Sie sind auf Seite 1von 13

Formeln der Kunst (15)

Ende der Kunst


25.6.2004

am Ende von zwei Semestern und nach einem Durchlauf durch ca. drei Jahrhunderte Geschichte
des Kunstbegriffs wird heute eine Wendung behandelt, die postuliert, dieser Begriff habe sich
erschöpft - nachdem er eine Geschichte gehabt habe, sei er nun nur noch Geschichte
vom "Ende der Kunst" zu sprechen, klingt dramatisch und vielleicht sogar pathetisch - wer diese
Wendung gebraucht, ist offenbar nicht der Überzeugung, daß Kunst eine überzeitliche
anthropologische Konstante ist, sondern erkennt an, daß das, was in der abendländischen Kultur
als 'Kunst' bezeichnet wird, etwas Besonderes und zeitlich Begrenztes ist - so wie eine Religion,
die in einer bestimmten historischen Situation entsteht, eine Hochphase hat und schließlich
wieder an Bedeutung verliert
wer vom E.d.K. spricht, meint damit ja nicht das Ende aller Bilder bzw. bildnerischen
Tätigkeiten des Menschen, meint wohl auch nicht das Ende aller qualitativ hochstehenden
Bilder - sondern meint das Ende eines bestimmten Verständnisses von Bildern, Skulpturen etc.
typisch für dieses Verständnis von Bildern als Kunst ist es, zu glauben,
> daß Bilder etc. in einem tieferen Sinn Wahrheiten offenbaren können - Wahrheiten, die nichts
anderes ähnlich klar und direkt offenbart
> daß Bilder etc. therapeutische, befreiende, läuternde Qualitäten besitzen können - und man
Hoffnungen auf sie setzen kann
> daß Bilder etc. andere Dimensionen besitzen können neben denjenigen, die sich aus
handwerklich-technischen Fertigkeiten - aus Know-how - ergeben
> daß man sich Bildern etc. mit Geduld, vielleicht auch immer wieder nähern muß, bis sie sich
erschließen - daß sie vieldeutig, unerschöpflich, aber auch schwer zugänglich sind
diese Bestimmungen trennen in der Moderne Werke der Kunst klar von Produkten anderer Art
- z.B. von Illustrationen in Lehrbüchern, Pressefotos, Wahlplakaten, Werbung, Besteck, Autos
etc., denen gegenüber man jeweils andere Erwartungen hat und die man auch ganz anders
wahrnimmt
diese Unterschiede in der Wahrnehmung erlauben auch Kontextwechsel von Bildern mit
überraschenden Folgen - vgl. h.a.l.: ein Bild aus einem trivialen Kontext kann auf einmal
faszinieren, wenn es den Wahrnehmungsbedingungen von Kunst unterworfen wird - es
überrascht dann, wirkt unverbraucht, neu, fremd, bizarr
=> E.d.K. kann heißen: diese Wahrnehmungsbedingungen gehen verloren, weil z.B. Zweifel
darüber aufkommen, ob Bilder etc. wirklich besser als anderes besondere Wahrheiten
offenbaren können - oder weil die Entfremdungserfahrungen an Heftigkeit nachlassen und
deshalb auch keine Gegeninstanzen mehr ersehnt werden, auf Bilder etc. also keine
transzendenten Hoffnungen mehr projiziert werden
aber natürlich kann E.d.K. ebenso heißen: es wird darüber geklagt, daß keine Bilder mehr
entstehen, die die an sie gestellten Erwartungen erfüllen - die Realität der Kunstpraxis scheitert
sozusagen am Begriff von Kunst und an dessen Postulaten - beklagt wird ein Niedergang der
Kunst, was freilich damit zu tun haben kann, daß man auch zu hohe Ansprüche an diese stellt
beide Positionen tauchen (oft auch in Vermischung) auf, wenn das E.d.K. proklamiert wird:
> entweder wird die Kunst nicht mehr als zentraler Ort kulturellen Lebens angesehen - ihr wird
ein singulärer oder exzeptioneller Status abgesprochen (immerhin gibt es vielleicht ja anderes,
was ihre einstige Rolle nun einnimmt - oder es besteht kein Bedarf mehr für eine solche Rolle)
> oder es wird kulturkritisch lamentiert, daß die Kunst nicht mehr leiste, was sie früher einmal
geleistet habe - sie bleibe hinter ihrem Begriff zurück
im ersten Fall wird der Begriff der Kunst selbst einer Revision unterzogen und Erwartungen
1
bzw. Anforderungen, die einmal an die Kunst gestellt wurden, werden zurückgenommen
im zweiten Fall wird auf einem hohen Kunstbegriff beharrt oder wird dieser gar noch auf die
Spitze getrieben
doch es gibt nicht nur diese beiden grundsätzlichen Ausrichtungen des Slogans vom E.d.K.,
sondern die Wendung hat selbst bereits eine längere Geschichte - das E.d.K. wurde dabei auch
immer wieder an anderen Werken festgemacht
die erste - berühmte - Diagnose eines E.d.K. stammt tatsächlich bereits aus dem ersten Drittel
des 19. Jhdts. - von Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Hegel hat als einer der ersten die Geschichte zu einem Thema der Philosophie erhoben - für ihn
hat die Geschichte ein Ziel, ist ein sinnvoller Prozeß, eine Entfaltung des Geistes - d.h.: der
Geist bemächtigt sich im Verlauf der menschlichen Geschichte immer mehr der Materie, die
Welt wird immer mehr Form und Gestalt, schließlich überwindet der Geist seine materielle
Bindung und wird rein Gedanke bzw. Reflexion
im Verlauf dieser Geistes-geschichte prägt der Geist immer wieder andere Zentren aus,
verkörpert sich in jeweils anderen Bereichen des kulturellen Lebens, zeigt sich in anderer
Gestalt - die Zentren des Geistes sind zugleich die Zentren der jeweiligen Kultur
in einer Phase dieser Entwicklung war für Hegel auch die Kunst ein Zentrum - höchster
Ausdruck des Geistes - doch im Zuge von dessen Weiterentwicklung hat sie diese heraus-
ragende Stellung eingebüßt und ist an ihr Ende als geschichtsbildende Macht gekommen
in den 1820er Jahren hielt Hegel an der Universität in Berlin mehrmals eine Vorlesung über
Ästhetik - darin entfaltet er seine Theorie von der Geschichte der Kunst als Teil einer
Geschichte des Geistes - und behauptet (zwar nicht wörtlich, aber sinngemäß) das E.d.K.
"...eben ihrer Form wegen ist die Kunst (...) auf einen bestimmten Inhalt beschränkt. Nur ein
gewisser Kreis und Stufe der Wahrheit ist fähig, im Elemente des Kunstwerks dargestellt zu
werden; es muß noch in ihrer eigenen Bestimmung liegen, zu dem Sinnlichen herauszugehen
und in demselben sich adäquat sein zu können, um echter Inhalt für die Kunst zu sein, wie dies
z.B. bei den griechischen Göttern der Fall ist. Dagegen gibt es eine tiefere Fassung der
Wahrheit, in welcher sie nicht mehr dem Sinnlichen so verwandt und freundlich ist, um von
diesem Material in angemessener Weise aufgenommen und ausgedrückt werden zu können. (...)
vor allem erscheint der Geist unserer heutigen Welt, oder näher unserer Religion und unserer
Vernunftbildung, als über die Stufe hinaus, auf welcher die Kunst die höchste Weise ausmacht,
sich des Absoluten bewußt zu sein. Die eigentümliche Art der Kunstproduktion füllt unser
höchstes Bedürfnis nicht mehr aus; wir sind darüber hinaus, Werke der Kunst göttlich verehren
und sie anbeten zu können. (...) so ist es einmal der Fall, daß die Kunst nicht mehr diejenige
Befriedigung der geistigen Bedürfnisse gewährt, welche frühere Zeiten und Völker in ihr
gesucht und nur in ihr gefunden haben."1
> nur Wahrheiten, die sich veranschaulichen lassen, sind auch durch die Kunst zu formulieren -
theoretisch komplexe Sachverhalte hingegen lassen sich nicht darstellen
> insofern nach Hegel der menschliche Geist - im Rückblick auf eine längere Geschichte - zu
mehr Reflexion neigt, wird das Leben theorieorientierter - und insofern findet es nicht mehr in
der Kunst seine höchste Erfüllung - eine gewisse unschuldige Faszination an schönen Formen
oder sinnlichen Darstellungen ist verloren gegangen, vielmehr wird über jede Form und
Darstellung sogleich geurteilt - eben reflektiert - der emanzipierte Geist ist durch nichts mehr
wirklich zu überraschen und zu überwältigen, kennerhaft vermag er alles zu goutieren und
einzuordnen, aber besitzt auch so viel Routine, daß er über alles mit einer gewissen
Gleichgültigkeit hinweggeht
> während die Kunst ehedem ein Monopol besaß, wenn es darum ging, den Menschen geistig zu

1 G.W.F. Hegel, Vorlesungen zur Ästhetik, Stuttgart 1971, S. 47ff.


2
erfüllen, ist sie jetzt höchstens noch von peripherem Interesse - Hegel idealisiert (typisch für
seine Zeit) v.a. die griechische Antike und sieht in ihr eine Epoche, in der die Gestaltungskraft
der Kunst und die Bedürfnisse des Geistes voll zur Geltung gekommen seien
war die noch frühere Kunst - die ägyptische oder auch die archaisch-griechische - für ihn noch
befangen im Material, mehr Intention als bereits wirkliche Gestaltung, so gelangte die Kunst des
klassischen Griechentums zu einer vollständigen Harmonie zwischen Form und Gedanke -
zwischen Intention und Umsetzung
erst als der Geist abstrakter wurde, reflexiver, ging diese Harmonie wieder verloren - die Kunst
wurde nun zwar ihrerseits gedanklicher, doch damit gab sie gerade ihre besondere Qualität preis
- und sie konnte nicht Schritt halten mit der Vergeistigung der Welt
für Hegel markiert das Christentum die erste Stufe einer Vergeistigung - sind die griechischen
Götter unmittelbare Versinnbildlichungen und Gestaltungen jeweils bestimmter Lebenserfah-
rungen bzw. Phänomene, so ist der christliche Gott bereits viel abstrakter - fast bildlos - die
Lehre des Christentums läßt sich zwar in Form von Gleichnissen noch andeuten, doch sie besitzt
immer einen Überschuß, der sich nicht versinnbildlichen läßt - entsprechend ist der christlichen
Lehre Schönheit kein zentraler Wert mehr, sondern Mitleid oder Bescheidenheit - Christus
stirbt mit geschundenem Körper, er ist gerade keine griechische Göttergestalt, die ihre Wirkkraft
aus ihrer Schönheit gewinnt - das Christentum steht auf der Seite der Armen, Kranken, Schwa-
chen und ist insofern auch nicht über eine Kunst nahezubringen, die Schönheit - Größe und
Stolz - verkörpert - im Christentum trennen sich das Wahre und Gute vom Schönen, womit eine
Einheit verloren geht, die nach Hegel gerade die klassische Kunst der Griechen auszeichnete
der Protestantismus wird noch bildloser, der Gott noch abstrakter, die Lehre noch strenger,
Schönheit wird sogar ausdrücklich verworfen - d.h. hier wird auch erstmals klar formuliert, daß
Bilder nicht mehr im Zentrum der Glaubenserfahrung stehen dürfen - die Religion hat sich von
der Kunst emanzipiert, sie ist für Hegel zum neuen Zentrum geworden, zum neuen Mittelpunkt
der Orientierung für den Menschen
doch treibt die Religion ihrerseits über sich hinaus - der Geist wird noch abstrakter, gibt auch
die emotionale Bindung noch auf, die in jeder Religion steckt
die Geschichte des Geistes gelangt nach Hegel in ihr Ziel und damit auch Ende, wenn der Geist
sich in reinem Denken manifestiert - dann wird die Philosophie, die völlige Selbsterhellung
durch Reflexion, zum neuen und letzten Zentrum des Menschen werden
indem er selbst die Geschichte des Geistes sowie deren Sinn als erster zu durchschauen glaubte,
meinte Hegel auch, mit ihm begänne diese letzte Periode des Geistes - dieser habe zu sich selbst
gefunden, die Geschichte habe sich vollendet, indem sie selbst zum Thema geworden sei
(Erkenntnis der Geschichte = Ende der Geschichte)
wohlgemerkt: Hegel behauptet nicht, daß es keine Kunst mehr gibt - sie ist aber nur noch ein
beliebiger Bereich neben anderen - Kunstwerke werden weiterhin entstehen und auch Gefallen
finden oder Diskussionen auslösen
dies genügte Hegel jedoch nicht - sein Begriff von Kunst war so hoch und anspruchsvoll, daß er
für frühere Epochen einen entsprechend innigeren Umgang mit Kunst voraussetzte ("göttlich
verehren und anbeten"), was historisch freilich zweifelhaft ist - vielmehr war das verehrend-
erwartungsvolle Verhältnis gegenüber Kunstwerken ja etwas ziemlich Neues - daß Kunst zum
Gegenstand der Reflexion wurde, beweist eher die gewachsene Bedeutung, die man ihr
zusprach, als eine Distanzierung von ihr
als Hegel seine Thesen zur Kunst formulierte, entstand einerseits gerade die Kunstgeschichte als
wissenschaftliche Disziplin, andererseits das Museum als Ort der Kunst - beides belegt für
Hegel, daß über Kunst zwar reflektiert wird, daß diese damit aber auch immer gleich ad acta
gelegt wird, verstaut in historischen Schubladen - er erkennt in Museum und Wissenschaft keine
Institutionen, deren Entstehen auch als Folge eines gestiegenen Interesses an Kunst gedeutet
3
werden könnte
"In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung
für uns ein Vergangenes. Damit hat sie für uns auch die echte Wahrheit und Lebendigkeit
verloren und ist mehr in unsere Vorstellung verlegt, als daß sie in der Wirklichkeit ihre frühere
Notwendigkeit behauptete und ihren höchsten Platz einnähme. (...) Die Wissenschaft der Kunst
ist darum in unserer Zeit noch viel mehr Bedürfnis als zu den Zeiten, in welchen die Kunst für
sich als Kunst schon volle Befriedigung gewährte. Die Kunst ladet uns zur denkenden
Betrachtung ein, und zwar nicht zu dem Zwecke, Kunst wieder hervorzurufen, sondern, was die
Kunst sei, wissenschaftlich zu erkennen."2
> die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kunst ist nur ein Ersatz für ein inniges Verhältnis -
und wer philosophisch danach fragt, was Kunst ist, bezeugt für Hegel ebenfalls bereits ein
gebrochenes Verhältnis - an die Stelle selbstverständlicher Faszination ist ein skeptisches
Räsonnieren getreten, an die Stelle unmittelbarer Auseinandersetzung eine historische
Einordnung
doch für Hegel zeigt nicht nur die Art der Kunstrezeption an, daß Kunst nur noch ein Sujet der
Reflexion ist und nicht mehr selbst das Zentrum, auf das hin alles andere sich orientiert -
vielmehr lassen auch die Kunstwerke selbst erkennen, daß Kunst nicht mehr mit letztem Ernst
und höchster Innigkeit betrieben wird - die Themen sind geradezu beliebig geworden
"In unseren Tagen hat sich fast bei allen Völkern die Bildung der Reflexion, die Kritik, und bei
uns Deutschen die Freiheit des Gedankens auch der Künstler bemächtigt und sie in betreff auf
den Stoff und die Gestalt ihrer Produktion (...) sozusagen zu einer tabula rasa gemacht. Das
Gebundensein an einen besonderen Gehalt und eine nur für diesen Stoff passende Art der
Darstellung ist für den heutigen Künstler etwas Vergangenes und die Kunst dadurch ein freies
Instrument geworden, das er nach Maßgabe seiner subjektiven Geschicklichkeit in bezug auf
jeden Inhalt, welcher Art er auch sei, gleichmäßig handhaben kann. (...) Kein Inhalt, keine Form
ist mehr unmittelbar mit der Innigkeit, mit der Natur, dem bewußtlosen substantiellen Wesen
des Künstlers identisch; jeder Stoff darf ihm gleichgültig sein, wenn er nur dem formellen
Gesetz, überhaupt schön und einer künstlerischen Behandlung fähig zu sein, nicht widerspricht.
Es gibt heutigentags keinen Stoff, der an und für sich über dieser Relativität stände, und wenn er
auch darüber erhaben ist, so ist doch wenigstens kein absolutes Bedürfnis vorhanden, daß er von
der Kunst zur Darstellung gebracht werde."3
> auch die Künstler sind mit ihrem Denken eigentlich schon über die Kunst hinaus - sie ist für
sie nicht mehr unmittelbarer Ausdruck des Geistes - sie denken sozusagen nicht mehr in
Bildern, sondern versuchen nachträglich, für ihre Gedanken und Ideen Bilder zu finden -
deshalb sind die Möglichkeiten der Kunst für sie ein "freies Instrument", die Geschichte der
Kunst stellt ihnen ein Repertoire zur Verfügung, aus dem sie sich nach Belieben bedienen
=> alle Themen und Stile bilden das Potenzial des Künstlers - er kann alles "gleichmäßig
handhaben"
"Er legt zwar auch jetzt noch sein Genie hinein, er webt von seinem eigenen Stoffe hindurch
(...); die nähere Individualisierung hingegen ist nicht die seinige, sondern er gebraucht in dieser
Rücksicht seinen Vorrat von Bildern, Gestaltungsweisen, früheren Kunstformen, die ihm, für
sich genommen, gleichgültig sind und nur wichtig werden, wenn sie ihm gerade für diesen oder
jenen Stoff als die passendsten erscheinen."4
> Hegel denkt hier z.B. an die Nazarener, die sich des Stils der Frührenaissance bedienten, um
2 Ebd., S. 50.

3 Ebd., S. 674.

4 Ebd., S. 675.
4
eine ihnen ideal erscheinende Epoche zu vergegenwärtigen - Hegel denkt ebenso an romanti-
sche Maler, die aus Mittelalterverehrung den gotischen Stil imitieren - jeweils gibt hier eine Idee
bzw. ein Gedanke - z.B. der Wunsch einer einigen Religion - den Stil und auch die Themenwahl
vor [Dia: Schnorr von Carolsfeld, Verkündigung (1820)]
d.h.: der jeweilige Stil eines Kunstwerks ergibt sich nicht 'unmittelbar', er wächst nicht
gleichsam aus dem Genie des Künstlers heraus, so daß dieser selbst nicht weiß, wie ihm
geschieht, sondern der Stil wird kalkuliert gewählt, bewußt aus einer Bandbreite an Mög-
lichkeiten ausgesucht - er ist ein rhetorisches Mittel und insofern etwas Äußerliches, 'Entwur-
zeltes'
liest man Hegels Kunstanalyse aus heutiger Sicht, dann mag man den Text für weit voraus-
schauend halten - der Schluß ist möglich, Hegel habe hier bereits die Postmoderne vor-
ausgedacht - viel besser noch als auf die Kunst seiner Zeit passen die Bestimmungen auf die
gegenwärtige Kunst:
> das Primat der Reflexion, des Gedankens, der Idee - man denke z.B. an Konzept-Kunst, aber
auch an Künstler wie Beuys, deren Arbeit eine Weltanschauung zugrundeliegt, die dann in
Bilder übertragen werden soll
> die Freiheit im Stilistischen: ein Großteil der Kunst besteht aus Zitaten oder Anspielungen -
auf vergangene Kunst wird ebenso rekurriert wie auf außerkünstlerische Stilformen - viele
Künstler beherrschen verschiedene Bildsprachen und setzen sie je nach Thema ein (z.B. Polke,
Trockel, Gonzalez-Torres)
was in der Postmoderne jedoch eher als positiv vermerkt wird - die Offenheit und der Pluralis-
mus der Kunst -, das war für Hegel Beleg für eine Gleichgültigkeit - der Vorwurf der
Beliebigkeit, der in der Moderne zum Topos werden sollte, steht hier (erstmals) im Raum
Beliebigkeit als Kriterium für ein Ende oder zumindest eine epochale Schwäche der Kunst - das
wurde auch in der Nachfolge Hegels und infolge seines Einflusses immer wieder konstatiert
der wichtigste Ästhetiker der Hegel-Schule war Friedrich Theodor Vischer - zugleich eine der
schillerndsten Figuren des 19. Jhdts. (flog als junger Professor wegen einer zu flotten
Antrittsvorlesung von der Uni Tübingen, begeisterte sich für die Revolution von 1848 und
wurde auch Abgeordneter der Nationalversammlung in Frankfurt, war einer der ersten, der sich
für Tierschutz einsetzte, schrieb ferner einen Roman mit dem Titel "Auch einer")
in seinen Texten zur damals zeitgenössischen Kunst zeigte er sich skeptisch und übernahm
Hegels Analyse weitgehend
"Wir malen alles und noch einiges Andere. Wir malen Götter und Madonnen, Heroen und
Bauern, so wie wir griechisch, byzantinisch, maurisch, gotisch, florentinisch, à la Renaissance,
Rokoko bauen und nur in keinem Stil, der unser wäre. Wir malen, was der Welt Brief ausweist;
wir sind der Herr Überall und Nirgends. Da ist keine Mitte, keine Hauptgattung, kein
Hauptgericht zwischen all den Zuspeisen, Süßigkeiten, Zuckerbäckereien, unter denen die Tafel
seufzt. Reflektierend und wählend steht jetzt der Künstler über allen Stoffen, die jemals
vorhanden waren und sieht den Wald vor Bäumen nicht. Dies ist das bedenkliche Prognostikon
unserer modernen Kunst. (...) Unsere Kunst ist entwurzelt, sie flattert bodenlos in den Lüften,
weil sie nicht eine absolut gegebene Welt von Stoffen mit der Substanz des Volksbewußtseins
gemein hat; sie ist heimatlos, ein Vagabund, der alles kennt und kostet und dem es mit nichts
Ernst ist, unsere Kunst ist der Verstorbene..."5
> auch Vischer sieht ein E.d.K. verursacht durch ein Mehr an Reflexion - der Künstler hat die
Unmittelbarkeit eingebüßt - er ist sich der Geschichte der Kunst bewußt geworden und bezieht
sich damit immer auswählend auf diese, anstatt noch seine eigene Mitte zu finden - hier wird

5 F.Th. Vischer, Zustand der jetzigen Malerei (1842), in: Kritische Gänge V, München
2
1922, S. 37.
5
sichtbar, welche Irritationen die Entdeckung der Geschichte im 19. Jhdt. ausgelöst hat! - man
sah darin ein Ende der Unschuld, fühlte sich entmündigt, überrollt vom Wissen über andere
Epochen, war aber auch beunruhigt angesichts der Einsicht, wie vieles vermeintlich ewig
Gültige relativ wird vor dem Hintergrund der Geschichte
> bei Vischer kommt stärker als bei Hegel ein nationales Element in die Debatte: er äußert die
Überzeugung, daß jede echte Kunst aus dem Boden eines Volks wachsen müsse - d.h. auf der
Basis fester Werte, einer innigen Gemeinschaft und Verbundenheit der Menschen untereinander
- nur dann bildet sich eine eigene 'corporate identity', d.h. ein Stil, eine eigene Form, die der
Künstler zu Blüte zu bringen vermag - bei der Kunst seiner Zeit empfindet er das Nationale als
nur aufgesetzt, als illustrativ, nicht aus echtem Empfinden herausgewachsen (Kritik an
Kaulbach etc.) [Dia: A. Rethel, Einzug Karls des Großen in Pavia (1850)]
> stärker als bei Hegel kommt bei Vischer jedoch eine negative Konnotation ins Spiel: während
für Hegel das E.d.K. sogar begrüßt wird, da es ein Fortschreiten des Geistes markiert, ist es für
Vischer eher Zeichen einer allgemeinen Wurzellosigkeit und Entfremdung des Menschen - er
konstatiert nicht nur Reflexion als Ursache von Beliebigkeit, sondern ebenso Rationalismus als
eine der Kunst feindliche Kraft - d.h. auch: während viele andere Theoretiker die Kunst als
Gegeninstanz zur modernen Arbeits- und Lebenswelt ansahen, wird sie bei Vischer zu einem
Opfer dieser entfremdeten Lebensverhältnisse
> allerdings glaubt Vischer nicht an ein endgültiges E.d.K. - vielmehr ist er soweit Romantiker,
daß er auch dem dreiphasigen Geschichtsbild anhängt: er gibt sich überzeugt, daß irgendwann
eine neue innige Gemeinschaft jenseits von Technik und Entfremdung entstehen kann, auf deren
Grundlage ein neuer Stil und damit eine neue - einheitliche und unmittelbare - Kunst wächst
mit Vischer beginnt eine lange Tradition der Kulturkritik, die v.a. in Deutschland sehr dominant
war - in Entwicklungen von Technik, Wissenschaft und Lebenswelt sah man eine Bedrohung
für Kultur, Religion, alle traditionellen Werte - der "Fabrikgeist" zehre alle Formen auf, klagt
Vischer, die Mechanisierung halte überall Einzug und zerstöre die Individualität des Künstlers6
die Entwicklung der Kunst wird von Kulturkritikern entweder als ein Symptom der neuen Welt
gedeutet - oder aber sie läßt die Kunst als deren Opfer erscheinen
z.B. Victor Auburtin (1870-1928), Feuilletonist und Schriftsteller, veröffentlichte 1911 das
Buch "Die Kunst stirbt" - darin heißt es gleich zu Beginn:
"Die Kunst stirbt an der Masse und an der Nützlichkeit. Sie stirbt, weil der Boden, den sie
braucht, verbaut wurde, der Boden der Naivität und des Wahnes. Ich glaube fest, daß wir in
zweihundert Jahren keine Künstler und keine Dichter mehr haben werden. Wohl aber werden
wir eine Patentmaschine haben, mit der man in einer Minute sechzig zementene Apollos von
Belvedere anfertigen kann."7
> auch hier werden zuerst die üblichsten Vorbehalte gegen die Moderne angesprochen: die
Moderne ist zum einen das Zeitalter der Massen, d.h. das Zeitalter, in dem alles mechanisch
produziert wird und aus Gründen der Effizienzsteigerung kein Raum mehr ist für die
Anfertigung von Einzelstücken - damit ist auch kein Raum mehr für Besonderes, für Groß-
artiges, Herausragendes: für Kunst - alte Meisterwerke werden massenhaft reproduziert, für
neue fehlt es an Geduld - die Moderne ist zum anderen das Zeitalter der Nützlichkeit, indem
eben alles nach Effizienzgesichtspunkten beurteilt wird - Zweckfreies, nicht unmittelbar in
materiellen Werten zu Bezifferndes wie die Kunst hat hier keinen Platz
> Naivität und Wahn werden von Auburtin als Voraussetzungen der Kunst bezeichnet - ersteres
erinnert an die Bestimmung von Hegel und Vischer - die Moderne ist das Zeitalter der
Reflexion und des Geschichtsbewußtseins - die Unmittelbarkeit ist dadurch verloren gegangen -
6 F.Th. Vischer, Kunstbestrebungen der Gegenwart, In. Ebd., S. 72.

7 Victor Auburtin, Die Kunst stirbt, München 1911, S. 7.


6
zweiteres (Wahn) läßt den Genie-Begriff anklingen: Kunst ist darauf angewiesen, daß es
Menschen gibt, die gegen Konventionen verstoßen, die anders und stärker empfinden als der
Durchschnitt und die deshalb sogar als verrückt angesehen werden - für solche Menschen ist in
einem uniformierenden Massenzeitalter kein Platz mehr, sie werden wegrationalisiert
insofern die Kunst sich auf extreme Individualisten stützt, die der Mehrheit anormal bzw.
wahnsinnig erscheinen, läßt sie sich sogar als Ausdruck einer Krankheit deuten - Auburtin stellt
deshalb auch ironisch-zynisch fest:
"Die Kunst ist zu Ende. Und es wird gefragt werden müssen, ob es ohne sie nicht geht, ob es
nicht ohne sie schon gegangen ist. Zu untersuchen wird sein, ob die Kunst nicht eine schüttelnde
Fieberkrankheit war, die wir uns jetzt glücklich wieder auskurieren. Eine Krankheit, die wir
etwa von den Griechen übernommen haben. (...) Kunst ist Krankheit; eine Krankheit, deren
Diagnose kein Arzt gegeben hat. Kein Mensch - mit Ausnahme der Akademieprofessoren, aber
die fragt ja niemand -, kein Mensch weiß zu sagen, was Kunst ist."8
> ohne Fieber aber auch keine Phantasien - und keine gesteigerte Empfindsamkeit/Sensibilität -
Auburtin beklagt, daß der Mensch in der Moderne durch die Uniformierung, durch die
Mechanisierung, durch die regelmäßige und viele Arbeit abgestumpft sei - er behauptet, es gebe
weniger Leidenschaften als früher - die Herzen der Menschen seien versteinert, man lasse starke
Gefühle nicht mehr zu - so vermöge man nicht mehr wirklich zu lieben, und auch der Krieg sei
aus der Mode gekommen - damit seien die beiden großen Themen und Stimulantien der Kunst
verschwunden - neue Themen gebe es aber auch nicht, da der modernen Welt jegliche Poesie
abgehe - deshalb würden immer wieder die alten Sujets aufgenommen, aber eben ohne
Leidenschaft und ohne neue Impulse
=> auch Auburtin formuliert den Vorwurf der Beliebigkeit moderner Kunst - die Künstler
können nur immer wieder auf das Repertoire alter Themen zurückgreifen, weil alles bereits
gemalt ist:
"Die Malerei geht an Auszehrung zugrunde, weil sie keine Nahrung mehr hat, weil nichts
Frisches mehr zu malen ist. (...) Sollen wir in alle Ewigkeit Kartoffelfelder und Dünen malen
oder Sonnenuntergänge über schottischen Mooren; in alle Ewigkeit holländische Biergärten und
flämische Waisenanstalten? Oder kehren wir der Abwechslung halber einmal wieder zur
romantischen Vedute zurück, zu den rauschenden Wasserfällen oder zu den düsteren Felsen mit
ragenden Ritterburgen obendrauf? Ein Ekelgefühl steigt uns in den Hals. (...) Die Malerei hat
abgewirtschaftet; sie ist tot."9
immerhin: Auburtin schreibt solche Sätze zu einer Zeit, die im Nachhinein als eine der
spannendsten und innovativsten in der Geschichte der Kunst und gerade der Malerei gilt! - doch
geht er auf Kubismus, Futurismus, Fauvismus, auf "Die Brücke" oder andere Richtungen seiner
Zeit gar nicht ein (auch nicht negativ!)
für ihn scheint ohnehin bereits alles entschieden: anders als Vischer schließt Auburtin aus, daß
das Zeitalter von Technik und Wissenschaft, von Kapitalismus und Rationalisierung
überwunden werden könne und die Rückkehr zu alten Gemeinschaftswerten möglich sei
so wie die moderne Technik mit all ihren Folgen etwas grundlegend Neues und Anderes gegen-
über der gesamten Menschheitsgeschichte darstellt, so ist es für Auburtin geradezu 'logisch', daß
sich dadurch auch die Koordinaten der Kultur verschieben - Kunst war zentral für eine
vorindustrielle Welt, so wie Konsum, Effizienz und Wohlstandssteigerung für eine technisierte
Welt zentral sind
mit dieser definitiven Absage an eine Zukunft der Kunst unterscheidet sich Auburtin von den
meisten anderen Kulturkritikern - wenn diese ein E.d.K. diagnostizieren, dann meinen sie im
8 Ebd., S. 8, 68.

9 Ebd., S. 51.
7
Grunde nur eine Krise der Kunst, ein Ende der bisherigen Kunst, der jedoch unbedingt eine
neue Kunst folgen werde - für sie bleibt Kunst eine anthropologische Konstante, d.h. der
Mensch wird als das Wesen definiert, das zu Kunst fähig ist und Kunst auch braucht
freilich: die Krise der Kunst, ihr vorläufiges Ende wird immer wieder etwas anders begründet
und historisch auch sehr unterschiedlich verankert
während es Vischer und Auburtin erst auf den Beginn des 19. Jhdts. terminieren - eben in
Parallele zur Industrialisierung setzen -, konstatieren andere es bereits viel früher (wie ja auch
Hegel, für den das Ende der griechischen Antike gleichbedeutend ist mit dem E.d.K.)
das ist bemerkenswert, weil es einen Verdacht entkräftet, den man gegen alle Theoretiker vom
E.d.K. am liebsten vorbringen würde: man unterstellte ihnen gerne, sie wären eben konservative
Menschen, die mit der jeweils neuesten Kunst nicht zurecht kommen und die deshalb gleich ein
E.d.K. insgesamt behaupten
wenn nun aber eine Krise oder das E.d.K. z.T. schon Jahrhunderte früher angesetzt wird, dann
handelt es sich um mehr und anderes denn bloße Ressentiments gegen das jeweils Aktuellste
ein Beispiel für eine kulturkritische Position, die das E.d.K. schon erheblich früher festsetzt und
wesentliche Teile der Kunstgeschichte zum Symptom dieses Endes erklärt:
einer der berühmtesten deutschen Kunsthistoriker der ersten Jahrhunderthälfte, Wilhelm Pinder,
entwickelte die vielleicht markanteste und auch merkwürdigste Theorie vom E.d.K.
für ihn ist jede wahre Kunst primär Gottesdienst, ist Audruck eines starken Glaubens einer
starken Gemeinschaft (vgl. Vischer) und zugleich wirksamstes Mittel, um diesen Glauben einer
einheitlichen Gemeinschaft weiter zu stabilisieren
als Beispiel für seine These (wahre Kunst = Gottesdienst) dient ihm die Kunst des frühen und
hohen Mittelalters - er verweist etwa auf Figuren auf Säulenkapitellen, die von einem Besucher
der jeweiligen Kirche gar nicht gesehen werden können, die also - so seine Deutung - zur Ehre
Gottes gemacht wurden - er verweist auch auf die große, selbstlose Anstrengung, die ein
Kathedralbau den Menschen abverlangt hat, der nur als Leistung einer in starkem Glauben
verbundenen Gemeinschaft möglich gewesen sei
der 'Sündenfall' setzt für ihn in dem Moment ein, in dem Werke auf einen Betrachter hin
angelegt werden - in der Malerei geschieht dies mit der Entwicklung der Zentralperspektive
"...was die vielgerühmte Perspektive erzeugt hat, ist Einbruch eines (...) der Kunst ursprünglich
artfemden Denkens (...). Das war die Anerkennung des Betrachters, das heißt, die eigentlich
schon profane Vorstellung, daß vor dem Bilde (...) in einer bestimmten Entfernung, in einem
bestimmten Winkel, in einer bestimmten Augenhöhe ein 'Herr Betrachter' steht, ein Herr X., der
Bürger! (...) Nicht Gott nimmt mehr die Form als Opfer entgegen, sondern Herr X. betrachtet
sie mit Interesse."10
Pinder erwähnt Van Eycks "Genter Altar" (ca. 1430) als frühen Beleg dieser 'Artfremdheit'
[Dia]: während die Figuren auf der Mitteltafel "objektiv unabhängig von uns oben" stehen, sei
bei den Figuren von Adam und Eva bereits bedacht, "daß der Betrachter unten steht -, und
darum wird uns die Fußsohle von unten gezeigt."11
als Folge dieser Anerkennung des Betrachters kam es - nach Pinder - dazu, daß die Künstler
auch um die Gunst des Betrachters buhlen mußten und daß Kunst zu einer Sache des Gefallens,
ja des Genießens wurde, ja daß sich die Werke immer mehr exponieren mußten, um gegen Kon-
kurrenz aufzufallen - es kam zu dem, was nicht nur Pinder "Stilhetze" nennt, Kunst wurde
schließlich zum profanen Marktprodukt, das am meisten Erfolg hat, wenn es aufreizend, bizarr,
provokant oder skandalträchtig ist
"Kunst, die betrachtet, die gar genossen sein will, (...) führt auf die Dauer von der Kathedrale
10 Wilhelm Pinder, Die Kunst im neuen deutschen Staat, Leipzig 1933, S.xx.

11 Ebd.
8
zur Kunstausstellung, von der Gemeinde zum Publikum, von der Gemeinschaft zum Einzelnen.
Dieser Verlust der Kunst an religiösem Gehalte und dieser wachsende Anspruch der
Einzelpersönlichkeit sind allgemeine Ereignisse der Menschengeschichte, wohl in jeder höheren
Kultur, doch vielleicht in keiner so gefährlich sichtbar, wie in unserer eigenen abendländischen
seit dem Ende des Mittelalters."12
die Kunstausstellung steht für Pinder im Grunde auf derselben Stufe wie ein Bordell (käufliche
Kunst = käufliche Liebe), und das Museum dokumentiert für ihn lediglich eine Vielfalt von
beliebigen Werken, die vor allem gesammelt werden, weil sie irgendwie interessant erscheinen:
"Im späteren 16. Jhdt. taucht zum ersten Mal das museale Denken auf (die 'Kunstkammer'). Hier
ist, im Rückblick auf die frühere Gesinnung der Kunst gegenüber, ein deutlicher Riß zu spüren.
Ein Stück des formalen Zusammenhanges kommt zu Fall. Zum ersten Male werden nun
entwurzelte Kunstwerke ihrer Merkwürdigkeit halber gesammelt und ausgestellt: im Grunde
eine Respektlosigkeit vor der Bodenverwurzelung des Werkes!"13
> wie bei Vischer taucht hier das Motiv der Entwurzelung auf - dies ist gleichbedeutend mit
'Beliebigkeit' - einst in einer Glaubensgemeinschaft verwurzelte Werke werden herausgerissen -
ausstellen heißt bloßstellen, heißt isolieren und mißachten - heißt: zur Schau stellen, so wie sich
eine Prostituierte zur Schau stellt
doch auch alle Werke, die eigens für das Museum gemacht wurden, sind für Pinder keine
achtenswerte Kunst - ihnen fehlt ein Kontext, innerhalb dessen ihre Existenz notwendig wäre, ja
sie sind auch nur beliebig und letztlich nur Ausdruck eines Publikumsgeschmacks
hier zeigt sich ein tiefes Mißtrauen gegenüber dem allgemeinen Geschmack: Werke, die sich
danach richten, können nur minderwertig sein - eigentlich paradox: wer einerseits so sehr die
Gemeinschaft beschwört, ist andererseits voller Ressentiments gegenüber einem breiteren
Publikum und dessen Bedürfnissen
mit dem Nationalsozialismus verband Pinder die Erwartung auf eine neue, intensive, sakral
gestimmte Gemeinschaft, durch die die Kunst aus ihrem bloßen Warendasein erlöst wird und
neue, echte, gleichsam heilige Aufgaben zurückerhält - endlich wieder angemessen dienen kann
und eine große gemeinsame Sache anstatt einen einzelnen Betrachter als hehren Maßstab besitzt
(Adventismus!)
freilich: Pinder lehnte die Moderne nicht pauschal ab, sondern empfand Sympathie für das
Bauhaus, das sich ja auch ausdrücklich an mittelalterlichen Idealen orientierte - hierin sah er den
Keim zu einer möglichen neuen großen, stilbildenden Kunst - weniger die Gegenwart des
Bauhauses als seine prospektive Zukunft beschäftigte Pinder
auch hier wird ein Ideal von Kunst in frühere Zeiten - das Mittelalter - rückprojiziert - wie viele
Kulturkritiker hatte Pinder einen so hohen - übersteigert hohen! - Begriff von Kunst, daß diesem
schließlich fast nichts Gegenwärtiges mehr zu entsprechen vermochte
dies ist gleichsam die Kehrseite des hohen Kunstbegriffs: so sehr dieser dazu beitrug, der Kunst
Räume und Aufmerksamkeit zu verschaffen, Künstlern Anerkennung und Verehrung
entgegenzubringen, so sehr bot er andererseits die Voraussetzung dafür, vieles als Kunst
auszuschließen - unerfüllbare Erwartungen wurden geweckt, die Kunst wurde überfordert und
Enttäuschung ihr gegenüber war vorprogrammiert, wenn sie nicht zu bannen und Gemein-
schaften zu stiften vermochte, wenn sie keine transzendenten Erfahrungen vermittelte, wenn sie
keine potente Gegenwelt zur Welt der Technik und Arbeit stiftete
=> die Rede vom E.d.K. ist oft unmittelbare Folge einer solchen Enttäuschung bzw.
Überforderung - d.h.: viele, die ein E.d.K. behaupten, verfügen gerade über einen besonders
elitären und hohen Begriff von Kunst
12 Wilhelm Pinder, Von den Künstlern und der Kunst, Berlin 1948, S.65f.

13 Wilhelm Pinder, Aussagen zur Kunst, Köln 1949, S.171.


9
obwohl sich die vielen leicht variierenden kulturkritischen Positionen auf Vischer und damit
indirekt auch auf Hegel zurückführen lassen, wird dieser nie eigens erwähnt - vielmehr fand
sein Diktum vom Vergangenheitscharakter und damit vom E.d.K. lange Zeit keine aus-
drückliche Aufmerksamkeit - höchstens in exegetischen Texten wurde darauf Bezug genom-
men, ohne daß die Thesen auf die jeweils aktuelle Kunst bezogen worden wären
erst in den 80er Jahren entdeckte man Hegels Behauptung neu - bzw. es war ein amerikanischer
Philosoph, der seinerseits das E.d.K. proklamierte und dabei Hegel das Verdienst zusprach, dies
als erster erkannt zu haben
Arthur C. Danto, Die philosophische Entmündigung der Kunst (1986/1993) - Kunst nach dem
Ende der Kunst (1992/1996)
Danto greift Hegels Überlegung vom Reflexivwerden der Kunst sowie von der Verlagerung des
Geistes von der Kunst hin zur Philosophie auf und konstatiert (wie schon im Buchtitel
angezeigt) eine Entmündigung der Kunst durch die Philosophie
d.h.: Danto stellt fest, daß die Kunst sich nicht nur zunehmend ihrer eigenen Geschichte bewußt
wurde, sondern daß sie sich auch immer mehr mit sich selbst beschäftigte - die Frage, was denn
wohl Kunst sei, wurde zu einer Frage, die sich auf einmal Künstler stellten - damit aber wurden
sie zwangsläufig auch zu Kunsttheoretikern bzw. gerieten auf ein Terrain, das eigentlich der
Philosophie angehört
die Künstler gingen auf die Frage nach dem Wesen bzw. dem Besonderen der Kunst nicht nur
insofern ein, als sie anfingen, Manifeste zu schreiben oder ihre eigene Arbeit zu erläutern,
sondern auch in ihren Arbeiten selbst
das ausdrückliche Thema vieler Arbeiten wurde - so interpretiert es zumindest Danto - gerade
die Frage nach dem Charakter der Kunst
für Danto vollbringt den entscheidenden Schritt Andy Warhol 1964, als er in der New Yorker
Stable Gallery erstmals seine Brillo-Boxes ausstellt [Dia] - aus Holz nachgebaute Kartons, die
auf den ersten Blick aussehen wie originale Brillo-Kartons, so daß man sie in der Galerie zuerst
vermutlich als Readymades auffaßte
mit den Brillo-Boxes machte Warhol deutlich, daß es keine objektiven Eigenschaften gibt, die
dabei helfen, Kunst von Nicht-Kunst zu unterscheiden - die Frage, was dann den Unterschied
ausmacht, ist jedoch - so Danto - eine philosophische Frage
"Irgendwann stellt sich für die Kunst die Frage nach ihrer wahren Identität und genau dann
schlägt die Stunde der Philosophie. Eben das war meiner Ansicht nach 1964 in der Stable
Gallery geschehen: um zu erkennen, inwiefern etwas Kunst war, bedurfte es einer Theorie über
das Wesen der Kunst, womit die Kunst, historisch betrachtet, aus sich selbst heraus die Frage
nach ihrem Wesen gestellt hatte. (...) Mir wollte allerdings scheinen, daß die Antwort auf die
Frage letztlich nicht aus der Kunst selbst kommen konnte, die ihre philosophischen Kräfte
vielmehr mit dem Stellen derselben erschöpft hatte, womit die Aufgabe der Philosophie
schlagartig klar war. Ehe die Kunst selbst diese Frage exakt formulierte, war auch die
Philosophie nicht in der Lage, sie zu stellen; als die Frage jedoch plötzlich im Raum stand, war
die Kunst unfähig, sie zu lösen. Dieser Punkt war erreicht, als man Kunst und Realität nicht
mehr voneinander unterscheiden konnte."14
Danto ist sich bewußt, daß er ein wenig pathetisch zuspitzt, wenn er das Philosophisch-Werden
der Kunst auf 1964 und die Ausstellung der Brillo-Boxes datiert - die R.m.s von Duchamp
stellten ja z.B. schon dieselbe Frage, wenngleich weniger von Duchamp beabsichtigt als in der
weiteren Rezeption
doch wieso kommt Danto dazu, das E.d.K. mit ihrem Selbstreflexiv- und im weiteren mit ihrem
Philosophisch-Werden in eins zu setzen? - warum ist für ihn das E.d.K. also auf 1964 zu

14 Arthur C. Danto, Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996, S. 20f.
10
datieren?
indem die Kunst fragt, was sie selbst wohl ist, indem sie also ihren eigenen Begriff reflektiert,
ist sie für Danto gerade keine Kunst mehr, sondern bereits Philosophie - der Ertrag der Kunst ist
die Philosophie der Kunst - was in den letzten Jahrzehnten in der Kunstszene passierte, sind
vornehmlich Experimente: was geht als Kunst durch?, was kann als Kunst gelten?, warum wird
etwas als Kunst akzeptiert? - dies waren dabei die leitenden Fragen - und die Arbeiten loteten
den Kunstbegriff aus, seine Erweiterbarkeit, seine inhaltliche Strenge etc.
d.h.: es geht den Künstlern gar nicht mehr darum, einen neuen Stil zu kreieren oder besondere -
sonst verborgene - Wahrheiten zu eröffnen, es geht auch nicht mehr darum, die eine 'richtige'
Kunst gegen andere Formen von 'falscher' Kunst zu setzen - d.h.: es fehlen die
Überbietungsgesten, die z.B. die klassische Moderne noch kennzeichneten - Künstler wollen
heutzutage nicht mehr alle anderen Künstler ausstechen und allein ihren Begriff von Kunst
durchsetzen - vielmehr geht es jeweils um eine ernste oder auch spielerische Selbstverständi-
gung der Kunst über sich selbst - mit immer wieder anderen Arbeiten wird der Kunstbegriff
herausgefordert oder infragegestellt und damit immer wieder von neuem kommentiert und
reflektiert
dies ermöglicht einen größtmöglichen formalen Pluralismus, nicht nur innerhalb der Kunst im
Ganzen, sondern bereits für den einzelnen Künstler, der nicht mehr ideologisch an einer
bestimmten Form festzuhalten braucht
die Kunst begreift sich somit selbst nicht mehr als geschichtsbildende Macht - als Motor von
Geschichte -, sondern kreist mit Vorliebe um sich selbst - damit ist auch die Vorstellung von
einer Entwicklung der Kunst kaum noch akut
für Danto bedeutet dies: die Kunst ist an ihr Ende gelangt - sie hat sich einerseits (wie schon
Hegel behauptete) in Philosophie verwandelt bzw. sich in die Hände bzw. Köpfe der Philoso-
phen begeben, und andererseits geht es ihr selbst nicht mehr darum, Geschichte zu machen
Danto beurteilt dieses E.d.K. ambivalent: er beschreibt es sowohl als Befreiung der Kunst,
historische Verantwortung übernehmen zu müssen, Ort von Revolution, von Hoffnungen und
besonderen Heilserwartungen zu sein, als - natürlich - auch als einen krassen Bedeutungsverlust
der Kunst
was Künstler machen, ist heutzutage egal - damit haben sie zwar mehr Freiheit, spielen aber
auch nur eine marginale Rolle
für Danto bedeutet das E.d.K. freilich ebensowenig wie für Hegel ein Verschwinden künst-
lerischer Aktivitäten - doch ist nicht zu erwarten, daß die Kunst in Zukunft wichtig sein kann -
die eigentliche Auseinandersetzung mit den von der Kunst aufgeworfenen Fragen findet in der
Philosophie statt - insofern droht die Kunst selbst zu einem bloßen Neben- und Durcheinander
verschiedener Stile und historischer Formen zu werden, die assoziativ eingesetzt werden, um
bestimmte Anmutungen zu wecken oder einem Bedürfnis nach einer Atmosphäre
entgegenzukommen - es kommt zu einer unendlichen Folge von Retromoden, und die Werke,
die entstehen, sind sozusagen nur noch Oberfläche, alle Substanz ist aus ihnen abgesaugt
"Man kann (...) jetzt am Morgen ein abstrakter Maler sein, am Nachmittag ein Photorealist und
am Abend ein minimaler Minimalist. Oder man schneidet Bilderbögen aus oder macht, was
einem, verdammt noch mal, Spaß macht. Das Zeitalter des Pluralismus ist da. Es spielt keine
Rolle mehr, was man macht - das ist es, was Pluralismus bedeutet. Wenn die eine Richtung so
gut ist wie die andere, ist der Begriff der Richtung nicht mehr anwendbar. (...) Die Institutionen
der Kunstwelt - die Galerien, die Sammler, die Ausstellungen, der Journalismus - , die auf der
Geschichte basieren und daher bestimmen müssen, was jeweils neu ist, werden nach und nach
verschwinden. Wie glücklich das Glück uns wohl machen wird, ist schwer vorauszusagen, aber
denken Sie daran, wie sehr die Begeisterung für die Gourmet-Küche den Alltag der Amerikaner
verändert hat. Andererseits war es jedoch ein großes Privileg, in der Geschichte gelebt zu
11
haben."15
> Kunst lediglich eine Sache für ein paar Feinschmecker - zur Inszenierung eines Ambientes,
als Spielraum für eher bescheidene Bedürfnisse
was bei Danto jedoch - wie gesagt - nicht nur negativ gesehen wird, beschreiben andere Theore-
tiker in eindeutig dunklen Farben
Aufsehen erregte vor einigen Jahren Jean Baudrillard mit sehr kritischen Bemerkungen zur
zeitgenössischen Kunst, die in einem grundsätzlichen Verdikt mündeten, das ebenfalls ein
E.d.K. behauptet
hierbei tauchen einige Motive der Kulturkritik wieder auf - zugleich gibt es eine Nähe zu Danto
(und damit auch einmal mehr zu Hegel)
Baudrillard konstatiert ebenfalls ein Reflexiv-Werden der Kunst - und damit einhergehend ein
Kreisen um sich selbst - ein Recycling ihrer Formen, Stile und Möglichkeiten und damit auch
ein Ende ihrer Entwicklung, d.h. überhaupt einen Endpunkt
"Die Kunst, wir sehen sie üppig wuchern und noch üppiger den Diskurs über Kunst. Aber in
ihrem eigenen Impetus, ihrem Abenteuergeist, ihrer Illusionsmacht, ihrer Fähigkeit, das Reale
zu negieren und ihm einen anderen Schauplatz entgegenzusetzen (...): in diesem Sinn ist die
Kunst verschwunden. (...) Wuchern der Zeichen ins Unendliche, Recycling vergangener und
aktueller Formen. Es gibt keine Grundregeln, keine Kriterien des Urteils oder des Vergnügens
mehr. Heute gibt es im ästhetischen Bereich keinen Gott mehr, der die seinen erkennt."16
die Quantität der Kunst hat für Baudrillard ihre Qualität ersetzt - sie suggeriert eine Dynamik,
die in Wirklichkeit nur noch Leerlauf ist - anstatt Neues zu entwickeln, negieren sich die Bilder
vielmehr gegenseitig - verlieren in der Redundanz an Bedeutung
"Wie die Barockmenschen sind wir emsige Bilderzeuger, aber insgeheim sind wir Ikonoklasten.
Nicht solche, die die Bilder zerstören, sondern eher solche, die Bilder im Überfluß herstellen,
auf denen es nichts mehr zu sehen gibt. Die meisten zeitgenössischen Bilder, Video, Malerei,
Plastik, das Audiovisuelle, die synthetischen Bilder sind buchstäblich solche, auf denen es nichts
zu sehen gibt, Bilder ohne Spuren, ohne Schatten, ohne Folgen. Man ahnt nur, daß hinter jedem
von ihnen etwas verschwunden ist."17
auch für Baudrillard nimmt Warhol eine Schlüsselstellung am E.d.K. ein - aber nicht mit seinen
Brillo-Boxes von 1964, sondern mit seinen Werken der 80er Jahre, in denen er z.T. dieselben
Motive nochmals aufgreift, mit denen er in den 60er Jahren berühmt wurde [Dia]
hierbei wird Originalität nur noch simuliert - ohnehin ist es für Baudrillard das Merkmal einer
posthistorischen Zeit, Geschichte und Bedeutung nur noch zu simulieren - d.h.: nur noch Gestus
und Rhetorik zu sein
nicht so anders wie z.B. Auburtin behauptet Baudrillard, daß alle Möglichkeiten durchgespielt
seien - nicht nur in der Kunst, sondern etwa auch in der Politik - und daß deshalb nur die
Wiederholung des immer selben bleibe - Baudrillard spricht vom "Xeroxpunkt der Kultur"18
es ist festzustellen: die Diagnosen von Baudrillard oder auch von Danto, die in den letzten
Jahren viel Aufsehen erregten und gerne als etwas Verwegenes und Frivoles zitiert werden,
relativieren sich, wenn man auf die Geschichte der Wendung vom E.d.K. zurückblickt

15 Arthur C. Danto, Die philosophische Entmündigung der Kunst, München 1993, S.


144f.

16 Jean Baudrillard, Die Illusion des Endes, Berlin 1994, S. 21.

17 Ebd., S. 24.

18 Jean Baudrillard, Towards the vanishing point of art, in: Kunstforum 100 (1989), S.
390.
12
was provokant oder faszinierend klingen mag, ist oft in zweifelhaften oder biederen Texten der
Kulturkritik schon ebenso zu lesen - und was nun mit gewissem Pathos von der Gegenwart
behauptet wird und wozu Beispiele zeitgenössischer Kunst herhalten müssen, das ist als
Gedankenfigur schon viel älter - insofern sind die Beispiele auch fast austauschbar: was für
Hegel ein Overbeck, ist für Baudrillard ein Warhol
doch dies bedeutet auch: die Rede vom E.d.K. relativiert sich selbst - wie bereits festgestellt: sie
belegt v.a. die Existenz eines hohen Begriffs von Kunst, der dazu führt, daß immer noch mehr
von der Kunst erwartet wird, als sie aktuell zu leisten vermag - und allein die lange Zeit, in der
immer wieder von neuem ein E.d.K. behauptet wird, zeigt, daß es noch ganz gut weitergeht mit
der Kunst - dieses Ende hat zumindest eine lange Geschichte!

13

Das könnte Ihnen auch gefallen