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Edith Landmann-Kalischer.
1. Einführung.
Die deutsche Ästhetik ist auf den Gedanken, daß das Schöne und
die Kunst eine Art von Erkenntnis gebe, immer wieder zurückgekommen.
Zunächst war es die Naturwahrheit, welche man im Anschluß an die
von den Franzosen im 17. Jahrhundert wieder aufgenommene Nach-
ahmungstheorie von der Kunst forderte. Sie wurde von den Deutschen
im Anfange des 18. Jahrhunderts im Sinne eines platten Naturalismus
verstanden, an welchem der große Schöpfer jener Lehre so unschuldig
war wie Gott an dem Übel in der Welt. Nach dem Vorgange der
Franzosen verwarf man als unwahr den Reim und die Oper, da die
Menschen gewöhnlich weder in Versen zu sprechen noch zu singen
pflegen, und das Wunderbare in der Poesie erschien zur Zeit dieses
Wahrheitsfanatismus so wunderbar, daß ein Bodmer seiner Ver-
teidigung eine Schrift eigens widmen mußte.
Neben der Wahrheit im Sinne von Natürlichkeit der Darstellung
verlangte man von der Kunst und Poesie auch abstrakte Wahrheiten.
Die Poesie gehörte zu den schönen Wissenschaften. Sie war eine
ars popularis, bestimmt, Wahrheiten abstrakt-theoretischer oder mora-
lischer Art denjenigen Geistern zugänglich zu machen, welche eines
höheren, edleren, von den Sinnen abgezogeneren Ergötzens nicht fähig
sind, deren Verstand zu beschränkt ist, um das Mannigfaltige denkend
zur Einheit zu verknüpfen. »An höhern Glanz sich zu gewöhnen,
übt sich am Reize der Verstand.« Da die Handlungen der Menschen
auf Vorstellungen sich gründen, so ist Wahrheit den Menschen höchst
wichtig; alles, was die Künste vorstellen, muß daher auf Wahrheit
gegründet sein. Welt- und Menschenkenntnis sollen die Künste ver-
tiefen, eine freiere, gehobenere Auffassung und Betrachtung der Wirklich-
keit sollen sie lehren.
Selbst Baumgarten, der den großen Schritt tat, die künstlerische
Anschauung als eine Erkenntnis sui generis anzuerkennen, orientierte
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wenn wir erkennen, »daß dies das ist und dieser jener« — dennoch,
darüber, daß im Kunstwerk etwas wiedererkannt wird, daß irgend eine
Identität durch dasselbe gefühlt wird, kommen wir nicht hinweg. Und
es bedarf vielleicht nur einer kleinen Korrektur, damit jene intellek-
tualistische Auffassung des Aristoteles im modernen Sinne richtigge-
stellt werde. Nicht die Naturdinge — so können wir vielleicht sagen
— erkennen wir in der künstlerischen Darstellung wieder, wohl aber
unsere Vorstellung von den Naturdingen. Und nicht nur unsere
Vorstellung von den Naturdingen, sondern unsere Vorstellungen, unsere
Gefühle, unser inneres Leben überhaupt.
Die Kunst gibt nicht die objektive Wirklichkeit, sondern sie ist
Spiegel und Darstellung der psychischen Welt, und sie ist insoweit
wahr, als sie eine getreue Darstellung derselben ist, als es ihr ge-
lingt, sie aus der Verschränkung mit der objektiven Wirklichkeit, welche
gerade im naiven Bewußtsein häufig genug übergreift, zu lösen und
rein herauszustellen. — Vielleicht ist unsere Zeit deshalb so kunst-
und schönheitsbedürftig, weil die psychische Welt gegenüber der
Wucht der äußeren Wirklichkeit so sehr verborgen ist. Nur durch
innere Wahrnehmung ist das psychische Leben uns gegeben. Wie
wir unser eigenes Antlitz niemals sehen, es sei denn im Spiegel, so
sehen wir auch unser inneres Leben niemals uns gegenüber — es sei
denn im Spiegel der Kunst. Nur die Kunst stellt es uns dar. Nur
durch sie können wir es erkennen. Und die Wahrheit der künstlerischen
Inhalte fühlen wir an ihrer Übereinstimmung mit der inneren Welt.
2. Erinnerungsvorstellungen.
Gehen wir von den Empfindungen und Wahrnehmungen zu den
Vorstellungen über, und zwar zunächst zu den Erinnerungs-
vorstellungen, so wiederholt sich hier die allgemeine Erscheinung,
welche wir als Kennzeichen der psychischen Wirklichkeit bereits
kennen gelernt haben, in noch höherem Grade. Deutlicher noch als
bei den Wahrnehmungen tritt hier der Unterschied zwischen dem
psychischen Sein als solchem und seinem Erkenntniszwecke zu Tage.
Ja, er steigert sich hier zum offenen Konflikt. Der Zweck, dem das
Vorstellungsleben dient, befindet sich in einem ausgesprochenen Wider-
spruche, einem ständigen Kampfe mit dessen eigener Gesetzlichkeit.
Das Ideal der Erinnerungsvorstellungen — vom Standpunkte der Er-
kenntnis aus gesehen — ist dies, daß sie mit völliger Treue die Wahr-
nehmungen abbilden. Die natürliche Tendenz des Vorstellungslebens
dagegen geht auf typische Unterschiede der Vorstellung gegenüber
der Empfindung.
Es ist heute wohl allgemein anerkannt, daß die Schilderung der
Erinnerungsvorstellungen als schwächerer, im allgemeinen aber treuer
Abbilder der direkten Sinneswahrnehmungen »so unzutreffend wie
') Es fragt sich, ob die Kunst, indem sie den psychologischen Gesetzen der
Wahrnehmung entspricht, eben hierdurch wirklich den Eindruck der Wahrheit, ob
sie dadurch nicht vielmehr das Gefühl der Schönheit und Annehmlichkeit schlecht-
hin erwecke. Zur Beantwortung dieser Frage sei auf den letzten Abschnitt des
letzten Kapitels verwiesen, welcher den Zusammenhang von Schönheit und Wahr-
heit behandelt.
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Zunächst ist gleich die Auswahl der Vorstellungen, mit denen die
Kunst arbeitet, nicht an der objektiven, sondern an der psychischen
Wirklichkeit orientiert. Das psychisch Wirkliche ist in dieser Hinsicht
das, als welches Avenarius in der Kritik der reinen Erfahrung es um-
schreibt: die Summe der Vorstellungen, welche uns geläufig sind. Je
nach individuellen Lebensumständen und Erlebnissen fällt nur der oder
jener Ausschnitt des Seienden ins Bewußtsein. Die Kunst folgt durch-
aus dieser psychischen Wirklichkeit. Die Eroberung eines neuen Ge-
bietes für die Kunst ist stets nur ein Zeichen dafür, daß ein neues
Gebiet des Lebens in die psychische Wirklichkeit der Zeit eingedrungen
ist. Die Stoffe der Kunst sind stets den zentralen Interessen entnommen.
Die Kunst ist religiös oder sozial, sie malt Bauern oder Salondamen,
schildert Kriegs- oder Liebeshelden je nach dem herrschenden Interesse
der Zeit, des Volkes, der Klasse u. s. w. So war der Naturalismus
der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts im Vergleich zu dem
Epigonentum der damals herrschenden Kunst wahr, weil er seine Stoffe
dem Interessengebiete seiner Zeit entnahm.
Und nicht nur dieses psychische Gegenwärtigsein, auch der
psychische Akzent, welchen eine Vorstellung den übrigen Vorstellungen
gegenüber besitzt, die Bedeutung, welche ihr im Verhältnis zum Ge-
samtbewußtsein zugemessen wird, spiegelt sich in einem Kunstwerk
wieder und bedingt seine Wahrheit oder Unwahrheit. Der künst-
lerische Ausdruck für diese Akzentuierung der Vorstellung ist das ab-
solute intensive oder extensive Maß eines Kunstwerks 1). Der Flächen-
raum eines Bildes, die Länge eines Gedichtes oder die Tonstärke eines
Musikstücks darf nicht in Widerspruch stehen zu der inneren Be-
deutung seines Gegenstandes. Eine Zitrone, in der Größe eines Bier-
fasses, ein Goethe oder Beethoven, als Porzellanfigürchen dargestellt,
würden bis zur Peinlichkeit hohl und unwahr wirken; eine gotische
Kirche in Miniatur (wie St. Maria della Spina in Pisa) läßt den Ge-
fühlsinhalt der gotischen Formen überhaupt nicht aufkommen und
wirkt wie ein Spiel, wohingegen zu der Weiträumigkeit der großen
gotischen Dome die romanischen Formen in Widerspruch stehen
würden.
Viel deutlicher noch als aus der Auswahl, die unter den Vor-
stellungen getroffen wird, und der verschiedenen Akzentuierung, die
sie erfahren, geht die Tatsache, daß die Kunst den Gesetzen des
Vorstellungslebens folgt, aus der Art hervor, wie die Inhalte der
Vorstellungen gegeben werden.
Die ersten beiden Prinzipien, nach denen Erinnerungsvorstellungen
zu Tage tritt. Hier nun werden wir uns jener Eigenschaft des Ge-
dächtnisses erinnern, vermöge deren es diejenigen Eindrücke vorzugs-
weise festhält, die schon vorhandenen Vorstellungen entsprechen. Die
Vorstellung des Löwen stammt uns nicht nur aus seinem Gesichts-
bilde; sie ist mitbestimmt durch alles, was wir von seinem Leben und
seiner Stellung im Tierreiche wissen. Wird uns also in der bildenden
Kunst das Gesichtsbild des Löwen gegeben, so muß dieses, um die
Wahrheit des Typischen zu haben, nicht nur dessen immer wieder-
kehrende Bestandteile enthalten, sondern es muß unter diesen auch
diejenigen hervorheben, welche die Gesamtvorstellung, die wir von ihm
haben, anklingen lassen.
Auf der anderen Seite erhellt, wo wir Unwahrheit der Darstellung
fühlen werden. Enthält in der Darstellung des Löwen die Heraus-
arbeitung derjenigen Eigenschaften, die seine Raubtiernatur aus-
drücken, typische Wahrheit, so wäre unwahr im Sinne des Typus
eine Darstellung, welche die rein sinnliche Pracht seiner Mähne in
den Mittelpunkt rückteJ). Denn was in unserer Vorstellung des
Gegenstandes nicht enthalten ist, wirkt, mag es noch so deutlich in
dem Gegenstande selbst enthalten sein, in der künstlerischen Dar-
stellung als Abschweifung und Verlogenheit. Van Dyck z. B. gibt nicht
nur seinen Gestalten Proportionen, welche, da sie nirgends vorkommen,
den Typus im Sinne des Immerwiederkehrenden verletzen, sondern er
ist auch insofern unwahr, als er in einer Darstellung wie der der Be-
weinung Christi den Schwerpunkt auf die Schilderung eines schönen
Jünglingskörpers legt, dessen Leichnam ganz andere Vorstellungen in
uns erweckt als die des Untergangs einer moralischen Person und eines
Gottmenschen wie Jesu Christi. In dieser Versündigung gegen das
zweite Erfordernis der typischen Darstellung steht van Dyck freilich
nicht allein. Schon die ganze religiöse Kunst des Cinquecento — soviel
typische Wahrheit der Anschauung sie mit ihrem Interesse für vir-
tuose Behandlung der Räume, Körper und Gewänder auch hervorbringen
mag — ist, sofern sie von ihrem gegenständlichen Vorwurfe abschweift,
unwahr im Vergleich zu der Konzentration, mit welcher der ganze
Gefühlsinhalt einer Geschichte des Neuen Testaments in einer Dar-
stellung von Duccio oder Giotto zum Ausdruck kommt. — Aus
demselben Grunde sind Defreggers Bauernmädchen verlogen, selbst
wenn sie nichts als farbige Photographien wären, während eine Karikatur
die höchste Wahrheit enthalten kann, wenn sie nur das festhält, was
in unserer Vorstellung des Gegenstandes enthalten ist. Unwahr,
') Eine solche Darstellung könnte eine künstlerische Wahrheit anderer Art sehr
wohl noch enthalten. S. darüber das letzte Kapitel.
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') Vgl. z. B. Ach, Über die Willenstätigkeit und das Denken. Göttingen 1905.
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als auf ein Beispiel der reinsten Gestaltung und Abstufung der Figuren
eines Romans durch das Gefühl, mit welchem der Dichter ihnen
gegenübersteht, auf die Wahlverwandtschaften hin. Die Komposition
ist völlig zentral, das Ganze ist inspiriert durch die Liebe zu Ottilie;
alles ist um ihretwillen erfunden; alles hat Beziehung auf sie. Gleich
der Anfang, wie allmählich, auf Umwegen über Charlotte, Eduard, den
Hauptmann, Gartenanlagen und Briefe Ottilie zur Sprache gebracht wird,
— wahrlich, eine Einführung, königlich, einem Sonnenaufgange gleich.
Stufenweise, bevor sie selbst hervortritt, erhellt sie Menschen und
Gegend. Sie selbst aber führt der Dichter nicht anders ein als mit
Worten wie: das herrliche Kind, das liebe, oder das gute, oder das
schöne Mädchen. Jedermann liebt sie. Ihre Erscheinung sammelt alle
»wie durch eine sanfte Anziehung« um sich. Gegen den Schluß hin
steigert sich seine Liebe zur Exaltation. Die Vorstellung der wunder-
tätigen Heiligen lag gewiß wenigen Menschen so fern, wie dem
Olympier, aber, um sie im Tode noch zu verklären, läßt er selbst ihre
Leiche noch Wunder tun. Die beseelten Bewegungen Ottiliens heben
sich wie eine leise und eindringliche Melodie unaufhörlich hervor neben
den hastigen Gebärden Eduards, den gesetzten Charlottes, den be-
dächtig-energischen des Hauptmanns und dem Brimborium, mit dem
Luciane auftritt. — Die Einheit, die einem Menschen das Gefühl gibt,
das wir für ihn hegen — die einzige vielleicht, die ein Mensch über-
haupt besitzt —, die gibt der Künstler seinen Gestalten.
Die den Erinnerungsvorstellungen entsprechende Einheitlichkeit und
Einseitigkeit des künstlerischen Standpunktes erstreckt sich natürlich
nicht nur auf Gestaltung von Menschen, sondern auch auf die jedes
künstlerischen oder dichterischen Vorwurfes, und man kann nach der
Verschiedenheit dieses Standpunktes ganze Kunstarten unterscheiden.
Schiller hat zwischen dem naiven und dem sentimentalen Dichter unter-
schieden. Man könnte zwischen diese beiden großen Typen noch viel
mehr Arten einschieben und mag sich die Verschiedenheit der möglichen
Standpunkte an einem der Perspektive entnommenen Bilde veranschau-
lichen. Dem naiven Dichter entspricht derjenige, welcher mit seinem
Gegenstande auf gleicher Höhe und ihm gegenüber steht; ein anderer
kann von der gleichen Höhe, aber vom Rücken aus denselben Gegen-
stand zeichnen, ein anderer am Boden knieend, ein vierter aus der
Vogelperspektive, und so in allen Abstufungen und Richtungen. So
entstehen die verschiedensten Bilder, die das, was man begrifflich,
objektiv das Wesen des Gegenstandes nennt, in sehr ungleichem
Grade, manche vielleicht geradezu dessen Gegenteil ausdrücken, und
die doch alle, wenn ein jedes nur in sich, d. h. von dem eingenom-
menen Standpunkte aus richtig gegeben ist, künstlerisch wahr wären.
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3. Phantasievorstellungen.
Die Phantasievorstellungen sind von den Erinnerungsvorstellungen
durch keine scharfe Grenze geschieden. Wenn sie sich auch durch
die willkürliche Synthese ihrer Elemente von diesen unterscheiden,
so geht doch die passive Form der Phantasietätigkeit unmittelbar
aus den gewöhnlichen Erinnerungsfunktionen hervor, und unter
dem Einfluß unserer Gefühle und unseres Willens wandeln sich die
Erinnerungsbilder in Phantasiebilder um. Zwischen Phantasie und Er-
innerung besteht nur ein Unterschied des Grades. Jene ist nur eine
bewußte Ausübung dessen, was diese unbewußt und unwillkürlich
ständig leistet1). Da nun die Kunst, indem sie, wie wir sahen, den
unbewußten Fälschungen der Erinnerung getreulich folgt, weit entfernt,
die Wahrheit zu verletzen, eine solche vielmehr erst herausarbeitet, so
wird sie auch, wenn sie sich völlig der Phantasie überläßt, ebenso wahr
oder wahrer sein können, als die der Wirklichkeit sich eng anschließende
Kunst. In der Tat ist die Umgestaltung, welche die Dinge der Wirk-
lichkeit auch in der naturgetreuesten Darstellung durch die Kunst er-
fahren, so groß, daß die willkürlichen Zutaten der Phantasie daneben
nicht in Betracht kommen. »Der Mensch im Bilde ist ein so merk-
würdiges Fabelwesen im Vergleich zu dem Menschen, der auf der
Straße spaziert, daß seine Hörner und Bocksfüße eine ganz verschwin-
dende Sonderheit bedeuten«2). Ob eine Geschichte erfunden oder einer
wirklichen nacherzählt ist, ist für ihre künstlerische Wahrheit in jedem
Betracht gleichgültig, »... und es bedeutet etwa dasselbe, wenn wir
der Natur gegenüber: sie sehen alles als gleichmäßig belebt an. Wälder
und Berge, Feuer und Sterne, Flüsse und Quellen, Regen und Wind
reden und hegen guten und bösen Willen und mischen ihn in die
menschlichen Schicksale.« Diese animistische und anthropozentrische
Naturauffassung ist die Denkweise nicht nur der Kinder, sondern auch
aller kindlichen Völker, und ihre Ausläufer reichen bekanntlich bis in
das subtilste wissenschaftliche Denken hinein. So sehr die Wissen-
schaft diese Denkungsart zu verbannen suchte — man denke auch an
den modernen Kampf der Positivisten gegen die Kausalität — so
unausrottbar stellte sie sich doch als ein Naturgesetz des menschlichen
Denkens heraus, und daher bringt das Märchen, das in dieser beseelten
Welt heimisch ist, nicht nur die Weltauffassung der Kinder, sondern
auch die natürliche Tendenz des menschlichen Denkens überhaupt zum
Ausdruck — eine Tendenz, die, wollen wir die objektive Wirklichkeit
gewinnen, wie ein Stachel ist, gegen den wir ständig locken müssen.
Man erkennt unschwer, wie märchenhafte Elemente bis in die
ernsteste Kunst hinein ihr Wesen treiben, wie das Märchen als
Gattung nur das am vollkommensten ausbildet, wovon jede Kunst
lebt. Die wunderbaren Enthüllungen und Wiedererkennungen sind
ein kanonischer Bestandteil noch der griechischen Tragödien, und
ebenso schmeichelte auch das englische Drama dem Wunsche nach
dem Außerordentlichen, es schuf »an entirely new race of beings, whose
sorrows were more terrible than any sorrow man has ever feit, whose
joys were keener than lovers joys, who had the rage of the Titans and
the calm of the Oods, who had monstrous and marvellous stns, who
had monstrous and marvellous virtues . ..«1). Und geht es nicht noch
in den meisten Romanen so zu, wie wir es möchten? Ist der be-
rühmte Roman des Abbe Prevost — Manon Lescaut — etwas anderes
als eine einzige süße Schmeichelei der höchsten Liebesträume? Und
heißt es nicht auch vom Werther: »Jeder Jüngling sehnt sich so zu
lieben, jedes Mädchen, so geliebt zu sein«?
Man könnte einwenden, daß es gerade die schlechtesten und ver-
logensten Romane sind, welche unseren Wünschen entsprechen, unseren
Träumen schmeicheln. Aber diese Romane sind nicht deshalb unwahr,
weil sie dies tun, sondern weil sie diese Wunsch Wahrheit mit der
Wahrheit des Wahrscheinlichen zu verquicken suchen, welche sie
überdies aufs gröblichste verletzen, und weil sie uns vorreden wollen,
daß unsere Wünsche im Rahmen der Wirklichkeit erfüllbar seien.
Das Märchen gibt sich durchweg als Märchen. Der schlechte Roman,
indem er heterogenen Zonen des Bewußtseins zu entsprechen sucht,
') Wilde, »The decay of Lying« Intentions. Engl. Libr. Nr. 54, Leipzig 1905.
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nichts zu tun hat: ich meine die Vorstellungen, welche wir durch
Antizipation besitzen. Jeder Mensch besitzt Vorstellungen von Cha-
rakteren und menschlichen Zuständen, welche er nie selbst gesehen
und erlebt hat. Jedes Kind antizipiert Erlebnisse, deren es in Wirk-
lichkeit noch völlig unfähig ist. Solche vorweggenommenen Vorstel-
lungen nun sind vorzugsweise das Material der Dichter. »Der Dichter
schafft antizipierend Charaktere, die der Leser getroffen findet, eben-
falls ohne auf ihre Vorbilder gestoßen zu sein«l). Es wird also hier
etwas Wahres geschaffen und Wahrheit gefühlt, ohne daß auf der
einen oder der anderen Seite die Wirklichkeit gekannt wird2).
') Wenigstens findet sich in den erhaltenen Teilen der Poetik keine andere Begrün-
dung. Vgl. auch Überweg, Anm. 39 zu seiner Übersetzung in der »Philos. Bibliothek«.
2) »Der Poet bekümmert sich nicht um das Wahre des Verstandes; da es ihm
nur um die Besiegung der Phantasie zu tun ist, hat er genug am Wahrscheinlichen.«
>Krit. Abhandig. v. Wunderbaren in der Poesie in dessen Verbindg. mit d. Wahrsch.«
Zürich 1740.
3) »Grundzüge der allgemeinen Ästhetik.« Leipzig 1904, S. 393 f.
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ist wie ein experimentum cracis auf diese Eigentümlichkeit der Zeit-
angaben in der Lyrik.
Der Zusammenhang der Vorstellungen ist nicht nur von dem Ge-
fühl beherrscht, sondern häufig nur aus ihm heraus überhaupt ver-
ständlich. Man analysiere die Aufeinanderfolge der Vorstellungen in:
') Vgl. Kinderpredigt: »Quibus, quabus, die Enten geh'n barfuß«, u. s. w. aus:
»Des Knaben Wunderhorn«.
2) »Poetik«, Breslau 1870.
3) Aus »Jenny«, »Neue Gedichte«.
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') Vgl. Baudelaire, Fleurs du mal. Spleen LXXVIII, J'ai plus de Souvenirs que
si j'avais mille ans.
2) Vgl. Breitinger, Kritische Abhandlung von der Natur, den Absichten und
dem Gebrauche der Oleichnisse. Zürich 1740.
3) Ebenda S. 465.
ÜBER KÜNSTLERISCHE WAHRHEIT. 48g
') Breitinger a. a. O.
2) Unter Gefühl wird im folgenden die praktische Seite des Bewußtseins über-
haupt verstanden, also auch Wille, Strebungen, Triebe u. s. w.
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das wir an dieser Stelle nur feststellen, nicht erörtern können. Die
Kunst entdeckt uns hier nicht nur eine Wahrheit, sie teilt sie uns auch
in einer ganz neuen Sprache mit, und es scheint, daß nur in dieser
Sprache der Ausdruck dieser Wahrheit möglich ist. —
Die zweite natürliche Ausdrucksform des Gefühls, die Tat, schließt
sich direkt an den physiologischen Ausdruck an. Sie ist zunächst Re-
flexbewegung und auch in der Wirkung ihr gleich. Der Zornige, der
das Glas, das er zur Erde geworfen, zersprungen sieht, wird durch
diesen sichtbaren Ausdruck seines Zorns besänftigt. Sobald nun aber
aus der vorwiegend reflektorischen Bewegung eine bewußte Willens-
handlung wird, ist der unmittelbare Gefühlsausdruck gehemmt.
Die Handlung unterliegt zunächst den rein äußeren Hemmungen
des Lebens, dem Widerstände der anderen Menschen, dem Wider-
streite mit anderen Gefühlen, sodann aber auch den Hemmungen der
Vernunft. Wie — auf der theoretischen Seite des Bewußtseins — der
psychischen Wirklichkeit nicht nur die äußere Welt des naiven Bewußt-
seins, sondern auch der aus ihr entwickelte strenge Begriff der objek-
tiven Wirklichkeit gegenüberstand, so tritt auch hier, im Praktischen,
dem unmittelbaren Gefühlsausdruck durch Taten nicht nur die Kom-
pliziertheit des äußeren Lebens, sondern auch das aus ihr entwickelte
Gesetz des ethischen Bewußtseins entgegen. Wie die Vorstellungen
zu Erkenntniszwecken, so wird der Gefühlsausdruck aus ethischen
Gründen modifiziert. Wie das theoretische Bewußtsein seine einzelnen
Elemente vergewaltigte, um den Zusammenhang der objektiven Wirk-
lichkeit herzustellen, so duldet auch das praktische Bewußtsein nicht,
daß die Handlung ein einzelnes, momentan herrschendes Gefühl zum
Ausdruck bringe, sondern über ihm steht das Gesetz, daß die Taten
ein bestimmtes — wesentlich durch die Gesellschaft vorgeschriebe-
nes — Verhältnis der Gefühle zueinander zum Ausdruck bringen sollen.
Wie nun im theoretischen Bewußtsein der Erkenntniszweck so domi-
nierte, daß die natürliche psychische Beschaffenheit der Vorstellungen
und Wahrnehmungen zuweilen kaum noch zum Bewußtsein kam, so
ist auch in der praktischen Sphäre das Sittengesetz von solcher Kraft,
daß die ihm widersprechenden Gefühle und ihr natürlicher Ausdruck
oft ganz verwischt werden. Sitte und Sittlichkeit, Stolz und Scham
halten uns tausendmal von der Handlung zurück, welche der adäquate
Ausdruck unseres Gefühls sein würde, und je höher vollends die
Gesittung steigt, d. h. je mehr Hemmungen aus den erstarkten Ge-
fühlen der Menschlichkeit, Gerechtigkeit, der Selbstachtung und der
Achtung anderer dem spontanen Gefühlsausdruck in Handlungen ent-
gegenstehen, je weniger also das Verlangen nach demselben im Leben
gestillt werden kann, desto kunstbedürftiger wird ein Volk werden.
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anders denn als die einer Verrückten bezeichnet werden. Aber als Ausdruck
der Sehnsucht nach einem Tun, das dem innersten Traum und Glauben
Ausdruck gäbe, ist die Gestalt im Tiefsten wahr. Dieselbe Wunsch-
wahrheit hat auch das Gebahren des Käthchen von Heilbronn, nur daß
Kleist durch die Naivität des Mädchens einerseits, durch Zuhilfenahme
des Wunderbaren und des Pathologischen anderseits auch die Wahr-
heit des Wahrscheinlichen zu retten suchte.
') S. hierüber Jolles, Zur Deutung des Begriffes Naturwahrheit in der bilden-
den Kunst. Freiburg 1905.
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') Er gründet ihn zwar zunächst auf die Verschiedenheit des Gegenstandes. Die
Tragödie ahme die citouSaiou?, die Komödie die tfaüz-ou; nach; aber er kennt auch
die Unterschiede in der Gesinnung der Künstler, welche sie zur Nachahmung der
einen oder der anderen Menschenart treibt (die B&teX&rcepot und ajjivötepot), sodaß
der Unterschied der Gattungen schließlich doch auf die Verschiedenheit des Stand-
punktes demselben Gegenstande gegenüber hinausläuft. Denn natürlich sind die
Menschen nicht so reinlich verschieden, daß nicht je nach dem Standpunkt, von
dem aus er betrachtet wird, derselbe Mensch zu der einen oder der anderen Art
gezählt, zum Komödien- wie zum Tragödienhelden gemacht werden könnte.
2) Vgl. »Herrmann und Dorothea«, herausgegeben v. Hettner 1888. Da Humboldts
Auffassung in ihrem Grundgedanken mit dem im Texte Ausgeführten verwandt und
geeignet ist, es weiter zu beleuchten, so sei die betreffende Stelle vollständig
angeführt: »Man kann die poetische Wahrheit überhaupt durch die Übereinstim-
mung mit der Natur als einem Objekt der Einbildungskraft, im Gegensatz gegen
die historische als der Übereinstimmung mit derselben als einem Objekt der Beob-
achtung definieren. Historisch wahr ist, was in keinem Widerspruche mit der
Wirklichkeit, poetisch, was in keinem Widerspruche mit den Gesetzen der Einbil-
dungskraft steht. Die Einbildungskraft überläßt sich nun entweder bloß der Willkür
ihres eigenen Spiels, das sie nur künstlerisch ausführt, oder sie folgt den inneren
Gesetzen des menschlichen Gemüts oder den äußeren der Natur. Je nachdem sie
eine dieser drei Richtungen wählt, wird die poetische Wahrheit zu einer bloßen
Wahrheit der Phantasie oder zu einer idealischen oder pragmatischen. Die erstere
ist nur im Märchen brauchbar. ... Alles, wonach bei einem so willkürlichen Ver-
fahren noch gefragt wird, ist bloß, ob die Einbildungskraft diese Züge in eine
stetige Reihe, in ein Bild zusammenzufassen im stände ist. Die idealische Wahr-
heit ist vorzugsweise ein Eigentum des lyrischen Dichters und der Tragödie. Sie
nimmt alles vollgültig auf, was nur, nach der allgemeinen Beschaffenheit des Gemüts,
nach den allgemeinen Gesetzen der Veränderungen desselben in ihm denkbar ist,
es möchte sich nun übrigens noch so weit von der Natur entfernen, in der Erfah-
rung noch so selten gefunden werden. Die strengere pragmatische hingegen ver-
wirft alles, was nicht innerhalb des gewöhnlichen Laufes der Natur liegt, und
schließt sich genau an die Gesetze derselben, sowohl die physischen als die mora-
lischen, insofern sie mit jenen übereinstimmen, an. Sie fordert geradezu das Natür-
liche, und wenn sie auch das Außerordentliche und Ungewöhnliche nicht ausschließt,
so muß es doch immer vollkommen auch mit dem Naturgange im ganzen, mit
dem Gattungsbegriff der Menschheit übereinstimmen . . . Dies aber ist das Gebiet
des epischen Dichters.« (S. 170/171.)
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') Welt als Wille und Vorstellung II, 3. Buch, Kap. 33.
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daher, was in der Psyche nach Ausdruck drängt, sucht auch nach
einer Form, in der es sich kristallisieren kann, das Stärkste nach der
strengsten.
Und können wir nicht Ähnliches auch bei den übrigen Formen
der künstlerischen Wahrheit feststellen? Wir sahen, daß der Aus-
schnitt und die Gliederung des Dargestellten in der Malerei der Enge
des Bewußtseins, die Perspektive den Gesetzen des Sehens entspricht.
Aber ist nicht die Notwendigkeit oder die Idee des Ausschnitts, der
Gliederung, der Perspektive durch die technischen Bedingungen der
Malerei überhaupt erst hervorgerufen, als welche darauf angewiesen
ist, Räumliches auf eine begrenzte Fläche zu bannen? Theodor Poppe1)
hat nachzuweisen gesucht, daß, wenn die poetische Wahrheit analog
ist dem Bilde der Erinnerung und der Phantasie, dies bedingt ist durch
die technische Form der Dichtkunst: durch die Natur der Sprache.
R. M. Meyer2) sucht die Lebenswahrheit dichterischer Gestalten von
Wirkungsbedingungen der Dichtung, davon nämlich abhängig zu
machen, ob unsere Phantasie zum Nachschaffen angeregt wird oder
nicht. Namentlich auch Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit der Ver-
knüpfungen sind durch die Natur des Kunstwerks geboten, da dieses
') S. diese Zeitschr. I, 1, S. 88—112: Von Form und Formung in der Dicht-
kunst.
2) R. M. Meyer, Lebenswahrheit dichterischer Gestalten (Neue Jahrbücher für d.
klass. Altertum, VIII. Jahrg. 1905, XV. u. XVI. Bd., 1. Heft). Verf. verwechselt im
Verlaufe seiner Darstellung das Psychologische mit dem Formalen. In dem negativen
Teile seiner Behauptungen kommt er völlig mit unseren Ausführungen überein. So,
wenn er sagt: »Die Analogie wirklicher Zustände genügt wiederum nicht zur Ant-
wort (warum einige Situationen vereinbar scheinen, andere nicht). Denn weder
kann unsere zufällige Erfahrung mit Gewißheit entscheiden, was psychologisch mög-
lich ist, noch läßt sich leugnen, daß vieles verstandesmäßig als möglich erwiesen
werden kann, was uns in dichterischer Vorführung doch nicht überzeugt* (S. 53).
». .. Auch die schwächere Wirkung der ,chargierten' oder der monotonen Charaktere
ist keineswegs aus der Analogie unserer Erfahrung am lebenden Objekte herzu-
leiten. Denn Menschen gibt es genug, die immer ganz die gleichen sind, gibt es
noch mehr, die wir wenigstens immer in derselben Situation sehen. Und nenne
man Harpagon immerhin eine pathologische Figur, nun, so gibt es eben auch
solche, gibt Monomanen genug und Personen, die etwa alles unter dem gleichen
Gesichtspunkt einer bestimmten politischen Idee betrachten.« Die positive Gegen-
behauptung zu dieser negativen wäre doch die: in der objektiven Wirklichkeit gibt
es solche Menschen wohl. In der psychischen Wirklichkeit aber nehmen sie keinen
breiten Raum ein; daher ihre künstlerische Wahrheit geringer ist. Statt dessen
springt R. M. Meyer vom objektiv Wirklichen sogleich ins ästhetisch Formale hinüber:
»Ein lediglich Tapferkeit oder Geist oder Bosheit repräsentierender Charakter
erscheint uns unnatürlich, nicht weil er nicht vorkommen könnte, sondern weil er
unsere Phantasie nicht zum Nachschaffen anregt« (S. 61). Dies wäre, wie aus dem
im Texte Gesagten hervorgeht, eine Folge seiner künstlerischen d. h. psychologischen
Unwahrheit; aber nicht hierin besteht die Unwahrheit selbst.
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