieler klagte, wenn er eine einigermafen gute
Vorstellung auf die Beine stellen wollte, wir lesen, da Sarcey eine Schau-
spielerin schnitt, weil sie die Susanne D’Ange natiirlich spielte und nicht die
Intrigantin unterstrich und wir sehen wie sehr dieses Drama, seine Biihne
und seine Schauspielkunst alle Bediirfnisse befriedigt hat. Wie sehr auch
einige Bahnbrecher, einige, die abseits standen, dagegen ankampften, wenn
auch seine besseren Vertreter nicht nur einmal das Gefiihl hatten, da es eng
und fiir den Ausdruck menschlicher Dinge ungeeignet sei. Etwas positiv
Neues vermochte jedoch niemand dagegen zu setzen. Die grofen franzési-
schen Romanciers wollten nur so »en passant« die Biihne erobern und wo
solch starke Konventionen vorherrschten, konnte das nicht gelingen. Sie
zogen sich also von der Biihne zuriick und hielten sie fiir minderwertig. »Le
Theatre tel qu’ on entend de nos jours n’a rien de litéraire«, sagte Théophile
Gautier, der durch lange Jahre hindurch Pariser Biihnenkritiker war.”
Es ist aber auch natiirlich, da8 diese Form zum Erfolg kam. Sie war modern,
indem sie alle Fragen des taglichen Lebens ins Drama einbezog, sie war
wirkungsvoll und ihre Technik war erlernbar; fiir die Schauspieler bot sie
gute, leichte, aber schwer und interessant erscheinende Aufgaben. Diese
Technik herrschte bis zum Anfang der goer Jahre uneingeschrankt, und sie
dominiert auch heute noch in den Programmen der Theater, nur ist sie
kinstlerisch bereits iiberholt. Selbstverstindlich wirkte sie am starksten und
dauerhaftesten in der verwandten italienischen und spanischen Literatur.
202 Die geschichtlichen Voraussetzungen
Drittes Buch
Wenn wir die moderne Tragédie streng historisch von allem Alten trennen
wollen, beginnt sie mit Hebbel. In Hebbels Theorie und in seiner dramati-
schen Form wird der neue Inhalt der tragischen Schemata und die die
Schemata modifizierende Bedeutung der neuen Inhalte bewuSt. Gewif,
seine Hauptwerte erstrablen in zeitloser Erhabenheit - wie die aller groSen
Dichter; - und dennoch kann man bei ihm nicht, wie z. B. bei Alfieri, alles
einfach als Rohstoff betrachten, was seine Epoche ihm gab. Als einen Stoff,
der nur als geformter Stoff von Bedeutung ist, den - wie Schiller zu sagen
pflegte - die Form vernichtet hat; wenn wir ihn dennoch spiiren, stért er
blo& beim Genuf der einsamen Erhabenheit der groSen Kompositionen. Bei
Hebbel wurden die Dialektik und die tiefsten Dissonanzen des neuen
Lebens zur tragischen Vision: seine Form ging aus den Inhalten des neuen
Lebens hervor. In seiner Weltbetrachtung laufen Leben und Form in einem
Zentrum zusammen, alle Probleme aller anderen Dichter lésen sich in der
Kraft der spontanen kiinstlerischen Vision auf. Goethe, Schiller und die
spiteren Dichter suchten abstrakte Formen, in die das, was sie dem Leben
entnahmen, was in ihrer Menschen- und Weltbetrachtung schon Heutiges,
schon neu war, manchmal einfiigbar war, manchmal nicht. Bei ihnen wuch-
sen Tragédie und Weltanschauung nicht aus einer Wurzel, deshalb muften
alle ihre auf diese Weise konstruierten Tragédien problematisch sein. Denn
die Grundlage und die letzte Ursache der Welt, die von der Kunst geschaffen
und umgrenzt wird, kann nur die Weltanschauung sein, nur diese kann in
diesem Mikrokosmos die im Leben herrschenden Gesetzmiafigkeiten erset-
zen. Eine vollkommene, unproblematische Tragédie kann also nur dann
entstehen, sie ist sogar nur dann iiberhaupt vorstellbar, wenn die tragische
Losung sich aus der Weltanschauung und Gefiihlswelt des Dichters mit
zwingender Notwendigkeit ergibt; die Tragédie ist modern, wenn sie orga-
nisch aus dem heutigen Leben emporwichst. Alles, was nicht aus der
Wekanschauung folgt, wirkt nicht notwendig, auch wenn es innerhalb des
204 Die heroische Epoche
Dramas pragmatisch gut begriindet ware. Und nachdem der Stoff des
Dramas das Leben ist und das einzige Mittel zur Stilisierung der Zusammen-
hinge die seelischen Méglichkeiten der lebendigen Menschen sind, muf mit
allen Problemen und Méglichkeiten des Lebens abgerechnet werden, damit
die Tragédie zu ihren Grundlagen gelangt. Zeitlose Tragédien gibt es nicht;
nur unsere tief unkiinstlerische Epoche zwingt sie den tief und kiinstlerisch
empfindenden Tragikern auf. Nur die Tragiker, die nicht in tragischen
Epochen geboren sind, versuchen ganz zeitlos, nur aus Grundgefiihlen
heraus, Tragédien aufzubauen — das gelingt jedoch nicht einmal Alfieri ganz.
Und in der heutigen Epoche gibt es tragische Konflikte, wenn auch ihr
Ausdruck dramatisch problematisch ist. Man kann also nicht an ihnen
vorbeigehen, man muf zu ihnen Stellung nehmen, man mu& mit ihnen
irgendwie abrechnen.
Hebbel gelangt zur Méglichkeit der modernen Tragédie. In allem anderen
ist auch er problematisch, er ist vielleicht der am fieberhaftesten Suchende in
der ganzen modernen Literatur. Vor ihm war jedoch die moderne Tragédie
blo& literarisches Experiment, wenn auch sehr oft wunderschéne Dichtun-
gen bei dieser Suche entstanden. Er war der erste, der iiber das bloke
Experimentieren hinausging, der erste, den man fortsetzen kann und auch
mu&, auf dem der Stil des modernen Dramas aufgebaut werden kann. Aus
seinem Leben wichst die Tragédie organisch hervor, das Tragikum ist bei
ihm, wie bei den Griechen, bei Shakespeare, eine aus dem Leben, aus der
Weltordnung sich unwillkiirlich entwickelnde Gesetzmafigkeit und keine
aus den alten griechischen, englischen und spanischen Tragédien abgeleitete
asthetische Regel. Deshalb beginnt die neue Tragédie mit ihm und nicht
deshalb, weil seine unmittelbare Wirkung so gro8 gewesen wire. Zu Lebens-
zeiten wirkte er auf einige junge, gréStenteils unbedeutende Dichter; nach
seinem Tode wurde er vergessen, und auf die Menschen der grofen naturali-
stischen und gesellschaftskritischen Bewegung hatte er, obwohl er bekannt
war, keine bedeutende Wirkung; nur unlangst, bei den jiingsten stilsuchen-
den Dichtern sind seine Ansichten, Einstellungen und Probleme immer ofter
gegenwartig. Auf Henrik Ibsen iibte er zwar in wichtigen Fragen eine starke
Wirkung aus, und viele Ibsen-Wirkungen sind eigentlich nur vermittelte
Hebbel-Wirkungen, aber Hebbels wirkliche Bedeutung in der Entwicklung
liegt anderswo; sie ist tiefer und gréfer, als da8 solche, in dieser Hinsicht ein
wenig kleinliche philologische Feststellungen, — da& er auf den so wirkte und
auf den anderen so — auf diese Bedeutung einen Einflu8 haben k6nnten.
Mit ihm hért die Grundproblematik der grofen deutschen Tragédie zu
V Hebbel und die Grundlegung der modernen Tragédie 205
existieren auf; freilich nur, um einer anderen, einer tieferen Platz zu machen.
Der Preis des Aufhérens der Problematik innerhalb des Dramas ist das
Problematischwerden der Wirkungsméglichkeit des ganzen Dramas. Denn
wie sehr auch die Grundlagen und das zusammenhaltende Element der
Dramen einheitlich und erlebt sind, ihre Einheit ist nur in den isolierten
Gefihlen eines isolierten gro8en Menschen vorhanden. Und gerade weil das
moderne Leben in ihm rein, restlos zu Form wurde, wurde seine Wirkung
auf die, die das Neue nur inhaltlich, nur in der rohen Empirie als neu
empfinden, fremder und bizarrer als die aller anderen. Schiller wurde durch
seme tiefste Stildissonanz popular, die groSten Vollkommenheiten seiner
allgemeinen Wirkung stehen Hebbel im Wege.
L
Hebbel ist der »toayixdtatoc« unter den modernen Dramatikern, viel-
leicht unter den Dramatikern aller Zeiten. Bei ihm suchen nicht seine Erleb-
nisse eine Form unter den vorgegebenen oder formen nach ihrem eigenen
Bild etwas, was ihnen nur in ihren Traumen vorschwebt, bei ihm ist die Trago-
die das a priori von allem. Das ist die einzige Kategorie, mit der er das Leben
und die Welt apperzipieren kann, das-ist die Form, in die sich alle Erlebnisse
seines Lebens unwillkiirlich einfiigen. Scheunert nennt diese Weltanschau-
ung treffend Pantragismus, er fiigt aber hinzu, daf es eine einseitige, auf das |
Drama zugeschnittene Lebens- und Kunstauffassung sei."“* Wie sehr auch
das in seinen Konsequenzen wahr ist, ist es Hebbel gegeniiber unberechtigt.
Hebbel war ein tragischer Dichter, er war der Dichter des Tragischen, bevor
er ein Drama geschrieben hatte; war ein tragischer Dichter, bevor er
iiberhaupt daran dachte, ein Drama zu schreiben. Es gibt Kiinstler,
fiir die die formalen Forderungen einer Gattung fiir ihr ganzes Leben a priori
sind, deren ganze Seele in einem Grade von den Forderungen irgendeiner
Form erfiillr ist und die Méglichkeiten dieser Form sie so umgrenzen, daf sie
nirgendwo etwas zu sehen imstande sind. Michelangelo ist der gro8te Typ
dieser Kiinstler, und in der Literatur steht ihm in dieser Hinsicht Hebbel am
nachsten. Denn mit derselben Kraft und AusschlieSlichkeit, mit der Michel-
angelo aus allen Felsen die in ihnen schlummernden Statuen heraustriumt
~er sah und malte sogar seine Bilder mit den Augen des Bildhauers - wurde
bei Hebbel alles tragisch, was in seine Nahe gelangte. Deshalb konnte er so
oft das Gefiihl haben, da8 eigentlich keine neue tragische Form notwendig
sei, da bei den Alten, bei Sophokles und bei Shakespeare schon alles
vorhanden sei; man miisse also nur noch nach den zehn Geboten leben, kein
206 Die beroische Epoche
elftes aufstellen. Auch bei ihnen nahm er in erster Linie das Grundschema
wahr, und im Leben traf er iiberall auf dasselbe Schema. Er sah das Pro-
blem der Tragédie und das Tragische aller Ereignisse so tief, da8 in
seinem Erlebnis das Schema und das einzelne Ereignis zusammenfielen: er
erlebte das Ereignis durch das tragische Schema, und alle wirklich tra-
gischen Schemata wirkten auf ihn mit der Kraft der unmittelbarsten Wirk-
lichkeit.
Die ausschlieBliche Form der Lebensbetrachtung Hebbels ist die innere
Abgeschlossenheit der Tragédie, ihre Abgerundetheit ausschlieflich von
innen her, ihre Beherrschtheit allein durch die innere Notwendigkeit; iiber-
dies, was schon viele betont haben, da der Inhalt dieser geschlossenen
Einheit das Zusammentreffen und die Verflechtung zweier sich kreuzenden,
gegensatzlichen Notwendigkeiten ist. Tausend Beobachtungen und epi-
grammartige Schicksalszusammenfassungen seines Tagebuches fiigen sich in
dieses Schema ein. Der Tod kann in seiner Lebensauffassung nur als etwas
erscheinen, das das Leben beendet, nur als der Tod, der die Tragédie
beschlie&t, das keine Wirklichkeit mehr, blo8 Symbol ist. Er ist das Symbol
dafiir, da8 etwas schon vollkommen zu Ende ist, da8 es schon alle Méglich-
keiten ausschépfte, sich zum Gipfelpunkt erhob, daf das Leben keinen Sinn
mehr hat. Der Tod ist nur ein Symbol in der Tragédie, so sehr, da er nicht
mehr unbedingt bendtigt wird; Hebbel schreibt bereits in seiner Jugend in
einem Aufsatz iiber Kleists »Homburg«, daf dort der Schatten des Todes,
die Schauer des Todes dieselben Gefiihle auslése, wie iiberall anderwo der
Tod selbst. Und sein Herodes, Herzog Ernst und Meister Anton miissen
auch nicht sterben, da ihr Leben auch ohne den Tod schon zu Ende
gegangen ist. Der Tod ist aber auch im Leben nur ein Symbol. Er kann nur
dann und zu solchen Menschen kommen, die innerlich schon mit allem fertig
sind: »{. . .] ich fiihle, da ich einem Wendepunct nahe bin;« schreibt er aus
Miinchen an Elise, »ich bin eben darum iiberzeugt, da Gott mich noch
nicht abrufen kann. Kein Mensch verlaft die Erde, solange sie ibn in Bezug
auf Geist oder Herz noch verindern kann; dies ist mir eine unumstéBliche
Wahrheit; der Tod hat nur Macht iiber das Gewordene, nicht iiber das
Werdende.«"® Der Tod ist nur ein Symbol: er ist das Symbol des inneren
Beendet-Seins. Hebbel besaf die Kraft, jeglichen Tod, der in sein Leben
niederschlug, von innen her abzugrenzen, abzurunden; ans Ende von etwas
zu setzen, iiber das hinaus nichts mehr vorstellbar ist. In seiner Jugend, als
seine Mutter, sein Freund Rousseau und sein kleiner Sohn starben, glichen
sich sein trotz seiner Weltanschauung ihm innewohnendes menschliches
V Hebbel und die Grundlegung der modernen Tragidie 207
Mitleid und seine Anhinglichkeit, sein Kampf, mit dem er der pantragi-
schen, heroischen Notwendigkeit von allem in die Augen sah, noch in
stirmischeren Krisen aus. Aber auf dem Gipfelpunkt seiner Entwicklung,
als es so schien, da& er sowohl duSerlich als auch innerlich endlich die
Frichte ernten kénne, die in den langen Kampfen seines Lebens heranreif-
ten, iiberlie8 er sich schon fast ohne Widerstand seinem Grundgefihl und
erlebte seine Tragédie bewuft. »Das ist Menschenlos«, sagte er, als man ihn
benachrichtigte, daf seine »Nibelungen« den Schiller-Preis erhielten, »bald
fehk uns der Wein, bald fehlt uns der Becher«."*' Und todkrank schrieb er
eines seiner schénsten Gedichte, »Der Bramine«, in dem er vielleicht noch
tefer und wahrhaftiger die religisse Ergebung in die groSe Notwendigkeit
ausdriickt, als in seinen Tragddien. Nimlich, da alles gut sei, was Schicksal
ist, da& der Mensch alles auf sich nehmen miisse, was unvermeidlich, weil das
menschliche Leben kein wahrhaftigeres Ziel hat:
Schliefen will ich meine Augen,
Denn ich kann den Wurm nicht sehen,
Aber ist ihm Macht gegeben,
Werd’ ich nimmer widerstehen.
Darf er mir das Leben rauben,
Muf er auch von seinen Wehen
Mich befrei’n, wie sollt ich zittern?
Mag, was kann und soll, geschehen.
'*?
Aus dieser Perspektive mu8 man Hebbels oft grotesk und bizarr, oft
ricksichtslos grausam klingende Lebensphilosophie betrachten. Leben und
Tod, Entwicklung und Untergang, Gipfelpunkt und Ende wachsen und
schmelzen in dieser Anschauung zusammen. Und das Drama und die
Tragédie wirken nicht mehr wie zwar hochwertige, aber doch nur literari-
sche Gattungen, sondern wie Lebenssymbole, wie Spiegelungen des Lebens,
des wahren Lebens, dessen Reinheit und Wahrheit nicht von tausend und
abertausend stérenden Kleinigkeiten der rohen Lebensempirie verdorben
wird. »Das Drama stellt den Lebensproze8 an sich dar«", schreibt er
¢inmal, und das bedeutet, da das Drama das Leben selbst ist, nur hochwer-
tiger, reiner als in der Wirklichkeit. Das Drama ist, was das Leben sein sollte;
das, was hinter den Erscheinungen als ihr Wesen verborgen ist, dessen
unvollkommene Manifestationen sie sind. Das Drama, die Tragédie ist das
platonische Ideal des Lebens. Deswegen haft er all das mit solch fanatischer
Kraft, was im Leben nicht dramatisch, was zufillig ist, was nur ein Fall und
nicht ein Teil des grofen Reigens ist, der von der Musik der Notwendigkeit
208 Die heroische Epoche
sches Problem nie auf. Seine tragische Welt war a priori vorhanden, und blog
je nach Eignung des zufillig in seine Hinde geratenen Stoffes, gelang ihm
¢ine Sache mehr und die andere minder gut. In dieser Welt herrscht eine
unerbittliche Notwendigkeit; niemand ist Herr seines Schicksals, alle tun,
was sie tun sollen, die Menschen werden von auferen und inneren uniiber-
windbar zwingenden Kriften getrieben. Seine Menschen werden, wie alle
modernen Menschen, viel starker von den tausendfaltigen Umstinden deter-
miniert als bei allen anderen Dramatikern, die sich ihnen widersetzenden
inneren Energien hingegen sind viel stirker. Diese Menschen sind in einem
Mae determiniert, da8 ihre Handlungen kaum vom moralischen Gesichts-
punkt beurteilt werden kénnen. Denn die Moral hat nur Menschen gegen-
fiber einen Sinn, bei denen es von ihrem freien Entschlu8 abhingt, ob sie
etwas tun oder nicht. Die Dramatiker spiirten schon lange, da8, nachdem sie
in ihren Dramen die Notwendigkeit des modernen Lebens suchten, die
traditionelle »tragische Schuld« immer problematischer wird; entweder wird
sie nur eine anorganische, dem Drama angehingte und iiberfliissige Zierde,
oder sie bringt darin einen inneren Widerspruch zustande. In Hebbels
Dramen ist der Begriff der Schuld unbekannt; wenn er auch manchmal
diesen Ausdruck gebraucht, erhilt er bei ihm schon einen ganz anderen Sinn.
Die wahre Beziehung zwischen Schuld und Strafe hat zwei — unausgespro-
chene — weltanschauliche Voraussetzungen: die moralische Weltordnung
und die Freiheit des Willens. Der Glaube des modernen Menschen an beide
wird immer starker erschiittert, und ohne diesen Glauben kann man nur mit
sehr auSerlichen, anorganischen, unkiinstlerischen Mitteln (Intrige usw.) die
Schuld und Strafe in Zusammenhang bringen.
Die neue Einheit, die an Stelle der sittlichen Weltordnung die Welt zusam-
menhilt, kann man kaum definieren. Hebbel selbst sagt einmal, daf Sittlich-
keit und Notwendigkeit identisch seien, ein anderes Mal sagt er, da8 die eine
Notwendigkeit der anderen gegeniiberstehe und gerade ihre Gegensitzlich-
keit die Tragddie ausmache."© »Die Idee der Gottheit reicht nicht mehr
aus«"', schreibt er an einer Stelle und sein vielzitierter Ausspruch, daf das
neue Drama sich gerade dadurch vom alten unterscheide, daf die dramati-
sche Dialektik hier in der Idee selbst enthalten sei, da selbst das Fundament,
das die Welt zusammenhiilt, problematisch geworden sei’, bedeutet fast das
Gleiche. In seinem Gedicht, »An den Tragiker«, schreibt er iiber beide
Notwendigkeiten:
»Wo das Gesetz, das ihn selbst erhalt, nach gewaltigem Kampfe
Endlich dem héheren weicht, welches die Welt regiert«'*
212 Die beroische Epache
Symbol dafiir, mit welcher Kraft der Mensch durch das, was ihn seit seiner
Geburt umgibt, was villig in sein Blut iiberging, beherrscht wird, daf eine
jede unwillkiirliche Entgegensetzung tragisch werden muf&. Die kleinbiirger-
liche Gebundenheit kénnte hier das Symbol der Gebundenheit aller Men-
schen durch gewisse aufere Krifte sein. Und auch das stimmt nicht ganz,
da die Menschen nicht mit ihren wertvolisten Seiten das Schicksal heraus-
fordern wiirden oder daf ihr Zusammentreffen mit ihrem Schicksal nicht das
Maximum in ihnen auslése. Sowohl Klara wie auch Meister Anton kénnten
sich retten, wenn ihre kleinbiirgerliche Ehrlichkeit nicht in jedem einzelnen
Fall mit der verstocktesten Konsequenz bis zu den aufersten Grenzen ginge,
wenn nicht in beiden der héchste Grad der erreichbaren Moralitit in dieser
Welt vorhanden wire, wenn nicht beide das Maximum der Méglichkeiten
ihres Typs darstellten. Das tief Undramatische der Tragidie liegt aber doch
dort, wo es Scholz sieht:'” von welcher Person wir auch ausgehen, erhalten
wir keine Einheit. Alles ist zufillig, was - mehr um sie als mit ihnen und
durch sie - geschieht, lauft nicht in ihnen als in einem einzigen und einzig
méglichen Zentrum zusammen. Oder noch einfacher: keiner von ihnen
volibringt eine einzige Tat, die das Ganze seines Wesens restlos zum
Ausdruck bringen kénnte. Die Menschen werden von einer unbekannten,
unfa8baren Kraft aufgesogen, unterdriickt, ohne da sie wirklich dagegen
ankimpfen kénnten. Sie werden vernichtet, denn es geschehen ihnen allerlei
Ubel und wir spiiren, da8 diese Ubel (in der Wirklichkeit, nicht dramatur-
gisch) nicht zufillig sind. Es gibt aber kein Geschehen, in dem das Nicht-Zu-
fallige, das Schicksalhafte dieser Ubel zum Ausdruck kommen kénnte. Von
den zwei groSen Notwendigkeiten wird also die eine, die aufere, zwischen
lauter zufilligen und bedeutungslosen Ereignissen aufgerieben und zersplit-
tert, und die andere verlagert sich ganz nach innen, in seelische Veranderun-
gen, die meistens nur monologisch ausgedriickt werden kénnen. Die Taten
sind keine Schicksalssymbole mehr — wie hingt das mit der soziologischen
Typik der Grundlage der Tragédie zusammen? Vielleicht derart, daf eine
isolierte Tat nie einen ganzen soziologischen Komplex, auch wenn sie mit
der gréSten Kraft abstrahiert ist, reprasentieren kann. Also ein jeder
Mensch, der schon so individuell ist, da& eine seiner Taten sein ganzes
Wesen auszudriicken vermag, steht schon so weit auferhalb seiner Klasse,
daf er nicht mehr ausschlieflich ihr Reprasentant sein kann, da8 seine Tat
nicht mehr die Lage der ganzen Klasse zum Ausdruck bringen kann. Aber:
das vollkommene In-der-Klasse-Sein, das vollkommene Aufgeléstsein des
Individuums in dem Aus-der-Klasse-gewachsen-Seins, also die villige sozio-
216 Die beroische Epoche
Ring«) sein ganzes Leben und Gliick aufs Spiel (ebenso wie der Held von
Uhlands »Gliick von Edenhall« in Hebbels Lieblingsgedicht). Das treibt
Golo, als er den Weg der Schuld zu gehen begann, immer weiter und weiter,
damit er sieht, ob die bis zum Letzten gesteigerte Schuld tatsiichlich noch
Schuld sei. Herodes driickt die ganze Gefiihlsweise dieses Heldentyps am
klarsten aus. So klar, da aus einem seiner Bilder die typische Geste des Typs
dieses ganzen Menschenschlags wird, als er es bei Mariamne so entschuldigr,
daf er sie tdten lassen will, falls er nicht von Antonius zuriickkehren wiirde:
Ich wiirde nicht den Mut zur Antwort haben,
Wenn ich,.was ich auch immer wagen mochte,
Des Ausgangs nicht gewif gewesen wire,
Das war ich aber, und ich war es nur,
Weil ich mein Alles, auf das Spiel gesetzt!
Ich tat, was auf dem Schlachtfeld der Soldat
Wohl tut, wenn es ein Allerletztes gilt,
Er schleudert die Standarte, die ihn fihrt,
An der sein Gliick und seine Ehre hangt,
Entschlossen von sich ins Gewiihl der Feinde.
Doch nicht, weil er sie preiszugeben denkt:
Er stiirzt sich nach, er holt sie sich zuriick,
Und bringt den Kranz, der schon nicht mehr dem Mut,
Nur der Verzweiflung noch erreichbar war,
Den Kranz des Siegs, wenn auch zerrissen, mit.'”
Das ist ein bis zum Aufersten gespannter, in sich zusammenbrechender
Individualismus. Das ist die Grausamkeit der sterbenden Tyrannei, die
Vorahnung des Unterganges, wer aber den »grofartigen Tod« will, der will,
daf eine Welt in Flammen steht, wenn er in den Tod geht: dieser Individua-
lismus ist l'art pour art. Das ist der Individualismus, der jeglichen Boden
unter den Fii@en verlor, der jeglicher unterstiitzenden Ideologie beraubt ist,
der nicht mehr auf der Suche nach dem Leben zur Tragidie gelangt, wie bei
Goethe, fiir den also die Tragédie einen von vornherein unvorstellbaren
Gewinn und Aufstieg bedeutet - wenn auch der Preis dafiir der Untergang
ist. Hebbels Individualismus wurde im Schatten der Tragédie geboren, die
Sehnsucht nach der Tragédie brennt in der Seele seiner Menschen und sie
gehen ins Leben, um die Tragédie zu suchen. Im Vergleich zu Hebbel sind
alle tragischen Schicksalskonzeptionen der Dichter, die vor ihm lebten - im
Sinne Schillers - naiv. Fiir diese Menschen existieren nur ihre eigenen,
inneren seelischen Gesetzmifigkeiten, nur ihre Triume sind fur sie Wirk-
V Hebbel und die Grundlegung der modernen Tragidie 219
lichkeit, und die ganze Au8enwelt, alle anderen Menschen sind nur Mittel,
um diese Triume zu verwirklichen. Diese Menschen kennen eigentlich nur
Sklaven, sie kénnen es sich nicht einmal vorstellen, daf auch andere das
gleiche Leben fiihren wie sie. Und ihr Leben besteht darin, daf ein jeder von
ihnen solchen Menschen begegnet, die mit derselben grofen, wenn auch
weniger eruptiven Kraft ihr eigenes Leben leben wollen und es nicht dulden,
daf& sie nur Bilder in der Phantasie eines tyrannisch traumenden Poeten sind.
Es ist kein Wunder, da Hebbel seine wahren Themen (Judith, Herodes und
Mariamne, Gyges, Moloch, Demetrius) im Altertum - besonders am Ende
des Altertums - oder in der slawischen Welt fand, wo es die Herrscher noch
im Blut haben, daf niemand um sie als Mensch gilt und wo dennoch einige
ihrer Rechte, die mit ihrem Menschsein zusammenhingen, bewuft zu
werden beginnen. Die Vélker leben in Elend und sind vielleicht unzufrieden,
zu revoltieren wagen aber nur einzelne Menschen: Freunde und geliebte
Frauen, deren unterworfener Individualismus nun gegen ihren Tyrannen
nach Rache schreit. Individualismus steht Individualismus gegeniiber. In
beiden arbeiten unwiderstehliche Krafte, und die selben Krafte zwingen die
Tyrannen, Tyrannen zu sein, die diese Sklavenaufstinde hervorrufen. Bei
oberflichlicher Betrachtung scheint es vielleicht so, als ob die Frauen
(Judith, Mariamne, Rhodope) sich nur gegen die Tyrannei verteidigen
wiirden, sie werden aber auch von den gleichen dimonischen Kriften
getrieben, auch ihre Leidenschaften sind so ausschlieBlich und alles nieder-
schmetternd, wie die der Manner. Ihr ganzes Seelenleben gleicht sich so, da8
es nur auf ihre Lage ankommt, ob jene die Tyrannen und sie die Revoltieren-
den sind und nicht umgekehrt. Diese Stiicke sind die Tragédien des Indivi-
dualismus. Es stehen einander gleiche Krifte gegeniiber— und wer kann bei
elementaren Kraften von ihrer Berechtigung oder Nichtberechtigung spre-
chen? Und das Wesen dieser Krafte bringt es mit sich, daf sie einander
zugrunde richten miissen.
Bei Hebbel werden also aus den Doktrinaren der klassischen Dramen
Poeten, wenn auch in Taten traumende, iiber das Schicksal der Volker
dichtende Poeten. Nur in Meister Anton und in dem abstrakten Pflichtge-
fahl, das Herzog Ernst leitet, der sich tiber Gliick und Leben der Menschen
hinwegsetzt, um der Idee zum Sieg zu verhelfen, ist noch der alte Typ
erkennbar. (Hier ist aber der Inhalt der Idee schon weniger abstrakt: sie
enthalt etwas vom realpolitischen Ideal Bismarcks; nur gerade ihre Manife-
stationsform ist noch die alte doktrinire und tragische.) Einige Nebenfigu-
ten sind noch ahnlich angelegt, z. B. Teut in »Moloche in seinem Verhiltnis
220 Die heroische Epoche
zu Theoda und Hieram, der Held des »Moloch« erlebt noch dieselbe
Tragédie. Wieder mit dem interessanten inhaltlichen Unterschied, da seine
Idee richtig und lebensfihig ist; sie wird auch triumphieren, nur gerade
zwischen der Tat und dem Gedanken, der die Tat gebar, der Wirklichkeit
und dem a priori, dem Mittel und dem, der es gebraucht, bleibt im
Wesentlichen das alte Verhiltnis bestehen. Holofernes ist aber schon ganz
Poet; er hat den groSen Traum, daf die alten Gétter schon gestorben seien,
und da& die Menschheit kein anderes Ziel mehr hitte, als aus sich selbst die
neue Gottheit zu erschaffen. Diesen seinen Traum vernichtet Nebukadne-
zar, als auch er diesen Gedanken hegt, dessen er nicht wiirdig ist: er erhebt
sich zum Gott und seinem Gort-Sein kann er nur in der Proklamierung
Geltung verschaffen. Und wieder driickt die Herodes-Tragédie dieses
Schicksalverhiltnis am starksten aus, die Herodes-Tragédie, die die ewige
Inkongruenz von Ideal und Wirklichkeit - im Liebesmotiv — wie eine ewi-
ge Melodie durchzieht; das Zerbrechen des Traumes an der Wirklichkeit -
auch dann, wenn Wirklichkeit und Traum das gleiche verwirklichen wol-
len:
»Zwei Menschen, die sich lieben, wie sie sollen,
K6nnen einander gar nicht iiberleben.
Und wenn ich selbst auf fernem Schlachtfeld fiele:
Man brauchte Dir’s durch Boten nicht zu melden,
Du fihltest es sogleich, wie es gescheh’n,
Und stiirbest ohne Wunde mit an meiner!
[.. .] So ist’s! So ist’s!
Allein die Menschen lieben sich nichtsot”
»[. . .] und Mariamnex ~ ich zitiere hier Kassner - »nimmt den Dichter beim
Wort und sie stirbt stumm, als des Dichters grofes, einziges Geheimnis. Sie
tut wirklich was der Dichter nur triumte, und jetzt, da die Tat geschehen ist,
ist sie doch ganz anders, als der Dichter es sich gedacht hat. So flieht das
Leben vor dem Dichter, und da er es endlich greift, ist es schon die
Tragédie.«'” Judith ist vielleicht das andere, ebenso starke Beispiel dafiir, in
welch tragischer Weise die Tat anders ist als der Traum, der sie gebiert; auch
dann noch, dann sogar vielleicht am starksten, wenn das rohe Wesen der
Wirklichkeit mit dem Traum véllig identisch war, wenn der Traum — wie
man zu sagen pflegt — »sich verwirklicht«. Und Golo und Kénig Kandaules
spielen schon nahezu mit ihren eigenen Tragédien, sie geniefen sie beinahe
wie schéne Sehenswiirdigkeiten; sie sind im Schauspiel ihres Lebens Zu-
schauer und Helden zugleich. In Golos Seele trennt sich der Doktrinar vom
V Hebbel und die Grundlegung der modernen Tragodie 221
Poeten: der eine analysiert, was der andere macht, und im anderen werden
diese Reflexionen zu Taten. Und die Wirklichkeit ist beiden fern, sie eilt an
beiden voriiber, so daf sie fiir beide einen Augenblick lang sichtbar wird,
aber nur, damit danach die Dissonanzen noch tiefer und schmerzlicher
werden. Bei Kandaules wird aus dem Doktrinarismus Poesie, Traum: sein
Neuerungswille ist das Spiel eines miiden Menschen, der schon der alten
- von der Wirklichkeit ebenso entfernten - Lebenssymbole iiberdriissig
wurde und mit neuen ein feines Spiel beginnt. Und seine Augen, die klar, fast
prophetisch in die Ferne sehen, erblicken nichts von der ihn umgebenden
Wirklichkeit, nur dann, als das, was er leichtsinnig heraufbeschwor, ihm mit
emer Kraft entgegensteht, die Tragddien erzeugt. Dann sieht er ihr aber
entgegen, und er sieht mit Vergniigen ihre grofe Kraft und die Tragik seiner
eigenen Lage - und so geht er in den Tod.
Aber was erreichen diese dimonisch grofen Menschen? Nichts. Die grofen
Menschen sind nur relativ grof, sie sind nur ein wenig grdfer als die
anderen, es gibt unter ihnen nur einen Unterschied in Nuancen. Der
Unterschied besteht darin, wieviel innere Notwendigkeit jemand besitzt.
Oder genauer: ist ihre innere Notwendigkeit gro8 genug, um in der Form
einer Tat mit tragischer Intensitat ihren Untergang hervorzurufen? Sie
zerbrechen alle an der Gesetzmifigkeit der Verhiltnisse, nur beschwort der
eine mit mutigen Taten das Schicksal herauf, das ihn niederschmettern wird,
beim anderen ist blo& ein falscher Schritt notig, um unter die Rider zu
kommen. Der Gegensatz zwischen der subjektiven und objektiven Bedeu-
tang der grofen Menschen, zwischen dem, was sie von sich und von ihrer
Rolle halten - zu Recht halten, denn im Verhiltnis zu den anderen haben sie
das Recht - und dem, was ihre Rolle in Wirklichkeit bedeutet, ist von
tragischer Grdfe. Sie glauben, etwas zu bewegen, obwohl sie ohne es zu
merken, von der Kraft der Ereignisse bewegt werden. Sie glauben ihrer
Persénlichkeit gemi#& zu leben, aus persénlichen Neigungen und Griinden
zu handeln, dabei sind sie nur die Vollstrecker der geschichtlichen Notwen-
digkeiten. Etwas mu8 entstehen, und es gibt immer einen Menschen, des-
sen persénliche Ziele, Talente und Verhilmisse mit dieser Notwendigkeit
zusammenfallen. Dann bewegt er das, was ohnehin bewegt werden mufte,
was nur auf jemanden gewartet hat, um bewegt zu werden und ¢s ist gleich,
wer es war. Zu der Zeit glaubt er aber, da8 er die Bewegung ausgelést hitte.
Er hile das fiir ein Mitel zu seinem Zweck, dessen Mittel er — fiir einen
Augenblick - war. Und dann wichst das Mittel, es muf iiber denjenigen
hinauswachsen, der es als sein Werk betrachtet hat, und es schmettert auch
222 Die beroische Epoche
seinen Erschaffer nieder, wenn er sich ihm widersetzen will. Die »Moloch«-
Tragédie ist dafiir das typischste Beispiel. Hieram, der aus dem zerstérten
Karthago floh, um seiner Rache ein Mittel zu verschaffen, macht hier den
Gétzen Moloch, an den er auch nicht mehr glaubt, zum Gott der Barbaren.
Und bei den Barbaren wird aus dem Gétzen tatsichlich ein Gott, denn sie
brauchen einen Gott. Aber dieser Gott wird michtiger als Hieram, er
vernichtet auch ihn selbst, als er sein Werk wieder nur als Mittel betrachtet
und seine eigene Kraft der des Gétzen entgegensetzt.
Somit sind in der Regel Durchgangsepochen, welthistorische Augenblicke
Hebbels Themen, solche Zeiten, in denen eine Welt zusammenstiirzt und
aus den Ruinen eine neue Welt sich zu entwickeln beginnt; in denen die
Notwendigkeit der Entwicklung am offensichtlichsten ist, in denen auch die
Taten der gréften Menschen nur kleine Glieder in der Kette der grofen
Gesetzmiafigkeit sind. Mit Demetrius geht eigentlich die grofe Idee der
Vereinigung der dstlichen und westlichen Kirche unter. Katholische Priester
retteten Demetrius vor den Mérdern, die Boris schickte, damit er ihr
Werkzeug in dieser grofen Arbeit sei, und diese Idee geht mit ihm unter.
‘Agnes Bernauer mu8 nur fiir die Méglichkeit von Bayerns Vereinigung
sterben, und dafiir miissen zwei bayerische Herzége ihr ganzes Leben lang
ungliicklich sein. Und Herodes befiehlt nur deshalb die Kindermorde in
Bethlehem, weil er Mariamne in den Tod trieb, und nun blieb ihm nur noch
das Kénigtum - und auch dieses kann er dann nicht verteidigen. Das
Christentum (auch in Mariamne protestierte eigentlich schon das christliche
Gefiihl) wird den letzten grofen heidnischen Kénig vernichten. Und ein
ganz grofer weltmythologischer Apparat begriindet und bereitet es vor, da
Brunhild und Siegfried nie zusammenkommen, daf Siegfried sterben muf.
Wie relativ die GréSe oder Kleinheit der Menschen ist, so relativ ist auch die
der Institutionen. Die Relativitat liegt aber hier in der Richtigkeit oder
Unrichtigkeit und in der vollig absurden Zusammenhangslosigkeit der tat-
sachlichen Kraft der Institution. Sie liegt in der furchtbaren potentiellen
Energie der bestehenden Verhiltnisse, die vergebens von einigen starken
Intellekten durchgeschaut werden, alle Angriffe zerbrechen an ihr, solange
nicht die Zeit kommt, ihren Platz einer anderen, mit der Zeit ebenso absurd
werdenden Institution abzutreten. So gehen die Biirger unter dem Druck der
veralteten und unniitzen Ehre zugrunde; so wiitet die Legitimitat in Hebbels
K6nigsdramen. An dieser leblosen Masse zerbrechen die Reformtraume des
Kandaules und Herodes, Kandaules durchschaut — als es schon zu spit ist
- diese Situation; er sieht, da& die Welt schlaft und Wehe dem, der sie
V Hebbel und die Grundlegung der modernen Tragédie 223
erweckt, bevor sie ausgeschlafen hitte, was er ihr auch als Ersatz fir ihren
Schlaf bieten wollte.
Auch Grillparzer zeigt die Macht der Verhiltnisse gegeniiber dem Individu-
um, aber bei ihm hat das Bestehende recht und wer gegen das Bestehende
revokiert, ist schuldig. Bei Hebbel stehen sich auch hier, wie immer, zwei
Notwendigkeiten gegeniiber: der Mensch wird von seiner Natur getrieben,
gegen das Bestehende zu kimpfen, und das tragt noch weniger die Schuld
daran, da es denjenigen zerschmettert, der sich ihm verwegen nahert. Die
Tragédie ergibt sich aus dem bofen Sein, aus der Individuation, daraus, daf
zwar die Bewegungsfahigkeit des einzelnen Menschen frei ist (Hebbel
spricht von der »unbegreiflichen Freiheit«'”*), aber doch ein Teil des Ganzen
bleibt, obwohl das Ganze von anderen Gesetzen bewegt wird als er, und hier
muf ein Zusammenstof entstehen. Das tragische Element des menschlichen
Willens ist nicht dessen Richtung, wie bei der Erbsiinde, wovon hier Hebbel
seine pantragische Theorie streng trennt, sondern unmittelbar der Wille
selbst. So ist es vom dramatischen Gesichtspunkt gesehen villig gleich, ob
der Held von guten oder schlechten Bestrebungen vernichtet wird. So ist der
Kampf des Menschen und der Allgemeinheit bei Hebbel nur das Zusammen-
treffen von Energien, ein allgemein menschliches Duell, und der Kampf geht
immer gleich aus, ohne Riicksicht darauf, wer recht hatte, er richtet sich nach
solchen Notwendigkeiten, die jenseits aller moralischen Wertung stehen.
Diese moralische Wertung fehlt in Hebbels Dramen vollig, und wenn den
moralischen Seiten der Menschen in der Heraufbeschworung der Tragédien
eine entscheidende Rolle zukommt, dann sind die guten wichtiger als die
schlechten. Die Maxima bringen alle Tragédien zustande, nicht nur die
Hebbels, blo ist bei ihm vielleicht am bewuStesten das Tragische von der
Moral getrennt. Die Tragédie stellt sich notwendigerweise immer an den
Gipfelpunkten ein und es ist gleich, ob vom Gipfelpunkt des Guten oder des
Schlechten die Rede ist. Die grofe Kraft der Weltordnung offenbart sich
Sogar dann am michtigsten, wenn auch das Maximum des Besten ihr
gegeniiber ohnmichtig ist. Wenn Demetrius ein wenig gewissenlos wire,
knnte er vielleicht siegen; Mniczek wirft es ihm auch vor, ob er, weil er rein
und moralisch bleiben will, das Recht habe, ihn und seine Tochter und alle
seine Anhanger aufzuopfern.'” Agnes’ Ehrlichkeit verursacht ihren Unter-
gang; als Geliebte Albrechts hitte sie nie Gefahr bedroht. In »Maria Magda-
lenax werden alle Opfer ihrer Ehre. Bei Rhodope ist ihre wahre Fraulichkeit,
bei Gyges seine Freundschaft, bei Kandaules seine Vornehmheit die Ursache
der Tragodie, Genoveva kénnte vor Golo gerettet werden, wenn sie weniger
224 Die heroische Epoche
mutig und vornehm wire, und selbst Golo wird durch seine besten Eigen-
schaften in seine Tragidie hineingerissen. Fiir Siegfried wird seine Naivitat
tédlich, und Hagen wird durch seine Treue zum Meuchelmérder. Somit
hangt das Schicksal keines einzigen Menschen davon ab, ob er gut oder
schlecht ist, es scheint sogar, als ob ein ganz Schopenhauerscher Pessimismus
in diesen Tragédien zu Wort kame. Das ist aber doch — wie es auch Hebbel
ganz klar sah ~ nur ein Teil der Welt und nicht das Ganze. Die Notwendig-
keit, die tiber dem Ganzen herrscht, liegt nur jenseits der Region unserer
Wertung, die auf Grund von Gutem und Schlechtem vorgenommen wird,
aber gerade deshalb kann sie sich ihm auch nicht entgegenstellen: sie ist
amoralisch und nicht antimoralisch. Diese Weltanschauung ist ein ethischer
Relativismus in dem Sinne, da& Wert und Bedeutung jeglicher Ethik in ihr
zutagekommt, sie verleugnet jedoch nicht fir einen Augenblick die Ethik.
Im Gegenteil, nachdem sie dem Handeln des einzelnen Menschen dieselbe
groBe Notwendigkeit gibt wie dem der ganzen Welt, macht sie die Ethik, die
die einzelnen Menschen bewegt, zum Naturgesetz. Die Ethik ist bei ihr nur
in ihren Konsequenzen problematisch, sie ist nur in ihren Manifestationen
dialektisch, nur in ihrem Inhalt relativistisch. Als Form der Manifestationen
des menschlichen Lebens ist sie absolut und ewig, und sie steht den
Notwendigkeiten der Welt als gleichwertiger Gegner gegeniiber.
Diese Weltauffassung hebt das wirklich Bése auf oder macht es zumindest
fiir das Drama wertlos und uninteressant. Eigentlich gibt es in Hebbels Welt
keinen wirklich bésen Menschen mehr. Auch der Verfiihrer
in »Maria Magda-
lena« war keiner, er war nur ein Streber von niedriger Gesinnung, der aber
nie dieses Madchen verlassen hatte, wenn ihr Bruder nicht in den Verdacht
* geraten wire, ein Dieb zu sein, und wenn der Vater nicht die Aussteuer
seiner Tochter leichtsinnig ausgegeben hiitte, der — und das ist die Hauptsa-
che! - sie nie verfiihrt hatte, wenn er damals nicht davon iiberzeugt gewesen
wire, sie auch zu heiraten. Und nachdem es keine Intrigen gibt, gibt es auch
keinen Schurken grofen Stils in dieser Welt. Golo und Herodes werden vor
unseren Augen ohne Selbstverschulden aus hervorragenden und guten Men-
schen zu blutigen Mérdern, Tyrannen - und zu gebrochenen Menschen. Die
am tiefsten tragische Seite des Lebens ist bei Hebbel eben, daf er reinen
Menschen Verbrechen aufzwang, daf es nicht méglich ist, rein zu bleiben
und dennoch zu leben. Deshalb betrachtete er die Fabel von Herodes als die
typische Tragédie, als den ewigen Typ aller Tragddien: wie Herodes, der mit
allen schénen und grofen Eigenschaften ausgestattet ist, zum Kindermord in
Bethlehem gelangt. Aus dem bésen Intriganten der Genoveva-Fabel der
V Hebbel und die Grundlegung der modernen Tragidie 225
2.
Immer sehen die Gegner am klarsten. Es hat vielleicht doch niemand genauer
Hebbels Stilprobleme aufgezeigt als sein grofer Antipode Otto Ludwig, als
er in der Kritik iiber »Julia« das Folgende schreibt: »Hebbel hat die drei
unvereinbarsten Dinge in seinem Drama vereinigen wollen: modernsten
Stoff, Shakespearesche Charakteristik und antike Form [. . .]«'* Das bedeu-
tet ganz konkret ausgedriickt und auf alle Dramen Hebbels angewandt: Es
ist der Versuch, den Relativismus, der sich in der Menschen- und Weltbe-
226 Die beroische Epoche
trachtung, in der Wertung des modernen Lebens offenbart, den Kult des
Individuellen, der bis zu rein pathologischen Besonderheiten reicht, még-
lichst streng in den Kreis der maximalen und unerbittlichen Notwendigkei-
ten mit hineinzunehmen. Die beiden ersten machen die Notwendigkeit
problematisch und diese unterdriickt sie, wenn sie mit grausamer Kohse-
quenz durchgefiihrt wird. Die Kreuzung der drei groBen Tendenzen stellte
somit Hebbels dramatische Stilsuche vor zwei groSe Problemkomplexe, zu
denen sich noch als dritter, ein sich aus der Natur der Tragddienvision
ergebender nachster Komplex gesellte. Der eine Komplex ist das Problem
des Schicksalsverhaltnisses, bzw. die Verbindung des Individualismus mit
der Notwendigkeit; also einerseits das Problem der Charakterzeichnung,
andererseits das der Notwendigkeit und des Verhiltnisses beider zueinander.
Der andere Komplex ist das Problem des Schicksalsinhaltes; die Frage,
inwiefern schafft und lost der Relativismus tragische Moglichkeiten auf,
welche Ausdrucksmdglichkeiten bietet und vernichtet er im Drama und
inwiefern durchdringt er iiberhaupt Hebbels Welt.
Individualitat und Notwendigkeit: beide sind gleichstarke Visionen Heb-
bels. Wir sagten schon, die Form seines Lebenserlebnisses, sein Erlebnis-
schema war das Folgende: ein Mensch in einem tragischen Augenblick, in
dem Augenblick, als er sein Schicksal trifft, als diese Begegnung alle Mog-
lichkeiten seines Lebens in ihm auslést. Ja, aber die Individualitat strémt nur
in diesem Augenblick véllig und ungeteilt in seine Tat, in sein Leiden, in
dessen grofe Notwendigkeit. Der Mensch und sein Schicksal begegnen sich
an diesem Punkt, um fiir ewig zu verschmelzen, aber um hierher gelangen zu
konnen, muften sie vorher getrennte Wege gehen.
Das Stilproblem des Dramas besteht gerade darin, diese Wege vor uns
aufzudecken und die Notwendigkeit der Begegnungen zu versinnlichen. Wir
wissen, das ist das entscheidende Problem aller Tragédien und besonders
aller heute verfa&ten Tragédien, wenn beide Wege in so verschiedene
Richtungen fihren und so wenig dazu neigen, zueinander zu fihren. Bei
Hebbel waren beide Richtungen auf das Scharfste ausgeprigt. Er sah die
Begegnung Judiths und Holofernes’ wie eine groSe Schlacht des ewigen
Kampfes zwischen zwei Geschlechtern. Aber beide waren zugleich Repri-
sentanten ihrer eigenen Welt, des in sich zusammenstiirzenden heidnischen
Polytheismus und des jiidischen Monotheismus. So wurden beide Traiger
einer anderen abstrakten, gleichwohl komplizierten und schwer definierba-
ren Notwendigkeit, und nur an dem Punkt, wo sie aufeinandertreffen, wo
sie zusammenstofen, verlieren sie bei ihrem Zusammenstof ihre Partikulari-
V Hebbel und die Grandlegung der modernen Tragidie 227
tat und werden eins. Das schipft jedoch das Wesentliche an ihnen nicht aus,
schon allein deshalb nicht, weil cin Mensch, bei dem so viele und vielfaltige
Fiden zusammenlaufen miissen, um Mittelpunkt solch komplizierter Not-
wendigkeiten sein zu kOnnen, in seinem ganzen Wesen gesteigert, als
auBergewShnlich gestaltet werden mu&. Er mu& aus allem Gewéhnlichen,
aus allem ihn Umgebenden herausgehoben werden. Dies muf ihn aber doch
so umgeben, daf er herauszuragen vermag; daf er Gipfelpunkt, aber dessen
Gipfelpunke sein kénne. In seinem ersten Drama gelang das Hebbel nicht.
Das einsame Herausragen des Holofernes aus seiner Umgebung erreichte er
nur durch deren véllige Herabsetzung. Hierdurch wurde der Ausdruck
seines seelischen Lebens teil monologisch, teils zu hoch gesteigert, vom
Pathos ins Bombastische iiberschlagend. Judith wird durch ihren pathologi-
schen sexuellen Zustand aus ihrem Hintergrund hervorgehoben; obwohl
auch bei ihr die Herabsetzung der Umgebung eine Rolle spielt. Er stellt sie
zwischen Miadchenjahre und Witwenschaft, auf den schmalen Pfad von
Allwissenheit und Unerfahrenheit, in die stindige und unterbrochene grofe
Ubersteigerung ihres ganzen Wesens. Diese Heraushebungen isolieren sie
aber zu sehr, sie werden durch sie zu sehr zu Ausnahmemenschen, und
dadurch wirken die Notwendigkeiten, deren Trager sie sein miiften, wofir
er sie in solch gigantische Hohen hinaufstilisierte, wie von aufen hereinge-
holt. Die mitreiSende Kraft der Begegnung lift die Schwiche der Grundle-
gung vergessen, und in den beiden letzten Aufziigen wirkt die Symbolik des
groBen sexuellen Duells mit tiefer Kraft. Sie la&t fast vergessen, daf gerade
das nicht erreicht wurde, was das Wichtigste ist: die Notwendigkeit ihres
Zustandekommens. Das welthistorische Moment hat isberhaupt keine Wir-
kung. Das wird vielleicht dadurch am besten beleuchtet, da8 der wichtigste
Teil des Hintergrundes (die Szene, die dem jiidischen Volk gewidmet ist)
vom streng dramatischen Gesichtspunkt her iiberflissig ist, nur die dekorati-
ve Wirkung steigert. Zur Konzeption der Tragédie war die Szene notwen-
dig, denn dort stelite Judith beinahe nur die Ausstrahlung der ganzen
Energie des Monotheismus dar. Hier ist ihre Tragédie von diesem Kampf
getrennt, sie ist nur lose angefiigt, es gibt nur an einigen Stellen einige
Andeurungen, die den Zusammenhang zeigen. In »Genoveva« ist die Kom-
Position der Gestalten auf ihren Hintergrund starker. Das hei8t, die- vom
Gesichtspunkt des Menschen her — abstrakten Notwendigkeiten, auf die das
Stiick aufgebaut wird, bewegen tatsachlich alles im Stiick. Diese Menschen
konnten tatsichlich nur von dort kommen, woher sie kommen und auch ihre
individuellsten, groteskesten Besonderheiten wurzeln tief in dem Boden,
228 Die beroische Epoche
woher sich ihnen das Schicksal nahert. Deshalb ist die Komposition von
»Genoveva« reicher, komplizierter, breiter als die des ersten Dramas, und sie
ist im Wesentlichen dennoch dramatischer. Aber die Idee, die dieses Drama
zusammenhilt, vermag auch hier noch nicht ganz alle Momente der Bewe-
gungen der Menschen zu durchdringen. Auch hier gibt es noch vieles, was
teils diesseits, teils jenseits der Welt liegt, in die es hineingestellt ist; die
Menschen sind sowohl mehr als auch weniger das, was ihr Schicksal in ihnen
auszulésen vermag. Das hat iibrigens auch Hebbel selbst erkannt und klar
erblickt, als er wahrend der Niederschrift des Stiickes das Folgende in sein
Tagebuch schreibt: »Das Drama hat den Fehler seiner Idee [. . .] und das ist
freilich der argste. Fehler, den es haben kann [. . .] Das Menschliche hat sich
in die Charaktere hineingerettet.«'”* Im nichsten Drama, in »Maria Magda-
lena«, ist diese Verbindung Mensch und Welt, Mensch und Schicksal vor-
handen; aber wir sahen auch, unter welchen Opfern das zu erreichen war.
Dort ist aber das in »Genoveva« aufgeworfene Stilproblem schon gelist: alle
Menschen, die die Welt des Stiickes bilden, sind durch ihre individuellsten,
irrationalsten, sogar eventuell pathologischsten Seiten mit dem Hintergrund
im Zusammenhang, vor dem sich die Tragédie abspielt; sie konnen somit zu
einer unzertrennlichen Einheit mit dem Schicksal zusammenwachsen, das
sich ihnen von hier nahert. So waren hier alle Menschen und alle Schicksale
durch das Ehrgefihl, durch dessen kleinbiirgerliche Herkunft und durch die
tiefe Verflechtung des Ehrgefiihls mit dieser Herkunft verbunden. Herodes’
Charakter wachst mit restloser Konsequenz aus dem Hintergrund seines
Lebens: die Lage, in die er hineingeboren wurde, bietet nur einem solchen
Konig die Méglichkeit zu bestehen wie ihm. Und seine Tragédie, sein
tragischer Gegensatz zu Mariamne beriihrt die Seite seines Wesens, die damit
im engsten Zusammenhang steht. Politik, Erotik, Freundschaft, Verlassen-
heit und vergebliches Sehnen nach Begegnung der Seelen wachsen hier aus
einem Boden: aus der Welt, die Herodes umgibt; sie treffen sich in einem
Zentrum: in der Seele Herodes’. Die selben dekadenten, ewigen und rastlo-
sen Versuche, die das Uberholte des Alten durchschauen, aber nichts an
dessen Stelle setzen, die Konig Kandaules mit der Inderin Rhodope und dem
Griechen Gyges verbinden, treiben ihn zu seinen politischen Experimenten.
Und das ununterbrochene Zweifeln, das Schwanken und Miftrauen sich
selbst gegeniiber, das dadurch und daraus entsteht, istdie Ursache dafiir,daBer
wissen will, ob er tatsichlich die schénste Frau habe ~ und deshalb zeigter sie
Gyges. Ahnlich, obwohl nicht so stark und konsequent, sind die Verbindun-
gen auch in den politischen Tragédien (» Agnes Bernauer«, »Demetrius«).
V Hebbel und die Grundlegung der modernen Tragédie 229
schen Veranderungen wurzelt. Auch Hebbel sieht schon (was nach ihm Ibsen
stark entwickeln wird), da& es zwischen Gedanken und Tat keinen
Unterschied gibt; da8 es vor Gort keinen Unterschied zwischen Wirklich-
keit und Méglichkeit gibt. »Was einer werden kann,/Das ist er schon
[...]«!7, hiitte Golo in einem Teil gesagt, der tn der »Genoveva« ausgelassen
wurde. In seinem unvollendeten gesellschaftlichen Drama, in der »Schau-
spielerin«, wurde auch die Frage aufgeworfen, warum und ob es iiberhaupt
einen Unterschied zwischen der kérperlichen und seelischen Unberihrtheit
der Frau gabe. Gerade deshalb ist iiberall die tiefste Tragédie die Tragddie
des Nichtverstehens, das Durchdringen dessen, da& noch keine Wege von
einem Menschen zum andern fihren, daf alles vergebens ist, auch die
Menschen, die sich am meisten lieben, einander am besten kennen und am
tiefsten verstehen, bleiben sich immer unbekannt. Als Golo Genoveva die
Nachricht tiberbringt, daf ihr Mann, Siegfried von ihr geglaubt habe, daf sie
ihm untreu gewesen sei, kann sie nur soviel sagen:
Er hat mich so gesehn, wie Gott mich sieht.
In dieser Stunde fangt mein Elend an.'*
Und sie bedsiingt Golo, seine Pflicht zu tun, an ihr das Todesurteil zu
vollstrecken, bevor das geschehn wiirde, wovor sie sogar jetzt noch Angst
hat, namlich, daf ihr Herz sich nun von ihrem Mann abkehrt. Und Mariam-
ne empfindet ebenso, als sie Herodes’ Verhiiltnis zu ihr klar sieht:
Als er zum zweiten Mal, denn einmal hatte
Toh ihm verziehn, mich unters Schwert gestellt,
Als ich mir sagen mufte: eher gleicht
Dein Schatten dir, als das verzerrte Bild,
Das er im tiefsten Innern von Dir trigt!
Da hielt ich’s nicht mehr aus, und konnt’ ich’s denn?!”
In der Tiefe der grofen Tragédien von Mann und Frau strudek iiberall dieses
ewige Streben zueinander und dessen ewige Hoffnungslosigkeit; das Gefihl,
daf sich gewisse Menschen einander tief zugeordnet sind, und dennoch
niemals im Leben zueinander gelangen kinnen. Tiefe Abgriinde tun sich
zwischen Herodes und Mariamne, Kandaules und Rhodope, die sich so sehr
leben, in jedem Augenblick auf; das Leben zerreift das Fiireinandergeschaf-
fen-Sein Siegfrieds und Brunhilds, und in den Kiissen, die Judith und
Holofernes in tédlichen Ekstasen wechseln, ist noch die grote und wahrste
Gemeinsamkeit vorhanden. Und diese Verschiedenheit zerreift auch die
andersartigen, tiefsten menschlichen Beziehungen. Herodes kann fiir Soe-
mus nur in dem Mafe ein Freund sein, wie er ein Liebhaber fiir Mariamne
232 Die heroische Epoche
war. Und in der Freundschaft von Kandaules und Gyges macht die wahrste
tiefe Gemeinsamkeit dasselbe unmédglich, was sie zustande brachte: Daf
Kandaules Kandaules und Gyges Gyges ist, daf sie sich lieben und daf sie
Menschen sind.
Von der rein dramatischen Seite, von der Maximalitét war schon die Rede.
Diese ist natiirlich die formale Folge des Dramas und besonders der Trag6-
die, aber Hebbel sieht hier auch tragischer als alle anderen Tragiker. »Ich bin
immer so« — schreibt er einmal iiber sich selbst — »wie die meisten Menschen
nur im Fieber sind.«'® Somit fliet in seinen Menschen ebenfalls dieses Blut;
alle sind absolute Gipfelpunkte; alle ihre schénen und grofen, haflichen und
bdsen Eigenschaften sind in ihnen in einer absoluten Hypertrophie vorhan-
den. Alle seine Tragédien werden also infolge der Natur seiner tragischen
Vision zu Tragédien des Individualismus; der wesentliche Inhalt aller seiner
Schicksalsverhiltnisse ist, daf der wahre, nicht verkiimmerte und verkriip-
pelte Mensch nicht unter den anderen existieren kann.
Die Hypertrophie lést fiir Hebbel die Stilfragen der seelische Subtilitaten
stehenden Modernen auf. Die verfeinerte Gefiihlswelt seiner Menschen of-
fenbart sich in solch gigantischen Ausbriichen und ist in solch gewaltige
Bilder hinausprojiziert, daf sie in keinem Augenblick von der Gefabr des
Erstickens in feiner Lyrik bedroht wird. Genoveva leidet Qualen in ihrem
Kerker auf einem Strohsack, hilt ihren kleinen, wenige Tage alten Sohn auf
den Armen, und Golo steht vor ihr mit Siegfrieds nacktem Schwert in der
Hand, als die Desillusionstragédie ihr Herz zerbricht. Und als Mariamne
erfihrt, da& Herodes ihr auch zum zweiten Mal nicht vertraute und sie dem
Tod weihen will, wenn er sterben miifte, veranstaltet sie einen glanzvollen
Ball zu Ehren des Herodes; sie racht sich an ihm so, da& sie das erfiillt,
wovor er Angst gehabt hat. Und die Kénigin tanzt zum Schrecken der
Freunde, der Feinde und der unbeteiligten Betrachter auf ihrer Todesfeier,
sie erschrickt sogar selbst, als sie fiir einen Augenblick zufallig in den Spiegel
sieht.
Eben deswegen fiigen sich diese Menschen in keine Welt ein, man kann sie
auf keinen Hintergrund abstimmen und die Einheit des Tons ist vielleicht in
keinem Drama so unendlich wichtig wie gerade bei Hebbel. Deshalb fallen
seine ersten Dramen, die mit Shakespearescher Lockerheit und Fiille kom-
poniert sind, auseinander. In dieser Hinsicht stellt »Maria Magdalena« — wo
ihm freilich die kleinen Mae der Gestalten zu Hilfe kamen -, das in der
Technik dem Oedipus angenahert wird, eine erste Lésung dar. In seinem
»Herodes« will er, wie er in einem Brief an Kiihne sagt, die Form vereinfa-
V Hebbel und die Grundlegung der modernen Tragédie 233
chen und die Details in den Hintergrund dringen. Es fihrt ihn das Gefihl,
da8 er zwischen dem Stil der Griechen und Shakespeares einen Mittelweg
finden miisse.'"' Seine spiteren Dramen werden von dieser Stilsuche be-
herrscht, die uibrigens bereits im Moloch-Fragment, das er in seiner Jugend
begann, vorhanden ist. Aber der Stoffreichtum der Tragédien Agnes Ber-
nauers und Demetrius’ ist doch zu grof, um ihn in griechisch strenge
Schemata zu zwangen und beide verlieren auch an nicht nur einer Stelle ihren
cinheitlichen Ton. »Gyges und sein Ringe, seine vielleicht perfekteste Kom-
position, ahnelr nicht blof auSerlich Racine, wie es Hebbel auch selbst sah;
es ist darin sehr viel von Racines Vereinfachung auf ein bloBes Schema (wenn
auch sein Schema reicher ist) vorhanden; es ist vieles von Racines feierlicher
Rhetorik und Handlungsfithrung vorhanden, die nicht nur jeglichen Lirm,
sondern auch jede wirkliche Bewegung entfernt und sich nur auf seelische
Analysen beschrankt. Die wahre Synthese erreicht Hebbel nur einmal, im
letzten Teil der »Nibelungen«. Auch hier ist das Oedipusschema Grundlage
der Komposition, aber hier gaben die zwei vorangegangenen Dramen den
Gestalten die gréStmégliche Breite und Detailliertheit und verlichen dem
Schicksal, das sich ihnen nihert, die Méglichkeit einer durch tausend Fiden
komplizierten Verbindung zu ihnen. Und infolge des giinstigen Stoffes
geraten in der grofen Katastrophe lauter gewaltige Krafte aneinander und es
kommt nichts anderes aufer ihnen in Betracht, so daf die Hypertrophie hier
immer Quelle gréSter Schénheiten wird (ausgemommen vielleicht die iiber-
flissige Groteskheit einiger Szenen).
Aber alle diese Bestrebungen muften vom rein Dramatischen wegfihren
und verursachten eine Annaherung der Hebbelschen Tragédien ans Epische.
Ludwig erkannte auch diese Gefahr ganz klar in allen ihren Folgen: »Die
Charaktere exponieren sich mehr durch Erzihlung als durch Handlung,
meist durch charakteristische Anekdoten von ihnen selbst, die sie sogar sich
selbst erzahlen [.. .] Auch die Motive zu ihren Handlungen werden erzahlt
und zwar moglichst individualisiert.<!" Je eigenartiger, interessanter und
eigenwilliger die dramatischen Menschen individualisiert sind und je strenger
der Rahmen komponiert ist, der sie zusammenhiilt - und wir wissen, bei
Hebbel sind diese zwei Pole der Ausgangspunkt — desto mehr kann man alles
nur episch ausdriicken. Die Menschen sind méglichst individuell, ihr Gegen-
iberstehen mu jedoch méglichst typisch, rein symbolisch sein. Schon aus
dieser Tatsache selbst ergibt sich die vielleicht etwas nackte Komponiertheit
der wichtigsten dramatischen Szenen auf die Dialektik hin. In solchen Fallen
stehen immer zwei Menschen einander gegeniiber. Daf sie cinander so
234 Die heroische Epoche
kleinen Taten (er prahlt z. B. damit, da& er auch die Jugendstreiche von
Gyges kennt usw.), und diese heife, fiebernde, lebendige Welt wollte er in
seine grofe Notwendigkeit hineinzwingen. Das heifit: Er erblickte immer
dort seine Menschen, wo diese Welt und Notwendigkeit aufeinandertrafen,
und das Wesen seiner dramatischen Stilisierung besteht darin, seine Men-
schen und seine Geschehnisse an dieser Grenze zu haken. Die Notwendig-
keit ist also dem sich widersetzenden Individuellen, das absolute Gesetz dem
Relativismus, die Dialektik dem wogenden Leben, die Form dem nicht
formulierbaren seelischen Geschehen aufgezwungen. Dieses Aufzwingen ist
ihm natiirlich gelungen. Und daraus ergaben sich, wenn sie nicht véllig
zusammenwuchsen, groveske Stillosigkeiten (»Judith«), aber es entstanden
daraus gerade dort unendliche Tiefen und Schénheiten, wo der objektive
Ausdruck iiber den subjektiven Aussagegehalt ganz griechisch-franzésisch
herrscht (»Gyges und sein Ring«). Der Kampf ist tiberall spiirbar, und dieser
Kampf ist es, der auch die abstraktesten Formulierungen mit pulsierendem
Leben fille.
Dieser Kampf ist aber nur ein Teil des grofSen Kampfes, den Hebbel sein
Leben lang fihrte: ein Kampf fiir das Absolute, von dem er weif und spiirt,
da er es nirgends finden kann. Das ist die angewiderte Angst des Romanti-
kers vorm rein Relativen, nicht Symbolischen, und es ist zugleich das Bangen
des groSen Kiinstlers, das sich sein in ihm lebender metaphysischer Wunsch
doch erfiillt und das, was er schuf, die Lebendigkeit verliert. Dieses Schwan-
ken, diese Diskrepanz bringt Hebbels persdnlichste Stilprobleme zustande,
in denen er um das Gleichgewicht zwischen den Stoffnotwendigkeiten und
seiner Ausdrucksméglichkeiten ringt. Diese Diskrepanz ist schon in der
Grundlegung seiner Tragédien vorhanden: im Inhalt der Idee, um die er alles
gruppiert; im Verhiltnis der Notwendigkeiten zueinander, auf deren Dialek-
tik seine Dramen aufgebaut werden; in der Art, wie er die einzelnen
Menschen dazu in Beziehung setzt. Wir sagten: Hebbel formuliert nicht die
Idee, das Zentrum von allem. Das geschieht (natiirlich nur teilweise bewu8t)
infolge der Einsicht, daf das nur Intellektuelle, rein Geformte unkénstle-
risch ist (»Jegliche Frage gestatt’ ihm, doch keine einzige Antworts [. . .] sagt
er iiber die Rolle des Intellekts in der Kunst)'*. Teils geschieht es aber
deshalb, weil dieses Stilproblem fiir ihn auch ein Lebensproblem dargestellt
hat. Der Denker, der Gesellschaftskritiker suchte das Absolute und fand
fiberall Problematik und Relativismen. Bei Hebbel wird die Relativitit alles
Bestehenden tragisch: Die einzelnen Phinomene stehen einander mit absolu-
ter Kraft gegeniiber, aber die Absolutheit ist nur noch in ihrer Kraft, nur in
236 Die heroische Epoche
also in einem Augenblick entsteht, sei Ursache fiir das Nachfolgende; das
zweite dagegen driicke nur das schon Fertige aus, und sei es blof eine Station
in dem standig Werdenden.'* Hebbels Dialog bringt meistens nur die
Relationen, und gerade weil seine Seelenbetrachtung fein und subtil ist, gibt
es eine standige Dissonanz zwischen den Gefiihlen und derem Ausdruck bei
seinen Menschen. Diese Menschen sind still, fein, in sich gekehrt, sehen, und
dennoch sprechen sie andauernd, sie erkliren standig ihre Seelenzustinde:
sie definieren stets das, was gerade infolge seiner Natur nicht definiert
werden kann. So spricht — es gibt hier keinen Platz, um Beispiele zu hiufen
- z. B. Rhodope zu Kandaules:
Ist Dir Dein Weib so theuer? Nun, da bitt’ ich
Dir stilles Unrecht ab. Ich sorgte immer,
es sei mehr Stolz auf den Besitz, als Liebe,
In der Empfindung, die Dich an mich fesselt,
Und Deine Neigung brauche schon den Neid
Der Andern, um nicht véllig zu erléschen!"*>
Somit ist Hebbels Dialog atmosphirenlos, und die tiefsten seelischen Ver-
schiebungen, die feinsten, leisen Vibriationen miissen auferhalb des Dialogs
bleiben. Sie werden zwar ausgesprochen, ihre Wirkung entsteht aber nicht
durch zu starke und auffillige Worte; sie gelangen eher trotz ihrer Hilfe als
durch sie zu uns. Natiirlich ist die Atmosphirelosigkeit nicht iiberall von
Nachteil. Das Atmosphirische bringt die Dinge immer nahe, es fat iiberall
die auseinanderstrebenden Gegensitze in eine Einheit, bringt iiberall scharfe
Dissonanzen in Einklang. Aber das wahre Dramatische wird auf der Disso-
nanz, auf der Unauflésbarkeit gewisser Dissonanzen aufgebaut. Deshalb
bedeuten die groSen Gewinne der Atmosphire fiir das Drama zugleich auch
grofe Gefabren. Ihr Wert liegt darin, da8 sie die Menschen einander
médglichst nahe bringen, was die Dissonanz ihrer Situation noch vertieft; sie
verwandeln das ewige »nicht« in ein »doch nicht«. Ihre Gefahr ist, da sie sie
ganz auflésen, und alles Dramatische zerfillt in idyllische, satirische oder
elegische Lyrik. Hebbel wurde von dieser Gefahr nie bedroht. In seiner
Menschenbetrachtung selbst gab es viel Nicht-Atmosphirisches, mit spréder
Ausschlieflichkeit dramatisch Tragisches. Wenn auch die zu scharf gezoge-
nen Umrisse in den Beziehungen der Menschen auf den Wegen zum
Tragischen oft dissonant wirken, verleiht dies den Gipfelpunkten eine fir
andere unerreichbare Monumentalitit. Ich beziehe mich auf die groSen
Szenen zwischen Judith und Holofernes, auf das Gegeniiberstehen von
Vater und Sohn in »Agnes Bernauer«, von Meister Anton und dem Sekretir
238 Die beroische Epoche
hebt sie die Monumentalitat der primitiven und nicht analysierten menschli-
chen Beziehungen auf. Sie zwingt den Dichter, die Menschen und die Dinge
dort mit vielen feinen Ursachen in Zusammenhang zu bringen, wo eine
einfache gro8e Beziehung geniigen wiirde. Mit einem Wort: Die Psychologie
hebe die dekorative Gréfe der menschlichen Beziehungen auf oder schwicht
sie zumindest ab. Die zwei Seiten der Gefahr steigern hier bei Hebbel
gegenseitig ihre Gefahrlichkeit: Die Distanzierung zwingt ihn zum Aufsu-
chen von Ausnahmeverhiltnissen, aber deren Begriindung steigert nur die
Schirfe und alles in Teile zerlegende Wirkung seiner Anschauung, die
‘iberall Probleme sieht. In »Gyges«, in seiner in jeder Hinsicht am besten
gelésten Tragédie, ist am deutlichsten sichtbar, welch gekiinstelte Grund-
lagen und Zusammenhinge dazu nétig sind, damit die fiir ihn notwendige
tragische Atmosphire entsteht. Selbst dort, wo die erhabene Einfachheit
seines Themas ihn am stirksten gebunden hat, wo er eigentlich nichts
anderes machen wollte, als das episch Gewaltige ins Dramatische von
gleicher Wirkung umzusetzen (»Nibelungen«), selbst dort verfeinerte und
schwichte er noch mit seinen psychologischen Begriindungen die primitive
Monumentalitat des Epos ab; was die feinfiihlige Analyse Paul Ernsts,
besonders hinsichtlich der Gestalt Hagens aufgezeigt hat.'* Hebbel verspiir-
te diese Gefahr oft selbst und vielleicht deswegen sprach er so oft mit solch
scharf verurteilenden Worten iiber Schiller, weil er gespiirt hat, da er ihm
wegen Eigenschaften unterlegen ist, die eigentlich seine Uberlegenheit be-
griinden miiften: wegen seiner tieferen Problembetrachtung und wegen
seiner gréReren Fahigkeit, Menschen zu schaffen. So dachte er nach dem
Lesen der »Jungfrau von Orleans« an eine andere, menschlichere, tiefere als
die Schillers;'” so seszte er dessen dekorativem »Demetrius« seinen eigenen
psychologisch und geschichtlich tiefer und vielseitiger motivierten Deme-
trius entgegen. Aber das erstere schrieb er nie und »Judithe, die fiir ihn mehr
oder weniger geeignet war, erreicht als Ganzes nie Schillers Monumentalitit.
Am Ende seines Lebens hatte er auch den Gedanken, ob Schillers Deme-
tius-Auffassung nicht doch richtiger als seine sei.’
Das tiefste Stilproblem Hebbels ergibt sich dennoch aus dem Zentrum seines
Wesens, aus seiner gréften kiinstlerischen Starke. Diese Dissonanz ist
tragisch, besonders im Sinne von Hebbels Auffassung des Tragischen, und er
stellte das auch selbst immer als den gréften Fehler seiner Dramen fest. Er
sah natiirlich nur die Folgen: »Meine Dramen haben zu viel Eingeweide: die
meiner Zeitgenossen zu viel Haut«'*! - schreibt er einmal. Ein anderes Mal
fragt er sich, ob die Beziehung zwischen der Idee und dem einzelnen
240 Die heroische Epoche
Menschen nicht zu stark sei; ob es notwendig sei, alle Menschen und alle
Situationen unmittelbar aus der Idee abzuleiten.'? Wilhelm von Scholz hat
als allererster ganz scharf das Problem erblickt. Er schreibt, da in Hebbels
Weltanschauung die Tragédie frither vorhanden sei als das Drama.’ Je
tiefer Hebbel also das tragische Problem sieht, um so weniger dramatisch
notwendig sieht er es. Und weil er es mit allen méglichen Mitteln versinn-
bildlichen will - nicht nur mit den dramatischen — sprengt er dadurch nicht
nur einmal das Drama; ohne diese Bemithung wire dieses Gefiihl natiirlich
aus dem Drama hervorgewachsen. Die Tragédie ist Gipfelpunkt des Dramas,
das vollkommene Drama kann nur eine Tragédie sein, und die tragischen
Gefiihle haben keine wahrhaftigere Form als die dramatische. Ja, aber sie
treten doch auch nicht-dramatisch auf; oder vielleicht genauer: der Stoff der
tragischen Dialektik kann auch so beschaffen sein, da& er in kein Drama
hineinpa&t. Das tragische Gefithl druchdringt das Drama eigentlich dennoch
immanent, es ist dennoch das »Ding an sich« im Gegensatz zu dessen
Erscheinung. Und es ist eine Konzeption des Tragischen vorstellbar, die nur
eine Manifestation des dramatisch Tragischen ist; die sogar im Inhalt, an
Gewicht und Bedeutung nicht einmal die gréSte, wenn auch formal am
geschlossensten ist. Die Betrachtung des Tragischen war bei den romanti-
schen Philosophen und auch bei Hebbel in vieler Hinsicht ahnlich. Nicht
ganz, denn bei ihm fielen Drama und Tragédie im wesentlichen doch
zusammen: die Dialektik von allem erschien doch in der Form der Dialektik
der einander gegeniiberstehenden menschlichen Willenskrafte. Die erstere
befand sich aber doch nicht innerhalb des Dramas, sie war nur die einzige
Ausdrucksweise der anderen Dialektik: des a priori aller Dramen, der
ganzen Welt. Dadurch vertieft sich alles Tragische unendlich; diese An-
schauung bot Hebbel die Mdglichkeit, die Problematik anderer Dichter
nicht einmal als Problem zu empfinden. Aber gerade infolge der Vertiefung
des Wesens der grofen Notwendigkeit wird auf der Oberfliche alles will-
kiirlicher. Hier gibt es gewissermafen doch eine dhnliche - wenn auch in den
Details verschiedene - Beziehung zwischen ihm und den anderen, wie
tiberhaupt zwischen dem alten und dem neuen Drama. Mit je stirkerer und
unwiderlegbarerer Gewifheit das Tragische als Ziel von Anfang an gegeben
ist, desto weniger ist dessen pragmatische Begriindung wichtig, je mehr es
das a priori von allem ist, desto weniger ist der Fall, in dem es sich offenbart,
entscheidend. Denn es wiirde sich in jedem Fall auf die gleiche Art und
Weise offenbaren und in jedem Fall kénnte sich ohnehin nur das offenbaren.
Die tiefe Erlebtheit, das Kosmischwerden des Gefihls fiir die Tragédie, da
V Hebbel und die Grundlegung der modernen Tragédie 24
das, worin es sich offenbart, entweder jenseits der Grenzen liegt, die der
Seoff des Dramas setzt (Byron: »Kain«, »Manfred«) oder sich zu einem
vollig beliebigen Fall voller Zufille verkniipft - denn es ist ohnehin gleich,
von welchem Fall die Rede ist - und sein rein lyrischer Ausdruck ein nicht
dramatisches Geschehen umrahmt (Swinburne: »Atlanta in Calydon«): das
macht die Tragédien der grofen englischen Lyriker undramatisch. Vielleicht
sah niemand Maria Stuart tiefer und tragischer als Swinburne und es gibt
dber sie keine reinere Tragidie als die Grundlegung, aus der dieses Drama
entstand. Das Drama selbst ist voller Zufille und Willkiirlichkeiten, und man
muf8 alles, was dort geschah, vergessen, damit die schottische Konigin wieder
in einem reinen Licht ihrem Schicksal gegeniiber vor uns steht.
Bei Hebbel sind natiirlich die Beziehungen enger. Bei den englischen Lyri-
kern ging bereits alles Dramatische verloren, bei ihm offenbart sich all das in
den Stildissonanzen einiger gewaltiger Dramen. Und dennoch: es gibt fast in
allen seinen Dramen viel Willkiirlichkeit in der Handlungsfiihrung, eine
Menge Dinge, von denen man absehen muf, damit nur die Gesten des
Einander-Gegeniiberstehens vorhanden bleiben, in denen die Tragik und
Dramatik unwiderstehlich gro8 ist. Nicht einmal dramatische Momente
k6nnen ein wirkliches Drama zustande bringen. Wir miissen uns noch auf
einen anderen grofen englischen Lyriker beziehen, der nicht nur die Musik
der kosmischen Tragédien hérte, sondern vor dem sich die Tragik der
menschlichen Schicksale in wirklich menschlichen und oft in wirklich dra-
matischen Augenblicken dffnete. Wir miissen uns auf Robert Browning
beziehen, der aber doch nie imstande war, ein echtes Drama zu schreiben.
Kassner nennt, wenn auch nicht ausdriicklich, auch die Ursache dafiir. »Er
war nie fertig«, schreibt er iiber ihn, und iiber seine Worte schreibt er, daf er
dreimal soviel Verse brauchte, um etwas zu erzahlen als alle anderen; daf er
es immer so empfunden habe, daf er das wirklich Wichtige noch nicht gesagt
hatte und noch ein Vers nétig sei, um es zu sagen und dann noch einer und
- es bleibe noch immer etwas ungesagt; da seine Verse Zimmer seien, deren
Tiren offengeblieben sind, weil Browning sie nur durchlaufen und nicht in
ihnen gewohnt habe.'™ Browning sieht seine Menschen in einer entscheiden-
den, symbolischen, alles umfassenden Situation, also dramatisch. Er spiirt
aber, da& das noch immer nicht dieses All-Umfassen ist, das ihm vor-
schwebte, da& das, was er gab, hinsichtlich des grofen kosmischen Dramas
doch nur ein Fall blieb, noch nicht dramatisch wurde. Und deshalb ersticken
alle Méglichkeiten des Dramatischen an diesem Punkt in einem Wort- und
Versschwall und lassen alles andere leer. Hebbel empfand - vielleicht aus
242 Die heroische Epoche
mutig auf seinem Weg fortschreiten zu kénnen, wir sehen aber bei Hebbel
solche Fragen bereits gelést, die bei Ibsen noch nicht ganz bewuft waren, als
er ihn kennenlernen konnte (in den ersten Jahren seines Deutschlandaufent-
haltes) und bei denen er dann zu solch ahnlichen Ergebnissen kam wie
Hebbel. Z. B. in der notwendigen Tragik des Individualismus; und — das ist
besonders auffillig -~ in der Beziehung zwischen Mann und Frau. Hier sah
Ibsen das Problem schon sehr frith (Svanhild), und er sah es doch nicht in
allen seinen Konsequenzen; auch dann nicht, als die Méglichkeit im Stoff
gegeben war. Nur sehr spit (nach den »Gespenstern«) gelangte er hier auf
die Héhe Hebbels. Es ist wahrscheinlich, da8 hier von unmittelbarem
Einflu8 die Rede sein kann, denn es ist zumindest auffallig, da& Ibsen erst
nach griindlichem Kennenlernen Hebbels in Beziehungen, in denen er sie
noch nicht erblickt hat, die selben Konsequenzen und Méglichkeiten sieht
wie Hebbel. Die GesetzmaSigkeit der Entwicklung wire natiirlich noch viel
auffalliger, wenn Ibsen villig selbstindig zu den gleichen Ergebnissen ge-
langt ware. Dann wiirde ihre Entwicklung die ganz unumstéBliche Gewif-
beit zeigen, da& nur das das wirkliche Drama des modernen Individualismus
sein kann, zu dem sie gelangten oder wenigstens wiirde nur dieses Drama
den modernen Individualismus vollkommen ausdriicken.
In der Art, wie sie zur Tragédie gelangten, wird ihre Beziehung zueinander
am genauesten ausgedriickt. Fir Hebbel war das Tragische ein a prioristi-
sches Weltgesetz, fiir Ibsen die bittere Erfahrung eines langen Lebens. Bei
Hebbel gruppieren sich also sein ganzes Leben und alle seine Werke um das
Tragische wie um ein ruhendes Zentrum; fiir-Ibsen macht der Weg, der
dorthin fibrt, sein Leben aus, und neben diesen Weg ist all das als Station
oder Meilenstein gesetzt, was er auf diesem Weg schuf. So kann Hebbel
seelisch eine gréfere Distanz zu seinen Themen haben, er kann ihnen
gegeniiber objektiver sein, das Thema kommt fiir ihn nur als Stoff in
Betracht, er erlebte die Tragédie nicht durch ihn, auch dann nicht, wenn er
seinen Stoff unmittelbar aus seinem eigenen Leben schépfte. Ibsen lernt an
seinen Themen, er entwickelt sich an seinen Menschen, ihre Veranderung ist
auch seine Verinderung. Das Schicksal des einzelnen Themas bedeutet in
seiner Entwicklung stets einen Wendepunkt. Sein Verhaltnis zum Thema ist
enger, lyrischer, sentimentaler, ob diese Lyrik im Ton des moralischen
Pathos spricht, ob mit den tiefen Worten der tragischen Resignation. Des-
halb sind Hebbels Dramen universeller, symbolischer, zusammenfassender.
Alle Dramen Hebbels sind Dramen einer grofen modernen Frage, das
Zentrum, um das alle Geschehnisse gruppiert sind, ist sichtbar. Bei Ibsen
244 Die heroische Epoche
dreht sich doch keines seiner Stiicke so ausschlieBlich um ein Thema, mit
welch bewufter Kraft auch oft alles zur Frage gefiihrt wird, wie stérend
auch manchmal die nackte Dialektik, die sich in der Form von pro und
kontra offenbart, ist. Die Geschichte, die Fabel ist individueller, ist nicht in
ihrem Ganzen und allen ihren Teilen symbolisch, sie steigert sich nur an
einzelnen Punkten zu HGhen, die alles umfassen. Ibsens Dramen sind daher
farbiger und lebendiger als die immer ein wenig Sden und blutleeren
Hebbeltragédien, die jedoch monumentaler sind.
Die Ursache dafiir liegt aber nicht nur hier, bzw. diese Ursache ist nur das
Symptom einer tieferen. Der Ursache, daf der auch trotz der starken und
alles abschwichenden, relativistischen Zweifel ungebrochene Heroismus,
der die Arbeit von Hebbels ganzem Leben bildet, bei Ibsen schon schwacher
wurde. Die Gefahr, iiber die Hebbel sprach, als er sich tiber die Tragikoms-
die duSerte'™, bedrohte Ibsen noch viel starker als ihn. Die an sich
genommen tragischen Kampfe verlieren ihre Tragik schon infolge der Klein-
lichkeit und Minderwertigkeit der Krafte, die ihnen gegeniiberstehen. Die
Macht dieser Krafte, die die Menschen niederwirft, ist aber doch zu grof, als
da& das Ganze eine komische Wirkung erwecken kénnte. Der grofte Teil
der modernen Tragédien spielt sich also nicht in tragischen Formen ab, sie
sind Tragikomédien. In diesem Hebbelschen Sinne sind fast alle Ibsen-Tra-
godien Tragikomédien (seine »Maria Magdalena« ist natiirlich auch eine
Tragikomédie), und alle danach kommenden sind es in noch gré8erem
Ma&e. Das ist der groSe Stilkampf in Ibsens hohem Alter: diese tragikomi-
sche Wirkung aufzuheben, den Geschehnissen unter den heutigen Verhilt-
nissen mit den heutigen Menschen ein tragisches Pathos zu geben. Sie gehen
auf kiinstlerisch entgegengesetzten Wegen in Richtung der Synthese des
grofen Dramas: Hebbel tut dies, indem er in ein mit absoluter Kraft
herrschendes Schema soviel wie nur méglich aus der Relativitit von allem
einfiigt, ohne es zu sprengen.
Ibsen geht vom Relativismus aus, er fihrt ihn bis zu seinen letzten, alles
auflésenden Folgen, im Glauben, da& am Ende von allem die Tragédie
stiinde, da& die Feststellung des Nichts schon eine ebenso positive Grundla-
ge sei wie die Feststellung von irgend etwas. Hinsichtlich ihrer Kunst kénnte
man sie also gegeniiberstellen wie Goethe und Schiller Grillparzers Meinung
nach einander gegeniiberstehen: Hebbel kommt von oben und geht in
Richtung Ibsens. Ibsen kommt also dort an, wo Hebbels Ausgangspunkt
lag: bei der Tragédie. Die Natur der Wege bringt es mit sich, da diese bei
Ibsen schon viel schwicher ist als bei Hebbel; bei ihm liegt das Tragische nur
Henrik Ibsen, Versuch, eine biirgerliche Tragédie zu schaffen 245
noch in der Unauflésbarkeit. Und wenn das Tragische in dem Erkennen der
Unauflésbarkeit besteht, ist es eine vom Leben aufgezwungene Lésung.
Darin liegt die Spur eines jeden Erlebnisses, auf dem sie beruhte: das Gefihl
der tausend Kleinlichkeiten, der Trivialitit des modernen Lebens. Und es
war schon nichts mehr darin vorhanden, was er als absolute Kraft gegen
diese erdgebundenen Erlebnisformen hatte setzen kénnen. Was menschlich
vorhanden war — der grofe Mut, immer bis zu den letzten Grenzen zu gehen
und der ungebrochene Glaube an eine andere Zeit, in der aus allen Forderun-
gen Wirklichkeit werden wird - konnte nicht die alles zerserzende Wirkung
dieser Erlebnisformen aufhalten. Diese Gefiihle konnten den tragischen
Ekstasen blof eine lyrische Kraft und Warme und den Schliissen nur weit in
die Zukunft miindende Perspektiven geben. Auf die Form konnten sie keine
Wirkung ausiiben, denn es gab in ihnen kein Form-Element. Ibsen erblickt
die Tragédie bei der Betrachtung des modernen Lebens (»Dichten ist seben«,
sagt er Paulsen™), deshalb mufte seine Tragédienformel das moderne
Leben beinhalten, deshalb konnte blof dieses Leben der Stoff der Tragédie
sein. Bei Hebbel wurden nur die Grundlagen relativ. Ibsen ging von der
Relativitat aller Dinge aus, als er anfing Tragédien zu schreiben, diese
Einsicht fibrte ihn zur Tragodie. Ibsen erblickt die Tragédie bei der
Betrachtung des modernen Lebens. »Der schlimmste Feind alles Tragischen
aber« — schreibt Paul Ernst ~ »ist die Ansicht von der Relativitat aller
Sittlichkeit.<”' Fiir Ibsen ist diese Gefahr viel grofer als sie bei Hebbel war,
und bei den Nachfolgenden konnte sie nur noch gréfer werden. Denn bei
ihm war das erst ein langsam reifendes Erlebnis und - zum Gliick fiir seine
Tragédien — war bei ihm trotz seiner Einsicht noch die doktrinir romanti-
sche verblendete Fanatik seiner Jugend vorhanden. Deshalb war bei ihm
noch irgendeine Tragédie méglich, wenn auch nicht so rein wie die Hebbels,
wenn auch darin bereits oft eine Groteskheit, Tragikomik, eine Donquichot-
verie vorhanden ist.
Bei ihm ist die Poesie des Relativismus, das Atmosphirische des Dialogs
vorhanden, er steht aber an einem noch gefahrlicheren Scheideweg als
Hebbel; er steht an einem Punkt, der noch die Lésung, das Drama und die
Tragédie erméglicht, er befindet sich aber schon sehr nahe an der Grenze. Er
steht dem modernen Leben niher als Hebbel; es ist kein Zufall - gerade aus
Stilgriinden nicht -, da& alle Themen und Stoffe seiner reifsten Zeit von
heute sind. Aber im Verhiltnis zu dieser Nahe ist er auch problematischer.
Die Lésung seiner Stilprobleme ist schon so weit ausschlieflich subjektiv, sie
stellt schon so weit blof fiir ihn eine Lésung dar, daf sie keine wirkliche
246 Die heroische Epoche
Lésung mehr ist: man kann sie nicht fortsetzen. Die Wege, die von Ibsen
ausgehen, kénnen nirgendwohin fihren, sein Drama ist das Ende von etwas;
es ist ein Versuch, dessen Ergebnis fiir die Entwicklung negativ ist. Und die
Hauptfrage seiner Kunst bleibt nach ihm ebenso eine offene Frage wie sie es
vor ihm war: Ist das heutige Leben in seiner heutigen Beschaffenheit ein
geeigneter Stoff fiir die wahre Tragédie? Die negative Antwort, die die
tiefsten Stilbetrachter immer schon im voraus gerne geben wollten, wird
sogar durch die problematischen Ergebnisse seiner heroischen Experimente
bekraftigt.
1
Ibsens Dramen erhalten ihre Einheit durch seine Entwicklung. Nur seine
Entwicklung beleuchtet und erklirt alle seine Probleme und Dissonanzen,
nur sie verleiht ihnen eine Notwendigkeit. Die Einsicht, da& hier alle Schritte
sich aus den vorherigen ergeben, daf nicht zufallige Ungliicksfille jemanden,
der anderswohin strebte, von seiner Bahn abbrachten, daf nicht besondere
Launen jemanden, der auf dem Weg dorthin war, vom rechten Weg abbrach-
ten, sondern daf alle Problematik notwendig ist. Diese Laufbahn ist die
konsequente Kette typischer Erlebnisse und die kiinstlerischen Probleme
ergaben sich aus der Bestrebung, diese konsequent auszudriicken. Das
Leben des grofen Dichters des Individualismus ist ein Lobgedicht auf den
Individualismus. Unter den vielen abgebrochenen Leben, den fragmentari-
schen Lebenswerken steht sein »CEuvre« als ein grofes, organisches Gan-
zes; unter den vielen sorgfaltigen Spezialisten steht sein Alles-Umfassen
einsam da. Seine Entwicklung ist gro8 und einheitlich; eigentlich beeinhaltet
bereits sein erstes Werk alle Fragen des letzten und dennoch finden wir auf
dem Weg, den er ging, um dorthin zu gelangen, die meisten Fragen, die uns
reizen, viele Menschentypen, die uns wichtig sind vor. Und wir finden nicht
nur in den Arbeiten das ganze Leben seiner Zeit vor, die die einzelnen
Stationen dieses Lebens kennzeichnen, sondern der Weg selbst ist symbo-
lisch, stellt die Entwicklung des heutigen Menschentyps dar. Dieser Weg
fihrt von der doktrindren Romantik durch das Erblicken des realen Lebens
zuriick in die Romantik. Das ist aber ein Ankommen, keine Riickkehr zum
Ausgang, es ist mehr eine Zusammenfassung alles Vorherigen. Der junge
Ibsen stand dem Leben fern und schitzte die Wirklichkeit gering; am Ende
seines Lebens erhob er sich iiber alle Realitit, in der Zwischenzeit war er
Revolutionar und Anarchist, der die ganze Welt umstiirzen wollte. Vor dem
Anarchismus war er ein epigonaler Lyriker, danach wurde er zu einem alles
Henrik Ibsen, Versuch, eine biirgerliche Tragidie zu schaffen 247
ist ein jedes Stadium im Verhiltnis zum vorherigen neu, und deshalb stellt
nur das Ganze der Entwicklung wirklich das Ganze dar. Sein erstes Stick
(»Catilinac) ist eine anarchistische Revolution gegen alles Bestehende, diese
Revolution ist aber zuniichst blo$ cin Windmiihlenkampf; es ist nur Litera-
tur, die Revolution der Jambentragédien. Sein Gefiihl fiir die Revolution ist
damals noch so wenig tief, da8 sie fiir mehr als zehn Jahre aus seinen
Dramen verschwindet. Die folgenden Stiicke beschiftigen sich mit individu-
ellen Schicksalen (auch in der Tragddie »Frau Ingers« ist die Politik nur
Hintergrund). Romantische und prosaische Menschen stehen in diesen
Stiicken einander gegeniiber. In einem seiner — bislang noch nicht herausge-
gebenen - Einakter war nach Meinung seiner Biographen nur diese Gegen-
tiberstellung wichtig und der damals 2ojahrige Dichter trennt mit leichter
Tronie all die Paare, die nicht zueinander passen. Spiter wird der Konflikt
ernster, Margarete (»Das Fest auf Solhaug«) hat den unbedeutenden, dum-
men Herrn Bengt nur geheiratet, weil er reich ist, und ihr ganzes Leben geht
an der Seite ihres nicht zu ihr passenden Mannes zugrunde. Und in Ibsens
Nibelungen-Drama tétet Hjérdis Sigurd, der sie zwar liebte und trotzdem
seinem Freund Gunnar gab; sie tétet ihn, um zusammen ins Jenseits zu
gehen. Aber einige gliickliche Zufalle retten Margarete noch, bevor das
eintritt, wozu sie durch ihre nicht zu ihrem Charakter passende Lage
getrieben wird, ihren Mann zu téten, und Hjérdis empfindet nur, daf ihr ein
grofes Ungliick zuteil wurde, und sucht nur danach, sich selbst zu helfen;
Ibsen sieht Sigurds grofe Schuld ihr gegeniiber noch nicht. Es sind roman-
tisch fiireinander geschaffene Menschen - die Nornen schufen sie fiireinan-
der - und das Leben trennt sie doch fiir immer, wie es Margarete von
Gudmund getrennt hat und wie es Olaf von Alfhild (»Olaf Liljekrans«)
trennen wollte. Die Welt der Dramen des jungen Ibsen ist eine romantische
Welt, diese Welt ist aber nicht mehr voller Glanz. Die romantischen Helden
sehen langsam ein, da& das Leben anders ist, als sie es sich vorgestellt haben;
da8 es anders ist, als es in den Liedern war. Diese Stiicke besingen aber
dennoch Helden, Helden, denen das Schicksal schwere Aufgaben aufbiirdete
und die zugrunde gehen, weil sie nicht imstande sind das durchzufiihren,
was ihr Schicksal, ihre Persdnlichkeit von ihnen fordert. Das ist die Tragédie
Frau Ingers; das ist auch — in gewisser Hinsicht — die Tragédie Sigurds. Blo8
taucht dieser Gedanke, sich selbst zugrunde zu richten — besonders bei
Sigurd - nur im Ansatz auf, da er nicht alle seine Méglichkeiten erlebt hat,
und die Katastrophe, die iiber Frau Ingers hereinbricht, ist auch nicht
notwendigerweise mit dieser Seite ihrer Taten verbunden. Ein wenig spiter,
Henrik Ibsen, Versuch, eine biirgerliche Tragédie zu schaffen 249
nach seinem 30. Lebensjahr, werden aber die gleichen Fragen, mit denen er
bis dahin nur gespielt hat, die ihn nur erschaudern lieBen oder ihn ergétzt
haben, fir ihn furchtbar ernst. Er bricht radikal mit dem L’art pour I’art
seiner Jugend. Aus Rom schreibt er ein paar Jahre spiiter an Bjérnson, daf es
ihm gelungen sei, das Asthetische aus sich selbst auszutreiben, das, was nur
isoliert und fiir sich selbst Gelrung haben wollte.”
Diese Entwicklung beginnt mit der »>Komédie der Liebe«. Ibsen erschrickt
vor dem Dichter in ihm; das Problem Rubeks wirft hier seinen Schatten
voraus. Thorgjerd (»Olaf Liljekrans«) ist noch ein echt romantischer Dich-
ter, der »weder Heim noch Hause” haben kénne, um alle seine Melodien zu
singen, und Ornulf besingt in der Nibelungen-Tragédie das Ungliick seiner
Séhne und das tréstet ihn. Svanhild - die Heldin der »Komédie der Liebe«
- spiirt als erste, wie erniedrigend es ist, sogar im Leben eines geliebten
Menschen nur noch Gedichtthema zu sein und wie klein der Dichter ist, der
nie mehr ist als ein Dichter. Der Gegensatz und der Kampf zwischen
Dichtung und Wirklichkeit erhilt jetzt seine neue Farbung, eine gré8ere
Tiefe. Der romantische Mensch wendet sich jetzt nicht mehrerom Leben ab,
um in schénen Triumen dessen Widerlichkeit zu vergessen. Er bricht auf, er
will es verindern, verbessern; ¢s leben Lieder in ihm und er will, da8 das
Leben so sei wie seine Lieder. Es wird hier fiir die Einheit des Lebens und
der Dichtung gekampft, fiir die spitere »ideale Forderung«, deren fanatisch-
ste Verfechter in dieser Zeit Falk und Brand waren. Das Wesen dieser
Forderung ist eigentlich der Mittelpunkt aller Probleme Ibsens, die Men-
schen mégen die Poesie nur als Unterhaltung, so »von abends sieben bis
zehn Uhre, diese Ibsen-Helden hingegen »wollen das Leben mit der Idee
vereinbaren« und sie stellen sich mutwillig der Zeit, den Menschen gegen-
iiber, deren »abscheuliche Lehre es ist, da& das Ideal nur so etwas Zweitran-
giges bedeute«. Nur dieser kampferische Individualismus kann dem Leben
des Menschen ein Ziel geben: wer sich in schéne Traume hiillt, um das
Gegensiatzliche nicht zu sehen, erreicht das Gegenteil von dem, was er
beabsichtigt hatte. Triume kann man nur unter schweren Kimpfen, um den
Preis qualvoller Entsagung wirklich zu Ende triumen, nur der Kampf kann
ihnen eine Realitat verleihen. In »Peer Gynt« rechnet Ibsen endgiiltig mit der
entsagenden Romantik seiner Jugend ab. Aus den schénen Tréumen werden
hier haGliche Liigen. Der nur triumende Mensch verkommt innerlich, er
wird blo8 ein Egoist und kein Individuum, und nur im Individuum vermé-
gen sich Dichtung und Wirklichkeit auszugleichen. Die gréfte Bedeutung
Peer Gynts fiir die Entwicklung Ibsens und des Schicksals des ganzen
250 Die heroische Epoche
Heldentyps besteht darin, daf in ihm zuerst der neue Idealist tragikomisch
wird. Man pflegt diese Dichtung wegen ihrer Form mit Faust zu vergleichen:
sie sind auch im Hinblick auf das Dramatische verwandt. Vom Gesichts-
punkt der Entwicklung der Heldentypen nimmt er den gleichen Platz im
débacle der modernen Idealisten ein, wie Don Quichotte in dem der mittelal-
terlichen. Brand ist von diesem Gesichtspunkt her ein Pendant, das dem
Tragischen niher steht, und die »Komédie der Liebe« ist der Vorlaufer von
beiden. Was ist das Gemeinsame in diesen Stiicken? Wenn wir uns ihre
Helden in der Reihenfolge Brand — Falk - Peer Gynt vorstellen und
besonders, wenn wir an die Verinderung denken, die aus Falk, der mit
Traumen spielt, einen Triume erlebenden, seine Traume dem Leben auf-
zwingenden Menschen formt, wird vielleicht dieser Zusammenhang ganz
offensichtlich. Uberhaupt ist - das haben schon viele festgestellt — bei Ibsens
Helden die Mannigfaltigkeit nicht so gro, wie es im ersten Augenblick
erscheint. Es ist leicht eine Reihe vorstellbar, an derem einen Ende vielleicht
Falk stiinde und die einerseits iiber Rubek, Borkmann bis Peer Gynt und
von dort neben Lévborg, Lyngstrand und Stensgard bis zu Hjalmar Ekdal,
andererseits parallel zu ihm tiber Brand und Stockmann bis zu Gregers
Werle fiihren wiirde. Und am Ende beider Reihen steht die vollkommene
Komédie (Hilmar z. B.), und es ist unméglich, den Punkt zu bestimmen, an
dem die eine beginnt und die andere aufhért. Denn auch das Schicksal der
tragischen Menschen wird vom grofen Lachen bedroht. Einer von ihnen,
Borkmann, erkennt das auch selbst, indem er einsieht, da8 die furchtbare
Tragédie, die in sein Leben einbrach, nur von einem Gesichtspunkt her eine
Tragédie ist, von einem anderen Gesichtspunkt her kénnte man sie auch als
Komédie betrachten. Ibsen ist der radikalste Denker und nihilistischste
Zweifler unter den groSen Dramatikern des 19. Jahrhunderts. Den Auflé-
sungsproze&, der dem doktriniren und triumenden Idealisten des 18. Jahr-
hunderts allmahlich alle Lebensberechtigung nahm und tragisch werden lief,
filhrte er bis zu den letzten Konsequenzen, so weit, daf er schon seine reine
Tragik verliert. Die objektive Berechtigung ist schon bei Hebbel endgiltig
verlorengegangen, aber Hebbel blieb bei der Erkenntnis des gro&en Dualis-
mus stehen. Die Projizierung der Triume betrachtete er ebenso als Naturge-
setz wie ihr Brechen an der ewig heterogenen Wirklichkeit; diese Form des
Individualismus betrachtete er ebenso als eine keiner weiteren Analyse
bediirfende Kraft, wie die ihr gegeniiberstehende Gemeinschaft. Hier setzt
Ibsens Kritik an. Shaw faft seine ganze Gesellschaftskritik als Sammlung
schéner Beispiele dafiir auf, welches Unheil der Idealismus im Leben
Henrik Ibsen, Versuch, eine biirgerliche Tragédie zu schaffen 251
anrichte; andere sehen in ihnen die Verherrlichung des Idealismus und beide
haben recht und natiirlich - wie es iibrigens auch Shaw selbst einsieht— hat
niemand recht. Bei Ibsen sind diese Tendenzen vielleicht noch ebenso
stark wie bei Hebbel, er analysiert sie aber bereits, er akzeptiert sie nicht als
letzte Tatsachen, er sucht ihre Lebensberechtigung. Und damit, daf sie an
sich genommen aufgehért haben berechtigt zu sein, verloren sie ihre rein
tragische Bedeutung. Denn wenn die Frage der Berechtigung gestellt wird,
dann kann die Antwort entweder ganz negierend sein (»Peer Gynt«) und der
Weg zur Komédie ist frei, oder man muf diese Kraft bis zur leeren
Erhabenheit steigern, indem man ihr ein ganz bestimmtes Ziel gibt. Dies
muf aber so beschaffen sein, daf es alle dafiir begangene Taten als berechtigt
erscheinen 148t, es mu& also weit iiber den héchsten Interessen des einzelnen
Menschen stehen, es mu abstrakt ideal sein (»Brand«). So fiihrt die Linie
der Entwicklung zuriick zum Ausgangspunkt; Ibsen steht hier Schiller naher
als irgend jemand vor ihm. Alle Zielsetzungen miissen sich aber in diesem
Menschenschlag zur Monomanie entwickeln. Denn das Wesen seiner seeli-
schen Struktur besteht gerade darin, daf er alles bis zu den dufersten
Extremen treibt, nichts von der Wirklichkeit sieht, die Traume als Wirklich-
keit und alle anderen Menschen nur als Mittel zu deren Verwirklichung
betrachtet. Daraus muf sich schon allein rein technisch die Tragikomédie
ergeben, denn, wie Paul Ernst iiber Brand sagt: Der Standpunkt des Helden
liege so hoch iiber denen, die sich ihm entgegensetzen, da von einem
wahrhaftigen, also dramatischen und tragischen Kampf zwischen ihnen nicht
die Rede sein kénne. Der Kampf wickle sich irgendwo in der Luft, im leeren
Nichts ab, und wenn sie gegeniiberstehen, werde der Gegensatz zwischen
beiden Extremen so grotesk sein, da& die komische Nebenwirkung unver-
meidbar sei.”
Diese Menschen erleben also entweder nur monologische Szenen (Peer Gynt
und der Hinkende; Brands Untergang; Solness an der Spitze des Turmes),
oder tragikomische, verkehrt wirkende Szenen (Brand und die Volksmasse;
das Volkstribunal in »Ein Volksfeind«). Das ist aber nicht nur ein formales
Problem — obwohl es schwer zu sagen wire, was sich hier aus dem anderen
ergibt — sondern ein weltanschauliches, oder vielmehr ein weltanschaulich-
historisches, soziologisches. Die Form des Idealismus der Brands ist nimlich
dieselbe wie die der Posas und seine Wirkung auf ihren Charakter, seine
Bedeutung als Lebensform ist ebenfalls dieselbe. Nur sein Inhalt wurde ganz
anders; genauer: er hat schon keinen Inhalt mehr. Denn was will Brand?
Was ist es, was er der Masse geben kann, die er auf den Berg lockte? Was
252 Die heroische Epoche
kann er bieten, sei es auch das nebelhafteste Versprechen der weiten Zu-
kunft, was kann er ihnen dafiir geben, da er alle ihre Wurzeln aus dem
Boden reifen und sie zwingen will, ihr ganzes Leben hinter sich zu lassen.
Ibsen schrieb in einem Gedicht, das er an einen seiner revolutionaren
Freunde richtete:
Beim Brettspiel weif ich nicht mitzukrakeelen,
Macht tabula rasa! Da werd ich nicht fehlen.
Ich nehme nur Eine Revolution wahr,
Die keines Pfuschers Execution war.
Die nahm vorweg allen spatern die Glorie.
Ich meine natiirlich Sintfluthistorie.™
Diese Revolution richtet sich gegen alles Bestehende und deshalb richtet sie
sich eigentlich gegen nichts Tatsichliches; es ist sehr charakteristisch, da8
viele den Anarchisten Ibsen als sehr konservativ empfinden. Eigentlich hat
keine Tat einen realen Sinn, die sich nach der Verwirklichung dieses Gefiihls
richtet. Somit ist das Gefihl selbst auch blo& solange erhaben, wie es mit
keiner Wirklichkeit in Berihrung kommt, wie es nicht dramatisch, sondern
nur rein lyrisch ist. Die Tragddie des Utopisten kann nur dann wirklich
tragisch sein, wenn er einer alten Sache eine neue entgegensetzt, aber einer
wirklichen eine andere wirkliche und mit der Kraft ausgestattet, sie im
gewissen Mafe zu verwirklichen (Kandaules). Die Dissonanz des Wunsches
und der Unerreichbarkeit mu8 aber dort tragikomisch sein, wo sich zwei
ganz heterogene Krafte, die in keinem Verhiltnis zueinander stehen, treffen.
Nichts sei lacherlicher in der Welt der Relativititen als das Absolute””,
schreibt Kierkegaard, der geistige Vater von Brands »alles oder nichts« und
Ibsens grofe Idealisten werden auch immer an den entscheidenden Punkten
licherlich. Ibsen war sich einzig bei Brand dessen Beschaffenheit noch nicht
bewuft, Julian wird jedoch schon von Ibsen selbst ausgelacht - vielleicht nur
deshalb, um dem Lachen der anderen zuvorzukommen. Und Stockmanns
und Gregers’ ganzer Kampf spielt sich an der Grenze der Licherlichkeit ab.
Sie sind licherlich, denn ihnen gegeniiber haben diejenigen recht, die nie
recht haben diirften. Diese haben recht, aber nicht in dem grofen dialekti-
schen und tragischen Sinn, in dem bei Hebbel beide Seiten recht hatten.
Nein. An dem Punkt, wo das Drama selbst sich abspielt, siegt das Relative
sowohl auerlich als auch innerlich iiber das Absolute und der Sieg des
Absoluten ist nur irgendwo auferhalb der Grenzen des Dramas vorstellbar;
so kann er nur mit melancholischer Lyrik dessen tragikomischen Untergang
begleiten. Die tiefste Kritik der tragischen Mdglichkeiten aller Gefiihle ist
Henrik Ibsen, Versuch, eine biirgerliche Tragidie zu schaffen 253
ihre Erfiillung (Hebbel fragte Werther betreffend: »Und was wire, wenn er
Lotte geheiratet hitte? Wire er weniger tragisch?«). Fiir Ibsen und fiir seine
Helden ist die Erfiillung von etwas unvorstellbar, denn der einzige Inhalt
ihrer Ideale ist, da8 ihre Erfilllung unméglich ist. Die Erfiillung ist die gréBte
Tragédie: » Wer Gott sieht, — stirbt« sagte Brand.” Ibsen fand selten reinere
Symbole fiir sein Lebensgefiihl als sein Gedicht »Ballerinnerungen« aus
seiner Jugend, in dem der Jiingling, der Tagebiicher schreibt, auf dem Ball
das Ideal erblickt, das er immer gesucht hat, er erblickt sie, verliebt sich in
sie, erfahrt, daf sie einem anderen gehért — und ist gliicklich und empfindet
das Leben als vollkommen.”” Dieses Gefiihl wird am Schlu8 der »>Komédie
der Liebe« in der melancholischen Lehre von »Klein Eyolf«, nimlich, »Der
Verlust ist eben der Gewinn« ausgedriickt. Das ist die Ursache fiir Ibsens
witenden Zorn iiber die Kimpfe der Kommune: Er spiirte, daf sie sein Ideal
kompromittierten, denn sein Ideal wird von jeder Erfiillung kompromittiert.
»Wer die Freiheit«, schreibt er an Brandes, »anders besitzt denn als das zu
Erstrebende, der besitzt sie tot und geistlos [. . .]«?!°.
Vielleicht sah niemand die Problematik und all die Gefahren des Individua-
lismus klarer als Ibsen. Der Inhalt der grofen dramatischen Dichtungen
~ der schénsten und reichsten Dichtungen -, die sein Mannesalter erfiillen,
ist der Kampf, den er fiihrte, um ihnen eine Grundlage, etwas wirklich festes,
das auSerhalb ihrer lag, zu geben. Das Ziel war die Rettung des Individualis-
mus, die Rettung von Ibsens einzigem Lebensideal (»Fiir das Solidarische
habe ich eigentlich nie ein starkes Gefiihl gehabt [. . .]«, schreibt er an
Brandes*"', die Propagierung seines geklarten Wesens nach dem Erkennen
aller Gefahren.) Ibsen leugnete nie, daf in diesen Dramen von seinen
persénlichsten Problemen die Rede ist. »Brand bin ich selbst in meinen
besten Augenblicken«, schreibt er einmal, »ganz wie ich durch Selbstanato-
mie viele Ziige sowohl in Peer Gynt als in Stensgird ans Licht geférdert
habe.«?!? Brand ist der Abbruch der einen Bestrebung, Peer Gynt der
anderen. »Brands« Inhalt ist es - fiir Ibsen -, seinem romantischen Indivi-
dualismus eine ethische Bedeutung und Grundlage zu geben; »Peer Gynts«
Inhalt ist es, diesen Individualismus auf Grund derselben Formen vom
gewohnlichen Egoismus abzugrenzen. Zum Gliick fiir die Dichtungen ist
hier die Frage blof fiir Ibsen noch eine Frage geblieben, sie schwemmte nicht
ihre Grundlagen fort; blo8 am schwankenden und wirren Symbolismus der
Schliisse ist die Unsicherheit kiinstlerisch sichtbar. Die Frage blieb aber fiir
ihn auch nach den beiden Dramen eine Frage, auch das »welthistorische
Schauspiel<, »Kaiser und Galiléer«, brachte ihm keine Antwort, wo er
354 Die heroische Epoche
historisch, soziologisch die Grundlegung fiirs gleiche Problem sucht. Die
Lésung, da& diese Gefiihlsweise, das adaiquate Leben, das zu Ende-Leben
aller Méglichkeiten, vielleicht unbewuft niitzlich ist, da& sie vielleicht
unbeabsichtigt, vielleicht zum Gegenteil dessen, worauf sie sich urspriinglich
gerichtet hat und dennoch zu etwas notwendig, unentbehrlich ist.
Mit diesem Drama beginnt Ibsens Fatalismus wirklich, ohne daf die alten
Tendenzen ganz verschwunden waren. Gewi&, die Spuren dieses Fatalismus
waren bereits friiher vorhanden; teils als irgendeine psychologische Pradesti-
nation, teils im Gefiihl der alles niederdriickenden Macht der beeinflussen-
den Kriafte, teils in der Form der — natiirlich erst jetzt ernsthaft zu Ende
gedachten — objektiven Notwendigkeiten. Aber all diesem gegeniiber war
noch der Glaube an den freien Willen des Menschen stark:
»Da& Du nicht kannst, wird Dir vergeben.
Doch nimmermehr daf Du nicht willst.<?
— sagte noch Brand. Aber die Lehre Maximos (»Kaiser und Galilaere) ist
schon seelischer Fatalismus: »[...] Wollen heift wollen miissen [. . .]<";
und damit wurde — ohne da& Ibsen es klar erkannt hatte — jegliche Agi-
tation, jegliche Propaganda sinnlos. Damit verloren die Brands ihre letzte
Berechtigung, ihr Kampf ist prinzipiell, fiir immer hoffnungslos; es ist auch
kein Kampf mehr, nur ein unfruchtbares Anrennen gegen die ohnmichtige
Schwere einer trigen Masse. Sein Gefiihl zog ihn tyrannisch zum alten
Glauben hin, natiirlich; denn ohne diesen Glauben kann man nicht kimpfen
und er zog aus, um zu kampfen: Aber alle seine Erfahrungen vertiefen in ihm
stets mehr die Einsicht des Letzteren, bis dann zuletzt auch das in sein
ganzes Gefiihl iibergeht. Diese Dissonanz ist bei seinen ersten gesellschaftli-
chen Dramen spiirbar.
In Wirklichkeit anderte sich hier natiirlich nur der Ort der Kimpfe, die
Kampfenden sind auch jetzt dieselben: die Dichtung und das Prosaische, das
Ideal und das Leben, das Individuum und die Gesellschaft, das Hinaufstre-
ben und der kleine Egoismus. Das ist der Einzug der kimpferischen Roman-
tik in das heutige Leben; in jeder Hinsicht ist es fiir Ibsen charakteristisch,
da8 gar der Name seiner ersten modernen Heldin aus der romantischen Welt
der Sagen stammt (Svanhild). Aber das brutale, reale Leben triumphiert
gewéhnlich iiber die Poesie. Falk und Svanhild schrecken vor der Moglich-
keit der Niederlage zuriick und verzichten lieber auf das Zusammenleben,
bevor das Prosaische iiber ihre Liebe siegen wiirde. Und Nora wartet acht
Jahre vergeblich auf das Wunder, und aus den glinzenden Eigenschaften des
Hauptmanns Alvig werden in der norwegischen kleinstadtischen Atmosphi-
Henrik Ibsen, Versuch, eine biirgerliche Tragodie zx schaffen 255
tragisch wird, ist die tiefste Tragédie in Ibsens Entwicklung. Sie besteht
darin, wie das Leben des Propheten zum Asthetentum zwingt, sie ist die
Tragédie der Kontemplation, der Betrachtung des Lebens. Sie besteht nicht
darin, was er spater beschrieb, wie tragisch es ist, im Leben nur Zuschauer zu
sein; nicht die tragischen Folgen dieses Zustands (Rubek), sondern das
Tragische des Zustandekommens des Zustands ist dissonant. So erhiilt diese
Dissonanz, es ist vielleicht der einzige solche Fall in Ibsens CEuvre, in
»Rosmersholm« eine Form. Die Unausgeglichenheit, wodurch die anderen
Dramen dissonant werden, wird hier gerade zum tragischen Inhalt. Die
Problematik des Heldentums des Helden, die das Pathos der anderen
Dramen schwicht, verleiht diesem Drama ein tiefes und wirkliches Pathos,
denn gerade um dieses Problem wird der tragische Kampf gefiihrt. Und die
schmerzliche Dissonanz des Gelingens und Nicht-Gelingens wird rein und
tief tragisch: Der gré8te Triumph (die Verwandlung Rebekkas) wird zu-
gleich zur tiefsten Niederlage, und in den schwersten Niederlagen (Rosmers
und Brendels Niederwerfung) offenbaren sich alle wahren und starken,
feinen und reichen seelischen Werte dieses Menschenschlags.
Die anderen Dramen sind nur lyrische Tragikomédien; es herrscht in ihnen
der Dualismus, den Borkman sein eigenes Schicksal betreffend erblickte. Die
Ursachen dafiir sind sehr kompliziert, wir beschrieben schon ihre wesent-
lichste Seite: Egoisten, die ein schlechtes Gewissen haben, sehnen sich nach
etwas, was ihnen ein Recht geben kénnte, so zu sein, wie sie gechaffen sind.
Der seelische Konflikt von Hebbels Demetrius, der von auferen Situationen
verursacht wurde und sofort verschwinden konnte, sobald diese duferen
Umstinde sich verinderten, wurde bei ihnen ausschlieflich zu einem see-
lisch verfeinerten und unlésbaren Problem. Diese Menschen sehnen sich
nach einer Erleichterung, die Demetrius verspiirt, als er vom pipstlichen
Legat seine wirkliche Abstammung erfahrt:
[. ..] Ihr schenkt mir auch ein Recht, das ich nicht hatte [. . .]
Das Recht, zu sein, wie ich nun einmal bin!?"*
Das naive Gefiihl dieses Rechts fehlt bei den Helden des spateren Ibsen,
lahmt ihre Handlungsenergien, verlegt ihre Tragédien ganz nach innen.
Infolge dieses schlechten Gewissens verspiiren sie, da ihre Instinkte, das
Wesen ihrer Persénlichkeit, der Bestatigung bediirfen und sie finden nirgends
fiir sie eine Bestitigung. Dieses Gewissen ist aber eine zu grofe Macht, als
da sie alles, wonach sie sich gesehnt, durchfiihren kénnten, um dann
vielleicht trotz dieses Gewissens von seiner Kraft vernichtet zu werden
(Macbeth). Es ist aber zu schwach, um ihre wilde Kraft véllig zu lahmen. So
260 Die heroische Epoche
stehen sie immer auf halbem Wege zwischen Tat und Resignation, sich von
einer zur anderen sehnend; zwischen stindigen Konflikten und sind doch
nie wirklich dramatisch. Im Verhiltnis von Ideal und Wirklichkeit herrscht
dieselbe tragikomische Dualitit: Das Ideal ist stark genug, um alle Werte
eines Lebens zu vernichten, das ohne es gelebt wurde, die Wirklichkeit
hingegen zerri& auch schon so weit seine willkiirliche, iiber alles mit
tyrannischer Kraft herrschende Macht, daf alle seine Siege im Augenblick
des Triumphes zur Niederlage werden miissen, da der Sieger sich immer in
den Zustand vor seinem Siege zuriicksehnen muf. »Die Lebensanschauung
der Rosmer adelt [. . .] aber [. . .] sie totet das Gliick« sagte Rebekka.”
Dort standen jedoch die beiden Miachte noch klar einander gegeniiber,
indem sie sich im Kampf vernichteten und einander vor dem Kampf nicht
geschwicht und erniedrigt hatten. Im Schicksal Solness’, Borkmans, All-
mers’ und Rubeks machen sich die beiden Michte, die tiber ihr Leben
herrschen, selbst gegenseitig problematisch. Sie opfern ihr Leben fiir etwas
und dann fragen sie: war es wert, das Leben dafiir zu opfern? Sie bringen
Menschenopfer am Altar eines abstrakten Ideals, und dann zertriimmern sie
den Altar und verleugnen den Gott, dem sie opferten. »[...] der Tausende
von Opfern herunterwiirgt ohne ein einziges zu verdienen«, sagte Hebbel
iiber das Schicksal, das in der Tragikomédie herrscht.”"*
Auch diese Dissonanz erhielt einmal, in »Hedda Gablere, eine Form. Hier
werden aus allen Bestrebungen nach Gréfe hysterisch ohnmichtige Sehn-
siichte, aus der Verwirklichung der Ideale leere Auferlichkeiten, aus der
subtilen Schwiche des Gewissens Feigheit und aus den grofen Instinken
rohe, schlaue Brutalitat. Hier vernichtet die Wirklichkeit nicht nur alles, was
schén und gro8 konzipiert war, was man ihr aufzwingen wollte, sondern sie
beschmutzt und besudelt es auch. Aber sogar diese pathologische und
degenerierte Romantik ist stark genug, um sie aller Wertméglichkeiten zu
berauben, um sie véllig licherlich zu machen. Aber auch hier ist diese
Tragikomik nicht ganz rein, den tragikomischen Untergang Hedda Gablers
umgibt eine tiefe und starke Lyrik, das Pathos der wahren Tragédie. In den
anderen Dramen, wo diese Dissonanz der Grundlagen weniger bewuSt und
scharf ist, ist diese Lyrik noch starker, noch tiefer und reiner. Tragische
Ekstasen am Ende der Tragikomédien: die lyrische Seite des Pathos der
Tragédie ohne dessen ungebrochene Grundlagen: das ist der Ton der letzten
Ibsen-Dramen. Dieses »schlechte Gewissen« ist die Ursache ihrer mit zu
grofer und iiberfliissiger Scharfe abstrahierten Problemeinstellung: Die Er-
rterung der Frage der »Berechtigung« kann keinen anderen Weg einschla-
Henrik Ibsen, Versuch, eine biirgerliche Tragédie zu schaffen 261
gen, als die Taten der Menschen mit Ursachen zu erkliren, die iiber die
einzelnen Menschen hinausgehen; Abstrakta in das hineinziehen, was die
Menschen bewegt und das gegen sie kimpft. Das ist die Ursache des
Moralisierens, das die wahre tragische Stimmung stért, das sich nicht damit
zufrieden gibt, da8 das Drama den Kampf der kimpfenden Seiten paarweise
darstellt, sondern auch stindig ihre moralische Bedeutung kritisiert. Und das
wurde hier so stark, da die Moral nicht nur als Motiv, als Kraft, die die
einzelnen Menschen bewegt, eine Rolle spielte, sondern sie wirft ein kaltes
und scharfes Licht auf alles, was im Drama geschieht.
Wie gelangen diese Menschen dennoch zu den lyrischen Ekstasen, die die
Sticke beschliefen, zu den tragischen Gesten, die ihren Untergang beglei-
ten? — Man sagt, Ibsens letztes Wort sei »tvaertimod« - »und doch«
~- gewesen”!” und es gibt etwas aus dieser Stimmung bei diesen Menschen
- im Augenblick des Todes. Der Tod ist hier vielleicht deswegen notwendi-
ger als anderswo (»Klein Eyolf« ist seine einzige Tragédie, die nicht mit dem
Tod endet), weil der Tod der einzige ist, der, wenn auch in einem anderen
Sinn wie sie es hofften, gerade so absolut ist wie ihre Wiinsche dem Leben
gegeniiber: Der Tod ist die einzige Méglichkeit zu einem reinen Ausklang.
Vielleicht spielte der Gedanke des Todes in den Tragédien nie starker und
bewufter eine Rolle als hier (natiirlich mit Ausnahme der aus ganz anderen
Griinden ahnlichen »tragédie classiquee). Der Schatten des Todes, des
sicheren Untergangs breitet sich von Anfang an iiber die ganze Atmosphire
dieser Zeit aus. Es gibt daher in allen Helden Ibsens eine krankhafte
Spannung und wenn es auch wahr ist, was Paul Ernst sagt, daB die Entwick-
lung des Psychologen Ibsen kein anderes Ende haben kénne als die Patholo-
gie™, ist es gewiB, daf er sie gerade deshalb bendtigte. Sie war notwendig,
um seine so sehr erdgebundenen Menschen, deren zu grofe Erdgebunden-
heit Ibsen auch in den Augenblicken ihres heroischsten Aufstiegs klar sieht,
dennoch von hier herauszuheben. Aber nachdem der Aufstieg prinzipiell
hoffnungslos ist, gibt es schon von Anfang an ein krankhaftes Flackern in
ihrem Pathos, gibt es etwas Pathologisches in allen ihren Ekstasen. Der
Wunsch Hildas in »Solness«, das Unmégliche zu vollbringen, ist das Leit-
motiv dieser Welt. In anderen Tragidien mu auch das Unmégliche voll-
bracht werden, aber die Unméglichkeit ist dort tiberall a posteriori; es ist nur
bei Ibsen und in gewissem Mafse bei Hebbel als ein von Anfang an bewuftes
und allgemeines Gefiih! vorhanden. Das Pathos dieser Bereitschaft zum
Tode, die Ideologie des Hedda Gablerschen »schénen Todes« hebt diese
Dramen empor. Hier ist ein Heldentyp so reif fiir den Untergang geworden,
262 Die heroische Epoche
da& er schon selbst diesen Untergang wiinscht, daf er sich schon mit
bewufter Energie danach sehnt. Und was kiinstlerisch gewifi die Schwache
nicht nur eines seiner Dramen ist, die Blutleere der Symbole, - daf sie nur als
Symbole einen Sinn und eine Bedeutung haben (das Hinaufgehen von
Solness auf den Turm; das Bergsteigen von Rubek und Irene), — wird im
Ganzen gesehen wieder zum Symbol des Schicksals dieses Typs. Sie haben
schon kein Ziel mehr vor Augen, es gibt keine Inhalte mehr fiir sie, es bleibt
nichts anderes iibrig als das Letzte: das Unmdgliche zu tun. Und dann folgt
die groSe Stille; fiir eine Minute an der Spitze des Turmes zu stehen, fiir eine
Minute auf das Leben zuriickzublicken und all das zu sehen, was gewesen
sein kénnte und in der grofen Ekstase einer Minute alle Méglichkeiten des
Lebens zu erleben.
Skuljes Ausspruch in den »Kronpratendenten«: »Es gibt Manner, die ge-
schaffen sind, um zu leben, und Manner, die geschaffen sind, um zu
sterbene! — k6nnte das Motto dieser Tragikomédien sein. Hier nahm Ibsen
in vieler Hinsicht die dramatischen Visionen seines Alters vorweg. Hier sind
aber noch alle Probleme viel unbewufter, die Zeichnung aller Grundlagen ist
viel einfacher, die Psychologie ist noch viel primitiver. Vielleicht gerade
deshalb erreicht Ibsen in ihnen die Tragédienform, die zum lyrischen
Mysterium neigt, die er in seinem Alter wieder gesucht hat. (Denn die
»Gespenster« sind aus diesem Gesichtspunkt ganz anders, viel harter, spro-
der, von einer einfacheren Linie; mit gréferer Distanz betrachtet, zuriick-
haltender und nur mittelbar lyrisch.) Sicher gibt es in diesem Stick viel
Primitives, das in seinem Alter nicht vorstellbar gewesen wire, er kam aber
hier dem Wesentlichsten viel naher als jemals in seinem Leben. Es ist wahr,
diese Tragédie — wie die von Frau Alving - liegt auch nicht auf dem Weg der
Entwicklung seiner Probleme: vom Kampf zwischen Romantik und Wirk-
lichkeit ist hier in keiner Form die Rede. Deshalb war es vielleicht fiir Ibsen
méglich, seine Menschen ohne viele Analysen einander gegeniiberzustellen
und weniger den Boden, auf dem sie stehen, zu untersuchen, weniger die
Frage der Berechtigung der aus ihnen ausbrechenden Kriifte zu analysieren.
Deshalb steht Skule, neben all seiner Zerrissenheit, mit ungebrochener Kraft
seinem Schicksal gegeniiber, der stets unsichere Mensch dem stets sicheren
Leben; was hier in einem anderen seiner Menschen, in Hakon Hakonson mit
ergreifender Kraft zum Ausdruck kommt. Dieses Drama ist die Tragédie des
Zweifels, es ist vielleicht Ibsens persénlichstes Drama und vielleicht ist die
Kritik seiner ganzen spateren Kunst im Dialog Skules und Jatgejrs tiber den
Zweifel vorhanden.
Henrik Ibsen, Versuch, eine biirgerliche Tragédie zu schaffen 263
2.
Das Hauptziel Ibsens reifster Zeit war die Erschaffung eines gesellschaftli-
chen groen Dramas, einer biirgerlichen Tragédie. Er ging von den gleichen
Grundlagen aus, die bei allen anderen zu den firchterlichsten Trivialititen
gefiihrt haben, um sich zu gro&ten tragischen Héhen zu erheben; das ist der
erste und einzige solche Versuch in der ganzen neuen Drameniliteratur. Und
Ibsen erhebt sich tatsichlich von dort, wo die anderen stehengeblieben sind,
bei der Technik des franzésischen Dramas, denn von hier ging er in seiner
friihesten Jugend aus, und er behielt sie sein ganzes Leben lang bei. Als
Dramaturg und Regisseur in Bergen lernte er Scribe kennen, und seine
Sticke, die er in dieser Zeit schrieb, stehen technisch véllig unter seinem
Einflu&. Als spater franzésische Kritiker tiber seine Gesellschaftsdramen
sagten, daf sie in vielem unter dem Einflu8 Dumas’ stiinden™, antwortete
Ibsen damit, da& er von Dumas nur gelernt habe, wie man schreiben miisse
und welche Fehler, die Dumas begangen hat, zu vermeiden seien.”” Beide
Seiten hatten recht. Ibsen lernte wirklich nichts von Dumas selbst, sondern
er nahm einen Weg, der zu dem von Dumas parallel verlief: Beide wollten
die Scribe-Technik modernisieren, fiir ihre Zwecke geeignet machen und so
ist es natiirlich, da& es bei ihnen, wie verschieden auch ihre Ziele waren,
etwas Gemeinsames geben mufte.
Die franzésische Technik unterscheidet sich vom Naturalismus durch ein
Hauptprinzip: durch die Art des Erweckens und Wachhaltens des Interes-
264 Die heroische Epoche
ses. Wahrend das Wesen der Technik des Naturalismus, wie wir sehen
werden, darin bestand, da& die Mittel des Inhaltes und der Wirkung vollig
zusammenfallen, d. h., da allein das Thema interessant ist, bemiihte sich die
franzsische Entwicklung, einer Technik, die fiir die Wirkung zustande kam
und unabhingig von jeglichem Inhalt wirkte, einen neuen Inhalt zu geben.
Hier gibt es also keinen notwendigen Zusammenhang zwischen Inhalt und
Form; sie sind nicht organisch zusammengewachsen, sie sind nur schlecht
und recht verkniipft.
Ibsen beherrschte auf seinem Héhepunkt alle technischen Griffe mit villiger
Sicherheit, die Technik selbst war aber die gleiche wie in den Dramen seiner
Jugend. Seine Themen, seine Weltanschauung, seine Menschenbetrachtung,
alles veranderte sich, aber diese Veranderung war nicht mit einer Suche nach
einer neuen Technik verbunden. Er verfeinerte nur die alte, er war immer
mehr bestrebt, sie unsichtbar zu machen, sie mit naturalistischen Auferlich-
keiten zu verschleiern und zu verdecken (z. B. die Abstumpfung am Ende
der Aufziige), er verinderte aber im Wesentlichen nichts an ihr.
Im vorhergehenden Kapital beschaftigten wir uns eingehend mit der franzé-
sischen Technik, hier geniigt es also, mit einigen Beispielen zu belegen, da
Ibsen bis zum Ende seines Lebens diese Technik beibehielt. Die Handlung
wird auch bei ihm von Ereignissen bewegt, es gibt Intrigen. Das ist in seinen
Jugenddramen (»Frau Inger auf Oestrot«, »Die Kronpratendenten«) beson-
ders auffallend. Neben der komplizierten Struktur der spateren Stiicke hat
natiirlich kaum eine Gestalt eine solch starke motorische Rolle wie die des
alten Intriganten; aber in der Rolle Krogstads (»Nora«), im Benehmen
Engstrands Manders (»Gespenster«), Bracks Hedda Gabler gegeniiber,
darin, wie Kroll sich bemiiht, Rosmer in ihr Lager zuriickzubringen, in den
Plainen Lona Hessels mit Bernik (»Die Stiitzen der Gesellschaft«) usw. sind
die - wir kénnten sagen, rudimentiren — Uberreste der Intrigen vorhanden.
Aber was damit zusammenhingt, die starke und auffillige Rolle der Zufalle,
ist wichtiger. In den »Kronpritendentene geht Skule, der Skeptiker, wie wir
wissen, im Gegensatz zu dem nie schwankenden Hakon unter. Im entschei-
denden Augenblick ist die Lage die folgende: Skule siegte in einer Schlacht
gegen Hakon, und er glaubt nicht, daf der sich schon erholt habe. Er ist voller
Zweifel und innerer Sorgen; als man ihn benachrichtigt, da& Hakon kommt,
wagt er es nicht, entschlossen Vorkehrungen zu treffen; er glaubt nicht an
seinen Sieg, vielleicht ware er sogar damit einverstanden, wenn der Kampf
schon zu Ende wire, wenn er untergehen wiirde. Und oun, als man die
ausweglose Situation bereits nicht mehr retten kann, erscheint seine alte
Henrik Ibsen, Versuch, eine biirgerliche Tragédie zu schaffen 265
Geliebte, die ihm ihr Kind (von dem er bis dahin nichts wuSte) bringt. In
Skule erwacht wieder der Tatendrang, es ist aber schon zu spat. Wir sehen,
da8 hier der Untergang keine innere Notwendigkeit ist. Wenn die Frau eine
halbe Stunde und nicht fiinf Minuten vorher kame, kénnte sich alles zum
Besten wenden; wenn sie sich einen Tag verspiitete, fande sie Skule vielleicht
nicht einmal mehr am Leben. Die Entlarvung Stengards, des Strebers, spielt
sich aber genauso ab (»Der Bund der Jugend«). So wirken Olafs Flucht und
sein Auftauchen, Johanns Grofmiitigkeit gegeniiber dem Fackelzug und der
Feier zu Berniks: Ehre zusammen, indem sie ihn zur Besserung und zum
Eingestindnis seiner Siinden bewegen. Von solchen Zufillen ist auch - um
¢in sehr spites Stiick zu nennen — in »Hedda Gabler« das Ende Heddas und
Lévborgs abhingig. Lévborg verliert zufillig sein Manuskript; Tesman
findet es zufillig; er zeigt es Hedda, der es mit Hilfe einiger Zufille gelingt,
das Manuskript in die Hinde zu bekommen; und auch spiter - nachdem
Hedda es vernichtete - bleibt es immer zufillig, da& Lévborg nicht er-
fahrt, da8 Tesman sein Manuskript gefunden hat (und wer weif, wie das
Stick enden wiirde, ‘wenn Lévborg erfiihre, was Hedda damit gemacht
hat?). Aber auch Heddas Schicksal wird von solchen Zufillen gelenkt, so
gerat sie in die Gewalt des Rates Brack, und sie ist nicht imstande zu leben,
wenn jemand sie beherrscht. Brack sieht zufillig bei der Polizei die Pistole,
mit der Lovborg sich erscho8; er erkennt sie, und dadurch ist Hedda, die vor
einem Skandal zittert, in seiner Hand; dazu kommt noch, daf — infolge von
zufilligen Wohnungsverhiltnissen — Tesman und Frau Elvsted lingere Zeit
nicht zu Hause sein werden, und Hedda wiirde lange mit ihm allein sein.
Sogar direkte Mifverstindnisse werden in den spiteren Stiicken zu bewe-
genden Kriften; Arnholm (»Die Frau vom Meere«) kommt z. B. deshalb zu
Wangels, weil Dr. Wangel in einem Brief an ihn jemand erwahnt (ohne den
Namen zu nennen), der auf ihn wartet. Er glaubt, da& von Bolette Wangel
die Rede sei, obwohl Wangel seine zweite Frau gemeint hat - ebenfalls
irrtimlich.
Auch die »grofe Szene« blieb in den Ibsen-Dramen bestehen. Daf Ibsens
Philosophie tiefer und gewagter als die irgendeines Franzosen war, indert an
der kiinstlerischen Seite der Frage nichts. Noras letzte grofe Abrechnung
mit ihrem Mann ist noch rein rhetorisch, in den spiiteren Stiicken ist auch
hier die Konstruktion besser verschleiert. Aber Rebekka Wests Gestindnis
(»*Rosmersholme, m. Aufzug), die groSen Szenen Wangels und Ellidas (»Die
Frau vom Meeree, tv. Aufzug), Ellas und Frau Borkmans (1. Aufzug) usw.
sind ganz offensichtlich nichts anderes als die unendlich vertieften und
266 Die heroische Epoche
stirkere Wirkung haben werden. Es ist eine besondere, fast tragische Ironie
in Ibsens Schicksal, da& er, der grofe Revolutionir, der alle Teilreformen so
sehr verachtet und stets die villige und radikale Vernichtung des Veralteten
gefordert hat, in einer solch wesentlichen, entscheidenden Frage nur etwas
Altes verbesserte und flickte, statt etwas Neues zu suchen. Was er mit so
bitterem Zorn im Leben aller seiner Helden verfolgt, das Bauen auf falsche
Grundlagen, ist ihm selbst am entscheidenden Punkt seines Lebens auch
geschehen.
Wie konnte das geschehen? Hatte nur die tragische Ironie mit ihm gespielt,
die z. B. sogar beim gegen die »Lebensliige« ankimpfenden Greger einige
verlogene Illusionen, »Lebensliigen« aufrechterhielt? Vielleicht spielt das
hier auch eine Rolle, die wahren Ursachen sind jedoch auf alle Falle viel
ernster und tiefer. Ibsen suchte nach der grofen Weltanschauungskrise
seines Mannesalters das gesellschaftliche Drama, und hier stand ihm diese
Technik fertig zur Verfiigung. Und sie entsprach iibrigens auch sonst nicht
nur einer seiner, wenn auch nicht wahrsten und kiinstlerischsten, aber
starken Neigungen und ermdglichte die unmittelbare Wirkung dieser Stiicke
doch eher als es sonst méglich gewesen wire. Ibsen steigert sich bis zum
Gipfelpunkt, und gerade deshalb geraten alle Tendenzen des neuen Dramas
in eine Krise. Seine Dramen wuchsen tatsichlich aus dem heutigen Leben
heraus, in ihnen kommen heutige Schicksale heutiger Menschen in ihren
heutigen Formen vor, und dennoch ~ trotz allem — iiben sie eine starke, tiefe
und nicht triviale Wirkung aus. Seine Dramen sind wirklich dramatisch, im
schénsten und héchsten Sinne des Wortes, sie stammen aber zugleich vollig
aus der Seele der Biihne. In diesen Dramen wird endlich alles vereint, was bei
allen anderen nur in Teilen vorhanden war. Alles wird vereint, - um fir diese
Harmonie mit zutiefst wirkenden Stildissonanzen zu zahlen. Wegen dieser
Synthese bendtigte Ibsen — so glaube ich — die franzésische Technik. D. h.:
im Ton, in der Form seiner ersten Gesellschaftsdramen war ohnehin etwas
von ihrem Ton, ihrer Tendenziositat vorhanden, und nur spiter behielt er sie
aus diesen Griinden bei. Dazu kommt noch, da der Ubergang zwischen
Tendenzdrama und Tragédie bei Ibsen bei weitem nicht abrupt sprunghaft
war. Von »Die Gespenster« bis »Hedda Gabler« kann man noch in allen
Stiicken die Rudimente des Alten finden, die ersten neuen Téne hingegen
sind bereits in den ersten Tedenzdramen hérbar.
Die wichtigste, die entscheidenste Ursache war vielleicht die folgende: Ibsen
hatte aus einem ganz anderen Grund dieselbe Einstellung zu seiner Hand-
lung wie die Franzosen. Ganz negativ ausgedriickt: niemandem konnten die
272 Die heroische Epoche
wenn er sich in allen Dramen so verhilt, ist es hier noch viel notwendiger als
sonst iiberall, da& solche Dinge nachtraglich notwendig gemacht werden, die
in ihrem An-Sich-Sein héchstens méglich waren. Dazu kommt noch, da8
Ibsen seine Handlung nur als Hintergrund bendtigte, der seine Menschen
hervorhob. Er brauchte nur so viel Handlung, daf sie mit ihren hellen
Lichtern und dunklen Schatten imstande war, grofe dekorative Wirkungen
auszuiiben. Diese Technik war also auch von diesem Gesichtspunkt nahelie-
gend. Auferlich ist sie die Technik des intimen Dramas und die villige
Ausschépfung all ihrer Wirkungsméglichkeiten, aber gerade mit deren Hilfe
bedeutet sie eine Steigerung bis zur Monumentalitit. Denn ein jedes intimes
Drama strebt danach, die Handlungen méglichst an einem Ort abspielen zu
lassen. Je verwickelter sozial die Menschenbetrachtung eines Dichters wird,
d. h., je mehr Umstinde bei ihm Entwicklung und Charakter des Menschen
bestimmen, um so stirker muf er das Milieu herausstellen, in dem der
Betreffende lebt. Und das wire unerreichbar, wenn uns der Dichter nach
jedem Akt, eventuell sogar nach jedem Bild in eine andere Welt einfiihren
wiirde. So ist jedoch z.B. in »Rosmersholm« und »Hedda Gabler« die
Atmosphire so stark, da& wir die alten Umstiinde der Menschen, die hier
nicht zu Hause sind (Rebekka, bzw. Tesman), in ihren stindigen Zusam-
menstéfen mit der neuen Umgebung noch stirker spiiren, wie wenn der
Dichter auch diese Umgebung auf die Biihne gebracht hatte. Das Milieu
kann somit lyrisch und dekorativ werden und kann eine durchdringende
Kraft erhalten, die mit allen anderen Techniken viel schwerer zu erreichen
wire.
Die analytische Technik ist aber zugleich die intellektuelle Technik des
Dramas, die Form der inneren Distanzierung. Es ist kein Zufall, da sie in
der intellektuellen griechischen Tragddie vorherrschend war, in der noch
jegliche Lyrik abseits stand und diese auch beinahe véllig intellektuell war.
Diese Technik herrscht auch in der »tragédie classique« und in allen Dra-
men, die die Entfernung vom Leben suchen und die Konflikte nicht unmit-
telbar sinnlich erleben (Schiller). Sie herrscht aber nie dort, wo das Drama
infolge der Vision des Zusammenstofes einander entgegengesetzter Kriifte
entsteht, ohne da& das Problem, das die Grundlage bildet, wirklich oder
zumindest in intellektueller Form bewu8t wire (das Drama der Elisabetha-
nischen Epoche). Bei Ibsen war - wie wir sahen — diese intellektuelle
Problembetrachtung und ihre dialogische Zuspitzung duferst stark. Ihn
interessierten, wie auch Hebbel, nicht die Dinge in ihrer sinnlichen Wirk-
lichkeit: sie existierten fiir beide héchstens nur als Materie, die zum Aus-
Henrik Ibsen, Versuch, eine biirgerliche Tragédie zu schaffen 275
druck grofer, abstrakter, rein seelischer Konflikte geeignet ist. Sie haben
nur soviel von diesen Dingen in ihre Dramen mit hineingenommen, wie zu
diesem Ausdruck unbedingt erforderlich gewesen ist. Deshalb kann Kerr
Ibsens Kompositionsweise villig berechtigt linear nennen.”* Diese alles
abkithlende und alles in groSe Entfernung riickende Intellektualisierung
beraubt seine wunderbar reich und vielseitig gesehenen Gestalten oft ihrer
Lebendigkeit. Folge einer Intellektualisierung ist, da8 diese Gestalten oft nur
wie Schemata menschlicher Beziehungen wirken, da8 nur das Lyrische der
Anniherungen und Entfernungen tatsichlich wirkt und ibre starke Mensch-
lichkeit nicht spiirbar ist. Sie erméglicht jedoch die komplizierte und vielfal-
tige Beleuchtung dieser menschlichen Beziehungen in einem Mafe, wie es
fiir die, die unmittelbarer Menschen schaffen, nicht gegeben ist. Sie macht
die Betrachtung einer Sache immer von vielen Punkten her méglich; sie
erméglicht das tiefe und gro&e Schwanken zwischen Ironie und Pathos, das
der charakteristischste Stil seiner Stiicke ist. Somit erreicht dieser Stil bei ihm
im Reichtum — wie bei Hebbel in der Tiefe und bei Alfieri in der Reinheit.
~ seinen Gipfelpunkt. Er erreicht das Maximum, aber in einer Richtung, die
nicht durch die inneren Méglichkeiten dieses Stils geschaffen wurde, die also
nur durch seine ganz persinlichen grofen Qualititen erméglicht wurde; dies
kann also kein Weg fiir andere sein. Diese Form — ich meine hier die
intellektuelle Problembetrachtung - kann man nur mit grofer Gewalt mit
der anderen vereinen.
Das gelang Ben Jonson und seiner Schule nicht, die in der geeignetsten Zeit,
in der Elisabethanischen Epoche, diese Synthese versucht hat; es konnte
Ibsen nicht gelingen, bei dem alle von der Epoche gebotenen Méglichkeiten
gegen ihn gearbeitet haben. Denn das Leben als Stoff verursacht selbst, da&
die Distanzierung, - trotz aller dramatischen Gefahren — einen adaquateren,
reineren Stil ergibt als die unmittelbare Darstellung der Geschehnisse. Denn
dieses Leben bringt es mit sich, da die Menschen mehr sprechen als handeln
und fiir alle ist die Sprache charakteristischer als die Tat. Deshalb ist es auch
stoffgerechter, in den modernen Dramen die Geschehnisse, die sich in der
Vergangenheit abspielen, lieber nachtraglich besprechen zu lassen, als daf sie
sich vor den Augen der Zuschauer abspielen, abgesehen davon, daf dies
infolge der furchtbaren Kleinlichkeit und des atomistischen Charakters der
Handlung kaum erreichbar wire. Es wire z. B. unvorstellbar, es sich vor uns
abspielen zu lassen, wie Rebekka West Beate in den Tod lockt.
Ich glaube, das sind die Ursachen dafiir, da8 Ibsen stets nur die Katastrophe
auf die Biihne bringt und deshalb braucht er einen so komplizierten Apparat,
276 Die heroische Epoche
Viertes Buch
Der Naturalismus
Bige soll aus dem Drama ausgemerzt, das Drama aber dennoch unmittelbar,
stark wirkend gestaltet werden. Das ist somit in erster Linie die Frage der
Biihne, die Schaffung der Biihnenausdrucksmittel des neuen Dramas. Das
alte Drama schien dafiir nicht geeignet, fiir den wirkungsvollen Biihnenaus-
druck des neuen Menschen mufte man etwas Neues suchen. Diese Suche
und damit im Zusammenhang der Kampf gegen das Alte ist der hauptsich-
liche Inhalt der naturalistischen Bewegungen. Der Kampf richtet sich iiber-
all, aber hauptsichlich in Paris, gegen das Tendenzdrama, in Deutschland
nebenbei gegen die Epigonen des Schiller-Dramas, in England gegen das
Melodrama usw. Alle erwarteten eine Zeitlang alles von der Suche nach den
Ausdrucksmitteln und alle anderen Fragen - die meisten wichtigen Fragen
der wirklichen Dramatik — wurden fiir lingere Zeit ganz in den Hintergrund
gedringt.
Diese Bewegung nahm in Paris ihren Anfang, sie war der Kampf der grofen
franzésischen Dichter um die Biihne und gegen die auf der Biihne herrschen-
den Schablonen; sie war ein Kampf, um das Drama auf das Niveau zu heben,
das der Roman bereits erreicht hatte. Anfanglich wollen diese dilettantischen
Dramatiker, die eine Buhne herbeisehnen, keine Revolution, sie méchten
nur das Monopol derer durchbrechen, die zur Zunft gehéren, sie wollen
blo8, da& man auch sie spielt, da& auch sie Erfolge haben, sie versuchen
sogar ihre Stiicke so zu schreiben wie die anderen. Diese Dichter bemerkten
die Gekiinsteltheit, die Leere und das Unliterarische des Dramas und der
Biihne erst dann, als ihre Sticke durchfielen, weil sie entweder auf die alte
Weise, jedoch ungeschickter als die Stiicke der alten Meister der Biihne
konzipiert waren oder weil die Dichter doch ein wenig gewagter, interessan-
ter zu sein versuchten als die anderen und die Hiiter der Tradition und das
Publikum, das in den Traditionen aufwuchs, sie kalt zuriickwiesen. Entwe-
der sie verachteten das Theater, das nicht fiir die wahren Kiinstler geschaffen
wurde und verlieBen es oder sie fiihrten theoretisch aus, da in jeder
Hinsicht von Grund aus reformiert werden miisse. Zwei-dreijahrlich ver-
sucht ein bedeutender Dichter die Biihne zu erobern. Nie gelang es.
In der Zwischenzeit vollzog sich bereits iiberall die Wandlung; im Roman, in
der Lyrik dringt der Ausdruck der neuen Gefiihle in neuen Formen, die
Entdeckung der ganz spezifischen Erscheinungen des heutigen Lebens als
kiinstlerischer Wert schon siegreich vor. Der Kampf ist noch stark im
Gange, die groRen Massen des Publikums erkennen diesen Ausdruck noch
nicht an, er ist aber bereits lebendig, er kimpft, wird immer stirker - nur in
der Dramenliteratur bleibt alles beim Alten. Man konnte nicht gewaltsam
vi Die Wegbereiter der neuen Technik 281
a
Die Gebriider Goncourt, die in ihren Romanen so heroisch neu und
revolutionér waren, versuchten ebenfalls nur vorsichtig, auf Umwegen eine
neue Stimmung und neue Farben ins Theater zu bringen. Uber »Henriette
Maréchal« sagt Goncourt selbst, daf es ein ebensolches Stiick werden sollte
wie andere, nur der erste Akt sei individuell.’ Sie schienen darauf zu
vertrauen, da& der Erfolg ihnen mit der Zeit immer mehr Abweichung von
den Schablonen der Epoche erlauben wiirde. Das Stiick wurde aus literari-
schen und unliterarischen Griinden (die republikanische Jugend glaubte in
den Goncourts die Giinstlinge Napoleons zu sehen, und es wurde der
Klatsch verbreitet, da Herzogin Mathilde, die Kusine des Kaisers, die
Auffiihrung des Stiickes erwirkte) bei der Urauffihrung ausgepfiffen und
nach einigen Vorstellungen vom Programm abgesetzt. Dieser lautstarke
Miferfolg weckte die Energie in den Briidern. Sie beschlossen, eine ganze
Reihe von Stiicken zu schreiben, nun aber ohne jeglichen Opportunismus,
ohne die effekthaschenden Kunstgriffe der Biihne mehr zu beriicksichtigen.
Nur ein Stiick wurde fertiggestellt: »La Patrie en Danger«. Sie reichten es
fast als ein Manifest dem Théatre Frangais ein, in der sicheren Uberzeugung,
da8 man es nicht auffiihren werde. Mehr schrieben sie aber nicht. Edmond
de Goncourt sagte spiter, da8 sein Bruder, Jules die damit verbundenen
Aufregungen nicht ausgehalten hatte.” Es ist mdglich, es ist sogar wahr-
scheinlich, da& das mit die Ursache ihres Riickzuges war. Denn Jules de
Goncourt wurde einige Jahre spiiter tatsichlich das Opfer dieser an Feinden
reichen, villigen literarischen Isolierung, in der sie gelebt haben; ihn brachte
die véllige Ignorierung ihrer Kunst nach »Madame Geraisais« um. Der
altere, robustere Bruder, der nach dem Tod des jiingeren die bisherige
gemeinsame Arbeit auf sich nahm, fiihrte aber ihren Plan nicht durch. Als er
ihre Dramen.- viel spiver - herausgab, fiihrte er im Vorwort aus, daf das
Ende des Theaters darin liege, da& man die feine Psychologie des modernen
Romans nicht auf die Biihne bringen kénne; das Theater werde, wie es sich
282 Der Naturalismus
entwickle, eine stindig rohere Sehenswiirdigkeit, das Buch werde das Thea-
terstiick in fiinfzig Jahren téten.’
Spater anderte sich - gewissermafen — seine Meinung. Als der Naturalismus
in der Literatur schon gesiegt hatte und die energisch voranschreitende
jiingere Generation die einzige Burg, die noch nicht gefallen war, das
Theater, stark belagerte, versuchte sich Edmond Goncourt, der als einer der
Ahnen des Naturalismus schon beinahe eine literaturgeschichtliche Stellung
hatte, wieder mit der Biihne; jetzt wandelte er seine Romane zu Stiicken um
oder lie sie von anderen zu Stiicken, besser gesagt zu Bilderreihen umarbei-
ten. Er hate die gekiinstelte Struktur des franzésischen Tendenzdramas und
glaubte, wenn er die Akte aufhebe und statt dessen lose zusammenhingende
Bilder gebe, kénne er die Sprodigkeit des alten Dramas auflésen. Damit
wollte er das Stiick dem Buch naherbringen, er wollte die Uberzeugung, die
besonders von Sarcey propagiert wurde, umstiirzen, nach der die Biihne ein
ganz besonderer Bereich sei, wo die gewdhnlichen literarischen Fahigkeiten
nicht in Betracht kommen wiirden, wo man wirken diirfe wie man wolle,
nur eine Wirkung soll da sein, wobei es gleichgiiltig sei, ob die Menschen
ihre eigene Sprache sprechen oder die schlechte, abstrakte Papiersprache, die
vom Dichter diktiert wurde; die letztere sei sogar wertvoller, weil sie leichter
zu verstehen sei.‘ Die Folge davon war, da die Menschen von feinem
Geschmack diese Stiicke nicht lesen konnten und die guten Dichter mit
Verachtung »de la prose d’auteur dramatique« sprachen. Das aufzuheben
war der groSe Wunsch Goncourts in seiner Biihnenreform. Der Naturalis-
mus war ihm nicht so wichtig, er hielt ihn auch nicht sehr fiir realisierbar,
er
wollte blo& das Drama so nahe an das Niveau des Romans heranbringen wie
nur méglich.
Somit stellen die ersten Versuche keine wirklichen Dramen dar, und ebenso-
wenig sind es die spateren dramatisierten Romane. Die ersteren bediirfen der
Zufille, einer ganzen Kette unwahrscheinlichster Zufille, um die Gestalten
miteinander in irgendeinen Konflikt zu bringen. In »Henriette Maréchal«
verliebt sich Paul de Brévill bei einem Maskenball in Frau Maréchal, die er
nicht kennt. Jemand beleidigt die Frau, Paul duelliert sich fiir sie, er wird
verletzt und er gerat — zufallig - in das Haus der Maréchals, wo man ihn
pflegt, ohne daf er weif, da er bei seiner Geliebten ist. Als er genesen ist,
erfahrt er zufallig die Wahrheit - und nun kann das Drama beginnen.
Zwischen Perrin und Blanche de Valjuzon (»La patrie en Dangere) ist von
Natur aus die Méglichkeit des Konflikts gegeben: die groSe Revolution. Er
ist ein Volksfiihrer, sie ist eine Aristokratentochter, sie lieben sich, ohne da8
vu Die Wegbereiter der neuen Technik 283
sie es einander gestehen. Die Goncourts bendtigen aber wieder eine ganze
Reihe von Zufillen, um sie, nachdem sie sie in einem Akt endgiiltig
voneinander getrennt haben, in einem anderen wieder zusammenzubringen,
damit das Drama seinen Fortgang nehmen kann. Diese vielen Zufille sind
dennoch nur ein Symptom; sie sind nur ein Zeichen dafiir, daf diese Dramen
auf keine Weise dramatisch konzipiert sind. In keinem der genannten
Dramen ist vom Kampf, als von etwas, das das ganze Leben bedeutet, die
Rede, da& irgendein Drama — wie wir es auch betrachten
~ das ganze Leben
bedeuten kinne. Das erstere ist eine Novelle mit den interessanten Zufillen,
tiberraschenden Schicksalswendungen der Novelle; es ist ein im Leben
viellescht oft, vielleicht selten vorkommender, mehr oder weniger interessan-
ter Fall. Das zweite steht dem Drama etwas naher: in der Liebe oder
vielmehr um die Liebe Blanches und Perrins ist die Welt der ganzen
Franzésischen Revolution gruppiert, aber auch hier nur um diese Welt, nur
im Zusammenhang mit ihrem Schicksal, wie es — sagen wir — in einem Roman
méglich ware. Es geschieht etwas mit zwei Menschen, und als Rahmen
erscheint vor uns die ganze Welt, die sie umgibt; sie erscheint aber nur um sie
und nicht in ihnen, nicht durch sie; sie ist nicht zu einem Symbol in ihrer
Beziehung geworden. Es geschieht etwas, sie sind jedoch blof& passive
Helden des Geschehens; was sie tun, dieses Geschehen hat keine besondere
Bedeutung, es wird hier alles von etwas ganz anderem gelenkt und alles, was
mit ihnen geschieht, ist nur Episode. Alles ist nur Episode, episodisch
gesehen, und zwar riickt nur dadurch etwas in den Mittelpunkt der Ge-
schehnisse, weil das Auge des Dichters gerade darauf fiel, weil er gerade das
als geeignet ansah und nicht etwas anderes, dessen innere Bedeutung das
Gleiche gewesen wire. Somit gibt es keine zwischenmenschlichen Zusam-
menhinge im dramatischen Sinn, auch menschlich dauern sie nur eine Szene
lang; dann beginnt alles von vorne und es muf wieder der komplizierte
Mechanismus der Zufille in Anspruch genommen werden, um sogar diese
Beziehung zwischen ihnen wiederherstellen zu kénnen. Sie haben auf den
peinlichen Mechanismus des Tendenzdramas verzichtet, sie fanden aber den
neuen Organismus, den sie gesucht haben (der in den Romanen vorhanden
war), nicht. Deshalb sind ihre Stiicke voll unangenehmer und neben der
natiirlichen Sprache und der naturalistischen Menschenzeichnung doppelt
peinlich wirkender Zufille und Unwahrscheinlichkeiten. Wenn sie auch in
den spateren Stiicken fehlen, sind diese noch weniger dramatisch. Diese
Dramen sind Aneinanderreihungen von Bildern, die aus ihrem erbirmlichen,
traurigen Schicksal zufillig herausgerissen sind, und es gibt keinen Zusam-
284 Der Naturalismus
menhang zwischen den Bildern, blo8 kommt die gleiche Person inihnen vor.
Das ganze Leben, die Weltanschauung und somit die Kunst der Gebriider
Goncourt war véllig undramatisch. Sie kannten in ihrem Leben keine
Konflikte. Als sie sich der Literatur verschrieben, wuften sie, was sie taten,
daf sie allein dastehen wiirden; da8 sie aus dem sogenannten Leben ausge-
schlossen sein wiirden, wenn sie Beobachter werden wollten. Sie nahmen
aber ihr Schicksal gelassen, mutig und heroisch auf sich. Sie wiinschten sich
nur Verstand zum Schaffen, Augen zum Sehen und eine Feder in ihrer Hand,
womit sie alles niederschreiben konnten; sie hitten gerne auf alles andere
verzichtet. Sie haben auch auf sehr vieles verzichtet und nahmen es als
selbstverstindlich hin, da& sie verzichten muften. Die Kiinstlertragédie, die
ihr Freund Flaubert erlitt, kannten sie nicht; ihre Isoliertheit verlangte nicht
so groBe Opfer wie seine, sie schwankten nicht tragisch-ohnmichtg zwi-
schen Kunst und Leben, sie bereuten keine Minute lang, die Kunst gewahlt
zu haben. Jules de Goncourt ging an der Erfolglosigkeit zugrunde: sein Tod
war eine Katastrophe, es ist traurig, aber nicht tragisch. Beide waren
heroische Literaten. Als den alternden Edmond die Gefahr der Blindbeit
bedroht, schreibt er nur soviel in sein Tagebuch: »Il me serait peut étre
donné de composer une volume ou plutét une série de notes toutes spiritua-
listes, toutes philosophiques et écrits dans l’ombres de la pensée.«* Flaubert
war vielleicht nicht in diesem Mafe heroisch, er wurde jedoch durch seinen
grofen Lebenskampf zu einem tiefen Denker und grofen Dichter (oder
entstand vielleicht dieser Kampf, weil er ein Dichter war?). Die Gebriider
Goncourt waren nur Literaten, wenn sie auch heroisch waren.
Sie waren keine Dichter und keine Denker, sie waren blo& unglaublich
subtile Beobachter und feine Schreibkiinstler, die gar fiir die Wahrnehmung
feinster Nuancen subtile und treffende Worte fanden. »Toute ma valeure,
sagt Charles Demailly, ihr erster Romanheld, in dem sie in vieler Hinsicht
sich selbst zeichneten, von sich, »[. . .] c’est que je suis wn homme pour quile
monde visible existe«.° Diese »monde visible« war auger dem Schreiben ihre
einzige Liebe. Es interessierte sie alles, iiberall konnten sie Schénheiten
finden, von den vornehmen Salons bis zu den Provinzbordellen. Verschiede-
ne Wolkenbildungen, der Rhythmus im Gang der FuSginger, die Melodie
geistreicher Unterhalrungen, japanische Holzschnitte und die Maler des
18. Jahrhunderts, alte Mébel und impressionistische Bilder: es gab keine
schinen Dinge, die ihrer Seele fremd gewesen waren (die Musik ausgenom-
men). Sie waren subtile, sensible, seelische Erregungen suchende und lieben-
de Amateure und hatten keine Neigung, — natiirlich auch kein Talent- des,
vu Die Wegbereiter der neuen Technik 285
was sie erlebten zu gruppieren, unter- und nebenzuordnen. Ihnen waren alle
Dinge — wenn sie interessant waren — gleich wichtig. Deshalb fanden sie bei
der Beschiftigung mit der Geschichte so viele Feinheiten heraus, die die
Historiker, die die grofen Linien der Entwicklung suchten, nie sahen. Bei
ihnen fehit aber jeglicher héherer Aspekt, jegliche Veraligemeinerung; sie
sehen nur Details, héchstens einzelne Menschen. Bei allem, was sie schrei-
ben, sind sie Monographen und der Aspekt der Monographen ist es, iiberall
und in allem nur das Individuelle zu suchen, das, was den Menschen oder
den Fall, den sie beschreiben, von allem anderen unterscheidet, was ihn nur
zum Individuum oder zum Fall macht, zu etwas, das nur als Einmaliges
existieren kann. Die monographische Betrachtungsweise ist der polare Ge-
gensatz der Betrachtungsweise des Typischen, des Symbolischen. Alle
Schriften der Goncourts sind eigentlich Monographien: sie sind die ganz
individuelle Geschichte eines interessanten Menschen; das allgemeinere In-
teresse gibt ihnen das Milieu und die Beschiftigung des Betreffenden. Die
Atmosphire, das Milieu, der Charakter, die Geschichte ist nicht mehr
allgemeingiiltig: es ist ein individuelles Leben voller Zufille, lebensgetreu,
ohne Stilisierung niedergeschrieben, was bei der kleinsten Typisierung von
selbst zustande kommt.
Deshalb konnten sie auch nie Dramatiker werden. Sie sehen nirgends einen
Konflikt; auch in ihren Romanen werden héchstens Kampfe und nicht
Konflikte beschrieben. Sie sehen nicht das Typische in den einzelnen Fillen,
denn sie sehen nur Fille und nichts, was auSer den rein pragmatischen
Ursachen dahintersteht. Sie hatten keinen Sinn fiir irgendeine Notwendig-
keit, denn alles was wirklich geschah und in der Form wie es geschah,
empfanden sie als Wirklichkeit. Somit bleiben alle ihre Dramen individuelle
Fille, und daf sie voller Zufalle sind, wird nicht nur durch ihre technische
Ungeschicklichkeit, sondern durch ihre ganze Betrachtungs- und Gefiihls-
weise verursacht. Viele ihrer AuSerungen in ihren Tagebiichern und in ihren
Vorworten beweisen, daf sie vom Wesen des Dramas keine Ahnung hatten,
sie verfehlten es nicht, sondern bemerkten iiberhaupt nicht, um was es geht.
Und doch ist auch heute noch in diesen verfehlten Stiicken vieles lebendig.
Die Menschen leben, wenn sie auch kein dramatisches Leben haben; wenn
auch ihr Leben nicht so vielseitig ist, wie das in den Stiicken der ihnen
nachfolgenden Generation, sind sie im Vergleich zu den Menschen ihrer Zeit
sehr lebendig. Und die Atmosphire der Stiicke ist noch villig frisch, ohne
Relativitat. Der Maskenball (»Henriette Maréchal« 1. Akt) erinnert mit
seinen vibrierenden, sich stindig verindernden, modern romantischen Stim-
286 Der Naturalismus
mungen manchmal an die Bilder Degas’, der einer ihrer Lieblingsmaler war.
Die Todesstimmung im letzten Akt von »La Patrie en Dangere, in dem die
verschiedensten Menschen im Hof des Gefingnisses zusammen sind — man-
che zynisch, manche mit der Ruhe des Philosophen, manche verzweifelt
~ die aus verschiedenen Griinden alle unter die Guillotine kommen werden,
ist sehr subtil erfa&t. Man kénnte fast sagen, in diesen Stiicken sei nur die
Atmosphire vorhanden.
Und die Sprache der Stiicke ist sehr subtil. »Une langue litteraire parlée«: das
war das Endziel der Dramatiker Goncourt.’ Der falsche, rhetorische Lyris-
mus ihrer Zeitgenossen war fiir ihre Ohren unertraglich, und an seine Stelle
wollten sie die wahren, unverfalschten Téne der Leidenschaften setzen. Sie
wollten wegen ihrer Liebe zum Leben einen naturalistischen Dialog, weil sie
die natiirliche Sprache als die schénste und ausdrucksvollste empfanden.
Und somit war die Sprache ihrer Sticke gut, klangvoll, geistreich. Der
Wohlklang der Sprache ist aber nicht das ténende Pathos der Romantiker,
sondern das der Situation, und die Geistreichheit der Sprache ist keine
abstrakte, dichterische, fiir das Publikum geschriebene Geistreichheit, son-
dern das Geistreiche - oder die Geistlosigkeit — des betreffenden Menschen.
Die Stiicke der Goncourts sind die ersten modernen franzésischen Sticke,
deren Stil man ebenso geniefen kann wie den der Romane. In dieser
Hinsicht erreichten sie auch ihr Ziel: sie hoben die Sprache des modernen
Dramas auf das Niveau der gut geschriebenen Biicher.
Und dennoch ist an ihrer dramatischen Tatigkeit nicht dies das Wertvollste,
sondern das, was sie als Stoff zusammentrugen, was sie als Méglichkeit eines
Weges fiir die Nachfolgenden erblickten. Vielleicht verhilt es sich mit ihrer
ganzen Laufbahn hnlich. Es wirken ethische Werte im Leben dieser konse-
quenten Astheten, die nichts anderes kannten als die Kunst; die trotz der
stindigen Isolierung, trotz der Feindseligkeiten unerschiitterlich auf ihrem
eigenen Wege gerade weitergingen; die es spiirten, daf etwas geschehen mu8
und ohne auf die méglichen Konsequenzen zu achten alles, was sie konnten, ~
fiir dieses Etwas einsetzten. In ihrer Tatigkeit ist dieses moralische, dieses
rein menschliche Moment das Wertvollste und nicht das, was sie fiir jene
Bewegung taten, die sogar in ihren héchsten Werten problematisch war, wie
viele gute literarische Qualititen auch darin enthalten gewesen seien.
2
Auch Zolas hauptsichlicher Wert liegt im Ethischen, bei ihm ist das sogar
noch augenscheinlicher. Die Goncourts wirkten immer nur auf die Kiinstler,
vu Die Wegbereiter der nenen Technik 287
von denen sie verehrt wurden, die aber meistens klar ihre Grenzen sahen und
nur das Wertvollste an ihren Werken schitzten; es gab also keinen Grund,
das Urteil iiber ihre Werke zu revidieren. Zola war eine Zeitlang sehr
popular, heute wird er kaum gelesen, in der Entwicklung der heutigen
Literatur spielt er keine Rolle, er ist veraltet, ist in Vergessenheit geraten.
Nur die Erinnerung an die gewaltige Anstrengung und an den grofen
Umfang von »Les Rougon-Macquarte ist noch lebendig. Und natiirlich fiir
viele in erster Linie die Dreyfu8-Affare. Darin, wie er hier auftrat, liegen alle
seine hervorragenden und grofen Eigenschaften: seine Vehemenz, Energie,
Wahrheitsliebe, sein Mut und seine Unnachgiebigkeit. Daf er seine literari-
schen Kampfe ebenso gefiihrt hat wie diesen Kampf, zeigt auch seine andere
Seite: seine Einseitigkeit, seinen engen Horizont, Fanatismus und den
Mangel an Psychologie.
Von seinen Prinzipien wich auch er sein ganzes Leben nicht ab, und er
schlo& keine Kompromisse. Seine Unnachgiebigkeit war jedoch laut, er war
¢in Plebejer verglichen mit der vornehmen Zuriickgezogenheit der Gon-
courts, und sein Radikalismus hatte fiir ihn auch Friichte getragen. Seine
Prinzipien gingen immer iiber das rein Kiinstlerische hinaus; seine letzten
Romane beweisen auch denen, die es nicht aus den ersten herauslesen
konnten, ganz klar, daf er mit seinen Schriften moralische Ziele verfolgt hat.
Der Zyklus »Les Rougon-Macquarte ist nur eine kritische Einfiihrung, die
anderen beiden Zyklen sind positive Lehren. Somit gruppieren sich seine
Beobachtungen um Gedanken: mit Hilfe der Naturwissenschaften und der
Soziologie bildet er sich seine Weltanschauung, in der die Vererbung und das
Milieu die gewaltigen und herrschenden Krifte sind. Seine Plane sind auch
extensiv stets sehr grof angelegt; er kann seine Romane nur in Zyklen
konzipieren, und alle Zyklen umfassen eine ganze Welt. Sein Stil ist nicht
nervés pulsierend, sensitiv wie die der Goncourts, sondern impetuoso,
vehement und minalich. Es finden sich also eine ganze Reihe Eigenschaften
darin, die dem Dramatiker niherstehen und die bei seinen Freunden und
Meistern fehlten. Mit seinen Vorteilen waren aber solche Nachteile verbun-
den, die das Drama fiir ihn ~ von einer anderen Seite her- ebenso unmdglich
machten wie fiir die Goncourts. Seine Grofe lag in seiner Extensivitat; im
Umfang, in der Gré8e des Mafstabes; er konnte nur mit sehr vielen Mitteln
wirken — mit denen natiirlich stark -: er konnte nur ganze Welten bewegen,
einzelnen Menschen gegeniiber war er hilflos. Die Psychologie der Gon-
courts war rein individuell, sie konnten sich nie tiber Einzelfalle erheben;
seine Psychologie konnte dagegen nie vom nach wissenschaftlichen Aspek-
288 Der Naturalismus
Stiicke keine Atmosphire, sie sind trocken, leer. Zum Verzicht auf den alten
geistreichen Dialog zwangen ihn seine Prinzipien, den neuen konnte er nicht
schaffen. Seine Menschen leben ebensowenig wie die Gestalten der anderen
Dramatiker dieser Zeit. Auch sie sind blo& Folgen der Theorien und sind aus
einzelnen Eigenschaften zusammengesetzt; da die Theorien Sfters neu und
besser sind, da die Anzahl der Eigenschaften manchmal grifer ist, da8 sie
des Sfteren typischer sind und aus der Abstammung und den Lebensverhilt-
nissen der Gestalt abgeleitet sind, kann ihnen nur einen relativen Wert
geben. Dazu kommt noch, dag Zolas Ziel hoher war als das der Goncourts.
Er wollte die moderne Tragédie erschaffen; er wollte ewige, gro8e Konflikte
im modernen Milieu auf die Biihne bringen. In »Thérese Raquine wollte er
die Tragédie von Schuld und Siihne schreiben, in »René« warf er das
Phaedra-Thema auf. Diese grofangelegten Stiicke empfand man damals als
rohe Melodramen, und wir empfinden sie auch heute so, wenn auch aus
anderen Griinden. Zola bendtigte den gewaltigen Umfang und die vielen
Mittel seiner in epischer Breite konzipierten Romane nicht zur Schaffung der
Atmosphire, sondern auch, um den darin gefaften Schicksalen eine Schick-
s igkeit zu geben, um sie aus ihrem einmaligen Geschehen herauszuhe-
ben, um ihnen alle Gewdhnlichkeit und Roheit zu nehmen, die im Fall selbst
als in einem Fall vorhanden waren. Aber auch er sah nur dufere Kimpfe
oder héchstens einen seelischen Kampf, der in einigen Menschen vorging.
Seinen Kampfen verlich nur das Milieu, in das die Menschen hineingestellt
waren, nur dessen extensiver Reichtum, Vollkommenheit und Universalitit,
GréBe und Allgemeinheit. Im Drama mufte er darauf verzichten, und er
hatte nichts, womit er dessen Kraft ersetzen konnte, denn bei ihm bedeutete
nur das Ganze etwas, es wurde kein Fall zum Symbol von allem. So blieb im
Drama nur die brutale Kraft erhalten, die durch das Bestreben nach Einfach-
heit eine noch peinlichere Wirkung hatte. Diese Stiicke beginnen mit gleich-
giiltigen Gesprachen, die nur die nackte Situation zeigen, sie sind nicht
einmal psychologisch interessant, und diese leere Farblosigkeit wird plétz-
lich durch wilde, heftige und (in der Ausfiihrung) unartikulierte Szenen
abgelést. Vergiftungen, Morde, Schlaganfille spielen sich in programmafiger
Vielfalt und Schnelligkeit vor uns ab. Und natiirlich ohne daf die beabsich-
tigten Wirkungen sich einstellen wiirden. Denn weder kennen wir die
Menschen niaher, mit denen es geschieht, noch steigt ihr Schicksal in alles
umfassende Héhen.
Zola verzichtete auf alle Mittel der alten Dramen, er konnte jedoch keine
neuen finden. Seine Technik ist ebenso schwach wie die der Goncourts, und
290 Der Naturalismus
da seine Situationen stirker zugespitzt sind, wird diese Schwiiche sogar noch
offensichtlicher. Bei ihm sind nicht einmal die kiinstlerisch mitreiBenden
Eigenschaften ihrer Stiicke vorhanden. Ihre Wirkung war, vielleicht deshalb,
dennoch viel gré8er. Nicht nur ihre moralische Wirkung, da8 er es wagte,
solche Sticke zu schreiben, von denen er wufte, daf sie durchfallen wiirden,
nicht nur der frische, starke Bravour seiner Diskussionen, sondern in erster
Linie war das von groferer Wirkung, was er auf die Biihne zu bringen wagte.
Alle seine beriihmteren Romane wurden dramatisiert, und das Publikum
und die Kritik, die an vornehme Salons oder im schlimmsten Fall an das
reiche spieSbiirgerliche Milieu gewShne war, mufte allmahlich auch die Wekt
der Schankstuben und Kneipen auf der Bihne akzeptieren. Dadurch steiger-
te er ungeheuer die Ausdrucksméglichkeiten der Bithne. Wenn sich auch
spiter diese Bereicherung des Dramenstoffes als zweifelhafter Wert erwies,
mufte der Versuch einmal unternommen werden, auch dann, wenn das
Ergebnis viel negativer gewesen wire, wenn es auch nicht eine vollige
Neuentdeckung vieler, die Verfeinerung und Weiterentwicklung mancher
Ausdrucksméglichkeiten gebracht hatte. Auch hier ist seine Bedeutung mehr
ethisch, denn bei ihm finden sich sehr wenige dieser neuen Ausdriicke; den
Wert der Stilelemente, die man in den Romanen verwenden konnte, erkann-
ten andere klarer als er. Er war aber derjenige, der die nachfolgende
Dichtergeneration in Frankreich und im Ausland vielleicht noch stirker
ermutigt hat. (Diesen Verdienst teilt wieder Goncourt mit der Dramatisie-
rung von »Germinie Lacerteux« mit ihm.)
3
Wie mutig auch Zola und Goncourt fiir das moderne franzésische Drama
kimpften, war es fiir sie weder finanziell noch moralisch eine Existenzfrage.
Die Natur ihres Talents hat sie mit dem Roman verbunden, und auf diesem
Gebiet war ihr Sieg vollkommen, wenn auch nach langen Kimpfen. Die
einzige Folge ihrer Erfolglosigkeit als Dramatiker war, daf sie aus einem
-ihnen ohnehin fremden — Bereich verdringt wurden. Ihr Schicksal hing nie
von dieser einen Karte ab.
Uber den engen Zusammenhang von Drama und Biihne in Frankreich haben
wir schon gesprochen. Wir sahen, was die franzdsischen Dichter gehindert
hatte, in ihren Dramen mutige Reformen zu bringen, sich mit voller Kraft
den taglichen Tendenzen entgegensetzen zu kénnen; wir sahen, daf es in der
franzdsischen Literatur des 19. Jahrhunderts keinen Dramatiker mit ahnli-
chen Bestrebungen wie Hebbel oder Kleist gibt und auch nicht geben kann,
vu Die Wegbereiter der neuen Technik 291
einen Dramatiker, der wie Goethe itber Kleist gesagt hat, fiir ein Theater,
»welches da kommen soll«'', seine Stiicke schreibt. Die wirklich groSen
revolutionaren Talente versuchten in der Lyrik und im Roman zur Geltung
zu kommen. Es gab einen einzigen Menschen, der das Drama energisch von
den herrschenden Schablonen befreien wollte, der, wenn er auch keine
radikale Reform durchzufihren versucht hat, seiner Epoche voranging, sein
ganzes Leben und Streben mit seinen Stiicken verband und ein Opfer der
Verhiltnisse wurde: Henri Becque. Die Umstinde machten aus Becque
einen Revolutionir und einen Martyrer; die ihm nachfolgende Dichtergene-
ration, die sich gerne auf seine Autoritat bezog, erhob ihn zum Propheten
des modernen Dramas. Er selbst dachte nie daran, eine Revolution zu
entfachen; er wollte das alte franzésische Drama, das er an sich fiir unbe-
dingt gut hielt, nicht umstiirzen. Er war iiberzeugt - ebenso wie sein
Todfeind Sarcey - da& man zur Biihne ein besonderes Talent bendtige, dag
dieses gewisse »don« notwendig sei und rein literarische Fahigkeiten dort
nicht geniigten. Er verachtete und verspottete deshalb die Reformbestrebun-
gen der »group de Médan« und sprach ironisch vom »fin de théatre«, das die
Goncourts voraussagten; sie nahmen jedoch seine Bestrebungen kaum zur
Kenntnis.'?
Er schitzte zwar das Tendenzdrama nicht sehr hoch, achtete jedoch sehr
seine hervorragenden Vertreter, er iiberschitzte sie sogar. Er empfand aber
auch sehr stark, da8 dieses Drama bereits veraltet war und durch ein neues
ersetzt werden mufte. Dieses neue Drama wollte er schaffen, nicht durch die
revolutionire Umstiirzung des Bisherigen, sondern durch dessen bewufte
Weiterentwicklung. Er kam zu frih. Die Theater wollten nichts von ihm
wissen: sieben Theater lehnten »Les Corbeaux«, sein Lieblingsstiick ab, von
dem er glaubte, da& er damit das Beste gegeben hitte, was er zu geben
imstande war. Bei manchen Theatern wurde das Manuskript des Stiickes
zwei-, dreimal herumgereicht, es kam nach fiinfjahrigem schweren Kampf
endlich auf die Bihne. Sein Mierfolg schien aber seinen Feinden, den
Theaterdirektoren, recht zu geben. Er betrachtete alle Theaterdirektoren als
seine persdnlichen Feinde. Dieser Mifertolg setzte der Laufbahn Becques
ein Ende, er hatte nicht genug Energie, um den Kampf wieder aufzunehmen.
Er schrieb schwer, und es kostete ihm noch mehr Miihe und Aufregung,
seine Stiicke anzubringen, als sie zu schreiben - und doch war alles umsonst.
Sein Stiick, »Le Monde d’Argent«, das er nach »Les Corbeaux« geplant hat,
schrieb er nie. Er hatte weder Mut noch Kraft mehr, und es war ihm auch
~ infolge der Pariser Theaterverhiltnisse - unmdglich, auf seinem anfangli-
292 Der Naturalismus
chen Weg weiterzugehen; obwohl er nur diesen fiir richtig hielt. Uber sein
zweites Stick, »La Parisienne«, hatte er eine schlechte Meinung. Am Schick-
sal des Stiickes inderte das jedoch nichts: es fiel ebenfalls durch. Und von
diesem Augenblick an war der Produktivitit Henri Becques ein Ende
gesetzt. Er plant ein Stiick nach dem anderen, von allen erhofft er, daf er mit
ihnen den entscheidenden, grofen Erfolg erzielt; immer wieder versucht er
etwas anderes und aus keinem seiner Pline wird etwas.
Er kam zu frith. Andere, viel kleinere Dichter als er, die 10-12 Jahre nach
ihm dasselbe machten wie er ~ nur schlechter -, erzielten grofe Erfolge. Was
er unternehmen wollte, war die konsequente Fortsetzung des Tendenzdra-
mas; sein ganzes Temperament und Talent richtete sich darauf, der Nachfol-
ger Dumas’ und Augiers in der Entwicklung zu sein; ihr bedeutender, tiefer
und interessanter Nachfolger, aber doch ihr Nachfolger. Er wollte zwar
etwas anderes als sie machen, er wollte jedoch ihr Werk fortsetzen und
ausbauen. Wie die Dramen Dumas’ und Augiers die Gedankenwelt und
Beobachtungen des Publikums des zweiten Kaiserreichs in sich faften,
erfa&te Becque die der dritten Republik — nur besser, ehrlicher und kiinstle-
rischer. Er war ein wirklicher Bourgeois, »un révolutionnaire sentimental,
sagt er sehr treffend iiber sich selbst'®, aber diese Bemerkung ist auch fiir die
Denkweise seines Publikums bezeichnend. Er hatte grofe Sympathien fiir
die Schwachen und Unterdriickten, ohne aber den wahren, tiefen Grund der
Kampfe zu erblicken. Er sagte seinen Mitbiirgern die Wahrheit, stand jedoch
vollig auf dem Boden ihrer Gesellschaftsordnung, die er verbessern, verteidi-
gen wollte. Er moralisierte, er wollte die schlechten Menschen, die seelenlo-
sen Egoisten entlarven, ohne daf er in ihnen aufer der Schlechtigkeit und
dem Egoismus etwas anderes gesehen hatte; ohne daf er erblickt hatte, was
sie — beinahe gegen ihren Willen - dazu zwingt. Auch er sah nur Kimpfe und
keine Konflikte. Er sah die Menschen und Verhiltnisse iberhaupt nicht
kompliziert (er war z. B. jeder Pathologisierung gegeniiber miftrauisch);
eine tiefere - sei es auch eine einfache soziologische — Begriindung der
menschlichen Verhiltnisse, ihrer Katastrophen stand ihm fern. Er war ein
ehrlicher, einfacher Bourgeois, der von sich wufte, da& er kein tiefer
Denker, nur ein mutiger und wenn notwendig, auch ein drastisch offenher-
ziger Mensch war. Auch darin ist er Nachfolger Dumas’ und Augiers, er
versii&t aber seine bitteren Wahrheiten nicht mit dem Angenehmen und mit
wirkungsvollen Szenen. Die schéne Komédie starb nach Sedan; Beoque
hatte weder Lust noch Talent sie neu zu beleben. Es ist heute schwer zu
verstehen, weshalb er so wirkungslos war; besonders fiir die Nicht-Franzo-
vu Die Wegbereiter der nenen Technik 293
sen, die die Biihnenkonventionen nur aus ihren Wirkungen kennen, die
deshalb den Unterschied zwischen ihm und den anderen fiir nicht so gro8
erachten. Es ist schwer zu verstehen, da8 sich das Publikum, die Kritik und
die Schauspielkunst dermaSen an das Drama Dumas’ und Augiers gewohn-
ten, da& sie nichts davon Abweichendes zu akzeptieren imstande waren.
Denn heute empfinden wir ihn ~ das ist in gewissem Sinn das Tragikum der
Laufbahn Becques ~ schon nicht mehr als ausgesprochen modern. Was im
neuen Drama, das nach ihm kam und das hie und da auf dem von ihm
begonnenen Weg weiterschritt, der Hauptwert ist, die komplizierte und
reiche Menschengestaltung, finden wir auch bei ihm nicht. Auch seine
Menschen sind nur rein typisch; wenn er auch sehr oft die individualisieren-
de Kraft Augiers iiberfliigelt hat, blieb er im wesentlichen doch in dieser
Richtung. Er schépfte also nicht aus der Seele der dramatischen Form die
Hauptprinzipien seiner Stilisierung und er suchte in der Zeichnung seiner
Menschen nicht ihre Lebendigkeit. Eloesser sieht sehr richtig, da& »Les
Corbeaux« mit Diderot und »La Parisienne« mit Moliére im Zusammenhang
steht.'* Ebenso wie diese ist er blo8 Beobachter und kein Menschengestalter.
Auch sein Drama ist Situationsdrama, wie alle franzésischen Dramen; auch
seine Sticke moralisieren wie die Dumas’. Hier kommen die Verwicklungen
ebenfalls von aufen, und die Aufregung wird von Geschehnissen hervorge-
rufen, nicht von seelischen Entwicklungen. Seine Schreibweise bedeutet also
eigentlich Opportunismus; wenn er damals gesiegt hitte, hatte er vielleicht
das franzésische Drama - fiir eine kurze Weile - zu neuem Leben erwecken
kénnen; schon damals, als er zu wirken begann, war er im wesentlichen
berholt.
Er schuf eine Einheit zwischen seiner dramatischen Technik und seiner
Menschengestaltung: an di¢sem Punkt versucht er die Reform der franzési-
schen Technik. Auch er ging von der Situation aus, er vereinfacht sie aber
soweit wie méglich; er lat alle falschen Interessantheiten weg, alles was den
Eindruck von blo& duferlicher, ganz plumper Biihnentricks erwecken
kénnte. Und er zeichnet Menschen, die vollkommen in diese Situationen
passen, deren Charakter dagegen nicht protestiert, da man sie in so
untergeordneter Bedeutung spielen lift. Seine Menschen sind deshalb zum
groBten Teil passiv, haben keine herausragenden Eigenschaften; wenn doch,
dann ist ein Zug einseitig herausgehoben, und zwar der, den die Teilnahme
der Gestalt an der Handlung erfordert. Sie verlieren also die Méglichkeit
jeglicher wahren Dramatik; sie haben keinen Willen, sie kampfen nicht, sie
ergeben sich ihrem Schicksal stumm —- héchstens weinend oder fluchend
294 Der Naturalismus
Es ist eine besondere Ironie von Becques Schicksal, da8 er in seinem Leben
ein einziges Mal ganz und vollkommen seine Persénlichkeit auszudriicken
vermochte, und zwar in dem Stiick, das er nach seiner eigenen Behauprung
nur schrieb, um zu beweisen, daf er das Gleiche machen kénne wie die
anderen geistreichen Leute." Alle Dialoge von »La Parisienne« durchdringt
eine bittere Lyrik, die Stimmung des persdnlichen Erlebnisses. Die Technik
des Stiickes ist dieselbe wie in »La Navette«, und hier wirkt sie noch
notwendiger als dort. Auch dieses Stick wird von Intrigen bewegt: ein
Mann will sich davon iiberzeugen, ob seine Geliebte ihm treu sei. Da sich die
Menschen nicht entwickeln, langen wir am Ende dort an, wo wir uns am
Anfang befanden, auch in diesem Stiick gibt es keine innere Bewegung. Das
macht auch nichts aus, denn das Stiick handelt von Ohnmacht, von der
Ohnmichtigkeit eines Mannes gegeniiber einer Frau. Er kann ihr nicht
vertrauen, er spiirt, daf er betrogen wird, er muf es wissen, denn sie betriigt
mit ihm einen Menschen, der ihr blind vertraut und — er kann sich doch nie
von ihr trennen. Er liebt sie, er ha&t und verachtet sie. Er verlift sie und
kehrt wieder zu ihr zuriick. Und die Frau spielt weiter mit ihm. Sie ist keine
schlechte Frau, sie hat keine Ahnung, welche Wunden sie ihm zufiigt; und
der andere Mann ahnt nichts von der Sache. So war es schon vor dem Beginn
des Stiickes, so war es immer, seit diese drei Menschen zusammen waren und
so wird es auch nun fir immer sein. Die Situation bedeutet alles, die
Menschen sind Typen, wir kennen nicht ihr innerstes Wesen, es ist auch
uninteressant. Gerade ihre Zusammengehérigkeit, das Primire der Situatio-
nen, die stindige Wiederkehr zum Ausgangspunkt gibt allem eine unerbitr-
lich tiefe Allgemeinheit. Henri Becques bittere Erfahrungen klingen in
diesem Stiick an. Hier ist er dem Unterdriickten gegeniiber nicht sentimen-
tal: er geifelt sich selbst in ihm; dem Sieger gegeniiber, fiir den »Bésen«, hat
er aber doch noch ein wenig Sympathie iibrig, wenn auch mit Haf ver-
mischt. Er betrachtete die Dinge objektiv genug, um von allen Seiten sehen
zu kénnen, damit eine Komédie daraus werden konnte: eine bittere, grofe
Komédie. Um mehrere derartige Stiicke zu schreiben, war sein Erlebnis viel
zu subjektiv.
4
Diejenigen, iiber die wir bisher sprachen, waren Bahnbrecher und Experi-
mentierende, die Ahnen des modernen Dramas; sie waren mit der Gegen-
wart unzufrieden und suchten das kommende Drama. Wir sahen, da alle
die Entwicklung nur teilweise vorausgesehen haben, daf sie nur einige
vu Die Wegbereiter der neuen Technik 297
Fragen und nicht die Hauptfrage stellen konnten und auf ihre eigenen
Fragen konnten sie kaum eine Antwort geben. Neben Ibsen war Strindberg
der einzige zu dieser Zeit, der gesehen hat, um was es geht. Er hat es
vielleicht sogar klarer und konsequenter gesehen, und er hatte auch Kraft
und Talent gehabt, um alle seine Sehnsiichte und Visionen bis zum Letzten
zu fahren, ganz bis dorthin zu fiihren, wo die Bedeutung der Dinge schon
von den letzten Wertungen, von den Grundfragen entschieden wird, und
ihnen im Gang der Entwicklung nicht das Gelingen oder Nicht-Gelingen
der Teile einen - nur relativ wichtigen — Platz zuweist. Er stand auferhalb
aller literarischen Tendenzen, er fiihlte sich keiner Tradition verpflichtet, er
mu8te auf nichts Riicksicht nehmen; das waren schon seine auSeren Vorteile
seinen Mitstreitern gegeniiber im Kampf um das neue Drama. Denn er ist ihr
Mitstreiter darin, da8 auch er nicht instinktiv diese Form findet, da sie sich
nicht notwendigerweise aus dem ganzen Gang seiner Entwicklung ergibt,
wie bei Ibsen oder Anzengruber, sondern er wahlt sie bewuft: er beschlieBt,
das Drama zu reformieren. Auch er ist jedoch - wie die anderen - nur ein
Bahnbrecher, wenn sie auch neben ihm ganz klein erscheinen. Auch er
erblickt sein eigenes Land der Verheifung nicht, auch er bringt nur relative
Werte zustande. Bei ihm mu man aber schon fast die grd8ten, die idealen
Mafstabe anwenden, um seine Werke als leicht zu befinden. Nur ein Schritt
hat ihn davon getrennt, nicht nur Sucher der neuen Ziele, sondern einer der
Vollender der neuen Richtung zu sein. Diesen Schritt hat er jedoch nie getan.
Er war ein echter Wikinger, er war hart, eigensinnig und riicksichtslos. Er
fahrte alles, was er anfa&te, radikal durch, er liebte und suchte sogar den
Kampf, er hatte die Neigung, alle Fragen auf die schirfste, paradoxeste
Weise zuzuspitzen. Er war kein Freund der langsamen Verinderungen und
Reformen, er war cine alles umstiirzende, revolutionire Natur, er war rastlos
und ein Abenteurer. Auch darin ist er ein Nachfolger der Wikinger, nicht
blo8 in seiner ungebindigten Leidenschaftlichkeit.
Seine Reformbestrebungen waren von der franzésischen Literatur und von
Ibsen beeinfluGt. Im Vorwort zu »Fraulein Julie« sagt er iiber die Romane
der Goncourts, da8 sie ihn in diese Richtung beeinflu&t hitten’’; die
Wirkung Ibsens spiirt man in seinen Dramen, obwohl er es nie eingesteht
— keiner der beiden war dem anderen sympathisch — und seine Ansichten
waren in den meisten Fragen denen Ibsens vollkommen entgegengesetzt.
Seine erste Forderung war das moderne Theater. Er spiirte, daf es vergeblich
wire, alle seine Ziele literarisch zu erreichen, daf alles nur halbe Arbeit ware,
wenn es ihm nicht gelinge, die Bihne zu reformieren. Das damalige Theater
298 Der Naturalismus
hatte auch dann kein modern geschriebenes Stiick spielen kénnen, wenn es
gewollt hatte, es hatte das Stiick auf alle Fille verfalscht. Und diese Verinde-
rung wollte er nicht polemisch, mit Hervorhebung von Negativa oder
héchstens von Allgemeingiiltigkeiten durchfiihren — das tat auch Zola ~ son-
dern er trat mit ganz bestimmten, positiven Reformvorstellungen auf, die bis
in die kleinsten Details reichten. Bei ihm wird also die Theaterreform der
anderen, die unmittelbar empirisch und deshalb notwendigerweise mit tau-
send Kompromissen verbunden war, wieder theoretisch und somit bis zum
AuBersten radikal. Diese Radikalitat besteht aber nur darin, da8 er seiner
Zeit vorausgeht, da& er die praktischen Erfordernisse konsequent zu Ende
denkt; Erfordernisse, die, wenn auch erst nach vielen Jahren, aber doch
irgendwann verwirklicht werden konnten, die schon damals gewissermaSen
in der Luft lagen. Er spiirte vor allem, daf das jetzige Theater zu grof fiir das
von ihm gesuchte Drama sei. Das hatte nicht blo& zur Folge, da8 das
Publikum aus zu unterschiedlichen Schichten, allzu gemischt dort erscheint,
sondern daf die Akustik und Optik den Schauspieler zu iibertriebenem Spiel
zwingt; was iibrigens auch schon Antoine gleichzeitig mit Strindberg sah.
Die Kleinheit des Theaters, die Entfernung der Rampe, des Prosceniums, des
Orchesters, die vollkommene Verdunklung des Zuschauerraums usw. wiirde
eine neue, bis dahin nicht existierende Intimitét zwischen Biihne und
Zuschauerraum schaffen. Bis dahin hatte es nur zwischen Schauspielernund
Zuschauern einen — nicht gerade kiinstlerischen —- Kontakt gegeben. Man
miifte die unnatiirliche Beleuchtung von unten abschaffen, die am Gesicht
des Schauspielers viele wichtige Ziige verwischt und viele neue unnatiirliche
schafft, die das freie Spiel der Augen verhindert, da sie in seine Augen scheint
und man miifte sie durch Reflektorenbeleuchtung ersetzen, die von der Seite
kommt. Man miifte die starre Symmetrie der Bihneneinrichtungen verin-
dern und man miifte die Errungenschaften der impressionistischen Malerei,
die malerischen Unregelma@igkeiten, das Abschneiden, das Andeuten ver-
wenden. Auch die Schauspielkunst miifte sich wandeln, man miifte dem
Agieren vor dem Soufflierkasten und dem Spiel fiir den Applaus nach dem
Abgang ein Ende setzen. Die unmégliche Tradition mii&te abgeschafft
werden, daf die Schauspieler sich eine Maske des abstrakten Charakters der
von ihnen gespielten Gestalt schminken. Der Charakter ist nicht konstant;
im Laufe des Stiickes, um nur das einfachste Beispiel zu nennen, lachelt auch
der ernste Mensch einmal und was fiir eine Grimasse ist das Ergebnis, wenn
auf das lachende Gesicht gramvolle Ziige gemalt sind.'* Die wahre Bedeu-
tung von alledem ist, da& es das Ende der Biihnentypen mit sich bringen
vu Die Wegbereiter der neuen Technik 299
wiirde, die das Theater des 19. Jahrhunderts beherrschen. Sie entstanden
nicht durch die Notwendigkeit der dramatischen Stilisierung, sondern durch
die Bequemlichkeit der Bithnenroutine und sie verhinderten jeglichen grofe-
ren Reichtum, jede Detailliertheit und Abwechslung in der dramatischen
Menschenzeichnung, da alle Ausdrucksméglichkeiten in einige Charakter-
schablonen starr hineingepre&t waren.
Fir das Programm eines solchen Theaters, von dem er wufte, daf es nur in
der weiten Zukunft zu verwirklichen ware, schrieb Strindberg seine Sticke.
Und nur ein solches Theater hatte sie spielen kinnen.
Er ist, ebenso wie Ibsen, imstande, den modernen Menschen zu sehen und
dramatisch zu gestalten. Bei seinen Menschen gibt es keine Steifheit, keine
Konstanz, die sogenannte konsequent durchgefiihrte Charakterzeichnung
fehlt bei ihm. Er kennt griindlichst das Physikum aller seiner Menschen und
er kann jede augenblickliche Verinderung versinnlichen. In Fraulein Julies
Sprache und in ihrem ganzen Benehmen sehen wir nicht nur ihre Dekadenz,
ihre perversen, von Vater und Mutter vererbten Eigenschaften, sondern auch
wie ihre augenblicklichen sexuellen Dispositionen tief in die Entscheidung
ihres Schicksals eingreifen. Strindberg zeigt mit groSer Feinheit die Wirkung
von Abstammung, Erziehung, Umgebung und Witterung auf die Menschen.
Wir sehen, welche Meinungen seine Menschen iiber sich selbst haben, wie sie
von anderen gesehen werden méchten, wie sie sich selbst sehen méchten.
Wir sehen, wie dieselben Gedanken bei Menschen unterschiedlicher Fahig-
keit und Bildung sich verindern und umgestalten, wie ein einziges Glas
Wein nicht nur das dufere Benehmen, sondern die ganze Gefiihls- und
Denkweise des Menschen verindert, wie die ganze Sprache, Lebensart und
das Benehmen, sogar die Plaine und Uberzeugungen Jeans sich unter der
Wirkung von Friulein Julies Worten und Taten wandeln. Wir sehen die
Entstehung der Gedanken wahrend der Gespriche, das Wie der Wirkung
eines Menschen auf den anderen, die gewollten und unbeabsichtigten Sugge-
stionen. Das Wesen dieser Menschenbetrachtung und Technik ist die gleich-
mafige Wirkung der gro8en und kleinen, der konstanten und augenblickli-
chen Motive. Es ist also ein psychologischer Nihilismus, die Leugnung der
Erfahrbarkeit der menschlichen Seele; denn man kann nie simtliche Motive
kennen und die Kenntnis der Teile ist ohne die Kenntnis des Ganzen
wertlos. Es bedeutet aber zugleich-auch die Leugnung des Charakters des
Menschen. Das Leben aller Menschen ist blo ein sich stindig verinderndes
Spiel von tausend Motiven und ihr Schicksal ist die lange Reihe feiner
Vibrationen. Es geschieht wenig in einem solchen Stiick und obwohl dieses
300 Der Naturalismus
einreden, daf es noch einen Ausweg gibt, es ist aber vergebens; das Tempo
ihres Sprechens wird immer langsamer und langsamer, bis es ganz einschlaft.
Auch das Schweigen gewinnt in diesem Dialog eine Ausdrucksfahigkeit,
wenn der andere bei jedem Satz dazwischenreden kénnte und beim nachsten
Satz spiirt man, daf er nichts dazwischen sagte und man spiirt auch, warum
er es nicht tat. Strindberg konnte eine Gestalt (»Die Stirkere«) auch dadurch
zeichnen, daf sie in einem Dialog, der kaum zehn Minuten lang dauert, kein
einziges Wort sagt; nur einige Male lachelt, einmal etwas sagen will und ein
paarmal den anschaut, mit dem sie spricht.
In diesem Dialog gibt es keine »schénen Stellens, keine Sitze, aus denen
gefliigelte Worte werden kénnten. Dieser Stil entstand durch die vollige
Verachtung der Wérter; die Wérter bedeuten an sich nichts, ihre ganze
Interessantheit und Schénheit liegt im Ausdruck der zwischenmenschlichen
Beziehungen. Es wirkt dimonisch, wenn Laura die halb ausgesprochenen
Vorwiirfe ihres Bruders villig versteht, sie aber nicht beachtet, nicht einmal
auf sie antwortet, und diese werden immer leiser und leiser, bis auch er sich
schlieBlich, nachdem er sein Gewissen beruhigen lie8, iiber den Bankrott des
Rittmeisters zu freuen wagt und die Frau ihn dann ruhig und iiberlegen
abwinkt. Es ist in seiner bitteren Ironie musikalisch schén, da& Laura den
Gedanken, mit dem sie ihren Mann zugrunde richtet (da& es nimlich
niemand wissen kann, wer der Vater ihres Kindes sei), von ihm selbst hort
und dann erhilt sie vom Arzt, ohne daf dieser es wissen wiirde, eine
Anwendungsméglichkeit dafiir. Erst dann sagt sie es ihrem Mann, bei dem es
immer starker und stirker nachklingt, bis es zuletzt alle anderen Melodien in
seiner Seele unterdriickt und ganz allein herrscht. Aus allen Worten Adolfs
klingen die letzten, hastigen Klagen eines zu Tode gequalten, ganz verlasse-
nen Menschen dann am lautesten, wenn er leicht und spielerisch mit seiner
Frau oder mit seinem neuen Freund zu sprechen versucht. Den Rittmeister
umgibt eine Atmosphire der feindlichen Isolierung, niemand kann in diese
Atmosphire eindringen, ohne sich gegen ihn zu wenden, auch wenn er die
besten Absichten hat. In den leichtsinnigen, fréhlichen und frivolen Worten
Fraulein Julies spiirt man den Sturm der nahen Katastrophe.
Die Situationen, in denen sie gesagt werden, verleihen den Worten die
lyrische Kraft. Die verworrenen und verstdrten Reflexionen des Rittmeisters
im dritten Akt des »Vaters« sind erhaben, weil wir es als furchtbar empfin-
den, da8 ein Mensch sie ausspricht, den wir als einen scharfen Denker, einen
ernsten Gelehrten kannten, weil wir spiiren, welche seelische Kimpfe hinter
jedem Wort zu suchen sind, wir spiiren, wie er sich aus dem Netz, in das er
vu Die Wegbereiter der nenen Technik 393
sich immer mehr verstrickt, befreien méchte. Auch die Szene hat eine
ahnliche Stimmung, in der seine térichte Amme, die natiirlich keine Ahnung
davon hat, was in ihm vorgeht, die ihn aber mit der ganzen Warme ihres
beschrinkten Herzens liebt, ihm wiahrend des Miirchenerziahlens die
Zwangsjacke anzieht; aus allen Worten dieser Miarchen hirt man ein erstick-
tes Schluchzen heraus. Die Tone kommen in solchen Szenen ganz aus der
Tiefe und die Isoliertheit der Menschen ist furchtbar, in anderen Szenen — in
den grofen Kimpfen zwischen Mann und Frau — ist der Rhythmus der
Kampfe so vehement, er bringt so sehr die innersten, ihnen selbst unbewu8-
ten Inhalte der Menschen zutage, da8 ihre Wirkung ebenso stark und tief ist,
wie die der grofen lyrischen Szenen der Ibsen-Dramen.
Auch im Aufbau der Stiicke ist Strindberg einfacher als Ibsen, er bricht
radikaler mit allen veralteten Traditionen. Bei ihm gibt es keine komplizierte
Vorgeschichte, deren allmahliches Bekanntwerden ein Teil des Dramas
fallen wiirde, die nackte symbolische Handlung selbst fiillt das Ganze aus.
Strindberg bringt, ebenso wie Ibsen, nur die Katastrophe auf die Biihne, bei
ihm macht jedoch den Kern der Tragddie das Verhiltnis zweier Menschen
zueinander aus, es sind also nicht solch komplizierte Vorbereitungen not-
wendig wie bei Ibsen; die Situation ist reif fiir die Katastrophe, es miissen
nur einige zufallige Umstinde dazwischenkommen, damit sie auch aus-
bricht. So kommt z. B. Gustav an und er ist fiir eine kurze Zeit allein mit
Adolf zusammen, sie unterhalten sich einige Male und das ganze Verhiltnis
Adolfs und Theklas wird gesprengt. Die Vaterschaftsklage gegen einen
Soldaten; die Frage, ob das kleine Madchen zu Hause oder in der Stadt
erzogen werden soll-und das Ankommen des neuen Arztes sind die unmit-
telbarsten Ursachen der Katastrophe in »Der Vaters.
Die Technik der Strindbergschen Dramen ist also nicht analytisch. Die
Katastrophe spielt sich zwar unmittelbar vor uns ab, ihre Vorgeschichte mu8
aber nicht vor uns entwickelt werden, aus dem Geschehen vor uns erkennen
wir unwillkiirlich auch die Vergangenheit (z. B. »Der Vater«). Spiter ver-
wendet Strindberg in einigen Einaktern die analytische Technik. Obwohl er
das Drama méglichst konsequent an einem kleinen Ort und in eine kurze
Zeitspanne zusammenrafft, stellt er nur die Katastrophe dar. Seine Stiicke
sind, auch »Der Vater«, in ihrer inneren Technik Einakter. Er will die
Wirkung eines Milieus, einer Stimmung, einer Situation spiiren lassen und er
will nicht, da& der Zuschauer in den Pausen Zeit hat, sich seiner Suggestion
zu entziehen. Die Wandlung der dramatischen Form ~ wie aller wirklich
natirlichen Formen — zum Einakter steht jedoch mit den Grenzen und
304 Der Naturalismus
einander gegenseitig dazu — den ganzen Schmutz ihres Lebens auf, sie werfen
einander die erniedrigendsten Beschuldigungen an den Kopf, ohne Ziel,
ohne Gewinn, wider ihren Willen. Sie wissen, da8 es so nicht gut ist, sie
méchten, da es anders wire, sie sind aber nicht imstande, sich selbst zu
helfen. Wenn sie des standigen Kampfes miide sind, oder wenn der eine
bereits am Boden liegt, haben sie Mitleid miteinander, sie sprechen elegisch
iiber ihr Schicksal und im nachsten Augenblick geht der Kampf weiter. Sie
k6nnen nie Frieden schlieSen. Unter ihnen besteht ein »Rassenhaf«, wie der
Ritemeister sagt”, sie stellen zwei verschiedene Arten dar, die bewuft und
die naiv Handelnden, die Verstandesmenschen und diejenigen, die von der
Intuition gefiihrt werden. Die Manner sind bereits von der Natur losgerissen
und es scheint manchmal, als ob der Kampf der Frauen gegen sie nur ein
Symbol der Revolte ihrer eigenen, verachteten und besiegten Instinkte wire.
In seinem Roman, »Am offenen Meer«, kam Strindberg dieser Betrachtungs-
weise am nachsten. Hier fand er in Dr. Berg den grofen Typ der hypertro-
phischen Entwickeltheit der rein geistigen Existenz und in den Geschehnis-
sen um ihn, in seinem Verbiltnis zu seiner Frau, das Symbol des Nicht-Intel-
lektuellen, das niemals vom Verstand besiegt werden kann. Aber im Kampf,
der sowohl Gegenstand von »Der Vater« ist, als auch in den anderen
Dramen ist, wenn auch nicht so ausgeprigt, davon etwas enthalten. Dies
hatte, zu Ende gefiihrt, Strindbergs Dramen zur Monumentalitét erhoben,
die von ihrem Thema gefordert wurde. Denn in dieser Betrachtung erreicht
das Verhiltnis des Lebens zu dem abstrakten a priori und des ihm ewig
feindlichen Lebens den letzten Entwicklungsgrad. Nachdem es in der sexu-
ellen Beziehung von Mann und Frau seinen Ausdruck gewinnt, kann es
unmittelbarer und starker dramatisch sein als viele andere entferntere Bei-
spiele dieses Schicksalsverhalmisses, die einen groSeren Apparat beanspru-
chen und somit in ihrem Ausdruck abstrakter sind. Das war aber die einzige
Méglichkeit, um die sexuellen Beziehungen aus ihrer blo& interessanten
Pathologie herauszuheben. Denn die Allgemeinheit, die sie an sich besafen,
mufte infolge ihrer Ubersetzung ins Drama verlorengehen. Diesen sehr
stark allgemeinen, sich im biirgerlichen Leben abspielenden Fallen und
Menschen, mufte wegen der notwendigen Konzentriertheit und Sichtbar-
keit fiir das Drama eine solche Ubertriebenheit gegeben werden (im Leben
liuft dieser Kampf jahrzehntelang in der Form von kleinen Nadelstichen ab),
daf ihre Allgemeinheit verlorengehen mufte. Gerade dies hatte auch den
Zerfall, der durch die Begriindung mit tausend Motiven entstand, wirklich
verhindern kénnen, dadurch daf all diese Motive in einem bestimmten, aber
vir Die Wegbereiter der neuen Technik 307
sich aus dem Gefiihl Strindbergs, aus dem Charakter Julies und Jeans; so wie
sie namlich geschieht, wire sie im Stiick vermeidbar, die Katastrophe selbst
ist unvermeidbar. So verhilt es sich auch in den anderen Stiicken. Seinem
grdSten Ziel: dem groSen, kosmischen Tragikum kommt er sehr nahe, was
andere, die viel kleiner sind als er, oft erreichen: die vollkommene Notwen-
digkeit innerhalb des Stiickes, ist in seinen Stiicken zumeist nicht vorhanden.
Die wirkliche, groSe Krankheit der Ausarbeitung der Stiicke liegt aber tiefer.
Als Strindberg diese Stiicke schrieb, war er menschlich noch nicht dort
angelangt, wo er sich kiinstlerisch bereits befand. Wenn wir es nicht aus
seinen Bekenntnissen wiiften, wiirden wir es aus seiner Weltauffassung
ersehen, da hier von der Verallgemeinerung subjektiv erotischer Erlebnisse
die Rede ist. Der Kiinstler, der Denker Strindberg sah durch seine eigenen
Erlebnisse beide Seiten des grofen erotischen Kampfes; er sah, daf es hier
keinen Sieger und kein Opfer gibt, beide Seiten sind Verlierer, Besiegte. Er
befand sich jedoch allzusehr in der Nahe des schmerzvollen Erlebnisses, aus
dem er das gelernt hat, er hat es noch nicht tiberwunden und wihrend des
Schreibens ergriff ihn Mitleid mit seinem eigenen Schicksal, mit dem Schick-
sal des Mannes. Somit schrieb er dann - zum Teil ~ die Stiicke so, da8 der
Glanz dem Manne und alle Schatten der Frau zufielen und aus der grofen,
kosmisch erotischen Tragédie wurde der traurige pathologische Fall, wie
eine gewissenslose Frau einen Mann mit schwachen Nerven zugrunde
richeet.
Diese Sticke sind somit nicht organisch. In »Der Vater« gibt es Szenen, die
das eine oder andere Gefiihl spiegeln, manchmal begegnen wir in derselben
Szene beide Gefiihlsweisen. In seinen spater geschriebenen Stiicken beginnt
diese Dissonanz allmihlich nachzulassen. In »Das Bande, das fiinf, sechs
Jahre spater geschrieben wurde, ist sie schon kaum spiirbar.
Wenn er das Thema damals wieder aufgegriffen hitte . . .
Er griff es nicht auf. Er beendete nicht, was er hier angefangen hatte, wie er
zumindest bis dahin nichts beendete. Er ist cin Abenteurer, das Ziel seiner
Abenteuer kennt er selber nicht. Er wird von Daimonen getrieben und lift
sich von ihnen treiben. Er will alles kennenlernen, er will alles umfassen, alles
erleben.
Einmal will er das Drama reformieren, ein anderes Mal hat er Plane fiir die
Erneuerung der Chemie. Vom villigen Atheismus bis zum blindglaubigen
Christentum erlebte er alle geistigen Tendenzen, alle konsequent und immer
radikal; immer originell, aber alles als Fragment hinterlassend.
Somit kam in seinem Leben allen kiinstlerischen Produktionen eine episodi-
vit Das Banerndrama 309
sche Rolle zu. Er sucht sich standig selbst, die Kunst ist ihm nur ein Mittel
dafir. Auch seine naturalistische Periode, in der er das Drama reformiert hat,
war also eine Episode. Aber gerade deshalb blieb auch seine Rolle in der
Geschichte des Dramas eine Episode. Es ist eine wunderbare Episode, aber
blo8 eine Episode ohne Fortsetzung.
vm Das Baxerndrama
Warum gibt es den Naturalismus? Der eine Dichter liebt das Leben, er hilt
es far sch6n und er hat — ganz religids — das Gefiihl, daf es am schénsten ist,
wie es ist, da8 alle Kiinste nur bestrebt sein k6nnen, sich dieser gro8en
Schénheit anzunihern und da alles, was seine Phantasie hinzusetzt, es nur
entstellt. Auch der Enttduschte will aber der Wirklichkeit nichts hinzufiigen
oder wegnehmen; wenn seine Enttduschung grof genug und sein Charakter
stark genug ist, will er sich an der Welt richen, indem er sie so zeichnet wie
sie ist. Bei diesen Dichtern ist der Naturalismus ein Ziel. Er ist sogar in
gewisser Hinsicht auch bei demjenigen ein Ziel, der sich seiner quilenden
Erlebnisse durch ihre wahrheitstreue Darstellung entledigen will; wenn die
naturalistische Schreibweise von seinem Gesichtspunkt her auch blof ein
Mittel dazu ist, betrachtet sie der Leser doch als Ziel, denn der Dichter
beabsichtigt dadurch nichts, sie hat keine praktischen Konsequenzen. Hier
betrachten wir natiirlich die Dinge stets aus der Perspektive der Dichter und
»Wirklichkeit« und »Leben« kénnen nichts anderes als ihre Visionen bedeu-
ten; und daf sie sie so darstellen »wie sie sie sehen«, bedeutet, daf sie nicht
durch die Retorte einer durch formale Ziele gelenkten Stilisierung gehen.
So ist der Naturalismus der Literaten in seinen Hauptziigen beschaffen. Bei
ihnen bringt es die Natur der Dinge mit sich, da8 das Thema gleichgiiltig
und allein die Ausarbeitung wichtig ist; sie finden vom Hdchsten bis zum
Niedrigsten iiberall etwas Interessantes; ihr Naturalismus ist bewufte kiinst-
lerische Arbeit. Ganz unabhingig von ihnen, neben den herrschenden
Literaturstrémungen gab es immer ganz andersartige Naturalisten, die oft
konsequenter, meistens grausamer wabr gewesen sind als sie, bei denen aber
diese Wahrheit nur ein Mittel, ein Mittel zur Verbesserung war; auch diese
halten der Welt einen Spiegel vor, aber deshalb, damit sie vor ihrer eigenen
Haglichkeit zuriickschreckt, damit sie in sich geht und sich bessert. Denn sie
glaubten daran, daf dies méglich sei.
310 Der Naturalismus
Eine derartige, ihrer Natur nach naive Kunst, kann nur die Volkskunst sein.
Nur dort gibt es solch gro8e, breite Schichten, deren Gefiihls- und Gedan-
kenwelt noch iiberall gleich ist; aus ihrer noch unkomplizierten Welt kénnen
ganz allgemeine, beispielhafte Schicksale hervorwachsen. Im Leben der
Kulturmenschen sind diese Fille so individuell, da8 der Dichter, wenn er
ihnen eine groSe Allgemeinheit geben will, in solche seelischen Tiefen
hinabsteigen muf, in denen von Tendenzen, Verbesserungen, Verinderun-
gen keine Rede mehr sein kann. Die Volkskunst (das Volksdrama und die
Volksnovelle) hingegen ist immer padagogisch; ihr Stoff erlaubt es und ihr
Publikum erfordert beinahe, da sie padagogisch ist.
Eine derartige Kunst geht freilich nur bei den Gro&ten iiber ihre drtliche,
erzieherische und ethische Wirkung hinaus. Am Anfang des Jahrhunderts
trifft das bei dem Schweizer Jeremias Gotthelf zu, in der Entwicklungsge-
schichte des modernen Dramas bei Anzengruber und Tolstoi. Sie hatren
verschiedene Ausgangspunkte, jeder hat etwas anderes gesucht, sie erreich-
ten auch verschiedene Orte, sie haben jedoch diese gemeinsame Tendenz; ihr
Ziel ist es zu lehren, ihre Mittel, das einfache Leben in gro8en Ziigen mit
grausamer Wahrheit aufzudecken, ihr Publikum ist das Volk, nicht sind es
die »Gebildeten«, die »Literatene. Die Natur ihrer Lage brachte ihre drama-
tische Problembetrachtung somit in sehr nahe Verwandtschaft zum pro-
grammatischen Naturalismus — besonders in den Negativa. Denn ihre Ten-
denz kann nicht mit solch leichter Eleganz bei einer Fabel, die damit nicht im
Zusammenhang steht, angebracht werden wie im Tendenzdrama der Gebil-
deten: das Publikum, fiir das sie schrieben, faSt die Dinge nicht mit Verstand
auf, ihm sagt eine Lehre, die nicht auf die Sinne wirkt, nichts; wo also die
Fabel die Menschen und ihr Schicksal an sich nicht ausdriickt, war die Lehre
unvollstandig erhellt. Die Folgen davon wirken aber tiefer als ein solch enger
Zusammenhang von Lehre und Fabel; damit hingt auch zusammen, da& das
dramatische Problem selbst auch blo& sinnlich, in Form von Kimpfen
gewisser Menschen gegen gewisse Menschen konzipiert werden kann; es
darf die abstrakte Zuendegedachtheit der Konflikte der Astheten nicht
enthalten. Was im literarischen Naturalismus bewu8te Opposition war, ist
hier die natiirliche, naive Notwendigkeit der Lage; es geht also nicht wie
dort eine Einengung des Horizonts damit einher, es erreicht aber auch die
Stilreinheit nicht (natirlich innerhalb der Grenzen und der Problematik), die
dem um diesen Preis gegeben war. Aus einer Konfliktsbetrachtung, die nicht
abstrakt ist, miissen sich auch hier tiefe Schwankungen und Stdrungen
ergeben.
vit Das Baserndrama yur
L
Anzengruber ist wahrhaftig ein Dichter, der aus dem Volke wuchs, er ist
kein Literat. Seine Ahnen waren Bauern. Sein Vater war cin kleiner Beamter,
ein heimlicher Dramatiker, der seine Dramen, die im Dienste der groSen
Sache der Aufklirung standen, in klingenden Jamben und mit starkem
Pathos fiir seine Schublade schrieb. Er starb frith und sein Sohn lernte das
ganze schwere Elend des Lebens frith kennen. Die Biihne iibte auf ihn stets
eine grofe Anziehungskraft aus, er wollte Schauspieler werden und wander-
te jahrelang mit schlechten kleinen Truppen durch kleinere und grofere
ungarische und dsterreichische Stadte. Er hatte aber kein echtes schauspiele-
risches Talent, er spielte nur Episoden oder war Statist. In der Zwischenzeit
schreibt er stindig Sticke, die nirgends aufgefiihrt werden und entweder
gehen sie bei den Theatern verioren, oder er selbst vernichtet sie, weil er sie
schlecht findet. Er hat immer in unmittelbarer Nahe des Theaters gelebt, er
kannte die wirksamen Mittel und wollte wirken (denn da& seine Sticke
aufgefiihrt wurden, da er aus dieser Situation herauskam, war fir ihn eine
Lebensfrage). Es ist also selbstverstindlich, da& er direkt fiir die Biihne
geschrieben hat, daf er méglichst starke Bihnenwirkungen suchte und keine
fein literarischen; da er keine neuen Formen suchte, sondern etwas fertig
tibernahm, was er vorfand: die Form des dsterreichischen Volksschauspiels.
Die Tradition des dsterreichischen Volksstiicks war damals schon lingst
entwickelt: es besteht aus locker komponierten starken Szenen, in denen
ernste und lustige Elemente abwechseln; viele Menschen agieren auf der
Biihne, es gibt Gesang und Tanz und - was hier das Wichtigste ist - es
herrscht immer eine lehrhafte Tendenz vor, das Stiick steht immer im
Dienste irgendeiner Tendenz. .
Diese Volksstiickform iibernahm Anzengruber wie er sie vorfand und er war
nur bestrebt, bessere Stiicke als seine Zeitgenossen und Vorginger zu
schreiben. Er wollte nicht blo& deshalb bessere Stiicke schreiben, weil er das
Gefihl hatte, da8 die besseren eine starkere Wirkung haben wiirden, nicht
einmal deshalb, weil er ein wahrhaftig groSer Kiinstler war und gesehen und
gewu8t hat was gut ist; sondern weil er erfahren hatte, daf die schlechten
Volksstiicke der Sache der Volksaufklarung mehr schaden als niitzen. Diese
Aufklirung in josephinischer Tradition war ihm das Wichtigste. Diese
Ansichten waren das Erbe seines Vaters und er sah und fithite aus unmittel-
barer Nahe das kérperliche und seelische Elend seiner Briider, der Bauern.
Er hielt die seelische Finsternis fiir die grofere Gefahr. Das materielle Elend
hat er selbst erlebt und iiberwunden, und er hatte das Gefiihl, da& man die
giz Der Naturalismus
materielle Lage verbessern kénnte, oder da8 man mit Willen und seelischer
Kraft auch als Armer zufrieden und gliicklich sein kénne. Die seelische
Finsternis: hier sah er den groften Feind, gegen den er ein ganzes Leben lang
mit allen méglichen Mitteln, mit starkem, mitreiSenden Pathos, mit der
furchterregenden Darstellung furchtbarer Konsequenzen oder mit grausam
wahrer Verspottung ankimpfte. Er lebte im Osterreich vor 1870; er sah, wie
der Klerus mit - guter oder schlechter - Absicht die Seele derer in vollige
Finsternis gehiillt hat, die ihm Glauben schenkten, wie er eine jede Bewe-
gung erstickt hat, die ein wenig Licht gebracht hitte, wie er die naiven
Menschen auf dieser Welt in der Hoffnung auf ein schénes Jenseits zu
Geduld erzogen hat, wahrend er selbst seine Macht in der Gegenwart
geno. Wie viele Menschenleben und wieviel Gliick hatte die Kirche durch
hartnackige Aufrechterhaltung veralteter Institutionen (Unauflésbarkeit der
Ehe, Verbot der Mischehen usw.) zugrunde gerichtet! Wie oft war die sich
an Worte klammernde Hypokrisie iiber die wahre Sittlichkeit siegreich
geblieben! Sie war Anzengrubers grofer Feind wihrend seines ganzen
Lebens. Er kampfte aber nicht nur gegen sie, sondern erkannte sie auch in
ihrem innersten Wesen. Ohne es zu wollen, erhebt er sich iiber alle seine
Vorginger: sie greifen den Feind nur an, er verewigt ihn. Auch das tat er im
Dienste der Tendenz; er hatte das Gefiihl, daf die Angriffe der anderen nicht
tief genug wirkten, und da ihre Lehren nicht aufklirend genug seien.
Daf er wirken wollte und warum er wirken wollte, ist aber nur die
unmittelbare Ursache dafiir, daS Anzengruber das Volksdrama fast aus-
schlieBlich als Form gewahlt hat. Er stammte aus dem Volk und fiihlte sich
ihm verwandt (so stark wie nach ihm nur Hauptmann), er ragte aber schon
in jeder Hinsicht aus dem Volk heraus. Er fiihlte sich so wie jemand, der auf
schwierigen Wegen auf einen Berg klettert und von dort auf die im Tal
Lebenden hinunterschaut und spiirt, wie sehr sie sich ebenfalls nach der
Hohe und nach dem Licht sehnen; daf sie iiber dieselben Krifte zum
Bergsteigen verfiigen wie er, wenn sie auch schlummern und er hiitte ihnen
gern hinuntergerufen: »Kimmt ’rauf, do geht der Weg!« (Brief an Roseg-
ger).”" Ein solcher Ruf war die ganze Dichtung Anzengrubers. Er selbst
hatte das Gefiihl, da& er fiir diejenigen schreibt, die sich unten befinden; ich
glaube aber er hatte ein gréferes Bediirfnis danach. Er konnte sich in der
GroBstadt seelisch nie akklimatisieren; die gro&stidtischen Probleme wirk-
ten nur auf seinen Verstand, nicht auf seine Gefiihle; er spiirte, daf seine
Konflikte nur unter den lindlichen, einfachen Verhiltnissen poetisch darge-
stellt werden kénnten. Und wenn er sich an einigen »gesellschaftlichen«
vu Das Baxerndrama 313
Dramen versuchte (z. B. »Elfriede«), war die Sprache gesucht, papieren, die
Konflikte waren konstruiert, die Menschen waren nicht lebendig. Er hatte
ein Bedirfnis nach einem seelischen Zuhause, einem Boden, wo er Wurzeln
schlagen konnte. Er war kein Literat; es hatte seine Seele nicht erfiillt, schéne
Dinge fiir einige Kenner zu schreiben. Er brauchte den Kampf, damit er ein
Lebensziel hatte; diejenigen, fiir die er gekimpft hat, waren auch ohne ihn
zurechtgekommen; das Volk spiirte weniger, daf es schlechte Kunst geboten
erhielt, als Anzengruber, da8 er produziert (denn er war ein naiver Kiinstler,
er produzierte, weil er mufte) und es niemanden gibt, fiir den und wofiir er
produziert. Er hitte diesen Schwebezustand, das Gefiihl des »déraciné«
nicht vertragen, in dem die ganze moderne Literatur lebt. Daf es nur deshalb
Literatur geben solle, weil es Dichter gibt und das Publikum aus den
Dichtern selbst und einigen Menschen bestehen, die wie Dichter fiihlen und
unfahig zum Schaffen sind.
Es ist kein Literat. Er schafft naiv und es hingt von Zufillen ab, ob seine
Werke gelingen. Auf einige gute Stiicke folgt manchmal ein ganz schlechtes,
dann steigt er wieder auf die alte Héhe. Auf die alte Héhe ... denn in
Anzengrubers Dichterlaufbahn gibt es keinen Aufstieg, es gibt keine Ent-
wicklung. Er schrieb nie ein besseres Stiick als sein zweites (»Der Meineid-
bauer«). Er hat diese Hohe des ofteren erreicht, besonders in den unmittel-
bar folgenden Dramen; die letzten stehen aber tief unter diesem Niveau.
Auch die schwere dichterische Arbeit hat er nicht geliebt. Seine besten
Stiicke schrieb er in wenigen Monaten und wenn er einmal etwas nieder-
schrieb, konnte oder wollte er es nicht indern; auch wenn er einsah, daf es
Fehler hatte. Als er von Rosegger hért, da8 er einen seiner Romane mit
mihevoller entnervender Arbeit schrieb, ermahnt er ihn, das nie wieder zu
tun; »schaffen Sie sich zur Lust« rit er ihm.” Er sah in jeder schweren
Arbeit eine ungesunde Uberforderung des Talents. Er war verargert, da
seine Freunde und Génner ihn nach seinen ersten wunderschénen Stiicken
mit Shakespeare verglichen, daf sie auch an die folgenden einen so hohen
Mafstab anlegten. Er wollte wie die anderen fiir die Biihne schaffenden
Dichter beurteilt und betrachtet werden, damit sichtbar werde, wieviel mehr
er zu bieten habe. Wenn es gelingt, werde er schon wieder Stiicke schreiben,
die den ersten gleichwertig sind, dies sei jedoch nicht immer mdglich, und
man diirfe es nie forcieren. Seiner Meinung nach beweisen die Beispiele
Kleists, Lenzens und Grabbes, wohin es fiihre, wenn ein Dichter stets und in
allen seinen Werken das GréSte, das »Klassische« erreichen will. Er hielt es
fir ein Glick, wenn er etwas Grofes schaffen konnte, und er war nicht
314 Der Naturalismus
verzweifelt, wenn ihm etwas miflang. Er war sich sowohl iiber den relativen
Wert seiner Stiicke wie auch iiber ihre Wertlosigkeit im klaren und er wollte
nicht einsehen, warum nur die dichterisch untalentierten Menschen Biihnen-
erfolge haben sollen, warum nicht auch er, wenn auch mit Stiicken, die
eventuell nicht so wertvoll sind. Er verachtete das Buchdrama und war allen
gegeniiber miftrauisch, die entschieden auf die Gegenwartsdichtung ver-
zichteten und an das Verstandnis der Zukunft appellieren wollten. Er wollte
wirken, unmittelbar von der Biihne aus wirken. Das hatte dann bei seiner
Laufbahn zur Folge, daf er, als eine Reihe seiner Sticke nacheinander
durchfielen, — als Dramatiker — fast vollkommen verstummte.
Seine ganze Lebensauffassung ist ahnlich einfach und natiirlich. Es gibt bei
ihm keine Pose, keine romantische Ubertriebenheit. Er mute nicht auf
romantische Ideale verzichten, sie besiegen, wie fast alle groBen germani-
schen Dichter seit Goethe; er war eine unromantische Natur, nicht einmal
antiromantisch. Er sah das Leben wie es war und liebte es als solches; er
hatte keine Forderungen dem Leben gegeniiber, die es nicht hatte erfiillen
kdnnen. Mit wohlwollendem Mitleid betrachtet er die romantischen Men-
schen, er liebt sie, weil er ihren Wert empfindet, er bemitleidet sie aber auch,
weil er weif, was ihr Schicksal sein wird und er kann dafiir nicht die
Weltordnung anklagen. Agnes, die Hauptgestalt in »Der ledige Hofe lebt
abgeschlossen von der Welt, sie erhilt eine klésterlich strenge Erziehung,
kennt weder die Welt noch die Menschen. Sie lebt so bis zu ihrem neunund-
zwanzigsten Lebensjahr, als in ihr die Liebe erwacht; sie liebt einen hiib-
schen jungen Bauernburschen, den ersten besten, der ihr den Weg kreuzt. Sie
stellt unerfiillbare Forderungen an ihn, will seine erste und einzige Liebe
sein, wie er es bei ihr war. Das Leben erfiillt natiirlich diese Forderung nicht.
Der Bursche gibt ihr eine ausweichende Antwort, als sie ihn fragt - und dann
erfahrt sie, da& im Nachbardorf ein Madchen lebt, das von ihm verfihrt
wurde und von ihm auch ein Kind hat. Das entriistete, zutiefst getroffene
Madchen, dessen erster und letzter Versuch gliicklich zu sein, so endet, will
den, der sie betrog, in den Tod schicken: sie schickt ihn zum anderen Ufer
des Sees, um Fisch zu holen, weil sie weif, da& ein Sturm aufkommt.
Anzengruber spiirt den iiberdurchschnittlichen Wert dieses Madchens, eines
Menschen, der alles aufs Spiel setzt, der bedingungslos lieben und hassen
kann und deshalb bestraft er ihn nicht mit dem Erfolg seines Vorhabens. Der
Bursche kommt davon; sie werden sich trennen und Agnes wird ihr Leben
der Erziehung des unehelichen Kindes ihres Geliebten widmen. Anzengru-
ber liebt das Madchen, er identifiziert sich aber keineswegs mit ihm. Er wei8,
vit Das Banerndrama 315
da es nicht recht hat, denn dieser Bursche »kann doch nichts dafiir, da sie
ihn fiir besser gehalten hat«.” Er zog gegen die Illusionen, gegen die
»Lebensliigen« ebenso energisch zu Felde wie Ibsen. Bei ihm sind aber Ziel
und Richtung des Kampfes gerade entgegengesetzt wie bei dem grofen
norwegischen Romantiker. Er glaubt nicht, daf die Liige Leben zu schenken
und zu bewahren vermag — wenn er dies glauben wiirde, wiirde er nicht
dagegen kimpfen. Er hilt das Erwachen und die Enttduschung fiir unver-
meidbar und davor hat er Angst bei seinen Menschen; er méchte, daft dies
méglichst frih und méglichst schmerzlos geschieht, weil er spiirt,
da es
geschehen mu. In »Das vierte Gebot« gehen Martin und Josepha daran
zugrunde, daf ihre Eltern sie glauben liefen, sie seien auSergewohniiche,
talentierte und hervorragende Menschen. Das Leben lehrt sie natiirlich das
Gegenteil, diese Lehre kostet ihnen aber ihr Leben oder ihr Gliick. Das
Leben beendet alle Illusionen; sowohl die sii8en wie auch die schmerzvollen.
Das ganze Leben Grillhofers (»G’wissenswurm«) wird durch seine Gewis-
sensbisse getriibt: in seiner Jugend verfiihrte er ein Madchen, das Madchen
verschwand, er wei nicht, was aus ihm wurde, sicher verkam es - und das
belaster sein Gewissen. Als sie sich jedoch treffen, war aus dem armen
verlassenen Madchen eine reiche Bauernfrau geworden; sie hatte Grillhofer
nie geliebt, sie hat sich ihm blof in der Hoffnung hingegeben, daf er sie nach
dem baldigen Tod seiner Frau heiraten wiirde. Die Frau starb aber nicht frith
genug, sie verlie8 also den Mann und versuchte ihr Gliick anderswo - und
zum zweitenmal gelang es ihr auch. Und deshalb quiilte sich der arme
Grillhofer so lange ...
Alle romantischen Hlusionen werden bei Anzengruber entlarvt, aber nicht in
einer wiitenden, verbitterten Polemik wie bei den enttiuschten Romanti-
kern, bei ihm geschieht das ganz glatt, einfach; fast wie von selbst fallen die
Schleier herunter und wir sehen das Leben in seiner vollen Wahrheit. Er
entlarvt die fanatischen, moralischen, salbungsvollen Menschen (Dusterer,
Eisner), er beraubt aber auch die schlechten (Meineidbauer, Gérg) ihrer
Damonik. Bei allen sehen wir, wie sie zu dem wurden, was sie nun sind, wie
viele kleine Umstinde dabei mitgewirkt, da8 ihr Leben sich anders entwik-
kelt hat. Niemand ist Ursache seines Schicksals; es gibt also keine Schurken.
Eine Ausnahme macht er nur mit dem Reprasentanten des verhaften Kleri-
kalismus und der Bigotterie: z. B. Finsterberg, Dusterer. Bei diesen dient nur
als mildernder Umstand, da sie die Verhiltisse, in die sie eingegriffen
haben, nicht kannten. (Z. B. Eduard in »Das vierte Gebote, Segner in »Der
ledige Hof«.) Auch die Liebe sieht Anzengruber klar und ohne Sentimentali-
316 Der Naturalismus
tat. Er sieht sie als einfach, als grof an, aber in ihrer Natirlichkeit gro8, nicht
mit lebensfremden Schénheiten geschmiickt. Seine Liebespaare haben keine
schénen Worte; ohne da& sie Jahrzehnte vorher daraus ein Programm
gemacht hitten, gestehen sie sich stotternd, langsam, ungeschickt ihre Ge-
fiihle (Polde und Agerl in »Der Doppelselbstmord«); sie sind ungeschickt,
eckig, kénnen nicht zur rechten Zeit das richtige Wort finden und brechen in
unartikulierte Téne aus, wenn sie sich sehr freuen oder sehr traurig sind.
Seine Menschen sind nie blof verliebt, sie stehen immer im Leben, sie
durchschauen die Verhaltnisse, besonders ihre materiellen Verhiltnisse. Die
Ehe zwischen Armen und Reichen kommt bei Anzengruber sehr oft vor, bei
ihm wissen aber alle sehr gut, was sie geben oder noch besser, was sie
bekommen. Die Liebe entsteht leicht, sie stirbt aber auch leicht, - in den
meisten Fillen - ohne allzu schwere Folgen zu haben (»’s Jungferngift«).
‘Agnes (»Der ledige Hof) lebt aber ihr Leben lang in resigniertem Pflichtbe-
wuftsein, weil sie einmal enttiuscht wurde; das ganze Leben Wurzelsepps
(»Der Pfarrer von Kirchfeld«) wurde zugrunde gerichtet, weil diejenige, die
er geliebt hat, nicht die Seine werden konnte. Und die Liebe zweier Kinder
setzt dem alten Ha mit jubelnder, triumphierender Kraft ein Ende (»Der
Doppelselbstmord«). Die zornigen Vater miissen Frieden schlieSen, weil
dieser dérfliche Romeo und seine Julia verschwanden, aber nicht deshalb,
um zusammen zu sterben (das glauben blo& die zu Tode erschrockenen
Eltern), sondern - weil die Vater mit ihrer Heirat nicht einverstanden sind
~ um das Ja zu sagen, »bevor’s der Pfarrer fragt.«*
Anzengruber war in seinem ganzen Leben ein Optimist. Er hatte Selbstver-
trauen, er glaubte an den Menschen und an den Fortschritt. In seinem
Vertrauen war jedoch stets die Kenntnis der Gefahren, der Sieg iiber alle
auBeren und inneren Feinde enthalten. Er setzte sich seinem Schicksal
entgegen und besiegte es. Er liebte das Leben, kannte jedoch all seine Tiefen
und er sagte zum Ganzen ja, entschlossen, mutig, frdhlich, mit der Frohlich-
keit eines Menschen, der einen Schiffbruch iiberlebt hat und fiihlt, da& man
alle Schiffbriiche iiberleben kénnte. Das ist die Philosophie des Steinklopfer-
hanns (»Die Kreuzelschreiber«), der sich einmal schwerkrank auf die Wiese
hinausgeschleppt hat, um, wenn er schon sterben miisse, wenigstens auf der
Wiese zu sterben. Dort ergreift Friede seine Seele, er liegt lange unbewegt
und er kann auf einmal aufspringen, fiihlt sich ganz wohl, und beginnt zu
jubeln: »Es kann dir nix g’schehn! Selbst die gréfit’ Marter zahit nimmer,
wann ’s vorbei is! Ob d’jetzt gleich sechs Schuh tief da unterm Rasen liegest
oder ob d’das von dir noch viel tausendmal siehst - es kann dir nix
vu Das Bauerndrama 317
g’schehen! Du gehérst zu dem all’n und dés All’ g’hort zu dir! Es kann dir
nix g’schehn!«* Das ist ein starker, unumsté8licher Optimismus; ein »und
doch«-Optimismus, die Lebensfreude des erlésten Menschen. Es ist etwas
Heidnisches an diesem jubelnden Pantheismus, in dessen Hintergrund der
Tod und die Méglichkeit aller anderen Gefahren lauert. Anzengrubers ganze
Lebensphilosophie ist heidnisch; er kimpft vielleicht nicht blof als »Aufkli-
rer« gegen den Klerus, gegen die Bigotterie, sondern auch sein heidnisches
Herz haft sie, die diese schéne Welt zum Jammertal machen wollen, die
nicht wollen, da& wir das, was diese Erde uns bietet, geniefen - in der
Hoffnung auf ein jenseitiges Gliick. Er hate sie, weil sie eine Vogelscheuche
aus dem Herrgott gemacht haben, der ja sein Leben dafiir gab, damit wir uns
freuen, was die Horlacherlies so einfach und schén ausdriickt, als sie erféhrt,
da8 Grillhofer ihr Vater sei: »Also du, du hast mer’s Leb’n geb’n, no
vergelt’s dir Gott, es g’fallt mer recht gut auff der Welt.<”*
Sieg tiber die Finsternis: das ist der Gegenstand der gréften Lustspiele
Anzengrubers (»Die Kreuzelschreiber«, »Der G’wissenswurm«). Der Feind
ist tiberall der gleiche. Hier werden die Frauen von den Pfaffen gegen ihre
Manner aufgehetzt, damit sie sie auf dem Heuboden einschlieZen, solange sie
eine Sache nicht zuriicknehmen, die Rom unangenehm ist (in die die Armen
ja ganz zufallig hineingerieten) und solange sie dafiir nicht biifen. Dort
gelingt es dem bigotten und eigenniitzigen Dusterer, die Gewissensbisse
wegen einer Jugendsiinde in seinem Schwager in einem Maf zu wecken und
den lebenslustigen, fréhlichen Menschen zur Verzweiflung zu bringen, da8
er ihm alle seine Giiter schenken, und bei ihm ein Gnadenbrot haben will,
um Gott mit diesem Opfer zu verséhnen. Und dennoch verliert die Finster-
nis beide Male die Schlacht, obwohl es so scheint, als ob sie gesiegt hatte und
beide Male sind die Mittel, die den Sieg doch noch erkimpfen, sehr einfach
und primitiv. Beide Male geht es eigentlich blof darum, daf die gréSere
Kraft, die gréRere Frische, die Wahrheit irgendwie doch siegen muf. Des-
halb unterstiitzen alle Zufille die geschickten Ziige des Steinklopferhanns
und die leichte Frische der Horlacherlies, um die Finsternis zu vertreiben,
die schon zu siegen scheint. Diese sind leicht erkimpfte Siege iiber den
Feind. Ein armer alter Mensch wird in seinem Kummer zum Selbstmérder,
weil seine Frau ihn vertrieb, und auch Grillhofer ist nahe daran, materiell
und geistig zugrunde zu gehen. Und iiber diesen Feind siegt das Licht, das
Leben. Und es siegt leicht, spielerisch, es gibt nicht einmal einen Kampf: es
erscheint und schon ist der Feind geschlagen und licherlich gemacht .. .
Und alles hallt wider vom jubelnden Gesang und Tanz.
318 Der Naturalismus
Das ist der Sieg iiber tragische Méglichkeiten, der Sieg eines Gefihls: die
Gefiihle der Horlacherlies, des Steinklopferhanns machen diese Lustspiele
grof (in den anderen ist derselbe Sieg vorhanden, der Feind ist aber viel
kleiner als hier). Dieses Gefiihl reifft alles mit, macht alles glaubwiirdig, es
fallt nicht ins Gewicht, ob dabei einige Zufiille helfen oder nicht. Die
Kampfenden sind so ungleich, da& der Triumph keine Minute lang bezwei-
felt werden kann.
Anders steht es bei Anzengrubers ernsten Dramen und noch mehr bei seinen
Tragédien. Seine ganze Gefiihlsweise stand der Tragddie im Wege, er war
ein echter, groSer Lustspieldichter. Platons Sokrates sagt einmal, daf dersel-
be Mensch die Komédie und die Tragédie schreiben miisse”’, und dieser Satz
ist in bezug auf die meisten Tragddien und Komédien wunderbar tieftref-
fend; die meisten wahren, grofen Komédien sind tatsiichlich blo die andere
Seite der Tragédie. Aber Anzengrubers Lustspiele sind (wie die des Aristo-
phanes und des jungen Shakespeare) nicht wie die Komédien der anderen
grofen Tragiker. Bei diesen ist sowohl der Konflikt wie auch die Lage im
Grunde bei beiden Gattungen gleich, nur die Beleuchtung, unsere Situation
macht die eine lustig und die andere erschiitternd (Kleist, Moligre). Anzen-
grubers Lustspiele sind Sonnenschein nach dem Sturm; die andere Art stellt
den komisch durchnaSten Menschen dar, der im Sturm bis auf die Haut naf
wurde, der nur deshalb komisch ist, weil er nicht daran stirbt, und es ware
tragisch, wenn der Blitz ihn nicht nur erschreckt, weil er hundert Schritte
von ihm entfernt einschlagt, statt dort, wo er ihn téten kénnte. Hinter allen
Lustspielen steht irgendwo die Tragédie. Bei dem einen ist sie aber ein so
entfernter Hintergrund allen Geschehens, daf sie kaum einen Schatten in
den sonnigen Vordergrund wirft; sie begleitet vielleicht die Melodie der
Geschehnisse nur als Erinnerung, als die Erinnerung einer entfernten Még-
lichkeit. Bei anderen Lustspielen ist sie jedoch stets zugegen, sie lauert, steht
bereit, um in jedem Augenblick hereinzubrechen. Im Schicksal selbst, das
den Gegenstand der Komédie ausmacht, ist ebenfalls irgendein Kern des
Tragischen vorhanden (Alceste, Richter Adam, Hauptmanns Frau Wolf
usw.). Das ist also blo8 eine Seite einer Bezichung und es ist vorstellbar, da8
man sie umkehren kann; die andere kann man aber nie umkehren.
Anzengruber unternahm den Versuch, in einigen seiner ernsten Dramen
einen solchen nach dem Sturm hervorkommenden Sonnenschein zu be-
schreiben. Ferner (»Der Meineidbauer«) begeht eine Siinde nach der ande-
ren, bis er schlieSlich elend zugrunde geht und neben einem seiner Opfer,
neben dem heruntergekommenen Jakob ausgestreckt liegt, wahrend sein
vm Das Baxerndrama 319
Sohn ~ den er erschiefen wollte, der aber wie durch ein Wunder entkam
~zur gleichen Zeit zusammen mit seiner ewigen Feindin Vroni, die zugrunde
zu richten sein heifester Wunsch gewesen ist, gliicklich ins Leben tritt. Es ist
wunderbar konzipiert; musikalisch und malerisch: es ist Sonnenschein nach
dem Sturm; alle Szenen sind wunderschén; die Gestalten sind erschiitternd
und gerecht gesehen. Es ist z. B. wunderbar, wie Ferner allmiahlich, fast
gegen seinen Willen, eine Siinde nach der anderen begeht; es ist subtil, wie
Vronis Mutter mit ihrer mutigen, hartnackigen Natur selbst ihr Schicksal
herausfordert, sie ist die unmittelbare Ursache dafiir, da& Ferner sich gegen
sie wendet. Und doch . . . wenn Vroni hier mit Hilfe des Zufalls eine Waffe
findet, mit der sie Ferner zugrunde richten kénnte, wenn ein Zufall sie davor
rettet, daf sich Ferner ihrer Waffe bemichtigt, wenn ein Zufall Ferners Sohn
vor sicherem Tod rettet, wenn Ferner schlieflich ebenfalls zufillig eine
Geschichte hért, die seinen Schandtaten gleicht und er einsieht, daf er sich
vergeblich mit Gottes Erbarmen getréstet hatte, seine Seele verloren ist, und
daher an seinen seelischen Qualen stirbt; wenn all das notwendig ist, um zu
diesem tief empfundenen Ende zu gelangen, spiiren wir nur den Willen des
Dichters; er wollte diesen Schlu8, wenn er es anders gewollt hatte, ware er
anders ausgefallen. Es liegt keine Notwendigkeit darin. Das gute Ende des
~ bereits erwihnten — Stiickes »Der ledige Hof« ist ahnlich beschaffen.
Innerhalb des Dramas gibt es keinen Grund dafiir, da8 der Bursche, den
Agnes in den Tod geschickt hat, mit heiler Haut davonkommt. Anzengruber
wollte es. Wir lieben ihn dafiir, denn wir wissen, warum er es wollte, aber
hier wirkt er selbst und nicht das Stick.
Viele halten diese Zufalle, das Fehlen der Notwendigkeit nur fiir technische
Mangel; sie sagen, da Anzengruber einfach die lockere, nicht durchkompo-
nierte Technik des dsterreichischen Volksstiicks iibernommen hiatte und
alles sei blo& die Folge davon. Das ist méglich. Wenn es aber auch wahr
wire, dann heiftt die Frage, ob er nicht deshalb so stark von dieser Technik
angezogen wurde, weil dadurch die Miingel - in gewisser Hinsicht - ver-
steckt wurden und sie eine Immunitat verlieh? Die Verkniipftheit der
Anzengruberschen Gestalten ist gar nicht so locker, wie es im ersten
Augenblick erscheint. Betrachten wir z.B. die Technik in »Das vierte
Gebot«. Anzengruber stellt hier an drei Familien seine These dar, die
Revision des vierten Gebots: die Pflichten der Eltern ihren Kindern gegen-
ber. Es handelt sich um die Kinder des verkommenen Schalanter: um
Martin und Josepha; um die Tochter des reichen Hausherrn Hutterer,
Hedwig und um den armen, ehrlichen Girtnerburschen Eduard. Nun:
320 Der Naturalismus
Martin und Eduard waren Schulkameraden und Martin hat stets seinen
ernsteren und ausdauernden Freund beneidet; als Martin Soldat wird, erhilt
er denjenigen zum strengen und grausamen Korporal, der um Hedwigs
Hand anhielt und von ihren Eltern zuriickgewiesen wurde; Josepha wurde
von Stolzenthaller verfiihrt, er ist derjenige der Hedwig heiratet; Eduards
Ekern sind Gartner beim Vater Hedwigs; Eduards Vater - da er die
Verhiltnisse nicht kennt - gibt Hedwig den Rat, ihren Eltern zu gehorchen.
Wir sehen, die Beziehungen sind ziemlich kompliziert und sogar auf diese
Weise braucht Anzengruber noch eine Reihe von Zufiillen, um zum Ziel zu
gelangen. Wir spiiren, da& Martin und Josepha verkommen miissen, daf
Hedwig ungliicklich wird und Eduard seinen Mann stellt, aber die Dinge,
die all das verursacht haben, hatten auch ganz anders sein kénnen.
Bab vergleicht einmal Anzengruber in einem schénen Aufsatz mit Shake-
speare* und wenn dieser Vergleich, was die Werke selbst betrifft, nur
insofern berechtigt ist, als er ihm in der Intensitét und im Reichtum des
Lebens seiner einzelnen Menschen, im Ton seiner einzelnen Stiicke nahe
kommt, ist seine Lage in der ganzen modernen Dramentliteratur doch allein
der Shakespeares ahnlich. Er ist der einzige grofe Dramatiker, dessen
Lebenswerk aus der lebendigen Tradition hervorwuchs, er ist der einzige,
dessen Drama in keiner Hinsicht »Kunstdramax ist. Deshalb sieht er — bei
Shakespeare darf man nie seine enge Verbindung mit der lebendigen Volks-
biihne vergessen — seine Menschen in einer von jeglicher Abstraktion freien
und nicht schematisierten Abgerundetheit und alles, was mit ihnen ge-
schieht, in voller Lebendigkeit. Deshalb stellen alle seine Dramen - wie die
Shakespeares — bestimmte Zusammenstéfe bestimmter Menschen dar; eine
Allgemeinheit erhalten alle dadurch, daf sie tief menschlich empfunden, und
nicht zu Lasten dieser Empfindung in abstrakte Rahmen hineingepreft sind.
Shakespeares Situation war aber doch anders: er hatte auch keine Abstrakta
nétig; Anzengruber jedoch sehr wohl und sie stéren teils in Form der allzu
starken Tendenz die Harmonie seiner Stiicke, teils bleiben dadurch Unge-
léstheiten in ihnen. Denn es gibt doch keinen heutigen Konflikt ohne
Abstraktum und dieses kann man - vielleicht mit bewuBter Stilisierung — aus
dem Drama ausmerzen, im Drama vielleicht unsichtbar machen; vielleicht ist
es méglich, aber nur auf diese Weise. Anzengruber hat dies jedoch einfach
nicht beachtet. Deshalb ist es so, da8 sich der menschliche (der konkrete, der
Shakespearesche) Konflikt bei ihm entweder auf ganz andere Bahnen als auf
abstrakten bewegt und sie nur sehr gewaltsam zu verschmelzen sind (»Der
ledige Hof«) oder wenn sie sich auch auf denselben Bahnen bewegen, fallen
vin Das Bauerndrama 21
2
Was bei Anzengruber selbstverstindlich und ganz natiirlich war, das zieht
sich unter groSen Krisen als bewufte Bestrebung durch das Leben Tolstois.
Anzengruber, der aus den unteren Schichten kam, empfand die Beziehung
zwischen sich und seinem Volk, zwischen seiner Kunst und seinem Publi-
kum als natirlich, er befiirchtete nur, da& diese Beziehung abgebrochen
werden kénnte. Der Aristokrat Tolstoi mufte eine - nie existierende ~ Be-
ziehung zustande bringen.
Es gibt Menschen, die zwischen zwei Tolstois unterscheiden, zwischen dem
jungen, dem grofen Kiinstler, dem Dichter von »Anna Karenina« und
»Krieg und Frieden« und dem alten, dem Apostel, der mit grofer und
begrenzter Energie gegen die ganze moderne Kultur kampft. Obgleich in
Tolstois Jugend nicht nur die Keime aller seiner spiteren Bestrebungen
vorhanden sind, sondern seine ganze Jugend aus dem Kampf dieser zwei
322 Der Naturalismus
ten verstanden, die sogar gerade fiir sie entstanden war. In seiner Jugend
hatte er geradezu Rousseausche Stimmungen (»Die Kosaken«). Damals war
aber der Beobachter in ihm noch sehr stark; er spiirte, da& man nicht zum
Ausgangspunkt zuriickkehren kénne. Tolstoi, der Kiinstler, sah, daf die
primitiven Menschen anders waren als er, daf ihn uniiberwindbare Kliifte
von ihnen trennten; der Christ sagte schon damals, daf sie besser seien. Er
lebte immer oben und er war nie mit seinem Schicksal zufrieden; er sehnte
sich nach der groSen Vereinigung, um einen Boden zu haben, auf dem er
stehen kénnte. Er hatte also keine andere Wahl als herabzusteigen; es graute
ihm sogar bei dem Gedanken, da8 auch die anderen Menschen dorthin
gelangen kénnten, wo er sich befand, da8 sie so ungliicklich sein kénnten
wie er. Auch Anzengruber wollte diese Vereinigung, er- der von unten kam
~ wollte aber seine Briider mit sich hinaufnehmen; Tolstoi wollte zu ihnen
hberabsteigen.
Als er seine Dramen schrieb, war er schon iiber alle Kimpfe hinaus. Hier
kdnnen wir also nur den Christen, den Apostel sehen. Das Lustspiel (»Die
Friichte der Aufklirung«) stellt den Sieg der einfachen, geradedenkenden
Bauern iiber die Kulrurmenschen dar. Diese Kulturmenschen sind aber
wirklich so beschaffen, als ob ein russischer Muschik, der noch nie einen
Menschen in Hosen gesehen hat, darstellen wiirde, wie er sich die moderne
Kultur vorstellt. Sie sind Kretins. Sie veranstalten spiritistische Darbietungen
und glauben den ganzen Schwindel. Sie finden fiir alles dumme wissenschaft-
liche Erklarungen. Sie wollen die Bauern nicht in das Vorzimmer hereinlas-
sen, weil sie sich vor Bazillen fiirchten. Auch die Bauern sind keine Men-
schen: sie sind klug, gut, gesund und schmutzig. Andere Eigenschaften
haben sie nicht.
Auch die Gestalten in »Die Macht der Finsternis« sind nicht analysiert.
Nikita ist nur leichtsinnig und schwach; Akim ist ein echter, tiefgliubiger
Christ usw., keiner von ihnen besitzt andere Eigenschaften. Eine seelische
Entwicklung gibt es bei ihnen nicht. In Nikitas Seele stellt sich eine
Wandlung ein, plétzlich, unvorbereitet. Einen Naturalismus gibt es nur in
den Geschehnissen; darin, da& ein Mensch vor unseren Augen vergiftet
wird, da die Knochen eines Siuglings mit einem Brett gebrochen werden;
und in der unverschleierten, grausamen Ehrlichkeit, mit der diese Sachen
ohne Beschénigung vor uns ausgebreitet sind. Als solches wirkte das Stiick
in Berlin und in Paris auf die jungen Naturalisten und wurde auf allen freien
Bihnen zu einem standigen und sehr wirksamen Repertoire-Stiick.
Tolstoi hatte nicht diese Absicht. Er wollte es nach seinem eigenen Ideal
324 Der Naturalismus
schreiben und las es seinen Freunden vor, den Bauern, und diese brachen
~ an den als ergreifend konzipierten Stellen in Gelichter aus. Die Astheten
hatten aber das Stiick sehr gerne; Maeterlinck sieht hier und in »Die
Gespenster« die Gipfelpunkte des modernen Dramas.” Und tatsachlich gibt
es — zunichst — etwas unbedingt Mitreifendes in diesem Stiick. Die Urzu-
stinde, die vollkommene Finsternis, wo Akims fiir uns unendlich schwaches
Licht blendend leuchtet, Menschen, mit denen wir kein gemeinsames Gefihl
haben, kimpfen unendlich weit von uns entfernt, sie leiden und quilen
einander. Ein langst iiberholter Zustand steht vor uns und er wirkt vielleicht
am besten dadurch, daf wir spiiren: auch wir waren einmal so, auch sie sind
unsere Briider — wir erinnern uns aber kaum noch an sie.
Das wirkt stark, aber nicht dauernd. Die Wirkung vergeht und beim zweiten
Lesen ist sie schon bei weitem nicht so stark (von einer Steigerung ganz zu
schweigen). Das Primitive wirkt dann nur noch als Armut, nicht als grofarti-
ge Stilisierung; wie auch Tolstoi alle stilisierenden Absichten fernlagen.
Diese Menschen sind tatsachlich simpel, sie sind nicht die Zusammenfassun-
gen komplizierter Menschen in eine Linie.
Als Ergebnis Tolstois steht hier also ein naturalistisches Repertoire-Stiick,
das fiir eine kurze Zeit raffinierte Astheten ergétzt hat.
Alle Zeiten sind eigentlich Ubergangszeiten: Eine jede Epoche hat ihre
Akademie und Sezession und nur die Entscheidung der Machtfrage be-
stimmt, wie wir sie - nachtriglich — betrachten. Die meisten kiinstlerischen
Revolutionen sind eine Machtfrage, bedeuten keine Grundsatzfragen; junge
Menschen wollen ihren Platz haben und die Prinzipien bilden sich nur
nachtraglich aus oder sind blo auf die Fahnen geschrieben, damit sie im
Kampf die Kampfenden zusammenhalten. Die Verbiindeten trennen sich
nach dem Sieg, alle gehen auf ihren eigenen Wegen weiter. Nachtraglich
erscheinen die Ursachen der Kimpfe sehr kleinlich und die erreichten
Ergebnisse von sehr geringer Bedeutung. Meistens ist natiirlich bereits der
Personenwechsel ein Gewinn, aber damit sich auch einige Jahre spater die
Beschiftigung mit der Bewegung lohnt, ist es notwendig, daf diese Jugend
Ergebnisse oder zumindest Méglichkeiten bietet, tiber deren ausschlieBliche
Radikalitit zwar die Entwicklung hinausgeht, an denen sie aber doch nicht
x Théétre libre und Freie Biihne 325
vorbeigehen kann. Ganz kurz gesagt: es ist notwendig, daf diese Verinde-
rung — in welcher Hinsicht auch immer — der Entwicklung etwas Unver-
zichtbares gibt, da8 es einen ganz deutlich feststellbaren, wesentlichen
Unterschied zwischen den Werken gibt, die vor und nach der Revolution
entstanden sind. Der Naturalismus besaf, so glauben wir, diese Bedeutung.
Das neue Drama hat sich noch nicht entwickelt, was ihm bei Hebbel und
Ibsen fehlt, sahen wir schon, und wo diejenigen sich befinden, die heute
kimpfen, davon wird spater die Rede sein. Darin, was ihnen fehlte und
darin, worauf das aufgebaut wird, was heute entsteht, ist zumindest unleug-
bar viel von den Prinzipien enthalten, die mit dem Sieg des Naturalismus
einhergingen - wenn auch nicht von dem, was der Naturalismus selbst
brachte. Der Naturalismus war es doch, der die Verbindung zwischen dem
neuen Leben und seiner Kunst hergestellt hat und ohne diese Verbindung
wird ein jedes Drama von der Gefahr bedroht, in die leeren und nichtssagen-
den Schablonen der epigonalen Dichtung zuriickzufallen. Da& die Verbin-
dung, die der Naturalismus gekniipft hat, unzulanglich ist, vielleicht nicht
blo& in der Form, in der die Bewegung selbst sie zustande brachte, sondern
iberhaupt, das ist gewif. Heute zumindest scheint es so, daf die Suche nach
neuen Formen nicht einmal ganz an ihr vorbeigehen kénne; zumindest nicht
gewisse Tendenzen; und ob die Zukunft ihnen oder ihren Gegnern gehéren
wird, das weif heute niemand.
Die Menschen der naturalistischen Bewegung glaubten natiirlich von sich,
da sie das neue Drama bereits geschaffen hitten. Sie spiirten und wuften,
da sie etwas ganz Neues brachten — sie waren bewufte und theoretische
Revolutionire — und sie waren iiberzeugt davon, da dieses Neue das grofe
und moderne Drama sei, wonach sie und viele andere ihre Hinde sehnsiich-
tig ausgestreckt hatten.
Sie wurden enttauscht. Wir werden sehen, zwischen welch engen Grenzen
sich die Ausdrucksméglichkeiten des Naturalismus bewegen, wie wenig ein
naturalistisches Stiick, und sei es auch vollkommen, bedeutet. Und von
diesem Ergebnis her — verglichen mit der Erwartung und den Hoffnungen,
die an den Naturalismus gekniipft wurden — werden wir jene sehr schnell
und mit grofer Kraft auftretende, oft sehr unberechtigt betriebene Opposi-
tion verstehen, die auf den Sieg des Naturalismus folgte. Diese besondere
Dualitat kennzeichnet die Stellung des Naturalismus in der Entwicklung:
der Naturalismus an sich bedeutet nichts oder zumindest sehr wenig, ganz
ohne ihn ist es jedoch nicht méglich, etwas zu erreichen; der Naturalismus
ist also ein Ubergang, aber als Ubergang ist er unbedingt notwendig. Er ist
326 Der Natsralismus
L
Am Ende der 80er Jahre hat sich der Naturalismus in Paris und in Berlin eine
Biihne geschaffen. Daf die alten Theater nicht mehr erneuert werden
konnten, spiirten bereits alle. Das lag nicht nur an der Riickstindigkeit oder
Kurzsichtigkeit der Theaterdirektoren; unter ihnen gab es auch solche (z. B.
Porel), die es gerne mit einigen modernen Stiicken versuchten, ohne mit dem
Experiment jemals Erfolg zu haben. Es konnte niemals gelingen, weil das
Publikum an ganz andersartige Stiicke gewéhnt war und jede kleinste
Abweichung vom Gewohnten wirkte abstofend, gesucht, extravagant. Und
die Schauspieler, Regisseure, die unter den schablonenhaften Stiicken und
durch sie gro geworden waren, wollten und konnten sich in die Stimmung
der einfacheren und prosaischeren unpathetischen Sticke nicht einleben. Die
Ursache fiir die aufsehenerregenden Miferfolge der Goncourts, Zolas und
Becques waren in nicht geringem Mafe die Auffiihrungen, die sie gewolk
oder ungewollt verfalscht haben. Es ist méglich, sogar wahrscheinlich, da8
sie — zumindest damals ~ bei einer jeden Auffiihrung durchgefallen waren; in
der, mit der sie auf die Biihne gelangten, konnte man sie nicht einmal
verstehen (siehe z. B. Antoines Brief an Sarcey nach der Auffiihrung von »La
Parisienne«**), und in Deutschland wurde iiberhaupt kein Dichter auf die
Bihne gelassen, der einen Funken Originalitit besaf. Alle modernen Schav-
spieler und Dichter spiirten also, daf es unméglich war, innerhalb des alten
Rahmens Neues zu produzieren, und daf etwas ganz Neues entstehen
mufte, damit nicht alle bisherigen dichterischen und schauspielerischen
Experimente vollkommen vergebens waren. Dieses vollkommen neue mo-
derne Theater, das die Theoretiker seit so langem gefordert hatten, schufen
Antoine in Paris 1887 und Brahm in Berlin 1889.
Es waren vollig verschiedene Unternehmungen, obwohl das Experiment
Brahms von Antoine beeinflugt wurde. Nicht die Neigungen der Fiihrungs-
x Thédtre libre und Freie Biibne 327
aber mit genialer Einseitigkeit aus der grofen Schar der jungen Dichter die
Menschen der Zukunft aus. Antoines Experiment war farbiger, sympathi-
scher und scheinbar kiinstlerischer als das des allzu parteiischen Brahms; er
wurde auch friher popular. Dieses kleine Theater rief das Entziicken aller
Astheten hervor und sogar die Gegner erkannten seine Tatkraft und sein
subtiles Regietalent an. Sie hatten auch keinen Grund, verbittert gegen ihn
zu kampfen; er war nur ein Konkurrent und ein vorliufig — finanziell — nicht
sehr gefahrlicher Konkurrent. Brahm betrachtete einen jeden als Feind,
wenn er sich nicht im gleichen Lager befand wie er. Sein Sieg bedeutete — wie
es die spateren Ereignisse gezeigt haben - zumindest den moralischen
Bankrott der schlechten und leeren Biihnenliteratur der 8oer Jahre; er durfte
nur vollkommen siegen oder durchfallen. Dazu kam noch, daf der deutsche
literarische und kiinstlerische Aufruhr nie rein kiinstlerisch gewesen ist,
sondern auch eine véllige kulturelle und soziale Wandlung gefordert hat;
kaum ein Jahr nach der Entstehung der »Freien Bithne« entstand — gréften-
teils mit demselben Personal — das erste Arbeitertheater, die »Freie Volks-
bithne«, die natiirlich die ganze biirgerliche Klasse zum Feind des jungen
Naturalismus gemacht hat.
Antoine kam zu spit, um die Dramenliteratur zu erneuern. Es ist méglich,
da& er, wenn er friiher gekommen wire, irgendeinem der grofen naturalisti-
schen Romanciers hitte auf die Biihne helfen kénnen - und das hitte
vielleicht das franzésische Drama erneuert. Als er auftrat, waren sie schon
miide und befanden sich auf dem absteigenden Ast, sie hatten keine Energie
mehr zu einem Neubeginn (sie konnten héchstens ihre Romane fiir ihn
dramatisieren). In der Literatur selbst ist der alte, der konsequente Naturalis-
mus allmahlich aus der Mode gekommen. Selbst diejenigen, die vom Natura-
lismus ausgegangen sind (Maupassant, Huysmans), waren bereits iiber ihn
hinausgegangen und die talentiertesten Menschen der neuen Generation
schlugen ganz andere Wege ein; die objektiven Studien und Dokumente der
»group de Médan« langweilten schon alle. Sie wollten jetzt iiber den
modernen Menschen, iiber die subtilen, grofen und tiefen Probleme des
modernen Seelenlebens schreiben und es schien so, als ob eine aristokrati-
sche, subjektive, impressionistische Kunst im Entstehen sei. Es herrschte
wieder die Lyrik und der Roman vor; an das Drama dieser neuesten
Literatur dachte damals noch niemand. Diejenigen unter den jungen Dich-
tern, die damals Dramen geschrieben haben, waren Naturalisten, sie waren
Schiiler Zolas und Henri Becques, meist beider: sie waren scharfsichtige,
geschickte, talentierte Menschen, die iiber die verschiedensten gesellschaftli-
ix Théatre libre und Freie Biihne 329
2
Der deutsche Naturalismus hatte nie derartig ausschlieBlich praktische Ten-
denzen und Méglichkeiten. Die Verhiltnisse waren natiirlich auch andere.
Deutschland hatte nie eine als hochwertig angesehene und populire Biihnen-
literatur; das ernste und tiefe Drama sprach — wie wir sahen — blo& kleine
literarische Kreise an, in den vielgespielten Stiicken gab es keine Literatur;
Schiller war der einzige unter den grofen Dichtern, dessen Popularitit
breitere Kreise erfa&t hat. In der Lyrik und im Roman war die Kultur, die
Beziehung zwischen den Dichtern und dem grofen Publikum noch eher
vorhanden. Diese Lage war nie so zugespitzt wie am Anfang der 8oer Jahre.
Die grofen Dichter der Mitte des Jahrhunderts waren schon alle gestorben.
Die wenigen — aus jeglicher Zeit und jedem Stil herausragenden — grofen
Menschen, die damals lebten (Nietzsche, Keller, Meyer) kannte kaum
jemand; Anzengruber hat vergeblich gegen den Gleichmut der Wiener
gekimpft, Fontane, den man damals nur als Balladendichter kannte, hatte
seine wichtigsten Werke noch nicht geschrieben. In der Lyrik herrschtea
Epigonen von feinem duferen Formgefihl, engem Horizont und begrenz-
tem Talent oder die Julius Wolfsche »Werkelpoeten«, und neben ihnen gab
1x Thédtre libre und Freie Biibne 33%
es damals nur sebr wenige wirklich feinfihlige und tiefe Dichter. Im Roman
und Drama ist auch die Generation der Handwerker von viel niedrigerem
Niveau gewesen als die vorherige. Statt Gutzkow und Laube proklamierten
Lindau, Blumenthal und Lubliner ihre Prinzipien auf der Biihne und Bau-
ernfelds feine und unterhaltende Lustspiele wurden von L’Aronges dick
aufgetragenen Sentimentalititen abgelist.*””
Berlin wurde durch den Krieg von 1870 zum Mittelpunkt des Reiches und
zur Weltstadt, obwohl die Stadt — hinsichtlich der Kultur — fiir diese Aufgabe
noch iiberhaupt nicht reif war. Das Publikum war blof reicher, aber nicht
gebildeter als das der kleineren Stidte. In Berlin fehlte sogar z. B. Miinchens
ake, schéne, zwar kleinere, epigonenhafte kiinstlerische Vergangenheit und
die durch die weltstadtische Atmosphiire entstandene nervése kiinstlerische
Empfanglichkeit fiir jede neue Serisation hatte noch keine Zeit sich zu
entwickeln. Die Masse nahm wahllos alles Schlechte an, was man ihr bot.
Ihre reichen Wohnungen waren so geschmacklos wie méglich; sie kauften
fiir teures Geld die schlechtesten Bilder; die Theater besafen sehr viele gute
Schauspieler, die in schlechten Stiicken spielen muSten und die schlecht
spielten, weil es niemanden gab, der sie kontrolliert und erzogen hatte. Der
Reichtum war grof, aber auffillig, hochnisig und unangenehm. Und in
¢inem erschreckend scharfen Gegensatz dazu gab es den bodenlosen Magen
der neuen, sich blitzschnell entwickelnden Grofstadt. Der Sozialismus
begann bereits trotz des damals riicksichtslosen Drucks der sehr starken
Junkerpolitik seinen gewaltigen Vormarsch.
Die talentiertesten jungen Menschen gingen natiirlich aus-allen Teilen des
Landes nach Berlin, die einen um zu lernen, die anderen um zur Geltung zu
kommen. Sie waren Provinzmenschen voll dunkler Ahnungen, Sehnsiichte
und Hoffnungen; mit Augen, die an enge Horizonte gewohnt, aber vom
Haf der stindigen kleinlichen Verhiiltnisse geschirft waren. Sie wurden von
Berlin berauscht, dann haften sie es und schlieflich oder in erster Linie
wollten sie es neu gestalten. Eigentlich waren sie alle nur Literaten, aber das
groBstidtische Elend, das sich mit brutaler Energie vor ihren Augen ausbrei-
tete, das auch sie zu verschlingen drohte, dffnete ihre Augen fiir soziale
Fragen. Die akeren deutschen Dichter sahen ihre materiellen Sorgen mehr in
Form der Getahr des romantischen Verkommens; sie waren alle sehr nahe
daran, Proletarier zu werden; sie muften somit die Verwandtschaft zwi-
schen ihrem Schicksal und dem aller anderen geistigen Proletarier, sogar aller
Proletarier erblicken. Weil sie es an ihrem eigenen Leben verspiirten, trat die
soziale Frage in ihrer Dichtung zum ersten Mal in der deutschen Literatur
332 Der Naturalismus
auf. Sie waren jedoch - Lublinski weist mit gréSter Schirfe darauf hin
— tiberhaupt keine Sozialisten; sie beschiftigen sich nie eingehend und
ernsthaft mit der Arbeiterfrage und sie verstanden nie ihren wahren Sinn. Sie
kamen mit veralteten religidsen und sozialen Ansichten nach Berlin und dort
bauten sie aus dem marxistischen Klassenkampf, aus Darwins Entwicklungs-
gesetz, aus einigen Rassentheorien - zu denen sich bei einigen auch das Ideal
des Ubermenschen und des Wagnerschen »Gesamtkunstwerks« gesellte
— eine etwas wirre, chaotische, mystische Katastrophentheorie auf, die voll
von unreifen volksbegliickenden und welterlésenden Plinen war.** Gefiihls-
mifig blieben sie dabei in vieler Hinsicht kleinstadtisch und ihre Gefiihlsfor-
men behielten in vielem ihren aus dem 18. Jahrhundert stammenden klein-
biirgerlichen Doktrinarismus bei. In der GroSstadt sahen sie einen geheim-
nisvollen, alles verschlingenden Moloch. Sie hielten ihre kleinen Erlebnisse
mit Kellnerinnen fir furchtbare Ausschweifungen und sie stilisierten sie in
ihrer Phantasie mit echt kleinbiirgerlicher moralischer Strenge, oder sie
steigerten sie mit beinahe kindlicher, aus den gleichen Quellen stammender
Prahlerei (mit fast dergleichen Naivitit wie Lillo und in seiner Nachfolge das
ganze Drama und wie der Roman des 18. Jahrhunderts aus Milwood eine
damonische Gestalt gemacht hat) zu wilden Orgien. In der sozialen Bewe-
gung selbst sahen sie auch nichts anderes als die Wiederholung der 48er
Revolution gréferen Ausmafes; fiir ihre neuen Seiten hatten sie keinen
Blick.
Literarisch konnten sie nur radikale Revolutionire sein, denn das, was
vorgeherrscht hat, war offensichtlich so schlecht, da8 man nicht einmal
daran denken konnte, etwas davon zu erhalten; man mufte iiberall tabula
rasa machen, bevor man iiberhaupt mit der Erschaffung der neuen Werte
beginnen konnte. Ihr Ziel war einzig die Befriedigung eines seelischen
Bediirfnisses: der kiinstlerische Ausdruck des modernen Menschen —~ ihrer
selbst. Die Bewegung war in erster Linie lyrisch und sie fanden auch dort
zum erstenmal (Conradi”, Liliencron) neue und wertvolle Téne; Roman
und Drama folgten erst spiter und auch hier wurden sie noch von der
gleichen lyrischen Stimmung geleitet. Hier hatten sie jedoch bereits das
Gefihl, daf sie nicht blo& sich selbst darstellten, sondern auch ihre ganze
Umgebung, insofern diese auf sie eingewirkt hat, als kénnten sie dadurch
den lyrischen Ausdruck ihrer Individualitat intensivieren. Von einer Erneue-
rung der Formen war nicht einmal die Rede. Sie hatten weder Zeit daran zu
denken, noch hielten sie es iiberhaupt fiir wichtig. »Das Feldgeschrei >L’art
pour l’artee — schreibt einer der lautstarken Revolutionire, Bleibtreu, in
1x Théétre libre und Freie Buhne 333
Synthese eine Falschung. Alle Verinderungen setzen sich aus Tausenden und
Abertausenden von Stimmungsvibrationen allmahlich zusammen, es gibt
keine Spriinge, gegliederte, aufgebaute Entwicklungen, alles wachst, vibriert,
zittert, wir wissen nicht warum, wir wissen nicht wohin, nur nachtriglich
erblicken wir es, wenn schon alles geschehen ist. Auf diese Weise kann nichts
isoliert geschehen; diese Kunst muf im Erleben aller Ereignisse alles, was
gleichzeitig und am selben Ort geschieht, erleben. Dies hat die enorme
Steigerung der Subtilitit der Beobachtungen zur Folge. Dadurch entdeckt
man die Wichtigkeit neuer, nie bemerkter Zusammenhiange und Wirkungen.
Das Erleben wird viel schwieriger und in einem tieferen Sinn subjektiver als
je zuvor; in dieser Kunst darf es keinen toten Punkt, keine Beobachtung aus
zweiter Hand geben; einen Dichter mit starkem Pathos kénnte sein
Schwung iiber solche Punkte hinweghelfen.
Die vom Umfang gesetzten Grenzen sind natiirlich schon vorhanden. Mit
diesen Ausdrucksmitteln kann man nur Bilder geben, und auch diese Bilder
sind — das ist der Preis ihrer Lebendigkeit und Durchschaubarkeit — viel
umfangreicher, als sie bei jedem anderen Dichter waren. Ein Holz-Roman
wire also schon wegen seines Umfangs ein wahrhaftiges Monstrum. Die
Novelle und die Skizze stellen somit die natiirlichen Formen dieser Technik
dar. Und das Drama. Denn — das war im Programm Holz’ nicht enthalten,
aber sobald er es in die Praxis umzusetzen begann, kam es unwillkirlich
zustande ~ in dieser Schreibweise herrscht villig der Dialog, Beschreibungen
gibt es kaum, Reflexionen iiberhaupt nicht. Holz sah das auch selbst ein und
sein Freund Schlaf machte es zum Hauptprinzip seiner kiinstlerischen
Stilisierung, noch bevor von bestimmten Dramenplinen die Rede gewesen
wire. Schlaf spricht in einem Brief an Holz davon, da8 wenn er alles in
Dialoge umsetzen wiirde, alles verschwinden kénnte, was nur hypothetisch
sei, das Werk gabe nur das Sinnfillige, das Positive, das tatsichlich Wahr-
nehmbare, Kontrollierbare wieder.*’ Es ist leicht einzusehen, warum das so
kommen mufte. Das Gesprich ist die einzige Form des Lebens, in der das
Wort, der Stoff der Dichtung zugleich Ausdrucksmittel des Lebens ist; was
der Dichter auch darstellen will, das Leben kann er nicht reproduzieren, nur
symbolisieren. Es gibt keine so grofe Kluft zwischen der besten und der
schlechtesten Beschreibung wie zwischen der besten Beschreibung und
einem Stiick Natur; sie wird immer nur in der Phantasie des Lesers iiber-
brickt und das, was der Dichter darstellt, ist auch im besten Fall nicht mehr
als auSerordentlich allgemeine Zeichen und Definitionen. »Die Kunst ist«
~ schreibt Arno Holz in seinem theoretischen Werk ~ »die Natur minus X«
336 Der Naturalismus
(wobei das X gerade die Geeignetheit des Stoffes und das Umgehen-Kénnen
damit, also die Technik ist). Und das natirliche Verhiktnis von Literatur und
Leben bringt es zustande, da der Dialog der geeignetste Stoff zu einer
derartigen Gestaltung ist, da& man sich dabei nur die nétige Technik zu
eigen machen mu&, damit sich das X auf ein Minimum verringert. Dem
Ausdruck aller andersartigen Lebenserscheinungen setzt sich der Stoff selbst
entgegen.
Das Drama besteht natiirlich nicht nur aus dem Dialog. Besonders beim
alten Drama verhielt sich das sehr wenig so und sogar einer der Fiihrer der
jungen franzésischen Naturalisten, Jean Jullien schreibt in einem seiner
Vorworte, daf im Drama das wichtig sei, was geschehe, nicht das, was man
spreche.“ Aber gerade deswegen konnte dieses Drama nie den modernen
Menschen und das moderne Leben auf die Biihne bringen. Denn heute,
wenn tausend kleine Motive eine jede kleine Handlung bestimmen und
unendlich viele kleine Nebenumstinde die kleinste Bewegung determinie-
ren, wenn die Menschen so viel und subtil denken, empfinden und sprechen
und so wenig handeln, ist es unméglich, jemanden hauptsichlich durch seine
Taten zu charakterisieren. Heute ist vielleicht fiir einen jeden am charakteri-
stischsten, was er spricht; nicht das, was er tut. Das moderne — besonders das
stidtische — Leben bewirkte eine grofe Einténigkeit beim Handeln, der
moderne Mensch wird durch die Ursachen seines Handelns individuell.
Diese Individualitat ist nur im Dialog ausdriickbar. Das spiirten auch Ibsen
und Strindberg, die groSen modernen Menschengestalter und wir sahen, daf
sie ihre Stiicke tatsichlich auf dem Dialog aufbauten, Strindberg noch
konsequenter als Ibsen. Bei Ibsen gibt es aber noch symbolische Leitmotive,
bei Strindberg grofe, ganze Situationen in einem Satz zusammenfassende
Synthesen, wo der Dichter die Menschen und die Situation nicht erschafft,
sondern nur interpretiert.
Der Naturalismus ging hier iiber diesen Standpunkt ganz programmgema&
hinaus, der, wenn er auch viele Schénheiten mit sich brachte, auch viele
Starrheit verursachte und eine villig ununterbrochene — scheinbar ungeglie-
derte und unaufgebaute - Kontinuitat verlangte und anwendete. Das ergab
sich wieder aus der Natur seines Themas - des modernen Menschen -,
dessen Seelenleben, das aus dem Nacheinander von Stimmungen bestand
und dessen Gefiihls- und Gedankenwelt, die aus lauter kleinen Nuancen
zusammengesetzt war, nicht auf andere Weise versinnlicht werden konnte.
Schillers einténig schénes Pathos vermochte fiir den Menschen, der nach den
rationalistischen Prinzipien des 18. Jahrhunderts handelte und immer eine
1x Théatre libre und Freie Biihne 337
die Farben des Gegenstandes, die von rein zufilligen und sich verindernden
atmosphirischen Verhiltnissen abhingig sind, das Ersetzen der starren
RegelmaSigkeit der Komposition durch eine unmittelbare und augenblick-
liche Anordnung; also alles, was die sogenannte impressionistische Malerei
getan hat, ist im wesentlichen dasselbe. Das ist der villige Sieg iiber die
Sprédigkeit des Stoffes, die unbeschriinkte Herrschaft der Seele iiber alles;
die Ausmerzung jeglicher vom Stoff unabhingigen »Schénheit<, denn die
Seele durchdringt und verschénert alles im Werk. In dieser. Kunst kann es
keinen »schénen Ort« geben, hier gibt es jedoch auch keinen toten Ort. Und
wenn wir die Dinge von hier aus betrachten, finden wir es sehr natiirlich, da8
weder die Dichter noch die Maler das schéne Thema gesucht haben: In
diesem neuen Sinn wird alles schén, wenn es richtig gesehen wird; sie suchen
sogar die abstoRenden Themen, um an ihnen zu demonstrieren, daf alles mit
allem ausgedriickt werden kann. »Ich habe nie in meinem Leben etwas
Hifliches gesehen« schrieb einmal Constable, einer der Ahnen der impres-
sionistischen Malerei.*
Auf diese Weise entsteht eine neue Dramatik. Denn ~ ich glaube, jetzt ist
eine ausfiihrliche Erdrterung schon iiberfliissig - einen solchen Dialog
konnte man nicht in den Rahmen eines Dramas einfigen, das auf die alte
Weise geschrieben wurde, er hitte es gesprengt. Alles Konstruierte, alle
gekiinstelt erweckten Spannungen héren also zu existieren auf. Der Mensch
fesselt unser Interesse so ausschlieBlich wie noch nie zuvor im Drama. Dieses
Drama besteht aus dem Nacheinander langsamer seelischer Entwicklungen.
Das Drama hat keine Fabel, keine Verwicklungen, keine grofen, spannen-
den Szenen. Stat dessen gibt es eine vorher nicht existierende breite und tiefe
Zeichnung des Menschen und der sie umgebenden und gestaltenden Verhiilt-
nisse. Das Drama ist - auch diese Entwicklung begann mit Ibsen und
Strindberg - polyphoner denn je. Beim Naturalismus, wo die Hervorbebung
des Hauptmotivs absichtlich weniger stark ist, steigert sich die Begleirung,
die Instrumentierung sogar fast zur gleichen Wichtigkeit wie die Melodie.
Darin liegt wieder eine parallele Entwicklung zu einer anderen, von ihr villig
unabhingigen Kunst, der modernen Musik.
Das Dramatische und das Biihnenmafige scheiden sich — vorlaufig — endgiil-
tig voneinander; nur vorlaufig, denn mit dem Naturalismus ist eine neve
Biithnenmifigkeit im Anzug, an die sich das Publikum blo& gewohnen mu8,
es muf nur lernen, die Dinge von ihrem Gesichtspunkt her zu betrachten,
damit solche Stiicke, deren Biihnenfeindlichkeit nur wenige Jahre vor ihrer
grofen Wirkung von einem jeden als sicher angenommen wurde, stark
1x Théatre libre und Freie Bihne 339
wirken kénnen. Dies hat sich aber nur dann eingestellt - und dieser fast
tragische Gegensatz charakterisiert tief die ganze Lage des modernen Dra-
mas -, als die Literatur bereits im Begriff war, iiber den Naturalismus
hinauszugehen; als schon alle seine Grenzen und seine Ungeeignetheit, die
wahren entscheidenden Ergebnisse zu erreichen, sichtbar geworden sind.
Damals wurde der Naturalismus bithnenmafig und das entstehende neve
Drama ist wieder ohne Biihne geblieben; es stand der gerade herrschenden
Biihne wieder feindlich gegeniiber. (Man kann natiirlich auch diese Biihne
nur mit Einschrinkungen beherrschend nennen, denn an den meisten Orten
blieb neben ihr immer die alte erhalten, sie geriet nur neben ihr ein wenig in
den Hintergrund und verlor nur Vieles von ihrer alten Alleinherrschaft und
mufte sich mit der neuen abfinden.) Zwischen Drama und Biihne erfolgte
dennoch eine Anniherung, als das Drama diesen Weg einschlug; die alte
Bihne hielt sich nur so lange stark, bis das Publikum sich an diese neve
Betrachtungsweise gewéhnt hat; als sich die Wirkung der neuen Bihne
einstellte, war die alte ausschlieflich fiir die Handwerker da. Dieses neue
Drama hatte das Ziel, die Spannung intimer und edler zu erwecken und
nachdem es sich aus lauter feinen, einzeln kaum in Betracht kommenden
Teilen zusammensetzt, erforderte es vom Publikum eine intensivere Auf-
merksamkeit, eine starkere Mitarbeit als das alte Drama. Dies geschah zur
groBen Freude der Feinfiihligen, die die lauten Abschliisse der Akte und ihre
langwierigen und toten Vorbereitungen schon seit langem als langweilig
empfanden; und zum grofen Leide derjenigen, die sich nur amiisieren
wollten und die ganze neue Tendenz natiirlich furchtbar langweilig fanden.
Hier treffen sich iiberraschend wieder die neue Literatur und die neve
Malerei (nur da8 es dort leichter ins Auge sticht, da die Ursache physiolo-
gisch ist): schon die Betrachtung der impressionistischen Bilder erforderte
eine stark produktive Rolle des Betrachters; und ihre unmittelbaren Nach-
folger, die Neoimpressionisten malen geradewegs so, daf sich die Vermi-
schung der Farben und ihre Abstimmung zueinander in den Augen des
Betrachters vollzieht.
3
Arno Holz trat fast unbemerkt mit seiner Entdeckung auf (und mit ihm
zusammen sein Freund, Johannes Schlaf, mit dem zusammen er auf der
Grundlage seiner Theorie Novellen und das erste Drama schrieb). Anfangs
hérte man kaum etwas von ihm, der Lirm der Bleibtreus und Albertis””
iiberténte ihn vollkommen und von seiner wahren Bedeutung hatte keum
340 Der Naturalismus
jemand eine Ahnung. Auch ein so nervés empfindender Asthet wie Her-
mann Bahr erkannte damals noch nicht die Wichtigkeit der Sache, er hielt sie
far einen iibertriebenen Zolaismus, fiir die Ubertreibung des iiberholten
franzésischen Standpunkts - und er gab als erster die Parole aus: »die
Uberwindung des Naturalismus«.* Das war damals die Meinung der mei-
sten Menschen, und abgesehen von Brahm, Schlenther und noch einigen
jungen Kritikern, Dichtern und Schauspielern war der alte Fontane der
einzige, der erkannt hat, da8 hier von etwas villig Neuem die Rede ist; da8
sich hier der neue Weg endgiiltig vom alten scheidet, da8 die neue Dichtung
von hier ausgeht.*! Und einige jungen Menschen, die bisher vollig ziellos,
unbekannt, ihre eigenen Wege nicht kennend umhergingen, wurden auf
einmal starke Dichter und Dramatiker, nachdem sie die Ergebnisse Holz’
kennengelernt hatten. Johannes Schlaf schrieb philologische Aufsatze und er
bereitete sich fiir das Examen vor, als er mit Holz zusammenkam und wurde
nach mehrjahriger Zusammenarbeit, in der, so scheint es, der wertvollere
Teil der Produktion von ihm stammte, einer der besten Poeten der moder-
nen deutschen Literatur. Holz’ und Schlafs Novellen fanden Gerhart Haupt-
mann schwankend zwischen Byroniaden, Jambustragédien und Novellen,
die Zola nachahmten und nach kurzem Ubergang (obwohl auch in seinem
ersten Stiick, in »Vor Sonnenaufgang«, seine Individualitit iiber die vielen
fremden Einfliisse dominiert), im »Friedensfest« fand er villig zu seinem
Selbst. Diejenigen, die ihm nachfolgen, stehen schon unter seiner Wirkung.
Und wihrend diese unaufhaltsam die Fiihrung an sich reifen, verschwinden
die literarischen Helden der 80er Jahre volikommen und werden auf einmal
bedeutungslos. Ein Jahr nach der Griindung der »Freien Biihne«, die von
den Jungen nur Hauptmann, Holz und Schlaf auffiihrte, griinden auch die
anderen eine Biihne. Wahrend aber Brahms Bihne unter dem wilden Jubel
des Publikums und der offiziellen Kritik von Sieg zu Sieg eilt, schlaft ihre
Buhne ein. Die »Freie Bihne« — als stindig spielende Gesellschaft ~ bestand
blo& drei Jahre lang und diese drei Jahre geniigten, der Literatur ein vollig
neues Gesicht zu geben. In Gerhart Hauptmann fand die junge Bewegung
ihren natiirlichen Fihrer, ihren »representative man«. Es tauchen um und
neben ihm neue Talente in schneller Folge auf (Hartleben, Halbe, Hirsch-
feld, Rémer usw.).*? Die deutsche Dramenliteratur, die immer aus Frank-
reich importiert hat, erlebt, da Hauptmanns Dramen in Paris mit groRem
Erfolg aufgefiihrt werden. Auch das Theater verindert sich, es erschienen
auf einmal - aus der Provinz, aus den Operetten- und Possentheater - die
groBen modernen Schauspieler, von denen ein grofer Teil auch heute auf der
1x Théatre libre und Freie Buhne 341
Bithne herrscht und als Brahm 1894 das »Deutsche Theater« tibernimmt,
steht schon eine solche Schauspieler- und Dichtergarde hinter ihm, daf sein
Theater gleich das erste des Landes wird. Zu dieser Zeit wird Berlin
literarisch und kiinstlerisch Hauptstadt des Reiches.
Holz selbst fiel sehr wenig vom Ruhm dieses Sieges zu. Die Bewegung, zu
der er den Anstof gab, ging gleich iiber ihn hinaus. Er war blo8 ein
auferordentliches Formtalent; ein Experimentator. Er suchte die neue Tech-
nik, um seine Romane und Dramen schreiben zu kénnen, aber dazu kam es
nie. Sein eigenartig zusammengesetztes Talent, das ihn dazu gefiihrt hat, im
geeigneten Augenblick mit geeignetem Radikalismus eine neue Idee zu
erfassen, versagte ihm die Fahigkeit zu selbstindigem Schaffen. Er vermoch-
te nur das Problem zu erblicken — gewif vollkommen — und zu Menschen zu
finden, die sein Programm ins Leben riefen.
Und dieses Problem ist — es ist kein Zufall, da8 dies von Holz gesehen wurde
und nicht von einem Poeten — im wesentlichen ein rein technisches Problem,
nicht einmal ein wirklich formales Problem; wenn wir es sogar in all seinen
Konsequenzen zu Ende denken, ist es in vieler Hinsicht negativ und
unfrachtbar. Das Wesen dieser theoretischen naturalistischen Revolution ist
die vollkommene tabula rasa in der Dramenliteratur. Alle Mittel der alten
Literatur von denen wir sogar bei Ibsen noch so viele finden kénnen,
erwiesen sich schon seit langem als vollkommen unbrauchbar, sie miissen
also endgiiltig entfernt werden, damit ein neues Drama entstehen kann, oder
damit man wenigstens zu sehen vermag, ob ein neues Drama entstehen kann
oder nicht. Holz glaubte, daf in seinem Naturalismus die neue Form schon
enthalten sei. Sie war aber nicht enthalten, es war sogar eigentlich die
Leugnung jeglicher wahren Form. Denn seine Stilisierung entwickelte im
Drama einige technische Méglichkeiten einseitig und gab ihnen grofe, neue
Werte und Feinheiten. Uber das Drama, iiber die dramatische Form fiel in
den siegreichen Tagen der naturalistischen Bewegung kein Wort. Der Dialog
fibrte den Naturalismus zum Drama, aber als Dialog, der die Seele der
Menschen aufdeckt, als Ausdrucksmittel der Dichtung, das der Wirklichkeit
~ in seinem Stoff — am nichsten steht, wo sie also am wenigsten irgendein
stilisierendes Hilfsmittel gebraucht, um lebendige Menschen vor uns zu
stellen und komplizierte seelische Geschehen vor uns aufzudecken. Uber
den Dialog als Stil, als Ausdrucksmittel und Symbol der Dialektik fiel kein
Wort. Nachdem der Naturalismus den Dialog ganz durchsichtig gestaltete,
verwischte er sogar noch seine scharfen Konturen, die, wenn sie auch nicht
alltaglich, so doch vorstellbar sind und somit — obwohl sie in ihrer Form
342 Der Naturalismus
Das naturalistische Drama ist, wie wir sahen, vollkommen auf dem Dialog
aufgebaut und infolge der Natur dieses Dialogs ist sein ganzer Aufbau
antiarchitektonisch. Nur die mit breiter Detailliertheit gezeichneten Men-
schen und das Milieu sind von Interesse. Wie sehr man sich auch der
Polyphonie und der Ungegliedertheit des realen Lebens nahern will, irgend-
eine Gegliedertheit ist dennoch unentbehrlich. Der grofe Irrtum der Theorie
des Naturalismus besteht darin, daf sie die Gliederung und die Auslassun-
gen, die die extensiv hinter dem Leben zuriickbleibende Kunst mit dem
Leben intensiv gleichsetzt auch in die Kategorie des stindig zu vermindern-
den »x« einreiht. Wie wenig man auch aus dem Leben wegnehmen wollte,
mufte man doch etwas wegnehmen; irgendwo mufte man das Bild abgren-
zen und gewisse Dinge muften betont werden. Eigentlich widersprechen
alle Hervorhebungen der vollkommen konsequenten naturalistischen
Theorie.
Wenn es aber vorstellbar ware, da8 der Dichter nichts Subjektives ausdriik-
ken will (d. h. die Wahl des Themas ist vollkommen zufillig, was sich nie so
verhiilt), damit sich die Dinge in ihrem natiirlichen Ablauf vor uns abspielen
und nur die tatsiichliche Bedeutung einer Sache Gewicht verleiht, dann
wiirde aus dem Drama ein ebensolches Monstrum werden, wie es der
konsequent naturalistische Roman gewesen wire, dessen Plan Holz und
Schlaf, nachdem sie das einsahen, auch verworfen haben. Es muf also etwas
hervorgehoben werden, man muf aber die Illusion erwecken, als ob es keine
Hervorhebungen gibe. Der Naturalismus mufte also bei dem ersten gréfe-
ren praktischen Schritt mit seinen Prinzipien einen Kompromif schlieSen.
Das selbst hitte noch nichts ausgemacht, aber diese verschleierte Hervorhe-
bung stellte den Naturalismus vor eine schwere Aufgabe. Im Naturalismus
selbst war nimlich keinerlei natiirliches Prinzip der Hervorhebung vorhan-
den, die Betrachtungsweise, aus der er zustande kam, war die, daf im Leben
Millionen kleine Dinge herrschen. Dies vermag das Leben betreffend gerecht
sein, dort kann man tatsichlich den Zusammenhang so sehen; in der Epik,
wo eine grofe Extensitat dieser kleinen Dinge darstellbar ist, kann eine aus
dem Leben stammende Technik geeignet und anwendbar sein; im Drama
aber nie. Denn man kann ihnen keine Extensitat geben, und daf dies durch
die Intensitat ersetzt wird und ein kleines Ding zum Symbol vieler Dinge
wird, erlaubt teils der Inhalt des Dinges selbst, teils die Darstellungsweise
des Naturalismus nicht. Hier verfalscht also die dramatische Perspektive die
344 Der Naturalismus
des Dramas lést sich also auf, es wird linger, ermiidender, es gibt darin lauter
tiberfliissige Dinge. Sie wurden von den Anhingern der alten Richtungen
stets beschuldigt, undramatisch zu sein. In vielem hatten sie recht, mit ihrer
Begriindung aber nicht. Die guten naturalistischen Stiicke sind in ihrer
Konzeption, in ihrem Gang dramatisch; nur ihr Auseinanderfallen, ihre
Schwerfalligkeit und Langwierigkeit erweckt den Schein des Undramati-
schen.
Das wirkt aber auf den hauptsachlichsten und gréBten Wert des Naturalis-
mus, auf den Dialog zuriick: seine grofe Feinheit und Verklartkeit macht
ihn leer. Nicht im alltaglichen Sinn, wie es sowohl damals als auch jetzt
manche sagen, die noch immer die geistreichen Bemerkungen der franzési-
schen Causeure in allen Dramen, in welchem Milieu sie sich auch abspielen,
fiir notwendig halten; sondern in dem Sinne, da im Drama - im Vergleich
zu seinem Umfang ~ nicht genug Innerliches geschieht. In allen Szenen
geschieht etwas, aber eine solche, aus lauter Nuancen bestehende Reihe kann
trotzdem tot sein, wenn sie als Ganzes das Drama nicht weiterfiihrt. Aus
allen naturalistischen Dramen kénnte man grofe Stiicke herausnehmen,
ohne daf es jemand, der das Stiick nicht gut kennt, tiberhaupt bemerken
wiirde. Man kénnte erst nach einer sehr griindlichen Vertiefung in das Stiick
sehen, da eine solche tiberfliissig erscheinende Szene irgendeinen Zusam-
menhang und Zustand der Gestalt besser beleuchtete oder eine Situation von
einer neuen Seite her zeigte.
Fraglich ist es aber, inwieweit das ~ dramatisch - wichtig ist. Fraglich ist,
inwieweit diese Abgerundetheit der Menschenzeichnung, diese Sichtbarkeit
und Umgehbarkeit der dramatischen Menschen von allen Seiten her von
Wert fiir das Drama ist. Ob man dafiir Opfer bringen darf, ob es tiberhaupt
von Wert ist, wenn sie vorhanden ist. Mit einem Wort, ob die dramatische
Komposition eine Statuengruppe oder ein Relief aus dem Gesichtspunkt der
Modellierung der Gestalten ist. Das Paradoxon der dramatischen Form ist,
wie wir wissen, eine méglichst starke Illusion der Méglichkeit der Umgeh-
barkeit beim méglichst strengen Verbleiben in einer Ebene. Und dieses
Verbleiben in einer Ebene ist - um nicht lange in Vergleichen zu sprechen
~ das Schicksalsverhaltnis. Der dramatische Mensch lebt immer nur im
Verhiltnis zu irgendeinem Schicksal und auch seine Beziehungen zu den
anderen wird vom gleichen Schicksalsverhiltnis bestimmt. So kommt bei
allen Menschen dramatisch nur das in Betracht, was mit dem Schicksal in
Berithrung kommt, alles andere wire iberfliissig; alle Reichtiimer ihres
Lebens und ihrer Lebensoffenbarungen sind nur dann wirkliches Leben,
x Méglichkeiten und Grenzen des Naturalismus 347
wenn auch das Schicksal, das sie beriihrt, so vielfaltig gesehen ist, daf sie
seine ganze Flache beriihren kénnen. Gewif strebte der Naturalismus nach
etwas Ahnlichem; vielleicht abstrahierte er das Schicksal nicht allein deshalb
nicht, um nicht auch die Menschen, die mit ihm in Beriihrung gekommen
sind, abstrahieren zu miissen, sondern auch, damit das Schicksal selbst mit
¢iner in der Analyse nicht zerlegten, in Worte nicht faSbaren Vielseitigkeit
und mit einem Reichtum vorhanden sein kénne. Das konnte aber nur in
einem sehr geringen Mafe erreicht werden. Teils deshalb, weil die Natur
der Schicksalsbetrachtung der Naturalisten nicht so beschaffen war, daf alles
Abstrakte aus ihr hatte ausgemerzt werden konnen; deshalb erforderte sie
auch eine ihr gemife Anwendung der Menschenzeichnung; teils auch, weil
ihre Natur so beschaffen war, daf die Menschen kaum mit wirklich dramati-
schen Banden verkniipft werden konnten. Das Schicksal in den naturalisti-
schen Dramen war nimlich in erster Linie das Milieu; die Wirkung des
Milieus auf den Menschen kann nur ein langsames Aufsaugen, in sich
Verschmelzen und das Erlahmen seiner Widerstandskraft sein. Hier gab es
also nur zwei Wege: entweder die Ubersetzung der Milieu-Wirkungen in ein
abstraktes Symbol, der Weg Ibsens, von dessen Wirkungen schon die Rede
war, oder der Mensch und sein Schicksal muften undramatisch, in einer
Handlung, die aus vielen langsamen Stimmungsatomen besteht, in ein
Verhiltnis zueinander gebracht werden. Das Schicksal ist dann nur Hinter-
grund des Menschen, nur Atmosphire, die ihn umgibt und der Mensch steht
in einer volligen Abgerundetheit vor uns, aber alle Menschen stehen eigent-
lich vereinzelt da, nur die Atmosphire ist allen gemeinsam. Die ersten
groBen Naturalisten sahen die Dinge ebenfalls so. Der junge Hauptmann
zeigte cinmal eine der Statuen seinem Meister Adalbert von Hanstein; dem
gefiel sie sehr, er fragte ihn jedoch: »Aber was thut dieser Mensch?«
Hauptmann antwortete: »Nichts, er ist ein Mensch.«™ Diese Betrachtungs-
weise konnte nur durch Kompromisse ins Drama gelangen (denn dramatisch
wird der Mensch nur dadurch, was er tut), obwohl ihr wirklicher Wert nur
in ihrer vollen Konsequenz, in ihrer Stilreinheit gelegen hatte. Der Naturalis-
mus mu&te Kompromisse schlieSen, um sich tiberhaupt bewegen zu kénnen,
er mu&te Kompromisse schlieSen, durch die die Reinheit seiner tiefsten
Absichten gestért wurde, ohne dafiir etwas zu erhalten. Denn was seine am
primitivsten denkenden Feinde iiber ihn sagten — da seine Menschen sich
nicht entwickeln wiirden, da& das Drama sich nicht fortbewege, — ist wie die
meisten gegen ihn vorgebrachten Argumente nur in der Begriindung falsch;
als Beobachtung, also als Einwand sind sie richtig und zutreffend. Gewif
348 Der Naturalismus
Dramas ist auch hier negativ, es verwarf zwar die alten gekiinstelten Zusam-
menhange, neve konnte er jedoch hier auch nicht schaffen.
Dazu kommt noch, daf der Naturalismus die strenge Struktur des Dramas
auflockert. Seine ganz konsequente Durchfiihrung mufte in Richtung von
einzelnen, miteinander locker zusammenhingenden Bilderreihen fiihren,
was Goncourt voraussah und was sich spiter, zumindest teilweise, auch
einstelite. Denn die Zusammendrangung in einige Akte erforderte innerhalb
der Akte notwendigerweise eine Komponiertheit, die den Hauptprinzipien
widersprach. Und die Verminderung der Zahl der Dramenfiguren, die damit
verbunden ist, mute auch zum gleichen Dilemma fiihren. Augerdem war
die einzige dramatische Méglichkeit der naturalistischen Technik doch nur
die analytische, die Katastrophentechnik. Denn eine Entwicklung, die mit
der groBen Detailliertheit und den kleinen Verschiebungen des Naturalismus
dargestellt ist, schlieRt Wirkungen aus, die den dramatischen Wirkungen
auch nur dhnlich sind, die jedoch in eine Katastrophe gepre&t trotzdem
médglich sind. Uberdies erlaubt die Katastrophe auch noch, die Zahl der
Personen, die ohnehin immer zu grof ist, stark vermindern zu kénnen.
In ihren analytischen Stiicken gehen jedoch die Naturalisten mit dem Zufall
auf souverine Weise um und erlauben sich in der Vorgeschichte die groften
Unwahrscheinlichkeiten, um die Konstruiertheit bzw. die iibertriebene Ib-
sensche Verflechtung in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu vermei-
den. (Wie in »Das Friedensfest« der Vater und der Sohn — die im Familien-
drama nétig sind — ganz zufallig am selben Tag zu Hause ankommen,
nachdem sie einander und ihr Zuhause beide jahrelang mieden. Ahnlich ist
auch die Technik des Zusammenkommens von Loth, Hofmann und Schim-
melpfennig in »Vor Sonnenaufgang«.)
Dieser somit notwendig groSe Apparat beeinflu&t unwillkiirlich und unbe-
absichtigt auch die Wirkung der Menschenzeichnung. Diese allzu detaillierte
Menschenzeichnung kann nicht mit den besonderen Perspektiven rechnen,
die sich aus der Form des Dramas ergeben. Dinge, deren Bedeutung klein
sein sollte, steben an Stellen, an denen man mit Recht eine Sache von
gréRerer Bedeutung erwarten wiirde und die Person des Dramas scheint
kleiner zu sein, als sein Dichter sie plante und bestimmte, weil sie sich in
wichtigen Situationen unbedeutend verhilt. Im Drama muf alles symbolisch
genommen werden und deshalb schlie&t man ganz unwillkiirlich aus dem
rein augenblicklichen Benehmen eines Menschen immer auf seinen ganzen
Charakter. Im Drama gibt es keinen Raum und keine Zeit, um die Stim-
mungsepisode auf ihren Wert reduzieren zu kénnen. Das Drama kann seine
350 Der Naturalismus
den Menschen umgeben und der Verhiltnisse. Das Gefiihl, das den Natura-
lismus zustande brachte, das bei seinen echten Poeten mit gréfter Kraft zu
Wort kommt, war das Gefiihl eines unertriglichen Druckes und die Sehn-
sucht, diesem Druck zu entgehen; es war die Sehnsucht nach einer Befreiung
und das Einsehen und resignierte Empfinden der Unfruchtbarkeit dieser
Sehnsucht.
Die Dramen des deutschen Naturalismus sind Dramen der Ziellosigkeit der
biirgerlichen Ideale. Wir verfolgten durch ein Jahrhundert hindurch die
Kritik dieser Ideale in Form der Verianderung der sie propagierenden
Heldentypen. Wir sahen, wie sie immer starker und starker dadurch tragisch
werden, da& das, was ihnen einst eine Berechtigung gab, auf der Welt
ausstirbt und die: verbliebene Gefiihlsform sich immer heftiger an der ihr
stets fremden Aufenwelt stoSen mu&. Das Wesen der Entwicklung ist das
immer klarere Erkennen der Macht der AuSenwelt; das stindige Schwach-
werden der an sie gestellten aprioristischen Forderungen und Gefiihle; oder
ihre véllige Verinnerlichung, oder ihre Verwandlung von der verkrampften
Ratlosigkeit der Zielsuche zu einem ganz blinden, beschrinkten und sich an
kleine Ziele klammernden doktrinaren Fanatismus. Das stirkste Gefihl war
das der Ratlosigkeit; das, da& etwas geschehen miifte, daf alles Bestehende
. schlecht sei aber da es doch starker sei als alles, da alle Kimpfe dagegen
vergeblich seien. Johannes Schlaf verlieh diesen Gefiihlen den starksten
Ausdruck. Seine zwei Dramen (»Familie Selicke«, das er zwar mit Holz
zusammen herausgab, aber hauptsichlich von ihm geschrieben wurde und
»Meister Olze«), sind die Dramen dieses Gefiihls. In ihrem Wesen sind sie
ganz lyrisch; ihre Menschen leiden nur, sie winden sich unter einem schwe-
ren Druck und ihr Heroismus zeigt sich nicht in Kampfen und Taten,
sondern im Erdulden von Schmerzen und Schicksalspriifungen. Das ist die
erste und allein wirklich konsequente dramatische Durchfithrung der neuen
Lebensbetrachtung; alle anderen driicken auch blof& dies aus, sie verfalschen
aber ihre Reinheit - wenn auch unabsichtlich — mit Steigerungen. Dieses
Experiment mufte stattfinden, schon allein, um das tief Undramatische
dieser Lebensbetrachtung in ihrer konsequenten Durchfiihrung zu bewei-
sen. Diese Dramen stellen keine Kampfe dar, sondern nur lyrische Reflexe
der Leiden und die Leiden erhéhen die Menschen nicht, sie vernichten sie
zwar, aber sie heben sie nicht auf die Stufe ihrer héchsten Méglichkeiten.
Oder zumindest sind die Worte, die diese Leiden wiedergeben, nicht dafiir
geeignet. Der Naturalismus hat kein Pathos. Nicht nur deshalb, weil er
Beobachtungen in den Vordergrund setzt, immer die Illusion einer gewShn-
352 Der Naturalismus
Schatten der inneren Gréfe und des Reichtums seines Helden anzudeuten.**
Nicht nur Ernst erging es so, sondern allen, die ahnliche Ziele mit den
Mitteln des Naturalismus anstrebten. Schlaf ist deshalb der reinste Kiinstler
dieser Richtung, weil sein inneres Seelenleben villig mit ihren Ausdrucks-
mitteln zusammenfillt. Schon bei Gerhart Hauptmann sind die Dissonanzen
scharf. Unter den Menschen des ersten Dramas ist Alfred Loth, der Doktri-
nar, der Trager der Ideen, am wenigsten lebendig und sein Schicksal wirkt
auch am kraftlosesten und am wenigsten iiberzeugend. Unter den Figuren in
»Einsame Menschen« gehért die grofte Intensitat des Lebens Kathchen, die
sich zwischen unerfiillbaren Wiinschen verzehrt und neben ihr erscheinen
die »Intellektuellen«, Johannes und Anna Mahr schwach und farblos. Aber
auch ihr Leben wird plétzlich stark und tief intensiv, sobald auch sie ziellos
sehnen und all ihre Lebenskraft sich im Feuer vergeblicher Leiden verzehrt.
Alle Helden Hauptmanns, Crampton, Kramer, Florian Geyer usw., sind in
einer ahnlichen Lage. Die technischen Griinde sind leicht einzusehen. Je
starker und bedeutender jemand ist, desto weniger wirken kleine Umstinde
auf ihn. Zu seiner Darstellung sind also sehr viele Mittel des Naturalismus
berflissig und soweit sie verwendet worden sind, sind sie geradezu stérend.
Aber ebensowenig sind sie zum Ausdruck wirklich grofer Schicksale, der
gro8en, weltbewegenden Zusammenhinge geeignet. Der Naturalismus ist
die Technik der unmittelbar wirkenden Ursachen und seine Perspektiven
ffnen sich héchstens in Richtung der Tiefen der Seele, nicht in die der
groBen Entfernungen. Was an anderer Stelle sein grdfter Wert ist und seine
Kraft ausmacht, da& er nimlich die innere Gréfe und Bedeutung kleiner
Dinge zu erblicken und auszudriicken imstande ist, steht ihm im Weg,
sobald die Dinge auch schon an sich genommen bedeutend sind. Die
steigernde, stilisierende Kraft des Naturalismus ist nur intensiv: sie macht
seine Worte durchsichtig, sie la&t diejenigen seelischen Werte, die keine
Worte finden kénnten, durch sie hindurchschimmern. Deshalb ist er nicht
imstande, die Werte zu steigern, die gerade die Macht der Worte bendtigen,
um sich zu offenbaren. Der Naturalismus konzentriert nicht, faft nie etwas
in der Synthese weitleuchtender Bilder zusammen; der Naturalismus hat
kein Pathos. Und sein Dialog ist - wir sagten es schon — nicht dialektisch,
seine konsequente Durchfiihrung wiirde sogar gerade zur Auflésung jegli-
cher Dialektik fithren. (Es ist natiirlich eine andere Frage, ob daraus nicht
vieles fiir die Sprache eines pathetischen und dialektischen Dramas verwend-
bar ist.). Die Dialektik und das Pathos sind die einzigen Méglichkeiten, den
dramatischen Menschen hervorzuheben und zur Bedeutung zu stilisieren.
354 Der Naturalismus
Wovon schon die Rede war und noch ist, nimlich, da& starke Taten
naturalistisch nicht ausdriickbar sind, ist nur der andersartige Ausdruck
desselben Sachverhaltes. Im Drama gibt es nur insofern tatsichlich Taten als
sie der Dialog widerspiegeln kann. Denn daf der Naturalismus in anderer
Hinsicht, z. B. zur Hervorhebung mit der Kraft der Intellektualitit, eben-
falls ungeeignet ist, ist weniger wichtig, weil die Intellektwalitat selbst
ohnehin nicht zu den Eigenschaften des Menschen gehért, die ihn drama-
tisch wirkungsvoll fiir das Drama geeignet machen.
Der Naturalismus wurde also problematisch, sobald seine Dichter die
kleinen Schicksale ihrer kleinbiirgerlichen Leiden verlieSen und diese Ent-
wicklung stellte sich sehr bald ein. Die den Naturalismus hervorbringende
Dichtergeneration schwankte immer zwischen Sozialismus und einem
krankhaft iibersteigerten Individualismus. Ihr Sozialismus entstand aber eher
durch das Mitleid mit dem furchtbaren Elend der GroSstadt, durch den Ha8
auf die der Kultur gegeniiber gleichgiiltigen Spie&biirger und durch eine
verworrene, ungewisse Sehnsucht nach einer Revolution, als durch dessen
wirkliches Begreifen. Sie waren echte biirgerliche Ideologen, die vom Sozia-
lismus enttauscht werden muSten, sobald sie darin lebten und seine wahre
Beschaffenheit kennenlernten. Entweder dienten sie schon innerhalb der
Partei individualistisch-anarchistischen Prinzipien, die sie friiher oder spater
von ihr trennten (Wille, Bélsche usw.) oder sie wurden einfach vom Sozialis-
mus enttiuscht und nahmen spiter einen geradezu feindlichen Standpunkt
ihm gegeniiber ein (Ernst, Bahr). Hartleben zeichnet in seinem Lustspiel,
»Hanna Jagert«, interessant die ahnliche Entwicklung eines armen Mid-
chens. Nietzsche, Stirner und die anderen groSen Philosophen des Indivi-
dualismus wirkten ohnedies gleichzeitig und parallel zu Marx (es ist charak-
teristisch, daf unter den ersten Auffiihrungen der »Freien Volksbithne« auch
Ibsens »Ein Volksfeind« zu finden ist). Und sobald es ihnen klar wurde, da8
hier gewihlt werden mu, war es keine Minute fraglich, was sie wihlen
sollten. Nach getroffener Wahl wurde aber der »Held« im Drama wieder
aktuell und der Wert des Naturalismus als Ausdrucksmittel problematisch.
Aber auch kiinstlerisch brachte ihnen der Sozialismus eine Entrauschung;
er
mufte sie enttiuschen. Das literarische Hauptziel der naturalistischen Bewe-
gung war die Erschaffung des sozialen Dramas, und es mufte sich sehr
schnell herausstellen, wie unfruchtbar Thema und Stoff fiir das Drama
waren. Das war der letzte Versuch der aus dem biirgerlichen Individualismus
stammenden Literatur, ihre Asthetenhaftigkeit, ihr Atelierkunst-Dasein zu
verlassen und irgendwo Wurzeln zu schlagen. Der Held im ersten Drama
x Méglichkeiten und Grenzen des Naturalismus 355
Hauptmanns, der Agitator Alfred Loth (und in gewisser Hinsicht sogar auch
Florian Geyer), ist der letzte in Taten lebende Enkel des Posa-Typs. Und
neben Loth stehen schon auf der einen Seite Strindbergs Dr. Berg und der
Rittmeister, bei denen sich der Gegensatz zwischen Intellekt und Intuition,
zwischen Doktrin und Leben, nur noch in erotischen Kimpfen offenbart,
und auf der anderen Seite steht Hoffmannsthals miider, resignierter und alles
Lebendige mit hochmiitigem Schmerz verachtender Claudio. Loth selbst
steht schon dem Tragikomischen sehr nahe; in seinen grofen Prinzipien, die
ihm den Blick auf das wirkliche Leben verstellen und ihn durch Gliick und
Leben anderer riicksichtslos hindurchgehen lassen. Dadurch, da8 diese
Prinzipien sich dem Sozialismus annihern, werden sie immer praktischer, sie
enthalten immer mehr (aus der Perspektive des Dramas gesehen) Kleinliches,
Launenhaftes; in ihrer wissenschaftlichen Fundiertheit gibt es viel Willkiirli-
ches; in seinem Pathos — ebenfalls infolge der Wissenschaftlichkeit und der
Praxis — viel Kleinliches und allzu Erdgebundenes. Und was seine Wirkung
am meisten erschwert und zugleich verhindert konstant fruchtbar fiir das
Drama zu sein, ist dies: In diesem Typus gibt es schon eine geradezu aus der
Schwiiche stammende Hartnickigkeit, einen Konflikt ausschlieRenden Fana-
tismus; der Fanatismus eines Menschen, dessen Uberzeugung im grofen
Kampf weniger eine Waffe, als vielmehr die Flucht eines Schiffbriichigen ist.
Seine Prinzipien bewacht er wie einen Fetisch und er hilt sie fiir heilig, nicht
wegen der Gréfe des Prinzips, sondern zitternd vor seinem eigenen Zusam-
menbruch, falls es ins Wanken geraten wiirde. Das hat iibrigens auch
Hauptmann selbst ganz klar gesehen und auch ausgedriickt wenn Anna
Mahr (»Einsame Menschen«) iiber den Sozialisten und Maler Braun sagt:
»Er hat etwas imputiert erhalten:.gewisse sozialethische Ideen, oder wie man
sie sonst nennen will; und daran haftet er nun, daran klammert er sich, weil
er nicht allein gehen kann. Er ist keine starke Individualitit als Mensch, wie
sehr viele Kiinstler. Er getraut sich nicht allein zu stehen. Er mu Massen
hinter sich fithlen.«** Dieser Menschenschlag hat schon kein Drama mehr.
»Vor Sonnenaufgangs« stellt auch nur noch die Tragédie des Madchens dar,
des ungliicklichen Midchens, das durch sein Ungliick mit diesem Menschen
zusammengefiihrt wurde, dessen einzige Lebensméglichkeit er gewesen
wire, der es aber sofort verlaft, als er erfahrt, da8 ihre Heirat seine
Prinzipien bedrohen wiirde. In Loth spielt sich kein Konflikt ab, die
Uberzeugungen beherrschen ihn ganz mechanisch, mit einer unbedingten,
keinen Widerspruch duldenden Kraft, und die Rolle der Wirklichkeit, des
Lebens besteht nur darin, da& es Gelegenheiten fir ihre Tatigkeit bietet.
356 Der Naturalismus
nicht eine durch die heutige Zeit entstandene, nur das Individuelle, die
Individualitét bis zu auSersten Nuancen fihrende Kunst. Aber damit aus
einem Gefiihl Form wird, muf es lange in den Menschen leben; wie lange
hat es gedauert — ich kann hier nur einfache Beispiele nennen — bis das bereits
bei Sterne und Diderot vorhandene sentimentale Gefiihl und die impressio-
nistische Betrachtung einen echten Ausdruck fanden. Heute sind auch die
meisten wirklichen Sozialisten blo& in ihrem Denken, our in ihrer politi-
schen und gesellschaftlichen Uberzeugung usw. Sozialisten; ihre Lebensfor-
men, die damit nicht unmittelbar zusammenhingen, konnte ihre Weltan-
schauung, noch iiberhaupt nicht durchdringen. Die wenigsten unter ihnen
empfinden z. B. beute, daf ihre Kunstauffassung nur dogmatisch sein darf,
daf sie nur die sprode Ausmerzung aller »Geschmacksachen« aus der Kunst
darstellen darf; wenn auch diese Dogmatik heute noch nicht geschrieben ist,
wenn sie auch vielleicht - die Stoffmafigkeiten ausgenommen — nichts mit
der alten Dogmatik zu tun hat. Sie spiiren noch nicht, daf ihre Kunst nichts
anderes sein darf als die Kunst der groSen Ordnung, der Monumentalitit.
Diese Monumentalitat sucht Gorkis Roman; er entfernt alle »interessanten<«
Menschen, alle »psychologischen« Nuancen, feinen Uberginge, interessan-
ten Situationen, damit es in seinem Roman nichts anderes gibt als »die«
Arbeiterbewegung und deren Ausweitung in langsamen Wellen, ihre unauf-
haltbare Energie. Er sucht die Schicksale solcher Menschen, die wie sie dort
beschaffen sind, iiberall die gleichen waren, er la8t bei den Umstinden alles
beiseite, was die sich im Prinzip bis zur Monumentalitat erhebende, in
seinem Roman jedoch bis zur Trockenheit gehende Typik stéren kénnte.
Denn heute noch ist diese Monumentalitit nicht reich und als Ergebnis ist
Gorkis Experiment nur mittelmaSig gelungen. Es ist an vielen Stellen
trocken, arm und leer, und dennoch ist es die einzige heutige Schrift, in der
die Bewegung als Bewegung und das, was an ihr wesentlich ist und so wie es
in die Kunst transponierbar ist, sich eine Form sucht. Und das formale
Wesen von Shaws Biihnenstiicken erhellt die Lacherlichkeit aller heutigen
Gefiihlsanarchien oder aller falschen - weil nur auf individuellen Neigungen
und Interessen basierenden —Synthesen, indem es die vorgestellte, im Gefiihl
Shaws existierende neue Ordnung versinnlicht. Gorki konnte nur die harte
Gerechtigkeit und kinstlerische Diszipliniertheit der Betrachtung vom Na-
turalismus verwenden, Shaw auch die Betrachtung aus der Nahe als Quelle
des Komischen. Die Technik dieses Komischen ist die unerwartete, iiber-
gangslose Verinderung der Perspektiven; den Naturalismus bendtigt er, um
das, was er im nichsten Augenblick nur noch im Licht der unermeBlichen
360 Der Naturalismus
sind diese Konflikte nicht fir ewig giiltig, sind nicht metaphysisch notwen-
dig, sie sind nicht tragisch. Und ihre eigenen — fir biirgerliche Gefiihle
— tragischen Schicksale sind wegen des Gefiihls derselben Vorliufigkeit
ebenfalls nicht tragisch. Ebenso wie kein biirgerliches tragisches Schicksal
vor der Franzésischen Revolution wirklich tragisch wurde, bevor nicht die
Lage der biirgerlichen Klasse von innen her dialektisch geworden war. Der
Agitator in Gorkis Roman ist ein epischer Held, obwohl er zu frih kam,
obwohl er vernichtet wird, weil er die Gefiihle in der Ferne kommender
Menschen heute spiirt und ihre Wahrheiten und Gemeinplatze propagiert.
Sein Schicksal ist dennoch nicht tragisch empfunden, aber alle Helden vor
der Zeit der biirgerlichen Dramen sind tragisch empfunden.
Das Tragische ist relativ, denn sein Wesen ist das Gefiihl, das ein Geschehen
begleitet, es ist das Gefiihl, das dem Geschehen eine symbolische Beleuch-
tung, eine Bedeutung verleiht, die iiber sein Geschehen-Sein hinausgeht. An
sich genommen ist natirlich nichts tragisch und auch nicht das Gegenteil
davon; tragisch ist, da8 der Untergang von jemandem notwendig ist, und
dieser notwendige Untergang ist das Symbol seines ganzen Lebens, des
ganzen Lebens. Ohne dies gibt es - das kann man nicht oft genug betonen
= keine tragischen Gefishle. Der traurige Fall, den die Umgangssprache
tragisch zu nennen pflegte, kann sowohl tragisch als auch komisch sein; er
kann trivial gleichgiiltig und grofe und reine Freuden erweckend sein, usw.
‘Wenn jemandem z. B. ein Ziegelstein auf den Kopf fallt und er stirbt, ist es
nur dann tragisch, wenn ich das Gefiihl habe: das ist das Leben; ohne dieses
Gefuhl ist es unangenehm oder traurig, ist eventuell nur ein komischer
Zufall. Und nachdem die Stoffe der Tragidie zwischenmenschliche Gesche-
hen sind, bestimmt das Wie der Betrachtungsweise der zwischenmenschli-
chen Beziehungen und Zusammenhinge, ob ein »tragischer« Fall im ge-
wohnlichen Sinne des Wortes wirklich tragisch sein kann. Hier liegen die
Wurzeln dafiir, da& das Tragische von den gesellschaftlichen Verhilmissen
determiniert wird, nicht in der Themenwahl, nicht in der Sicht und Zeich-
nung der Gestalt, sondern darin, wie gewisse gesellschaftliche Verhiiltnisse,
die ihnen entsprechenden praktischen Erkenntnisse, das Lebensgefiihl und
die aus ihnen gewachsene Weltauffassung dem Dichter erlauben, das ganze
Leben zu sehen; wie sie ihn es zu sehen zwingen; darin, welche Formen
dieser Anschauung als adiquate Ausdrucksmittel entsprechen. Deshalb sind
die »tragischen« Helden in Gorkis Roman nicht tragisch, ihren »Untergang«
umgibt sogar eine tief beruhigende, rein epische Stimmung. Wir spiiren, da
dieser Untergang nicht ihr wahres Leben ist, er ist nur eine Episode darin;
362 Der Naturalismus
scher Unterschied — denn alles, was hier etwas Neues in das Thema bringen
kénnte, wiirde seine problematische Dramatik zerstéren. Denn ein Drama
kann hier nur zustande kommen, wenn das ganze Bild nichts anderes
beinhaltet als die ohnmichtige Sehnsucht und den Kampf des ohnmichtigen
Elends gegen die Unterdriickung. Die Trivialitat, die Sentimentalitit bedro-
hen dieses Thema ohnehin und alle anderen Versuche bedrohen seine
Dramatik von einer anderen Seite her, ausgenommen den Versuch, wenn das
bodenlose Elend das Symbol des ganzen Dramas ist. Wenn namlich die
Bewegung ein Ziel erhilt, wird das Ziel Gegenstand von Diskussionen und
wir stehen wieder vor allen Ausdrucksgrenzen des Naturalismus. Nachdem
diese Dichter selbst kein bestimmtes Ziel vor sich sahen, wird das hier noch
dadurch gesteigert, da die Ziellosigkeit nicht zur Form werden kann wie im
vorherigen Fall, sondern eine Ungeléstheit mit ins Drama hineinnimmt.
Wenn sie der Bewegung einen Fiihrer geben, steht wieder das Helden-Pro-
blem als Stilfrage vor uns, die noch durch die notwendige Tragikomik eines
fihrenden Helden, der die ziellose Aktion fihrt, erschwert wird. Dazu
kommt noch, daf, wenn der Fihrer und die Masse dasselbe wollen, das
Elend der Masse nur als Hintergrund wirkt und aus dem Drama der Kampf
des Ideologen wird, der gegen die Gesellschaftsordnung kampft (ungefahr
im Stile des jungen Schillers). Wenn es aber einen Konflikt zwischen dem
Fihrer und den Gefiihrten gibt, mu& das. Drama zum Brand-Stockmann-
Schema gelangen. In beiden Fallen ist es dann sehr weit vom eigentlichen
Ziel entfernt. Das Thema kann aber auch kein individueller Fall sein, wie das
Elend eines armen Menschen oder einer Familie, das in das allgemeine Elend
als dessen Symbol hineingestellt ist. Das Thema kann hauptsichlich infolge
der Ursachen, die wir bei der Analyse von »Maria Magdalena« auffiihrten,
nicht so beschaffen sein, denn im Leben eines Menschen, dessen ganzes
Wesen von seiner sozialen Lage erfiillt wird — in unserem Fall von seinem
Elend -, gibt es keine einzige Tat, die breit und umfassend genug ware, um
ein ganzes Drama auszufiillen. (Es ist leicht einzusehen, daf in dem abstrak-
ten Drama-Schema, von dem wir jetzt sprechen, nichts anderes in Betracht
kommen kann; alles andere wiirde das Drama rettungslos in die Genreartig-
keit absinken lassen.) Und hier sind dann nur Klage und Revolte méglich,
und die Klage und die Revolte eines solchen Menschen reicht héchstens far
eine Szene. Ein solches Drama beginnt also notwendigerweise in jeder Szene
von neuem, es besteht aus lauter Episoden, die nur durch ganz duferliche
Bande zusammengehalten werden.
Die Episodenhaftigkeit ist die Gefahr aller sozialen Dramen, deren dramati-
x Méglichkeiten und Grenzen des Naturalismus 365
scher Inhalt von der Tragik einer Klasse erschépft wird (sogar bei »Maria
Magdalena« verhilt es sich so). Es ist fiir Gerhart Hauptmanns stilistische
Genialitat ein Beweis, da& er diesen Mangel des Stoffes erblickte und sein
soziales Drama »Die Weber« auf diesen Mangel aufgebaut hat. Denn das
gemeinsame Gesetz aller Kompositionen ist Folgendes: wo der Stoff einen
unausmerzbaren Fehler oder Mangel aufweist, hat die Lésung keine andere
Méglichkeit als ihn in die Komposition, in das Schema mit hineinzunehmen:
ihm eine Form zu geben. Um ein ganz einfaches Beispiel zu nennen: das
Geheimnis der Lésung bei allen dekorativen Wandmalereien ist es, alle
Fehler der auszufiillenden Fliche, das gréfte Hindernis und die Schwierig-
keit fiir die Aufgabe als Ausgangspunkt zu wiahlen. Das tat Hauptmann in
»Die Weber«. Die Gefahr ist die Episodenhaftigkeit: in »Die Weber« gibt es
nichts anderes als Episoden. Das Wesen der Komposition besteht hier aber
gerade darin, daf alle und das Schicksal aller nur eine Episode sein kann. Alle
tauchen nur fiir einzelne Augenblicke auf, wir bekommen nur einen Teil
vom Schicksal aller und keiner ist gro8er, wichtiger als der andere. Alle Teile
sind symbolisch, weil alle das ganze Leben des betreffenden Menschen
umfassen und alle sind nur Episoden; aber gerade wegen ihrer Episodenhaf-
tigkeit sind sie symbolisch, denn das Leben ist hier so betrachtet, da& nur
dieses das Leben aller ist und alle haben gleichsam dieses Leben. Und es gibt
keine Helden, keinen der aus der Masse herausragen wiirde, dessen umfas-
senderes Leben also das kleine Leben und Schicksal der anderen zur Episo-
denhaftigkeit erniedrigen wiirde.
Das ganze Stiick beschreibt das Leiden, den Kampf, den Sieg und die
Niederlage einer Masse und - nachdem die Masse vollig gleich fiihlt und
einen Willen hat — bendtigt es keinerlei Gliederung oder Komposition.
Mehr als dreiftig verschieden alte und temperamentvolle Menschen wieder-
holen immer dasselbe und wir haben das Gefithl, da& die Zahl derer, die
dasselbe fiihlen unendlich grof ist, da es hier eine ganze Welt gibt, die so
fihlt; es scheint so, als ob eventuell auch weniger oder eventuell mehr
Menschen im Stiick spielen kénnten, es gibt kaum eine einzelne Gestalt, die
man — scheinbar — nicht weglassen kénnte. Die Einheit, das In-der-Masse-
Sein ist aber bei allen so stark, da diese vielen, voneinander individuell
vollkommen verschiedenen Menschen in einem grofen Gefihl, in der Wut
und der vom furchtbaren Elend verursachten Verzweiflung wie ein Mensch
gemeinsam fihlen, gemeinsam handeln; sie schlagen, brechen, zerschmettern
und zerstéren blind und werden ebenfalls als Einheit von der rohen Militér-
gewalt unterdriickt. Ein jeder einzelne Mensch wird hier gerade mit dem
366 Der Naturalismus
vitalsten Teil seines Schicksals mit dem Drama verkniipft. In allen verschie-
denen Schicksalen erklingt eigentlich immer dasselbe Schicksal, und in allen
mit der gleichen Vollendetheit. Das Ganze wird durch die groSe Melodie
ihrer Zusammenkomponiertheit zusammengehalten, durch diese paradoxe
In-sich-Geschlossenheit und durch die Konsistenz der Schicksale trotz
allem, dadurch, daf alle nur ein Ton in der Melodie sind, ohne deswegen an
Intensitat zu verlieren. Und dieses Band ist so stark, daf sie auch dann nicht
episodenhaft sein kénnten, wenn ihre Zeichnung noch breiter und naturali-
stischer detailliert wire. Unendliche Abwechslung in einer groSen Monoto-
nie, véllige Einheit in einem Chaos, das sich aus lauter Atomen zusammen-
setzt: das ist die Komposition des Dramas »Die Weber«. Dieses Stiick ist
eine Folge von Bildern, eine Aneinanderreihung wichtiger Stadien. Die
Entwicklung besteht in der Steigerung derselben Sache bis zum Aufersten,
darin, da& die Atome sich immer mehr verdichten und die angehaufte
Energie und Spannung in ihnen immer gréfer wird, ohne daf sich ihre
Natur oder ihr Verhahnis zueinander verinderte. Aus allen Grenzen des
Naturalismus werden hier gro&e Tugenden. Eine solch ungegliederte, von
gleichrangigen Atomen gebildete Masse kann nur naturalistisch ausgedriickt
werden. Das ist aber die einzige Méglichkeit, damit das Grundgefiihl des
Dramas, die ohnmichtige Sehnsucht, die in ihrer Verzweiflung blind bre-
chende, zerschmetternde und zerstérende explosive Instinkthaftigkeit nicht
willkiirlich wirkt. Das ist die einzige Méglichkeit dafiir, da& die Masse
unzertrennlich einheitlich wirkt, damit also ihr ganzes Schicksal symbolisch,
alles umfassend, dramatisch sein kann. Sobald jemand hervorgehoben wire,
wiirde die Episodenhaftigkeit seines Schicksals hervorstechen. Hier ist da-
durch, da& es nichts anderes gibt als Episoden, jegliche Episodenhaftigkeit
vermieden. Gerade auf diese Weise ist der Zusammenhang dieser trivialen
Schicksale nicht trivial, weil durch die Steigerung ihrer Gewohnlichkeit und
Trivialitét bis zum Symbolischen ihre Ganzheit monumental wird; ihre
ungegliederte Einheitlichkeit erweckt die Illusion der unendlichen Gréfe.
Hier erreicht die dramatische Stilisierung des heutigen Lebens die in der
Epik erreichbare GroSmiachtigkeit. Aus der Natur der Lésung ergibt sich
jedoch, da das nicht blo& unwiederholbar ist, sondern auch auf andere
Stoffe, auf andere Schicksale nicht angewendet werden kann. Dieses Stiick ist
vollig einheitlich, es ist eine totale, geschlossene Welt und es herrschen
strenge Gesetze, strenge, grausame Notwendigkeiten darin. Der Fabrikant
wird durch seine Lage gezwungen seine Arbeiter auszubeuten (diese Lage ist
natiirlich nicht analysiert; vom Gesichtspunkt des Dramas her gesehen ist es
x Méglichkeiten und Grenzen des Naturalismus 367
auch nicht wichtig, notwendig ist nur, da8 wir den Unterdriicker als Typ
und nicht als Schurken sehen) und die Befeble und die Salven des Militirs,
das die Revolte niederschligt, kann man nur héren. Dieses Stiick driickt
keinen Gedanken aus, es schépft kein Problem aus, es erklingt nur eine
Melodie aus ihm, es versinnlicht nur die grausame Notwendigkeit einer
gewissen Situation, es versinnlicht, da8 sie unertraglich ist und da es keine
Befreiung aus ihr gibt. :
Diese erschiitternde und - von diesem Gesichtspunkt her — in der Geschichte
des Dramas alleinstehende Tragddie war der Gipfelpunkt des Naturalismus.
Das war das einzig groSe Thema, das sich vollkommen zwischen die
Grenzen seiner Ausdrucksmiglichkeiten hineingefiigt hat, aber — hier wird
wieder die Unfruchtbarkeit des Naturalismus sichtbar — dieses Thema war
mit dem Drama »Die Weber« erschipft. Es gibt nur eine Art von Elend, und
im wesentlichen ist die Sehnsucht, daraus hinauszugelangen gleichformig,
und die gleiche rohe Gewalt macht simtliche Sehnsiichte vergeblich. Die
gleiche Undifferenziertheit des Themas, wodurch es grofangelegt wurde,
nahm ihm alle Méglichkeiten seiner Weiterentwicklung. Héchstens das
Milieu kann man verindern, wie das viele taten, aber damit brachten sie
nichts Wesentliches.
Heijermans’ Versuch, seine einzelnen Menschen und ihre Schicksale indivi-
dualisieren zu wollen, machte seine Fischertragédie, »Die Hoffnung<*,
trivial, novellistisch; die Einheit der Atmosphire verleiht der Episodenan-
haufung von Gorkis »Nachtasyle keine Einheit, und die gewaltsam hinein-
getragene Philosophie gibt ihm keine Bedeutung; Langmanns »Bartel Thu-
raser«*? ist ein mittelmafiges biirgerliches Drama, das sich im Arbeitermilieu
abspielt (ahnlich ist z. B. - weil wir iiberall nur einige Beispiele anfiihren
k6nnen - auch Mirbeaus »Les Mauvais Bergers«)®. Und wo es einen Helden
gibt, ist die Masse nur Hintergrund, sie lést aber die Kompositionen auf,
weil sie ein zu groSes Gewicht hat, um nur Hintergrund zu sein. Obwohl ein
solches Drama nur auf diese Weise komponiert werden kann, sei es ob der
Held in Gegensatz zur Masse gerit (Adamus: »Die Familie Wawroch«,
Curel: »Le repas du Lion«)*', oder ob er sich fiir sie opfert (Bjérnson: »Uber
die Kraft« 1. Teil)*. Auch Galsworthys Streik-Drama »Strike«®, das am
interessantesten konzipierte, in der Ausfiihrung jedoch an vielen Stellen
verfehlte Drama unter den Versuchen nach Hauptmann, ist kein wirklich
soziales Drama. Der Streik ist auch hier nur Hintergrund, und das eigent-
liche Drama besteht im Zusammenstof zweier starker Menschen ~ des
Direktors emer Aktiengesellschaft und eines Arbeiterfiihrers -, die durch
368 Der Naturalismus
gen Stelle sind, erfordert eine viel starkere Konstruktion als die, zu der der
atomisierende, Strich neben Strich setzende Naturalismus fahig war.
Auf diese Weise sind — »Die Weber« ausgenommen — alle naturalistischen
Dramen novellistisch. Sogar bei den »Webern« wire es sehr berechtigt, die
Frage zu stellen, ob die wirklich tiefe Wirkung von lyrischer oder dramati-
scher Natur ist, ob der Kampf darin episch oder wirklich dramatisch ist.
Sicherlich sind die Mittel wirklich dramatisch, es ist aber ebenso bezweifel-
bar, ob die Grundlagen, auf denen es aufgebaut ist, wirklich dramatisch sind.
In diesem Drama, das in der Entwicklung des Naturalismus ganz allein steht,
sind all diese Relationen gerade umgekehrt wie in den anderen Dramen: dort
ist die Grundlage der wirklich guten Dramen dramatisch, und seine Mittel
werden problematisch. Was bei den »Webern« problematisch ist, ist jedoch
weniger spiirbar, weil das Drama allein da steht; weil es ohnedies kein Weg
ist, auf dem man weitergehen kénnte, weil es ohnedies keine Fortsetzung
haben kénnte; weil sich hier zufillig alle dichterischen Méglichkeiten
Hauptmanns so vollendet mit allen Méglichkeiten eines Stoffes trafen, da
die unendliche Kraft seiner lyrischen Empfundenheit das nicht ganz Drama-
tische seiner Grundlagen vergessen laft.
Die natiirliche Folge der naturalistischen Anschauung und Technik ist, da8
die unmittelbaren Ursachen allzu stark herrschen, sie unterdriicken die
tiefsten, die letzten Ursachen, das, wodurch sich das dramatische Geschehen
iiber den gewéhnlichen individuellen Fall hinaus zur allgemeinen Bedeutung
erhebt. Der einzelne Fall fiigt sich in kein groBes Weltgesetz ein, er bleibt
cinmalig: hauptsachlich deswegen wirken alle naturalistischen Tragédien so
peinlich und bedriickend. Es entsteht das Gefihl einer unangenehmen
Tatsache, héchstens soviel, daf so etwas dfters vorkommt. Aber auch dieses
Typische ist nur im Stoff, héchstens in der Psychologie, nicht in der Form
vorhanden; es bleibt somit nur typisch und bringt keine echte dramatische
Symbolil zustande. Auf eine tragische Hohe kann etwas nur durch den
Horizont der Weltanschauung gehoben werden, und der Naturalismus — wir
sahen es, und wir sahen auch warum— verschlieft alle in die Weite fiihrenden
Horizonte im Drama. Schlafs »Meister Olze« ist das typische Beispiel dafiir.
Dieses Stiick ist in der Sprache, in der Technik, im Aufbau das vollkommen-
ste unter allen naturalistischen Dramen. Sein Konflikt ist tief und stark: es ist
der Kampf eines Menschen, der durch eine Schandtat nach oben kam, der
Kampf gegen sein eigenes Gewissen und sein auSerer Kampf um die Beute
seiner Schurkerei. Es ist ein Kampf mit einem Menschen, der seine seelischen
Qualen kennt, der alles iiber ihn weif, ohne es beweisen zu kénnen, und der
370 Der Naturalismus
Fiinftes Buch
Im vorigen Kapitel war ausfihrlich davon die Rede, warum alle Hoffnun-
gen, die sich beim Zustandekommen des neven groSen Dramas an den
Naturalismus kniipften, mit Enttiuschung enden muften. Diese Enttiu-
schung stellte sich auch sehr bald ein. In Frankreich waren gleichzeitig mit
dem »Théatre Libre« und bereits davor die symbolistischen und psychologi-
sierenden Tendenzen schon sehr grof, und Hermann Bahr brachte sie als
erster, noch 1890, im ersten Jahr der »Freien Biihne«, als der Naturalismus
zu siegen schien, nach Deutschland hiniiber. Die Enttduschten fanden also
zwei neue Ausdrucksformen vor, mit denen man das versuchen konnte, was
dem Naturalismus nicht gelungen war; denn beide Tendenzen waren bis
dahin nur im Roman und in der Lyrik vorhanden, mit dem Drama versuch-
ten sie es nicht. Der Roman der franzésischen Psychologen und Impressioni-
sten unterschied sich natirlich im Prinzip kaum vom Naturalismus; es war
mehr eine Weiterentwicklung als ein Kampf gegen ihn, um neue Bereiche zu
erobern. Zumindest heute — nach fiinfzehn bis zwanzig Jahren — sehen wir es
so, daf er nichts anderes war als die konsequente Fortfiihrung des Naturalis-
mus; damals herschte das Gefithl vor, als ob schirfere Gegensitze unvor-
stellbar waren. Die unmittelbaren Zeitgenossen sehen die Unterschiede
gerade dort schirfer, wo die Nachwelt - wie nahe sie auch ist — die
Ubereinstimmungen sieht. Somit werden wir im folgenden, wo wir die
Entwicklung des Naturalismus in Richtung der Intimitat und Psychologie,
des Impressionismus und des Lyrischen besprechen werden (diese Schlag-
worte decken sich natiirlich nur sehr ungefahr mit den tatsichlichen Tenden-
zen), solchen Dichtern begegnen, die sich immer fiir Naturalisten hielten
und sich zum Naturalismus bekannten, wir werden solche antreffen, die im
bewuSten Gegensatz zum Naturalismus schufen und schlieBlich vollig sub-
jektive Poeten, fiir die keinerlei Stilfragen wichtig waren. Auch das ist ein
stark notwendiger Ubergang, den die Dichter, die von den verschiedensten
Seiten kommen und in Richtung verschiedener Ziele eilen - wie beim
Naturalismus — durchlaufen miissen.
374 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
L
Skeptizismus war die weltanschauliche Grundlage dieser Tendenz. Es war
ein bis zum Nihilismus reichender Zweifel an jeglichen absoluten Werten, an
der Méglichkeit jeglicher Wertung. Es war die Weltanschauung einer Gene-
ration, die nur schauen, verstehen will, und an der Méglichkeit des Verste-
hens doch zweifelt; es war ein bis zum Aufersten gehender, ganz egonzen-
trischer Individualismus. In dieser Zeit wird Stendhal entdeckt, und diese
Dichter (Barrés, Bourget, Anatol France usw.) und ihr Individualismus
verloren in noch viel gré8erem Ausmaf ihren moralischen Hintergrund als
Hebbels und Ibsens tragische Gestalten; es wurde daraus eine noch aus-
schlieBlichere, rein seelische Tatsache; was bei jenen Instinkt und Tragédie
war, wurde hier Uberlegung, resigniertes Achselzucken oder Epikureismus.
Denn dieser Individualismus, den wir hier schon korrekter Solipsismus
nennen kénnten, ist iiber das Tragische der Grundlagen-Heterogenitat
ebenfalls schon hinaus; in ihm ist nur noch selten das naive Selbstbewuftsein
und der Elan der Alten vorhanden, mit dem sie der Welt ihre Traume mit
tragischer Hartnickigkeit aufzwingen wollten. Diese Generation wollte nur
traumen, wollte mit Gedankenméglichkeiten spielen und aus ihnen schéne
Schlésser bauen. Alle sind Peer Gynt-Typen, aber nicht ironisch, nicht mit
romantisch moralisierenden Augen gesehen. Das stirkste Symbol ihres
Lebensgefiihls ist Huysmans’™ Des Esseintes’ Abkapselung von der Welt
und sein Wille, in dieser verschlossenen Welt eine neue, kiinstliche Welt zu
erschaffen (»A Rebours«). Ihrer Weltbetrachtung gab vielleicht Anatol
France den reinsten Ausdruck, nachdem er mit einem ganz bis zum Nihilis-
mus reichenden Zweifel die Wirkung der seelischen Krafte auf das tatsich-
lich Geschehende, die lebensbewegende Kraft der Gréfe, Schénheit, der
moralischen Werte leugnete, und das ganze Leben als das unberechenbare
Spiel unbekannter Krifte hinstellte. (»Thais«, »Le Procurateur de Judée«
usw.) Ethisch gesehen ist das natiirlich der weitgehendste Relativismus: es ist
nicht einmal die Leugnung jeglicher, in welchem Sinn auch genommenen
Ethik, die cine iiber den einzelnen Menschen hinausgehende Bedeutung
beansprucht, sondern ihre Geringschatzzung, er behiilt nicht einmal fiir den
einzelnen Menschen das Bindende einer Ethik-Form (deren Inhalt also
beliebig wire) bei. Obwohl die Anniherung an diese Weltauffassung sehr
stark war, war der Relativismus in Deutschland nie so stark; gerade formal
blieb darin immer eine Ethik bestehen, wenn auch die Menschen dem Inhalt
gegeniiber gleichgiiltig wurden. Die Miidigkeit, das Abseitsstehen und die
blo&e Betrachtung des Lebens war also nicht so stark wie in Frankreich, und
x1 Impressionismus und lyrischer Naturalismus 375
schaften selbst gab es auch Tendenzen, die die zu schnellen Folgerungen der
Darwin-Anhinger auf ihren entsprechenden Wert herabsetzen wollten; zu
dieser Zeit beginnt auch die Revision des historischen Materialismus. Es ist
selbstverstindlich, da& die fir alles unendlich empfindliche Literatur diese
Bewegungen noch starker spiirt als die objektive Wissenschaft. Die Natur-
wissenschaftlichkeit und die Soziologie der Literatur ist nie mehr als die
Hypostase wahrscheinlicher Hypothesen; wenn Zweifel aufkommen, kann
der ganze Bau zusammenstiirzen.
Die Enttduschung iiber den Sozialismus hatte aber auch rein kiinstlerische
Ursachen. Die jungen Dichter suchten das grofe soziale Drama, und das
konnten sie, wie wir sahen, nicht finden. Das Drama mufte sich auch aus
rein kiinstlerischen Ursachen wieder ausschlieBlich mit individuellen Schick-
salen beschiftigen; und die Abwendung vom Sozialismus fihrte die Dichter
naturgema& in die héheren gesellschaftlichen Klassen, in ihre eigene Welt
zurick. Bahr beschreibt auf interessante Weise, wie die jungen Dichter sich
immer starker der Psychologie hingeben miiften, wenn sie schon anerkannt
und iiber den Sozialismus hinaus seien. Sie brichten immer dasselbe Milieu
auf die Biihne, und um sich nicht zu wiederholen, miiSten sie immer subtiler
werden. Das ist aber vielleicht doch mur die auSere und sekundire Ursache
der Verfeinerung. Wir diirfen nicht vergessen, daS der deutsche Naturalis-
mus zustande kam, um das moderne Leben, in erster Linie den modernen
Menschen auszudriicken, und in vieler Hinsicht zwang die Dichter nur die
Bestrebung, sich die Technik méglichst vollkommen zu eigen zu machen
dazu, kleine Themen zu wihlen. Deshalb vermieden sie Fragen zu stellen,
die zu allgemein, theoretisch oder weltanschaulich waren, um nicht in eine
Situation zu geraten, die sie eventuell vor ein schweres Stilproblem stellt. Es
gibt somit in den ersten Stiicken der naturalistischen Dramatiker etwas
Essayistisches; es ist nur selbstverstindlich, daf sie nach kurzem Experimen-
tieren auf ihr wahres grofes Ziel zueilten. Das ist der Weg Hauptmanns und
Johannes Schlafs. In Frankreich jedoch, wo es eigentlich um die Erschaffung
eines Dramas geht, das dem psychologischen Roman und der Novelle
entspricht, ist die Entwicklung in diese Richtung noch selbstverstindlicher.
Somit stehen wieder individuelle Schicksale im Mittelpunkt des Dramas.
Und zwar ~ das ist das Wichtige - nicht mehr die Fille der Garde des
»Théatre Libres, die fiir den Dichter gleichgiiltig sind; sondern die Grundla-
ge aller Dramen ist ein lyrisches Gefiihl, ein Bekenntnis. Es ist also natiirlich,
da8 in den Dramen immer stirker zwei Konflikte herrschen; der erotische
und der weltanschauliche. Ein neuer Subjektivismus entsteht. Das Wesen der
xt Impressionismus und lyrischer Naturalismus 377
von anderen Seiten her. Nur technisch wirkt er kaum; aus verstindlichen
Griinden, obwohl die Dichter selber die Griinde mehr instinktiv empfanden
als da® sie ihnen bewuft gewesen waren. Nur ein derart ausschlieBlich
fiihlender Dichter und kein bewuSter Kiinstler wie Przybyszewski® ist
darauf angewiesen, Ibsen auch in seiner Technik stark nachzuahmen.
2
Seit dem Ende der 80er Jahre werden in Frankreich die germanischen
Einfliisse immer starker. Zuerst beginnt Ibsen infolge der starken Agitation
verschiedener freier Biihnen zu wirken, besonders das Théatre de l’CEuvre,
das unter der Leitung Lugné-Poés steht. Zunichst wirkt er auch hier blo8 als
Naturalist, und somit natiirlich weder tief noch stark. Spater beginnen auch
seine Problembetrachtungen zu wirken, aber diese Wirkung ist ebenfalls
nicht sehr konstant; wo sie es ist, bedeutet sie hauptsichlich die Erneuerung
und Belebung der alten Tendenzdramen mit Ibsens Ideen. Der einzige, den
man wirklich einen Schiiler Ibsens nennen kénnte, ist Francois de Curel.
Diesem Umstand verdankte Curel seine unverdient starke Position in der
franzésischen Literatur: die nationale Eitelkeit der Franzosen suchte jeman-
den, der als Problemdichter Ibsen gegeniibergestellt werden konnte und sie
glaubte, diesen in ihm gefunden zu haben, obwohl Curel nicht viel mehr ist
als ein auSerordentlich intelligenter und gebildeter Dilettant. Er hat dichteri-
sches Talent — einige schén gezeichnete Gestalten und Situationen zeigen
es -, das geniigt aber nicht, um seine Fabeln und Gestalten, die um seine
wirklich grofen, aber allzu theoretisch konzipierten Probleme komponiert
sind, mit Leben fiillen zu kénnen. Seine Sticke sind unendlich trocken und
theoretisch, und die zumeist auferordentlich bizarren Fabeln und die sehr
interessant konzipierten Gestalten machen diese Dissonanz nur peinlicher.
(»La Fille Sauvage«, »Le Repas du Lions.) Auch in seinen besten Stiicken,
z. B. im wirklich groSziigig konzipierten »La Nouvelle Idol« wird nicht nur
die Lebendigkeit seiner Menschen, sondern auch die ohnehin schwache
sinnliche Kraft ihrer Gegeniiberstellung von den leblosen, rein theoretischen
Gesprachen zerstért. Ibsens Wirkung auf die italienischen Dichter (Butt,
Bertalozzi, Giacosa, usw.) ist auch nicht wertvoller. Auch bei ihnen kommt
durch seinen Einflu8 nichts kiinstlerisch Neues und Wertvolles zustande,
nur ihre Themen werden dadurch interessanter.
Viel bedeutender, wenn auch schwieriger nachweisbar, ist die mittelbare
Wirkung der germanischen Literatur in Frankreich. Curel ibernahm nur
den Inhalt von den nordischen Dichtern, ihre wirklich wichtige Wirkung
x1 Impressionismus und lyrischer Naturalismus 379
offenbart sich darin, daf sich das eingestellt hat, wonach sich Goncourt und
Zola vergeblich sehnten: Die streng mechanische Struktur des franzésischen
Dramas hat sich aufgelist; es sind Menschen mit komplizierten Seelen auf
der Bihne erschienen und die Dichter wollten ausschlieflich mit ihrem
seelischen Leben das Interesse erwecken. Diese neve Dramatikergeneration
ging teils von dialogisierten Skizzen und Erzahlungen (Donnay, Capus,
Lavedan), teils von Feuilletons aus (Lemaitre). Sie brachten deren Leichtig-
keit, Unaufgebautheit, Geistreichheit und ihr Interesse fiir alles mit sich.
Schade ist nur, daf dies blof ein negatives und provisorisches Ergebnis sein
konnte. Solange die Dichter jung und frisch waren, war es ihnen ein leichtes,
mit lauter feinen Menschendarstellungen und Geistreichheit zu siegen. So-
bald sie ein wenig miide wurden, oft sogar wenn das Publikum sich ein
wenig an sie gewéhnte, muften sie stirkere Wirkungen erzielen, und
nachdem es in ihrer Betrachtungsweise und Technik nichts wirklich Drama-
tisches gab, muften sie zu der alten franzésischen Technik zuriickkehren. In
ihren feuilleton-novellenhaften Biihnenstiicken gab es kein dramatisch stil-
bildendes Element, und es konnte auch keines geben; es gab sogar nicht
einmal die Méglichkeit, iiber diese Stiicke hinauszugehen, sie weiterzuent-
wickeln und zu einer gefestigteren Dramatik zu gelangen. Die ganz auSer-
liche Bithnenwirksamkeit stand ihrem Wesen noch ferner, so daf auch sie
nicht auf natiirlichem Wege aus ihrer alten Technik zu entwickeln war. Als
die Méglichkeit der Wirkung mit rein lyrisch-psychologischen Mitteln nicht
mehr gegeben war, gab es fiir sie keinen anderen Weg zur Bithnenwirksam-
keit als zu der alten zuriickzukehren und mit ihr einen Kompromif zu
schlieRen. Nachdem sie aber die »ficelles« des alten Dramas doch gering-
schitzten, auch wenn sie auf sie angewiesen waren, und diese somit immer
mit einer gewissen Geringschitzung und Ironie behandelten, fihrten sie
dasselbe schlechter aus als die Alten; aber gerade dadurch verlor diese im
wesentlichen villig undramatische Technik literarisch sogar in Frankreich
ihren Kredit, und trat ihre Bedeutung im Ausland véllig zuriick. Capus,
Pierre Wolf und in vieler Hinsicht Bataille sind die starksten Reprasentanten
dieses neuen Typus des Biihnenstiicks, der im wesentlichen doch das alte
Tendenzdrama ist. In ihm sind blo8 die Beziehungen lockerer und weniger
gewollt, die hingestellten Figuren sind menschlicher, die grofen Szenen
lyrischer; in den Sentenzen und Tiraden gibt es mehr Zweifel, und die
grofen Biihnenwirkungen werden mit einem naiven Glauben erzielt. Die
franzésische Biihne erwies sich jedoch starker als alle literarischen Bewegun-
gen; sie sog sie vollkommen auf und nahm nur einiges von ihnen an, gerade
380 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
so viel wie sie aufnehmen konnte, ohne in ihrem Wesen bedroht zu werden.
Diese Wirkung war aber dennoch stark; man muf nur den Aufbau und den
Dialog eines Hervieu-Stiickes mit den Stiicken von Dumas oder Augier
vergleichen, damit dieser Unterschied ins Auge springt. Ein Drama entstand
also hier nicht, nur das gewdhnliche Biihnenstiick wurde verfeinert und ein
wenig menschlicher. Hier wird wieder der grundsatzliche Unterschied zwi-
schen der deutschen und franzésischen Drameniiteratur sichtbar, obwohl!
dieser Unterschied wegen des gewaltigen Aufschwungs des deutschen gro8-
stidtischen Lebens heute bei weitem nicht so grof ist wie vor einem
Jahrhundert oder vor wenigen Jabrzehnten. Aber sogar jetzt bleiben im
Norden alle literarischen Tendenzen reiner und kompromifloser ausschlie8-
lich literarisch, wenn sie dafiir auch weniger auf die Theater wirken, weniger
die rein den Theatern dienende Literatur beeinflussen.
Maurice Donnay war das bedeutendste Mitglied dieser Dichtergruppe. Er
war ein echter Poet, bei dem es nur zufillig war, worin sich sein Talent
zuerst offenbarte; er ist nicht wegen der Natur seines Talents Feuilletonist
wie die anderen. Er begann seine Laufbahn mit sentimental zynischen,
interessanten Gedichten, die er selbst in den Kabaretten Montmartres vor-
trug, dann folgte ein Revuedrama und die gewagte und geistreiche Umarbei-
tung der »Lysistrata« von Aristophanes. Und erst danach kam das erste
wirklich gro8e Stiick, die »Amants«; und damit leider auch das letzte. Streng
genommen ist natiirlich auch die »Amants« kein Drama, denn die Men-
schenbetrachtung des nihilistisch skeptischen und zynisch sentimentalen
Donnay duldet kein Drama. Er glaubt nicht an die Méglichkeit der Dramen,
er glaubt nicht, da8 irgendein Konflikt so tief wirken wiirde, da daraus ein
entscheidender Zusammenstof entstehen kénnte. Das Leben seiner kompli-
zierten Menschen ist voller Zufille, voller Kompromisse. Wenn sie auch
starke Gefiihle hatten, wenn sie auch manchmal etwas tief und stark zu
empfinden und in manchen Situationen tief zu leiden vermdgen, werden und
wurden all ihre Instinkthaftigkeiten in einem Mae von tausenderlei Uberle-
gungen und ironischen Selbstbeobachtungen unterdriickt, daf sie nicht mehr
mit elementarer Kraft ausbrechen kénnen. Aber gerade wegen des Glanzes, der
dadurch entsteht und in jedem Augenblick in tausend neuen Farben erscheint,
lieben und genieBen sie das Leben so sehr, da& auch der gréfte Schmerz
und das Ungliick nicht zur Tragédie fihren kann. Fiir sie ist das Leben die
Hauptsache; es ist gleich, wie man lebt, aber zu leben ist das Beste. Und ein
dramatischer Mensch kann nur derjenige sein, fiir den etwas ~ gleichgiilug,
was und warum — wichtiger ist als alles, sogar wichtiger als das Leben.
x1 Impressionismus und lyrischer Naturalismus 381
Bei Donnay ist die Gefahrlichkeit des modernen Relativismus auf das Drama
sehr deutlich sichtbar. Nicht die Erkenntnis der Relativitit aller Dinge ist
wirklich gefahrlich; damit beginnt nur ein Auflésungsproze8, der mit der
volligen Auflésung der dramatischen Form enden mug. Denn es ist wabr,
da& der dramatische Konflikt vertieft wird, solange der Relativismus nur die
Grundlagen angreift und die einander gegeniiberstehenden Menschen zu-
mindest dynamisch ungebrochen und stark bleiben, wenn auch diese Vertie-
fung mit einem groSen Preis in anderer Hinsicht bezahlt werden mu8; aber
sobald der Relativismus auch in die Menschen selbst eindringt, was die
notwendige Folge des vorherigen Stadiums ist, ist das Drama am Ende.
Sobald die Menschen des Dramas das wissen und spiiren, was im vorherigen
Stadium nur ihr Dichter gesehen hat, gibt es keine Handlungsfahigkeit mehr,
keine Méglichkeit, alles aufs Spiel zu setzen: aus dem Kampf wird resignier-
tes Lacheln und Schulterzucken. Donnays Gestalten sind so wie ihr Dichter:
sie betrachten blo&, was im Leben geschieht. Diese Feststellung beriihrt aber
nicht die melancholische Schénheit von »Amants«. Dieses Stiick ist in der
Geschichte des Dramas etwas ganz Neues; es bedeutet eine Bereicherweite-
rung und wenn man auch auf dem Weg, den dieses Stiick weist, nicht
weitergehen kann, ist das, was in ihm vorhanden ist, dennoch ein Gewinn.
Dieses Drama ist streng genommen die Leugnung alles Dramatischen; es ist
ein Ausdruck der tief undramatischen, das Drama ausschlie&enden Gefiihle
auf eine der dramatischen Form ahnliche Weise; es schligt Tone an, zu deren
Ausdruck bis dahin nur die Lyrik imstande war oder die Novellen und
Romane, die sich der Lyrik annahern. Diese verhallenden Klinge sind die
Téne des Verginglichen, der Stimmungen, die nach einem Augenblick
vergessen sind, sie driicken Verzeihen, Verstehen, Empfinden aus. Und die
Dialoge bilden nur gewissermaSen einen Kranz um das Leben, das irgendwie
auBerhalb dieses Dramas liegt; sie bedeuten nicht das Leben, sie zeichnen
nur feine Arabesken ~ als Rahmen — um das Leben. Dies wird sogar durch
die Technik ausgedriickt: das Leben der beiden Menschen, deren Schicksal
den Inhalt des Dramas ausmacht, spielt sich zwischen dem vierten und
fiinften Akt ab; die ersten vier Akte dienen nur zur Vorbereitung, der letzte
ist nur ein melancholischer Epilog und die ganze Episode stellt aus der
Perspektive des Schlusses gesehen, die - den Inhalt des Dramas ausmachende
— Vorbereitung fiir das wirkliche Leben dar. (Im Licht des niichsten Augen-
blickes wirkt natiirlich auch dieses Leben bereits episodenhaft.) Zwei Men-
schen lieben sich sehr, sie werden einander gehéren, sie trennen sich und
keiner der beiden wird daran zugrunde gehen, sie sind nicht einmal beson-
382 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
beginnt immer mehr zu herrschen und heute schreibt Donnay nur noch
wirkungsvolle Biihnenstiicke, in denen die melancholische Grazie seiner
Jugend manchmal aufleuchtet (»L’autre Danger«). Die Bihnenwirksamkeit
zwingt ihn sogar, tragische Wirkungen, Selbstmorde auf die Bihne zu
bringen, die gerade bei ihm auferordentlich gekiinstelt wirken (z. B. der Tod
in »Le Torrent«, der iibrigens die knechtische Nachahmung des Selbstmor-
des von Rebekka West ist).
Der mit Donnay sehr verwandte George de Porto-Riche, glaubt wenigstens
an eine Sache: an die Dauerhaftigkeit der Liebe, oder vielmehr an die
Leidenschaft der Frau; sonst ist die Welt seiner Stiicke dieselbe wie die
Donnays. Bei ihm gibt es ebensowenig einen festen Punkt, wo man eine
Stiitze finden kénote und auch seine Menschen sind so blasiert, miide alles
durchschauend und zu gro&en Leidenschaften unfahig wie die Donnays. Es
gibt aber in allen Stiicken eine Frau, deren Schicksal darin besteht, daf sie
nicht vergessen, Kompromisse schlieSen und sich verandern kann. Auch sie
ist sich iiber das Gleiche im klaren, wie die anderen, aber all ihr Wissen ist
vergeblich, etwas in ihr treibt sie trotz allem vorwirts: die Liebe zu einem
Mann. Sie liebt jemanden, der diese Liebe nicht so erwidern kann, wie sie es
verdienen wiirde, oder der es tiberhaupt nicht verdient, geliebt zu werden.
Und die Frau sieht natiirlich auch diese Situation ganz klar, das hilft ihr
jedoch nicht: hier herrschen gewaltigere Kriafte als die jeglichen Sehens und
Durchschauens. Ihrer Tragédie verleiht somit die Relativitat aller Dinge eine
noch gréfere Tiefe und Kraft; die elementar ausbrechende Leidenschaft
wirkt zwischen und trotz der vielen Feintuerei und Zweifel noch starker.
Auch bei Porto-Riche ist jedoch dies das einzige Erlebnis, und deshalb
schreibt auch er eigentlich immer dasselbe Stiick. Auch sein Erlebnis ist im
wesentlichen lyrisch: Es ist die Entwicklung eines Gefiihls, das ein konkretes
Erlebnis begleitet; es ist die Ubertragung des Gefiihls auf einige ahnliche
Fille. Was am Dramatischen hier vorhanden ist — und es ist auf alle Falle
mehr vorhanden als bei Donnay -, ist nur das Verhiltnis zweier Menschen
zueinander und nicht die Betrachtung aller Erscheinungen des Lebens in
dramatischer Form; was bei dieser nur einer ihrer Fille, héchstens ihr
starkstes Symbol wire. Einige Einakter bereiten sein erstes grofes Stiick
»Amoureuse« vor, in dem er mit grofer lyrischer Kraft und Tiefe sein
Thema erschipft; »Le Passé«, das sechs Jahre spiter geschrieben wurde, ist
eigentlich dasselbe Stiick, es ist nur lockerer, farbloser und schwicher — und
seitdem schrieb er kein Drama mehr. Es scheint so, daf auch er bereits iiber
alles, was er sagen wollte, geschrieben hat, er ist aber seiner Vergangenheit
384 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
Gefiihle zu Wort kommen. In »Le Passé« ist diese Dissonanz noch starker;
hier ist der Mann kein ernster Forscher, wie es Etienne war, sondern ein
schwankender, flatterhafter »amateur<, »homme 4 femmes«. Hier ist noch
stirker spiirbar, da& die Fabel des Stiickes nur ein Einzelfall, der traurige Fall
einer armen Frau bleibt, die mit einem derartigen Mann zusammenkam, und
wegen der dramatischen Passivitat des Mannes gab es nicht einmal die kleine
Bewegungsméglichkeit mehr, die im ersten Stiick noch vorhanden war; das
Stiick zeigt von Anfang bis zum Ende immer dieselbe Situation. Das Stick
ist tibrigens auch in seiner Ausfiihrung schwacher als das vorherige. Es gibt
darin mehr unverarbeitete Ibsen-Relikte (z. B. die »Lebensliigen« aus »Die
Wildente«; die Rolle der Vergangenheit aus »Rosmersholm« usw.).
Arthur Schnitzler ist mit diesen franzdsischen Dichtern anfanglich sehr
verwandt. Nicht nur seine Weltanschauung, sondern auch seine literarischen
Anfange sind der ihrigen sehr ahnlich. Auch er ging von Skizzen, von der
dialogisierten Novelle und dem dazu neigenden Einakter aus und versucht
deren Technik auch in seinen grofen Stiicken anzuwenden. Auch die Gefahr
der franzésischen Biihnentradition bedroht ihn, die, wie wir sehen, Maurice
Donnay verschlang; wir wissen, da& sich diese Tradition, abgesehen von
Paris, im Burgtheater am langsten und am starksten hielt und daf sie bei
Schnitzlers Anfingen eine starke Rolle gespielt hat (»Das Miarchen«) und
auch spiter bei ihm als Entwicklungsiibergang (»Freiwild«, »Das Vermicht-
nis«) vorkommt.
Die ironisch lyrischen, leichten Skizzen des »Anatol«-Zyklus’ sind die ersten
wirklich bedeutenden Werke, die Schnitzler produziert hat. Es sind mensch-
liche Schicksale, ausgedriickt in Gesprichen von einer Viertelstunde Lange.
Seine Komposition ist im Vergleich zum parallel laufenden deutschen Natu-
ralismus sehr stark; er wagt es geistreich zu sein, eine ganze Situation in
einem scharf zugespitzten Satz auszudriicken. Er gibt nicht mehr als das, was
zur Situation, zu den in die Vergangenheit und in die Zukunft reichenden
Perspektiven unbedingt notwendig ist, er betont aber im Vergleich zu ihnen
alles, was die Stimmung verstarken kann oder die Pointe besser hervorzuhe-
ben hilft; so betont er z. B. ein Lampenlicht manchmal starker als die ganze
Vergangenheit eines Menschen: er ist ein Impressionist. Und dennoch ist bei
ihm — im Vergleich zu Donnay und Porto-Riche z. B. - der Naturalismus
stark zu spiiren. Sie tibernahmen hauptsichlich die Negativa des Naturalis-
mus: die Formauflésung, die atomisierende Technik, von seinen wahren
Werten iibernahmen sie hauptsichlich den Dialog, der zum Ausdruck des
Verschweigens der leisen seelischen Vibrationen geeignet war; aber sie
386 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
empfanden ihn nicht wahrhaftig und tief. Schnitzer erlebte vielleicht irgend-
wann zumindest die Gefiihle stark, aus denen der Naturalismus geboren
wurde, wenn er auch bei seinem Auftritt bereits vollkommen dariiber hinaus
ist. Bei ihm ist aber das, wovon der Naturalismus ausgeht, der Zusammen-
hang von allem mit allem und dessen offensichtlichste Manifestation: das
Milieu, au8erordentlich stark vertreten. Er versucht das nur technisch anders
auszudriicken als die Naturalisten, aber auch er stellt sich seine Menschen
nicht isoliert, sozusagen in einem luftleeren Raum vor. Bei Donnay und
Porto-Riche fehlt das Milieu natiirlich auch nicht, bei ihnen ist es aber nur
der schéne Hintergrund des individuellen Schicksals und hat keinen organi-
schen Zusammenhang mit dem Schicksal. Am auffalligsten ist das im Boh-
me-Milieu von »Le Passé« und in der halbwegs kokottenhaften, halbwegs
anstindigen Atmosphire von »Amantse. Beide sind sehr nett und amiisant,
aber diese Hintergriinde waren entfernbar, ohne daf man am Stiick selbst
etwas verindern miifte. Bei Schnitzler ist dieser Zusammenhang ganz
anders, er ist organisch. Keines der kleinen. Dramen von »Anatol« wire
anderswo als in Wien, sogar nicht einmal ohne den Klassenunterschied
zwischen dem zur Gesellschaft gehérenden Anatol und den verschiedenen
»siiBen Midchene vorstellbar. Dieser Unterschied hat nimlich zur Folge,
daf das Zusammenleben fiir beide Seiten nur eine Episode sein kann und da&
ihre Trennung héchstens eine Szene und keine Tragédie ist. Und wie sehr
spielt das Zirkusleben in die »Episode«, die Ballettwelt in das »Abschieds-
souper« hinein, natiirlich ohne den schwerfilligen Apparat des deutschen
Naturalismus in Anspruch zu nehmen. Er stellt weniger die Dinge dar, als
die von ihnen ausgehende Stimmung: er zeichnet nicht das Milieu selbst,
sondern einzelne Bewegungen, Worte, oder halb ausgesprochene Gedanken
der betreffenden Person verraten, wohin sie gehoren. Und iiber die Klassen-
unterschiede, die dem Ganzen als Grundlage dienen, fallt in den Stiicken
kein einziges Wort; sie sind so selbstverstandlich, da man gar nicht tiber sie
sprechen mu8; diese Stiicke wollen méglichst leise und intim wirken. Sie
erreichen dies natiirlich nicht immer, viele Verkiirzungen und Andeutungen
fallen in die Feuilletonhaftigkeit zuriick, viel Geistreiches wirkt nicht am
richtigen Platz, also unangenehm usw.
Mit »Liebeleic, dem schénsten Stiick seiner Jugend schrieb Schnitzler das
einzig mégliche Drama der Anatol-Welt, das Drama eines »siiBen Mid-
chens«, fiir das die Begegnung mit seinem Geliebten keine Episode, sondern
wirklich den Inhalt seines Lebens bedeutet. Der Mann stirbt in einem wegen
einer anderen ebenso episodisch geliebten Frau ausgetragenen Duell und das
x1 Impressionismus und lyrischer Naturalismus 387
Madchen sieht nun, daf sein Leben verdorben, zugrunde gerichtet wurde;
was es fiir all die Gefiihle erhielt, die es in ihr Verhiltnis hineinbrachte,
wofiir es alles hingab, was ihm gehérte. Das ist die Tragdie der »Amoureu-
see, Schnitzlers Stiick wird aber allein schon durch seine soziale Notwendig-
keit tiber den Einzelfall hinausgehoben; das ist die Ursache dafiir, da8 diese
Liebe fiir den Jungen eine Episode und fiir das Midchen, wenn es nicht
frivol empfindet, etwas tragisch hoffnungslos Ernstes und das Leben Bedeu-
tendes ist. Uberdies gibt es aber im Stiick — wenn auch nicht offen ausgespro-
chen — eine andere, tiefe und fiir Schnitzlers spatere Entwicklung entschei-
dend wichtige Gesetzmifiigkeit: die, da die Menschen einander nicht
kennen, einander nie kennenzulernen vermégen; daf tausend und abertau-
send Umstinde und Griinde dazwischen kommen, so daf der eine dem
anderen nie sagen kann, was er im Augenblick fiihlt und es gibt viele, viele
Griinde dafiir, da8 wir uns den anderen Menschen ganz anders vorstellen als
er in der Wirklichkeit ist. Da® dies melancholisch empfunden wird (was
beim alten Weiringen am schénsten zu sehen ist), ist die hauptsachlichste
Schénheit und das Dramatische am Stiick. Dieses Dramatische ist aber noch
nicht ganz zu Ende gefiihrt; hier verhindern noch Zufille, da& die Menschen
einander kennenlernen, und den Zufallen kommt darin eine Rolle zu, da8
zwischen ihnen die Situationen so beschaffen sind. Und die Beziehung
zwischen ihnen ist noch nicht echt dramatisch: sowohl der Junge wie auch
das Madchen nehmen alles, was der Zufall in ihren Weg legt, mit einer
passiven Ergebung hin; sie reagieren nur lyrisch auf ihr Schicksal, sie
kampfen nicht dagegen an und die Kraft der Lyrik kann hier nicht gro
genug sein, um den mit ihnen geschehenden Episoden Episodenhaftigkeit zu
nehmen. Somit ist die Atmosphiire des Stiickes im wesentlichen derart
undramatisch, da8, als das Madchen am Ende gegen dieses Schicksal aufbe-
gebrt, die starkeren Tone ihres Aufbegehrens schon aus dem Grundton des
Stiickes fallen, sie wirken gekiinstelt. Seine Weltanschauung schlie&t jedoch
das Dramatische nicht aus wie die Donnays und sie beschrankt seine
Méglichkeiten nicht auf einen Fall wie die Porto-Riches, wenn sie auch in
diesem Stiick nicht einen vollkommenen Ausdruck erhielt. Im ungebrochenen
Gefuthl des Madchens und im tragisch werdenden Episodismus des Mannes
ist die Moglichkeit des Dramatischen gegeben: da& dieses Nur-Episoden-Er-
leben auch tragisch werden kann. Wenn das Gefihl entstand, da& zwischen
diesen Episoden das wahre Leben entrinnt, dann wird das groteske Mifver-
standnis zwischen Ursachen und zwischen den Folgen, die Erlebnisse zu-
stande bringenden Nichtigkeiten und der Intensitat der Erlebnisse, zwischen
388 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
deren Intensitit und deren in Relation zum ganzen Leben geschenen Episo-
denhaftigkeit zum Symbol des Lebens. Wenn also ~ mit einem Wort - dieser
Relativismus wieder tragisch wird. Wie das dramatisch ausdrickbar ist, ist
natiirlich wieder eine andere Frage.
3
Die andersartige Gruppierung derselben Elemente charakterisiert das Drama
Gerhart Hauptmanns, mit dem er in diesem Stadium der Entwicklung
vertreten ist und das in seiner Entwicklung diese Stufe bezeichnet, namlich
die »Einsamen Menschen«. Der erotische Konflikt wird hier sekundar; er ist
teils die bewegende Kraft, teils das Symbol des anderen Konflikts, der bei
den die bis jetzt behandelten Dichtern, der nebensichlichere war: des
inneren, seelischen Konfliktes des modernen, in einer Ubergangszeit leben-
den Menschen. Auch in diesem Drama herrscht Relativismus, und dennoch
ist der Unterschied zu den bisherigen gro. Dort gab es keine Moral, hier
haben alle Moral, nur eben alle eine andere; alle haben recht, denn alle
glauben an das, woran sie glauben miissen und alle handeln stets aufrichtig
und nach.ihrer eigenen Wertung richtig; was kénnen sie dafiir, da8 der
andere ebenso berechtigt ganz anders wertet? Sie kénnen nichts dafiir und
richten trotzdem, wenn sie nach ihrem eigenen Kopf leben, das Leben des
anderen zugrunde und ihr eigenes; wenn sie sich vor seinem Urteil beugen.
Das ist das Drama der Ubergangszeit, als es zwischem dem Gefiihl und dem
Gedanken zweier nacheinander folgenden Generationen, der Eltern und der
Kinder so scharfe Gegensitze gab, daf nicht einmal die Liebe sie tiberbrik-
ken konnte. Die kiampfende Jugend will auch keine Liebe, sondern Ver-
stindnis; und dieses vermag nicht einmal das grofte Wohlwollen zu geben.
So kénnen Situationen entstehen, in denen ein zufallig auftretender Fremder
den Menschen von seiner Familie wegzureifen vermag, den sein ganzes
Gefiihl dennoch an sie kettet. Diese Jungen stehen auf den Grundlagen der
noch unsicheren und tastenden naturwissenschaftlichen Weltanschauung,
die Alten sind orthodoxe Gliubige. Denn Hauptmann greift das typischste
Problem der Ubergangsepoche heraus: den Zusammensto8 der aufeinander
folgenden Generationen. Es ist vielleicht nicht ganz zufillig, da Ibsen ein
Jahr nach den »Einsamen Menschen« (1892) sein Generationsdrama »Bau-
meister Solness« schrieb. Bei ihm gibt es aber den abstrakten Konflikt: die
Alten wollen den Jungen nicht Platz machen; bei Hauptmann gibt es den
heutigen Konflikt, bei dem die Menschen keinen Zusammensto8 wollen, ihn
sogar auch weitgehend vermeiden, den aber die Verhiiltnisse herbeifiihren.
x1 Impressionismus und lyrischer Naturalismus 389
Dramas erfordert die Hervorhebung; wenn die Menschen nicht von selbst
hervorragen, wie bei den Griechen, bei Shakespeare, wo die natiirlichen
Gesten ihrer Lebensmanifestationen fiir diese Hervorhebung geniigten, mu8
dies kiinstlich gemacht werden. Denn die Perspektive des Dramas ist so, daf
der Zuschauer von demjenigen, der im Mitvelpunkt steht, das Maximum
verlangen muf; wenn es in ihm nicht vorhanden ist, sieht er es in ihn hinein
und er sieht es so lange in ihn hinein, bis das Drama es verhindert, da8 er ihn
so sieht. Dann la&t jedoch seine Enttiuschung die Zentralfigur noch kleiner
erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist. Hauptmann - und er ist hier nur der
Grdfte in einer ganzen Richtung - unternahm den heroischen Versuch,
heutige Seelenkonflikte ohne jede Hervorhebung, so wie sie sind, zu zeich-
nen. Sein Versuch konnte wegen der Ungeeignetheit fiir den dramatischen
Ausdruck, der Trivialitit, der Kleinlichkeit, der Nicht-Sinnlichkeit des
heutigen Lebens, wegen der reinen Innerlichkeit, des rein Seelischen der
wahren Werte und Grdfen nicht gelingen. Und als er spater in »Michael
Kramere ein abnliches Thema aufnimmt, hebt er, wenn auch viel einfacher
als Ibsen, seine Menschen viel stirker von ihrem Hintergrund ab und stellt
zwischen seinen aus ihrer Umgebung einsam herausragenden Menschen
notwendigerweise tiefe Beziehungen her.
Die Wirkung von »Einsame Menschen« war gro8 und langaohaltend. In
Deutschland wirkte besonders das Thema: Es kommt in einer die alte Zeit
symbolisierende Familie eine Frau an; in der Liebe zu ihr offenbart sich die
Sehnsucht des Helden nach dem Neuen, eines Helden, der in einem Uber-
gangszustand lebt, und nachdem er nicht zwischen beiden wihlen kann, geht
er schlieflich zugrunde. Ahnlich ist besonders Ernst Rosmers »Dimme-
rung«; Georg Hirschfelds »Die Miittere; wahrend Halbes »Mutter Erde«
den gegenteiligen Proze& zeigt. Der Held ist mit einer modernen Frau
verheiratet und sehnt sich nach Hause zuriick - und das Zu Hause findet er
natiirlich wieder in einer Frau, in seiner Jugendgeliebten.
Auf Tschechow wirkte die tiefste Seite des Konflikts ein, das Wesen des
Kampfes: der Mensch, der sich aus dem Alten heraussehnt, der seine Hinde
sehnsiichtig nach dem Neuen ausstreckt, und nachdem er es nicht erreichen
kann, fallt er zuriick und geht zugrunde. Wahrend wir jedoch bei Haupt-
mann den Kampf sahen, sehen wir bei Tschechow den Untergang;
»L’homme qui a voulue, sagt eine Tschechow-Gestalt iiber sich”, das trifft
aber auch fiir alle seine anderen Gestalten zu. Wie ein Sumpf verschlingt die
seelenverzehrende Atmosphire der russischen Kleinstadt oder des Dorfes
die Menschen. Hauptmanns Hermann Vockerath und Anna Mahr sahen
xt Impressionismus und lyrischer Naturalismus 391
auch nur in weiter Ferne die Zeit, in der man nach ihren Idealen leben
kénnte, in Tschechows Welt kann man davon kaum einmal triumen. Und
Hauptmanns Helden kimpfen und gehen dabei fiir gré8ere Ziele unter,
Tschechows Helden wollen nur irgendwie ihre Persénlichkeit bewahren und
auch das kénnen sie nicht. Nicht einmal der schéne Tod wird ihnen zuteil.
Aus Andrej, der einst Wissenschaftler werden wollte, wurde ein SpieSbiirger
(»Drei Schwesterne), aus Dr. Astrow und Wanja (»Onkel Wanjae) wurden
Sonderlinge und aus Tschebutykin (»Drei Schwestern«), der ebenfalls gro8
werden sollte, wurde ein heruntergekommener, trunksiichtiger Mensch. In
dieser Welt kann kein Wunsch in Erfillung gehen; die Schwestern gelangen
nicht nach Moskau, wohin sie sich stindig sehnten und auch aus Sorin wird
kein Dichter (*Die Méwe«). Und wenn auch etwas scheinbar in Erfiillung
geht, ist die Wirklichkeit ganz anders als man sie sich vorgestellt hatte, sie
taugt nichts (Ninas Schauspielerei in »Die Méwe«). Nur diejenigen fihlen
sich wohl, die nichts wollen und sich darin ergeben, daf alles so gut ist, wie
es ist.
Tschechows Dramen sind die leisesten Dramen der modernen Literatur. Es
gibt kaum Bewegung in ihnen: der Sumpf verschlingt die Menschen, der eine
windet sich starker, der andere schwicher; es ist gleich, sie miissen versin-
ken. Vom Willen oder vom Kampf kann keine Rede sein. Und die Katastro-
phen sind — wo es sie gibt - ganz grotesk unvermittelt und voller Zufille. Das
auBere Leben dieser Menschen ist voller Zufille, nur das Ende ist sicher und
notwendig. Es knalle einmal ein Schuf und ein Ruf ertént~ und nachher gibt
es wieder die alte Stille, die Stille der russischen Steppe. Auch hier wurde,
wie bei dem so andersartigen Donnay, das Drama des Undramatischen
geschrieben. Hier wachsen aber die kleinen Ereignisse des Lebens zu gefahr-
lichen Schicksalen und zu Menschen verschlingenden Ungeheuern an, und
die Passivitét der Menschen ihnen gegeniiber ist eine verkrampft hastige
Obnmacht, keine skeptische Ergebung in alles Geschehende. Diese Dramen
sind, abgesehen von Schlafs Experimenten, der konsequenteste Ausbau des
Naturalismus, sie sind die Zuendefiihrung seiner Bestrebungen. Sie sind
sogar dramatisch konzipiert, in Form eines grofen Kampfes: in Form des
Kampfes zwischen Mensch und Welt um die Hauptwerte des Lebens des
Menschen, es ist also ein solcher Kampf, der das ganze Leben bedeutet. Je
konsequenter aber die Tendenz ist, mit je reinerer Kunst sie alles meidet, was
von aufen hereingebracht wurde, desto weniger wird sie dramatisch. Den-
noch sind die Stiicke innerlich bewegungslos, sie bleiben trotz der vielen
feinen seelischen Verainderungen auf der Stelle. Eine Situation, die bereits am
392 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
Anfang des Stiickes als endgiiltig erscheint, zeigt sich am Ende als ganz
endgiiltig; nachdem die Konzeption schon infolge ihrer Natur prinzipiell
vollig unfruchtbar ist, kann sich der Kampf, der gegen sie gefiihrt wird, nur
im Hasten, in ohnmichtigen Zuckungen oder héchstens in lyrisch schénen
Ausbriichen offenbaren. Die Willen sind so gebunden und nach innen
gedringt, ihre Ausbriiche sind in so viele kleine Dinge zerstiickelt, da&
sie dramatisch nicht in Betracht kommen kénnen; sie sind unsichtbar, man
kann sie héchstens als pathologische Symptome des Seelenlebens eines
Menschen erblicken. Hier sehen wir wieder eine Grenze dieser aus dem
Naturalismus entstandenen Technik (denn Tschechow verfeinert, spiritua-
lisiert den Naturalismus blof, er steht ihm aber sehr nahe): die, da alle
Menschen im Drama noch kleiner und noch schwiacher erscheinen, als sie
konzipiert waren und als sie z. B. in einem Roman oder in einer Novelle
wiren.
4
Es fallt schon bei Gerhart Hauptmann, aber noch stirker bei seinen Anhin-
gern, besonders bei Tschechow auf, da das pathologische Element eine sehr
starke und hiufige Rolle spielt. »In der Krankhaftigkeit liegt«, sagt Alfred
Kerr, »die erlaubte Poesie des Naturalismus.«”! Das ist auch natiirlich; nicht
blo& aus dem bereits dfters besprochenen technischen Grund, da& die
Hervorhebung seine einzige Méglichkeit ist und weil der unfruchtbare
Wille, nicht einmal wenn er als solcher geplant ware, pathologisch wirkt,
sondern in erster Linie wegen der Lebensbetrachtung der Zeit und ihrer
Dichter. Denn alle Ubergange, die mit groSer Erschiitterung vor sich gehen,
wenn es nirgends etwas Sicheres im Leben gibt, verursachen die ganz
pathologische Uberspanntheit der Nerven; so da8 die Dramenhelden der
zwischen Altem und Neuem schwankenden Ubergangsepoche sich immer in
einem derartigen Zustand befinden, und je starker die eine oder die andere
Tendenz in ihnen ist, desto pathologischer werden sie. Dazu kommt auch
noch, daf die Aufstiege und Unterginge sich im seltensten Fall in grofen
auBeren Katastrophen offenbaren: der eine ist eine Ekstase, der andere ist
eine Nervendepression und beide sind mehr oder weniger pathologisch. Und
was in diesen Stiicken wirklich dichterisch sein kann, ist immer patholo-
gisch: es ist der Seelenzustand derer, die sich im alltiglichen und grauen
Leben nicht finden kénnen, deren stindig wechselnde, nervis irrationale
Stimmungen das einzige Dichterische in der sie umgebenden niichtern
gleichformigen Welt sind. Ihr Seelenzustand ist mystisch und tragisch,
xt Impressionismus und lyrischer Naturalismus 393
unberechenbar und mitreiSend und ist doch natiirlichen, sogar streng psy-
chologischen Gesetzmiafigkeiten unterworfen.
Schon bei Ibsen ist die Neigung — oder vielmehr der Zwang - sehr stark,
seine Gestalten und Helden zumindest zum Teil mit pathologischen Moti-
ven zu erkliren. Am stirksten vielleicht in »Hedda Gabler« und in »Die Frau
vom Meere«. Johannes Schlaf wurde von diesen beiden Stiicken am starksten
beeinflu&t, als er den konsequenten Naturalismus verlie& und dem Impres-
sionismus zustrebte. Das Schema von »Die Frau vom Meere« kénnen wir in
allen seinen in Betracht kommenden Dramen vorfinden (»Gertrud«, »Die
Feindlichen«, »Der Bann«). Dieses Schema ist auch die Grundlage seines
letzten, schwichsten Stiickes (»Weigand«) und sogar auch seines ersten,
noch villig naturalistischen Dramas (des schon erwihnten »Familie Selicke«,
das er scheinbar im wesentlichen selber schrieb und an dem Arno Holz sehr
wenig Teil hatte). Das Verhiltnis Tonis zu seiner Familie und zu Wendt zeigt
ebenfalls dasselbe Schema.
Bei Schlaf werden die Konflikte Hauptmanns und Tschechows noch mehr
spiritualisiert, sie werden noch ausschlieSlicher zu Konflikten der Nerven.
Die Unzufriedenheit dem gewohnten, alltaglich Prosaischen gegeniiber wird
zu einem unbestimmten Ekel; auch das Streben nach dem Neuen ist eine
ahnliche unbestimmte Sehnsucht nach aufen. Und dann siegt auch bei ihm
das Prosaische ...
Das Drama Gertruds ist das vollkommenste unter seinen Dramen. Fiir die
ganze Richtung ist es charakteristisch, da8 sowohl Schlaf als auch Donnay
und Porto-Riche sich in ihren ersten ahnlichen Stiicken am vollkommensten
ausdriicken und nachher nur Variationen dieser ersten Sticke schreiben.
Gegenstand des Stiickes ist das Zugrundegehen Gertruds im spiefbiirgerli-
chen, kartenspielenden und trinkenden, »gesunden«, echt deutschen Milieu.
Gertruds Nervositit steigert sich vom stindigen Ekel und Arger bis zur
Hysterie; wir spiiren, daf es ihr unméglich ist, in diesem Milieu zu leben. Es
scheint so, als ob eine Flucht méglich wire: ein Jugendfreund ihres Mannes,
der nach Amerika auswanderte, um frei leben zu kénnen, kehrt zuriick. Die
im Grunde genommen verwandten Naturen ziehen sich gegenseitig an
- dann bleibt aber Gertrud doch zu Hause bei ihrem Mann: den sie geliebt
hat, der geht, allein, nach Amerika zuriick. Der ganze Inhalt des Stiickes ist,
ebenso wie bei Tschechow, eine unerfiillte Sehnsucht. Nur der Kampf ist ein
wenig stirker; die Sehnsucht ist krankhafter und intensiver, vehementer und
aggressiver als bei ihm. Und das SpieSbiirgertum, das die Heldin verschlingt,
ist lauter: es sind dicke, kartenspielende, fréhliche, biertrinkende Deutsche,
394 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
so daf es trotz all seiner bewuSten Intimitiét doch etwas dramatischer ist, als
die Stiicke Tschechows.
In »Gertrud« betont Schlaf noch stark das Milieu. Es ist natirlich auch bei
ihm kein Selbstzweck mehr: es ist die Erklarung fiir Gertruds Seelenzustand,
und spielt nur insofern eine Rolle, soweit es hierzu notwendig ist. In den
nachsten Stiicken geht Schlaf noch weiter in Richtung des lyrischen Impres-
sionismus. Er will nur die hinausstrebende Sehnsucht unter Weglassung all
ihrer heraufbeschwérenden auferen Umstinde beschreiben. Damit geht
aber der Konflikt villig in Pathologie iiber. In »Die Feindlichene spielt die
Hypnose offen eine Rolle; in »Der Bann« mehr die suggestive Kraft des
stirkeren Willens. Damit verlieren natiirlich die Stiicke jegliche Allgemein-
giiltigkeit: aus ihnen werden pathologische Fille ohne jede tiefere Wirkung
oder allgemeinere Bedeutung. Schon dadurch, de® er den grofen, ethischen
Hintergrund seiner Ibsenschen Konflikte weglie8, brachte Schlaf seine Dra-
men sehr nahe an die dialogisierte lyrische Novelle, und die impressionisti-
sche Vernachlissigung des Milieus fiihrt seine Dramen noch mehr in diese
Richtung. Auch hier ist das Erlebnis lyrisch, nicht wirklich dramatisch: es ist
eine Sehnsucht und kein Kampf; der Dialog ist lyrisch und nicht dramatisch:
¢s ist andeutend, die Seelen aufdeckend, nicht dialektisch. Und es ist leicht
einzusehen, wo und wie das mit dem Verschwinden der Ethik zusammen-
hangt: im entscheidenden Augenblick gibt die Ethik, die hinter Ellidas
Sehnsucht steht, ihr einen bestimmten Inhalt, sie wird rein, erhilt ein Ziel
und macht das, was ihr gegeniibergerit klar: sie wird dialektisch. Die Ethik
verleiht aber auch der Sehnsucht selbst die Dynamik, die notwendig ist, um
die im Drama nétige Herauskristallisierung zu erreichen, und zwar nicht nur
inhaltlich, dadurch, da& sie ihr eine Richtung gibt, sondern auch formal,
dadurch, daf sie alle ihre Manifestitionen in eine Bahn lenkt, sie sinnlicher
vernehmbar macht. Wir sahen, wie sehr sich bereits auch Ibsen an der
Grenze der dramatischen Méglichkeiten bewegte und welch komplizierte
Technik und subtile, oft gekiinstelte Dialektik er bendtigte, um innerhalb
dieser Grenzen zu bleiben. Schlaf versuchte seine Konflikte ohne diese
Méglichkeiten auszudriicken, er nahm ihnen jedoch dadurch alles Dramati-
sche. (Davon ganz abgesehen, da die Zusammenkomponiertheit solcher
Menschen, die verschiedene Ethiken repriasentieren, leichter die zum Drama
notwendige Universalitat zustande bringt.) Somit sind diese Dramen nur
Experimente und Bereichserweiterungen fiir die zukiinftigen Dramatiker;
sie sind Wege, und es ist sehr problematisch, ob sie iiberhaupt zum Ziel
fiihren; sie sind keine Ergebnisse, nur Ausdrucksmittel und auch die Bedeu-
x1 Impressionismus und lyrischer Naturalismus 395
iiberhaupt keine Last vertragt. Alle haben das Schicksal, da sie in eine
Situation geraten, in der sie zu nichts anderem fahig sind, als jemanden
zugrunde zu richten (z. B. Olga in »Das grofe Gliick«, Eva in »Schnee«).
Und die Vergeltung ist unerbittlich; entweder werden sie innerlich vernich-
tet, nachdem sie die Last ihrer Taten nicht tragen kénnen (Karsten in »Das
groBe Gliick«) oder es tritt ein vergeltendes Schicksal auf, das sich an ihnen
racht; meistens mit derselben Sache, in der sie siindigten (»Das goldene
Vlies«). Das sind schon echte tragische Konzeptionen. Aber nur so wie bei
Tschechow, wie bei Schlaf: es stellt sich heraus, da& diese speziell heutigen
Zusammenstéfe um so weniger dramatisch sind, je adiquater und nicht
kiinstlich distanzierend sie einen Ausdruck erhalten. Hier geschehen alle
wirklichen Dramen ganz innerlich, sozusagen monologisch. Die andere
Partei ist nur die zufillige Ursache der inneren Dramen und die duSeren
Geschehen sind viel zu roh, um die inneren, nur im Innern vorgehenden auf
irgendeine Weise zum Ausdruck zu bringen. Aber gerade wegen dieser
vélligen Innerlichkeit mu& Przybyszewski (wie auch Tschechow) sehr
scharfe und sehr spektakulire Katastrophen bringen, die diese Dissonanz
natiirlich noch mehr verscharfen. Und die Weltordnung, die hier eine Rolle
zu spielen beginnt, ist entweder das Kind krankhafter Phantasien - und
daher noch undramatisch, weil es das Drama in der Welt der psychologi-
schen Fille bela&t; oder eine objektiv religisse Wahrheit, ein unbedingt
herrschendes Weltgesetz — und deshalb schon undramatisch, weil es jeden
dramatischen Kampf prinzipiell ausschlieBt.
Dieser Glaube an die Vergeltung ist bei Przybyszewski der interessante
Ubergang vom Zweifel an allem zum fanatischen, gedankenlosen Glauben.
Bei ihm ist das erst in dunkler Entfernung zu sehen; es ist zu sehen, daf er
damit noch nicht ganz abgerechnet hat, besonders ist es daraus ersichtlich,
da8 er auSerordentlich schwerfallige und unnatiirliche Konstruktionen ver-
wenden muB, um dies auszudriicken. Bei Strindberg trat nach der Inferno-
krise eine bis zum fanatischen Katholizismus reichende Religiositit auf.
Seiner radikalen Natur gema8 geht Strindberg auch hier sowohl kiinstlerisch
wie auch im Denken bis zur dufersten Grenze. Auf diese Weise wendet sich
Maurices Schicksal mit grotesker Prizision zum Schlechten und dann wieder
zum Guten (»Der Rausch«), je nachdem, ob er schon fiir seine Siinden genug
gelitten hatte; die Menschen sind nur noch Marionetten in der Hand dieses
Schicksals, all ihre selbstindige Handlungsfahigkeit ging verloren und diese
Macht wacht iiber alle Folgen all ihrer Taten und lenkt sie, damit sie sich
durch sie bessern; um sie auf den wahren Weg, auf den Weg Gottes zu
x1 _Impressionismus und lyrischer Naturalismus 397
5
Die Wirkung dieser Dichter auf die Entwicklung ist — ich glaube, nach dem
bisher Gesagten ist das ziemlich klar — sehr klein. Das Wesentliche betonten
wir bereits bei den einzelnen Dichtern: es besteht hauptsichlich in der
Bereichserweiterung; im starken Hereinnehmen der Pathologie unter die
Ausdrucksméglichkeiten, in der stirkeren Rolle des Nervenlebens als beim
Naturalismus, wir kénnten sagen, in der Verklirung des Naturalismus.
Damit im kausalen Zusammenhang steht die noch starkere Abstumpfung der
auch sonst leisen Akzentuierungen des Naturalismus: das intime Drama. Es
ist ein Drama, in dem noch entscheidender und ausschlieSlicher nur das
Nacheinander der seelischen Vibrationen das Interesse erweckt; in dem es
keine Fabel, keine interessanten Schicksale gibt. Was aber von allen diesen
Dingen das Wichtigste gewesen wire: die villige Humanisierung des Dra-
mas, seine gréftmégliche Anniherung an die feinsten Manifestationen des
heutigen Lebens, konnte nicht gelingen. Und auch das konnte nicht gelin-
gen, was dem Naturalismus ebenfalls nicht gelungen war: die heutigen
Ausdrucksmittel fiir den Ausdruck des »grofen« Menschen, des »Helden«
zu finden. Auch sie kénnen, ebenso wie der Naturalismus, nur den Leiden,
nur den Sehnsiichten einen Ausdruck verleihen, nur den passiv Leidenden
vollkommen ausdriicken.
Diese Dichter sind also, auch wenn sie das Gegenteil wollen, die Fortsetzer
x1 Impressionismus und lyrischer Naturalismus 399
und Entwickler des Naturalismus. Uber den Naturalismus gehen sie nur in
zwei Dingen hinaus: in der gro8eren Subjektivitit der Wahl des Gegenstan-
des und im gréferen Mut zu Auslassungen. Sonst setzen und entwickeln sie
sogar auch technisch den Naturalismus fort, manchmal auf eine iibertriebene
Weise gerade seine Fehler. Die atomisierende Intention des Naturalismus ist
auch ihre Tendenz: das Drama ist sogar, nachdem sie in erster Linie nicht die
Totalitit, sondern die Frische der Wirkung, nicht die Darstellung der Dinge,
sondern der aus ihnen ausstroémenden Stimmungen wollen, noch weniger
einheitlich, noch mehr blof eine Reihe von einzelnen Bildern. Die Gefahr
der Auflésung in Bilder hat schon den Naturalismus bedroht; hier war dies
die einzige ganz konsequente Entwicklung, denn in einem ganz auf diese
Weise geschriebenen Drama mufte jegliche Komposition eine gekiinstelte
Wirkung erwecken. Das Drama ist eigentlich entweder ein Bild und bleibt
daher von Anfang bis Ende an der gleichen Stelle (Schlafs, Tschechows,
Porto-Riches und teils Hauptmanns Dramen, die hierher gehéren), oder es
lést sich in locker zusammenhingende kleine Bilder auf (Donnay, Strindberg
usw.). Somit ist es im wesentlichen eine Einakter-Technik: es ist das
Ausdrucksmittel einer subtil, mit ironischer Lyrik empfundenen Situation.
Es driickt nur diese Situation aus, lat alles andere beiseite, diese wird aber in
allen ihren kleinsten und leisesten Regungen vollkommen ausgedriickt. Und
im Stil sind tatsichlich kleine, feine Einakter, oder vielmehr Dialoge die
reinsten Werke dieser Dichtung (Schnitzler, Jules Renard, Keyserling »Be-
nignens Erlebnis« usw.).
Das tiefste Stilproblem des Naturalismus, die Erschaffung des dramatischen
Kosmos, konnte der Impressionismus ebensowenig lésen, im Grunde ge-
nommen ist er noch weiter davon entfernt. Auf naturalistische Weise gab es
doch wenigstens die Méglichkeit der Schaffung eines Kosmos, wenn auch
ein grofer und schwerfalliger Apparat dazu notwendig war und seine
Grenzen sehr beschrankt waren (»Die Weber«). Hier nahert sich das Drama,
nachdem man die vom Naturalismus geforderte Totalitat beiseite lie8 und
nur das beibehielt, was fiir den Ausdruck subjektiver, lyrischer Simmungen
geeignet war, noch stirker der Novelle an als im Naturalismus. Auch die
Psychologie fihrt es dorthin: sie wird immer feiner, aber auch immer
einseitiger, ganz bis zur Pathologie einseitig. Deshalb, und weil die Schicksa-
le, die im Mittelpunkt der Dramen stehen, infolge der lyrischen Natur der
Stiicke immer subjektiver werden, entfernen sie sich noch mehr von der vom
Drama geforderten grofen und unerbittlichen Notwendigkeit und nahern
sich den interessanten Fillen der Novellen. Halbes »Jugend« ist dafiir
400 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
den Symbolen zu, die auch ihrem Meister in dieser Hinsicht von so grofer
Hilfe waren. Wir sahen bereits bei Ibsen die Gefahrlichkeit der Symbole, wir
sahen, daf nicht einmal seine grofe Virtuositit eine a priori nicht existieren-
de Allgemeingiiltigkeit mit der Symbolisierung nachtriglich ersetzen kann.
Bei Ibsen wird in solchen Fallen aus dem Symbol eine Allegorie; bei diesen
Dichtern hingegen entsteht nicht einmal so viel, nur ein Ornament. Es wird
tiber eine Sache, die dann den Titel des Stiickes hergibt (Tschechow: »Die
Mowe, Przybyszewski: »Das goldene Vlies«, »Der Schnee« usw.) an einer
auffallenden Stelle auffallend viel gesprochen; wahrend des Gesprichs wird
darin eine Eigenschaft gefunden, die zum Schicksal des Helden oder der
Heldin paft, um dann bei allen wichtigen Gelegenheiten diesen Zusammen-
hang stark zu betonen. Die erzielte Wirkung ist aber nicht mehr, als da8 wir
im unendlich subtilen Dialog die Gekiinsteltheit dieses Vergleichs doppelt so
stark empfinden. Das Symbol dient aber auferdem auch zur sinnlichen
Projizierung des rein seelischen Geschehens. Hier ist es natiirlich ebenso wie
dort blo& cin Ornament, es ist sogar neben der grofen Feinheit der Dramen
oft sehr stérend.
Dieser Impressionismus war also infolge seiner Natur auch nur eine Uber-
gangsstufe der Entwicklung des Dramas und konnte daher in den gesunden
und klar hinaufstrebenden dichterischen Entwicklungen auch blo& ein
Ubergang sein. Seine auSerordentliche Gefahrlichkeit erwies sich jedoch
gerade im Hinblick auf die Entwicklung der einzelnen Menschen sehr bald.
Bei der Besprechung der einzelnen Dichter fiel vielleicht auf, da8 bei den
meisten ihr erstes Stiick zugleich das beste ist und was danach folgt, nur eine
Variation des Themas des ersten Stiickes (Porto-Riche) gewesen ist, was im
besten Fall damit verbunden ist, da& das zweite und die danach folgenden
Stiicke nicht schlechter sind als das erste (Tschechow). Das hat seine
natiirliche Ursache. Der hier charakterisierte Impressionismus ist im wesent-
lichen lyrisch, er bringt ein seelisches Erlebnis unmittelbar auf die Biihne.
Das verursacht seine auferordentlich frische und starke Wirkung, aber auch,
da& es im seltensten Fall zu einer ohne grofe Gewalt allgemeingiltigen,
kosmisch giiltige Gesetze umfassenden Weltanschauung ausweitbar ist, ob-
wohl nur das die Grundlage der Entwicklung des Dramatikers sein kann;
alle rein subjektiven, lyrischen Erlebnisse haben nur ein Drama, und derjeni-
ge, der es schrieb und keine Fahigkeit zu einem neuen Erlebnis hat, bleibt
unfruchtbar. Entweder muff er das Alte wiederholen oder — das ist leider
meistens der Fall - er wird, nachdem seine dichterische Invention erschépft
ist, zum Handwerker (Donnay, Hirschfeld, Halbe usw.). Schlafs vorlaufig
402 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
unfruchtbares Experimentieren ist noch menschlich und kiinstlerisch der
erfreulichste Fall.
Warum ist das so? Wir miissen nun wieder an die seelischen Grundlagen
dieses Impressionismus erinnern. Wir fanden, daf die Grundlage das radika-
le, nihilistische Zweifeln an allem, die Einheit der Relativitat aller Werte und
Wertungen und die vergebliche Sehnsucht nach etwas ist, was uns aus der
verhaften und doch starken Wirklichkeit herausheben kénnte. Und wir
sahen auch bereits das Ende davon: den Umschlag in den blinden Glauben,
in den religidsen Fanatismus; nach dem ewigen Fragen folgt der Glaube an
alles; nach der stindigen Bewegung die ewige Ruhe. Und beide Extreme
befinden sich bereits auSerhalb der Méglichkeit alles Dramatischen; bei
beiden gibt es keinen Kampf. Im wesentlichen wegen derselben Ursache,
wegen der Miidigkeit, Blasiertheit, Kraftlosigkeit; nachdem dieser Glaube
aus derselben Quelle, aus der vélligen Ratlosigkeit und aus der Unfahigkeit,
irgendwo ein Ziel zu finden, entspringt, war er ebenso zersetzend wie die
Unglaubigkeit. Hebbels und Ibsens tiefe, tragische Weisheit, die die Relativi-
tat aller Dinge einsah, war fiir den modernen Relativismus das vorhergehen-
de Stadium. Hier wurde daraus nur ein feines, zynisches, Zweifeln, jene war
positiv, diese ist jedoch villig negativ. Und diese Negativitit, diese menschli-
chen Ursachen verhindern ihre Entwicklung. Teils weil sie sie in ihrer
Unfruchtbarkeit belie& - die Grenzen der Technik fallen wieder mit den
Grenzen der Erlebnisfihigkeit zusammen -, teils weil sie sie zu solch
unfruchtbaren Zielen fiihrte, in deren Richtung sie sogar selbst ihre kiinstle-
rischen Feinheiten Gefahren aussetzen. Auch die grofen franzésischen
psychologischen Romanciers waren erschépft und sie wurden entweder zu
Handwerkern oder sie flohen miide in einen nationalistischen und religiésen
Mystizismus (Bourget, Barrés, Huysmans usw.).
Somit wurde dieser Impressionismus blof& fir diejenigen nicht gefahrlich,
die, wie Hauptmann und Strindberg, mit ihm nur experimentierten. Bei
Hauptmann ist der Relativismus auch sonst nichts anderes als das tiefe und
andichtige Empfinden der Gleichberechtigung aller stark empfundenen
Dinge, der gleichen Kraft aller Notwendigkeit. Fiir ihn konnte diese Epoche
- sowohl kiinstlerisch wie auch menschlich - nur eine Ubergangsepoche
sein. Sie war fir den ewig experimentierenden und sich entwickelnden
Strindberg noch viel mehr als ein Ubergang: sie war eine Niedergeschlagen-
heit nach einer grofen seelischen Erschiitterung. Fiir Schnitzler war die
Situation gefahrlicher. Er spiirte jedoch sehr frith die Gefahrlichkeit seiner
Lage, und nach der Suche, die ein paar Jahre andauerte, als er teils in sozialen
xu Maeterlinck und die dekorative Stilisierung 403
Themen irgendeinen festen Boden suchte, um einen Halt zu finden, teils die
Abwagung der Relativitit von allem ganz bis zum unfruchtbaren Spiel
fahrte, vertiefte er das Gefiihl der Einsamkeit sehr, worin, zwar unausge-
sprochen, auch die hauptsichlichste Schonheit seines ersten Stiickes bestand,
und dadurch fibrte er es in Richtung des dramatischen Ausdrucks.
druck finden konnte; wenn sie ihr auch oft nahe kam (z. B. bei Maeterlinck),
war sie dennoch die privilegierte, die auferordentliche, die tiefste und die
feinste heutige Seele, obwohl die unmittelbare Ursache ihrer Manifestation
auch trivial sein konnte. Auch die Schénheit ist meistens nicht die Schénheit
des alltaglichen Lebens - obwohl das Maeterlincks Programm war -, son-
dern die der gréften Augenblicke. Und sie erschien immer durch die das
Leben stilisierende, im Leben Schénheiten findende Wirkung der bildenden
Kiinste umgeformt, verwandelt. Auch sein Pathos ging aus einer stilisieren-
den, stark iiber das Alltagliche gesteigerten Sprache aus (vers libre), wahrend
die Impressionisten einen naturalistischen Dialog bis zum Pathos steigern
wollten. Hier war blo8 davon die Rede, diese Sprache voll dichterischen
Pathos, die doch das moderne Leben ausdriickt, in das Drama hineinzutra-
gen und nicht von der Erschaffung einer neuen dramatischen Sprache.
Der »vers libre« entstand gleichzeitig mit dem Naturalismus, und in seiner
inneren Technik war er ihm auch sehr ahnlich. In seiner Technik strebte er
ganz programmgemaf dasselbe an wie der Naturalismus: die alten starren
Rahmen aufzulésen. Er fithrt somit in sein Versmaf ungerade Versfii8e ein
und die Abwechslung der ungleich langen Verszeilen nach dem augenblickli-
chen Rhythmus; bei den Reimen fiihrt er an Stelle der orthographischen
Reime die Klang-Reime und die Assonanzen ein (z. B. bei Verlaine reimen
assive und naif, bei Maeterlinck dire und mourir, sandales und mal usw.). In
ihrer Sprache versuchten sie, sich von der Rhetorik ihrer Vorginger zu
befreien, und strebten nach Musikalitat und Stimmung, wie es Mallarmé
sagte: »ils tendent 4 mettre plus d’air dans le poéme«”*, auch mit diesem Bild
wies er auf den parallelen Weg zur modernen Malerei hin. Und ihre Natur-
und Menschenbetrachtung war ebenfalls mit dem Naturalismus verwandt.
Die Natur ist keine Dekoration der menschlichen grofen Dramen wie bei
den Romantikern, sie ist auch nicht blof ein Bild (oder eine Statue oder
Architektur), wie bei ihren unmittelbaren Vorgangern, der »Parnassiens«,
sondern zwischen ihr und dem Menschen ist ein mystisch starkes, aus dem
besonderen, paradoxen Gegensatz der Nahe und der Entfernung zustande
gekommenes Verhiltnis. Man kann die Natur nicht vom Menschen trennen.
Es gibt keine Gefiihle und Gedanken, die unabhingig vom Ort und von der
Zeit wiren, in der sie entstanden. Sie verschmilzt aber doch nicht ganz mit
ihm, in der Natur gestaltet sich alles auf Grund der Strablen, die aus der im
Innersten stindig einsamen Seele auf sie fallen, je nachdem in welcher
Stimmung die Seele sie betrachtet und sieht. Es ist eine Milieutheorie fir
Dichter. Diese Lyrik will nur Seelenzustiinde ausdriicken, sieht aber nir-
xu Maeterlinck und die dekorative Stilisierung 407
gends welche, die von der Natur getrennt waren, und somit sind ihre
Symbole nichts anderes als die Verschmelzungen eines den Seelenzustand
zustande bringenden Phinomens und des Seelenzustands selbst. Nur der
Seelenzustand ist wichtig. Alle Mittel sind recht, die ihn ausdriicken, und
alles ist unniitz, was man nicht dafiir verwenden kann. Die franzdsische
Lyrik gerit unter starke nordische Einfliisse. Es ist kein Zufall, da8 die den
Germanen niher verwandten Belgier (Maeterlinck, Van Lerberghe, Roden-
bach, Verhaeren usw.) und sogar die von fremder Herkunft (Kahn, Vielé-
Griffin) stark dominieren; selbst die Franzosen geraten stark unter den
Einflu8 der deutschen, englischen und amerikanischen Literatur. Poe, Hoff-
mann und Heine waren bei den franzésischen Dichtern seit langem popular.
Nun beginnen Novalis und die deutsche Romantik, Wagner, Nietzsche,
Ibsen, Swinburne, Dostojewski, nacheinander zu wirken - ich zahle hier nur
einige wichtige Namen wahllos auf. Musik und Stimmung sind die Ziele
dieser Lyrik. Es entsteht etwas, wofiir die Franzosen nicht einmal ein Wort
hatten, so da8 man das deutsche iibernehmen mufte, das Lied.
Diese Obereinstimmungen beziehen sich natiirlich nur auf die innersten
seelischen Tendenzen (und auf deren technische Manifestationen), die selbst
die Dichter als so selbstverstindlich empfinden, da& sie sie kaum zur
Kenntnis nehmen. Diese sind blof im Hinblick auf ihre unmittelbaren Ziele
far sie wichtig, sie sehen nur die unterdessen bestehenden starken Unter-
schiede. So geschah es, daf die fiir den vers libre kampfenden Lyriker sich im
starksten Gegensatz zum Naturalismus empfanden, obwohl die Unterschie-
de sich eigentlich nur aus der Unterschiedlichkeit der Stoffe ergaben. In der
Lyrik braucht man nicht den grofen Apparat des naturalistischen Dramas,
man hiite ihn auch nicht in Anspruch nehmen kénnen; es geniigte, alles nur
gerade anzudeuten. Und nachdem nicht die Dinge selbst eine Rolle gespielt
haben wie im Drama, sondern nur ihre in die Seele projizierten Reflexe,
erschien der Mensch in den Gedichten nicht so sehr von seiner Umgebung
erdriickt wie der des Dramas. Er war freier, wenn auch nur formal, nicht
wirklich; wenn er auch ebenso sehr mit der Umgebung verbunden war und
ebenso unter ihrer Herrschaft stand. Aber schon deshalb stand er dem
Pathos naher. Dazu kommt noch, da das Gedicht nur eine seelische Realitat
erfordert, die duSere ist ihm véllig gleichgiiltig. Der Traum, das Phantasie-
ren, die von der Kunst gebildeten Gegenstinde spielen darin die gleiche
Rolle wie die Aufenwelt selbst. Und nachdem hier - schon wegen des
Umfangs des Gedichtes - nur das Malerische und kein pragmatisches,
kausales Verhaltnis den Zusammenhang zwischen Menschen und Welt,
408 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
1
Der natiirliche Ubergang von der Lyrik zum Drama ist die Ballade, beson-
ders bei einer Lyrik, die ohnehin gerne einen grofen Teil der Fakten in einen
mystischen Nebel hiillt: die zwar einerseits sehr scharf gesehene Situationen
darstellt, jedoch andererseits die Zusammenhange nur ahnen lat; die tiefe
seelische Tragédien zeichnen will, ohne den Ort oder die Zeit bestimmt und
wahrhaftig zu machen. Maeterlincks Lieder sind eigentlich lauter Balladen.
Es ist unméglich, ihre Inhalte zu erzahlen, denn es gibt in ihnen kaum ein
tatsichliches Geschehen. Sie sind in eine Strophe gedrangte Tragédien: sie
stellen die Kimpfe, die Suche, die Sehnsiichte und die Unterginge der
xi Maeterlinck und die dekorative Stilisierung 409
Menschen dar. Wir sehen zwar die Menschen nicht, wir wissen nicht, wer sie
sind, warum sie leiden, warum sie zugrunde gehen, und trotzdem wirken
diese Gedichte auSerordentlich stark. Warum? In allen ist nur das Gefiihl
selbst mit den mdglichst einfachen und unmittelbaren Worten ausgedriickt
und sonst nichts. Somit wirkt nur das Gefiihl, befreit von allem, was
eventuell die Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken kénnte.
Maeterlincks Dramen sind solche Balladen. Sie sind der Ausdruck eines
tragischen Gefiihls, sie lassen alles beiseite, was nicht notwendigerweise
dazugehort, driicken aber das Gefiih! selbst ganz einfach und natiirlich aus.
Sie sind Balladen, und damit ist vielleicht schon ganz genau bestimmt,
‘warum seine Dramen sich im Vergleich zum Naturalismus dem wahren
Dramatischen nahern und warum sie sich von einem ganz anderen Gesichts-
punkt her noch mehr davon entfernen. Die Ballade ist das dem Drama am
nachsten stehende Gedicht, aber auch die dramatischste Ballade wire zutiefst
undramatisch, wenn wir sie in dramatische Form setzen wiirden. Der
hauptsachliche Unterschied ist vielleicht das Folgende: die Ballade stellt nur
einen Fall dar und keine Welt, nur eine Schicksalssituation und kein Schick-
salsverhiltnis; der Gegenstand der Ballade ist nicht notwendigerweise ein
Kampf, und wenn er einer ist, kann er auch ganz duferlich sein, es kann nur
ein Ringen der Taten, der rohen Krafte, nicht der Willen sein; die Menschen
der Ballade kommen miteinander nicht in Berihrung, es gibt keine Wechsel-
wirkung zwischen ihnen. Die Menschen der Ballade sind auch keine Men-
schen, sie sind es zumindest nicht im Sinne des Dramas - nicht einmal im
Sinne des Dramas, das am meisten stilisiert, nur auf ein Schicksalssymbol
komponiert ist. Sie werden dort auch nicht benétigt: Gegenstand der
Balladen ist immer eine Tat oder eventuell die Spiegelung einer Tat in der
Seele eines Menschen. Vom Menschen bendtigt sie nur gerade so viel und
wegen ihrer Form, ihrer Grenzen und Méglichkeiten kann sie von ihm nur
so viel ausdriicken, wie dazu unbedingt notwendig ist. Sie driickt also
ausschlieBlich Eigenschaften der Seele des Menschen aus, durch die diese Tat
entstanden oder die infolge dieser Tat in ihr zutage kommen. Gegenstand
der Ballade ist das Verhiltnis zwischen einer Tat und einem durch eine oder
mebrere Eigenschaften symbolisierten Menschen, und nur dies allein. Da der
groBte Teil ihrer Wirkung in ihrer Kiirze, Zusammengedringtheit, Wort-
kargheit, Abgehacktheit besteht, stellt sie sogar von beiden nur das unbe-
dingt Notwendige dar, sie lat alle charakteristischen, abrundenden Neben-
umstinde und nebensichlichen Ziige beiseite. Sie zeichnet im méglichst
wortwortlichen Sinne die »allgemein menschlichen« Seiten der an den Taten
410 Die Entwicklung aus dem Natwralismus
sagt, das, was Wagner mit der Musik ausdriickt, mit seinen Worten anzudeu-
ten, zu berithren und im Zuhérer zum Leben zu erwecken.”
Die Gedichte waren solche Balladen: im Schatten eines besonderen und
nicht klar sichtbaren Geschehens erténen diese tief allgemeinen Tone. Es ist
nur ein Begleitbild, kaum von der Musik der zu einfaltiger Einfachheit
stilisierten Worte angedeutet; nur eine Geste oder der Glanz eines Farbflecks
zerrei&t das graue Dunkel, das die Stimmung bedeckt. Auch die Dramen
sind solche Balladen, nur war es nicht méglich, in ihnen alles aufer dem
Hauptgefiihl so souverin zu iibergehen wie in den Gedichten. Dort reichte
ein Wort an der geeigneten Stelle aus, um eine solche seelische Landschaft
vor uns zu zaubern, die gerade bendtigt wurde; dort reichte es aus, einen
Seelenzustand zu erleben, wir selbst schufen — unserer Stimmung entspre-
chend - den dazugehdrenden Menschen. Im Drama war aber doch mehr
konkrete Realitat notwendig, wenn auch Maeterlinck sie, soweit es méglich
war, reduzieren wollte. Erstens wollte er jegliches Geschehen aus dem
Drama ausmerzen (auch hier beriihrt er den Naturalismus), damit das innere
Geschehen durch nichts gestdrt werde; dann lief er bei seinen Menschen alle
Zige und Eigenschaften weg, die sich nicht auf ihre Schicksale bezogen; den
Ort und die Zeit betreffend hob er jegliche Realitit auf. Nicht als ob seine
Menschen unabhingig von der sie umgebenden Natur leben wiirden; es gibt
kaum Dramen, in denen die Natur so stark in den Farbton jedes einzelnen
Wortes hineinspielen wiirde wie hier, aber es spielt eben blo& die Natur
hinein, sie ist ebensowenig konkret umgrenzt wie alles andere. Wichtig ist,
ob ein Gesprich auf dem Balkon oder in einem Turm stattfindet, wichtig ist
der tiefe Brunnen im Schatten hoher Baume; die Wolken, die den Mond
verdecken, oder die Schafherde, die tber die Biihne geht, spiegeln sich im
Dialog; unwichtig ist nur, wo sich dieser Turm und dieser Balkon befindet.
All das sind aber nur Mittel der dekorativen Lyrik, es ist nur der neue Weg
zur sinnlichen Projizierung der Gefiihle, es gibt noch nichts Dramatisches
darin. Diese Gefiihle kénnten dramatisch sein, es ist aber iiberhaupt nicht
notwendig, daf sie es sind. Der Hintergrund von Maeterlincks Menschen ist
im wortwéortlichen Sinne ein Hintergrund. Es ist ein stummer, nur die
dekorativen Wirkungen steigernder, mit seinen Linien nur den Linien der
Gesten ein gréferes Gewicht verleihender Hintergrund der Geschehnisse.
Die Menschen sind allein, haben keinen Kontakt mit ihm; er spielt nicht in
ihr Schicksal hinein, er stért nicht dessen Einfachheit und Einlinigkeit. Aber
gerade deshalb macht er es auch nicht dramatisch.
Samtliche Dramen Maeterlincks schwanken in allen ihren Teilen zwischen
xu Maeterlinck und die dekorative Stilisierung aly
Realitat und Irrealitit. Alle seine Stiicke spielen sich, um seinen eigenen
Ausdruck zu gebrauchen, in der Atmosphire der Seele” ab, und nur ihre
Realitat ist fiir ihn wichtig. Wir sagten schon, da& Maeterlinck nur Gefihle,
die Gefiihle der Menschen dem Zufall, dem ewig Unerforschlichen gegen-
tiber ausdriicken will. Er will jene auferen oder inneren Krifte ausdriicken,
die nicht weiter analysierbar sind, deren unwiderstehliche, immanente Kraft
aber von allen empfunden wird. Die Menschenzeichnung des modernen
Dramas war schon lange bestrebt, die Gegensitze zwischen Denken und
Gefahl, dem Willen und den Instinkten, den Uberzeugungen und dem
Schicksal des Menschen zu versinnlichen. Bei Maeterlinck wird das zum
ausschlieflichen Ziel. Nur wenige empfanden die Nichtigkeit aller selbstbe-
wu8ten Elemente den elementaren Phinomenen gegeniiber so stark wie er.
Er zweifelt nicht mehr an der Kraft des Willens und des Entschlusses,
sondern er leugnet, daf sie iiberhaupt zu etwas fahig ist. Seine Menschen
leben in vélliger Einsamkeit. Es gibt nicht nur keine Beziehung zwischen
dem einen und dem anderen, sondern sogar das Tiefste des eigenen Seelenle-
bens bleibt allen fiir immer unerkennbar. Sie wissen nicht, sie kénnen nicht
wissen, was im nichsten Augenblick mit ihnen geschieht. Nicht nur deshalb,
weil feindliche Michte um sie lauern, deren Angriffen sie kaum widerstehen
kénnten, und sie nicht sicher sein kénnen, wann sie sich auf sie stiirzen
werden, sondern deshalb, weil sie auch davon keine Ahnung haben kénnen,
wie ihre eigenen Seelen den Angriff des Schicksals aufnehmen werden.
Deswegen verliert Maeterlincks Dialog jegliche Realitat. Die Worter haben
wortwortlich genommen iiberhaupt keinen Sinn, oder es ist zumindest nicht
wichtig, was ihr Sinn ist. Die Wérter sind nur Zeichen fiir den Ausdruck
seelischer Geschehen; sie haben nur eine musikalische Bedeutung: ihre
Tempi, Rhythmen, Pausen driicken mehr als ihre Inhalte das aus, was wir
wissen miissen. Die Pausen sind am ausdrucksvollsten in diesem Dialog, die
Pausen, in denen zwei Seelen bangend einander suchen oder in einem
selbstvergessenen Augenblick sich jubelnd umarmen; oder wenn das Schick-
sal pldtzlich, ohne daf sie es sehen oder héren wiirden, auf einmal vor den
Menschen steht. Das Sprechen ist nur der Kommentar zu diesen Pausen; es
zeigt nur im grofen und ganzen, was ungefahr in den Menschen vorgehen
mag. Das ist die gréftmégliche Verfeinerung des Dialogs. Wenn in einem
Menschen eine Verainderung vorgeht, erfahren wir es frihher als er selbst; das
‘Tempo seiner Sprache wird schneller oder langsamer als gewdhnlich, die
Bilder seiner Sprache werden intensiver oder blasser; derjenige, der niemals
Fragen hatte, hat sie nun, und es wird derjenige still sein, der gesprachig zu
416 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
sein pflegte. In dieser leisen, tonlosen Welt ist eine einzige Sache mit
schneidender Scharfe akzentuiert: die Einsamkeit und das Einander-nicht-
Verstehen der Menschen. Spride, hart, ohne Nuancen sprechen die Men-
schen aneinander vorbei; es achtet einfach keiner darauf, was der andere
sagt, sie setzen nur ihre eigenen Gedanken fort, und lange Dialoge bestehen
aus solchen sich aneinanderkniipfenden Monologen.
Auch im Wesen dieser Sprachstilisierung war also etwas aus dem Wesen des
Naturalismus enthalten: Das Unausgesprochene herrscht immer stirker und
starker iiber den offenen Ausdruck, die Begleitung iiber die Melodie. Man
kénnte sogar sagen, daf Maeterlinck hier nur die letzten Konsequenzen aus
dem Naturalismus zieht. Der Unterschied ist aber auch hier derselbe wie
tiberall sonst. Und nachdem der Dialog die Spiegelung von allem ist, ist
dieser Dialog sowohl einfacher als auch komplexer als der des Naturalismus,
er ist sowohl niher als auch entfernter vom Dramatischen als dieser. Er ist
einfacher, weil hier die vielfaltigen Zusammenhinge selbst, zu derem Aus-
druck der Naturalismus entstand, fehlen; er ist komplexer, weil das, was
diese vielen Zusammenhinge dort bewirken, hier einen reichhaltigeren,
vielfarbigeren, komplizierteren Ausdruck erhiillt. Maeterlincks Dialog wire
also ein reicheres Extraktum des naturalistischen Dialogs - diese Formel
vereinfacht aber vielleicht zu sehr das Verhiiltnis beider zueinander. Denn
infolge der Vereinfachung gehen viele seelische Werte verloren, demgegen-
tiber entstehen blo& infolge der Zusammengedrangtheit wiederum neue.
Dadurch nimlich, da& seine Menschen die Abhingigkeit von ebenso vielen
Dingen empfinden wie die des Naturalismus, wihrend nur ihre Abhingig-
keit von einigen Dingen zum Ausdruck kommt, diese jedoch mit viel
gréRerer Intensitat, verindert sich der Ton der Dialoge. Seine Menschen
scheinen somit sowohl abhingiger als auch unabhangiger zu sein: sie schei-
nen kleinen Dingen gegeniiber unselbstindiger, den wirklich groSen Dingen
gegeniiber ohnmichtiger zu sein. Sie scheinen in einer grd®eren Entfernung
von uns 2u sein, weil die Manifestation ihrer Seele eingleisig, einfach und
monumental ist; sie scheinen aber doch in einer intimeren Nahe zu sein, weil
nur die intimsten, die leisesten Tone erklingen. Ebenso ist der Ausdruck der
zwischenmenschlichen Beziehungen vereinfacht, weil nur das »Wesen« der
Beziehung einen Ausdruck erhiilt, aber die Beziehung selbst ist komplizier-
ter. Im Dialog herrscht, um den Vergleich, den wir beim Naturalismus
verwendeten, zu wiederholen, noch stirker die Begleitung iiber die Melodie;
so stark, da& sie sie fast véllig erdriickt. Was anderswo iiberhaupt nicht
ausdriickbar war, zu dessen Andeutung der Naturalismus einen ganz grofen
xut Maeterlinck und die dekorative Stilisierung 417
Apparat bendtigte, wird hier der einzige Inhalt des Dialogs. Das Dramati-
sche ist aber der mittelbare Ausdruck solcher Dinge, die unmittelbar nicht
ausdriickbar sind; es ist die sich in der Gesamtheit von Taten, Gesten und
Worten vereinende Suggestion dessen, was man in Worten nicht sagen kann
durch intellektuelle und sinnliche Mittel. Hier erhalt das Unsagbare einen
unmittelbaren Ausdruck. Zwar nicht in den Worten selbst, aber so nahe an
ibnen, wie es nur ohne offenen Verzicht iiberhaupt mdglich ist. Hebbel und
Ibsen formulierten alles bis zum Aufersten, der »gedankenlose« und lockere
Dialog des Naturalismus war auch dagegen ein Protest. Es ist ein Versuch,
auf Umwegen dorthin zu gelangen, wohin die geraden Wege nicht fiihren,
mit der Begleitung das auszudriicken, was nie ganz zu einer Melodie werden
kann. Maeterlinck fiihrt dieses Experiment des Naturalismus in einem Mafe
und so konsequent durch, was natiirlich nur die Spiegelung dessen im Dialog
ist, da8 er das Problem weniger abstrakt ausdriicken will, da er es iiber-
spannt und an der entgegengesetzten Seite ankommt. Die Leisheit seines
Dialogs unterstreicht das, was zwischen den Zeilen ist, mit einer Kraft, da
es ebenso stark ausgesprochen, ebenso abstrakt gedanklich ist, wie bei
Hebbel oder Ibsen - es ist eben nur nicht in Worte gefaft. Was aber
wesentlich neu und gro8 im Dialog des Naturalismus war, daf dies nur
versinnlicht, aber in keiner Form abstrahiert war, ging hier wieder verloren.
Maeterlincks Sprache ist, obwohl sie im ersten Augenblick atmosphirischer
als die des Naturalismus erscheint, in dieser Hinsicht doch ein Riickfall im
Vergleich zu ihm. Hier ist natiirlich iiber den Dialog als der Spiegelung der
Probleme des Dramas die Rede; als Erscheinungsform der Seelen sind seine
Ziele und seine Mittel - wir sahen es - ganz andere.
Das bestimmt auch ihr Verhaltnis im Dramatischen zueinander: im ersten
Augenblick erscheint es als Fortschritt, weil wegen der Einfachheit der
Gebundenheit alles leichter in einer symbolischen Geste oder Handlung
zusammengedringt werden kann. Im wesentlichen ist es aber weniger
dramatisch, weil diese Art der Gebundenheit auferhalb der Méglichkeit
jeglichen dramatischen Ausdrucks liegt. Gewif herrscht in der Tiefe aller
Dramen dasselbe Schicksal wie bei ihm; jegliche Gebundenheit ist nur ein
Symbol der groBen Gebundenheit, die der einzige Gegenstand von Maeter-
lincks Dramen ist, das Ende, der Grundton und der tiefste Inhalt aller
tragischen Kampfe ist die niederschmetternde Kraft des Schicksals, die in
diesen Dramen ausgedriickt wird. Maeterlinck driickt aber nur das, nur das
Reinmenschliche im Wagnerschen Sinn aus. Er wirft sogar auch theoretisch
die Frage auf, ob die bizarren Besonderheiten von Macbeths, Othellos
418 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
Erginzen diejenigen in der Phantasie hinzufiigt, die fehlen. Sie sind Mario-
netten in dem Sinne, wie Schiller die Menschen der griechischen Dramen,
deren individueller Charakter gerade nur darin besteht, wieviel davon fiir
ihre dramatischen Situationen unbedingt notwendig ist, in einem Brief an
Goethe als »idealische Masken« bezeichnet.™ Sie sind auch in dem Sinne
Marionetten, da& es in ihnen nichts rein von innen Ausgehendes, keinen
Willen gibt, alle ihre Bewegungen werden durch das Ziehen an Drahten
~ wenn auch an unsichtbaren — zustande gebracht, ebenso wie die Marionet-
ten. Aber das Wesen dieses Stils, das sich aus dem Ziehen an Drahten ergibt,
die Steifheit, die Erstarrung in einzelnen Bewegungen, die Ubergangslosig-
keit der Bewegungen ist bei ihnen nicht vorhanden. Im Gegenteil, ihr Wesen
ist voller Nerven, Atmosphire, Feinheit, Vibration, Flexibilitét und voller
leiser und langsamer Verinderungen der stindigen Uberginge. Wenn die
Marionetten nur Kérper haben, haben sie nur Seele; in diesem umgekehrten
Sinne sind diese Gestalten vielleicht doch Marionetten.
Das tragische Schicksal dieser Wesen kann aber doch nur lyrisch tragisch,
nur balladenhaft sein. Der Determinismus, die Notwendigkeit herrscht hier
zwar so stark, wie vielleicht nirgend anderswo — wie alle ernsten Versuche in
Richtung der modernen Tragédie, fiihrt auch dieser zur Schicksalstragédie
~ die Beziehung zwischen Menschen und Schicksal ist aber zu einfach, um
ein echtes Drama um diese Beziehung aufbauen zu kénnen. Das Wesen der
Technik Maeterlincks, die den Determinismus ausdriickt, ist es namlich, da8
es auch keine andere Moglichkeit gibt als die, die sich einstellen wird; wenn
der Tod das Schicksal ist, kann das auch nicht anders kommen; selbst die
Illusion einer anderen Moglichkeit in dieser Welt ist ausgeschlossen. Eine
solch starke Steigerung der Intensitit der Notwendigkeit vermindert aber
nur ihre Extensitit, aus ihrer Ausdehnung auf alles wird eine Ad-hoc-Not-
wendigkeit, aus ihrem Alles-Umfassen ein Fall. Ungefihr so wie in der
Logik: wenn der Kreis eines Begriffs sehr weit wird, wird er ganz leer, sein
Inhalt geht verloren. Hier ist das Schicksal so unendlich allgemein, auf alles
bezogen, da& es keine Tat oder kein Geschehen gibt, das es ausdriicken,
umfassen und somit dramatisch machen kénnte. Was geschieht, ist nur ein
Fall, kein Schicksalssymbol. Das Gefiihl des Unendlichen offenbart sich
irgendwo in seinem Umkreis, in den Gefihlen, die es hervorrief, es offenbart
sich lyrisch; und das Geschehen selbst wird um so balladenhafter, je mehr
Dramatisches seine Teile enthalten. Denn technisch unterscheidet die Balla-
de vom Drama, was die einzelnen, an sich genommen stark dramatischen
Szenen verkniipft. Diese unendlich strenge kausale Beziehung des Dramas,
xu Maeterlinck und die dekorative Stilisierung 423
die tber den Fall und iiber den sich darin befindenden Menschen hinausgeht,
weil sie Weltgesetzmafigkeiten ausdriicken will, ist in der Ballade blo&
pragmatisch. Dort ist die Illusion der Notwendigkeit erforderlich, hier nur
die der Méglichkeit. Bei Maeterlinck ist die Situation natiirlich komplizier-
ter: auferhalb des Dramas, in der Lyrik, die das Drama begleitet - wagne-
risch ausgedriickt: im Orchester -, ist die groSe Notwendigkeit gegeben.
Diese ist aber so stark, so allgemein, da& sie das Drama nur begleitet, nur
umgibt und nicht mit ihm verschmilzt, deshalb bleibt die Struktur des
Dramas balladenhaft. Im Drama kann die Einheit nur in dieser Gesamtheit,
in dieser kosmischen Wirkung liegen. Die Einheit der Ballade ist episch (die
Einheit der Person oder des Falles) oder lyrisch (die Einheit der Stimmung).
Das ist einerseits die technische Konsequenz der zum Ausdruck kommen-
den Weltanschauung, der vollkommenen Irrationalitat, Unerkennbarkeit
und des Geheimnisses des Schicksals, andererseits die der Primitivitit der-
Menschenbetrachtung ~ bzw. der Menschenzeichnung. Deshalb kann der
Kosmos, die ganze Welt umfassende Synthese, die das wahre Wesen des
Dramas ausmacht, die gerade der hauptsichlichste, trennende Unterschied
zwischen Ballade und Drama ist, nicht entstehen. Maeterlincks Stiicke
kénnen nur balladenhaft tragische Fille sein, nachdem seine Menschen, seine
Geschehnisse und Geschicke mit konsequenter Einseitigkeit nur die seeli-
sche Welt umfassen. Sie sind mal mehr, mal weniger allgemeine Falle; ihre
Allgemeingiiltigkeit ist manchmal niederschmetternd stark, sie kann aber
einen Fall nicht tragisch notwendig machen. Man kénnte sagen: die Allge-
* meinheit eines Falles ist immer induktiv, unsere Erfahrung kann sie verstér-
ken oder umstofen oder sie kann einen anderen Fall finden, der sich seiner
Notwendigkeit nicht widersetzt, der etwas ganz anderes zeigt und eventuell
ebenso allgemein ist. Die wahrhaft tragische Notwendigkeit ist immer
aprioristisch und deduktiv, und man kann sich ihr nur entziehen, wenn man
die ganze Notwendigkeit, so wie sie ist, leugnet. Die tragische Wirkung
besteht jedoch gerade darin, da& wir - zumindest wahrend wir unter ihrer
Wirkung stehen - ihre Notwendigkeit akzeptieren miissen. Maeterlincks
Notwendigkeit vermag jedoch, wie wir sahen, nicht das ganze Leben zu
umfassen. Wenn sie auch wirkt, wenn sie uns auch zwingt, sie zu akzeptie-
ren, kann sie nur bei Nichtbeachtung unendlich vieler Dinge, nur narkose-
haft das Universum bedeuten.
Somit war es auch Maeterlinck nicht gegeben, zum wahrhaft grofen, moder-
nen und poetischen Drama zu gelangen. Seine Dramen sind aber voll gro8er
Schénheiten, und zwar solcher Schénheiten, die fiir die Entwicklung viel-
424 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
leicht von entscheidender Bedeutung sein konnten. Das Wesen dieser Schon-
heiten ist es, da& die psychologischen, lyrischen, musikalischen und maleri-
schen Elemente in einigen Szenen oder Bildern so stark symbolisch ver-
schmelzen, da& sie das Geftihl, das als Grundlage der Szene dient, auf
unvergefliche und endgiiltige Art und Weise ausdriicken. (Nun einmal von
der Frage abgesehen, ob dieses Gefiihl wirklich dramatisch ist.) So ver-
schmilzt bei Tintagiles’ und Ygraines zitterndem Fliistern die Wortlyrik, die
zu Ygraines wilder Verzweiflung hinaufwiachst, mit der volligen Dunkelheit
und mit der riesigen, nicht zu 6ffnenden Eisentiir, hinter der die geheimnis-
volle Kénigin Tintagiles erdrosselt wird. Ahnlich sind fast alle Szenen der
Liebesdramen, aber besonders die letzten: Als Pelleas und Melisande sich
das letzte Mal im Park treffen und die Tir zuschlagen héren und spiiren, da8
sie verloren sind, und sich iiber ihr nahes Ende freuen; als Goland schon mit
gezogenem Schwert hinter ihnen steht und sie noch die wenigen Sekunden,
die ihnen im Leben verbleiben, mit einem Kuf verbringen. Ahnlich ist
Alladines und Palomides Tod. Sie befinden sich bereits nicht mehr in der
Hohle, wo sie der Kénig einsperren lie&, der infolge seiner unerwiderten
Liebe zu Alladine wahnsinnig wurde, und sie erwarten nun voneinander
getrennt den nahenden Tod. Sie wissen nicht mehr, da& man sie retten
wollte, sie spiiren nur, daf sie nicht zusammen sind, und sie rufen einander
in einem schwachen, verstummenden Ton, und drauSen zittern ihre Ange-
hérigen, weil das Sprechen, die Aufregung sie umbringen kénnte. Und auf
dem Gang (das ist die Bithne) horen wir, wie sie sich, der eine von rechts und
die andere von links — einander immer leiser und leiser zurufen, bis ihre
Stimmen ganz verstummen . . . So wachst die Klage der verlassenen Blinden
zur wilden und verzweifelten Symphonie der Ohnmacht. Dort sitzt unter
ihnen der einzige Mensch, der sie hatte heimfiihren kénnen, dieser ist aber
unter ihnen gestorben, ohne da& sie es gemerkt hatten, und nun sind sie ganz
allein und niemand hért ihre immer stirker und stirker werdenden Klagen.
An diesen Stellen ertént das erste Mal seit Hebbel und Ibsen das Pathos des
neuen Dramas. Die Situation ist einfach und wahrscheinlich und sie wachst
doch fast unbemerkt iiber das Einfache und Wahrscheinliche hinaus und
wird zum Symbol des darin gefaSten Gefiihls. Beim Héren der Klagen der
Blinden héren wie schon keine verlassenen Blinden mehr, sondern wir
lauschen der Worte der ganzen menschlichen Verlassenheit. Und Pelleas’
und Melisandes Kiisse, hinter denen die Vergeltung mit gezogenem Schwert
lauert, wachsen zum Symbol alles menschlichen Gliicks. Uberall bereitet
schon die Situation, die Bildhaftigkeit, die groBe Steigerung vor. Maeterlinck
xu Maeterlinck und die dekorative Stilisierung 425
ist der erste, der aus der Menschen- und Naturbetrachtung der neuen
Malerei szenische Werte schafft. Es gab zwar schon eine Verwandtschaft
zwischen dem dramatischen Naturalismus und dem Impressionismus der
Malerei, aber sie war mebr cine Verwandtschaft der tiefsten Tendenzen, es
ist kein Versuch, soviel wie méglich von den Ausdrucksmitteln des einen fiir
das andere zu iibernehmen. Wenn ein naturalistisches Interieur im Sinne des
Impressionismus malerisch war, war es nur in einzelnen Momenten male-
risch; nur deshalb und soweit, wie es in einer jeden dramatisch, also auch
szenisch wirklich gut konzipierten Szene etwas Malerisches gibt. Und das
ahneke unwillkiirlich und unbewuft dem des Impressionismus. Maeter-
lincks Landschaften, Menschen, deren Nebeneinanderstehen, ihre Gesten
und die Hineinkomponiertheit in ihren Hintergrund kommen alle aus der
Seele der neuen Malerei. Alles wurde mit solchen Augen gesehen, die den
Zusammenhang von allem mit allem, die alles verindernde Wirkung eines
Windstofes an ihnen zu bemerken erlernte. Sie sind von einer Hand
gezeichnet, die von hier die Mittel nahm, um die stindige Vibration in einen
starren Augenblick hineinzupressen; der alles zusammenfaft und alles zur
Bildhaftigkeit und Ruhe stilisiert, obwohl noch die Andersartigkeit des
vorherigen Augenblicks in ihm lebt und die Méglichkeiten der nichsten zu
leben beginnen. Jegliche Synthesen und jegliche dekorative Zusammenfas-
sung ist eine Anniherung an das Pathos, es ist nur die Frage, was dekorativ
wird. Bei Maeterlinck ist die Antwort sehr schwierig, bei ihm ist es schwer
zu sagen, was primir ist. Ist es das seelische Erlebnis, was durch das
dekorative Verhiltnis zwischen Menschen und ihrem Hintergrund symboli-
siert wird? Oder ist es das Bild, das ~ weil Menschen darin vorkommen
- menschliche Gefiihle und Schicksale ausdriickt? Aber nur so wie bei echten
Bildern, wo die Harmonie der Linien, Farben und Flecken das Ziel ist und
wobei die Empfindungen der Menschen nebensichlich sind? Das Malerische
in der dekorativen Stilisierung Maeterlincks entstand, so glaube ich, in erster
Linie durch die gréStmégliche Vereinfachung des Ausdrucks und durch
dessen unendliches Intensiv-Werden und die Malerei bot ihm da nur Még-
lichkeiten. Bei ihm besteht die Gefahr dieser Stilisiertheit, die das Ziel allen
Ausdrucks wird und die Szenen der Dramen zu blofen Ornamenten herab-
setzt, noch nicht. Deshalb ist das Malerische bei ihm noch ganz allgemein, es
ist noch keine Variation der Licht- und Linienwirkungen bestimmter Maler
oder Bilder durch Biihne und Mensch; es ist nur ein Mittel, es distanziert die
Geschehnisse, es bietet nur Méglichkeiten zum Pathos. Denn all das bietet
doch blo& Maglichkeiten. In Maeterlincks Sprache ist die Steigerung des
426 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
besonders der englischen Priraffaeliten. Mit einem Wort: das Ganze nahert
sich stark der Oper. In dekorative Bilder projizierte Biihnenlyrik: das ist
vielleicht das innerste Wesen der Opernform, und alle auf diese Weise
komponierte Dramen miissen sich ihr immer stark nahern. Die Wagnerschen
Musikdramen heben sich nur durch die seelischen Manifestationen, die die
Grundlage der Lyrik bilden, und durch die sehr enge Beziehung zwischen
den Bildern von den gewdhnlichen Opern ab. Wo das nicht vorhanden ist,
wie z.B. in den ersten Werken Wagners, kann man keinen Unterschied
zwischen ihnen feststellen. Maeterlincks Entwicklung ist umgekehrt wie die
‘Wagners: er begann beim Musikdrama und endet bei der Oper. Denn das,
was nach »Monna Vannax folgt, verliert immer stirker selbst die schwache
Einheit und Dramatik dieses Dramas, es wird immer opernhafter.
2.
Maeterlincks Wirkung war sehr stark. Bei ihm waren, so schien es, die
Elemente des modernen poetischen Dramas vorhanden, und fast alle Dich-
ter, die sich nach dem Drama sehnten, die den Naturalismus verachteten
oder fiir unbefriedigend hielten, gerieten fiir lingere oder kiirzere Zeit unter
seine Wirkung: Wie sein Jugendfreund Van Lerberghe, wie Paul Ernst und
Wilhelm von Scholz, wie der subtile und tiefe Lyriker W. B. Yeats, der
sogenannte irische Maeterlinck; es ist natiirlich, da& auch der stindig su-
chende und experimentierende Hauptmann und Strindberg sich in dieser
Technik versuchten (beim ersteren kennzeichnen »Elga« und das »Helios«-
Fragment, beim letzteren besonders das Drama »Ostern« diese Epoche).
Aber fiir sie war dieser Stil nur eine ganz kurze Episode. Ein englischer, ein
italienischer und ein deutscher Dichter waren es, auf die Maeterlinck am
strksten und am entscheidendsten wirkte, bei denen aber die Grenzen
dieses Stils vielleicht noch stirker als bei ihm sichtbar wurden. Oscar Wilde
und Gabriele D’Annunzio interessierte in erste Linie das rein artistische
Problem. Sie gelangten mit Hilfe der Technik Maeterlincks dorthin, wo auch
er ankam, zu der ein wenig opernhaften Biihnenballade. Hugo von Hof-
mannsthal ist in jeder Hinsicht unabhangiger von ihm; er ibernimmt nicht
einfach seine Technik, bei ihm ist sie nur ein Stimmungsmittel unter vielen
und nicht das wichtigste. Seine Ziele sind in vieler Hinsicht gerade die
entgegengesetzten; nur die tiefe Verwandtschaft der kiinstlerischen Aus-
gangspunkte und Lebensgefiible bringt sie einander nahe. Deshalb ist er der
einzige, der sich, wenn auch nur in Experimenten, iiber die Schranken dieses
Stils zu erheben vermochte.
430 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
Oscar Wilde war kein echter Dramatiker. In seinem einzigen Drama, das
hier in Betracht kommt, in »Salomec, interessierten und faszinierten ihn
dekorative und rhythmische Schénheiten, keine dramatischen Konflikte.
Sein erstes Stiick »The Duchess of Padua« ist die schulmafige Nachahmung
des Elisabethanischen englischen Dramas. Seine sogenannten Gesellschafts-
dramen sind voller Dumas-Reminiszenzen, sind Schauerdramen, die mit
Sardou-Kniffen wirkungsvoll gestaltet und mit Bonmots aus seinen eigenen
Romanen versehen sind, Sein Lustspiel »The Importance of Being Erneste
ist nur ein Atelierschwank, eine Selbstparodie: es ist zwar amiisant, aber
unbedeutend. Aus den Aufzeichnungen seiner Pariser Freunde wissen wir,
wieweit ihn nur das Dekorative an der Gestalt Salomes anzog; da Salomes
Gestalt, Charakter, Umgebung sich von Tag zu Tag veranderten, je nach-
dem, was fiir verschiedene schéne malerische Posen und Tableaus er unter
der Wirkung eines neuen Bildes oder Buches sah.”
In »Salomes ist die Zeichnung der Gestalten wie bei Maeterlinck. Ebenso
wie bei ihm ist bei allen Menschen nur soviel ausgedriickt, wie zur Erfiillung
ihres Schicksals unbedingt notwendig ist. Wilde geht hier aber weiter als
Maeterlinck. Maeterlinck suchte die Vereinigung des Ausdrucks der kompli-
zierten Seelenzustinde mit der dekorativen Einfachheit. Wilde strebt aus
malerischen Griinden die Primitivitat an. Alle seine Gestalten haben — He-
rodes vielleicht ausgenommen — nur eine einzige Eigenschaft, diese ist aber
sehr stark und vollkommen ausschlieflich. Deshalb iiberfliigelt er Maeter-
linck in der Konzentration, was an sich genommen bereits die Illusion des
Dramatischen erweckt. Seine Gestalten treten villig fertig auf die Biihne,
und da sie primitiv und nicht komplex sind, kénnen sie sich nicht entwik-
keln, nur ihr Schicksal geht in Erfilllung. Auf diese Weise ist es méglich, das
ganze Drama in einen sich mit stiirmischer Schnelligkeit abspielenden Akt
zusammenzudrangen. Sehr oft ist die Sprache von »Salome« der Maeter-
lincks ahnlich, weniger die Teile als vielmehr der Geist des Ganzen: die
musikalische Gruppierung, die Untergeordnetheit der Bedeutung des Wort-
sinns unter die dekorative Bedeutung. Manche Dinge stammen aber gerade-
zu von Maeterlinck. So z. B., da& Menschen, die sich nicht verstehen und
nicht verstehen wollen, miteinander sprechen. Bei Maeterlinck waren aber
diese Gespriche ineinandergeflochtene Monologe, die die Einsamkeit kenn-
zeichnen sollten, hier sind sie Willenskimpfe, Melodien, die einander iiber-
ténen wollen (z. B. Salome und der Prophet, Salome und Herodes). Wildes
Sprache hat einen stirkeren Rhythmus, ist vehementer, breiter als die
Maeterlincks. Das bringt teils die Natur ihrer Menschenzeichnung, teils ihr
xu Maeterlinck und die dekorative Stilisierung 431
linck spiegelten sich die Dinge nur im Gesprich, nur ihre Schatten und
Reflexe waren sichtbar, hier haben sie ein vollkommenes und intensives
Leben im Dialog selbst. Wilde verwendete die wichtigsten dekorativen
Mittel seines Meisters, Swinburne und die dessen Meister, der Dichter des
»Parnasse«, die impressionistische Beschreibung. Er gibt nimlich keine
breite und detaillierte Beschreibung der Dinge, sondern alles verliuft in
einem schnellen Nacheinander — die Bilder jagen einander fast -, all das, was
dem Betreffenden in einer aufgeregten Stimmung dariiber einfillt und so,
wie es ihm einfallt. Das kann manchmal auch sehr dramatisch sein - wenn
z. B. Herodes all die Schatze aufzahlt, die er Salome geben will, damit sie von
ihrem Wunsch abgeht und im nervésen, stindig gréfere Schitze umfassen-
den Katalog tént Salomes staindig wiederholter, hartnackiger Wunsch wie
ein Reflex. Es ist aber nicht notwendigerweise dramatisch, und nachdem es
hauptsichlich aus dekorativen Griinden entstand, steht es meistens eher im
Wege der schnellen vom Drama geforderten Entwicklung; es besteht die
Gefahr, da8 das Drama an den schénen Worten erstickt.
3
Bei D’Annunzio stellte sich die hier angedeutete Gefahr ein. Der manchmal
echt und stark dramatische, sogar tragische Grundrif seiner Dramen wird
ganz bis zur Unkenntlichkeit vom Strom der an sich wunderbaren Worte
und Bilder iberschwemmc. Seelisch steht D’Annunzio zwischen Wilde und
Maeterlinck, zwischen dem Dichter und dem Astheten. Es fehlt ihm die
wahre und tiefe Poesie Maeterlincks, seine Zielsetzung ist jedoch, zumindest
am Anfang héher, als die des nur Rhythmen und Farbflecke suchenden
Wildes. Wilde wollte auch kein Drama schreiben; D’Annunzio, dessen
Talent im wesentlichen ebenso nur lyrisch war wie das seine, wollte die
moderne Tragédie erschaffen. Nachdem aber auch bei ihm die wahrhaft tief
tragische Weltauffassung nicht vorhanden war, ging er von der Literatur und
Kunst aus, nicht vom Leben selbst; seine ganze Kunst ist eklektisch. (Schon
Wilde lich vieles z. B. von Swinburne, von Flaubert, von den praeraffaeliti-
schen Malern usw.) D’Annunzio, in dessen Romanen sich die Wirkung
Maupassants, Bourgets und Flauberts mit seinen eigenen originellen Be-
schreibungen und seiner Lyrik vermischt, wird in seine Dramen bewuft ein
Schiiler der Griechen und Wagners. Von den erstgenannten iibernimmt er
den Schicksalsglauben, der aber bei ihm natiirlich nur ein literarisches
Stimmungsmittel bleibt. Hebbel und Ibsen gelangen vom Leben selbst
ausgehend zum Erleben eines, dem der Griechen verwandten, unerbittlichen
xu Maeterlinck und die dekorative Stilisierung 433
Héhen zu erheben. D’Annunzio suchte jedesmal die letzte und ewig giiltige
tragische Formel einzelner groSen modernen Fragen und Typen. In seiner
ersten Tragédie (»La citta morte«) suchte er den historischen Menschen, der
mit wagemutiger Neugierde alle Geheimnisse der Vergangenheit aufspiirt;
gegen den sich dann diese Vergangenheit auflehnt und den sie vernichtet. In
»Giocondae suchte er die Beziehung der modernen Kunst und des Kiinstlers
zum Leben und zur Moral, in »La Gloria« den Agitator und den Politiker.
Das erste steht D’Annunzios Ideal noch am nichsten. Er wollte den még-
lichst einfachen Fall nehmen, mit so wenig Menschen wie méglich, nur mit
einer symbolischen Handlung. Das ist die Tragédie Leonardos, der die
Atriden-Griber suchte, auf den und auf dessen ganze Umgebung der aus den
Gribern auferstehende Atriden-Fluch niederschligt. D’Annunzio mu8 aber
auch hier schon eine ganz eigene, vor dem Leben verschlossene Welt
konstruieren, eine solche Welt, in der Dichtung und Kunst die einzigen
Realititen sind und nicht das Leben; in der Agamemnon, Klytaimnestra und
Kassandra als Menschen der realen Welt unmittelbar lebendig empfunden
sind. Er kann aber nicht einmal in dieser Welt — deren allzu groRe Konstru-
iertheit ohnehin die notwendige Allgemeingiiltigkeit beschrankt— die Tragé-
die unmittelbar aus dem Symbol, aus dem Atriden-Fluch ableiten. Er mufte
Leonardos Freund, den Dichter und seine blinde Frau, Anna, mit einbezie-
hen; er bendtigt die Liebe zwischen dem Dichter und Leonardos Schwester,
damit der Atriden-Fluch, wenn er ihn trifft (da8 er namlich eine frevelhafte
Liebe seiner Schwester gegeniiber empfindet), nicht nur ihn selbst, sondern
sie alle trifft. Aber auch so braucht er zur Aufdeckung der beiden Geheim-
nisse eine sehr komplizierte und gewollte Technik. »Giocondase Welt ist
dem Leben viel naher. Hier verla&t ihn aber im entscheidenden Augenblick,
wenn die Ehefrau und das Modell, die Giite und die Kunst im Kampf um die
Seele des Kiinstlers einander gegeniiberstehen, seine Kraft vollkommen.
Diese groe Szene ist voller leerer Phrasen und die Ldsung erfolgt mit Hilfe
eines Sardou-Kniffes. Und von diesem Augenblick an ist das Drama voll-
kommen zu Ende; ein dekorativer und wirkungsvoller Abschluf, ein véllig
tiberflissiger - nur schauspielerisch wirkungsvoller — letzter Akt ersetzt es.
Auch in »La Gloria« verschwindet der Zusammensto8, den der Anfang
versprach, vollig aus dem Stiick; der Zusammenstof der alten und der neuen
Zeit, des blinden und zerstérenden Elements, Cesare Brontes und Ruggero
Flammas. Im dritten Akt beginnt ein neues Drama, die Tragédie des
Tribuns, der sich nach dem unfruchtbaren Ruhm sehnt, Comnena, die den
Ruhm personifiziert, macht ihn schlecht, leer und ohnmichtig; sie treibt
xu Maeterlinck und die dekorative Stilisierung 43s
immer héher und hdher, bis er zuletzt ohnmichtig abstiirzt und zugrunde
geht. Und dieses neue Drama geht ebenfalls in den an sich schénen, aber
dramatisch gesehenen leeren groSen Worten, in der teils klaren, teils wieder
verworrenen Allegorisierung von Comnenas Gestalt verloren.
Der Wert dieser Dramen besteht somit nur in der Entdeckung dekorativer
und lyrischer Schénheiten. D’Annunzio ist der erste, bei dem - noch
intensiver als bei Ibsen — das moderne Leben malerisch wird. In »Gioconda«
gibt die ganze Stadt durch ein florentinisches Kiinstlerinterieur, ein Atelier
und durch die Gespriche der Menschen wunderbare malerische Wirkungen
her. In »La Gloria« findet er in der revoltierenden, grollenden Menge das bis
dahin unbekannte malerische und musikalische Element. Und es gelingt ihm
manchmal den ganz abstrakten Kultur- oder Kunst-Sinn in den zértlichen,
fast schwesterlichen Gefiihlen, die z. B. Anna (»La citta morte«) Kassandra
gegeniiber empfindet und in der Verwandtschaft, die zwischen Silvia Settala
(»Gioconda«) und den Hianden einer Verocchio-Statue empfunden wird,
dramatisch zu verlebendigen. Die Sprache verliert sich natiirlich (D’Annun-
zio geht vom italienischen Vers aus, der viel weniger unmittelbar ist, als der
der Pariser) sehr oft im leeren Pathos. Es gibt aber dennoch viele Stellen, in
denen die grofe Einsamkeit, die Ohnmacht dem Geschick gegeniiber zu
erschiitternden und wahrhaft pathetischen Ténen findet.
In seinen anderen Dramen ist D’Annunzio viel weniger originell. Die
Einakter (»Sogno d’un mattino die primaverae; »Sogno d’un tramonto
d’autumnos) sind dekorative Phantasien im Stil Maeterlincks und Wildes. Er
ist nicht einmal im bedeutendsten (»Francesca da Rimini«) unter den grofen
Stiicken imstande, den grofen allgemeinen Konflikt, der im historischen Fall
liegt, zu erfassen. So wird bei ihm aus Paulos Siinde Francesca gegeniiber
nicht mehr als eine wirkungsvolle Szene, etwas wie ein Gottesurteil; und
dann, als ob das gar nicht gewesen ware, kann das Liebesdrama beginnen.
Das Liebesdrama besteht aus zwei grofen Szenen, von denen aber keine
dramatisch ist, wie auch das, was sie verbindet, da der Ehemann nimlich
den Ehebruch entdeckt, nicht dramatisch ist. Die eine Szene, das Leben als
dekorative Phantasie; ihr Thema ist die Dante-Szene, Dantes Pointe ist ihr
von vornherein gestecktes Ziel, zu dem sie unbedingt gelangen muf und das
Ganze ist voller Dante-Anspielungen, die die Illusion stéren. D’Annunzios
spatere Intarsien-Technik ist hier bereits vorhanden: das Drama ist nur eine
leere Flache, ist nur da, um mit allerlei schénen Ornamenten gedeckt zu
werden. Diese Ornamente miissen weder miteinander, noch mit dem Drama
in einem notwendigen Zusammenhang stehen, sie sollen nur an sich schén
436 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
+
Der junge Hofmannsthal empfand das Leben viel zu abwechslungsreich, um
es in eine Abstraktion, wie es Maeterlincks Schicksalsglaube war, hineinpres-
sen zu wollen und zu kénnen. Er sah es als zu reich, kompliziert und
verflochten an, um sich mit Wildes und D’Annunzios immer ein wenig
starrer Stilisierung zu begniigen. Er sucht etwas Ahnliches wie sie, er wollte
aber ein reicheres Leben darin fassen. Er trat als Asthet auf, als der méglichst
konsequente Anhinger des L’art pour I’art, im schirfsten Gegensatz zum
Naturalismus. »Der »naturalismus<« - schreiben »Die Blatter fiir die Kunste,
das Organ seines damaligen Freundeskreises — »hat nur verhaSlicht wo man
frither verschénte aber strenggenommen nie die wirklichkeit wiedergege-
ben«.” An einer anderen Stelle heift es: » Wir sind bereit manche heilsamen
¢inflisse des »naturalismus: anzuerkennen vergessen aber einen unberechen-
baren schaden nicht: dass er uns deran gewohnt hat gewisse begleitende
bewegungen einer handlung zur vollstandigkeit zu fordern, die aber wenn
sie vor dichter beriicksichtigt werden jedes werk grofen zuges unmdglich
machen.«” Diese deutsche Bewegung, die von Stefan George, Hofmanns-
thals damaligen Freund angefiihrt wurde, war bestrebt, den deutschen Vers
artistisch zu erneuern, ebenso wie die Bewegung der Pariser »vers libre«-
Dichter. Nachdem ihr Ziel dasselbe war, ist es natiirlich, da8 sie, da sie von
gegensitzlichen Richtungen ausgingen, scheinbar gegensitzliche Wege ge-
xn Maeterlinck und die dekorative Stilisierung 437
hen muften. In Paris wurde, wie wir sahen, der germanische Einflu8 immer
stirker und infolgedessen war die Unmittelbarkeit, die Einfachheit, das
»Lied« das Ziel. Die deutsche Entwicklung fihrte aber gerade von den
simplen, leicht singbaren und leeren Formen der Romantik und der Heine-
Epigonen weg. Sie suchte - wenn sie es auch nicht als Ziel erklart haben - die
geeigneten Formen fiir den Ausdruck komplizierter Gefithle; sie tibernahm
vieles von den englischen und franzésischen Lyrikern. Alle waren von
aristokratischem Gefuhl. Alle sahen klar die tiefe Haflichkeit, die Kulturlo-
sigkeit, die instinktive Feindseligkeit des heutigen Lebens allen Kulturen,
allen Poesien gegeniiber, da es als Materie der Dichtung unbrauchbar ist:
deshalb haBten und verachteten sie es. Sie sind unbeabsichtigt, sogar viel-
leicht gegen ihren Willen modern. Denn gerade die Gedichte des Verschlos-
sensten unter ihnen, Stefan Georges, sind voll von besonderen seelischen
Erlebnissen des subtil sehenden und hérenden, fir kaum vernehmbare
Nervenreize empfinglichen, in allen klemen Dingen Tragddien erlebenden
modernen Menschen. Walter Calé schrieb einmal iiber Stefan George, daf er
ein einziges Erlebnis hatte: das Nicht-erleben-kénnen.™ Das ist natiirlich
sehr ungerecht, aber im Vergleich dazu kénnen wir vielleicht das Wesen des
jungen Hofmannsthal am genauesten ausdriicken: eines Hofmannsthal, der
sich nach einem sein ganzes Wesen erfiillenden Erlebnis sehnt. In dessen
Seele das Bewuftsein und das Gefiihl der Méglichkeit eines grofen, abstrakt
groBen Erlebnisses so stark lebendig ist, da& daneben alle tatsichlichen und
wirklichen Erlebnisse verblassen miissen. Dessen im voraus erworbenes
Wissen um den Reichtum und die Schénheit des Lebens so prazis und gro8
ist, da er mit stolzer Traurigkeit an all dem vorbeigehen mu&, was in seiner
unmittelbaren Nahe geschieht. Seine wunderbar gescharften Sinne ziehen
mit einer reineren Kraft alle Schénheiten des Lebens an als diejenigen, die
sich mit diesem selbst begniigen; aber die Furcht, daf er die griften
Schdnheiten doch versiumen kénnte, erlaubt es nicht, irgendwo stehenzu-
bleiben. Auf diese Weise von allen Schénheiten, von der Natur und von der
alten und neuen Kunst der Welt umgeben, haft er das Leben, das ihn umgibt
und sehnt sich danach. Er sieht und weif, da&, wie er in einem seiner
Dramen sagt. »{... ] das Gemeine [. . .] stark, das ganze Leben voll davon
[.. -J« sei.” Er sagt aber in einem anderen Drama auch: »Und was die Ferne
weise dir verhiillt,/Ist ekelhaft und triib und schal (...]. Und beide
Gefihle sind gleich tief und gleichsam seine Gefihle.
Vielleicht erreichte das Empfinden der Relativitit aller Dinge in Hofmanns-
thal seinen Gipfelpunkt. Hofmannsthal steht gerade hier, am entscheiden-
438 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
Dingen in eine Abhingigkeit von nichts. Die Méglichkeit der Befreiung ist
durch die Erkenntnis der blo8en Relativitat aller Werte sehr erleichtert.
Diese mu8 sich in dem Augenblick einstellen, in dem die Seele keine
Unterstiitzung, keinen festen Punkt und nichts Absolutes mehr dort sucht,
wo sie schon weif oder erlebt hat, daf sie nur dessen Gegenteil zu finden
vermag. Wenn alles ins Wanken gerat, wenn nichts mehr an sich und von uns
unabhingig einen Wert und eine Bedeutung hat, wenn nur unsere Betrach-
tung den Dingen Farbe, Kraft, Gréfe und Gefahr verleiht, dann mu8 man
~ im Gedanken — nur einen Schritt hinter die Dinge zuriicktreten und aus der
erschreckenden Verflochtenheit wird die Harmonie der reichhaltig ineinan-
der verflochtenen Faden eines wunderbaren Teppichs, aus dem Wanken von
allem wird ein grofer Reigen von allem, dem unsere Stimmungen das
Tempo, den Rhythmus, den Anfang und das Ende setzen. Und alles was vor
einer Minute so unendlich fremd war, als wir das »Wesentliche« erfassen
wollten und als wir wollten, daf unser » Wesen« sich damit vereint, wird tief
verwandt, sobald hier wie dort diese festen, die Unabhingigkeit von den
Augenblicken anstrebenden Gefiihle verschwinden. Die Welt ist nur ein
Spiegel, in dem die in jedem Augenblick andersartige Seele ihr stindig neues
und sich verinderndes Gesicht sehen will; was vielleicht Leopold Andrian
am schénsten ausgedriickt hat:
Dann sieht die seele dass sie nur ihr eignes traumen fand
In diesen langen blicken diesen siissen haaren
Thr ist das gestern so wie eine frau im festgewand
Dem dumpfen volk durch das sie in der dimmerung gefahren.
Nach reizen horchend die wir morgen nicht verstehen
Erkennen wir dass wir sie selbst gegeben
Und uns blickt seltsam kéniglich und schon
Die eigne seele an, die inhalt lich dem leben.”
Damit hort jeglicher Unterschied zwischen Natur und Kunst, Wissen und
Erlebnis, Buch, Bild und Leben, Phantasie und lebendigem Menschen auf.
Geschichte, Kunst, Leben: nichts hat an sich eine Bedeutung, alles ist nur
Materie, nur Spiel, nur Mittel, aus denen der Asthet, derjenige der das
Spielerische von allem erkennt und mit allem zu spielen vermag, seine Garten
aufbaut und ausschmiickt. Es ist somit natiirlich, da8 Hofmannsthal viel-
leicht der eklektischste unter allen modernen Dichtern ist. So sehr, da8 es
vielleicht billig und geschmacklos wire aufzuzihlen, was alles auf ihn
einwirkte - und es wire vielleicht auch nicht wichtig. Dieser Eklektizismus
hingt so tief mit seiner ganzen Gefihls- und Denkweise zusammen, wurde
xu Maeterlinck und die dekorative Stilisierung 441
durchzieht: die Verachtung der Worte. Hier hiillt sich aber das fiir immer
Unausdriickbare nicht in Verschweigen, versteckt sich nicht hinter absicht-
lich farblosen Worten, denn das, was man sagen miifte, vermégen nicht
einmal die gré&ten und starksten Worte auszudriicken, sie vermdgen es nicht
einmal anzudeuten. Hier umgibt der gré8te Pomp der Worte das Schweigen,
die ewig tiefe Fremdheit. Dieser Wortpomp ist aber nicht nur dekorativ wie
der Wildes und D’Annunzios. Hier ist dieser Glanz die letzte Kraftanspan-
nung das in Bilder zu zwingen, in Symbolen heraufzubeschwéren, zu
dessem Ausdruck die Worte unzureichend sind. Mit blendender Pracht
umgeben die Worte das Verhiltnis zweier Menschen zueinander oder das
Verhiltnis eines Menschen zu seinem Schicksal. Sie eilen mit groBer Kraft
und mit zielsicherer Energie in diese Richtung, um diesem einen endgiiltigen
Ausdruck zu geben. An den entscheidenden Punkten eilen sie aber dennoch
daran vorbei, weil auch das starkste Wort zu schwach fiir die wahren Inhalte
ist und auch das subtilste ihre atherische Leichtigkeit mit brutalen Fingern
anfaft. Das gibt Hofmannsthals Sprache dramatische Bewegung, Dialogi-
sches und Atmosphire. Das namlich, da die Musik der Seelen, der Schick-
sale hier doch das Primire, daf die Lyrik der zwischenmenschlichen Bezie-
hungen das Ziel von allem ist. Um das zu erreichen, spannt sich der Bogen
der Wortlyrik bis zum Aufersten — und sie kann es doch nicht aus eigener
Kraft ausdriicken: hinter allen Worten und Bildern steht das Gefiihl dieser
Unzulinglichkeit. Hofmannsthals lyrische Bildhaufungen werden somit oft
zu neuen dramatischen Ausdrucksmitteln, sie sind die Anfange der Umfor-
mung der neuen Lyrik zum dramatischen Dialog. Freilich: das war bei allen
alten grofen Dramen selbstverstindlich, es war auch nie Gegenstand von
Problemen. Das aber, was das neue Drama als dichterische Sprache vorfand,
‘war, wie wir wissen, im Vergleich zum Seelenleben der Menschen des alten,
veralteten Dramas unendlich rationalistisch und viel zu einfach. Der Natura-
lismus war also notwendig, um diese iiberfliissige Konstruktion aufzulésen,
um mit der Schattierung seines grauen Grundtons das Seelenleben seiner
Menschen anzudeuten. Maeterlinck setzte teils die Andeutung des Natura-
lismus fort, teils erhob er sich — fiir einige Gefiihle - weit iiber sie hinaus;
Wildes und D’Annunzios Lyrik drohte wieder jegliche dramatische Bewe-
gung zu ersticken. Hofmannsthal ist der erste, in dessen Bildern die letzte
Verfeinerung der Seelen wirklich tragisch wird, nimlich, daf - wenn fiir alles
Worte gefunden werden kénnen - es fiir nichts mehr Worte gibt. Nicht die
Unzulanglichkeit der Wérter, nicht das Unvermégen der Menschen, sich
auszudriicken, ist die Ursache der sie umgebenden grofen Einsamkeit wie
xu Maeterlinck und die dekorative Stilisierung 443
man ¢s von einem naturalistischen Dialog sagen kénnte, sondern gerade ihre
Vollkommenheit, ihre Verfeinertheit und ihre Beschaffenheit, fiir alles den
letzten Ausdruck zu finden. Denn auf diese Weise wurzeln sie so tief in den
innersten, nie jemandem vermittelbaren Erlebnissen des Sprechenden, daf
gerade das, warum sie gesagt werden, nie zu jemand anderem gelangen kann.
Und nachdem daraus die letzte Vollkommenheit der Sprache entstand, kann
er dem anderen vielleicht noch weniger als ein Stottern aus seinem Wesen
mitteilen. Das spiirt Hofmannsthals Vittoria (»Der Abenteuerer und die
Sangerine), als sie zum letzten Male mit Weidenstamm, mit ihrer Liebe, mit
ihrem Schicksal, mit dem Vater ihres Kindes, mit ihrem Alles alleinbleibt. Sie
haben wenige Minuten, um Abschied zu nehmen und die Frau beginnt so zu
sprechen:
Viel, viel leichter
sind manche Dinge hier, wo sie geschehen,
als hier, wo wir sie triumen. Sonderbar!
Nun lassen sie uns eine halbe Stunde
allein, damit wir, wie auf dem Theater,
du mir, ich Dir, in hundert Worten sage,
was zu erleben grad ein halbes Leben
hinreichte - und dann willst Du wirklich fort?”
Kann aus dieser Sprache ein Dialog entstehen, oder, was im wesentlichen das
gleiche bedeutet, kann es in dieser Welt ein Drama geben? Kaum. Die
Menschen kommen hier miteinander nicht in Berihrung, ein jeder bedeutet
nur Erlebnisméglichkeiten fiir den anderen, es kann also auch kein Kampf
zwischen ihnen stattfinden. Und die Aufenwelt kann als dramatischer
Faktor iiberhaupt nicht in Betracht kommen. Die Welt des jungen Hof-
mannsthal wird nicht durch zwischenmenschliche Kampfe symbolisiert. Die
Grundlagen dieser Welt sind nicht dialektisch, erfordern also das Drama
nicht als notwendigen Ausdruck und in eine dramatische Form gegossen
kénnen sie es nicht vollig ausfiillen. Diese Situation ist aber doch nicht ganz
rein, denn es gibt hier noch tragische Stimmungen, Menschen, Schicksale,
tragische Situationen. Wir erleben sie nur immer subjektiv, durch die Seele
eines Menschen, wir sehen sie nicht objektiviert wie im echten Drama. Somit
bestehen die dramatischen Versuche des jungen Hofmannsthal gréftenteils
aus lyrischen Szenen; sie stellen einige gro&e Augenblicke aus dem Leben
eines Menschen dar. Englische Lyriker haben solche Dramen geschrieben,
namentlich Robert Browning. Bei ihm gibt es ebenfalls keine andere Wirk-
lichkeit als die seelische, und die AuSenwelt ist nur da, um das wahre Wesen
444 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
des Menschen hervorzubringen, von dem sie bis dahin nur mehr oder
weniger gezeigt hat; bis zum grofen Augenblick, bis zu dem er nur
scheinbar gelebt hat. Das Dramatische an diesem Drama besteht nur in der
Entwicklung, die dieser Augenblick im Menschen bewirkt, nicht einmal der
Dialog ist unbedingt notwendig, wenn dieser auch in seinem innersten
Wesen oft viele wirklich dramatische Elemente beinhaltet. Nicht immer.
Denn dieses Gefihh! ist in seiner eigenen gew6hnlichen Erscheinungsform
ein Spiel mit den Dingen, ein GenieSen der Schonheit und des Reichtums; es
ist ein so rauschhaftes Verschmelzen in die den Menschen umgebende
Atmosphire, in den Augenblick, da8 die Méglichkeit jeglichen Zusammen-
stoBes ausgeschlossen ist. Es ist jedoch das unendlich bewufte Gefihl
dessen, da alle Augenblicke verginglich, daf alle Augenblicke nur Augen-
blicke seien, da& es keinen gebe, der das ganze Leben bedeuten kénnte.
Wir haben aus dem Leben, das wir leben,
Ein Spiel gemacht, und unsre Wahrheit gleitet
Mit unserer Komédie durcheinander
Wie eines Taschenspielers hohle Becher —
Je mehr ihr hinseht desto mehr betrogen!!™ .
Und die Szenen, die diese Stimmung am reinsten spiegeln, die stilma8ig
reinsten also, sind natirlich nicht nur undramatisch, sondern die Leugnung
alles Dramatischen. Entweder sind sie tragikomische Spiegelungen vergange-
ner Schénheiten (wie das Fragment, das in den »Siiddeutschen Monatshef-
ten« erschien)'', oder Hymnen auf diejenigen, die alle Schénheiten des
Lebens in sich ‘aufzunehmen instande waren (»Der Tod des Tiziane) oder sie
stellen das Nacheinander von lyrischen Monologen dar, die allesamt diesel-
ben Spiegelungen von verschiedenen Punkten her zeigen (»Das kleine Welt-
theater «), In diesen Szenen ist das Undramatische offensichtlich; die Anord-
nung ist nur lyrisch, dekorativ und musikalisch, nicht einmal duSerlich gibt
es einen Versuch in Richtung des Dramatischen. Dieses Spiel mit allem erhiak
aber dennoch eine Handlungsform in zwei sehr schénen Intermezzi, in
deren feine, leichte, iiber alles hinweggleitende Melodie sich die Erinnerung
vergangener Schmerzen, vermiedener, niedergekimpfter Tragédien mischt.
Es liegt etwas von der Stimmung der »Education sentimentale«, eines der
Biicher, das fiir Hofmannsthal von gréBter Bedeutung war, in der Begeg-
nung von Fortunio und Miranda, die beide um ein Leben trauern und sich
am Grabe ihrer Liebsten treffen, um einander an der Hand fiihrend gemein-
sam ins Leben aufzubrechen. Und daraus, was sie vor einer Minute als
lebensbedeutenden tragischen Schmerz empfanden, wird eine schéne Episo-
xu Maeterlinck und die dekorative Stilisierung 445
de, eine schmerzvoll schéne Erinnerung (»Der weife Facher«). Und dieselbe
Stimmung ist in einem anderen kleinen Drama (»Der Abenteuerer und die
Sangerin«) noch stirker, noch siegreicher und sicherer, wo eine bewufte
Lebensphilosophie daraus wird, was dort zunichst blo& das unbewufte
Gefiihl junger, lebenshungriger Menschen war, das jedoch starker als ihr
Wille und ihre Einsicht gewesen ist. Das ist die Philosophie der Episodenhaf-
tigkeit. Der Inhalt des Dramas besteht darin, da8 sich alles aus Episoden
zusammensetzt; ob sie voller Jubel oder Melancholie sind, ob sie Lachen,
Tranen oder resigniertes Licheln auslésen, sind sie dennoch Episoden. Alles
besteht aus Episoden; ein Drama, ein Kampf, etwas, was das ganze Leben
bedeuten kénnte, gibt es nirgends im Leben.
‘Auch die tragischen Geschehen werden von der Luft dieser Tragédien
vernichtenden Welt umgeben. Vittoria, deren Tragédie Weidenstamms Er-
scheinen in ihrem Leben war, geht mit stillem Schmerz weiter ins Leben. Er
war ihre Tragédie und sie iiberlebt diese Tragédie. Nachher erwartet sie
jedoch nicht das Schattendasein des gebrochenen Helden der Tragédien,
sondern ein Leben voller Schénheit und Reichtum, das durch alle ihre
Schmerzen und Leiden, durch ihre Tragédie noch reicher wird. Tragisch
werden kann hier - im gewohnlichen, duferen Sinne - nur eine ganz
auBerliche Sache. Diese ware kein Kampf, sondern das Niederschlagen einer
grdGeren, keinen Widerstand duldenden Macht im Leben, einer Macht, die
dem Leben ein Ende setzt. Sie vermag aber nur ein Ende zu setzen, nur die
glanzende Perlenreihe der groSen Abenteuer zu unterbrechen, nur ein
dunkler Punkt in deren buntem Glanz zu sein, sie bedeutet nicht mehr, kann
nicht mehr bedeuten als irgendeine andere Macht (»Die Frau am Fenster«).
Eine tragische Maglichkeit kann nur die Wirklichkeit in diese Welt bringen.
Die Wirklichkeit, wenn sie mit roher Kraft diese feinen Spiele zerreift, wenn
sie in einem so heftigen und brutalen Gegensatz zu jeglicher tiber sie
gebildeten Phantasie steht, daf sie nicht mehr in irgendeine Ordnung der
Tréume einfiigbar ware; die Wirklichkeit, von derem grellen Licht getroffen
ihre ganze Welt zusammenbricht. Die Entfernung zwischen innerer und
aduBerer Welt ist hier jedoch so unendlich grof, da sie nur ein tragischer
Augenblick, nur ein plétzliches Aufflammen sein kann, das Zusammenbre-
chen eines Menschen, das durch eine unerwartete Enttéuschung verursacht
wurde (Sobeide; Andrea in »Gestern«). Auch diese Tragédien sind nur
Szenen, keine Dramen; sind nur Dramenfragmente, wenn sie auch nicht
mehr rein monologisch sind.
Diese Gefiihiswelt hat nur ein Drama, die endgiiltige Einsamkeit, das Drama
446 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
chen wurde, der voller tragischer Gefithle war. Er fand die reinste, dem
Dramatischen am nichsten kommende Form, um die Situation tragisch zu
gestalten, ihre Episodenhaftigkeit zu nehmen: die Erkenntnis der Versiiu-
mung des Lebens in der Stunde vor dem Tod. Denn der einzige Inhalt dieser
Tragédie kann nur in der Erkenntnis liegen. Der Mensch, der sie erfahrt,
steht so weit auSerhalb jeglicher Realitét, wird in keiner Weise davon
beriihrt, da sich nie ein tragischer Umschlag irgendeines Gefiihls in Form
der Handlung offenbaren kann. Auf diese Weise erhielt er wenigstens eine
sinnlich, malerisch starke und echte Form; eine Form, ohne dissonante
Téne, gerade deshalb, weil Hofmannsthal hier nicht einmal einen Versuch
unternahm (wie z.B. in der Tragédie Sobeides), den Konflikt, der das
Drama in seinem Wesen ausschlieft, der Illusion einer Dramatik naher zu
bringen.
Nur seine menschliche Entwicklung vermochte Hofmannsthal iiber diesen
Stil hinauszufiihren. Das Empfinden, da& der reine Subjektivismus auf die
schiefe Bahn fiihrt und das Erkennen der wahren Bedeutung der realen Welt.
Schon in diesen Dramen beginnt er mit diesem Subjektivismus abzurechnen
und ebenfalls hier beginnt er sich davon zu entfernen. Eine feine alte Frau
(»Der weiSe Facher«) spottet iiber die Jugend, die zwar tiefsinnig spricht
und fiihlt, aber nichts sieht und hért und vom ersten Schlag, der sie berihrt,
niedergestreckt wird. Und der Held in »Der Kaiser und die Hexe« bleibt
dank seines starken Willens iiber die Verfiihrung der Hexe siegreich und aus
dem nur fiir den Genuf lebenden Jiingling wird ein Mann, der sich iiber
seine Macht und iiber die damit zusammenhingende Verantwortung, aber
auch iiber die damit verbundenen Méglichkeiten im klaren ist. Und er
rechnet zur gleichen Zeit, als er in einigen absichtlich trockenen und
realistischen Novellen (»Reitergeschichte«) die objektive, unlyrische Be-
trachtungsweise beinahe iibt, mit den Helden seiner Jugenddramen - mit
seiner eigenen Jugend endgiiltig ab (»Ein Briefe). Lord Chandos, ein junger,
einst groSes Talent versprechender englischer Lord, rechtfertigt sich hier vor
Bacon, warum er die an ihn gekniipften Hoffnungen nicht erfillt habe,
warum er nichts von alledem schrieb, was er geplant hatte. Er beschreibt
hier, wie bei ihm erstmals der Glaube an die Bedeutung der abstrakten
‘Worter erschiittert worden sei; wie ihm allmahlich jeglicher Zusammenhang
zwischen Worten und Wirklichkeit verlorengegangen sei, so sehr, daft es ihm
schwerfalle, den gewShnlichsten Satz auszusprechen, weil er ihn als verlo-
gen, verlogen allgemein und nichtssagend empfinde.' Hier liegt die auBer-
ste Grenze der Relativitat: das Nichts, die Unfruchtbarkeit. Dies ist nur
448 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
noch die Betrachtung der Dinge, aber bis zu einem solchen Grade und in
solchem Mage, da& es nicht einmal mehr ein Spiel mit ihnen ist; schon
wieder herrschen sie tiber den Betrachter, ohne aber in einer echten, produk-
tiven Verbindung zu ihm sein zu kénnen. Dieser Seelenzustand ist die véllige
innere Abgestumpftheit, Empfindungslosigkeit, die nur in einigen seltenen
und vollig unberechenbaren Fallen mit rauschhafter Kraft auf irgendeine an
sich bedeutungslose dufere Sache reagiert. Wenn sich dieser Rausch nicht
einstellt, ist sein Leben auf eine kaum beschreibbare Weise leer und er ist
kaum imstande, diese innere Leere vor denen zu verheimlichen, die im
nahestehen. Und wenn er mit der hochmiitigen Traurigkeit seines Typs
~ denn bei seinem Ausgangspunkt ist auch er ganz ein Bruder der Claudios
und Andreas — sogar in diesem Zustand noch grofe Gipfelpunkte erblickt,
vermag dies nicht einmal vor ihm an der vollkommenen Tragik viel zu
andern. Er verleiht ihr sogar noch hier nur die schéne Geste, mit der er
seinen Zustand vor allen verheimlicht oder driickt sie nur mit einem Pathos
voll feiner Ironie und mit einem melancholischen SelbstbewuStsein aus.
Diese Novellen bringen auSer der Abrechnung mit der Vergangenheit auch
etwas Neues. Das Malerische bei Hofmannsthal wird reicher und verandert
sich; es legt, um mich ganz kurz auszudriicken, den Weg von Bocklin zu
Cézanne zuriick. Ihn, der die Natur aus der Nahe betrachtet haflich fand,
erfiillen nun auch die zufalligsten und bedeutungslosesten Dinge - ein Baum,
ein Kafer usw. — mit tiefen Gefiihlen und er sieht sogar in diesen reiche
malerische Werte. Nun ist fiir ihn bereits alles symbolisch. Gerade deshalb
und dadurch, weil dies doch schon etwas mehr bedeutet als die Stimmungs-
méglichkeit, weil die Seele des Betrachters nicht mehr mit so vollkommener
Souverinitit alles beberrscht. Dadurch wird das Verhiiltnis zwischen den
Menschen und der Welt reicher, ist schon mehr, als der Monolog eines
einsamen Menschen; nun gibt es auch schon Antworten und das Lebensge-
fubl wird immer mehrstimmiger, symphonischer.
Jetzt sucht er auch in seinen Dramen etwas grofes Symphonisches. Seine
Jugendstiicke sind im Vergleich zu seinen jetzigen Idealen, zu Shakespeare
und seinen Zeitgenossen nur einstimmig, sie sind nur Lieder. Jetzt besteht
sein Ideal im gro8en und stiirmischen Zusammenklang der verschiedensten
Menschen und Dinge und der sie umgebenden Natur im Gegensatz zum
armlich Symmetrischen. Sein Weg in diese Richtung — als ob dies ein
gesetzmaBiger Ubergang fiir alle lyrischen Talente ware - fiihrte aber iiber
das Balladendrama. »Elektra« ist ebenso balladenhaft wie die Dramen
Maeterlincks und D’Annunzios, wie »Salome«, die auf seine Technik auch
xu Maeterlinck und die dekorative Stilisierung 449
die stirkste Wirkung ausgeiibt hat. In »Elektra« erfiillt sich die Sehnsucht
der alteren Hofmannsthal-Helden nach einem Erlebnis und Gefiihl, das sie
ganz. ausfiillt. Elektra hat nur ein Erlebnis: die Ermordung ihres Vaters und
als Folge davon ihre Hamletsche Enttauschung von den Menschen; sie hat
ein Gefiihl: den Ha8 und den sich daraus ergebenden Wunsch nach Rache
den Mérdern ihres Vaters gegeniiber. Und ihr Wunsch geht in Erfiillung. Sie
kann so sterben, daf das, wonach sie sich gesehnt hat, in Erfiillung ging. Die
Erfillung tdtet sie, weil diese Sehnsucht der Inhalt ihres Lebens war, nach
der Erfiillung ist dieses leer und sie ist bereit zum gliicklichen Tode.
Samtliche Gestalten in »Elektra« sind absichtlich stark primitiv. Als ob
Hofmannsthal noch keine komplizierten Menschen in eine starke Bewegung
bringen kénnte; als ob er sie unendlich vereinfachen miifte, um sie miteinan-
der oder gar mit einem nicht mehr rein lyrisch empfundenen Schicksal in
Zusammenhang bringen zu kénnen. Hier steht Hofmannsthal Maeterlinck
und Wilde am nachsten, hier nahert er sich am meisten ihrer aus psychologi-
schen Feinheiten und aus einer raffiniert primitiven Linienfihrung zusam-
mengesetzten Form. Nur hier will er ganz ihre Wirkung, den Rausch, die
Narkose, die Auflésung von allem in einem Gefiihl darstellen, vorher gab er
mehr die Sehnsucht nach ihnen wieder. Im Stil befindet sich also »Elektra«
ganz auf ihrer Ebene, nur die Absichten sind hier noch mehr zugespitzt. Das
wahre Drama hat noch weniger Méglichkeiten: in »Elektrae gibt es keinen
Konflikt, nur ein grofes Gefiihl das auf Erfiillung wartet; das zuletzt, wenn.
auch um den Preis des Lebens, in Erfiilllung geht. Die mit »Salome«
einsetzende Neigung der Psychologie zur Pathologie ist noch stirker und
fallt hier noch mehr auf, weil die Menschen doch starker differenziert sind
als dort. In Hofmannsthals Psychologie steht das stindige Schwanken von
allem in einem besonderen Gegensatz zur Starrheit der Linienfiihrung. Bei
der Gestalt Klytaimnestras ist das besonders auffallig. Z. B. in ihrem Ver-
hiltnis zu ihrer Tat: sie sieht Agamemnon vor und nach dem Mord und sie
hat das Gefiihl, da8 in der Zwischenzeit nichts geschehen sei. Oder sie spiirt,
daf sie es wagen wiirde, sich mit Agamemnon zu treffen; vielleicht wiirde sie
vor ihm erschrecken, aber vielleicht wiirden sie einander nur die Hand
reichen und gemeinsam weinen, wie gute Freunde, die einander lange nicht
mehr gesehen haben. Aber gerade Klytaimnestra steht in keinem Zusam-
menhang mit dem Drama, an ihr erfiillt sich nur Elektras Rache, ihr
Charakter ist nur von psychologischem Interesse, hat keine dramatische
Wichtigkeit. Hier tritt die das Drama auflésende Wirkung des Hofmanns-
thalschen Relativismus am schirfsten zutage. Das Thema war bei Sophokles
450 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
5.
Diese dramatische Neoromantik vermochte nur einen Teil, einen Bruchteil
zur Entwicklung beizutragen. Sie brachte eine Bereicherung der Ausdrucks-
mittel mit solchen Mitteln, die vielleicht Steine des Gebaudes eines irgend-
wann kommenden Dramas sein kénnen. Das grofe Drama selbst brachten
auch sie nicht, nicht einmal ein Drama iiberhaupt. Und zwar deshalb nicht,
weil, wie ihr Beispiel es von neuem zeigt, es kein asthetisches Drama gibt
und auch keines geben kann. Denn das Drama entsteht aus dem Konflikt,
aus der Wertung, aus der Einheit der ethischen und dsthetischen Werte und
hier wuchs das Drama aus rein asthetischen Grundlagen hervor. Ihre Monu-
xu Luestspiel und Tragikomédie 451
Beleuchtens« sein, wie Kerr sagt.'”. Der stindig wachsende und stirker
werdende Argwohn, mit dem jeglicher Heroismus gesehen wird; der hinter
jeglichen Heroismus hinleuchtet und die innere Leere, die Grundlagenlosig-
keit, die bewuSte oder naive Pose auch sieht. Ahnlich ist auch die Art der
Lebensbetrachtung, die wir hier gewhnlich Relativismus zu nennen pfleg-
ten; die nichts vollig Festes im Leben anerkennt oder dies nirgends zu
erblicken vermag; etwas, dessen Wert, Gréfe und Schénheit iiber jede Kritik
erhaben wire. Die Betrachtung, die stets und iiberall beide Seiten der
Medaille sieht und sie fiir unzertrennbar, einander erginzend, nur zusam-
men ein Ganzes bildend ansieht. Ahnlich war, um noch ein Beispiel unter
vielen zu nennen, die Erkenntnis dessen, daf viele kleine Dinge, Zusammen-
hange und Beziehungen iiber den Menschen herrschen. Also das Erkennen
des vélligen Mifverhaltnisses von Ursachen und Folgen und zugleich das
Aussterben des Glaubens, als ob entweder das, was tiber den Menschen
herrscht, irgendeinen immanent starken und sicheren Wert aufer seiner
Macht besii&e, oder als ob in den dagegen gerichteten Absichten der Men-
schen es etwas wirklich Erhabenes, wirklich Hochwertigeres als dies gabe.
In solchen und ahnlichen Motiven, zu denen sich noch die villig triviale und
gewohnliche Form der Geschehen, besonders im scharfen Gegensatz zur
standig leerer werdenden Erhabenheit vieler Bewegkrifte, gesellte, hitten die
Grundlagen eines echten, starken und grofen modernen Lustspiels vorhan-
den sein kénnen. Da8 dieses Lustspiel doch nicht kam, da& die Entwicklung
hier noch weniger zu reinen Stillésungen fiihrte, dafiir liegt die hauptsich-
liche Ursache, glaube ich, - ebenso wie bei der Tragédie - in der Natur der
die Komédie zustande bringenden Lebensbetrachtung selbst. Ebenso wie
dort vernichtet gerade das konsequente Zuendedenken von allem das, was
man mit seiner Hilfe erschaffen will. Das ist das tragische Verhiltnis des
modernen Lebens, der Lebensbetrachtung und der Dichtung: alles hat our
einen wahren Wert, wenn es méglichst konsequent zu Ende gedacht wird.
Es gibt keine feste, sinnvolle, aus dem Leben gewachsene Tradition, die mit
einem sicheren »Bis hierhin und nicht weiter« den alles bis zum AuSersten
vertiefenden und bis ins Atmosphirische verfeinernden Richtungen eine
Grenze setzen wiirde. Somit lésen sich sowohl die tragische als auch die
komische Form auf, sie verlieren ihre Reinheit und Kraft. Stehenbleiben
kann man aber auch nicht, denn das Stehenbleiben konnte auch im besten
Fall nur eine bewufte, kiinstlerische Abgrenzung sein, eine Abgrenzung, die
in jedem Augenblick in Gegensatz zur Natur der Materie, des Konflikts
geraten muf&, deren Festigung sie erreichen wollte. Wo es keine Tradition
xin Lustspiel und Tragikomédie 453
gibt, dort kann alle Konvention, alles Akademische, alle Stilisierung nur tief
kunstfeindlich sein; die Kunst muf alle Auflésungsprozesse, die im Leben
einsetzen, zu Ende verfolgen. Je ehrlicher jemand als Kinstler ist, mit desto
zwingenderer Kraft tragen ihn seine Erlebnisse weiter und weiter, auch
wenn der Preis dafiir gerade die Aufopferung der gesuchten Form ist.
Die Situation ist hier umgekehrt wie bei der Tragédie. Dort wurde diese von
allem, was das neue Leben gebracht hat, herabgesetzt, erniedrigt, trivialisiert
und dadurch der formalen Reinheit beraubt. Hier macht alles den Inhalt der
Komiédie tiefer, schwerer, gréfer; zu einem Inhalt, den ihre Form bzw. ihre
von der Form geforderten und erlaubten Wirkungsmdglichkeiten nicht mehr
ertragen. Komédie und Tragédie, die einst einander héchstens erginzt
haben, kommen nun einander immer stirker naher, so sehr, da& sie schon
fast verschmelzen, eins werden und damit ist die neue, die nur heute
vorstellbare neue Gattung, die Tragikomédie entstanden. Der Name darf
uns hier nicht irrefiihren. Schon Lessing wufte und bewies es - Voltaire
gegeniiber, der ebenfalls nicht iiber die im heutigen Sinn verstandene Tragi-
komiédie sprach -, da dieses Wort bei Plautus auch nur die Bedeutung habe,
da in seinem »Amphytruo« héher stehende Menschen vorkommen wiir-
den, als dies in der Komédie iiblich gewesen sei.' Ein Stiick, in dem solche
Menschen gezeigt werden, kann aber doch keine Tragédie sein, weil diese
Menschen nicht zugrunde gehen, weil es ein »gutes« Ende hat. Diese Tragi-
komédie entspricht also im Sinne unseres Wortgebrauchs dem »Drama«
oder dem »Schauspiele; vorausgesetzt, da8 ihr Konflikt wirklich ernst und
dem Tragischen nahestehend, nur eben nicht ganz zu Ende gefiihrt ist wie
z. B. bei Beaumont-Fletcher und bei seinen Epigonen. Sonst empfinden wir
sie ganz einfach als Lustspiel, weil unserem Gefiihl der Glaube vollkommen
abgeht, da& hochstehende Menschen nicht in die Komédie gehérten. Die
Verschmelzung des Tragischen und des Komischen kannte das alte Drama
nicht; Shylock, die einzige scheinbare Ausnahme, machten nur wir tragisch.
Es kann héchstens davon die Rede sein, da& komische und tragische
Menschen innerhalb eines Dramas nebeneinander vorkommen und sich
tragische und komische Situationen abwechseln. Im Stil - und der Stil ist hier
ein tiefes und wichtiges Symptom —- sind sie immer streng voneinander
getrennt. Grillparzer beschreibt einmal die Abwechslung der komischen und
tragischen Szenen bei Lope de Vega (und weitet diese Betrachtung auch auf
Shakespeare aus). Er schreibt, da& die Charaktere, die in den komischen
Szenen immer konsequent zu Ende gefiihrt seien, auf einmal alle ihre
Konsequenz verlieren wiirden. Menschen, die ernst, wiirdevoll gezeichnet
454 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
seien, wiirden in den Szenen mit den Narren vollig im Ton der Narren
sprechen: diese Szenen hiatten nur die Unterhaltung als Ziel, die sie um jeden
Preis erreichen miiften."® Und, das ist hier das Wichtigste, - obwohl
Grillparzer darauf kein groSes Gewicht legt - die Gefiihle fiir Komik und
Tragik sind so stark, konstant und wurzeln in einer solch gewaltigen
Gefiihlstradition, da& weder die komischen Szenen vom Gewicht der in
ihnen vorkommenden Menschen niedergedriickt werden, noch werden diese
durch ihre Herablassung erniedrigt.
Das Wesen der neuen Tragikomédie besteht in der Verschmelzung der
tragischen und komischen Elemente, darin, daf sie blo8 zur Frage des
Gesichtspunkts werden, daf sie sich in einer Sache so vereinen, da& diese
— zugleich — eine tragische und komische Wirkung hervorruft. Diese Be-
trachtung beginnt vielleicht mit Lenz und sie gelangt iiber die Romantik,
Grabbe und Georg Biichner zu Hebbel. Er erkennt diese Natur des moder-
nen Lebens als den Stoff des Dramas und er konstruiert auch fiir ihren
Ausdruck die Form der Tragikomdie. Er selbst vermeidet sie zwar mig-
lichst in seinem Werk, denn er ist mehr ein tragischer Dichter als ein
Darsteller des modernen Lebens. Von seiner Definition in Hinblick auf die
Tragédie war schon die Rede; dariiber, da& die Tragikomédie eigentlich
nichts anderes sei als eine Tragédie, die sich unter nicht tragischen Umstin-
den abspiele. Diese Umstinde seien aber, wenn sie auch nicht genug inneres
Gewicht hiatten, um etwas wirklich tragisch zu machen, fiir die Komédie
doch zu gewichtig: »[. ..] wie nichtig und erbirmlich sie auch [. . .] seien«,
schreibt er, »sind sie der Comédie desungeachtet doch nicht verfallen, denn
es gehen fiirchterliche Wirkungen von ihnen aus. Da bleibt dem Kiinstler
[...] nichts iibrig, als zu der Form der Tragicomédie zu greifen. Da& diese
Form keine reine ist, wird er darum nicht vergessen.«' Wir sahen schon bei
Ibsen, der alle Méglichkeiten der Dramatisierung des heutigen Lebens
radikal zu Ende ging, wie das Gefiih! der Relativitit des Komischen und des
Tragischen (die Stimmung von John Gabriel Borkmanns Ausspruch)"” das
Tragische an den Tragédien untergrub. Wenn wir jedoch die Sache von der
anderen Seite her betrachten, wiirden wir dasselbe Verhiltnis vorfinden.
Ibsen schrieb in seinem ganzen Leben zwei Lustspiele, und beide vor seiner
grofen modernen Periode. Zu einer Zeit, als er am Gipfelpunkt sowohl
seiner menschlichen als auch kiinstlerischen Méglichkeiten stand, setzte er
seine Tragédienkonzeptionen genauso zu Tragikomédien herab (»John
Gabriel Borkmanne), wie er einige seiner wunderbar tiefen und grofen
Komédienthemen zur Tragikomik steigerte (»Der Feind des Volkes«, »Die
xut Lustspiel und Tragikomédie 455
Wildente«, »Hedda Gabler«). Diese Steigerung ist aber nur eine intellektuel-
le Steigerung, sie steigert nur den weltanschaulichen, psychologischen Inhalt
der Stiicke, nicht den kiinstlerischen. Diese Steigerung, diese Vertiefung
wurde weder hier noch anderswo je zur Form. Im Gegenteil, je starker und
je hochwertiger sie war, desto gréfer war die Gefahr fiir die Form, oder
einfacher ausgedriickt: fiir die Einheit der Wirkung.
Die tragikomische Wirkung kann nicht einheitlich sein, die Gefiihle, die die
Tragikomédie auslésen, kénnen nie wirklich rein sein. Ihre Einheit ist blo&
intellektuell. Denn tragikomisch kann etwas nur durch einen sehr kompli-
zierten und ausschlieflich intellektuellen Proze& gemacht werden; durch die
Einheit, daf ein sich vor uns abspielendes Geschehen von zwei gegensitzli-
chen, einander ausschlieSenden Gesichtspunkten her beurteilt werden kann.
Diese Wirkung kann aber nur nachtraglich, nur intellektuell sein. Das
Gefiihl, das den Ablauf der Geschehnisse vor uns unmittelbar begleitet, ist
entweder tragisch oder komisch; es ist die Wahrnehmung der einen Seite, der
Seite, die sinnlich starker zum Ausdruck gekommen ist. Es.ist kein Zufall,
da das Drama von den ausdriickbaren Gefiihlen nur die Pole, den komi-
schen und den tragischen kennt; die Natur seiner Wirkung, die Méglichkeit
seiner Wirkung (spontane Massenwirkung) erlaubt nichts anderes. Sie kann
nichts anderes dulden als den méglichst starken sinnlichen Ausdruck irgend-
eines Gefiihlsextrems. Die Gefiihlsiiberginge sind sinnlich nicht ausdriick-
bar und somit kénnen sie nie mit unmittelbarer und mitrei&ender Kraft
wirken. Auch das sogenannte »Dramac ist keine Ausnahme in dieser Gesetz-
mifigkeit. Seine Wirkung ist ohnehin nie etwas anderes als die Abschwi-
chung einer tragischen oder komischen Wirkung fir ein Publikum, das
entweder nicht reif fiir die wirklich tragischen Wirkungen ist oder dessen
dekadenten Nerven die bis zum Aufersten gesteigerten Wirkungen nicht
mehr ertragen. Das wire natiirlich wieder die Rechtfertigung der formalen
Untergeordnetheit der in der Mitte stehenden, nur halb zu Ende gefiihrten
Werke. Denn die Gefiihle, die durch sie ausgelést werden kénnen, unter-
scheiden sich nur in der Qualitat, nur in der Intensitit von denen, die durch
andere Gattungen erreichbar sind, nur ihre Schwache unterscheidet sie von
den anderen und somit ist das Wesen ihrer Form die Minderwertigkeit.
Historisch verhilt es sich gewif so: das »Dramax< begleitet immer den Verfall
der Tragédie und es gibt zumeist vor tragischen Epochen ahnliche, primitive,
untragische Schauspiele.
Diese sinnliche Natur der dramatischen Wirkung erlaubt uns entweder nur
das Weinen oder nur das Lachen. Dadurch verhindert sie es, da das heutige
456 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
Leben auch fiir das neue Drama jene Bereicherung bringt, wie fiir den
Roman (es mu& vielleicht nicht einmal gesagt werden, da8 die Shakespeare-
sche Abwechslung des Weinens und des Lachens nicht hierher gehért, dort
sind beide an sich rein). Die Wirkungsméglichkeiten des Romans erlauben
diese nur im Intellekt verschmelzende Dualitit. Der Roman erreichte seit
den grofen englischen Humoristen des 18. Jahrhunderts bis heute die
gro8ten und tiefsten Wirkungen mit Hilfe derselben Lebensbetrachtung, die
fiir das Drama nicht nur unfruchtbar, sondern geradezu gefahrlich war.
LR
Was bedeutete der Naturalismus fiir das Lustspiel? In Frankreich gelangte es
auf einen spater nicht einmal annahernd erreichten Gipfelpunkt, bevor es
wirklich angekommen wire: in Henri Beques »La Parisienne«. Diese neue
Komédie aber, die »comédie rose«, deren Typ und Technik dieses Stiick
schuf, brachte nicht sebr viel Neues und Starkes. Und auch dies war nicht
viel mehr, als was Donnay und die um ihn, von dhnlichen Dichtungen
ausgehenden Dichter gebracht haben. Von ihren bedeutenderen Werken war
schon die Rede. Wir sahen, da& sie ihrem Wesen nach weder Tragédien noch
Komédien sind. Die komischen und tragischen Wirkungen vermischten sich
in ihnen auf eine Weise, da8 der ironische Zweifel an allem jede tragische
Méglichkeit im Keime erstickt, aber die Menschen und ihr Schicksal jedoch
nicht derart herabsetzt, daf sie rein komisch wirken kénnen. Somit kamen
im wesentlichen lyrische und intellektuelle Wirkungen zustande: fiir das
Drama sind diese Wirkungen unfruchtbar. Von diesen Wirkungen bleiben in
den durchschnittlichen Bihnenprodukten die ein wenig lockere Komposi-
tion und die Vertiefung, die hohere Qualitét der Menschenbetrachtung und
Menschenbeurteilung erhalten (jedoch keine Steigerung der Menschengestal-
tung). Donnays nihilistisches Zweifeln verblafte bei Capus und seinen
Nachfolgern allmahlich zu einem milden Alles-Verstehen, Alles-Verzeihen
und - hauptsichlich - zu einem Alles-Dulden. Die strenge, harte und
aggresive »comédie rosse« wird allmahlich von diesem neuen Typ, der
»comédie rose« abgelést. Ihre Wirkung auf das Publikum war natiirlich viel
sicherer; kiinstlerisch verliert sie jedoch ihre alten, ebenfalls zweifelhaften
und problematischen Werte: das bis zum Aufersten getriebene radikale
Zweifeln, ohne dafiir eine positive Form schaffende Werte finden zu kén-
nen, sogar ohne ihre Wirkung vermindern zu kénnen. Dieses Zweifeln ist
nur angenehmer, weil es kleinmiitiger und minderwertiger als das alte ist,
seine Wirkungen bleiben dieselben.
xan Lustspiel und Tragikomédie 457
Wichtiger ist das Verhaltnis des deutschen Naturalismus zum Lustspiel. Hier
ist von Anfang an die Méglichkeit zweier Typen gegeben. Der eine ergibt
sich aus der Technik des Naturalismus, der andere aus der Weltbetrachtung,
die den Naturalismus zustande bringt; der eine erbringt den Humor, der
andere die Satire des Naturalismus. Das Wesen des ersten ist kurz das
Folgende: es ist die humorvolle Wirkang der Betrachtung aus der Nahe, der
Kleinigkeit der GréSe und der Gréfe der Kleinheit; es ist der Humor der
Totalitat. Die naruralistische Betrachtung brachte die Moglichkeit fiir einen
neuen dramatischen Humor, dadurch, daf sie die Dinge nie blo8 an sich
dargestellt hat, sondern zusammen mit simtlichen sie begleitenden und
umgebenden Nebenumstinden, die sogar zumeist auch das, was sie begleitet
haben, unterdriickten. Wir wissen, da die Wirkung aller allzusehr aus der
Nithe betrachteten Dinge komisch ist; die humorvolle Wirkung des engli-
schen Romans des 18, Jahrhunderts, Jean Pauls, Dickens’ usw. wird in vieler
Hinsicht auf diese Tatsache aufgebaut. Der Naturalismus, bei dem dies in
einem solchen Mafe das Wesen jeglicher Technik ist, da% er auch unbeab-
sichtigt alles auf diese Weise dargestellt hat, mufte den Versuch unterneh-
men, diesem Humor einen dramatischen Ausdruck zu geben. Was ist das
‘Wesen dieses Humors? Vielleicht das Folgende: Alle unsere Urteile, wenn
sie auch die oberflichlichste Feststellung der gewéhnlichsten Sache sind,
sind Abstraktionen; oder genauer: sie sind die Weglassung, das Nicht-Er-
blicken vieler Dinge, die wir dann als »nebensichlich« bezeichnen, um das
Ding selbst mit dem Begriff, den wir uns von ihm gebildet haben, zu
identifizieren. Das bezeichnen wir dann als das » Wesen« eines Gegenstandes
und wir gewohnten uns daran, dies immer mit dem Gegenstand (oder
Menschen) ganz und unzertrennlich als eins zu empfinden. Die Darstellung
der Totalitit zerreift nun schon jeden Augenblick diese Einheit des Begriffs
und der Realitét. Und sie schiebt sie nicht mit roher und enthiillender
Energie, sondern leise auseinander, und gibt damit die Méglichkeit, das neu
Erblickte wieder mit einem neuen Begriff zu identifizieren, den dann die
neue Beleuchtung des nachsten Augenblicks wieder aufheben wird. Dadurch
kommt eine standige Verschiebung, ein Hin-und-her-Pendeln der Begriffe,
der Urteile zustande, zu dem das ruhige, reiche und unbezweifelbar sinn-
liche Leben, gerade das, was diese stindige Verinderung hervorruft, das zu
ihnen in Relation stehende Leben, das Leben dessen, worauf sie bezogen
sind, im gré8tmoglichen Gegensatz steht. In diesem Gefihl ist das Gefiihl
des Reichtums des Lebens, seine Gréfe, Vielfarbigkeit und Allseitigkeit
enthalten. Was aber vielleicht noch wichtiger ist, ist die Tatsache, da8 darin
458 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
die Technik dieser Darstellung ist gerade das Gegenteil der gewdhnlichen
Stilisierung: Nicht das bis zur Groteskheit deutliche Vorherrschen eines
Charakterzuges bringt die Komik zustande, sondern gerade im Gegenteil
das, da die Zeichnung unendlich genau ist, daf sie tausend Details enthiillt,
da& somit der ganze Mensch rund und umgehbar wird. Die Quelle der
Komik Cramptons ist der Naturalismus, er ist die am naturalistischsten
gezeichnete Dramengestalt der ganzen Zeit. Aber nur Crampton selbst ist
derart naturalistisch, nicht das Stiick. Im Stiick selbst ist alles nur skizzenhaft
oder gerade konventionell, von allem ist nur so viel gezeichnet, wie fiir die
komischen Situationen, fiir die allseitigen und vollkommenen Manifestatio-
nen von Cramptons Wesen unbedingt notwendig ist. Hauptmann zeichnet
hier, im vélligen Gegensatz zu seinem gewéhnlichen Stil, vollkommen
fertige, schematische und locker begriindete Situationen. Wir sehen nichts
aus Cramptons Familienleben, kaum etwas von den akademischen und
sonstigen kiinstlerischen Verhaltnissen und vielen anderen Dingen; von
alledem, was gerade in der Heraufbeschwérung seines Schicksals von ent-
scheidender Bedeutung war. Hauptmann legt hier, in seinem naturalistisch-
sten Lustspiel, denselben Weg zuriick, der wegen des Ausdrucks heutiger
lyrischer Stimmungen zum Impressionismus gefiihrt hat; er la8t weg, er
schematisiert.
Sein zweites Lustspiel, »Der Biberpelz« ist eine Satire. Es zeigt die Ohn-
macht der Staatsgewalt in einigen an sich bedeutungslosen, aber genial
allgemeingiiltigen Fallen. In einer kleinen Gemeinde, in der Nahe Berlins,
stiehlt eine geschickte Frau zunichst einen Sto Holz, dann einen Pelz, ohne
daf die Behérde, die sich damit beschiftigt, alle unabhingigen und denken-
den Menschen der Majestitsbeleidigung zu iiberfiihren, auch nur ahnen
wiirde, da sie es gewesen ist. Die Frau ist sogar dort, in ihrer Nahe, sie
verhéren sie sogar in der Sache des Diebstahls - natiirlich nur als Zeugin
wegen einiger Details. Und am Ende des Stiickes plaudert von Wehrhahn,
der Reprasentant der offiziellen Macht, freundlich mit ihr und mit dem
Hehler iiber den Diebstahl. Er will von ihr Information iiber den Charakter
anderer Menschen und er bewundert und schitzt zugleich ihre naive Giite
gering, durch die sie alle so wahr und ehrlich sieht, wie sie selbst ist. »Der
Biberpelz« ist aber mehr als die hier skizzierte hervorragende und treffende
Satire. Die Gestalt der Frau Wolff, der diebischen Frau, macht das Stiick
groBer. Ihr gegeniiber versagen alle moralischen Wertungen, sie hat keine
Skrupel, sie stiehlt alles, was in ihre Hinde gerit, das Wildern ist ihr
stindiger Beruf, die Liige ist ihr tagliches Brot - und nebenbei ist sie eine
xt Lustspiel und Tragikomédie 461
ganz naiv ehrliche Frau. Sie ist eine kluge, fleiSige, strebsame, hervorragende
Ehefrau, eine gute Mutter, eine treue Freundin, die fiir ihre guten Menschen
mutig eintritt, die unsolide Menschen verachtet und es ist gewif, da sie
gro&e Erfolge erzielen wird. Diese Frau kénnte man in keinen moralischen
Begriff hineinzwingen. Man kann sie nicht verurteilen: auf andere Weise
wire es nicht méglich emporzukommen und sie will - aus verstindlichen
Griinden - nicht den ganzen Tag arbeiten, um sich nur irgendwie durchzu-
schlagen und ihr Leben zu fristen. Dieser Riickzug simtlicher moralischer
Urteile gegeniiber Frau Wolff ist der gréfte Wert des »Biberpelz«. Wir
spiiren, da& es nicht anders sein kann: hier ist die soziale Notwendigkeit
ebenso stark wie in den »Webern«. Nur gab es dort eine offene Revolte
gegen die heutige Ordnung, die unbedingt mit einer Niederlage enden
muBte; hier sehen wir, wie ein kluger Proletarier die Liicken des Regimes
und der Moral ausniitzend zu denen aufzusteigen imstande ist, die es im
heutigen Leben bereits gut haben. Der Humor des Stiickes ist auch hier der
Relativismus, das stindige Schwanken der Begriffe, das stindige Zusammen-
brechen der Urteile, Wertungen. Nur geschieht das hier nicht mehr in Form
von langsamen, humorvollen Erkenntnissen, sondern eine Reihe scharf
zugespitzter Situationen ist da, um alles zu entlarven, was zu entlarven ist,
was wert ist entlarvt zu werden und entlarvt werden mu&. »Der Biberpelz«
steht deshalb - obwohl sie duferlich naturalistischer ist als die Crampton-
Komédie, denn wir finden darin anstelle der skizzenhaften Technik der
Crampton-Komédie wieder den alles gleichsam ausarbeitenden Naturalis-
mus - noch weiter vom Naturalismus entfernt als »Kollege Crampton«; hier
ist die Gruppierung noch auffallender. Die Komik dieses Stiickes besteht aus
lauter Situationspointen. Frau Wolff und ihr Mann gehen z. B. zum Holz-
steblen: der ihnen gut bekannte Gerichtsdiener kommt zu ihnen und — na-
tiirlich hat er keine Ahnung vom Ziel der Reise - er macht ihnen Licht, damit
sie leichter zusammenpacken kénnen. Oder der bestohlene Kréger macht
einen Besuch bei Frau Wolff und er bedroht zornig gestikulierend die
unbekannten Diebe — in seiner eigenen Hand hilt er jedoch sein gestohlenes
Holz, das in der Wohnung der Wolffs herumliegt usw. Der Dialog vermeidet
noch bewuft die Pointe - wegen der Natiirlichkeit. Aber gerade deshalb ist
es notwendig, da8 der Aufbau diese Situationen herausstellt, und somit kann
es in diesem Stiick nicht mehr die Ungegliedertheit des Naturalismus geben.
Diese Situationspointen regeln natiirlich das Kommen und Gehen der
Menschen, das Nacheinander der Szenen. Auch hier bleiben zwar, soweit es
méglich ist, die scheinbaren Eventualitaten des Naturalismus bestehen, aber
462 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
nur dort, wo sie mit der auf dieses Weise strengen Struktur zu vereinbaren
sind. Hinsichtlich des Dialogs besteht dasselbe Prinzip; er gibt dem Men-
schen méglichst das in den Mund, was der betreffende in der Situation sagen
wiirde, und auf keinen Fall etwas Hochwertigeres, als das, was die Intelli-
genz und die Bildung des betreffenden Menschen erlaubt. Aber auch hier
— besonders im Tempo — nur soviel und so, daf die gewiinschte Pointe wirkt.
Der Naturalismus ist also auch im naturalistischen Lustspiel nur ein Aus-
drucksmittel unter vielen. Er ist den komischen Wirkungen untergeordnet,
von seinen Prinzipien bleiben nur diejenigen giltig, die diese begiinstigen.
Die anderen werden vom Dichter weggelassen oder er verwendet gerade die
gegenteiligen. Das wahre Lustspiel kann nicht konsequent naturalistisch
sein; sogar das Lustspiel, das am starksten der Seele des Naturalismus
entsprang, mu den Naturalismus verlassen, wenn auch unbeabsichtigt,
wenn auch gegen seinen Willen. Eine jede Betrachtungsweise, die als Grund-
lage eines Lustspiels dienen konnte, duldete, wenn sie dem Naturalismus
auch noch nicht so nahe steht, nicht dessen Anwendung als ausschlieGliches
Ausdrucksmittel. Seine Untauglichkeit machte das Lustspiel nur weniger
problematisch als die Tragédie. Vielleicht auch deshalb, weil es in den
meisten Lypstspielen ohnehin immer viele naturalistisches Elemente gibt. Das
neue Lustspiel lief allmahlich, fast unbemerkt den naturalistischen Stil hinter
sich,
Das Lustspiel des deutschen Naturalismus zeigt die Wirkung eines der
beiden Hauptmann-Lustspiele - meistens beider - und paft sich seinem Typ
an. Der Miinchner Josef Riiderer ist in gewisser Hinsicht der siidliche
Antipode des Lustspieldichters Hauptmann; er ist farbiger, frischer, leichter,
aber er verfolgt nicht so konsequent alles bis zum Ende, er ist oberflachli-
cher. Bei seinen Lustspielen kreuzen sich die zwei Hauptlinien der beiden
Hauptmann-Lustspiele; Moritz Heimanns »Joachim von Brandt« kénnte
man stilistisch so beschreiben, daS es ein in dem »Biberpelz« verwandter
Betrachtungsweise konzipiertes Crampton-Thema ist. Diese Komédie erhialt
ihren tiefsten Humor durch die Beleuchtung eines Menschen von allen
Seiten, der Weg aber, der dorthin fiihrt, ist die Technik der Situationspointe
der anderen Komédie, und den Hintergrund bildet ihre scharfe und ernst-
haft satirische Gesellschaftskritik. Somit ist dieses Stiick die Vertiefung von
beiden, erreicht aber — vielleicht gerade deshalb — nicht deren reine und
starke Wirkung. Wegen der Hauptgestalt mu8 die Umgebung schematisiert
werden (wie im »Kollege Crampton«); nachdem jedoch diese von gréferer
Wichtigkeit ist, verliert das, was im Mittelpunkt steht, doch viel von seiner
xin Lusstspiel und Tragikomédie 463
Rundheit. Der Hauptgrund aber ist, daf die menschliche Vertiefung die
politische Satire abstumpft und die ganz unmittelbare Wirkung des Humors
der rein menschlichen Situationen abschwacht. Und in erster Linie: wegen
der hochgradig intellektuellen Vertiefung wird der als komisch konzipierte
Konflikt des Stiickes zu gewichtig fiir eine Komédie und néhert sich sehr
stark der Tragikomédie.
2
Diesen Weg legte Gerhart Hauptmann schon friiher, in der Fortsetzung des
»Biberpelz«, im »Roten Hahn« zuriick. Schon in seinen ersten beiden
Lustspielen war sehr vieles vorhanden, was geeignet gewesen ware, die
Reinheit der lustspielhaften Wirkung zu stéren; in beiden kamen solche
Schicksale vor, die es sehr schwer vertrugen, durch die Komédie ausge-
driickt zu werden. In »Kollege Cramptons« »guteme Schluf liegt auch etwas
Gewaltsames, etwas nur Konventionelles, nicht Notwendiges. Der natiir-
liche Schluf steht nur den tragischen Schliissen nahe und kénnte somit die
Tragikomidie entstehen lassen; die Gewaltsamkeit seiner Vermeidung wird
nur durch die Leichtigheit der Handlungsfidhrung der ganzen Komédie
gemildert und vorbereitet. Méglich wird das dadurch, da& Cramptons
Kennenlernen der einzige Gegenstand des Stiickes ist; es kann also zu Ende
gehen, sobald wir ihn — gleichgiiltig wie - kennengelernt haben. Die Lésung
ist reiner als im »Biberpelz«, dessen Komédieneigenschaft dadurch gerettet
wird, daf die darin behandelten Episoden nur als Episoden behandelt
werden, ihre soziale Notwendigkeit noch nicht unterstrichen, und der
Konflikr, der sich in der Tiefe des Ganzen birgt, noch nicht ganz zu Ende
gedacht ist. Natiirlich: die Dissonanz zeigt sich bereits auch hier. Haupt-
mann wiederholt das Motiv des Diebstahls und baut seine Komposition auf
die Parallelitat zweier ganz gleichen Fille auf. Diejenigen, die nur den Ton
der Komédie betrachten, beanstanden dies auch - nicht ganz zu Unrecht;
mit welch reicher Ideenhaftigkeit Hauptmann auch dieses Motiv gelést hat.
Denn nur die groSe typische Bedeutung kann dem Motiv eine vollkommene
Berechtigung geben: die Wiederholung ist nur dann vollkommen gelést,
wenn sie nichts anderes ist, als das Symbol der gro8en Typik des Falles.
Hauptmann bleibt hier noch innerhalb der Grenzen der Komédie und die
Vertiefung ist nur in unseren nachtraglich geweckten Gedanken vorhanden.
Sie stért noch nicht die frische Leichtigkeit und die tiefe und reine Komik
des Kampfes der Gegenspieler.
Diese Vertiefung ist das Thema vom »Roten Hahn«. Hauptmann nannte es
464 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
gewif nicht nur deshalb eine Tragikomédie, weil es mit Frau Wolffs Tod
endet, sondern deshalb, weil sich hier schon alles in einer so vielseitigen
Beleuchtung zeigt, alles schon in so tiefe Zusammenhinge hineingestellt ist,
daf seine leichte Komik verlorengegangen ist. Die »Vertiefung« ist nichts
anderes als das konsequente Zuendedenken aller Motive der ersten Komé-
die. Das Ergebnis ist, da das, was dort nur ein lustiger Fall war (wenn auch
dahinter das Gefiihl seiner groSen Allgemeinheit und Typik stand), hier den
Platz im Leben einnimmt, der ihm durch seine innere Bedeutung zukommt.
Mit tragischer Wucht wird es zu einem das ganze Leben ausfiillenden
Ereignis. Der Akzent liegt auf der Typik der Situation und auf der Notwen-
digkeit der typischen Situation. » Wer ni mitmacht, is faul, wer de mitmacht
is schlecht«, sagt die Heldin des Stiickes. »Ma hullt doch blof all’s aus’m
Drech raus. Unsereens muf jeden Dreck doch anfassen! Da heeft’s immer:
gutt sein. Wie fangt ma’s ock an?«'® Das Leben ist - zumindest fiir solche
Menschen — eine Wahl zwischen Morallosigkeit oder Bankrott. Hauptmann
stellt hier eine ganze Symphonie derjenigen dar, die den Aufstieg wahlen,
was er auch koste. Fiir die meisten bedeutet es auch kein Opfer, auf all das zu
verzichten, was sie infolgedessen verlieren miissen. Nur das andersartige
Schicksal einiger beiseite gehenden oder zur Seite gestoRenen Menschen
begleitet als zweite Melodie erginzend die erste.
Die tragikomische Wirkung ist hier unvermeidbar. In diesem Stiick geht alles
um Leben und Tod, und dessen Notwendigkeit ist so stark, da jegliche rein
komische Wirkung ausgeschlossen ist. Tragisch kann es aber schon wegen
der Trivialitét des Geschehens nicht sein; alles, was geschieht ist doch nur
eine Episode, ist um des ganzen Lebens willen da, kann nicht das ganze
Leben bedeuten. Hauptmann sieht und motiviert hier so tief wie in wenigen
seiner Sticke, wie in wenigen heutigen Dramen iiberhaupt. Aber gerade die
Tiefe der Motivierung untergrabt die Méglichkeit sowohl der komischen wie
auch der tragischen Wirkungen und fihrt zu dieser nicht reinen und somit
unlésbaren Form. Wie dies bei der Tragédie geschah, haben wir in vielen
Fallen gesehen. Bei der Komddie ist die Situation noch zugespitzter, denn
ihr Wesen erfordert doch nicht eine so tief notwendige Begrindung des
Geschehens. Im Gegenteil, wenn sie auch die menschlichsten allgemeinen
Fehler mit schirfster Ironie angreift, nimmt sie auch dann mit einer Hinein-
stellung in eine ganz marchenhaft unwahrscheinliche Welt (Aristophanes)
oder mit ihrer gewaltsamen Fihrung ganz bis zur pathologischen Aus-
schlieBlichkeit (Moliére) wieder vieles von ihrer Allgemeingiiltigkeit zuriick.
Sie behiilt nur so viel davon, da sie sinnlich wahrnehmbar ist, sie stumpft sie
xin Lustspiel und Tragikomédie 465
aber méglichst ab und vermischt die Méglichkeit, ihre Notwendigkeit zu
erkennen. Das ist, um moderne Beispiele zu nennen, im »Zerbrochenen
Krugs, in Gogols »Revisor«, sogar noch im »Biberpelz« der Fall. Haupt-
mann denkt aber, ebenso wie Ibsen in der » Wildente«, den Konflikt ganz bis
zum Ende. Er sieht beide Seiten aller Geschehnisse und stellt sie mdglichst
konsequent dar: die tragisch traurige Allgemeinheit, die Notwendigkeit und
die Umstinde, die in ihrer Trivialitat komisch sind. Im ersten Augenblick ist
alles komisch, tiefer betrachtet ist alles tragisch, aber von einer noch tieferen
Perspektive her betrachtet, verliert es auch seine Tragik. Ein resigniertes
Kopfschiitteln, Achszelzucken oder ein traurig verstehendes Licheln ist die
letzte Stimmung allem gegeniiber. Ibsen hielt in der » Wildente« - in gewisser
Hinsicht - Komik und Tragik noch auseinander, nur in einigen seiner
Menschen (Gregers) vermischt sich beides vollig. Meistens wurden die
Situationen durch die Vermischung komischer und tragischer Szenen tragi-
komisch (z. B. Hjalmars und Hedwigs Szenen im letzten Akt). Und wenn
auch diese Szenen tief zusammenhingen, wenn es auch das Wesen der hier
dargestellten Welt ist, daf sie zusammengehéren, sind sie kiinstlerisch
voneinander getrennt. Beide wirken rein und stark, die dissonante Stimmung
der Tragikomédie stellt sich nur getrennt und in der letzten Wirkung ein.
Hauptmann ist hier noch konsequenter. Bei ihm sind beide stets unzertrenn-
bar vorhanden, sie schwachen gegenseitig die Wirkung ab, und vernichten
ihre Wirkung gegenseitig oft so sehr, daf dieses Stick, das in der Menschen-
und Schicksalsbetrachtung eines seiner reichsten Werke ist, in seiner unmit-
telbaren Wirkung an den meisten Stellen eine leere, ermiidende und monoto-
ne Wirkung erweckt. Nur nachtraglich, in der Erinnerung, erhalten die
Dinge, die im ersten Augenblick trivial wirkten, eine tiefe Bedeutung. Die
tragikomische Wirkung ist ausschlieflich intellektuell und die mit diesem
Ziel stilisierten Menschen kénnen, seien sie noch so lebendig, keine wirk-
liche und stark sinnliche Wirkung erwecken. Es ist sehr charakteristisch, da&
in der einzigen wahrhaft wirkungsvollen Szene des Stiickes, in der des
Rauchhaupt, am Ende des dritten Aktes, die rein tragische Wirkung alle
anderen beabsichtigten Nebenwirkungen unterdriickt.
Die Hauptgefahr der tragikomischen Dramenkonzeption liegt darin, daf die
gegensitzlichen Wirkungen sinnlich gegensitzlich sind und sich nur im
Intellekt vereinen. Sie verhalten sich zueinander gerade entgegengesetzt wie
die Grundparadoxien des Dramas, wo intellektuelle Gegensatze sich in
sinnlichen Bildern vereinen. Deshalb schwachen und paralysieren sie ihre
Wirkung gegenseitig, und zwar um so starker, je ernster und tiefer das
466 Die Entwicklung aus dem Natsuralismus
3
Die tiefe Verwandtschaft, die zwischen den seelischen Grundlagen der gegen
den Naturalismus gerichteten Stilisierung und denen des Naturalismus
besteht, wird durch ihre Stellung zum Lustspiel noch mehr verstarkt, als wir
bisher sehen konnten. Es kam hier nicht blof kein neuer, vom Naturalismus
wirklich tief unterschiedlicher Schauspielryp zustande (wie bei der Tragé-
die), sondern dessen Ungeldstheiten und Problematik sind hier vielleicht
noch schirfer, noch nackter sichtbar als sie es dort waren. Und das Entschei-
dendste, die Vermischung des Tragischen und des Komischen, die einander
gegenseitig zerstérende Wirkung, konnte dieser Typ ebensowenig vermei-
den wie der Naturalismus, dieser blieb ebenfalls bei der unreinen Form der
Tragikomédie stehen.
Hofmannsthals »Der Abenteuerer und die Sangering stellt dessen ersten Typ
dar und unterscheidet sich nur in sehr wenigen detaillierten und mit leichte-
rer Hand gemachten Zeichnungen und in der Farbigkeit von ihnen. Die
unter seinem Einflu8 stehenden Dichter folgen diesem Typ der Komédie.
Im Motiv ist Julius Babs Komédie, »Der Andere«, davon unabhingiger,
xin Lustspiel und Tragikomédie 469
komédien- noch triviale Possenthemen haben; sie sind aber nur Skizzen, nur
Fragmente. Es ist noch schwer, in ihnen das Positive zu erblicken; am
ehesten vielleicht in »Der Hulla«.
+
Es gibt also kein naturalistisches Lustspiel, es gibt aber auch kein Lustspiel
ohne Naturalismus. Auger den bislang behandelten Méglichkeiten fiir eine
Komédie gibt es aber noch einen Weg in Richtung des modernen Lustspiels:
den Weg des Grotesken. Es braucht freilich nicht gesagt zu werden, daf
auch hier von keinen scharfen und dogmatisch giiltigen Scheidungen die
Rede ist, in den meisten naturalistischen Lustspielen gibt es-auch Elemente
der grotesken Komik, sie stehen aber an sehr vielen Stellen der Komik des
Naturalismus auferordentlich nahe. In der Komik aber, die zum Grotesken
neigt, geraten das Komische und der Naturalismus in ein neues, anderes und
bewufteres Verhiltnis zueinander. Der Zusammenhang zwischen ihnen, der
anderswo zufillig erschien, wird hier notwendig. Die naturalistische Be-
trachtungsweise und Technik ist auch hier nur eine Quelle der Komik, hier
stellt sie sich aber bewuft in den Dienst eines anderen Zieles, der Komik der
grotesken Linienfiihrung, es ist von ihr iiberall nur soviel vorhanden, wieviel
zu diesem Ziel gerade notwendig ist. Das Groteske ist iiberall die Vereini-
gung des aus der Nahe Betrachteten und des Ornamentalen, des Dekorati-
ven; man kénnte sagen: "es ist der Ausdruck des dekorativen Wertes der
alleaglichen trivialen, haflichen Dinge. Noch genauer: es ist das Ornamental-
Werden der Ha8lichkeit der haflichen Dinge; und nicht die Entdeckung der
an sich trivialen, eventuell in den haSlichen Dingen liegenden Schénheiten
(Menuier, bzw. Millet kénnen hier die charakteristischsten Beispiele dafiir
sein). Das Groteske unterstreicht das Hifliche, das Gewéhnliche und das
Widerwartige und - nun ist nur von der Literatur die Rede - gerade mit
Hilfe dieser Unterstreichung nimmt es ihre scheinbare Bedeutung, gibt
ihnen die Bedeutung, die sie immer, sogar in gesteigertem Mafe fiir sich
beanspruchen und in Wirklichkeit auch besitzen. Die Stilisierung auf das
Groteske bedeutet somit fiir das moderne Lustspiel das Folgende: all das,
was im Sinne der naturalistischen Betrachtungsweise iiber das Leben
herrscht, kommt in den Vordergrund. Aber wahrend dort der Versuch
unternommen wurde, das Verhiltnis dieses Beherrschenden zu allem ande-
ren so darzustellen wie es tatsichlich ist, was zur Folge hatte, daf die
Begleitung die Melodie immer unterdriickt, kommt sie hier in den Vorder-
grund. Ihre Kleinigkeit, Banalitit und Bedeutungslosigkeit, alles was dort
xin Lustspiel und Tragikomidie 471
unbewu8t blieb und deshalb ein unangenchmes Gefiihl erweckt hat, wird
hier bewuft; aus der Dissonanz ihrer inneren und duferen Bedeutung
kommt eine grotesk komische Wahrung zustande.
Eine derartige Darstellung der Wirklichkeit war die einzige Méglichkeit,
dem spezifisch heutigen Leben eine Form zu geben. Nur das konnte das
Wesen der Stilisierung sein, was jede andersartige Stilisierung mit allen
méglichen Mitteln zu eliminieren versucht hatte. Natiirlich erfolglos, denn
es war in der Grundkonzeption und in der Betrachtung aller Dinge enthal-
ten. Das unglaubige, die Relativitat von allem durchschauende, nihilistische
Zweifeln, kann nur hier eine villig adaquate und vollkommen kinstlerische
Form erhalten (inwiefern diese Form wirklich hochwertig ist, sollten wir
hier nicht untersuchen). Das war die einzige, aber iiber groBe Méglichkeiten
verfiigende Form der anarchistischen, nihilistischen Weltbetrachtung. Hier
war die Méglichkeit gegeben, — mit Hilfe des Dekorativwerdens und Monu-
mentalwerdens der Banalitat und der Haflichkeit - alles in rein komischen
Wirkungen aufzulésen. Natiirlich droht auch hier die Gefahr der Tragiko-
médie; hier ist sie aber vorstellbar, wenn es auch bislang nicht gelungen ist,
sie zu besiegen. Es ist vorstellbar, da® die maximale »Vertiefunge im
Grotesk-Komischen eine ganz reine kiinstlerische Form erhiilt, es ist ein
heutiger Komédienstil vorstellbar, der eine gleichrangige Stelle mit den
Werken der heutigen bildenden Kiinste einnehmen wiirde, die sich in eine
ahnliche Richtung bewegen (Toulouse-Lautrec, Beardsley, einige Mitglieder
der Simplicissimus-Gruppe, von den alten wie Degas oder viel mehr Dau-
mier, Guys ganz zu schweigen).
Der Naturalismus ist hier nur ein Mittel unter vielen und das Verhiltnis zu
ihm kann sehr vielfiltig sein. Wir kénnen hier jede Art dieses Verhiltnisses
vorfinden, angefangen mit einem Lustspiel, das in der duSeren Technik (also
im Dialog, in der Milieuzeichnung usw.) ganz naturalistisch ist und diese
Stilisierung nur bei der Anordnung der Dinge verwendet, bis hin zu einem
Lustspiel, das so sehr stilisiert ist, da& nur das tiefste Wesen der Betrachtung
mit dem Naturalismus identisch ist, der Ausdruck aber das Gegenteil
jeglichen Naturalismus darstellt, nachdem es nur Elemente auswihlt, die zur
grotesken Konstruktion unbedingt notwendig sind.
Georges Courteline, das stirkste komische Talent der heutigen franzési-
schen Literatur, steht unter diesen Dichtern dem Naturalismus am nichsten.
Deshalb steht er im schiarfsten Gegensatz zum gegenwartig dort wieder
modischen Lustspiel und zur Posse, die mit mathematischer Strenge aufge-
baut sind, durch unmdgliche Situationen, Witze und Figuren wirken. Sein
472 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
Lustspielstil steht dem Stil der Lustspiele Molitres und sogar dem bereits vor
Moliére bestehenden Lustspielstil (z. B. »Avocat Pathelin«'"') viel naher. Er
lernte vom Naturalismus die sehr scharfe, unerbittlich subtile Beobachtung,
des Milieus und jene Breite und jenes Gewicht, das z. B. Hauptmann seinen
Gestalten zu geben imstande ist. Seine meisten Stiicke sind Einakter, sie
bestehen sogar nur aus einer Szene: hier befinden sich einige auSerordentlich
scharf gesehenen und gezeichneten Gestalten in einer solchen Situation
(deren Wahrscheinlichkeit Courteline nicht viel Sorgen bereitet), in der alle
ihre Eigenarten am besten zu sehen sind. Courteline interessieren in seinen
Menschen und in deren Schicksalen nur diese Szenen; er greift aus allen nur
die Méglichkeiten zu diesen Szenen heraus, um die Vorgeschichte, um die
Motive kiimmert er sich nicht. Deshalb bestehen seine meisten Werke nur
aus einer Szene oder héchstens aus der Verkniipfung einiger solcher Szenen,
z. B. »Le Commissaire est bon Enfant«. Courteline wollte oder konnte bis
heute kein gréGeres Lustspiel schreiben und er wird wahrscheinlich auch
keines schreiben. Scheinbar interessiert ihn das ganze Schicksal eines Men-
schen auch nicht, und die groSe synthetische Kraft, die dazu notwendig
wire, alle Seiten einer wirklich grofen Frage mit einer solchen Technik
auszudriicken, ist bei ihm anscheinend doch nicht vorhanden. Sein bedeu-
tendstes Stiick (»Boubourochee) ist eigentlich auch eine solche Szene. Dieses
Stiick ist die erschiitternd komische Variante eines der beliebten Themen der
modernen Literatur, das von Strindberg bis Wedekind und Shaw so viele mit
tragischem Ernst dargestellt haben: der Ohnmacht des Mannes der Frau
gegeniiber. Man erzihlt Boubouroche, da seine Geliebte ihn betriige, er
iiberrascht sie auch dabei, es gelingt ihr aber, ihm mit der plumpesten Liige
glauben zu machen, daf nichts geschehen sei. Boubouroche, dessen Bestim-
mung ¢s ist, betrogen zu werden, glaubt die Liige und obrfeigt den Men-
schen, der seine treue Geliebte zu verleumden wagte. Vom Naturalismus
iibernimmt Courteline hier den auSerordentlich unmittelbaren Dialog und
erzielt damit die komischsten Wirkungen. Hier geraten alle Menschen in
unmégliche und unwahrscheinliche Situationen und sie benehmen sich
dennoch so, als ob das, was sie tun, die natiirlichste Sache der Welt wire.
Dieses kleine Stiick ist aber doch mehr als eine ausgezeichnet gelungene
Komédie iiber das Zerbrechen eines Verhiltnisses. Die ohnmichtige
Dummheit Boubouroches ist mit solch grotesker Kraft dargestellt, daf sie
zum lacherlichen und zugleich zum tragischen Symbol der Glaubigkeit und
der Schwache des Mannes wird.
Mit seiner lockeren Komposition (von seinem Dialog ganz abgesehen) steht
xin Lusstspiel und Tragikomédie 473
der Dane Gustav Wied dem Naturalismus naher. Er stilisiert hinwiederum
seine Menschen starker auf die groteske Wirkung hin, er sieht sie blog als
Flecken, flacher als Courteline, der der Zeichnung des Menschen ein grofes
Gewicht und grofe Breite gab, in seiner Architektur jedoch franzésisch
exakt war. In Wieds Komédien erhiilt der Hintergrund der grotesken
Betrachtungsweise, der Nihilismus, einen starkeren und selbstbewufteren
Ausdruck. Der Gegenstand aller Komédien ist die Neuwertung aller Werte
einer ganzen kleinen Welt oder vielmehr das Verwerfen aller ihrer Werte;
das Entlarven aller ihrer falschen Ideale, mit einem Wort: aller ihrer Ideale.
Es bleibt nichts erhalten und Wied, bzw. der Mensch, der ihn in diesen
Lustspielen vertritt, nimmt es mit ruhigem Achselzucken, oft sogar mit
grofer Freude an den lustigen Formen zur Kenntnis. Es gibt etwas zirkus-
haft Lustiges in diesem Schwanken aller Dinge. Alles lést sich zu rein
komischen Wirkungen auf, es lésen sich jedoch in ihnen nicht die tiefsten
Lebensinhalte auf. Wenn er auch einige wirklich tiefe Punkte des Verhiilenis-
ses von Mensch und Leben (z. B. 2 x 2 = 5) beriihrt, so doch nur oberflich-
lich, er spielt mit ihnen, amiisiert sich dariiber. Auch in seiner Technik ist
dieses spielerisches Moment vorhanden. Er wirft viele Dinge bohémehaft
leichtsinnig hin. Er bringt an vielen Stellen mit bequemer und kaltbliitiger
Schlampigkeit die altesten und abgedroschensten Lustspielgestalten und
Situationen in seine Stiicke hinein.
Dies kénnte natiirlich schon ein Beweis dafiir sein, wenn es keine anderen
gabe, da& der Stil der wirklich neuen Komédie noch bei weitem nicht
existiert und die Annaherung an sie mehr instinktiv richtigen Ansitzen als
der bewuften Erkenntnis des richtigen Weges entsprang. Es ist z. B. auffal-
lend, da es kaum eine moderne Lustspieltheorie — hier denke ich hauptsich-
lich an die Bemerkungen der Dichter beziiglich ihrer Werke und an die
Kritiker, die stark in den literarischen Bewegungen engagiert waren - der
vielen und reichhaltigen Tragédientheorien gegeniiber gibt. Und der Riick-
fall ins Konventionelle ist hier viel haufiger und geschieht sehr oft bei viel
gréBeren Dichtern als beim ernsten Drama. (Bei Hauptmann z. B. »Die
Jungfrau von Bischofsberg«, in allen Lustspielen Shaws gibt es viele solche
Elemente usw.)
5.
Frank Wedekind ist der hervorragendste Vertreter dieser grotesken Tragiko-
médie. Wedekinds Stellung zum Naturalismus ist noch komplizierter als die
Courtelines oder Wieds war. Bei ihm sind alle weltanschaulichen Vorausset-
474 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
stark sie auch als Persdnlichkeit stilisiert ist. Viele seiner Menschen sprechen
so, als ob iiberhaupt kein Dichter, sondern nur ein guter, aber kihler
Beobachter beschriebe, was sie gedacht haben kénnten. Man kann auch hier,
wie tiberall bei Wedekind, sehr schwer zwischen bewufter Stilisierung und
Sich-nicht-ausdriicken-kénnen unterscheiden. Es ist gewi8, da dieser kalte,
nur das Wesentliche ausdriickende, mit der Leidenschaft der Menschen im
gréBten Gegensatz stehende, distanzierende Dialog das vollkommene Aus-
drucksmittel dieser Betrachtungsweise ist. Es ist aber auch eine Tatsache,
da er schon vorhanden war, als das Erlebnis erst lyrisch gewesen ist
(Friihlingserwachen«) und er blieb auch dann erhalten, als diese mit unend-
lich tiefer und kalter Sicherheit bewahrte Entfernung von den dargesteliten
Dingen bereits nicht mehr bestand. Also nicht nur dann, als er die einzig
wirkliche Méglichkeit des adaquaten Ausdrucks war, sondern auch dann, als
er jeglichem Ausdruck im Wege stand. Es ist somit unméglich zu entschei-
den, ob hier nicht ein kiinstlerischer Mangel mit einer Betrachtungsweise
gliicklich zusammentraf, die gerade diesen Mangel verwenden konnte; in
diesem Fall ware diese Ubereinstimmung ein zufalliges Gliick und keine
bewufite Stilfindung. Es ist gewi8, da& Wedekind mehr oder weniger immer
ein Dilettant war. Bei ihm hing es immer von Zufillen ab, ob ihm etwas
gelingt oder nicht und es gibt in vielen seiner im ganzen gelungenen Stiicke
unmittelbar neben den wunderschénen vollig verfehite Dinge (und natiirlich
umgekehrt). Das L’art pour |’art existierte nie fiir Wedekind. Fiir ihn ist
tiberall das Thema das Wichtigste, um das verstandlich zu machen, was er
will; um die kiinstlerische Vollkommenheit kiimmerte er sich nie. Man
bemingelte und bezeichnete bei ihm natiirlich viele Dinge als chaotisch, die
kiinstlerisch vollkommen waren, denn er wollte gerade die Chaotik der Welt
darstellen, Es sind aber oft auch sehr klare und einfache Dinge chaotisch,
sehr kompliziert, andere sind wiederum zu vereinfacht und nur intellektuell
ausgedriickt.
Das erste Drama (»Friihlingserwachene) ist noch nicht so beschaffen; es ist
noch ganz aus der Nahe betrachtet, es ist noch ganz lyrisch geschrieben.
Die
tragischen Schicksale sind noch rein tragisch und die komischen sind rein
komisch. Die grotesken Begleiterscheinungen der tragischen Wirkungen
spielen zunachst nur als Hintergrund eine Rolle; die Tragédie selbst wurde
noch nicht grotesk. Dieses Stiick handelt vom Schicksal einiger Kinder, es
sind locker zusammenhingende Schicksale in locker aneinandergefiigten
Szenen. Die Erwachsenen verstehen diese Qualen nicht, — obwohl sie die
selben Leiden erlitten - kein Wohlwollen hilft, die Intelligenz, die verstehen
xin Lustspiel und Tragikomédie 477
will, ist ohnmiachtig. Am Ende, als sich die Katastrophe eingestellt hat,
stehen alle Eltern gleichsam ratlos und verzweifelt da. Und bei wem und
wann sie sich unter den Kindern einstellt, die unter dem Joch der sinnlosen
Schule achzen, die sich ihrer erwachten Instinkte schimen, vor denen sie
Angst haben und von denen sie dennoch gefiihrt werden, hingt ganz vom
Zufall ab. Hier hilft weder die gute noch die schlechte Erziehung. Dieses
Stiick ist ein verzweifelter und schmerzvoller Schrei, die Symphonie des
Leides der Kinder; es ist locker, nur lyrisch und musikalisch aufgebaut. Bei
einem jeden Wort des Stiickes ist spiirbar, da8 es tief erlebt ist: das Ganze
driickt mehr eine grofe Bestiirzung aus. Es gibt darin keinen Zusammen-
stoB; es ist kaum dramatisch. Es ist auch nicht ganz zu Ende gedacht, es
driickt nur ein Gefiihl lyrisch aus, das Gefiihl des typischen Charakters eines
Zustandes im symphonischen Zusammenklang verschiedener Schicksale.
Die andere Seite, die Objektivitit, die Anerkennung des relativen Rechts der
Eltern, der Schule, daf sie nichts anderes machen kénnen als das, was sie tun,
da8 sie nicht Ursache ihrer Ohnmacht sind, kann er nicht zu Ende fihren.
So lift er das Stiick beginnen, er wird aber verbittert und macht aus ihnen
mit zorniger Ironie Karikaturen, die den Ton des Stiickes sprengen.
Am Ende des Stiickes tritt ein Junge, der ein kleines Madchen verfiihrt hat,
das an der gutgemeinten Rettungsaktion der Familie (da8 sie nimlich die
Folgen seines Fehltrittes verheimlichte) zugrunde ging, in das wahre Leben.
Er wird alle Gewissensbisse vergessen, er will und wird leben. Ein kurioses
Friedhofsgesprich geht diesem Entschluf voraus. Der Geist seines besten
Freundes, den der Frihlingssturm hinwegrif, der ihn zum Mann gemacht
hat, erscheint vor ihm und lockt ihn auf seinen Weg, zum Selbstmord. Er
beschreibt ihr Leben, in dem sie mit »erhabeneme Humor das Leben
betrachten und sowohl Gott als auch der Teufel nur Figuren in einer
Komédie zu ihrem Ergétzen sind. Aber dann, als das Leben spricht, mug
der erhabene Humorist erkennen, daf er nur deshalb so spricht, weil fiir ihn
die Trauben schon sauer sind. An den Humor dieses sich selbst richtenden
Schiilers erinnert der Humor der spateren Dramen Wedekinds, - obwohl er
zu der Zeit ein Junge sein méchte, der ins Leben rennt. Er hat eine
auferordentlich starke Sympathie den Menschen gegeniiber, die, seien sie
auch Betriiger oder Abenteurer, das Leben so nehmen wie es ist; die, wenn
sie sich einmal ein Ziel gesetzt haben, dafiir blind und unnachsichtig sich
iiber alles hinwegsetzen. Diese Sympathie ist aber ganz versteckt, sie wagt es
kaum fiir einige Augenblicke hinter der Maske hervorzukommen, die Wede-
kinds Weltschmerz verdeckt. Diese Maske ist der »erhabene« Humor des
478 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
objektiven Bedeutung, der Ursachen und der Folgen nur ein Lachen, wenn
auch ein bitteres auslésen; wenn wir auch im nachtraglichen Nachdenken
ihre Tragik erkennen.
Diese Dramen sind die stirksten Ansitze in Richtung des heutigen grotesken
Lustspiels. Da& Wedekind dies nicht fortgesetzt hat, sondern eine ganz
andere Richtung einschlug, hat hauptsichlich menschliche Griinde. Sein
Lustspiel konnte nur ein Zur-Form-Werden des villigen Nihilismus sein
- und er war nie ganz nihilistisch. Bei ihm war, wenn auch unterdriickt, die
Sehnsucht nach der Sentimentalitit und den Gemeinschaften immer lebendig
und diese hielt nicht lange den alles leugnenden Nihilismus und das damit
notwendigerweise zusammenhingende Alleinstehen aus. Er symbolisiert in
seinem Drama »So ist das Lebene sein eigenes Schicksal im Schicksal eines
verbannten Kénigs, der seine kéniglichen Gefiihle zur Jahrmarktskomédie
erniedrigen mu&; die nihilistische Ironie war nur die Maske eines grofen
Schmerzes. Die Menschen sahen aber nur die kuriosen Ziige und sie ergétz-
ten sich an ihnen, niemand suchte das dahinter versteckte wirkliche Gesicht,
den leidenden Menschen. Das hielt Wedekind nicht lange aus und nachdem
sein verstecktes — kiinstlerisches — Bekenntnis nicht verstanden wurde,
nimmt er die Maske ab, er spricht offen: er schreibt Tendenzdramen. In
diesen ist natiirlich keine Spur mehr von der naiven, nichts bemerkenden
Betrachtung der alten Tendenzdramen. Wenn er auch von einer Reihe von
Dingen absehen will, wenn er auch das Gefiihl vergessen lassen will, dag
ohnehin alles vergebens ist, muf er die groteske Erfolglosigkeit des Kampfes
in jedem Augenblick spiiren. Er will aber nicht daran denken und er greift
einige Institutionen (»Hidalla«) oder gar einen Gesetzartikel (»Musik«) hart
an, als ob er im Ernst glauben wiirde, da sich vieles verindern wird, wenn
nur die Menschen mithelfen. Deswegen kann in diesen Tendenzdramen
nichts positiv sein; wenn es etwas Positives gibt, dann ist das nur ein
grotesker Utopismus. Ihr Wesen besteht darin, die Unhaltbarkeit einer Lage
mit Hilfe eines scharf gezeichneten Falles zu zeigen. Diese ersten Dramen
(»Hidalla«, »Totentanz«) sind noch die véllig anorganische Mischung des
alten Humors, der aber hier viel blutleerer ist als der alte, und eines stark
nach Leitartikeln schmeckenden Pathos. Im letzten (»Musik«) verzichtete er
auf alle alten Wirkungen. Aber hier, wo er nicht mehr will als einen Fall zu
zeigen, racht es sich, da8 sein Dialog nicht durch die Schule des Naturalis-
mus ging. In seinen alteren Stiicken half immer sein pedanter und allzu
verschnérkelter Stil, die norwendige gro&e Entfernung zustande zu bringen,
hier verhindert er nur die unmittelbare Wirkung.
xi Lustspiel und Tragikomédie 481
Somit verla&t Wedekind den Weg, den er anfangs einschlug. Er begann
Tragikomédien des modernen Lebens zu schreiben, jetzt entstehen im
besten Fall geschickte und brauchbare Tendenzdramen, die einige Detailfra-
gen beleuchten. In diesen Dramen blieben alle alten stilistischen Mangel
erhalten, hier treffen sie sich aber nicht mehr so gliicklich mit dem zum
Ausdruck gelangenden Gefiihl wie in den vorangehenden. Die dilettantische
Schaffensweise ist daher sogar dort auSerordentlich spiirbar, wo er keine
tragische oder tragikomische, sondern geradezu possenhafte Wirkungen
erreichen will (»Oahac).
6.
Bernhard Shaw bringt einen neuen Ton in die Dramenliteratur, sein Drama
hat kaum Ahnen (seine Betrachtungsweise ist zwar ein wenig mit der
Anzengrubers verwandt, es ist aber villig ausgeschlossen, da er auf ihn
eingewirkt hatte). Shaw war zwar einer der ersten Propagierer von Ibsens
Triumph in England, er war jedoch schon ein villig gesetzter Mensch, als er
ihn kennenlernte; die wenigen Ibsen-Reminiszenzen, die wir bei ihm finden,
kénnen nicht ernsthaft in Betracht kommen. Eine Sache ist natiirlich beiden
gemeinsam, die jedoch bei fast allen modernen Dichtern zu finden ist: die
entlarvende Betrachtungsweise. Hier ist aber Shaw in der ganzen modernen
Literatur der radikalste. Bei Ibsen und bei allen, die in irgendeiner Beziehung
zur Romantik blieben, seien auch all ihre Illusionen verlorengegangen, blieb
der Glaube an den Helden, an den tragischen Menschen - wenn auch in einer
neuen Form - erhalten. Shaws Polemik richtet sich gerade dagegen; er ist der
offene Feind jeglicher Romantik, er bezeichnet sich als einen Puritaner
(selbstverstindlich im englischen Sinne), er glaubt weder an das Heldentum
noch an die Tragédie. Das ist nur der literarische, nur der psychologische
Ausdruck davon, daf Shaw ein Sozialist ist. Jede individualistische Romantik
des 19. Jahrhunderts war im wesentlichen biirgerlich und im wesentlichen
blieb sowohl der heftigste Kampf gegen sie als auch die tiefste Enttiuschung
in ihr biirgerlich. Derartige Polemiken gegen die Romantik wie die Schopen-
havers, Flauberts, Ibsens erschiittern ihre Grundlagen dennoch nicht. Es
muf sogar keine lange Zeit vergehen und alle betrachten den Kampf nur
noch als Bruderzwist, und nach kurzer Zeit unterdriickt das Gefiihl der
Ubereinstimmung vollkommen die Verschiedenheit der Standpunkte. Shaw
steht ganz auferhalb jeglicher Romantik; hier beriihrt er Anzengruber, bei
dem aber all das, was bei Shaw bewufte Einsicht war, tief mit politischen
und sozialen Uberzeugungen im Zusammenhang stand, nur ein instinktives
482 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
Gefthl war. Das Hauptziel seiner ganzen Dichtung war die Entlarvung der
schénen Pose, des Heroismus — bei Shaw bedeuten beide dasselbe. Die Welt,
die er zeichnet, ist mit einem hellen und kalten Licht beleuchtet. Er stellt die
gleichen Menschen, die gleichen Konflikte dar wie die anderen, bei ihm ist
aber das Ende des Kampfes héchstens — selten — ein grofer und ehrlicher
Schmerz, nie ein tragischer Untergang. Der Mensch, der sich den Verhiltnis-
sen zu widersetzen wagt, fallt stolpernd hin oder erhilt eine grofe Ohrfeige
und dann geht er hinkend oder mit angeschwollenem Gesicht weiter, aber
ohne daf ihm ein Ungliick geschah. Deshalb hat bei Shaw das Groteske eine
andere Bedeutung als bei den anderen. Er betrachtet und zeichnet mit einer
kalteren, schmerzloseren Ironie dasselbe wie sie. Und die Auflésung von
allem in der Satire, das Zusammenbrechen aller alten Werte bedeutet hier
nicht mehr das Zusammenbrechen der Welt. Wenn ihnen auch nichts ganz
Positives entgegengesetzt wird (was heute auch nicht méglich wire), iiberle-
ben die Menschen diese Zusammenbriiche auf eine ganz andere Weise. Als in
der Héllenszene von »Man and Superman« von der Uberschrift tiber dem
Eingangstor der Holle die Rede ist, spricht er vom grofen Gliick, das Dantes
Zeilen ausdriicken wiirden; davon, welch unendliches Glick es bedeute, so
zu leben, da8 es schon nichts mehr gibe, wofiir man hoffen kénnte, und
auch nichts mehr, wovor man sich firchten miifte.
''*
Das Hauptziel der Tatigkeit Shaws ist die Ausmerzung der Tragédie aus
dem Leben und aus der Kunst. Nicht als ob er das Leben fiir sch6n, gut und
harmonisch halten wiirde, auch seiner Auffassung nach ist es voller Ubel,
Leid und Bitterkeit. Am Ende einer seiner Possen fragt ein junger Mann, der
vor der Ehe steht, einen erfahrenen und kliigeren Mann, ob es nicht unklug
sei zu heiraten. Die Antwort lautet: »Oh doch! Alle Verbindungen sind
unklug. Es ist unklug, geboren zu werden, ~ es ist unklug, zu heiraten -es ist
unklug, zu leben - und es ist klug, zu sterben.«'' Am Ende seines ersten
Lustspiels (»The Philanderer«) stehen einige Menschen ergriffen vor dem
tiefen und echten Schmerz eines Madchens. Und auch Cisar erklart in einem
Gesprich iiber den Tod, als alle sagen, da& sie leben méchten und den Tod
fiirchten, da& er miide sei und gerne immer sterben wiirde, wenn die Zeit
dafiir gekommen sei.'"” Der Tod wirft immer, auch auf die lustigen Szenen
der Welt Shaws seinen Schatten. Warum gibt es dennoch nirgends eine
Tragddie? Warum ist sie aus dieser Welt prinzipiell ausgeschlossen? Bei
Shaw treten neue Menschentypen neben den alten auf und neue Miachte
mischen sich neben den alten in die Entscheidung der Schicksale der
Menschen ein und die gemeinsame und aufeinander zielende Wirkung der
xt Lustspiel und Tragikomédie 483,
beiden bringt diese besondere, alle Ubel der Welt umfassende, nicht optimi-
stische, aber noch weniger tragische Welt zustande.
In Shaws Dramen ist zwar die letzte Ursache aller Handlungen und aller
Geschehen nicht metaphysisch wie bei Hebbel, Ibsen oder Maeterlinck (wie
sie auch in ihren letzten Konsequenzen in Wedekinds Erotik ist), ihm
geniigen aber psychologische oder einfach soziale Begriindungen noch weni-
ger. Bei ihm ist die letzte Ursache die wirtschaftliche Lage. Da alle seine
Dramen sich, wenn auch nicht zeitlich, so doch im Geiste in der heutigen
Zeit abspielen, ist die Gesellschaft kapitalistisch, auf der Geldordnung und
auf dem Privateigentum begriindet und gegliedert. Im ersten Augenblick
scheint es so, als ob das ihn nicht von den anderen modernen Dramatikern
unterscheiden wiirde. Denn alle, die das heutige Leben getreu darstellen
wollen, miissen, ob sie wollen oder nicht, der wirtschaftlichen Lage unter
den Motiven, die die Menschen und die Verhiltnisse bewegen, einen Platz
einraumen. Bei Shaw ist aber neu, da er die wirtschaftlichen Verhiltnisse,
die bei den anderen héchstens einen Teil der stillschweigenden Vorausset-
zungen der Geschehen ausmachen, bewuft in den Mittelpunkt seiner Moti-
vierung setzt. Er erklirt alles anhand dieser Verhiltnisse und er erklart sie
mit polemischer Unverschleiertheit und Ausschlieflichkeit nur aus ihnen.
Das ist die wahre Erklirung fiir das ganz Neue seiner grotesken Wirkungen.
Hier ist in den Mifverhaltnissen, die die groteske Wirkung hervorrufen,
auch ihre Vorlaufigkeit enthalten. Bei Wedekind z. B. schien es so, als ob
von immergiiltigen Dissonanzen die Rede wire, die jedenfalls die schwere
und sich zum Tragischen neigende Wirkung der Zeichnungen steigerten.
Shaw weist gerade auf die soziale Determination der Dinge hin, die am
gewichtigsten, als ewig giiltig, »allgemein menschlich« erscheinen. Somit
wirken seine komischen Wirkungen reiner und ungestorter, teils weil der
sinnliche Gegensatz zwischen einem rein sozialen Motiv und einer reinen
und tief seelischen Tat noch schirfer ist, teils weil es gerade dadurch alle
tragischen Maglichkeiten im Keime erstickt. Soziologisch ausgedriickt
kénnte man sagen, da& Shaw die Komik des »Uberbaus«, der Nicht-Uber-
einstimmung der Geschehen und ihrer Ursachen, der menschlichen Betrach-
tung und der ihr in der Wirklichkeit entsprechenden Welt in der sozialisti-
schen, marxistischen Beleuchtung darstellt. Die Fremdheit zwischen dem
fiktiven Motiv und der wirklichen Bewegkraft wird noch scharfer, aber
gerade infolge dieser enormen Entfernung geht in ihnen die Méglichkeit des
Kampfes, der Tragédie verloren. Nicht nur deshalb, weil das tatsichlich
Herrschende so michtig ware, da& man gegen es ohnehin nicht kimpfen
484 Die Entwicklung aws dem Naturalismus
kénnte, sondern deshalb, weil das zugleich auch die Grundlage ist, auf der
die Menschen stehen. Somit tragen sie den Kampf gegen die Voraussetzun-
gen ihrer eigenen Existenz aus, was auch im ernsteren Fall nur tragikomisch
sein kénnte.
Seinen Menschen fehlt also entweder jegliches Weltbild oder jeglicher Idea-
lismus, der nicht dieser Wirklichkeit entspricht oder, wenn in ihnen vorhan-
den, wird daraus eine Pose, die eine komische Wirkung hervorruft. Die
Menschen sind Sklaven der Verhiltnisse. Um so mehr, weil diese Verhaltnis-
se nicht als offener Feind gegen den Menschen auftreten, um ihn zu brechen
oder zum Sklaven zu machen wie bei Ibsen oder Hauptmann. Sie greifen die
Menschen als eine langsam um sich greifende Krankheit an und alle merken
erst dann, da sie infiziert sind, wenn es schon zu spit ist; viele merken es
nie. Denn die Gesellschaft verlangt nichts anderes vom Menschen, als da8 er
sich in seinen Taten an sie anpa&t. Was er spricht oder was er denkt und
fihlr, ist ihr gleichgiiltig. Sie hat es sogar noch lieber, wenn alle mit schénen
Phrasen, die mehr oder weniger als wahr empfunden werden, das Gegenteil
von dem, was sie tun als heilige Uberzeugung annehmen. Gliicklich ist
derjenige, der viele Gefiihle hat und dessen Augen und Verstand nicht scharf
genug sind, um diese Dissonanz zu sehen. Noch gliicklicher ist derjenige, in
den seine bewufte Entscheidung oder sein unbewuft titiger Lebensinstinkt
die Illusionen, die die echten Springfedern seiner Handlungen verdecken, so
stark einimpften, daf es keine Enttduschung gibt, die seine Augen dffnen
kénnten (aus der Ferne klingt hier das Lebensliigenmotiv der »Wildente«
leise an). Und es wird derjenige ungliicklich, der klug und ehrlich genug ist,
der Wahrheit in die Augen zu sehen, wenn er ihr gegeniibersteht. In den
meisten Fallen kann er ohnehin nichts gegen sie unternehmen; er mu8 von
nun an so leben wie bisher, nur hatte er bis jetzt eine Achtung vor sich selbst
und von nun an nicht mehr. In diesem Leben kann man nicht rein bleiben.
Das Geld, auf das alles gebaut wird, auf dem alle schnen Méglichkeiten
griinden, entstammt einer schmutzigen Quelle, der Ausbeutung des Schwa-
chen durch den Starken. Und als Folge der Anonymitat des modernen
Kapitalismus sind alle an diesem Verbrechen schuldig, freilich ohne da8 sie
personlich etwas dafiir kénnten. Denn sie wissen nicht und kénnen nicht
wissen, da& dieses Geld, das ihre Erziehung im Wohlstand erméglichte, daf
ihr sorgloses, nur idealen Bestrebungen geweihtes Leben durch Fluch und
Klage wie vieler Unterginge menschlicher Existenzen, wie vieler Witwen
und Waisen beschmutzt wurde. Auf diese Weise muf der feine Aristokrat
Dr. Trench (» Widowers’ Houses«) sich mit Sartorius, der durch Wohnungs-
xun Lustspiel und Tragikomédie 485
wucher reich wurde, solidarisch erkliren. All sein Vermégen, auf dem sein
ganzes Leben ruhte und ruht, entstammt dieser Gemeinsamkeit. Das Ver-
mégen ist in den Hausern von Sartorius angelegt; wenn der den armen
Menschen die Haut abzieht, macht er es in erster Linie, um ihm seine 7%
bezahlen zu kénnen. Auf diese Weise sieht Vivie Warren (»Mr. Warren’s
Profession«) ein, daf sie kein Recht hat, ihre Mutter zu verachten, die sich
durch den Unterhalt von Bordellen hochkimpfte. Denn das, was sie verach-
ten kénnte, ist das Ergebnis ihrer Erziehung und wenn ihre Mutter nicht so
gelebt hatte wie sie lebte, hatte sie sie nicht so erziehen kénnen. Sie kénnte
jetzt taglich 14 Stunden fiir ihre Schlafstatte und fiir wochentlich 4 Shillinge
arbeiten, statt an der Universitat in Cambridge einen Preis zu gewinnen.
Und auch die Tochter des machtigen Kanonenfabrikanten Undershaft (»Ma-
jor Barbara) sieht ein, da& nicht einmal die idealistischsten Dinge — hier ist
es die Heilsarmee - ohne das Geld der Kapitalisten verwirklicht werden
kénnen. Obwohl an der Hand ihres Vaters das Blut direkt klebt und nicht
indirekt wie an der der anderen. Sie aber, die stolz das eine Pfund-Sterling
eines armen Menschen zuriickwies, der damit seine Siinde gutmachen wollte,
indem sie ihm sagte, da8 das Heil nicht verkaufbar sei, mu8 sehen, da8 das
Geld der Undershafts angenommen wird. Sie mu einwilligen, denn ohne
dieses Geld kénnten sie sich nicht einmal bewegen. Shaw symbolisiert in
einer stark possenhaften Szene (»Man and Superman«) am offensichtlich-
sten, wie er die Rolle des Geldes sieht. Ein amerikanischer Millionar legt
einen Teil seines Vermdgens in den Aktien der Mendoza-Gesellschaft an,
natiirlich - wie das beim Aktienkauf zu geschehen pflegt - ohne daf er eine
Ahnung von der Natur seiner Gesellschaft hatte. Und diese Gesellschaft ist
eine Riuberbande grofen Stils, die an der spanischen Grenze auf die
vorbeifahrenden reichen Ausfliigler lauert und sie ausraubt — unter anderen
auch den Sohn und die Schwiegertochter des Nabobs.
Somit kénnen die meisten Menschen bei den heutigen Lebensverhiltnissen
nicht wissen, wer oder was eigentlich ihre Handlungen lenkt und es ist fir
sie ein unangenehmes Erwachen, wenn sie es durch den Zwang der Umstin-
de erfahren. Die meisten Menschen umgeben sich daher- man kénnte sagen,
der Lebensinstinkt impft es ihnen ein -— mit schonen Liigen, die sie verbittert
und verzweifelt verteidigen, denn das ist ihre einzige Waffe gegen die
Brutalitét des Lebens. Es gibt aber einige Menschen, - diese sind Shaws
neuer Menschentyp ~ die diese verlogene Schénheit und leere Romantik
hassen und verachten, die die wahren Springfedern sowohl ihrer eigenen
Handlungen als auch die der anderen stets erblicken, deren Ansichten
486 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
deshalb die anderen als paradox und sie selbst als zynische Sonderlinge
bezeichnen. Denn sie entlarven die schénen Posen nicht our mit ibren
spitzen Bemerkungen, sondern bereits mit ihrer bloSen Existenz. Obwohl
diese Menschen nicht zynisch, zumindest nicht im gewdhnlichen Sinne
zynisch sind. Sie sind eigentlich SpieSbiirger, Menschen, die den wirklichen
Wert von allem kennen, die von einer jeden Illusion wissen, daf sie nur eine
Illusion ist, sie wissen, da8 der Traum keine Wirklichkeit ist, und da8 die
Tatsachen brutal sind. Da sie aber keinen Ort finden, - obwohl sie méchten
-, wo es sich nicht so verhiilt, richten sie sich an diesem ein. Es umgibt sie
doch eine besondere Poesie - wir sehen, daf sie doch nicht ganz SpieSbiirger
sind, In ihrem Gang gibt es etwas stark und sicher Rhythmisches, die
kérperliche Schénheit des Menschen, der viel und gut Sport treibt; ihre
Stimmen sind klar, klingen rein; sie strémen iiberhaupt irgendeine Klarheit
und Reinheit aus. Wenn sie mit den anderen in Kontakt kommen, wirkt ihr
Wesen so, als ob Licht in eine dunkle Héhle eindringen wiirde, als ob man in
einem Zimmer, dessen Fenster schon seit langem geschlossen sind und in
dem die Luft schlecht ist, liiften wiirde. Die Desillusion, die sie fiir die
anderen bringen, ist somit eine ganz andere als die der enttiuschten Roman-
tiker, sie ist eine Kur. Nur derjenige geht daran zugrunde, um den es
wirklich nicht schade ist und fiir denjenigen niitzt sie nichts, der keiner
Beschaftigung wert ist. Und diese Menschen sind aktiv, stark aktiv; sie sind
frisch, schnell, beweglich, sie unternehmen immer etwas und sind immer
selbstbewuft, ohne da& ihr Selbstbewuftsein ihrer Aktivitit im Wege
stiinde. Und ihre Anschauungen und Handlungen stimmen viéllig und
organisch iiberein. Das ist eine weltstadtische Poesie, es ist kein Zufall, da&
sie zuerst von einem Englander geschrieben wurde.
Die Frauen werden von ihren Instinkten getrieben, um so zu handeln und zu
fiihlen; die Manner denken auch so. Deshalb gibt es vielleicht auch mehr
solche Frauen als Manner; ihre Instinkte sind stérker und die Anschauungen
sind fiir sie weniger wichtig. Vivie Warren ist die erste dieses Frauentyps. Bei
ihr gibt es aber noch viel Doktrinares, sie ist noch viel zu einseitig intellektu-
ell, sie mu& noch auf viel Genu& verzichten, um ihr Ziel, um das arbeitsame,
unabhingige und niitzliche Leben zu erreichen. In Candida ist schon die
weibliche Genialitét vorhanden, die hinter allen Mannerposen und schénen
Worten gleich die Wahrheit herausspiirt. Aber nicht nur dies, sondern auch,
was dieser Mann, der ihr wichtig ist, in diesem Augenblick braucht, was sie
selbst braucht und sie vermag unmittelbar, geschickt, sogar auch poetisch
alle Interessen in Einklang zu bringen. Diese Shaw-Heldinnen erreichen
xiu Lustspiel und Tragikomédie 487
alles, was sie wollen, sie spielen mit den Mannern, die an ihre Poesie glauben,
wie die Katze mit der Maus. In ihrem Denken sind sie sehr praktisch und
mehr prosaisch, ihre Poesie existiert nur fiir die Manner. Auf diese Weise
Tift sich Louka, als Dienerin, vom iiberheblichen Major Saranoff (»Arms
and the Man«) ehelichen; auf diese Weise terrorisiert Violet Robinson ihren
Schwiegervater, einen amerikanischen Selfmademan-Millionar, nach einem
Gesprach, das wenige Minuten dauerte, von ihrem Mann ganz abgesehen; so
spielt Ann Whitfield sogar mit zwei Mannern und sie fingt sich denjenigen,
den sie will (»Man and Supermane). Hier standen sich aber doch keine
gleichwertigen Gegner gegeniiber. Saranoff ist ein dummer Mensch und
Violet und Ann sind gewissenlose Madchen. In Lady Cicely (»Captain
Brassbounds Conversione) gibt es aber keine Béswilligkeit oder Gewaltsam-
keit — sie will sich nicht einmal von den Mannern heiraten lassen, die in sie
verliebt sind; trotzdem geschieht alles nach ihrem Wunsch. Sie mu8 nur mit
den Menschen sprechen; sie muf nur in ihrer schénen, leisen, vornehmen
Art mit ihnen ein Gesprich beginnen und alles geschieht nach ihrem Willen.
Sie bittet immer um etwas, sie bittet so wie die Mutter von ihrem Kinde
etwas erbittet und niemand denkt daran, etwas anderes zu tun als ihre Bitte
zu erfiillen. Blutige Rachepline, wilde Morde werden wegen ihrer bloSen
Gegenwart verhindert; es wire sogar licherlich, an so etwas zu denken,
wenn sie sich dort befindet. Jennifer ist ihr in »>The Doctors Dilemma« sehr
ahnlich. Und einige kindliche Madchen (Sylvia Craven in »The Philanderer«,
Dolly Clandon in »You Never Can Tell«) laufen durch einige Stiicke, und
auch ihren frischen, naiven und kindlich schonungslosen Witzen gegeniiber
ist jegliche Pose und Prahlerei ohnmichtig.
Bei den Minnern findet man gréftenteils mehr Posen und auch die glin-
zendsten sind weniger rein prosaisch (in Shaws Sinn) als die Frauen. Es gibt
aber unter ihnen einige Menschen, die, gerade weil sie selbstbewu8t sind, alle
Frauen iiberragen, die ihnen ahnlich sind; wenn sie auch weniger sicher sind.
Kapitan Bluntschli (»Arms and the Mane), der Sohn des Schweizer Hote-
liers, der professionelle Soldat ist der erste. Er beherrscht seinen ganzen
Beruf, er weif wie die Schlacht entschieden wird. Er wei8, daf es ihm, dem
Artilleristen nichts niitzt, wenn sein Revolver geladen ist, denn es ist schon
ohnehin alles verloren, wenn es dazu kame, ihn abzufeuern; deshalb nimmt
er statt Munition Schokolade mit. Als einmal die Sache zufallig schlecht
ausging und er vor Todesangst zitternd, vom drei Tage lang dauernden
stindigen Stehen im Feuer gebrochen in das Zimmer eines feindlichen
Madchens fliichtet — erobert er es. Er bringt es um seine IIlusionen, wahrend
488 Die Entwicklung aus dem Naturalismus
unten das Gewehrfeuer des Feindes ertént. Die gréSten unter diesen Men-
schen sind aber Julius Casar und ein Kellner (in »You Never Can Tell«).
Beim Kellner gibt es keine Pose; er ist einfach und fein, hinreifend und ein
tiefer Menschenkenner (er ahnelt Shakespeare und Dolly Clandon nennt ihn
auch William). Er rettet kritische Siruationen mit einigen Bemerkungen, er
kommt und geht, er bringt und trigt die Speisen wie ein Psychologe; immer
zur rechten Zeit und an den rechten Platz. Bei Casar gibt es Posen aber er
weif es. Und er nimmt es keinem seiner Untertanen iibel, daf er ihn darauf
aufmerksam macht, wenn er sich vergiftt und eine seiner schon oft vorgetra-
genen Reden oder Reflexionen vortragen will. Sonst nimmt er nur fiir sein
Publikum eine Pose ein und er bekennt seiner Umgebung, warum er es tut.
Er li®t groSziigig seine agyptischen Gefangenen frei — weil er wenige
Soldaten hat und jeder Gefangene von zwei Soldaten bewacht werden
miifte. Er erlaubt dem Feind eine brennende Bibliothek zu léschen - denn
wiahrenddessen besetzt er eine sichere Stellung. Er erlaubt seinen Leuten
alles, um sie kennenzulernen und er ist gut zu ihnen; er ist gut zu allen wie
ein Mensch zu einem Tier gut zu sein pflegt. Es steht niemand seinem
Herzen nahe, er lebt in einer grofen, alles verstehenden Einsamkeit und
seinem Alles-Verstehen gegeniiber ist jegliche List, Boswilligkeit und Intrige
ohnmichtig. So blickt er auf seine Jugend zuriick; er schimt sich der Zeit, als
er Vercingetorix ermorden lie®, er ha&t die Mérder von Pompeius, jetzt
erreicht er schon alles mit sehr kleinen Opfern. Er trigt aber einen Lorbeer-
kranz, damit man nicht sieht, daf er eine Glatze hat und er ist wiitend, wenn
ihn jemand an sein Alter erinnert.
Die anderen posieren, die meisten natiirlich unbewuft. Sie haben schéne
Worte und schéne Bewegungen, schéne Gedanken und schéne Gefiihle. Sie
selbst und auch andere berauschen sich an ihnen, denn sie machen dieses
Leben so schén, denn man kann wegen ihnen nichts sehen, denn wenn sie
existieren, miissen die Menschen nicht mehr denken. Fiir alle Taten gibt es
eine Absolution, aber in den meisten Fallen ist auch das nicht nétig:
irgendein wunderschéner Satz oder ein Prinzip verdeckt vor dem Menschen,
was er eigentlich macht. Es gibt unter ihnen ganz blinde, wie Major Saranoff,
der Operettensoldat, der auf térichte Weise und gegen die Instruktion einen
Kavalleriesturm gegen die Kanonen fihrt. Wenn auch nur eine Kanone
abgefeuert wird, bleibt keine Seele von seiner Mannschaft am Leben. Aber
siehe, zufiallig hat die feindliche Artillerie keine Munition mehr, alle fliichten,
die Schlacht ist verloren und Saranoff fiihlt sich als Nationalheld. Shaws
Kampf gegen die Pose ist auch hier ganz sozial. Ibsens Hjalmar war
xin Lustspiel und Tragikomédie 489
und Candida erreichen zwar alles, was sie wollen und dem Ansturm
Valentines gegeniiber erweisen sich die femininen Phrasen Gloria Clandons
(»You Never Can Telle) ohnmichtig; aber John Tanner kent Ann Whit-
field vergeblich griindlich, vergeblich weif er um ihre Absichten, vergeblich
flieht er im Auto vor ihr, seinem Schicksal kann er nicht entrinnen - er mu8
sie heiraten. Und vergeblich sieht General Burgoyne (»The Devils Disciples)
wie schlecht die Englander den Krieg fiihren, er kann dort, wo die anderen
dumm und ohnmichtig toben, nur gute Witze erzihlen; am Ende ist er auch
ohnmichtig wie die anderen. Und Larry Doyle (»John Bull’s Other Islande)
rechnet alles aus und sieht alles voraus, aber all das, was er machen wollte,
wird sein sich licherlich benehmender und dumme Leitartikel nachbetender
Freund, Tom Broadbent ausfiihren. Nur der kluge Mensch ist manchmal
imstande, tiber das Leben zu herrschen, aber auch er kann es nicht beherr-
schen. Nicht daf er sein Ziel nie erreichen wiirde, aber wenn er es wirklich
erreicht, wird er vom Ziel beherrscht. Undershaft, der Millionar kimpfte
sich aus der Armut empor, weil er unabhingig sein wollte. Als Millionar ist
er noch weniger unabhingig als er es damals war: jetzt herrscht sein
Unternehmen iiber ihn. Die Klugheit ist vielleicht die wertvollste aller
menschlichen Eigenschaften, aber auch sie ist nur sehr wenig wert. Das ist
natiirlich bei Shaw keine Tragddie, es ist sogar gerade der Schliissel zum Sieg
iiber alles Tragische. Das ist das erste Mal, da die Herrschaft der Dinge iiber
den Menschen im heutigen Drama glorifiziert wird: das ist die positive Seite
des Kampfes gegen die biirgerliche Romantik. Das ist die Anwendung der
sozialistischen, antiindividualistischen Betrachtungsweise auf einen Men-
schen, die Bestimmung des Lebensrhythmus durch die sozialistischen Le-
bensgefithle. Das ist die gré@tmégliche, bis zum Heroismus reichende
Steigerung dessen, wovon Ibsens Brendel mit so tiefer Verachtung sprach,
da der Mensch alles erreichen kénne, der nicht mehr wolle, als das, wozu er
fahig sei.'"’ Bei Ibsen, bei dem sich das Zentrum aller Menschen ausschlie8-
lich in ihnen selbst befand, wurde daraus dem glinzenden Egoismus der
»Helden« gegeniiber ein kleinlicher, spieSbiirgerlicher und grauer Egoismus.
Hier bedeutet dies das maximale Zur-Geltung-Kommen der maximalen
Seelen- und Lebensméglichkeiten an méglichen Stellen, in méglichen Rich-
tungen. Dies bedeutet die villige Hingabe an die Dinge und das Zum-Aus-
druck-bringen-Lassen der Persénlicheit in ihrem Dienste, anstelle des Don
Quixote-haften Kampfes gegen die unterdriickenden Krafte.
Somit gibt es nirgends eine Tragédie. Lady Cicely gegeniiber ist das Schick-
sal ohnmichtig, wo sie sich aufhilt, dort gibt es keine Tragddie und wenn
xin Lustspiel und Tragikomédie 491
Sechstes Buch
Die Gegensitze sind heute vielleicht noch scharfer denn je. Die Stimmen, die
nach den tragisch-heroisch erfolglosen Versuchen vieler groSen Genies alle
Versuche zur Schaffung eines modernen grofen Dramas prinzipiell als
hoffnungslos bezeichnen, werden immer lauter und lauter. Ihrer Meinung
nach hat es sehr tiefe Ursachen, da& die Lyrik und Epik tiefer, subtiler und
doch gerechter die heutige Seele auszudriicken vermochte, als das Drama.
Als Beweis ihrer Behauptungen kénnen sie sich darauf beziehen, daf viele
tief denkenden und empfindenden Dramatiker — solche, deren dramatisches
Talent und dramatische Neigung unbezweifelbar sind — sich immer starker
in jeder Hinsicht vom Dramatischen entfernen. Ich weise hier auf die
Entwickhng hin, die ich bei der Besprechung Maeterlincks als die Platoni-
sierung des Dramas nannte; deren Folge in der Menschenauswahl und in der
Menschenzeichnung eine Gefihlsverfeinerung und Intellektualisierung sol-
chen Grades ist, da8 ihre wirklich konsequent zu Ende gefiihrten und somit
wirklich stoffgerechten Werke sich schon auferhalb jeglicher Dramatik
befinden. Das Dramen-Fragment des jung verstorbenen Walther Calé' ist
vielleicht das typischste Beispiel dieser Entwicklung. Ich kénnte mich aber
auch auf die letzte Richtung der Entwicklung Hauptmanns und Schnitzlers
und auf die »Dramen« einzelner franzésischer Lyriker und Denker, auf
solche z. B. wie André Gides »Philoctéte«, beziehen. Und dieses Undramati-
sche ist keine oberflichliche Begleiterscheinung einer neuen Richtung, son-
dern sie ist innerlich und organisch mit ihrem Wesen zusammengewachsen.
In den meisten Fallen steht die Entfernung vom Drama mit dem scharfen
und starken Kampf gegen die wahrhafteste dramatische Form, gegen die
Tragddie in Zusammenhang. Dieser Kampf kann bewuft und polemisch
sein, wie es bei Shaw war, er kann aber die einfache Verwirklichung des
Ideals des »Weisen« bei Maeterlinck sein: die Erschaffung eines Menschen
und sein Hineinstellen in den Mittelpunkt der Dramen, dessen Wesen sich
allen tragischen Méglichkeiten gegeniiber immer untragisch offenbaren
wird. Richard Dehmel, der hervorragende deutsche Lyriker, sprach das in
neuerer Zeit am lautesten aus. Im Vorwort der neuen Auflage seines einzigen
Dramas (»Der Mitmensche) leugnete er heftig die menschliche Bedeutung
der tragische Zusammenstéf8e, tragische Menschen schaffenden und erfor-
dernden Weltanschauungen und ihren Wert fiir unser heutiges Leben.’
Und auch bei solchen Dramatikern wie Gerhart Hauptmann, wird die
Tendenz in diese Richtung immer stirker, so sehr, da& bei ihm — und bei
Schnitzler z. B. - die tragischen Ausgainge tragischer Anfinge schon fast
gewollt wirken und die Atmosphire stéren.
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama 497
Aber auch unter denen, die beim Dramatischen, beim Tragischen ausharren
und um sie als um wichtige und grofe Kulrurwerte kimpfen, sind die
Gegensitze auferordentlich scharf. Es gibt hier so viele und vielfaltige
Gegensitze, daf ihre Vielfalt beinahe die Méglichkeit verwischt, sie klar zu
erkennen. Die zwei hauptsichlichen Gegensitze, der uralte groRe Gegensatz
des modernen Dramas ist freilich auch heute vorhanden. Jetzt ist er sogar,
nachdem es keine andere vorherrschende Richtung gibt, noch mehr zuge-
spitzt: der Gegensatz zwischen den Griechen und Shakespeare; oder um uns
abstrakt auszudriicken: der Gegensatz zwischen Leben und Schema, zwi-
schen Totalitit und Forderung nach Einheit. Sowoh! der Naturalismus wie
auch all das, was aus ihm hervorgewachsen und nach ihm gekommen ist,
bewegte sich im Hinblick auf die wirklich tiefen und entscheidenden Stilpro-
bleme auf der Oberfliche. Mit der Erkenntnis ihrer Unzulanglichkeit mufte
natiirlicherweise die wahre Vertiefung, das Erkennen der wahren Probleme
und die Sehnsucht, sie zu lésen, zusammenhingen. Und nachdem alle solche
Richtungen technische Fragen als allein heilsame Stillésung in den Vorder-
grund stellen und sich selbst fiir revolutionar und neu halten und alles alte
fiir veraltet befinden, ist es natiirlich, da& der gegen sie entfachte Kampf im
Zeichen der Reaktion steht. Sie beginnt wieder Ahnen zu suchen und findet
auch welche. Je mehr die Neuen das Drama kiinstlerisch vertiefen, desto
zeitloser machen sie es, desto mehr bringen sie es den Stillésungen der alten
grofen Zeiten nahe; desto mehr wird es méglich, aus ihnen zu lernen und
ihre Resultate zu verwerten. Hier ist aber weder von der naiven Begeisterung
am Ende des 18. Jahrhunderts, im Vergleich zur heutigen, noch von ihrer
kiihnen Identifikation die Rede, die ihrem ungebrochenen Vertrauen ent-
sprang, in denen die Sehnsiichte nach neuen Traumen einfach mit den alten
Meisterwerken verschmolzen. Die heutigen Begeisterungen sind kritischer
und die Gegner kritisieren scharf. Gegen Shakespeare schrieb man vielleicht
seit hundert Jahren nicht mehr so scharf wie heute Shaw und Tolstoi aus
menschlichen, Paul Ernst aus formalen und kiinstlerischen Gesichtspunkten.
Und Hebbel, der (neben dem nun schwicher wirkenden Ibsen) der wichtig-
ste Ahne und Meister der in die formalistische Richtung fiihrenden neuen
Entwicklung ist, wird zur Zielscheibe der schrfsten und hiartesten Kritiken.
Man greift ihn einerseits im Namen der Lebendigkeit an; sie wirft ihm die zu
auffillige, zu klar ausgedriickte und somit die sinnliche Lebendigkeit schadi-
gende Wirkung seiner Themen vor (Eulenberg, Johannes Schlaf).' Ande-
rerseits wird er aber gerade von seinen Schiilern, gerade von denen, die
seinen ernsthaftesten Bestrebungen folgen, sehr scharf kritisiert, weil er
498 Die gegenwartige Situation
seinen eigenen Forderungen nicht gewachsen ist. Sie decken in seiner
Problem- und Menschenbetrachtung das Willkiirliche, das Romantische und
das nicht geniigend zu zeitlosen Tiefen Abstrahierte auf. Lublinski bezeich-
net seine Dramen in seinem Buch »Der Ausgang der Moderne« als Balladen
und ihre Wirkung als Rembrandt-haft; er bezeichnet sie mit einem Wort als
solche, deren gro8e kiinstlerische Werte nur im »Interessanten« und im
Bizarren liegen, aber keine Werte fiir die Entwicklung bedeuten.'” Und in
einem ahnlichen Ton sprechen seine echtesten Schiiler, Paul Ernst und
Wilhelm von Scholz von ihm. Sie stellen ihm andere, die mit strengerer
Vollkommenheit komponieren, Alfieri, Sophokles, sogar den reifen Schiller
gegeniiber.'* Gegen Ibsen ist die Opposition noch stirker und es fehlt die
begeisterte Liebe der Schiiler. Dennoch ist Ibsen der einzige Dramatiker, der
mit der Gegenwart im engen Zusammenhang steht, der eine lebendige
Wirkung ausiibt. Es kommt hier freilich nicht der »berihmte« Ibsen, der
Autor der gesellschaftskritischen Dramen, in Betracht, sondern der Dichter
der letzten Seelen- und Lebensmysterien. Aber nachdem infolge der Uner-
reichbarkeit der Monumentalitat des ins heutige Milieu gesetzten Dramas,
immer weniger Versuche in Richtung des biirgerlichen groSen Dramas
unternommen werden, ist diese Wirkung nicht so offensichtlich wie die
Hebbels. Sie ist aber iiberall vorhanden, wo jemand in diese Richtung geht
und hier wirken wirklich seine tiefsten Probleme. Man kénnte sagen: es ist
das erste Mal, da8 er wirklich kiinstlerisch wirkt und nicht infolge zufilliger
Umstinde. Wir kénnen also doch sagen, da die neuen Versuche, insofern
sie im Zeichen der Form unternommen werden, unter der Wirkung Hebbels
und Ibsens stehen. Es sind Versuche, ihre Grofe zu erreichen, indem man
ihre Wege und Problematik (von denen schon an geeigneter Stelle die Rede
war) vermeidet. Es ist sehr schwer, fast unmdglich, die anderen Versuche mit
einer weitgefaften Formel auszudriicken. Es ist von einer Komposition die
Rede, die sich - im Vergleich zu Hebbel und Ibsen - Shakespeare annjherte,
es handelt sich jedoch nicht um die naturalistische Komposition. Es geht
gréBtenteils darum, fiir die sich im Reichtum des Lebens offenbarende
Grofangelegenheit und fiir den iibertriebenen Reichtum im Pathos des
Lebens eine ausreichend weite und doch dramatische Form, also eine
Konstruktion ohne jede Schematik zu finden. Dieser Gegensatz ist so scharf,
da& Paul Ernst einmal das Drama von diesem Gesichtspunkt her geradezu
zweiteilt, er sagt, da& die zwei Dramenarten miteinander kaum zu tun
hitten, sie hatten nur einen gemeinsamen Namen.
Dies kann natiirlich nur eine grobe Orientierung unter den vielen Versuchen
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama 499
sein. Es gibt jedoch Menschen, bei denen sich alle Richtungen vereinen und
man muf& nicht sagen, da die hier erwahnten Dichter bei weitem nicht alle
Richtungen erschépfen. Deshalb erscheint es zweckmiaf&ig, die einzelnen
Dichter — méglichst - einzeln zu besprechen und die Hauptgesichtspunkte
nur als Kompa&, nur als Wegweiser beizubehalten, der in Richtung jener
Punkte fiihrt, die — unserer Meinung nach — jetzt entscheidende Punkte der
Entwicklung sind.
Etwas ist aber doch allen gemeinsam: die neue Entwicklung fiihrt noch
stirker von der Biihne weg. Der Naturalismus war die letzte starke Annihe-
rung zwischen Biihne und Literatur, bereits mit den danach folgenden
beschaftigten sich gréftenteils nur asthetische Experimente. Das heutige
Drama wird immer stirker von der Bihne verdrangt. Die jiingsten Dichter,
die noch keinen Namen haben, gelangen kaum auf die Biihne und die dltere
Generation — ich weise hier nur auf Hauptmann hin - wird um so mehr von
der Bithne verdrangt, je héher ihn seine dichterische Entwicklung fihrt.
Und wie wir es durch die ganze Entwicklung hindurch sehen konnten, ist
dieses Drama ein stark germanisches Drama, es ist sogar ausschlieBlich ein
deutsches Drama. Nur in Deutschland existiert die lebendige Tradition des
grofen Dramas, das seit Lessing, Goethe und Schiller in die Biicher verbannt
wurde, nur hier bleibt es noch — in seinem tiefsten Wesen - dramatisch, wenn
es auch auf jegliche Biihne und Biihnenmafigkeit verzichtet. Das Drama der
franzésischen und englischen Lyriker und Romanciers bleibt nur ein lyri-
scher oder psychologischer Dialog und erreicht nur sehr selten, hochstens an
einigen Stellen und in einigen Details irgendeine echte Dramatik (z. B.
Verhaeren: »Le Cloitre«).
L
Der Naturalismus léste die alten Konstruktionen auf, die Impressionisten
und Symbolisten brachten keine neue Strukturen, im Gegenteil, auch sie
steigerten nur das Auseinanderfallen des Dramas zu subtil betrachteten
Szenen, die voller zirtlicher Lyrik und Melodie sind. Die fir sie einzig
mégliche Konzentration, das Wildesche, Hofmannsthalsche Balladendrama,
war, wie wir sahen, nur durch die das wahrhaft Dramatische aufhebende
inhaltliche Begrenzung und Charaktervereinfachung erreichbar. Es ist also
selbstverstandlich, da& die erste Opposition allem bisher Zustandegekom-
menen gegeniiber in erster Linie die Konstruktion als das Wichtigste betont
hat. Sie tat dies in der Theorie erst seit Hebbel, in der Praxis seit Ibsen.
André Gide erkennt im Vorwort zu seinen Dramen an, daf diejenigen, die
$00 Die gegenwartige Situation
an ihnen eine gewisse Trockenheit bemangeln, recht hitten. »[...] aber in
einer Zeit, in der jeder malt, in der keiner oder fast keiner mehr zeichnet,
wollte ich, indem ich zu zeichnen versuchte, der Zeichnung ihre ganze
Sauberkeit, ihre Strenge, ihre Logik lassen und keinerlei, in meinen Augen zu
billiges, Verfahren anwenden, um durch Uberladen mit Lyrik und Pathos
vielleicht Fehler zu verdecken. Wenn Fehler da sind, so will ich, da8 sie
sichtbar werden, genau wie, hoffe ich, die Qualititen.«' Gide betrachtet
hier wie auch anderswo das Ganze mit franzisischer Einfachheit und Rube
als technische Frage. Die Deutschen, die mit dem Endziel seiner Bestrebung
einverstanden sind (Paul Ernst z. B. hilt das lyrische Element im Drama fiir
Virtuositit, fiir kiinstlerisch unehrlich)"”, leiten die Notwendigkeit und die
Natur der Konstruktion kompliziert von metaphysischen, manchmal von
soziologischen oder psychologischen Ursachen ab. Wilhelm von Scholz’
Theorie ist vielleicht die subtilste. Dieser junge Dichter ging von Hof-
mannsthal und Maeterlinck aus und strebt unter der Wirkung Paul Ernsts
von Hebbel lernend, aber iiber ihn hinausgehend nach einem neuen Drama.
Er fand in »Der Wille zum Zwang« das gemeinsame Grundgesetz der Kunst
und des Lebens. Der Mensch wolle seinem Leben eine Notwendigkeit
verleihen, sagt Scholz. Ein jedes Streben gegen einen Zwang, das Wesen
eines jeden Freiheitsstrebens ware eigentlich, da8 der Mensch die wahre
Notwendigkeit suche. Diejenige, der keinesfalls mehr beizukommen sei, die
unumstéBlich sei; in diesem Streben vernichte er alle willkiirlichen, alle
zerstérbaren Zwange.'** Zu ahnlichen Ergebnissen gelangen die deutschen
Dichter Paul Ernst, Leo Greiner und auch Samuel Lublinski, die nach etwas
Verwandtem streben, obwohl sie ganz andere Wege gegangen sind, von ganz
anderen Punkten ausgegangen sind.
In alledem ist die Suche nach der grofen Notwendigkeit wirklich das
Gemeingume. Es ist ein Versuch, alles aus dem Drama auszumerzen, was
infolge seiner iibertriebenen Realitat, Augenblicklichkeit und Erdgebunden-
heit den Glanz des Dramas in seiner ganzen, unerbittlichen Reinheit verhin-
dern kénnte. Sie wollten also das Drama in jeder Richtung und in jeder
Hinsicht vereinfachen. Da8 sie das Drama beinahe mit der sorgenden
Umsicht Corneilles und Racines von allem Heutigen fernhalten wollen,
miissen wir vielleicht nicht einmal erwahnen. Aber auch wenn sie ihre
grofen, monumental einfachen Geschehnisse vor einem realen oder fiktiven
historischen Hintergrund abspielen lassen, halten sie alle Gestalten und
Taten oder die seelischen Manifestationen aller Gestalten, die nicht jener mit
strenger Konsequenz zuendegedachten grofen menschlichen Notwendig-
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama sor
keit dienen, die den einzigen Inhalt der Tragédie ausmacht, vom Drama fern.
Dieses Drama schlieft also sowohl den Uberschwang der Menschengestal-
tung Shakespeares wie auch Schillers lyrische, Kleists und Hebbels psycho-
logische Uberfliissigkeiten aus sich aus. Es will mit nichts anderem wirken
als mit der Tiefe, Allgemeinheit und Kraft seiner Menschen- und Schicksals-
konzeption.
Dieses kiinstlerische Problem aber, da nimlich das Drama nur die grofe,
abstrakte Notwendigkeit, die Notwendigkeit als die Form von allem aus-
driicken soll, gibt den Dramen, die infolge des Erlebens dieser Notwendig-
keit entstanden, schon von ihrem Inhalt fast abgesehen ein Thema und somit
einen Inhalt. Diese Dichter sind alle in einem tiefen und grofen Sinne
konservativ. In dem Sinne, daf sie die iiber das Leben herrschende, das
Leben zusammenhaltende, sich in allen Erscheinungen des Lebens offenba-
rende Notwendigkeit von allem erkannt und erlebt haben. Sie erkannten und
erlebten die Verkniipfung von allem mit allem, in der jeder Mensch nur ein
Kettenglied ist; in der der Wille des Menschen nur sein Glaube oder
héchstens ein Motiv unter vielen, ihm tiberlegenen, ist; in der Taten und
Leiden des Menschen nur Gelegenheiten sind, dies zu offenbaren. Sie
erleben dies jedoch nicht mehr romantisch, sie finden sich damit nicht
zahneknirschend ab. Sie preisen keine »Helden«, wilde und blinde unter der
unerbittlichen Kraft der Dinge zusammenbrechende Menschen, mit entsa-
gendem, sehnsuchtsvollem Schmerz. Diese Verkniipfung der Dinge ist bei
ihnen das Seiende, das Leben, und weil sie das Seiende ist, ist sie auch das
Richtige, das Gute oder vielmehr: die einzige Wirklichkeit. Die weit jenseits
alles Richtigen und Nicht-Richtigen liegt, das es gibt. Wie es jemand in
Scholz’ »Meroé« sagt:
Ich wiinsche
Niemals zu riitteln am Vergangenen.
Denn téricht diinkt mich das und Narrenart.
Dem Manne ziemt es, das Vergangene
Zu ehren, weil es wirklich ist und gro8er
als jeder Traum, '?
Nicht das Erlebnis ist hier neu, sondern seine Wertung, die Art seines
Erlebens. Die Art der Weltbetrachtung, die bei Shaw jede Tragédie (und
damit im engen Zusammenhang alles Dramatische) verhindert und im Keim
erstickt hat, schafft hier die Méglichkeit fir ein neues Drama und fiir eine
neue Tragik. Das Thema dieses Dramas ist das Schicksal des nicht mehr
romantischen Menschen. Diese Menschen sehnen sich nicht nach der Ver-
soz Die gegenwartige Situation
wirklichung unmdglicher Traume, sie wollen nur leben, den Weg zuendege-
hen, den ihnen das Wesen ihres Selbst und die Lage weisen, in die sie
geboren wurden und in die sie gelangt sind. Diese Menschen wissen und
fiihlen, wie viele Zufalligkeit in der Richtung liegt, in die sie sich bewegen,
wenn sie aber bereits aufgebrochen sind, sind alle ihre weiteren Schritte
notwendig. Und die Wege derer, die sich ihnen entgegenstellen, sind ebenso
zufallig und notwendig. Und alle erkennen, da& der andere sich ihnen
gegeniiberstellen und sie eventuell vernichten mu und auch vernichtet
- und auch sie wiirden so handeln, wenn sie an seiner Stelle waren. Diese
Erkenntnis ist aber nur eine Erkenntnis und die Taten werden nicht von der
Erkenntnis, sondern von den Verkniipfungen der Dinge gefiihrt. Mannlich-
keit und Gré8e bedeutet: sich nicht damit abzufinden, was geschehen mu8,
sondern es zu wollen, dazu im Innersten der Seele ja zu sagen. Zu fiihlen,
daf unter den vielen méglichen Ursachen, die dazu gefiihrt haben, diejenige
die echteste, die einzige war, die der Mensch durch sich selbst wirklich zu
erleben vermochte: er selbst. Daf er selbst die Ursache seiner Tragédie ist
und er sich selbst glorifiziert, wenn er seine eigene Tragédie will, und dann
tiber sich selbst das Todesurteil fallt, wenn er sie vermeiden wollte. Paul
Ernsts Brunhild spricht so an der Totenbahre Siegfrieds, den Hagen auf ihr
Bitten und Drohen hin ermordete:
[. . .] wie ein Netz sind der Menschen Schicksale,
Und sind alle verknotet,
Und bald wurdest Du in Schicksale verstrickt.
Ich weif nichts von Verfehlung und Schuld,
Denn nach Notwendigkeit leben wir obere Menschen [. . .]
Du aber hast als Schuld die Verstrickung gefihlt,
und als Verfehlung Dein Ungliick,
Und jedes Geschehen als Deinen Willen.'°
Auch hier ist also, wie iiberall im neuen Drama, die Macht der Dinge das
Thema, aber mit der andersartigen Betrachtung der gleichen Dinge sind auch
die Stilprobleme andere geworden. Auch hier herrscht die Macht der Dinge,
aber der Akzent liegt auf ihrer Gesamtheit und auf der Macht, nicht auf den
einzelnen Dingen. Weltanschaulich bedeutet dies, da& die gewaltige Kraft
der Notwendigkeit, die durch die Verkniipftheit der Dinge entstand, auch
die miachtigsten Menschen in einem gewaltigen Kampf zerbrechen li&t, und
bedeutet nicht - wie immer seit dem Naturalismus -, daf ihre einzelnen
Manifestationen, die gewéhnlichen Dinge und Umstinde ihn kampflos
zerreiben und in sich saugen. Kiinstlerisch bedeutet dies den groBen Kampf;
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama $03
die Kampfe groSer Menschen, die mit groSter Kraft um die gro8ten Dinge
gefiihrt wurden. Der romantische Individualismus sah in jeder Gebunden-
heit eine Herabsetzung. Demnach war also ein jeder Mensch um so gréfer,
je kleiner die Macht der Notwendigkeit iiber ihn war und seine Tragidie
besteht gerade darin, da® er ihr trotz aller seiner GréSe und Freiheit
unterworfen ist. Hier sind alle Menschen um so gréfer, je grofer die iuSere
und innere Notwendigkeit ihres Lebens ist, je tiefer und wahrer ihnen die
Tragédie als letzte Erginzung und AbschlieSung ihres Wesens im voraus
pradestiniert ist:
Denn wir sind wie die griinende Erde,
Die auf den Schnee harrt,
Und wie der Schnee, der die Schmelze erwartet.
sagt Ernsts Brunhild.''
Deshalb greift das auf diese Weise entstehende Drama das typische Thema
des groSen germanischen Dramas, des Kénigsdramas auf. Der Herrscher ist
der typisch freie und der typisch gebundene Mensch. Die gewéhnlichen
Notwendigkeiten des gewéhnlichen Lebens sind fiir ihn nicht notwendig,
aber nur deshalb, damit die wahren, grofen Notwendigkeiten die Freiheit
seiner Handlungen in unerbittliche Ketten legen. Fiir ihn bedeuten die
grofen Notwendigkeiten des Lebens und der Welt die unmittelbaren Erleb-
nisse, die Erlebnisse, die bei der Darstellung aller anderen Schicksale nur sehr
schwer aus der sich in die Konkretheit der kleinen Geschehnisse hiillenden
Kleinlichkeit herauszuschilen sind. In weltgeschichtlichen Augenblicken
sind die gré8ten, abstraktesten Lebensnotwendigkeiten die einzig wahren,
unmittelbaren Realitaten und der menschliche Wert aller Menschen vermag
sich nur im Verhiltnis zu ihnen zu offenbaren. Und diese groBen Lebensnot-
wendigkeiten sind die Realitaten jeglichen Lebens, blo8 kénnen sie nicht
tiberall einen reinen Ausdruck erhalten. Wenn sie ihn aber nicht erhalten,
wird das Drama trivial (Naturalismus), und wenn sie im sich widersetzenden
Stoff klar ausgedriickt werden, wird das Drama anorganisch (Ibsen). Hier ist
die Méglichkeit fiir letzte formale Lésungen gegeben, denn diese Betrach-
tungsweise, da nicht die ¢inzelnen kleinlichen Umstinde, sondern die
Monumentalitat ihrer Gesamtheit die Tragédie verursacht, entspricht der
Natur des Stoffes: gerade diese grofen Notwendigkeiten sind die Erlebnisse
der vorkommenden Personen. Diese Kénigsdramen sind die Dramen des
Herrschens, sind die Tragédien der Pflichten, der Handlungen, die das
Hineingeraten in eine Situation mit zwingender Kraft mit sich bringt, ob sie
nun den Neigungen, den Sehnsiichten nach Gliick entsprechen oder nicht.
504 Die gegenwartige Situation
und ihrer Schicksale. Bei den Hauptgestalten kann die »Aufgabe« noch
soweit ein Erlebnis sein, da& sie sie ihrer Lebendigkeit nicht beraubt; die
Nebengestalten werden von dieser Weltbetrachtung fast immer zu leeren
Schemata herabgesetzt. Und nachdem von groSen weltgeschichtlichen Mo-
menten die Rede ist - wenn auch nur von legendenhaften, wie im Drama
Scholz’ -, treten viele Menschen, ganze Massen auf, und der Mangel an
Lebendigkeit ist sehr stark spiirbar. In André Gides Dramen ist diese
Abstraktheit geringer, das hat aber mindestens so viele Nachteile wie
Vorteile. Denn die Abstraktheit ist vielleicht nur weniger spiirbar, sie ist aber
ebenso vorhanden wie in den Dramen der anderen. Seine weniger abstrakte
Problembetrachtung entspringt der geringeren Tiefe seiner Betrachtungs-
weise, nicht seiner sinnlicheren Lebendigkeit. Und seine Dramen, insofern
sie weniger rein nur die Dramen eines Konflikts und nicht die ihrer
Menschen sind (obwohl sie in vieler Hinsicht doch so beschaffen sind),
verbleiben auf dem Standpunkt der bloBen Psychologie. Seine Trockenheit,
das blo& Linearische vermag somit nicht die iiber das Psychologische
hinausgehende Monumentalitit zu erreichen, und seine bewufte Verein-
fachung bleibt nur eine Technik, sie bleibt sogar eine im Gegensatz
zur lebendigen, augenblicklichen Natur seines Stoffes stehende Technik.
Deshalb bleiben seine - wenigen - Dramen sowohl in seiner Entwick-
lung als auch in der der franzésischen Dramenliteratur nur episodische
Versuche. Eine Bedeutung erhalten sie mehr dadurch, da® sie die
einzigen, in Frage kommenden Versuche sind, die jemand dort unter-
nahm,
In dieser Dramenentwicklung ist die Anniherung zur »tragédie classique«
auffallend und den Dichtern selbst ist dies auch bewut. Die groBen Dichter
der »tragédie classiquee wuften sehr wohl, warum sie nur mit wenigen
Personen in ihren Dramen arbeiten wollen; warum sie nicht die Geschehnis-
se selbst, sondern nur ihre Wirkung in der Seele der vorkommenden
Menschen darstellen wollen. Paul Ernst unternahm in seinem letzten Drama
den entscheidenden Schritt in diese Richtung. Seine friiheren Dramen stan-
den trotz der inneren Verwandtschaft zur »tragédie classique« dem mit
groBen Massen grofe Ereignisse darstellenden Stil Shakespeares naher.
Zumindest standen sie jener vermittelnden Form niaher, deren Tradition in
Deutschland bis zum »Wallenstein« zuriickgeht. Dieses Drama ist auch
technisch nach dem Vorbild der »tragédie classique« gestaltet worden. Der
Gegenstand dieser Tragédie ist der ganze Nibelungen-Mythos und doch
treten nur fiinf Menschen auf und die ganze Handlung spielt sich an einem
506 Die gegenwartige Situation
Tag, von morgens bis abends ab, am selben, absichtlich symbolisch darge-
stellten Ort, am Platz zwischen der Kirche und dem Schlo8, auf einem fast
Corneilleschen »lieu théatral«."° Alle Motive sind méglichst einfach und
gro& angelegt: Siegfried und Brunhild sind fireinander geschaffen; sie
verkérpern die wahren Liebenden, die sich tiefer lieben als gewéhnlich
Liebende, die sich nur sinnlich lieben und daher die grofen Ziele aus den
Augen verlieren. Gunther und Chriemhild sind die gewéhnlichen Men-
schen, deren Liebe nur sinnlich ist, die sich nicht nach einer Liebe sehnen,
die ihrer eigenen ahnlich ist, sondern nach der entgegengesetzten, nach der
héheren, ihr Wesen erhGhenden Liebe. Entweder um diese zu sich herabzu-
ziehen oder sich mit ihrer Hilfe emporzuheben, oder aus der Freude der
schwachen und feigen Menschen an Selbstquilerei, an der Erniedrigung ihrer
selbst. Deshalb reicht Chriemhild dem Brautigam Brunhilds, Siegfried den
Trank, der alles vergessen lat, deshalb wiinscht Gunther den Sieg Siegfrieds
iiber Brunhild als Vergeltung fiir die Hand Chriemhilds. Die verwickelten
Faden miissen aber entwirrt werden, weil sie sich um die Schicksale der
Menschen wickelten und es gibt kein Hindernis, das deren unberechenbaren
und doch notwendigen Gang aufhalten kénnte, es gibt keinen Vorsatz, der
diesen Gang regeln kénnte. Siegfried und Brunhild werden von etwas
zueinander getrieben. Ein jeder Schritt, den sie unbewu8t in Richtung ©
zueinander tun und ein jeder Schritt, den sie im Schreck iiber die Konse-
quenzen des vorherigen in die andere Richtung tun, fihrt zum Bekanntwer-
den des Geheimnisses. Brunhild glaubte von Gunther mit selbsttriigerischer
Hartnickigkeit, da er der erste unter den Mannern war, der sie besiegt hat.
Dieser Stolz hielt in ihr noch die Lebensmdglichkeit aufrecht, als davon nur
noch der Schein iibriggeblieben war und in ihr schon die neu erwachte Liebe
entflammt war. Nachdem ihre Erniedrigung offenkundig wurde, muf sie
den Tod Siegfrieds fordern. Denn wenn Siegfried lebt, bleibt ihr keine
Stiitze; wenn Siegfried lebt und sie erniedrigt leben mu&, dann braucht sie
nur ein wenig Glick, dann will sie schon als Geliebte Siegfrieds leben. Und
Hagen, der Vasall Gunthers, der sie haft und Siegfried anbetet, fiihrt die Tat
aus. Er fiihrt sie auf meuchelmérderische Weise aus; er, das Vorbild jeglicher
Ritterlichkeit, den auch Siegfried so liebt und ehrt, als ob er sein Vater ware.
Siegfried wird ermordet und Chriemhild schwért gegen alle Nibelungen
Rache: dieses gemeine Menschengeschlecht muf vernichtet werden, alle,
auch sie, auch ihr Kind, wenn es geboren sein wiirde, denn es wire nicht nur
Siegfrieds Kind, sondern auch das ihre. Siegfried stirbt aber ruhig, er will
nichts von Chriemhild und ihrer Rache wissen:
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama 507
2
Ernst und alle die ihm nahestehen, stehen sehr einsam da — sogar unter den
jungen Dichtern. Bei einem sehr grofen Teil dieser Dichter beginnt Shake-
speare sehr tief und stark zu wirken, aber seine Wirkung scheint wieder
seiner auf den Sturm und Drang oder auf das franzésische romantische
Drama ausgeiibten Wirkung ahnlich zu sein. Shakespeares Reichtum, seine
Technik, die aus der Vielfalt leicht hingeworfener kleiner Bilder eine Welt
zusammensetzt, seine Motivation, die weniger streng als die der heutigen
Dichter ist und bei den rein seelischen, nur individuellen Ursachen stehen-
bleibt, die Sinnlichkeit seiner alles Abstrakte meidenden Sprache: dies alles
wirkt hier am stirksten. Es scheint so, als ob dies die Befreiung des beinahe
508 Die gegenwartige Situation
von allen Richtungen des modernen Dramas unterdriickten, unmitrelbar
sinnlichen Ausdrucks wire. Denn wenn auch der Naturalismus im Aus-
druck alles Abstrakte vermied, konnte das, was er sagen wolke, wegen
dessen grauer Trivialitit solchen Sehnsiichten keine Erfiillung geben. Und
die Farbigkeit der Neoromantik war auch eher der vielfarbige Glanz der
Reflexe der Dinge, als der Glanz der Dinge selbst, des Lebens. Es ist
natiirlich fraglich, ob das iiberhaupt dramatisch ausdriickbar ist. Es ist eine
Frage, ob Shakespeares Beispiel hier beispielgebend sein kann. Biihnentech-
nik, Menschenbetrachtung, Weltanschauung, Epochenstimmung und das
Leben selbst als Rohstoff der Dichtung unterstiitzten dies damals mit
unwahrscheinlicher, in der Theorie fast unméglicher Einmiitigkeit; heute
hingegen arbeitet alles mit beinahe derselben Einmiitigkeit dagegen. Heute
kénnte man sagen, da nur die Sehnsucht danach vorhanden ist, daf aber
nicht die Darstellung der Dinge, sondern die der Stimmungsreflexe die
wirkliche, restlose Form der Sehnsucht selbst ist. Zur Darstellung der Dinge
ist das Gefiihl der in ihnen, als im einzig natiirlichen Leben Lebenden
notwendig und nicht das der Sich-Sehnenden, wie das schon Schiller ganz
klar erkannte. Und das heutige Leben widersetzt sich ~ beim Drama
zumindest — einer solchen Betrachtungsweise so sehr, da auch der »naivstec
moderne Dichter, Goethe, von einer solchen Darstellung, von der Shake-
spearischen, zumeist méglichst weit entfernt steht.
All dies ist vielleicht in-der Schicksals- und Heldenkonzeption am klarsten
zu sehen und hier entscheidet sich zugleich, ob der ganze Ansatz hoffnungs-
voll oder hoffnungslos ist. Und hier miissen wir feststellen, da8 wihrend es
den Dichtern, die die Stilisierung bis zum Aufersten trieben, gelungen ist,
konsequente, interessante und fiir dramatische Zwecke geeignete Helden-
und Schicksalskonzeptionen zu finden, bei den jungen Dichtern, von denen
jetzt die Rede sein wird, davon kaum Spuren zu entdecken sind. Wahrend
dort gerade das Endziel stets klar vor unseren Augen stand und zumeist die
Lésung der Details die Frage war, verleiht diesen Dichtern zumeist nur ihr
sich in der Schénheit und Kraft ihrer einzelnen Details offenbarendes Talent
eine Interessantheit. Wenn wir etwas Gemeinsames bei ihnen finden wollen,
kann dies nur ein Negativum sein: der Kampf gegen die abstrakte Motivie-
rung, Problembetrachtung und gegen die allzu starke und den Reichtum
zerstérende Konstruktion.
Herbert Eulenberg ist vielleicht der bekannteste unter diesen Dichtern und
wenn es auch nicht gewi8 ist, da er der talentierteste ist, verleiht es ihm
doch eine besondere Wichtigkeit, daf allein in seinen Dramen eine bestimm-
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama 509
3.
Bab kritisiert scharf in seinem feinen und klugen kleinen Buch iiber die
heutige Situation der deutschen Dramenliteratur (» Wege zum Dramas), die
beriihmten Dramatiker der Generation von 1890 und kommt zur Feststel-
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama sur
lung, da& man von ihnen in Zukunft nichts erwarten diirfte. Wenn das
deutsche Drama eine Zukunft habe - und seiner Meinung nach hat es eine -,
dann kénnten nur seine Zeitgenossen, die jiingsten Dichter diese Zukunft
bringen. Der einzige, etwas dltere Dichter, von dem auch er noch etwas
erwartet, ist Hofmannsthal.'* Natirlich hilt er auch bei ihm nur seine
vergangenen Verdienste fiir wirklich wichtig, beziiglich seiner Zukunft
nimmt er einen vollig abwartenden Standpunkt ein. Er sagt, da& Hofmanns-
thal bis jetzt im wesentlichen immer ein Lyriker gewesen sei; in seinen
sogenannten Dramen hiitte es nimlich keine Zweistimmigkeit, keinen im
tieferen Sinn genommenen Kampf gegeben.'” Die Helden der ersten Dra-
men lebten allzu sehr in einer Traumwelt, aus ihrem Schicksal konnte kein
Drama werden. Entweder hatten sie zur Wirklichkeit iberhaupt keinen
Kontakt oder dieser Kontakt bestand héchstens darin, daf sie die Leere ihrer
Traume und Phantasmen entdeckten. Dann fielen sie aber um, es blieb ihnen
nichts anderes iibrig als so frih zu sterben wie méglich.
Wir sahen, da& Hofmannsthal schon in »Elektra« sehr energisch seine
dramatische Form gesucht hat. Wir sahen aber, daf auch »Elektra« im
wesentlichen lyrisch ist; auch hier ist jene andere Sache, die Wirklichkeit, das
Handeln, lyrisch ausgedriickt, die im leibhaftigen Gegensatz zu den Men-
schen des jungen Hofmannsthal stehen und gegen sie kampfen miifte, damit
ein Drama entstehen kann. In »Elektra« war dies nicht vorhanden. In seinem
nachsten Drama (»Das gerettete Venedig«) nimmt er gerade dieses Thema
auf. Er glaubt in Otways alter, heute schon halb vergessener Tragédie™ die
Handlung zu finden, in der sein alter Held mit dem Leben in Konflikt
geraten kann. In diesem alten englischen Stiick wird erzahlt, daf die entlasse-
nen venezianischen Séldner mit spanischer Unterstiitzung Venedig zerstd-
ren, die Senatoren ermorden und den ganzen Adel ausrotten wollen. Jaffier
aber, den sein Freund, Kapitin Pierre, in die Verschwérung mit hineinzog,
verrat sie. Er tut dies teils aus Feigheit, teils weil einer der Verschwérer seine
Frau entehren wollte. All dies ist in kurzen und starken Szenen geschrieben,
mit einigen sehr brutalen und wirkungsvollen Bildern vermischt, in denen
wir die Verdorbenheit der Epoche gréRtenteils im Stil des Elisabethanischen
Dramas vor uns sehen. Hofmannsthal will hier eine seelische Einheit schaf-
fen. Jaffier wird zu einem nahen Verwandten der Helden seiner Jugend.
Wenn er denkt, fiihlt oder spricht, ist er schon, bezaubernd und mitreifend.
Er hat eine sehr starke Phantasie, eine so starke, daf ihm die nackte
Wirklichkeit ebensowenig beikommen kann wie seinen Geschwistern (An-
drea, Claudio usw.); die kleinste Aussicht la&t ihn die Bilder einer grofen
g12 Die gegenwartige Situation
Siegesfeier sehen und er fihle sich in tédlicher Gefahr, wenn er ein Gerausch
hort. Dieser Poet, der gerade nur keine Gedichte schreibt, wird von seinem
Freund in die Verschworung eingeweiht, bei der nur das bendtigt wird, was
er nicht besitzt und alle seine schénen Eigenschaften wertlos sind, sogar
geradezu gefibhrlich, obwohl er es gerade diesen Eigenschaften verdankt, da
er in den Kreis der Verschwérer aufgenommen wird. Sein Freund, Pierre,
der einfache, mutige und aufrechte Soldat, ein Mann der Taten, liebt ihn
gerade wegen dieser Eigenschaften, er hilt ihn wegen dieser Eigenschaften
fir ein hochwertigeres Wesen als sich selbst und er will, da er an der
wichtigsten, entscheidendsten Sache seines Lebens, an der Verschwérung
teilnimmt. Man miifite handeln, aber Jaffier kann nicht handeln. Er hiilt das
Ganze in seinem ersten Rausch fiir wunderbar, dann beginnt er dariiber
nachzudenken, was es nach der gelungenen Verschwérung geben wird
(Pierre kiimmert sich nie darum) und schlieSlich beginnt er zu fiihlen, da
sie die Schwicheren sein werden. Er will dies aber nicht fiblen. Er feuert
seine Phantasie immer mehr mit den Bildern des Triumphes an, um dieses
Gefiihl zu ersticken, aber dieser erzwungene Mut bricht beim ersten Gegen-
impuls zusammen und die Katastrophe stellt sich ein, wie bei Otway. Und
als schon alles zusammengebrochen war und der eidbrecherische Senat trotz
seines Versprechens Jaffier hinrichten la&t, sieht Pierre die Zusammenhinge,
sieht, da& er die Ursache des Ganzen ist, da& seine Freundschaft Jaffier
zugrunde richtete, noch viel mehr, als er ihn. Und er spiirt auch, daf diese
Freundschaft, was auch geschah, der schénste, der gréfite Wert in seinem
Leben war. Von hier aus betrachtet ist diese Tragédie der Freundschaft
schén und ergreifend. In ibr ist die ganze Verflochtenheit, die Unerkennbar-
keit des Lebens enthalten. Das Gute und Schlechte, das Schéne und Hif-
liche schwanken und flieRen zusammen; niemand vermag sich im tragischen
Strudel zu behaipten.
Diese schéne und tiefe Tragédie ist aber leider kein ausschlieSlicher Gegen-
stand dieses Stiickes. Hofmannsthal fand bei Otway die Handlung, die er
seit so langem suchte, er ibernahm aber nicht nur diese aus dem Stiick. Alles
andere (z. B. die Rolle von Jaffiers Frau, Pierres Geliebte usw.) erweckt aber,
da sie nicht dieser Stimmung entsprangen, nur den Eindruck von Requisiten
und Dekoration. Wenn sie - wie bei Otway — eine Rolle in der Handlung
spielen, schwachen sie nur deren starke und einheitliche Wirkung ab. Die
Ursache dafiir liegt nicht nur in der Unselbstindigkeit der Vorlage gegen
iiber. Hofmannsthal sehnt sich nach dem extensiven, vielseitigen und poly-
phonen Leben Shakespeares, des alten englischen Dramas. Deshalb kann er
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama 513
auf die Episoden, die dieses Leben entstehen lassen, nicht verzichten,
obwohl er sie nicht bendtigt. Daraus entsteht die scharfste Stildissonanz des
Stiickes, Hofmannsthals Stil ist stark und lyrisch stilisiert. Sein jetziger Stil
ist — nachdem er nach Objektivitat strebt — noch strenger stilisiert, weniger
unmittelbar als es der alte war, und um brutal naturalistische Szenen neben
die stilisierten zu setzen, wie Otway es tat, ist sein Sinn fiir Stimmungsrein-
heit viel zu subtil. Somit sind diese Szenen tot, schablonenhaft, theatralisch,
sogar oft opernhaft. Nachdem es viele solche Szenen gibt, verdecken sie die
eigentliche, die feine, intime und groBangelegt konzipierte Tragddie.
Diese Zerfahrenheit, die durch die Sehnsucht nach dem grofen Reichtum
entstand, ist in Hofmannsthals vorlaufig letztem Drama, im »Oedipus und
die Sphinx« noch starker vorhanden. Hier ist nicht einmal die Grundlage
einheitlich. Kreons scharf gesehene und lebendige Gestalt reprasentiert hier
den Jaffier-Typ. Das Schicksal dessen aber, der ihm gegeniibersteht (Oedi-
pus), steht im wesentlichen mit seinem Schicksal nicht im Zusammenhang:
die Beziehung zwischen ihnen ist episch. Oedipus ist fiir Kreon die zufallige
Katastrophe, die sich gerade vor seinem Ziel - dem Kénigtum — in den Weg
seiner Pline stellt; wenn sich auch dieser Zufall einstellen mufte. Fiir
Oedipus bedeutet Kreon nichts, er ist weniger als eine Episode. Kreon, der
zwar der lebendigste Mensch im Stick ist und einen halben Akt ausschlie8-
lich fiir sich beansprucht, ist also nicht ins Drama hineinkomponiert. Auch
KGnigin Antigone, die Mutter Laios’, spielt nur eine dekorative Rolle, die im
Vergleich zu ihrer dramatischen Bedeutung ebenfalls so breit gezeichnet ist,
da dadurch jeglich Komposition véllig verhindert wird. Hofmannsthal
konnte aber auch die Hauptsache, das Zusammentreffen von Oedipus und
Jocaste nicht zwingend notwendig gestalten. Es ist wunderbar, wie er
Oedipus darstellt, auf den seine angebliche Mutter, die Kénigin von Ko-
rinth, eine so starke Wirkung ausiibt, da& er nur eine Kénigin zu lieben
imstande ist, und bei dem somit das Orakel auf fruchtbaren Boden fallt. Das
Orakel vergiftet alle seine alten, schénen Gefiihle, li&t sie nachtriglich als
verdachtig erscheinen und bewirkt, daf er sich gliicklich und erlést wei, als
er fihlt, da8 er Jocaste liebt, die erste und einzige Kénigin seit seiner Mutter,
seit der Frau namlich, die er fiir seine Mutter hielt. Aber schon die Ermor-
dung Laios’ ist z. B. ein zufalliges Ungliick. Die Sphinx bleibt trotz aller
Feinheit nur ein Requisit, ebenso wie das alte Orakel, aus dem sich alle
spateren Dinge ergeben.
Somit sind Hofmannsthals dramatische Versuche zutiefst anorganisch: er
sehnt sich nach einer solchen Vollkommenheit, bei der er auf seine haupt-
$14 Die gegenwartige Situation
sachlichen Werte verzichten miifte, um sich ihr annihern zu kénnen: auf
sein feines, ordnendes Stilgefithl und auf die einheitlich strémende, reiche
Strenge seiner Sprache. Er will eine solche Einheitlichkeit und Einfachheit
aus diesem Chaos herausholen, die darin nicht vorhanden ist, die man aus
dem aufregend besonderen Schicksal solcher Menschen, die ein bis zur
Pathologie reichendes kompliziertes Seelenleben haben, nicht herausschi-
len kann. Und wie es sich bei allen Kiinsten von anorganischer Grund-
lage verhalt, schwacht jede seiner Tugenden die Wirkung der anderen ab.
Die vereinheitlichende Monumentalitat seiner Sprache nimmt vieles vom
Leben seiner Menschen weg und macht sie oft trotz aller ihrer Kom-
pliziertheit schematisch, ohne daf ihre Schicksale - infolge dieser reichen
Kompliziertheit - wirklich einfach, groSangelegt allgemein sein kénn-
ten.
Die wahren Schénheiten liegen hier in der lyrischen Kraft und Tiefe des
Gegeniiberstehens der Menschen, in den seelischen Reflexen der Tragédien,
in den Stimmungen, mit denen die Menschen ihre Tragédien aufnehmen.
Diese Schénheiten sind aber nur die Schénheiten der Details, und wenn auch
Hofmannstahls Entwicklung nicht abwirts und von den Wegen der groBen
Literatur wegfihrt, wie die derjenigen, deren Anfainge den seinen ahnelten,
ist heute noch iiberhaupt nicht abzusehen, wohin dieser Weg fiihren mag,
nicht einmal das, ob er iiberhaupt irgendwohin fiihrt. Seine Wirkung ist aber
— vielleicht gerade wegen seiner Fehler und Problematik - sehr gro8. Es sind
viele Dramen in den letzten Jahren entstanden, in denen sein Pathos ertént
und in deren Konflikten sich die bis zum Krankhaften verfeinerte Psycholo-
gie mit der aus den Sagen — oder aus der alten Literatur - enmommenen
dekorativen Einfachheit und Monumentalitat noch anorganischer vermischt.
Unter diesen Dramen hatte Ernst Hardts Tristan-Tragédie, »Tantris der
Narre, den gréfiten Erfolg; das bedeutendste aber ist Johannes Raffs »Hohe
Liebe«. Hier sind die Gegensatze — zumindest an einzelnen Stellen — stirker
zusammengehalten als bei Hofmannsthal selbst. Das Grundmotiv ist verhilt-
nismiaig einfach: eine iibergroBe Liebe, die sich vor der verdorbenen Wek
fliichtete (der Hof der Margarethe von Navarra ist die »Welt« usw.),
zerbricht, sobald sie mit dieser Welt dennoch in Beriihrung kommt. Sie mu8
zerbrechen, weil alle Menschen nur um den Preis der Uberspanntheit ihres
Wesens auf diese Weise zu lieben imstande waren und deshalb nicht fahig
sind, .fortwahrend so zu leben. Das Grundmotiv ist einfach und auch
groBangelegt genug, um weder von der dekorativ schillernden Buntheit der
Welt, in die es hineingestellt ist, noch von der Umstindlichkeit und Kompli-
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama sts
ziertheit seiner eigenen Zeichnung, noch von der vollkommenen und iiber-
trieben glinzenden Pracht seiner Sprache erdriickt zu werden.
+
Das, wofiir Hofmannsthal und seine Nachfolger so ausdauernd und vergeb-
lich gekampft haben, erreichte Richard Beer-Hofmann, der in vieler Hin-
sicht, z. B. sprachlich, als sein Schiiler erscheint, zumindest scheinbar spie-
lend. Beer-Hofmann ist einer von den — besonders heute so seltenen
~ Menschen, die wenig schreiben; er ist seit Flaubert, Jacobsen und Ibsen der
erste bedeutende Dichter dieses Typs. Er ist schon weit iiber vierzig und es
sind von ihm erst drei kleinere und gréBere Novellen, zwei schéne Gedichte
und ein Drama erschienen. Und auch von diesen wenigen Werken sind die
ersten zwei Novellen nur tastende Versuche; die letzte ist eine Kraftprobe,
Virtuositat. In allen drei Novellen erscheint derselbe Mensch, ein naher
Verwandter der Menschen Hofmannsthals und Schnitzlers. Im Drama tritt
er aber nicht mehr auf. Diesem Menschentyp kommt hier nicht mehr als eine
grdBere Episodenrolle zu, obwohl diese Gestalt an sich reicher und lebendi-
ger ist als z. B. eine jede Gestalt bei Hofmannsthal.
Reichtum und Leben sind in diesem Drama im Ubermaf vorhanden.
Beer-Hofmanns Auftritt ist das erste wahre Wunder in der Geschichte des
modernen Dramas. Alle anderen sahen wir langsam aufsteigen (oder absin-
ken), hier tritt ein Mensch auf einmal so vollendet, mit solcher Wucht auf,
streut in einem Stick so verschwenderisch die gré8ten Schénheiten aus, da
es in Anbetracht dieser Dinge fast kleinlich erschiene, an die Febler des
Stiickes zu denken.
Beer-Hofmann dichtete, wie fast alle groRen Dramatiker, Ibsen ausgenom-
men, die Handlung seines Dramas nicht selbst. Die Fabel vom »Graf von
Charolais«, die Namen seiner Gestalten usw. sind im Stick, »The fatal
dowry«, zweier schon fast vergessener Dramatiker, Massinger und Field
vorhanden. Aber Beer-Hofmanns Verhiiltnis zu seinem Stoff ist fast so wie
das Shakespeares zu seinen italienischen Novellen war. Hier ist es villig
zufillig (im Gegensatz zu Hofmannsthal z.B., der bereits bearbeitete,
dramatische Elemente von Sophokles und Otway iibernahm), ob er das,
woraus er sein Stick formte, in dramatischer Form bearbeitet erhielt. Von
dem, was im englischen Stiick dramatisch war, blieb hier nichts erhalten. Das
englische Stiick bestand eigentlich aus zwei Stiicken; Shakespeares Zeit
kiimmerte sich nicht viel um die Einheit der Komposition. Das erste handek
von einem General, der in einem Krieg fiel und dessen Leichnam nach den
516 Die gegenwartige Situation
kuriosen Gesetzen des Landes von seinen Glaubigern gepfandet wird, bis sie
zu ihrem Geld kommen. Das erste Stiick handelt vom braven und guten
Sohn des Generals und es endet damit, da& der Parlamentsprasident die
Schulden begleicht und die Hand seiner Tochter dem jungen Charolais gibt.
Im zweiten Drama betriigt die junge Frau ihren Mann, er erfahrt es und
zwingt seinen Schwiegervater, der der erste Richter des Landes ist, iiber sie
ein Urteil zu verhingen. Der Richter verurteilt sie auch, aber gleich nach
dem Urteil erwacht in ihm der Vater und es folgt eine grofe, starke und
primitiv dramatische Szene nach dem Geschmack jener Epoche. Beer-Hof-
mann verschirfte alle Dissonanzen, die er hier fand, noch mehr. Den
General traf die Kugel schon nach dem Waffenstillstand, es ist die letzte
Kugel in diesem Krieg. Er schafft zwischen Vater und Sohn, Vater und
Tochter ein Verhiltnis voller unendlich zartlicher und tiefer Gefiihle. Bei
ihm liebt die Tochter ihren Mann und sie ist eine ehrliche, gute Frau, nur . . .
und gleichwohl kommt die Katastrophe zustande. Eine geheime Kraft— eine
noch weniger ausdriickbare als die Maeterlincks war — treibt die Menschen,
ordnet die Dinge. Die Frau ist gefallen und vier Menschen (denn hier ist
natiirlich auch der Verfiihrer ein leidender Mensch) gehen zugrunde und
derjenige hat noch das beste Los, der schnell gestorben ist. Es ist eine
Schicksalstragédie. Bei Beer-Hofmann ist das Geschick das Geheimnisvoll-
ste und doch das Miachtigste, es ist am wenigsten zu erkennen und es
offenbart sich doch éfters als bei allen anderen Dichtern. Die Menschen
wissen nicht einmal, was mit ihnen geschah, sie erfahren es nur nachtraglich,
wenn es schon zu spit ist; die Tragédien wachsen aus dummen Zufillen
hervor. Diese Zufille sind aber hier stark dramatisch. Hier ist wieder
sichtbar, da8 nur das tief tragisch sein kann, was einer tragischen Weltan-
schauung entsprang, da es aber fast gleichgiiltig ist, was fiir eine Weltan-
schauung es ist. Beer-Hofmann spiirt, daf alles zufillig ist, da8 wir die
Sklaven von etwas sind, was scheinbar einen Gefallen daran findet, mit
unserem Schicksal spielen zu kénnen. In diesem Stiick gibt es viele lebendige
Menschen, solche, die eine komplizierte Seele haben und solche, die einfach
ehrlich sind. Vornehm denkende Menschen und Schurken, rohe Soldaten
und feine groSe Herren, Wucherer und Bordelleigentiimer sind alle gleich
stark lebendig, so stark, da& wir fast glauben, daf sie der spontanen
Schaffenslust eines Poeten entstammen, der nur Menschen zu schaffen
vermag. Wenn wir aber ihre Seelen und Schicksale kennenlernten, sehen wir,
daf sie alle dasselbe blinde, unerbittliche und launenhafte Schicksal haben.
Es spielt etwas mit ihnen, mit allen - oder sagen das nur unsere Worte, die
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama 517
5.
Die junge Wiener Dichtergeneration, Lyriker und Novellisten, brechen fast
gleichzeitig und parallel in Richtung des echten, grofen Dramas auf. Diese
kiinstlerische Bestrebung ist bei allen gréftenteils das Ergebnis der gleichen
inneren Entwicklung. Alle rechnen mit den miiden und phantastenhaften
ewigen Zweifeln ihrer Jugend ab, alle erblicken das Leben in seiner Harte
und in seinem Reichtum, alle wollen die Tragddie der verhatschelten Helden
ihrer Jugend schreiben. Wir haben schon bei Hofmannsthal diese Entwick-
lung gesehen; Beer-Hofmann befand sich schon viel weniger in diesem
Seelenzustand, deshalb rechnet er - zumindest vorliufig - damit in einer
wunderschénen Episode ab, daf jedoch der Held seiner ersten Novellen in
seiner grofen Tragédie nur eine Episodengestalt wurde, zeigt auch bei ihm
eine Entwicklung in diese Richtung. Arthur Schnitzlers Abrechnung ist die
farbigste, die tiefste, sie enthilt die gro&te Selbstkenntnis, bittere Ironie und
Selbstanklage. Er stand diesem Menschentyp scheinbar am nichsten.
Der Tod ist der gemeinsame Held dieser Sticke. Der Tod vernichtet die
‘Welt des jungen Schnitzler; denn diese liegt nun in jedem Stiick im Sterben.
Er hebt aber die alternden und vertieften oder vor dem Vergehen glanzvoll
heroisch gewordenen Anatols in tragische Héhen. Zuniichst rechnet er mit
ihnen in grotesken Satiren ab. Auch Paracelsus, der mit allem spielt und
experimentiert, ergreift einmal beim Spielen die Bestirzung. Er herrscht
nicht mehr iiber das, womit er experimentiert hat und vertréstet sich
resigniert mit dem Satz: »Wir spielen immer, wer es wei, ist klug.« Dr.
Hausmann (»Die Gefahrtin«), der aus Spielerei die Frau seines besten
Freundes verfiihrt hat, traf aber Schnitzler schon mit schonungsloser und
schneidender Ironie. Clemens, der dumme, sich nur um Pferderennen
kiimmernde Graf erweist sich als ein besserer Mensch als Gilbert (»Litera-
ture), weil er, wenn auch einfach und ungebildet, doch lebt, wahrend Gilbert
nur Themen und Ideen hat, die ihm zur Unterhaltung dienen. Mit dem
selben bitteren Vorwurf trifft er Boremeus Heinrich (»Lebendige Stunden),
der es von seiner Mutter annahm, sich fiir seine Dichtung aufzuopfern.
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama 519
Die Anatol-Welt liegt im Sterben. Anfinglich spiirt sie die Nahe des Todes
als einen neuen interessanten Reiz (»Der griine Kakadu«). Dieses Stiick stellt
die Aristokraten des vorrevolutioniren Paris dar, die sich an den Gefahren
belustigen, sie finden sie neu und interessant und als der Tod iiber sie
herfallt, brechen sie plotzlich zusammen. Sie waren darauf innerlich nicht
vorbereitet; der Tod kann hier nur als grotesker Zufall wirken. Es scheint so,
als ob sich Schnitzler mit verzweifelter Energie von dem in ihm steckenden
Anatol befreien michte, als ob er alle Gemeinsamkeit mit ihm ableugnen
wollte. Das ist aber nicht méglich. In diesen Stiicken sehen wir nicht, wer
nach ihnen kommen wird und diejenigen, die er lacherlich machen wollte,
glanzen in unserer Erinnerung in einem intensiven Licht (Herzog Cadignan
in »Der griine Kakadue). Diesen Menschen kann man mit Ironie nicht
beikommen. Der Tod kann schlieflich gegen niemanden ein Argument sein
und man kann auch alle Menschen auslachen. Von dem, der auch iiber sich
selbst lacht, prallt jegliche Ironie ab. In seinen letzten, groBangelegt konzi-
pierten Dramen bringt Schnitzler alles Schéne und Grofe, das in diesem
Menschentyp innewohnt, heraus. Er stellt ihn somit unmittelbar vor dem
Tod dem Leben gegeniiber, wenn gerade bei solchen Menschen, die eine
empfindliche Seele und empfindliche Nerven haben, alle Eigenschaften
anwachsen und sich vertiefen. »Der Schleier der Beatricee ist das erste
derartige Stiick. Cesare Borgia lagert vor Bologna. Alle spiiren, daf er die
Stadt einnehmen und alles vernichten wird. Der Schatten des Todes breitet
sich schon iiber alles aus. Und in dieser Stadt sehen wir Anatol (hier heift er
Filippo Loschi und ist ein groSer Dichter), wir sehen, wie das Schicksal an
ihm vorbeigeht, ihn nicht treffen kann. Seine Phantasie tdtet ihn, zufallig,
willkiirlich; mit dem eigentlichen Drama kaum im Zusammenhang. Dies ist
natirlich auch der grote Fehler des Stiickes. Er, der von Einfillen lebte,
kann nur infolge eines Einfalls sterben. Das fallt hier zufallig mit der
Vernichtung Bolognas zusammen; es ist ein Zufall: Loschi hatte sie mit
einem Menschenalter iiberleben kénnen. Solange diese Menschen jung und
blihend sind, kann ihnen das Schicksal nicht beikommen. Solange sie jung
sind und bliihen ... einmal werden aber auch sie alt und was dann? »Das
Altern ist nun einmal eine einsame Beschiaftigung fiir unsereinen . . .«, sagt
der eine alternde Anatol (in »Der einsame Weg«)"° und diese Menschen
haben zwar innerlich immer einsam gelebt, aber nie verlassen und mit dem
Alter stellt sich auch die Verlassenheit ein. Sie haben alle Bande zerrissen, die
sie einst mit den anderen Menschen verbanden, um frei nach ihren tausend
Zielen fliegen zu kénnen. Jetzt, wo ihre Fliigel gelahmt sind, bleiben sie
$20 Die gegenwartige Situation
allein, denn nur derjenige kann einen Gefihrten haben, der véllig in die
menschlichen Gemeinschaften hineinwuchs. Ein solcher Mensch kann keine
Ehefrau haben, nur Geliebte und entweder starben diese schon oder sie
resignierten. Er hat keinen Freund, denn er wollte nie mehr vom anderen
Menschen, als ihm im Gesprich »die Stichworte so geschickt« zu bringen. '*!
Er hat keine Kinder - wenn er auch welche hat. Und auch die Kunst bringt
keinen Trost. Sie war fiir Ibsens gréfere Kiinstler-Helden kein Trost, sie
kann es noch weniger fiir diese Helden sein, fiir die die Kunst stets nur einer
unter den vielen Rauschen des Lebens war (Julian Fichtner) oder eben nur
dazu diente, die Entfernung vom Leben zu steigern (Sala). Das ist die
Tragédie des Alterns, das Wiener Pendant zu Solness. Dort rottete die
Ordnung der Natur den aktiven Menschen aus, hier den Epikurier; deshalb
war die eine Tragédie eine plitzliche Katastrophe und die andere eine
langsam, traurig tonende Elegie.
Dieser Menschenschlag kann noch eine derartige Tragédie erfahren. Bis jetzt
traf er fast ausnahmsios solch eine Frau (das Verhiltnis zur Frau symbolisiert
bei diesen Menschen noch stirker das ganze Leben als bei anderen Dich-
tern), bei der es keine grofe Ungerechtigkeit bedeutete, da8 sie nur eine
Episode im Leben des Mannes war. Im »Zwischenspiel« trifft Amadeus
Adams, der beriihmte Dirigent und Komponist, eine ihm ebenbiirtige Frau,
die zu bedeutend ist, eine stets anpassungsfahige Stiitze verschiedener Stim-
mungen zu sein. Sie ist sehr selbstindig und wie sehr sie auch den Mann
liebt, kann sie die Trennung, sobald diese zu ihrem grofen Schmerz vom
Mann ausgehend einmal begann, nicht mehr unter der Wirkung einer neuen
Stimmung ungeschehen machen. Und ein abenteuerlicher Versuch zur Zu-
riickeroberung vollendet die Trennung. Adams ist ein gebrochener Mann;
fiir ihn (fir die Frau natiirlich noch stirker) bedeutet das, was geschah, eine
Tragédie. Wirklich lieben kann er doch nur eine ihm seelisch ebenbiirtige
Frau und er, der grofe Erotiker, der Meister in allen Arten der Liebe, weif
nur eines nicht, wie er die fiir ihn unentbehrliche Frau lieben muf.
Es ist eigenartig und auffallend, wie stark Schnitzlers letzte Dramen die
Ibsens — thematisch - beriihren. Ich glaube es bedarf keiner lingeren
Ausfiihrung, wie sehr das Thema des »Zwischenspiels« in allen seinen Teilen
ein Ibsen-Thema ist. Auch das, was er erreichen will, entspricht vollkommen
den Zielen Ibsens. Dies ist die Intimitit und scheinbar die Darstellung der
Wirklichkeit, die aber allmahlich, fast unbemerkt im Laufe des Stiickes doch
iiber die Wirklichkeit hinauswichst. Seine Schonheit ist, wie Gide sagt, die
gewohnliche Schénheit der realistischen Stiicke: es beginnt dann schén zu
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama sar
sein, wenn es aufhért, realistisch zu sein. Schnitzler gerit jetzt also stark
unter Ibsens Wirkung. Und doch, wenn diese Stiicke nicht mehr als glanzen-
de Attraktion der Ibsen-Schule waren, waren sie dort keiner Beschaftigung
‘wert, wo wir gerade die iiber Ibsen hinausgehende Entwicklung des Dramas
suchen. Schnitzler wurde von seiner eigenen Entwicklung zu den Ibsen-Pro-
blemen gefiihrt und vor Ibsens Ziele gestellt. Er unternahm aber den
Versuch, auf einem anderen Weg ebenfalls dorthin zu gelangen, wohin sein
Meister kam; vielleicht unbewuft, vielleicht deshalb, weil er einsah, da&
Ibsens Wege nicht weiter begehbar sind. Das ist einerlei. Seine Bedeutung
besteht aber gerade darin, da& er den Versuch unternahm. Als wir iiber
Ibsens Technik sprachen, fiihrten wir die daraus entspringenden Stildisso-
nanzen detailliert aus und wir erwahnten auch, daf Ibsen in zwei seiner
letzten Sticke (im »Klein Eyolf« und im »Epiloge) sich von dieser Technik
abwandte. Er hat die komplizierten Beziehungen zwischen den Menschen
aufgelést und versuchte, diese Dramen aus einer rein inneren und symboli-
schen Handlung, aus dem Nacheinander von seelischen Geschehen, aus
grofen, real-irrealen, lyrisch-dramatischen Szenen aufzubauen. Schnitzler
schlieft sich diesen zwei Dramen an. Wir wissen, daf es Ibsen nicht gelang,
die Lésung zu finden und daf auch Schnitzlers beide Versuche nur Versuche
blieben. »Der einsame Wege« ist das grofangelegtere von beiden und ist
weniger gelungen. In diesem Stiick verflechten sich vielfaltige Schicksale
vielfaltiger Menschen. Schnitzler will die Einfachheit des Lebens behalten,
sein Stiick zerfallt aber dadurch in so viele Dramen, wie viele Schicksale
darin enthalten sind. Die Menschen durchqueren nur die Biihne, sie spre-
chen und es geht um eine Sache; sie gehen fort und auf einmal handelt es sich
um eine andere Sache. Allein die lyrische Stimmung des Vergehens hilt -— wie
in den beiden Ibsen-Stiicken ~ das Ganze zusammen. Im »Zwischenspiel«
waren die Schwierigkeiten geringer und doch ist auch hier die Lésung
unbefriedigend. Dieses Drama ist die Tragédie zweier Menschen, auSer
ihnen werden jedoch auch andere bendtigt. Nicht nur um der Vermeidung
der Monotonie willen, sondern um seine Helden von ihren verschiedenen
Seiten her beleuchten zu kénnen. Und diese Menschen spazieren auch mehr
oder weniger durch das Stiick, da die Beziehungen, die anderswo freilich oft
unnatiirlich sind, nicht hergestellt sind. Sie fallen aus dem Bild heraus, sie
sind nicht wirklich hineinkomponiert.
Das ist aber nur ein Zeichen der inneren und tiefen Entfernung der Stiicke
vom Dramatischen. Bei Schnitzler wird das Dramatische, ebenso wie bei den
meisten heutigen Dichtern, immer schwicher, sobald seine Weltbetrachtung
j22 Die gegenwartige Situation
gehalten werden. Und auch diese Bilder sind meistens stille, in sich geschlos-
sene, mit den Vorgeschehen und den Folgen schwer verkniipfbare Dialoge.
Deshalb gelingen von den letzten Dramen Schnitzlers die Einakter am
besten; am meisten der auSerordentlich feine und tiefe »Puppenspieler«.
In seinem letzten Drama (»Der Ruf des Lebens«) versucht Schnitzler etwas
ganz Neues. Er versucht seine grotesk verkiirzte Linientechnik, die er in
einigen seiner Einakter-Lustspielen (»Der tapfere Cassian«) anwandte, fiir
ernst dramatische Zwecke geeignet zu machen. Meiner Ansicht nach ist ihm
dies so wenig gelungen, daf es hier kaum von Wert wire, sich mit diesem
Stiick ausfithrlich zu beschaftigen. Schon deshalb nicht, weil wir heute noch
nicht sehen kénnen, ob dies blo ein isolierter Versuch ist, oder ob sein
Dichter noch verwandte Versuche in diese Richtung unternehmen wird, und
wenn ja, wohin sie fithren werden.
6.
Es scheint so, da& Schnitzlers gegenwirtige Situation zugleich die Situation
des heutigen, nach dem grofen Stil strebenden, gesellschaftlichen Dramas ist.
Ein jeder bedeutendere Dichter, der Ibsen fortzusetzen versucht hat, gelangt
dorthin, wo er angelangt war. Im Norden, auf seine Landsleute, wirkte
anfangs seine Gesellschaftsproblematk und zu jener Zeit wandten alle
(Strindberg ausgenommen) seine franzésische Technik an. Spater entstand
auch dort unter der Wirkung des Naturalismus derselbe Entwicklungspro-
ze& wie in Deutschland und in Frankreich, aber die nordischen weichen
Lyriker vermochten aus diesem Stil noch weniger ein echtes Drama zu
machen, bei ihnen zerfiel das Drama noch mehr zu Stimmungsbilder (Sven
Lange, Hjalmar Séderberg, Sigbjérn Obstfelder usw.). Die nordische Litera-
tur hatte seit Ibsen nur einen bedeutenden Dramatiker neben Strindberg:
den Norweger Gunnar Heiberg.
Es ist eigenartig, wie sehr Ibens Entwicklung die typische Entwicklung der
nordischen Dichter darstellt. Strindberg ausgenommen, der schneller und
wiederholt dieselben Stadien, die drei Hauptstadien der Entwicklung Ibsens
durchlief: die epigonale Romantik, die Sozialkritik und die mit realistischem
Mystizismus erfiillte, neu erwachte tragische Romantik durchliefen alle.
Diesen Entwicklungsgang hatten sowohl die grofen norwegischen Roman-
ciers, Knut Hamsun und Are Garborg, als auch Gunnar Heiberg. Er
gelangte natiirlich erst jetzt dorthin, er schrieb erst ein Stiick, das bei ihm
dieses Stadium bedeutet: »Die Tragidie der Liebe«. Vorher schrieb er
interessante und an originellen Gedanken reiche Tendenzdramen mit fran-
524 Die gegenwartige Situation
7
Strindberg war bei seinen Geselischaftsdramen, wie wir gesehen haben, stets
um eine gréfere Einfachheit als die Ibsens bemiiht. Der Aufbau seiner
naturalistischen Dramen war auferordentlich locker, bei vielen (»Fraulein
Julies, »Pariac,'»Die Starkere«) zeigte sich schon die bei Schnitzler angedeu-
tete Lésung; namlich, da8 das ganze Drama in einer Szene zusammenge-
dringt werden soll, in der méglichst wenige — also meistens zwei - Menschen
auftreten. Aber vom Thema und Stoff her ist dies bei den wenigsten Dramen
méglich. Strindberg experimentierte damit kurze Zeit, als sich jedoch nach
seinem naturwissenschaftlichen Himmelsstiirmen der Seelenzustand der gro-
Ben Niedergeschlagenheit, Gebrochenheit eingestellt hat, in dem sich mysti-
scher Katholizismus und das Zweifeln an allem vermischten, befriedigte ihn
das nicht mehr. Jetzt spielen schon — sichtbar oder unsichtbar — iiberirdische
Michte in die menschlichen Schicksale hinein, diese entscheiden sich aber
doch im verbitterten Kampf der Seele eines oder zweier Menschen — eines
Mannes und einer Frau. Auf diese Weise kam bei Strindberg, als er mit dieser
Weltbetrachtung das heutige Leben in Dramen zu fassen versucht hat, ein
Mischstil zustande, die Mischung aus Maeterlinck und dem Impressionis-
mus. In Strindbergs Leben war die Dichtung immer nur ein Ubergang. In
den fiinf Jahren vor der Krise produzierte er nichts Dichterisches, er
beschaftigte sich nur mit Chemie und Physik, in den nachfolgenden finf
Jahren (1897-1902) schrieb er neben autobiographischen Schriften und
kleineren und gré8eren Novellen nicht weniger als 18 Dramen. In den ersten
gibt es kaum etwas Kiinstlerisches. Erotische und mystische Stimmungen,
Realismus und mutige Stilisierung mischen sich in ihnen anorganisch; einen
Aufbau haben sie iiberhaupt nicht, einige verhiltnismifig starke, lyrische
Stimmungen halten eine Reihe von Bildern gut und schlecht zusammen
(»Nach Damaskuse ist typisch fiir diese Zeit). Es scheint so, als ob Strind-
berg seine unendlich vielfaltigen Erlebnisse in einem Drama ausdriicken
wollte; als ob er jetzt die Elemente der Dramenschreibung neu zu lernen
begénne. Nach dem Vergehen der heftigsten Krise differenzieren sich die
Dinge; infolge der ungeheueren Kraft der Erlebnisse entstehen die Dramen
massenweise, jetzt sind sie aber schon vielfaltig, es vereint sich nicht alles in
einem Drama.
Sein individuellstes Schicksal sieht er im heutigen Leben und somit spielt sich
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama 527
Und die Reihe seiner historischen Dramen wirkt auch wie eine gro8e
Schicksalstragédie. Das Schicksal hat alle Menschen an einen ihnen nicht
gebiihrenden Platz gestellt und alle versuchen verzweifelt etwas aus der
verlorenen Situation zu retten, aber alle Situationen sind verloren und alle
sind in gleicher Weise verloren. Ein Mensch steigt durch Mord und Betrug
auf den Thron und er wird durch Mord und Betrug hinuntergesto&en und
seinem Nachfolger wird es ebenso ergehen. Gustav Adolf ereilt der Tod
unerwartet in seiner Jugend: er ist der einzige gliickliche Mensch; auch er
befand sich in einer Situation, aus der er sich nicht hatte befreien konnen und
nun befreit ihn der Tod. Alle guten Gedanken kommen zu spit oder zu frih
oder es stellt sich heraus, da sie immer gut gewesen waren, nur gerade in
diesem einen Fall nicht. Das ist ein blutiges Chaos, in dem aber die mit
intensiver Kraft gesehenen Menschen in blendendem Licht erstrahlen. An
vielen Stellen schligt uns die Stimmung tief empfundener Einsamkeiten
entgegen und manchmal steigen einzelne Menschen in grofe seelische Hé-
hen, weil sie begreifen, da8 sie nichts begreifen kénnen. Die Stiicke sind
technisch ebenso chaotisch wie das Leben Strindbergs Meinung nach. Sie
sind voller toter, nur historisch interessanter Dinge, sie sind schlecht kompo-
niert und ohne Okonomie aufgebaut. Im Dialog stehen sie Ibsens »Kronpra-
tendenten« am nachsten.
Ein einziges Mal gelang es Strindberg, sein Gefiihl dem Leben gegeniiber so
auszudriicken, da das Chaos nur Thema seines Stiickes und nicht zugleich
auch die Art seiner Ausarbeitung ist. Dieses Stiick ist »>Ein Traumspiele, der
Schlu&punkt des grofen dramatischen Zyklus. Dieses Miarchenspiel ist
eigentlich kein Drama, dichterisch bedeutet es aber mehr als seine anderen
Dramen. Samtliche Dramen und Gestalten, aus denen in Strindbergs Augen
die Welt besteht, vermischen sich darin, flieSen zusammen, um sich dann
wieder zu trennen. Anniherung und Entfernung der Menschen zu- und
voneinander, Liebe und Haf, Reichtum und Elend, die Ungerechtigkeit der
Welt, die Zwecklosigkeit der Suche nach Gerechtigkeit, die gro&e mensch-
liche Ohnmacht rollen in lauter einzeln auSerordentlich scharf gesehenen
Bildern vor uns ab. Die Verkniipfung der Bilder ist aber vollkommen
phantastisch und miarchenhaft. Sie ist logisch, dies ist aber nur die Logik des
Traumes und diese aus schmerzvoll erlebten und gut beobachteten Dingen
entstandene Unordnung ist der vollkommene Ausdruck dessen, wie Strind-
berg heute die Welt sieht. Sie ist aber zugleich auch von suggestiver und
iiberwiltigender Wirkung, der Ausdruck eines-tiefen, groSen und stark
empfundenen Schmerzes. Ein derartiger Ausdruck, der die tausenderlei
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama 529
Méglichkeiten des Lebens in sich schlie&t, der sie aber gerade deshalb our
aus der Vogelperspektive zeigt. Strindberg gelang es hier nach einigen
schénen, aber nicht sehr bedeutenden Versuchen (»Ostern«, »Schwanen-
weif«), ein modernes und doch wirklich marchenhaftes Marchendrama zu
schreiben.
Aber gerade dieses Gelingen fiihrte Strindberg am weitesten vom Dramati-
schen weg. In diesem Marchen gibt es keine Menschen, nur Silhouetten und
es gibt keine Willen, Taten und Zusammenstéfe, nur Geschehen, die mit
selbstverstandlicher Unwahrscheinlichkeit hintereinander laufen. Es gibt nur
Bilder, schéne und vielbedeutende Bilder, ihre lyrische Stimmung und
Einheit ist jedoch nicht dramatisch. Mit Strindberg verhilt es sich ebenso,
wie mit den meisten heutigen Dichtern, die Dramen schreiben: je tiefer und
wahrer einer ist, desto mehr entfernt er sich vom Drama. Je mehr er sich
bemiiht, den in derartigen Stimmungen geschriebenen Dichtungen etwas
Dramatisches aufzuzwingen — von formalen Einsichten gefiihrt -, um so
anorganischer macht er sie. Es gelang hier Strindberg - bei Aufopferung alles
Dramatischen — eine einheitliche Form zu finden, er fand sie in der Form
eines marchenhaften Lebensmysteriums, das in seiner liseraturgeschichtlir
chen Stellung vielleicht ein wenig den dialogisierten und der Bithne zuge-
dachten Dichtungen ahnelt, die sich mit der Erschépfung der grofen drama-
tischen Epochen eingestellt hatten (die Literaturgeschichte nennt bei der
Besprechung des Endes der Elisabethanischen Epoche diese Dramenart
Romance™),
8.
Die Entwicklung Gerhart Hauptmanns ist ebenso weit verzweigt wie die
Strindbergs. Nur ist bei ihm das Erlebniszentrum schwieriger zu finden als
bei Strindberg; aus rein kiinstlerischer Hinsicht gibt es aber viel mehr Dinge,
die die einzelnen, sehr verschiedenen Werke zusammenhalten. Die stirkste
Gemeinsamkeit ist hier vielleicht der Naturalismus. Hauptmann war zwar
nie in dem Sinn Naturalist wie dessen typische Dramatiker, ein Schlaf oder
ein Tschechow, es gibt aber doch keinen bedeutenden modernen Dramatiker
(und auch kaum andere Dichter), bei dem der Naturalismus so viel bedeuten
wiirde. Fir Hauptmann ist aber die Bedeutung des Naturalismus keine
technische, nicht einmal eine formale Frage. Sein Naturalismus ist ~ in seiner
letzten Analyse — das unendlich intensive Erleben der sinnlichen Seite der
Dinge, das Gefiihl der Einmaligkeit, Einzigartigkeit, Unwiederholbarkeit
und Brutalisiertheit aller Menschen, Geschehen, Stimmungen, wie fein und
530 Die gegenwartige Situation
weitgefa&t sie auch immer abstrahiert seien. Sein Naturalismus ist also ein
Kampf gegen die Intellektualisierung. Er ist ein Kampf, ohne daf sein
Kampfcharakter auch bewuSt geworden wire, es ist einfach ein Kampf kraft
der Urgegensatze, die schon mit ihrer Geburt die Existenzberechtigung des
anderen Lebensgefiihls in Frage stellen. Hauptmann ist der am meisten
Shakespeare-hafte Dramatiker der heutigen Zeit, ohne da8 er Shakespeare in
irgendeinem Detail ahnlich ware oder ihm folgen wiirde; im Gegenteil, die
Dramatiker des gegensitzlichen Typs, z. B. Hebbel und Ibsen, tibten eine
gré@ere Wirkung auf ihn aus. Shakespeares Menschenbetrachtung und Sze-
nenschaffung sind ihm verwandt: beide sind von der Art, die vom Gesichts-
punkt der Abstraktionen her ziellos schaffen, sie sind von der Art, fiir die die
gewissen Gegeniiberstellungen gewisser Menschen das Drama bedeuten und
nicht die in Ideen existierenden alten, grofen Gegensitze, deren Ausdruck
diese Menschen waren. Die Feststellung dieser tiefen Verwandtschaft — des
L’art pour Part der Menschen- und Situationsschaffung ~ ist hier das
Wichtige. Da& namlich Hauptmann in dem alten, grofen Gegensatz, der
zwischen den grofen Dramatikern fast aller Zeiten bestand (erinnern wir uns
nur an die Gegensitze Shakespeare/Ben Jonson, Goethe/Schiller, Ludwig/
Hebbel), Shakespeares Typ reprisentiert, im schirfsten Gegensatz zu Paul
Ernst, dem gréften heutigen Reprasentanten des anderen Typs. Diese
Verwandtschaft ist aber cine Verwandtschaft der Typen und umfa8t keine
Wertung, bei der unendlich gro8en Kompliziertheit des heutigen Lebens ist
sogar die Stellung des auf diese Weise organisierten Dramatikers in héchstem
Mae unvorteilhaft (ich weise nur auf die Tragédie Otto Ludwigs hin). Es
gibt Menschen, die in Gerhart Hauptmanns in tausend Richtungen fihren-
der und scheinbar zentrumsloser Suche etwas Eklektisches sehen. Ich glaube
cher, da8 diese Suche damit zusammenhingt, daf die Dinge im Drama doch
nicht von allem ungestdrt, sinnlich bleiben kénnen wie sie blo8 einmal und
nur so existieren; was hier eine Ordnung schaffen kénnte, indem es die
Dinge einander iiber- und unterordnen, mit Ideen in Verbindung bringen
und abstrahieren wiirde, das schwicht aber seine Betrachtungsweise ab, und
verbietet die Natur seiner Kunst. Ich glaube, daf diese Erkenntnis — den
fertigen Werken gegeniiber ~ die Ursache von Hauptmanns pausenlosen
Versuchen ist. Dies bédeutet es, wenn man sagt, daf sein »Naturalismuse ihn
daran hinderte, zum wahrhaft groBen Drama zu gelangen. Der Kampf gegen
den Naturalismus bedeutet also bei ihm etwas anderes und mehr als bei allen
anderen: es bedeutet einen Kampf gegen die tiefste und gréfte Kraft seines
eigenen Talents, stellt einen Versuch dar, dieses Talent doch noch zu dem zu
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama 531
zwingen, was ihm fehlt (zum Abstrakten, Nicht-Naturalistischen, zur Wer-
tung) und eine Einheit, einen Stil aus der Vereinigung beider zu schaffen.
Er begann dennoch sehr frith aus dem blofen Naturalismus hinauszuwach-
sen (»Einsame Menschene, »Der Biberpelz«), wenn er auch ihm seelisch stets
treu geblieben ist. Seine Entwicklung zwang ihn, sich immer starker von ihm
zu entfernen, es scheint aber so, als ob er jegliche Entfernung um den Preis
schwerer innerer Kimpfe von sich erzwingen miifte, als ob er sich nur wider
Willen vom Naturalismus, von der kiinstlerisch unverkiirzten Totalitat des
Lebens entfernen wiirde. Deshalb ist diese Entfernung in seinen sozialen
Dramen (beim Lustspiel zwang ihn, wie wir saben, die Form zur stirkeren
Stilisierung) kaum bemerkbar. Seine letzten sozialen Dramen erwecken im
ersten Augenblick einen ebenso naturalistischen Eindruck wie die ersten. Es
gibt aber schon in »Fubrmann Hentschel« Szenen, die gerade noch méglich
sind, die aber iiberhaupt nicht durchschnittlich sind und immer vorkommen.
In der Darstellung des heutigen Lebens lft Hauptmann das Mégliche nie
‘weg; seine Stilisierung besteht darin, aus seinen Menschen ihre héchsten
Méglichkeiten herauszugreifen und in jeder Situation von den moglichen
Ausspriichen die starksten seine Menschen sagen zu lassen. In »Rose Bernd«
ist diese Stilisierung schon augenscheinlicher als in der Hentschel-Tragidie.
Es kommen hier vor allem Menschen von héherem Intellekt vor. Hentschel
und alle um ihn treten blind in die vom Schicksal gestellte Falle; hier gibt es
schon Menschen, die die Dinge durchschauen und auch Worte fiir sie finden,
Worte, die zwar einerseits der Situation entspringen, andererseits jedoch von
ganz allgemeiner menschlicher Bedeutung sind. Die Umgebung spielt hier
nur dann eine Rolle, wenn es notwendig ist. Das Drama selbst spielt sich
unter wenigen Menschen, in grofen lyrischen Szenen ab, - Hauptmann ist
aber ebensowenig fahig, seine (verhaltnismaSig vielen) Menschen zusam-
menzukomponieren wie seine Zeitgenossen im selben Kampf es waren. Hier
versucht er es wenigstens. In »Michael Kramer«, das zwischen beide Stiicke
fallt, unternimmt er nicht einmal diesen Versuch. Dieses Drama besteht
eigentlich aus zwei Szenen zwischen Vater und Sohn: es ist die zweifache
Beleuchtung einer Situation; es ist ein Dialog zwischen ihnen und es ist der
Monolog des Vaters vor dem offenen Sarg seines Sohnes. Zum Drama gebért
héchstens noch eine Szene des Sohnes, in der wir kurz und frappant seine
Ohnmacht jener Frau gegeniiber sehen, die die unmittelbare Ursache seines
Verderbens ist. Auch dieses Stiick ist eine Schicksalstragédie; die Tragddie
der unendlichen Entfernung der Menschen voneinander, die Tragédie, daf
der Mensch sogar sich selbst fremd ist; es ist in ihm etwas, was ihn dorthin
532 Die gegenwartige Situation
treibt, wo er gewif untergehen muf und ihn dazu zwingt, das, mit dessen
Hilfe er zum Gipfel gelangen kénnte, in sich selbst geringzuschitzen.
Hauptmann hat eigentlich nur die lyrische Empfindung beschrieben. Aus
dem Drama selbst ist wenig vorhanden, wie auch das ganze heutige Drama
mehr zur lyrischen Reflexion als zur Darstellung der Tatsache selbst neigt.
Es ist ein Versuch zur Schaffung eines Dramas, aus dem schon alle Reste der
alten »Haupt- und Staatsaction« villig verschwunden sind. Allein daraus
kann aber — vielleicht heute noch - kein Dichter sein Drama aufbauen und
die gezwungen hereingenommenen »dramatischen« Elemente vereinen sich
mit den lyrischen Gipfelpunkten nicht zu einer organischen Einheit und zu
einem Ganzen. Wir sahen das schon bei fast allen bisher besprochenen
Dichtern, aber nirgends so offensichtlich wie in diesem Stiick Hauptmanns.
Nirgends - abgesehen von einigen grofen Ibsen-Dramen — hatte das moder-
ne Leben eine solch erhabene, fast religids lyrische Kraft und nirgends fiel
das Drama soweit auseinander wie hier. Es fiel nicht im Dialog und in der
Menschenzeichnung, auch nicht in der Handlung auseinander: der Natura-
lismus schuf hier die véllige Harmonie und wer den Naturalismus nie ganz
verlie8, wie Hauptmann, konnte auch sie, die gréfte Errungenschaft des
Naturalismus, nicht verlieren. Das. Drama fillt aber in der Komposition
vollig auseinander und die Folgen davon sind iiberall spiirbar.
Auch im Thema entfernte sich Hauptmann vom Naturalismus, oder sagen
wir vielleicht, da8 er neue Gebiete fiir ihn erschlof, als er seine historische
Tragédie, »Florian Geyer« schrieb. Das ist das Drama des deutschen
Bauernaufstandes mit den Menschen, der Sprache der Epoche, mit ihren
Gedanken, Stimmungen und Gefihlen. Etwa siebzig, achtzig Menschen sind
aus den vielen tausenden herausgegriffen - nicht die beriihmtesten, nicht
einmal die grdften -, sie sind absichtlich so ausgewahlt, da8 das Zusammen-
treffen dieser wenigen Menschen ganz natiirlich ist und wir bei ihnen doch
die ganze Tragédie der Bewegung spiiren. Da& wir sogar die Tragédie
jeghicher Bewegung, aller grofen Dinge, die in die Hiinde der Menschen
geraten und damit bereits verloren sind, spiiren. Die Bewegung wird be-
schmutzt, besudelt, zerfetzt, auch derjenige ekelt sich vor ihr, der sie liebte
und in Gang zu setzen glaubte; denn auch das ist nur ein menschlicher
Irreum, daf jemand sie in Gang gesetzt hat und Ursache ihres Untergangs
war. Es ist ein Massendrama wie »Die Weber«, es hat aber doch einen
Helden. Der Held ist natiirlich nur der gréfte in der Masse - Geyer stand so
einsam und unverstanden zwischen seinen Mitstreitern wie ein Hebbel-Held
~, aber auch der grote Mensch ist zu nichts fahig. Erwas ist in Gang gesetzt
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama 533
worden und geht seinen Weg und fegt denjenigen weg, der es gern gelenkt
hatte. Geyer ist ein grofer, hervorragender Mensch, nur gehért er — das
miissen wir glauben — nicht dorthin, wohin ihn das Schicksal gestellt hat. Wir
erinnern an Strindbergs Geschichtsauffassung, nach der das Schicksal alle
dorthin stellt, wohin sie nicht gehdren, und wir erinnern uns hauptsichlich
an Hebbels Helden, die im Kampf um prinzipiell nicht zu verteidigende
Burgen untergehen. Die Geschichtsauffassung in »Florian Geyer« ist wie bei
Hebbel, sie ist der dramatische Ausdruck einer historischen Notwendigkeit.
Hebbel beginnt iiberhaupt erst jetzt stark auf Hauptmann zu wirken; in
»Rose Bernd« gibt es vieles aus »Maria Magdalena«. Technisch sind sie aber
vollig gegensatzlich: dort gibt es nur grofe Linien, hier Feinheiten; dort gibt
es eine oft leere, aber immer monumentale Architektur, hier den Reichtum
des chaotischen Lebens, den gerade die iiberschwengliche Lebenskraft
manchmal zur Monumentalitat erhebt; dort gibt es einen ganz zeit- und
raumlosen Dialog, als ob die Menschen nur platonische Ideale ihrer Situation
wiren, hier hilt sich der Dichter soweit an Zeit und Ort, daf der sonst
wunderbare und feine Dialog durch das iibermafige Festhalten an den
auSeren Umstinden beim Sprechen des Dialogs manchmal unverstindlich
wird. Nur in der Synthese (nicht auf dem Mittelweg!) dieser zwei Extreme
kann der Stil des historischen groSen Dramas liegen. Am Ende seines Lebens
entfernte sich Hebbel immer mehr von der Strenge seiner Theorie und es sah
so aus, als ob er auf dem Wege zu dieser Synthese gewesen ware. Haupt-
mann ging von der entgegengesetzten Seite auf den Weg und sein erster
Versuch war wunderbar, es war aber doch nur ein Versuch und blieb bislang
leider der einzige. Und die chaotische Unordnung der historischen Dramen
Strindbergs, die geringe Lebendigkeit der auf Ernsts, Scholz’, Lublinskis
Schema komponierten Geschichtsdramen, deren Ursache nicht das schwa-
che Talent ihres Dichters ist (»Brunhild«s grofe Lebendigkeit ist hier der
starkste Beweis), lassen uns, zumindest theoretisch, sehr fraglich erscheinen,
ob diese Synthese iiberhaupt erreichbar ist.
Hauptmann blieb im Dialog all seiner sich in der Wirklichkeit abspielenden
Dramen, soweit wie méglich, immer innerhalb der von der Psychologie und
der gesellschaftlichen Lage der Gestalten diktierten Grenzen. Es ist aber
selbstverstindlich, da er, sobald seine Entwicklung ihn zum Kampf mit den
grdBten und tiefsten Fragen gefiihrt hat, diese sehr strenge Form manchmal
als Schranke empfand und nach einer solchen gesucht hat, in der ihn nichts
am unmittelbaren Ausdruck seiner Gefiihle hindert. Somit sind seine Mir-
chen- und Sagendramen als unwillkiirliche Reaktion entstanden. Der Natu-
534 Die gegenwartige Situation
ralismus wurde aber hier nicht einmal aus seiner Technik villig getilgt. Im
ersten solchen Drama (»Die versunkene Glocke«) ist dies mehr an Aufer-
lichkeiten sichtbar, wenn er z. B. den schlesischen Dialekt in Verse stilisieren
will. Hier ist noch sowohl das Festhalten an der Wirklichkeit wie auch die
Entfernung von ihr absichtlich und gewaltsam, deshalb gibt es auch in der
ersten Richtung von seinen eigenen alten Stiicken, in der anderen von
fremden Kiinstlern viele Reminiszenzen (das Malerische ist z.B. véllig
Bécklin-haft). Im nachsten Drama (»Der arme Heinrich«) gibt es in der
Sprache, in den Gestalten, in den Situationen keine Dissonanz mehr. Der
Vers ist — neben Beer-Hoffmanns Versen, aber ohne seine wenigen Mani-
riertheiten — der vollkommenste moderne Vers: er ist dramatisch, entspringt
immer aus der Seele und der Situation der Gestalten und bewahrt immer
seinen grofen Rhythmus. Man kénnte nur glauben, da8 die Wahl des
Themas ungliicklich war. Das Wunder, das in der Sage natiirlich wirkt, ist in
dieser Welt, in der es kein Wunder gibt, weil kein Gott bendtigt wird,
eigenartig und biihnenhaft. (Die unsichtbare Macht, die in den ersten vier
Akten herrscht, nennen nur die Menschen des Dramas Gott, wir empfinden
sie nicht als Gott.) Hier herrscht iiber alles ein unerbittliches und unpersénli-
ches Etwas, dessen Ursache niemand kennt, in dessen Manifestationen
jedoch die Folge streng nach der Ursache kommt. Die ungliickliche The-
menwahl ist auch hier, wie iiberall, nur ein Symptom, ein Zeichen dafiir, da&
etwas im Dichter nicht fertig ist und ein so tief ehrlicher Dichter wie
Hauptmann will das auch nicht verstecken. Der inneren Unsicherheit ent-
sprechen nur unfertige Arbeiten, denn Hauptmann kann, so scheint es, nur
beim Schreiben mit sich ins Klare kommen und sich weiterentwickeln. Viele
schéne Dinge bleiben somit auch auferlich bruchstiickhaft (»Helios«; »Das
Hirtenlied«, dessen vorhandene wenige Szenen vielleicht das Tiefste sind,
was Hauptmann bis jetzt schuf). Es gibt aber auch in den scheinbar fertigen
Arbeiten Bruchstiickhaftes; je tiefer sie sind, - »Florian Geyer« ausgenom-
men — desto stirker (»Michael Kramer«, »Der arme Heinrich«). Daf dies
eine seelische und keine kiinstlerische Ursache hat, beweist sein letztes
Marchendrama (»Und Pippa tanzte), das kiinstlerisch fast ganz vollkommen
ist, nur in seinen Symbolen gibt es noch manchmal etwas Unsicheres als
Zeichen dafiir, da8 auch sein Dichter noch viele ungeklarte Fragen hat.
Dieses Marchen ist das Symbol von Hauptmanns Gefiih! dem Leben gegen-
iiber. Etwas glinzt und lauft durch das Leben. Vielleicht die Schénheit - wer
weif es? Hauptmanns Gefiihlssymbole kann man nie so genau ausdriicken,
wie z. B. Ibsens Gedankensymbole. Alle sehnen sich danach und niemand
xiv Auf dem Weg zum grofen Drama 535
kann es erreichen. Der praktische Mensch verliert es, bevor er es gehabt
hatte; der Weise betrachtet es aus der Ferne — deshalb ist er weise, weil er auf
alles verzichtet hat -, und will es auf seinem Wanderweg selbstlos unterstiit-
zen; derjenige, mit dem es sich verbunden fiiblt, der Kiinstler, kann es auch
nicht behalten, es lebt nur in seiner Phantasie, er liebt es, er besitzt es aber
eigentlich nicht. Wenn Pippa stirbt und er blind wird, geht er gliicklich fort
und wird iber diejenigen ein Lied singen, die blind sind und nicht sehen, was
er sieht. Sein bitteres Glick ist das gré&te, und das des Instinktmenschen,
den die Sehnsucht nach Pippa verzehrt hat, der aber so sterben konnte, da8
er den Gegenstand seiner Sehnsucht mit ins Grab nahm - oder wer wei,
wohin er ihn mit sich nahm? Aus einer naturalistischen Gasthausszene
wichst dieses eigenartige Marchen hervor, in das die Wunder und Unwahr-
scheinlichkeiten sich bereits organisch hineinfiigen, denn Hauptmann be-
trachtet hier schon alle Dinge als gegeben, er motiviert nicht iibernatiirliche
Dinge wie z. B. frither in »Der arme Heinrich« die Ekstasen Ottegebes mit
physiologischen Ursachen. Auch die Menschen sind schon, wie wir sahen,
vollkommene Typen, ihre Liebe und ihr Haf ist vollkommen typisch, wie
auch ihre Einsamkeit typisch ist. Sie stehen in unendlicher Entfernung
voneinander, es gibt keine Méglichkeit, einander nahe zu kommen. Den-
noch gibt es im Leben aller einen Augenblick, wenn die selbe Flamme aus
ihrem Herzen schligt wie die aus dem der anderen, wenn sie erkennen, daf
die selbe Flamme in allen Menschen brennt, wenn die Todfeinde, die
einander zugrunde richten wollten und auch zugrunde gerichtet haben, sich
ergriffen als Briider und Verwandte empfinden. Es ist erschiitternd, sooft
dieses Gefiihl ausbricht, um so erschiitternder ist es, weil es immer nur fiir
einen Augenblick ausbricht und immer nur dann, und immer so, daf es am
Geschehen schon nichts mehr andern kann, es wirft nur ein neues Licht auf
das bereits Geschehene und steigert das Gefiihl der ewigen menschlichen
Einsamkeit und macht es tragischer.
Diese Stimmungen sind aber doch nur lyrisch, sind héchstens die lyrischen
Reflexe der Tragédien, sind nicht dramatisch. Hauptmann entfernt sich
gefihlsmafig, ebenso wie die meisten heutigen Dichter, sehr tief vom
Dramatischen. Bei ihm ist seine unendlich groRe Humanitat die besondere
Ursache dieser Entfernung: Da8 namlich seine Menschen vom Schicksal zu
schicksalsentscheidenden Scheidewegen der Tragédie gefiihrt werden, diese
Menschen-werden jedoch durch irgendeine intensive seelische Vornehmheit,
durch das tiefe Empfinden des mit dem eigenen Recht relativ gleichberech-
tigten Rechtes des anderen Menschen vom Kampf zuriickgehalten. In ihrem
536 Die gegenwartige Situation
Heldentum gibt es eine gewisse Passivitat: sie halten dem Schicksal stand
und vertragen seine Schlige mit mutigem Trotz, es gibt aber etwas bei ihnen,
was die Hoffnungslosigkeit des Kampfes mit ihnen erkennen la8t. Und
wenn das sich so verhiilt, dann sollen wenigstens nur sie zugrunde gehen, sie
nehmen niemanden mit sich, nieht einmal denjenigen, durch den ihr Schick-
sal sie hierher gebracht hat. In dieser Geste dem Leben gegeniiber gibt es
somit viel Entsagung, wenn sie auch mannhaft, stark und mutig ist; diese
Geste bedeutet dennoch eine Vermeidung des Kampfes. Hauptmanns Tra-
gddien neigen aus ganz anderen Griinden und auf andere Weise, aber
ebenfalls zur Elegie wie die Schillers. Wahrend Schillers aufbauender Wille
jedoch seine Menschen ins Drama zwang, weichen die Menschen Haupt-
manns dem Drama unter wunderbaren, tiefen und menschlich erschiittern-
den Stimmungen aus. Auf diese Weise verzeiht Hentschel seiner Frau, geht
Florian Geyer im Bauernkrieg mit blinder Gliubigkeit beiseite, verzichtet
Wann auf Pippa; dies sind die Gesten Michael Kramers, August Keils (»Rose
Bernd«), des polnischen Musikers (»Die Jungfern vom Bischofsberg«) und
Kaisers Karl des GroSen dem Leben gegeniiber. Etwas verschwindet und sie
schauen zu; etwas stirbt und sie schauen zu; etwas bringt sie um und sie
schauen dabei zu. Und es ist gewif, da dieses Zuschauen der tiefsten und
schénsten Erkenntnis entsprang: der Kampf ist vergeblich, warum soll ich
mich beschmutzen; sie entsprang daraus: ich selbst bin auch das, wogegen
ich kimpfen miifte, ich will meine Hinde nicht mit dem Blut meines
Bruders beschmutzen. Die Folge kann aber doch nur konsequent sein: es
kommen lyrische Reflexe von Tragédien und keine Dramen zustande. Und
auch in Hauptmanns dramatischem Dialog ist dieses platonisierende, blo&
intellektuelle Element sehr stark. Die Tiefen der Dramen sind ruhiger,
bewegungsloser als in wahrhaften Dramen méglich wire; ihre auseinander-
fallende, sich zu Bildern auflésende Komposition beginnt der »Romance«-
Form aholich zu sein (»Grizelda«), von der wir bei Strindberg sprachen, die
man aber bei sehr vielen jungen Dichtern ebenfalls vorfinden kénnte. Es sind
tiefste und schénste Lebensmysterien: die Ausdriicke der letzten Lebensge-
fiihle durch Menschen und durch ihre Handlungen, ohne daf die Qualitit
(hier das Dramatische) dieser Menschen und ihrer Taten besonders wichtig
wire. Die dramatische Form ist nur deshalb notwendig, weil diese die
unmittelbarste ist, weil man in dieser am sichersten alle stérenden, allzu
direkten Ausdriicke vermeiden kann.
Heute pflegt man von Hauptmanns Riickentwicklung zu sprechen. Wer
seine letzten Arbeiten kennt, kann tiber diese Meinung nur lacheln. Sie
xiv Auf dem Weg zum groBen Drama 537
werden sowohl menschlich wie auch kiinstlerisch immer tiefer und vollkom-
mener. Ihre einzige grofe Stildissonanz, daf sie undramatische Gefiihle in
dramatischer Form ausdriicken wollen, ist fast ausnahmslos die Dissonanz
der ganzen Epoche. Viele haben heute das Gefiihl, daf hier nicht einmal von
Dissonanz die Rede ist, sondern einfach davon, daf ein neues Gefiihl neue
Ausdruckswege sucht. Da8 von der Geburt von etwas Neuem die Rede ist,
das vielleicht nichts anderes mit dem zu tun hat, was wir seit Jahrhunderten
(man kénnte sogar sagen, seit Jahrtausenden) Drama zu nennen pflegten, als
gerade seine Dialogform und unmittelbare Menschendarstellung. Diese Stil-
dissonanz liegt also mit einem Wort nicht in den Stiicken; nur darin, daf sie
nicht im von uns ungerecht aufgezwungenen Dramenbegriff fafbar sind.
9.
Das ist méglich. Das ist aber eine Frage, die man heute iiberhaupt nicht
beantworten kann; man darf nicht einmal den Versuch irgendeiner Prognose
wagen. Wir spiiren nur das Gewicht der Frage und wir spiiren, daf nur die
Zeit auf sie antworten kénnte. Auf die Frage, ob die dramatische Epoche, die
im 18, Jahrhundert begann, schon zu Ende ist, oder ob die Dramenform, so
wie wir sie sahen (mit der Tragédie als Gipfelpunkt) iiberhaupt zu Ende ist,
oder aber hier von Tragdien undramatischer Talente die Rede ist, die durch
besondere Zufille zur dramatischen Form kamen. Es ist gewif - es ist schon
des dfteren die Rede davon gewesen -, daf die starke Intellektualisierung
und das alles blo& Verinnerlichende der heutigen Zeit den dramatischen
Ausdruck erschwert und daf das Alles-Verstehen und die Erkenntnis der
relativen Berechtigung alles Feindlichen die Tragédie erschweren. Man darf
aber dennoch nicht vergessen, da diese Intellektualisierung und die selbe
Erkenntnis der Relativitét von allem auch in den Dichtern vorhanden ist, die
die Tragidie wieder und mit groSer Vehemenz als die héchste Form des
Lebens und der Kunst propagieren. Ich méchte nur daran erinnern, wie
Gyges und Kandaules schon im Hebbels Tragédie beschlieSenden tédlichen
Zweikampf einander gegeniiberstehen oder an die Worte von Paul Ernsts
Gunther, als er iiber das Schicksal Siegfrieds und iiber sein eigenes etwaiges
spricht:
Es ruft zur Jagd - wer aber kennt das Wild?
Ich sehe eine Bahre, die getragen,
Und einen Fiirsten, der erschlagen ist,
Und viele Menschen, welche trauernd ziehn,
Doch kann ich keines Angesicht erkennen.
538 Die gegenwartige Situation
der auslandischen Literatur wirken, auf unser Drama die kleineren, minder-
wertigeren, die Handwerker eine Wirkung ausiiben. (Charakteristische Bei-
spiele dafiir sind hier die beiden Kisfaludys, bei denen wir neben Petrarca
Kotzebue sehen kénnen.) Die streng und tief vereinfachende Kraft der
griechischen Tragidie spielt bei ihnen nie eine Rolle. Vom grofen deutschen
Kampf um den Stil haben wir nichts verspiirt. Auch Shakespeares Wirkung
war — wie in Frankreich — oberflichlich: von ihm wirkte das, was dem
Schauerdrama der franzésischen Romantik nahestand, innerlich immer leer,
seinen starken Wirkungen verwandt oder als verwandt vorstellbar war
(Petéfi, Vérésmarty). Janos Arany, der Shakespeare am tiefsten verstand,
hat nie ein Drama geschrieben. Mit den modernen Bewegungen verhiilt es
sich ebenso. Es wirkte - und wirkt auch heute - eigentlich nur das franzési-
sche Tendenzdrama. Die jiingste ungarische Literatur folgt der von Bataille
und Bernstein ausgehenden Wiedergeburt dieses Dramas. Weder der Natu-
ralismus und die parallel zu ihm laufenden Richtungen, noch die anderen,
die im Kampf gegen ihn entstanden, hatten bei uns eine allgemeine, den Stil
und die Technik bereinigende Wirkung. Aber auch die ungarische Biihnenli-
teratur, die mit der franzdsischen Technik gearbeitet hat, ging nicht den Weg
der Vertiefung von Innen her, den Weg Ibsens.
Ich glaube, man miifte die ganze Geschichte der ungarischen Kultur des
19. Jahrhunderts schreiben, wenn wir die Ursachen dafiir kliren wollten.
Einige Ursachen stehen freilich auch so klar vor uns, vor allem die soziologj-
sche: Die tragische Wendung der Ideale der biirgerlichen Klasse gegen sich
selbst, die wir als seelische Wurzel der modernen Auffassung der Tragik in
ihren verschiedenen Stadien durch das ganze vergangene Jahrhundert ver-
folgt haben, konnte sich bei uns — infolge der wirtschaftlichen und kulturel-
len Unterentwicklung des Biirgertums ~ nie in solchen Formen offenbaren.
Die Erérterung dessen, welche Richtung die Entwicklung nahm und welche
ihre hauptsichlich lenkende Ursache war, wiirde, sogar wenn sie bereits mit
wissenschaftlicher Gewifheit erarbeitet wire, iiber den Rahmen dieser Ar-
beit hinausgehen. Fiir uns ist hier nur die Feststellung wichtig, da8 sich bei
uns nicht einmal in der 48er Revolution (und auch spiter nicht) die der
biirgerlichen Ideologie des 18-19. Jahrhunderts ansloge Weltanschauung
ganz klar herausgebildet hat. Ein Teil der ungarischen intellektuellen Welt
hatte - unter feudalen Wirkungen — eine historische Gesinnung und ein
historisches Gefiihl, befand sich also diesseits dieser Weltauffassung. Der
andere Teil tiberholte diese Weltauffassung, als er sich dieser Richtung hatte
annahern kénnen, entweder unter der Wirkung der gegen ihn gerichteten
xv Die ungarische Dramenliteratur 54
Reaktion — ohne tragische Kimpfe - oder mit Hilfe der sozialistischen
Weltauffassung. Dabei hat die ganze moderne grofe Tragédie den tragischen
Zusammenbruch dieser Weltanschauung und dieses Lebensgefiihls in sich
dargestellt. Das war das ewig grofe Thema der Tragédien des 19. Jahrhun-
derts, das stilbestimmende Grunderlebnis, das einzige, in der damaligen Zeit
mégliche, fruchtbare, tragische Erlebnisschema.
Aus ganz anderen, fast gegensatzlichen Griinden schuf dieser Konflikt in
Frankreich keine Tragédien. Zur Besonderheit der Psychologie der Wirkun-
gen gebdrt es jedoch, da8 - meiner Meinung nach - die wahre, tiefste
Ursache des engen Zusammenhanges zwischen den franzésischen und den
ungarischen Dramenliteraturen dennoch hier liegt. Die Ursache dafiir, da
bei uns von der nicht franzésischen Dramenliteratur fast nur das wirkt, was
in seiner Nationalitét zwar nicht franzésisch, seinem Wesen nach jedoch
franzésisch ist. Die verbindende Gemeinsamkeit besteht in der besonderen
Verzweigung der beabsichtigten Wirkung und ihrer Ausdrucksmittel: Die
Bestrebung der Dichter richtet sich entweder auf unmittelbar praktische
oder auf blo& dekorativ schéne Wirkungen, wobei der gedankliche Inhalt
nur ein Ornament, wie der schéne Zusammenklang der Reime ist. Die
zweierlei Wirkungen haben eine Ursache (und diese Ursache ist in der
franzésischen und ungarischen Dramenliteratur die gleiche, wenn sie auch
durch andere Umstinde entstand): Sie besteht darin, da8 diese Dichter die
abstrakten Gedanken und die gedanklichen Erlebnisse als ein Gedankenspiel
empfanden, das dem Leben fern und mit ihm in keinem Zusammenhang
steht, daf sie in ihnen keine unmittelbaren und gewaltigen Krafte und
Michte spiirten, die das Leben entscheidend zu bewegen imstande wiren.
Mit einem Wort: daf hinter diesen Dramen keine gedankliche, philosophi-
sche Kultur steht. In Frankreich gibt es keinen Zusammenhang zwischen
den Kulturen der lebendigen Biihne und dem lebendigen Denken; in Ungarn
gibt es und gab es keine philosophische Kultur - héchstens isolierte und
einsame grofe Denker. Und das echte Drama wiachst nur auf dem Boden
gedanklicher Kulturen. (Nur ganz oberflichliche Betrachter konnen die
Kunst der Shakespeare-Epoche als Gegenbeispiel nennen!) Die unerlafliche
Voraussetzung des Dramas, der Tragidie, ist das Gefiihl dafiir, da8 die
tiefsten, die »abstraktesten« Erlebnisse das Leben entscheiden, daf allein
diese iiber das Leben entscheiden. In den Tragédien werden die Abstraktio-
nen der Philosophen zu Taten, denn sie wurden schon vorher in Kulturen
aufgesaugt; dort zeigen alle wirklichen Geschehen in Richtung der tiefsten
Strudel des Gedankens. Ohne dies gibt es nur Tendenzdramen oder rhetori-
542 Die gegenwartige Situation
1
Das Fehlen der philosophischen Kultur hat es verhindert, da8 die wahrsten
und tiefsten Talente des ungarischen Dramas, Katona und Madich, sich
entwickeln und wirken konnten. Das Lebenswerk beider blieb sowohl an
sich als auch in seiner Wirkung ein Fragment. Neben unseren Dramatikern,
die die gré8te sinnliche Kraft und das abstrakteste Denken besafen, entstand
nichts, was von ihnen ausgegangen ware, was das fortgesetzt hatte, was sie
anfingen. Denn auch sie waren nur ein Anfang, sie zeigten sogar kaum Wege
in Richtung des Dramas. Katona war einer der gréSten Dramatikertalente
des vergangenen Jahrhunderts. Das harte, diistere Pathos seiner Sprache ist
wirklich dramatisch. Seine Menschen sind - von den iiberfliissigen lyrischen
Riihrseligkeiten und psychologischen Zierereien abgesehen — voll dichteri-
schen Lebens. Seine einzelnen Szenen sind voll dramatischer und tragischer
Vehemenz und symbolischen Reichtums. Das menschliche und historische
Problem konnte aber auch er nicht organisch vereinen: Den Menschen und
den Hintergrund, die seelische und politische Tragédie verbindet nur die
Identitaét der Personen; in seiner letzten Analyse ist also das ganze Gebiude
episch. Mit diesem, das Gréfte versprechenden tragischen Versuch beendete
Katona seine dichterische Laufbahn und es wire hier sinnlos nachzufor-
schen, ob das wegen innerer oder duferer Ursachen geschah, ob die Echolo-
sigkeit ihn verstummen lie8 oder das Gefiihl, ohnehin nicht zur vollkomme-
nen Reinheit, zur gelésten Form gelangen zu kénnen. Madachs Lage ist
gerade das Gegenteil, die Ursachen weisen jedoch auf das Gleiche hin: auch
er besaf ~ trotz seiner groSen philosophischen Bildung und der Tiefe seiner
Gedanken — keine lebendige philosophische Kultur. Seine Gedanken blieben
Gedanken, sie wurden nicht zu Taten, sie wurden nicht dramatisch. In »Az
ember tragédiaja« (Die Tragédie des Menschen) bleiben der Gedanke und
seine Versinnlichung getrennt. Alle Geschehen symbolisieren, illustrieren
irgendeinen welthistorischen oder kosmologischen Gedanken, diese lésen
sich aber nicht ganz in ihm auf, sie bleiben getrennt. Eine jede Szene ist
schéner allegorischer Ausdruck eines tiefen Gedankens; der einzige Weg des
dramatischen Ausdrucks des Gedankens ist aber der symbolische. Madéchs
Dichtung ist somit kein Drama. Vom Gesichtspunkt der Versinnlichung her
xv Die ungarische Dramenliteratur 543
ist sie episch: die Einheit der Person des Helden verbindet die bunten
Abenteuer. Vom Gesichtspunkt des Ausdrucks des gedanklichen Inhalts her
ist sie ein dialogisiertes Lehrgedicht: die Gedanken bleiben Gedanken, der
Kampf ist héchstens ein Streit (und der dufere Kampf ist hichstens die
Illustration dazu), die Dialektik ist nur intellektuell; sie ist noch nicht
dramatisch.
Und neben dem Talent dieser beiden sind die dramatischen Qualititen der
anderen Dichter sehr klein. Das literarisch bedeutende Drama der klassi-
schen Epoche der ungarischen Literatur stand unter der Wirkung der
franzésischen Romantik, die duferlich Shakespeare nachahmte; unter der
Wirkung einer Richtung, die nicht einmal mit ihren gréSten originellen
Dichtern ein wirklich wertvolles Drama zustande zu bringen vermochte. Wir
erwahnen nur Liszlé Telekis »Kegyenc« (Der Giinstling) als ein Drama, das
sich unter diesen am stirksten dem wahren Drama annaherte; obwohl auch
dieses Drama mehr maflos als monumental ist und auch seine Menschen-
zeichnung nur mit Hilfe wilder Gegensatze das Schema mit lebendigem
Leben fiillen will. Vérésmartys »Csongor és Tiinde« (Csongor und Tiinde)
ist das lebendigste, vielleicht einzig wahrhaft organische Werk des ungari-
schen Dramas. Und es ist ein Drama, das nicht allein, ohne Fortsetzung und
Nachfolger bleiben miifte. Denn dieses Gelingen wurde nicht durch das
Zusammentreffen zufallig gliicklicher auferer und innerer Umstinde zu-
stande gebracht, sondern durch die bewufte und kiinstlerische Verschmel-
zung der ungarischen Miarchenelemente, des ungarischen Volkshumors mit
der Stimmung und Technik des Shakespeareschen Lustspiels. Wenn das
spiitere ungarische Marchen-Lustspiel anorganisch wurde, lag die Hauptur-
sache darin, daf es seine hier bestehende Beziehung mit dem ungarischen
Leben verlor, daf es Shakespeare und die Spanier und sogar ihre Epigonen
seelenlos nachahmte. Denn jetzt brachte es nicht mehr das Wesentliche, die
Grundstimmung und die daraus organisch herauswachsende Form mit den
eigenen, ungarischen Inhalten in Zusammenhang, sondern iibernahm die
Auferlichkeiten (die lockere Szenenfiihrung, die Mi&verstindnis-Technik,
die Wortspjele usw.). Somit entstanden leere, inhaltslose Sachen mit einer
»poetischen« Sprache aus zweiter Hand, mit aus zweiter Hand tibernomme-
nen dekorativen Wirkungsmitteln ausgedriickt. Obwohl die stilistische Ak-
tualitat von »Csongor és Tiinde« auch heute besteht, sie war sogar vielleicht
noch nie so grof wie heute, wenn iiberall ein Teil des Dramas in Richtung
des phantastischen, platonischen, antitragischen Marchendramas strebt; und
um seine luftigen Inhalte versinnlichen zu kénnen, es iiberall auf den
544 Die gegenwartige Situation
Stimmungsstoff der Volksmiarchen zuriickgreift (Hauptmann, Yeats, Synge
usw.). Es wire die notwendige Folge der Situation, wenn bei uns eine damit
verwandte geistige Richtung auftreten wiirde, deren kiinstlerischer Aus-
druck in der Richtung, in der Weiterfiihrung der Richtung lige, die Vérés-
marty hier begann. Das blieb aber bis heute nur eine theoretische Konstruk-
tion.
Die Dichter, die um die Mitte des Jahrhunderts auf der Biihne herrschen,
sind Anhinger der auslindischen Bihnenliteratur. Ihre ungarischen Themen
sind nur scheinbar ungarisch; sie sind nur ein Aufputz der Dramenschrei-
bung mit ungarischen Namen und ungarischen Wortern, die mit aus dem
Ausland ibernommenen Motiven und mit auslindischer Technik arbeitet.
Wir charakterisieren selbstverstindlich sowohl hier als auch im folgenden
- wie schon bei der Erdrterung der auslindischen Entwicklung — nur die
Haupttypen; nach einer inhaltlichen Vollstindigkeit strebt diese Arbeit
nicht, kann sie nicht streben.
2
An dieser Situation anderte sich im Laufe der Zeit nicht sehr viel: Die auf der
Bithne herrschenden ungarischen Biihnenautoren werden eigentlich nur
durch ihr Alter voneinander getrennt, dadurch namlich, unter Wirkung
welcher franzésischer Dichter oder literarischen Richtung sie gearbeitet
haben. Und nachdem von Dichtungen die Rede ist, die fir eine aufere
Wirkung, nur fir Bilhnenwirksamkeiten arbeiten, muf man sich sogar iiber
die Vorherrschaft der franzdsischen Wirkung freuen. Die franzésische Biih-
nenliteratur steht in technischer Glitte, in Geschicklichkeit und Entwickelt-
heit soweit iiber der deutschen, wie ihre ernsten und literarischen Dramen-
versuche hinter dem grofen Drama der Deutschen zuriickbleiben; und der
englischen Dramenliteratur gegeniiber verhilt es sich ahnlich. Auch unter
den Anhingern gibt es ein ahnliches Verhiltnis: Gergely Csikys Biihnen-
werke reprisentieren im Gegensatz zu seinen Anhingern trotz all ihrer
Mingel und Schwiichen ein sehr hohes literarisches Niveau. Die einzige
Entwicklung, die wir hier beobachten kénnen - die jedoch eher eine
kulturelle und nationale als literarische Bedeutung hat — ist, da8 es immer
mehr ungarische Bihnenautoren gibt, die Biihnenerfolge erzielen konnen,
daf sich unter den bei uns auf die Biihne gelangenden Stiicken ein immer
vorteilhafteres Verhiltnis in der Anzahl ungarischer Stiicke den auslindi-
schen gegeniiber ergibt.
Gergely Csiky fiihrte bei uns das franzdsische Tendenzdrama ein. (Abgese-
xv Die ungarische Dramenliteratur 545
3
Ferenc Herczeg erbte Gergely Csikys literarische Stellung. Er war — und er
ist in vieler Hinsicht auch heute - der modische ungarische Dramatiker, der
Liebling des Publikums, der mit grofter Sicherheit errit, was dem Publikum
gerade im gegenwartigen Augenblick gefillt, der Stiicke von stets sicherer
Wirkung schreibt, die voll guter Rollen, wirkungsvoller Szenen, mal in
engerer, mal in weiterer Beziehung voll einzelner Tagesfragen sind. Ferenc
Herczegs geselischaftliche Typen sind jedoch anders als die Csikys und
infolgedessen liegen seine technischen Tugenden auch woanders. Wahrend
Csikys Welt grd8tenteils kleinbiirgerlich war, stellte er zumeist den reichen
oder armen Gentry dar. Im Aufbau der Sticke, in seiner Gestaltenzeichnung
gibt es daher mehr Frische, Verve als bei Csiky, sein Humor ist schirfer, sein
Dialog ist zugespitzter, geistreicher, weniger moralisierend und weniger
sentimental. In den Dramen, deren Inhalt nicht mehr ist als die Vorfiihrung
xv Die ungarische Dramenliteratur 549
Die andere Méglichkeit ist iuSerlicher: Sie bestiinde aus dem Zusammen-
sto& des Volkes des Ocskay-Lagers mit dem die wahren Ziele der Revolu-
tion vergessenden, sich mit Intrigen beschaftigenden, in vieler Hinsicht
egoistischen Rakéczi-Hof. Bei Herczeg ist aus beiden Méglichkeiten ein
wenig vorhanden und beide verschlechtern die Wirkung der anderen. So gibt
er z. B. im dritten Akt im Sinne der letzteren Auffassung ein ganz karikatur-
haftes Bild von Rakéczi und seiner Umgebung, um dann im vierten Akt in
der Tarics-Szene und im ganzen SchluSteil wieder den traditionellen Rakéc-
zi zu zeigen usw. Beide Auffassungen sind dramatisch méglich - wenn sie
allein stehen, zusammen aber nicht. Alle seine Sticke sind voll solcher
inneren Widerspriichlichkeiten. »Bizénc« (Byzanz), in den Details sein
schénstes Stiick, zerfallt zu einer Anhiufung von Episoden, weil er keine
einheitliche, alles zusammenfassende, symbolische Handlung fiir das Drama
finden konnte. Das ist natiirlich nur die Folge davon, daf er seine Menschen
und die Welt nicht wirklich einheitlich, dramatisch sieht.
Die Dramen Ferenc Ferenczys und Gyérgy Szemeres driicken zumeist die
Gefiihle, Gedanken und Probleme ahnlicher gesellschaftlicher Kreise aus.
Beide sind kritischer als er; sie gelangen deshalb naher zum Drama. Aber
auch sie gelangen nur naher oder héchstens nahe: Die wirklich organische,
technische Wandlung wird auch bei ihnen nicht vollzogen, auch sie fiihren
ibre besten Themen weder gedanklich noch menschlich zu Ende. Im wesent-
lichen verharren sie auch bei der undramatischen Technik des franzésischen
Tendenzdramas. Nur verwenden sie sie viel ungeschickter, da sie auch
dichterische Ziele verfolgen, so da& sie keine echten, grofen allgemeinen
Erfolge erzielen kénnen.
Ferenc Ferenczys dichterische Laufbahn zeigt gréftenteils einen konstanten
Aufstieg. Er ist unter unseren Dramatikern der modernste; ihn interessiert
nur die Seele des modernen Menschen, er sucht fiir dessen Gefiihls- und
Gedankendissonanzen eine dramatische Form. Das ist sein Hauptproblem.
Er spiirt, da der Zusammenhang zwischen beiden locker wurde: das Gefihl
und das Denken leben im Menschen ein getrenntes Leben. Manchmal gelingt
es dem Denken, das Gefiihl zu unterdriicken, manchmal durchbricht das
Gefihl seine vom Denken gebauten Damme. Es ist einerlei: bei wem diese
Trennung einmal geschah, dessen Untergang ist unvermeidlich. Den patho-
logischen Fall dieses Konflikts stellt das erste Stiick Ferenczys dar (*Rab
lélek« (Eine gefangene Seele]). Auffallend ist in diesem Stiick die starke
Wirkung Ibsens; die Stellung der Heldin zwischen Vergangenheit und
Gegenwart ist ganz parallel zur inneren Handlung von »Die Frau vom
xv Die ungarische Dramenliteratur 550
Meere«, nur siegt hier die Vergangenheit iiber die Gegenwart. Ferenczy
verwendet sogar die analytische Technik: das Hauptmittel der Erweckung
der Erregung ist das Geheimnis und dessen allmahliches Bekanntwerden.
Dieses Stiick ist aber ein lehrreiches Beispiel dafiir, wie wenig es mdglich ist,
von Ibsen zu lernen. Der ganze mystische und symbolische Apparat ist
seelenlos, wenn Ibsens groSer ethischer Inhalt nicht dahinter steht, und
Ferenczy ist nicht einmal imstande, den pathologischen Fall aus dem Kreis
der Fille herauszuheben. Sein zweites und sein letztes Drama (»Poginy
Gébore und »A nagy érzése [Das grofe Gefiihl]) erginzen sich eigentlich:
beide stellen dieselbe Dissonanz dar, aber beide von einer anderen Seite her:
Gabor Pogénys Verstand will seine Gefithle unterjochen; er glaubt sie nach
Belieben regulieren zu kénnen, iiber sie zu herrschen; und er kann auch
einige Schritte gegen sich selbst tun, aber zu wenige, um das zu erreichen,
was sein Verstand fiir unvermeidlich hilt, geniigend jedoch, um von seinen
erwachten und in ihrem Erwachen unwiderstehliche Kraft ausiibenden
Gefiihlen zusammen mit den Seinigen vernichtet zu werdert. Laszl6 Danos
(der Held in »Das grofe Gefiihl«) traut seinen Gefiihlen Leona gegeniiber
noch nicht, er kann nicht glauben, daf dies das grofe Gefiihl sei, das er
suche, wonach er sich sehne und er merkt die Wertlosigkeit dieser seiner
Reflexionen auch erst dann, wenn es schon fiir sie beide zu spit ist. Leona,
die von seinem Weggehen tief verletzt wurde, vernichtet ihn und sich selbst.
Aber auch in diesen schén und tief konzipierten Stiicken gibt es viel
Unvollkommenes. Vor allem sind die vielen iiberflissigen Intrigen stérend.
Ferenczys Themen erfordern eine véllig intime Stimmungstechnik; die
Handlung, die auf franzdsische Art oft ungeschickt hinzugewoben wurde,
steht nur im Wege. Des weiteren sind auch bei ihm nicht alle aufgeworfenen
Fragen vollig zu Ende gedacht. Auf diese Weise stért z. B. in »Poginy
Gébore der aus der Entwurzeltheit des Helden entstehende Konflikt zwi-
schen Patriotismus und Weltbiirgertum die Wirkung des Hauptproblems.
Fiir einen Gesprichsgegenstand ist dieses Thema zu gewichtig; wenn man
ihm aber den gebiihrenden Platz geben wiirde, miifte man neben dem
bestehenden ein neues Stick schreiben. Wie alle Dichter, die mit der
franzésischen Technik arbeiten, ist auch Ferenczy beim Lustspiel vollkom-
mener als im Drama. Wahrend im Drama Ibsens Wirkung am starksten ist,
kénnen wir hier zumeist die Wirkung der jungen Franzosen und in erster
Linie Maurice Donnays sehen. Von ihnen iibernimmt er seine ein wenig
lockere Konstruktion; sein Dialog, sogar einige seiner Gestalten (z. B.
Clarisse und Mme. Sureau in »La douloureuse«) erinnern sehr an sie. Das
552 Die gegenwartige Situation
Thema vom »Flirt« ist iibrigens ebenfalls eine satirische Variation von
Ferenczys Hauptthema; die Handlung ist freilich ein wenig verworren und
mager, es treten aber darin eine solche Anzahl richtig beobachteter und
lebendiger Gestalten auf und sein Dialog vereint die Natiirlichkeit mit der
Geistreichheit so geschickt und er beleuchtet das Thema bei all seiner
Leichtigkeit und Unmittelbarkeit so weit von allen vorstellbaren Seiten her,
wie es bis dahin kaum in einem ungarischen Lustspiel und auch nicht allzu
oft in einem auslindischen Lustspiel von ahnlichem Stil geschah. Die para-
doxe Wortdialektik seines letzten Dramas, die unter Wildes Wirkung stand,
bleibt in jeder Hinsicht weit hinter den vorherigen zuriick.
Auch Gyédrgy Szemeres Laufbahn verliuft ahnlich. Er stand nach der
unwahrscheinlichen Handlung, den Gestalten und der zur Deklamation
neigenden Sprache von »Egyéniség« (Persénlichkeit), in »Erdsek és gyen-
gék« (Die Starken und die Schwachen) auf einmal als ein Dichter vor uns, der
die Tiefen empfindet und eine ernste Tendenz hat. Das hervorragend
gesehene aristokratische Milieu ist fiir ihn kein Ziel, nur Hintergrund fiir die
tief menschlichen Konflikte. Dieser Konflikt besteht aus dem Einander-
nicht-Verstehen der nacheinander folgenden Generationen, der besonders
dann zugespitzt ist, wenn Vater und Sohn einander innerlich wirklich
abnlich sind und die selben Eigenschaften sich nur infolge des verschiedenen
Alters in anderen Formen offenbaren; wahrend der Sohn, der eben nur in
Auferlichkeiten seinem Vater ahnelt, ihm seelisch fern stehen muf. Dies
mu in Szemeres Stiick sein Held, ein eigensinniger, harter Aristokrat,
einsehen und diese gezwungene Erkenntnis verleiht, umgeben von der
melancholischen Stimmung der ewigen Fremdheit der Menschen unterein-
ander, dem ganzen Stick - vom Schluf her betrachtet - eine grofe Tiefe.
Diese ganze Stimmung ist aber mehr nachtraglich und lyrisch als unmittelbar
versinnlicht, dramatisch. Auch hier, wie bei Ferenczy, steht die Technik dem
im Wege, was wirklich ausgedriickt werden soll. Seine letzten beiden
Dramen (»Boland Isték« [Verriickter Ist6k] und »G« [Sie]) erreichen trotz
einzelner Feinheiten und guter Szenen dieses Drama nicht, sie entwickeln
sogar nicht einmal seine wahren Werte weiter. Szemere ging aber in seinem
einzigen — in seiner Art — vollkommenen Stiick (in »Siralomhaz« [Armesiin-
derhaus]) auf seinem angefangenen Wege auch nicht weiter: auf dem Weg
des Naturalismus. Dieses kleine Drama stellt die letzten Stunden eines zum
Tode verurteilten ungarischen Bauern mit harten, starken Ziigen, mit wenig
au@erer Ergriffenheit, aber mit um so mehr innerer Lyrik dar. Durch dieses
kleine Drama gelangen - ebenso wie bei Gardonyi — die meisten menschen-
xv Die ungarische Dramenliteratur 553
zeichnenden und Atmosphire schaffenden Werte des Naturalismus in das
ungarische Bauerndrama, es wurde aber — hier ebenso wie bei Girdonyi
- kein Drama daraus, sondern nur eine dialogisierte Novelle. Und den
Versuch, der fiir das Schicksal des ganzen ungarischen Volksdramas ent-
scheidend wire: ein echtes Bauerndrama mit dieser Technik zu schreiben,
hat auch Gydrgy Szemere nie unternommen.
»A bor« (Der Wein), Géza Gardonyis™ bestes Stiick, eines der schénsten
und poetischsten ungarischen Bithnenwerke der letzten Jahrzehnte, ist auch
kein wahres Drama. Es ist kein Drama, will aber auch keines sein. Es gelang
hier Géza Gérdonyi in seinem ersten Stiick -, um den Preis, daf er sich von
vornherein ein kleineres Ziel setzte, etwas so Organisches und Ganzes zu
schaffen, was aufer ihm bei uns kaum jemandem gelungen ist.
»Der Weing ist eigentlich kein Drama, ist auch kaum ein Lustspiel, ist mehr
eine dramatische Novelle, eine Idylle. Max Burckhard stellte - bei der
Wiener Auffihrung des Stiickes - ganz richtig fest, da& dieses Bauerndrama
ihn weniger an Anzengruber als an Auerbach erinnere. Er hitte aber
erginzen miissen, da& Gardonyis Menschen viel lebendiger sind, sein Hu-
mor frischer, sein Dialog unmittelbarer als der Auerbachs ist. »Der Wein« ist
nur eine Idylle, das ist gewif, aber als solche ist es ganz vollkommen und ein
jedes kleine Detail ist so stark empfunden, so voll von intimer Lyrik, da8 das
Stiick daher in einzelnen Augenblicken in ganz allgemeingiiltige Héhen
steigt. Die humorvolle Entfernung des Dichters von seinen Gestalten, sein
Sich-Erheben iiber sein kleines Thema verleiht dem Stiick stellenweise einen
tiefen menschlichen Wert. Dieses Stiick bewegt sich langsam und hat wenig
Handlung, aber hier macht das auch nichts aus, denn alle kleine Dialogteile
sind voll inneren Lebens, feiner Bewegung und alle Gestalten leben sehr
intensiv. Dazu kommt noch, da& der langsame Gang des Stiickes der
vollkommen adaquate Stil fiir die wiirdevolle Ruhe des ungarischen Bauern
ist. Schade ist nur, da& Gardonyi nicht einen grofen, allgemein tiefen
Schmerz oder eine tragische Situation des ungarischen Volkes suchte, fiir die
diese naturalistische Technik sehr geeignet gewesen wire (mit den Grenzen,
die beim deutschen Naturalismus besprochen wurden). Somit war dieser
schéne Anfang nur als Anfang schén. »Annuska« hatte schon nicht einmal
soviel Thema wie »Der Wein«. Gardonyi wollte scheinbar den dort mégli-
chen tiefen Konflikt vermeiden: den Konflikt der klerikalen und weltlichen
‘Weltanschauungen; und fir eine Idylle sind die drei Akte des Stiickes zu
lang. Der erste Akt ergétzt, der zweite ermiidet, der dritte langweilt oder
macht nervs. In »Zéta« verschmilzt das fein empfundene, fiir eine Tragédie
554 Die gegenwartige Situation
jedoch ein wenig schmale und leere persénliche Schicksal des Helden nicht
mit dem ihm umgebenden welthistorischen Zusammenbruch: es gibt keine
Beziehung zwischen den Gestalten und dem Hintergrund. Und wenn Gar-
donyi starkere dramatische Wirkungen erzielen will, wird er melodramatisch
(»Fejér Anna, »Fekete nape [Ein schwarzer Tag]). Es scheint so, als ob er
keine echte dramatische Kraft besife, denn bei ihm wirken alle stirkeren
Dinge gezwungen; es scheint so, daf er die Grenzen seines Talents erkannte,
als er das idyllische Dorf in »Der Wein« und im ersten Akt in »Annuska«
verlie&. Es ist aber méglich, da8 ¢s ihm nur schadet, wenn er das Dorf verlift
und er kénnte innerhalb des Dorfes eventuell grofe und tiefe Dramen oder
jubelnde, vielleicht weinend lichelnde Lustspiele finden.
Gardonyi und Szemere sind die einzigen Naturalisten dieser Zeit. Bei ihnen
ist blo& die Technik naturalistisch; sie steigern die undramatische Breite, die
Langsamkeit, das Lyrische dieser Richtung noch mehr als die Deutschen
selbst. Diesen Kampf um den Stil, sich in alltdiglichen Schicksalen spiegelnde
Tragédien gewohnlicher Menschen naturalistisch und dennoch dramatisch
auszudriicken, nahm nur ein ungarischer Dichter auf: Sandor Brédy. Aber
auch er nur einmal, in »A dada« (Die Amme). Freilich sind auch hier nur die
einzelnen Szenen dramatisch nicht das Ganze des Dramas. Séndor Brédy
gelang es nicht - was, Hauptmann ausgenommen, vielleicht niemand ganz
geschafft hat -, ein gewohnliches Geschehen des gewdhnlichen Lebens auf
eine Art dramatisch zu machen, daf er es scheinbar so lat wie es ist, es
zusammendringt, damit es das ganze Leben bedeuten soll. Die Einheit ist
auch hier episch: der Untergang eines Menschen wird in einer Reihe
verschiedener Abenteuer und Geschehen dargestellt. Die Einheit entstebt
durch den darin agierenden Menschen - und durch irgendeine soziale
Notwendigkeit, die aber nur der Erinnerung an das Drama eine nachtrig-
liche, intellektuelle Einheit verleiht, das Drama selbst besteht nur aus
Szenen. Unter diesen Szenen gibt es aber sehr schéne, interessante und
starke — die mit den Szenen sehr guter auslindischer Naturalisten wetteifern
kénnen. Dieses Stiick nimmt aber, wie iibrigens alle Stile und Werke bislang,
nur eine episodische Stelle im Lebenswerk Sandor Brédys ein. Er ist einer
der Dichter, die pausenlos experimentieren, in stets neuen und anderen
Richtungen suchen; er reprasentiert den seelischen Typ Hauptmanns und
Strindbergs bei uns. Sein erstes Drama (»H6fehérke« [Schneewittchen])
stellt den Versuch dar, einen romantischen Ausweg aus dem Naturalismus
zu finden. Es ist ebenfalls reich an interessanten Szenen, einige haben auch
viel dramatische und biihnenmifige Kraft, die aber im wesentlichen auch
xv Die ungarische Dramenliteratur 555
hier episch sind; obwohl in diesem Stiick die Symbolik, die Dramatik der
Geschehen am stirksten ist. Die Stillésung ist hier jedoch duSerlich: der
Dialog schafft keinen Stil aus der Synthese der naturalistischen Menschen-
zeichnung, des Hintergrundes und der romantischen Schicksale; diese sind
in einer rohen Empirie nebeneinandergestellt. Manchmal steigern sie mit
ihrer interessanten Bizarrheit gegenseitig ihre Wirkung, zumeist schwachen
sie jedoch diese gegenseitig ab. Sein letztes Stiick (»A taniténd« [Die
Lehrerin]) ist eine dialogisierte Novelle, eine sich stellenweise dem Drama
annihernde Idylle. Im Ganzen erreicht es nicht seine vorherigen zwei
Stiicke, die kleinere Erfolge erzielt haben. Und sein stilistisch interessante-
stes Drama fiel geradezu durch: »A fejedeleme (Der Fiirst) aus dem Zyklus
der »Kiraly-idillek« (Kénigsidyllen). Von den drei Einaktern stellen der erste
und der letzte (die von Ludwig dem Groen und von Kénig Matthias
handeln) dekorative, lyrische Bilder dar, der mittlere ist ein interessantes,
starkes im Stil Wildes, Maeterlincks und Hofmannsthals dhnlichen Versu-
chen verwandtes Balladendrama (ohne irgendwie unter ihrem Einflu8 zu
stehen). Es ist ein Balladendrama: es stellt ein interessantes Geschehen in
starken, sinnlich wirkenden Szenen dar, indem alles in einer Szene zusam-
mengedrangt wird. Nur ist diese Zusammendriingung — wie bei allen Balla-
dendramen - rein duferlich, rein technisch. Alle Geschehen sind in diesen
wenigen Szenen stark zusammengedrangt und an einigen Stellen leuchten die
Geschehen, die Worte tief in die Seele der Menschen hinein. All das
geschieht aber um den Preis, daf der Fall keine Leben bedeutende Symbolik
erhilt, er bleibt cin Fall; seine Wirkung ist lyrisch, episch: balladenhaft.
ra
Im Laufe der letzten Jahre sind in der ungarischen Literatur viele wichtige
Veranderungen geschehen. Viele und teilweise talentierte Dichter traten auf,
hauptsichlich in der Lyrik und in der Novelle, wie schon sehr lange nicht
mehr. Romane produzierte diese Literatur erst sehr wenige, eine Wissen-
schaft und Philosophie kaum; ein Drama iiberhaupt nicht. Dieses Negati-
vum mag natiirlich vorlaufig sein, obwohl scheinbar sehr wenig Aussicht auf
das Aussterben der vorher erwahnten Ursachen besteht, die - unserer
Meinung nach - die hauptsichlichen Ursachen der Unfruchtbarkeit der
ungarischen Literatur sind. Es ist aber groftenteils von solchen jungen
Dichtern die Rede (das bezieht sich selbstverstindlich auch auf die obigen
Erérterungen), da es frivol wire, in irgendeiner Beziehung sogar von
Méglichkeiten zu sprechen. Bei talentierten, sich in Entwicklung befinden-
556 Die gegenwartige Situation
den Dichtern, ist - vielleicht — alles méglich. Hier miissen wir uns aber an die
Ergebnisse halten und diese sind negativ.
Ferenc Molnérs erste zwei Lustspiele erreichen bei weitem nicht seine tiefen
und starken Novellen und Skizzen. Beide sind sehr geschickt gemacht, sehr
unterhaltsam, sehr reich an Biihnenwirkungen, aber in der Psychologie sind
sie oberflichlich und er strebt an Stelle des tiefen Humors der menschlichen
Schicksale nach augenblicklichen heiteren Wirkungen von Situationen und
Worten. In seinem »Liliom« nahert sich der Dramatiker Molnér stark dem
Novellisten, es geschieht jedoch bei ihm etwas Ahnliches wie wenn sich
grofe auslindische Epiker nach der Biihne sehnen: im besten Fall sind sie
trotz des sich widersetzenden Stoffes imstande, anzudeuten welch feine
Menschenbetrachter, Poeten — Novellisten — sie seien. Die Schénheiten von
»Liliomeg sind die einer schénen Novelle, oft sehr geschickt in einen auch auf
der Biihne vortragbaren Dialog iibertragen. Dieser Dialog ist aber - auch im
besten Fall - nur ein Dialog, der Menschen charakterisiert und Stimmungen
hervorzaubert, eine Dramatik enthilt er noch nicht. Der Aufbau des Ganzen
enthalt ebenfalls keine Dramatik: auch hier gibt es locker aneinandergefiigte
Szenen und auch hier verleiht nur die Identitat der Personen dem Stiick eine
Einheit. Und die Einheit des Hintergrundes. Ferenc Molnér ist es hier
gelungen, dem seelischen Leben und der Atmosphare der Budapester Au-
enbezirke einen bihnenmiafigen und dichterischen (wenn auch keinen
dramatischen) Ausdruck zu geben. Er ist der einzige unter unseren populi-
ren Dramatikern, dem es gelungen ist, die Werte, die er in anderen Gattun-
gen, in den natiirlichen Gattungen seiner seelischen Manifestationen erreich-
te, auch auf der Biihne auszudriicken. Er ist der einzige, der — in diesem
Stiick - nichts dadurch verliert, da& er auf die Bithne kam, wenn dies auch
noch keine neuen dichterischen Ausdrucksméglichkeiten, die wahre dichte-
rische Befruchtung, geboten hat.
Wenn jemand nur die erfolgreichen Stiicke Zsigmond Méricz’ und Dezsé
Szomorys kennt, wiirde er sie niemals fiir so interessante Dichter halten wie
sie sind. »Sari biré« (Richter Sari) geht in der Technik und Menschenzeich-
nung nicht tiber die Bauerndramen Szemeres und Gardonyis hinaus; es fehlt
ihm sogar deren breite Lebendigkeit und Plastizitét. Die schonungslos
scharfe Seelenbetrachtung, die guten Augen, die sichere Hand des Novelli-
sten Zsigmond Méricz, mit der er seine seelischen Beobachtungen in alles
umfassende Szenen fassen kann, sind hier nicht vorhanden. Hier ist alles viel
grauer, bewegungsloser, seichter und konventioneller als in den Novellen.
Und Dezsé Szomorys »Nagyasszony« (Die Gebieterin) steht in bezug auf
xv Die ungarische Dramenliteratur 557
Im Jahr 1908 wurde das Manuskript eines bis dahin in der Offentlichkeit
unbekannten jungen ungarischen Schriftstellers iiber die »>Entwicklungsge-
schichte des modernen Dramas« von der Budapester Kisfaludy-Gesellschaft
mit ihrem Krisztina-Lukacs-Preis ausgezeichnet.
Als das Werk drei Jahre spater im Druck erschien, war sofort klar, daf es
sich um einen fiir die damaligen Verhiltnisse unerhdrt radikalen Versuch
handelte, soziologische Kategorien auf das Drama anzuwenden und umge-
kehrt, aus der Entwicklung des Dramas Konsequenzen fiir die der Gesell-
schaft zu ziehen.
Die von der Wissenschaft begriffene weittragende Bedeutung des Buchs
zeigte sich darin, da& das Einleitungskapitel »Zur Soziologie des modernen.
Dramas« ungekiirzt im »Archiv fiir Sozialwissenschaft und Sozialpolitike,
der damals prominentesten deutschen sozialwissenschaftlichen Zeitschrift,
noch 1914 erscheinen konnte.
Die bald folgenden weiteren Werke »Die Seele und die Formen« (1911) und
die »Theorie des Romans« (1916); vor allem aber der Ubergang Lukécs’ zu
marzistischen Positionen in »Geschichte und KlassenbewuBtsein« (1923),
haben dazu gefithrt, da8 dieses bedeutende Frihwerk insgesamt bislang
nicht ins Deutsche iibertragen worden ist.
Lukics hat spiter in »Mein Weg zu Marx« (1933) geschrieben, er habe in der
»Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas« »nach Simmels Vorbild die
»Soziologie« einerseits von der sehr abstrakt aufgefaften Skonomischen
Grundlage méglichst losgelést, »andererseits: habe er >in der »soziologi-
schen« Analyse nur ein Vorstadium der eigentlichen wissenschaftlichen
Untersuchung der Asthetik« gesehen.
Und genau deshalb liegt in diesem Werk der Schliissel fiir die weitere
Entwicklung der theoretischen Ansichten von Lukics; bis in seine grofe
»Asthetik« (1963) hinein la&t sich das Dramenbuch als Ausgangspunkt
verfolgen.
An seinem Lebensende hat er diesen Sachverhalt unmifverstindlich (in
seiner bisher deutsch nicht verdffentlichten Abbreviatur einer Autobiogra-
phie »Gelebtes Denken«) ausgedriickt: »Wenige Studien in Ubergangs-
zeit... so: Zusammenfassung: Dramabuch (geschrieben 1906/07), vollendet
1907. Bei Versuch einer Zusammenfassung: Marx-Tendenz stark im Vorder-
562 Nachwort
und Methodenprobleme der Asthetik Georg Lukécs’, phil. Diss. KéIn 1975,
S. 71-915
Michael Léwy, Pour une Sociologie des Intellectuels Révolutionnaires -
L’evolution politique de Lukécs 1909-1929, Paris 1976, P.U.F., S. 107-150
und Istvan Hermann, Die Gedankenwelt des Georg Lukacs. Budapest
1978, Akadémiai Kiad6, S. 19-73.
Der Autor hatte den Band urspriinglich nicht fiir die Werkausgabe vorgese-
hen. Mag dies zum einen darauf zuriickzufiihren sein, da die Ausgabe dem
Umfang nach knapper disponiert war, als da8 ein so umfangreiches Friih-
werk in seinen Rahmen gepaft hatte; so war doch unverkennbar, da auch
inhaltliche Griinde dafiir eine Rolle spielten: Lukdcs miftraute seinen vor-
marxschen Arbeiten, sowohl denen der »Schénen Seele« (Die Seele und die
Formen), wie denen des biirgerlichen Literatursoziologen. Und er mifttraute
einem Publikum, das historisch-genetisch orientiert, die nach seiner Mei-
nung falsche Periodisierung seiner Werke hierdurch bestarkt finden kénnte.
Nur historisch und damit wirkungslos begriffen zu werden, war fiir einen
Mann schrecklich, der sich als aktuelle marxistische Einfluggréfe betrachte-
te. Lukdcs glaubte, und dies ist sehr verstindlich, da& der Inhalt der
»Entwicklungsgeschichte« in den sich auf deutsche und westeuropiische
Verhiiltnisse beziehenden Teilen iiberholt; in den ungarischen Teilen unin-
teressant geworden sei; ja da& in Fragen literarischer Einzelbewertung seine
jugendlichen Obsessionen ihn dem heutigen Leser insgesamt suspekt ma-
chen kénnten. Gleichwohl hat Lukaécs vor seinem Tode der Gesamrveréf-
fentlichung zugestimmt. Wahrend maSgebliche Stimmen unter seinen Schii-
lern, mit denen die Frage selbstverstindlich diskutiert wurde, fir eine
generelle Kiirzung plidierten, die den Inhalt fiir den heutigen Leser bedeut-
sam machen kénnte, entschied sich Lukacs fiir eine Lésung, die technische,
inhaltliche, historische und politische Belange beriicksichtigt. Wahrend also
fiir die italienische Ausgabe von Ferenc Fehér eine gekiirzte Fassung erarbei-
tet wurde, stimmte Lukdcs der kompletten deutschen Neuveréffentlichung
von »Die Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas« im Rahmen einer
zweibandigen Taschenbuchausgabe zu, iiber die mit dem ungarischen Biiro
fiir Urheberrechte (Artisius) auch eine formelle Vereinbarung zustande kam.
Lukacs wollte in der Gesamtausgabe nur eine Auswahl veréffentlichen; fiir
die Philologen und Historiker aber eine »rasch vergingliche« komplette
Taschenbuchausgabe. Die Paradoxie war nicht ohne Huszpe: Bei den Usan-
cen des Taschenbuchmarktes und der Anschaffungspolitik der wissenschaft-
lichen Bibliotheken in der Bundesrepublik hiitte man wenige Jahre nach
Nachwort ~ 565
Erscheinen grofe Miihe gehabt, das Buch lesen zu kénnen. Dieser beabsich-
tigte Sperriegel sollte nur wirkliches Sachinteresse durchlassen.
Die Entscheidung, den Band in der Gesamtausgabe erscheinen zu lassen,
mu8 der Herausgeber vertreten. Er kann sich darauf berufen, da8 die
vorgesehene Taschenbuchausgabe aus verlagsinternen Griinden nicht zu-
stande gekommen ist — hatte aber dann verzichten kénnen. Er mag ausfiih-
ren, da8 Band 1 der Werkausgabe mit den geplanten Ausziigen aus der
»Entwicklungsgeschichte« umfangmiig stark belastet worden wire. Auch
kénnte er daravf verweisen, da zum Zeitpunkt, als die Umdisposition
getroffen wurde, erhebliche Vorarbeiten des Ubersetzers vorlagen. Aber in
Wahrheit haben ihn andere als diese formellen Griinde bestimmt.
Seit dem Erscheinen des bis heute mafstabgebend gebliebenen Sammelban-
des »Schriften zur Literatursoziologies (1961, jetzt 6. Aufl. 1977), den Peter
Ludz herausgegeben hat, war klar, daf Lukics Ausgangsposition die biirger-
liche Philosophie in der Phase ihres Ubergangs zur Soziologie gewesen ist.
Ludz hatte darauf in seiner Einleitung uniiberhérbar hingewiesen und mit
Bezug auf das vorliegende Werk nicht nur die seinerzeit im Archiv fiir
Sozialwissenschaft und Sozialpolitik deutsch gedruckten Abschnitte aufge-
nommen; sondern auch ein Stiick aus dem Vorwort iibersetzen lassen. Hier
wurde sehr deutlich, da& vor dem Ubergang von Hegel zu Marx ein
Obergang von der Lebensphilosophie zur Soziologie fiir Lukécs Weichen
gestellt hatte; allgemein ausgedriickt: da der biirgerlichen Revolution — wie
Diderot Bounarotti vorhergeht — eine soziologische Wissenschaftskrise vor-
hergeht. Die revolutionare Interpretation sowohl der Form des Dramas, wie
der damaligen aktuellen dramatischen Dichtung konnte fiir eine Zeit bedeut-
sam werden, die in der Literaturtheorie spekulative Defizite, dagegen in der
Theaterproduktion beachtliche Fortschritte aufzuweisen hatte, die aber der
Literatur insgesamt iiberwiegend politische Funktionen zuwies.
Der heutige Leser mu entscheiden, ob Lukacs Grundthese von der Tragé-
die als der Form einer untergehenden Gesellschaftsformation noch zurei-
chend gedacht werden kann und ob die soziologische Revolution fiir die
Literatur (nach Goldmann) wissenschaftlich wie kiinstlerisch fruchtbar ist.
Fiir den Herausgeber kam hinzu, daf die Entscheidung, aus dem Nachlaf
aufgetauchte Manuskripte (Heidelberger Philosophie der Kunst, Werke
Band 16, Heidelberger Asthetik, Werke Band 17) als NachlaSbinde der
Ausgabe einzugliedern, die Méglichkeit schuf, auch dieses friihe Werk in der
NachlaBabteilung chronologisch richtig aufzunehmen.
Mit der »Entwicklungsgeschichtes, der »Seele und die Formene, der »Hei-
566 Nachwort
delberger Asthetik« und der »Theorie des Romansé ist der gesamte Umkreis
von Lukacs grofem Friihwerk nun ausgemessen. Die schingeistige Seele
steht zusammen mit dem wissenschaftlichen Bewuftsein von der Dialektik
der Kunst dem Urteil offen.
Eine weitere Schwierigkeit erwuchs aus der Ubersetzung. Das Buch von
Lukics ist aus einer Dissertation hervorgegangen, die selbstverstindlich den
Standards dieser Sonderform auch stilistisch entsprechen mufte, wenngleich
sie sich dem Zwang zu Nachweisen nicht unterwarf: die ganze Arbeit ist
erstaunlicherweise ohne Belegzitate. Andererseits folgen dem Buch die in
bliihendem Deutsch geschriebenen Aufsatze in »Die Seele und die Formene.
Hinzu kommt, da& eine immerhin umfangreiche deutsche Teiliibersetzung
von 1914 veréffentlicht war. Der Ubersetzer Dénes Zélan hat hier in
langjahriger Arbeit auferordentliches darin geleistet, den ungarischen Dis-
sertationsstil dem deutschen Duktus von Lukécs zu verbinden. Obsessionell
wissenschaftlich an Lukdcs fixiert hat er den Umkreis des Werkes von
Luk4cs mit aufgenommen, eine Bibliographie der Literatur zum Werk von
Lukacs bis 1911 erarbeitet, die Rezeption Lukics fiir die Arbeiten aus dieser
Zeit verfolgt, die Anmerkungen beigesteuert, sich mit den schwierigen
Zusammenhingen der Gedanken geplagt. Nur wenig davon konnte in diese
Ausgabe eingehen. Seine Studie zum Werk von Lukécs bis 1911, die hoffent-
lich gesondert erscheinen wird, soll weitere Aufschliisse geben. Wenn es in
der Ubersetzung gleichwohl »holpert und stolpert«, so geht dies auf den
Herausgeber zuriick. Eine glatte, in vielen kontroversen Punkten nur zu
verstandliche, dem heutigen Sprachgefiih! angepafte Fassung hitte sicher der
dueren Vermittlung am besten gedient. Bei einer Werkausgabe muSten
andere Riicksichten genommen werden. Es ist bekannt, da8 Bloch wie
Adorno Lukdcs vorgeworfen haben, sein Engagement in der kommunisti-
schen Partei habe ihm durch kleinliche Tagesschreiberei den Stil verdorben.
In der Tat: wer »Die Theorie des Romans« liest und kurz danach etwa die
Schrift iiber »Moses He&«, kann zu diesem Schlu& kommen. Wer freilich die
ungarischen Verdffentlichungen von Lukécs kennt, bemerkt bald, da8 sich
im Schreibstil von Lukacs grammatikalisch sowie mit Bezug auf die Satzstel-
lung und denkfigurenmafig ungarische Eigentiimlichkeiten zeigen. Anders
formuliert: in Lukécs Werken dominiert in verschiedenen Zeiten die innere
Zuordnung zum deutschen und zum ungarischen Sprachraum. Einzelheiten
miiissen der Philologie iiberlassen bleiben. Jedenfalls glaubte der Herausge-
ber, da& die vorliegende Sprachgestalt, gerade weil sie nicht optimal und glatt
ist, so doch fiir Lukacs zu dieser Zeit typisch ist.
Nachwort 567
Anmerkungen zu Band 1
87 m. Teil.
88 Friedrich Schiller: Briefe tiber Don Carlos, in: Simtliche Werke (Sikular-Ausgabe),
Stuttgart, Berlin o. J., Bd. 16, S. 87.
89 A.2.0.,5. 65.
90 1V./24.
gi W/2t.
92 A208. 74.
93 Philotas. Ein Trauerspiel, 7: Auftritt.
94. G. E. Lessing: Kleonnis. Ein Trauerspiel in fiinf Aufziigen, in: Samtliche Schriften,
a. a. O., Bd. 3, S. 370.
95 1v./6.
96 W./9.
97 Jakob Minor: Schiller. Sein Leben und seine Werke, Berlin 1890, Bd. 2, S. 576.
98 Karl Immermann: Alexis, Eine Trilogie {m. Endoria. Ein Epilog), in: Schriften,
Diisseldorf 1835, Bd. 4, S. 416.
99 Franz Grillparzer: Tagebuch, Nr. 1614, in: Simtliche Werke, ausgewahlte Briefe,
Gespriche, Berichte, Darmstadt, Miinchen 1965, Bd. 4, S. 432.
100 An Georg Alemiller, in: a. a. O., Bd. 4, S. 762.
101 Albert Bielschowski: Goethe, Sein Leben und seine Werke, Miinchen 1904*, Bd. 1,
S. 198 f.
102 Wallensteins Tod, 1/4.
103 Ws.
104 Die Piccolomini, v./1.
105 Die Jiidin von Toledo, v.
106 Schillers Persdnlichkeit. Urtheile der Zeitgenossen und Documente, gesammelt von
Julius Petersen, Weimar 1909, tt. Teil, S. 290.
107 Jakob Minor: Zur Geschichte der deutschen Schicksalstragddie und zu Grillparzers
»Ahnfraus, in: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, 9. Jg., Wien 1899, S. 2.
108 Otto Brab Leben Heinrich von Kleists, Berlin 19117, S. 81-104.
109 Christian Dietrich Grabbe: Uber die Shakespearo-Manie [1827}, in: Werke, Berlin,
Leipzig 1912, S. 43 f.
110 Hermann Hettner: Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhange mit
Goethe und Schiller [1850], in: Schriften zur Literatur, Berlin (Ost) 1959, S. 119.
mr A.a.O, S. 67.
112 Tagebuch, Nr. 303 und 3273,in: a. a. O., Bd. 3, S. 512 f.
115 Tagebuch, Nr. 3823, in: a. a, O., S. 514 f.
114 An Schiller, Weimar, 8. Dezember 1798, in: Artemis-Gedenkausgabe, a. a. O.,
Bd, 20, Bd. 660.
ris w/t.
116 Friedrich Hebbel: Vorwort zur »Maria Magdalenas, in: a. a. O., S. 41 ff.
Anmerkungen 2 Band 1 575
117 Ludwig Robert: Die Macht der Verhiltnisse. Ein Traverspiel in fiinf Aufziigen und
zwei Briefe tiber das antike und moderne und iiber das sogenannte biirgerliche
Trauerspiel [Erster Brief], Stuttgart, Tubingen 1819, S. 6 ff.
118 Zweyter Brief, a. a. O., S. 137.
119 In: F. W. J. von Schelling: Werke, Miinchen 1959, Bd. 9: Dritter Erginzungsband, Zur
Philosophie der Kunst 1803/1817, S. 346.
120 G. W. F. Hegel: Ksthetik, Frankfurt a. M. 0. J., S. 565.
1a1 Friedrich Hebbel: [Rezension von‘) Schillers Briefwechsel mit Kérner, Berlin 1847,
in: Sikular-Ausgabe, a. a, O., 1/11, S. 193 £.
122 Karl Immermann: Memorabilien. Zweiter Teil, in: Schriften, a. a. O., Bd. 13,5. 28 ff.
123 Vgl. hierzu: Wieland an einen Bekannten (1804), in: Heinrich von Kleist: Simtliche
Werke und Briefe, Miinchen 19617, Bd. 1, S. 923.
124 Otto Ludwig: Heinrich von Kleist, in: Gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. 5 (Studien,
Bd, 1), S. 348 f.
125 A.a,O., Bd. 6 (Studien, Bd. 2), S. 380.
126 J. W. Goethe: Zum Shikkespeares Tag, i Artemis-Gedenkausgabe, a. a. O., Bd. 4,
8.124.
127 Heinrich von Stein: Goethe und Schiller, Beitrige zur Asthetik der deutschen
Klassiker, Leipzig 1893, S. 91.
128 An Goethe, Jena, 4. April 1759, in: Artemis-Gedenkausgabe, a. a. O., Bd. 20,
S. saa.
129 An Goethe, Jena, 24. November 1797, in: Artemis-Gedenkausgabe, a. a. O., Bd. 20,
S.asif
130 Friedrich Schiller: Uber den Gebrauch des Chors in der Tragédie, in: Skular-Ausga-
be, aa. O., Bd. 16.
131 Otto Ludwig: Julia von Hebbel, in: a. a. O., S. 359.
132 An Goethe, Weimar. 8. Mai 1802, in: Artemis-Gedenkausgabe, «. a. O., Bd. 20,
8. 897.
133 Franz Grillparzer: Tagebuch, Nr. 1626, in: Simtliche Werke, a, a. O., Bd. 4, S. 442.
134 A. a. O.S. 237
135 Paul Ernst: Gesellschaftliche Voraussetzungen (1905), in: Der Weg zur Form,
2.a.0,, 8. 226.
136 Francisque Sarcey: Le théitre, Paris 1893, S. 41 £.
137 Dramen Victor Hugos; »Les Burgravese wurde im Gegensatz 2u »Hernani« ~ bei der
Autfihrung dieses Dramas kam es zu einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung
zwischen Befiirwortern und Gegnern ~ vom Publikum véllig abgelehnt.
138 Alexandre Dumas fils: Théitre complet, Paris 1868, Bd. 3, S. 27.
139 Alexandre Dumas fils: A propos de la Dame aux Camélias, in: a. O., Bd. 1, 8. 30.
140 v./9.
141 Emile Zola: Augier, in: Les Euvres completes, Paris 1928, Bd. 43, S. 82.
142 1/6.
143 Rudolf Kassner: Denis Diderot, Berlin 1903 (= Die Literatur, Bd. 23), S. 32.
144 Emile Augier: Préface de la premitre édition, in: Théatre complet, Paris 1889, Bd. 4,
S. 10.
14s w/tr.
576 Anmerkungen 2 Band 1
146 Vgl. i. Ake.
147 Théophile Gautier: Décadence du théitre, in: ders.: Histoire de art dramatique en
France, Paris 1859, Bd. 2, S. 247: »Aussi le chédere n’a-t-il plus rien de commun avec
Ja littérature«,
148 Arno Scheunert: Der Pantragismus als System der Weltanschauung und Asthetik
Friedrich Hebbels, Hamburg, Leipzig 1903 (Beitrige zur Asthetik, Bd. 7), S. 10.
149 Friedrich Hebbel: Der Prinz von Homburg oder die Schlacht bei Fehrbellin. Ein
Schauspiel von Heinrich Kleist, in: Sikular-Ausgabe, a. a. O., 1./11, S. 323.
150 Friedrich Hebbel: An Elise Lensing, Miinchen, 31 [!]. September 1838, in: Sakular-
Ausgabe, a. a. O., 11/1, $. 323.
151 Emil Kub: Biographie Friedrich Hebbels, Wien 1877, Bd. 2, S. 720.
152 Friedrich Hebbel: Der Bramine (Gmunden, in schweren Leiden, 22.7. 63), in:
Sakular-Ausgabe, a. a. O., 1/6, S. 437.
153 Friedrich Hebbel: Mein Wort iiber das Drama!, in: Sikular-Ausgabe, a. a. O., 1/11,
S.3.
154 Emil Kub: ». a. O., Bd. 2, S. 583.
155 1 Akt.
156 Tagebiicher, Nr. 3425.
157 Rudolf Kassner: Hebbel, in: ders.: Motive. Essays, Berlin 1906, S. 167 und 170.
158 An Friedrich Uechtritz, Wien, 5. November 1854, in: Sakular-Ausgabe, a. a. O.,
m/s, S. 195.
159 Tagebiicher, Nr. 2605.
160 Vorwort zur »Maria Magdalenae, in: Sikular-Ausgabe, a. a. O., 1/11, S. 43.
161 Tagebiicher, Nr. 688.
162. Tagebiicher, Nr. 2864.
163 In: Sakular-Ausgabe, a. a. O., 1./6, S. 448.
164 In: Sikular-Ausgabe, a. a. O., 1/11, S. 43.
165 Rudolf Kassner: Algernon Charles Swinburne, in: a. a. O., S. 173.
166 Wilhelm von Scholz: Hebbel, Berlin, Leipzig 1905, S. 37 und 43 f.
167 Ebenda.
168 Tagebiicher, Nr. 1516.
169 In: Sikular-Ausgabe, a. a. O., 1/11, S. 52.
170 m/3.
171 Wv/8,
172 Rudolf Kasmer: Hebbel, in: a. a. O., S. 178.
173 Mein Wort aber das Dramal, in: Sikular-Ausgabe, a. a. O., 1/11, S. 3.
174 W/10. ‘
175 Julia von Hebbel: in: a. a. O., Bd. 5 (Studien, Bd. 1), S. 359.
176 Tagebiicher, Nr. 2337.
177 Tagebiicher, Nr. 2508.
178 v3.
179 v/6.
180 Emil Kuh: a. a. O., Bd. 1, S. 511 f.
181 An Gustav Kithne, Wien, 19. Marz 1850, in: Sikular-Ausgabe, a. a. O., 11/4, S. 207.
182 Julia von Hebbel, in: a. a. O., 372.
Anmerkungen zu Band 1 577
183 Den Verstand in Ehren [Demetrius, Gedichte], in: Sakular-Ausgabe, a. a. O., 1/6, s.
noch Tagebiicher, Nr. 4320.
184 Uber den Seil des Dramas, in: Sikular-Ausgabe, a. a. O., 1/11, S. 66, 71 £.
185m. Akt.
186 1/4.
187 In: Sikular-Ausgabe, a. a. O., 1/2, S. 378 £.
188 Paul Ernst: Die Nibelungen: Stoff, Epos und Drama, in: Der Weg zur Form, a. a. O.,
8.170.
189 Vgl. die Briefe an Julius Glaser, 4. August 1858 und an Marie Prinzessin Wittgenstein,
2. Oktober 1858, in: Skular-Ausgabe, a. a. O., 11./6, S. 188 f. und 204, und Tagebii-
cher, Nr. 1011.
190 Emil Kub: a. a. O., Bd. 2, S. 618.
191 Tagebiicher, Nr. 5172.
192 Tagebiicher, Nr. 3871.
193 Wilhelm von Scholz: a. 2. O., S. 14.
194 Rudolf Kassner: Robert Browning, in: ders.: Die Mystik, die Kiinstler und das Leben,
aa. O., S. 221, 225 und 233,
195 Jobn Paulsen: Erinnerungen an Henrik Ibsen, Berlin 1907, S. 24 und Mine Eridringer,
Kjebenhavn 1900, $. 162.
196 Carl Bebrens: Friedrich Hebbel. Hans Liv og Digtning, Kjobenhavn 1905, S. 333 f.
197 Richard Maria Werner: Friedrich Hebbel als Dramatiker, in: Bihne und Welt,
1 (1898), 1, S. 10.
198 An Heinrich Theodor Rétscher, in: Sikular-Ausgabe, a. a. O., 1./2, S. 378-380.
199 Tagebuch, Nr. 3183, in: Simtliche Werke, a. a. O., Bd. 3, S. 760.
200 A.a.O., $13 f.
201 Das Drama und die moderne Weltanschauung, in: a. a. O., S. 28.
202 An Bjérntjerne Bjérnson, 12. September 1856, in: Simtliche Werke in deutscher
Sprache, Berlin 1898-1904, Bd. 10, S. 40.
203 uL/9.
204 Bernhard Shaw: Ein Ibsenbrevier. Die Quintessenz des Ibsenismus, Berlin 1908?,
S. 91 f. und 172.
205 Paul Ernst: Ibsen, Berlin, Leipzig 1904, S. 11-16.
206 An meinen Freund, den revolutioniren Redner, in: Samtliche Werke, a. a. O., Bd. 1,
S. 110.
207 Séren Kierkegaard: Entweder-Oder, Kiln, Olten 1960, Jubiliumsausgabe, Bd. 2,
S172.
208 iv. Ake.
209 In: Simtliche Werke, a. a. O., Bd. 1, S. 198.
210 An Georg Brandes, 17. Februar 1871, in: Simtliche Werke, a. a. O., Bd. 10, S. 159.
211 An Georg Brandes, 24. September 1871, in: Simtliche Werke, a. a. O., Bd. 10, S. 169.
212 An Peter Hansen, 28. Oktober 1870, in: Siimeliche Werke, a. a. O., Bd. 10, S. 150.
213 mt Ake.
214 v. Akt.
215 Rosmersholm, iv. Akt.
216 Vorspiel/13.
578 Anmerkungen zu Band 2
217 1. Akt.
218 An Theodor Rétscher, in: Sakular-Ausgabe, a. a. O., 1./2, S. 378.
a1g Erinnerungen von Julius Elias, Christianiafahrt, in: Die neue Rundschau, Bd. 17
(1906), S. 1459.
220 A.a.0.,5. 85.
zat v. Akt.
222 wv. Akt.
223 Siehe z. B. Jules Lemaitres Artikel iiber den neuen Einflu8 der nordischen Literatu-
ren, in: Les-Contemporains, Paris 1896, Bd. 6, S. 225-270.
aa4 An Georg Brandes, 11. Oktober 1896, in: Simtliche Werke, a. a. O., Bd. 10, S. 406.
225 Hebbel und die Entwicklung, Naturalismus, in: a. a. O., S. 190.
226 Ibsen, Epilog, in: a. a. Ou, S. 36.
Anmerkungen zu Band 2
43 Abgedruckt u.a. in: Amo Holz: Johannes Schlaf. Ein notgedrungenes Kapitel,
Miinchen 1905?, S. 19 f.
44 Préface de »L’Echéance le Thédtre vivante, in: Théitre vivant, Essai théorique et
pratique, Paris 1892, S. 11, und 14f.
45 In: Euvres Completes de Paul Verlaine, Paris 191, Bd. 1, S. 314.
48 Tristan Corbiére (1845-1875): CEuvres complites, ed. P.~O. Walzer, 1970; Jules
Laforgue (1860-1887): Poésies completes, ed. Dujardin, 1894; Gustave Kabn:
(1859-1936): »Symbolistes et décadente (1902), »Le vers libres (1912).
47 Art poétique, in: a. a. O., S. 313 f.
48 Jobn Constable: Eine Selbstbiographie aus Briefen, Tagebuchblittern, Aphorismen
und Vortriigen. Im Englischen zusammengestellt von C. R. Leslie. Gemeinsam mit
E. Millerrder iibersetzt und herausgegeben von Arthur Roessler, Berlin 1911,
S. 193.
49 Karl Bleibtren (1859-1928): »Revolution der Literatur« (1887) wurde zur Programm.
schrift des Frithnaturalismus; Konrad Alberti (1862-1918), Mitbegriinder der »Deut-
schen Bihnee.
so Studien zur Kritik der Moderne, in: Hermann Babr: Zur Uberwindung des Natura-
lismus, Theoretische Schriften 1887-1904, hreg. v. Gotthart Wunberg, Seuttgart 1968,
S. 133 f
Bahr gab 1891 seiner gegen die naturalistische Bewegung gerichteven Aufsatzsamm-
lung den Titel »Uberwindung des Naturalismus«.
51 Theodor Fontane: (Rezension von:] Arno Holz und Johannes Schlaf: Die Familie
Selicke, in: Simeliche Werke, Miinchen 1964, Bd. 22/2: Causerien tiber Theater,
S. 731.
52 Otto Erich Hartleben (1864-1905): »Die Erziehung zur Ehe« (1893), »Hanna Jagert«
(1893), »Rosenmontage (1900); Max Halbe (1865-1944): »Jugende (1893), »Mutter
Erde« (1897); Georg Hirschfeld (1873-1942): »Zu Hausee (1896), »Die Miitter«
(1896), »Nebeneinander« (1904).
53 Theodor Fontane: Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang, in: a. a. O., S. 713 f.
54 Adalbert von Hanstein: Gerhart Hauptmann. Eine Skizze, Leipzig 1898, S. 10.
55 Zwei Selbstanzeigen, in: Der Weg zur Form, a. a. O., S. 42.
55 u. Ake.
57 »Dieses Ziel (Endziel des Sozialismus), was immer es sei, ist mir gar nichts, die
Bewegung allese.
In: Eduard Bernstein: Zusammenbruchstheorie und Colonialpolitik (1898), in: Zur
Theorie und Geschichte des Socialismus. Gesammelte Abbandlungen, Teil n, Proble-
me des Socialismus, Berlin r904*, S. 95.
58 Herman Heijermans (1864-1924): »Die Hoffnung auf Segen«, deutsch rgor.
59 Philipp Langmann (1862-1931), Ssterreichischer autodidaktischer Arbeiterschrift-
seeller.
60 Octave Marie Henry Mirbean (1848-1917): »Les Mauvais Bergerse erschien 1898.
61 Frangois Curel (1854-1928): »Le repastu lions (1897).
62 Bjérnsterne Bjérnson (1832-1910): »Uber die Krafte, deutsch 1886.
63 Jobn Galsworthy (1867-1933).
64 Joris Karl Huysmans (1848-1907): »A Rebourse« (Roman), 1884, Neufassung 1903.
Anmerkungen zu Band 2 58r
128 Vier Thesen (1906) [1. These: Der Wille zum Zwang] in: Gedanken zum Drama.
Neue Folge, Miinchen 1915, S. 9-62.
rag v. Akt.
130m. Akt.
131m. Ake.
13a v. Akt.
133 Discours des trois unités d'action, de jour, et de lieu (1660), in: (Euvres de Pierre
Corneille, Paris 1862, Tome 1, S. 121.
134 mt. Ake.
135 Die Seufe des zuchtlosen Dichtertums (1907), in: Die Chronik des deutschen Dramas,
Berlin 1922, Bd. 2, S. 16. und 22 . Die Kritik bezieht sich auf Eulenbergs Drama
*Ulrich Fiirst von Waldeck«.
136 Die Generation von 1890, in: Wege zum Drama, Berlin 1906, S. 9-14.
137 Hofmannsthal und das neue Pathos, in: Wege zum Drama, a. a. O., S. 16 und 19 ff.
138. Venice Preserved (1682).
139 Paracelsus, 11. Auftritt.
140 1/8,
141 Der einsame Weg, 11/1.
142, Arthur Schnitzler, Der einsame Weg, in: a. 1. O., $. 138 f.
143 Vgl. z. B. Felix E. Scbelling: Elisabethan Drama 158-1642, Boston, New York 1908,
Bd. 2, Kapitel »Tragicomedy and Romances, S. 182-239.
1441. Akt.
145 Jené Rékosi: A tragikum, Budapest 1886.
146 Der Wein, Eine Dorfgeschichte von Géza Gérdonyi, Deutsches Volkstheater, 21. Fe-
bruar 1903, in: Theater. Kritiken, Vortrige und Aufsitze, Wien 1905, Bd. 2, S. 138.
585
Band 1
Vorwort
Band
Der Naturalismus als eine der Ausdrucksmittel des Lustspiels: das gro-
teske Lustspiel. Courteline und Wied. Wedekind und der Naturalismus.
Die Auflésung der Tragédie in den grotesken Wirkungen. Der Dialog.
Die dilettantische Technik. Wedekinds Entwicklung und Welt.
Shaws Stellung in der Entwicklung. Sein Kampf gegen die Tragédie;
dessen soziologische Ursachen, Shaws Sozialismus und Gesellschaftskri-
tik. Der neue Heldentyp. Die Verspottung der biirgerlichen Romantik.
Die Lebenskraft der neuen Weltanschauung. Shaws Verhiltnis zur Tra-
gédie. Formlosigkeit seiner Dramen und ihre Ursachen.
Personenregister
Dante, Alighieri 358, 435 f., 482 Galsworthy, John 367, 456
Darwin, Charles 332 Garborg, Anna 523
Daumier, Honoré 471 Girdonyi, Géza 546, 552-554, 556
Degas, Edgar 286, 471 Gaugin, Paul 68
Dehmel, Richard 496 Gautier, Théophile 201
Dickens, Charles 457 Geibel, Emanuel 333
Diderot, Denis 49, 73, 76, 87, 173, George, Stefan 436 f.
191 f., 293, 359) 569 Giacosa, Giuseppe 378
Dilthey, Wilhelm 71, 139 f. Gide, André 41, 496, 499 f., 505,
Donnay, Maurice 379-383, 385-387, $20
391s 393» 399» 401; 404; 439) 456, Giotto di Bondone 358
Sst Goethe, Johann Wolfgang von 56,
Dostojewski, Fedor Michailowitsch 74 83-85, 98, 103, 110, 112,
497 118 f., 131, 147 £., 150, 152-156,
Dumas, Alexandre 180-186, 160-162, 165, 167 f., 170-179,
193-19$, 202, 263, 292 f., 329, 199, 203, 218, 244, 291, 314, 422,
380, 430 499» 508, $30, $46
Gogol, Nikolai 465
Eloesser, Arthur 293 Goldmann, Lucien 566, 569
d’Ennery, Adolphe Philippe 329 Goldsmith, Oliver 49
Ernst, Paul 32 f., 68, 82, 120, 178, Goncourt, Edmond de 60, 200 f.,
239s 24$, 251, 261, 352-354) 375) 281-290, 297, 326, 349, 379
429, 469, 497 f., 500, 502-507, Goncourt, Jules de 201, 281-290,
53% $332 $37, $66 297, 326
Eschenhagen, Wieland 571 Gorkij, Maxim 14, 357, 359, 361 £.,
Eulenberg, Herbert 497, 508 f. 367
Euripides 26, 36, 50, 99, 428 Gotthelf, Jeremias 310
596 Personenregister