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MythosEikonPoiesis
Herausgegeben von
Anton Bierl
Band 1/2
Herausgegeben von
Anton Bierl, Rebecca Lämmle,
Katharina Wesselmann
ISBN 978-3-11-019485-2
© Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
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Printed in Germany
Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin
Druck und buchbindcrischc Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
εις έμοί μύριοι, εάν άριστος ή.
Vorwort
ANTON BIERL ix
Wenige Monate nach dem Erscheinen des ersten Teils legen wir nun
Literatur und Religion II vor, in dem Beiträge von der griechischen Ge-
schichtsschreibung bis zur Moderne versammelt sind. Für Grundsätzliches
sei auf das Vorwort zu Literatur und Religion I verwiesen.
für die Philosophie Piatons haben. Insbesondere weist sie nach, daß der
vieldiskutierte zweite Jenseitsmythos des Phaidon, der immer wieder als
lose Coda bezeichnet worden ist, fest in die philosophische Argumentation
gerade der Unsterblichkeitsbeweise eingebunden ist und sie erst zu ihrem
Ende führt.
Mary D E P E W behandelt Literatur und Religion in der hellenistischen
Dichtung des dritten vorchristlichen Jahrhunderts unter den Gesichtspunk-
ten von Kontinuität und Innovation. Sie illustriert die Adaption traditionel-
ler Mythen und Metaphern durch Dichter wie Kallimachos und Apollonios
Rhodios, die in einem geographischen, politischen, epistemischen und
kulturellen Kontext arbeiteten, der völlig verschieden von demjenigen der
Autoren war, deren Werke sie sammelten, katalogisierten und nach-
ahmten. Als emblematisch für solche Transformationen im Werk der
hellenistischen Dichter betrachtet Depew die Verwendungsweisen von
Flüssen, Quellen und Nymphen, die man herkömmlicherweise mit Inspi-
ration, Reinheit und Ursprung assoziierte. Nun aber bestimmte plötzlich
Alexandria die Sicht auf sie, eine Stadt, deren Identität als Erbin griechi-
scher Kultur von Monarchen und Dichtern gerade neu erfunden wurde.
Denis FEENEY wendet sich gegen die in der jüngeren Forschung ver-
breitete Tendenz, generische Differenzen zwischen der Geschichtsschrei-
bung und anderen literarischen Formen für irrelevant zu erklären, insofern
es um die Analyse der Darstellung des Göttlichen geht. Er postuliert
grundsätzliche Unterschiede zwischen den Gattungen seit Herodot und
weist die ureigenen diskursiven Vorgehensweisen der Geschichtsschrei-
bung nach, die sie von anderen Gattungen abhebt - selbst wenn die Histo-
riker sich in verschiedenster Weise an den Grenzen zu anderen Genera wie
etwa der Tragödie oder des Epos bewegen. Anhand der Geschichtsschrei-
bung läßt sich gut zeigen, von welch entscheidender Bedeutung gattungs-
bedingte und formale Merkmale für jede Diskussion über die Interaktion
von Literatur und Religion sind.
Katharina W A L D N E R widmet sich der Art und Weise, wie Ovid in sei-
nen Metamorphosen das seit archaischer Zeit gepflegte aitiologische
Erzählen, spezifisch den Fall der 'religiösen Aitiologie' aufgreift und ad-
aptiert. Knüpft er zunächst an die seit dem Hellenismus nachweisbaren
hexametrischen Verwandlungssagen an, in denen sich paradoxographi-
sches Interesse mit der Darstellung von 'Natur-Aitien' verband, so stellt
bereits die sich als programmatisch erweisende Geschichte von der Ent-
stehung des Lorbeers in Met. 1 eine originelle Verbindung von Natur- mit
Vorwort xi
Spannung zwischen dem Leiden, welches das Subjekt auf dem Weg seiner
Individuation zu erdulden hat, und dem Opfer für einen höheren Wert,
seien es die Götter, die Gemeinschaft, die Polis oder der Staat. Selbst
wenn die neue Literatur das Opfer nicht mehr als verläßliches und institu-
tionalisiertes Ritual beiziehen kann, erweist sich ein entsprechend adap-
tiertes Opfermodell als äußerst produktiv. Mit der Verbindung von Leiden
und Opfer als tragischem 'Subtext' kann nämlich die Tragödie in einem
Spektrum zwischen Anthropologie und Geschichtlichkeit beschrieben
werden, so daß der Sinn eines anthropologischen Grundproblems in der
jeweils historisch konkreten Ausprägung des theatralen Spiels erkennbar
wird.
1. Vorbemerkung
Was ist Mythos? - Obwohl der Begriff sowohl in der Antike als auch in
der Neuzeit ubiquitär verwendet wird, scheint beinahe jeder Autor etwas
anderes darunter zu verstehen. 1 Weitgehende Einigkeit besteht immerhin
hinsichtlich zweier grundlegender Merkmale des Mythos: es handelt sich
um eine Erzählung, und zwar um eine traditionelle Erzählung.2
Die erste Definition führt Walter Burkert aus, wenn er festhält, daß
eine Erzählung ein "phenomenon of language" sei, "and not some special
creation analogous to and outside of normal language". Was die Traditio-
nalität dieser Erzählung angeht, so weist Burkert besonders auf die Be-
deutungslosigkeit von Ursprung und Autor hin - nicht die Erfindung, son-
dern die Wiederaufnahme einer Geschichte als "means of communication
in subsequent generations, usually with some distortions and reelabora-
tions" mache ihre Traditionalität aus.
* Für wertvolle Hinweise zu dieser Arbeit danke ich Deborah Boedeker und Manuel
Baumbach sowie insbesondere auch meinem Doktorvater Anton Bierl.
1
Auch die expliziten Definitionen weichen bisweilen stark voneinander ab. Zur Pro-
blematik des antiken und modernen Mythosbegriffs vgl. ζ. B. Calame 2003; Meier 2004,
31-32 und Anm. 31 mit weiterführender Literatur.
2
Vgl. Burkert 1972, 41; Graf 1985, 7-14, bes. 7.
2 Katharina Wesselmann
des Mythos als Folie für die historischen Erzählungen 3 im Werk des He-
rodot, und damit letztlich um die 'Mythisierung' historischer Elemente in
den Historien.
Eine systematische und vollständige Analyse der Stellen, die das Phä-
nomen der 'Mythisierung' betreffen, steht bisher noch aus, 4 auch wenn
bereits interessante Teilergebnisse erbracht worden sind. Diesen soll im
folgenden ein kurzer Forschungsüberblick gewidmet werden. Des weite-
ren möchte ich ein bisher noch zu wenig beachtetes 5 Beispiel von 'Ge-
schichtsmythisierung' untersuchen: die Erzählung von Xerxes und der
Frau des Masistes. Schließlich soll hier einmal der Versuch gewagt sein,
die Vorgehensweise des Autors zu analysieren und die rezeptionsästhe-
tischen Implikationen der 'Mythisierung' zu beleuchten, da auch eine
gründliche theoretische Reflexion des Phänomens bisher Desideratum ge-
blieben ist.6
Über Herodots Behandlung des Mythos ist viel geforscht worden. Unter
anderem wurde immer wieder großes Gewicht auf seine kritische Distanz
und Abgrenzung von einer epischen Behandlung der Götter gelegt, die er
in der expliziten Fokussierung auf τά γενόμενα έξ ανθρώπων betont. 7
Auch grundsätzlich nimmt Herodot gegenüber traditionellen Erzählungen
eine kritische Haltung ein, die sich unter anderem an dem in den Historien
oft diagnostizierten Phänomen der Mythenrationalisierung zeigt, des
3
Das Problem der Terminologie betreffend Herodots 'logoi', 'short-stories', ' N o -
vellen', 'Mikrogeschichten' oder eben 'Erzählungen' kann hier nicht näher erörtert wer-
den. Vgl. dazu beispielsweise Gray 2002, bes. 291-292.
4
In Wolf Alys verdienstvoller Sammlung der Märchenmotive bei Herodot (1921)
wird weniger die Vorgehensweise des Autors beleuchtet, als daß die Motive selbst ins
Zentrum gestellt sind: Aly sucht jeweils nach einer Art ' U r - M o t i v ' und zieht neben grie-
chischen Mythen auch traditionelle Erzählungen aus f ü r ihn greifbaren anderen Kultur-
kreisen heran. Durch die konsequente Isolierung von Einzelmotiven werden die motivi-
schen Kontexte in den Historien nicht deutlich.
5
Vgl. unten Anm. 34 und 35.
6
Im Rahmen meiner Dissertation plane ich eine umfassendere Untersuchung.
7
Vgl. den Überblick bei Meier 2004, 27 mit Anm. 2 und 37 mit A n m . 66 und 67;
vgl. ferner Feeney in diesem Band, 179-180, der d a r a u f h i n w e i s t , daß in den Historien
Götter zwar auftreten, aber nur dann, wenn Herodot Berichte anderer referiert; vgl. auch
Gödde in diesem Band, Anm. 51.
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 3
8
Boedeker 2000, 98.
9
Zur Problematik der modernen Unterscheidung zwischen historischen 'Fakten' und
'fiktivem' Mythos in der antiken Geschichtsschreibung vgl. ζ. B. Brillante 1990; Most
1999. Zu Herodot vgl. ζ. B. Nagy 1987; Hartog 1999; Meier 2004.
10
Beachtung, aber keine ausfuhrliche Diskussion findet dieses Phänomen bei Boe-
deker 2002, bes. 110-114.
11
Boedeker 1988.
4 Katharina Wesselmann
eine mythische Tradition auf: Gleichsam vermittelt durch die Figur des
Protesilaos finden sich in Herodots Bericht über die Belagerung von Se-
stos erstaunliche Parallelen zu mythischen Erzählungen vom Kampf um
Troia.12 Die Geschichte scheint überdies noch weiter auf den troianischen
Heros hin 'modelliert': Boedeker weist nach, daß die Schändungen des
Heiligtums in direktem Zusammenhang mit der mythischen Biographie
des Helden stehen. 13 Artayktes, so Boedeker weiter, wird von den Grie-
chen genau dort gekreuzigt, wo Protesilaos starb, an der so überaus sym-
bolträchtigen Übergangsstelle zwischen Asien und Europa: Nicht zufallig
rahmen die beiden Artayktes-Stellen Xerxes' Griechenlandfeldzug. 14
Schließlich wird auch das Thema göttlicher Vergeltung berührt, wobei der
Statthalter auch im Text stellvertretend für Xerxes selbst steht.15 Das my-
thische Modell dient hier als Erklärung für Mikro- und Makrostruktur: wie
die Griechen an den Troianern, so handelt Protesilaos an Artayktes, und
ebenso wirkt schließlich auch das δαιμόνιον auf die persischen Aggresso-
ren ein.16
Auch Christiane Sourvinou-Inwood thematisiert in ihrer Untersuchung
der Herodoteischen Erzählung von dem korinthischen Tyrannen Periander
und seinem Sohn Lykophron (3.48, 50-53) Herodots Verwendung mythi-
scher Folien:17 Der Herrscher, der durch Kastration von Kindern ein ande-
res Volk für den Mord an seinem Sohn bestraft, evoziere Minos, der von
den Athenern für den Tod des Androgeos Menschenopfer an Minotaurus
fordert; wie die Lykophron-Erzählung ist auch diese Geschichte Aition für
ein Fest.
Die Konfliktsituation zwischen Vater und Sohn sieht Sourvinou-
Inwood im Mythos von Theseus und Hippolytos und in der Phoinix-Vita
12
Boedeker 1988, 34.
13
Vgl. Boedeker 1988, 37-40: Artayktes plündert den Tempel des Protesilaos, der
selbst nie zum Plündern gekommen ist; er betreibt Landwirtschaft da, wo der Heros wohl
in seiner Eigenschaft als Patron einer "nonagricultural vegetation" verehrt wird; er hat
Geschlechtsverkehr im Heiligtum ausgerechnet desjenigen Helden, dessen tragisch
endende junge Ehe zum bekanntesten Teil seiner Biographie gehört.
14
Boedeker 1988,41-45.
15
Vgl. Boedeker 1988, 47: "The logos of Artayktes and Protesilaos exemplifies a
delicate and I believe typically Herodotean metonymy, in which lesser characters act out
more clearly the moral or cosmological paradigms which Herodotus is far more hesitant
to draw for greater figures or historical movements."
16
Boedeker 1988, 48.
17
Sourvinou-Inwood 1991, 244-284.
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 5
gespiegelt (wie in Herodots Erzählung hat der Konflikt mit der Frau des
Vaters zu tun, Phoinix geht wie Lykophron ins Exil, Periander bereut
ebenso wie Theseus). 18 Auch Sourvinou-Inwood zieht bezüglich der von
ihr untersuchten Episode die Schlußfolgerung, sie sei "a 'mythological'
text, the product of mythopoetic creation" (1991, 261). 19
Weitere Beispiele traditioneller Schemata entdeckt Charles C. Chias-
son in Herodots Kleobis und Biton-Episode (1.31).20 Er zieht die Parallel-
erzählung von Trophonius und Agamedes heran, die von Apollon als
Dank für den Bau seines Heiligtums in Delphi dieselbe Belohnung erhal-
ten wie Kleobis und Biton (Plu. mor. 109a). Weiter erkennt er das in der
hexametrischen Dichtung verbreitete Motiv der Mutter, die für Tod oder
Sterblichkeit ihres Sohnes verantwortlich ist.21 "In important ways of
which he is well aware", so sein Fazit, "the 'Father of History' remains a
descendant and disciple of myth" (Chiasson 2005, 60).22
18
Allerdings sieht Sourvinou-Inwood die strukturierenden Elemente weniger in
parallelen mythischen Erzählungen als in traditionellen (Initiations)/?;7e«, wo das Phäno-
men der Nachfolge natürlich ebenfalls zentral ist. Sie beschreibt verschiedene Elemente
initiatorischer Riten, die der Struktur der Erzählung entsprechen, etwa das Einschließen
der Kinder im Tempel ("social exclusion", "state of abnormality"), oder ihr Erhäschen
der Opfergaben. Eine ähnliche Methodik zeigt sich bereits bei Harrison 1912.
19
Herodots Intention bestehe darin, das Ende der Regierungsform 'Tyrannis' aufzu-
zeigen, indem er ein Beispiel für eine gescheiterte dynastische Nachfolge gibt: " . . . the
Herodotean narrative ... expresses the concept 'failed succession' in the Greek mytho-
logical idiom" (Sourvinou-Inwood 1991, 266).
20
Chiasson 2005 bringt ebenfalls Parallelen zum Ritus; er erkennt einen Zusam-
menhang der Episode mit den männlichen Initiationsriten beim Fest der argivischen Hera,
den Heraia oder Hekatombaia.
21
Chiasson 2005, 42 zitiert II. 24.58-61 (vgl. 22.79-89) - Hektor muß sterben, weil
er im Gegensatz zu Achilleus von einer sterblichen Mutter gesäugt wurde, aber auch
Thetis "is consistently and pointedly associated in the Iliad with her s o n ' s imminent
death" - und h.Cer. 231-274: Metaneira verhindert, daß Demeter ihren Sohn Demophon
durch Feuer unsterblich macht; bei Apollodor 1.5.1 führt sie gar seinen sofortigen Tod
herbei. - Chiasson verweist auf die englische Übersetzung (1983) von Burkert 1972, 162-
164 und Seaford 1988, 108 und 123.
22
Allerdings vermutet Chiasson eine deutlich ahistorische Kategorisierung der
Erzählung durch Herodot, wobei er sich einerseits auf die distanzierende Phrase λ έ γ ε τ α ι
οδε ό λόγος beruft, die der Geschichte vorausgeht (unter Verweis auf verschiedene Auto-
ren, die sich mit Herodots "shift in the narrative mode from the historical to the mythical"
befassen, ζ. Β. Griffiths 1999; Fowler 1996, 116; Stahl 1975; Lateiner 1977), zum
anderen auf die Tatsache, daß nicht der Autor selbst spricht: "While the words are spoken
by Solon, it is through Herodotus' eyes that he discerns a fundamental historiographical
distinction ..., declining to vouch for the historical veracity of the story that follows. In
the broader context of Solon's speech to Croesus, this subtly eloquent introduction sepa-
6 Katharina Wesselmann
rates the 'mythological' story of Cleobis and Biton from the more historically plausible
biography of the Athenian citizen Tellos that precedes it" (Chiasson 2005, 44).
23
Städter 2004, 38-42.
24
Einen Überblick über die Forschungssituation sowie einige interessante N e u -
ansätze bietet Chiasson 2003, unter Verweis auf Fohl 1913; Stella 1936; Meunier 1968;
Stahl 1968; Snell 1973; Rieks 1975; Lesky 1977; Szabo 1978; Chiasson 1982; Long
1987, bes. 74-105; Herington 1990; Laurot 1995. Zu ergänzen sind beispielsweise Myres
1914; Egermann 1957; Levin 1960; Said 2002.
25
Lesky 1977.
26
Zu Herodots Publikum vgl. unten Anm. 48 und S. 23-25 und 29.
27
Chiasson 2003, bes. 18-19.
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 7
28
Vgl. Burian 1997, bes. 190-191.
29
Brillante 1990, 120.
8 Katharina Wesselmann
Für eine strukturelle Analyse der Episode bietet sich die Methode des
Formalisten Vladimir Propp an, der die Wiederholung traditioneller Mo-
tive in unterschiedlichen Kontexten untersucht. 31 In seiner 1928 erstmals
erschienenen Morphologie des Volksmärchens stellt er fest, daß sich in
zahlreichen russischen Volksmärchen dieselben Handlungseinheiten oder
Funktionen wiederholen - etwa wenn ein Gönner dem Helden ein magi-
sches Instrument gibt, mit dem man sich an einen anderen Ort versetzen
kann nur die Ausführenden sind unterschiedlich. 32 Propps Methodik
läßt sich durchaus auf Herodots Übernahme mythischer Motive anwenden.
30
Vgl. Parker/Dubberstein 1956, 17; Wiesehöfer 1994, 78.
31
Im vorliegenden Aufsatz soll weder das Phänomen des Strukturalismus erklärt
noch eine neue Form davon erfunden werden. Es geht lediglich darum, die im folgenden
auf Herodot angewandte Methode anhand einiger ähnlicher Ansätze näher zu erläutern.
32
Propp 1928.
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 9
Von Dionysos erzählen die Griechen nun, daß ihn Zeus sofort nach seiner Ent-
stehung in seinen Schenkel eingenäht und nach Nysa gebracht habe .. ,36
33
Wiesehöfer 1994, 86 hält die Geschichte für persisch; zu ihrer Verortung in einer
orientalischen novellistischen oder biblischen Tradition vgl. auch Müller 2006, 298 mit
Anm. 78 (vgl. auch unten Anm. 56). Im Lichte der folgenden Ausführungen kann wohl
von einem gemeinschaftlich nahöstlich-griechischen Erbe ausgegangen werden.
34
Auch hier können wieder tragische Motive benannt werden; so wird Artaynte, als
sie das verhängnisvolle Gewand empfangen hat, als π ε ρ ι χ α ρ ή ς bezeichnet. Vgl. hierzu
Chiasson 2005, 49-52: Herodot bezeichnet die Mutter von Kleobis und Biton als
π ε ρ ι χ α ρ ή ς , als sie, überglücklich über die Tüchtigkeit ihrer beiden Söhne, ahnungslos
um die für sie selbst schmerzliche göttliche Belohnung bittet. Chiasson interpretiert dies
als tragische Ironie und stellt fest, daß das Adjektiv "always foreshadows suffering for
the person so described [er zitiert 1.119.2; 3.35.3, 157.3; 4.84.2; 5.32; 7.37.3, 215; 9.49.1,
109.3], thus exemplifying the characteristic Herodotean perception of human pleasure
and prosperity as short-lived" (49). Bei zweien der genannten Beispiele bezieht sich περι-
χ α ρ ή ς auf Eltern, die indirekt für den unmittelbar folgenden Tod ihrer Kinder verant-
wortlich sein werden; im oben diskutierten Beispiel wird die π ε ρ ι χ α ρ ή ς Artaynte den
Tod ihrer Mutter herbeifuhren.
35
Stadter 2004, 38 sieht eine allgemeinere Parallele zum Frauenraub des Paris, der
ebenfalls in einer Katastrophe endet. Dasselbe Motiv erkennt er bei Gyges und Demara-
tos (vgl. unten Anm. 59).
36
Sofern nicht anders angegeben, sind alle Übersetzungen meine eigenen.
10 Katharina Wesselmann
Feuer. Was das Motiv der eifersüchtigen Ehefrau betrifft, so findet sich
bei Herodot kein Hinweis darauf; allerdings dürfte ihm auch diese Vari-
ante nicht unbekannt sein: in den ältesten Versionen des Mythos sind be-
reits die Informationen enthalten, daß Zeus mit Semele ein Verhältnis hat,
daß Hera eifersüchtig ist und irgendetwas unternimmt. Daraufhin ver-
brennt Zeus Semele mit einem Blitz, worauf er den Dionysosknaben in
seinen Schenkel einnähen muß. 37
Die Lösung eines Blankoversprechens ist erstmals bei Ovid belegt
{Met. 3.253-315). 38 Dennoch kann sie Herodot bekannt gewesen sein,
zumal es in den älteren Versionen offensichtlich einen 'missing link' gibt
- wie gelingt es Hera, daß Semele vernichtet wird, noch dazu von Zeus
persönlich?
Die einzige alternative Möglichkeit findet sich in einer zuerst bei Dio-
dor erzählten Version, nach der Zeus Semele ihren unsinnigen Wunsch
auch ohne explizit genanntes vorheriges Blankoversprechen erfüllt, ohne
daß berichtet wird, was ihn dazu veranlaßt (3.64; 4.2.2). Daß diese Vari-
ante logisch unbefriedigend ist, deutet darauf hin, daß Diodor das Blanko-
versprechen einfach übergeht bzw. dessen Kenntnis beim Leser voraus-
setzt. Auch in den älteren Versionen des Semele-Mythos mag dies der Fall
sein, zumal neben den zahlreichen verlorenen schriftlichen Quellen immer
auch die mündliche Tradition des Mythos eine Rolle spielt. Im übrigen ist
letztlich niemals entscheidbar, wie alt eine bestimmte Variante einer Er-
zähltradition ist, da Produktion und Erhaltung literarischer Verarbeitungen
37
h.Bacch. 1.4-7 wird Dionysos als είραφιώτα angesprochen, und auf die Tradition
verwiesen, daß κυσαμένην Σεμέλην τεκέειν ΔιΙ τερπικεραύνφ. Weiter heißt es: σέ δ'
ετικτε πατήρ ανδρών τε θεών τε πολλόν άπ' ανθρώπων κρυπτών λευκώλενον "Ηρην.
Hier besteht also bereits Kenntnis über Semeies Vernichtung, Heras Eifersucht wird min-
destens angedeutet, und auf den Blitz wird durch Zeus' Epitheton verwiesen (vgl. auch
Pi. O. 2.25-26; S. Ant. 1116-1117, 1139). Auch Spintharos' Tragödientitel ΣΕΜΕΛΗ KE-
PAYNOYMENH belegt die Bekanntheit der Geschichte in klassischer Zeit (TrGF 1, 40,
T1 = Suda s. ν. Σπίνθαρος), und Aischylos' Darstellung der schwangeren Semele in sei-
ner Tragödie ΣΕΜΕΛΗ Η ΥΔΡΟΦΟΡΟΙ (fr. 221-224 Radt; vgl. schol. L arfA.R. 1.636a)
deutet ebenfalls auf eine Erzählung der Geburtsgeschichte hin. Sophokles' ΥΔΡΟΦΟΡΟΙ
mögen denselben Inhalt gehabt haben (fr. 672-674 Radt). Bildliche Darstellungen des To-
des der Semele durch den Blitz finden sich ab 390 v. Chr. (LIMC 7, 720-721, 6-7). Expli-
zit wird die Hera-Intrige erst spät erzählt: bei Ovid (Met. 3.253-315), Apollodor (3.26-
27), Hygin (fab. 167 und 179) und Nonnos (D. 8).
38
Das Blankoversprechen figuriert nicht in allen späten Versionen: abgesehen von
Ovid wird es nur bei Apollodor (3.26-27) explizit referiert, nicht aber bei Hygin {fab. 167
und 179) und Nonnos (D. 8).
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 11
er gebe für seine Liebe ein Zeichen, wenn er es in Wahrheit ist, und so gewaltig,
so herrlich, wie ihn die hohe Juno empfängt, so gewaltig, so herrlich soll er
dich, darum bitte, u m a r m e n und vorher noch die Zeichen seiner Göttlichkeit
anlegen!
Die naive Semele bittet den göttlichen Liebhaber um eine Gabe, sine no-
mine munus, und der Verliebte gesteht ihr zu, was immer sie sich wünscht;
ja, er schwört sogar beim Styx, die Bitte zu erfüllen. Hierauf erbittet sich
Semele, der Gattin gleichgestellt zu werden:
Wie Juno dich zu umarmen pflegt, wenn du mit ihr z u s a m m e n den Bund der
Liebe schließt, so erscheine du mir! 40
Jupiter ist alles andere als glücklich über den törichten Wunsch und ver-
sucht ihn zunächst abzuwenden (voluit deus ora loquentis opprimere). Als
dies nicht gelingt, will er seine Kräfte immerhin mindern, und verwendet
39
Für eine generelle Legitimation der frühen Datierung auch spät belegter Mythen-
versionen vgl. Brillante 1990, 114-116: "... whenever the authenticity of a narrative is
argued from the absence of a literary elaboration, it becomes necessary to establish how
many of these 'ancient' traditions have come down to us solely through 'late' sources"
(114).
40
Übersetzung von Gerhard Fink (2004).
12 Katharina Wesselmann
als gefordertes insignium einen levius fulmen, von den Göttern secunda
tela genannt - aber auch das ist für Semele zuviel: sie stirbt im Feuer.
Hier wird bereits deutlich, daß ein entscheidender Punkt von Propps For-
schung nicht auf Herodot übertragen werden kann: das Postulat, daß die
Funktionen immer in derselben Reihenfolge aufeinanderfolgen. Diese Be-
hauptung wurde freilich schon in bezug auf Propps eigenes Material be-
stritten.41
41
Csapo 2005, 197-198 weist erstens die gelegentliche Wiederholung von Funk-
tionen nach, und zweitens die Veränderung ihrer Position in dem Falle, daß plot und
narration nicht übereinstimmen, was etwa bei Rückblenden der Fall sein kann. Er de-
monstriert dies am Beispiel des Perseus-Mythos, auf den Propp sein Modell selbst eben-
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 13
Bei Herodot ist die Übernahme der mythischen 'basic structure' zwar
evident - bei sieben Übereinstimmungen kann von einer Zufallsauswahl
mythischer Einzelfunktionen nicht mehr die Rede sein jedoch sind die
Funktionen in ihrer Position eindeutig verändert: die mythische Abfolge
beginnt ja mit Junos Eifersucht und ihrer Intrige (4 und 5), während
Amestris erst nach dem Blanko versprechen und dem törichten Wunsch
der Geliebten auftritt.
Ferner erstaunt die Doppelung der Figur der Geliebten, die im folgen-
den eingehender untersucht werden soll. Durch Propps Modell der Tren-
nung von Funktion und Handlung werden auch die Beziehungen zwischen
den einzelnen Funktionen sichtbar: die Verzweifachung der Geliebten
resultiert ihrerseits in der Doppelung der Funktion 1 ('Blankoverspre-
chen'), die wiederum Teil der Funktion 5 ('Intrige der Ehefrau') wird.
Zwischen Xerxes' Verhältnis mit Artaynte und der Verstümmelung ihrer
Mutter wird durch das traditionelle Erzählschema eine Beziehung herge-
stellt, aber durch die Verwechslung von Mutter und Tochter kann eine ge-
zielte Intrige der Ehefrau wie die der Juno nicht stattfinden.
Von einer strengen Abfolge der mythischen Funktionen kann hier also
nicht die Rede sein - was einer gewissen Logik nicht entbehrt, bedenkt
man, daß Propp einander ähnliche Märchen bzw. Mythen, also Gleicharti-
ges miteinander vergleicht, während der Konfrontation von Herodots
Historien mit traditionellen Erzählungen heterogene Vergleichspartner
zugrunde liegen. Im vorliegenden Falle scheint es also nicht geraten, nach
einer unveränderlichen 'Urform' zu suchen - vermutlich verwendet Hero-
dot seinen eigenen Zwecken entsprechend nur Teile aus vorgegebenen
Erzählstrukturen, andere läßt er weg: Die weibliche Hauptfigur erscheint
falls angewandt hatte. Auch sonst bleibe Propps Modell in vielerlei Hinsicht fragwürdig,
da viele Funktionen j a nicht zufällig, sondern notwendigerweise aufeinander folgen; ζ. B.
seien Funktionen wie "the hero's reaction" nicht sonderlich überraschend: "It is a little
like someone claiming that they have established the three universal 'functions' of all
narrative which, defined from their place in the process of narration, can be labeled (1)
the 'beginning,' (2) the 'middle,' and (3) the 'end,' and, what is even more remarkable,
this sequence is invariable in every tale!" (206). Csapos Vorwurf der Vereinfachung er-
streckt sich auch auf Burkert 1979, 6-7, der bei den mythischen Erzählungen von Müttern
berühmter Helden eine festgelegte Abfolge von Funktionen der "girl's tragedy" entdeckt
("leaving home", "the idyll of seclusion", "rape", "tribulation", "rescue"). Hierbei wür-
den gewisse, fur den Mythos bedeutsame Elemente nicht berücksichtigt, ζ. B. die Aus-
setzung des Kindes und seine Aufzucht durch ein Tier (201). - Trotz dieser Einschrän-
kungen läßt sich Propps Ansatz nach wie vor nutzbar machen, sofern er mit der gebote-
nen Flexibilität angewandt wird (etwa durch die Modifikationen von Claude Levi-
Strauss; vgl. unten S. 20).
14 Katharina Wesselmann
42
Ohne die Forschungsdiskussion um Herodots freieres literarisches Gestalten hier
im einzelnen nachvollziehen zu wollen (vgl. etwa Dewald/Marincola 1987, bes. 12-35 zu
den literarischen Einflüssen sowie zur Glaubwürdigkeitsdebatte im Zusammenhang mit
Fehling 1989), lege ich diesem Aufsatz die gegenwärtige communis opinio zugrunde,
derzufolge sich an den antiken σ υ γ γ ρ α φ ε ύ ς nicht dieselben Maßstäbe anlegen lassen wie
an einen Historiker des 20. oder 21. Jahrhunderts.
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 15
kehrt der König in Aischylos' Persern von Salamis direkt nach Susa zu-
rück. Als dritte Möglichkeit ist vermutet worden, daß Xerxes zu dieser
Zeit mit der Niederschlagung des Babylonischen Aufstandes beschäftigt
war.43 Diese Ungewißheit, bzw. die Möglichkeit von Xerxes' Abwesen-
heit, spricht tendenziell gegen die Historizität der Episode in ihrer vorlie-
genden Form: zwar wäre die Tat der Amestris, deren Grausamkeit aus
anderem Kontext bekannt ist,44 'historisch' auch ohne Involvierung des
Königs möglich; in diesem Fall aber hätte das Vorgefallene nurmehr we-
nig Ähnlichkeit mit der Herodoteischen Erzählung und damit der Semele-
Zeus-Geschichte.
Da Xerxes' Aufenthalt in Sardes jedoch nicht abschließend ausge-
schlossen werden kann, ist die Frage nach der Historizität oder nach Hero-
dots Treue zu seinen Quellen nach wie vor nicht beantwortet. Somit kann
sie nur noch ex negativo gestellt werden: wenn keinerlei erzählerische
Motivation für die Anwendung des unbestreitbar traditionellen Schemas
auf die Figur des Xerxes erkannt werden könnte, wäre eine Genese der
Geschichte außerhalb des Herodoteischen CEuvres plausibel.
Es ist jedoch auffällig, daß Xerxes hier nicht zum ersten Mal mit Zeus
in Verbindung gebracht wird; der Gott fungiert häufig als Folie für die
Darstellung des Perserkönigs. Xerxes' Hybris ist ein Grundzug seiner
Charakterisierung in den Historien, und oft steht sie im Zusammenhang
mit dem Göttervater. So wird im ersten Buch erzählt, wie Xerxes das
Zeusbild von Babylon stiehlt und den Priester töten läßt (1.183.3). Es
bleibt jedoch nicht bei mangelhaftem Respekt vor Zeus; Xerxes betreibt
auch eine Art imitatio - oder gar aemulatio - Iovis. Seiner ehrgeizigen
Außenpolitik setzt er das Ziel, 'den Himmel des Zeus zur Grenze des Per-
serlandes' zu machen (7.8γ.1). Über die Hellespontbrücke fährt Xerxes
seinen Wagen direkt hinter dem Ehrenwagen des Zeus; neben beiden
Fahrzeugen geht der zugehörige Wagenlenker zu Fuß her (7.40.4).45
Im Kontext dieser größten Freveltat des Xerxes, der Schändung des
göttlichen Hellesponts und der gewaltsamen Verbindung zweier Konti-
43
Vgl. Macan 1908 zu 9.108.1.
44
Vgl. 7.114. Zur Grausamkeit von Nicht-Griechen als Topos der griechischen Lite-
ratur vgl. beispielsweise Laurot 1981; Hall 1989; Schmal 1995; Pelling 1997; Harrison
2002.
45
In 8.115 wird neben der Schilderung des durch Hunger und Krankheit aufgeriebe-
nen persischen Heeres auch der Verlust ebendieses Wagens erwähnt.
16 Katharina Wesselmann
nente, geschieht es dann, daß ein ungenannter Hellespontier mit den fol-
genden Worten an ihn herantritt:
9
Ω Ζεΰ, τί δή άνδρν είδόμενος Πέρση και οΰνομα άντί Διός
Ξέρξη ν θέμενος άνάστατον την Ε λ λ ά δ α θέλεις ποιήσαι άγων
πάντας άνθρώπους· και γαρ ανευ τούτων έξήν τοι ποιέειν
ταΰτα. (7.56.2)
Ο Zeus, warum erscheinst du als Perser und hast statt 'Zeus' den Namen
'Xerxes' angenommen, wenn du Griechenland verwüsten willst und dabei die
ganze Menschheit mit dir führst? Denn auch ohne diese Maßnahmen wäre es dir
doch möglich, dies zu tun.
46
Vgl. Flower/Marincola 2002 zu 9.111.1.
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 17
dem Fuße zu folgen pflegt. 47 Daß Herodot und seinen Zuhörern 48 das un-
rühmliche Ende des Xerxes als Opfer einer 'privaten' Palastintrige be-
kannt ist, erscheint umso plausibler, als die von Herodot zuletzt erzählte
Tat des Königs in Kombination mit dieser biographischen Zusatzinfor-
mation noch pointierter wirkt: der gescheiterte Weltherrscher verlegt seine
Zeus-Ambitionen in die eigenen vier Wände - und scheitert auch dort.49
In diesem Lichte betrachtet bedeutet es wohl keine Überinterpretation,
die Geschichte auch mit einem weiteren mythischen Motiv in Verbindung
zu bringen: dem des tödlichen Gewandes. Herakles stirbt durch ein Ge-
wand, das ihm von einer Frau geschickt wurde; 50 auch Medea bedient sich
dieser offenbar typisch 'weiblichen' Waffe. 51 Bei Herodot geht zwar der
47
Auch der Initiator des ionischen Aufstands, Aristagoras, wird glücklos bleiben,
wenn er Leute wirbt, indem er ihnen Reichtümer gleich denjenigen des Zeus verspricht
(έλόντες δε τ α ύ τ η ν την π ό λ ι ν θ α ρ σ έ ο ν τ ε ς ή δ η τω Δ ύ π λ ο ύ τ ο υ πέρι ερίζετε, 5.49.7).
Daß die Anmaßung eines Sterblichen, sich mit einem Gott zu messen, in Herodots Augen
gerade im Falle eines Persers von besonderer Hybris zeugen muß, belegt Hist. 1.131, wo
es von den Persern heißt, οτι ούκ ά ν θ ρ ω π ο φ υ έ α ς έ ν ό μ ι σ α ν τους θεούς κ α τ ά περ οί
" Ε λ λ η ν ε ς ε ί ν α ι . Vgl. am selben Ort Herodots Aussage über die enorme Bedeutung des
Zeus in der persischen Religion. Auch wenn es sich hierbei um interpretatio Graeca
handelt, steigert diese Information die Empörung über Xerxes' Gebaren seitens Herodots
Publikum, das schließlich vorwiegend aus Griechen besteht.
48
Wiewohl Herodots Publikum nicht eindeutig charakterisierbar ist, kann eine
grundsätzliche Vertrautheit mit dem griechischen Mythos vorausgesetzt werden, vgl.
unten S. 23-25; 29. Es ist häufig bemerkt worden, daß Herodot die interpretative 'Mit-
arbeit' seiner Rezipienten in hohem Maße voraussetzt; vgl. u. a. bereits Bischoff 1932,
681, der in Herodots Erzählungen fast immer einen "versteckten Sinn" vermutet. Vgl.
weiter Fornara 1971, 61-62: "Precisely as the audiences of Aeschylus and Sophocles
were intended to form their conclusions without the explicit aid of the playwright, so
does Herodotus demand or expect an involved audience participating in and judging what
is evoked before them ... But it is a contemporary audience, whose expectations he could
predict, not some future generations with different expectations, for which he was wri-
ting." Vgl. ferner Lateiner 1985, 92-93: "Herodotus offers apodexis, memoranda and
comparanda, not abstract explanation or instruction ... Events that reflect on each other
by verbal and structural 'coincidences' help explain each other to the reader, not by offer-
ing an explanation of why they happened, but by suggesting appropriate historical com-
parisons."
49
Allerdings erstaunt es, daß Herodot das Ende des Xerxes nicht explizit referiert.
Es scheint, als interessiere die Figur nur im Hinblick auf ihre Beziehung zu Griechenland
- sobald diese nicht mehr relevant ist, verschwindet Xerxes aus dem Fokus des Erzählers.
Aber auch fur den unwahrscheinlichen Fall, daß das Ende des Xerxes Herodot nicht
bekannt geworden sein sollte, hat die Hybris der imitatio Iovis genügend Signalwirkung,
um erstens das böse Ende des Königs zu beschwören und zweitens sein Scheitern in
Griechenland zu erklären.
50
Bereits bei Hes. fr. 25.14-19 Merkelbach-West; B. 16.23-35 Snell-Maehler; S. Tr.
51
Wohl erst bei Euripides, vgl. Lesky 1931, 45.
18 Katharina Wesselmann
Mann Xerxes nicht selbst zugrunde; es ist jedoch vorstellbar, daß das Ge-
wand sein eigenes Ende antizipiert: als Symbol des Verderbens, das Xer-
xes durch seine Hybris auch im Privaten heraufbeschwört. Wenn man also
Xerxes als O p f e r ' des Gewandes interpretiert, erklärt sich auch, warum
Amestris dasselbe nicht der Feindin schickt, sondern für ihren Gatten
webt. Wieder liegt eine Verschiebung des Motivs vor: während Nessos
das Gewand von vornherein in böser Absicht übergibt, worauf es von
Deianeira an Herakles weitergereicht wird, löst das von Amestris an Xer-
xes übergebene und von diesem an Artaynte weitergereichte Gewand bei
der ursprünglichen Geberin erst die böse Absicht aus. Deianeira handelt
anders als Xerxes völlig ahnungslos - aber ebenfalls in dem Bestreben,
sich die Liebe des Herakles zu sichern, wie auch der Perserkönig seine
Beziehung zu Artaynte nicht aufs Spiel setzen will. In beiden Fällen wer-
den sowohl das zweite als auch das dritte Glied der Kette zu Opfern des
todbringenden Gewandes. 52
Herodots Erzählung von Xerxes und der Frau des Masistes ist ein wei-
teres Beispiel dafür, daß er neben der Rationalisierung der von ihm zitier-
ten Mythen auch das Gegenteil betreibt: eben die 'Mythisierung', die Posi-
tionierung historischer Figuren in ein bereits bekanntes narratives Schema.
Während die tragischen Dichter traditionelle Mythen aufnehmen und -
oftmals mit erkennbarem Bezug auf das zeitgenössische Tagesgeschehen -
neu erzählen, verwendet Herodot dieselben Mythen gleichsam ohne deren
Identifikation, d. h. er fügt neue Namen in ein Geschehen ein, das seinem
Publikum von jeher vertraut ist.
Es bleibt die Frage, warum der Autor Veränderungen der Gescheh-
nisse im Vergleich zum Zeus-Semele-Mythos vornimmt. In erster Linie
fallt die Zweizahl der mindestens potentiellen Geliebten und folglich der
Blankoversprechen auf. Die Antwort ergibt sich zum Teil aus der Logik
der Erzählung selbst: das zweite Versprechen ist 'dramaturgisch' nötig, da
Amestris nicht von sich aus über die Macht einer Hera verfügt. Wie aber
verhält es sich mit dem ersten Versprechen? Wieso läßt Herodot Artaynte
nicht ganz aus dem Spiel und konzentriert die Rolle der Geliebten auf ihre
Mutter?
52
Eine weitere mythische Parallele wird in der Forderung der Ehefrau an den Gatten
manifest, Gewalt über die Rivalin zu erhalten, wie dies auch für den Io-Mythos belegt ist
(Ov. Met. 1.615-623): Durch diese Annäherung wird Amestris' Identifikation mit Hera
zusätzlich verstärkt. Ich danke Magdalene Stoevesandt für diese Anregung.
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 19
53
Einen Versuch der Rekonstruktion als machtpolitische Auseinandersetzung zwi-
schen Xerxes und seinem Bruder Ariamenes unternimmt Wiesehöfer 1994, 86 und
schließt: "Herodot mag also - ohne es zu wissen - Berichte von einem innerfamiliären
Usurpationsversuch im Achaimenidenclan literarisch verarbeitet haben."
54
Bei Sourvinou-Inwoods überzeugender Analyse der Periander-Erzählung verwun-
dert, daß sie aus der mythisch-rituellen Struktur den Schluß zieht, die Geschichte könne
keinerlei historischen Kern haben. Es liegt aber kein Grund vor, warum traditionelle Er-
zählelemente eine Orientierung des Autors an historischen 'Eckdaten' ausschließen sol-
len; wahrscheinlicher ist eine Mischung von 'Dichtung und Wahrheit', wie sie bereits für
Homer selbstverständlich ist. Für die Möglichkeit eines 'historischen Kerns' plädiert
auch Boedeker 2002, 112-113.
55
Vgl. Gray 2002, bes. 291-292, hier 311.
20 Katharina Wesselmann
Bildet diese letzte Szene nun die Klimax der notwendigerweise drei-
gliedrigen 'short story', so ergäbe sich daraus auch ein zwingender Grund
für die Doppelung des Vorhergehenden. Eine solche erzählerische Taktik
erscheint für Herodot ebenso plausibel wie die Veränderung des traditio-
nellen Schemas zugunsten historischer Daten.56
Die strukturelle Analyse der Episode erbringt jedoch auch in dieser
Beziehung weitere Aufschlüsse. Propps Nachfolger Claude Levi-Strauss
eliminiert die Frage der festen Funktionsabfolge, indem er sich - als
Schüler Roman Jakobsons - vor allem auf die Regeln der Kombinierbar-
keit der "Mytheme" 57 konzentriert, nicht auf die Mytheme an sich: es han-
dele sich hierbei um "Beziehungsbündel", die ihre Bedeutungsfunktion
nur in Kombination mit anderen "Bündeln" erlangten. Wie eine Partitur
sowohl von links nach rechts - als logische, diachrone Abfolge - gelesen
werden kann, als auch von oben nach unten - in bezug auf das synchrone
Zusammenwirken der Instrumente miteinander so können auch mythi-
sche Daten, die in keiner unmittelbaren diachronen bzw. syntagmatischen
Verbindung stehen, miteinander korrespondieren, so etwa im thebanischen
Mythos die Drachentötung durch Kadmos mit der Überwindung der
Sphinx durch Ödipus. 58 Folgt man Levi-Strauss' Methode, ergeben sich -
auch für unser Beispiel - neue Perspektiven in der Deutung der Einzel-
funktionen. Wenn wir die synchrone Achse der Funktionen betrachten,
fällt die Doppelung des Blankoversprechens erneut ins Auge. Neben der
historischen Deutung der Erzählung - Herodot hält sich bis zu einem ge-
wissen Grad an reale Daten - und Vivienne Grays diachroner Interpreta-
tion als Triptychon ergibt sich in der paradigmatischen Analyse der Dop-
pelung vor allem die Steigerung eines bestimmten Rezeptionseffekts: das
Motiv des Blankoversprechens wird im Zusammenhang mit der Figur des
56
In Parenthese muß zusätzlich angemerkt werden, daß auch das Motiv der dop-
pelten Liebe eines Königs zu einer Mutter und einer Tochter in der erzählerischen Tradi-
tion verankert ist - und zwar ebenfalls im Zusammenhang mit einem Blankoversprechen,
Es handelt sich um die neutestamentliche Geschichte der Salome (Mt 14.1-12; Mk 6.14-
28; vgl. dazu auch Müller 2006, 298 A n m . 78). Auch hier ist die Mutter zunächst mit
dem Bruder des Königs verheiratet. Allerdings ist das Opfer der Intrige in dieser Erzäh-
lung eine vierte Figur, Johannes der Täufer. Bei Herodot wird die - potentielle - Geliebte
vernichtet, womit er der Semele-Geschichte wieder nähersteht.
57
Der Terminus ist analog der linguistischen Terminologie kreiert: Wie nach de
Saussure mehrere Phoneme ein M o r p h e m ergeben, mehrere M o r p h e m e ein Semantem
und mehrere Semanteme einen Satz, so ergeben mehrere Sätze zusammen das Mythem.
58
Levi-Strauss 1958, 231-235.
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 21
59
Die Herakles-Parallele hat bereits Beachtung gefunden bei Boedeker 1987, 189
und Burkert 1990. Stadter 2004, 37 sieht wieder Parallelen zur Figur des Paris (vgl. oben
A n m . 35), und zwar sowohl in der Elterngeneration, w o D e m a r a t o s ' 'irdischer' Vater
Ariston dem Agetos die Frau nimmt, als auch bei Demaratos selbst, der dem Leotychidas
die Perkalos abspenstig macht. Wie im Troia-Mythos fuhrt der Frauenraub zum Krieg.
22 Katharina Wesselmann
The result then would be that there are superstructures ..., which are broken
apart in the process of cross-cultural transmission, but that the basic structure of
the action pattern may transcend language barriers and provide communication
and understanding over a wide range of adjacent civilizations and periods.
(Burkert 1979, 22)
60
Aly 1921; vgl. oben Anm. 4.
61
Vgl. bes. Hartog 1999.
62
Vgl. Burkert 1972, 119-125; Boedeker 2002, 111.
63
Vgl. Boedeker 2002, 110-111.
64
Hier spricht Herodot nicht selbst, sondern rekurriert auf seine Quellen ( λ ε γ ο υ σ ι ) .
Da aber letztlich nicht entschieden werden kann, ob Herodot die ihm zugetragenen Be-
richte unverändert übernimmt, oder ob auch diese in hohem M a ß e durch seinen eigenen
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 23
Erzählstil geprägt werden, spielt die 'Qui parle'-Frage (vgl. Feeney in diesem Band, 178)
hier keine zentrale Rolle.
65
Zuerst belegt h.Bacch. 7. - Die Parallele wurde bereits gesehen bei Usener 1899,
160. Vgl. außerdem Lukian VH 2.39 und 41, w o die Delphinreiter (wie Arion einer ist)
im Text in verdächtiger Nähe zu den Wunderzeichen auf dem Schiff genannt werden (u.
a. bringt der Mastbaum plötzlich Reben und Trauben hervor wie im Dionysosmythos).
Offenbar ist die Verwandtschaft der beiden Geschichten schon in der Antike bemerkt und
fortgeführt worden. Bowra 1963, 131-133 nennt andere mythische Folien zu Herodots
Arion-Geschichte, ebenso Aly 1921, 36.
66
Aly 1921, 57 stellt an dieser Stelle auch sprachliche Parallelen zu Homer fest. Das
Motiv der gewaltsamen Bändigung von Gewässern ist in den Historien auch sonst ver-
breitet (vgl. 4.87-89, 118; 7.22-24, 34-37), die mythische Parallele wird 1.189 jedoch am
deutlichsten.
24 Katharina Wesselmann
67
Vgl. oben S. 3 mit Anm. 9.
68
Es ist nicht anzunehmen, daß ein breiteres Publikum Zugriff auf den Text hatte, so
zumindest die communis opinio der heutigen Forschung; vgl. bes. T h o m a s 1993. - Dage-
gen isoliert Johnson 1994.
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 25
der antiken Literatur allgemein üblich ist: "Nicht nur mythische, sondern
noch viel spätere Ereignisse sind hier [in der antiken griechischen Litera-
tur] so lange in der Erzählung umgestaltet worden, bis sie typisch, spre-
chend, characteristisch lauteten", formuliert dies bereits Jacob Burckhardt
(1898, 22). Deborah Boedeker bezieht sich konkret auf die mythischen
Muster bei Herodot:
69
Definition bei Tylor 1871, 16.
70
Vgl. Eric Csapos Kritik in Csapo 2005, 32 und 44-51.
71
Mondi 1990, bes. 150-151.
26 Katharina Wesselmann
sehe Textsorten übertragen, wenn man die "cultural areas", die diese
Weltsicht aneinander weitergeben, nicht geographisch, sondern als ver-
schiedene interkulturelle Bereiche definiert: etwa als Dichtung und Prosa,
oder als mündlich und schriftlich tradierte Texte. Mondis "basic world
view" entspricht hier Emile Dürkheims "kollektivem Bewußtsein", das bei
Mitgliedern derselben Gesellschaft in der Verwendung gleicher Begriff-
lichkeiten und Gedankenverbindungen resultiert. Auch Dürkheim postu-
liert ein Eigenleben "von Gefühlen, Ideen und Bildern", die sich quasi von
selbst, nach eigenen Gesetzlichkeiten und oftmals ohne Zweck, miteinan-
der kombinieren, "ohne daß alle diese Verbindungen durch den Zustand
der darunterliegenden Wirklichkeit direkt befohlen oder genötigt würden"
(1912, 567). Er sieht dies insbesondere bei rituellen Handlungen und im
mythologischen Denken gegeben.72
Möglicherweise liegt nicht einmal die Entscheidung über die Verwen-
dung eines Begriffs, der ja ebenfalls ein soziales, kollektives Konstrukt ist,
beim Einzelnen: "Begrifflich denken heißt nicht einfach, gemeinsame
Merkmale einer bestimmten Anzahl von Objekten zu isolieren und zusam-
menzufassen; es heißt, das Veränderliche dem Beständigen unterzuordnen,
das Individuelle dem Sozialen" (1912, 587).73
Dies trifft natürlich vor allem für das Vokabular einer Sprache zu, läßt
sich aber unschwer auf größere Wortgruppen, also auch auf mythische
Erzählmotive, übertragen, ist doch der Mythos per deflnitionem eine tra-
ditionelle, also kollektive Erzählung.
Folgt man diesen Überlegungen, erscheint es notwendig, daß Herodot
sich auch in der neuen literarischen Gattung des herkömmlichen narrati-
ven Systems seiner Gesellschaft bedient - die noch sehr wenige vom My-
thos komplett abgetrennte Erzählformen kennt. Wenn in Griechenland
jede Art von Dichtung mit gesellschaftlichen, meist religiösen Ritualen
verbunden ist, die Religion also die griechische Literatur überall durch-
dringt - wieso sollte dann die frühe Geschichtsschreibung eine Ausnahme
bilden, die ja Homer und Hesiod mindestens ebenso verpflichtet ist wie
den wenigen vorausgehenden Prosaschriftstellern?
72
Dürkheims These resultiert u. a. aus der Erläuterung des Kultes der Schlange
Wollunqua bei den australischen Warramunga: Der Ritus läuft genauso ab wie Bittriten
an andere Gottheiten - nur mit dem Unterschied, daß von Wollunqua keine Gegen-
leistung erwartet wird. Dennoch bleibt die rituelle Form dieselbe (507-521).
73
Vgl. Dürkheim 1912, 577-587.
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 27
Emile Dürkheim stellt in den Raum, daß der Mythos ohnehin eine spe-
zifische Art von Wissenschaft darstellt: "Hier wie dort handelt es sich
darum, die Dinge miteinander zu verknüpfen, unter ihnen innere Verbin-
dungen nachzuweisen, sie zu klassifizieren und zu systematisieren" (1912,
574).
"Mythical thinking ... provides, most of all, a synthesis for isolated
facts", postuliert auch Walter Burkert (1979, 25) und führt neben anderen
Beispielen die Verbindung verschiedener, sich gegen die griechische Ko-
lonisierung widersetzender Völker mit den Troianern an, die in der antiken
Literatur immer wieder hergestellt wird. Daß die Frage nach "historical
truth" hier keine Rolle spielt, ist offensichtlich.
The tale ... needs distinct and plausible characters, motivation, and continuity to
be effective. On the other side there are simply facts, stubborn and often annoy-
ing. The tale is flexible, it may accomodate itself; there are many possibilities of
reinterpretation and reelaboration to make the tale fit the circumstances.
(Burkert 1979, 27)
pattern of universal human behavior and thus describe the human situation
in the world ..." (42).74
74
Stadter 2004, 31-33 stellt diese literarische Strategie in eine lange Tradition: auch
bei Homer lasse sich bereits "some explicit sense of applying tradition to the present of
the main narrative" erkennen (32). So führt Phoinix gegenüber Achilleus das Negativ-
beispiel des Heros Meleager an (11. 9.527-605), um eine Analogie zwischen Heroen-
mythos und Gegenwart herzustellen.
75
Burkert 1979, 57.
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 29
Das Verhältnis des Mythos zum Text funktioniert ähnlich. Auch der
Text stellt eine 'Als-Ob'-Aktivität dar, indem er die historische Realität
abbildet (ein Effekt, der zu Herodots Zeit durch den Akt des Vorlesens,
also einer Quasi-Aufführung, gesteigert wird). Das mythische Element
verleiht der Erzählung Sinn - während die referierten Realien ihrerseits
wieder den Mythos untermauern. Konkret auf Herodots Historien bezo-
gen, bedeutet das, daß es für das antike Publikum uninteressant wäre,
wenn Herodot bloße Fakten referierte. Stattdessen muß das Berichtete in
einen Kontext eingeordnet werden, aus dem auch hervorgeht, warum es
berichtet wird. Ein modernes Publikum mag von einem Historiker eine
möglichst nüchterne Aufzählung von Fakten erwarten oder sogar fordern;
bei Herodots Rezipienten ist dies sicherlich nicht der Fall. Um dem Be-
richteten einen Sinn zu geben, wird es vor der mythischen Folie erzählt -
und die Imitation des Zeus wird vom Publikum richtig verstanden. Hero-
dot referiert nicht irgendeine Palastintrige am persischen Hof, sondern
erzählt von der Hybris des Xerxes und erklärt damit implizit sein Schei-
tern.
Natürlich steigert diese zusätzliche semantische Ebene auch das ästhe-
tische Vergnügen beim Hören oder Lesen der Historien, das bereits Thu-
kydides konstatiert, wenn er über seine Vorgänger (λογογράφοι) schreibt,
sie 'fügten ... die Dinge eher danach zusammen, ob sie reizvoll zu hören
seien [έπΐ τό προσαγωγότερον τη άκροάσει], als danach, ob sie wahr
seien, da sie ja nicht beweisbar seien und im Verlauf der Zeit zum Großteil
auf unglaubwürdige Art den Bereich des Fabelhaften erreicht hätten [έπι
τό μυθώδες έκνενικηκότα]' (1.21). 76 Man stelle sich etwa den Kroisos-
Logos seiner anekdotenhaften Elemente beraubt vor: "... the merest ske-
leton of a narrative - no longer the full-fleshed and organic account of the
human condition that the short stories make it" (Gray 2002, 304).
Herodots Figuren erfahren durch die 'Mythisierung' durchaus eine
Form der Erhöhung über die historischen Personen hinaus. Carlo Brillante
hält fest, daß "events and persons of particular significance" in der grie-
chischen Geschichtsschreibung des öfteren in die mythische Sphäre auf-
steigen, "almost as if what was really notable could not happen at the
76
Mit unserem heutigen Verständnis des Begriffes ' M y t h o s ' hat τδ μ υ θ ώ δ ε ς nichts
zu tun - auch Thukydides nimmt König Minos, den Troianischen Krieg und ähnlich
Sagenhaftes in sein Geschichtswerk auf; vgl. Graf 1985, 119. Offensichtlich gesteht er
seinen Vorgängern größere dichterische Freiheit zu als sich selbst (ob έκνικαν έπι τό
μ υ θ ώ δ ε ς pejorativ gemeint ist, ist fraglich).
30 Katharina Wesselmann
simple historical level" (Brillante 1990, 103). Wie der Mythos historische
Inhalte ausdrücken konnte, war es also umgekehrt auch möglich, daß
historische Inhalte sich zu mythischen Dimensionen aufschwangen. Am
deutlichsten wird dies natürlich bei der tatsächlichen Heroisierung histori-
scher Persönlichkeiten, einer Integration also der historischen Realität in
die bedeutungsvollere Realität des Mythos. 77
Für Herodot hat dies kürzlich Mischa Meier festgestellt, der anhand
der Deiokes-Episode (1.96-101.1) eine neue Synthese aus Mythos und Ge-
schichte erkennt, wobei auch "die darzustellende Menschengeschichte my-
thische Qualität aufweisen [mußte]. Nur wenn der Mythos in den Bereich
des Normalen gerückt und gleichzeitig das Normale dem Mythos ange-
nähert wurde, war eine Verbindung beider Bereiche möglich" (Meier
2004, 40).78
Claude Levi-Strauss gelangt durch seine oben besprochene Analyse
der synchron-paradigmatischen Achse zu einer Erkenntnis, die gerade im
Falle Herodots von großer Bedeutung ist: der Mythos handelt zwar von
irreversibel Vergangenem und stellt als Akt der parole eine unumkehrbare
lineare Handlungssequenz dar, ist aber zum anderen als abstraktes sprach-
liches System, als langue, von zeitloser Gültigkeit:
... der dem Mythos beigelegte innere Wert stammt daher, daß diese Ereignisse,
die sich j a zu einem bestimmten Zeitpunkt abgespielt haben, gleichzeitig eine
Dauerstruktur bilden. Diese bezieht sich gleichzeitig auf Vergangenheit, Gegen-
wart und Zukunft. (Levi-Strauss 1958, 229-230) 79
77
Daß Herodot Figuren weniger heroisiert als mit mythischen Handlungsmustern
versieht, verleiht seinem Bericht in derselben 'heroischen' Weise zusätzliche Bedeutung,
wie dies bei der Mythisierung historischer Persönlichkeiten der Fall sein kann. Dies muß
allerdings unterschieden werden von einer Glorifizierung der jeweiligen Figur, die bei
Herodot - wenn überhaupt - nur partiell auftritt (vgl. etwa die heroisierte Geburtsge-
schichte des Kyros, 1.107-122, deren Wirkung spätestens durch sein Scheitern beim Mas-
sagetenfeldzug gebrochen wird, 1.204-214).
78
Im folgenden (bes. 40-46) ordnet Meier Herodot plausibel einer allgemeinen Ten-
denz der zeitgenössischen Literatur und Kunst zu, die in einer konsequenten Mythisie-
rung der mit den Perserkriegen zusammenhängenden Ereignisse besteht (als Beispiele
werden u. a. Simonides, Phrynichos und Aischylos genannt). Herodots Mythisierung
historischer Ereignisse erstreckt sich jedoch nicht nur auf die Perserkriege, vgl. etwa die
Aussetzung des Kyros. Im übrigen steht der Begriff der Mythisierung bei Meier zwar für
dichterische Ausschmückung, nicht aber für eine Orientierung an traditionellen Erzähl-
strukturen.
79
Vgl. Levi-Strauss 1958, 230: "Diese doppelte, zugleich historische und ahisto-
rische Struktur erklärt, daß der Mythos sowohl in das Gebiet des gesprochenen Wortes
gehört (und als solcher analysiert werden kann) wie in das der Sprache (in der er formu-
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 31
Das Interesse, das wir an der Vergangenheit zu nehmen glauben, ist also in
Wahrheit nur ein Interesse an der Gegenwart; indem wir sie fest mit der Ver-
gangenheit verknüpfen, meinen wir, die Gegenwart dauerhafter zu machen, sie
festzuschnüren, sie daran zu hindern, zu entfliehen und selbst Vergangenheit zu
werden. Als ob die Vergangenheit, in Berührung mit der Gegenwart, durch eine
geheimnisvolle Osmose selbst zur Gegenwart würde und die Gegenwart damit
vor ihrem Schicksal bewahrt bliebe, nämlich Vergangenheit zu werden. Und
zweifellos beabsichtigen die Mythen eben dies für das, wovon sie sprechen;
doch das Erstaunliche ist, daß sie es wirklich für das tun, was sie sind.
(Levi-Strauss 1971, 710)
... daß weder die Taten der Menschen durch die Zeit ausgelöscht werden, noch
die großen, wunderbaren Werke der Griechen und Barbaren ruhmlos werden ...
liert wird) und dabei auf der dritten Ebene denselben Charakter eines absoluten Objekts
hat." Sehr ähnlich bereits Eliade 1949b, bes. 447-470.
80
Vgl. Brillante 1990, 98-99.
32 Katharina Wesselmann
für solche Adaptionen der Gegenwart an den Mythos spricht Eliade eben-
falls von einer "'Mythisierung' historischer Persönlichkeiten" (64).
Hierbei werden "Kategorien anstelle von Ereignissen, Archetypen anstelle
von historischen Gestalten" gesetzt, das Exemplarische für das Indivi-
duelle: "Die geschichtliche Figur wird ihrem mythischen Modell ... ange-
glichen, während das Ereignis in die Kategorie der mythischen Handlun-
gen eingeordnet wird ..." (69). Den Grund sieht Eliade ebenfalls in einer
Sinnebene, die dem Vergangenen unterlegt wird: "Besaß denn der Mythus
nicht viel mehr Wahrheitscharakter, da er doch der Geschichte einen tiefe-
ren und reicheren Ton verlieh?" 81
5. Schluß
81
Eliade 1949a, 73; vgl. insgesamt bes. 55-76.
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 33
82
Demaratos gibt Xerxes einen wertvollen Rat, der ihm hilft, den Thron zu bestei-
gen (7.3); als nächstes begegnen wir ihm als hochgeehrtem Ratgeber des Großkönigs; er
ist eine wichtige Figur im weiteren Verlauf des Werkes.
83
Burkert 1990 bringt den 'göttlichen' Vater des Demaratos, Astrabakos, mit dem
spartanischen Kult der Artemis Orthia in Verbindung, der initiatorische Funktion hatte
und sich laut Burkert durch ungewöhnliche Brutalität auszeichnete (Menschenopfer,
Geißelung der Initianden). Hier sieht Burkert eine Parallele zum Schicksal des Dema-
ratos, der durch die göttliche Abstammung "zu Ungewöhnlichem bestimmt ist", vor sei-
nem Triumph aber "Absetzung, Entehrung, Exil" erdulden muß. Er sieht in der Episode
"in mythischer Form die Propaganda, die im Jahr 480 dem Demaratos vorausging und
das Programm der Exilregierung andeutete" (90-91).
34 Katharina Wesselmann
So mag die Sinngebung bei jeder 'Mythisierung' eine andere sein; die
bessere Strukturierung der Erzählung durch die Annäherung an den My-
thos ist jedoch in jedem Fall gegeben.
Herodots Verarbeitung des Mythos in seinen Historien hat nicht nur
strukturelle, sondern auch inhaltliche Tradition, wenn man Burkerts ab-
schließende Definition des Mythos heranzieht:
Burkert betont gerade die soziale Relevanz des Mythos im Privaten und
Politischen, in Wissenschaft und Philosophie, sowie die Bedeutung der
Namen, die den Mythos mit "families, tribes, cities, places, rituals,
festivals, gods, and heroes" in Verbindung bringen (23-24).
Mit der traditionellen Anwendung in einem neuen literarischen Genre,
durch das Wiedererkennen vorgegebener Strukturen in neuen Ereignissen
und durch die Kontextualisierung alter Figuren unter neuen Namen hält
Herodot den Mythos am Leben. Gerade in der Veränderung seiner Eck-
daten, in der Adaption der Tradition auf aktuelles, für das zeitgenössische
Publikum relevantes Geschehen, behält der Mythos seine ureigene Funk-
tion und Identität. "Tradition is history, and the traditional tale cannot be
exempt from it" (27).
Lassen wir zum Schluß Herodot selbst erklären, was er tut. Im neunten
Buch der Historien findet sich ein aussagekräftiger Kommentar zu einer
Handlung des Teisamenos, der für sich und seinen Bruder das Bürgerrecht
in Sparta fordert, weil ihn die Lakedaimonier aufgrund eines Orakels als
'Glücksbringer' benötigen (9.33-35). Herodot vergleicht dies mit dem
Verhalten des mythischen Heros Melampus, der für die Heilung der argi-
vischen Frauen von der Raserei die Königswürde fordert, und zwar für
sich und seinen Bruder. Von Teisamenos heißt es bei Herodot folglich:
ούτος έμιμέετο Μελάμποδα. Wie Teisamenos ein Verhaltensmuster an-
nimmt, das im Mythos bereits vorgeprägt ist, so agieren auch die übrigen
Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien 35
Katharina Wesselmann
Seminar für Klassische Philologie, Universität Basel
36 Katharina Wesselmann
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vierten, mit einem bibliographischen Nachwort versehenen Auflage, Düsseldorf
2005.
οΰ μοι δσιόν έστι λέγειν.
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos
1
Chamberlain 2001, 6 Anm. 3 bezeichnet Herodot gar als den "founder of discursi-
vity"; aus anderer Perspektive läßt sich das Phänomen als "digressional structure" be-
schreiben, die unter dem Stichwort π ο ι κ ι λ ί α bereits von antiken Kritikern beobachtet
wurde; dazu Rosier 2002, 83. Daß die Historiai als einheitliche Komposition gelten kön-
nen, wird heute nicht mehr bestritten: vgl. grundsätzlich dazu Cobet 1971; Erbse 1992,
186, der von "geordneter Vielfalt" spricht, sowie Rosier 2002, 85-88.
2
Vgl. Boedeker 2000, 114, die Herodots Art der Berichterstattung mit dem Prinzip
der ισηγορία vergleicht; zugleich betont sie jedoch, daß "the mix of voices that comprise
Herodotean historia is strongly marked by the judgment and authority of the author"
(111); zur auktorialen Person in Herodots Werk vgl. auch Chamberlain 2001 und Dewald
2002.
42 Susanne Gödde
3
Der Terminus 'Poetik' wird hier nicht in seiner engeren Bedeutung, also im Sinne
einer Dichtungslehre oder einer Autorpoetik, verwendet, sondern er dient zur Bezeich-
nung eines bestimmten Verfahrens, bei dem der Gegenstand des Textes durch die spezi-
fisch literarische Darstellungsweise eine Reflexion erfährt. Eine solche Reflexion im
Medium einer im weitesten Sinne figurativen Sprache läßt sich zugleich als Distink-
tionsmerkmal für die Literarizität eines Textes bestimmen. - Für die Rekonstruktion einer
'Poetik des Rituals' in der Tragödie vgl. meine Untersuchungen zu Aischylos' Hiketiden
und Persern in Gödde 2000a und 2000b. Nach einer 'Poetik des Rituals' im Herodotei-
schen Werk fragt etwa Bowie 2004, der allerdings den Ägypten-Logos von seiner Unter-
suchung ausnimmt.
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 43
4
Vgl. ζ. B. die zahlreichen älteren Arbeiten zu den Herodoteischen Novellen (bes.
zur Gyges-Geschichte), von denen ich stellvertretend Aly 1921 nenne; aus jüngerer Zeit
vgl. etwa de Jong 2002; Gray 2002; Said 2002; Chiasson 2003.
5
Zu den Implikationen von ά π ό δ ε ξ ι ς : Nagy 1987; T h o m a s 2002, 249-269; Bakker
2002.
6
Bereits in der Antike wurde Herodot mit Homer verglichen, so zum Beispiel in ei-
ner Inschrift in Halikarnaß aus dem 2. Jh. v. Chr. oder von Pseudo-Longin, de Subl. 13.3;
dazu und grundsätzlich zum epischen Erbe Boedeker 2002 (zu den antiken Zeugnissen:
97-98); vgl. auch N a g y 1987, der das P r o g r a m m des Herodoteischen P r o ö m i u m s mit
Blick auf den Homerischen α ο ι δ ό ς und dessen κ λ έ ο ς - K o n z e p t untersucht; zu Homeri-
schen Einflüssen vgl. ebenfalls Lang 1984; Lloyd 1988b, 23 und Said 2002, 147.
7
Die Nähe zu den Sophisten betonen: Dihle 1962; Burkert 1985, 127 und 131; 1990,
28; Thomas 2002.
8
White 1973 und 1978.
9
Vgl. den deutschen Titel von White 1978.
10
Zur sich daran anschließenden Writing-Culture-Debatte vgl. Berg/Fuchs 1993,
Bachmann-Medick 1996 sowie Schlesier 1999; grundsätzlich zur Verbindung von Kul-
turanthropologie und Altertumswissenschaft: Schlesier 2000.
44 Susanne Gödde
11
Für Aristoteles steht außer Frage, daß Herodots Werk auch dann keine Dichtung
wäre, wenn man es in Verse kleiden würde. Anders als vielen modernen Forschern war es
für ihn also unbestreitbar, daß Herodot von γ ε ν ό μ ε ν α , also von historischen Tatsachen,
berichtet. Zur Aristotelischen Unterscheidung von (epischer) Dichtung und (Herodotei-
scher) Geschichtsschreibung vgl. Cobet 1971, 185-186 mit A n m . 734 und Boedeker
2002, 98.
12
Dougherty/Kurke 1993, 6.
13
Vgl. Geertz 1980.
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 45
dependenz von Religion und Literatur gefragt werden soll, so muß diese
Frage für das Herodoteische Werk erweitert werden um die Kategorie der
'Wissenschaft'. Dabei ist es naheliegend, sich für die Untersuchung einer
'Poetik des Rituals' auf Herodot als Religionswissenschaftler 14 zu kon-
zentrieren und nach der durch einen seiner zentralen Gegenstände - die
religiöse Praxis der von ihm beschriebenen Völker - bedingten spezifi-
schen Logik seiner wissenschaftlichen Erzählung zu fragen. Denkbar
wäre, daß Religion und religionswissenschaftliche Darstellung, Praxis und
Theorie einander in Herodots Werk gegenseitig bedingen, so daß das lite-
rarische Verfahren Aspekte des Gegenstands, der griechischen Religion,
erhellt, umgekehrt aber ein genaueres Verständnis von Kategorien wie der
des Rituals oder des Mythos das Verfahren der Narration beleuchten kann.
Anders als für die Homerischen Epen, die archaische Chorlyrik oder das
attische Drama läßt sich die Hypothese einer Poetik des Rituals für Hero-
dot aller Wahrscheinlichkeit nach nicht durch den Aufführungskontext
und damit die Verankerung in einer konkreten, rituellen 'performance'
stützen. Zwar gilt als wahrscheinlich, daß Herodot aus seinem Ge-
schichtswerk in Athen öffentlich vorgelesen hat - Thukydides' program-
matische Zurückweisung eines άγώνισμα ές τό παραχρήμα άκούειν
(1.22.4) ist immer wieder als Hinweis auf Herodots mündlichen Vortrag
gedeutet worden -, 1 5 doch findet sich in unseren Quellen keinerlei Hin-
14
Vgl. Burkert 1990, 4: "Herodot [hat] unter den Begründern der vergleichenden
Religionswissenschaft Anspruch auf einen Ehrenplatz." - Die folgenden Arbeiten bieten
eine umfassende Bestandsaufnahme von Herodots Darstellung religiöser Praxis: Pötscher
1958; Lachenaud 1978; Mora 1985; Burkert 1990; Gould 1994; Harrison 2000; Mikalson
2003. D e w a l d / M a r i n c o l a 2 0 0 6 - darin zur Religion: Scullion - waren zur Zeit der
Abfassung des Manuskriptes noch nicht erschienen.
15
Von Herodots Vortragstätigkeit ist in der späteren Antike immer wieder die Rede;
vgl. T h o m a s 2002, 249-269, bes. 257; den mündlichen Erzählstil Herodots untersucht
etwa Lang 1984. Doch wird in der jüngeren Forschung auch die schriftliche Komposition
des Werkes immer deutlicher herausgearbeitet: Gegen die Polemik des Thukydides und
die daran sich anschließende communis opinio argumentieren Johnson 1994 und Rosier
2002, 81-82 und 94; grundsätzlich zu Herodots Position zwischen Mündlichkeit und
Schriftlichkeit vgl. Lloyd 1988b, 29-30 sowie Rosier 1991 und 2002.
46 Susanne Gödde
weis auf ein Götterfest als Rahmen für eine solche Rezitation. 16 Ein Bezug
des Werkes auf einen religiös-rituellen Aufführungskontext wird also für
die folgende Argumentation keine Rolle spielen.
Jedoch präsentiert Herodots Text selbst natürlich permanent rituelle
Handlungen, die sich möglicherweise als Bausteine einer performativen
Poetik erweisen können: 17 Er schildert, wie Götterbilder geschmückt,
Feste gefeiert und Opfer vollzogen werden, 18 wie göttliche Zeichen gele-
sen und Orakel befolgt werden, 19 Tote beklagt und mit aufwendigen Be-
stattungsfeiern bedacht, wie Reinigungen vollzogen und Mysterien gefei-
ert werden; 20 im Rahmen der Hikesie werden heilige Räume als Zonen des
göttlichen Schutzes beansprucht und politisch funktionalisiert; 21 Eide wer-
den geschworen und Gräber von Heroen verlegt, um von ihrer Macht zu
profitieren. 22 Dabei geht es Herodot nur äußerst selten um eine Bewertung
dieser Praktiken gemäß einer absoluten Norm; im Vordergrund steht die
Relativität der jeweiligen νόμοι, die es ihm erlaubt, Konfigurationen des
16
Vgl. Johnson 1994. Lucianus, Herod. 1 allerdings läßt Herodot seine historiogra-
phischen Berichte, ähnlich wie die Sophisten der Zeit, bei den Olympischen Spielen öf-
fentlich vortragen.
17
Unter diesem Aspekt ließen sich etwa die Riten, die Xerxes beim Übergang über
den Hellespont vollzieht, untersuchen: 7.54; dazu Burkert 1990, 14 mit Anm. 40. Zu
strukturellen bzw. poetologischen Beziehungen zwischen den ethnographischen Berich-
ten und der Geschichte der militärischen Großereignisse vgl. Bowie 2004, ζ. Β. 276:
"The ethnography is again not purely descriptive therefore, but has a signifying function
in the narrative."
18
In jedem seiner ethnographischen Exkurse über fremde Völker widmet Herodot
mindestens ein Kapitel den jeweiligen Opferpraktiken, ζ. B.: Perser (1.131); Babylonier
(1.183); Massageten (1.216); Ägypter (2.39-40); Skythen (4.60); Taurer (4.103); Libyer
(4.188); Karer (5.119); für eine ausführliche Bewertung von Herodots Opferbeschreibun-
gen vgl. Burkert 1990, 14-20 und Gould 1994, 98-101.
19
Daß Herodot - entgegen seiner häufig formulierten Skepsis gegenüber der my-
thologischen Tradition - vehement für die Glaubwürdigkeit von Orakeln eintritt, ist im-
mer wieder betont worden: Burkert 1990, 28; Mikalson 2003, 140. - Vgl. ζ. B. 1.91;
8.20; 8.77; 8.96; 9.43.
20
Detaillierte Angaben über den Ablauf der in der gesamten Antike weitgehend ge-
heim gehaltenen Mysterienfeiern finden sich naturgemäß auch bei Herodot nicht; vgl.
etwa die Andeutungen in 8.65; Genaueres zu Herodots Umgang mit Mysterien unten.
21
Burkert 1990, 13 verweist auf "die präzisen und nachprüfbaren Angaben über das
ägyptische Asylwesen ausgerechnet im Zusammenhang mit der so kühn konstruierten
Erzählung von Helena und Proteus (2.113)"; vgl. Lloyd 1988b, 47. Weitere Beispiele für
ί κ ε τ ε ί α oder α σ υ λ ί α : ζ. Β. 1.26; 1.157-160; 3.48; 5.71; 6.79; 6.91; 7.141. Eine systema-
tische Untersuchung von Asylritualen in Herodots Historiai stellt meines Wissens bisher
ein Desideratum dar.
22
Zur politischen Bedeutung des Heroenkultes vgl. Boedeker 1993.
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 47
23
Vgl. hierzu vor allem Hartog 1980 und Burkert 1985, 132 und 1990, bes. 4-5, so-
wie zu Herodots νόμος-Konzept 22-25.
24
Locus classicus für die Relativität der νόμοι ist das Kapitel 3.38, in dem Herodot,
nachdem er Kambyses für wahnsinnig erklärt, weil er die religiösen Bräuche fremder
Völker mißachtet, Pindars berühmtes Diktum vom νόμος β α σ ι λ ε ύ ς zitiert. Vorbehalte
einzelner Völker gegen fremde Bräuche werden ebenfalls in 1.131 (Perser verachten den
Anthropomorphismus anderer Völker) oder in 4.78-80 (Mißachtung des Dionysos-Kultes
durch die Skythen) referiert. Zum letzten Beispiel vgl. Bowie 2004, 273, der die Ableh-
nung fremder Bräuche bei den Skythen in Analogie zu ihrem militärischen Widerstand
sieht und hier ein gezieltes Darstellungsverfahren Herodots annimmt.
25
Gould 1994, 105. Kritisch zu dieser Position Harrison 2000, 19 und 220-221 so-
wie Mikalson 2003, 136 mit Anm. 1 und 156 mit Anm. 69, die die zugrundeliegenden
Glaubensvorstellungen - und zwar auch Herodots eigene - stärker gewichten möchten.
Doch auch Gould 1994, 92 (vgl. auch 94) reklamiert für Herodot durchaus "a recogni-
zably religious feeling of inhibition in the face of at least some manifestations of divi-
nity".
26
Burkert 1990,31.
27
Ζ. B. 1.19.1-2; 1.34.1; 1.105.4; 2.120.5; 6.73-75; 6.134; 7.134-137; 9.65; einige
dieser Stellen bespricht Burkert 1990, 29-30.
28
Ζ. Β. 1.32; 3.40; 7.10.
48 Susanne Gödde
die Zuverlässigkeit göttlicher Zeichen und Orakel - all dies sind Deu-
tungsmuster, die Herodot zur Motivierung und Erklärung der historischen
Ereignisse anfuhrt, ohne sich von ihnen zu distanzieren. 29 Der gegenüber
der epischen und tragischen Literatur tendenziell abstrakte Gottesbegriff -
also die häufige Verwendung von Formeln wie 6 θεός oder τό θείον - 3 0
entspricht dem Befund einer Zurückhaltung gegenüber den traditionellen
Mythen, die Herodot gelegentlich explizit äußert. Wie diese Skepsis, die
wiederum mit einer latenten Kritik an dem Unternehmen der Dichter -
zumal an Homer und Hesiod - verbunden ist, genau zu verstehen ist, soll
weiter unten ausfuhrlich erörtert werden.
Schließlich begegnen wir im Herodoteischen CEuvre über den Bericht
des auf den Reisen Beobachteten hinaus auch Ansätzen zu einer 'Theorie
der Religion'. Vor allem in seinem ausführlichen zweiten Buch, das der
Kultur Ägyptens gewidmet ist, reflektiert Herodot immer wieder die Her-
kunft der griechischen Religion, die er - zumal was die Namen der Götter
betrifft - weitgehend aus der ägyptischen ableitet. Dem für die Schilde-
rung der νόμοι zu konstatierenden relativistischen Kulturkonzept läßt sich
im Bereich der Götter ein synkretistisches bzw. diffusionistisches Modell
an die Seite stellen, nach dem alle Völker nahezu dieselben Götter vereh-
ren, nur unter verschiedenen Namen und eben mit unterschiedlichen Ri-
ten.31 Dieses Modell gilt vor allem für den Kulturkontakt zwischen Ägyp-
ten und Griechenland: Die ägyptischen Götter Isis, Osiris, Bubastis, Neith,
29
Vgl. Gould 1994, 93; gegenüber den Darstellungen ritueller Praktiken, die den
zeitgenössischen Kulten entsprächen, führt Mikalson 2003, 148-156 die hier genannten
religiösen Erklärungsmuster eher auf die, vor allem durch Solon, aber auch durch Epos
und Tragödie geprägte poetische Tradition zurück.
30
Vgl. dazu Linforth 1924, 287; Pötscher 1958; Harrison 2000, 158-181; Mikalson
2003, 139.
31
Zu diesem für Herodots Religionsverständnis zentralen Phänomen vgl. Linforth
1924, 275 mit Anm. 7 und 285; Linforth 1926; Gould 1994, 103; Lloyd 2002, 431-432.
Mikalson 2003, 173 folgert aus diesem Befund: "The deities of Herodotus' world are
culturally determined, but the ' d i v i n e ' , in essence, is not." Die konkrete Frage " W h a t
does it mean when Herodotus names Isis Demeter?" (Mikalson 2003, 179) bleibt jedoch
weitgehend unbeantwortet; ausführlich zum Namenskonzept bei Herodot: Burkert 1985,
der Herodots Thesen vor dem Hintergrund sprachtheoretischer Überlegungen der Antike
diskutiert und sein Vorgehen beschreibt als das "Prinzip, die Frage nach der 'Richtigkeit'
zurückzustellen zugunsten der Frage nach kulturellen Z u s a m m e n h ä n g e n " (132). - Zu
Herodots Gleichsetzung fremder Götter mit denen der Griechen vgl. ζ. B. 1.131 (von den
Persern); 2.42; 50.1; 59; 156 (von den Ägyptern); 3.8 (von den Arabern); 3.97 (von den
Aithiopen); 4.59.1-2; 61 (von den Skythen); 4.108 (Gelonen); 5.7 (Thraker). - Zu Zeug-
nissen für solche Gleichsetzungen bereits vor Herodot, u. a. bei Hekataios, vgl. Burkert
1999, 80-81.
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 49
Ammon, Horos und Mendes sind für Herodot analog zu bzw. identisch mit
Demeter, Dionysos, Artemis, Athene, Zeus, Apollon und Pan. Ebenso wie
er die religiösen Vorstellungen der Ägypter in dieser Gleichsetzung einer
interpretatio Graeca unterwirft, so scheint sich ihm die griechische Reli-
gion bisweilen als jüngeres Abbild der ägyptischen darzustellen. 32 Neben
der Behauptung einer Analogie zwischen den Götter-Systemen der einzel-
nen Völker fällt in Herodots Überlegungen zur Religion besonders das
Bemühen um die Rekonstruktion einer historisch verbürgten Chronologie
der Göttergenerationen auf. Doch während das gut griechische Interesse
an der Genealogie der Götter - die Frage nach ihrem Alter und ihrer Ent-
stehung (also ihrem konkreten 'Geboren-Werden') - zunächst traditionel-
len Mustern folgt, 33 vertritt Herodot in anderen Zusammenhängen die An-
sicht, daß der griechische Götterapparat - und zwar sowohl die Entstehung
der Götter (θεογονίη) als auch ihre Gestalten, Beinamen und Zuständig-
keitsbereiche - auf niemand anders als die Dichter, allen voran Homer und
Hesiod, zurückgehe, also im wesentlichen eine poetische Erfindung sei
(2.53).
Angesichts dieser und ähnlicher Beschreibungsmuster, die Herodot auf
die Religion der von ihm bereisten Völker anwendet und auf die ich weiter
unten zurückkommen werde, sieht die moderne Forschung sich immer
wieder mit der Frage konfrontiert, wie das Nebeneinander von traditio-
nellem Götterglauben einerseits und aufgeklärter wissenschaftlicher Skep-
sis andererseits in Herodots Werk zu erklären sei. Im folgenden soll ein
Versuch unternommen werden, diese Vermischung zweier scheinbar kon-
trärer Positionen besser zu verstehen. Dabei wird nach spezifischen Wei-
sen der Inszenierung des Wissens über die fremde und die eigene Religion
gefragt und der literarische Darstellungsgestus als Indikator bestimmter
theoretischer Stellungnahmen und Deutungen des Materials gewertet. Den
Ausgangspunkt meiner Überlegungen stellen die berühmten Aposiopesen
des zweiten Buches der Historiai dar, also jene Stellen, an denen Herodot
uns mitteilt, daß er bestimmte Elemente des Mythos bzw. des Kultes nicht
32
Grundsätzlich zur Interdependenz von griechischer und ägyptischer Religion in
Herodots Modell: Zographou 1995; Lloyd 2002, 430-432; Linforth 1940 sowie die unten
in Anm. 34 genannte Literatur; allgemein zum Kulturkontakt zwischen Griechenland und
Ägypten vgl. die Angaben in Anm. 54.
33
Zu denken ist hier vor allem an Hesiods Theogonie.
50 Susanne Gödde
τά μεν νυν θεία των άπηγημάτων οία ήκουον, οΰκ ειμί πρόθυμος
έξηγέεσθαι, εξω ή τά ούνόματα αυτών μοΰνον, νομίζων πάντας
34
Zu differenzieren sind dabei zwei unterschiedliche Modi der Zurückhaltung von
Information; vgl. unten. - Diese Textstellen sind zentral für Herodots Theorie der Reli-
gion und sind dementsprechend häufig behandelt worden: Sourdille 1910 und 1925; Lin-
forth 1924; Lachenaud 1978, 137-157; Mora 1983; 1985, 130-139; Darbo-Peschansky
1987, 35-38 und 41-43; Lateiner 1989, 64-67 und 73-74; Harrison 2000, 182-207.
35
Durch derartige Redemuster unterläuft Herodot den (dem Historiker traditionell
zugeschriebenen) Modus des konzisen Berichtes und stimuliert die Rezeption und Refle-
xion seines Publikums. Dabei ist zu berücksichtigen, daß solche rhetorischen Verfahren
ebenfalls in der Ritualsprache V e r w e n d u n g finden. Der Rekurs auf die Ritualsprache
wird erst dann zum Teil einer 'Poetik des Rituals', wenn das rituelle Segment im Dienste
einer bestimmten Reflexion transformiert wird. Zur ästhetischen und rhetorischen Funk-
tion des Schweigens in der Literatur vgl. Groddeck 1995, 73 und 193-194 (zur Praeteritio
und Aposiopese) sowie, fur die Tragödie, Gödde 2005.
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 51
Was nun auf Göttliches geht von den Erzählungen [ic. der Priester in Memphis,
Theben und Heliopolis], wie ich sie hörte, das bin ich nicht willens weiterzuer-
zählen, außer etwa ihre N a m e n allein; denn ich denke, alle Menschen haben
davon die gleiche [geringe] Kenntnis. Und wenn ich etwas erwähne, werde ich's
nur erwähnen, weil der Zusammenhang mich nötigt. 36
36
Ich gebe hier (leicht modifiziert) die Übersetzung von Walter Marg 1973 wieder,
die allerdings grundsätzlich mit Vorsicht zu gebrauchen ist (vgl. z. B. die ungenaue Über-
setzung in 2.50.1); das Wort 'geringe' setze ich in eckige Klammern, da es im griechi-
schen Text nicht vorkommt. Der griechische Text wird zitiert nach der O C T - A u s g a b e
von Hude 1908.
37
Die Syntax allein läßt eine Entscheidung darüber, ob sich α ύ τ ώ ν hier auf τ ά ...
θ ε ί α των ά π η γ η μ ά τ ω ν oder auf τ ά ο ύ ν ό μ α τ α bezieht, nicht zu. Linforth 1924, 276-277
fuhrt kontextuelle Argumente f u r die erste Alternative an; vgl. auch Lloyd 1976, 17;
Harrison 2000, 189: "This knowledge clearly cannot be of the names of the gods."
38
Diese These hat zuerst Linforth 1924 vertreten, der gegen Sourdille 1910 (vgl. die
folgende Anm.) formuliert: " . . . his [JC. Herodotus'] reason was, not that they [ic. the
stories about gods] were too sacred to repeat, but that they were not, and could not be, the
stuff of history" (287). Vgl. bereits Stein 1901 ad 2.3; How/Wells 1912 ad 23. Linforth
gefolgt sind vor allem Lachenaud 1978, 137-157; Lateiner 1989, 65; Lloyd in der Dis-
kussion zu Burkert 1990, 35 sowie Lloyd 2002, 431; vgl. Mikalson 2003, 144-145, der
ίσον auf die durch die poetische Tradition verbürgte Homogenität der θ ε ί α bezieht.
39
So vor allem Sourdille 1910 und 1925 (in Reaktion auf Linforths Kritik 1924).
Sourdille 1910, 12-13 (die ich nach Linforth 1924 und Harrison 2000 zitiere, da mir das
52 Susanne Gödde
senschaftlicher Rationalität und einem Atheismus, der erst gar nicht ge-
willt ist, Geschichten über Götter als Gegenstand von Geschichtsschrei-
bung ernst zu nehmen? 40 Ohne diese Frage bereits hier beantworten zu
wollen, läßt sich immerhin konstatieren, daß Herodot an der zitierten Stel-
le möglicherweise mit dem Charakter von Geheimwissen spielt, der be-
kanntlich darin besteht, daß etwas, das alle wissen, dennoch einem
Schweigegebot unterliegt. 41 Die von Walter Marg und anderen gegebene
Übersetzung des Wortes ϊσον, die von einer rationalistischen und skepti-
schen Position ausgeht, droht jedenfalls den Blick auf diese Möglichkeit
und damit auf den literarischen Gestus dieser Passage zu verstellen. Hero-
dots Formulierung stellt gleich zu Beginn des zweiten Buchs die Frage
'Was können wir über die Götter wissen?' in den Raum und insinuiert,
daß deren Beantwortung Grenzen verletzen könnte. Das Wissen um die
Götter wird so ex negativo zum Gegenstand der Reflexion von Autor wie
Reipienten gemacht.
Das Ägypten-Buch enthält einen zweiten Hinweis auf Herodots Vor-
behalt gegenüber der Rede von 'den göttlichen Dingen'. Im Anschluß an
die Behandlung der Reinheitsvorstellungen der Ägypter kommt er auf ihre
heiligen Tiere zu sprechen. Den Grund für deren heiligen Status aber will
er nicht angeben, was er wie folgt erläutert (2.65.2):
Buch nicht zugänglich war) nimmt an, daß ϊ σ ο ν sich auf das Mysterienwissen beziehe,
das in allen Mysterien der mediterranen Welt dasselbe gewesen sei. Ähnlich Mora 1981;
1983 und 1985. Linforth 1924, Lateiner 1989 und Harrison 2000, 189 mit Anm. 25 üben
vehemente Kritik an Sourdilles Thesen, räumen jedoch für Einzelfälle ein, daß Herodots
Zurückhaltung auf Frömmigkeit bzw. auf die Verpflichtung gegenüber einem bestimmten
(Mysterien-)Kult zurückzuführen sei: Linforth 1924, 281-282; Lateiner 1986, 65; Harri-
son 2000, 188.
40
So die Grundthese der in Anm. 38 genannten Forscher, die jedoch im Einzelfall
relativiert wird (vgl. Anm. 39).
41
Anders als Sourdille 1910 (vgl. Anm. 39) glaube ich weder, daß Herodot hier an
einen konkreten Mysterienkult denkt, dessen Geheimwissen er nicht verraten möchte,
noch, daß er die Ansicht vertritt, die Mysterien enthielten, im Gegensatz zur traditionel-
len Mythologie, exaktes Wissen von den Göttern. Genaueres dazu unten.
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 53
sträube ich mich durchaus. Und wenn ich dergleichen schon angerührt habe mit
meinen Worten, so sagte ich es, weil ich es nicht umgehen konnte. 42
42
Übers. M a r g 1973 modifiziert; gegenüber Margs ' e i n d r i n g e n ' f ü r κ α τ α β α ί ν ε ι ν
habe ich das wörtlichere 'herabsteigen' gewählt; statt 'enthüllen' hier wörtl. 'erzählen'.
43
Vgl. Harrison 2000, 182.
44
Prominentestes Beispiel ist die erste Nekyia der Odyssee in Buch 11; vgl. auch
Hdt. 2.122.1 sowie Graf 1999.
45
Linforth 1924, 273 Anm. 6 vermutet, daß Herodot sich mit der Verwendung des
Personalpronomens έγώ im ersten Zitat von den λογογράφοι seiner Zeit absetzt.
54 Susanne Gödde
46
Ähnlich bereits Linforth 1924, 280: "... since the subject was within his own
choice, his scruples could hardly have been strong enough to be called pious or religi-
ous."
47
Ζ. B. 2.146.1; 2.123.1; 4.96.2; 9.65.2; vgl. dazu auch Harrison 2000, 190.
48
Vgl. Linforth 1924, 269 und 271-272; Lloyd 1976, 17; Lateiner 1989, 65; Harri-
son 2000, 183.
49
Diese Gegenüberstellung erlaubt uns also, die elliptische Formulierung in 2.3.2 zu
verstehen als τ ά μεν ν υ ν θ ε ί α [πρήγματα] των ά π η γ η μ ά τ ω ν .
50
Während etwa Lloyd 1976, 17 die Unterscheidung Herodots als eine zwischen der
physischen und der metaphysischen Welt versteht, versuche ich die θ ε ί α π ρ ή γ μ α τ α im
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 55
dot den Begriff θεία πρήγματα, und das werden die weiteren Analysen
seiner Aussparungen bestätigen, ganz konkret für die 'Taten' bzw. 'Hand-
lungen' der Götter im Gegensatz zu ihren 'bloßen' Namen. Denn die
Götter als Handelnde darzustellen hieße, sie in der Gestalt von Menschen
zu zeigen, was ihm anders als den meisten seiner Zeitgenossen zu wider-
streben scheint, wie wir noch genauer sehen werden. Diese Grenzziehung
stimmt mit dem Befund überein, daß Herodot in den neun Büchern der
Historiai, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum regelrechte Götter-
geschichten erzählt - also Geschichten, in denen Götter als Akteure auf-
treten und die wir heute gemeinhin als 'Mythen' bezeichnen würden. 51 Die
Substitution der Geschichten ( π ρ ή γ μ α τ α ) durch Namen, deren Ver-
wendung in Herodot offenbar keinerlei Skrupel hervorruft, bedeutet zwar
eine deutliche Abstraktion und Distanzierung von der mythologischen
Tradition, doch bleibt festzuhalten, daß weder die Existenz noch die
Pluralität der Götter seiner wissenschaftlichen Skepsis unterliegt.52
folgenden noch spezifischer zu fassen. 'Metaphysisch' wären etwa auch die Orakel und
Götterzeichen zu nennen, denen Herodots Zurückhaltung jedoch nicht gilt.
51
Zur Deutung der θ ε ί α in diesem Sinn vgl. Linforth 1924, 273 und 288; Lateiner
1989, 65; Mikalson 2002, 198; daß Herodot sich mit dem Erzählen von Mythen zurück-
halte, bezweifelt Harrison 2000, 206-207 mit A n m . 99. - Die folgenden Erwähnungen
von Götter- und Heroen-Handlungen mögen als Ausnahmen von Herodots Regel gelten,
doch ist festzuhalten, daß Herodot sich dabei entweder durch den Hinweis auf ihren Sta-
tus als ' E r z ä h l u n g e n ' der Einheimischen oder durch eine explizite Ä u ß e r u n g von Un-
glauben von dem Berichteten distanziert: 1.181-182 (ιερός γ ά μ ο ς im Heiligtum von Ba-
bylon); 2.63 (Ares k o m m t zum Tempel seiner Mutter, um mit ihr zu schlafen); 2.91.3
(Epiphanie des Perseus); 2.122-123 (der ägyptische König würfelt im Hades mit Deme-
ter); 2.156 (Leto verbirgt ihren Sohn Apoll auf der Insel Chemmis, um ihn vor Typhon zu
retten); 6.105.3 (Pan erscheint einem Herold im Gebirge); 6.127.3 (ein Grieche habe die
Dioskuren in seinem Haus empfangen). - Berichte von Götterzeichen (ζ. B. der Blitz des
Zeus in 4.79) oder vom Eingreifen der Götter in die Angelegenheiten der Menschen
(ζ. B. 6.98: Apollon; 7.129.4 und 8.13: Poseidon; 9.65.2: Demeter - vgl. zu diesen
Stellen Mikalson 2003, 137-138) fallen nicht unter die A u s n a h m e n , da hier die Götter
nicht in anthropomorpher Gestalt gezeigt werden, sondern unsichtbar bleiben. - Als die
massivste Überschreitung werden in der Forschung häufig - m. E. jedoch zu Unrecht -
die E x k u r s e zu H e r a k l e s (2.43-45) und zur C h r o n o l o g i e der Götter ( 2 . 1 4 2 - 1 4 6 )
angesehen: vgl. Linforth 1924, 289-292; Lloyd 1976, 18; Lateiner 1989, 247 Anm. 17;
Harrison 2000, 187-188 und meine Ausführungen unten in Abschnitt 6.
52
Darin unterscheidet sich Herodot von der philosophischen Kritik gegenüber dem
traditionellen Bild der Götter, wie sie etwa Xenophanes (21 Β 11-15, 23-26, 34-35 D K )
oder Protagoras (80 Β 4 DK) äußern; vgl. Linforth 1924, 286 mit Anm. 16; Lloyd 1976,
18-19 sowie unten Anm. 122; zu einer möglichen wörtlichen Anleihe Herodots bei Pro-
tagoras in 1.53.1 (όκοΐοί τέ τ ί ν ε ς τ ά ε ϊ δ ε α ) vgl. Burkert 1985, 131; grundsätzlich zu
sophistischen Zügen in Herodots Denken vgl. die oben in A n m . 7 genannte Literatur.
56 Susanne Gödde
53
Die Ansicht, daß den Aussparungen der θ ε ί α π ρ ή γ μ α τ α , die Herodot in 2.3 und
2.65 zu seinem Programm erhebt, und den im folgenden zu besprechenden Aposiopesen
im Kontext bestimmter Kultgeschichten dieselbe Logik unterliegt, haben vor allem Sour-
dille 1910 und 1925 und M o r a 1981; 1983 und 1985 vertreten; für differenzierende Be-
gründungen treten Linforth 1925, 282 und - noch radikaler - Mikalson ein; vgl. Mikalson
2003, 144; " W h y Herodotus did not tell ιεροί λόγοι is a different matter from his twice
expressed reluctance to describe 'divine activities' ( θ ε ί α π ρ ή γ μ α τ α ) in his account of
Egypt." Unklar bleibt Harrisons Position, der einerseits eine Verbindung annimmt (2000,
186), andererseits formuliert: "It is difficult to imagine that this knowledge [gemeint ist
das von Hdt. in 2.3.2 als allen Menschen gemeinsam und 'gleich' bezeichnete Wissen]
can be knowledge of the sacred stories ommitted by Herodotus in the course of Book 2
..." (189). Ich werde im folgenden fur eine enge Verbindung zwischen beiden Gruppen
von Textstellen plädieren, allerdings mit einer gegenüber Sourdille und Mora deutlich
modifizierten Argumentation.
54
Grundsätzlich zum Ägyptenbild der Griechen, dessen prominenteste Vertreter ne-
ben Herodot Hekataios, Plutarch und Diodorus Siculus sind: Froidefond 1971; Burstein
1996; Assmann 2000a; Hartog 1986; im engeren Sinne zu Herodots U m g a n g mit der
ägyptischen Kultur: Lloyd 2002 und Moyer 2002, der die von den meisten Forschern
vertretene These von Herodots Hellenozentrismus relativiert, indem er betont, wie dieser
ein genuin ägyptisches Verständnis von Zeit nutzt, um das kollektive Gedächtnis der
Griechen zu historisieren (87); zur Bedeutung der ägyptischen Zeitrechnung für Herodots
Überlegungen zur Chronologie vgl. auch Lloyd 1988b und Vannicelli 2001 sowie unten
Abschnitt 6.
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 57
55
Eine Übersicht über die zwölf Passagen findet sich auch in Harrison 2000, 184-
186. Im folgenden können nicht alle realienkundlichen Details zu den von Herodot bis-
weilen nur vage geschilderten Kulten zusammengetragen werden. Ich beschränke mich
auf die wichtigsten Aspekte und verweise auf die entsprechende Fachliteratur. Im Vor-
dergrund steht die Analyse des Darstellungsgestus.
56
Vgl. Borgeaud 1979 zu Pan; zur Bocksgestalt und den Bezügen dieser Figur zu
Hermes vgl. 103-104, zur Bestialität vgl. 123.
57
Herodots Bericht ist für ein griechisches Publikum bemerkenswert, da das
Schwein in Griechenland zu den gewöhnlichsten Opfertieren gehörte. - Der logos, auf
den Herodot hier anspielt, wird in der Forschung gewöhnlich mit einem logos identifi-
ziert, den Plu. Is. Kap. 8 (mor. 354A) ebenfalls im Zusammenhang mit der Opferung des
unreinen Schweins bei Vollmond erwähnt und der von der Zerreißung des Osiris durch
Seth-Typhon handelt (vgl. Lloyd 1976, 218 und 1989 ad loc.\ Mora 1985, 135). Vgl.
auch Kap. 55 {mor. 373E), wo Plutarch die allegorische Deutung dieses Mythos liefert.
Lloyd 1976, 218 erklärt das Schweineopfer für Osiris und Isis (bzw. Dionysos und
Selene) als "Vernichtungsopfer" des Seth. Zur Identifizierung des Schweins mit dem
Seth-Tier vgl. Newberry 1928 sowie Bonnet 1952, s. v. ' S c h w e i n ' . Zur Feindschaft
zwischen Horus bzw. Osiris und Seth und den griechischen Überschreibungen dieses
Mythos vgl. Griffiths 1960, bes. 31-33, und zu Herodot 85-98, wo die vorliegende Stelle
(2.48) allerdings nicht analysiert wird. - Die Kollationierung der Plutarchischen und der
Herodoteischen Version sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Herodot an
dieser Stelle weder Osiris noch Seth erwähnt und auch die Gleichsetzung von Selene und
Isis (die sonst bei ihm das Pendant der Demeter ist) nicht expliziert wird, so daß ein
Verständnis der Zusammenhänge für einen griechischen Rezipienten nahezu unmöglich
58 Susanne Gödde
3. Des weiteren enthält er seinem Leser mit dem Hinweis auf eine heilige
Geschichte vor, warum beim Dionysos-Fest der Ägypter marionetten-
ähnliche Puppen (άγάλματα νευρόσπαστα) verwendet werden, deren
beweglicher Phallos (νεΰον το αίδοΐον) nahezu so groß ist wie der
Körper dieser Puppen selbst: δι' δ τι δέ μέζον τε εχει το αίδοΐον και
κινέει μοΰνον του σώματος, εστι λόγος περί αύτοΰ ίρός λεγόμενος
(2.48).58
4. Schließlich berichtet Herodot von dem griechischen und wohlgemerkt
nicht in Ägypten bezeugten Brauch der ithyphallischen Hermes-Bil-
der, über die die Pelasger eine heilige Geschichte (ίρόν τινα λόγον)
erzählten, die während der Mysterien der Kabiren auf Samothrake
offenbart werde (τά έν τοΐσι Σαμοθρηίκη μυστηρίοισι δεδήλωται
51.4).59 An die Stelle weiterer Ausführungen über den Inhalt dieser
wird. Zu erwägen ist daher durchaus auch, daß Herodot bei seinem Publikum einen grie-
chischen Bezugsrahmen a u f r u f t - möglicherweise die Prominenz von Ferkelopfern in
griechischen Demeterkulten, die ein Detail aus dem Mythos vom Raub der Persephone
aufgreifen; vgl. dazu Burkert 1972, 303; 1977, 242-243; Detienne 1979, 134.
58
Während Osiris in Ägypten durchaus ithyphallisch dargestellt wurde, trifft dies für
griechische Bilder des Dionysos nicht zu (vgl. Lloyd 1976, 221-222; 1989 ad loc.\ zu
einer A u s n a h m e vgl. Detienne 1979, 140). Plu. Is. Kap. 12 (mor. 3 5 5 E ) erwähnt eine
Phallos-Prozession zu Ehren des Osiris im Rahmen eines Festes namens Pamylia. Lloyd
1989 ad loc. geht davon aus, daß der verschwiegene logos derjenige von Isis' Suche nach
den Gliedern des Osiris ist, die, bis auf den Phallos, w i e d e r g e f u n d e n und z u s a m -
mengesetzt werden. Der verlorene Phallos, so berichtet Plutarch (358B), wurde von Isis
nachgebildet und diente als Kultgegenstand.
59
Herodots allusive Bemerkungen scheinen unterschiedliche Kulttraditionen mitein-
ander zu verbinden. Die Rolle des Hermes innerhalb der samothrakischen Mysterien ist
keineswegs unumstritten: Die ithyphallischen Statuen, die am Eingang des Anaktorons in
Samothrake (oder auch in seinem Innern) aufgestellt gewesen sein sollen, werden von
Burkert 1977, 283 mit A n m . 44 und Rückert 1998, 140-144 als Hermesbilder identifi-
ziert, während Cole 1984, 29 keine namentliche Zuschreibung vornimmt. Die Verehrung
eines ithyphallischen Hermes ist hingegen für das elische Kyllene überliefert (vgl. Paus.
6.26.4-5; dazu Rückert 1998, 45 mit Anm. 148). - Der Kult der Kabiren ist vor allem für
Lemnos und Theben bezeugt, während als Gottheiten der Mysterien von Samothrake in
den Quellen meist die sogenannten 'Großen Götter' (Μεγάλοι Θεοί) oder die 'samothra-
kischen Götter' angeführt werden; allein Herodot und Stesimbrotos von Thasos haben
vor der hellenistischen Zeit von samothrakischen Kabeiroi gesprochen (vgl. Cole 1984,
1-2; Graf 2000, 617; Lloyd 1976, 241-242). Bei den samothrakischen Gottheiten handelte
es sich nach der Mehrzahl der Quellen um zwei männliche Götter, mit deren älterem
bisweilen Hermes identifiziert wurde (so Lloyd 1976, 241-242; Burkert 1977, 283-284;
Graf 2000, 617; vgl. auch Versnel 1974); auch eine triadische Struktur, in der die zwei
männlichen Götter einer weiblichen, etwa Kybele, unterstellt sind, wird a n g e n o m m e n
(Cole 1984, 3). Nach Cole 1984, 1 war jedoch die Identität der Götter Bestandteil des
Mysterien-Geheimnisses. - Lloyd 1976, 243 nimmt an, daß der von Herodot erwähnte
ι ε ρ ό ς λ ό γ ο ς von einem ιερός γ ά μ ο ς handelte, führt dafür allerdings keine Belege an; so
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 59
auch Hemberg 1950, 93; dagegen Burkert 1977, 284 mit Anm. 45 sowie 1985, 123 Anm.
7, der für eine lediglich mythologische Erklärung der Hermes-Bilder auf Cie. N.D. 3.56
verweist, w o H e r m e s ' sexuelle Erregung mit dem Anblick der Persephone erklärt wird,
allerdings ohne Hinweis auf eine Kultlegende aus Samothrake, wie dies Rückert 1998,
140 nahelegt. Rückert 1998 deutet den ithyphallischen Hermes global als "Initiations-
gott", und zwar allein auf der Basis seiner postulierten Zuständigkeit für j u n g e Männer
bzw. Epheben. Einen Z u s a m m e n h a n g zwischen dem ithyphallischen Hermes und einem
(etruskischen) μ υ σ τ ι κ ό ς λόγος stellt allerdings die Dihegese zu Call. Fr. 199 Pfeiffer (=
159 Asper) her. Für eine Einbeziehung des thebanischen Mythos der Hochzeit von Kad-
mos und Harmonia in die Kultlegende von Samothrake vgl. Cole 1984, 3-4.
60
Diese Andeutung Herodots wird vielfach als Indiz dafür gedeutet, daß er selbst in
die samothrakischen Mysterien eingeweiht gewesen sei: How/Wells 1912 ad loc.; Gould
1994, 92; vgl. auch Lloyd 1976, 279; Cole 1984, 11 und 38; Harrison 2000, 189.
61
Für eine genaue Rekonstruktion des mehrtägigen Festes vgl. Lloyd 1976, 277-
279, bes. 279: "There is no implication here of μ υ σ τ ή ρ ι α in the Greek sense." Zum an-
geblichen Verbot, den N a m e n des - hier gemeinten - Osiris auszusprechen, vgl. unten bei
Anm. 84.
62
Es handelt sich hier um ein Fest zu Ehren der Göttin Neith, die nach Herodot der
griechischen Athena entspricht und in der ägyptischen Mythologie als Rächerin des Osi-
ris galt, j a bisweilen sogar für identisch mit ihrem Schützling gehalten wurde. In ihrem
Hauptheiligtum in Sais befand sich ein unterirdisches Grab des Osiris; neben ihrer grund-
sätzlichen Rolle als Beschützerin dieses Gottes kam ihr eine wichtige Funktion in dem
Balsamierungsritual für den toten Osiris zu; vgl. Bonnet 1952, 516; El-Sayed 1982, I, 36-
38 und 117-120; II, 666 (Doc. 1097); Mora 1985, 104; Jansen-Winkeln 2000; Assmann
2000b, 47 und Haider 2002, 60-63. Zu einem möglicherweise vergleichbaren ιερός
λόγος, der in Esna erzählt wurde, vgl. Lloyd 1976, 282-283. Daß er geheim gewesen sei,
geht aus den dort zusammengetragenen Informationen jedoch nicht hervor.
60 Susanne Gödde
63
Die Worte Β α κ χ ι κ ο ΐ σ ι , έοΰσι δέ Αίγυπτίοισι κ α ι fehlen in den Handschriften der
Gruppe a. Graf 2000, 618 wertet diese Stelle (in der längeren Version) als Beleg für die
Verbindung der dionysischen Mysterien mit Texten des Orpheus, die ihrerseits pythago-
reische Vorstellungen a u f g e n o m m e n haben; zur Stelle vgl. Linforth 1941, 38-51; Dodds
1951, 83 und 227 Anm. 80; Burkert 1987, 27; Z h m u d ' 1992, 163-164 (der - mit Linforth
- f ü r die Kurzfassung plädiert); Riedweg 2002, 77; Burkert 1999, 105-106 mit Anm. 118.
Auf die komplexe Problematik der sogenannten orphisch-bakchischen Mysterien kann
hier nicht weiter eingegangen werden: vgl. dazu u. a. Linforth 1941; West 1983, 140-175;
Burkert 1977, 290-301; 1987, 62; Graf 1993; Schlesier 2001 sowie unten Anm. 99; für
weitere Literatur vgl. die Bibliographie in Calame 2000.
64
Es handelt sich auch hier, wie bei der vorangehenden Textstelle, um den Gott Osi-
ris (zum N a m e n s t a b u unten bei A n m . 84). Herodots A n g a b e n beziehen sich auf das
Khoiak-Fest (vgl. Lloyd 1988, 81).
65
Der mit der V o r f ü h r u n g verbundene öffentliche Charakter scheint dieses Ritual
von anderen geheimen Riten, die nur den Priestern zugänglich waren, unterschieden zu
haben; zugleich bot sich eine Analogie mit griechischen Mysterien an, für die auch
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 61
12. Und zu guter Letzt möchte er auch über die 'Weihe der Demeter'
(τελετή), die die Griechen 'Thesmophoria' nennen, nichts mitteilen,
was gegen ein rituelles Gebot verstoßen könnte (καΐ ταύτης μον πέρι
εΰστομα κείσθω, πλην δσον αυτής όσίη έστν λέγειν, 2.171.2).66
rituelle A u f f ü h r u n g e n anzunehmen sind. Lloyd 1988, 206 und 209 (vgl. auch 1976, 279
ad 2.61) weist Herodots Gleichsetzung des Khoiak-Festes mit ' M y s t e r i e n ' als falsch
zurück. Zum Problem ägyptischer (Osiris-)Mysterien vgl. vor allem die unentschlossene
Beurteilung bei Bonnet 1952, 494-496 sowie grundsätzlich Assmann 2000a und 2002;
Burkert 2002; vgl. auch unten bei Anm. 73.
66
Herodot identifiziert die Thesmophorien hier mit den Feiern für Isis im Heiligtum
von Sais. Der hier evozierte geheime Charakter der griechischen Thesmophoria, die nicht
mit Einweihungskulten im engeren Sinne zu verwechseln sind, m a g sich durch den
Ausschluß der Männer von diesem Fest erklären. Zum Mysteriencharakter der Thesmo-
phorien vgl. Burkert 1977, 242 mit Anm. 9; vgl. auch unten bei A n m . 99. Nach Herodots
Vorstellung haben die Danaos-Töchter die Thesmophorien von Ägypten nach Griechen-
land gebracht (2.171.3).
67
Was unter einem solchen ίρός λόγος zur Zeit Herodots genau verstanden wurde,
ist keineswegs eindeutig: Burkert 1987, 117 Anm. 14 weist d a r a u f h i n , daß dieser in spä-
teren Epochen (wenn auch selten) fur Mysterienkontexte überlieferte terminus technicus
bei Herodot erstmals verwendet wird. In den hier vorgeführten Beispielen gebraucht
Herodot ihn jedoch auch jenseits von Mysterienkulten, so daß vielleicht an eine Kultle-
gende, also etwa einen aitiologischen Mythos, zu denken wäre. Andererseits sind Aitia in
der sonstigen antiken Tradition keineswegs grundsätzlich durch einen besonderen Ge-
heimnischarakter ausgezeichnet. Zum Charakter von ιεροί λόγοι vgl. Baumgarten 1998,
zu Hdt. 2.51, 62 und 81: 125-126, der allerdings auch dort, w o der Begriff in den antiken
Quellen nicht verwendet wird, von ίεροι λόγοι spricht. Das Verhältnis von δ ρ ώ μ ε ν α und
λ ε γ ό μ ε ν α untersucht Henrichs 1998, der auf den Mangel an überlieferten λ ε γ ό μ ε ν α hin-
weist (33 mit Anm. 2); zu Herodot: Henrichs 1998, 36 mit A n m . 9; grundsätzlich zu
aitiologischen Mythen: Graf 1991, 98-116.
62 Susanne Gödde
68
Zur Bedeutungskonnotation von οσιος vgl. van der Valk 1942 und Parker 1983,
329-330.
69
Zum Bedeutungsspektrum dieses Terminus, das über die bloße A u f f o r d e r u n g zu
rituellem Schweigen deutlich hinausgeht und auch eine affirmative rituelle Rhetorik
bezeichnet, vgl. Gödde 2003, 27-30. Eine Monographie zu den kultstrategischen sowie
literarischen Implikationen von ε υ φ η μ ί α ist in Vorbereitung.
70
Vgl. Nr. 2 (2.47.2): έμο'ι μέντοι έ π ι σ τ α μ έ ν ω und 11 (2.171.1): ε ί δ ό τ ι μοι επί
πλέον ώς έ κ α σ τ α α ύ τ ώ ν ε χ ε ι . . .
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 63
Die zwölf Passagen, in denen Herodot den Leser auf eine Leerstelle in
seinem ethnographischen Bericht über religiöse Bräuche aufmerksam
macht, stehen auf den ersten Blick in einer gewissen Spannung zu den
zwei zuerst zitierten programmatischen Äußerungen über das, was in den
Historiai nicht zur Sprache kommen soll. Denn es mutet merkwürdig an,
daß ein Historiker, der einerseits erklärt, die Geschichten der Götter in
seinem Werk nicht berücksichtigen zu wollen, und der hierin - so die
communis opinio der Forschung 71 - einem primär wissenschaftlichen, also
aufklärerischen Impetus folgt, sich andererseits rituellen Tabus unterwirft
und angibt, aus religiöser Scheu bestimmte Dinge nicht aussprechen zu
können, obwohl sie dem Verständnis der Zusammenhänge durchaus dien-
lich wären. Auf diesen Widerspruch ist immer wieder hingewiesen wor-
den: So konstatiert etwa Walter Burkert, daß "bei Herodot der Horizont
von Relativismus und Agnostizismus seinerseits von einer Sphäre des
Göttlichen umfangen scheint, das Hintergrund allen Geschehens ist"
(1990, 28). Herodot wäre somit, zugespitzt formuliert, selbst Teil der reli-
giösen Ordnung, die er von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus in
Frage stellt. Doch können die folgenden Beobachtungen diese Diskrepanz
relativieren und erklären.
Um den spezifisch literarischen Status von Herodots Tabuisierungen
bestimmen zu können, ist es unerläßlich, danach zu fragen, inwieweit sein
Verhalten der kulturellen und religiösen Norm seiner Zeit entspricht.
Sucht man nach historischen Kontexten, die Herodots Schweigen in den
genannten Passagen erklären können, so drängt sich leicht der Gedanke an
die aus der griechischen Welt bekannten Mysterienkulte auf, deren ultima
ratio darin bestand, daß das, was die Initianden während der Zeremonie
erfuhren, nicht in die Öffentlichkeit getragen werden durfte. Dieses Erklä-
rungsmuster, das zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts vehement ver-
treten wurde, 72 konnte sich freilich aus zwei Gründen nicht durchsetzen:
Erstens ist zu konstatieren, daß es in Ägypten zur Zeit Herodots über-
haupt keine den griechischen Mysterien entsprechende Institution der
Einweihung gab. 73 Was aus griechischer Sicht als 'ägyptische Mysterien'
71
Vgl. oben Anm. 38.
72
Sourdille 1910; vgl. oben Anm. 39.
73
Vgl. Assmann 2002, 59: "Die 'ägyptischen Mysterien', das ist wohl in der Ägyp-
tologie allgemeiner Konsens, sind eine Erfindung der Griechen ...". Vgl. auch Lloyd
1976, 279; Harrison 2000, 189 A n m . 23; A s s m a n n 2000a, 37; Burkert 2002, 12. -
Gleichwohl besteht in der Ägyptologie durchaus Uneinigkeit über den jeweiligen Status
64 Susanne Gödde
bezeichnet werden konnte, das waren bestimmte Rituale, die allein den
Priestern zugänglich waren und vor der Öffentlichkeit nicht zuletzt wegen
ihrer besonderen Reinheit geheim gehalten wurden. 74 Dabei spielte etwa
die 'Einweihung' in bestimmte Schriftsysteme, allen voran das der Hiero-
glyphen, eine besondere Rolle, deren Kenntnis für die Priester Macht und
Prestige mit sich brachte und möglicherweise auch einen Sonderstatus im
Jenseits in der Nähe der Götter verhieß. Diese Götternähe konnte statt
durch das Erlernen 'geheimer' und schwer zu entschlüsselnder Schriften
auch über die Teilnahme an bestimmten Festen und Ritualen erlangt wer-
den. Die entscheidende Differenz zu griechischen Mysterienkulten besteht
in der eingeschränkten Adressatengruppe. Erst in hellenistischer Zeit brei-
tete sich die ägyptische Isis-Religion in Form von Einweihungskulten, die
dem Modell griechischer Mysterien folgten, über den gesamten Mittel-
meerraum aus, doch besaßen diese Mysterien mit dem altägyptischen Kult
von Isis und Osiris nahezu keine Gemeinsamkeiten.
Während also die ίερον λόγοι oder andere tabuisierte Geschichten, auf
die Herodot in den vorgestellten Passagen anspielt, in keiner der bekann-
ten Formen ägyptischer Geheimkulte auszumachen sind, können zweitens
auch die real existierenden Schweigegebote griechischer Mysterienkulte
nicht als unmittelbare Referenz für Herodots Aposiopesen angesehen wer-
den: zunächst weil deren Geheimhaltungscodes kaum ägyptische Kultle-
genden betreffen würden; dann aber auch, weil keineswegs alle Zusam-
menhänge, in denen Herodot sich veranlaßt sieht, etwas zu verschweigen,
auf einen griechischen Mysterienkult verweisen. Herodot stellt die von
ihm unterdrückten Erklärungen lediglich an zwei Stellen explizit in den
Zusammenhang von Mysterien: Während mit der Erwähnung der Myste-
ägyptischer Parallelphänomene und deren mögliche Bezeichnung als ' M y s t e r i e n ' : vgl.
die Einleitung in A s s m a n n / B o m m a s 2002. Von Lieven 2000 spricht etwa im Zusammen-
hang mit der A u f f ü h r u n g des Schicksals des Osiris von "Mysterien" - möglicherweise in
Anlehnung an Hdt. 2.171.1 - und auch Burkert 1999, 82 sieht in Dionysos' Funktion als
"Mysteriengott" eine Gemeinsamkeit mit Osiris und formuliert die These, daß ein "seit
alters bestehender Dionysos-Kult seine Jenseits-Orientierung durch ägyptischen Impuls
erhalten hat" (95). - Sourdille 1925, 302 nimmt für die Zeit Herodots eine Amalgamie-
rung von Griechischem und Ägyptischem an: " . . . une sorte de religion egypto-grecque -
crue egyptienne, mais de fabrication grecque - avec des mysteres de genre grec".
74
Vgl. Burkert 2002, 13: "Der Zugang zum ' G e h e i m e n ' in der ägyptischen und in
der griechischen Religion ist grundsätzlich verschieden. Das Geheimnis griechischer
Mysterien ist nicht professionell, standesbestimmt, sondern wird durch eine persönliche
Einweihung durchbrochen, die prinzipiell j e d e m Griechen offensteht." Für unterschiedli-
che Konzepte des Geheimen in der ägyptischen Religion vgl. Assmann 1998; die folgen-
de Zusammenfassung nach Assmann 2002.
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 65
rien von Samothrake (4) ein griechischer und nicht ein ägyptischer Kult
angeführt wird,75 berichtet Herodot bei der zweiten Verwendung des Ter-
minus innerhalb der zwölf Passagen, daß die Ägypter zur Bezeichnung der
auf dem See von Sais aufgeführten Leiden des Osiris den griechischen
Begriff μυστήρια (oder aber das diesem entsprechende ägyptische Wort?)
verwenden (11). Herodot führt nicht aus, ob diese ägyptische Praxis mit
den griechischen Mysterien, also den geheimen Einweihungskulten, über
den entlehnten Namen hinaus weitere Entsprechungen aufweist. 76 Ein Be-
zug zu Mysterienkontexten läßt sich möglicherweise auch für das siebte
Beispiel aufzeigen: Für das Verbot wollener Kleider in Tempeln und beim
Totenkult scheint Herodot die orphischen bzw. bakchischen Mysterien
zum Vergleich heranzuziehen. Der Umstand, daß er im zwölften Beispiel
die Feier der Thesmophorien als τελετή bezeichnet, kann, muß aber nicht
auf Mysterien hinweisen. 77 So stehen drei Mysterienkontexte neben neun
Passagen, in denen Herodot zwar auf ein Geheimnis verweist, dieses aber
nicht durch die Auflagen eines (uns bekannten) Einweihungs- oder Ge-
heimkultes motiviert. Doch scheint er mit dem wiederholten Hinweis auf
einen ίερος λόγος, zu dessen Bestimmung es offenbar gehörte, daß man
ihn nicht kannte, oder daß man ihn, wenn man ihn kannte, nicht weiterer-
zählen durfte, die Struktur der Mysterien durchaus zu zitieren. Der Um-
stand, daß der später in Mysterienkontexten verwendete terminus techni-
cus 'hieros logos' bei Herodot erstmals begegnet, 78 könnte gar zu der Spe-
kulation verleiten, daß Herodot ein solches Phänomen - heilige und ge-
heime Kultlegenden - allererst erfunden habe, um sein Bedürfnis, be-
stimmte Zusammenhänge in seinen Berichten auszublenden, zu legitimie-
ren.
Angesichts dieses Befundes scheint es mir voreilig, einen Bezug auf
die Praxis der Mysterienkulte gänzlich zu negieren. Zwar können wir aus-
schließen, daß Herodots Schweigeformeln durch eine historisch verbürgte
ägyptische und der griechischen adäquate Mysterienpraxis oder gar durch
den Umstand, daß Herodot selbst in solche ägyptischen Kulte eingeweiht
gewesen sei, zu erklären sind. Ebensowenig läßt sich nachweisen, daß
75
Vgl. allerdings Burkert 1977, 284, der ein "non-Greek element in the Samothra-
cian mysteries" ausmacht.
76
Vgl. dazu oben Anm. 65.
77
Die Wortfamilie τ ε λ ε τ ή überschneidet sich weithin mit dem Terminus μ υ σ τ ή ρ ι α ,
ist aber von allgemeinerer Bedeutung: Burkert 1987, 16.
78
Vgl. oben Anm. 67.
66 Susanne Gödde
79
Vgl. Burkert 2002, 16: " W e n n die Griechen, voran Herodot, ' M y s t e r i e n ' in
Ägypten fanden, haben sie etwas gesehen, was ihnen nicht nur imponierte, sondern in
gewissem M a ß e bekannt vorkam, eine Jenseits-Religion, bestimmt durch Isis-Demeter
und Osiris-Dionysos mit auffälligen nächtlichen Zeige-Ritualen; sie haben dies aber aus
ihrer eigenen Optik gesehen und, was sie übernahmen, haben sie ganz den eigenen For-
men angepaßt, eben als mysteria." - Vgl. auch Harrison 2000, 188-189.
80
Das in den Anm. 56-66 diskutierte Material enthält keine historisch bezeugten Er-
klärungen für die Geheimhaltung der Aitia.
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 67
setzt die ihm aus seiner Kultur vertraute Figur der Geheimhaltung ein, um
das Angedeutete im Sinne des Geheimnisses zu exponieren. 81 Ein solches
Verfahren kann man mit gutem Recht als Teil einer Poetik des Rituals be-
zeichnen, bei der rituelle Formeln in den Dienst einer neuen, literarischen
Absicht gestellt werden. Eine Auswertung für eine in biographistischer
Hinsicht zu rekonstruierende religiöse Haltung des Autors dürfte daher in
die Irre führen. Die weitgehende Konzentration der bisherigen Forschung
auf die Verifizierung von Herodots Angaben hat den Blick auf derartige
inszenatorische Figuren häufig verstellt.82 Der literarische Text eignet sich
hier sprachliche Muster ritueller Praxis an und spielt mit dem religiösen
Wissen seines Publikums. In narrratologischer bzw. rezeptionsästhetischer
Hinsicht erzielt Herodot mit diesem Verfahren zunächst drei Effekte: Zum
einen konfrontiert er sein griechisches Publikum mit der diesem aus den
zeitgenössischen, vor allem den eleusinischen, Mysterien vertrauten Struk-
tur des 'offenen Geheimnisses', das gewöhnlich den Zusammenhalt einer
Adressatengruppe gegenüber den Ausgeschlossenen verstärkt. 83 Zweitens
suggeriert Herodot seinen Zuhörern oder Lesern, daß er in Ägypten kein
Fremder war, sondern daß ihm die Struktur der dortigen Geheimhaltungs-
strategien - die er aber möglicherweise erfindet - vertraut war. 84 Er
inszeniert sein eigenes Schreiben als das eines 'Eingeweihten' und verleiht
seinem Bericht so - aus Sicht eines griechischen Publikums - einen
höheren Grad an Glaubwürdigkeit. Und schließlich schreibt er drittens den
Mythos von Ägypten als dem Land der Wunder und Rätsel fort, den
bereits die Literatur vor ihm kennt. Doch all diese narrativen Effekte sind
nur der sekundäre Ausdruck und die Folge eines viel grundlegenderen
81
Vgl. Darbo-Peschanski 1987, 42, die Herodots Schweigen als "ostentatoire" be-
zeichnet und schreibt: " . . . il s'agit de le souligner, de le dramatiser."
82
Paradigmatisch fiir das Bemühen, Herodot Irrtümer nachzuweisen, steht der Name
Fehling: vgl. 1971 und die Erwiderungen von Erbse 1991 und 1992 sowie Pritchett 1993;
aber auch Lloyds Kommentar zu Buch II fragt immer wieder nach der Korrektheit von
Herodots Angaben über Ägypten; vgl. auch Lloyd 1988b, 52: " . . . it [sc. Buch 2 der Hi-
storian presents a view of Egypt's past which shows no genuine understanding of Egyp-
tian history. Everything has been uncompromisingly customized for Greek consumption
and cast unequivocally into a Greek mould." Bei Lloyd 2002, 434-435 fällt das Resümee
weniger kritisch aus.
83
Zur Struktur des offenen Geheimnisses vgl. Burkert 1995. Ob Herodot sein Publi-
kum durch dieses Verfahren eher von dem von ihm inszenierten Wissen ausschließt oder
ob die Wirkung eher integrativ ist, hängt davon ab, wie sehr seine Andeutungen auf be-
kannte, einheimische Kulte anspielen.
84
Vgl. Sourdille 1910, 1; Harrison 2000, 188.
68 Susanne Gödde
85
Assman 2000a, 35; vgl. auch Assmann 2000b, 45; Burkert 2002, 13: " . . . wenn
etwas in Ägypten nicht geheim war, dann war dies der N a m e des Gottes Osiris und sein
Mythos, sein 'Leiden', sein Tod durch Typhon, Suche und Wiederbelebung durch Isis."
86
Parker 1983 behauptet im Rahmen seiner Analyse des Z u s a m m e n h a n g s von Tod
und Befleckung, es sei für die Griechen ein Sakrileg gewesen, Dionysos in Verbindung
mit dem Tod zu erwähnen, doch keine der drei Stellen, die er zum Beleg dieser Aussage
anfuhrt - eine davon ist unser Text Nr. 8, wo es um Osiris geht - , bestätigt dies in befrie-
digender Weise; vgl. Parker 1983, 64 und die Verweise in A n m . 107: Hdt. 2.86.2; D.
60.30; PI. Mx. 238b. Von einem Namenstabu im Griechischen geht auch Harrison 2000,
189 Anm. 24 aus, der außerdem E. Hei. 1307 anführt (vgl. dazu die folgende Anm.).
87
Kore: Hdt. 8.65; α π ό ρ ρ η τ ο ς : Ε. Hei. 1307; noch häufiger finden sich die Termini
απόρρητος und ά ρ ρ η τ ο ς als Bezeichnung des Mysterien-Geheimnisses selbst.
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 69
des Hades als Pluton, der Erinyen als Eumeniden oder die Verwendung
des Attributes ανώνυμοι für Gottheiten, die man auf Distanz zu halten
suchte.88 Derartige Distanzierungen durch beschwichtigende oder ent-
mächtigende Namen dienen jedoch durchaus dem Umgang mit den ent-
sprechenden Göttern und sind daher von einem grundsätzlichen Namens-
tabu, das jede Adressierung ausschließt, zu unterscheiden. So ist anzu-
nehmen, daß Herodot auch in diesem Fall konstruierend in sein Material
eingreift und die durchaus ägyptische Vorstellung vom Leichnam des Osi-
ris als einem "schlechthinnigen Geheimnis" (Assmann 2000b, 45)89 in ein
Namenstabu transformiert.
Allerdings ist hervorzuheben, daß dieses Tabu für Herodot keineswegs
grundsätzlich gilt: An vielen Stellen seiner Untersuchung verwendet er
den Namen Osiris durchaus, etwa immer dort, wo es um die Gleichsetzung
dieses ägyptischen Gottes mit dem griechischen Dionysos geht. Das Na-
menstabu gilt also nur unter bestimmten Umständen, und das macht Hero-
dot selbst kenntlich, indem er an drei von den fünf Stellen, die den Namen
des Osiris betreffen, hinzufügt: έπι τοιούτω πρήγματι (8, 9, 10). Es ist der
sterbende oder der tote und daher zu beklagende Osiris, über den Herodot
detaillierte Erläuterungen verweigert. 90 Da sich Herodots Schweigefor-
meln als Indices einer literarischen Darstellung erwiesen haben, die keine
vorrangig lebensweltliche Verankerung in der ägyptischen Religion haben,
muß nach den Gründen für dieses Verfahren weiter gesucht werden.
Die - im Gestus des Rituals vorgebrachten, tatsächlich aber als rheto-
risch zu lesenden - Schweigeformeln sind nicht bloß ein Spiel mit Ver-
satzstücken, eine Persiflage auf religiösen Glauben oder kulturelle Diffe-
renzen, sondern sie dienen Herodot zu einem ganz bestimmten Zweck.
Nachdem der (scheinbare) Widerspruch zwischen Herodots Unterdrü-
ckung der Göttergeschichten aus epistemologischen Gründen einerseits
und dem Gestus des (angeblich) religiös begründeten Schweigens anderer-
seits durch den Hinweis auf die literarische Strategie relativiert werden
konnte, soll nun gezeigt werden, daß beide Positionen einander nicht nur
nicht ausschließen, sondern sogar ein und demselben Denkmuster folgen.
Der von Herodot bezeichnete Gegensatz von 'Geschichten' und 'Namen'
88
Vgl. Henrichs 1991 und 1994.
89
Zu Aspekten der Geheimhaltung im Osiris-Kult vgl. auch Assmann 1998, 20-21;
zum Sonnengott, dessen N a m e verborgen ist, Assmann 1998, 22.
90
Das übersieht Harrison 2000, 187 Anm. 15.
70 Susanne Gödde
der Götter (2.3.2) hatte nahegelegt, daß es vor allem der Mythos, genauer,
die anthropomorphe Vorstellung von den Göttern und ihren Handlungen,
ist, deren Darstellung er zurückweist. 91 Diese Zurückweisung korrespon-
diert mit einem Evolutionsmodell, das eine allmähliche Ausdifferenzie-
rung der Götter annimmt, die, so Herodot, zunächst schlicht 'Götter' ge-
nannt wurden, dann - durch die Übernahme von den Ägyptern - Namen
erhielten und erst sehr spät, nämlich durch Homer und Hesiod, mit dem
ausgestattet wurden, was sie zu Protagonisten von Geschichten machen
konnte: Beinamen (έπωνυμίαι), Zuständigkeitsbereiche (τιμαί), Fertig-
keiten (τεχναί) und - last but not least - ihre Gestalten (εϊδεα). 92 Und da
das Frühere und Ursprünglichere für Herodot in der Regel Vorrang vor
dem Späteren hat, steht er den von den beiden großen griechischen Dich-
tern vollzogenen Neuerungen durchaus skeptisch gegenüber, auch wenn er
an der zitierten Stelle keine offene Kritik an ihnen übt.93
Wenden wir uns nun erneut den zwölf Tabuisierungen des Ägypten-
buches zu, so läßt sich zunächst insofern eine Kongruenz mit Herodots
Programmatik feststellen, als es sich auch bei diesen Auslassungen offen-
bar um Auslassungen von Göttergeschickten handelt - und zwar nicht nur
deshalb, weil Herodot gelegentlich auf ιεροί λόγοι verweist. Bei genaue-
rem Hinsehen zeigt sich, daß in allen der vorgeführten zwölf Beispiele
eben diejenigen Aspekte der Kulte verschwiegen werden, die eine ganz
wesentliche Voraussetzung dafür darstellen, daß die entsprechenden Göt-
ter zu handelnden Protagonisten von konkreten 'Geschichten' werden
können. Zunächst ist hervorzuheben, daß alle verschwiegenen λόγοι Göt-
ter betreffen: Es sind dies je einmal Pan (1), Hermes (4), die ägyptische
91
Vgl. oben bei Anm. 49-51.
92
Vgl. 2.53.2 (das genaue Verständnis der Begriffe τ ι μ α ί sowie τ ε χ ν α ί in diesem
Kontext bedarf durchaus einer Erörterung, die jedoch im Rahmen dieses Aufsatzes nicht
zu leisten ist); zum Evolutionsmodell: Linforth 1924, 284 und Burkert 1985, 124.
93
Daß Herodot Darstellungen anthropomorpher Götter mit Skepsis beurteilt, zeigt
sich ζ. B. in 1.60.3-5, wo er die Athener als 'einfältig' bezeichnet, weil sie bei der Rück-
führung des Peisistratos ein junges Mädchen im Gewand der Athena auftreten ließen, um
ihren Landsleuten zu suggerieren, die Göttin selbst führe Peisistratos zurück. Für 'einfäl-
tig' hält Herodot die Athener, weil sie die verkleidete Frau wirklich für Athena ansahen
und sie anbeteten; vgl. zu dieser Episode Sinos 1993. Zu Herodots impliziter Anthropo-
morphismuskritik, die durch Philosophen wie Xenophanes und Empedokles vorgeprägt
ist (vgl. dazu oben Anm. 52 und unten Anm. 122), vgl. auch Burkert 1990, 22 sowie die
oben in Anm. 47 und 51 angeführten Stellen. Zu seiner Einstellung gegenüber den Dich-
tern, vor allem Homer, vgl. auch 2.23 (Homer hat den N a m e n Okeanos erfunden; ähnlich
3.115.2); 2.116 (Homer über die Irrfahrt der Helena nach dem Raub durch Alexandros).
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 71
Göttin Neith (6) und Demeter (12), dreimal Dionysos (2, 3, 7) und fünfmal
der jeweils nicht benannte, jedoch durch die Erwähnung der Klage um ihn
bezeichnete Osiris (5, 8, 9, 10, 11). Damit nimmt der griechische Gott
Dionysos (den Herodot ja mit Osiris gleichsetzt) in diesem negativen Pro-
gramm eine äußerst prominente Stelle ein: Ihm gelten acht von insgesamt
12 Tabus. Signifikant ist zudem, daß in drei Fällen die Leerstelle der Iko-
nographie eines Gottes gilt (man denke an die ε'ιδεα der Götter, die Hero-
dot mit den Dichtungen des Homer und Hesiod beginnen läßt): Warum
Pan von Griechen wie Ägyptern als Bock, warum Hermes von den Grie-
chen und Dionysos von den Ägyptern in je spezifischer Weise ithyphal-
lisch dargestellt wurden, will Herodot nicht preisgeben (1, 3, 4). Obwohl
die Geschichten über Götter nach der eingangs zitierten Äußerung (2.3)
ganz grundsätzlich vermieden werden sollen - gemäß der communis opi-
nio der modernen Forschung, weil man über die Götter schlichtweg nichts
wissen kann - , scheinen die hier ausgesparten Kultaitiologien, die vor al-
lem Pan, Hermes, Demeter und Osiris-Dionysos betreffen, 94 offenbar eine
eigene Klasse zu bilden, die eine besondere Distanzierung durch Schwei-
gen erfordert.
Was also unterscheidet die zwölf Passagen von anderen Götterge-
schichten, in denen Herodots Skrupel weniger augenfällig sind? Was ist
das gemeinsame Merkmal dieser zwölf Tabus, dessen Analyse mögli-
cherweise weiteren Aufschluß über Herodots Konzeptionalisierung der
griechischen Götter liefern kann? 95 In allen zwölf Fällen, so meine Ant-
wort auf diese Fragen, handelt es sich vor allem um solche Geschichten,
die direkt oder indirekt die Sexualität oder den Tod von Göttern - und
damit ihre Menschlichkeit und ihre Sterblichkeit - betreffen. 96 Auf den
Tod eines Gottes wird ohne Zweifel angespielt in den fünf Passagen, in
94
Auch das Tabu, das im Zusammenhang mit dem Fest der Neith Erwähnung findet,
scheint mir auf den toten Osiris hinzuweisen; vgl. oben Anm. 62 und unten bei Anm. 98.
95
In der bisherigen Forschung wurde diese Frage nach dem spezifischen gemeinsa-
men Nenner der zwölf Stellen meines Erachtens nicht mit genügender Insistenz gestellt.
Die Kontexte wurden entweder global als Mysterienkontexte ausgemacht, oder es wurde,
ebenso allgemein, auf Herodots grundsätzliche Ablehnung der Göttermythen hingewie-
sen. Entscheidend ist jedoch, was genau die zwölf verschwiegenen Kultaitia für Herodot
zu Geheimnissen macht, die er - ähnlich wie die der Mysterien, aber zugleich in einer
durchaus wissenschaftlichen Absicht - verschweigen möchte.
96
Vgl. Burkert 1990, 28, der von Herodots Verpflichtung spricht, über Götter, be-
sonders über sterbende Götter, nicht u n f r o m m zu reden, und zugleich betont, daß eine
solche Haltung "mit Skepsis gegen religiöse Spekulation durchaus Hand in Hand gehen"
kann.
72 Susanne Gödde
denen der Name des Osiris verschwiegen wird (5, 8, 9, 10, 11), denn des-
sen Tod und die Klage um ihn stehen im Zentrum aller Rituale, die das
Paar Isis und Osiris betreffen. Auch die Schweineopfer beim Vollmond-
Ritual für Dionysos (also Osiris) und Selene (Isis) verweisen, wie der Zu-
sammenhang mit Seth deutlich macht, auf den toten Osiris.97 Im Falle des
Lampenfestes in Sais (6), dessen ίερος λόγος möglicherweise einen kos-
mogonischen Mythos enthielt, in dem die Göttin Neith als Demiourgos
auftrat, mag von Interesse sein, daß dieselbe Göttin auch für die Mumien-
verhüllung verantwortlich zeichnete sowie als Schützerin des Osiris galt,
damit also ebenfalls auf den sterbenden Gott hindeutete. 98 Und wenn sich
der Verweis auf Orphisches und Bakchisches in dem Passus über das Ver-
bot wollener Kleider bei der Bestattung, wie von den meisten Forschern
angenommen, tatsächlich auf die Jenseitsvorstellungen bakchisch-orphi-
scher Mysterien bezieht, dann ist möglicherweise auch an dieser Stelle (7)
der Tod eines Gottes, nämlich des Dionysos, impliziert. 99 Die zwei Ka-
pitel, in denen Herodot Erklärungen für erigierte bzw. überdimensional
große Phalloi schuldig bleibt (3, 4), verweisen hingegen deutlich auf die
Sexualität von Göttern, und auch für die Bocksgestalt des Pan (1) wird
sich diese Verbindung nicht leugnen lassen. Schließlich bleibt das Ver-
schweigen genauerer Angaben zum Thesmophorienfest (12) zu erklären:
Die Frage nach der Bedeutung dieses zu Ehren der Demeter und der Per-
sephone allein von Frauen begangenen Festes stellt die moderne For-
schung bis heute vor Rätsel. Während ältere Deutungen in ihm einen
fruchtbarkeitsfördernden Kult sehen, stellen jüngere Erklärungsversuche
97
Vgl. oben Anm. 57.
98
Vgl. oben Anm. 62.
99
Zu den Deutungsproblemen hinsichtlich der Differenzierung orphischer und bak-
chischer Elemente vgl. die Literatur oben Anm. 63. - Herodots Gleichsetzung von Osiris
und Dionysos könnte von weitreichender Bedeutung für das Verständnis und die Rekon-
struktion der mythologischen Tradition des Gottes Dionysos sein. Da der ägyptische
Mythos von Osiris in dessen Zerreißung gipfelt und in allen Ritualen des Isis-Osiris-
Kultes an diesen Gewaltakt erinnert wird, liegt es nahe anzunehmen, daß Herodot auch
den griechischen Dionysos vorwiegend als einen 'leidenden' und 'sterbenden' Gott auf-
gefaßt hat. Hier jedoch die Überlieferung von der Zerreißung des Dionysos-Zagreus
durch die Titanen und den damit verbundenen orphischen Hintergrund zu implementie-
ren, beruht auf einem Anachronismus, denn dieses Detail des Dionysos-Mythos taucht in
unseren Quellen nicht vor dem 6. Jh. n. Chr. auf. Vgl. dazu Edmonds 1999; zur Gleich-
setzung von Osiris und Dionysos bei Herodot vgl. Burkert 1999, 80; zum Einfluß ägypti-
scher Elemente auf die bakchischen Mysterien sowie zur Kategorie des Leidens in deren
Kontext vgl. Schlesier 2001, 169-171 mit A n m . 48 (u. a. zu Herodot) sowie Schlesier
2003, zu Herodot 5-6.
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 73
100
Vgl. Burkert 1977, 242-246; Detienne 1979 und oben Anm. 66.
74 Susanne Gödde
101
Vgl. oben Anm. 81.
102
Zu den Ausnahmen vgl. oben Anm. 51.
103
Ausnahmen von dieser Beobachtung finden sich etwa in 3.37.2-3 (Beschreibung
des Bildes des Hephaistos, das Kambyses verspottet, als π υ γ μ α ί ο υ α ν δ ρ ό ς μίμησις);
6.82.2 (Erwähnung eines Hera-Bildes, aus dessen Brust ein Feuerstrahl hervorleuchtet);
vgl. auch die Erwähnung theriomorpher Götterbilder in 2.41.2 (Isis mit Rinderhörnern);
2.42.4-6 und 4.181.2 (Zeus mit Widderkopf); 2.46 (Pan mit Ziegenkopf und Bocksfü-
ßen).
104
Allerdings betont Herodot, daß die Ägypter keine Heroen verehrten, was er of-
fenbar als Indiz der Überlegenheit der ägyptischen Religion über die griechische ansieht
(2.50.3).
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 75
105
2.43-45 (vgl. auch 145-146); dazu Zographou 1995, 194-198.
106
Vgl. Linforth 1924, 280-281 und 289-292; Lloyd 1976, 18; Lateiner 1989, 2 4 7
Anm. 17; Harrison 2000, 187. Zum Versuch einer Korrektur dieser Ansicht vgl. unten
nach Anm. 121.
107
Zographou 1995, 198 mit Anm. 49 geht davon aus, daß Herodot fur die griechi-
sche Religion lediglich einen Menschen und einen Gott Herakles reklamiert, nicht aber
einen Heros dieses N a m e n s und daß er darin den Ägyptern folgt, bei denen es keine He-
roenverehrung gab (vgl. allerdings seine zu dieser Behauptung im Widerspruch stehende
Aussage 199: "Herodote tire profit du double culte d'Heracles en tant que dieu et heros");
meines Erachtens folgt jedoch aus 2.44.5 eindeutig, daß Herodot die griechische Tradi-
tion des nach seinem Tod heroisierten Menschen Herakles durchaus akzeptiert.
108 Yg] 2.44.4: τον Ά μ φ ι τ ρ ύ ω ν ο ς Ή ρ α κ λ έ α . - Goulds Referat dieser Passage
(1989, 11) ist irreführend, da er unterstellt, Herodot spreche von "Herakles, son of Zeus".
76 Susanne Gödde
Ich sagte aber 'bis hinauf zu Perseus' und griff nicht noch weiter hinauf, aus
dem Grunde, weil Perseus keinen Z u n a m e n von einem sterblichen Vater hat,
wie Herakles den des Amphytrion.
109 v g l . 2.45.3, w o Herodot an die Frage κώς α ν ούτοι [sc. die Ägypter] α ν θ ρ ώ π ο υ ς
θ ΰ ο ι ε ν ; ( ' w i e könnten die wohl M e n s c h e n o p f e r n ' ) die Erklärung anfügt: ετι δ έ ε ν α
έόντα τον Ή ρ α κ λ έ α κ α ι ετι ά ν θ ρ ω π ο ν , ώς δή φ α σ ι ... ( ' U n d dann, Herakles war doch
allein und noch ein Mensch, wie sie sagen'). Das zweite ετι greift die Perspektive der
Griechen auf, die diese Geschichte von Herakles erzählen, bevor sie einen Gott aus ihm
gemacht haben.
110
2.45.3: κ α ι περί μεν τ ο ύ τ ω ν τ ο σ α ΰ τ α ή μ ΐ ν ε ί π ο ΰ σ ι κ α ι π α ρ ά των θ ε ώ ν κ α ι
π α ρ ά τών η ρ ώ ω ν ε ύ μ έ ν ε ι α εΐη. - Vgl. Linforth 1925, 282: "Here indeed Herodotus'
piety is a little troubled. And no wonder! He has been calling in question the real nature
of a divine being w h o was widely worshiped in Greece." Vgl. auch 290; Harrison 2000,
188 spricht von "his most emphatic expression of pious caution".
111
6.53.1: του θεοΰ άπέοντος.
112
Auch in 2.91.2 und 7.150.2 wird Perseus lediglich als Sohn der Danae ausgewie-
sen.
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 77
Nur solange es sich um Menschen handelt, läßt sich deren Genealogie 113
verläßlich rekonstruieren; in den Bereich göttlicher Chronologie will
Herodot hier, anders als im zweiten Buch, zu dem ich nun zurückkomme,
nicht eindringen.
Die strikte Differenzierung zwischen dem nach seinem Tod heroisier-
ten Menschen Herakles und dem (ägyptischen und von den Griechen spä-
ter übernommenen) Gott Herakles (2.43-45) wird ergänzt und unterstützt
durch das, was Herodot, wie er später im zweiten Buch berichtet, von den
ägyptischen Priestern erfahren hat, nämlich daß während der letzten 11340
Jahre 'kein Gott in Menschengestalt aufgetreten' sei (θεόν άνθρωποειδέα
ούδένα γενέσθαι, 2.142.3). Diese lange Phase der 'Abwesenheit der Göt-
ter' illustrieren die Priester in Gestalt einer Reihe von Holzstatuen, die in
einer Halle aufgestellt sind und die in der Vergangenheit jeweils im Tem-
pel tätigen Oberpriester darstellen, so daß die Zahl der Bilder, insgesamt
335, der Zahl der vergangenen Generationen entspricht (2.143). Die Mate-
rialisierung von Zeit, die diese Bilderreihe darstellt,114 diente den Priestern
nach Herodot dazu, seinen ethnographischen Vorgänger Hekataios zu wi-
derlegen, der behauptet hatte, im sechzehnten Glied seiner Ahnen von
einem Gott abzustammen. Die Kette der 335 Generationen von 'Piromis'
- das ist der ägyptische Begriff für 'Edle' - soll den zwingenden Beweis
erbringen, daß es in dieser Zeit keinen Kontakt zwischen Menschen und
Göttern gegeben habe - dies legt Herodot seinen Informanten gleich drei-
mal in unmittelbarer Folge in den Mund. 115
Die Aussage der Priester nun, daß es vor dieser Zeit durchaus Götter
als Regenten in Ägypten gegeben habe, die mit den Menschen zusammen-
113
Vgl. 6.54.1: τ α ύ τ α μεν ν υ ν κ α τ ά τ ά " Ε λ λ η ν ε ς λ έ γ ο υ σ ι γ ε γ ε ν ε η λ ό γ η χ α ι ( ' S o
steht es mit der Genealogie nach dem, was die Hellenen sagen'). Zur V e r w e n d u n g des
Verbums γ ε ν ε η λ ο γ ε ΐ ν vgl. unten Anm. 121.
114
Vgl. zu dieser Episode Assmann 1997, 73 und 191, der annimmt, daß die Anek-
dote auf einem Mißverständnis beruht, das bereits ägyptisch sei. Die Statuen hätten nicht
ursprünglich diesem Zweck der Dokumentation von Zeit gedient, seien aber in der Spät-
zeit von den geschichtsbewußten Ägyptern in dieser Weise gedeutet und Besuchern des
Tempels vorgeführt worden.
115
2.143.4: ού δ ε κ ό μ ε ν ο ι [sc. οί ίρέες] π α ρ ' α ύ τ ο ΰ ά π ο θ ε ο ΰ γ ε ν έ σ θ α ι ά ν θ ρ ω π ο ν
('wollten ihre Meinung nicht gelten lassen, daß ein Mensch von einem Gott abstamme');
weiterhin: και ο ΰ τ ε ές θεόν οΰτε ές η ρ ω α ά ν έ δ η σ α ν α υ τ ο ύ ς ( ' u n d verknüpften sie weder
mit einem Gott noch mit einem H e r o s ' ) ; 2.144.1: τ ο ι ο ύ τ ο υ ς [sc. τ ο υ ς π ι ρ ώ μ ε ι ς ]
ά π ε δ ε ί κ ν υ σ ά ν σ φ ε α ς π ά ν τ α ς έόντας, θεών δέ π ο λ λ ό ν α π α λ λ α γ μ έ ν ο υ ς ( ' S i e erklärten
nun also, alle, deren Bilder da standen, seien Leute der Art, von Göttern völlig verschie-
den').
78 Susanne Gödde
116
Vgl. Zographou 1995, 200 Anm. 58. Es scheint mir wichtig zu betonen, daß He-
rodots These des ägyptischen Ursprungs der griechischen Religion als Konstruktion zu
betrachten ist, die weder dazu verleiten sollte, sie zu verifizieren (so etwa Zographou
1995, 201 Anm. 62 mit Material zur Herkunft des Gottes Dionysos), noch Herodot Un-
genauigkeit und Uninformiertheit vorzuwerfen. Statt dessen gilt es, ihr Reflexionspoten-
tial zu erkennen und dieses eher in systematischer als in historischer Hinsicht für Hero-
dots Theorie der Religion auszuwerten. Vgl. dazu Bowie 2004, 261: "At times we shall
have to consider the 'accuracy' of some of these passages, but this will not [be] for the
purpose of judging Herodotus' veracity, but of seeing what it is he does with the tradi-
tions he came into contact with."
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 79
tualprogramm. 117 Die 'Entstehung' des Dionysos, die Herodot hier auf
1000 Jahre vor seiner eigenen Lebenszeit datiert, entspricht jedoch nicht
der Kreation und Erfindung der Götter sowie ihrer Ausstattung mit Funk-
tionen und Gestalten durch Homer und Hesiod, denn deren Dichtungen
hatte Herodot ja 400 Jahre vor seiner eigenen Zeit angesetzt (2.53). Nach
seiner Ansicht war es Melampus, der den Namen und die Riten des Dio-
nysos bei den Griechen eingeführt hatte (2.49).118 Zugleich aber wird die
Geburt des Dionysos und der anderen Götter in diesem Passus als ein
scheinbar historisches Faktum behandelt. Herodot beschließt die Passage
über die Chronologie der Götter mit einer Wendung, die im weitesten
Sinne unter die besprochenen Leerstellen gezählt werden kann:
Von diesen beiden [Betrachtungsweisen] die zu verwenden, die ihm mehr ein-
leuchtet, steht j e d e m frei. Ich meinerseits habe meine Meinung darüber ausge-
sprochen.
Lediglich allusiv löst Herodot die schwierigen Probleme, die er mit dem
Versuch der Historisierung der Göttergenealogie aufgeworfen hat: Was
genau 'seine Meinung über diese Dinge' ist, sagt er nicht.119 Der Fortgang
des Kapitels macht deutlich, daß sein Unternehmen für ihn weniger wider-
117
2.48-49. - Das genauere Verhältnis von kulturellem D i f f u s i o n i s m u s einerseits
und der von den Dichtern vorgenommenen ' N e u - E r f i n d u n g ' der Götter andererseits be-
d a r f w e i t e r e r Analysen, die über den Rahmen dieses Aufsatzes hinausgehen würden.
118
Vgl. dazu Zographou 1995, 200.
119
Aus dem griechischen Text geht nicht eindeutig hervor, was das Bezugswort von
α μ φ ο τ έ ρ ω ν ist. Die Übersetzer bedienen sich hier erläuternder Paraphrasen, um den Be-
zug herzustellen: Marg 1973 wie oben (eckige Klammer von mir hinzugefügt); Horneffer
1955: " W a s nun Dionysos und Pan betrifft, so mag man derjenigen Sage folgen, die man
für glaubwürdig hält. Meine eigene Meinung über die Herkunft der hellenischen Götter
habe ich bereits dargelegt."; anders Brodersen 2005: "Von diesen beiden (Griechen und
Ägyptern) benutzt nun j e d e Seite an den Geschichten, was ihr einleuchtet." - Will man
Marg und Horneffer (vgl. auch Lloyd 1989 ad loc., der annimmt, daß Herodot sich hier
auf seine A u s f ü h r u n g e n in den Kapiteln 43-49 bezieht) folgen, dann dürften mit den
"beiden Betrachtungsweisen" die ägyptische (vom hohen Alter der Götter Pan, Herakles
und Dionysos) und die griechische (nach der diese Götter zu den jüngsten zählen) ge-
meint sein (2.145); Herodot erzeugt hier den Eindruck, nur eine der beiden könne die
richtige sein; doch scheint seine eigene Position darin zu bestehen, daß beide Betrach-
tungsweisen einander gerade nicht ausschließen.
80 Susanne Gödde
ständig wäre, wenn auch Dionysos und Pan wie Herakles 'vor aller Augen
gelebt hätten und in Griechenland alt geworden wären' (εί μεν γαρ
φανεροί τε έγένοντο και κατεγήρασαν καί ούτοι έν τη Ε λ λ ά δ ι ,
146.1).120 Doch Dionysos wurde gleich nach seiner Geburt, wie die Grie-
chen erzählen, von Zeus in dessen Schenkel eingenäht und dann nach
Nysa gebracht, während sie von Pans weiterem Schicksal überhaupt nichts
wissen (146.2). So ist der Historiker mit der Aufgabe konfrontiert, 'un-
sichtbare' Götter (solche, die vor niemandes Augen gelebt haben) in die
Chronologie aller Wesen einzureihen, und es stellt sich die Frage, inwie-
weit diese Untersuchung noch dem Programm entsprechen kann, über die
θεία πρήγματα nicht spekulieren zu wollen. Herodot entkommt diesem
Dilemma, indem er in seinem Resümee die Entstehung der Götter erneut
als einen vorwiegend menschlichen Akt ausweist und somit den Akzent
von der Historizität ihrer γένεσις auf das γενεηλογεΐν der Menschen ver-
schiebt (146.2):
Mir ist also deutlich geworden, daß die Hellenen deren Namen später erfahren
haben als die der andern Götter. Von der Zeit an, zu der sie sie [jc. die Namen]
erfahren haben, von da an haben sie ihre [.sc. der Götter] Entstehung in Form
einer Genealogie erzählt.121
Festzuhalten bleibt, daß sowohl die jungen Götter als auch die Heroen für
Herodots wissenschaftliches Unternehmen die allergrößte Herausforde-
rung darstellen. In diesen Wesen berühren sich, ebenso wie in den oben
120
Daß Herodot den Sohn der Semele als "Dionysos-mortel" versteht, wie Zogra-
phou 1995, 202 Anm. 68 meint, geht allerdings aus dem Text nicht hervor.
121
Übersetzung und Hervorhebung S. G. Die Übersetzungen von Horneffer 1955
("Die Zeit in der sie sie kennengelernt haben, nehmen sie als Zeit ihrer Geburt an.") und
von Marg 1973 ("Und in die Zeit, in der sie ihre Namen erfahren haben, setzen sie ihre
Entstehung und ordnen so deren Geschlechter ein.") verschleiern, daß γένεσιν hier das
Objekt des γενεηλογεΐν und damit die Geburt der Götter Gegenstand von Erzählungen
ist. Daß Herodot das Verbum γενεηλογεΐν mit besonderem Nachdruck verwendet, zeigt
dessen fünfmalige Wiederholung in 2.143: Hekataios wird zweimal als Ε κ α τ α ί ο ς γενεη-
λογήσας bezeichnet, von dem sich Herodot selbst als ού γενεηλογήσας absetzt, während
die Erwiderung der Ägypter zweimal mit dem Verbum ά ν τ ι γ ε ν ε η λ ο γ ε ΐ ν benannt wird.
Herodot gebraucht das Verb γενεηλογεΐν ebenfalls im Zusammenhang mit der Herkunft
des Perseus, also in einem Kontext, in dem es erneut um die Grenze zwischen Göttern
und Menschen geht (vgl. oben Anm. 112 und 113).
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 81
Um der Frage nach einer 'Poetik des Rituals' im Werk Herodots nachzu-
gehen, habe ich mich nicht dem im engeren Sinne 'literarischen' Herodot
zugewandt, dem Erzähler von Geschichten, sondern statt dessen dem Re-
ligionswissenschaftler Herodot. Ich habe versucht zu zeigen, wie religiöse
Geheimhaltungsrituale in Herodots Diskurs zu Modi der Reflexion und
zugleich zu Elementen einer 'rituellen Poetik' werden. Dabei ist nicht
immer eindeutig auszumachen, wie gezielt Herodot sein Programm ver-
folgt: Wissenschaftliche und religiöse Darstellungsmuster greifen ineinan-
der, und bisweilen entsteht gar der Eindruck, Herodot bewältige sein Ma-
terial nicht mit der zu erwartenden Konsistenz, sondern gerate in den Stru-
del der kaum zu beherrschenden Eigendynamik des polytheistischen Sy-
stems. Gleichwohl lassen sich Berührungspunkte zwischen religiösen
Skrupeln, dem Umgang mit Ritualen und seinem theoretischem Anspruch
ausmachen: Die Vorstellung, daß die Götter, die von Herodots Zeitgenos-
82 Susanne Gödde
sen verehrt werden und die das weltpolitische Geschehen steuern und ver-
antworten, in Aussehen und Verhalten den Menschen selbst ähneln, er-
zeugt bei Herodot sowohl persönliches als auch theoretisches Unbehagen.
Es ist dieser in seiner Kultur ubiquitäre Anthropomorphismus, gegen den
er (bewußt oder unbewußt) anschreibt und den er als eine Erfindung der
Menschen, zumal der Dichter, entlarvt, ohne deshalb die Existenz der
Götter, ja ihre Historizität bezweifeln zu wollen. Er bewegt sich dabei auf
einer fragilen Grenze zwischen einem essentialistischen und einem kon-
struktivistischen Religionsverständnis. 122
Herodots implizite Anthropomorphismuskritik trifft auf besonders bri-
santes Material im Bereich der griechischen Mysterienkulte. Die Frage
nach dem verbindenden Element aller zwölf Aposiopesen und zudem der
beiden programmatischen Äußerungen hat uns zu Göttern geführt, deren
tradierte Geschichten durch die auffällige Akzentuierung der Sexualität
oder des Sterbens ihrer Protagonisten gekennzeichnet sind. Daß diese
Götter zugleich fast alle im weitesten Sinne auf griechische Mysterien-
kulte verweisen, 123 provoziert die Frage, was für ein Verständnis dieser
Kultformen Herodots allusivem Umgang mit ihnen zugrunde liegt. Wie
genau ist der strukturelle Zusammenhang zwischen der Sterblichkeit eines
Dionysos-Osiris oder der Verehrung von dessen Phallos und den Unsterb-
lichkeitsverheißungen etwa der bakchischen Mysterien zu verstehen? Das-
selbe ließe sich fragen hinsichtlich der von Herodot suggerierten Promi-
nenz der Sexualität in den samothrakischen Mysterien oder der Tabuisie-
rung von Kulthandlungen im Bereich der eleusinischen Gottheiten Deme-
ter und Persephone. Wie verhalten sich die Seligkeitsversprechen dieser
Kulte, die Herodot übrigens mit keinem Wort thematisiert, zu der von ihm
122
Die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen der impliziten Religionskritik
Herodots und der expliziten einiger der vorsokratischen Philosophen wären in einer eige-
nen Studie genauer herauszuarbeiten. Vgl. zu den relevanten Fragmenten bereits oben
Anm. 52. Auf den ersten Blick fällt auf, daß Herodot die Götter, etwa die des Epos, an
keiner Stelle aus moralischen Gründen, nämlich weil sie Kriege führen und ehebrechen,
kritisiert, wie dies ζ. B. bei Xenophanes der Fall ist (21 Β 11 DK). Auch steht 'das Gött-
liche' bei Herodot, anders als bei einigen der vorsokratischen Philosophen, nicht im Ge-
gensatz oder im Widerspruch zu einer polytheistischen Kultpraxis (dazu etwa Heraklit 22
Β 5 DK). Schließlich ist hervorzuheben, daß Herodot das Göttliche nicht, wie etwa Xe-
nophanes oder Empedokles, mit einem Geist ( ν ο υ ς bzw. φ ρ ή ν ) ausstattet, der die ge-
samte Welt lenkt (21 Β 25 und 31 Β 134 DK). Der Gedanke, daß Gott unaussprechlich
sei, findet sich, verbunden mit der Negation der anthropomorphen Gestalt, bei Empedo-
kles (31 Β 134 DK).
123
Dies trifft wohl am wenigsten deutlich auf Pan zu.
Zur Poetik der Leerstelle in Herodots Ägypten-Logos 83
Susanne Gödde
Institut für Religionswissenschaft, FU Berlin
84 Susanne Gödde
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90 Susanne Gödde
Einleitung
1
Braungart 1996, bes. 3 3 - 3 9 , 1 3 9 - 1 4 7 , w o die zentrale Fragestellung v o n 'Ritual
und Literatur' im w e i t e r e n K o n t e x t v o n ' R e l i g i o n und Literatur' positioniert wird;
Dücker 2 0 0 4 ; Hammer 2 0 0 4 . Zur Antike vgl. Bierl 2 0 0 2 .
92 Eveline Krummen
Zum anderen läßt sich manchmal eine festliche oder sogar kultische
Einbindung der Dialoge beobachten, wenn zum Beispiel im Phaidros
Sokrates und sein junger Begleiter zum Musenheiligtum am Iiissos gehen
oder im Symposion der Tragödiensieg Agathons gefeiert wird. Doch auch
literarische, narrative und fiktionale Elemente lassen sich in den Texten
finden, die besonders in den Mythen zum Ausdruck kommen, in denen
wiederum religiöse Motive und Vorstellungen zahlreich sind, zum
Beispiel in den Jenseitsmythen, die auf den eleusinischen und orphisch-
dionysischen Bereich verweisen. Wie diese Inhalte zu beurteilen sind,
welche Stellung insbesondere die Mythen im Verhältnis zur Dialektik und
zum logos haben, sind immer noch offene Fragen der Piatonforschung. 2
Sind die Mythen ironische Gedankenspielerei (K. Reinhardt) oder eine
Gestalt der Wahrheit (J. Pieper)?3
Ausgehend vom Thema unserer Tagung werden zuerst die oben be-
schriebenen kultisch-rituellen Phänomene im Rahmenthema eines Dialogs
besprochen und im Hinblick auf ihren zeitgenössischen Kontext und ihre
Bedeutung im Dialog untersucht. Zweitens soll an ausgewählten mythi-
schen Passagen diskutiert werden, inwiefern sie auf religiöse Vorstel-
lungen und Traditionen verweisen, wie sie in die Argumentation des Dia-
logs eingebunden sind und was sie in Relation zum logos leisten. Drittens
wird gefragt, welche Bedeutung die religiös-kultischen Anspielungen für
die Philosophie Piatons haben. Diese Fragen werden exemplarisch am
Phaidon geprüft, der zu den sogenannten 'mittleren' oder 'Ideendialogen'
Piatons gehört und einen großen Jenseitsmythos enthält, was ihn thema-
tisch mit weiteren Dialogen, dem Gorgias (523a-527a), der Politeia
(614b-621b) und dem Phaidros (246a-256e) verbindet, die ebenfalls Jen-
2
Vgl. Janka/Schäfer 2002; Cürsgen 2002, bes. 13-32 (zur Forschungsgeschichte),
allerdings steht im gesamten Buch der & - M y t h o s der Politeia im Vordergrund, andere
Mythen kommen höchstens am Rande zur Sprache. Eine gute Einleitung und Übersicht
zum Mythos bei Piaton gibt Görgemanns 1994, 68-73. Vgl. auch Szlezäk 1993, 132-136,
wo festgehalten ist, daß Bilder und Geschichten "einen Sachverhalt ganzheitlich und
intuitiv" darstellen können; der Mythos bildet somit "eine unentbehrliche Ergänzung der
begrifflichen Analyse" und erweist sich "als ein zweiter Zugang zur Wirklichkeit", wobei
er "inhaltlich nicht unabhängig sein kann vom Logos" (136). Vgl. ferner Murray 1999;
Morgan 2000, 155-289, zum Phaidon: 192-201. Einen kurzen Jenseitsmythos enthalten
auch die Nomoi (10.903b-905d); vgl. dazu Pietsch 2002.
3
Reinhardt 1927; Pieper 1965; vgl. auch Reale 1996, 64-80, bes. 70-71.
'Schön nämlich ist das Wagnis' 93
Der Phaidon gilt als eines der bedeutendsten Werke Piatons. Auf der phi-
losophischen Ebene beschäftigt er sich mit der Unsterblichkeit, Metaphy-
sik und Transzendenz, auf der inhaltlichen mit dem Tod des Sokrates, da
von seinem letzten Tag im Gefängnis in Athen die Rede ist. Einen ganzen
Tag lang tröstet Sokrates die Freunde über seinen Tod. 6 Es gibt, wie bei
Piaton häufig, einen Rahmen, der das zentrale philosophische Gespräch
umgibt und einen äußeren und inneren Teil enthält. Im äußeren Teil ist das
Gespräch von Phaidon und Echekrates wiedergegeben, in dem Phaidon
den letzten Tag des Sokrates schildert. Diesem Gespräch hören wir zu. Im
inneren Teil sind die Ereignisse am Morgen und Abend des letzten Tages
im Gefängnis dargestellt, diese wiederum rahmen das eigentliche philoso-
phische Gespräch.
In diesem zweifachen Rahmen ist mehrmals von kultischen und
mythischen Inhalten die Rede. So erklärt Phaidon ganz zu Beginn des Dia-
logs, daß der letzte Tag des Sokrates mit der Rückkehr des Schiffes von
Delos zusammenfiel, das die Athener Apollon jedes Jahr zum Dank für die
4
Vgl. zum Gorgias Szlezäk 1985, 202-205; Rechenauer 2002; Dalfen 2004, 480-
503. Zum £/"-Mythos der Politeia vgl. Cürsgen 2002, bes. 58-121. Zum Phaidros vgl.
Riedweg 1987, 30-69.
5
Vgl. Ebert 2004, bes. 422: "Für die Frage, der die dialektischen Argumentationen
des Dialoges galten, für die Frage der Unsterblichkeit der Seele, gibt der Schlußmythos
nichts her."
6
Der Phaidon Piatons ist vielfach kommentiert. An neueren Werken sind besonders
zu nennen: Ebert 2004, in unserem Zusammenhang besonders wichtig das Kapitel "Die
Jenseitserzählung des Sokrates", 421-454; zu früheren Kommentaren vgl. 8 und 467-468,
darunter besonders Rowe 1993 und Frede 1999; vgl. Karfik 2004, 19-84. Die mythischen
und religionsgeschichtlichen Themen des Dialogs finden jedoch höchstens am Rande
Erwähnung und sind nicht systematisch untersucht worden.
94 Eveline Krummen
Rettung der athenischen Jugend schickten, die Theseus mit Hilfe des Got-
tes vor dem Minotauros bewahrt hatte. Während jedoch das Schiff unter-
wegs nach Delos war, durften die Athener niemanden töten, da die Stadt
rein gehalten werden mußte (καθαρεύειν την πάλιν και δημοσία μηδένα
άποκτεινύναι, 58b5-6). 7 Diese Informationen wirken zunächst rein do-
kumentarisch, führen jedoch bei genauerer Betrachtung wichtige Themen
des Dialogs ein, besonders das Thema der Reinheit und der engen Bezie-
hung zwischen Sokrates und Apollon. So sagt Sokrates, daß er einen
Hymnus auf Apollon gedichtet habe (61bl-3), später wird er sich mit den
Schwänen Apollons vergleichen, die dem Gott vor dem Sterben ihr schön-
stes Lied singen (84e3-85b9). Wie diese ist er in der Obhut des Gottes.
Schon in der Apologie hatte sich Sokrates auf Apollon bezogen (20e7-
21e). Apollon ist auch der Gott der Reinigung und Heilung. Im Kratylos
wird der Name sogar mit 'Apolouon' (6 άπολούων), 'der Reinigende',
etymologisiert (405a6-406a6). Was dagegen Theseus, den mythischen
Helden des Festes betrifft, so hat dieser sowohl die athenische Jugend vor
dem Tode bewahrt als auch die Institutionen der Stadt Athen begründet.
Somit werden durch diese Einbindung in das Festgeschehen Leben und
Sterben des Sokrates auf den Gott und den Heros bezogen. Sokrates findet
in Apollon gewissermaßen sein göttliches und in Theseus sein heroisches
Gegenüber. Damit aber ist indirekt ausgedrückt, daß Sokrates die atheni-
sche Jugend nicht etwa - wie die Anklage behauptet - verführt, sondern
durch die Philosophie und Hoffnung auf ein besseres Dasein wie ein The-
seus 'gerettet' hat.8
Auch im Rahmenthema am Ende des Phaidon kommen kultische In-
halte zur Sprache, besonders ein Opfer für Asklepios, dessen Bedeutung
seit der Antike diskutiert wird. Als letzte Worte des Sokrates überliefert
uns Phaidon (Piaton): 'Wir schulden Asklepios einen Hahn; entrichtet ihn
bestimmt und vergeßt es nicht!' (τω Άσκληπιω όφείλομεν άλεκτρυόνα·
άλλα άπόδοτε καν μή άμελήσητε, 118a7-8). Über den Kult selbst erfah-
ren wir nichts, Realia dazu sind uns jedoch aus anderen Quellen überlie-
7
Bei X. Mem. 4.8.2 handelt es sich um eine Frist von dreißig Tagen. Die theoria
findet im Anthesterion statt; vgl. Deubner 1932, 203-204.
8
Man sollte allerdings den Theseusmythos nicht allegorisch auslegen, wie Dorter
1982, 5 und Burger 1984, 19 es tun (der Minotauros sei die Furcht vor dem Tod, vor der
Sokrates befreie; den im Gefängnis des Sokrates Anwesenden, insgesamt vierzehn Perso-
nen, entsprächen die zweimal sieben jungen Athener und Athenerinnen, die Theseus
befreit habe).
'Schön nämlich ist das Wagnis' 95
fert. Asklepios war Sohn Apollons und Heilgott, Vater und Sohn besaßen
in vielen Heiligtümern einen gemeinsamen Kult. Ein wichtiges Zentrum
des Kultes befand sich außer in Epidauros auch in Athen. 9 Die bekannteste
Heilmethode war der Schlaf im Heiligtum, der durch eine Reinigung mit
Wasser vorbereitet wurde, wie sie in Epidauros bereits in der Mitte des 6.
Jh. bezeugt ist. Eine Statue des Asklepios, die einige Zeit nach Piatons
Phaidon, um 370 v. Chr., zu datieren ist, macht dies besonders sichtbar, da
aus der Hand des Gottes heiliges Wasser in ein Bassin strömt, in dem die
Heilungssuchenden gebadet haben. Man brachte Asklepios, der als Heros
und Gott verehrt wurde, auch Opfer dar, neben aufwendigen Opfern wie
einem Rind auch einfache wie ein Ferkel oder einen Hahn, der mehrfach
bezeugt ist.10 Es sind Beziehungen zu den eleusinischen Mysterien be-
kannt, wo am zweiten Tag die 'Epidauria' gefeiert wurden. 11 Das Ende
des Phaidon und das Sterben des Sokrates sind also wie der Beginn in
einen kultischen Kontext eingebunden, der 'Heilung' und 'Reinigung' the-
matisiert. Beide Themen sind im Dialog wichtig, wie sich zeigen wird. Es
wird zu prüfen sein, inwiefern die Äußerung zum Asklepiosopfer tat-
9
Graf 1997, 94-99; Lambrinoudakis 2002; Lembidaki 2002. Zum Asklepiosheilig-
tum in Athen vgl. Paus. 1.21.4 und 2.26.8; Aleshire 1989, bes. 7-36, und 1991. Als Testi-
moniensammlung immer noch wichtig: Edelstein/Edelstein 1945.
10
Zum Hahn für Asklepios vgl. Sokolowski 1969, Nr. 60, 113-114, 18-23 (Epidau-
ros, Ende 5. Jh. v. Chr.); IG IV 2 , 1 no 41 Ζ 6 (= Τ 562 Edelstein/Edelstein; ca. 400 ν.
Chr.); Herod. Mim. 4.11-18 (= Edelstein/Edelstein Τ 536); S.E. P. 3.220-221; Artem. On.
5.9 (= Edelstein /Edelstein Τ 523); Suda ί. ν. Ά λ ε κ τ ρ υ ό ν α ά θ λ η τ ή ν Τ α ν α γ ρ α ΐ ο ν : ...
ά φ ί η σ ι τω Ά σ κ λ η π ι φ ά ν ά θ η μ ά τε κ α ι ά θ υ ρ μ α ε ί ν α ι ... 6 Ά σ π έ ν δ ι ο ς εκείνος ... Zum
' W e t t k a m p f - und ' C h a m p i o n ' - H a h n von T a n a g r a ' vgl. Ael. fr. 101a; 101f D o m i n g o -
Foraste [= Τ 466 Edelstein/Edelstein]: ' E r sendet ihn (sc. den Hahn) Asklepios als ein
Weihgeschenk und Spielzeug ..., dieser Mann von A s p e n d o s ' . Die Testimonien zu PI.
Phd. 118c sind gesammelt bei Edelstein/Edelstein 1945, Τ 524-531.
11
Bei Philostr. VA 4.18 p.138 Kays. (= Τ 565 Edelstein/Edelstein) ist von Epidauria
die Rede, die mit großer Wahrscheinlichkeit am zweiten Tag der eleusinischen Mysterien
(am 18. Boedromion) nach der Prorrhesis und dem Bad der Mysten im Meer stattgefun-
den haben. Erklärt wird diese Position des Asklepiosfestes mit der verspäteten A n k u n f t
des Asklepios in Eleusis, w o er sich weihen ließ (τουτι δε έ ν ό μ ι σ α ν ' Α σ κ λ η π ι ο ύ ενεκα,
οτι δ ή έ μ ύ η σ α ν α υ τ ό ν η κ ο ν τ α Έ π ι δ α υ ρ ό θ ε ν όψέ μ υ σ τ η ρ ί ω ν ) , vgl. Paus. 2.26.8 (= Τ
564 Edelstein/Edelstein), dazu Deubner 1932, 72-73, w o auch ein Festzug ( π ο μ π ή ) des
Basileus sowie inschriftlich bezeugte Opfer im Asklepieion, eine Nachtfeier, Arrephoria
und Bewirtungen erwähnt sind. Asklepios selbst hatte durch den Blitz des Zeus den Tod
erfahren und war anschließend zum Heros oder Gott geworden. Er ist in Eleusis ebenso
eingeweiht wie Herakles, der nach seinem Tod auf dem Olymp als Gemahl der Hebe ein
ewiges Leben genießt. Die Verbreitung der Heilkunst des Asklepios durch Hippokrates
und des Korns durch Triptolemos werden in Analogie gesetzt. Vgl. Hp. Ep. 2 (IX p. 314,
16 L. = Τ 467 Edelstein/Edelstein).
96 Eveline Krummen
Der innere Teil des Rahmens zu Beginn des Dialogs schildert die Ereig-
nisse am frühen Morgen des letzten Tages. In diesem Kontext gibt es zwei
Begriffe, die sich auf Sokrates beziehen und dokumentarisch erscheinen,
wie vorangehend die Bemerkung zum Festgeschehen in Athen, jedoch
wiederum eine weitergehende religiöse und philosophische Bedeutung
haben, die für den Dialog wichtig ist.
Der erste Begriff ist 'glückselig'. Er beschreibt die Verfassung des
Sokrates am letzten Tag und eröffnet die Erzählung Phaidons: 'Glückselig
[ευδαίμων] schien mir jener [sc. Sokrates] zu sein, so furchtlos und voll
Würde schickte er sich an, zu sterben [ώς άδεώς και γενναίως έτελεύτα]'
(58e3-4). Dieser Zustand wird mit den Göttern in Verbindung gebracht:
'Er [sc. Sokrates] schien nicht ohne ein göttliches Geschick [ανευ θείας
μοίρας] zu gehen' (58e5-6). Es folgt ein kurzes Intermezzo, in dem Phai-
don die Frage des Echekrates beantwortet, wer am letzten Tag zugegen
gewesen sei, womit wir also in die äußere Rahmenhandlung zurückkehren,
erst danach geht die Schilderung weiter. Auf diese Weise aber erhält die
kurze Schilderung der eudaimonia des Sokrates zu Beginn zusätzlich Ge-
wicht, rückt sie doch an eine hervorgehobene Stelle, die um so mehr be-
tont ist, als der Dialog auch mit der eudaimonia des Sokrates enden wird,
wo Sokrates ausdrücklich wiederholt, daß er zur 'Glückseligkeit der Seli-
gen' gehen werde (εις μακάρων δή τινας ευδαιμονίας, 115d4, vgl. dazu
114b6-c8). Es entsteht ein großer Spannungsbogen, der vom Anfang bis
12
Vgl. unten S. 121-127.
'Schön nämlich ist das Wagnis' 97
zum Schluß des Dialogs führt. Für die Interpretation bedeutet dies, daß der
Dialog sozusagen unter dem Begriff der eudaimonia (des Sokrates) zu
verstehen ist, diese bildet Anfang und Ende.
Bevor jedoch dieser Begriff genauer analysiert wird, soll der zweite
Begriff, derjenige des 'Lösens', betrachtet werden, der die eigentliche
Schilderung des letzten Tages eröffnet. 'Lösen' wird in enge Beziehung
zur 'Abreise' des Sokrates gesetzt. Phaidon erzählt zunächst auf der fakti-
schen Ebene, wie am letzten Morgen der Wächter zu den vor dem Ge-
fängnis versammelten Freunden trat und sagte, 'es lösen die Elfmänner
Sokrates [sc. aus den Fesseln] und verkünden ihm, daß er an diesem Tag
sterben müsse' (λύουσι γάρ, εφη, οί ενδεκα Σωκράτη και παραγγέλλου-
σνν, δπως αν τήδε τη ήμερα τελευτα, 59e6-7). Die Freunde stellen denn
auch gleich fest, wie sie endlich Sokrates sehen dürfen, daß dieser 'gelöst'
ist (sc. aus den Fesseln). Sokrates legt darauf das Thema fest, über das
man am letzten Tag sprechen will, nämlich über die 'Abreise' ('dorthin
abreisen', έκεΐσε άποδημεΐν) und den 'Aufenthalt drüben' (περί της απο-
δημίας της εκεί), wie wir glauben, daß er sei. Das sei 'im einzelnen zu
betrachten' (διασκοπεΐν) und 'anschaulich zu erzählen' (μυθολογεΐν,
61dl0-e3). Das Gespräch wird mit der Frage eröffnet, ob man freiwillig
aus dem Leben scheiden darf. In diesem Zusammenhang kommen wieder
die Themen 'Gefängnis' und 'Lösen' vor, die nun in Relation zu den
Göttern und zum Ziel der 'Reise' gesetzt werden. Die Menschen befinden
sich 'in einer Art Gefängnis' (εν τινι φρουρά, 62b3-4), aus dem sie sich
nicht selbst befreien ('lösen') und nicht davonlaufen dürfen (καν ού δει δη
εαυτόν έκ ταύτης λύειν ούδ' άποδιδράσκειν, 62b4-5). Die Götter näm-
lich, in deren Obhut wir sind, sorgten für uns (τό θεούς είναι ημών τούς
έπιμελουμένους, 62b7). Ziel der 'Reise' sei jedoch, 'zu den Göttern zu
kommen' (παρά θεούς ... ήξειν, 63c2-3), so endet die Passage, und
Sokrates sagt, daß er guter Hoffnung sei, daß es für die Verstorbenen
etwas gebe und das Los der Guten nach dem Tod weitaus besser als das
der Schlechten sei. Es folgt eine kurze Unterbrechung durch den Gerichts-
diener und die Reflexion auf das richtige Gespräch vor dem Trinken des
Giftbechers. Auf diese Weise wird das Folgende, nämlich die eigentliche
Themenstellung des Dialogs, wiederum akzentuiert, da das, was folgt, von
den vorangehenden Themen abgehoben und auf das reale Ende, den Tod,
hin ausgerichtet wird.
Sokrates knüpft dann an die eben behandelten Themen die Frage nach
dem philosophischen Leben an, er will 'Rechenschaft darüber ablegen'
98 Eveline Krummen
13
Szlezäk 1993, 78-79 und 122-123. Weitere Unterbrechungen erfolgen dadurch,
daß Sokrates seinem logos ausdrücklich 'zu Hilfe k o m m e n ' muß, 84c-88b und 96a-102a;
jedesmal führt das Argument auf Höheres.
14
Έ ν ά π ο ρ ρ ή τ ο ι ς [sc. λόγοις]: ob es sich um schriftlich Festgehaltenes oder um
mündlich Vermitteltes handelt, ist unklar, es ist auch nicht deutlich, aus welchem Umfeld
diese 'geheimen Lehren' kommen; der Kontext verweist jedoch auf 'orphische Lehren'.
Doch soll diese Angabe, wie die Berufung auf eine 'alte Tradition' oder auf einen unbe-
stimmten Gewährsmann (τις) zeigt, alles offenlassen.
15
Die Literatur zur ' O r p h i k ' ist sehr umfangreich. Mit Vorteil benutzt man zur
ersten Orientierung Calame 2000 und 2002; E d m o n d s 2004, 29-110. Zu Eleusis vgl.
Clinton 2003, bes. 55-57. Es kommt in diesem Umfeld auch zu Überschneidungen des
orphischen Bereichs mit Vorstellungen aus dem eleusinischen und Pythagoreischen Be-
reich; vgl. Cole 2003; Burkert 2004, bes. 91-101, wo auch die wichtigsten Zeugnisse
angeführt sind. Zu 'Orphikern' bei Piaton vgl. Masaracchia 1993, bes. 185-187. Zur My-
sterienthematik vgl. K r u m m e n 2003. Vgl. Riedweg 1987; Lavecchia 1999, wo einzelne
Themen im Phaidon vor allem im Hinblick auf die 'Angleichung an Gott' besprochen
sind.
'Schön nämlich ist das Wagnis' 99
16
Zu den 'orphischen' Goldblättchen, die man heute im Umfeld der Dionysosmyste-
rien ansiedelt, in denen Dionysos und Persephone zentral waren, vgl. die Ausgabe von
Bernabe 2005, zur Zuteilung zur Orphik bes. 11-12; vgl. die Ausgabe mit K o m m e n t a r
von Pugliese Carratelli 2003; Graf 1991 und 1993; Riedweg 1998; Calame 2000.
17
Vgl. besonders die Goldblättchen aus Thurii und Pelinna (4. Jh. v. Chr.); außer der
Ausgabe von Bernabe 2005 vgl. auch Pugliese-Carratelli 2003, 105-124, bes. 110-112;
Calame 2000, 67-68 (zum Makarismos in der zweiten Person als Kategorie 3). Die Kom-
bination von μ ά κ α ρ und ε υ δ α ί μ ω ν ist seit Hes. Op. 826 bezeugt; zu ε υ δ α ί μ ω ν in einem
bakchischen Kontext vgl. außerdem Pi. fr. 7 0 a l l Maehler; Ar. Ra. 72; E. Ba. 73. Eine
Glückseligpreisung gibt es auch in eleusinischem Kontext, vgl. ζ. B. Pi. fr. 137 Maehler:
'Glückselig ist derjenige, der unter die Erde geht, nachdem er dieses gesehen hat: er
kennt das Ende des Lebens, er kennt den Anfang, der durch Gott gegeben ist'; vgl. S. fr.
837 Radt (= Orph. fr. 444 V Bernabe).
18
' L ö s e n ' : Phd. 6 7 d l - 2 , 81d3-4; 92al sowie 59e6 und 6 0 a l .
100 Eveline Krummen
19
Φρουρά kann 'Gefängnis' (Grg. 525a7) oder 'Wachtposten' (Lg. 762c5) heißen,
der Kontext und die Thematik des 'Lösens' aus den Fesseln machen hier eher 'Gefäng-
nis' wahrscheinlich. Vgl. Cra. 400c; Phdr. 250c5-6.
20
Vgl. Thurii fr. 488.5 Bernabe: 'aus dem Kreis [ic. der Wiedereinkörperung] ent-
flog ich' (κύκλο(υ) δ' έξέπταν), mit Kommentar bei Bernabe 2005, 58.
21
Szlezäk 2003, 81-82; 1996. Vgl. z. Β. PMb. 16c5 und Phdr. 276e-277e zur Kunst
der Dialektik als Voraussetzung der Eudaimonie; Phdr. 249c5-65, wo gesagt wird, der
Philosoph sei 'nach Möglichkeit immer mit seiner Erinnerung bei jenen Dingen, bei de-
nen verweilend der Gott göttlich ist'; Phdr. 253al-5 zur Angleichung des Philosophen an
den Gott; Ti. 47bl, wo gesagt ist, daß auf die Kosmologie die 'Gattung Philosophie' folgt
(φιλοσοφίας γένος). Vgl. auch Riedweg 1987, 53-54, 157 mit Anm. 55.
'Schön nämlich ist das Wagnis' 101
22
Krummen 2 0 0 3 , 2 3 - 3 1 .
102 Eveline Krummen
23
Auf mehreren Goldblättchen, besonders der Gruppe A 1-3, ist die 'Reinheit' des
Mysten betont: 'ich komme von den Reinen' (έρχομαι έκ καθαρών ..., fr. 488-491 Ber-
nabe); vgl. Calame 2000, 64-66.
24
Auf Dionysosmysterien deutet jedenfalls auch das Zitat, das Piaton Leuten im
Umfeld der 'Mysterien' in den Mund legt: 'Narthexträger sind viele, wenige jedoch sind
bakchoi' (ναρθηκοφόροι μεν πολλοί, βάκχοι δέ τε παΰροι, Phd. 69c8; vgl. Orph. fr. 576
Bernabe, unter Orphica Athenis)·, der Narthex und die Bezeichnung bakchoi gehören in
den Dionysoskult.
104 Eveline Krummen
25
Zum Dasein im Jenseits vgl. PI. R 2.363c-365a; Ar. Ra. 145-168; PI. Phd. 81b-
83e. Graf 1974, 103-107.
26
Der katharmos, die 'Reinigung' und das 'Reinigungsritual', bildet die erste Stufe
der Initiation. Bei Piaton ist der Begriff mehrfach gerade in dem hier bezeugten Kontext
verwendet, und zwar im Z u s a m m e n h a n g mit Mysteriensprache und Ideenschau, ζ. B.
Phdr. 244e: κ α θ α ρ μ ώ ν τε και τ ε λ ε τ ώ ν τ υ χ ο ΰ σ α , 'Reinigung und Weihen erlangend';
Sph. 227c im Kontext der Dialektik als Voraussetzung des ideengerichteten Denkens: τον
... περί τ η ν δ ι ά ν ο ι α ν κ α θ α ρ μ ό ν ; vgl. R. 8.567c; Lg. 5.735b; ebenso bezeichnet κ α θ α ρ ό ς
das 'Reinsein' von den Körperdingen und den hier zugehörigen Seelenteilen, ζ. B. Cra.
403e7-404a2: έ π ε ι δ ά ν ή ψ υ χ ή κ α θ α ρ ά ή π ά ν τ ω ν τ ω ν π ε ρ ί τό σ ώ μ α κ α κ ώ ν κ α ΐ
έ π ι θ υ μ ι ώ ν , ' w e n n die Seele rein ist von allen Übeln und Begierden, die den Körper
betreffen'.
'Schön nämlich ist das Wagnis' 105
sieht in die letzten oder höchsten Dinge, auf einer bestimmten (philosophi-
schen) Lebensführung und der Aussicht auf 'Glückseligkeit', bzw. Un-
sterblichkeit basiert. Von hier aus ist auch verständlich, warum das
Schwergewicht dieser Passage so sehr auf der 'Reinigung' liegt. Es geht,
wie Sokrates deutlich sagt, um die 'Reinigung' von den Körperdingen.
Der gesamten Passage liegt also ein spezifisch Platonisches Theorem
zugrunde, nämlich dasjenige von der dichotomischen Struktur der Seele.
Diese besteht aus sterblichen Teilen, die den Körperdingen zugeordnet
sind, wie Begierde und Ehrgeiz, und aus einem unsterblichen Teil, der
Denkseele, die allein auf die Ideen und das Göttliche gerichtet ist. Von den
sterblichen Teilen gilt es sich zu trennen, was nur durch die Philosophie
erfolgen kann, so daß zuletzt nur der unsterbliche Seelenteil bleibt. Es ist
also spätestens hier deutlich, daß die religiöse Thematik für die Argu-
mentation wichtig und keineswegs ornamental oder punktuell ist. Sie hat
eine ganz bestimmte Funktion, denn sie dient dazu, uns anstelle einer lan-
gen theoretischen Ausführung in einem bildhaften Vergleich, der sich aus
orphischen, dionysischen und eleusinischen Vorstellungen speist, die Na-
tur der Seele zu erläutern und gleichzeitig die Bedeutung der Philosophie
für die Frage nach Tod, Jenseits und Unsterblichkeit aufzuzeigen. Sokrates
müßte hier darüber sprechen, ob die Seele einfach oder mehrteilig ist und
welches Vermögen (dynamis) sie hat. Er würde vom unsterblichen See-
lenteil handeln, um den es im folgenden alleine geht. Wie andernorts auch,
tritt anstelle dieser theoretischen Abhandlung eine bildhafte Erläuterung. 27
Von Bedeutung ist auch die Position dieser Passage zur Reinigung im
Hinblick auf den gesamten Dialog. Sie findet sich unmittelbar vor den
Unsterblichkeitsbeweisen der Seele. Die Lehre vom 'richtigen Leben', die
eine Einsicht in die eigene Seele und ihre Konstitution voraussetzt, kommt
also noch vor der eigentlichen 'Belehrung' und 'Einweihung' in das We-
27
Gerade die Seelenlehre ist in mehreren Texten nur angedeutet, jedoch nicht aus-
drücklich formuliert. Unserer Stelle am nächsten kommt der Gorgias, wo ebenfalls von
Unvernünftigen und Uneingeweihten die Rede ist (493a7). Damit verbunden ist das
Thema, das auch im Phaidon anklingt, daß das Leben im Körper wie das Leben im Grab
sei (σώμα-σήμα-Thematik); darauf folgt ebenfalls eine Darstellung des Lebens der Un-
eingeweihten im Hades, und zwar anhand des Danaidenmythos; die Danaiden versuchen,
Wasser mit einem Sieb in ein leckes Faß zu füllen (493a3-b2). Auch die Mysterienmeta-
phorik in Anwendung auf Kallikles, der sich selbst nicht kennt, kommt vor, nämlich daß
Kallikles 'glückselig' sei, wenn er in die 'Großen Mysterien' eingeweiht sei, noch vor der
Einweihung in die 'Kleinen Mysterien' (497c), was unmöglich ist. Dazu Szlezäk 1993,
92-105.
106 Eveline Krummen
sen der Seele. Im folgenden kann es nur um die Vernunftseele gehen, denn
sie allein ist unsterblich. Schließlich aber bewirkt diese Passage auch auf
der argumentativen Ebene eine Art 'Reinigung', insofern sie dazu dient,
Kebes und Simmias von der Meinung, daß der Tod ein Übel sei, zu be-
freien. Diese Meinung resultiert letztlich aus falschen Vorstellungen über
die Seele. Die Passage ist somit eine Art philosophischer elenchos, der
seinerseits als 'Reinigung' verstanden werden kann und sich oft vor dem
Rückgriff auf 'Höheres' findet. So beginnt gleich danach der erste Un-
sterblichkeitsbeweis der Seele.28 Diese Passage hat sozusagen das Terrain
dafür bereitet und dient gleichzeitig der Strukturierung des Dialogs.
28
Vgl. Sph. 230d: ώς ... μεγίστη καΐ κυριωτάτη των καθάρσεών εστίν (sc. ό ελεγ-
χος, 'da ... er [jc. der elenchos] die größte und trefflichste unter den Reinigungen ist').
Vergleichbar ist der elenchos im Symposion, der eine Reinigung und Vorbereitung auf
die Rede der Diotima darstellt, dazu Riedweg 1987, 17-20.
29
Zur Seelenwanderung vgl. Riedweg 2001, 328-330; spätestens seit der 2. Hälfte
des 6. Jh. v. Chr. bekannt, wird sie auf Orpheus zurückgeführt; sie findet sich erstmals
wohl bei Pherekydes von Syros, sicher bezeugt ist sie bei Pythagoras. Von Anfang an
wird sie mit ethischen Grundsätzen verbunden; ein gutes Leben verbessert das Dasein im
Jenseits. Die Zeugnisse sind besprochen bei Brisson 1991, bes. 161-163 (zum Phaidon).
Vgl. Casadio 1991, bes. 130-132 (zu Piaton).
'Schön nämlich ist das Wagnis' 107
philosophische Inhalte ausgerichtet ist. In diesem Fall wird der 'alte logos'
durch den Unsterblichkeitsbeweis sozusagen rational begründet und die
Richtigkeit des alten logos dadurch erwiesen. Er wird mit dem Gesetz ver-
bunden, das die verschiedenen Kreisprozesse des Werdens und Vergehens
beherrscht. Diese bewegen sich stets zwischen Gegensätzen, von denen es
jeweils zwei gibt, einmal vom ersten zum zweiten, dann wieder vom
zweiten zum ersten. Also gibt es einen Prozeß vom Lebendigen zum Toten
(d. h. Sterben) und vom Toten zum Lebendigen (d. h. Wiedergeborenwer-
den). Denn wenn es diesen Prozeß nicht gäbe, würde schließlich alles tot
sein, d. h. aufhören zu sein. Piaton erweist also den 'alten logos' rational
als "Spezialfall des generellen Naturgesetzes der zyklischen Ableitung der
Gegensätze aus ihren Gegensätzen" (Reale 1996, 66). Dazu kommt noch
die Erweiterung um die ethische Komponente, wie sie zuvor dargelegt
worden war, insofern Sokrates betont, daß es nicht nur ein Dasein für die
Seelen der Verstorbenen gibt, sondern auch ein besseres für die guten, ein
schlechteres für die schlechten (72d7-e2). Im zweiten Teil des ersten Un-
sterblichkeitsbeweises zeigt Sokrates auf, daß die Seele das Wissen behält,
das sie bereits vor der Geburt hatte. Nimmt man das bereits dargelegte
Gesetz des Kreislaufs von Geburt und Tod noch dazu, ergibt sich, daß die
Seele sowohl im Tod Bestand hat als auch ihre Erkenntnisfähigkeit be-
wahrt.
In einem Intermezzo wird darauf mit der Fiktion gespielt, daß für ein
weiteres Argument der Unsterblichkeit der Seele ein 'Zauberer' oder 'Be-
schwörer' (επωδός) nötig sei. Wieder hat dieser Begriff einerseits eine
religiöse Bedeutung, insofern er in den orphischen Bereich eingebunden
ist, und andererseits auch eine bestimmte Aussagekraft auf der rhetorisch-
philosophischen Ebene, insofern 'der Beschwörer' bei Piaton denjenigen
meint, der eine 'schöne Rede' vorbringen kann, und zwar mit Wissen, also
den Philosophen. Im Dialog markiert das Wortfeld der 'Beschwörung',
daß nochmals 'Höheres' oder 'Prinzipielleres' folgt. Genau an diesem
Punkt setzt denn auch der zweite Unsterblichkeitsbeweis ein.30 Dieser zielt
30
Zur Bedeutung des 'Besprechers' und der 'Besprechung' ( έ π φ δ ή ) bei Piaton vgl.
Chrm. 155e; 156d; R. 4.426b: ο ΰ τ ε φ ά ρ μ α κ α ο ΰ τ ε κ α ύ σ ε ι ς ο ΰ τ ε τ ο μ α ΐ ο ύ δ ' α ύ έ π φ δ α ί ,
' w e d e r Heilmittel noch Brennen und Schneiden noch auch B e s p r e c h u n g e n ' ; vgl. R.
10.608a; Szlezäk 1993, 89-90; unten S. 123-127. Orpheus selbst 'bezaubert' mit seiner
Musik alles, Götter, Menschen, die Natur, die Unterwelt. Zu Beschwörungen und Reini-
gungen im Z u s a m m e n h a n g mit Initiationsthematik vgl. Calame 2000, 59. Wie die Be-
schwörungen und Reinigungen der darauf spezialisierten Priester von den Strafen im
108 Eveline Krummen
in der Tat auf 'Prinzipielleres', da er nachweist, daß die Seele als das nicht
Zusammengesetzte und Reine zur Welt des Seins gehört, wozu kommt,
daß sie dem spezifischen Gegenstand der Erkenntnis verwandt sein muß.
Da dieser Gegenstand (sc. die Ideen) immer seiend ist, ist auch die Seele
unsterblich und besitzt dieselbe Eigenschaft der Unveränderlichkeit.
Hiermit ist nunmehr das Ziel der Vernunftseele auch durch die rationale
Argumentation gesetzt. Ihr Ziel ist das Dasein bei den 'Göttern', bzw. bei
den Ideen.
Die Analogie zwischen religiösen und philosophischen Inhalten wird
also im Hintergrund auch in der Passage zu den Unsterblichkeitsbeweisen
weitergeführt und noch deutlicher gemacht, insofern nun auch erwiesen
ist, daß der palaios logos eine rational begründbare Wahrheit enthält. In
welch hohem Maße religiöse auf philosophische Inhalte bezogen sind,
zeigt sich auch im ersten Jenseitsmythos, zu dem Sokrates übergeht, als er
vom Ziel der vernünftigen Seele spricht (80c-84b). Inhalt des ersten Jen-
seitsmythos sind die verschiedenen Daseinsformen, welche die Seele nach
dem Tod einnimmt, insbesondere die Wiedereinkörperungen in der dies-
seitigen Welt, die mit der Art, wie ein Mensch gelebt hat, in Beziehung
gebracht werden. Der Text ist so organisiert, daß zuerst das Dasein der
Seele, die rein gelebt und ein philosophisches Leben geführt hat, geschil-
dert und mit demjenigen verglichen wird, das die in die Mysterien Einge-
weihten führen, von denen es heiße, daß sie wahrhaftig immerdar mit den
Göttern zusammenlebten. Es folgen diejenigen, die ein schlechtes, näm-
lich ein dem Körperlichen verhaftetes Leben geführt haben und deshalb
'Buße zahlen müssen für ihre frühere Lebensweise' (δίκην τίνουσαι της
προτέρας τροφής, 81d8-9). Sie werden in Tierformen wiedergeboren, je
nach Lebensweise in schlimmere (Esel, Wölfe, Habichte, Geier) und bes-
sere (Bienen, Wespen und Ameisen). Die besseren erlangen diejenigen,
die sich um die philosophischen Tugenden bemühten, jedoch nicht zur
Erkenntnis der Ideen gelangten; diese können auch wieder zu Menschen
werden. Am Ende dieses Kreislaufes, der vom Schlechten, den Körper-
dingen Verhafteten, zum Besseren, den nach philosophischen Tugenden
Lebenden, führt, gelangen wir wieder zum Ausgangspunkt, zu denjenigen,
die nach einem philosophischen und 'reinen' Leben, womit ein von Kör-
perdingen freies Leben gemeint ist, 'bei den Göttern' wohnen. Es folgt
Jenseits erlösen, so führen die ' R e i n i g u n g ' und ' B e s c h w ö r u n g ' (sc. die in Kenntnis der
Wahrheit gesprochenen Reden) zum Dasein 'bei den Göttern'.
'Schön nämlich ist das Wagnis' 109
eine längere Passage, die darstellt, wie die Erkenntnis der Ideen gewonnen
werden kann, die ihrerseits Voraussetzung für das philosophische Leben
ist. Die Seele weiß, daß sie auf diese ewigen Gegenstände gerichtet ist, bei
denen sie schon während des Lebens im Denken verharrt, und folglich
auch keine Angst haben muß, daß sie sich nach dem Tode auflöse und
nicht mehr sei (82e-84b).
Fragt man, was der erste Jenseitsmythos leistet, so zeigt er erstens die
großen Zusammenhänge zwischen Diesseits und Jenseits auf, indem er auf
die Seelenwanderung zurückgreift und diese im gesamten Kreislauf an-
schaulich ausmalt. Dabei stehen Existenzform und Lebensweise in enger
Beziehung. Ausgangspunkt der gesamten Darlegung aber war zweitens die
'alte Rede oder Lehre', die von ebendiesem Kreislauf erzählt, daß nämlich
aus den Toten die Lebenden wieder geboren werden (παλαιός μεν οΰν
εστι τις λόγος ... πάλιν γίγνεσθαι έκ των αποθανόντων τους ζώντας,
70c5-9). Die Seelenwanderung war ein großes Thema im Bereich der
Orphik. Von einem logos, der im Zusammenhang mit den Mysterien wie-
dergegeben wird und ebenfalls von der Seelenwanderung handelt, ist in
anderen Dialogen Piatons die Rede (z. B. Lg. 870d5). Die gesamte Pas-
sage über die Seelenwanderung dient, wie Sokrates ausdrücklich sagt,
drittens der Begründung, warum man ein Leben als philosophos führen
und sich von den Körperdingen fernhalten soll, nämlich um des Zieles
willen, des Aufenthalts 'bei den Göttern' nach dem Tode. Was uns hier im
ersten Jenseitsmythos vermittelt wird, ist somit eine Belehrung. Mehrfach
ist zudem vom Bild der Seele die Rede, die im Körper gefesselt ist oder
sich darin wie in einem Gefängnis befindet. Dabei geht es um einen logos,
der 'im Geheimen' (έν άπορρήτοις, 62b3) gelehrt werde, womit auf My-
sterieninhalte verwiesen ist.31 Daraus darf man folgern, daß der erste
Jenseitsmythos die Funktion der Belehrung oder paradosis hat, wie sie in
den sogenannten 'Kleinen Mysterien' enthalten war und zur Vorbereitung
auf die 'Großen Mysterien', auf die 'Schau' der heiligen Gegenstände
diente. Voraus ging eine 'Reinigung', eine katharsis, wie die antiken
Quellen belegen und wie sie im Phaidon zuvor ebenfalls ausführlich ent-
halten ist, wie oben dargelegt worden ist. Der erste Jenseitsmythos hat
31
Vgl. Riedweg 1987, 5-14; PI. Cra. 400c; £/?.7.335a2. Der Grund für die Seelen-
wanderung liegt in der 'Zwischennatur' des Menschen zwischen Sterblichkeit und Un-
sterblichkeit, die ihrerseits durch den Mythos von der Zerreißung des Dionysos begründet
ist. Diesen Mythos hat Piaton mit großer Wahrscheinlichkeit gekannt. Die Stellen und die
Überlieferungslage sind genannt bei Riedweg 1987, 13-14.
110 Eveline Krummen
Es folgt ein längeres Zwischenspiel (84c-91d), aus dem sich ergibt, daß
Sokrates nochmals seinem logos zu Hilfe kommen muß. 32 Die Passage
wird eingeleitet mit dem Hinweis auf den 'schönsten Gesang der
Schwäne', den sie sich vor ihrem Tod singen (84e-85c), da sie nun zu ih-
rem Gott hingehen dürfen, dem sie gedient haben. Sokrates ist - wie die
Schwäne - Apollon geweiht und in seiner Obhut (85b4-6), auch was die
prophetischen Gaben, die bei ihm auf die Ideen und das Jenseits gewendet
sind, betrifft. Apollon ist der Gott der Klarheit und Bewußtheit. Die Pas-
sage soll also den letzten Worten des Sokrates Bedeutung und Sicherheit
vermitteln, zumal es hier im philosophischen und mythischen Sinne um
'die letzten Dinge' gehen wird. Das Zwischenspiel mündet denn auch in
die Aufforderung des Sokrates, der Vernunft und den Menschen zu trauen,
wozu man allerdings ein Urteil über die Menschen, bzw. eine Einsicht in
die menschliche Natur haben müsse (89d).
32
Zur boetheia-Situation vgl. Szlezäk 1985, 234-250 und 1993, 78.
33
Eine ausfuhrliche Analyse des Bildes von der 'zweitbesten Fahrt' gibt Reale 1996,
72-77, w o auch Zweck und Ziel der 'zweitbesten Fahrt' genannt sind: Sie führe zur "Ent-
112 Eveline Krummen
schließlich bei der Reflexion über die Ursache für das Werden und
Vergehen zur Annahme, 'daß es ein Schönes an sich und ein Gutes und
Großes und alles Übrige gibt' (100b5-7), die Ideen also die realen Ursa-
chen der Dinge sind. Hier unterbricht Piaton mit einem Rückgriff auf die
Rahmenhandlung den Dialog und läßt Echekrates zustimmen. Dieser
Rückgriff ist ein strukturierendes Element und ein Hinweis darauf, daß
nochmals 'Höheres' folgt. In der Tat ist erst jetzt die Voraussetzung für
den dritten Unsterblichkeitsbeweis geschaffen. Sein eigenes Vorgehen faßt
Sokrates am Ende der Passage in einer berühmten Aussage zusammen.
Wenn man über die hypotheseis Rechenschaft ablegen müsse, dann greife
man auf eine der höheren hypotheseis zurück, bis man zu etwas 'Hinläng-
lichem' gelange (καν έάν αΰτάς νκανώς διέλητε [sc. τάς γε υποθέσεις
τάς πρώτας]), dann 'werdet ihr nicht mehr weiter suchen müssen' (ουδέν
ζητήσετε περαιτέρω, 107b3-9), dort kommt das Denken zur Ruhe. 34 Es
ist hier vom Aufstieg zum letztbegründenden Prinzip die Rede, in dem
man einen Hinweis auf das Eine, dem das Gute entspricht, gesehen hat,
wohin alles mündet. Dies ist das Ziel der Erkenntnis, wie zum Beispiel
auch in der Politeia dargelegt ist.35 Dem Beweisgang selbst liegt deutlich
eine bipolare Struktur zugrunde, es geht um Groß und Klein, um Warm
und Kalt, um Gerade und Ungerade (101a-e; 102b-106e). Diese Anlage
jedoch deutet darauf hin, daß wir hier im philosophischen Bereich auch
mit der Vorstellung der unbestimmten Zweiheit des Großen und Kleinen,
der im ethischen Bereich das Schlechte entspricht, zu rechnen haben.
Diese ist dem Einen zu- und untergeordnet. 36 Auf dieser ontologischen
deckung eines neuen Ursachentyps, der ausschließlich in der intelligiblen Realität be-
steht, nämlich im Eidos, in der Idee" (74), wozu die "Entdeckung der ersten und höchsten
Prinzipien, von denen die Ideen abhängen" (75) komme. Diese Terminologie wird später
auch im Zusammenhang mit dem dritten Unsterblichkeitsbeweis (103e3, 104c7) verwen-
det.
34
Vgl. PI. R. 7.532, wo vom dialektischen Aufstieg zum ersten Prinzip die Rede ist,
dort finde man 'Ruhe vom Marsch und ein Ende der Reise'.
35
Grundsätzlich gilt, daß die Voraussetzungen der Ideenlehre nur geklärt werden
können, indem man eine noch höhere Voraussetzung aufsucht und diese als einen weite-
ren Grundsatz annimmt, bis man auf etwas 'Hinreichendes' trifft, έπί τι ίκανόν, 101 d-e.
Vgl. Szlezäk 1993, 71-76, bes. 85-92: "Der Aufstieg zu einem letzten, transzendenten
Prinzip [ist] das Ziel des Erkennenden", dieses Aufsteigen geht in "Richtung der Er-
kenntnis der Prinzipien" (86), vgl. R. 6.509d-51 le; Smp. 210a. Vgl. auch oben Anm. 33.
36
Zum Platonischen Prinzip des Einen und der 'unbestimmten Zweiheit', die Grund
der Vielheit ist, vgl. Halfwassen 2004, 263-278, bes. 273-275: Allein aus dem Zusam-
menwirken der beiden Prinzipien kann sich "die Struktur des Ideenreiches und damit die
ganze Welt des Seienden" (274) konstituieren.
'Schön nämlich ist das Wagnis' 113
Hier schließt der zweite große Jenseitsmythos über das Schicksal der
Seele an (107d5-l 15a9), dessen Funktion unklar ist. Die Frage jedenfalls,
ob die Seele unsterblich sei, ist hinlänglich beantwortet. 38 Allerdings ist
die Frage nach dem Schicksal der unsterblichen Seele im Jenseits offenge-
blieben.
Die Jenseitserzählung selbst ist zweiteilig. Sie gliedert sich in das Re-
ferat eines traditionellen logos (λέγεται und indirekte Rede, 107d5-6), der
vom Totengericht handelt, und in einen 'schönen Mythos' (μΰθος καλός),
der die Wohnstätten und das Schicksal der Seelen nach dem Tode be-
schreibt (1 lObl; 114d-e). Im ersten Teil ist davon die Rede, wie die See-
len, geleitet von ihrem jeweiligen Daimon, in den Hades gelangen und
dort den ihnen gemäßen Ort einnehmen. Sowohl der Weg in den Hades als
auch der Ort, den die Seele dort einnimmt, sind von der vorangehenden
Lebensweise abhängig. Sokrates beschreibt danach den Ort, wohin die
gute und reine Seele gelangt, die zudem Götter zu ihren Geieitern hat, als
eine ideale Erde mit vielen Regionen, welche die guten Seelen bewohnen
37
Diese Argumentation zielt wohl nicht nur auf den Körper, sondern auch auf die
sterblichen Seelenteile, wie in der Lehre von der Dichotomie der Seele dargelegt wird,
die ζ. B. im Timaios formuliert ist. N u r die Denkseele ist vom Demiurgen hervorge-
bracht, die beiden anderen Seelenteile sind später ' a n g e b a u t ' (69c-d) und auf Begierde
und Ehrgeiz gerichtet (90b), also auf Dinge, die dem sterblichen Bereich angehören, das
logistikon aber soll sich der Ordnung und Harmonie des H i m m e l s angleichen, ' g e m ä ß
seiner alten N a t u r ' ( κ α τ ά τ η ν ά ρ χ α ί α ν φΰσνν, 90c-d); vgl. Szlezäk 1993, 92-105, zum
Timaios bes. 103.
38
Außer der oben in A n m . 6 genannten Literatur vgl. noch Ebert 2002; zu den Jen-
seitserzählungen im Phaidon, Gorgias und in der Politeia bes. D a l f e n 2002; Alt
1982/1983; 2002.
114 Eveline Krummen
können. Ein Unbekannter (τις) habe ihm, Sokrates, davon erzählt und ihn
vollständig überzeugt (108c8). 39 Damit rekurriert Piaton auf eine Form,
die er häufig wählt, wenn es darum geht, von einer bestimmten Position
oder wichtigen philosophischen Einsicht zu berichten, die nicht mit den
vorhandenen Gesprächspartnern dialogisch erarbeitet werden kann. Diese
neue Person (τις) hat keine Individualität, es handelt sich um ein imagi-
niertes dialektisches Gespräch, von dessen Inhalt sich Sokrates 'überzeu-
gen' ließ. Was folgt, unterscheidet sich also nunmehr vom Referat des
traditionellen logos über das Schicksal der Seele im Jenseits, wie diese
Einleitung besagt. In der Tat ist die nachfolgend beschriebene Welt mit
ihrer spezifischen Ordnung etwas Neues, nämlich ein Bild für das philo-
sophische System Piatons, insofern die Relation zwischen der Welt hier
und der Ideenwelt beschrieben ist, wobei diese nur diejenige Seelen er-
blicken können, die besondere Voraussetzungen erfüllen. Beschrieben ist,
wie wir in einer Senkung der Erde wohnen, in die sich Wasser, Nebel und
Luft ergossen haben, was die Wahrnehmung trübt, während die eigent-
liche Erde - wie in nunmehr schon vertrauter hieratischer Begrifflichkeit
formuliert ist - rein im reinen Raum des Himmels liege (καθαράν έν
καθαρω, 109b7), wo auch die Sterne sind.40 Diesen wahren Himmel, das
wahre Licht und die wahre Erde vermöge jedoch nur zu sehen, wer bis
zum höchsten Punkt gelange, beflügelt hinauffliege (ή πτηνος γενόμενος
άνάπτοιτο) und alles erblicken könne, indem er seinen Kopf hoch erhebe
(κατιδεΐν (αν) άνακύψαντα, 109e2-3). Diese Beschreibung erinnert auf-
fallig an das Höhlengleichnis der Politeia und ganz besonders an den Auf-
stieg des Seelenwagens im Phaidros, wie man stets bemerkt hat. Es wird
also das traditionelle Jenseitsbild um das philosophisch begründete Jen-
seitsbild Piatons erweitert, wie es grundsätzlich auch aus anderen Dialo-
gen bekannt ist. In den Formulierungen sowohl des Aufstiegs in der Ge-
39
Dazu Karfik 2004, 29-33. Die Erzählung gliedert sich in drei Teile: Der erste be-
handelt die Position und Gestalt der Erde (108e4-109a8), der zweite verbindet die obere
Gestalt der Erde mit ihrer inneren Struktur (109a9-l 1 lc5), und der dritte stellt die Unter-
welt, also das Innere der Erde, dar ( 1 1 1 c 5 - 1 1 3 c 9 ) . Die D a r s t e l l u n g erinnert an
kosmologische Modelle der Vorsokratiker. Zur kugelförmigen Gestalt der Erde vgl. Ebert
2004, 445-454. Die Kugelgestalt der Erde ist hier (Phd. 108e5) erstmals belegt; eine
Erde, die im Gleichgewicht schwebt und sich in der Mitte des Weltalls befindet, wird von
Aristoteles A n a x i m a n d e r zugeschrieben, der allerdings von einer z y l i n d e r f ö r m i g e n
Gestalt spricht (Cael. 2.13, 295bl 1-17). Weitere Literatur bei Karfik 2004, 30 Anm. 23
und 24.
40
Vgl. Karfik 2004, 33-36 zu den Aufenthaltsorten der Seelen.
'Schön nämlich ist das Wagnis' 115
folgschaft eines Gottes als auch in der Beschreibung des Zieles, nämlich
der Schau der reinen und wahren Erde, klingt wiederum religiöse Sprache
an, wie sie aus dem Mysterienkontext vertraut ist, diesmal dient sie als
Bild für die Beschreibung des Ideenbereichs. 41
Im zweiten Teil des Jenseitsmythos, den Sokrates nicht mehr als logos
sondern als 'schönen Mythos' bezeichnet (μΰθος καλός, 11 Ob 1; 114d-e),
wird die Beschreibung des Jenseits in seiner positiven und negativen Aus-
prägung fortgesetzt. Es handelt sich um eine Art 'Jenseitsschau'. Die Be-
schreibung geht aus von der Erde, die als Dodekaeder erscheint, was wohl
Pythagoreischen Konzepten am nächsten kommt. Die Erde ist in drei Teile
geteilt.42 Zuerst wird die 'wahre Erde' in ihrer unveränderlichen Schönheit
und Vollkommenheit dargestellt, deren Anblick 'ein Schauspiel für glück-
selige Betrachter' ist (θέαμα εΰδανμόνων θεατών, 11 la3). Die Menschen
leben in der Reinheit ihrer Luft ohne Krankheit, mit einem hervorragenden
Seh- und Hörvermögen, einem großen Verstand, die Götter zeigen sich
den Menschen; auch Sonne, Mond und Sterne werden von den Menschen,
die in eudaimonia leben, rein erblickt (110b5-l 1 lc3). Beschrieben ist hier
eine 'Insel der Seligen', die genau diejenigen Qualitäten aufweist, die für
einen philosophos entscheidend sind, wie gute Bedingungen für die Wahr-
nehmung, da der aither es ermöglicht, die Dinge klar und unmittelbar als
das zu erkennen, was sie sind, ein Dasein mit den Göttern und Glückselig-
keit. Diese Beschreibung bildet den Ausgangspunkt. Im Text folgen zwei-
tens die Landregionen und die Tiefen mit ihren Strömen sowie die Auf-
zählung der vier Unterweltsströme, wobei alles als großer Kreislauf des
Wassers dargestellt wird, der vielleicht auf die Hydrogeographie Siziliens
hinweist. Ähnliche Beschreibungen finden sich bei antiken Geographen.
Doch weist auch diese 'Realität' wiederum über sich hinaus, nämlich auf
das große System der Reinigung der Seelen im Jenseits, wo sie ihren
spezifischen Sinn findet (11 lc4-l 13c9).43 Die Schilderung endet mit einer
41
Vgl. dazu bes. Phdr. 248c3; 249c2; 250b5-c6 und Riedweg 1987, 56-60, w o auf
die Bedeutung des M y s t a g o g e n verwiesen wird, der den Initianden bei den Großen
Mysterien in Eleusis zur Schau geleitet. Bei Piaton übernehmen die Götter diese Funk-
tion. Hier auch zum astralen Einfluß auf Piatons Vorstellungen.
42
Vgl. PI. 77. 55c, w o das Dodekaeder dem Universum zugewiesen wird. Karfik
2004, 36-51; vgl. auch oben Anm. 39 und 40.
43
Vgl. dazu Kingsley 1995, 82-87. Jedenfalls würde diese Darstellung gut zur unter-
italisch-sizilischen Prägung der Jenseitsmythen stimmen. Ebert 2004, 444-445 will in der
Schilderung der Position der Erde im Weltall, der Geographie der Oberwelt oder auch der
h y d r o g e o g r a p h i s c h e n P h ä n o m e n e ein ' D o k u m e n t ' der Pythagoreischen Wissenschaft
116 Eveline Krummen
langen ethischen Reflexion über das Schicksal der Seelen nach dem To-
tengericht. Sie beginnt mit demjenigen der schlechten und ganz schlechten
Seelen, die mehrfach durch das unterirdische Flußsystem gewaschen wer-
den (112a-l 14b), und geht weiter mit dem Schicksal derjenigen Seelen,
'die sich durch eine besonders reine Lebensführung auszeichnen' (ov δέ δή
αν δόξωσι διαφερόντως προς τό όσίως βιώναι, 114b6-7); diese steigen
auf und gelangen zu 'reinen Wohnstätten' (άνω δέ είς την καθαράν
οί'κησιν άφικνούμενοι, 114cl-2). Hier befinden wir uns also wieder am
Ausgangspunkt des 'schönen Mythos', nämlich bei der 'Insel der Seligen'.
Doch gibt es noch eine weitere Gruppe, und zwar jene 'der durch die Phi-
losophie hinreichend Gereinigten' (oi φιλοσοφία ίκανώς καθηράμενοι),
die für immer ohne Körper leben (άνευ τε σωμάτων ζώσι) und zu ganz
besonderen 'Wohnstätten kommen, die noch schöner als diese und nicht
leicht klar darzustellen sind' (και είς οικήσεις έ'τι τούτων καλλίους άφ-
ικνοΰνται, ας οΰτε ράδιον δηλώσαι). Sokrates endet mit der Auffor-
derung, daß man alles tun soll, um in diesem Leben an Tugend und Ver-
nunft Anteil zu haben (παν ποιεΐν ωστε αρετής και φρονήσεως έν τω βίω
μετασχεΐν, 114c7-8), denn der Siegespreis sei schön und die Hoffnung
groß (καλόν γαρ τό αθλον και ή έλπις μεγάλη, 114c8). Mit dieser
Formulierung schließt sich ein weiterer Kreis, wir sind am Ausgangspunkt
des gesamten Gesprächs angelangt, der durch dieselbe Formulierung
markiert war. Wer sich im Leben um seine Seele kümmert, wird den
'Siegespreis davontragen' (114c; 64a2). Zwar gebe es keine Gewißheit
über die 'wahre Welt', doch 'das Wagnis ist schön' (καλός γαρ ό κίνδυ-
νος, 114d6), sagt Sokrates, nämlich diesen Glauben zu haben und zu
leben. Der Tod also ist nicht das Ende, die Seele ist unsterblich und Sokra-
tes wird zu den Göttern 'übersiedeln'. 44
Fragt man nach der Verbindung des zweiten Jenseitsmythos mit dem
vorangehenden Unsterblichkeitsbeweis und nach der Funktion, so ist zu-
erst wieder die enge Beziehung zwischen religiöser Thematik und philo-
sophischer Systematik deutlich. Auf der religiösen Ebene begegnet man
denselben Bereichen wie zuvor, wobei Jenseitsgericht, Buße der unreinen
Seele, Wiedereinkörperung, die Forderung 'rechtmäßig und nach religiö-
sen Bräuchen zu leben' (όσίως βιώναι), das Bild des Todes als 'Befreiung
sehen, in der Schilderung der Eschatologie dagegen ein ' D o k u m e n t ' der Pythagoreischen
Religiosität. Zu den Pythagoreischen Gesprächspartnern vgl. Ebert 2004, 97-100.
44
Vgl. oben S. 96-97.
'Schön nämlich ist das Wagnis' 117
45
Vgl. Riedweg 1987, 2-69; Krummen 2003.
118 Eveline Krummen
46
Vgl. R. 10.61 ld2; Szlezäk 1993, 102-103.
'Schön nämlich ist das Wagnis' 119
der Jenseitsmythen, der Aufstieg zum Bereich der Ideen und der 'idealen
Wohnstätten', bezieht sich also unmittelbar auf grundlegende Theoreme
der Platonischen Philosophie. So sind der dritte Unsterblichkeitsbeweis
und der zweite Jenseitsmythos in ihrer Ausrichtung verbunden, letzterer
führt im Bilde aus, was jener dialektisch begründet hat, und führt es zum
höchsten Ziel.
Doch lassen sich vor diesem Hintergrund auch die Funktion und Ein-
bindung der ausgedehnten Passagen zu einem negativen Jenseits der Un-
reinen, wo die Frevler ihre Strafe verbüßen, deutlicher fassen. Es gibt ein
dem Höchsten und Guten entgegengesetztes Prinzip der unbestimmten
Zweiheit. Eine Stelle im Theaitetos verknüpft dieses dem Guten entgegen-
gesetzte Prinzip auch mit dem Schicksal des Menschen. 47 Es gebe zwei
Vorbilder (παραδείγματα) im Seienden, ein gänzlich glückseliges, göttli-
ches und ein unseliges, widergöttliches. Manche Menschen folgten dem
widergöttlichen, womit sie auch ihr Schicksal im Diesseits und Jenseits
besiegeln (176a5-177a8). Das Übel (τά κακά) aber müsse in der Welt
sein, da es notwendig etwas geben müsse, das dem Guten entgegengesetzt
sei, doch erreiche das Übel nicht den Bereich der Götter. Im Theaitetos
erscheint also eine metaphysische Letztbegründung aus zwei gegensätzli-
chen 'Vorbildern' oder παραδείγματα. Diese sind auch - so kann man
folgern - in der mythischen Strukturierung des Jenseits wirksam, wie es
im Phaidon dargestellt ist. Die ideale Erde verweist auf die Dominanz des
einen Guten, die Unterwelt dagegen, die als Aufenthaltsort der Schlechten
definiert ist, auf diejenige des dem Guten Entgegengesetzten, des Übels
und seiner vielfältigen Erscheinungen. So ist denn das Bild des Jenseits
nur vollständig, wenn beide Bereiche beschrieben sind. Von hier aus wür-
den sich die ausführlichen Schilderungen der Unterwelt erklären, denn es
soll offenbar der gesamte Kreislauf, der Ort einer jeden Seele je nach
ihrem Leben und Verdienst, dargestellt werden. Die negativen Teile des
Jenseitsmythos sind somit ebenso auf die philosophische Systematik aus-
gerichtet wie die positiven. Von hier aus wird die Stellung des ersten Prin-
47
Zum Theaitetos vgl. Szlezäk 2004, bes. 124-125. Vgl. auch R. 4.443el, wo Gut-
sein und Einssein dasselbe sind: nur ein Leben, das gemäß den Tugenden geführt wird,
kann die 'Vielheit', die mit der Schlechtigkeit zusammengeht, vermeiden. 'Gutsein' be-
deute, 'ganz und gar eins werden aus Vielem' (παντάπασιν ενα γενέσθαι έκ πολλών).
Ziel des Lebens für den Philosophen ist die Idee des Guten, somit das Einssein, Die arete
hat denn auch nur eine Form, das 'Übel jedoch unendlich viele' (έν μεν είναι είδος της
αρετής, άπειρα δέ της κακίας, 445c5-6).
120 Eveline Krummen
zips oder der 'noch schöneren Wohnstätten' noch deutlicher. Diese dienen
dazu, den obersten, letztbegründenden und einen Punkt, der alles zusam-
menhält, zu markieren. Es ist gewissermaßen der Fluchtpunkt des Lebens
des idealen Philosophen, dessen Ziel es ist, 'von hier nach dort' zu gelan-
gen {Phd. 107e2; 117c2). Auch für die zu Beginn des Jenseitsmythos ent-
faltete Beschreibung der Erde als Dodekaeder erschließt sich nun die Be-
deutung und ihre philosophische Ausrichtung. Die Kenntnis der Natur der
Erde und des Alls hängt mit der Kenntnis der letzten Begründungen zu-
sammen, aber auch mit der Natur der Seele, wie sie im Timaios dargelegt
ist.
Die Funktion des zweiten Jenseitsmythos jedoch zeigt sich vollends,
wenn man auf die grundlegende Frage des Phaidon zurückgeht, warum
man vor dem Tod keine Angst zu haben brauche, die sich als eine Frage
nach der Unsterblichkeit der Seele erweist. Diese ist mit der Theorie zur
Platonischen Seelenlehre und Ethik, mit der Ontologie, Kosmologie und
Erkenntnistheorie verbunden, wie sich gezeigt hat. Diese Theorien können
jedoch nicht genauer und im einzelnen dargelegt werden. Sokrates sagt an
entscheidender Stelle, als Simmias nach der 'Erde' fragt, die eine Meta-
pher für den Ideenbereich ist, daß er nur ihre Gestalt beschreiben könne,
jedoch nicht, was sie in Wahrheit sei, dafür bleibe nicht genug Zeit
(108d4-e2). Im Phaidros, wo Sokrates über die Natur der Seele sprechen
sollte, wählt er eine Darlegung, die einer 'kürzeren und menschlichen
Ausführung entspricht', anstelle einer gänzlich göttlichen und langen Aus-
führung (246a4-6). Es folgt die zweite Erosrede mit dem Bild des
Seelenwagens. Im Phaidon führt somit der Jenseitsmythos im Bilde aus,
was hinter den Unsterblichkeitsbeweisen der Seele an philosophischen
Theoremen und Gehalt liegt, was jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht in
seiner Systematik dargelegt werden kann. Diese Aufgabe kann er umso
besser erfüllen, als der gesamte Dialog, wie nachgewiesen wurde, auf
einer kohärenten religiösen und mythischen Thematik aufliegt, die den
Dialog weiträumig strukturiert, auch die Jenseitsmythen einbindet und
sich klar auf die Systematik der Platonischen Philosophie bezieht. So kann
man schließen, daß der zweite Jenseitsmythos die Konsequenz der Un-
sterblichkeitsbeweise der Seele darlegt, und zwar in einer Weise, die in
gedrängtester Form die Grundsätze der Philosophie Piatons auf den Punkt
bringt und sie in einem einprägsamen Bild wie Losungsworte im religiö-
sen Bereich, dem Wissenden zur Erinnerung, dem Nichtwissenden oder
demjenigen, der sich auf dem Weg befindet, zur Aufgabe und Hoffnung,
'Schön nämlich ist das Wagnis' 121
Wir wechseln nun wieder zum inneren Rahmen des Dialogs, wo die Er-
eignisse unmittelbar vor dem Tod des Sokrates dargestellt sind (115a5-
118al7). Die Erzählung erscheint dokumentarisch, zeigt jedoch gleichzei-
tig eine religiöse und philosophische Einbindung. Es ist geschildert, wie
Sokrates sich wäscht, Abschied nimmt, die Freunde tröstet, den Giftbecher
heiter entgegennimmt, betet, sich hinlegt, verhüllt und unmittelbar vor
dem Sterben wieder enthüllt, schließlich Kriton aufträgt, Asklepios einen
Hahn zu opfern, so seine letzten Worte. Man kann diese Begebenheiten als
Bestandteil einer rituellen Handlung betrachten, das Waschen, das Wie-
derholen der essentiellen Inhalte der Lehre, daß nur der Leib, nicht aber er,
Sokrates selbst, begraben werde, womit auf die Unsterblichkeit der Ver-
nunftseele hingewiesen ist, das Hinlegen zum Schlafen, das Verhülltsein
und Enthüllen, die Anweisung, das Opfer für Asklepios darzubringen.
Vergleichbar ist der Ritus des Schlafens im Heiligtum des Asklepios, dem
das Bad des Kranken vorangeht, im Schlaf erscheint dem Heilungsuchen-
den der Gott. Das Enthüllen unmittelbar vor dem Tod könnte darauf deu-
ten, daß Sokrates etwas Heiliges wahrnimmt, so wie der Myste in Eleusis
die Götterbilder oder der Schlafende im Asklepiosheiligtum im Traum den
122 Eveline Krummen
Gott selbst sieht. Auf jeden Fall werden die religiösen Themen des Dia-
logs zu Ende geführt, zu dem Punkt, den die Mysterienkulte verheißen, zu
Glückseligkeit und Gottesbegegnung.
Die Bedeutung im philosophischen Bereich dagegen zeigt sich, wenn
man berücksichtigt, wo der Jenseitsmythos, der unmittelbar vorangeht,
endet. Er endet mit der Andeutung, daß der wahre Philosoph zu den 'noch
schöneren Wohnstätten' gelangen wird, wenn seine Seele mit den ent-
scheidenden philosophischen Tugenden der Besonnenheit, Gerechtigkeit,
Tapferkeit, Freiheit und Wahrheit geschmückt ist, was bei Sokrates der
Fall ist (114e3-l 15a3). Unmittelbar darauf folgt die Schlußszene. Diese
Anlage aber hat eine besondere Bedeutung, insofern sie bewirkt, daß der
Tod des Sokrates vor einen Hintergrund tritt, nämlich Sokrates' eigene
große Rede über die Unsterblichkeit und das Dasein des Philosophen nach
dem Tod. Sokrates wird, so die Aussage, zum Anfang von allem gehen,
'von hier nach dort', zu jenen 'Glückseligkeiten der Glückseligen'
(115d4), wie Sokrates wahr und mit urbaner Ironie sagt, um Kriton zu
trösten. Der zweite Jenseitsmythos hat folglich auch die Funktion, den
Hintergrund für den Tod des Sokrates zu bilden und das Ziel der 'Reise'
aufzuzeigen. Daraus aber ergibt sich, daß der Schluß des Dialogs, die Ster-
beszene, als Fortsetzung des Jenseitsmythos zu lesen ist. Erst der Tod des
Sokrates führt den Jenseitsmythos in seiner Anwendung auf die Seele des
idealen Philosophen zu Ende. Sokrates also ist am Ziel der Reise ange-
langt, er hat gesehen und ist geworden, was er einmal war, seine Augen
sehen hier nicht mehr - wie der Wächter ihn enthüllt, sind sie starr - , denn
sie sehen dort, wo sie das Wahre und Göttliche sehen. Sokrates schläft hier
und wacht dort, während er sonst derjenige war, der noch wachte, während
alle anderen schliefen. 48
48
Daß es für die Interpretation eines Dialogs nicht unwichtig ist, in welcher Reihen-
folge die einzelnen Teile erscheinen, bestätigt das Symposion. Dort tritt ebenfalls der letz-
te Teil, der die Ankunft des Alkibiades schildert und gleichzeitig die innere Rahmen-
handlung des Symposions wieder aufnimmt, vor einen Hintergrund. Dabei handelt es sich
um die Rede der Diotima zur Erkenntnis der Ideen, die sie in einem Bild, nämlich der
Einweihung in die Großen Mysterien in Eleusis, zu erklären versucht. Allerdings zweifelt
Diotima, ob Sokrates, damals ein junger Mann, je in die Großen Mysterien eingeweiht
werden könne. Alkibiades dagegen behauptet, daß Sokrates 'Götterbilder' in sich trage
(215b). Diese prägen Sokrates' Verhalten und sein Leben, wie die Beispiele zeigen, die
Alkibiades aus dem Leben des Sokrates anführt. Die Rede des Alkibiades dient also dazu,
die Zweifel der Diotima zu beseitigen. Sokrates konnte - im Bilde gesprochen - in die
Großen Mysterien eingeweiht werden, er hat 'die Ideen gesehen'. Der Alkibiadesteil oder
die Rahmenhandlung im Symposion tritt also vor einen Hintergrund, nämlich der Rede
'Schön nämlich ist das Wagnis' 123
Die Frage nach der Bedeutung des Opfers für Asklepios ist vor diesem
Hintergrund neu zu stellen (118a7-8). Seit der Antike wird das Opfer als
Dank für die Heilung von der Krankheit des Werdens oder Lebens (Da-
maskios) oder des Mißtrauens in die Argumente (Crooks) oder des kran-
ken Piaton (Most) oder als Zeichen von Sokrates' Frömmigkeit (Ebert)
verstanden.49 Richtig ist, von Asklepios als Heilgott und bestem Arzt aus-
zugehen, doch darf sich die Analyse nicht auf den Phaidon beschränken.
Die Themen 'Heilkunst' und 'Ärzte' kommen bei Piaton mehrfach vor,
wobei der 'Arzt', dessen 'Kunst' auf den Körper bezogen ist, in Analogie
gesetzt wird zum wahren Rhetoriker und Philosophen, dessen Kunst sich
auf die Seele richtet. 'Heilen' können Arzt und Philosoph jedoch nur,
wenn sie über eine 'Kunst' oder techne verfügen, die auf wahrem Wissen
gründet.50 So wie also der Arzt den Körper mit Hilfe seiner techne heilt, so
der Philosoph die Seele mit Hilfe der Redekunst und Dialektik. Ein gutes
Beispiel für diese Analogie findet sich im Charmides. Der schöne Charmi-
des leidet an Kopfschmerzen. Sokrates erklärt, daß er zwar ein 'Heilmittel'
(φάρμακον) gegen Kopfschmerzen besitze, es sei jedoch nur in Verbin-
dung mit einer 'Besprechung' (έπωδή) der Seele wirksam (155e5-9).51 Es
wird danach ausdrücklich gesagt, was die 'Besprechungen' sind, nämlich
'schöne Reden', durch die in der Seele Besonnenheit entstehe. Das Phar-
makon dagegen ist eine Metapher für zentrale Inhalte der dialektischen
Wissenschaft, die zur wahren Erkenntnis, zur Glückseligkeit und zur Un-
der Diotima, die ihrerseits durch den Alkibiadesteil im Grunde erst zum Abschluß ge-
bracht wird; vgl. dazu Krummen 2003, 27-31. - Genau betrachtet ist dies eine Anlage,
wie man sie in der griechischen Dichtung, besonders im Hymnos und Enkomion, häufig
findet. Auf eine mythische Partie folgt zum Schluß eine Hinwendung zur Gegenwart, die
auf diese Weise vor einen Hintergrund tritt, der der Gegenwart eine spezifische Bedeu-
tung gibt, oft ist auch eine kultische Handlung erwähnt.
49
Damascius In Phaedonem 561; Crooks 1998, 117-125; Brickhouse/Smith 2004,
265-271; Ebert 2004, 460. Most 1993, 96-111 stellt auch die gesamte Literatur zu dieser
Frage zusammen; vgl. oben S. 94-96.
50
Mehrfach ist denn auch im Zusammenhang mit falschen Meinungen und Affekten
der Seele metaphorisch von 'Schneiden und Brennen' und 'Reinigung' die Rede; die
'Seelentherapie' wird analog zu Therapieformen der Ärzte gesehen.
51
Dazu Szlezäk 1985, 141-150 und 1993, 27-28 und 89-92. Auf Charmides verweist
auch Frede 1999, 170-172, wo allerdings die Stelle nicht genauer analysiert wird. Frede
interpretiert das Opfer an Asklepios als Dankesopfer für die Heilung von der Todes-
furcht. Die Besprechungen können übrigens nicht 'abgeschrieben' ( ά π ο γ ρ ά ψ ο μ α ι ) wer-
den, wie Charmides zuerst meint, was in Einklang mit der These des Sokrates steht, daß
zentrale Inhalte nur mündlich vermittelt werden können, wie Sokrates auch gegenüber
Phaidros im gleichnamigen Dialog darlegt. Vgl. Thivel 2004, bes. 100-101, 106-107.
124 Eveline Krummen
Sterblichkeit führt. Sokrates seinerseits ist der Arzt der Seele, der sowohl
das 'Heilmittel' als auch die 'Besprechungen' kennt.52 In den Nomoi wird
die Behandlungsmethode des guten Arztes unmittelbar mit derjenigen des
Philosophen verglichen. Der gute Arzt betrachtet die Krankheit nach
ihrem Ursprung und ihrer Natur, er kann wie der Philosoph Rechenschaft
ablegen über sein Tun. 53
Blickt man von hier aus auf den Phaidon, so fallt auf, daß die Begriffe
'Heilkunst' und 'Besprechungen' gleich zweimal an bedeutender Stelle
vorkommen. Einmal tritt Sokrates selbst als 'Arzt' auf, nämlich im Zu-
sammenhang mit den Argumenten des Simmias und Kebes gegen die Un-
sterblichkeitsbeweise der Seele. Der Freundeskreis sei jedoch, so sagt
Echekrates zu Phaidon, von den Zweifeln 'geheilt' worden, sogar Simmias
und Kebes seien schließlich überzeugt gewesen (ίάσατο, 89a5). In ähnli-
chem Kontext kommt die 'Besprechung' vor. Sokrates bezeichnet sein
Reden über die Unsterblichkeit der Seele und ihre Wohnstätten als ein
'sich selbst Besprechen' (έπάδειν έαυτω, 114d7), die Freunde weist er
zuvor an, sich gegen die Angst vor dem Tod jeden Tag 'Besprechungen
vorzusingen' (έπάδειν) und nach seinem Tode unter sich selbst einen gu-
ten 'Beschwörer' zu suchen (έπωδόν, 77e8-78a9). Der Sinn dieser Stelle
erhellt sich auf dem Hintergrund des Charmides. Die Freunde werden von
52
Vgl. auch Grg. 459b, wo der Gegensatz zwischen Arzt und Nichtarzt, zwischen
Wissendem und Unwissendem thematisiert ist. Grg. 475d; 4 7 8 a l - b l wird die schmerz-
hafte Behandlung durch den Arzt mit der Bestrafung der Ungerechten durch den Richter
gleichgesetzt, sie bewirkt Gesundung und befreit von Schlechtigkeit (Unreinheit). Hier
ordnet Piaton auch die Gespräche mit Sokrates ein; diese können schmerzhaft sein, wir-
ken aber therapeutisch (Grg. 480a-c). Vgl. 77. 90c-e, w o festgehalten ist, daß man sich
nicht nur um den unsterblichen Seelenteil kümmern, sondern auch den affektiven thera-
pieren müsse: Rhetorik ist Seelenführung, doch kann über diese techne nur derjenige
wirklich verfugen, der ausreichend philosophiert, d. h. die Wahrheit und auch die Natur
der Seele kennt. Vgl. schließlich die Bezeichnungen 'Arzt fiir die Seele' (περί τ η ν ψ υ χ ή ν
α ύ ι α τ ρ ι κ ό ς , Prt. 313e2) oder 'ein Kunstfertiger [im Sinne von 'ein kunstgerecht Urtei-
lender'] in Bezug auf die Seelentherapie' ( τ ε χ ν ι κ ό ς περί ψ υ χ ή ς θ ε ρ α π ε ί α ν , La. 185e4).
Zur Dialektik (bildlich: pharmakon) als "Theorie der G r u n d l e g u n g der Ethik in einer
Anthropologie und Metaphysik" im Gorgias vgl. Szlezäk 1985, bes. 205-207. Die Dia-
lektik aber ist an 'schöne Reden' (d. h. auf wahrem Wissen gründenden Reden) gebun-
den; die schönen Reden sind also die Darreichungsform der Dialektik, d. h. des pharma-
kon. Nur gemeinsam führen sie zur wahren Erkenntnis, d. h. zur ' G e n e s u n g ' , nur der
wahre 'Techniker' und 'Seelenarzt', der Philosoph, kann diese herbeiführen. Das ' W o r t '
(λόγος) gilt als 'Arzt' ( ι α τ ρ ό ς ) oder 'Heilmittel' ( φ ά ρ μ α κ ο ν ) bereits bei den Vorsokrati-
kern.
53
Lg. 4.720a-e; Lg. 9.857c-d. Zum guten Arzt gehört auch eine entsprechende Hal-
tung, die aus Einsicht, Besonnenheit usw. resultiert, also den Platonischen Kardinaltu-
genden entspricht. Vgl. Mielke 2005, bes. 38-51, 56-61 mit weiteren Stellen.
'Schön nämlich ist das Wagnis' 125
ihren Zweifeln an der Unsterblichkeit der Seele und von der Todesfurcht,
um die es im Phaidon geht, mit Hilfe von 'schönen Reden', die mit Kennt-
nis der Wahrheit und der Natur der Seele gehalten werden, 'geheilt'. Phi-
losophisches Reden ist 'Seelentherapie' und die Arztmetaphorik - wie
auch die Nomoi zeigen - eine zentrale Metapher für die Platonische Philo-
sophie.54 Einen 'Beschwörer' aber werden die Freunde des Sokrates am
ehesten unter sich finden, da das 'Heilmittel' (die Dialektik) und die 'Be-
schwörungen' (die in Kenntnis der Wahrheit gehaltenen Reden) in diesem
Kreis am besten gewußt werden. Sokrates ist - bildlich gesprochen - wie
Asklepios, seine Freunde wie die Asklepiaden, die sich ihrerseits auf
Asklepios berufen.
Es zeigt sich ganz deutlich, daß das Opfer für Asklepios thematisch im
Phaidon keineswegs isoliert steht, wie man angenommen hat. Auf der
Ebene des Dialogs ist es wohl geschuldet für die erfolgreiche 'Bespre-
chung', die 'schönen Reden', in denen es um die 'Sorge für die Seele'
sowie um ihre Natur und Unsterblichkeit ging. Das Opfer kann folglich als
Dank für die 'Heilung' betrachtet werden und dient vielleicht der Verge-
wisserung, daß man für immer von der Todesangst geheilt ist, wenn man
nur das Wissen, das Sokrates gelehrt hat, fest bewahrt. Es gibt Zeugnisse,
daß Ärzte für erfolgreiche Heilungen und künftiges Wohlergehen Askle-
pios geopfert haben. Man wird das Opfer aber auch so verstehen, daß die
enge Beziehung zwischen Sokrates und Asklepios dargestellt werden soll,
war Sokrates Asklepios doch ganz besonders verpflichtet, da Sokrates als
'Seelenarzt' gleichsam in dessen Dienst wirkte. Spätere Zeugnisse bele-
gen, daß Asklepios Reinheit im ethischen Sinn verlangte; über seinem
Tempel in Epidauros soll sich die Inschrift befunden haben: 'Rein muß
derjenige sein, der den duftenden Tempel betritt. Reinheit aber meint rei-
nes Denken.' 55 Gesundheit besteht in der Balance zwischen körperlichen
54
Die 'Krankheit' ist im Phaidon die Todesfurcht, die Sokrates hier ebenfalls nach
ihrem Ursprung betrachtet, nämlich der Unkenntnis der Seele. 'Therapie' ist die Aufklä-
rung über die Seele und die richtige, nämlich 'philosophische' Lebensweise; diese besei-
tigt die Todesfurcht und führt letztlich zur Unsterblichkeit.
55
Porph. Abst. 2.19, der mit großer Wahrscheinlichkeit auf Theophrasts de Pietate
zurückgeht (= Τ 318 Edelstein/Edelstein = Theophrast Τ 584 A 19.5 Fortenbaugh: άγνον
χρή ναοϊο θυώδεος έντος ιόντα / εμμεναι- άγνεία δ' έστϊ φρονεΐν οσια). Die Passage
handelt vom Opfer allgemein: ein einfaches Opfer ist dem kostspieligen vorzuziehen,
Feldfrüchte waren die ersten Opfer, wichtig ist die innere Haltung des Opfernden.
126 Eveline Krummen
und seelischen Faktoren. 56 Asklepios gilt, wie Apollon, als Lehrer, Hei-
lender und Retter (σωτήρ). 57 Wieviel von diesen Konzepten bereits in die
Zeit Piatons zurückgeht, ist nicht sicher festzustellen. Doch dienen wohl
Apollon und sein Fest zu Beginn des Phaidon und das Opfer an Asklepios
am Ende dazu, pointiert auszudrücken, daß sich das Leben und Sterben
des Sokrates zwischen diesen beiden Polen bewegt, zwischen Apollon,
dem Gott der Erkenntnis einerseits, und Asklepios, dem Arzt, der Körper
und Seele 'reinigt' und 'Heilung' gibt andererseits, so daß die Seele an
ihren Anfang zurückkehren wird. Asklepios ist der Heros und Gott, der
auch im Tode dem Menschen beisteht und Vollendung gibt.58 Das Opfer,
das in seiner Einfachheit gut zum sokratischen Leben paßt, ist also keines-
falls einzig ein biographisches Detail, sondern faßt wichtige Themen des
Dialogs zusammen und führt sie gleichsam auf ihren Höhepunkt. 'Askle-
pios' wird zum Stichwort der 'Heilung', der 'großen Hoffnung', zum phi-
56
Vgl. Chrm. 156d8-el, wo das Konzept Zalmoxis zugeschrieben wird. Zalmoxis
(den die Thraker für einen Gott hielten) nimmt im Charmides eine Funktion ein wie der
mythische oder imaginäre Gesprächpartner in anderen Dialogen (ζ. B. Theuth, Diotima).
Der Bericht eines Gesprächs erlaubt Sokrates, fundamentale Einsichten in den Dialog zu
integrieren. Es geht im Charmides um das Verhältnis von Körper und Seele, das auch im
Phaidon Gegenstand des Gesprächs ist. Vgl. Szlezäk 1985, 228-230.
57
Asklepios ist auch der Vollender intellektueller Leistungen, er wird als Beistand
für das Verfassen von Reden, Dichtungen und Prosaschriften herbeigerufen, ζ. B. Jul.
Gal. 235 Β (= Τ 324 Edelstein/Edelstein): 'Es heilt Asklepios unsere Körper, es bilden
die Musen zusammen mit Asklepios und Apollon und Hermes, dem Gott der Reden,
unsere Seelen' (ίαται 'Ασκληπιός ημών τά σώματα, παιδεΰουσιν ημών αί Μοΰσαι συν
Ά σ κ λ η π ι ω καϊ Άπόλλωνι καΐ Έ ρ μ η λογίφ τάς ψυχάς ...). Daß Asklepios' Verbindung
zur Dichtung eng war, belegt vielleicht das Zeugnis, das besagt, Sophokles habe einen
Hymnus auf Asklepios gedichtet, den Gott in sein Haus aufgenommen und seinen Kult in
Athen überhaupt eingeführt (T 591 Edelstein/Edelstein). Für eine frühe und enge Verbin-
dung spricht auch, daß das wichtigste Fest des Asklepios einen Tag vor den großen Dio-
nysien stattfindet (Aeschin. Or. 3.66-67 = Τ 566 Edelstein/Edelstein). Der Komödien-
dichter Telestes schrieb einen Asklepios (ca. 400 v. Chr.). Asklepios war später der be-
sondere Schutzgott der Dichter, Rhetoren und Philosophen, die ihm ihre Werke weihten
(Ael. fr. 102 Domingo-Foraste = Τ 456a Edelstein/Edelstein über den Komödiendichter
Theopompos, Zeitgenosse des Aristophanes). Bei Libanios gibt Asklepios Vollendung,
und zwar sowohl den Werken in Versen als auch in Prosa (Lib. Ep. 695.1-2 = Τ 610 und
Τ 608-617 Edelstein/Edelstein), dazu Edelstein/Edelstein 1945, 199-208 und 133-136
(Asklepios als 'Retter').
58
Asklepios selbst hat den Tod erlitten, er war heros und theos. Zu Asklepios als
demjenigen, der ein gutes Lebensende verleiht, vgl. ζ. B. Orph. H. 67 Quandt (= Τ 601
Edelstein/Edelstein): 'Komm, Glückseliger, Retter, und gib ein gutes Ende des Lebens'
(έλθέ, μάκαρ, σωτήρ, βιοτής τέλος έσθλόν όπάζων). Berücksichtigt man den agonalen
Charakter der Rede des Sokrates, kann man das Opfer auch als Siegesopfer verstehen.
Sokrates hat den Sieg davongetragen, die Wahrheit und Gerechtigkeit hat sich durch-
gesetzt, seine Seele wird ihre 'alte Natur' zurückgewinnen.
'Schön nämlich ist das Wagnis' 127
59
Orph. fr. 463 Τ Bernabe: die Inschrift befindet sich am oberen Rand des Kno-
chenblättchens (5. Jh. v. Chr.), unmittelbar darunter ist αλήθεια und am unteren Rand
Διό(νυσος) 'Ορφικοί geschrieben. Vgl. Graf/Johnston 2007, 185-186 mit flg. 6. Eventu-
ell ist ein A, das sich auf einem anderen Knochenblättchen desselben Typus findet, als
Abkürzung für ΑΙΩΝ ('Ewigkeit') zu verstehen, vgl. Graf/Johnston 2007, 186-187 mit
fig. 6. Zur Vorstellung einer engen Verbindung von Leben und Tod und Leben vgl. auch
Heraklit. fr. 41 Marc. (22 Β 88 DK = Orph. fr. 454 V Bernabe), Goldblättchen von Pe-
linna Orph. fr. 485 Bernabe (spätes 4. Jh. v. Chr.), Graf/Johnston 2007, 36-37. Abbildun-
gen bei Casadio 1991, Tf. 16 neben 143. Vgl. Betegh 2004, 341-345.
60
D.L. 3.45 (= Τ 322 Edelstein/Edelstein), vgl. Olymp. Vit.Pl. P. 6 (195, 11-12), der
die Inschrift auf dem Grabstein Piatons zitiert, welche die Athener dort angebracht haben
sollen.
128 Eveline Krummen
61
Übersicht bei Pietsch 2002, bes. 99-102; Dönt 1995; Schefer 1996; Cürsgen 2002,
1-32; oben Anm. 2.
62
Vgl. Pietsch 2002, 113-114; Cürsgen 2002,3-5, 11-25; Morgan 2000, 155-291.
63
Görgemanns 1994, 68 spricht sogar von einer 'literarischen Kleingattung'. Später
betont er jedoch den Zusammenhang zwischen Unsterblichkeitsbeweisen und Jenseits-
mythen im Phaidon, die als Illustration theoretischer Thesen gelesen werden können.
'Schön nämlich ist das Wagnis' 129
tons eine wichtige Rolle spielen. Man kann also zusammenfassen, daß es
die tragenden Vorstellungen aus dem orphischen, dionysischen, eleusini-
schen und Pythagoreischen Bereich sind, die Piaton aufnimmt. Dasselbe
gilt für die Nennung von Göttern (Apollon, Asklepios), Heroen (Theseus)
und kultischen sowie rituellen Handlungen. Auch diese weisen konsistent
über sich selbst hinaus auf entscheidende Inhalte und Theorien der Plato-
nischen Philosophie. Somit unterscheiden sich die Jenseitsmythen im
Phaidon (und weitere Passagen zu Kult, Ritus, Mythos) in Anlage und
Funktion nicht von anderen Erzählungen Piatons mit mythischem Charak-
ter, wie der Geschichte von der Erfindung der Schrift {Phdr. 274c-275b)
oder der Auffahrt der Seelenwagen {Phdr. 246a6-256el), auch wenn die
Jenseitsmythen einen traditionellen Hintergrund haben. Doch dieser wird
sozusagen der Platonischen Form der Mythenerzählung 'anverwandelt'.
Die traditionelle Erzählung erhält auf diese Weise auch eine neue Deutung
und einen neuen Ort.
Was dagegen die theoretische Fundierung des Mythos betrifft, hat die
Analyse im Detail gezeigt, daß den Bildern und mythischen Erzählungen
im Phaidon zentrale Theorien zur Seelenstruktur, zur Ethik, zur Erkennt-
nis der Ideen und Prinzipien, zur Kosmologie zugrunde gelegt sind.64 Die-
selbe Beobachtung trifft auf weitere Mythen bei Piaton zu, die ebenfalls so
angelegt sind, daß sie des philosophischen Beweises fähig wären. Der
'Wissende' erkennt den logos im auf Wahres verweisenden Mythos. Ge-
rade darin aber, daß der Mythos über sich hinausweist, liegt denn auch die
Erklärung, warum Mythen unmittelbar an streng philosophische Beweise
anschließen und sie gewissermaßen weiterführen können, wie sie es im
Phaidon, aber zum Beispiel auch im Phaidros tun (245c5-246a2). Die
Mythen sind somit in gewissem Sinne den sogenannten 'Aussparungs-
stellen' vergleichbar. Sie sind nicht beliebige Erzählungen, sondern ver-
weisen für den Wissenden auf fest umrissene Inhalte, die auch der mo-
derne Leser verstehen kann, da sie ihm in den wesentlichen Zügen in den
überlieferten Dialogen vorliegen. 65 Die Erkenntnis jedoch, daß es zur
64
Dieser theoretische Anspruch kann in einem Mythos mehr oder weniger deutlich
hervortreten; dabei gibt es auch Mythen, die diesem Anspruch nicht genügen, wie ihre
Prüfung zeigt, und die deshalb im Verlauf eines Dialogs aufgegeben werden.
65
Zum 'logos' im 'Mythos' vgl. Szlezäk 1993, 132-136; zu den 'Aussparungsstel-
len' 92-105. Zur Erklärung von 'Aussparungsstellen' kann es manchmal hilfreich sein,
auch die außerplatonische Überlieferung heranzuziehen. Doch zum Verständnis der hier
diskutierten Stellen genügt es, die Theorien zur Seelen- und Weltstruktur zu berücksich-
tigen, wie sie aus den übrigen Dialogen Piatons kenntlich sind. Denkbar ist, daß gerade
'Schön nämlich ist das Wagnis' 131
diese (mythischen) Stellen im mündlichen Gespräch noch vertieft worden sind, so daß
der ' W i s s e n d e ' besser und mehr verstanden hat, als sich dem Leser erschließt, doch gibt
uns Piaton genügend Informationen, die Stellen und ihre Bedeutung für die Argumenta-
tion zu verstehen.
66
Man hat argumentiert, daß Piaton die mythische und religiöse Tradition daraufhin
prüfe, "in welchem Verhältnis das Dargestellte zur Idee steht", er erschließe "den eigent-
lich konkreten Gehalt der Bilder, die für sich genommen, d. h. ohne erschließende Deu-
tung, gerade keine welterschließende und Orientierung gebende Bestimmtheit haben."
Allerdings sollte man den Begriff "Welterschließung" nun konkret als Erschließung der
letzten Begründungen der Platonischen Philosophie verstehen; vgl. Schmitt 2002, 290-
309, die Zitate 292, 300; außerdem Szlezäk 1993, 132-136; Kobusch 2002, 44-57 sowie
die Einleitung in Kobusch/Erler 2002, i-vii, w o die Bedeutung der ' R e l i g i o n ' f ü r die
Philosophie Piatons besonders auch in der Wirkungsgeschichte betont wird.
67
Vgl. Morgan 2000, 192-201.
68
Es wird also auch terminologisch klar zwischen dem ersten und zweiten Teil un-
terschieden: im ersten Teil liegt eine anonyme Quelle zugrunde, auf die sich Sokrates mit
'es wird gesagt' ( λ έ γ ε τ α ι ) beruft, von deren Richtigkeit er j e d o c h überzeugt ist (vgl.
Manuwald 2002, 74-80, bes. 74 mit A n m . 76), während er im zweiten Teil ein 'schönes
Wagnis' eingeht. Der erste kosmologische Teil, der mit der Erkenntnistheorie verknüpft
132 Eveline Krummen
ist, wird also mit einem höheren Wahrheitsanspruch vorgetragen als der zweite eschato-
logische Teil über die Wohnstätten der Seelen.
69
Ein zusätzlicher 'Wahrheitsanspruch' mag auch daraus resultieren, daß die 'Alten'
näher bei den Göttern und uns dadurch überlegen sind, wie Sokrates, allerdings etwas
ironisch, im Philebos (16c) und Timaios (40d) sagt.
'Schön nämlich ist das Wagnis' 133
idealen Philosophen, der unsterblichen Seele nach dem Tod, wo Ende und
Anfang eins sind. Man kann im Phaidon nunmehr auch von einer 'durch-
gehenden Handlung' sprechen, insofern das Gespräch, das vom Morgen
des letzten Tages des Sokrates bis zum Abend dauert, Sokrates wahrhaftig
von 'hier nach dort' führt. Sokrates' Seele wird aus dem 'Gefängnis' 'ge-
löst' und zu den 'noch schöneren Wohnstätten', zum Anfang, geleitet. Wir
beobachten hier zudem das Grundprinzip Platonischer Philosophie des
'Aufsteigens' und 'Übersteigens' als gleichsam abgebildet, da der zweite
Jenseitsmythos am höchsten Punkt endet. Darauf aber baut die Sterbe-
szene auf, wie wir gesehen haben, insofern der zweite Jenseitsmythos den
Hintergrund für die Sterbeszene des Sokrates bildet, die im Asklepios-
opfer, den letzten Worten des Sokrates, kulminiert, das für Sokrates' Ver-
mächtnis, sich der 'Seele', nämlich der Philosophie zu widmen, steht. Nur
wenn man die Bedeutung der mythischen Passagen genau erfaßt, er-
schließt sich der volle philosophische Gehalt und die Argumentation des
Phaidon. In der Anlage aber ist der Phaidon gestaltet wie Dichtung, wie
ein Hymnos, in dem der einzelne Satz, das einzelne Bild ein Mehr an Be-
deutung erlangt, die jedoch nicht vage, sondern genau definiert ist. Erst die
Analyse der Vielschichtigkeit ergibt das Ganze. Piaton macht die Dich-
tung gewissermaßen der Philosophie dienstbar.
Abschließend ist ausdrücklich die Frage zu stellen, ob diese religiösen
und mythischen Inhalte von einem weiteren Publikum überhaupt verstan-
den werden konnten. Die Themen jedenfalls sind fester Bestandteil einer
gemeinsamen kulturellen Erfahrung der griechischen Welt des 5. und 4.
Jh. v. Chr. Piaton konnte die Bilder und Erzählungen also verwenden, um
zu vermitteln, wie alles zusammenhängt. Für den Außenstehenden, den
Leser der Dialoge, geben sie einen allgemeinen Eindruck, für den Wissen-
den jedoch verweisen sie auf erfahrene und gelebte Inhalte. Sie dienen -
wie die orphischen Goldblättchen - zur Erinnerung. Sokrates legt uns in
den Mythen eine Art Bild in die Seele, das sich dann vielleicht in einem
langen Leben erst in seiner vollen Bedeutung - wenn überhaupt - er-
schließt.
Was aber bedeutet es, daß Piaton im Zusammenhang mit den wichtigsten
Fragen seines philosophischen Denkens, der Erkenntnis der Ideen, dem
134 Eveline Krummen
Eveline Krummen
Institut für Klassische Philologie, Karl-Franzens-Universität Graz
70
Vgl. Halfwassen 2002, 13-27. Zur Frage der Transzendenz bei Piaton vgl. auch
Lavecchia 2005, w o eine umfassende Darstellung der Ausrichtung der Philosophie Pia-
tons auf die ό μ ο ί α χ π ς θ ε φ ('Angleichung an Gott') gegeben wird. Die Arbeiten Lavec-
chias sind mir jedoch erst nach Abschluß der vorliegenden Untersuchung bekannt gewor-
den, so daß sie nicht mehr berücksichtigt werden konnten. Vgl. jetzt auch Szlezäk 2005.
Thomas Szlezäk sei auch ganz herzlich für die kritische Lektüre des Aufsatzes gedankt.
136 Eveline Krummen
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'Schön nämlich ist das Wagnis' 139
1
For example, Bing 1988, 70-71, with citations: " . . . Callimachus no longer has an
unmediated encounter with the Muses on Mt. Helikon as Hesiod had had. For this, Calli-
machus' central work [the Aitia], is itself a most telling monument to the sense of
rupture: a compendium of tales attempting to explain the peculiarities of the present by
reference to their 'causes' in the distant past, the very need for which bespeaks at once an
awareness of the enormous gulf separating past and present, and the desire to bridge it."
Cf. also Seiden 1998, 325.
142 Mary Depew
2 Richard Hunter 1993, 3 describes this approach in the following way: " . . . the
question o f why the Head o f the [Ptolemaic] Library should write [an epic] on this
subject rather than any other ... [u]ntil recently ... would have been thought hardly worth
asking."
3 Castorion's text (SH 3 1 0 ) consists o f five trimeter lines, whose iambic metra are all
12).6 In what follows, I will agree with the view that third-century Alex-
andrian poets looked to traditions from the altered viewpoint of Egypt, but
will argue that their interpretive lens was fundamentally that of the Greek
poetic and religious tradition.
There is much to be said for the notion that Hellenistic court poetry is,
in its own way, serving the traditional functions ascribed to myths. But
however this insight is articulated, it must accommodate the fact that this
body of poetry does very often express a sense of distance and otherness
from the 'life-world' of at least the highly educated, well-connected, fas-
tidious male scholars who composed it. The aitiological myths in their
poetry typically explain the origins of cultic practices that take place in
distant 'Greek' places. And when their poetry does represent geographi-
cally and temporally proximate rituals, it typically involves or seems most
relevant to figures far removed from the sophisticated milieu of the palace
in which the scholar-poets worked, figures such as women of non-privi-
leged status, for example, or rustics. Middle class women, for example,
attend the state-sponsored Adonis festival in Theocritus' fifteenth idyll,
and marvel at the spectacle; shepherds honor nymphs and other rustic
divinities in his 'pastoral' Idylls·, the large number of epigrams honoring
the Ptolemaic queens in their relation to Aphrodite would have had a
particular appeal to women. 7 It is also women, who, in the vividly repre-
sented tableau in Callimachus' sixth hymn, are instructed in proper
behavior at a Thesmophoria (whether Attic, Alexandrian, or neither is un-
clear).8 Men receive ritual instructions at a festival of Athena in Calli-
machus' fifth hymn, but the site is Argos rather than Egypt, so that once
again, the poet seems to be emphasizing distance and problematizing rele-
vance. The same could be said, too, of many passages in the Argonautica\
aitiological myths are numerous in this epic, but explain rituals and insti-
tutions far-removed from the experience of an Alexandrian audience.
Apollonius' most extensive description of ritual action, for example, in-
volves a young woman; the poet's realistic and extended description of
Medea's psychological state is well known. How, then, can the represen-
tational 'realism' so common in third-century Alexandrian poetry perform
6
Important for this view are also Koenen 1983 and 1993; Cameron 1995, 1-70.
7
On this point, see especially Gutzwiller 1993.
8
Bing 1995 notes this tendency in third-century poetic representations of ritual, and
suggests that its intended effect on its predominately male audience would have been to
create sufficient distance to reevaluate and reconstruct traditional notions of aesthetics.
144 Mary Depew
In the Greek poetic tradition, springs are traditionally associated with both
nymphs and poetic inspiration. The basic connection is that springs are
emblematic of narratives of origination,11 and so have an affinity with the
aitiological myths that structured many poems from the archaic and
classical periods, and which in turn connected the performance of a song
to the ritual actually being celebrated in the here and now. The close alli-
ance between Muses, Charites, and nymphs is no less deeply rooted in tra-
dition.12 Nymphs, in turn, have a close association with rivers, which are
imagined as either their progenitors or their consorts.13
Callimachus composed prose treatises on a number of topics, includ-
ing rivers, nymphs, athletic victors, the foundation of islands and cities,
and birds, and all of the themes that these works treat feature prominently
9
I take this understanding of myth from Barthes 1957.
10
By 'tropology' I mean the systematic use of metaphors and other figures to 'turn'
an argument. See for example Fernandez 1986.
11
Green 1997, 226, citing Goldhill 1991, 325.
12
Larson 2001, 7-8 and citations.
13
Larson 2 0 0 1 , 9 8 - 9 9 .
Springs, Nymphs, and Rivers 145
14
That the subject matter of these works was not randomly chosen, but had a con-
nection to the concerns and pretensions of the court I hope to suggest in this paper. Even
the topic of birds may have a connection to the court: in the 'Palaces' area of the city
there was kept in Callimachus' lifetime a zoo of exotic birds. Cf. Fraser 1984,1, 515.
15
For the song's indebtedness to Demodocus' songs in Od. 8, see Nelis 1992 and
Hunter 1993, 149-150. For the song's modeling of the world's history as it moves
towards the establishment of Zeus' justice onto the fourth book of Apollonius' epic, see
Hunter 1993, 163-165; Green 1997, 208. Hunter (163) also discusses the way in which
the song's emphasis on "separation" (of earth, heaven, and the sea) corresponds to
Egyptian ideas.
16
This is in contradistinction to Hesiod, who suggests that the nymphs are created
along with the hills they inhabit (Th. 126-130).
146 Mary Depew
Kleite, the widow of Kyzikos, the slain king of the Dolionians. Kleite, the
young bride (νύμφη) hangs herself in her grief.
Her death the very nymphs of the woods and groves lamented; all the tears that
from their eyes dropped earthbound on her account were gathered by the god-
desses into a spring, which men still call Kleite, illustrious name of that unhappy
bride [νύμφη]. 1 7
This touching tale, with the connection it makes between a wife's devotion
to her husband and the origin of a pure spring, would be of little note were
it not for the fact that the next aitiology involving a narrative also concerns
a spring. Just after the narrative of Kleite's spring, fierce storms arise and
keep the crew from their voyage. Jason learns from bird omens interpreted
by Mopsos that he will be able to stop the storms that have been impeding
the Argonauts' journey if he climbs up Mt. Dindymon and there propiti-
ates the Mother of the gods, who controls the winds and the sea and
earth's foundations (1.1084-1102). 18 Here the Argonauts find a naturally
formed, massive vine stump, out of which they carve a sacred image of the
goddess. They erect the statue, and then heap up an altar, garland it, and
offer up a sacrifice (1.1117-1124). Invoking the goddess, they pray:
17
Tr. Green 1997.
18
Clauss 1993, 169-170 also sees in this rite of propitiating Rhea an attempt to
expiate the blood guilt caused by the killing of Kyzikos.
Springs, Nymphs, and Rivers 147
Dindymene the mother, Lady of many names, dweller in Phrygia, and Titias and
Kyllenos - who alone are called fate-dispensers, and coadjutors of the Idaian
mother, out of that whole crowd of Daktyls on Kretan Ida, long ago brought to
birth in Dikte's cave by the nymph Anchiale, clutching fistfuls of earth from
Oiaxos in either hand. 19
19
Tr. Green 1997.
20
This dance is referred to by Callimachus at Jov. 52.
21
For the possibility that Apollonius is here referencing the Ptolemies' interest in the
cult of Kybele/Rhea, as well as that of the Kabeiroi, see Green 1997, 226-227.
148 Mary Depew
22
Hunter 1993, 82 n. 35, citing Hopkinson 1984b, 176-177, notes the shared motifs,
and points to the "plausible signs" that the goddess sends to the Argonauts in lieu of her
epiphany as "meaningful 'signs' indeed." He does not, however, take up the issue beyond
these remarks.
23
Examined in detail by Hopkinson 1984a, 140-142.
24
McLennan 1977, 60, citing Cahen 1930 adloc.
25
I will leave aside the question of precedence in this passage, and the other points
of narrative convergence between Callimachus and Apollonius. The question is largely
unanswerable (cf., e. g., Hunter 1993, 116), but more important in any case is the fact of
these convergences and the obvious importance these particular themes held for these
poets. For an analysis of the Argonautica as an extended hymn, see Murray 2005.
26
He states that the account implies a connection with Delphi or Phocis.
Springs, Nymphs, and Rivers 149
nymphs who are the source of its water (springs) is connected to the narra-
tive that precedes it in several ways. The myth itself concerns a νύμφη, a
young girl of marriageable age, Kydippe. She was in the Delian temple of
Artemis (whose connections with νύμφαι are numerous) when she swore
by Artemis to marry Akontios (26-27). Apollo himself relates Akontios'
ancestry: the young man is sprung from the priests of 'Zeus Aristaios, the
Lord of Moisture' (32-34), a reference to Aristaios, the son of Apollo and
Kyrene, who was nurtured on Keos by its inhabitant nymphs. Callimachus
goes on to say that Xenomedes also relates how the island received its pre-
sent name from Keos, the son of Apollo and Melia, a tree nymph (62-63).
The same aitiological nexus occurs in Argonautica Book 2. In the land
of the Thynians, Phineus has ended his prophetic account of the Argo-
nauts' journey, and the crew is eager to set out. They are hindered, how-
ever, by the Etesian Winds, whose origin Apollonius spends thirty lines
recounting. He takes his account back to its very beginning, when Apollo
came upon the virgin Kyrene tending her sheep 'beside the Peneios
marshland'. Apollo carried her off, and 'put her among the nymphs who
dwelt in Libya, by the Mount of Myrtles' (2.404-405). There she bore
Aristaios to Apollo, and the god made her 'a nymph there, long-lived and
a huntress' (508-509). Apollo took Aristaios off to be reared by Cheiron,
and Apollonius describes his early adulthood in terms that connect him to
poets in their role as shepherds and servants of the Muses. The goddess-
Muses 'arranged a marriage for him, and made him the keeper of all their
sheep ... in Phthia' (511-514). Eventually Aristaios is called upon by
Minos to rescue islanders from the heat of the Dog Star, and, at Apollo's
bidding, he 'settled on Keos, taking with him those Arcadian folk whose
lineage is from Lykaon' (519-524). There Aristaios built an altar to Zeus
the Rain God, and offered due sacrifice to the Dog Star and to Zeus, son of
Kronos. As a result Zeus 'sends the Etesian winds to cool the earth for
forty days, and on Keos the priests still offer sacrifices before the rising of
the Dog Star' (522-527). The focus in Apollonius' narrative is on Arist-
aios, his associations with Apollo, the Muses/nymphs, a foundation, and,
again, a source of water.
150 Mary Depew
27
In Pindar, the δ α ί μ ω ν w h o gives the clod to E u p h e m o s is not named; he is in
mortal form, and calls himself Eurypylos, son of Poseidon (33-36). Euphemos loses the
clod when it washes from the Argo at Thera. Apollonius calls the divinity Triton. For dis-
cussion of this ode, see Krummen 1990.
Springs, Nymphs, and Rivers 151
land,28 which in turn becomes the source of the foundation of the city of
Kyrene.
Peter Green refers to this narrative as "the accidental presence" in the
epic of the legend of Kyrene (1997, 352).29 To be sure, Apollonius' inten-
tions in framing his epic with this foundation account are far from clear.
But as Richard Hunter has pointed out, it is difficult not to see in the fact
that "the last great sequence of Apollonius' poem closes with the founda-
tion myth of Kyrene, with which Pindar had begun his poem" some form
of panegyric. As royal Librarian, as Hunter notes, Apollonius "occupied
what was probably the principal position of academic patronage available
to a Greek intellectual at Alexandria, and it is in this social and academic
context in which his epic must always be read." 30 Apollonius also com-
posed a series of poetic Ktiseis ('Foundations'), all of which dealt with
areas within Ptolemaic control.31 The Argonautica itself deals with an area
of the world (Colchis and the Black Sea) which was thought to have tradi-
tional racial and cultural links with Egypt. 32 Moreover, the fact that the
epic is presented as a rewriting of Pindar's fourth Pythian, which honored
the victory of Arkesilas IV of Kyrene, suggests that "Apollonius was con-
structing some kind of analogy between himself and 'the ruler of Cyrene'
on one side and Pindar and Arkesilas on the other" (Hunter 1993, 153).33
For his part, Callimachus was apparently very proud of his descent
from the founders of Kyrene, 34 so it is no surprise to find that this city's
origin takes on special importance in his poetry. His second hymn, which
honors Apollo, also rewrites Pindar's accounts of the foundation of
Kyrene. 35 But, as we shall see, in a move resembling Apollonius' choice
28
This is also the theme of Callimachus' fourth hymn, which narrates the 'birth' of
Delos in the transformation of the pure nymph Asteria.
29
He notes its historical relevance in legitimating Ptolemy's rule as empowered by
the Euphemids themselves.
30
Hunter 1993, 152, with qualifications about our comparative ignorance of the in-
stitution of Ptolemaic patronage.
31
Fraser 1984,1,513-514.
32
Hunter 1993, 152, with citations.
33
A s Hunter points out, even before the marriage between Ptolemy III Euergetes
and Berenike, daughter of Magas, king of Kyrene, in 247/246, the Ptolemies' interest in
and claim on this city was strong, so the reference to any particular Alexandrian monarch
need not be made.
34
Cf„ e. g„ Epigr. 21 and 35 Pf.
35
The fourth, fifth, and ninth Pythians are important intertexts for this hymn.
152 Mary Depew
ήχι λέοντα
Ύψηνς κατέπεφνε βοών σίνιν Εϋρυπύλοιο.
36
Dougherty 1993, 145.
37
This version, in which Kyrene, along with her fellow Thessalians, has already
settled Libya by the time Apollo comes upon her, is extant elsewhere only in Acesander.
In this version of the legend, Eurypylos, the Libyan king (cf. Pi. P. 4.33), offered his
kingdom as a prize to anyone who could kill a lion that was ravaging the area. Williams
1978,79.
38
Callimachus agrees with Pindar here in making Kyrene the daughter of Hypseos;
in other accounts her father is the river god Peneios (cf. Scholia to A.R. 2.498, Wendel,
168).
Springs, Nymphs, and Rivers 153
The daughter of H y p s e o s [Kyrene] slew the lion that harried the kine of
Eurypylos. N o other dance more divine has Apollo beheld, nor to any city has
he given so many blessings as he has given to Kyrene, remembering the first
seizure [πρότερης άρπακτύος]. 3 9
39
All translations of Callimachus are my own.
40
Hdt. 4.157.
41
'But not yet could the Dorians approach the fountains of Kyre', 88-89. The stream
from this fountain or spring runs underground and reappears at the temple of Apollo as
the fountain of Apollo, according to Hdt. 4.158 and Pi. P. 4.294.
42
Williams 1978, 77, who cites Stephanus Byzantinus, who gives two etymologies
of ' K y r e n e ' : from the n y m p h ' s name and from the name of the indigenous spring. Calli-
machus conflates both origins, implying the n y m p h ' s indigenous nature as well.
154 Mary Depew
a Naiad daughter of Gaia,43 and whose father is the river Peneios (whose
father was Okeanos, 14-18). In other words, Okeanos bore Peneios; Gaia
bore Kreousa; these two unite and produce Hypseos, who is the father of
Kyrene. Cheiron then predicts the future: Apollo will be Kyrene's husband
(πόσις, 51), and the god will take her over the sea to Libya where he will
make her άρχέπολις, 'ruler, founder of a city'. There she will be granted a
portion of land as her own, and will bear a son to Apollo: Agreos/Nomios/
Aristaios (65).
Callimachus' identification of Kyrene as 'the daughter of Hypseos'
(92) calls up this intertext, whose narrative and genealogy fill out his own
portrayal of the nymph, άρχέπολις, for example, is an odd term for Pindar
to use in relation to Kyrene, since it is usually applied only to males, who
are of course the traditional founders and rulers of cities. Kyrene is in fact
unusual among nymphs who lend their names to cities, whose role is typi-
cally merely to bear a primordial king. Not only did Kyrene's name pos-
sibly suggest the root κΰρος, 'master', but the Battiad dynasty itself en-
joyed a remarkably long life, lasting until the mid-fifth century. 44 Pindar
had called Kyrene δέσποινα χθονός, 'mistress of the land' (P. 9.7), and
Callimachus develops the implication that the nymph is somehow literally
'of the land', her association with the spring whose name she shares plac-
ing her within the realm of myths of origination. In this she bears a resem-
blance to the nymph Libya herself, who in Apollodorus' account is the
daughter of Epaphos, son of Io, and Memphis, the daughter of the Nile. 45
There is an important parallel: the Nile, in turn, like Kyrene's grandfather
the River Peneios, is the offspring of Okeanos and Tethys. 46 The theme of
nymphs, then, is markedly at work in foundation myths preferred by these
poets, with an eye to specifically Egyptian (in the wider sense) sites.
43
So too Pherecydes, who makes Hypseos the son of Peneios and a Naiad (3 F 57).
44
Larson 2001, 189 and n. 238, where she cites Pi. P. 9, 7, and 54; Acesand. 469 F
4; Phylarch. 81 F 16; Isid. Etym. 15.1.77: Kyrene regina fuit Libyae, quae e suo nomine
civitatem Kyrenem condidit.
45
Bibliotheca 2.1.4.
46
Hes. Th. 338.
Springs, Nymphs, and Rivers 155
Let us now notice one more subtle resonance between rivers, nymphs, and
springs in this poetry. Callimachus' reference to his Pindaric intertext em-
phasizes Kyrene's genealogy. As the daughter of Hypseos, she is the
granddaughter of Gaia and the River Peneios. When this datum is read in
light of the hymn that immediately precedes the Hymn to Apollo in the
collection (the Hymn to Zeus), however, the connection between Zeus and
rivers figures Kyrene as the granddaughter, in effect, of Zeus himself. Her
pairing with Apollo thus takes on a new significance: Apollo and Kyrene,
in effect, have the same 'father'. 47
I will eventually be suggesting that there are political allusions at work
here. Before doing so, however, some important points about Callima-
chus' poetics, and by extension, Hellenistic court poetics more generally,
need to be made. It is only natural that in the highly literate poetry of
Callimachus and his contemporaries, new strategies for connecting myths
to context would be devised. One of the most important was the con-
struction and production of the poetic book itself. The ways in which
poetic 'performance' in Hellenistic poetry was transferred from ritual
action to the act of reading, and the constitution of readers as consumers of
a text qua text, has been the subject of some recent discussion. 48 I have
argued elsewhere, and will summarize only briefly here, that Callimachus'
collection of hymns, taken as a whole, functions to legitimate the Ptole-
maic regime in connection to the prerogatives and attributes of traditional
Olympian divinities. 49 The figures of Apollo and Kyrene are linchpins in
this development. Both are represented as children of Zeus, whose hymn
begins the collection; Kyrene's portrayal in Hymn 2, as we have seen, is
based on that of Pindar in Pythian 4, 5, and 9, a portrayal which in turn
depends upon the tradition's portrayal of the goddess Artemis. In Calli-
machus' third hymn, Artemis herself is in turn fashioned after the
portrayal of Kyrene in the second hymn, and so her sibling relationship
with Apollo takes on, however subtly, the erotic associations that nymph
bears in the earlier hymn. Athena's portrayal in the myth of Hymn 5 is
47
The genealogy will be recalled in Callimachus' fourth hymn, w h e r e the river
Peneios surfaces again to play an important role in the narrative of L e t o ' s search for a
place to bear Apollo.
48
E. g., Bing 1988; Fantuzzi/Hunter 2004, 20-29.
49
Depew 2004 and forthcoming; Hunter/Fuhrer 2002.
156 Mary Depew
50
The cutting down of a tree, which is the traditional abode of hamadryads.
51
McLennan 1977, 30. 1 discuss the implications of beginning the collection with
this reference more fully in Depew, forthcoming.
Springs, Nymphs, and Rivers 157
fountain's top (110-112). As Pfeiffer has noted, while most critics read
this passage as contrasting the lengthy traditional poem and the brevity
and finely polished novelty of Callimachus' composition, there is another
point being made here that has received less recognition. "Poets should
draw from the original pure source, not from its polluted derivatives"
(Pfeiffer 1968, 126). Pfeiffer points out that Callimachus was the first to
use this image in a literary sense, and with it brought together scholarship,
poetic composition, and the unique combination of the two that character-
ized third-century Alexandrian poetry.
The concepts of purity and good poetry are also connected elsewhere
in Callimachus' poetry with pure water and an untouched lover. 52 As
Larson has pointed out, bees are associated with purity in connection with
nymphs, whose status as untouched maidens is traditionally combined
with their attractiveness.53 Bee nymphs, Brisai, appear in conjunction with
Aristaios in Keos, 54 and Callimachus suggests their link to Demeter, pure
sources, and fine poetry at Ap. 110-112. Callimachus makes explicit these
same connections between purity, nymphs, and poetic inspiration in his
third hymn, to Artemis. 55 Approximately midway through the hymn, the
narrative transitions into a second hymnic beginning (183-186). 56 How-
ever, instead of addressing the Muses or his own θυμός, which would be
typical hymnic practice at such a juncture, the speaker questions Artemis
as though she were a Muse: 'Which now of islands,' he asks, 'which of
harbors, which city, did you visit, goddess? You tell me, and I will tell
others.' Bornmann notes how odd it is for the speaker to ask the goddess
whose praise he is singing, rather than the Muses, for inspiration, 57 and
cites the poet's address to Zeus in the first hymn as a precedent. This is a
52
E. g., Epigr. 28 Pf.
53
Larson 2001, 184.
54
Larson 2001, 184.
55
The dominant theme of the hymn is Artemis' character, and how the young god-
dess acquires for herself her traditional qualities of virginity and prowess in the hunt.
Callimachus makes the original move of portraying the goddess as complicit with his
own hymnic task insofar as she becomes the origin of her own qualities. I argue this point
in detail in Depew, forthcoming.
56
The recollection here of the bipartite Homeric Hymn to Apollo has been noted by
several scholars.
57
" . . . non sono le Muse alle quali chiede l'ispirazione, ma la dea stessa soggetto del
canto. ... le domande dei vv. 183-184 acquistano ora un significato inatteso." Bornmann
1968, 89.
158 Mary Depew
In the preceding section we have seen that the same tropological system is
a privileged means of expressing both structure and poetics in the work of
Callimachus and Apollonius. We are now prepared to see the political
functions of this poetics by once more following its allusions to rivers,
nymphs, and springs.
An obvious precedent for third-century interest in aitiology and foun-
dation myths is the largely fourth-century tradition of local histories. The
"essentially nationalistic point of view [of the Atthidographers, who were
writing] ... in the period between the Macedonian conquests of 338 and
261" is usually contrasted to Hellenistic poetic treatments of foundation
legends, whether in verse or prose, which are typically understood to be
cut off from any political relevance (Fraser 1984, I, 511). There would
seem to be no context for these mythological poems and treatises beyond
the antiquarian impulse of those working in the Library. But the history of
these genres in Alexandria does not, in fact, bear out such a conclusion.
Among the earliest writers associated with Alexandria was Hecataeus of
Abdera, whose Aegyptica was a product of Soter's reign. 58 This ethno-
graphical treatise on Egyptian antiquities is based on the assumption that
Greek civilization originated in Egypt and moved to Greece from there.
58
Fraser 1984,1, 496-498.
Springs, Nymphs, and Rivers 159
59
Such as Istrus, Callimachus' pupil, who composed not only local histories of areas
on the Greek mainland, but an Egyptian Colonies and a history of Ptolemais Hermiou.
Fraser 1984,1, 511-513.
60
On the distribution of the deme-eponym in Soter's reign, see Fraser 1984, I, 43
and 45.
61
D.S. 1.28.2-4. Hecataeus also says that Colchis was founded by Egyptian colo-
nists. See also Stephens 2003, 33.
62
Cf. Aet. fr. 55 and Schol. adloc.
63
Pfeiffer ad loc., who suggests Berenike II; also his note to fr. 388. The island is
more recently known as Nelson's Island (Pfeiffer ad loc.). The mention in line 16 'be-
wailing the white-foreheaded bull' is suggestive, since it may refer to the ν ύ μ φ α ι of the
Nile lamenting Apis. Tibullus took up the image, no doubt from this passage: [sc. Nilus]
160 Mary Depew
Chaire, goddess, and hold Inachian Argos in your keeping. Chaire also when
you drive forth your horses, and may you drive them back again with joy, and
may you preserve all the estate of the Danaans.
The speaker utters these words as an Argive, but with the reference to the
'estate', or 'allotment' of Danaos, links his homeland, and thus his own
point of view throughout the hymn, to Egypt. Here again we see the con-
nection between springs, nymphs, and myths of origination put to work,
this time in a way distinctly relevant to the Ptolemies, reclaiming as it does
for them, via a represented ritual, the originating myths of a Greek city.
The movement out of Egypt, as fr. 383 Pf. suggests, is not the only model
of distance, observation, and objectification that, as I noted at the begin-
ning of this paper, is thematized in third-century poetry. An unplaced pas-
sage from Callimachus' Aitia (fr. 178-185 Pf.), perhaps better than any
other text, presents a picture of the new ways in which ritual and myth
were used to structure and generate poetry in third century Alexandria.
There is also a marked theme of reflective representation in this episode.
canit atque suum pubes miratur Osirim / barbara, Memphiten plangere docta bovem
(Tib. 1.7.28).
Springs, Nymphs, and Rivers 161
64
Pfeiffer ad 3, citing Deubner, Attische Feste, 1932, 118-123.
65
For details on the "self-confident immigrant class" that came to settle in Alexan-
dria from all parts of the Greek world, and the customs they brought with them, see
Thompson 2001, 303-304.
66
Cameron 1995, 133-140 has recently revived Z e t z e l ' s thesis that the fragments
belong to Aitia Book 2.
162 Mary Depew
speaker's portrayal of the Ician as not only his source of knowledge, but
his own counterpart in taste - two notions often linked by Callimachus -
we may be justified in reading this scene as emblematic of the scholar-
poet's reception of knowledge. The poet (or the speaker here) and his
interlocutor enjoy an elite status; they are uninterested in Dionysus; the
myth comes from a "pure source" (a native of the area in question); the
speaker hears the myth for himself, and so preserves the unmediated
access to the truth that the Muses' inspiration had always provided the best
poets. 67
Viewed in this way, this episode is in a sense emblematic of the way
the A ilia as a whole transforms traditional treatments of ritual, since in
both what is at issue is not the practice or performance of rituals, but their
origins. Moreover, just as the speaker questions the Ician about the origin
of rituals far from his own experience, the Aitia itself recounts the origins
of rituals that take place for the most part at a distance from Egypt. The
dynamics of this exchange should therefore be instructive for reading the
Aitia as a whole. The exchange is, first of all, verbal, and between equals.
The speaker and the Ician both reject drinking (and thus the ritual action at
hand) for the more attractive discussion of ritual origins. This portrayal of
the poet's relation to his source is comparable to the poet's relation to the
Muses in the Aitia's first two books. At the beginning of Book 1, the
speaker had invoked Hesiod's poetic initiation in the Theogony, an en-
counter which represents the poet in a distinctly inferior light in compari-
son to the Muses. It is all the more striking, then, that Callimachus' (or the
speaker's) attitude throughout the first two books of the Aitia resembles
only slightly Hesiod's passive submission to the Muses' superior know-
ledge. In fact, he does not depend so much on the Muses for inspiration as
he questions them as equals, or even possibly as inferiors. He asks them
various questions, and then answers them himself. For example, in a frag-
ment from Aitia Book 2, the origins of Sicilian cities is related by means
of another conversation, here between the speaker and a Muse, that is (like
the Ician episode) depicted as an exchange between equals: 'So I said.
And Clio went on to speak again ...' (56); 'So she stopped talking, and I
67
The speaker's questions end with a fragmentary (and textually problematic) line
that preserves something like the phrase 'holding ears ready for those who want to tell a
story' (30).
Springs, Nymphs, and Rivers 163
wanted to know this too ...' (84-85). This is a new kind of poet, these
encounters suggest, and a new kind of Muse.
We must ask why this is the case. To answer this question it may help
to look at other passages in which Callimachus describes the source of
mythological and ritual knowledge as something heard, and as a face-to-
face exchange. In the third book of the Aitia the speaker relates the origin
of the Cean Acontiadae clan. It began, he says, with the love the two
youths Akontios and Kydippe had for one another (fr. 75.50-52). This
aitiological 'point' winds up the passage's mythological narrative of their
love, their families' objections, and their eventual marriage. The speaker
closes his account with a description of the source of his inspiration:
And this love of yours w e heard from old Xenomedes, w h o once set down all
the island in a mythological history, beginning with the tale of how it was inha-
bited by the Korycian nymphs, whom a great lion drove away from Parnassos;
for that reason also they called it Hydrussa.
More of the island's history is then related, and the passage ends,
είπε δέ Κειε,
ξυγκραθέντ' αϋταΐς όξύν έρωτα σέθεν
πρέσβυς έτητυμίη μεμελημένος, ενθεν ό παιδός
μΰθος ές ήμετέρην εδραμε Καλλιόπην. (74-77)
And blended with these cities, oh Kean, that old man, mindful of the truth, told
of your passionate love; from there the maiden's story came to my Muse.
68
The Nile says that no one knows his source, but in fact the Casian Sea was one
candidate for the river's source.
166 Mary Depew
One more point remains to be made - how to account for the cultural dis-
tance the scholar poets put between themselves and mass culture, while
still doing cultural work that is political, and not, at heart, merely aesthe-
tic.
The most obvious figure of mastery and control over the Greek world
is the grammarian, the philologist. The exordium of the hymn composed
to Demeter by Callimachus' contemporary, Philicus of Corcyra, states ex-
plicitly what Callimachus leaves implicit: καινογράφου συνθέσεως της
Φιλίσκου, γραμματικοί, δώρα φέρω προς ΰμας ('This gift of Philicus'
newfangled composition I present to you, scholars/critics'). 69 This same
Philicus was a priest of Dionysus, and presided over this god's 'artisans'
(τεχνΐται): poets, singers, musicians, and managers who were united
under the banner of their patron god.70 In the early third century there were
four major associations of τ ε χ ν ΐ τ α ι in Greece, but the largest was the
Egyptian, no doubt because of the Ptolemies' patronage and close asso-
ciation with their patron god.71 It was with Philicus' aid that Philadelphus
staged the magnificent procession in 275/4 that figured the theme of Alex-
ander's return from India as a reenactment of Dionysus' own 'return' to
Greece from the east. Culminating in the 'arrival' of Ptolemy I alongside
Alexander, it staged a founding moment for the city's populace in terms
that equated Dionysus' epiphany with the represented images of the
Ptolemies and their largesse.72 This extraordinary scene would have repre-
69
SH 677, in stichic choriambic hexameters.
70
Le Guen 2001. The Ptolemies claimed descent from Dionysus in order to legiti-
mate their association with the Argead royal house.
71
Plutarch describes the appeal Dionysus would have had to most of the monarchs'
subjects in the following way: the god is 'most terrible in his pursuit of war, but again
most skillful in turning from war to make peace into joy and pleasure.' In a parallel de-
velopment, Aphrodite became the deity most prominently connected with the Ptolemaic
queens in the popular imagination, perhaps, as Kathryn Gutzwiller 1993, 367 has argued,
because "the image that could be projected, especially to the Greek populace, of shared
affection between king and queen ... [could] palliate the incest of the Philadelphoi." In the
same vein, Herodas represents a woman of the streets calling Alexandria 'the house of
Aphrodite' (Mim. 1.26).
72
The streets literally ran with wine, as Kallixeinos describes the stages of the pro-
cession: a winepress 36 feet long, full of ripe grapes being trampled by sixty satyrs; a cart
37 feet long, pulled by 600 men, carrying an ά σ κ ό ς holding 3,000 measures of wine
which was released little by little, flowing into the street; 120,000 crowned satyrs and
silenoi carrying gold οίνόχοαι; a silver κρατήρ holding 600 measures of wine on another
Springs, Nymphs, and Rivers 167
cart; thousands of boys carrying jars full of wine, ready to be mixed and given out to
everyone present at the stadium where the procession ended. It is intriguing that the
nymphs of Nysa were also represented in the πομπή (Ath. 5.200c).
73
For Aristotle's description of a similar bifurcation in audience, see Wallace 1995,
213.
74
Gal. Comm. in Hp. Epid. 3; Fraser 1984, 325; Parsons 1996.
168 Mary Depew
75
The notion that the rivers were connected by an underground channel goes back to
Herodotus. On "the collusion of science and imperialism" that characterized Alexander's
subsidizing of research into the source of the Nile, see Vasunia 2001, 281-282.
Springs, Nymphs, and Rivers 169
Mary Depew
Department of Classics, University of Iowa
170 Mary Depew
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On Not Forgetting the "Literatur" in "Literatur und
Religion": Representing the Mythic and the Divine in
Roman Historiography
1
Barthes 1972, 112. M y thanks to Toni Bierl for inviting me to Basel and for organ-
ising the conference, and to all the participants for generating such an enjoyable and
thought-provoking debate. I also thank the participants in the University of Virginia
colloquium on R o m a n religion in April 2005, w h o heard a version of this paper, and
especially Julia Dyson for her valuable response. Particular thanks for c o m m e n t s and
stimulation are due to Cliff Ando, W o l f g a n g Braungart, Susanne Gödde, Glenn Most,
Renate Schlesier, Katharina Waldner, and Tony Woodman. Only after sending the final
draft to Toni Bierl did I see the important paper on Greek "sacred history" by Dillery
2005. I have not been able to respond to it here, but it is clear that proper treatment of the
themes of my paper would require a book, taking Dillery 2005 and Marincola 1999 as the
points of orientation. - All translations are my own.
174 Denis Feeney
2
Cf. Fowler 2000, 120: " . . . the opposition of textuality and history is a meaningless
one since history is only accessible in discourse."
3
Here I summarise points from Feeney 2004, 3-4 and 18-20.
4
Gallagher/Greenblatt 2000, 14-15: "If every trace of a culture is part of a massive
text ..."; "if an entire culture is regarded as a text". Cf. Gallagher/Greenblatt 2000, 26 for
the debt of their New Historicism to the symbolic anthropology of Clifford Geertz.
5
White 1978, 94-95 on synecdoche; Bruster 2003, 27, 33, and 43-44 against synec-
doche in historicist models; cf. Bannet 1993, 41-44.
On Not Forgetting the "Literatur" in "Literatur und Religion" 175
authentic or real" (Feeney 2004, 18).6 When the referent of a literary work
is some religious, mythic, or ritual feature of the culture, with all the con-
notations of primacy and foundation traditionally attached to such features
both in anthropology and in Classics, then the dominance of the synec-
doche model will make it very difficult not to cast the text as at best re-
flective and at worst parasitic.
One way of avoiding such a predicament is through a return to genre -
not to a formalistic pigeon-holing conception of genre, but to a more dyna-
mic Contean model of genre, in which genres mutate and interact, and in
which they serve a mediating function, enabling culturally coded percep-
tions to become part of literary perceptions, and vice versa: "Genre func-
tions as a mediator, permitting such models of selected reality to enter into
the language of literature; it gives them the possibility of being 'represen-
ted'" (Conte 1994, 125).7 It is hard to get this mediating function of genre
mobilised from within the subdiscipline of Greek studies, however, given
that the dominant tendency there is to see genres as arising from specific
social practices and remaining rooted in them: if epinician, for example, is
supposedly a reflex of social practice, to be explained by its performative
function in an occasional setting, then how can religious genres not like-
wise be bound in to a preexisting and predetermined cultural context
which will dictate the terms of interpretation?8
Yet the attempt to give power to literary texts by grounding them in a
supposedly real base depends upon an implausible correspondence theory
of literature, and it will regularly end up failing to do justice to the texts'
actual capacities.9 For literary texts have a certain autonomy - in the parti-
cular sense of 'autonomy' so productively introduced into our discussion
6
Cf. White 1978, 94: "Nor is it unusual for literary theorists, when they are speaking
about the 'context' of a literary work, to suppose that this context ... has a concreteness
and an accessibility that the work itself can never have, as if it were easier to perceive the
reality of a past world put together from a thousand historical documents than it is to
probe the depths of a single literary work that is present to the critic studying it."
7
Cf. Bruster 2003, who likewise highlights "the mediating roles of convention and
praxis", particularly genre (61; cf. xvi). See Marincola 1999 for a powerful argument in
favour of a more Contean conception of genre in the analysis of historiography.
8
Here I reprise arguments from Feeney 2003, a review of Depew/Obbink 2000.
9
For severe reservations about correspondence or reference theories of literature, see
Lamarque/Olsen 1994, Chapter 5, 107-137.
176 Denis Feeney
10
Cf. Csapo 2000, 128: "Artistic genres have a processual history of their own and a
relative autonomy from other forms of cultural production" (with further references to
discussions of the "'semi-autonomy' of art" in n. 38).
11
Cf. Feeney 2003, 339 on the papers in Depew/Obbink 2000 by Stephen Hinds and
Don Fowler, which "show that the most apparently esoteric issues of genre-bending loop
back into culturally-grounded readings, of Roman constructions of gender (Hinds) and of
parental-filial relationships (Fowler)."
On Not Forgetting the "Literatur" in "Literatur und Religion" 177
12
It w a s a pleasure to see how much Susanne Gödde and I agreed in our inde-
pendent approaches to Herodotus' representations of the divine; I learnt much from her
presentation.
13
Huber 1965 remains fundamental. I discuss Herodotus' new epistemology in more
detail in Feeney 2007, Chapter 3.
14
Clay 1983, 12-20; Ford 1992, 60-61. On the crucial importance of this distinction
in the historiographical tradition from Herodotus on, see Marincola 1997a, 63-86.
178 Denis Feeney
ledge, not of his ignorance. Homer cannot know for himself about the
distant past, and has to rely on the Muses to tell him; Herodotus cannot
know for himself about the distant past either, and so he will tell about the
things that he can know, and know for himself - αυτός.
Throughout his history Herodotus is extremely scrupulous in marking
what he will vouch for and what he will not, on the basis of his claims to
knowledge, maintaining systematically the distinction of his second pre-
face "between the myths that are 'said' and what 'we can know'." 15 This
point is regularly misunderstood by scholars, especially those who wish to
deny Herodotus a developed interest in making novel demarcations be-
tween his new 'history' and the old stories. Harrison, for example, claims
that Herodotus treats "Minos straightforwardly as a historical figure" in
his account of Cretan participation in the Trojan War, without any refer-
ence to the fact that the entire section is in reported speech, explaining the
reference of a Delphic Oracle. 16 1 do not mean to associate myself with the
view that reported speech is an automatic sign of personal scepticism, a
view well countered by Harrison himself; 17 the issue here is the way in
which Herodotus is setting out the terms for the technology of his new
form of rhetoric. In general, Harrison's discussion of this topic is vitiated
by his failure to pay attention to such fundamental narratological questions
as 'Qui parle?', questions which have profound generic and discursive im-
plications.
In the case of Herodotus we can see that his strategies in this sphere
are part of a larger strategy for creating a new kind of authorial persona.
This persona has many strong affinities with the new personae being
moulded by his contemporaries in medicine and science, and much of
what Geoffrey Lloyd has taught us about the new rhetorical strategies
designed in those new discourses could be copied over directly for Hero-
dotus' history. 18 Lloyd highlights the importance to the new scientific dis-
courses of "the habit of scrutiny, and ... the expectation of justification -
of giving an account - and the premium set on rational methods of doing
15
As Moles 1993a, 97 paraphrases 7.20.2-7.21.1; cf. Gould 1989, 125.
16
Harrison 2000, 203 and 205 on 7.170-171.
17
Harrison 2000, 24-30 and 82-83; cf. Mikalson 2003, 145.
18
Lloyd 1979 and 1987; Thomas 2000 makes many important connections between
the intellectual and performance environments of Herodotus and his peers in medicine
and science.
On Not Forgetting the "Literatur" in "Literatur und Religion" 179
so" (1979, 250); 19 he likewise picks out "the prominence of the authorial
ego, the prizing of innovation both theoretical and practical, the possibility
of engaging in explicit criticism of earlier authorities, even in the whole-
sale rejection (at times) of custom and tradition ..." (1987, 70). The impli-
cations for Herodotus and Thucydides are obvious. What Herodotus
begins is a project of carving out a new kind of discourse about the past
which has powerful affinities in rhetorical method and authorial self-pre-
sentation with the new discourses about medicine and nature. His new
discourse will enable him to compete not only with the body of inherited
mythic story, but also, even more importantly, with the other discourses
that had already evolved to compete with myth, above all the rationalising
and cataloguing of Hecataeus and the other mythographers. A crucial part
of this new project is the ability to stake out credible and authoritative
knowledge claims; and a crucial part of that ability is the claim - however
arbitrarily grounded - to be able to demarcate what can be known in this
τέχνη and what cannot be known.
The question of what can be known and what cannot be known readily
spills over into the question of what can be narrated and what cannot be
narrated. Despite all his enormous debts to Homer in terms of his under-
standing of how to narrate action, Herodotus marks an irreducible line be-
tween his kind of narrative and Homer's in terms of representation of the
divine. Fundamentally, once he has created his new authoritative voice by
demarcating how far his knowledge claims extend, Herodotus does not lay
claim to the privileged insight of a Homer, and he does not introduce gods
into his narrative as characters. 20 This is a crucial distinction between his
own practice and Homer's, one with many powerful ramifications, but one
that many readers overlook. Herodotus does not say that the god Pan ap-
peared to Philippides as he was running over the mountains to Sparta; he
says that Philippides said that the god appeared to him (6.105.1-2).21 This
may look like a trivial point, but it is not, for it takes us to the heart of the
19
Cf. Lloyd 1987, 99.
20
Feeney 1991, 261-262; cf. Mikalson 2003, 144-155 and Susanne G ö d d e ' s paper in
this volume.
21
For interesting discussion of the way this report of P a n ' s epiphany is part of the
larger narrative of Marathon, see Hornblower 2001, 143-145. Similarly (to give the ex-
ample used by Hornblower 2001, 136), Thucydides does not say that Athena destroyed
the Athenian defensive tower at Lecythus, but that Brasidas thought she did, or at least
acted as if he did (4.116).
180 Denis Feeney
22
This was clearly laid out by Jörgensen 1904; cf. Clay 1983, 21-25; Mikalson
1983, 112; Feeney 1991,85-86.
23
See Moles 1993a, 92-98 and Marincola 1997b for the importance of the persona
of Odysseus to Herodotus, as a man who travels widely and observes the customs of
different people.
24
On the general language of 'the gods' or 'god' used by orators and historians, as
opposed to poets, see Mikalson 1983, 63-68; cf. Feeney 1998, 81: "... it holds broadly
true that the ordinary human in the ordinary course of events, without privileged access to
knowledge of divinity's action, must necessarily speak in this general manner."
On Not Forgetting the "Literatur" in "Literatur und Religion" 181
25
On the issues, Feeney 1998, 22-25; cf. Parker 1997, 159: "Tragedy expresses
some part of what it was like to believe in the Greek gods no less than prose texts do."
26
Original emphasis.
27
For a compelling and lucid account of Herodotus' perception of divine forces at
work in his historical account, see Munson 2001, 183-206; cf. Cartledge/Greenwood
2002, 357-358: "Thus Herodotus claims to be able to infer divine involvement in human
events, but he achieves these inferences through a process of independent inquiry based
on the realm of human knowledge." Mikalson 2003 is very much in accord with such
positions: note esp. 146.
182 Denis Feeney
he knows that what people say is as important as what they do, but he will
not narrate such stories on his own account, nor will he rationalise them,
as his predecessor and main rival, Hecataeus, had done. Again, he will
express his own surmises about the role of the divine in human history, but
he will not give narratives on his own authorial account about character-
ised deities operating in the homeric manner. The formal definitions of
epic given by the ancient scholarly tradition are a useful reminder of what
is at stake. According to Servius 'epic consists of divine and human char-
acters' (constat ex diuinis humanisque personis), and according to Posido-
nius poetry contains 'a mimesis [i. e., a characterful representation] of
things divine and human' (μίμησιν ... θείων και άνθρωπείων). 28 History,
for all the interest which it can display in the inherited body of myth and
in religious concerns, does not have both 'divine and human characters',
nor does it have 'characterful representation of things divine as well as
human', with gods part of the mimesis like humans.
These general issues have to be borne in mind when we are consider-
ing historical texts from the Roman period as well. The later historical
tradition, including the Roman one, is remarkably faithful to Herodotus'
pioneering prescriptions in the field of representing the divine: "... from
Herodotus on, the historians ... refrained from following Homer into the
narration of divine action on its own plane. Even epiphanies in historians
are, after all, accounts of human experience. An ancient historian will de-
scribe a report of a deity appearing in battle, for example, but he will not
narrate the decision of the deity to appear, or transcribe the god's con-
versation before he sets off for the battle-site" (Feeney 1991, 261).29 Simi-
larly, the later historians' approach to the inclusion or exclusion of mythic
or miraculous material retains recognisably Herodotean features, although
there was certainly more variety of treatment here, as we shall see.30 Be-
cause the origin of this historiographical trope of demarcation from myth
was not a technological or methodological advance but a new kind of rhe-
toric, the distinctions claimed between history and myth could vary con-
siderably. Historians could use chronology, for example, to delimit their
subject matter from 'the times of myth', as Dionysius of Halicarnassus
28
Serv. 1.4.4-6 Thilo/Hagen; Posidon. fr. 44 Edelstein/Kidd, 1972-1988.
29
Cf. Hornblower 2001.
30
Important discussion in Calame 2003, 1-34; n. b. 26: "Difference in content forms
the division less between myth and history than between historiography and poetry."
On Not Forgetting the "Literatur" in "Literatur und Religion" 183
calls them, when he says that the Assyrian Empire reaches back εις τους
μυθικούς χρόνους (Antiquitates Romanae 1.2.2). The Trojan war was re-
gularly the chosen cut-off point;31 but for Ephorus, writing a panhellenic
history in the middle of the fourth century, the demarcation line was the
return of the Heracleidae, 80 years after the Trojan war. Ephorus deliber-
ately proclaims that he will not begin with the events of myth; 32 in a very
Thucydidean passage he says that you cannot give an accurate account of
ancient events, as opposed to contemporary ones, since deeds and
speeches of the distant past cannot be remembered through such a long
time.33 One of the fullest discussions of this topic comes in Plutarch's
Preface to the paired Lives of Theseus and Romulus, which has recently
been the subject of a fine analysis by Pelling: in working on Theseus, Plu-
tarch says, he has gone through that time 'which can be reached by reason-
able inference or where factual history can find a firm foothold', and has
now reached a point where he might 'say of those remoter ages, 'All that
lies beyond are fables and tragic stories ...',' 3 4
Inevitably, these are broad generalisations about a very long, varied
and contentious tradition, one including historians who narrated the ex-
ploits of Dionysus in India or Heracles in the West as prototypes of later
Hellenic arrivals, or who invented charter myths for Greek colonies.35 The
case of Roman history is particularly challenging because it shares the
characteristics both of a universal history and also of a local history, which
had to account for origin stories of all kinds, including the fabulous: a
narrative of the history of Rome from the origins will start off as a local
history but end up as a universal history. 36 Still, Marincola is fundamen-
tally correct to say that the historians ended up with three options when
dealing with myth: leave it out, rationalise it, or report it noncommittally,
leaving judgement up to the reader. 37 Of the first option, Ephorus may
31
Porter 2004, 320.
32
FGrHIO Τ 8 = D.S. 4.1.3.
33
FGrH 70 F 9 = Harp. s. v. άρχαίως.
34
Thes. 1, following the translation of Pelling 2002, 171.
35
On such histories, see, conveniently, Pearson 1975. We return shortly to the
question of how such historians may have reported matters of this kind.
36
I thank Glenn Most for drawing my attention to this issue. Elliott 2005, 75-76
makes the point, appositely citing Frier 1979, 218: my thanks to her for allowing me to
cite her as yet unpublished PhD dissertation.
37
Marincola 1997a, 118, part of a very valuable discussion; cf. Wardman 1960, 410-
412; Veyne 1988, 71-78 on the options of rationalising and relata referre, recounting the
184 Denis Feeney
tradition, what people say, without necessarily vouching for it. On the important fragment
of Theopompus about his strategy concerning myth ( F G r H 115 F 381), see the decisive
arguments of Flower 1994, 34-35, proving that Theopompus claims to be signalling ex-
plicitly when he incorporates myth, unlike his predecessors. Some might say that this
shows the distinction did not matter, but of course it shows the reverse.
38
On the generic interface between history and myth/epic, see Woodman 1988,
index s. v. 'historiography, ancient, and poetry'; Moles 1993a and 1993b. As Hornblower
2001, 146 remarks, in advancing a strong claim for Pan's role in Herodotus 6.105.1-2:
"Generic crossover can be a very arresting device." For the analogy with epic and elegiac
poets, see, conveniently, Hinds 1987, esp. 115-117. Woodman 2003, 213 intriguingly
suggests, on the basis of Horace's allusions at the end of Carm. 2.1, that Pollio's Preface
to his Histories ended with a transitional generic distinction between his former genre of
tragedy and his new genre of history.
39
Cf. Feldherr 1998, 78; see Moles 1993b, 156-158 for a full exploration of the en-
gagement with poetry at this point in the Preface.
On Not Forgetting the "Literatur" in "Literatur und Religion" 185
This indulgence is granted to antiquity that it makes the first stages of cities
more august by mixing the human and divine. 41 And if it ought to be allowed to
any people to hallow their origins and make the gods responsible for them, then
the glory in war of the Roman people is such that when they say that Mars him-
self was their father and the father of their founder, the peoples of the earth
should put up with this with as much equanimity as they put up with the empire.
40
A classic example of a process referred to by White 1987, 95: "The implication is
that historians constitute their subjects as possible objects of narrative representation by
the very language they use to describe them" (original emphasis). Feldherr 1998, 75-78
well brings out the power of the generic confrontations here. Moles 1993b, 149 demon-
strates the Herodotean and Thucydidean force of Livy's approach to the distinction
between myth and history, especially in his Herodotean declarations that he sets no store
by how stories of this kind will be judged {ea nec adfirmare nec refellere in animo est,
§6; haud in magno equidem ponam discrimine, §8).
41
As Tony Woodman points out to me, the first quoted sentence has a focus on the
present that is regularly overlooked: as he puts it, datur haec uenia antiquitati etc. means
(a) "we concede it to the ancients that they mingle human and divine and thereby make
the origins of cities more august" and (b) "we concede to <the notion of> antiquity that,
by mingling human and divine, we make the origins ..."
42
Moles' footnote 40 ad loc. refers to Cie. Inv. 1.23, where Cicero is making a quite
different point, advising the orator to show that his case involves the whole res publica,
including the immortal gods. I should say that this is practically the only sentence in
Moles' important article with which I differ. See, rather, Feldherr 1998, 64-65.
186 Denis Feeney
43
Levene 1993, 16-30; Feldherr 1998, 64-78; Forsythe 1999, 87-98.
44
For the role of the Romulus and Remus story in relations with the Greek East, see
the remarkable inscription from Chios (from the late third or early second century BCE)
which speaks in language close to Livy's of how the story of the twins' parentage might
be rightly considered true because of the courage of the Romans (following the interpre-
tation of Derow/Forrest 1982, 86).
45
Kraus in Kraus/Woodman 1997, 55-56; cf. Kraus 1994, 13-15.
On Not Forgetting the "Literatur" in "Literatur und Religion" 187
But, so I think, fate made inevitable the origin of such a great city and the be-
ginning of an empire that is the greatest after the power of the gods. When the
raped Vestal had given birth to twins, either because she thought so, or else be-
cause a god was a more honourable source to put the blame on, she named Mars
as the father of the doubtful progeny.
After the birth of the twins, an artful word arrangement makes it look for a
moment as if we are going to be offered alternative rationalising and
supernatural explanations. 46 Seu ita rata seu quia deus ... 'Either because
she thought so, or else because a god' - here a supplement such as 'really
was responsible' is taken away from us, as we go on to read 'was a more
honourable source to put the blame on' (auctor culpae honestior erat).
Either way, it is only what the priestess said.
The story of the foundation of the Ara Maxima is a related example of
this kind of technique. In the Preface Livy said that he would not vouch
for mythical events before the foundation of the city, yet early on in Book
1 he does give us a famous aetiological tale from fable, involving the
demi-god Hercules, from the time before the foundation, even before the
fall of Troy. He artfully inserts it as a flashback in the Romulus narrative,
so that it is made into a subset of history. When he comes to discuss
Romulus' religious practices, he tells us that Romulus performed sacri-
fices to the other gods according to the Alban rite, but to Hercules accor-
ding to the Greek rite, following the way the sacrifices had been estab-
lished by Evander (1.7.3). At this point Livy introduces the myth with me-
morant, and proceeds to narrate the whole colourful tale over the space of
two OCT pages (1.7.4-15), including a quotation of Evander's speech, in
which the Arcadian king refers to his mother's prophecy of Hercules' apo-
theosis and the cult of the Ara Maxima, to be tended by the nation that will
in the future be the most powerful on earth (1.7.10).47 Two considerations
in particular, both aetiological in nature, make it important for Livy to
46
As indeed it is taken by Ogilvie 1965, 48, w h o sees here a "juxtaposition of a
natural and a supernatural explanation"; 1 agree rather with Forsythe 1999, 92. My thanks
to Julia Dyson for discussion of this point.
47
See Forsythe 1999, 95 for a judicious analysis.
188 Denis Feeney
bend his generic capacities in order to include this story. Livy is very
interested in aetiology and its contemporary uses, particularly in these
early sections of his work, and here he contrives to deliver two telling
aetiological messages through the medium of the myth without in the end
compromising the overall status of his narrative or his persona. First, he
wishes to stress that Greek and Roman culture were intermingled from the
start, and he uses the case study of the Graecus ritus in cult: even before
the city was founded, according to this tale, the cult of the site of Rome in-
volved Greek cult.48 Second, Livy tangentially suggests at the end of the
digression that Romulus' fostering of the cult of Hercules already anti-
cipates the way that Augustus himself would be behaving centuries later,
in Livy's own day. The cult of Hercules, says Livy, was the only foreign
cult adopted by Romulus, who was 'even then a supporter of the immor-
tality achieved by virtue to which his own destiny was leading him' (iam
tum immortalitatis uirtute partae ad quam, eum sua fata ducebant fautor,
1.7.15). In all kinds of ways Romulus is a prototype of Augustus, and one
of the resemblances between the two is precisely this care over the cult of
deified heroes as a template for their own eventual apotheosis. 49 The kind
of pressure that Augustus is putting on the boundaries of contemporary
Roman religious practice finds an echo in the pressure Livy puts here on
the norms of his narrative.
Passages such as that in Livy's Preface have recently been reinter-
preted by Peter Wiseman in a very different way, as a "partisan statement
of philosophical scepticism": Wiseman sees Livy as being in a minority,
and he argues for recovering a historiographical tradition that accepted
"miracle stories and divine epiphanies as a proper part of their subject
matter", arguing that the "issue was not one of literary convention but of
theological belief' (2002, 353). "Even in the sophisticated Rome of the
first century B. C.," he concludes, "for many readers the distinction be-
tween the proper pursuits of poets and historians was far from clear-cut,
and certainly not a simple matter of literary genre" (2002, 362). Wiseman
certainly presents a rich world of inherited stories about divine interven-
tions and miraculous events, and this world is one with which any student
48
The fact that this is the single such cult maintained by Romulus is part of a larger
project of minimising, even while acknowledging, the degree of Greek penetration of
Roman culture (haec turn sacra Romulus una ex omnibus peregrina suscepit, 1.7.15).
49
On Livy's parallelisms between Romulus and Augustus, see Miles 1995, 164-166.
On Not Forgetting the "Literatur" in "Literatur und Religion" 189
50
Münzer 1937, 205, quoted by Wiseman 2002, 337 n. 31.
51
Wiseman 2002, 350-352 well brings out the intertextuality of Valerius' introduc-
tion with Livy's Preface, but while he says that "Valerius uses the idiom of historiogra-
phy", referring to omnis aeui gesta and historiae series, these phrases actually refer to
what Valerius says he is not going to write.
52
Any more than was the biographer Plutarch, likewise adduced by Wiseman 2002,
347.
190 Denis Feeney
the material for the antiquarian was the inherited mass of tradition about
the city, which it was the job of the scholar to organise and transmit.
Valerius similarly sees it as his function to 'repeat what is in the tradition'
(tradita repetuntur, 1.8.7). These projects have their own merits and their
own roles to play within the debate over the past and the divine in the
period, but they are not the same merits and roles as those of formal
history, with its political and utilitarian programmes. 53 It is somewhat mis-
leading to group such disparate authors together as "other historians" to
point a contrast with Livy, as Wiseman does in his concluding paragraph:
"For Livy, divine intervention was not appropriate to 'uncorrupted' history
- but we know that other historians thought it was" (2002, 362).
Someone who does qualify as "another historian", and who ap-
proaches these questions in a manner significantly different from Livy, is
Dionysius of Halicarnassus. Wiseman's discussion is highly instructive,
showing how Dionysius repeatedly narrates myths at length and fore-
grounds issues of how to interpret them. 54 Dionysius is to some extent
drawn into this realm by the whole theme of his work: to vindicate the
Greek nature of the Romans and to justify their hegemony to the Greek
world, he needs to go far back into mythical time in order to reach the
point of divergence between Roman and Greek, thus involving himself
constantly in adjudicating the merits of the stories in the early mythical
tradition.55 In this way he bears out the point we remarked on above, that a
history of Roman origins will be more involved in the fabulous material of
origin narratives than histories of the later periods. Yet Dionysius'
accounts of apparently divine or miraculous manifestations and his dis-
cussions of how to interpret them extend down into the time of the Re-
public, and certainly reflect a different set of priorities from Livy's. His
closer involvement with the antiquarian tradition is partly responsible for
this difference in emphasis, for he can resemble a Varro at times. 56 It is
also helpful to see Dionysius as a self-consciously Herodotean historian:
53
Marincola 1999, 307-308 well cautions against blunt demarcations between 'anti-
quarianism' and 'history', yet the differences between Varro's procedures and Livy's are
tangible.
54
Wiseman 2002, 343-347.
55
Marincola 1997a, 121-122; cf. Gabba 1991, 117-118 on Dionysius' "demonstra-
tion of the political theory proclaiming R o m e ' s Greekness. This is the basic reason why
he could not follow Livy in eliminating the fables of a poetically coloured tradition that
predated the foundation of Rome and described that very foundation."
56
Gabba 1991,97-98.
On Not Forgetting the "Literatur" in "Literatur und Religion" 191
57
Cf. Gabba 1991, 96: " . . . he was still subject to the principle elaborated by Hero-
dotus: how could he not report what he found in the Roman sources?" For explicit refer-
ences to epichoric versions, see 1.55.1, 8.56.4.
58
Marincola 1997a, 122-123.
59
Especially when introducing the ' m o r e mythical' of his paired versions of past
events (e. g., 1.77.2,2.56.2).
192 Denis Feeney
The story is a famous one, related in many other sources,60 and it con-
cerns the founding of Alba Longa by Aeneas' son, Ascanius. Dionysius
introduces the story by saying that during the foundation 'a very big
marvel is said to have occurred' (θαΰμα μέγιστον λέγεται γενέσθαι,
1.67.1), and the narrative proceeds in oratio obliqua (1.67.1-4). The Pe-
nates brought by Aeneas from Troy and settled in his city of Lavinium
now need to be moved to the new city, yet the night after they are trans-
ported to Alba Longa they miraculously move back to Lavinium. Once
more the images are brought back to Alba Longa, and once more they
migrate back to Lavinium. At this point the people leave the Penates
where they are, in Lavinium, and send six hundred of the men from the
new city back to Lavinium to take care of them there. Embedded in this
myth we may detect some of the main concerns of the Roman myth of
Trojan origins, even though Dionysius' eventual elaboration will move the
focus somewhat. The Romans want a link back to Troy, but they do not
want it to be too direct: in the developed version of the foundation myth,
Aeneas does not simply found Rome, but founds Lavinium, and then from
Lavinium is founded Alba Longa, and from Alba Longa is founded Rome.
Even this chain of connection feels too strong, it seems, with the result
that Alba is obliterated, so that the link in the chain is removed. The
Penates cannot be destroyed along with Alba, so they have to stay in Lavi-
nium, after being temporarily housed in Alba.61 The story of the mira-
culously migrating Penates is partly meant to 'explain' how the Penates
come to be still in Lavinium, but it is really there to help focus on the
opposing poles of transience and stability that are so important to the
foundation myths: the Penates have to stop moving eventually, and they
have to stop before they come to be rooted in Rome itself. The Trojan con-
nection, then, is one that is mediated through the Latins to Rome, not
directly from Troy to Rome. 62 This perspective on the myth is further cor-
60
Wiseman 2002, 352-353.
61
The tradition capitalises on the idea of Alba as a temporary staging post for the
Penates in the narrative of the Gallic sack of Rome, by choosing the significant name
'Albinius' for the man w h o makes his family get out of the cart to transport the Vestals
and their cult objects to Caere out of the path of the marauding Gauls (Liv. 5.40.9-10,
with Ogilvie 1965 ad loc. for the antiquity of the name).
62
This interest in the degree to which the Trojan connection is mediated via the
Latins provides the context for the ambiguity in Virgil and Livy over whether or not the
son of Aeneas, the founder of Alba Longa, had a Trojan or a Latin w o m a n for a mother:
On Not Forgetting the "Literatur" in "Literatur und Religion" 193
roboration of the idea that it was the settlement with the Latins in 338 BC
- the year described by De Sanctis as "the turning point of Roman
history" 63 - which generated so much of the work on the Trojan myth in
Roman and Latium. 64 At this point in Roman history the Trojan myth is
mainly about the relations with the Latins: the Romans and Latins are
having to renegotiate their relationship, and the shared cults of the old
Latin league are now being redescribed in a new teleological story about
Roman primacy.
The work which this myth is enabled to do in Dionysius is part of his
larger interest in the way the Romans share parts of their inheritance with
other Italians and also evolve towards a unique status as the only true
fellow-Hellenes. His own attitude to the Roman links with the Trojan
sacra is subtly different from Livy's, for example. Livy has his Camillus
stress that it would have been a religious flaw for the rites of Alba and La-
vinium to be transferred to the city of Rome (5.52.8), yet Dionysius
follows up his narrative with a lengthy discussion of the images of the
Penates which he says can actually be seen in the city of Rome, so that it
appears that some representations of the Penates found their way to the
city in the end (1.68.1-69.4): characteristically, he wishes these images to
be 'really' Greek, images of the Great Gods worshipped on Samothrace
(1.69.4). Further, when he is discussing what the images in Lavinium and
Rome look like, he blends discourses in a way that Roman historians do
not. After reporting what Timaeus said about the images in Lavinium
(1.67.4), he uses language of scrupulous piety to declare that 'in the case
of those things which it is not lawful for all to see I ought neither to hear
about them from those who do see them nor to describe them'; he then
goes on to introduce his account of the images in Rome by describing
them as 'the things which I myself know by having seen and concerning
which no scruple forbids me to write'. 65 This is the self-policing pious
language one sees in Pindar, for example, or especially in Herodotus,
where language of piety is mingled into language of generic appropriate-
see Miles 1995, 39-40 on Liv. 1.3.2 and Edgeworth 2001 on Verg. A. 1.267-271 and
6.763-766.
63
So Cornell 1995, 348, referring to De Sanctis 1907, 267.
64
Gruen 1992, 28-29; Hillen 2003, 52.
65
I give the Loeb translation of 1.67.4-68.1.
194 Denis Feeney
66
On this blending in Pindar's Ο. 1, see Köhnken 1974, 203-204; Gerber 1982, 69-
70; in Herodotus, see Mikalson 2003, 143-145 and Susanne G ö d d e ' s paper in this
volume. Dionysius' language here is markedly Herodotean (cf. e. g. Hdt. 2.61.1, 86.2,
170-171.1,).
67
Note especially 1.77.3; 2.20.1-2, 61.3, 68.1-2.
68
Cf. 2.21.1,61.3.
69
Feeney 1998, 48.
70
Wiseman 2002, 345-346 on 2.68.1-2 and 8.56.
On Not Forgetting the "Literatur" in "Literatur und Religion" 195
pontiffs have it'; he continues by expressing the hope that the pious will
be confirmed by the story and the impious confounded (8.56.1). At the end
of his narrative of the occurrence, he recalls himself with language reflect-
ing on the appropriateness of his kind of history: 'but concerning this it
was not right either to omit the local story (παρελθεΐν την έπιχώριον
ίστορίαν) nor to spend too much time on it' (8.56.4). Here the Herodotean
duty to report the epichoric accounts is certainly acknowledged, along
with a sense of restored appropriateness as he moves out of the miraculous
tale, but the powerful impetus of his protreptic purpose has taken historio-
graphy into a different area. Similarly, he introduces two miraculous
stories about Vestals having their virginity vindicated: again, the fact that
the Romans believe the stories and that their historians have made much of
them is adduced, but subordinated to the strong moral point that the gods
are concerned with human goodness and wickedness (2.68.1-2). These
stories are the most powerful weapons he deploys in his stated program-
matic aim of convincing his Greek audience that the Romans have been
from the start a people marked by piety and justice (1.5.3).
Rather than Livy, then, as argued by Wiseman, Dionysius looks more
like the odd man out in terms of representing the divine in historiography.
The two historians' practices share many distinctive features, as inherited
ultimately from Herodotus, but the main explanation for the differences
between them is to be sought in their different relationships to the Roman
state. As a citizen addressing fellow citizens and narrating to them the past
operations of the Senate and people of Rome, Livy is operating from with-
in the web of Roman religious practices. Dionysius is a resident outsider
who is addressing fellow Greeks. Livy's representation of things divine is
focalised through the Roman state, whereas Dionysius' is focalised
through the eyes of an individual from outside the system. Livy has a well
developed interest in divine manifestations and the possible patterns of
fate, but Livy's "perspective is that of the human unfolding of events: the
intervention of the gods is no less documented here than it is in other
genres and works, such as Virgil's epic. But it is represented from the
point of view of the City's interests rather than any individual's, and by
deduction rather than explicit identification" (Davies 2004, 141).71 Dio-
71
Original emphasis. As Davies goes on to say: "These are matters of literary genre,
not personal belief, or philosophical speculation." Levene 1993 likewise argues for the
crucial artistic power of Livy's subtle representation of divine forces at work in human
196 Denis Feeney
history: " H e binds together great portions of the history with a religious sub-text working
consistently beneath the surface of what is ostensibly a largely secular narrative" (241).
72
Wiseman 2002, 352-353 collects the sources for the Penates' migration. Note the
caution of Marincola 1999, 314 on the question of lumping together in "unitary tradition"
the authors usually referred to as "the Latin annalists".
73
Harrison 2000, 24-30; Mikalson 2003, 145; Davies 2004, 51-61.
On Not Forgetting the "Literatur" in "Literatur und Religion" 197
ample, lose some of their power if we do not register them against some
kind of expectation of what historiography can tolerate. The differences
between these forms of writing and other forms always potentially matter,
and moments when writers talk about points of correspondence with other
genres are proof that the issue was alive, not that it was dead. Wiseman
adduces Diodorus Siculus' preface as evidence for "a world in which pro-
phecy, poetry, history and moral exhortation were not always thought of
as separate conceptual categories" (2002, 359), yet Diodorus is playing up
the separateness of the categories as much as softening them when he
claims that his form of history is even better equipped to contribute to
piety and justice than the poets' fictitious storytelling about things in
Hades (1.2.2). As in this particular example, it is regularly the dialogue
with alternative possibilities that sharpens the points at issue, just as the
dialogue between epic and elegy or history defines what epic is, by con-
frontation and transgression. Historiography keeps reasserting its tradition
and redefining itself as it flirts with the possibility of contamination. 74 In
the case of Livy it is possible to imagine why he might be interested in the
boundaries of representing the divine in history under the pressure of what
Augustus was doing to rewrite the boundaries of representing the divine in
Roman religion as he wrote. In the case of Dionysius, his occasional self-
conscious daring in bringing philosophical discussion to bear on striking
miracula gives dramatic power to his rhetoric as he tries to convince his
fellow Greeks that the empire they inhabit is run by a pious people who
have the sanction of the gods on their side.
In a sense my conclusion is a minimalist one: the strongest line of
demarcation between formal history and other literary forms is that history
does not introduce gods as characters into the narrative, while a strong but
less watertight demarcation is to be found in historiography's regular dis-
tancing of other 'fabulous' or 'mythical' material. But I have been taking
the norms of historiography as one example of a larger claim, that when
we are considering any example of the interaction between what we call
'literature' and what we call 'religion', we must always be alert to the for-
mal issues if we are to do justice to the social, political or religious work
the texts may be doing. Only by paying careful attention to the creative
74
Cf. the dynamic, 'Contean' view of genre espoused for the study of historiography
by Marincola 1999, 282: " . . . genre is not a static concept, functioning as a 'recipe' with a
fixed set of ingredients that the work must contain, but rather is dynamic and should be
seen as a 'strategy of literary composition'."
198 Denis Feeney
work of a Dionysius or a Livy with the forms of their genre can we see the
distinctions between their kinds of authority and their relationships with
their audiences. Generic analysis does not extrapolate these texts into an
ethereal formalism, but enables us to recover the distinctive power of their
interventions into the debates of the day. As in the case of the founder of
the form of historiography, Herodotus, the formal and historicising read-
ings fold into, and reinforce, each other.
Denis Feeney
Department of Classics, Princeton University
On Not Forgetting the "Literatur" in "Literatur und Religion" 199
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Griechische und römische Aitiologie in Ovids
Metamorphosen*
Einleitung
* Für zahlreiche Hinweise danke ich den Tagungsteilnehmern sowie Jörg Rüpke (Er-
furt) und Darja Sterbenc Erker (Erfurt/Berlin).
1
Vgl. Graf 1985,98-116.
2
Zur Datierung der Homerischen Hymnen vgl. Richardson 1974, 3-11.
204 Katharina Waldner
3
William Robertson Smith (1846-1894), James George Frazer (1854-1941) und Jane
Ellen Harrison (1850-1928). Das Folgende ist sehr knapp und vereinfachend formuliert;
für eine ausführlichere Darstellung vgl. Waldner 2000, 4-50; Versnel 1993, 16-88; die
Beiträge in Calder 1991.
4
So Robertson Smith 1889, 19. Vermutlich unabhängig von Frazer formulierte
Harrison diese Behauptung für den griechischen Befund; vgl. Harrison 1890, iii: "My
belief is that in many, even in the large majority of cases ritual practice misunderstood
explains the elaboration of myth ..." Harrison 1912, 328-329 revidiert diese Auffassung
jedoch zugunsten der Erkenntnis, daß Mythos und Ritual parallele Phänomene seien: "It
[JC. myth] is the spoken correlative of acted rite, the thing done; it is to legomenon as
contrasted with or rather as related to to dromenon."
Griechische und römische Aitiologie in Ovids Metamorphosen 205
5
Vgl. zur theoretischen ebenso wie zur wissenschaftsgeschichtlichen Dimension
dieses Problems allgemein Bell 1992, 19-54.
6
Z . B. Malinowski 1948; vgl. dazu Graf 1985, 46; Jamme 1991, 92.
7
Vgl. dazu Waldner 2000, 22.
8
So wendet sich beispielsweise Graf 1985, 98 dezidiert gegen die Konstruktion ei-
ner Opposition von Literatur und ' G l a u b e n ' : " . . . einen Gegensatz zwischen Literatur und
Glauben zu konstruieren, geht für die frühen Kulturen nicht an, denn anders als in Spra-
che drückt sich der Mythos nicht aus, und damit ist er bereits den Gesetzen des Erzählens
unterworfen, ist er Literatur ..."
9
Feeney 1991 und 1998. Inzwischen wird sein Ansatz in vielen Arbeiten zur römi-
schen Religion und/oder Literatur aufgenommen: vgl. ζ. B. Myers 1994; die Beiträge in
Barchiesi/Rüpke/Stephens 2004. Wichtig sind außerdem die Arbeiten Mary Beards, ζ. Β.
Beard 1987 und Barchiesi 1997. Erwähnenswert ist weiter Schmitzer 1990.
206 Katharina Waldner
10
Zur Forschungsgeschichte der römischen Religion vgl. die Beiträge in Graf 1993
und in dem Wissowa gewidmeten Bd. 5 (2003) des ARG.
11
Demokrit soll gesagt haben, 'er wolle lieber eine [einzige] ursächliche Erklärung
[aitiologia] finden als die Königsherrschaft über die Perser' (fr. 118 Diels/Kranz). Aller-
dings ist nicht klar, ob Demokrit selbst wirklich dieses Wort verwendet hat. Vgl. dazu
und für einen guten Überblick über die Verwendung des Begriffs in Antike und Moderne
Cancik-Lindemaier 1988 und grundlegend Loehr 1996, 3-38.
Griechische und römische Aitiologie in Ovids Metamorphosen 207
was erklärt wird. 12 In der gesamten Antike wurden nicht nur religiöse
Institutionen in unserem Sinn des Wortes, sondern auch alle möglichen
Bräuche, sozialen Regeln und Gebäude mit Gründungsgeschichten ver-
bunden, in denen allerdings wiederum Götter und Heroen eine Rolle spie-
len konnten. Jede Polis war eine Ansammlung solcher Geschichten, die in
der Lokalgeschichtsschreibung gesammelt sind, die im sechsten Jahrhun-
dert mit Akusilaos von Argos beginnt und über die Atthidographen in den
Hellenismus hinein weitergeführt wird. 13 Eine Aussonderung 'religiöser'
Aitiologie oder sogenannter 'Kult-Aitien' scheint vor diesem Hintergrund
vorerst nicht sinnvoll.
Im Hellenismus führten die Veränderung der politischen Verhältnisse
und die damit verbundene enorme Erweiterung des geographischen Hori-
zonts bekanntlich zu einer Neuorganisation des Kulturbetriebs und damit
der Präsentationsformen des Wissens. Nicht mehr alle Geschichten eines
Ortes wurden gesammelt, sondern die Geschichten der ganzen Welt nach
Themen geordnet: Diese antiquarischen Werke trugen Titel wie 'Grün-
dungen von Städten', 'Namensänderungen', 'Über die Winde', 'Über die
Vögel', 'Über die Flüsse der bewohnten Welt'. 14 Zu ihnen gehören auch
die im 3. und 2. vorchristlichen Jahrhundert entstehenden und bis in die
Kaiserzeit hinein beliebten 'Wunderbücher', wie etwa die Hist or ion para-
doxon Synagoge des Antigonos von Karystos, oder Phlegon von Tralleis'
Peri thaumasion,15 Beschreibungen seltsamer Begebenheiten aus der Ge-
schichte, besonders aber aus der Natur, wie etwa von Kühen, die ihre Hör-
ner wie Ohren bewegen können (Antig. Mirabilia 75), 16 werden ge-
sammelt und geographisch, alphabetisch und nach Quellen angeordnet;
das Wissen stammt aus den Büchern der neuen Bibliotheken. Was läge
näher, als daß auch Werke über Kulte, Kultbilder oder Tempel und die mit
ihnen verbundenen Mythen verfaßt würden? Interessanterweise jedoch
blieben diese Themen auf atthidographische Schriftsteller beschränkt oder
12
Vgl. dazu und zur folgenden Forschungsgeschichte Loehr 1996, 5-33.
13
Akusilaos von Argos versuchte, epische Stoffe mit lokalen Genealogien zu ver-
binden; vgl. dazu Frankel 1951, 395-396; Lendle 1992, 18-22. Zur weiteren Entwicklung
der Lokalgeschichtsschreibung vgl. Meister 1990, 128-137; besonders aufschlußreich fur
diesen Bereich ist auch die inschriftlich überlieferte Geschichtsschreibung; vgl. dazu
Chaniotis 1988.
14
Vgl. Schepens/Delcroix 1996, 403-404; Fräser 1972, 454-455.
15
Dazu allgemein (und umfassend): Schepens/Delcroix 1996; Wenskus 2000.
16
Vgl. Arist. HA 3.9.517a28-29; Schepens/Delcroix 1996, 392-393.
208 Katharina Waldner
17
Am zahlreichsten sind in der Atthidographie Schriften mit den Titeln Peri heor-
ton, Peri thysion und Peri mysterion; vgl. Tresp 1914, 27-29; zu religiösen Themen in der
inschriftlichen Lokalgeschichtsschreibung vgl. Chaniotis 1988, 145-146.
18
Vgl. Henrichs 1987. Eine Ausnahme scheinen die Diegeseis des Konon zu bilden;
in ihnen finden sich über 15 A/w/s-Mythen; er bezieht sich vor allem auf Kallimachos
und Apollonios Rhodios.
19
Es ist hier nicht der Ort, einen Überblick über die Forschung zu Kallimachos zu
geben; einschlägig für die Frage der Aitiologie bei Kallimachos ist Loehr 1996, 39-49;
vgl. auch Myers 1994, 18-19. Ein sehr aufschlußreicher Beitrag zum Verhältnis von Re-
ligion und Literatur bei Kallimachos ist Hunter 1992.
20
Von ihm stammt die vermutlich erste paradoxographische Sammlung; Antig. Mi-
rabilia 129 zitiert aus ihr; vgl. Schepens/Delcroix 1996, 383-384.
21
Vgl. Loehr 1996, 50-67; vgl. auch Forbes Irving 1990.
Griechische und römische Aitiologie in Ovids Metamorphosen 209
22
V g l . Loehr 1996, 51-59.
23
Vgl. Loehr 1996, 59-65; vgl. auch Myers 1994, 34-37.
24
Vgl. Loehr 1996, 60-61.
25
Ov. Tr. 4.10.43; Quint. Inst. 12.11.27.
26
Feeney 1991, 91 weist im Zusammenhang der Aitien in Apollonius' Argonautica
darauf hin, daß diese zum "referential code" (mit Verweis auf Roland Barthes' S/Z) zu
rechnen seien; vgl. auch Myers 1994, 19.
27
Zu diesem Aspekt antiker Religion vgl. Rüpke 2006.
28
Vgl. Ov. Pont. 4.8.55-56: Di quoque carminibus, si fas est dicere, fluni, / Tanta-
que maiestas ore canentis eget - 'Auch die Götter, wenn es zu sagen erlaubt ist, entste-
hen durch Gedichte, sogar ihre Hoheit bedarf eines besingenden Mundes.'
210 Katharina Waldner
Status jener Götter, denen die erklärten Rituale gelten, nicht sicher sein.
Uber die unsichere Kommunikation mit ihnen, über die Erfahrung der
Auswirkungen ihrer Macht gilt es immer neu nachzudenken. In einer Ge-
meinschaft, die in ihrem sozialen Wohlergehen und in ihren machtpoliti-
schen Erfolgen nichts anderes als den Ausdruck göttlicher Gunst sah - und
nirgendwo ist diese Einstellung deutlicher faßbar als in Rom - , ist dieses
Nachdenken nicht nur ein literarisches oder philosophisches, sondern
gleichzeitig auch ein politisches Unternehmen. 29
29
Vgl. zur politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der Religion in Augustei-
scher Zeit ζ. B. Zanker 1987; Scheid 1993; Galinsky 1996.
30
Z u m M y t h o s in R o m und den damit v e r b u n d e n e n forschungsgeschichtlichen
Problemen vgl. Graf 1993.
31
Vgl. Loehr 1996, 68-70; Myers 1994, 96.
32
Plu. Cat.Mi. 70.3.
33
Plu. Rom. 21.6. Eine weitere Erwähnung des Butas findet sich bei Arnob. Adv.
nat. 5.18 p. 271.16-272.2.
34
Vgl. Rüpke 2005.
Griechische und römische Aitiologie in Ovids Metamorphosen 211
der Prosa statt: An erster Stelle sind hier Varros Antiquitates rerum huma-
narum et divinarum zu nennen.35
Erst in Augusteischer Zeit wird dies auch ein Anliegen der Dichtung.
Properz, 'der römische Kallimachos' aus Umbrien, wie er sich selbst be-
zeichnet (4.1.64), verbindet das poetische Vorbild der griechischen Aitien
mit der Topographie der Stadt Rom:36 Sacra diesque canam et cognomina
prisca locorum: / Has meus ad metas sudet oportet equus - 'sacra und die
Tage will ich besingen und die alten Beinamen der Orte: Zu diesen Zielen
muß mein Pferd schweißbedeckt streben' (4.1.69-70). Thema dieser
neuen, römischen Variante Kallimacheischer Aitien sind sacra (alles, was
mit Göttern zu tun hat, was den Göttern gehört), 37 dies (Festdaten) und
cognomina prisca locorum (alte Beinamen der Orte). Properz will dar-
stellen, wie die Verehrung und das Wirken der Götter in Rom sich mit der
räumlichen und zeitlichen Ordnung der Stadt verbinden. Als Medium
wählt er die aitiologische Elegie griechischer Provenienz. Während bei
Properz das Schwergewicht eindeutig auf dem Raum liegt, verwendet sein
Nachfolger Ovid die Ordnung der Zeit. Dies wird in den Proömien des
ersten und zweiten Buches der Libri fastorum38 ebenso deutlich wie die
Anknüpfung an Kallimachos und Properz: Tempora cum causis Latium
digesta per annum / Lapsaque sub terras ortaque signa canam - 'Die
Zeiten mit ihren Aitien, geordnet durch das Jahr in Latium, und die Sterne,
wie sie unter die Erde gleiten und aufgehen, will ich besingen' {Fast. 1.1-
2).39 Und etwas weiter unten, an Germanicus gerichtet, heißt es: Sacra re-
cognosces annalibus eruta priscis / Et quo sit merito quaeque notata dies
- 'sacra wirst du (wieder) kennenlernen, erforscht aus alten Annalen, und
35
Vgl. dazu Lieberg 1973; Rüpke 2005. Myers 1994, 96 weist daraufhin, daß Cie.
Ac. 1.3 die aitiologische Dimension von Varros Werk hervorhebe.
36
Zu Properz' viertem Buch vgl. Weeber 1977; Loehr 1996, 70-87; Fantham 1997.
37
Vgl. dazu Loehr 1996, 97 Anm. 90: "Im Gegensatz zu den bisherigen Interpreten,
die 'sacra' eng als 'Festgebräuche' oder 'sacred rite'... fassen, möchte ich unter 'sacra'
allgemein 'Heiliges' verstehen." Allerdings gibt es in Rom keine derartige Kategorie des
'Heiligen'; aufschlußreicher ist hier die wörtliche Übersetzung von sacer als 'allem, was
den Göttern gehört', vgl. dazu Scheid 1998, 24; Rüpke 2001, 14.
38
Zum Titel vgl. Rüpke 1994. Die Fasti sind in den letzten Jahren zu einem belieb-
ten Gegenstand der Ovidforschung geworden; es finden sich zahlreiche interessante Ar-
beiten, die in ihren Textlektüren sowohl der literarischen als auch der (religions)-
politischen Qualität des Werkes gerecht werden, ζ. B. Miller 1991; 1992a; 1992b; New-
lands 1995; Barchiesi 1997; Feeney 1998, 123-131; Merli 2000; Prescendi 2000; Miller
2002; Fantham 2002.
39
Diese und die folgenden Übersetzungen nach Loehr 1996, 88-90.
212 Katharina Waldner
aus welchem Grund jeder Tag sein Zeichen hat' (1.7-8). Im zweiten
Proömium schließlich findet sich die explizite Anknüpfung an Properz:
Idem sacra cano signataque tempora fastis - 'Ebenso besinge ich die sac-
ra und die Zeiten, die in den Fasten gekennzeichnet sind' (2.7).
Ovid schreibt - wie Jörg Rüpke (1994) herausstellt - nicht selbst einen
römischen Kalender, sondern er schreibt über den römischen Kalender
und die mit jedem Tag verbundenen inschriftlichen und antiquarischen
Kommentare; ebenso schreibt Properz über die Topographie Roms und
deren Repräsentation. Aitia, causae, sind das Werkzeug, mit dem sich das
in narrativer Form dargebotene Wissen über die sacra in den Kalender
und den Stadtplan Roms einfügen läßt. Die griechische Praxis der aitiolo-
gischen Dichtung verbindet sich bei Properz und in Ovids Libri fastorum
fest mit der zeitlichen und räumlichen Ordnung der sacra der Stadt Rom.
Kalender und Stadtplan waren in Rom zu sehen: Inschriftlich festgehalten
auf Holz, Bronze und Marmor machten sie Augustus' Projekt der Wieder-
herstellung der sacra und weiterer Gebäude der Stadt sichtbar. 40 Die
monstra der Metamorphosen Ovids hingegen bevölkern einen Raum, der
nach Ansicht Herders "weder Griechenland noch Italien" ist.41 Um so
überraschender mag es auf den ersten Blick erscheinen, daß sich auch in
diesem Werk römischer Dichtung Aitien finden, die sich auf konkrete
sacra beziehen.
40
Zum Kalender vgl. Rüpke 1995; zu Vorstellung und Repräsentation des geogra-
phischen Raums in Augusteischer Zeit vgl. Nicolet 1988, zum Stadtplan 158-160; zur
literarischen Repräsentation Roms vgl. auch Edwards 1996; zu Augustus' Baupolitik vgl.
ζ. B. Zanker 1987.
41
So die bei J. W. Goethe, Dichtung und Wahrheit, 2. Teil, Buch 10, Weimarer Aus-
gabe I, 27, 320 zitierte Ansicht Herders, die von Albrecht 1981 zum Ausgangspunkt sei-
ner Überlegungen unter dem Titel "Mythos und römische Realität in Ovids Metamorpho-
sen" macht (2329).
42
Vgl. dazuLoehr 1996, 127.
Griechische und römische Aitiologie in Ovids Metamorphosen 213
43
Feeney 1991, 188-205, zur älteren Literatur 189 Anm. 3; besonders einflußreich
waren Knox 1986 und Hinds 1987; vgl. auch Myers 1994, 1-26 und die Beiträge in Har-
die 2002 und Weiden Boyd 2002.
44
Schmidt 1990, 202; vgl. auch Loehr 1996, 157.
45
Schmidt 1991; vgl. Loehr 1996, 127-147, 366; Auflistung der Natur-Aitien ("Ai-
tien in der Tradition des Nikander") 148-151.
214 Katharina Waldner
einigen Stellen Aitien erzählt, die sich auf sacra, Altäre, Tempel oder Kul-
te beziehen. Sowohl für Myers (1994) als auch für Loehr (1996) steht der
Bezug zu Kallimachos im Vordergrund. So ordnet Loehr die Aitien, die
sich auf sacra ("Kulte/Kultbilder/Riten/Spiele") beziehen, gemeinsam mit
Verstirnungen und topographischen Namens-Aitien in die Kategorie "The-
men in der Tradition des Kallimachos" ein (1996, 144); Myers (1994, 15)
stellt fest, daß Aitien für "geographical, mythical, religious, and cultural
phenomena" fast immer einen Bezug auf das Werk des Kallimachos impli-
zieren. Die Häufung derartiger Aitien in den beiden letzten italisch-römi-
schen Büchern der Metamorphosen sei darüber hinaus auch in Bezug auf
Ovids eigene Fasti zu sehen.46 Einen anderen, deutlich religionsgeschicht-
lich orientierten Zugang wählt hingegen Graf: Er fragt nach der "etiologie
religieuse" in den Metamorphosen und kommt zum Ergebnis, daß diese
sich auf Gottheiten beschränke, die tatsächlich oder aufgrund literarischer
Tradition weitverbreitet und allgemein bekannt waren oder dem römisch-
italischen Pantheon angehörten. 47 Aus dieser Perspektive erscheinen bei
Graf Apotheosen, in denen zwar von der Vergöttlichung, nicht aber von
der sich daran anschließenden kultischen Verehrung der neuen Gottheit
die Rede ist, ebenfalls als "etiologie religieuse" - während sie sowohl bei
Myers als auch bei Loehr fehlen. Andererseits vermißt man bei Graf
beispielsweise die Verwandlung von Philemon und Baucis, obwohl am
Ende der Erzählung betont wird, daß sie in ihrer Baumgestalt kultisch
verehrt wurden {Met. 8.722-724). Ein interessanter Streitfall ist auch die
bekannte Erzählung über die Verwandlung der lykischen Bauern in Frö-
sche (6.313-381). Sie beginnt mit der harmlosen Frage, wem der Altar am
Ufer eines Sees in Lykien gehöre (6.329-330), und dürfte demnach
durchaus als Kult-Aition bezeichnet werden. Sie wird von Graf nicht be-
handelt; Loehr ordnet sie (allerdings eingeklammert) unter die Natur-
Aitien ("Themen in der Tradition des Nikander") ein; Myers hingegen be-
handelt sie unter dem Aspekt des Bezugs auf Kallimachos. 48
Ich möchte im folgenden in einem kurzen Durchgang der Kult-Aitien
in den Metamorphosen versuchen, beide Perspektiven zu berücksichtigen,
sowohl die religionsgeschichtliche als auch die literarische.
46
Myers 1994, 16 mit Verweis auf Lafaye 1904, 234-235 und Knox 1986, 65-83.
47
Graf 1988, 62; vgl. auch 2002.
48
Loehr 1996, 148; vgl. auch die Bemerkungen 142 Anm. 226; Myers 1994, 83-90.
Griechische und römische Aitiologie in Ovids Metamorphosen 215
49
Zanker 1987,58-61.
50
Loehr 1996, 139-141; Kallimachos, Victoria Berenices, SH 254-265; zur Diskus-
sion des Kallimachos-Textes vgl. die Literatur bei Loehr 1996, 139 Anm. 217. Syed 2004
zeigt, daß Ovid sich auch bei der Fortsetzung der Geschichte auf Kallimachos bezieht,
und zwar auf dessen Hymnen·, vgl. auch Feeney 1998, 72.
216 Katharina Waldner
sehen Dichtung auf römische sacra anwendet, wie dies etwa bei Properz
der Fall ist. Dies ist bereits selbstverständlich; neu ist vielmehr, daß eine
Erzählung, die sich aitiologisch auf den Mittelpunkt der griechischen Welt
bezieht, so weitergesponnen wird, daß sie sich auf einmal in ein Aition
verwandelt, das auf Rom und den Palast des Augustus auf dem Palatin
angewendet werden kann. Die kult-aitiologische Funktion des griechi-
schen Mythos wird dabei zwar auf den ersten Blick zugunsten der anthro-
pologisch-natur-aitiologischen Dimension (Liebesgeschichte, Lorbeer-
baum) zurückgestellt, wie Feeney betont,51 - doch gleichzeitig wird sie in
den neuartigen Kosmos der Metamorphosen integriert und erhält damit
einen ganz neuen Status: Der Lorbeerbaum, die mit seinen Zweigen ge-
schmückten Apollostatuen - mögen sie in Delphi, auf dem Palatin oder
irgendwo sonst in der bekannten Welt stehen der Schmuck der Jüng-
linge beim Triumphzug und der Schmuck des Palastes des Augustus in
Rom: Sie alle lassen sich durch eine einzige Geschichte erklären. Auch die
zeitliche Dimension der einfachen aitiologischen Erzählung - ein Phäno-
men der Gegenwart wird mit einer Geschichte aus der Vergangenheit
erklärt - erfährt eine bemerkenswerte Erweiterung: Die aitiologische Ver-
knüpfung des griechischen Mythos mit den römischen Bräuchen ist zu-
gleich die erste Prophezeiung des vates der Metamorphosen (Feeney 1998,
74). Der religiöse Bereich, die Statuen und Feste der Götter, erweisen sich
als ideales Feld, um diesen zeitlich und räumlich weit ausgreifenden im-
perialen Gestus zu inszenieren - nicht nur im Text des Ovid, sondern, wie
wir wissen, auch in der römischen Politik.52 Ovid allerdings ist kein Reli-
gionspolitiker, sondern Dichter. Es überrascht deshalb nicht, daß er in
einer ganzen Gruppe von kult-aitiologischen Erzählungen, der wir uns nun
zuwenden werden, das aitiologische Erzählen und die damit verbundenen
literarischen Traditionen selbst zum Thema macht.
51
Feeney 1998, 70-74; vgl. Graf 1988, 62.
52
Zu dieser Dimension von Ovids Werk vgl. Habinek 2002; für die lateinische Lite-
ratur allgemein: Habinek 1998. Zur Augusteischen Religionspolitik vgl. oben Anm. 29.
Griechische und römische Aitiologie in Ovids Metamorphosen 217
53
Zum internen Erzähler: Myers 1994, 73 mit Hinweis auf Barchiesi 1989; vgl. auch
Barchiesi 2002; zu Kallimachos: Myers 1994, 83-90.
54
Nikander bei Ant. Lib. 35 (vgl. Menekrates von Xanthos, Lykiaka: FGrH 769, 2);
vgl. Börner 1976, 93.
218 Katharina Waldner
55
Myers 1994, 85-86; Börner 1976, 105.
56
Prop. 4.9; vgl. Börner 1976, 105.
57
Zanker 1987, 177-184.
58
Zu Ovids Thematisierung der Fiktionalität vgl. Feeney 1991, 225-232 mit Ver-
weisen auf die ältere Literatur; vgl. auch die nächste Anm.
59
Vgl. zu dieser Episode Graf 1988, 65-67; Feeney 1991, 229-232; Myers 1994, 91-
93.
Griechische und römische Aitiologie in Ovids Metamorphosen 219
richte nur flcta, 'Erfundenes', da er die Götter für allzu mächtig halte
(8.614-615). Die Empörung ist groß (obstipuere omnes), und um zu be-
weisen, daß die Macht der Götter unbegrenzt sei, erzählt der greise Lelex
nun das Schicksal von Philemon und Baucis (8.617-618). Daß sein Bericht
nicht zu den ficta gehöre, sondern den Tatsachen entspreche, stellt Lelex
heraus, indem er auf die für das Kult-Aition typische Verankerung in der
Realität außerhalb des Erzählten 60 ebenso wie auf seine Traditionalität
hinweist: Er selbst, so beteuert er gleich zu Beginn, habe in Phrygien die
von einer Mauer umfriedeten Bäume, eine Eiche und eine Linde, gesehen:
Ipse locum vidi (8.622). Am Ende der Geschichte wiederholt er die Beteu-
erungsformeln: Die Geschichte habe er von Greisen gehört, die bestimmt
nicht lügen würden, und er selbst hätte Kränze in den Bäumen gesehen
und sich spontan an der kultischen Verehrung beteiligt, indem auch er
einen Kranz hinzufügte mit den Worten: Cura deum di sint et qui coluere
colantur - 'Götter seien die, um die sich die Götter sorgten, sie sollen ver-
ehrt werden, die selbst verehrten' (8.724).
Da Lelex nicht mit dem Erzähler des gesamten Epos, geschweige denn
mit dem Autor identisch ist, können diese Beteuerungen zwar das interne
Publikum, nicht aber den Leser beruhigen. Sie machen ihn im Gegenteil
erst darauf aufmerksam, daß in diesem Text - anders etwa als in den sich
explizit auf den römischen Festkalender beziehenden Fasti - auch der
Kult, der durch die aitiologische Erzählung erklärt wird, zumindest erfun-
den sein könnte. Zudem findet sich im Bericht des Lelex selbst ein Hin-
weis auf den zweifelhaften Status dieses Kultes: Daß Philemon und Baucis
als Götter verehrt werden, ist lediglich eine plausible und gleichzeitig vor-
sichtig fromme Vermutung des Lelex, nachdem er die in den beiden Bäu-
men aufgehängten Kränze gesehen und die zugehörige Erzählung gehört
hat. Erkennt der Leser außerdem noch den Bezug auf Kallimachos' He-
ede,so entsteht der vom Autor wohl intendierte Eindruck, daß hier ein
vates am Werk ist, der die rhetorischen Strategien aitiologischer Erzählun-
gen ebenso kennt wie die mit ihnen verbundenen literarischen Traditionen,
und der dieses Wissen souverän anwendet, um selbst ein neues Kunstwerk
zu schaffen. 62 Diskutiert wird, so Feeney (1991, 231), nicht nur über die
Macht der Götter, sondern auch über die Macht der Dichtkunst. Wie aber
60
Vgl. dazu oben S. 209-210.
61
Börner 1977, 195; Myers 1994, 91.
62
Feeney 1991, 229 mit Verweis auf Conte 1986, 63.
220 Katharina Waldner
steht es mit der (religions)politischen Macht, mit deren ganz realen Aus-
wirkungen sich Ovid spätestens seit seiner Verbannung direkt konfrontiert
sah? Ist der von Barchiesi beschriebene "Augustan discourse", in dem das
Erzählen von Aitien, die Verbindung einer neuen politischen Konstellation
mit der ererbten Tradition, eine so wichtige Rolle spielte, nicht auch in
erster Linie ein sprachliches Phänomen - so daß wir Ovids poetologische
Darstellung des aitiologischen Verfahrens als Kommentar zu dieser Di-
mension Augusteischer Politik lesen könnten? 63 Besonders virulent er-
weist sich diese Frage für die in auffällig großer Zahl auftretenden Kult-
Aitien der beiden letzten Bücher der Metamorphosen. Hier geht es um
wichtige Kulte in Italien und Rom: die Verehrung der Götter Indiges (Ae-
neas), Quirinus (Romulus) und seiner Gattin Hersilia (Hora), das bekannte
und von Livia geförderte Heiligtum der Diana Aricia, die Einführung des
Aesculapius-Kultes auf der Tiberinsel, schließlich die kultische Verehrung
von Caesar und Augustus. Sofort fällt auf, daß sich hier die traditionell
aitiologische Thematik der Neugründung von Kulten mit dem politisch
aktuellen Diskurs der Apotheose verbindet, deren Beschreibung wiederum
in der Tradition des Epos steht.64
63
Barchiesi 1997,214-237.
64
Vgl. zum 14. und 15. Buch Myers 1994, 95-132; zu den Apotheosen Feeney 1991,
205-224; ferner Barchiesi 1997, 114-119.
65
Vgl. Myers 1994, 113 und 132; Graf 1988, 68. Varro Ant. rer. div. fr. 6-11 Car-
dauns. Zur theologia tripertita bei Varro vgl. Lieberg 1973; Lieberg 1982; Rüpke 2005.
Der Begriff theologia tripertita ist nicht antik, sondern wurde von modernen Interpreten
an Stelle des überlieferten tria genera theologiae (fr. 7 Cardauns) verwendet. Nach Lie-
berg 1982 stammt das Schema, das vermutlich auch Cicero und Ovid kannten, aus der
hellenistischen Philosophie; Rüpke 2005 allerdings vermutet, daß die Systematisierung
verschiedener, bereits aus der griechischen Doxologie bekannter theologiae auf ausge-
rechnet drei genera eine Leistung Varros sein könnte.
Griechische und römische Aitiologie in Ovids Metamorphosen 221
Allerdings ist die Erklärung eines Kultes in Italien oder Rom nicht per
se 'religiöser' als beispielsweise die im ersten Buch geschilderte Einset-
zung der Pythischen Spiele durch Apollo oder die Begründung eines Dia-
na-Altars in Lykien. Und auch im 14. und 15. Buch finden wir, eingestreut
in die illustre Reihe altehrwürdiger Kulte des Aeneas, des Romulus und
seiner Gattin Hersilia, zwei aitiologische Erzählungen, in denen Ovid
einmal mehr in der bereits im letzten Abschnitt beschriebenen Weise seine
eigene Souveränität im Umgang mit der aitiologischen Tradition auch auf
italisch-römischem Terrain vorführt: 66 Im 14. Buch berichtet einer der Ge-
fährten des Odysseus, Macareus, daß ihm während seines Aufenthaltes bei
Circe, in einem 'geweihten Raum' (aedes sacra) die Marmorstatue eines
Jünglings mit einem Specht auf dem Kopf gezeigt worden sei (Met. 14.
310-315). Macareus stellt einer Dienerin der Circe die für die Kult-Aitio-
logie typischen Fragen: Wer die Statue sei, warum in diesem Raum sacra
durchgeführt würden und warum die Statue einen Vogel auf dem Kopf
trage (14.316-317). Die Antwort der Magd allerdings macht den aufmerk-
samen Leser bereits mißtrauisch: Sie will von der Macht (potentia) ihrer
Herrin Circe erzählen (14.318). Sollte ihre Geschichte nicht eigentlich das
Aussehen der Statue und ihren Kult begründen? Tatsächlich führt die nun
folgende Erzählung über Picus, den Großvater des Latinus, und seine
Frau, die für ihren Gesang berühmte Nymphe Canens, sowohl geogra-
phisch als auch in anderer Hinsicht weit weg von der Ausgangsfrage
(14.319-434). 67 Circe verwandelt den König der Latiner aus Zorn über ihre
unerwiderte Liebe in einen bunten Vogel, der mit seinem Schnabel wütend
ins Holz der Bäume schlägt. Was als Kult-Aition begonnen hat, endet in
einem typischen Natur-Aition: Picus ist der erste Specht in den latinischen
Wäldern. Ihm bleibt nichts als sein Name (14.388-396). Das Kultbild
scheint vergessen, und damit nicht genug: Die Erzählung geht noch weiter
und endet schließlich mit dem Aition für einen Ort namens Canens, der
die Stelle bezeichnet, wo sich die gleichnamige Nymphe aus Trauer über
den Verlust ihres Gatten in Luft auflöst (14.432-434).
Auffällig ist hier die Bewegung von der griechischen Tradition, der
Homerischen Figur der Circe und dem kult-aitiologischen Beginn ä la
Kallimachos, hin zum kosmogonischen Natur-Aition (novam ... avem:
14.390-391) und von da zu einem Aition, das eine Ortsbezeichnung in Ita-
66
Myers 1994, 104-132.
67
Ausführliche Interpretation bei Myers 1994, 104-113; vgl. Loehr 1996, 142-143.
222 Katharina Waldner
lien begründet. Dies alles ist jedoch - darüber läßt Ovid keinen Zweifel -
ein Werk der Musen: Die altitalischen Camenae haben den Ort, der an
keiner anderen Stelle bezeugt ist, nach der Frau des Picus benannt
(14.434). Myers (1994, 109) vermutet, daß Ovid diesen Ort ganz einfach
erfunden haben könnte und somit die auf die Tradition verweisenden
Wörter fama und veteres hier selbstironisch verwendet wären; dies würde
in etwas abgemilderter Form auch gelten, wenn er sich auf eine sehr abge-
legene, in literarischen Vorbildern unbekannte Version beziehen würde,
was meines Erachtens nicht auszuschließen ist. Hinzu kommt, daß die
Camenae ihrerseits, wie Myers selbst herausstellt, mit dem berühmten von
Numa geweihten Hain mit Quelle bei der Porta Capena assoziiert wur-
den.68 Auch Macareus ist vermutlich eine Erfindung Ovids, die über die
Figur des Achaemenides wiederum mit Vergils Aeneis verknüpft wird. 69
Dort ist auch die Verwandlung des Picus in einen bunten Vogel erwähnt
(A. 7.189-191); allerdings ist Circe nach der Version der Aeneis die Gattin
des Picus und somit die Großmutter des Latinus (7.189). 70 Von einer
Statue des Picus ist auch bei Vergil die Rede: Sie steht unter anderen alten
Standbildern aus Zedernholz im Hof des ehemaligen Palastes des Lau-
rentiner-Königs (7.177-189). 71 Nur bei Ovid aber ist belegt, daß diese
Statue einen Specht auf dem Kopf trägt und in einem Heiligtum im Haus
der Circe steht. Vielleicht sollte man insgesamt nicht von 'Erfindung'
sprechen, sondern eher von einem raffinierten neuen Arrangement bereits
vorhandener Elemente. 72 Der Bezug zu Italien garantiert also keineswegs
eine deutlich 'religiösere' Ausrichtung der Aitiologie. Vielmehr scheint es
Ovid darum zu gehen, zu zeigen, daß es längst eine - natürlich von der
alexandrinischen inspirierte - italisch-römische Tradition aitiologischen
Erzählens gibt, die mit Hilfe der Camenae beliebig weitergesponnen wer-
den kann. Und so verwundert es nicht, daß in den letzten beiden Büchern
der Metamorphosen das zweite Aition, das sich in Kallimacheischer Ma-
68
M y e r s 1994, 110 vermutet, daß Ovid sich eigentlich darauf beziehe; vgl. auch
Börner 1986, 143. Zum Musenheiligtum des Numa: Liv. 1.21.3; vgl. auch Plu. Num. 13.
69
Achaemenides ist ein Gefährte des Odysseus, der sowohl bei Ovid (Met. 14.159),
w o er ein Gespräch mit Macareus fuhrt, als auch bei Vergil (Α. 3.614; 691) erwähnt wird.
Vergil bezeichnet ihn als comes infelicis Ulixis (A. 3.691), Ovid hingegen nennt Maca-
reus comes experientis Ulixis; vgl. Myers 1994, 104.
70
Zur Überlieferung vgl. Morton 1988.
71
Vgl. die Diskussion dieser B e z ü g e auf Vergil bei M y e r s 1994, 107-108. Die
Gestalt des Picus erscheint auch in Ov. Fast. 3.291-322; vgl. Börner 1986, 108-109.
72
Vgl. Börner 1986, 108-109.
Griechische und römische Aitiologie in Ovids Metamorphosen 223
nier auf eine Statue bezieht, schließlich eine griechische, auf Zypern spie-
lende Geschichte ist, die ein altrömischer Gott erzählt, um damit eine itali-
sche Nymphe zu verfuhren.
Diese spielerisch-erotische Geschichte (Met. 14.623-771)73 - übrigens
die letzte und gleichzeitig eine der wenigen glücklich endenden Liebesge-
schichten der Metamorphosen - folgt unmittelbar auf die episch-pompös
erzählte Apotheose des Aeneas: Die Nymphe Pomona, deren Beschrei-
bung als hamadryas ... Latina (14.623-624) "amusingly contradictory"
(Myers 1994, 115) einmal mehr auf die Verschränkung von Griechischem
und Latinischem anspielt, ist eine leidenschaftliche Gärtnerin - für die
Freuden der Venus hingegen interessiert sie sich nicht. So verschmäht sie
den in sie verliebten Gott Vertumnus, der, wie schon sein Name sagt, über
Verwandlungskraft verfügt. Er nähert sich der Angebeteten, in der die
puella dura der Liebeselegie zu erkennen ist,74 in verschiedenen Gestalten,
und als auch dies nichts hilft, erscheint er ihr schließlich als alte Frau, die
der Nymphe den Vertumnus wärmstens als Ehemann empfiehlt. Durch
eine kult-aitiologische Erzählung, angekündigt als facta, die in ganz Zy-
pern bekannt seien, will die Greisin das Mädchen vor dem Zorn der Göt-
ter, insbesondere der Venus, warnen und sie so von ihrer abweisenden
Haltung abbringen (14.694-697).
Der Inhalt der nun folgenden Geschichte, die mit großem dramaturgi-
schem Aufwand erzählt wird, läßt sich sehr kurz zusammenfassen
(14.699-761): Iphis, ein Junge humili de Stirpe creatus, 'von niederer Her-
kunft', verliebt sich in die vornehme Anaxarete. Diese verschmäht ihn,
und schließlich erhängt er sich. Als die hartherzige Anaxarete den Lei-
chenzug vom Fenster aus erblickt, wird sie in Stein verwandelt. Noch
heute sei ihre Statue in Salamis zu sehen; auch gebe es dort einen Tempel
der 'schauenden Venus' (Venus Prospiciens), was die Wahrheit der Ge-
schichte, die Pomona bitte nicht für flcta halten möge, beweise (14.759-
762).75
Einmal mehr geht es um die 'Macht' der Dichtkunst, die durch die
humorvolle Ironisierung des Wahrheitsanspruchs aitiologischen Erzählens
zur Geltung gebracht wird: Zu Beginn beruft sich die Erzählerin auf ihr
73
Myers 1994, 113-126.
74
Myers 1994, 123.
75
Auf Zypern ist tatsächlich der Kult einer Aphrodite Parakyptusa bezeugt; vgl.
dazu Fauth 1967; Börner 1986, 214.
224 Katharina Waldner
eigenes Alter und die große Bekanntheit der Geschichte; am Ende soll die
Existenz der Statue auf Zypern beweisen, daß es sich nicht um ficta
handle. Während auf der Ebene der Erzählung klar ist, daß der Gott Ver-
tumnus ad hoc eine Geschichte erfindet, um an seine erotischen Ziele zu
kommen, vermutet der Leser zu Recht, daß es sich in Wahrheit um eine
abgelegene antiquarische Version handeln könnte. 76 Der Witz dieser Stelle
liegt nicht nur darin, daß diese zyprische Geschichte einem in eine alte
italische Bäuerin verwandelten Gott in den Mund gelegt wird, und in dem
sich daraus ergebenden humorvollen Kontrast, 77 sondern es geht auch
darum, zu demonstrieren, daß Ovids Dichtkunst räumliche und kulturelle
Grenzen zu überschreiten vermag, auch und gerade auf dem per se immer
lokal gebundenen Gebiet des Kult-Aitions.
Ausgerechnet in dieser humoristischen Geschichte spricht Ovid impli-
zit von konkreten sacra der Stadt Rom. Die Statue des Gottes Vertumnus
stand mitten in der Stadt, im Vicus Tuscus, der das Forum Boarium mit
dem Forum Romanum verband; außerdem hatte Vertumnus einen Tempel
auf dem Aventin. 78 Das zweite Gedicht von Properz' viertem Elegienbuch
ist dem Gott Vertumnus gewidmet, dessen Statue Auskunft gibt über die
Etymologie seines Namens, der sich - entgegen anderer Versionen - aus
seiner Verwandlungsfähigkeit ableite. In Ovids Fasti hingegen behauptet
eine alte Frau, der Name des Vertumnus gehe auf die Tatsache zurück, daß
er die Fluten des Tibers abwende (Fast. 6.395-416). Allerdings sind diese
sacra für Ovid Dichtung, und er selbst verfährt mit ihnen als Dichter: Ver-
tumnus wird, der Gattung des Epos entsprechend, zu einer mythologischen
Figur. Tatsächlich: Di quoque carminibus, sifas est dicere, fiunt... (Pont.
4.8.55-56) - 'Auch die Götter, wenn es zu sagen erlaubt ist, entstehen
durch Gedichte ...\ 7 9
Aber die Götter und ihre sacra werden nicht von Dichtern allein ge-
macht. In den das letzte Buch der Metamorphosen abschließenden kult-
aitiologischen Passagen häufen sich nicht nur die Apotheosen, sondern
76
Bei Ant. Lib. 39 ist eine Erzählung überliefert, die ihrerseits auf eine Episode aus
dem 2. Buch von Hermesianax' Leontion (fr. 4 Powell) zurückgeht: Es geht hier um die
Liebe des Arkeophon zu Arsinoe, der Tochter des Nikokreon, der 332-331 v. Chr. König
von Salamis wurde (vgl. D.S. 19.79.5). Interessanterweise ist die Geschichte zumindest
in der Form, wie sie uns bei Antoninus Liberalis erhalten ist, mit keinem Aition verbun-
den.
77
Myers 1994, 122.
78
CIL I 2 , 325; Liv. 44.16.10; Cie. Ver. 2.1.54; Hör. Ep. 1.20.1; Fest. p. 228 Lindsay.
79
Vgl. oben Anm. 28.
Griechische und römische Aitiologie in Ovids Metamorphosen 225
80
Vgl. Ov. Fast. 7.735-769; Verg. A. 7.761-782; vermutlich war die Geschichte
auch bei Kallimachos erzählt (fr. 190 Pf.). Vgl. dazu Myers 1994, 127-129.
81
Graf 1988, 61.
82
Hdt. 2.41.2 (Isis); 2.153; 3.27.1; 3.28.2 (Apis-Stier). Seit hellenistischer Zeit ist
die Gleichsetzung von Io und Isis allgemein verbreitet; in der römischen Literatur ζ. B.
bei Prop. 2.33.7-15.
226 Katharina Waldner
führlicher erzählt. Auf Bitte der Venus nimmt Neptun 'alles Sterbliche'
von ihnen, verleiht ihnen 'verehrungswürdige Majestät' (maiestas veren-
det), eine 'neue Gestalt' und einen 'neuen Namen' (4.539-542). Mit maies-
tas verenda steht auch hier der kultische Bereich an erster Stelle.83 Wie im
Falle von Isis und Apis wird jede konkrete Lokalisierung vermieden, so
daß der Eindruck eines überall verbreiteten Kultes entsteht. Dies ist um so
auffälliger, als Ovid in den Fasti diese Apotheose im Zusammenhang mit
dem Aition für die römischen Matralia erwähnt (6.473-568), wo Leuco-
thea und Palaemon mit den römischen Göttern Matuta und Portunus
gleichgesetzt werden. 84
Bevor Ovid im 14. und 15. Buch mit den Berichten über Aeneas, Ro-
mulus und Caesar die Verbindung von Kulteinrichtung und Apotheose
weiterdenkt, erzählt er im 9. und 10. Buch die Vergöttlichung des Hercu-
les und des Glaucus. In beiden Fällen steht dabei "the epic procedure of
apotheosis" (Feeney 1991, 206) im Vordergrund, die Erzählung fokussiert
auf die Vorgänge in der Welt der Götter, in der sich die menschlichen
Verhältnisse spiegeln. Im Falle des Hercules schlägt ein autoritärer Juppi-
ter die Vergöttlichung seines Sohnes in einer Götterversammlung vor, die
- wie schon ihr Pendant im ersten Buch - an eine vom Kaiser geleitete
Senatssitzung erinnert (9.241-261). 85 Die traditionelle euhemeristische
Deutung der Apotheose des Hercules, nach der er aufgrund seiner Leistun-
gen zum Gott wird, tritt dagegen in den Hintergrund. Nachdem alles
Sterbliche aus Hercules entfernt ist, entfuhrt ihn Juppiter in einer Quadriga
zu den Sternen (9.265-272). Es geht allein um die Macht (und Willkür) der
Götter; die Verehrung des Hercules durch Menschen, etwa an der ara
maxima in Rom, wird nicht erwähnt. 86 In den Fasti hingegen (1.581)
richtet Hercules selbst seinen eigenen Kult ein, eben die ara maxima}1 Im
Falle des Glaucus, eines Fischers, der auf wundersame Weise in einen
Meergott verwandelt wird, greift Ovid eine sowohl in griechischer als
auch lateinischer Dichtung weitverbreitete, mit dem Aition eines Orts-
83
Nach Börner 1967, 167 steht bei Ovid verendus außer in Pont. 2.7.35 immer in
religiösem Kontext.
84
Vgl. dazu Salzmann 1998, 323-324.
85
Nach Feeney 1991, 207 spricht Juppiter im "jargon of imperial apotheosis"; zur
Götterversammlung in Met. 1.199-205 vgl. Feeney 1991, 199-200.
86
Feeney 1991, 211 betont, daß die Apotheose des Hercules das Ergebnis 'olympi-
scher Machtpolitik' sei.
87
Vgl. dazu Barchiesi 1997, 98.
Griechische und römische Aitiologie in Ovids Metamorphosen 227
namens verbundene Erzählung auf und verwandelt sie in eine episch ge-
staltete Apotheose. 88 Bemerkenswert ist hier, daß sowohl Eigeninitiative
als auch die individuelle Erfahrung des Divinisierten eine große Rolle
spielen, denn Glaucus erzählt seine eigene Apotheose in Ich-Form, um
damit Scylla, in die er sich verliebt hat, zu beeindrucken: Er ißt aus Neu-
gier von einem Kraut, bei dessen Berührung die von ihm gefangenen Fi-
sche wieder lebendig werden, und springt von unwiderstehlichem Zwang
getrieben ins Meer, wo ihn Thetys und Oceanus auf Bitten der Meeres-
götter zu einem der ihren machen {Met. 13.919-965). Auch hier besteht die
eigentliche Apotheose darin, daß alles 'Sterbliche' entfernt wird, ein Vor-
gang, den Glaucus mit dem Verb lustrare als 'Reinigungsritual' be-
schreibt, das ihn von allem nefas, 'Frevel', befreit habe (13.950-955).
Bei den auf einer breiten literarischen Tradition beruhenden Apotheo-
sen des Hercules und des Glaucus verzichtet Ovid darauf, eine kult-aitio-
logische Dimension miteinzubeziehen; die von ihm wohl als erstes aus-
führlich erzählten Apotheosen von Io/Epaphus und Ino/Melicertes hinge-
gen verbindet er in origineller Weise mit einer Begründung der kultischen
Verehrung der neuen Götter. Um so auffälliger ist vor diesem Hintergrund
sein Vorgehen im 14. Buch: Ausgerechnet in den von der lateinischen epi-
schen Tradition vorgegebenen Erzählungen der Divinisation des Aeneas
und des Romulus werden nun die beiden Bereiche - die zum epischen Stil
gehörende Schilderung des Wirkens der Götter auf der einen, die Be-
schreibung kultischer Verehrung durch Menschen auf der anderen Seite -
so direkt miteinander verbunden, daß dies geradezu als stilistischer Bruch
empfunden werden kann. 89
Was bei Vergil in einer kurzen Prophezeiung Juppiters versprochen
wird, nach der Venus ihren Sohn Aeneas dereinst 'zu den Sternen erhe-
ben' werde (A. 1.259), erzählt Ovid ausführlich (Met. 14.581-608). Wie
bei Hercules spielt 'olympische Politik' die entscheidende Rolle, und so
muß Venus, trotz der allgemein anerkannten virtus des Aeneas (14.581-
582), ihren Vater flehentlich um die Erlaubnis zur Apotheose bitten, was
88
Myers 1994, 98-104. Im böotischen Anthedon wurde die Stelle gezeigt, an der
Glaukos ins Meer gesprungen war; vgl. Paus. 9.22.6-7; bezeugt sind Darstellungen bei
Euanthes, Hedyle und Nikandros (Ath. 7.295b-297c), Kallimachos (Suda s. v.), Q. Corni-
ficius (Macr. 6.5.13), Cicero (Plu. Cie. 2.3.861). Glaukos ist ζ. T. fischgestaltig (PI. R.
61 ld; Philostr. Jun. Im. 2.15); nach Paus. 9.22.7 hat er Wahrsagekräfte. Arist. fr. 490
Rose bezeugt ein Orakel des Glaukos (gemeinsam mit den Nereiden) auf Delos.
89
So Feeney 1991, 208 über die Apotheose des Romulus: "Ovid has an odd few
lines which return us to the contemporary world of cult."
228 Katharina Waldner
90
Feeney 1991,207.
91
Zur älteren Tradition über die Entrückung des Aeneas vgl. Börner 1986, 153-155.
Zum Heroon des Aeneas vgl. Liv. 1.2.6; D.H. Antiquitates Romanae 1.64.4-5. Somella
1981 glaubt in dem 100 Meter südöstlich der 13 Altäre ausgegrabenen Grab mit tumulus
das Heroon des Aeneas identifizieren zu können; weitere Quellen und Literatur zum He-
roon des Aeneas finden sich bei Somella 1981, 291.
Griechische und römische Aitiologie in Ovids Metamorphosen 229
ditionelle Erzählungen über das Ende des Romulus. 92 Diese kreisen alle
um das Motiv, daß Romulus am Ende seines Lebens plötzlich auf rätsel-
hafte Weise verschwunden sei, wofür zwei sehr verschiedene Erklärungen
überliefert sind. Nach der einen hatte sich Romulus zum Tyrannen entwik-
kelt und wurde von den versammelten Senatoren in Stücke gerissen und
heimlich begraben 93 - ausgerechnet auf diese düstere Geschichte spielt
Ovid mit der Bemerkung non regia iura an. Spätestens seit Ennius' Er-
zählung von der Apotheose des Romulus entwickelte sich jedoch eine als
Korrektur der angeblich 'falschen' Berichte über die Ermordung des Kö-
nigs angeführte Version, die unter anderen Ovid in seinen Fasti erzählt
und unmittelbar mit der Errichtung des Tempels für Quirinus auf dem
Quirinal verbindet: Nach seinem Verschwinden seien die Senatoren zu
Unrecht verdächtigt worden, bis Romulus dem Iulius Proculus auf dem
Weg von Alba Longa nach Rom erschienen sei und seine Verehrung als
Gott Quirinus verlangt habe, worauf der Tempel auf dem Quirinal errich-
tet wurde (Fast. 2.475-512). Auffällig ist, daß alle uns erhaltenen Quellen
immer beide Erklärungsvarianten in Kombination überliefern, so daß es
unmöglich ist zu bestimmen, welche von beiden die ältere ist.94 Für die
Gleichsetzung von Romulus und Quirinus ist jedoch Cicero unser ältester
Zeuge (N.D. 2.62). Und auch wenn dieser terminus post quem sehr un-
sicher ist, bleibt es doch unbestritten, daß die Verehrung des Romulus und
seine Verbindung zu Quirinus ein prominentes Motiv der Religionspolitik
sowohl Caesars als auch des Augustus war: 95 Der Name des Iulius Pro-
culus verweist auf die gens Iulia; Caesar ließ seine Statue im Quirinus-
Tempel aufstellen; 96 im Giebel des von Augustus 16 ν. Chr. neu errichte-
ten Quirinus-Tempels war das Augurium des Romulus dargestellt; 97 eine
in Pompeii gefundene Inschrift entspricht mit großer Wahrscheinlichkeit
der Aufschrift, die die Romulus-Statue im Forum des Augustus trug: Ro-
92
Zur Romulus-Mythologie vgl. Burkert 1962; Ungern-Sternberg 1993.
93
Liv. 1.16.4; D.H. Antiquitates Romanae 2.56; Plu. Rom. 27.
94
Burkert 1962 hält die Erzählung von der Zerreißung des Romulus für älter, dage-
gen argumentieren Bremmer/Horsfall 1987, 46-47 und Ungern-Sternberg 1993, 102.
95
Gegen Cicero als terminus post quem·. Ungern-Sternberg 1993. Burkert 1962 plä-
diert dagegen mit meines Erachtens plausiblen Argumenten für die Möglichkeit, daß die
Gleichsetzung von Romulus und Quirinus erst im Zuge von Caesars Politik zustande-
kam.
96
Cie. Att. 12.45.3; 13.28.3; D.C. 43.45.3; weitere Belege für Caesar und Romulus-
Quirinus bei Burkert 1962.
97
Zu Augustus und Romulus vgl. Beard/North/Price 1998, 182-184.
230 Katharina Waldner
98
CIL I 2 , 189 IV.
99
CIL I 2 , 1891 = CIL X, 8348.
100
Zanker 1987, 204-205; vgl. auch 197 und Beard/North/Price 1998, 199-201.
101
Feeney 1991, 210-212 hebt diesen Gegensatz hervor.
102
Vgl. dazu den Kommentar von Börner 1986, 454: "Diese artige Adresse an den
Kaiser ist um so höher einzuschätzen, als sie nicht plumpe Schmeichelei ist, sie entspricht
den Tatsachen ..."
Griechische und römische Aitiologie in Ovids Metamorphosen 231
suus - 'Daß er als Gott in den Himmel steigt und in Tempeln verehrt wird,
das wirst du bewirken und sein Sohn'(15.818-819).
Konkret geschildert wird dann allerdings nur der Anteil der Venus,
und zwar zuerst in der Rede des Juppiter (15.840-842), dann in direkter
Erzählung (15.845-850). Wie schon im Falle des Romulus verzichtet Ovid
auf die klassische Formulierung, nach der 'alles Sterbliche' aus dem Divi-
nisierten entfernt wird.103 Stattdessen heißt es, Venus werde seine 'Seele'
(anima) aus dem Körper in den Himmel entführen, wobei sie sich in einen
Stern verwandle (15.840-841). Ist Caesar, ähnlich wie Romulus, schon zu
Lebzeiten den Göttern so wesensverwandt, daß es keinerlei Reinigung von
sterblichen Anteilen mehr bedarf? Suggeriert diese eigenartige Parallele,
daß es die politische Macht ist, die beide, sowohl Romulus als auch Caesar
- und damit auch Augustus schon zu Lebzeiten zu Göttern macht? Der
sich dem Leser aufdrängende Vergleich mit den Apotheosen der Götter-
söhne Hercules, Aeneas und Romulus macht aber auch noch etwas ganz
anderes deutlich: Caesar war nach seinem Tod nicht einfach verschwun-
den; wenn sich Ovids Zeitgenossen noch an etwas erinnerten, dann mit
Sicherheit an die Ermordung und die pompöse Bestattung des Diktators,
an seinen toten Körper, der mitten auf dem Forum verbrannt wurde. 104
Ebenso verweist die Bitte um Aufschub des Tages, an dem Augustus 'zum
Himmel steigt', um von dort - und deshalb absens, 'abwesend' - die Ge-
bete der Menschen zu hören (15.868-870), auf die Realität des physischen
Todes als Voraussetzung für die 'Apotheose', die im Falle des Augustus
allein in der kultischen Verehrung durch Menschen besteht, die weiterhin
ihre Bitten, nun eben Gebete, an ihn richten werden.
3. Schluß
Seit archaischer Zeit läßt sich die kulturelle Praxis aitiologischen Erzäh-
lens in literarischen Texten der griechischen Kultur nachweisen. Der Son-
derfall einer 'religiösen Aitiologie', d. h. die Aussonderung jener Erzäh-
lungen, die sich auf Tempel, Kultbilder, Feste und bestimmte Rituale be-
ziehen, ist zum einen das Konstrukt einer religionsgeschichtlichen Lektüre
103
Zu den verschiedenen Möglichkeiten der Formulierung des konkreten Vorgangs
der Verwandlung bei Apotheosen vgl. die Diskussion bei Börner 1977, 352-354.
104
Zur Bestattung Caesars vgl. Price 1987, 72; vgl. auch North 1975.
232 Katharina Waldner
der für das elegische Aition so typische räumliche und zeitliche Bezug
fehlt. Es ist wichtig zu wissen, daß Aeneas und Romulus, deren Statuen
das Forum Augusti zieren, Götter sind und verehrt werden; der Bezug auf
Lavinium und auf Rom ist so selbstverständlich wie unwichtig, ebenso
wie man nicht fragt, wo genau nun Isis oder Hercules verehrt werden.
Ovids Gedicht soll schließlich überall gelesen und verstanden werden,
quaque potet domitis Romana potentia terris - 'wo Römer bezwungene
Länder beherrschen' (15.877).
Katharina Waldner
Seminar für Religionswissenschaft, Universität Erfurt
234 Katharina Waldner
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Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher.
Literatur und Religion im griechischen Roman
1
Zu den TV-Assoziationen vgl. Holzberg 1986, 11; zum negativen Bild des Romans
im 19. Jahrhundert, das die Forschung lange prägte, vgl. Rohde 1876 als Ausgangspunkt.
2
Vgl. Bierl 2006, 72-77.
240 Anton Bierl
eine bürgerliche Ehe führen und leben wie im Märchen glücklich vereint,
bis daß der Tod sie scheidet.3
Innerhalb der letzten vier Jahrzehnte hat sich das oben beschriebene
negative Urteil grundlegend geändert. Der Roman wird seitdem als span-
nendes kultur- und literaturwissenschaftliches Phänomen erkannt. Plötz-
lich forscht man nicht nur über den möglichen Ursprung der Gattung.
Gender-Fragen, moderne Theorie und Erzählforschung finden in den Pro-
satexten auf exemplarische Weise Anwendung, so daß gerade auf diesem
Feld die Klassische Philologie ihre Anschlußfähigkeit an die aktuelle Gei-
steswissenschaft unter Beweis stellen kann. Zunehmend verschafft sich
die Erkenntnis Raum, daß der Roman eben nicht triviale Massenliteratur,
sondern ein ausgefeiltes Kunstprodukt darstellt, das sich in der Tendenz
der Zweiten Sophistik intertextuell auf die Blüte der griechischen Literatur
der Archaik, Klassik und des Hellenismus bezieht.4
Für die hier vorliegende Fragestellung ist dieses literarische Genre von
besonderer Relevanz. Denn Religion ist im Roman omnipräsent. Überall
treffen wir bei der Lektüre auf Mythen, Rituale und Glaubensvorstellun-
gen, vor allem auf Reflexe eines lebendigen Mysterienwesens. Theologi-
scher Synkretismus und Verweise auf das Arsenal und die Epiphanien
alter olympischer sowie internationaler neuer Gottheiten, Aberglaube,
Zauber, Magie, Orakel und Traumvisionen finden sich in den Romanen in
besonders auffälliger Weise.5
Mythen und Rituale fungieren, so Stephen Greenblatt, als Zentren der
'Zirkulation sozialer Energie'. 6 Nach Gerhard Neumann verarbeitet und
diskutiert Literatur als "'hybrides', Metastasen bildendes Teilsystem" und
"Wucherung gewissermaßen im Gewebe der Kultur" gerade diese poten-
tialträchtigen Diskurse (2000, 52). Riten und Mythen werden demnach vor
allem zu "Generatoren von Handlungs- und Erzählmustern in dichteri-
schen Texten" (19). Und weiter (52):
3
Vgl. Holzberg 1986, 20-21; Bierl 2006, 72.
4
Vgl. ζ. B. Fusillo 1989; Bierl 2002.
5
Vgl. den guten Überblick bei Stark 1989; Doody 1996, 160-172; Edsall 2000/2001.
Vgl. auch Altheim 1948. Für den byzantinischen Roman der Komnenenzeit vgl. Harder
2000, zum antiken Roman ebd. 57-62. Vgl. demnächst auch Zeitlin 2008; eine vorläufige
Druckfassung dieser nützlichen Synthese erhielt ich leider erst nach Beendigung des Ma-
nuskripts.
6
Greenblatt 1988, 7-24 zitiert bei Neumann 2000, 19 Anm. 1.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 241
Literatur - und im weiteren Sinne andere ästhetische Akte - erweisen sich ihrer-
seits als j e n e Rituale, die, als Elemente im Gewebe der Kultur, die Dysfunktio-
nalität von Ritualen in Szene setzen, debattieren, unterlaufen, affirmieren oder
experimentell durcharbeiten.
Exakt diese Rolle scheinen die Mythen und Riten zu übernehmen, nämlich
eine Geschichte in Gang zu setzen und eine narrative Ermöglichungs-
struktur zu liefern. Wenn man das Corpus der Romane daraufhin unter-
sucht,7 fällt ins Auge, daß ein großer prozentualer Anteil aus Szenen
besteht, die mythische Gehalte oder rituelle Handlungen fokussieren, was
die These ihrer textgenerierenden und -strukturierenden Funktion bestä-
tigt. In der literarischen Form werden zudem die den mythisch-rituellen
Formen unterlegten Inhalte verhandelt und imaginär durchgespielt.
7
Die benutzten Ausgaben und Übersetzungen finden sich am Ende des Beitrags in
der Bibliographie.
8
Vgl. Bierl in Band I.
9
Vgl. die Einschränkungen bei Bierl in Band I, 2-7, bes. 6; Calame in Band I, 179-
181. Vgl. auch mein Vorwort in Band I, ix-x.
242 Anton Bierl
10
Grethlein hat hierzu in Band I, 153-157 schon Entscheidendes gesagt.
11
Vgl. mein Vorwort in Band I, xiii gegen Schlesier in Band I.
12
Warning 1999, 320-321; vgl. Castoriadis 1975. Zum Liebesdiskurs im Roman vgl.
Bierl 2002, 8-9; 2006, bes. 74-75, 82-87.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 243
13
Vgl. Warning 1999, 324-325. Zum Bild und in Bewegung versetzter Bildlichkeit
im Roman vgl. Bartsch 1989 und nun Morales 2004; vgl. auch Roilos in diesem Band.
14
Burkert 1990a und Most 1990.
15
Zum Foucaultschen Begriff des Gegendiskurses vgl. Warning 1999, 316-322.
16
Vgl. Grethlein in Band I, 153-155, bes. 154.
244 Anton Bierl
Mit ihrer Hilfe kann man zwischen dem 'Selbst' und dem 'Anderen' ver-
handeln und vermitteln.17
Nach dem eben Dargelegten ist es notwendig, den Liebesroman aus dem
Wesen des Eros zu definieren und topologisch mit dem Imaginären zu
verbinden. Der Raum wird im Liebesroman als Projektionsfläche des Ver-
langens benötigt. Liebe als Diskurs der Abwesenheit entäußert sich in dem
konstitutiven Mangel als Raum, welcher wiederum Raum freigibt für die
Fiktion.18 Das assoziative Gleiten in Sprache und Ort macht den Roman zu
einer Reise voller Abenteuer. Diese ist aber keine Reise, auf der man sich
in der Begegnung mit dem Fremden selbst erfahren kann, sondern, wie im
folgenden gezeigt werden wird, eine innere, metaphorische Irrfahrt, wel-
che die für heranwachsende junge Menschen krisenhafte Schwellensitua-
tion der Hochzeit als rite de passage thematisiert, debattiert, bestätigt und
unterminiert.19
Die Romanautoren bedienen sich der Grundkonstellation der Liebe,
der Unvollständigkeit und der gleitenden Übertragung auf einen Dritten,
und dehnen sie in der Phantasie mittels einer Kettentechnik, die von Wie-
derholung und mit Metaphern wie auch Metonymien arbeitender Variation
bestimmt wird, zu einem längeren syntagma aus.20 Das für den Eros cha-
rakteristische Gefühl der Lücke entäußert sich im Raum und in der
Sprache. Der Liebende empfindet die Sehnsucht nach dem Partner, wobei
die Bedrohung und Gewalt durch Dritte sich in räumlicher Trennung und
Abenteuern manifestieren. Der Raum steht in Beziehung zur Liebe und
zur Narration. Ohne räumliche Trennung kann es keine Geschichte des
Verlangens und der Prüfungen durch Außenstehende geben. Die notori-
schen Räuber und Piraten verkörpern das Privative, durch das der Mangel
sich perpetuiert.
17
Vgl. Attridge 2004.
18
Zum folgenden vgl. Bierl 2006.
19
Vgl. dazu D o w d e n 1999, 231-238 und nun Lalanne 2006. Vgl. auch Whitmarsh
1999.
20
Vgl. Bierl 2002, 8-9 mit Verweis auf Carson 1986, 77-95. Zur 'Triangulation' vgl.
auch Fusillo 1989,219-228.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 245
21
Bierl 2006, bes. 82-93 (speziell zu Xenophon von Ephesos). Zum T r a u m im
R o m a n vgl. Bowersock 1994, 77-98; Doody 1996, 405-420; vgl. auch MacAlister 1996,
bes. 33-43, 70-83, 84-114, die besonders die A u f d e c k u n g des Verborgenen, der Phanta-
stik und das Ausleben der Phantasie im Eskapistischen betont. Zum Traum bei Chariton
vgl. Auger 1983.
22
Vgl. Bartsch 1989, 80-108, die das narratologische Potential der Irreführung und
der Vorschau hervorhebt; vgl. auch MacAlister 1996, 70-83.
23
Vgl. Bierl 2006, 85-86.
24
Jakobson 1974, 137-138. Brooks 1984, bes. 37, 55-56, 58-59, 105, 234, 278-279
verbindet Erzählung und narrativen Plot mit Lacans Konzept des Begehrens und dessen
sprachlicher Umsetzung.
246 Anton Bierl
25
Vgl. Alexiou 2002, bes. 317-319.
26
Vgl. Ferrari 2002, bes. 61-86.
27
Vgl. Fernandez 1977; 1986; 1991.
28
Vgl. Alexiou 2002, 317-348.
29
Alexiou 2002,319-324.
30
Alexiou 2002, 318, insgesamt 317-410.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 247
31
Vgl. Alexiou 2002, 153.
32
Alexiou 2002, 152-155.
248 Anton Bierl
33
Vgl. Alexiou 2002, 211-314; 2004. Zum Phantastischen vgl. Ackermann 1994
und Renger 2006b.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 249
("Nachwort über die Methode"). Zu Kerenyi vgl. Henrichs 2 0 0 6 a , auch mit guter
Verarbeitung der Einflüsse ( 6 3 - 6 6 ) , insbes. von Reitzenstein 1906. Vgl. auch Barchiesi
1988, 3 5 2 - 3 5 4 .
3 7 Kerenyi 1927, Index s. v. 'Aretalogie , -isch'; Merkelbach 1994; 1995, 3 4 0 - 3 4 8 ;
zu einer Zusammenfassung von religiösen Erzählungen als Ursprung des Romans vgl.
Edsall 2 0 0 0 / 2 0 0 1 , 115-116.
38 Bowersock 1994, zum 'Säkularen' 121-143 mit Bezug auf Frye 1976.
250 Anton Bierl
39
So Merkelbach 1962; 1988; 1995.
40
Bei Heliodor ζ. B. Dowden 1996.
41
Winkler 1980; 1982; 1985a. Vgl. auch Jones 1980 und Sandy 1982.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 251
über,42 deren Titel "Lollianos and the Desperadoes" (1980) die Verfechter
Merkelbachscher Thesen implizit selbst zu 'Verzweiflungstätern' stilisiert.
Es geht also darum, ob eine Seite der beiden Begriffe Literatur und Reli-
gion die andere dominiere. Zudem wird immer wieder über die Ernsthaf-
tigkeit des religiösen Anliegens gestritten, ohne dabei der Freiheit der
Imagination nach generisch vorgegebenen Mustern den nötigen Platz ein-
zuräumen. Daniel Seiden (1994, bes. 48-51) hat diesbezüglich eine mitt-
lere Position vorgetragen, die durchaus Gültigkeit beanspruchen kann. Im
Sinne der Figur der syllepsis, die für den Roman insgesamt typisch sei,
könne man solche rituellen Szenen gewissermaßen doppelt lesen und
deuten. Die mehrfache Determinierung zeigt also dem Eingeweihten und
in den fremdländischen Riten Erfahrenen Bekanntes an, mit dem er sich
identifizieren kann, andererseits dürfte dies aber kaum für den allgemeinen
Leser gelten. Dieser sieht Grusel-Szenerien wie bei Lollianos nur als skur-
riles Konglomerat, als Anhäufung ihm völlig fremder Riten, die das Ge-
fühl des 'Anderen' hervorrufen. Die Syllepse macht also beide Positionen
mitunter möglich; meist dürfte aber doch die Analyse von Winkler zutref-
fen, daß solche Beschreibungen auf einer assoziativen Ansammlung gat-
tungstypischer Momente beruhen.
Längst ist also der Zeiger in Richtung der Literarizität ausgeschlagen,
ohne daß man freilich das genaue Beziehungsgeflecht des gegenseitigen
Ineinander auf der Grundlage der Gattung in Gänze erforscht hätte. Ver-
woben mit dieser forschungsgeschichtlichen Thematik ist die Frage, ob
Literatur bloße Unterhaltung sei oder nur der Erbauung beziehungsweise
einem anderen Zweck diene. Beides im Sinne einer Verbindung, also ein
prodesse et delectare (Hör. Ars 333), wird wohl eher der Wahrheit ent-
sprechen. Das prodesse muß freilich wie das delectare einer genaueren
Analyse unterzogen werden. Die Mythen, Rituale und religiösen Inhalte
dienen nicht unbedingt der reinen Unterweisung, sondern können in sich
wieder ein Element der Verunsicherung, der Hinterfragung und Problema-
tisierung tragen. Dies geschieht um so mehr, als wir damit in besonderer
Weise in ein Reich des Imaginären aufbrechen, welches das Fiktionale mit
Leben erfüllt.
42
Vgl. auch Sandy 1979.
252 Anton Bierl
Heteroglossie
43
Vgl. die literarische Studie von Edsall 2000/2001; in vergleichender Perspektive
vgl. Harrison 2007. Vgl. demnächst auch Zeitlin 2008.
44
Zum dialogischen Prinzip des Romans nach Michail Bachtin vgl. Bachtin 1981,
bes. 259-422. Vgl. auch Nimis 1999; Roilos 2004. Zur Heteroglossie und Amphotero-
glossie vgl. auch Roilos in diesem Band.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 253
45
Vgl. Bierl 2001.
46
Zur Zweiten Sophistik vgl. Borg 2004.
47
Zur Intertextualität im Roman vgl. Fusillo 1989; zu Sappho und Chariton vgl.
ζ. B. Bierl 2002.
48
Zur Odyssee vgl. u. a. Papadopoulou-Belmehdi 1994 und unten Anm. 83; vgl.
u. a. Bierl 2003 (zu Sappho); 2001 (zur Komödie); 1994 (zur Tragödie). Vgl. Bierl in
Band I, 23-25.
254 Anton Bierl
Gleichberechtigte Liebe oder der Fokus auf die Frau als vermittelndes
Zeichen
Wie Margaret Alexiou (2002) gehe ich von einer von Brüchen und Über-
lagerungen gekennzeichneten partiellen Kontinuität der spätantiken, by-
zantinischen und neuzeitlichen imaginären Mentalitätsstrukturen gerade
im mythisch-narrativen Volksgut der Griechen aus.49 Mythen "als traditi-
onelle Erzählung mit sekundärer und partieller Referenz auf etwas von
kollektiver Bedeutung" 50 vermitteln zwischen Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft, Wahrem und Falschem, Mündlichkeit und Schriftlichkeit,
Alltäglichem, Heiligem und Kosmischem. 51 Alte, schon literarisch überlie-
ferte Mythen, hier vor allem aus dem Epos und der Tragödie bekannte
Sagen, stehen neben mündlichen Wanderlegenden, auf die man in immer
neuen Varianten reagiert und repliziert. Diese Geschichten besitzen ein
narratives und fiktionales Potential, das sich sprachlich in einer Kette von
Metaphern und Metonymien äußert. Aus dem Alltagsbereich und Lebens-
zyklus gewonnene Metaphern stellen zugleich die Grundlage für rituelle
Handlungen dar. Viele nachantike griechische Erzählungen und volks-
tümliche Lieder inszenieren in hochpathetischer und phantastischer Weise
Krisen und Angstzustände, wodurch sie selbst nahezu rituelle Funktion
haben können. Ein wichtiges Thema stellt gerade auch die Welt des jun-
gen Mädchens in der Pubertät und die dramatische Schwellensituation der
Hochzeit dar. Die Frau, die in den Romanen der Liebe entsagt und doch
mit der Sexualität konfrontiert wird, ist eine ideale Vermittlerin. Sie medi-
49
Diese Kontinuität ist Basis des den beiden Bänden zugrundeliegenden Konzepts
für das Symposion mit dem Titel "Literatur und Religion: die Griechen, vorher, nachher
und heute. Mythisch-rituelle Strukturen im Text". Von den nämlichen Prämissen gehen
auch Yatromanolakis/Roilos 2004 und Roilos in diesem Band aus.
50
Übersetzt nach Burkert 1979, 23.
51
Alexiou 2002, 153.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 255
52
Alexiou 2002; zu den Tagträumen und Machtphantasien vgl. auch Heiserman
1977, 75-93 (zu Chariton).
53
Vgl. Rohde 1876, 383 (1. Aufl. 356) und nun auf neuer Grundlage Haynes 2003,
81-100. Vgl. auch Konstan 1994, 15-26, der freilich die Passivität der männlichen Helden
als Zeichen der Gleichberechtigung in Sachen Liebe liest.
256 Anton Bierl
54
Vgl. Alexiou 2002, 151-171, bes. 162-167, 211-265; 2004, 105-109; sie spricht zu
Recht von "magic realism" in diesen phantastischen Erzählungen (112-117).
55
Bes. Bachtin 1981, 86-110 (dt. Bachtin 1989, 9-38). Vgl. nun zu Bachtin und dem
Roman Branham 2005 mit meiner Rezension in M H 63, 2006, 227-228.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 257
56
Branham 1995 und 2002 bestätigt grundsätzlich Bachtins These. Vgl. aber Bierl
2006, 73. Konstan 1994, 46-47 hebt hervor, daß auch die Zeit durchaus ein notwendiges
Kriterium für die charakterliche Entwicklung der gattungstypischen sexuellen Symmetrie
zwischen beiden Helden darstelle. Einer Revision unterziehen die Theorie auch Whit-
marsh 2005, bes. 113, 116-119 und Ballengee 2005, bes. 135-137.
57
Winkler 1990; Laplace 1991; 1994; Kussl 1992; Morgan 1994; 1996 (wo er
wiederholt von "Bildungsromari" spricht und exakt auf den Z u s a m m e n h a n g mit Bachtin
eingeht, 166); 2004; Lalanne 2006; Alvares 2007.
58
Vgl. Bierl 2006, 87-88.
258 Anton Bierl
(1.10.7-11.1), doch, so heißt es, 'es besänftigte sie in allem die gemein-
same Schiffsreise' (παρεμυθεΐτο δ' αυτούς εις απαντα ό μετ' αλλήλων
πλους, 1.11.1). Unmittelbar danach stürzen beide in den alptraumartigen
Strudel der phantastischen und schrecklichen Ereignisse, die Trennung
und unendliches pathos verursachen (1.13-5.8), bis sie zuletzt nach einer
Irrfahrt über das Mittelmeer, die sie von Ephesos über Ägypten bis nach
Unteritalien führt, in Rhodos wiedervereint werden. Nach der Rückkehr
leben sie in Ephesos glücklich wie im Märchen bis ans Ende ihrer Tage
(5.15).
Παραμυθεΐσθαι ist in diesem Zusammenhang wohl ein Verbum, das
in selbstreferentieller Weise den in der Performanz oder im Vorlesen aus-
gespielten Inhalt der erotischen Irrfahrten und am Körper ausagierten
Greuel, die παραμύθι, bezeichnet. Diese Wundererzählung bewirkt in der
Grenzüberschreitung vom Realen ins Phantastische, daß das 'Andere' in
einer spezifischen Krisensituation, nämlich an der Schwelle der jungen
Menschen zum Erwachsenendasein, ausagiert wird. Im Erzählen und Hö-
ren einer solchen populären Geschichte können, so meine These, die damit
verbundenen Ängste und traumatischen Vorstellungen auf fast rituelle
Weise bearbeitet, ja, in einer fast magischen Form des 'Gegenanspre-
chens' geheilt werden.
59
Vgl. dazu Bierl in Band I, 26-28; Merkelbach 1962; 1988; 1995. Über die mythi-
sche Figur des Daphnis wollte Wojaczek 1969 im Anschluß an Merkelbachs Longos-
Interpretation (1962, 192-224) schließlich sogar die Bukolik mit der dionysischen
Mysterientradition der β ο υ κ ό λ ο ι verbinden und in der Nachfolge von Reitzenstein (1893,
204-228, bes. 204-208) den dionysischen Ursprung erweisen, was methodisch ebenso
fragwürdig bleibt. Zur Kritik vgl. Geyer 1977, 179-183.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 259
Nach Merkelbach reinszenieren die Helden die Geschichte von Isis und
Osiris. Ihre Hochzeit entspricht dann der Initiation, die Reise ist Sinnbild
der Leiden im diesseitigen Leben, das im griechisch-ägyptischen Myste-
rienkult durchgespielt wird. Die stereotype Anordnung der Abenteuer wird
als Beweis des religiösen Sinns gelesen. Das vom Geliebten getrennte
Mädchen spielt demnach Isis auf ihrer Suche nach Horos-Osiris. Der
Treueeid ist als Eid der Mysten zu verstehen, die restlichen Abenteuer,
besonders Geißelungen und Scheintode, entsprechen den Prüfungen des
Initianden. Jedes θαρρεΐν wird folglich als Anspielung auf die feste My-
sterienformel interpretiert. Der obligatorische Schiffbruch kommt laut
Merkelbach einer Taufe gleich. Kreuzigung, Nilabenteuer, Fesselung und
Mumifizierung bezieht er ebenfalls auf Rituale des Osiris. Weil neben Isis
andere Göttinnen wie Artemis hervortreten, greift Merkelbach auf das
Mittel des Synkretismus zurück, um Isis mit Artemis gleichzusetzen. Und
da Helios bei Xenophon und Heliodor eine prominente Rolle spielt, nimmt
Merkelbach sogar eine spätere Überarbeitung an.60
Die hierbei herangezogenen Textstellen mit angeblich mystischem
Sinnpotential deutet man nach der heftigen Kritik an dieser Position heute
meist als gattungsspezifische Versatzstücke der literarischen Komposi-
tion.61 Winkler hat, wie oben beschrieben, in heftigen Debatten mit An-
hängern dieser religiösen Ursprungsthesen der innerliterarischen Richtung
mit entscheidenden Arbeiten den Weg geebnet. 62 Beck (1982; 1996) ge-
lingt eine Vermittlung, indem er zeigt, daß sich die Ansätze von Winkler
und Merkelbach eigentlich gegenseitig ergänzen. Seiner Ansicht nach
teilen die Romane mit den Mysterien die Auseinandersetzung mit den
Themen der Rettung sowie der τελετή und der δρώμενα. Insgesamt argu-
mentierten Merkelbach und seine Gegner in der Tat aneinander vorbei.
Die Mysterien stellen für den Roman wohl kaum die sakralen "Wurzeln"
dar, und noch viel weniger erfährt der Kult der Eingeweihten seine Be-
gründung in einem literarischen Text aus spannenden und pathetischen
60
Diese Methode erinnert in mancherlei Weise an eine esoterische Arkandisziplin.
Die Verstehenslücke wird mit einem Geheimnis, von dem wir wenig wissen, aus dem
W e g geräumt. Zudem werden neuzeitliche Kategorien als Erwartungshorizont an den
Text gelegt; er muß angeblich in einer bestimmten Form sein, ist es aber nicht, weil er re-
ligiös ist; 'religiös' wird dementsprechend mit 'geheimnisvoll-andersartig' gleichgesetzt.
61
Zur Kritik an Merkelbach vgl. Berti 1967; Geyer 1977; Turcan 1963; 1989.
62
Winkler 1980; 1982; 1985a. Vgl. auch Holzberg 1986, 50, 75 und Versnel 1993,
71.
260 Anton Bierl
63
So Merkelbach 1962, 333.
64
Merkelbach 1962; 1988; 1995; Witt 1971 (zu X.Eph.); Chalk 1960 (zu Longos).
65
Vgl. Burkert 1987, 107-108 (dt. Burkert 1990b, 91).
66
Ζ. B. zu Longos vgl. Rohde 1876, 549-554 (1. Aufl. 516-517). Zur Autorstrategie
der Lust und des begehrlichen Blicks vgl. Goldhill 1995, 1-45.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 261
67
Vgl. Konstan 2006, 11-27; Ramelli 2005.
68
Vgl. nun Burrus 2005.
69
Vgl. Krummen in diesem Band.
70
Vgl. D o w d e n 1996. Zu Heliodor und der Religion vgl. den Überblick bei Futre
Pinheiro 1991a, 359 mit Anm. 1.
262 Anton Bierl
71
Vgl. Plepelits 1989, 29-69; er verweist auf das Vorbild mystisch-allegorischer
Deutungen des antiken Romans von Seiten byzantinischer Gelehrter (29-30); solche Inter-
pretationen haben seiner Meinung nach nichts mit Merkelbach zu tun (30 Anm. 78).
72
Vgl. dagegen Alexiou 2002, 111-127, 256, 304, 346; sie liest den Roman als Ent-
deckung der Sexualität.
73
Vgl. u. a. Schmeling 1974, 137-138, 141; Garcia Gual 1992; Epstein 1995, bes.
68-73; Laplace 1991, bes. 36-47; Couraud-Lalanne 1998a; 1998b; Whitmarsh 1999;
Dowden 1999; 2005. Monographische Behandlung erfährt diese These erst bei Lalanne
2006; vgl. die ausführliche Rezension von D. Konstan in BMCR 2006.09.05. Zur Initia-
tionsstruktur des Romans vgl. Burkert 1987, 66-67 (dt. Burkert 1990b, 56-57); Whit-
marsh 1999; Dowden 1999; 2005; Alvares 2007, bes. 3.
74
Vgl. Versnel 1993,51-74.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 263
aristokratischen Gesellschaft, wobei sich die Frau dem Mann im οίκος und
in der Polis ganz zu unterwerfen hat. Ziel sind Hochzeit und Ehe, die Ge-
burt von Kindern, um die Aufrechterhaltung der männlichen Linie zu
sichern. Beim männlichen Jugendlichen steht die Erziehung zu den kriege-
rischen Werten im Zentrum, schließlich die Hochzeit und Gründung einer
Familie. Sehr gut lassen sich diese Motive bei Chariton verfolgen. 75
Lalanne hat diese Thematik des Übergangs der Altersklassen jüngst aus-
führlich behandelt. 76 Es ist allerdings fraglich, ob die Romane wirklich zur
paideia und Identitätsbildung der kleinasiatischen Griechen der adeligen
Oberschicht unter der Herrschaft der Römer in der Kaiserzeit dienen
konnten, wie dies andere Texte der Zweiten Sophistik tun. Nach dem Vor-
bild der archaischen Phase versucht Lalanne, einen soziohistorischen
Kontext nach einem literarischen Text zu bestimmen, und vergißt dabei
eventuell den literarischen Sonderstatus, seine Alterität. Daher will ich
weniger den kulturwissenschaftlich-historischen als den strukturellen
Aspekt der narrativen Orientierung an Pubertätsweihen betonen. Daphnis
und Chloe basiert ganz und gar auf dieser Makrostruktur, aber auch in der
Mikrostruktur finden sich hier wie in allen Romanen zahlreiche Hinweise
auf die Initiation von Jugendlichen. 77 Longos komponiert aus dieser The-
matik einen archetypischen Ur-Mythos, nämlich wie zwei naive Hir-
tenkinder über vier Bücher hinweg heranreifen, um zum vollständigen
Vollzug ihres erwachenden sexuellen Triebs zu gelangen. Den Akt der
endgültigen Vereinigung als τέλος fuhren sie schließlich - in der Konven-
tion eines patriarchalen adligen Wertekodexes - erst in der Hochzeitsnacht
durch. Entgegen Lalanne (2006, 183-274), die darin aus althistorischer
Perspektive neben der politischen Identitätsbildung mit anderen auch ei-
nen Beitrag zur Konstruktion der Gender-Rolle der Leserinnen und Leser
sieht, möchte ich den innerliterarischen und ironisch-parodischen Aspekt,
kurzum den Spiel- und Imaginationscharakter dieser Texte betonen. Die
Initiation ist meines Erachtens weniger in der kaiserzeitlichen Gesellschaft
als vielmehr in den archaischen Bezugstexten von zentraler Bedeutung.
Wir haben also auch hier wieder ein typisches Phänomen der Intertextuali-
tät, -ritualität, -performativität und -diskursivität vorliegen. In der Archaik
verarbeitet gerade Lyrik, ζ. B. die Lieder eines Alkman oder einer Sap-
75
Vgl. Schmeling 1974, 137-138, 141; Balot 1998; Couraud-Lalanne 1998b.
76
Für alle fünf großen griechischen Liebesromane vgl. Lalanne 2006, 101-180.
77
Vgl. u. a. Garcia Gual 1992; Epstein 1995.
264 Anton Bierl
78
Vgl. u. a. Calame 1977; Bierl 2003.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 265
Initiation
Initiationen weisen als Passageriten strukturelle Ähnlichkeiten mit vielen
volkstümlichen Erzählungen auf,80 so daß eine enge Verzahnung der Ro-
mane mit diesem Paradigma zu erwarten ist. Zunächst werfe ich noch
einen Blick darauf, wie die Thematik der Initiation sich äußert und wie sie
79
Im einzelnen kann ich hier auf meinen ausführlichen Beitrag in Band I verweisen.
80
Vgl. Ruiz-Montero 1988; Nolting-Hauff 1974a; 1974b (nach der Erzählanalyse
von Propp 1928). Vgl. nun auch Renger 2006a, 180-199. Zur Initiation vgl. auch Bierl in
Band I, 23-25. Zu oralen Zügen bei X.Eph. vgl. O'Sullivan 1995; Ruiz-Montero 1994,
1096-1109; 2003; König 2007.
266 Anton Bierl
81
Vgl. Burkert 1966; 1979, 6-7; 1996, 69-79 (interessanterweise anhand von
Apuleius' Psyche). Im Roman vgl. u. a. Ach.Tat. 3.15-22.
82
Zu E. / T u n d dem Initiationsthema vgl. Wolff 1992; Bierl 1994, 94-95. Zum
Mythos der Iphigenie im initiatorischen Zusammenhang vgl. u. a. Dowden 1989, 9-47.
83
Vgl. Hölscher 1988, 251-258; Auffarth 1991; vgl. die Z u s a m m e n s t e l l u n g bei
Versnel 1993, 69-73. Vgl. auch Ingalls 2000; Toher 2001. Zur Odyssee als rite de pas-
sagevgl. Segal 1994, 12-84.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 267
84
Bierl 2001, 218-219, 280-282.
85
Zum Pferd als Schlüsselsymbol der j u n g e n Mädchen an der Schwelle zum Frau-
sein vgl. A l k m a n s großes Partheneion fr. 1. Zu A g i d o und Hagesichora als möglichen
V e r k ö r p e r u n g e n der Leukippiden ( ' W e i ß - P f e r d e n ' ) vgl. u. a. N a g y 1990, 346. Ihre
gleichnamigen Priesterinnen heißen ' F o h l e n ' . Zum Fohlen als Metapher der jungen Frau
in der Initiation vgl. Calame I 1977, 340, 411-420 (engl. Calame 1997, 195, 238-244).
86
Vgl. Bierl 2 0 0 1 , 4 5 - 5 1 .
87
Vgl. Burkert 1996, 70-71; Kledt 2004, bes. 38-57.
268 Anton Bierl
88
Laplace 1991, 36-47 bezieht sie auch auf Helena.
89
Das männliche Pendant Leukippos ist neben der Vaterfigur der Leukippiden in
Sparta mit den Ekdysia in Kreta verbunden; vgl. Dowden 1989, 62-66. Zu den Mädchen-
Mythen vgl. Burkert 1972, 189-197 (engl. Burkert 1983, 168-176); Dowden 1989, 71-95,
bes. zu Melampus 97-115.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 269
90
Vgl. Bierl 2001, 135 Anm. 73.
91
Vgl. Kl. Pauly 3, 84-85 (s. v. 'Kallirhoe') mit weiteren Quellenangaben.
92
Winkler 1985b. Vgl. dazu Bierl 2001, 34, 283-284 und Lämmle in Band I, 360-
361.
270 Anton Bierl
liehe Leben des Daphnis unter Ziegenböcken bei Longos eine neue Kon-
notation (4.17), vor allem auch deren Nachahmung (3.14.5). Bei Chariton
tragen Epheben den Sarg der tot geglaubten Kallirhoe (1.6.5). Zudem
treten zu Beginn freiende Epheben als komastische Rivalen auf, welche
die Handlung in Gang setzen (1.2-1.3.2). Epheben begleiten auch Habro-
komes bei Xenophon (1.2.2-3 und 1.2.8). Waffentänze von Epheben unter-
streichen bei Heliodor den Übergangszustand des Theagenes (3.10.3).
d) Durch Musik, Tanz und Mimus werden bei Longos Mythen und
Rollenmodelle mimetisch-performativ eingeübt (u. a. 2.36-37). Gerade der
Chortanz steht entsprechend der archaischen Situation in der Funktion der
paideia und des rite de passage,93
e) Entsprechend der Tendenz des Rituals, Gegebenheiten des Lebens-
zyklus und der Natur in den Vordergrund zu rücken, wird im Ur-Mythos
der Liebe bei Longos die Initiation von Daphnis und Chloe sehr kunstvoll
mit dem Natur- und Fruchtbarkeitszyklus synchronisiert. Im Laufe von
eineinhalb Jahren spielt sich die Geschichte vom Frühjahr bis zum Herbst
des nächsten Jahres ab. Das τέλος der Hochzeit ist mit der herbstlichen
Reife und Erntezeit des Acker- und Weinbaus parallelisiert. Die Zeit des
Hirtendaseins, in der Longos' ontogenetischer Entwicklungsroman spielt,
ist eine phylogenetische Übergangsperiode, die zum selbständigen Bauern
führt, der sich durch eigenen Anbau ernährt. Außerdem werden in der
griechischen Sprache die Sexualität und das Gebären häufig mit dem
Ackerbau gleichgesetzt. Auch Festanlässe stehen mit der initiatorischen
Grundthematik in Verbindung, so etwa dionysische Weinfeste, besonders
das Kelterfest und Winzerfest bei Longos (2.1-2; 2.31-32; 4.5; 4.33.1 und
schließlich 4.38, wo die eigentliche Hochzeit beim Kelterfest beschrieben
wird) sowie das Fest des Dionysos Protrygaios bei Achilleus Tatios (2.2-
2.3), das durch den Aristophanischen Ausdruck τρυγαν den sexuellen
Verkehr assoziiert.94 Auch die anderen Feste, die den Handlungen Kolorit
geben, stehen immer mit Gottheiten in Verbindung, die mit Liebe und
Initiation zu tun haben. Bei Chariton spielt das Aphroditefest eine große
Rolle (1.1.4). Bei Xenophon von Ephesos liefert das Artemisfest in Ephe-
sos überhaupt erst die Gelegenheit des ersten Treffens der Liebenden
93
Vgl. Pettersson 1992, 48-51; Bierl 2001, bes. 12, 34, 88, 284 Anm. 480.
94
Vgl. den Helden Trygaios und Ar. Pax 1339 sowie Henderson 1975, 65, 167. Vgl.
auch die häufige Verwendung bei Longos, bes. 4.33.2 sowie das Apfelpflücken 3.33.4.
und 3.34.1.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 271
95
Zu Ach.Tat. vgl. Morales 1995; 2004, 156-226; Mignogna 1995.
96
Vgl. dazu nun Castelletti 2006, 270-280, bes. 270-274.
97
Vgl. Schmeling 1974, 130-141; Balot 1998. Vgl. insgesamt zum Roman Lalanne
2006, 154-204.
98
Vgl. Papadopoulou-Belmehdi 1994 und oben Anm. 83.
272 Anton Bierl
99
Vgl. Morales 1995; 2004, 156-220 für Ach.Tat.
100
Zur homosexuellen Liebe im Roman aus Foucaultscher Perspektive vgl. Goldhill
1995,46-111.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 273
spielt die homosexuelle Liebe des mit dem Helden Kleitophon freund-
schaftlich verbundenen Kleinias eine große Rolle. Sein Geliebter stirbt bei
einem Reitunfall (1.12-14). Später hält Kleinias auf der Überfahrt ein Plä-
doyer für die Päderastie (2.35-36 und 2.38). Mythische Vorbilder liefern
Orestes und Pylades, Achilleus und Patroklos. Wie die schönen Frauen
von männlichen Dritten bedroht werden, so geschieht dies auch auf der
männlichen Seite durch lüsterne Päderasten, ζ. B. Korymbos bei Xeno-
phon von Ephesos (1.13.3-14.7) und Gnathon bei Longos (4.11.2-4.12;
4.16.1-4.19.2). Kleiderwechsel - beispielsweise tritt Kleitophon bei Achil-
leus Tatios als Achilleus verkleidet die Flucht an, nachdem er mit Melite
geschlafen hat (6.1.2-3) - und uneindeutiges Gender-Verhalten verwi-
schen die sexuelle Identität in der Transitionsphase. Daher sind die Frauen
im Roman notorisch stark und resolut, die Männer unentschlossen und lar-
moyant.
k) Tod und Wiedergeburt sind die herausragenden Charakteristika von
Initiationen. Die Initianden müssen symbolisch sterben, was gleichbe-
deutend mit dem Ende ihres bis dato geführten gesellschaftlichen Lebens
ist, um den neuen Status zu erlangen, was als Wiederaufleben bezeichnet
wird. Der Roman umkreist immer wieder dieses Thema, indem der Tod
der Heldinnen und Helden angeblich eintritt oder vorgetäuscht wird. In
zahlreichen Episoden werden die Figuren Todesgefahren ausgesetzt, was
die existentielle Angst vor dem Lebenseinschnitt ausdrückt. Bei Longos
(3.4.2) wird die Thematik mit dem Absterben und dem Wiederaufleben
der Natur (έκ θανάτου παλνγγενεσίαν) parallelisiert. Achilleus Tatios
gelingt es, bei der Beschreibung eines Opferspektakels durch die Ein-
engung der Perspektive auf einen Ich-Erzähler den Zuschauern in der Er-
zählung zu suggerieren, daß Leukippe bei den gewaltsamen Übergriffen
auf ihren Leib den Tod erlitten habe (Ach.Tat. 3.15-16). Durch nachge-
reichte Informationen von Seiten anderer wird dieser Eindruck als Täu-
schung aufgedeckt (Ach.Tat. 3.17.4-3.22), so daß die Heldin dann wieder
ins Geschehen eintritt, also gewissermaßen wiederaufersteht (άναβιώσε-
ται, Ach.Tat. 3.17.4). Xenophon inszeniert hingegen Wunder: der Held
Habrokomes wird gekreuzigt und dann auf den Scheiterhaufen geführt,
doch überlebt er aufgrund übernatürlicher Eingriffe (X.Eph. 4.2). Kalli-
rhoe ist bei Chariton nach einem heftigen Fußtritt ihres eifersüchtigen Gat-
ten scheintot (1.4.12), beim Aufbrechen des Grabes durch Räuber erwacht
sie und kehrt auf fatale Weise ins Geschehen zurück (αλλην έλάμβανε
παλιγγενεσίαν, 1.8.1).
274 Anton Bierl
1) Der Mythos fungiert als mover und shifter, wobei die Figuren häufig
einem Veränderungsprozeß ausgesetzt sind. Alle Romane inszenieren
Jugendliche auf dem Weg zu mündigen Erwachsenen. Das Mädchen er-
langt über einen steinigen und unsicheren Weg ihren Status als Frau, der
Junge erreicht nach tiefsten Verunsicherungen und Unklarheiten in der
Gender-Rolle zuletzt seine Mannbarkeit. Eingefügte Mythen von Meta-
morphosen können im Falle des Longos die Transformation und Über-
schreitung der krisenhaften Schwelle, die im Liminalen des Romans
debattiert wird, untermalen. Am Ende der Bücher eins bis drei werden die
Sagen von Phatta (1.27), Syrinx (2.34) und Echo (3.23) berichtet, so daß
in der zunehmenden Gewaltsamkeit der Statusveränderung schließlich
Chloes Schritt von der παρθένος zur γυνή vollzogen wird (vgl. das Ende
4.40.3; vgl. 3.24.3).101
m) Zeichen und Symbole der Initiation (Zusammenfassung) 102
Folgende Symbole und Themen sind im Roman besonders charakteristisch
für die liminale Phase:
- verkehrte Welt und rite de passage
- Tod, Wiedergeburt
- Haaropfer, Haarscheren, Kleiderwechsel: Leukippe tritt als Lakaina
kahl auf, Anthia hat ein Haaropfer dargebracht. Ein neuer Haar-
schnitt und Kleiderwechsel können ebenso die Marginalität bezeich-
nen.
- Pädagogik und Unterweisung
- rituelle Kämpfe mit Totengeistern, Tieren, Monstern und Gruppen
des 'Anderen'; Angriffe von Geistern und Wilden
- Obszönität, sexuelle Anomalien und Orgien; Homosexualität
- Raubehe und Raub
- Reise, Abenteuer und Irrfahrten
- Prüfungen
- das 'Draußen' in den Wäldern, in den Sümpfen des Nildeltas und in
der freien Natur
- βουκόλοι als ägyptische Räuberbande und Hirten:103 Hierbei ist zu
bemerken, daß das Hirtendasein als phylogenetisches Übergangssta-
101
Vgl. MacQueen 1990, 31-97.
102
Zur Initiationsmorphologie vgl. Breiich 1969, 25-44 und 60-112 (Anmerkungen).
103
Vgl. Bertrand 1988; vgl. auch Henrichs 1972, 48-51.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 275
104
Vgl. Baudy 1986, 44.
105
Plu. Lyc. 16.4; vgl. Pettersson 1992, 80.
106
Der jugendliche Führer einer ά γ έ λ η wurde Rinderfuhrer ( β ο υ α γ ό ς ) genannt
(Hsch. s. ν. βοΰα, βουαγόρ).
276 Anton Bierl
chen werden als Ausgesetzte und Fremde bisweilen von den Eltern durch
Erkennungszeichen wiedererkannt (anagnorisis). Ein Schlußbankett und
Fest bekräftigt meist die Reintegration. Ziel ist die Hochzeit bzw. ihre Be-
stätigung nach der Rückkehr in die Heimat. Die ganze Bewegung ist
manchmal mit Abläufen in der Natur und im Kosmos synchronisiert. Am
Ende wird die bestehende Ordnung hinsichtlich der sozialen Klassenzuge-
hörigkeit und der Gender-Hierarchie gefestigt.
Aus allen genannten Signifikanten wird im Roman eine Handlungs-
kette konstruiert, die sich über gleitende Metaphern und Metonymien kon-
stituiert.
1. Allgemeine Riten
Festanlässe, Prozessionen, Wettkämpfe, Tänze, Aufführungen, Opfersze-
nen, Magie, Zauber, Heilungen, Reinigungen, Beschwörungen, Eide,
Supplikationen, Orakel, Prophetie, Gebete und Tänze bilden ein wichtiges
Arsenal für die Romanhandlungen. Solche Riten stellen eine zentrale Ma-
terialbasis dar, aus der sich der Plot über Signifikantenketten weiterent-
wickelt.
Im Roman stehen vor allem Rituale des Lebenszyklus, also Hochzeit,
Bestattungsbräuche und Klage, im Zentrum. Die Hochzeit des liebenden
Paares ist τέλος, End- und zum Teil auch Ausgangspunkt der fiktionalen
Prosaerzählung. Ferner wird die Handlung durch zahlreiche Verehe-
lichungsversuche von dritter Seite verkompliziert. Tod und Hochzeit sind
schon im rituellen Symbolschema miteinander verbunden. 108 Der krisen-
107
Vgl. Bierl in Band I.
108
Vgl. Alexiou 1974; Seaford 1987.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 277
2. Opferthematik
Gerade das griechische Opfer besitzt ein großes erzählerisches und
theatrales Potential, Gewalt und Gewaltphantasien wirksam in mitreißende
Handlung umzusetzen. Im Roman ist das Opfer oft über die griechische
Tragödie intertextuell vermittelt, in der mit Vorliebe Perversionen des
rituellen Ablaufs, vor allem in Hinsicht auf das Menschenopfer, themati-
siert werden. 110 Insbesondere im Bereich des totalen 'Anderen' werden
solche abstrus-phantastischen Menschenopfer im Roman nun ausführlich
inszeniert und in ihrer ganzen Grausamkeit ästhetisch ausgeschöpft. Ähn-
lich wie in der Tragödie des Aischylos "das 'Schreckliche' ... 'schön'
gesagt" wird, 111 wird im Roman das Entsetzliche in seiner Spektakularität
gleichsam als lebendiges, durch Sprache erzeugtes Bild im Detail vorge-
führt.
109
Vgl. Alexiou 2002, 313 ("ethopoieia and ploke").
110
Vgl. nun Henrichs 2006b.
111
Vgl. Bohrer 2006, 179 nach den Worten des Chors gegenüber Kassandra (Α. A.
1152-1153). Vgl. ebd. 178-181.
278 Anton Bierl
112
Vgl. Morales 1995; 2004, 156-177.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 279
offenen Fleisch: Das rote Blut vermengt sich mit der weißen Haut zu
einem schrecklich-attraktiven Schauspiel der crudelti. Furcht und Schrek-
ken, Ekel und Abscheu paaren sich mit Mitleid, Liebreiz und Lust, zumal
das Eindringen, Aufschlitzen, Ausweiden und Bewerfen mit Geschossen
deutlich auf den Sexualakt verweisen. Das geopferte Mädchen ist wie
Iphigenie Sinnbild der Mädchentragödie, das heißt auch des Mädchens in
der Initiation. Deshalb bezieht man sich im Roman so oft auf die Euripi-
deischen Iphigenien.
Grausame Opferriten können zudem einfach als ethopoietische Kon-
trastierung des 'Selbst' mit dem 'Anderen' fungieren. In der traumatischen
Welt des 'L'Autre' werden sämtliche Codes der Zivilisation gebrochen.
Zur frei montierten Konstruktion einer Handlung kann man in der Literari-
sierung auf Verkehrungsrituale und fremde, wörtlich genommene Mythen
zurückgreifen. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang zwei
Fragmente des Lollianos.113
Zunächst zur Szene auf Β 1 recto, die am Ende eines Buches steht:
Der Protagonist des Romans, Androtimos, befindet sich in der Hand von
Räubern, die momentan einen brutalen Mord an einem Knaben vorberei-
ten. Androtimos scheint Einspruch zu erheben, doch kann er den Gang der
Ereignisse nicht verhindern. Ein bis auf einen purpurnen Gürtel unbeklei-
deter Mann bringt das jugendliche Opfer herein. Der Gehilfe schleudert
den Knaben auf den Rücken, öffnet die Brust, schneidet das Herz heraus
und legt es auf das Feuer. Das gebratene Organ zerteilt er, eine Hälfte be-
stäubt er mit Mehl, die andere übergießt er mit Öl. Davon gibt er dann den
anwesenden Banditen. Mit dem Fleisch in der Hand nimmt er der Bande
beim Blute des Herzens einen Eid ab: sie schwören, den nackten Grusel-
priester, der wahrscheinlich ihr Anführer ist, weder im Stich zu lassen
noch zu verraten, nicht einmal, wenn sie ins Gefängnis geworfen und ge-
foltert würden. Das Buch endet mit einer erneuten Erwähnung des Andro-
timos. Wahrscheinlich soll auch er davon kosten.
Auf Β 1 verso, am Anfang des nächsten Buches, kann man folgendes
erkennen: Ein wildes Gelage schließt an die Opferszene an. Erneut geht es
um das Herz, auch wird vom Verschlucken und von Erbrochenem gespro-
chen. Während die sogenannten Eingeweihten ihre Portion kochen, um
das Fleisch genießbar zu machen - manche kauen es nur, um es weicher
zu bekommen - , beklagt sich jemand, wahrscheinlich Androtimos, über
113
Die folgenden Paraphrasen sind von Henrichs 1972, 6-7 übernommen.
280 Anton Bierl
den rohen Zustand seines Mahls. Ein Mädchen, wohl Persis, wird ver-
flucht. Die Zechgenossen urinieren auf den Boden, so daß sich jemand
über den Gestank beklagt. Es folgt eine Aufforderung zum Trinken. In
einem stark beschädigten Abschnitt scheint sich Androtimos über etwas zu
ärgern. Die übrigen Räuber treten ein. Vor seinen Augen haben sie wilden
Verkehr mit den Frauen, und davon ermattet schlafen sie ein. Die elf
Wächter, welche die Toten bewachen sollen, trinken nicht so viel. Um
Mitternacht ziehen sie die Toten aus und entfernen selbst die Busenbän-
der. Die Kleider werfen sie aus dem Fenster. Dann ziehen sich die einen
weiße, die anderen schwarze Gewänder an. Sie maskieren sich und färben
ihre Gesichter, die Schwarzen mit Asche, die Weißen mit Bleiweiß. Dann
schwärmen sie im Freien, die Weißen im grellen Licht, die Schwarzen im
Mondschein. Androtimos wird immer noch bewacht; beim Fluchtplan
scheint die Werkstatt eines Goldschmieds eine Rolle zu spielen; danach
kann man nichts mehr entschlüsseln.
Albert Henrichs, der Erstherausgeber, hielt den Teil Β (vom Mord am
Knaben bis zur Vermummung der Räuber) für einen getreuen Bericht über
den Verlauf eines Rituals, der Einweihungszeremonie in den Dionysos-
Zagreus-Kult (1972, 28-79). Dabei sah er die Thesen seines Lehrers Mer-
kelbach aufs trefflichste bestätigt (78). Im Gegensatz dazu läßt sich auf der
Grundlage von ähnlich gelagerten Szenen bei Achilleus Tatios und Apu-
leius die Passage ebensogut als typische Szene eines Romans lesen, in
dem eine verkehrte Räuberwelt gezeigt wird. 114 Der spektakuläre Ritual-
mord dient der Gruppenstabilisierung der Außenstehenden, der das totale
'Andere' symbolisierenden Banditenbande. Die anschließende Maskie-
rung ist eine typische Gruselszene, in der Geistergeschichten und Aber-
glaube in Handlung umgesetzt werden. Vielleicht eilen die Halunken in
Verkleidung auf ihren nächsten Raubzug. Lollianos spielt also den ganzen
stereotypen Formenschatz aus, wobei er zur Zurschaustellung und Unter-
haltung einzelne Züge drastisch dramatisiert. Henrichs scheint sich täu-
schen zu lassen, weil der Romanautor die Verbrecher in typisch sakralisie-
rend-ästhetisierender Manier gleichzeitig als Mysten und Eingeweihte
bezeichnet. Zur Stilisierung der Räuber als des 'Anderen' werden natür-
lich auch rituelle Formen und Diskurse fremdländischer und geheimer
Zeremonien interdiskursiv und -performativ eingewoben. Alles dient der
Steigerung des pathos, der Involvierung des Lesers, der Überhöhung nie-
114
Vgl. Sandy 1979; Winkler 1980; Jones 1980; Holzberg 1986, 75.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 281
und weiterspinnen. Im Raub der Opfergaben durch den Adler, den männ-
lich-königlichen Vogel, ist die Entführung der unschuldigen Kalligone
von der Opferhandlung vorweggenommen, die den Anlaß für die Intrige
liefert. Zugleich sieht man, wie die keusche und unberührte Jungfrau im
Roman immer wieder mitverantwortlich ist, sich in Eros' Spirale zu bege-
ben. Die Schönheit des Entführers, die Ästhetik des Anblicks des Opfer-
stieres, der für die Jungfrau stirbt und das Ende der Goldenen Zeit der
Unschuld symbolisiert, zieht sie in den folgenden Variationen in die Nähe
der Gefahr. Der Gewalt an ihrem Körper von Seiten des Täters, der eben-
falls nur aus erotischer Attraktion und aus Instinkt handelt, steht ein my-
steriöses Hingezogensein ihrerseits zu diesem Täter gegenüber.
3. Fruchtbarkeit
Da Sexualität und Erotik im Griechischen in besonderer Weise mit der
Welt der Natur, mit der Vegetation, mit Blumen, Bäumen, Düften, mit
dem Ackerbau, dem Pflügen, der Ernte und dem Drusch, mit dem Wein-
bau, dem Reifen, Pflücken und Keltern, metaphorisiert werden, 115 besitzt
das wichtige religionswissenschaftliche Paradigma der Fruchtbarkeit
herausragende Bedeutung. Die ganze Handlung von Longos' Roman ist
mit dem Ablauf der Jahreszeiten synchronisiert und kulminiert zum Herbst
im Erntefest. Das erste Jahr gipfelt im dionysischen Weinfest, wo sich die
Geschlechter bei Tanz und Musik näherkommen (2.1-2.2.2). Im Rausch
necken umstehende Frauen Daphnis und mitfeiernde Männer Chloe. Die
sexuellen Übergriffe verletzen das Gefühl der einander heimlich und noch
unbewußt Liebenden, und sie wünschen sich, bald wieder auf ihre einsa-
men Weiden zurückzukehren. Dort spielen sie dann um so ausgelassener.
Da tritt ein greiser Rinderhirte namens Philetas zu ihnen und führt sie
durch seine Erzählungen in die Geheimnisse des Eros ein. Gegen Ende des
zweiten Buches bringen die Bauern die Zeit mit Herbstfesten zu (2.31-37).
Man tanzt den Winzertanz (2.36.1) und feiert die Oschophorien (2.31-32).
Zu Anfang des dritten Buchs ist Winter. Alles erstarrt und man wartet auf
die 'Wiedergeburt der Natur vom Tode' (3.4.2). Im Hause des Dryas feiert
man die Ländlichen Dionysien (3.9.2; 3.10.1; 3.11.1-2), im Frühjahr er-
wacht die Liebe erneut zwischen den Hirtenkindern, im Sommer wird
Daphnis durch Lykainions Initiation zum Manne. Inzwischen haben
115
Vgl. u. a. Henderson 1975, 166-169.
284 Anton Bierl
Chloes Eltern ihre Hochzeit für die Weinlese angesetzt (3.25.4); derjenige
Freier, der am meisten bietet, soll Chloe zur Frau bekommen. Beim Wei-
zendrusch auf der Tenne (3.29.1) kommt es zur Entscheidung; mit dem
gefundenen Geld kann Daphnis bei Dryas um Chloes Hand anhalten, die
durch ihren Namen selbst mit Demeter Chloe in Verbindung steht. Am
Ende des dritten Buchs pflückt Daphnis im Herbst nach der Ernte einen
ganz oben im Wipfel übriggelassenen Apfel (3.33.4-3.34). Beim Weinle-
sefest im vierten Buch (4.1.1; 4.33.1; 4.38) kommt es schließlich auf dem
Gut des Dionysophanes zum happy end, zur Hochzeit und zum Ehevoll-
zug.
Buch 1 2 3 4
Räuber Krieg
Fr So H|-H || Wi .... Fr So Η Η > τέλος HZ
Philetas Lykainion HZ-Verabredung
Daphnis
Fr = Frühling | = Buchgrenze
So = Sommer || = Jahresgrenze (mit Buchgrenze)
Η = Herbst ... = Trennung der Liebenden
Wi = Winter — = nosos
HZ = Hochzeit
... και έπεί πλησίον ήσαν των θυρών ήδον σκληρά και άπηνεΐ τη
φωνή καθάπερ τριαίναις γήν άναρρηγνύντες, ούχ ϋμέναιον
αδοντες. Δάφνις δε και Χλόη γυμνοί συγκατακλνθέντες περι-
έβαλλον αλλήλους και κατεφίλουν, άγρυπνήσαντες της νυκτός
οσον ουδέ γλαυκές, και έδρασέ τι Δάφνις ών αυτόν έπαίδευσε
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 285
Λυκαίνιον, και τότε Χλόη πρώτον εμαθεν δτι τά έπί της ϋλης
γενόμενα ήν ποιμένων παίγνια.
Und als sie näher an der Tür waren, sangen sie mit rauher und kreischender
Stimme, als ob sie die Erde mit Dreizacken aufrissen, nicht aber ein Brautlied
sängen. Daphnis und Chloe aber lagen entkleidet zusammen, umarmten einan-
der und küßten sich und schliefen in dieser Nacht nicht mehr als Nachteulen tun.
Daphnis übte jetzt Lykainions Unterricht aus; und Chloe erfuhr nun zuerst, daß
ihre Kurzweil am Wald nur Hirtenspiel gewesen war.
Der Brautgesang ist mit der Erdarbeit assoziiert, die umgekehrt den Ge-
schlechtsakt umschreibt. Es ist durchaus auch ein gewaltsamer, krisenhaf-
ter Akt, auf den sich das Mädchen einläßt. Doch die gemeinsame 'Arbeit'
bringt Früchte, Kinder und Anerkennung. Ironisch wird auf den Unterricht
der Lykainion verwiesen und damit der Treuebruch des Helden angespro-
chen, der aber nun der Gattin zum Genuß verhilft. Und Chloe lernt zum
ersten Mal, daß alles Vorherige eine Spielerei war - παίγνια ('Tändelei,
Tanz, Vorspiel') hat die pointierte Schlußposition inne. Auch hier ist die
Sprache wieder sexuell konnotiert. Alles war Spielerei am Wald, in der
Welt der Marginalität des Hirtenlebens, vorher war sie παιδίον, nun ist sie
γυνή. Sexualität ist zuletzt eine sozial definierte, ernsthafte Angelegenheit.
Auch für den Romanautor war alles zuvor, das heißt der ganze Roman,
eine spielerische Beschäftigung mit dem Noch-Nicht des Sexualakts, eine
fast 'pornographische' Tändelei, wie sich Rohde ausdrücken würde, aber
zugleich ein durch kunstvolle Retardationen erzeugtes wundersames Spiel
mit Musik, Poesie und Natur, das selbst Goethe verzauberte. 116
In anderen Romanen spielen die Fruchtbarkeit bringende Nilüber-
schwemmung (X.Eph. 4.2.5-10; Hld. 2.28) und Nilfeste in Ägypten (Hld.
9.9.2-5; 9.10.2; 9.22.2) eine wichtige Rolle. Das Fest in Syene ist bei He-
liodor kunstvoll kombiniert mit der Belagerung durch Hydaspes, den Kö-
nig der Äthiopier. Durch eine Nilumleitung und das Durchbrechen der
Mauern erobert er beinahe die Stadt, in der Oroondates, der persische
Statthalter des Großkönigs in Ägypten, Zuflucht gesucht hat. Die Unauf-
merksamkeit der Bevölkerung aufgrund der Festlichkeiten wird genutzt
und der jährliche Anstieg des Nils mit der strategischen Schwemme asso-
ziiert. Der persische Kommandant Oroondates kann sich noch entziehen.
Nach dem endgültigen Sieg über Oroondates bei Elephantine zieht Hydas-
116
Vgl. R o h d e 1876, 549-554 (1. Aufl. 516-517) und Goethe, bes. Gespräch mit
Eckermann 20. März 1831.
286 Anton Bierl
pes dann siegreich in die Stadt Syene ein und läßt sich zum Ende der
Episode von den einheimischen Priestern das Nilfest und die Aitiologie
dieses Jahresfestes erklären (9.22.2-6), womit die Ringkomposition ver-
vollständigt ist. Hydaspes bekräftigt zuletzt, daß Äthiopien diese heiligen
Zusammenhänge um den das Jahr und seine Fruchtbarkeit symbolisieren-
den Nil beanspruche, da der Fluß dort entspringe (9.22.7).117
4. Neujahr
Der Aspekt des Neujahrs ist mit dem dominanten Paradigma der Initiation
eng verknüpft, so daß manche Zeichen beiden Bereichen zuzuordnen
sind.118 Bei Heliodor ist im neunten Buch (9.9.2; 9.10.2) von dem eben
angesprochenen Nilfest die Rede, das während einer Waffenruhe zwischen
dem persischen Ägypten und Äthiopien in Syene gefeiert wird. Es sind die
höchsten ägyptischen Feiertage zur Sommersonnenwende, die mit dem
Anstieg des Nils einhergehen. Die religiösen Pflichten der Syener, die
nach einer von den Äthiopiern künstlich erzeugten Überschwemmung zu-
sammen mit den angreifenden Persern eingeschlossen sind, lassen die be-
lagernden Äthiopier etwas unaufmerksam werden. Während die Äthiopier
schlafen, können die Perser, nachdem sie Bretter über die Morastgebiete
gelegt haben, nach Elephantine entkommen (9.10.2-9.11.2; 9.12.2). Wie-
der erkennt man, wie eben gezeigt, wie in einer gleitenden Signifikanten-
kette die strategische Überflutung mit dem jährlichen Ansteigen des Nils
verwoben wird. Der Nil, so erklären die Priester Syenes dem Hydaspes,
versinnbildlicht überhaupt das Jahr in seinem Ablauf, da nämlich die
Buchstaben, in Zahlen ausgedrückt, 365 ergeben, 'also so viele Tage, wie
das Jahr hat' (9.22.6).
Während in vielen Städten der Einschnitt im Hochsommer um den
Siriusaufgang angesetzt wird,119 wird selbstverständlich auch die Zäsur im
Winter als Grenze der Jahre empfunden, wie eben bei Longos gezeigt wur-
de. Die Natur erstarrt, die Liebenden sind getrennt, hier ist die Ordnung
117
Hydaspes opfert dann in 10.1.2 dem Nilgott. Zum Nil als religiösem und selbstre-
ferentiellem Element bei Hld. vgl. Whitmarsh 1999, 24-29.
118
Vgl. die Kombination bei Auffarth 1991; Versnel 1993, 57, 59, 80-83 (mit Ver-
weis auf Walter Burkert).
119
Beim alexandrinischen Serapisfest (Ach.Tat. 5.2.1), das wohl mit dem Neujahrs-
fest zusammenfällt, wird Kleitophon von Räubern am Schenkel verletzt (5.7.2); vgl. dazu
Baudy 1986, 51, der die Verwundung mit der päderastischen Initiation und der Figur des
Adonis verbindet.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 287
5. Heortologie
Feste zu Ehren von Gottheiten, die insbesondere mit der Initiation junger
Menschen zu tun haben, bilden entspechend den lokalen Handlungsge-
gebenheiten ein wichtiges Ambiente für die Romane. Zu nennen sind hier
Feiern für Artemis, Apollon, Isis, Hera, Aphrodite und Serapis. Auch Osi-
ris- und Dionysosfeste spielen als Anstoß zu Handlungsketten eine grö-
ßere Rolle. Ferner haben, wie gesehen, gerade Jahres- und Erntefeste eine
handlungsstrukturierende Funktion. Auch können Festabläufe, die das Ka-
lenderjahr bestimmen, das Fortschreiten der Romanzeit andeuten, wie dies
etwa bei Longos der Fall ist, ζ. B. von den Ländlichen Dionysien (3.9.2;
3.10.1; 3.11.1-2) im Winter bis zum Drusch des Getreides auf den Tennen
(3.29.1) und zum Weinlesefest im Herbst (4.38).122
120
Vgl. Bertrand 1988.
121
Vgl. Baudy 1986, 44; 1993, zu Longos bes. 302 Anm. 63.
122
Vgl. auch oben 283-284.
288 Anton Bierl
123
Vgl. Alperowitz 1992; Doody 1996, 62-68, 432-464; zu Chariton vgl. Weis-
senberger 1997; Baier 1999; zu Longos vgl. Hunter 1983, 31-38; zu Heliodors zum Teil
nichtanthropomorphen Göttern vgl. Chew 2007.
124
Vgl. Alexiou 2002 und Renger 2006a.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 289
6.2. Epiphanie
Götter greifen bisweilen sogar aktiv in die Handlung ein. Sie können wie
Eros (2.4-6.2) und Pan (2.25.3-2.29) bei Longos direkt erscheinen, was
einem Wunder gleichkommt. In diesen Fällen nutzt der Autor sämtliche
erzählerischen Potentiale der Epiphanie. 127 Sie ist im Roman erneut häufig
intertextuell vermittelt. Die Ambivalenz der göttlichen Erscheinung wird
als theatrales Ereignis inszeniert, das den Leser emotional aufrüttelt, stark
involviert und berührt. In hochdramatischen Augenblicken ist es herausra-
genden Figuren erlaubt, die Gottheit in lebendiger Erscheinung, meist je-
doch in menschlicher Verkleidung, zu erfahren. Durch die Parousie wird
den Menschen die Existenz der Götter deutlich. Eine typische Situation ist
125
Vgl. dazu Cueva 2004.
126
Vgl. Schmeling 2005 für Kallirhoe.
127
Vgl. allgemein u. a. Versnel 1987; Lane Fox 1986, 102-167, 700-708; Bierl
2004, bes. 43-45 (mit Literatur). Zum Beispiel der Epiphanie Pans bei L o n g o s vgl.
Meillier 1975.
290 Anton Bierl
die Rettung in der Not und im Krieg. Sehr viel häufiger erscheinen die
Götter freilich im Traum, wie die Nymphen im Fall des Daphnis bei Lem-
gos (2.23). Auf der Überfahrt des Paares von Delphi nach Ägypten tritt im
Roman des Heliodor dem ägyptischen Priester und homerischen Gelehrten
Kalasiris Odysseus selbst im Traume vor Augen, als seine Reisegesell-
schaft auf Zakynthos, also in Odysseus' Gefilden um Ithaka, Halt macht
(5.22.1-3). Odysseus beklagt sich als abgemagerter Greis mit Helm und
hinkendem Schritt, daß Kalasiris, die Verkörperung der odysseischen Er-
zählkunst, ihm keinen Höflichkeitsbesuch abstatte, und droht ihm dafür
Rache an. Der sich einer verrätselnden Diktion bedienende Führer der bei-
den jungen Leute vergeht sich also in seiner Funktion als interner Deuter
der komplexen und symbolisch aufgeladenen Geschichte selbst am Aus-
gangspunkt des Romans, das heißt am Homerischen Odysseus. Anstelle
des üblichen Gottes, der in Nachfolge des zornigen Poseidon aus der
Odyssee das Schicksal des Paares in anderen Romanen bestimmt, tritt hier
der Held des literarischen Mustertexts auf, womit Odysseus und nicht zu-
letzt Homer gewissermaßen selbst zu Göttern stilisiert werden. Gleichzei-
tig läßt Odysseus dem keuschen Mädchen Charikleia von seiner Frau
Penelope, dem Inbegriff der Keuschheit, Grüße bestellen und sagt der ju-
gendlichen Heldin ein gutes Ende voraus. Mit der Vision geschieht also
auch Leserlenkung, das heißt Auflösung des narrativen Rätsels, mittels des
Blicks auf die Katastrophe, die vom Ende her erzählt worden ist, sowie
durch die Vorschau auf das happy end der Geschichte, die nach den Ver-
strickungen wie die Odyssee mit der Hochzeit ihren Abschluß findet.
Das größte erzählerische Potential liegt darin, daß in den griechischen
Romanen die Heldinnen Außenstehenden so erscheinen, als seien sie bei-
spielsweise Artemis oder Aphrodite selbst. Solche Verwechslungen in
Form einer Scheinepiphanie, wie etwa im Chariton-Roman diejenige von
Kallirhoe mit Aphrodite, sind Ausdruck der übermenschlichen Schönheit,
die sonst kaum in Worte gefaßt werden kann. 128 Die Grenzen zum Göttli-
chen sind durchlässig, die kategorialen Ebenen tendieren dazu, miteinan-
der zu verschwimmen. Durch solche Verfahren taucht die Welt des
Romans in eine heroisch-sakrale Atmosphäre ein. Die aristokratische Diva
wird nahezu übermenschlich, wodurch die Verwicklungen, die solcher
Schönheit geschuldet sind, erst glaubhaft werden.
128
V g l . H ä g g 2 0 0 2 ; S c h m e l i n g 2 0 0 5 . V g l . auch Zeitlin 2 0 0 3 .
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 291
miteinander häufig verbunden, Apollon geht mit Helios eine Synthese ein,
Osiris traditionell mit Dionysos.
The reader's feelings are therefore balanced between a sense of what the heroine
deserves and what she wants. What she deserves is the admiring love of the
most attractive men in the world; what she wants is a return to a man w h o
hardly deserves her. What she gets is both. The plot reconciles the discrepancies
between what the reader feels the heroine deserves, what he knows she desires,
and what in fact she gets. In this sense, the plot is like a daydream. That is, a
plot that depicts a rise in fortune that is castigated as a decline, and a decline that
leads marvelously to a rise, is not unlike an ordinary daydream that seems to re-
concile reality, just deserts, and contrary desires.
Die mimetische Kunst hat als Abbild und simulacrum jedoch auch
Anteil am Göttlichen. Kallirhoe ist ein ästhetisches Produkt der absoluten
Schönheit, das, platonisch gedacht, an das Urbild heranreicht. Als relativ
Undefiniertes, leeres Zeichen bezieht Kallirhoe ihr Leben und ihre Be-
stimmung aus dem Verlangen des männlichen Gegenübers und des Lesers.
Das Statuenhafte der Erscheinung des wunderschönen Mädchens wird
permanent hervorgehoben. Die Heldin ist einer dem damaligen Schön-
heitsideal entsprechenden figürlichen Darstellung der Aphrodite aus Mar-
mor angeglichen, an deren Ekphrasis und Verlebendigung sich der Autor
versucht, und die dabei auf einer Achse von West nach Ost und wieder
zurück bewegt wird. Gleich zu Beginn des Romans wird Kallirhoe als
άγαλμα bezeichnet: θαυμαστόν χρήμα παρθένου και αγαλμα της δλης
Σικελίας (1.1.1). Sie ist ein 'Wunderobjekt von einer Jungfrau und Stand-
bild ganz Siziliens', die Verkörperung der Aphrodite Parthenos (1.1.2).
Das entspricht exakt ihrem Status als Mädchen, das im Laufe der Hand-
lung den Schritt zur erwachsenen Frau vollzieht.135
Bereits auf dem Gut des Dionysios angekommen, wird sie beim Bade
detailliert wie Praxiteles' berühmte Aphrodite auf Knidos beschrieben: 136
Sie kam herein und sie salbten sie zunächst sorgfältig und wischten sie ab, und
gerieten in noch größeres Staunen, als sie sich da entkleidete, wie sie schon,
während sie noch bekleidet war, ihr Gesicht bewunderten und ein geradezu gött-
liches Gesicht zu bewundern glaubten. Ihre Haut schimmerte weiß und leuchtete
wie M a r m o r , ihr Fleisch war so zart, daß man befurchten mußte, sogar eine
leichte Berührung mit den Fingern könnte eine ernsthafte Verletzung verursa-
chen.
Diese Passage hat etwas vom voyeuristischen Blick durch das Schlüssel-
loch ins Badehaus, wie Helen Elsom (1992, 221-222) betont. Entschei-
dend ist, daß erneut Kallirhoes Statuenhaftigkeit bekräftigt wird. Ihr Kör-
135
Vgl. auch Hunter 1994, 1072.
136
Zur Praxiteles-Identifizierung vgl. Hunter 1994, 1075.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 295
per wird in der bloßen Materialität beschrieben, ihre Haut ist gewisserma-
ßen der glänzend weiße Marmor eines Standbildes, das zum Leben er-
weckt wurde. In der Romanforschung wird seit geraumer Zeit die Bedeu-
tung der Malerei und der Ekphrasis hervorgehoben. 137 Die durch Mimesis
erzeugte und zu einem tableau gefrorene Staffage einer meist mythischen
Handlung wird mittels Sprache und kreativer Phantasie in bewegten
Bildabläufen vor Augen geführt. Chariton und Heliodor, der Charikleia
zusammen mit Theagenes in der anfänglichen "Pietä-Szene" 138 (Hld. 1.2)
fast wie in einer filmischen Nahaufnahme fokussiert (Hld. 1.1-4),139 über-
tragen diese Technik auf die Skulptur. Das ideal-schöne Standbild wird
durch die Sprache lebendig. Das Übermaß an weiblicher Schönheit zieht
die Blicke auf sich, wechselseitig verliebt man sich. Die als Krankheit
empfundene Liebe überführt das Paar in die onirische Gleitbewegung
eines sich über Dreiecksverhältnisse fortpflanzenden und sich ver-
komplizierenden Plots, der mittels Signifikantenketten auf der Basis von
Metaphern und Metonymien weitergesponnen wird. Der Chariton-Roman
kann somit gewissermaßen als verlebendigende Ekphrasis einer durch die
Welt weitergereichten Aphroditestatue gelesen werden. Dies ist exakt, was
Erwin Rohde an den Romanfiguren anprangert. Seiner Meinung nach sind
sie, beispielsweise bei Xenophon, nur "blosse Marionetten" ohne "klar
erkennbare Individualität" (1876, 428, 1. Aufl. 400), ohne Fleisch und
Blut. Und den "seelenlosen Gestalten" und "Gliederpuppen" (476, 1. Aufl.
447) fehle sogar bei Heliodor ein psychologisch nachvollziehbarer Cha-
rakter. Rohde beklagt ferner, daß die Schönheit in der griechischen Kultur
allgemein wenig detailliert beschrieben werde. Dieser Mangel an Konkret-
heit werde dann mit dem Griff zur idealen Statue ausgeglichen (164-165,
1. Aufl. 154-155). Rohdes Kritik am "Ausdruck kalter Musterhaftigkeit"
(477, 1. Aufl. 448) atmet den Geist eines zeitbedingten Affekts gegenüber
der rhetorischen Kunst der Zweiten Sophistik. Heute hingegen hat man im
Zuge einer grundsätzlichen Neubewertung der Rhetorik und der Zweiten
Sophistik die Visualität der Kunst als narrative Strategie des Romans er-
kannt.140
137
V g l . Bartsch 1989; N i m i s 1998; Morales 2 0 0 4 , Index 5. v. ' e k p h r a s i s ' ; vgl.
Roilos in diesem Band; fur den antiken Roman vgl. weitere Literatur ebd. Anm. 4-5.
138
Kerenyi 1927, 26.
139
Vgl. u. a. Bühler 1976; Winkler 2000/2001.
140
Vgl. Bartsch 1989; Nimis 1998; Morales 2004.
296 Anton Bierl
Als sie, auf dem W e g e vom Tempel zum Strand, von den Schiffsleuten erblickt
wurde, überkam diese heiliger Schrecken - es schien ihnen, als käme Aphrodite
selbst, um an Bord ihres Schiffes zu gehen und sie hatten das Gefühl, sie
müßten sich alle zusammen ihr zu Füßen werfen.
141
Zum Bildstatus von Kallirhoe vgl. auch Zeitlin 2003.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 297
"Nur Mut, mein Kind! Bist j a bei weitem nicht der erste, dem die Göttin einen
plötzlichen Schrecken eingejagt hätte! Weißt du, hin und wieder erscheint sie
hier leibhaftig, und dann kann man sie ganz deutlich sehen! Aber das ist immer
ein Zeichen fur großes Glück! Siehst du die goldene Statue hier? Das ist eine
Sklavin gewesen, und Aphrodite hat sie zur Herrin über uns alle gemacht!"
Deutlich wird hier das ganze Potential der Epiphanie ausgespielt. Das Os-
zillieren zwischen Kallirhoe und Aphrodite ist erkennbarer Motor der
Handlung. Kallirhoe war den einfachen Leuten am nämlichen Ort gerade
als wirkliche Epiphanie erschienen. Selbst als Statue löst sie denselben
thaumatischen Effekt aus, den Schrecken und das Verzücken, als ver-
meintlich reale Erscheinung der Göttin.
Nach der Hochzeit hält es ihr neuer Gatte Dionysios für richtig, daß
sie sich in einem offiziellen Trauerritual von ihrem totgeglaubten und im-
mer noch heißgeliebten ersten Gatten Chaireas verabschiedet. Im Leichen-
zug führt sie nach römischem Brauch eine sehr schöne Statue des Chaireas
mit, die nach einem Siegelringbild gefertigt ist. Obwohl es ein sehr schö-
nes Bild (καλλίστην δε ούσαν τήν εικόνα) war, blickte keiner darauf, so
lange Kallirhoe präsent war.' Denn alle blickten auf sie, das Schönheits-
bild der Superlative, 'so sehr zog sie allein aller Augen in ihren Bann'
( ά λ λ ' έκείνη μόνη τούς άπάντων έδημαγώγησεν οφθαλμούς, 4.1.10).
Ihre Wirkung auf die Menge wird, wie gesehen, unmittelbar davor als Re-
flex einer Epiphanie beschrieben. Der plötzliche Glanz löst Staunen, spon-
298 Anton Bierl
7. Mythos
Neben den oben skizzierten Charakteristika dient vor allem der Mythos als
Projektionsfläche und strukturelle Parallelhandlung, womit sich nach einer
Formulierung von Claude Levi-Strauss "gut denken läßt". 142 Mythen
werden in künstlerischen Medien, im Bild, in der Skulptur und in der Lite-
ratur, ästhetisiert und zum festen Kulturgut, aus dem man Exempla, Ori-
entierung und Vergleiche für neue Werke bezieht. Mythen sind immer
traditionelle, autoritative Erzählungen, die einen Bezug zu gesellschaftli-
chen Fragen und existentiellen Problemen besitzen. Die Geschichten als
Gesagtes ( λ ε γ ό μ ε ν α ) werden häufig durch im Tun vollzogene Rituale
(δρώμενα) komplementiert. In beiden Ausdrucksformen will man über die
Außenwelt Kontrolle gewinnen, auch das Sprechen ist letztlich performa-
tiv. Während das Tun aus einem basalen, vielleicht sogar biologischen
Handlungskonzept abgeleitet werden kann, ist die Erzählung meist symbo-
lisch aufgeladen und verarbeitet Ängste und Gefahren, d. h. im Mythos be-
142
Ursprünglich ist dieses Diktum in der Anthropologie auf Tiere bezogen; vgl.
Levi-Strauss 1962, 89 und den klassischen Aufsatz von Tambiah 1969 mit der englischen
Formulierung ("good to think with"). Zum Mythos im R o m a n vgl. nun Cueva 2004. Mit
dieser M o n o g r a p h i e , die sich weitgehend auf den Götter- und Heroenvergleich be-
schränkt, ist zu dem breiten Thema noch nicht das letzte Wort gesprochen: vgl. die Re-
zension von T. Whitmarsh, Ancient Narrative 5, 2005, 117-124. Zu Longos vgl. u. a.
MacQueen 1990; zu Ach.Tat. vgl. u. a. Laplace 1983.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 299
143
Vgl. Alexiou 2002 und oben das Kapitel "Metapher, Mythos und Ritual" (246-
249).
144
Allgemein zu Longos vgl. Hunter 1983.
145
Vgl. dazu Morgan 1994, 75-77.
300 Anton Bierl
kommt von da an der Dimension Pans näher, 146 unter anderem indem er
im Tanze mit Chloe mimetisch die sexuelle Verfolgung der Syrinx aus-
agiert (2.37).
Pan erinnert daran, wie wir gesehen haben, daß Eros aus Chloe 'einen
Mythos machen' wolle (2.27.2). Der Gott ist Schutzpatron und Regisseur
der modellhaften Geschichte, die der Erzähler aus einem Reihenbild in
Sprache umsetzt. Der Autor ist die letzte Instanz, die aus Chloe genau
einen solchen Mythos 'macht/dichtet' (ποίησαν).
Diese nahezu absurde Tatsache, daß nämlich über vier Bücher geschil-
dert wird, wie lange zwei Jugendliche brauchen, bis sie schließlich das
mächtige Gefühl der Liebe, die Krankheit, durch drei Heilmittel, den Kuß,
die Umarmung und das Nackt-Beieinander-Liegen (2.8.5), in den gemein-
samen und beide befriedigenden Sexualakt überführen können, 147 wird
plausibel durch die Versetzung in einen Urzustand des 'allerersten Mals'
in mythischer Vorzeit, wobei die Figuren dennoch in eine bürgerliche
soziale Umwelt eingebettet sind. Als Findelkinder sind sie dieser zunächst
entzogen, sie wachsen isoliert und vollkommen unbedarft auf. Trotz der
Kenntnis der Schrift sind sie in eroticis völlig naiv. Dies wird glaubhaft
durch die spezifische mythische Verankerung, die auch den Eidyllia des
Theokrit eigen ist.148
Hier wird zudem das Konzept der Mimesis virulent: Mimesis ist die
Reaktualisierung, das reenactment, eines göttlichen Modells im Lied und
Tanz.149 Longos rekurriert auf den Mythos und die Natur, um den Ur-
sprung des Modells zum Leben zu erwecken. Das τέλος dieses ausführlich
ausgemalten mythischen Prozesses der Entdeckung der Sexualität ist die
Hochzeit. Die Remythologisierung und Renaturalisierung erzeugen einen
scheinbaren Archetypus für die alltägliche Praxis der menschlichen Lie-
be.150
Jeder Mensch macht diese Entwicklungsphase durch, und für jeden
gibt es ein 'erstes Mal'. Longos versetzt uns dabei in die mythische Welt.
146
Das Paar verehrt ihn nun (2.38.1 und 2.38.3) und Daphnis schwört bei ihm den
Liebeseid (2.39.1), später auf die Proteste der Chloe hin bei Ziegen und Böcken (2.39.5-
6).
147
Vgl. u. a. Bretzigheimer 1988.
148
Vgl. u. a. Rohde 1937; Effe 1982.
149
Vgl. Koller 1954; Nagy 1990, 42-45, 339-413, bes. 346, 349, 373-375; Bierl
2001, 35 Anm. 60, 58 mit Anm. 109 und Index s. v. 'Mimesis'.
150
Zur Natur vgl. u. a. Billault 1996.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 301
Muse und Lied sind die Medien dieses mythischen Modus, zumal der ar-
chaische Dichter sich als der inspirierte Vermittler der Musen sieht. Lon-
gos geht über Theokrit und den Ausgang der bukolischen Gattung bei
Philetas zurück zum mythischen Daphnis,151 der in einer Ur-Welt zusam-
men mit den Göttern, Eros, Dionysos und Pan lebt. Und als der nicht zu-
fällig Philetas genannte Greis sie durch die Erzählung von seiner Begeg-
nung mit Eros in das Geheimnis der Liebe einweiht (2.3-6), sagt der
Autor, daß sie mit Ergötzen zuhören, 'so als ob sie einen Mythos, nicht
einen Logos hörten' (ώσπερ μΰθον οϋ λόγον άκούοντες, 2.7.1). In witzi-
ger Verkehrung des einen Fortschritts 'vom Mythos zum Logos' suggerie-
renden Satzes - diese Vorstellung war durchaus nicht nur im 19. und 20.
Jahrhundert, sondern auch bei den Griechen im Zeitalter der sogenannten
griechischen Aufklärung verbreitet - wird erneut auf die Remythisierung
des ganzen Romans verwiesen. 152 Im symbolisch aufgeladenen Mythos
kann die Geschichte von der traumatischen Schwellenerfahrung, welche
die pubertierenden Jugendlichen auf dem Weg zum Erwachsenendasein
durchleben, ähnlich einer Traumsequenz besonders eindrücklich erzählt
werden.
8. Kult
Neben dem Mythos ist in der religiösen Welt des Romans der Kult von
großer Relevanz. Zahlreiche Szenen spielen in Tempeln und Heiligtümern,
die insbesondere als Flucht- und Asylort für die Helden von Bedeutung
sein können. Beispielsweise flüchtet sich Anthia im Roman des Xenophon
ins memphitische Heiligtum der Isis. Am Apisschrein wird ihr das die
Handlung antizipierende Orakel erteilt, daß die Wiedervereinigung mit
dem Gatten bald bevorstehe (X.Eph. 5.4.6-11). Auch Leukippe kann sich
bei Achilleus Tatios ins Artemisheiligtum retten (Ach.Tat. 7.13.2-4). Hier
spielen sich dann dramatische Szenen ab. Kultische Regeln können dro-
hende Gefahren in letzter Sekunde abwenden und unerwartete Handlungs-
umschwünge einleiten. Kleitophon ist von der Todesstrafe bedroht und
soll gerade gefoltert werden. Da kommt der Artemispriester herein, der die
Zeichen einer Festgesandtschaft meldet. Daraufhin muß das Verfahren un-
151
Zu Philetas vgl. Bowie 1985; Hunter 1983, 76-83. Zu Daphnis vgl. auch Woja-
czek 1969; Hunter 1983, 22-31.
152
Heute weiß man nur zu gut, daß beide Modi sich gegenseitig bedingen; vgl. Most
1999.
302 Anton Bierl
154
Vgl. Bartsch 1989, 80-108.
304 Anton Bierl
Warum ersehnt ihr denn, zu erfahren der Krankheit Ende oder Anfang?
Beide hält eine einzige Krankheit im Griff, die Lösung davon liegt auch darin.
Gewaltige Leiden sehe ich fur diese und endlose Werke;
beide werden fliehen über das Meer, vom Wahnsinn getrieben,
sie werden Fesseln erleiden von Männern, die sich mit dem Meere vermischen,
und ein Grab wird für beide die Hochzeitskammer sein, und vernichtendes
Feuer,
und bei den Wassern des Flusses Nil möge man der geheiligten Isis,
der Retterin, später reiche Geschenke darbringen.
Aber nach den Leiden haben sie dann irgendwo ein besseres Los. 155
Es gibt für die beiden Protagonisten Anthia und Habrokomes, die sich
eben unsterblich ineinander verliebt haben, in der Empfindung der als Lei-
den erfahrenen Liebe eine Krankheit (νοΰσος) sowie eine Lösung davon
(λύσνς), die natürlich die Hochzeit, das angestrebte τέλος, darstellt. Davor
muß jedoch ein qualvoller rite de passage von δεννά πάθη durchlaufen
werden. Die εργα können rituelle Handlungen sein, aber auch die Werke
der Liebe selbst, die Durchführung, wie gleich darauf in der Schilderung
der Hochzeitsnacht beschrieben wird (των 'Αφροδίτης έργων άπήλαυον,
1.9.9). Die Flucht über das Meer kann man wörtlich nehmen, wie es die
Väter tun. Es geht freilich ebenso um den Kampf gegen Eros. Dieser
erzeugt μανία und λύσσα (vgl. λυσσοδνωκτον), man wird vom Wahnsinn
verfolgt, strebt und verlangt nach dem anderen. Dabei überschreitet man
sämtliche Grenzen, selbst das Meer (φεύξονταν ΰπενρ άλα). Die Reise in
den unbekannten Raum des 'Anderen' ist gleichzeitig eine Absonderung
vom eigenen οίκος, der Ritus der separation. Liebe bedeutet zugleich Fes-
155
Ich folge hier der einzigen Handschrift F, während O ' S u l l i v a n den Vorschlag
von Passow und Merkelbach akzeptiert, den letzten Vers vor den drittletzten zu stellen;
auch im vorletzten Vers folge ich der Überlieferung und setze π α ρ α σ τ η ς statt π α ρ α -
σ τ ά σ ' . Übersetzung Α. Β. Zum Orakel vgl. u. a. Rohde 1876, 424-425 (1. Aufl. 396-
397); Ruiz-Montero 1994, 1098-1101.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 305
sein (δεσμά), eine magische Kraft, die einen bindet (καταδεσμός). Das
Meer steht als eine Metapher für die emotionale Weite, auf die man sich
einläßt.156 Das Wasser wird unter anderem mit den Tränen (δάκρυα) asso-
ziiert, die gleich in der nächsten Szene reichlich fließen (1.9.2-5). Die
Hochzeit (vgl. θάλαμος) wird in griechischer Vorstellung häufig mit dem
Begräbnis (τάφος) verbunden. 157 Es gehört dazu, sich leidvoll vom vor-
herigen Zustand der Kindheit abzulösen. Gerade für die Jungfrau ist der
Prozeß besonders schmerzhaft, weil sie in das Haus des Mannes geht und
alle sozialen Bande hinter sich läßt. Das Feuer (πυρ) bezieht sich ebenfalls
auf die Macht der Liebe. Man brennt vor Eros (καιόμενοι, 1.9.1). Es ist
άίδηλον, das heißt es vermag, auszulöschen und zu vernichten, wörtlich:
'unsichtbar' zu machen. Liebe aber 'geht über die Augen', 'vor Liebe wird
man blind'. Zugleich deutet das Wort auf Hades, Ά ί δ η ς , den 'Unsicht-
baren', hin. Und in der Tat nimmt das Orakel die typischen Ereignisse vor-
weg, die den Zustand der erotischen Marginalität metaphorisch umkreisen:
Banditen und Piraten tauchen unmittelbar danach auf, das Motiv des
τάφος - θάλαμος und des πυρ άίδηλον ist mehrmals präsent. Die Schiffe
brennen sehr bald, und beide Helden erleiden mehrere Fast- und Schein-
tode (Gift, Grube, Aresopfer, Habrokomes' Todesstrafe am Nilufer). Zu-
letzt, nämlich in der endgültigen Vereinigung, empfindet man die reichen
Gaben der Aphrodite als glückseligmachend (δλβια δώρα). Isis als Göttin
der Ehe vermag dies zu gewähren. Anthia und Habrokomes können der
Göttin zuletzt den entsprechenden Dank abstatten. Nach dem erfolgrei-
chen Bestehen des Übergangsrituals steht ihnen ein besseres Los bevor
(άρείονα πότμον εχουσιν). Anhand dieser Deutung wird deutlich, in
welchem Verhältnis die Abenteuerepisoden in Funktion zur gattungskon-
stitutiven Vorstellung der Liebe stehen.158
156
Zu Meer und Sturm als Metaphern der Liebe vgl. Laplace 1983, 317.
157
Vgl. Alexiou 1974.
158
Vgl. zum ganzen Abschnitt Bierl 2006, 87 Anm. 67.
159
Vgl. nun Ruiz-Montero 2007.
306 Anton Bierl
160 Vgl. die Charakterisierung von Sandy 1982, 142-154, bes. 154.
161
Vgl. Winkler 1982; Futre Pinheiro 1991b.
162 V g | Yatromanolakis 1988 und Rakoczy 1996, 205-213; zum Medizinischen vgl.
Robiano 2003.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 307
163
Vgl. Hefti 1950, 72-78.
164
Vgl. Baumbach 1997.
165 V g i W inkier 1982 , bes. 93, 148.
166
Ähnlich Futre Pinheiro 1991b, 78-82.
308 Anton Bierl
167
Vgl. Jones 2004.
168
Vgl. nun Slater 2 0 0 7 , 5 8 - 6 1 .
169
Allgemein zur Nekromantie vgl. Ogden 2001, im Roman nun Slater 2007.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 309
(681-842) aus der Totenwelt zurückgeholt wird. 170 Ferner bezieht sich die
Szene auf den 'erotischen' Prätext der Odyssee, speziell auf die Nekyia
(11.51-627), wo Odysseus vor seiner Rückkehr als Bettler bei den
Unterweltsseelen unter anderem über die Vorgänge in seinem Hause
Erkundungen einholt.
Mit ägyptischen Beschwörungs- und Heilritualen hantiert auch Achil-
leus Tatios in der berühmten Bienenstichgeschichte (2.7). Durch den vor-
getäuschten Stich in die Lippe kann Kleitophon Leukippe zur Behandlung
bewegen, wodurch es zum ersten Kuß der beiden kommt.
170
Vgl. Bierl 2 0 0 7 , 6 1 .
171
Vgl. Hansen 2003; Sironen 2003.
172
Vgl. Bürger 1892; vgl. ausfuhrlicher Bierl 2006, 78-82.
173
Vgl. Bierl 2006.
174
Ganz am Rande haben Schmeling 1980, 81, 107 und Laplace 1994, 441 mit
A n m . 3 und 4 schon darauf aufmerksam gemacht. Vgl. nun auch Hansen 2003, 308-309
("light pseudo-documentarism", 309). Zur Inschrift bei Xenophon vgl. Sironen 2003,
290-292.
310 Anton Bierl
175
Mehrmals wird auf Weihungen zusammen mit Inschriften hingewiesen, deren
Wortlaut als Epigramm in den Text eingelesen wird. Das Paar weiht in Rhodos eine
Panoplie mitsamt einer Inschrift für Helios (1.12.2; mit späterem Bezug 5.10.6; vgl. auch
5.10.7-10; 5.11.3-4; 5.12.3), Hippothoos verfaßt ein Grabepigramm für seinen ertrunke-
nen Geliebten (3.2.13) und Anthia hinterläßt eine Votivinschrift im Zusammenhang mit
der Darbringung einer Locke (5.11.6).
176
Merkelbach 1995, 347-348 betrachtet die Ephesiaka als "noch fast eine Aretalo-
gie".
177
Vgl. Hansen 2003, 308 Anm. 15. Merkelbach 1962, 113 weist auf die Deponie-
rung solcher Bücher hin, die als Aretalogien der Götter dienten.
178
Vgl. Bierl 2006.
179
Merkelbach 1962, 113; 1994; 1995, 340-348. Vgl. schon Kerenyi 1927, Index
j. v. 'Aretalogie , -isch'.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 311
180 V g i e t w a Η ω 4 8
181
Vgl. Bertrand 1988.
182
Zu diesem und dem folgenden Abschnitt vgl. Bierl 2006, 81.
312 Anton Bierl
183
Vgl. Griffiths 1978.
184
Übersetzung von J. H. Voß. Zur Rolle Äthiopiens im Roman des Heliodor vgl.
Whitmarsh 1998.
185
Vgl. Marinatos 2001, bes. 382-387 (zum ägyptischen Kontext).
186
Vgl. u. a. Whitmarsh 1998; 1999. Zu Delphi bei Heliodor vgl. Feuillätre 1966,
45-67; Rougemont 1992.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 313
Ägypten nach Delphi und von dort wieder zurück besitzt eine besondere
sakrale Bedeutung. Durch das schon beschriebene narrative Verfahren
wird dieser Ablauf verwirrt und zerstreut. Das traumartige Gleiten erhält
durch die in-medias-res-Technik - Heliodor erzählt die komplexen Ereig-
nisse nicht chronologisch vom Anfang her, sondern setzt in der Mitte mit
den Geschehnissen im Nildelta ein - eine deutliche Fokussierung auf
Ägypten, auf das heilige Land des Übergangs. Hier konzentriert man sich
zuvorderst auf das sumpfige Nil-Mündungsgebiet, den Ort des 'Anderen'.
Indem der Ausgangs- und Endpunkt nur ana- und proleptisch auftauchen,
wird man in der schlangenförmigen Anordnung zunächst einer zirkulären
Wirkung ausgesetzt, 187 bis dann im zweiten Teil linear auf das eigentliche
τέλος, auf den Ursprungsort Meroe, die dortige Vereinigung der Geliebten
mit den Eltern und ihre Hochzeit zugesteuert wird. In der zivilisatorischen
Überwindung des Menschenopfers wird diese Bewegung vom Nildelta
nach Memphis und dann über die Grenzen Ägyptens hinaus zum Schritt in
die Utopie einer geheiligten Ordnung.
Hier ist erneut die Aufladung mit höherem Sinn durch die Sonne fest-
zustellen. Man kann also die Reisestrecke wiederum mit dem Sonnenlauf
verbinden. In Äthiopien stellt man sich das Land des Auf- und Untergangs
des Himmelskörpers vor - das Licht wandert dann nach Norden, bis es
wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Die Sonne und Helios als Gott-
heit spielen auch sonst bei Heliodor eine zentrale Rolle. In der sphragis
am Ende (10.41.4) nennt sich der Autor wie folgt, wobei er seine Verbin-
dung mit Helios betont: ... άνήρ Φοίνιξ Έμισηνός, των άφ' 'Ηλίου
γένος, Θεοδοσίου παις 'Ηλιόδωρος. Er bezeichnet sich also als einen
Phönizier, gebürtig aus Emesa, Hauptstadt der neugegründeten Provinz
Phoinike Libanesia und Zentrum des neuen Sonnenkults, der von Kaiser
Elegabal, der selbst aus Emesa stammt, nach Rom importiert wird. Helio-
dor pocht zudem auf seine Abkunft von einer Linie, die sich auf Helios
zurückführt.
Es stellt sich die Frage, ob dem Sonnenkult bei Heliodor größere Be-
deutung zukommt. Hier gehen die Meinungen erneut auseinander. Mer-
kelbach (1962, 234) glaubt, Charikleia sei ein "Heliosroman", der alle
anderen heidnischen Mysterienkulte synkretistisch integriere. Er interpre-
187
Vgl. Michael Psellos, De Heliodoro et Achille Tatio judicium, 24-25 (Dyck):
'Und der Anfang selbst des Romans gleicht gewundenen Schlangen' (και αύτη δε ή
άρχή τοΰ συγγράμματος εοικε τοις έλικτοΐς οφεσι).
314 Anton Bierl
tiert folglich diesen Roman in sehr weiten Kategorien als kodierte Allego-
rie des Falls der menschlichen Seele in die Niederungen der Materie, wo-
durch sie ihre göttlich-himmlische Abstammung vergessen habe, und ihrer
Rückkehr ins Sonnenland. Dies entspricht einer Deutung, die bereits von
den Neuplatonikern vorweggenommen wird. Charikleia stehe symbolisch
für die Seele und mache in der komplexen Erzählung die Erfahrung einer
Initiandin durch (1962, 234-298, bes. 246, 292-294). Otto Weinreich
(1962, 48-53) und Franz Altheim (1948, bes. 120) plädieren dafür, daß der
Helioskult zwar präsent und wichtig sei, aber nicht den entscheidenden
Subtext darstelle. Andere sprechen davon, daß der Roman im allgemeinen
Sinn religiös, die göttliche Vorsehung aber als Ausdruck des Plots zu lesen
sei.188 Somit würde auch das Göttliche nur Mittel der Narration. Der Autor
entspräche dann dem Gott, der die Geschichte zum glücklichen Ende
lenkt.
188
Vgl. Heiserman 1977, 183-202, bes. 202.
189
Zu Helios bei Heliodor vgl. Altheim 1948.
190
Vgl. Bühler 1976; Winkler 2000/2001.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 315
Achtet auf sie, die erstens die Anmut und dann auch den Ruhm hat,
(= 'Chari-kleia')
Delphier, und dann auf ihn, der einer Göttin entstammt. (= 'Thea-genes')
Meinen Tempel verlassen sie, teilen die Wogen des Meeres,
erreichen das dunkle Land, das die Sonne durchglüht.
Dort dann finden sie reichlichen Lohn für ihr rechtliches Leben,
ein weißleuchtendes Band um die schwärzliche Stirn.
191
Dowden 1996 nimmt Heliodors Anspruch ernst.
192
Zum Drama bei Heliodor vgl. u. a. Paulsen 1992.
316 Anton Bierl
193
Zu A n d r o m e d a als Exempel der Mädchentragödie vgl. Bierl 2001, 262 A n m .
430. Zu Andromeda bei Heliodorvgl. Anderson 1997, 312-322; Whitmarsh 1999, 20-21.
Mysterien der Liebe und die Initiation Jugendlicher 319
Liebe ist zwar in vielen Bereichen das Movens, aber alles ist im Höheren
aufgehoben. Vor allem wird der reine Sexus auf negative Folienfiguren
übertragen.
Charikleias und Theagenes' Hochzeit ist die Verbindung der delphi-
schen Welt des Euripideischen Ion mit den fernen, utopischen Zügen der
Gymnosophisten und Brahmanen, die sonst in Indien verortet werden.
Alle Traditionen werden versöhnt und gehen in einer fiktionalen Religion
des Allerhöchsten auf, die ein genialer Autor zum Zweck der totalen Illu-
sionierung erfindet.
Heliodors Charikleia kann man den ersten wirklich großen Roman der
Weltliteratur nennen. Als Abschluß der Gattung des antiken idealen Lie-
besromans umfaßt er alle Tendenzen seiner Vorgänger, übertrifft sie und
bündelt sie zu einem nahezu enzyklopädischen und ideologisch-religiösen
Gesamtentwurf.
fühle, stellen einen Sprechakt dar, der sich auf den Zustand des Lesers
überträgt. Im Sprechen tun die Figuren etwas, sie machen die Sprache zum
Ausdruck ihres unendlichen pathos. Aus der permanenten Trennung vom
ersehnten Geliebten entsteht eine gleitende Signifikantenkette von Formen
starker Expressivität. Tropen, vor allem Metaphern und Metonymien, bil-
den das Reservoir der Semiose, mit deren Hilfe man das Leid einzudäm-
men versucht. Kulte und Feste stellen für ein keusches Mädchen oft nur
die Gelegenheit dar, in der Öffentlichkeit überhaupt auf einen schönen
jungen Mann zu stoßen. Denn gerade der Kult gibt der Frau in einer patri-
archalen Welt der weitgehenden Geschlechtertrennung die Möglichkeit,
vor die Augen der Stadt zu treten. Dies gilt insbesondere für priesterliche
Tätigkeiten, Opferungen, Feste und Prozessionen, aber auch für Supplika-
tionen und Bestattungen. In der phantastischen Stimmung einer traum-
artigen, gleitenden Motivkette können Ritualbestandteile nach dem Prinzip
der Selektion und Kombination fiktionalisiert werden. In solchen Sequen-
zen wird das Grauenerregende des Mythos in performative Handlungsteile
umgesetzt. Neben der Grundkonstellation des rite de passage, der Initia-
tion von Jugendlichen, die in einer Massierung des Schreckens die Phase
der Marginalität durchleben, können sich andere Elemente des Rituals als
Konstituenten der Handlung gruppieren. Vor allem vermögen mythische
Bilder, Szenarien und Erzählungen die traumatische Krisensituation zu
begleiten, zu untermalen und zu schärfen. Im Ausagieren, Besprechen und
Beklagen der existentiellen Bedrohungen können die Ängste gebannt wer-
den. Die typische Unentschiedenheit zwischen Aversion und Attraktion
hinsichtlich des 'Anderen' liegt im Wesen des Erotischen, insbesondere
im Pubertätsstadium eines 'Betwixt and Between' der aufkeimenden
Sexualität.
Zusammenfassung
ist alles dem Erotischen, dem Kern der Gattung, und der Erzählstrategie
unterworfen. Entscheidend ist das Modell des rite de passage, der Initia-
tion von Jungen und Mädchen, die den alptraumartigen Zustand des
Dazwischenseins durchlaufen. Im Imaginären werden die Ängste und
Emotionen bezüglich einer heftig erwachenden Sexualität in einer phan-
tastischen Welt ausgelebt, bearbeitet und gebannt. Gleichzeitig wird dieses
Muster zunehmend manipuliert, unterminiert und neu zusammengesetzt,
um, wie im Falle des Heliodor, für umfassende Weltsinnstiftung religiösen
Anstrichs verwendet zu werden. Die Heteroglossie und totale Vermen-
gung aller Diskurse hoher und volkstümlicher Kultur ermöglichen eine
außerordentlich fruchtbare Interdependenz von Literatur und Religion.
Makro- und Mikrostruktur der Texte sind nicht nur davon durchwoben,
sondern die ganze Erzählung wird selbst wiederum zu einem literarisch
höchst komplexen μΰθος, der neben der kulturellen, situationsabstrakten
Unterhaltung auch durchaus lebensnahe Funktionen übernimmt, die in
einer traditionellen Gesellschaft ganz und gar dem Mythos und Ritual
vorbehalten waren.
Anton Bierl
Seminar für Klassische Philologie, Universität Basel
322 Anton Bierl
Bibliographie
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From the Ancient Greek Novel to the Late Medieval Greek
Romance
In this article, I explore aspects of the interplay between ritual and rhetori-
cal discursive textures as represented in a variety of texts from different
Greek literary traditions. My objective is predominantly methodological.
Going beyond unilateral interpretive schemata I want to outline a trans-
historical and comparative approach to the intricate ways in which ritual
discursive strategies rather than actual practices (/'. e. specific rituals)
inform rhetorical and broader aesthetic modes of signification. Leaving
aside the always thorny and often sterile issue of direct intertextual influ-
ences, my exploration of the interaction between rhetoric and ritual in dif-
ferent periods of Greek literature does not imply an endorsement of any
ideologies of cultural linearity within the Greek (or, for that matter, any
other) case. 1 My theoretical apparatus draws from the concept of ritual
poetics as put forward in 2003 by Dimitrios Yatromanolakis and myself in
the book Towards a Ritual Poetics. There, our methodological Proble-
matik was defined as follows:
1
The scholarly and ideological preconceptions inherent in any essentializing ap-
proaches to the issue of discontinuity or continuity in connection with the Greek case are
addressed in Yatromanolakis/Roilos 2003, 11-12, where further bibliography on the sub-
ject is cited.
2
For the methodological process of ritual poetics, see also the following formu-
lation: "The concept of ritual poetics that we propose as a heuristic analytical tool ad-
336 Panagiotis Roilos
dresses the interaction between the deep, socially and culturally defined structures of
ritual and aesthetic ways of communication - structure being employed here as elsewhere
in this chapter not with its static structuralist connotations, but in the sense of culturally
identifiable forms of expression. Such an approach involves two main methodological
steps: first, an exploration of the homologies between the two constituents of the concept,
that is, the poetics of ritual and ritual as inscribed and manipulated in cultural, notably
aesthetic, expressions; and, second, and most important, the pervasiveness of the inter-
penetratedness of both in broader social discourses" (Yatromanolakis/Roilos 2003, 27; cf.
Yatromanolakis/Roilos 2005a). Aspects of ritual poetics in different Greek contexts are
further explored in Yatromanolakis/Roilos 2005b. Specifically on archaic and classical
Greece, see Yatromanolakis 2006; on medieval Greece, see Roilos 2005.
3
Here 1 am employing the narratological distinction between plot (narrative) and
(narrated) story advanced by Victor Sklovskij.
4
For the role of ekphrasis in Tatios and Heliodoros, see, e. g., Bartch 1989. In
Achilleus Tatios' novel, the explicated picture is described as a 'votive painting'. In Lon-
gos' Daphnis and Chloe, the painting that gave rise to the narrator's fictional ekphrastic
reinterpretation is located in a cave dedicated to the Nymphs. For an interesting but
markedly commonsensical analysis of ekphrasis in Longos, cf. Zeitlin 1990. For an inter-
esting discussion of aspects of the description of the female protagonist in Chariton's
novel, cf. Bierl 2002.
Ekphrastic Semantics and Ritual Poetics 337
5
The plot of the Aithiopika, for instance, has been largely composed as a response to
the enigmatic character of the initial ekphrasis. Andromeda's painting in the same fiction
is also involved in the whole nexus of interpretive games reactivated throughout the nar-
rative, starting at the very beginning of the story. For the construction of Heliodoros'
novel as a riddling narrative, see Morgan 1994. To a great extent the complexity of He-
liodoros' narrative derives from Kalasiris' manipulation of the expectations of his gul-
lible interlocutors; see Winkler 1982. In Achilleus Tatios, the ekphrasis is offered as an
interpretation of the puzzling introductory picture. Similar is the case in Longos, where
the narrative is articulated as an explicating ekphrasis of the sacred image described at
the beginning of the novel. For the narratological function of ekphrasis in Longos, see
Kestner 1973/1974, 166-171; interesting is also Mittelstadt 1967. Cf. also the brief obser-
vations in Hunter 1983, 38-39.
6
For interesting theoretical approaches to ekphrasis in modern literature, see
especially Cluver 1989; Steiner 1989; Hefferman 1991; Yacobi 1995. The theoretical
orientation of all these studies, which focus on Western European cases, would con-
siderably have profited from a familiarity with Greek (ancient, medieval, or modern)
rhetorical approaches and literary realizations of ekphrasis. For instance, the theoretical
rehabilitation of ekphrasis' relevance to narrative or to the descriptive mode in general
and not only to the account of a work of art - a reappraisal put forward in some of these
studies - was preceded, as I noted earlier in this article, by insightful discussions in an-
cient and medieval Greek rhetoric. It is to be greatly regretted that such studies, which are
representative of an overwhelmingly hegemonic scholarly discourse not only in critical
theory but in a variety of humanistic disciplines, classics included, entirely ignore the
Nachleben of ancient rhetorical concepts in later Greek literary traditions. Such an over-
looking unavoidably leads to partial or even distorting historical or theoretical
approaches.
338 Panagiotis Roilos
7
Τό τε διήγημα και ή εκφρασις προς τάς διηγήσεις συμβάλλονται, ομως τό μεν
διήγημα προς τους άποικιλωτέρους και άπλουστέρους τρόπους της διηγήσεως συμ-
βαλλόμενον, ούτοι δ' αν είεν οί παχυμερώς τά πράγματα λέγοντες, προετάγη ώς εύ-
κολώτερον. ή δέ έκφρασις πολλω τούτου ύστερον τέθειται ώς ποικιλωτέρα ούσα και
μείζονος δεομένη της έξεως (Walz 2, 1835, 509).
8
In his definition, Hermogenes (second century AD), who writes one century after
Theon, includes an allusion to the authoritative discussions of previous rhetoricians: φασί
('they say')·
Ekphrastic Semantics and Ritual Poetics 339
9
Walz 2, 1835, 512. It seems that this interpretation of the association of ekphrasis
with the concept of periegesis was a common theme in later commentaries on late
antiquity theories of progymnasmata. An anonymous rhetorician offers exactly the same
explication of ekphrasis as a type of periegematikos discourse (Walz 2, 1835, 56).
10
For enargeia as a rhetorical ideal, see Kustas 1973, 171-174.
11
See, for instance, his description of the temple in Eleusis and the temple of
Eileithyia outside Hermione (Paus. 1.38.7 and 2.35.11). Pausanias' emphasis on the ritual
dimensions of works of art can be read in terms of the methodological concept of ritual
poetics as developed in Yatromanolakis/Roilos 2003. For Pausanias' interest in ritual
340 Panagiotis Roilos
practices, see Eisner 1996; for his descriptions of Greek monuments, cf. Eisner 1994,
244-252; for his narrative technique, see Akujärvi 2005.
12
For a discussion of Tabula in connection with the genre of the novel and specifi-
cally with the medieval Greek novel Hysmine and Hysminias, see Roilos 2005, 150-152.
For some general comments regarding the motif of the road in ancient Greek literature,
cf. Hirsch-Luipold et al. 2005, 18-22. For some observations about the philosophical
background of Tabula, see Fitzgerald/White 1983, 20-26.
Ekphrastic Semantics and Ritual Poetics 341
13
For the categorization of allegorical methods in Greek literature, see Roilos 2005,
116-130, especially 124-127.
14
Germanos' treatise in terms of ritual poetics is discussed in Yatromano-
lakis/Roilos 2003, 24 and 27-28.
15
Ε κ κ λ η σ ί α έστίν έπίγενος ουρανός, έν φ 6 επουράνιος Θεός ένοικεΐ καί
έμπεριπατεΐ (Meyendorff 1984, 56, 1).
342 Panagiotis Roilos
16
Characteristically, this piece has been preserved under the title Έ κ φ ρ α σ ι ς έν
σ υ ν ά ψ ε ι των ά π ' ' Α ν τ ι ο χ ε ί α ς μ έ χ ρ ι ς ' Ι ε ρ ο σ ο λ ύ μ ω ν κ ά σ τ ρ ω ν κ α ΐ χ ω ρ ω ν , Σ υ ρ ί α ς ,
Φοινίκης, κ α ι των κ α τ ά Π α λ α ι σ τ ί ν η ν 'Αγίων Τόπων. At the end of his account, Phokas
employs the same term to describe his account: εκφράσεως σ ύ γ γ ρ α μ μ α . For a general
discussion of Phokas' travelogue, see Galatariotou 1993, 224-225; Kuelzer 2002, 156-
158. For an approach to Phokas' text within the broader context of Byzantine ekphrasis,
see Roilos 2005, 46-47 and 195-196.
17
This observation does not entail that Phokas' comments on the usefulness of his
account directly or indirectly allude to Longos or to any other specific intertext. Rather,
what 1 want to underline here is the comparable emphasis on the didactic potential of
ekphrastic discourse in these two texts, despite the fact that they belong to two con-
spicuously different genres. It should, however, be noted that Phokas was familiar with
the ancient Greek novel. This is evinced by the appreciation he expresses for the descrip-
tive skills of another ancient novelist, Achilleus Tatios. Phokas finds Tatios' ekphrasis of
the harbor of Sidon memorable (on Phokas' response to Leukippe and Kleitophon as an
indication of his rhetorical interest in the genre of the ancient Greek novel, see Roilos
2005, 46-47).
18
Έ ν ά λ λ ο μ α ι τη γ ρ α φ ή και ολως τω νο'ι έντός γ ί ν ο μ α ι του ίεροΰ έκείνου σπη-
λ α ί ο υ ... "Εγραψεν ό τ ε χ ν ί τ η ς τη ζωγράφω χειρΐ έν α ύ τ ω τω σ π η λ α ί φ τ ά έν α ϋ τ φ
τελεσθέντα μυστήρια (PG 133.957C-D).
Ekphrastic Semantics and Ritual Poetics 343
19
The anagogical perception of sacred images was memorably illustrated by loannes
of Damaskos, who described icons as 'books of the illiterate' (PC 94.1247C). According
to him, 'images of the built world dimly signify the divine emphaseis' (PC 94.1241B).
On loannes of Damaskos' theory of the icons, see the concise discussion in Kazhdan
1999, 90-93. For the transcendental semantic potential of icons in medieval Greek the-
ology, the overviews in Kitzinger 1950 and Ladner 1953 are still fundamental. Interesting
discussions of the subject are also found in Cameron 1991, 47-73 and 1992, 1-42. Ana-
gogical interpretation was widely employed in descriptions of religious art throughout
Byzantium. A case in point is Nikolaos Mesarites' description of the church of Sts.
Apostoloi in Constantinople in the twelfth century (the text of his ekphrasis along with an
English translation has been published in Downey 1957, 6). On Mesarites' ekphrasis and
use of allegorical explication, see Roilos 2005, 153 and 194-195, where also a discussion
of the dominant anagogical approaches to icons in Byzantine culture can be found. Simi-
lar is the description of St. Sophia composed by Michael the oikoumenikos didaskalos
also in the twelfth century. In the usual anagogical spirit of medieval Greek ekphraseis,
employed, for instance, in Klemes' allegorical interpretation of the architectonic ar-
rangement of the typical temple discussed earlier in this article, Michael calls the interior
of the church an 'antitype of the tent of the heavens' (Mango/Parker 1960, 237). For
ekphraseis of works of art in Byzantium, cf. also Webb 1999, 59-74.
20
For the concept of emphasis in medieval Greek rhetoric, see Kustas 1973, 69-73
and 159-167; Roilos 2005, 139, 143, 192-196, 200.
21
Cf. the following observation of the Patriarch Photios about the inspired discourse
of St. Paul: Μυστικώς εύ μ ά λ α και τελεστικως ά ν α κ α λ ΰ π τ ω ν την των κεκρυμμένων
ά λ ή θ ε ι α ν {PC 101.586Α; my emphasis).
344 Panagiotis Roilos
22
Already in the second century AD, Hermogenes had delineated the discursive ter-
ritory of Semnotes in such terms (Rabe 1913, 242-246). His ideas were adopted and fur-
ther developed in medieval Greek rhetoric; see, for instance, the observations of Ioseph
Rhakendytes (14 th century; Walz 3, 1834, 497).
23
Here I am referring especially to Kebes, Klemes, Germanos, and Phokas. Pau-
sanias, despite his interest in the ritual associations of many of the monuments and the
images that he describes, does not present the same penchant for allegorical explication
found in the other authors discussed here.
Ekphrastic Semantics and Ritual Poetics 345
24
Lotman 1990, 172.
25
For the concept of homologies in cultural discourses, see Yatromanolakis/Roilos
2003, 27, 30, 36-37, 88.
26
Turner 1974, 305-327 and especially Turner/Turner 1978.
27
In this article, I use Emmanuel Kriaras' editions (Kriaras 1955). These fictions are
all verse compositions in the vernacular. Some of them are heavily based on specific
Western European texts, others more original and closer to the medieval Greek literary
tradition. For these romances, see Beck 1971, 128-147. Roderick Beaton offered an inter-
esting discussion of these works as examples of a developing genre (Beaton 1989, 91-
163). Panagiotis A g a p i t o s provides a notable, albeit at times restricted, formalistic
approach, focusing on the narrative, 'discoursive', and descriptive literary modes of these
texts (Agapitos 1991 and 1999). N o n e of these studies explores or addresses the impor-
tance of ritual modes of signification for the construction of those Byzantine fictions.
346 Panagiotis Roilos
pivotal structural axis of the narrative. Leaving aside any possible specific
intertextual connections with Western European and earlier Greek written
literature,28 what, I contend, is of particular importance for my discussion
here is the overall thematic and structural similarities of this and other
examples of that genre of late medieval Greek literature with aspects of
oral traditional narratives, notably folktales. In addition to the general
narrative pattern of these stories, which fits well in Vladimir Propp's mor-
phological model of Russian wondertales, 29 specific motifs such as
travelling in the foreign parts (xeniteia), wondrous castles (in Belthan-
dros), metamorphosis, the image of the old witch, the use of the symbolic
number three, the miraculous revival of the hero, the threatening presence
of an ogre (in Kallimachos and Chrysorrhoe), seem to draw from, or at
least to recall, the formulaic structural and thematic repertoire of folk nar-
ratives. These comparable elements contribute to the ritual poetics of the
specific written adventure and erotic fictions, since they foreground deep
narrative structures where time and space are organized in terms that are
homological with the construction of these categories in ritual acts or
systems of signification. 30 This ritual poetics is further enhanced through
the use of established rhetorical modes of elevated discourse.
In Belthandros, the homonymous hero's journey beyond the confining
boundaries of his father's authoritarian sovereignty can be viewed as the
first act of Belthandros' passage to maturity. This initial separation is fol-
lowed by the protagonist's experience of a wondrous image that marks his
transposition into the liminal space of erds\ on his trip away from his fa-
therland he comes upon an extraordinary river whose water was traversed
by a strange flame. It was as though the glow emanated from a 'celestial
star' (238). Being intrigued by the miraculous spectacle, Belthandros
28
For an overview of the 'genealogy' of these texts, see Beaton 1989, 146-163.
29
Propp 1928. For applications of Propp's model to the case of these romances, see
Aleksidze 1979 and Koliadimou 1988. Several similarities between these fictional narra-
tives and oral literature are noticed in Megas 1956; cf. also 1953, 3-43.
30
For a discussion of such homologies in oral literature, see Roilos 2007a; Yatro-
manolakis 2007a and 2007b. The possible interconnections of the Byzantine chivalric
romances with oral literature has been the subject of a considerable number of studies;
see, for instance, the seminal contribution of Jeffreys/Jeffreys 1986; Cupane 1994/1995;
Beaton 1989, 164-188. The potential of ritual poetics has not been addressed in these
studies. For an investigation of comparable interactions between written and oral tra-
ditional literature in Renaissance Crete (17 th century), see Roilos 2002, which advances a
methodological approach emphasizing the contribution of 'vocality' to the performative
and ritual(ized) aspects of written texts of that period.
Ekphrastic Semantics and Ritual Poetics 347
decides to follow the current of the river to discover its spring. After ten
days he finds that the river derives from a splendid castle made out of
precious stones. The narrator gives an extensive ekphrasis of the out-
worldly edifice (243-483). Its gate, wrought out of diamonds, occupies a
liminal point in the hero's process toward the world of romantic love and
maturity. In a manner reminiscent both of real works of art of the medieval
Greek world and of the conventions of ekphrasis in Greek literary tra-
dition, this transitional architectonic part is marked by a rather cryptic in-
scription:
That man whom the arrows of the Loves have never reached so far,
him they will at once beat innumerable times,
if he dares to see the interior of the Erötokastron (the Love's Castle). 31
The gate is thus invested with the archetypal symbolic potential attributed
to the concept and function of threshold across different cultures. 32
Located on a significant limen (threshold) both in the hero's journey and
in the development of the story, the gate marks the boundary between dif-
ferent, even antithetical, spatiotemporal categories. In this sense, the limi-
nality of the gate corresponds to the division between sacred and profane,
conspicuous and mystical represented in sacred architecture in different
times and societies. I commented earlier on a similar distinction made by
Klemes of Alexandria in connection with the typical Judaeo-Christian
temple. Similar symbolic demarcations may be observed in ancient Greek
temples. Jonathan Smith illustrates the symbolism of such architectonic
arrangements as follows:
31
For a detailed discussion of the use of epigrams in the context of enigmatic works
of art in literary works of late antiquity and Byzantium, see Roilos 2005, 148-168, where
special emphasis is placed on Makrembolites' novel. On the use of epigrams in works of
art from a period close to the composition of the romance under question, see Talbot
1999; on inscriptions and Byzantine works of art in general, see Maguire 1996.
32
Bachelard offers an interesting discussion of the general symbolic potential of the
image of the door. "The door", he argues, "is an entire cosmos of the Half-Open. In fact,
it is one of its primal images, the very origin of a daydream that accumulates desires of
being, and the desire to conquer all reticent beings" (Bachelard 1994, 222).
348 Panagiotis Roilos
When one enters a temple, one enters marked-off space (the usual example, the
Greek temenos, derived from temno, 'to cut') in which, at least in principle,
nothing is accidental; everything, at least potentially, demands attention. The
temple serves as a focusing lens, establishing the possibility of significance by
directing attention, by requiring the perception of difference. Within the temple,
the ordinary (which to any outside eye or ear remains wholly ordinary) becomes
significant, becomes 'sacred', simply by being there. (Smith 1987, 104)33
33
Quoted in Jones 2000, 267. On the potential of ritual activities to assimilate ordi-
nary categories into their own semantic textures, see also Yatromanolakis/Roilos 2003,
29 and 32-33, where ritual order and signification are discussed in terms of metonymic
and metaphoric semantic associations; on metonymic and metaphoric modes of significa-
tion in traditional ritual settings, cf. Roilos 1998.
34
De Antro Nympharum, 20-31 (Nauck). For the reception of Porphyrios' Neo-
platonism in Psellos, see Roilos 2005, 123; on the influence of Neoplatonism in general
on twelfth-century Greek fiction, especially on Hysmine and Hysminias, see Roilos 2005,
175-183 and 196-203.
35
For such topoi in medieval Greek allegories, see Roilos 2005, 134-137.
Ekphrastic Semantics and Ritual Poetics 349
36
See, for instance, the following verbs and adjectives that convey Belthandros' be-
wilderment or the wondrous nature of the described spectacle: π α ρ ε ξ ε ν ώ θ η ν , ύ π ε ρ -
ε θ α ύ μ α σ ε ν (292, 337, 454), έ θ α ΰ μ α ζ ε ν (313, 455), παρεξενώθηκεν (316), π α ρ ά ξ ε ν ο ν
(295, 326), ξ έ ν ο ν (308), φοβερά (320) θ α υ μ α σ τ ά (333), φρικτόν (405).
350 Panagiotis Roilos
This transition from the anonymous figures depicted throughout the castle
to Belthandros' own allegorically, that is pictorially, prefigured story
should be viewed as the culmination of the hero's contemplative reaction
to the series of wondrous spectacles and portraits that he encounters in the
outworldly building. Contemplation as a generic response to visual arts is
meant here in the sense of evocative coincidence of the viewing subject
with the observed object. It has been aptly argued that in many different
cultures the aesthetic experience of pictorial art can be perceived in par-
allel with elevated contemplation. 37 Certainly this is often the case with
medieval Greek perceptual and interpretive codes of visual aesthetics. In
my study on the amphoteroglossic character of the learned Greek novel of
the twelfth century, I explored how mystical contemplation is interwoven
with ekphrastic aesthetic discourse in the Komnenian fiction, especially in
Hysmine and Hysminias,38 Admittedly in Belthandros as well as in other
examples of its subgenre such as Kallimachos and Chrysorrhoe or Libist-
ros and Rhodamne, the contemplative mode of the heroes' reactions to the
images is less mystical but it is similarly characterized by a focus on the
enigmatic nature of the pictorial signs that they are invited to decode.
In Belthandros, the first epigram about the protagonist's own fate is
accompanied by a second one that repeats the same idea: Belthandros will
fall in love with Chrysantza, since Eros has predestined the one for the
other (421-425). After these prefigurations of the hero's erotic future,
there follows a description of the dome of the castle (442-459). The dome
is portrayed as a 'wondrous structure' (ητον τό κτίσμα θαυμαστόν); it is
like the 'celestial sphere', all the more since its arches are not founded on
the earth and its walls seem to be suspended from the air.39 The dignified
discourse of this passage contributes to the outworldly, magical at-
mosphere of the described building, which, however, is developed into the
topos not of a mystical but rather of a dreamlike experience. In this ek-
phrasis, the metanarrative implications of the preceding epigrams are fur-
ther enhanced by a reference to the paradigmatic love story of Leandros
37
Maquet 1986, 51-58. Maquet's comparative anthropological discussion would
have been significantly enriched by a study of analogous patterns of aesthetic experience
in medieval Greek culture.
38
Roilos 2005, 145-168.
39
In Kallimachos and Chrysorrhoe, the ogre's chamber is described in similar
terms. There, too, the ceiling of the room, which depicts mythological deities (Kronos,
Zeus, Aphrodite, Athena, Charites), is compared to the sky and the stars (423-438).
Ekphrastic Semantics and Ritual Poetics 351
and Hero. The tragic connotations of their romance, which is also men-
tioned in Niketas Eugeneianos' novel (twelfth century) as an exemplum of
true love,40 foreshadow the ordeals that the protagonist will have to pass
before he secures his union with his beloved Chrysantza.
The narrator proceeds to recount Belthandros' meeting with the lord of
the wondrous castle, the King of Erötes. The whole scene takes place in a
blurred context situated between the realm of dreams and the hero's al-
ready extraordinary adventures. The protagonist's reception by the king
recalls aspects of medieval Greek court rituals. According to the estab-
lished Byzantine ceremonial protocol, Belthandros prostrates in front of
the master of the castle who is seated on a throne.41 The King Eros orders
the hero to be the judge at the beauty show that will take place the fol-
lowing day and to choose the most beautiful young lady. Leaving aside
any possible allusions of the beauty-contest to actual customs, whose his-
torical accuracy remains highly questionable, 42 the whole scene, I argue, is
performed in a quasi-ritual order structured on the basis of repeated acts
and words. After Belthandros' announcement of his verdict to the King of
Erötes, the Erötes along with their master and the splendid women disap-
pear. The hero is left alone still wondering about the marvelous nature of
his experience.
The narrator's account here enhances the allegorical and dreamlike
character of Belthandros' extraordinary periegesis. 'The things that he saw
dissolved like a dream' (724), the narrator notes. The hero's subsequent
thoughts about the instability and transience of time in human life be-
speak, I contend, a fusion of allegorical characteristics traditionally attri-
buted to Eros and Time in Greek tradition. A comparable association of
40
Drosilla and Charikles 6.472-480. For a discussion o f references to paradigmatic
love narratives in this novel, see Roilos 2005, 69-71.
41
In its general character, the appearance of the King of Erötes in Belthandros
recalls Hysminias' meeting with the King Eros in a dream in Makrembolites' novel (3.1).
It is worth noting that in both scenes there is also an emphasis on the protagonist's aural
perception of his meeting with the supernatural; for a discussion of Hysminias' encounter
with the King Eros in his dream, see Roilos 2005, 191-193; for the general role of dreams
in this novel, cf. Alexiou 1979.
42
For the disputed historicity of beauty shows in Byzantium, see Ryden 1985;
Treadgold 1979; Hans 1988. Specifically for this motif in Belthandros and Chrysantza,
see Hunger 1975.
352 Panagiotis Roilos
Eros with Time is also found in Hysmine and Hysminias. There, however,
the emphasis was on Eros' sovereignty over all the periods of time. 43 In
Belthandros, what is powerfully foregrounded is the precarious and un-
controllable nature of time and, we may assume, of Eros as well. The ab-
rupt interruption of the normal course of time - as 'normal' as it could be
in the context of the hero's overall supernatural periegesis through the
marvelous castle - underlines the dreamlike liminality of his experience of
Eros' power inside and outside the Erötokastron. Like ritual time, which
has been appositely described as dream time by Edmund Leach, 44 Belthan-
dros' visit to the mysterious castle in general and his meeting with the
king of the personified Loves in particular suspends normal perceptual
patterns of experiencing and interpreting reality. It is presented as an ex-
traordinary, allegorical break in the expected course of the hero's journey.
Belthandros' allegorical periegesis through the world of Eros will be
later enacted on the 'realistic', as it were, level of the story, since he will
indeed meet Chrysantza, the daughter 'of the sovereign, of the illustrious
king of grand Antiocheia', and will fall in love with her. In Belthandros
and Chrysantza, this ekphrastic rite of passage is the principal discursive
mechanism through which the narrative is proleptically channeled toward
its completion. Instead of undermining the main corpus of the narrative,
the periegematikos account of the hero's gradual familiarization with the
enigmatic castle and its accumulated proleptic signs propels the develop-
ment of the story. Belthandros' initial curiosity at the view of the won-
drous fiery river and his crossing of the limen of the castle determine the
course of his journey and his almost ritually contrived passage first
through the Utopian land of Eros and then through the 'realistic' topos of
love adventures, until his final return to his homeland, where he is recon-
ciled with, and eventually procreates, his originally subverted paternal
authority. The inherently ritualistic tripartite schema detected in Belth-
43
For a detailed discussion of the relation between Eros and Time in M a k r e m b o -
lites' narrative as well as in other examples of medieval Greek literature and art, see
Roilos 2005, 161-166.
44
Leach 1961, 124-136; also 1988, 33-41. For a discussion of the embeddedness of
ritual temporal structures in everyday life and other domains of human experience and
expression, cf. Yatromanolakis/Roilos 2003, 37-38; also Roilos 1998 with a detailed
exploration of ritual time in oral literature; see also Yatromanolakis 2005.
Ekphrastic Semantics and Ritual Poetics 353
45
Here I have in mind Propp's influential model (cf. above n. 34). Ekphrasis plays a
similar role in other examples of the vernacular medieval Greek romances, especially in
Kallimachos and Chrysorrhoe and Libistros and Rhodamne. Theodoros Meliteniotes' On
Temperance, an extensive learned allegorical composition (mid-late fourteenth century),
provides an exceptionally interesting example of a meticulous ekphrasis contributing to
the ritual overtones of the whole narrative. Due to limits of space, here I have refrained
from discussing this intriguing but rather neglected text. I intend to explore the ek-
phraseis and the overall ritual poetics of Meliteniotes' allegorical poem in a separate
study. Suffice it to note that this is the most extensive surviving allegorical narrative of
secular Byzantine literature. This text has puzzling intertextual connections with me-
dieval Greek and Western European literature. For a recent study on a part of the detailed
ekphrasis of the personified Temperance's abode in this fiction, see Schönauer 1996. For
a brief discussion of this poem's intertextual allusions, see Beaton 1989, 192-195. Dölger
1919 remains the most systematic general study on Meliteniotes, his poem, and its
sources. For some allegorical aspects in the poem, especially the motif of the castle, see
Cupane 1978, especially 246-260; 1979. Cupane overemphasizes the possible intertextual
connections of Meliteniotes' poem with Western European tradition while understating or
neglecting the intertextual importance of prior comparable Greek examples such as
Kebes' Tabula or the Komnenian and the later vernacular romances. It is worth noting
here that the theme of the fiery river that plays a pivotal role in Belthandros is also found
in Meliteniotes' poem (lines 351-353). Another topic pertinent to my discussion in this
article is the reenactment of Byzantine descriptive modes in examples of modern Greek
narrative, especially in the literature of the nineteenth century. A case in point is the work
of Alexandres Papadiamantis, the most important Greek author of short stories in the
nineteenth and early twentieth century, who draws a great deal of thematic and discursive
elements from the medieval Greek literary tradition. Such aspects of his poetics are ex-
plored in Roilos 2002; 2007b. On the role of description in another nineteenth-century
Greek author, Georgios Vizyenos, cf. Alexiou 1993.
354 Panagiotis Roilos
Panagiotis Roilos
Department of the Classics, Harvard University
46
Yatromanolakis/Roilos 2003, 19, 26-27, 31-34, 37-38.
Ekphrastic Semantics and Ritual Poetics 355
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Mythos und Ritual, Leiden und Opfer.
Ein strukturgeschichtlicher Versuch zur Tragödie.1
Vorbemerkung
Religion, Mythos und Ritual reichen weit in die Vor- und Frühgeschichte
des Menschen zurück. Sie sind in vieler Hinsicht sinn-volle, zentrale Kon-
1
Das Folgende skizziert einige zentrale Gedanken zu einer Strukturgeschichte der
Tragödie, an der ich arbeite. Anton Bierl sei herzlich gedankt für seine vielen Anregun-
gen, seine Geduld und Nachsicht, Lothar van Laak, Jan Andres, Katja Malsch, Sascha
Monhoff, Anna Lindeman, Katharina Wesselmann und Rebecca Lämmle für kritische
Lektüre, Ellen Beyn für unverdrossene Hilfe.
360 Wolfgang Braungart
stitutionselemente von Kultur, wohl aller Kulturen. 2 Schon mit den ersten
Spuren menschlicher Kultur verbinden sich Spuren von Religion und von
Ritualen. In welchem Verhältnis Religion, Mythos und Ritual zueinander
stehen, ist deshalb ein kultur- und religionswissenschaftliches Grund-
problem. 3 Das einfachste Modell, das (religiöse) Ritual als Handlungstyp
zu verstehen, in dem der Mythos realisiert wird, ist nicht unsinnig, umfaßt
aber ganz offenkundig zu wenig. Rituale, auch religiöse, setzen nicht bloß
Mythen in darstellende und inszenierte Handlungssequenzen um. Mythen
liefern ihrerseits nicht nur die erklärenden Geschichten zu vorhandenen
Ritualen nach und gehen auch in funktionaler Hinsicht nicht in Religion
und Kult auf. 4 Es gibt Rituale ohne Mythos und Religion. Es gibt auch
Religion - zumindest Religiosität - 5 ohne Mythos. Schleiermachers mo-
derner Versuch, Religion im Gefühl des Subjekts zu (be-)gründen, mutet
letztlich, im Rilke-Ton gesprochen (auch wenn dies Schleiermacher ein
wenig unrecht tut), der 'Kraft des Herzens', also der religiösen Produkti-
vität des Menschen, alles zu. Was aber ist dann religiöse Erfahrung?6
Woran soll man sie machen, wenn sie mehr sein soll als Autosuggestion?
Das ist eine zentrale Frage, gerade für moderne Religiosität. Da zeigt sich
2
Die Frage kultureller Universalien, die hier nicht eingehend angesprochen werden
kann, beschäftigt in Zeiten der Globalisierung die Geistes- und Kulturwissenschaften
wohl nicht zufälligerweise wieder neu. Man kann versuchen, das Problem der Universa-
lien evolutionstheoretisch zu lösen: Wenn etwas unter ' U n i v e r s a l i e n v e r d a c h t ' steht,
müßte man seinen evolutionsgeschichtlichen Sinn nachweisen können. Vgl. Hejl 2001;
Eibl 2004, 353-358; jetzt v. a. Antweiler 2007.
3
Hock 2002, 116 und 118 zählt den Mythos "zur theoretischen E b e n e von Reli-
gion", das Ritual zur 'praktischen'. Aber was meint hier genau 'theoretisch'? Ein Prob-
lem der Mythenforschung scheint mir bis heute zu sein, daß man den Mythos noch immer
besonders von seiner narrativen Grundstruktur her versteht und ihm damit Textualität
unterstellt. Aber der Mythos "überschreitet die Grenzen zur Sichtbarkeit mühelos" (Blu-
menberg 1979, 243). Der Mythos ist auch bildhaft, anschaulich, evident; und das drückt
sich in Bildern, Plastiken, Architektur aus. Die Faszinationskraft des Mythos beruht min-
destens ebensosehr auf seiner Bildlichkeit wie auf seiner Narrativität. Mythen haben auch
einen ästhetischen Aspekt. Man könnte an diesem Problem eine Religionsästhetik ent-
wickeln, auch eine der christlichen Konfessionen. - Vgl. zusammenfassend den Artikel
von J a m m e 2005, 515-521; vgl. schon Jamme 1991. Christoph J a m m e ist zur Zeit einer
der besten Kenner der neueren Geschichte, Theorie und Philosophie des Mythos.
4
Zu dieser Diskussion vgl. Braungart 1996, 68-73, bes. mit Bezug auf Dalferth
1987.
5
Eine formenreiche, differenzierte, 'vagierende' und subjektive Religiosität ist für
die Moderne und insbesondere die Gegenwart charakteristisch; vgl. Taylor 2002; Graf
2004.
6
Zu dieser äußerst schwierigen, hier nicht zu diskutierenden Frage ist James 1902
noch immer ein zentraler Text.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 361
die Bedeutung des Mythos generell und auch für Religion: In ihm 'ex-
ternalisiert' sich das religiöse Bedürfnis. 7 Der Mythos erklärt; er gibt an-
schaulich aber ebenso das vor, woran Erfahrungen gemacht werden kön-
nen. Erfahrungsmöglichkeiten können allerdings auch Rituale für das reli-
giöse Bedürfnis eröffnen. In ihnen kann sich religiöse Erfahrung perfor-
mativ vollziehen. Mythen und Rituale sind insofern grundlegend für das
ästhetische System 'Religion'. Religionen sind immer auch ästhetische
Systeme.8
Rituale sind jedoch, über die Sphäre der Religion hinausgehend, ein
eigener ästhetisch elaborierter, sozial-kultureller Handlungstyp. 9 Ihre ge-
staltende, transformative, ja dynamisierende Kraft findet neuerdings
wieder besondere Aufmerksamkeit. 10 Rituale können eine große perfor-
mative Intensität entwickeln - so sehr, daß ihre Semantik möglicherweise
sogar weitgehend irrelevant scheint, obwohl sich diese in der hermeneu-
tischen Reflexion dann durchaus erschließen läßt. Das politische Zeremo-
niell zum Beispiel - als ein besonders elaboriertes und reguliertes, immer
für ein Publikum aufgeführtes säkulares Ritual11 - wirkt auf den ersten
Blick in der Regel primär performativ: Es muß korrekt vollzogen werden,
um wirksam zu sein. Dem zweiten, hermeneutischen Blick kann sich dann
dennoch entfalten, in welcher Weise ein Staat, eine politisch-kulturelle
Ordnung im Zeremoniell - ganz wörtlich - zur Darstellung kommt. 12 Aber
man kann wohl nur in einem sehr vagen Sinne sagen, der Staat, der sich
im Zeremoniell zeigt, sei der dahinterliegende 'Mythos'. 13 Wie den Be-
griff der Religion sollte man auch den des Rituals und den des Mythos
nicht überdehnen.
Läßt man gelten, daß Religion, Mythos und Ritual relativ eigenstän-
dige kulturelle Äußerungsformen sind, so können Spannungen, Bewegun-
gen, Dynamiken zwischen ihnen auch in den Gesellschaften leichter wahr-
7
Einflußreich ist die konstruktivistische Zuspitzung bei Berger/Luckmann 1969.
8
Vgl. jetzt auch Lanwerd 2002.
9
Wie fruchtbar diese Perspektive auch für die antike Literatur ist, hat Bierl 2001
deutlich machen können.
10
Vgl. Harth/Schenk 2004.
11
Vgl. G. Braungart 1995; Braungart 1996, 57-67.
12
Vgl. jetzt zur Verschränkung von Politik und Literatur im Huldigungszeremoniell
Andres 2005.
13
Kann man den Staat 'erzählen'? Kann man ihn figurativ zeigen? Immerhin gibt es
die Rede von 'Vater Staat'; und in der ' G e r m a n i a ' kommt im 19. Jahrhundert die Nation
allegorisch zur Darstellung.
362 Wolfgang Braungart
14
Ohne damit Luhmanns Konzept der modernen funktionalen Ausdifferenzierung
gesellschaftlich-kultureller Teilsysteme bestreiten zu wollen.
15
Turner 1969; 1982,28-94.
16
Auch nicht das Epos; wohl aber das Erzählen. Nur ist das keine Gattung. Der
Übergang des Erzählens vom Epos zum Roman ist mit der Durchsetzung der Literalität
verbunden. Sie läßt auch die Tragödie nicht unberührt und gilt doch hier nicht in der-
selben Weise, weil die Tragödie in ihrem Kern eine performative Gattung ist, der Roman
aber nicht. Am Schluß der Vorlesungen über die Ästhetik kommt Hegel darauf zu spre-
chen, wie unzureichend das Lesen und Vorlesen eines Dramas immer bleibt. Es muß auf-
geführt werden.
17
Die Literatur zur Theorie und Geschichte des Opfers ist inzwischen nicht mehr
überschaubar. Vgl. den Überblicksartikel in Weiß 2000.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 363
blickt, daß wir in Religion, Mythos und Ritual drei strukturbildende Ele-
mente dieser literarischen Gattung, die ihren Sitz mitten in der Polis hat,
sehen können: 'Religion' ist der kultisch-soziale 'Rahmen' und ein wich-
tiger Sinnhorizont der Tragödie, insofern der Tragödien-Agon im Rahmen
und als Teil der Großen Dionysien stattfindet. 18 'Mythos' ist das zwar
nicht alleinige,19 aber doch besonders wichtige, anschauliche und episch-
narrative Substrat der Tragödie, das immer wieder neu zu gestalten ist. So,
als jeweils neu interpretierter, 'lebt' der Mythos. 'Ritual' ist eine seman-
tische Substruktur (im Opferritual des Bockes) und das ästhetische und
soziale Form- und Organisationsprinzip, das sich ζ. B. in der Regelhaftig-
keit der Tragödie zeigt (bis hin zur strikt normativen 'Regelpoetik' der
Frühen Neuzeit). Dieses Form- und Organisationsprinzip verweist eben
auf die kultisch-rituelle Performanz der Tragödie im Zusammenhang mit
den Großen Dionysien und ihrer Gesamtordnung.
Diese Konstitutionselemente der Tragödie können deutlich machen,
wie sehr in der Tragödie 'Kultur gespielt' wird. Aber eben: Sie wird ge-
spielt, bewußt inszeniert. Die Tragödie ist weder bloß "rituelle Inszenie-
rung" im Dienste von Religion und Kult, noch bloß "inszeniertes Ritual"
im Dienste des Theaters. 20 Sie ist beides, und ihre Geschichte lebt aus bei-
dem. Die 'Inszenierung' verbindet sie. Das Zusammen-Spiel dieser Kon-
stitutionselemente sowohl mit Bezug auf die 'Polis' wie auch auf das
Subjekt bedeutet durch die gesamte Geschichte der Tragödie eine Heraus-
forderung, 21 an der sie sich abarbeitet, womöglich bis hin zu ihrer Selbst-
auflösung, wenn dieses spannungsreiche Spiel seinen Sinn verliert: etwa
weil der Staat subjektiv nicht mehr relevant, die Gesellschaft in sich zu
sehr differenziert ist. Der kulturelle und soziale 'Sinn', der aus dem als
'Opfer' verstandenen Leiden entstehen kann, wird dann nicht mehr gese-
hen. Noch das sogenannte 'Bürgerliche Trauerspiel' des 18. Jahrhunderts
exponiert seine Konflikte auch, wenngleich nicht mehr vorrangig, im Hin-
blick auf die 'Polis', also auf das, was alle angeht: die Gesellschaft, die
soziale und moralische Ordnung, den Staat.22 Es geht ihm keineswegs nur
18
Vgl. Bierl 1991; Latacz 1993. - Welche Bedeutung dies in Bezug auf die Großen
Dionysien hat, ist nach wie vor umstritten. Vgl. Winkler/Zeitlin 1990.
19
So dient etwa in Aischylos' Persern ein geschichtliches Ereignis als Folie der
Handlung.
20
Chihaia 2002, 33; vgl. auch Turner 1982.
21
Für die griechische Tragödie vgl. Lehmann 1991.
22
Jüngster konziser Überblick zu dieser Untergattung der Tragödie: Schößler 2003.
364 Wolfgang Braungart
23
Vgl. etwa Alexiou 1974; Segal 1994; Schauer 2002.
24
Zu dieser U n t e r s c h e i d u n g , die die deutsche Sprache nicht macht, vgl. Ja-
nowski/Welker 2000b; umfassend zur Theologie des Opfers jetzt auch Negel 2005.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 365
sich eben nicht. Antigone opfert sich für einen höchsten Wert. Und doch
wird man schon bei ihr nicht mehr sagen können, ihr O p f e r ' entspräche
einer heiligen Opfer-Handlung für eine Gottheit. Man sieht also schon an
diesem wohl berühmtesten Beispiel der griechischen Tragödie, daß diese
nicht einfach dem religiösen Opfer im strengen Sinn entspricht. Die Meta-
phorisierung des religiösen Opfers beginnt bereits mit der griechischen
Tragödie. Dieser Vorbehalt soll gelten, auch wenn im folgenden vom
Opfer-Modell der Tragödie gesprochen wird.
Als Spiel, zu dem die Polis zusammenkommt, spielt also die grie-
chische Tragödie durch, was die Polis und was das Subjekt kulturell
konstituiert. Die griechische Tragödie stellt selbst schon ein bewegliches
kulturelles Gesamtsystem dar, nicht weil sie von vornherein kritisch oder
subversiv wäre (etwa zu Lasten der Polis und zugunsten des Subjekts oder
umgekehrt), sondern weil sie auf die Polis und ihre Kultur und auf das
Subjekt zugleich bezogen ist. Im Rahmen der Großen Dionysien aufge-
führt, ist die Tragödie Kultspiel und doch auch Theater; sie wiederholt den
'Mythos' - im Sinne der Aristotelischen Poetik - und zeigt ihn. Dieser
Mythos ist gewußter Mythos, nicht einfach nur Vollzug von Religion. 25
Das Wissen des Mythos erlaubt die nie wieder erreichte konzentrierte Mo-
numentalität der griechischen Tragödie: Es muß nicht alles gesagt werden.
Auch die Pragmatik der Aufführung im Rahmen der Großen Dionysien,
zugleich Dichterwettstreit konkurrierender individueller Autoren, erlaubt
wohl eine solche Deutung. (Soweit ich sehe, hat die neuere Forschung zur
Autorschaft dieser historisch-politisch und kultisch beschreibbaren Auf-
führungssituation der attischen Tragödie noch keine neue Aufmerksamkeit
geschenkt.26 Freilich muß man immer wieder darauf hinweisen, daß die
Entstehung der attischen Tragödie nach wie vor eines der rätselhaftesten
und schwierigsten Kapitel der Literatur- und Kulturgeschichte ist - trotz
so engagierter Theorien wie die Walter Burkerts, auf die später noch ein-
gegangen wird; dazu auch die Einleitung Anton Bierls in Literatur und
Religion I). Oedipus Rex ist aus der Sicht der Zuschauer ein hochironi-
sches Stück. Sie kennen den Mythos. 'Glauben' kann man ihn aber nicht.
Wie auch? Religiöser Kult und religiöses Ritual sind explizit, theatralisch,
25
Ein Beispiel: Auf der Ebene von (christlicher) Religion kann man die Personalität
und trinitarische Gestalt Gottes nur beschreiben und verkündigen; erklären kann man sie
nur auf der Ebene der Theologie, die sich dann mit einem anschaulichen (mythischen)
Verständnis etwa der Personalität schwertun muß.
26
Vgl. etwa Jannidis et al. 1999; vgl. auch Detering 2002.
366 Wolfgang Braungart
27
Und doch gilt gewiß noch immer die einfache hermeneutische Einsicht: keine
W a h r n e h m u n g des Individuellen ohne Generalisierung und Kategorisierung. Wir sind
auch neurobiologisch auf Mustererkennung hin angelegt!
28
Bollenbeck 2005a und 2005b.
29
Vgl. Kühlmann 1982.
30
Vgl. zur wichtigen Sündenfall-Debatte um 1800 Koch 1998.
31
Klassische Texte: Szondi 1956; Klotz 1960.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 367
der Gegenwart hinein und noch für die moderne Tragödie (Heiner Müller,
Philoktet; Botho Strauß, Ithaka) eine besondere Herausforderung dar;32
die Aufmerksamkeit für Religion und Kultus ist in der ästhetischen Mo-
derne keineswegs verschwunden; 33 Entritualisierungen werden oft von Re-
Ritualisierungen begleitet oder sie folgen ihnen34 - in der Kunst, angezeigt
etwa durch die Erneuerung strenger Formen, 35 wie im sozialen Leben.
Als szenisch-theatrale und sprachliche Kunst ist die Tragödie 'evi-
dent', präsentativ und für die Einbildungskraft stimulierend zugleich. Die
Ritualität der Tragödie zeigt sich ästhetisch am stärksten in der Traditions-
permanenz der zu Regeln kanonisierten Aristotelischen Beschreibungska-
tegorien. Das verweist, so könnte man sagen, auf den kultisch-rituellen
Ursprung der Gattung,36 aber auch auf die (ästhetische) Ritualbedürftigkeit
der Zuschauer, die sich im wahrnehmenden Mit-Vollzug zur Gemein-
schaft (in der griechischen Antike: zur Polis, im Theater der bürgerlichen
Epoche: zum selbst-bewußten Bürgertum einer Stadt,37 im Projekt eines
Nationaltheaters im 18. Jahrhundert sogar zur Kultur-Nation) verbinden.
Wenn Aristoteles in der Poetik (1450b24-25) feststellt, 'daß die Tragödie
die Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung ist, die
eine bestimmte Größe hat', 38 so wird hier - wirkungsgeschichtlich gese-
hen - nicht nur einer klassizistischen Poetik der Boden bereitet. Man kann
die Aristotelische Tragödien-Poetik, in der, das muß man sich immer vor
Augen halten, Sophokles' Oedipus Rex als Tragödie par excellence figu-
riert,39 als Versuch sehen, auf den Punkt zu bringen, was die attische
Tragödie eben auch noch ist: Ritualspiel im kultischen Zusammenhang der
Großen Dionysien. Wie alle Rituale, so muß auch das Ritualspiel der
Tragödie ganz, in sich abgeschlossen, nach einer festen Struktur, mit mar-
32
Flashar 1991; Frick 1998 und 2003.
33
Vgl. Vietta 1992, bes. 111-131; Kölbl/Larcher/Rauchenberger 1997; Braungart/
Fuchs/Koch 1997 und 1998; Braungart/Koch 2000.
34
Zur neueren Ritualforschung vgl. die Sammelbände von Schäfer/Wimmer 1998;
Belliger/Krieger 1998; Caduff/Pfaff-Czarnecka 1999; Harth/Schenk 2004.
35
Der Begriff der 'Form' markiert für die Poetik der Moderne ein Grundproblem;
vgl. Burdorf 2001. In der deutschen Lyrik der Gegenwart ist Durs Grünbein ein solcher
Meister der Erneuerung der Form.
36
Vgl. Girshausen 1999; Latacz 1993.
37
Was man mit den entsprechenden Inschriften über den Portalen der Theaterge-
bäude auch zu verstehen gibt.
38
Fuhrmann 1989,25.
39
Vgl. Söffing 1981,217-226.
368 Wolfgang Braungart
kiertem Anfang und markiertem Schluß usw. realisiert werden. Und nur
dann, wenn das Ritualspiel richtig vollzogen wird, kann es auch wirksam
sein. Am Leitfaden von Form-Erfüllung und Form-Störung dieses Bewäl-
tigungsrituals kann man die Geschichte der Tragödie schreiben. Die Form-
Erfüllung ist nicht von vornherein weniger interessant als die Form-
Störung - obwohl uns die Überbietungsästhetik der Moderne, die durch
die Genie- und Autonomie-Ästhetik des 18. Jahrhunderts etabliert worden
ist, dazu verleitet, zunächst einmal von der Störung her zu denken. 40 Dafür
gibt es dann unterschiedliche Modellierungen - etwa: Durchbrechung des
Erwartungshorizontes - , die jedoch immer auf dasselbe hinauslaufen.
Aber auch das (klassizistische) Insistieren auf Form-Erfüllung kann
historisch äußerst interessant sein.41 Man kann das am französischen
Klassizismus und an den ihm folgenden Theaterreformen Gottscheds
sehen.
Der Bezug des Theaters auf die Festkultur als einem kultisch-rituellen
Analogon bleibt bis in die Gegenwart hinein erhalten. 42 Anläßlich eines
Besuchs des Theaters in Orange, wo es die am besten erhaltene römische
Theaterwand gibt, klagt der Erzähler in Rilkes Roman Malte Laurids
Brigge·.
40
A u s der Perspektive eines in der Moderne ausdifferenzierten kulturellen Teil-
systems spricht man der Literatur bevorzugt und auch im Rückblick auf die Epochen, die
noch kulturell h o m o g e n e r gewesen sein sollen, die Rolle des subversiven kulturellen
Störfaktors zu, als sei sie es per se. Bis in die Schulbücher der Gegenwart hinein reicht
die etwas naive normative Vorstellung, Literatur habe aufzuklären, zu ' h i n t e r f r a g e n ' ,
'Kritik zu üben', zu 'problematisieren'. Dann darf sie natürlich mit Ritual, Religion und
Mythos nicht viel mehr zu schaffen haben, als in diesen kulturellen Systemen ihr 'Mate-
rial' zu finden, um sie als Sinnsysteme schließlich zu demontieren. Beantwortet wird mit
einer solchen simplen A u f f a s s u n g auch die schwierige Frage, wozu denn Literatur ' g u t '
sein soll. Das kann man aber auch ganz anders sehen. W o l f g a n g Ullrich hat kürzlich
betont: Bildende Kunst war "dann am stärksten, wenn sie bereits bestehende Weltbilder,
Werte und Ordnungen repräsentieren durfte" (Ullrich 2005, 245). Selbst wenn fur die
Literatur nicht mit der gleichen Konsequenz gelten muß, was für die Bildende Kunst
gelten mag, weil diese in ganz unmittelbarem Sinne ' e v i d e n t ' ist und präsentativ ihre
Bedeutung entfaltet, j e n e aber als sprachliche Kunst notwendig in der Einbildungskraft,
wie das 18. Jahrhundert sagt, so bedeutet die affirmative Übernahme einer sozialen, poli-
tischen oder religiös-weltanschaulichen Aufgabe auch für sie nicht notwendig ästhetische
Niveaulosigkeit. Daran zu erinnern, ist für Archäologie und Altphilologie eigentlich über-
flüssig, flir die Kunst- und Literaturwissenschaft der Moderne jedoch keineswegs.
41
Zum weiteren Z u s a m m e n h a n g dieses Problems (einer Ästhetik bzw. Poetik der
Affirmation) vgl. Braungart 2004a.
42
Vgl. Haller 2002.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 369
Laßt uns doch aufrichtig sein, wir haben kein Theater, so wenig wir einen Gott
haben: dazu gehört Gemeinsamkeit. Jeder hat seine besonderen Einfalle und Be-
fürchtungen, und er läßt den andern so viel davon sehen, als ihm nützt und paßt.
Wir verdünnen fortwährend unser Verstehen, damit es reichen soll, statt zu
schreien nach der Wand der gemeinsamen Not, hinter der das Unbegreifliche
Zeit hat, sich zu sammeln und anzuspannen. 4 3
Ein Theater haben und/oder einen Gott haben, das hieße, so kann man
Rilke verstehen: nicht vereinzelt, nicht individuiert zu sein. Das hieße,
etwas Gemeinsames im gemeinsamen Vollzug zu haben und die 'Kraft'
gemeinschaftlich auf die eine Wand hin auszurichten - wie in der ortho-
doxen Kirche auf die Ikonostase, hinter der man das Heilige weiß, das sich
nicht zeigt. Wie sehr das Theater und insbesondere die Tragödie auf das
Gemeinsame bezogen sein können, das die griechische Antike 'Polis'
nennt, und in ihren Anfängen auch wirklich war, hat besonders Christian
Meier gezeigt.44
Alle kulturellen Äußerungen und Handlungen sind 'zu etwas gut', und alle
werden sie in irgendeiner Weise 'gebraucht'. 45 Über ihre pragmatische,
heutzutage gerne evolutionstheoretisch begründete 'Brauchbarkeit' hinaus,
aber nicht von dieser ablösbar, konstituiert sich in ihnen und an ihnen
Sinn. Mit ihnen wird aus dem bloßen Vollzug vitaler, überlebensnot-
wendiger Akte (Sammeln, Jagen, Fressen/Essen, Schlafen, Sich-Fort-
pflanzen) ein Welt- und Selbstverhältnis planender, gestaltender und be-
deutsamer Produktivität. Man kann dafür auch den Begriff des Symbo-
lischen benutzen, wenn man das Symbolische nicht nur semiotisch als ein
gewissermaßen begrenzbares, einhegbares Moment des kulturellen Zei-
chens versteht (etwa im Rahmen eines dreipoligen Zeichenmodells), son-
dern hermeneutisch im Sinne mehr oder weniger offener Deutungs- und
Verweisungsspielräume und unterschiedlicher Intensitätsgrade von Be-
deutung und Bedeutsamkeit. 46 Kultur impliziert einen mehr oder weniger
großen Grad an Bewußtheit derjenigen, die sie hervorbringen. In allen
43
Engel/Fülleborn/Nalewski/Stahl 1996, 617.
44
Meier 1988.
45
Vgl. Braungart 2004c.
46
Vgl. die ausgezeichnete Darstellung bei Fauser 2003.
370 Wolfgang Braungart
47
Glänzend jetzt die klare Darstellung von Bertram 2005.
48
Vgl. Bertram 2005.
49
Vom "Diskurs der antiken Tragödie" spricht Lehmann 1991. Ich übernehme diese
Formel, weil ich in der antiken Tragödie eine überaus komplexe Form der Auseinander-
setzung mit Mythos, Religion, Geschichte, Gemeinschaft und Subjekt sehe, wie sie bis
dahin nicht dagewesen ist. L e h m a n n s dekonstruktive Perspektive einer "suspensive[n]
Antwortlosigkeit der Tragödie" (Lehmann 1991, 21) teile ich nicht. Der kulturelle Pro-
zeß, in dem der Mensch mehr und mehr ein Selbstverhältnis gewinnt, kann kaum nach
dem Frage-Antwort-Muster interpretiert werden. Zu Lehmanns an Foucault orientiertem
Diskursbegriff vgl. Lehmann 1991, 23-29.
50
Ich beziehe mich auf den großen medientheoretischen Entwurf von Oliver Jahr-
aus, der jüngst 'Literatur als das M e d i u m ' , sozusagen das M e t a m e d i u m , systemtheore-
tisch zu begründen versucht hat: Mit Literatur werden Bewußtsein und Kommunikation
strukturell ' g e k o p p e l t ' . Daß Literatur hierfür besonders geeignet ist, liegt an der Ab-
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 371
wußten Erleben für sich. Im 18. Jahrhundert heißt das bewußte Erleben
'Innerlichkeit', und die war und ist bekanntlich religiös (Pietismus) wie
poetisch (Empfindsamkeit, Sturm und Drang) höchst produktiv! Menschen
wollen und müssen sich damit auseinandersetzen, wer und was sie sind:
im Hinblick auf die Götter, auf den Kosmos, auf den Staat, auf den enge-
ren sozialen Verband, auf sich selbst (entsprechend lassen sich, mit Karl
Kerenyi, auch Mythen ordnen). Es ist kein Zufall, daß sich die Tragödie
genau in der Phase im antiken Griechenland entwickelt, in der sich auch
die attische Demokratie entwickelt. Denn die attische Demokratie ist -
ganz ungeachtet der Einschränkungen, die sie gegenüber einem modernen
Verständnis von Demokratie charakterisieren - herausragender Ausdruck
einer gestaltenden Produktivität auf dem Feld des Politischen.51
Daß es eine fortwährende Aufgabe bleibt, sich mit sich selbst ausein-
anderzusetzen und mit dem, was ein gestaltendes Verhältnis zur Welt und
zu sich selbst mitprägt, ja womöglich hemmt - mit den Göttern, den sozi-
alen und politischen Verhältnissen, den Familienstrukturen, der eigenen
Affektivität, letztlich und am entschiedensten: mit Leid und Tod - , tut der
Notwendigkeit keinen Abbruch, es unter jeweils historisch konkreten Um-
ständen immer neu versuchen zu müssen. Denn sinnvoll muß das Leben
immer in der individuellen Erfahrung sein. Sinn ist "Wahrheit ... für
[m]ich" (Kierkegaard). 52 Diese Aufgabe provoziert die Künste stets neu
und so auch die Tragödie.
Aber, wird man einwenden, 'der Mensch' - wer soll das schon sein?
Habe ich nicht eben kritisiert, von den Griechen zu sprechen? Vielleicht
muß man im Hinblick auf die Künste doch einen längeren historischen
Atem haben, als wir uns möglicherweise selbst zugestehen. 53 Daß uns die
antiken Tragödien auch heute noch etwas zu sagen haben, hat nicht ein-
fach damit zu tun, daß es sich eben um große Texte der Weltliteratur han-
delt. Das wäre eine seltsam tautologische Erklärung. Es hat vielmehr da-
mit zu tun, was ich behelfsweise das anthropologische Substrat der anti-
54
Morris 1994, 337-368, bes. 340: "Die Tragödie ... ist die literarische Form, deren
wichtigste gesellschaftliche Funktion im umfassenden Nachdenken über Schmerzen und
Leiden besteht." - Ich danke Iris Hermann für den Hinweis!
55
Vgl. Eibl 2004; Zymner/Engel 2004; als grundlegende E i n f ü h r u n g vgl. Mayr
2005.
56
Darum passen sie unter Umständen heute auch so schlecht: Es ist nicht unbedingt
günstig, in einer Auseinandersetzung mit einem Vorgesetzten einen Adrenalinausstoß zu
haben wie auf der Jagd eines Höhlenbären. ' C o o l ' zu bleiben wäre viel eher angebracht
und hilfreicher.
57
Sehr energisch schon Eibl 1995.
58
Vgl. etwa Abel 2004.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 373
59
Zu einer hierin angelegten Theorie der schwierigen Kategorie des (literarischen)
Rhythmus vgl. Moennighoff 2004, 242-251.
60
Das ist, etwas simplifizierend referiert, die grundlegende These des wichtigen
Versuchs von Eibl 2004.
61
Vgl. etwa Soeffner 1995; Belliger/Krieger 1998; Caduff/Pfaff-Czernecka 1999.
62
Bohrer 1983; Graevenitz 1987; Frank 1988; Jamme 1991.
63
Vgl. Föllinger 2003, bes. Kap. 1.
374 Wolfgang Braungart
Odysseus und sein Gefährte Neoptolemos erreichen den Strand von Lem-
nos. Odysseus erinnert sich:
Hier, ...
... setzt' ich einst
Den Sohn des Poias, Philoktetes, aus,
Dem Eiter troff aus dem zerfreßnen Fuß.
Die beiden Feldherrn hießen so mich handeln.
Denn weder Trank- noch Speiseopfer war
Uns anzurühren möglich; so erfüllte
Das ganze Lager stets ein wildes Schrein,
Gestöhn und Ächzen ... (S. Ph. 3-11) 64
Mit dieser Schilderung, wie einst das Leiden, das der Leidende nicht mehr
für sich allein ertragen konnte und es deshalb hinausschrie, die soziale
Gemeinschaft der Griechen beeinträchtigte - es 'erfüllte das ganze Lager'
- und wie es auch die kultische Praxis der Gemeinschaft, das 'Trank-' und
'Speiseopfer', gestört habe, setzt Sophokles' Tragödie Philoktet ein.65 Das
Leiden stört die soziale Ordnung; damit aber, könnte man hinzufügen,
auch die der Götter. Denn die Götter brauchen selbst das kultische Opfer,
durch das sie als Götter anerkannt werden.66 Woher das Leiden Philoktets
kommt, interessiert an dieser Stelle der Tragödie noch nicht. Hervorgeho-
ben wird zunächst nur, daß es Philoktet radikal individuiert, gerade weil
sein Klagen im 'Lager' ankommt und gehört wird. Darum hat man ihn auf
der Insel Lemnos ausgesetzt. Durch das Leiden sieht sich Philoktet radikal
zum Individuum gemacht. Er 'schlägt aus der Art'. 67 Das Leiden ist zu
konkret und schmerzt zu sehr - die Wunde eitert und stinkt, Philoktet
stöhnt und jammert - , als daß es sich für die Griechen mit der kollektiven
symbolischen Handlung des religiösen Opfers vereinbaren ließe. Das Lei-
den ist hier nicht kultisch-rituell gebändigt und mit kollektivem Sinn auf-
geladen wie im Opfer. Anders: Vom religiösen Kult her gibt es offenbar
64
Die hier verwendeten Sophokles-Übersetzungen sind j e n e von Staiger 1944; hier
333.
65
Vgl. hierzu auch Morris 1994, 344-352.
66
Vgl. als literarische Belege Ov. Met. 1.240-252; Goethe, Prometheus (1774/1777).
67
Damit ist eine grundsätzliche Grenze evolutionsbiologisch inspirierter Interpreta-
tionen angedeutet. Die Evolutionsbiologie interessiert sich, wie alle Naturwissenschaften,
für das Allgemeine, nicht für das Besondere.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 375
68
Denn ein tatsächlich von Menschen gebautes Haus bringt das zustande, was inner-
halb der Entelechie der Natur selbst vorgesehen ist. Vgl. Arist. Ph. II.8.199a.
69
Vgl. Kurz 1996.
70
So, als Menschheitsgeschichte im insularen Labor, kann man Daniel Defoes Ro-
binson Crusoe lesen. Vgl. einige knappe Hinweise bei Braungart 2004b.
376 Wolfgang Braungart
Der Chor bringt das Elend von Philoktets durch das Leiden erzwunge-
ner Individuation zur Sprache:
Das von Natur aus auf die Gemeinschaft bezogene Wesen 'Mensch' lebt
'einsam' und 'unbetreut': 'Wehe! Ich Unglückseliger! Ich / Von Not Ge-
peinigter! Immer nun, / Für alle künftige Zeit allein, / Ohne alle Gefährten
wohne ich hier / Und muß im Jammer verderben' (1102-1106). Das Leid
bessert nicht. Es wird auch nicht nobilitiert wie in der Moderne; es wird in
keiner Weise sinnhaft aufgeladen. Das große Thema der Gattung der Tra-
gödie, das sie von ihren Ursprüngen her bestimmt, wird auch hier, in
Sophokles' Philoktet, angeschnitten: Was ist der Mensch als ein Leiden-
der? Wie steht er selbst zu Schmerz, Leid und Tod? Und was ist deren
Sinn im Hinblick auf die Religion, auf die Gemeinschaft, auf die politisch-
soziale Kultur? Hilft dem Menschen in seinem konkreten, ihm völlig
sinnlos erscheinenden Leid der Verweis auf 'ein göttlich Geschick', wie
der Chor singt (1117)?
Die Tragödie ist die einzige literarische Gattung, die sich aus der
Darstellung des physischen Leidens, das bis hin zum Tod gehen kann, be-
gründet. So elementar anthropologisch muß man die Gattung sehen. Ge-
nau das macht auch ihren eigentlichen Rang aus, daß sie dem Leiden Aus-
druck gibt. Sie stellt sich fortwährend dieser Herausforderung. Selbst für
die Gattung der Elegie gilt dies nicht in derselben Weise, und auch nicht
für die, neben der Tragödie, andere 'altehrwürdige' Gattung des Epos. In
Unglück, Schmerz, Leid und Tod hat die Tragödie ihr semantisches Zen-
trum. Das ist bei keiner Gattung sonst so genau definiert und als ein sol-
ches anerkannt bis hinein in die Dramatik der Gegenwart (B. Brecht, H.
Müller, B. Strauß). Die Tragödie gibt es, weil allein auf die Frage, wozu
das Leiden gut sein soll, eine Antwort gegeben werden muß, wie immer
sie ausfallen mag. Womöglich so, daß es keine Antwort geben kann. Nach
dem Sinn des Glückes und des gelingenden Lebens muß man dagegen
nicht fragen, weil sie sich von selbst verstehen. In Sophokles' Philoktet
wirft der Chor die Frage auf: 'Wie hält der Unglückselige stand?' (175).
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 377
Philoktets Los ist geradezu ein experimentum crucis auf der Bühne.
'Standhalten' ist aber nicht 'Sinn'! Genau daraufkommt eine Moderne
zurück, die die Sinnkonzepte für das Leiden aufgegeben oder verloren hat
(wie man es nehmen mag). Sie behauptet, es gebe allenfalls das Standhal-
ten, die soldatische Variante, oder das Erdulden, die martyrologische.
Das Leiden ist die große religiöse, theologische und ästhetische Her-
ausforderung, die sich in der seit Hiobs Zeiten immer aufs neue gestellten,
aber nie wirklich beantworteten Theodizee-Frage formuliert. 71 Mit Feuer-
bach und Marx mögen wir die Religion als Antwortversuch auf das Leiden
durchschauen. Auf Ausdruck können wir dennoch nicht verzichten. In Ge-
org Büchners Geschichtsdrama Dantons Tod (1835) sagt Payne zu Chau-
mette, der sich selbst den Namen des Vorsokratikers und 'Protometaphy-
sikers' Anaxagoras gegeben hat:
Schafft das Unvollkommene weg, dann allein könnt ihr Gott demonstrieren,
Spinoza hat es versucht. Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz;
nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen. Merke
dir es, Anaxagoras, warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das lei-
seste Zucken des Schmerzes und rege es sich nur in einem Atom, macht einen
Riß in der Schöpfung von oben bis unten. (Büchner, Dantons Tod, III/l) 72
'Warum leide ichT Darauf wäre die Antwort zu geben. Die Verse aus
Agamemnon, dem Eröffnungsdrama der Orestie des Aischylos, sind be-
rühmt und in diesem Zusammenhang schon häufig zitiert worden:
Der von Zeus gesetzte Weg zur Weisheit geht demnach über das Leid.
Schmerz, Leid und Tod werden plausibel gemacht; sie werden erklärt als
notwendiger Weg des Lernens des Menschen, und zwar auch desjenigen,
der 'verstockten Gemüts' ist. Aber was genau ist denn daran zu lernen?
71
Ich bin den hier nur skizzierten Fragen schon mehrfach nachgegangen: Vgl. etwa
Braungart 1997 (mit weiterer Literatur zur Theodizee-Problematik) und 2005b.
72
Lehmann 1980, 44.
73
Staiger/Kraus 2002, 98.
378 Wolfgang Braungart
Vielleicht dies:74 Am Leiden und im Leiden erfährt der Mensch, wer er ist.
Das heißt: Am Leiden wird er Subjekt: einer, der sich selbst kennenlernt,
sich selbst weiß, auch im Unterschied zu andern. 75 Das zeigt die Gattung
der Tragödie. Sie impliziert eine Anthropologie des Leids. Aber was weiß
der Mensch dadurch wirklich? Die Herausforderung für das je konkret
geforderte Verstehen wird durch diese anthropologische Einsicht nicht
geringer, weil das Leiden eben immer je konkret ist und individuell aus-
gehalten werden muß.
Am Ende von Sophokles' Philoktet löst der Eingriff des Gottes die
Herausforderung auf. Herakles weist auf sich selbst als Exempel hin:
IV. Der subjektive Sinn des Leidens: Die Tragödie unter den Be-
dingungen des Christentums
Man kann die Christologie des Neuen Testaments so verstehen, daß sie
beansprucht, eine definitive Antwort auf die Frage zu geben, wozu das
menschliche Leiden gut sei. In der Perspektive des Neuen Testaments ist
das Leiden Jesu die notwendige Selbsthingabe Gottes zur Erlösung der
Menschen. So sollen Leiden und Opfer definitiv zusammengeführt wer-
den. In seiner armseligen Geburt und in seinem äußersten Leiden am
Kreuz bekommt der ferne, abstrakte Gott ein konkretes menschliches Ant-
litz. Das alttestamentliche Bilderverbot wird durchbrochen. Gott wird der
Aisthesis zugänglich. Er ist nun nicht mehr ein textueller Mythos alter Ge-
74
Vgl. auch Menke 2005, 93-101.
75
Zur Unterscheidung von Individuum, Selbst und Subjekt vgl. Vernant 1989.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 379
schichten. Der ferne Gott existiert nicht mehr nur, weil man ihn im kulti-
schen Ritual verehrt und/oder ihn sich erzählt. Der theatrale Mythos der
griechischen Kultur und der erzählte Mythos des Alten Testaments tendie-
ren dazu, als inszenierter, also gewußter Mythos zum Material des Ästhe-
tischen zu werden. Der Mensch gewordene Gott des Neuen Testaments
aber ist 'mitten unter uns', materiell und spirituell zugleich.
Sein Leiden individualisiert auch Jesus Christus bis hin zur größten
Einsamkeit.76 Der Gott selbst, der 'Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs',
dessen Personalität sonst abstrakt bliebe (also unanschaulich, 'unästhe-
tisch'), wird zum Nächsten. Der Andere, der in Jesus Christus erscheint,
ist der Leidende, dessen Leiden aber nicht Natur ist, sondern ein von Men-
schen Zugefügtes, selbst Produziertes. Das ist der Anknüpfungspunkt für
Rene Girards Kulturanthropologie, auf die ich noch genauer eingehe. So
bliebe eigentlich für eine dunkle Leidensanthropologie und Leidensmystik
hier gar kein Platz mehr. Das schlimmste Leiden kommt uns in der Nach-
folge Christi nicht naturhaft zu, sondern erscheint als das, was wir selbst
einander antun. Für die gemeinschaftsbildende Funktion des Opfers ist
dieses aufklärerische Moment, das auch dem Leiden Christi innewohnt,
allerdings ein Problem. Es wird deshalb konterkariert durch das Geheim-
nis der eucharistischen Feier. Gemeinschaften brauchen Geheimnisse
(Georg Simmel), die nur ihre Mitglieder teilen und sie miteinander verbin-
den. Das Opfer-Ritual ist ein solches Geheimnis, das funktionieren kann,
solange es nicht 'aufgeklärt' wird. Es ist nicht zufällig so, daß der Abend-
mahlsstreit zentral war für die Konfessionsbildungen der Frühen Neuzeit.
Rogo ergo vos, imitatores mei estote, sicut et ego Christi, ermahnt
Paulus die Gemeinde von Korinth (1. Kor 4.16). Nachahmende Nachfolge
fordert Jesus selbst von den Jüngern. In welcher Weise diese Konkretisie-
rung und zugleich Verengung von mimesis zu imitatio auch poetologisch
und ästhetisch folgenreich war (das betrifft vor allem das Verhältnis von
Wirklichkeit und Literatur: von der Darstellung zur Nachahmung), 77 kann
hier nur im Hinblick auf die Tragödie behandelt werden: Wer das mensch-
liche Leiden als imitatio Christi begreift, gibt ihm einen definitiven Sinn,
eine Richtung, weil diese imitatio bedeutet, sich auf den Weg des Heils zu
76
Das hat die Literatur beschäftigt. Man denke nur an Jean Pauls große Rede des
toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei (Siebenkäs, 1796/1797) oder an
Rilkes Gedicht Der Ölbaumgarten (1906).
77
Vgl. Koller 1954. Zur kulturellen Problematik der M i m e s i s u m f a s s e n d : Ge-
bauer/Wulf 1992.
380 Wolfgang Braungart
begeben. 78 Das hebt das Tragische, das aus der unlösbaren Herausforde-
rung des Leidens kommt, tendenziell auf. Darum kennt die christlich ge-
prägte Literatur des Mittelalters keine Tragödie. 79 Das mittelalterliche
Passionsspiel ist in den liturgischen Zusammenhang eingelassen. Es ist
Wiederholung dieser einen Leidens- und Opfer-Geschichte, die definitiv
gültig sein will. 80 (Geschichte der Tragödie muß insofern immer auch
Institutionsgeschichte sein,81 die danach fragen muß, welchen Sinn die Er-
füllung der Ritualnorm - etwa des Opfers - oder die Abweichung davon in
diesem Rahmen haben kann).82
Die vollständige Rückbindung des theatralen Opferspiels an das reli-
giöse Ritual macht die Tragödie unmöglich, weil hier ein Sinnhorizont für
das Leiden und Sterben von vornherein mitgesetzt wird und das Leiden
deshalb keine hermeneutische Herausforderung ist. Im als gültig akzep-
tierten religiösen Ritual ist das Subjekt nicht primär hermeneutisch, sinn-
verstehend und sinnkonstituierend, gefordert. Es muß das Ritual vielmehr
korrekt und im Vertrauen auf dann gegebene Wirksamkeit vollziehen. Die
auf Thomas von Aquin zurückgehende katholische Sakramentskonzeption
des opus operatum rationalisiert diese Performativität und Wirkung des
religiösen (Meß-)Rituals und der Sakramente theologisch. 83
Als gegenüber dem Passionsspiel offenere poetische Möglichkeit
kommt die Tragödie erst wieder mit der humanistischen Wiederentdek-
78
Vgl. hierzu und zu den mit der imitatio Christi verbundenen Körperkonzepten:
Feichtinger/Seng 2004. Der Band ist im Rahmen des Konstanzer Forschungsprojektes
'Imitatio Christi als Körperkonzept. Der leidende Körper als kulturelles Symbol und
Kommunikationsmedium bei der Integration des Christentums in die spätantike Gesell-
schaft' entstanden.
79
Die Geschichte, die sich zwischen den Künsten und dem Christentum entwickelt
hat, ist bekanntlich ein höchst produktives Feld. Es ist aber auch eine in ihrem Streit rei-
che Konfliktgeschichte; verwiesen sei nur auf Schwebel 2002; vgl. für einen großen
Überblick zum Tragischen und zur Tragödie die ganz ausgezeichnete Darstellung von
Galle 2005.
80
Müller 2000, 775-777; vgl. zum Osterspiel jetzt (für eine kritisch-historische
Kontextualisierung der kulturwissenschaftlichen Konzepte 'Theater' und 'Ritual' plädie-
rend) Petersen 2004.
81
Vgl. Latacz 1993, 29-45. Grundlegend zur Theatergeschichte, auch unter institu-
tionsgeschichtlichen Gesichtspunkten, Brauneck 1993-2003.
82
Harald Fricke hat versucht, auf dieser Basis des Modells von 'Norm und Ab-
weichung' eine Literaturtheorie zu entwickeln: Fricke 1981 und 2000a. Eine evolutions-
biologische Auseinandersetzung mit diesem Konzept findet sich bei Eibl 2004, 278-301
("Abweichungsästhetik biologisch").
83
Slenczka 2005; Busch et al. 2004.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 381
kung der antiken Tragödie in den poetischen Diskurs zurück, nun aber
eben entschieden als Theater in einem sich mehr und mehr institutiona-
lisierenden Rahmen, nicht mehr als theatrales Kultspiel. Das gilt auch für
das Jesuitentheater, das trotz seines religionspolitischen und -pädagogi-
schen Zwecks eben doch Theater ist.84 Die Poetik der Tragödie entwickelt
sich in den neuen theologisch-konfessionellen Auseinandersetzungen der
Frühen Neuzeit 85 und, damit verbunden, jedoch davon nicht allein ab-
hängig, in einer neu einsetzenden Reflexion des Politischen weiter.
Eine der Voraussetzungen dafür, daß dies möglich wird, ist die Neu-
deutung der hamartia als Schuld. Genau dies wollte die Aristotelische Po-
etik ja nicht, daß Schmerz, Leid und Tod als Konsequenz individueller
moralischer Schuld erscheinen. Mit der Revitalisierung der antiken Tragö-
die in der Frühen Neuzeit begeben sich die Gattung und ihre Poetik auf die
"Suche nach der Schuld". 86 Dadurch wird diese 'archaische' Gattung an-
schließbar an den jüdisch-christlichen Diskurs, demzufolge Leid und Tod
Folge der Sünde sind (Rom 5.12). Diese Verbindung von griechisch-rö-
mischer und jüdisch-christlicher Tradition, vieldiskutiert und für die
Geschichte westlichen Denkens von gar nicht zu überschätzender Bedeu-
tung, macht nun auch die 'Modernisierung' der Tragödie möglich. Jetzt
kann es schuldige, also 'gemischte' Charaktere geben und entsprechend
auch 'gemischte Empfindungen', die das 18. Jahrhundert so liebt, weil sie
rühren und man an ihnen Anteil nehmen kann. Die grundsätzlichen, unauf-
hebbaren Ambivalenzen und Ambiguitäten der Moderne beginnen sich
abzuzeichnen.
84
Vgl. Szarota 1975, 87; Valentin 1978; Wimmer 1982; 2000.
85
Michael Lurje hat dazu vor kurzem eine akribische Studie vorgelegt: Lurje 2004.
86
So der Titel und Leitgedanke von Lurje 2004.
87
Vgl. dazu Barner 1973; Lefevre 1978.
88
Vgl. Schilson 1980.
382 Wolfgang Braungart
Tragödie 89 - die Aristotelische Formel von phobos und eleos als den
Affekten, welche die Tragödie hervorrufen soll, mit 'Furcht und
Mitleid'. 90 Man darf darin nicht bloß einen Übertragungsfehler oder ein
Mißverständnis sehen. Lessing versucht vielmehr, einen Grundgedanken
der Aristotelischen Poetik neu aus dem Geist der christlichen Ethik und
des christlichen Konzepts des Individuums zu formulieren. Die Erregung
von Furcht und Mitleid durch die Tragödie soll das Mitleid so habituali-
sieren, daß es jederzeit im praktischen Leben wirksam werden kann - und
zwar unmittelbar, ohne den Umweg über die Reflexion, also ohne eine
bewußte Entscheidung für die mitleidsvolle Handlung. Das hat auch einen
tiefen anthropologischen Grund: Aus der Emotionsforschung wissen wir,
in welchem Maße Emotionen Zeit sparen. Sie sind Abkürzungspro-
gramme. Das ist für solche Prozesse, in denen wir uns kognitive Ver-
arbeitung gar nicht leisten können, oft lebensnotwendig. Wenn jemand
stolpert und eine Treppe hinunterzustürzen droht, muß ich einfach sofort
zupacken.
Mitleid ist für Lessing freilich ethisch nobilitierte Emotion. Im prak-
tisch wirksamen Mitleid fallen also eine prinzipiell ethisch begründbare
Wertrationalität (M. Weber) und vorreflexive Emotionalität völlig zu-
sammen. Phobos, Furcht, ist für Lessing das 'Mitleid', das wir angesichts
des Leidens in der Tragödie für uns selbst empfinden. Eleos ist das 'Mit-
leid', das wir für andere und mit anderen empfinden. Auch diesen Affekt,
so Lessing, "üben" wir mit der Erfahrung des Leidens in der Tragödie ein,
und zwar grundsätzlich, nicht kasuistisch. 91 Seit der Poetik des Aristoteles
gilt: Die Tragödie emotionalisiert; das Ergebnis dieser Emotionalisierung
ist die katharsis - was immer das sein mag. 92 Lessing formatiert, sozu-
89
Ausführlich hierzu Golawski-Braungart 2005, bes. Kap. 3.
90
Ich stütze mich hier auf eine Passage aus Braungart 2005b, 108-110.
91
Lessing 1756 = Wiedemann 2003, 698. - Arbogast Schmitt 1994, 343 sieht als
"das eigentliche Ziel der griechischen Tragödie eine Kultur des Affekts", die aus "der
Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf die konkreten Einzelfälle" entstehe. Das berührt die
neuerdings wieder aufgegriffene Frage, ob die Übersetzungsformel Lessings vielleicht so
unpassend doch nicht sei. Man kann Schmitt darin folgen, daß die griechische Tragödie
nicht 'abstrakt' belehre, "sondern eben durch den Affekt selbst, genauer: durch Steige-
rung des im Affekt selbst wirksamen Moments der Rationalität." So betont man den Po-
lis-Bezug der Tragödie noch über ihr kultisch-rituelles Moment hinaus. Von einer Habi-
tualisierung eines empfindsamen moralischen Gefühls wie bei Lessing kann jedoch nicht
die Rede sein. Das ist erst Sache des 18. Jahrhunderts.
92
Vgl. Luserke 1991; Lurje 2004. - Vgl. auch den jüngsten, 'biopoetisch' inspirier-
ten Versuch von Abel 2004.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 383
93
Lessing an Nicolai, November 1756 = Wiedemann 2003, 671.
94
Schiller, Brief an Dalberg vom 7. 6. 1784 = Fricke/Göpfert 1981, 1093.
384 Wolfgang Braungart
95
Ich verdanke diesen Gedanken dem Theologen Franfois Vouga. Die Kantische
Transzendentalphilosophie rationalisiert diesen Gedanken philosophisch.
96
Vgl. Schings 1980.
97
Ein Opfer-Diskurs ist auch Lessings Philotas (1759). Aber das heroische, Bewun-
derung erregende Opfer für die Politik wird hier vollkommen demontiert. "Glaubt ihr
Menschen, daß man es nicht satt wird?" fragt König Aridäus am Ende des Stückes, Phi-
lotas' unsinnigen Opfertod eindringlich kommentierend.
98
Wiedemann 2003, 523-524.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 385
99
Dazu Braungart 2003.
100
Vgl. Braungart 2005a. Zur geschichtlichen Bedeutung des Vertrauens vgl. Fre-
vert 2003. Mit dieser aufgeklärten, sozusagen symmetrischen und kommunikativen Ethik
des Anderen wird im 20. Jahrhundert erst Emanuel Levinas brechen, wenn er den Ande-
ren als den radikal Anderen versteht. Als knappe, ausgezeichnete Einfuhrung vgl. Gel-
hard 2005.
101
Vgl. etwa Mauser/Saße 1993; Stenzel 2005.
102
Philosophisch schon Hegel.
103
Vgl. Hösle 1984, bes. 46-55; Roche 1998.
386 Wolfgang Braungart
ben. Es sei denn eben durch eine Konstruktion, in der das Subjekt den
Sinn seines Leidens anschaulich (Mythos) und im Vollzug (Ritual) oder in
der sich das Subjekt als Teil eines Kollektivs erfährt: 104 etwa in der Kon-
zeption als das Opfer, das für die Gemeinschaft als den höchsten Wert
nötig sei.105 Auch diese Option des Opfers, wiewohl bei Lessing deutlich
relativiert, bleibt noch in der Moderne eine Verlockung. Sie ist in der
Tragödie der Neuzeit durchgespielt worden: vergleichsweise differenziert
und komplex, wenngleich nicht überzeugend, etwa in Georg Kaisers Die
Bürger von Calais (1914);106 hier heißt die Gemeinschaft 'Stadt' (Polis!).
Monumentalisierend, heroisierend und in offensichtlich ideologischer Ab-
sicht in Hanns Johsts Schlageter (1933); hier heißt die Gemeinschaft
'Volk'. 107 Der Verweis auf die Objektivität des Schicksals und der 'Not-
Wendigkeit' hilft dem einzelnen jedoch unter Umständen in seiner indivi-
duellen 'Not' wenig. "Ich verstehe die Welt nicht mehr", sagt Meister
Anton am Schluß von Hebbels 'bürgerlichem Trauerspiel' Maria Magda-
lena (1843), als die, die ihm lieb sind, alle tot sind. Dieses Stück, beson-
ders diese letzte Szene (III/l 1), ist voll von Anspielungen auf den biblisch-
christlichen Horizont, dessen sinngebende Kraft jetzt aber radikal bestrit-
ten wird: "Jesus", ruft der Sekretär, der die Nachricht von Klaras (d. i.
'Maria Magdalenas') Tod überbringt. Sie hat sich in den Brunnen gestürzt,
zu dem sie gegangen war, "um Wasser zu schöpfen". 108 Sie hat in "ihrem
Jammer" (!) keinen Trost mehr gewußt. Ihr Vater aber hatte nur acht auf
die "Pharisäer" um sich her.
104
Das Leiden muß dann gar keinen anderen Sinn bekommen als den, Gemeinschaft
zu konstituieren, und den, nicht zu individuieren.
105 v g l . Münkler/Fischer 2000. Der Aufsatz ist eine ausgezeichnete, kritisch-typologi-
sche Bilanz des politischen Opferdiskurses.
106
Dazu Malsch 2007.
107
Der aus dem literarischen Expressionismus kommende Johst war 1933 bis 1945
Präsident der Reichsschrifttumskammer.
108
Vgl. Joh 4.7-26; alle Zitate aus Pörnbacher 1994, 92-94.
109
So der ritualisierte Kehrvers in Brechts Ballade Von der Kindsmörderin Marie
Farrar: Praxis, nicht Hermeneutik!
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 387
es dadurch verständlicher würde. Das Leiden ist dabei der eigentliche Ka-
talysator, der das kulturelle Wechselspiel zwischen Religion, Mythos, Ri-
tual, Polis und Subjekt in Gang bringt. Hölderlin schreibt in seinen
Sophokles-Anmerkungen: "In der äußersten Gränze des Leidens bestehet
nemlich nichts mehr, als die Bedingungen der Zeit und des Raums", 110
also die transzendentalen Kategorien Kants.111 Sie sind zwar Bedingung
auch der Leidenserfahrung, können ihr aber keinen Sinn verleihen. Den
muß sich das Subjekt dann selbst geben, wenn es ihn aus dem religiösen
Modell der imitatio Christi als einer imitatio passionis nicht mehr nehmen
kann. Aber gelingt ihm das? Der Neustoizismus der in ganz Europa ver-
breiteten, barocken Märtyrertragödie enthält noch beide Optionen: Sinn-
Konstitution des Leidens durch imitatio Christi und stoische Selbstbewah-
rung des Subjekts durch 'bewehrete Beständigkeit' (Gryphius), selbst in
der größten Qual. In der Standhaftigkeit des Märtyrers wird der höhere,
objektive Wert des Leidens auf der Bühne wirklich vor Augen gestellt.
Gryphius' Holjurist Papinian zeigt, daß für ihn das heilige Recht gilt,
gerade in der größten Herausforderung. 112 Catharina von Georgien, die
Protagonistin im gleichnamigen Trauerspiel von Gryphius, zeigt, daß
wahre Tugend unerschütterlich sein muß, selbst im fürchterlichsten Marty-
rium.113
Bei Schiller wird der Gedanke der Freiheit im Leiden bedeutsam wie
bei sonst keinem mehr in der neuzeitlichen Tragödienpoetik. Für Schiller
eröffnet gerade das Leiden des Subjekts die Möglichkeit zur Erfahrung
seiner sittlichen Freiheit und Selbstbestimmung. Dahinter steht auch, so-
zusagen, ein transzendental-pragmatisches Problem. Gerade im äußersten
Leid kann der Mensch sich selbst in seiner Freiheit (und also in seiner
höchsten Bestimmung) erfahren, weil er doch sonst nichts anderes hat als
sich selbst. Würde er seine Freiheit bestreiten, bestünde jene immerhin
auch in diesem geistigen Akt der Bestreitung. Vernunft ist für Schiller
nicht in der Geschichte, sondern im Subjekt. Das Leiden wird bei Schiller
also geradezu zur Bedingung von Freiheit, weil wirkliche Freiheit nur dort
gelingen kann, wo sie von der Natur, der Sinnlichkeit nicht abhängt. Und
110
Sattler 1988, Bd. 16, 249.
111
Vgl. Nägele 2005.
112
Andreas Gryphius, Großmüttiger Rechts-Gelehrter, oder Sterbender Aemilius
Paulus Papinianus, Trauerspiel (1659) = Mannack 1991, 307.
113
Andreas Gryphius, Catharina von Georgien, oder Bewehrete Beständigkeit,
Trauerspiel (1657) = Mannack 1991, 117.
388 Wolfgang Braungart
Ich habe es schon skizziert: Man kann vom Leiden des Subjekts in der an-
tiken Tragödie einen Weg einschlagen, der hin zu Schiller führt. Vom Lei-
den, das als Opfer verstanden wird, führt ein Weg zu Hegel und zu seiner
Favorisierung der Sophokleischen Antigone als dem Paradigma für einen
tragischen Konflikt.
Auch dieses andere, gewissermaßen 'objektive' Moment im Diskurs
der Tragödie hat sich in dem eingangs gegebenen Zitat aus Sophokles'
Philoktet bereits angedeutet. Das Opfer der Gemeinschaft der Griechen,
die kultische Praxis, zu der das Kollektiv zusammengekommen ist, wurde
durch das Leidensgebrüll des Einzelnen so gestört, daß es gefährdet war:
'Wir konnten / Kein Opfer ungestört noch heilige Spende / Begehen' (Ρ-
ΙΟ). Weil die Gemeinschaft das Ritual braucht, ist es ein so schreckliches,
unheilverkündendes Zeichen, wenn Teiresias in Sophokles' Antigone sa-
gen muß:
Die Gabe wird nicht angenommen; die Götter zürnen. Die Menschen wer-
den durch das Opfer nicht 'ent-schuldigt', nicht 'ent-sühnt'.
Das subjektiv empfundene Leiden des Individuums ist der große Ein-
spruch gegen die kollektive kultisch-rituelle Praxis. Kulte und Rituale muß
114
Staiger 1944, 259.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 389
man richtig und ganz vollziehen. Darin liegt ihr performativer Sinn.115 Das
legt nun umgekehrt nahe: Dem Leiden selbst muß, wenn es die Gemein-
schaft nicht stören soll, Sinn zugewiesen werden, etwa im Hinblick auf die
kollektive kultisch-rituelle Praxis. Dennoch bleibt es unweigerlich für das
Individuum eine große Herausforderung. Genau dies zeigt sich ebenfalls
schon in der griechischen Tragödie und konstituiert die andere große Linie
in der Geschichte der Tragödie. Das Leiden wird dann als Opfer bzw.
Selbstopfer gedeutet. Darin liegt generell die Herausforderung des Opfer-
Diskurses, der in der neueren religions- und kulturwissenschaftlichen
Forschung vielleicht auch deshalb wieder größere Aufmerksamkeit findet:
daß Leiden und Tod einen wirklichen, übergreifenden Sinn haben
sollen.116 Das heißt: Das Opfer wird als sinnvoll gedeutet im Hinblick auf
eine höhere, das Subjekt grundsätzlich übersteigende und es in einen
größeren Sinn-Zusammenhang einbeziehende Ordnung: 117 die der Götter,
der Religion, des Schicksals, oder, schließlich, in der modernen Perspekti-
ve Hegels: der Geschichte. Die Deutungsperspektive des Leidens als
Opfer braucht einen tragischen Konflikt, der, so Hegel, "Notwendigkeit"
hat, weil jede der widerstreitenden Positionen 'berechtigt' ist:
So berechtigt als der tragische Zweck und Charakter, so notwendig als die tragi-
sche Kollision ist daher drittens auch die tragische Lösung dieses Zwiespalts.
Durch sie nämlich übt die ewige Gerechtigkeit sich an den Zwecken und Indivi-
duen in der Weise aus, daß sie die sittliche Substanz und Einheit mit dem Un-
tergange der ihre Ruhe störenden Individualität herstellt. 118
Es ist ein Sinn in der Geschichte, auch wenn ihn das Subjekt nicht ein-
sehen kann oder will. Das tragische Leiden ist nicht nur unvermeidlich,
sondern, ganz wörtlich: notwendig, sagt Hegel. Die so konzipierte Ge-
schichte ist säkulare Heilsgeschichte. 119 Für Hegel ist, wie eben schon an-
115
Vgl. hierzu Braungart 1996, bes. Kap. 2.
116
Janowski/Welker 2000a; vgl. dazu auch die Bielefelder Dissertation von Malsch
2007.
117
Brecht setzt bezeichnenderweise nicht mehr auf die 'große Ordnung', sondern
auf die 'große Produktion'. Das ließe sich an seiner ^ni;'gone-Bearbeitung (1948) oder
schon an Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1929/30) zeigen. Der Schlachthof ist ge-
schichtlich-gesellschaftliche Produktionsstätte; das 'Opfer' wird radikal neu interpretiert.
'Produktiv' in diesem Sinne ist Brechts Umgang mit der Gattung 'Tragödie' (und seine
Poetik überhaupt).
118
Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, 1820-1829; hier zitiert nach Profitlich
1999, 166 (eine sehr nützliche Edition).
119
Löwith 1953.
390 Wolfgang Braungart
gedeutet, das Ziel der Tragödie das 'Dritte', die Versöhnung, die aus dem
tragischen Konflikt hervorgeht und nicht aus der Erregung von Furcht und
Mitleid und der damit verbundenen katharsis.
Tatsächlich ist bei Sophokles beides angelegt: sowohl die Leidens-, als
auch die Opfer-Poetik der Tragödie. Oedipus Rex ist, neben der Antigone,
in der Geschichte der Literatur die Tragödie schlechthin. 120 Sie ist es des-
halb, weil sie die beiden semantischen Momente, die für den Diskurs der
Tragödie bestimmend sind: Leiden und Opfer, schon konsequent aufein-
ander bezieht. Der Diskurs der Tragödie und des Tragischen entwickelte
sich auch und besonders als Auseinandersetzung mit diesem Stück.121
Zu Beginn des Oedipus Rex klagt der Priester über das Elend, das die
'grimme Pest' über die Stadt Theben und ihre Bewohner gebracht habe,
und fleht Oedipus um Hilfe an. Es beginnt die bekannte und doch immer
neu faszinierende dialektische Geschichte und das tragische Spiel zwi-
schen Wörtlichkeit und Metaphorisierung: Der, der sich nun anschickt,
Licht ins Dunkel zu bringen, gerät genau dabei selbst vom Licht in die
Dunkelheit seiner Selbstblendung und ins Dunkel, in die Abgründe seiner
selbst. Als er über die Dunkelheit seiner unschuldigen Schuld alles weiß,
wird es dunkel um ihn selbst. Der Aufklärer unterliegt der Dialektik seiner
Aufklärungsanstrengung. Sie fällt auf ihn zurück.
Um die Paradoxie dieses Aufklärungsprozesses soll es hier aber gar
nicht gehen, sondern nur um das Detail, daß das initiale Problem, die Be-
drohung Thebens durch die Pest, am Ende auf der Strecke bleibt. Nur noch
um Oedipus geht es am Ende, nicht mehr um die Stadt und die Pest, jeden-
120
Entsprechend dicht ist die Forschungsliteratur; aus der jüngsten Literatur ist die
Interpretation Christoph Menkes 2005 besonders anregend, zielt aber in eine andere Rich-
tung als meine wenigen Hinweise.
121
Michael Lurje hat in seiner großen Studie Die Suche nach der Schuld an der Re-
zeptions- und Interpretationsgeschichte des Oedipus Rex gezeigt, wie das Problem von
Schuld und Reinigung vom theologischen, philosophischen und poetologischen Diskurs
der Frühen Neuzeit adaptiert und jeweils situationsbezogen interpretiert werden konnte:
Lurje 2004. Die monumentale Studie Werner Fricks verfolgt die Transformationen der
griechischen Tragödie und ihrer Poetik in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.
Zwar macht sie auf eine eindrucksvolle Weise deutlich, welche Faszinationskraft das
griechische Tragödienmodell auch noch für die ästhetische Moderne besitzt. Sie vermag
aber nicht die breite, vielschichtige Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie
auf einen Nenner zu bringen. Es sei denn auf diesen: daß es einen Nenner in der Pluralität
der Positionen nicht mehr geben kann: Frick 1998; zur Rezeptions-Geschichte vgl. auch
Flashar 1991. Das festzustellen ist vielleicht nicht sehr befriedigend, aber unvermeidlich,
weil die Pluralisierungsprozesse der Neuzeit auch die 'politische' Gattung der Tragödie
erfassen.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 391
falls nicht mehr direkt. Dies kündigt sich zu Beginn der Tragödie schon
an, als Oedipus dem Priester antwortet:
In der Tat: Die Bürger leiden an 'einem nur', an ihrem König. Oedipus,
der die Doppeldeutigkeit seiner eigenen Rede nicht sieht, verschiebt hier
schon die Perspektive vom Unheil, das über der Stadt liegt, auf das Sub-
jekt. Er hebt sich heraus, zwar in seiner Rolle als König, aber grundsätz-
licher noch: als der Eine, der sich von den Vielen unterscheidet. Oedipus
beansprucht, auf eine besondere Weise zu leiden. Auch ihn individualisiert
schließlich sein Leiden. Das ist, wie gesagt, sehr nahe an der modernen
Nobilitierung des Leidens als Strategie der Selbstauszeichnung und auch
eine grundlegende Figur moderner Kulturkritik (der sehende Eine - die
blinden Vielen).
Am Schluß des Dramas verlangt Oedipus, nachdem er sich die Augen
ausgestochen hat, dreimal, daß man ihn außer Landes schaffe (1340, 1436
und 1515). Wie ambivalent man selbst noch diesen Wunsch verstehen
kann, macht Kreon deutlich, wenn er in seiner letzten Antwort an Oedipus
diesen auffordert, er solle doch nicht in allem Meister sein wollen: 'Nicht
alles meistre dein Begehr. / Denn auch was du einst gemeistert, sieh, es
folgte dir / Nicht nach' (1524). Von seinem Grundfehler kommt Oedipus
bis zum Schluß nicht los. Er ist schon bei Sophokles also nicht einfach
unschuldig.
Dreimal·. Das heißt, daß Oedipus weiß, daß er definitiv aus dem Land
muß und daß er genau so von der Polis ein letztes Mal gebraucht wird.
Nur wenn er weggeht, kann die Stadt gesunden. Also: Oedipus will sich
selbst ausschließen; er will sich selbst zum Sündenbock machen. Dies ist
aber noch immer seine Tat, die er selbst initiiert und ausführt. 123 Er will
122
Staiger 1944, 147.
123
Man kann, scheint mir, nicht sagen, daß Oedipus kein Sündenbock sei, bloß weil
er "selbst seine V e r b a n n u n g " betreibt (Kullmann 1994, 118). Die Tragödie ist eben kein
reines Sündenbock-Ritual, sondern auch ein Diskurs des Subjekts. Sie wiederholt das
Ritual nicht nur, sondern deutet es und hebt es in das reflektierende Bewußtsein.
392 Wolfgang Braungart
das Leid, das er an sich vollzieht, indem er das Organ zerstört, mit dem er
'gesündigt' hat, seine Augen - das Organ, das symbolisch sowohl für sei-
nen Willen zur Aufklärung als auch für seinen Willen zur Selbstermäch-
tigung steht. Das Wortfeld des Sehens, des Lichtes, der Klarheit ist grund-
legend in der Metapherngeschichte der Einsicht und der Erkenntnis. Nicht
zufallig: Der Augen-Sinn ist der Sinn, mit dem wir uns am schnellsten ori-
entieren, der uns am schnellsten zu einer koordinierten und strategisch
sinnvollen Handlung veranlaßt. Alle anderen Sinne haben nicht dieselbe
anthropologische Bedeutung. Oedipus will als ein vom Leiden besonders
tief Gezeichneter das Land verlassen.
Man kann zu diesem Schluß also einerseits sagen, daß das Sünden-
bock-Ritual - einer opfert sich für alle - wirklich funktioniert und daß
deshalb am Ende des Dramas nicht mehr eigens über die Leiden des Kol-
lektivs, die Pest, gesprochen werden muß. Das Ritual wäre, so gesehen,
noch in Kraft. Man könnte aber genauso sagen, daß hier die Tragödie
schon Diskurs des Subjekts ist.124
Folgt man der ersten Deutungslinie, so wäre Oedipus Rex ein Ritual-
Spiel vor der Polis und für die Polis. Es führt vor, wie eine Gemeinschaft -
leicht einsehbar - gefährdet wird durch Inzest, Gewalt und Tod und wie
sie sich reinigt und restituiert durch das Opfer-Ritual, das ein Selbst-Op-
fer-Ritual ist. Man muß dann auch die Frage, was denn die Pest - von
Sophokles bis Camus - bedeuten soll, gar nicht klären. Es genügt zu sa-
gen, daß in der Polis etwas ist, das sie zersetzt. Dafür ist die Pest eine ide-
ale Metapher. 125 Marcellus hat schon recht, wenn er zu Horatio sagt:
"Something is rotten in the state of Denmark" (Shakespeare, Hamlet,
1/4.90).126 Angezeigt ist dies durch den Zerfall der königlichen Familie.
Das ist das schlimmste Zeichen. Die zersetzende Kraft kann also auch die
'Polis' der Familie befallen: etwa als abgrundtiefer Haß und zerstörerische
Macht des Mißtrauens in Kleists Familie Schroffenstein (1803); oder als
Alkoholismus in Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889). Nur entwickelt
sich bei diesen modernen Dramen nichts mehr, was die 'Polis', die Ge-
meinschaft, wiederherstellen könnte. Es wäre allein, wenn überhaupt, die
124
Vgl. auch Lehmann 1991.
125
Metaphern aus dem semantischen Feld von Krankheit/Gesundheit spielen in der
politisch-gesellschaftlichen Metaphorik überhaupt eine große Rolle; vgl. Demandt 1978.
126
Klein 1988,96.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 393
Kraft des Subjekts, das sich über die Macht solcher 'Pest' hinwegsetzte,
wenn es denn diese Kraft aufbrächte. Das ist sein 'modernes' Problem.
Die Tragödie kann also auch ein gesellschaftliches Reinigungsritual
durchspielen, in der der Held das Opfer ist. Diese Möglichkeit ist für die
Geschichte der Tragödie von ihrem Beginn an gegeben. Daß die Aristote-
lische Poetik sich damit befaßt, wie der Charakter des Helden beschaffen
sein muß, kann man so verstehen: Der Held muß zum Opfer überhaupt ge-
eignet sein. Er darf sich nur einen kleinen Fehler leisten (hamartia). In
ihrer Poetologie, ihrer Inszenierung und in ihrer intendierten Wirkung ist
die Tragödie konzeptionell von ihrem Beginn an eine politische Gattung:
die einzige, die es gibt. Wie sehr sie das in ihrer Konstitutionszeit in Athen
war, hat Christian Meier gezeigt.127
Oedipus Rex ist aber auch ein großer poetischer Diskurs über das, was
das Subjekt ist in der allmählichen Einsicht in seine Hybris, in der Erfah-
rung des Leidens, des Schmerzes, des Todes. Davon handelt die Gattung
der Tragödie generell; sie ist die Gattung, die sich dieser Deutungsheraus-
forderung stellt, die von der Erfahrung des Schmerzes, Leidens und Todes
ausgeht, und von der Gewalt, die sie verursacht. Auch Oedipus ist durch
sein Leid zum individuellen Subjekt geworden: 'Mein Leid ist so, daß
keiner / Auf Erden außer mir es tragen kann' (S. OT 1414-1415). Das Lei-
den individuiert auch ihn. Durch seine Täuschungen und seine schuldlosen
Verfehlungen kann er nicht mehr der sein, auf den sich das Vertrauen der
Polis richtet: 'Wie soll ich Kreon gegenübertreten, / Wie Treu und Glau-
ben finden, der ich nun / In unserm Streit so jämmerlich bestehe?' (1419-
1421). Was Oedipus hier anspricht (daß ohne Vertrauen keine Politik
möglich ist), wird ein Grundproblem der Tragödie der Frühen Neuzeit
werden, wenn sich der frühmoderne Staat anders begründen muß als pri-
mär aus Kult und Ritual und wenn zugleich sichtbar wird, daß die bloße
Rationalität der naturrechtlichen Begründung von Souveränität nicht aus-
reicht.128
127
Meier 1988.
128 v g l hierzu meinen Aufsatz: Braungart 2005a.
394 Wolfgang Braungart
129
Thomas Anz hat diesen Gedanken differenziert in einem schwungvollen und an-
regenden literaturtheoretischen Entwurf entfaltet: Anz 1999. Vgl. auch Eibl 2004.
130
Burkert 1972; 1987; 1990 (dort bes. der A u f s a t z "Griechische Tragödie und
Opferritual", 13-39).
131
Girard 1983; 1987; 1998.
132
Burkert 1972.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 395
Eine Hirschkuh hat Agamemnon getötet; eine Hirschkuh ist das Ersatzop-
fer für Iphigenie nach deren Entrückung vom Opferaltar. In diesem Motiv
der Hirschkuh werden also die Schuld des Tötens und das sühnende, be-
133
Hagen/Jens/Kannicht 1958, Bd. 2, 125. - Man kann eine subtile, aber nicht
unwichtige Anspielung auf den Mythos darin sehen, daß sich Helene, die also den Namen
derjenigen trägt, deretwegen die Griechen nach Troja fahren, am Schluß von Gerhart
Hauptmanns Tragödie Vor Sonnenaufgang (1889) mit einem Hirschfänger tötet. Sie
vereint in sich beide Rollen, ist Opfernde und Opfertier zugleich. Dieses 'Selbstopfer'
ohne jeden sozialen Sinn und ohne den Sinn der Selbstbehauptung zeigt die allein von
Helene durchschaute Ausweglosigkeit und fatale Geschlossenheit ihrer Lebenssituation
an. In Hauptmanns Atriden-Tetralogie (1949) dagegen, dem wohl monumentalsten und
äußerst umstrittenen Versuch einer Erneuerung der griechischen Tragödie in der Mo-
derne, bewirkt Agamemnons in ritueller Ekstase vollzogene Tötung der Hirschkuh das
"Wunder", das die Götter versöhnt (Hauptmann 1949, 117).
396 Wolfgang Braungart
134
Vgl. die grundlegende Darstellung Lehmanns 1999. - Ob die Bezeichnung 'post-
dramatisches Theater' wirklich glücklich ist, will ich einmal dahingestellt sein lassen.
135
Vgl. Krebs/Davies 1996.
136
Moldenhauer 1970, 35.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 397
137
Lehmann 1980, 26.
138
Lehmann 1980, 38 und 41.
139
Burkert 1990,21.
140
Umfassend und umsichtig zu Girard: Palaver 2003.
398 Wolfgang Braungart
141
Arist. Po. 1448b5-8 (= Fuhrmann 1989, 11).
142
Vgl. zu dieser Deutung ausführlich Braungart 2001.
143
Es ist interessant, unter diesem Gesichtspunkt Rechtsprozesse, die öffentliche
A u f m e r k s a m k e i t auf sich ziehen, wahrzunehmen. Der öffentliche Diskurs betont dann
gerne, daß ein Exempel statuiert, daß hart durchgegriffen werden müsse. Die gesell-
schaftlichen N o r m e n werden so bekräftigt; die rechtsförmig lebende Gemeinschaft bestä-
tigt sich durch Grenzziehung und in ihren sie begründenden Regeln.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 399
144
Zu den gattungsgeschichtlichen Implikationen vgl. weiter oben S. 372-375.
145
Das weist auf die Bestimmung von Freiheit bei Kant und Schiller voraus: Die
Vernunft unterwirft sich dem Gesetz, das sie selbst gesetzt und als richtig anerkannt hat.
400 Wolfgang Braungart
duellen Tragödie fragen zu können. 146 Die Tragödie kann als Opfer-
Ritualsp/e/ verstehbar werden, in dem das Unglück, das Menschen erfah-
ren, und das Leiden, das sich Menschen antun können, bewußt gemacht,
gestaltet und als Opfer plausibilisiert werden. Ist für Burkert das Opfer der
Tragödie in der Logik vor-geschichtlicher Rituale begründet, so für Hegel
in der Logik der Geschichte.
Girards Theorie kann als anthropologische Heuristik dienen, die die
Tragödie als ein Leid- und Todes-Spiel verstehbar macht, das im Sünden-
bock-Mechanismus begründet ist und das Subjekt aufs äußerste herausfor-
dert und in seiner Singularität anspricht. Ist für Girard das Leiden des ein-
zigartig schuldlosen Opferlammes Jesus Christus die unwiderrufliche Be-
wußtmachung der Gewaltpotentiale des mimetischen Begehrens in uns
Menschen, so eröffnet gerade die Herausforderung durch das Leid für
Schiller die letzte, unwiderrufliche Freiheit und Autonomie des Menschen.
Erst recht dann, wenn er das Leiden freiwillig auf sich nimmt: im Selbst-
opfer, für das Schiller deshalb besondere Sympathie hat (Die Bürg-
schaft, 147 Don Carlos).
Mit den Theorien Burkerts und Girards kann also das eingangs postu-
lierte Spiel der kulturellen Konstitutionselemente Mythos, Religion und
Ritual im Bezug auf das Subjekt und auf die Gemeinschaft aufmerksamer
beschrieben und in seiner literaturgeschichtlichen Produktivität wahrge-
nommen werden. Dafür noch ein weiteres Beispiel: Die Veränderungen in
Senecas Oedipus-Tragödie 148 gegenüber Sophokles und die hier forcierte
Grausamkeit wären so weniger als Ausdruck stoischer Affektenlehre zu
deuten,149 und es wäre einfach zu konstatieren: Hier liegt ein Text vor, der
146
Zu diesem theoretisch-methodologischen Problem noch immer unübertroffen:
Szondi 1978a; 1978b (auch zu Oedipus Rex).
147
Vielleicht kann man sich so den merkwürdigen Satz Damons in der Bürgschaft
erklären: "Er schlachte der Opfer zweie / Und glaube an Liebe und Treue." Die archa-
ische, aber bereits religiös konnotierte Gewalttat selbst (Damon "sieht das Kreuz schon
erhöhet") provoziert den Umschlag in die plötzliche Überzeugung, daß die Gewalt durch
eine christlich getönte Sozialethik überwunden werden muß.
148
Vgl. Lefevre 1985. - Lefevre vermutet, daß Senecas Oedipus seiner indirekten
politischen Anspielungen wegen "weder öffentlich rezitiert noch veröffentlicht wurde.
Vielmehr ist es wahrscheinlich, daß er zur Rezitation im engsten Freundeskreis bestimmt
war" (Lefevre 1985, 1259). Die Katharsis müßte also auch über den gelesenen Text funk-
tionieren!
149
Und das literaturtheoretisch so schwierige und zu wenig diskutierte Modell von
Hintergrund und Vordergrund, von Text und Kontext, von Weltanschauung bzw. Philo-
sophie und ästhetischer 'Umsetzung' würde einmal zurücktreten.
402 Wolfgang Braungart
Sprache allein verlagert werden sollte. Wieviel Blut soll aus der Maske
des geblendeten Oedipus quellen? Die schrecklichen (Sprach-)Bilder der
Tragödie implizieren auch das Heilsversprechen des Körpers. Das ist
zentral für das präsentative Leiden der abendländischen Kultur schlecht-
hin: das Leiden Jesu. Das Heils- und Erlösungsversprechen des zur Schau
gestellten Körpers führt bis in den Körperkult unserer Tage hinein.150
150
Vgl. LeVitte Harten 1999.
151
Zu diesem Problem auch Chihaia 2002; dort die einschlägige Literatur zur
'tragedie classique'; außerdem Galle 2005, 139-151.
404 Wolfgang Braungart
Wie denn! Der Zwang zur Tugend, oder der zum Laster
Soll Launen eines unabweislichen Gestirnes folgen,
Der Mensch hätt auf sich selber so geringen Einfluß,
Daß er ein Schurke wird, wenn Delphi es vorausgesagt?
Die Seele wäre also gänzlich Sklave: ein höheres Gesetz
Zerrt unablässig sie zum Guten oder Schlechten hin;
Und diese Freiheit, die uns keine Wahl beläßt,
Flößt keine Furcht und kein Verlangen je uns ein,
Ohn Unterlaß an die erhabene Weisung ganz gefesselt,
Voll Tugend ohne jed' Verdienst, und lasterhaft ohn' eigenen Frevel.
152
Vgl. allerdings etwa Kalmbach 1996 (jedoch mit ganz anderer Problemstellung).
153
Unter dem Gesichtspunkt des Opfers, aber mit anderen Akzenten, untersucht
Chihaia 2002 die 'haute tragedie'.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 405
Die Protagonisten der Tragödie wollen also nicht bloß das Schicksal voll-
ziehen. Sie wollen die Versöhnung durch ihr eigenes 'Werk' selbst errei-
chen. (Höchst interessant wäre der Vergleich mit der jansenistischen Ak-
zentuierung des Tragödienproblems etwa in Racines Phedre). Die soziale
Bedeutung des Opfers tritt damit nur um so unverstellter hervor. Für The-
see und Dirce würde freilich ihr Opfer das Ende ihrer Liebe bringen. 155 Im
Diskurs der Tragödie der Frühen Neuzeit: Liebeshandlungen und poli-
tische Handlungen treten auseinander; sie sind nicht integrierbar. Das wird
ein grundlegendes Problem der Tragödie bleiben, auch des sogenannten
'Bürgerlichen Trauerspiels'.
Die letzte Szene bringt, gemäß dem Mythos, den Bericht über die
Selbstblendung (Edipes, die nun wirklich als Opfer für den Staat gedeutet
wird und so auch die Versöhnung zwischen Staat und Familie eröffnet:
Indem die Tragödie zum Mythos zurückfindet, relativiert sie den Auto-
nomieanspruch des opferbereiten Paares Dirce und Thesee. Das Opfer
(Edipes erhält dabei christologisch-postfigurative Züge: "Nur seinem Blut
verdanken wir den öffentlichen Jubel." Aus seinem Blut entsteht "den
Thebanern neues Leben ... kaum hat dieses kostbar Blut den Boden nur
berührt" (CEdipe V/12). 157 Das Opfer (Edipes erscheint weniger grausam
und sowohl gegenüber der archaischen Monumentalität bei Sophokles, als
auch gegenüber der Drastik bei Seneca deutlich gemildert. Mit dem
"Wunder" wird die Sichtbarkeit der Wirkung des Rituals betont. Es muß
seinen sozialen Effekt dabei zeigen. Das ist, sozusagen, eine katholische
Variante der Tragödie und katharsis auf der Bühne selbst. Sie begnügt
sich nicht, wie im protestantischen Märtyrerdrama, mit der Emblematisie-
154
Schondorff 1968, 192.
155
Man sieht von hier aus schon die Verschiebung in der Liebeskonzeption bei
Lucile am Ende von Büchners Dantons Tod: Bewahrung der Liebe um den Preis des
Todes; Opfer an die Liebe, nicht Opfer an die Gemeinschaft.
156
Schondorff 1968, 214, meine Hervorhebung.
157
Schondorff 1968,215.
406 Wolfgang Braungart
158
Schondorff 1968, 216.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 407
Schiller nennt seine Tragödie Die Jungfrau von Orleans, an der er seit
Sommer 1800 arbeitet und die er ein dreiviertel Jahr später, im April 1801
abschließt, im Untertitel "Eine romantische Tragödie" und piaziert sie da-
mit - als Drama! - in einer aktuellen literarisch-ästhetischen Diskus-
sion.161 Das Attribut 'romantisch' vergibt Schiller schon 1796 für Goethes
159
Killy 1962, 65. - Man kann sich hier schon, wenn "ein jeder seinen Göttern / Auf
seine Weise dient", an Lessings Ringparabel erinnert fühlen. Lessing hat Corneille
bestens gekannt.
160
Ich habe dieses Problem in Braungart 2005a zu umreißen versucht.
161
Grundlegendes zu Begriff und Epoche bei Schmitz-Emans 2004; einführend und
grundlegend zu Schillers Drama: Guthke 1998; Zymner 2002, 114-129; Luserke-Jaqui
2005,311-333.
408 Wolfgang Braungart
hier das Echo von Thoas' Schlußwort "Lebt wohl!" aus Goethes Iphigenie
zu hören. Goethes (lebens-)geschichtliche Kontinuität in seinem Drama,
das das Opfer vermeidet, braucht äußerste kommunikative Anstrengung
und wird mit äußerstem, existenziellem Risiko erarbeitet. Iphigenie
möchte versöhnt gehen, und sie möchte als Freundin zurückkehren können
zu denen, von denen sie weggeht.
Noch spricht Johanna hier, zu Beginn des Dramas, wie ein kleines
Kind von sich in der dritten Person. Gleich wird sie aber 'ich' zu sagen
beginnen. Sie wird so dieser ihrer naiven Lebensphase gegenübertreten,
sich selbst zu begreifen anfangen, 'Ich' werden und sich der von ihr kulti-
vierten Natur bewußt werden: "Ihr Wiesen, die ich wässerte! Ihr Bäume, /
Die ich gepflanzet, grünet fröhlich fort!" (Prolog 4.387-388). Aus dem
naiven Landmädchen wird ein Individuum, das sich selbst weiß. Mit pro-
gnostischer Kraft und in Anklängen an die Sprache der Bibel prophezeit
Johanna die "Wunder", die sich in der politisch-geschichtlichen Welt unter
ihrer Führung ereignen werden: "Es geschehn noch Wunder - Eine weiße
Taube / Wird fliegen und mit Adlerskühnheit diese Geier / Anfallen, die
das Vaterland zerreißen" (Prolog 3.315-317). Das Erklärungskonzept
"Wunder" ist Johannas Antwort auf die aufgeklärte Diagnose Bertrands:
"Ach! Es geschehen keine Wunder mehr!" (314).162 Das "Wunder" liegt in
der wirklichen Ich-Werdung Johannas.
Das Drama entfaltet also das um 1800 vielfach - bei Hölderlin, Kleist,
Novalis - poetisch durchgespielte und philosophisch reflektierte, tria-
dische geschichtsphilosophische Konzept. Johanna tritt aus ihrem naiven
Zustand heraus und in die Selbst-Bewußtwerdung ein, durch die sie sich
zunächst selbst fremd wird. Zeichen dafür ist, mit der Entdeckung der
Liebe zum Feind, der Verlust des militärischen Erfolgs, zu dem sie am
Ende, nach einem neuen "Wunder", aber wieder zurückfindet. Dann hat
sie den ganzen Lauf der Selbsterkenntnis und Selbstwerdung durchlaufen.
Sie kommt nicht im unendlichen, paradiesischen Bewußtsein an (nach
dem Modell von Kleists Marionettentheater), sondern im vollen Selbst-
Bewußtsein. Geschichtsphilosophie ist für Schiller Subjekt-Philosophie,
"Wunder" ist die Metapher für die neue Qualität, die Johanna im Prozeß
ihrer Selbstwerdung erreicht. Am Ende ereignet sich das "Wunder" noch
einmal, als Johanna plötzlich aus dem Gebet neue unglaubliche Kraft ge-
162
Zum ' W u n d e r ' als zentralem romantischen M o t i v in S c h i l l e r s D r a m a auch
Zymner 2 0 0 2 .
410 Wolfgang Braungart
winnt, die Ketten ihres Kerkers sprengt, und als unter ihrer neuen Führung
das Kriegsglück zu den Franzosen zurückkehrt (V/11.3462-3476). Das
Legendenhafte, in das die Tragödie mutiert, hat die Forschung natürlich
bemerkt. Man könnte auch sagen: Es geschieht etwas, es ereignet sich et-
was, was nicht strategisch planbar war und was doch zu einer neuen Qua-
lität von Geschichte und Subjekt führt.
Kurz etwas genauer zu den einzelnen Schritten der Tragödie: Zunächst
entwickelt sich Johanna, nachdem sie ihre Heimat verlassen hat, zu einer
wahren 'Kampfmaschine' im Zeichen der Himmlischen Jungfrau, zu ei-
nem von jeder personalen Identität entfremdeten Schlachtenmonster. So
sieht sie sich selbst im Dialog mit Montgomery:
163
Vgl. Kurz 1977.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 411
164
Vielleicht rücke ich Schiller so ein wenig zu sehr an Hegel heran, weil Johanna
als Vollstreckerin einer geschichtlichen Aufgabe erscheint. Doch Johanna 'versöhnt'
nicht primär die geschichtlichen Antagonismen. Sie versöhnt sich zuallererst mit sich
selbst! Je allegorischer Schiller jedoch seine Figuren konzipiert (und er neigt dazu) und je
allegorischer man sie interpretiert, desto kleiner wird der Unterschied.
412 Wolfgang Braungart
Johanna scheint zu ahnen, daß aus diesem Gefühl auch eine neue Politik
hervorgehen müßte. Mit ihrem Tod am Ende stirbt auch die alte Politik.
Warum aber sollte sich Johanna eigentlich nicht verlieben? Ein deutlicher
Kommentar auch zu Kants Pflichtethik, bei der die Interessen des Subjekts
keine substantielle Rolle spielen dürfen! Die Liebe hat ihre auch ganz
subjektive Seite. Mit Schiller: Das Besondere, die partikuläre Subjektivität
'läutert' sich zur bzw. versöhnt sich mit der 'Idee'. In der Begegnung mit
Lionel auf dem Schlachtfeld und seiner Schonung verbinden sich ethische
Pflicht und Neigung des Subjekts, das sich in seiner eigenen 'Natur' er-
kennt (V/4) und 'ich' wird.
Die Feindesliebe stürzt Johanna nun ganz aus ihrer traumwandleri-
schen Naivität, die bis dahin ihren militärischen Erfolg gesichert hatte.
Das Glück der Schlacht verläßt sie. Jetzt weiß sie über sich selbst Be-
165
Vgl. Luhmann 1982.
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 413
scheid. Ihre Schuld, so versucht sie das zu begreifen, liegt in der Verfeh-
lung ihres Gelübdes zur imitatio Mariae. Sie will nun wieder, als gäbe es
einen Weg zurück, "eine Hirtin" werden: "Wie eine niedre Magd will ich
euch dienen" (IV/9.2935-2936), sagt sie, auf das Magnifikat anspielend.
Die Liebe zu Lionel war der Katalysator der Selbsterkenntnis. Ihre Schuld
liegt, sie ahnt es, in der Verfehlung christlicher Demut, in der Hauptsünde
der Superbia. Sie will diese Schuld büßen, indem sie aus dem geschichtli-
chen Prozeß, den sie selbst vorangetrieben hat, wieder heraustritt und in
die vorgeschichtliche Welt des naiven Landlebens zurückkehrt. Aber das
ist unmöglich; Geschichte ist nicht reversibel, auch nicht die des eigenen
Lebens. Wie Jesus gibt sich Johanna zu erkennen, als sie auch "in der
Öde" des Köhlers keine neue Sicherheit findet (V/4.3170), und läßt sich
von Isabeau fesseln (V/5). Wie Jesus am Kreuz will sie sich selbst nicht
helfen (V/5). Sie fordert die Soldaten auf, sie, "die kein Mitleid mit euch
trug" (V/6.3233), zu töten.
Indem sie sich in ihrer Schwäche begreift, erfährt sie das Romantisch-
Christliche ganz an sich selbst. Das Romantisch-Christliche ist keine naive
mittelalterliche Ideenwelt und keine abstrakte Ordnungskonzeption, son-
dern ganz Sache des Subjekts selbst. Deshalb hält es Johanna in der Ka-
thedrale, dem Ort des gemeinschaftsbildenden Kultes, auch nicht mehr aus
(IV/9). Die volle Einsicht in sich selbst gibt Johanna am Ende auf eine
'wunderbare' Weise ihre Stärke zurück. Im Tod ist sie endgültig rehabili-
tiert. Johanna findet zu sich selbst zurück: "Schmerzlos und ruhig wie ein
schlafend Kind" liege sie da, sagt der Herzog von Burgund (V/14.3509).
Ihr Lebenslauf schließt sich, der "Regenbogen", das Zeichen der Versöh-
nung zwischen Himmel und Erde, erscheint; "[d]es Himmels Friede spielt
um ihre Züge" (V/14. 3510). Der Tod ist ihre freie Selbsthingabe, und nur
so versöhnt und integriert er und erhebt Johanna zum gültigen Exempel.
Das Individuum geht unter. Das Allgemeine: der soziale Verband (Polis,
Staat), für Schiller: die 'Idee', scheinen zu triumphieren. Religionswissen-
schaftlich hat dies die Struktur des Opfers. Johanna unterwirft sich ganz
dem Willen Gottes. Das Gesetz, zu dem sie sich aber selbst frei entschei-
det, stellt sich also nicht nur als abstraktes Sittengesetz dar, sondern for-
muliert sich anschaulich als religiöse Hingabe. Simson, der alttestamentli-
che Held, ist Johannas Exempel für die Kraft, die ihr daraus zufließt. Die
religiöse Hingabe ist Johannas freier Entschluß. Sie verliert ihr Leben,
anders als Antigone, nicht in einem unauflösbaren Konflikt; sie bezwingt
'nur' sich selbst. Begründet wird durch Johannas Tat ein neuer, integra-
414 Wolfgang Braungart
tiver Mythos: der Johannas selbst. Der Schluß der Tragödie stiftet eine
neue christliche Mythologie und zeigt Schiller an der Seite der Romanti-
ker. Jetzt soll eine neue Geschichte beginnen, eine Geschichte nicht aus
archaischen Anfangen, sondern aus dem Geist der Versöhnung des Sub-
jekts mit sich selbst, mit (seiner) Geschichte und in der Aneignung des
christlichen Gedankens. Das ästhetische Spiel (auch der Tragödie) ist für
Schiller der Ort, wo, anders als im Ritual, im Leiden Freiheit eingeübt und
zugleich schon vollzogen wird.
Sofort nach der Arbeit an der 'romantischen Tragödie' beginnt Schiller
mit der - sehr konstruierten - Tragödie Die Braut von Messina. Sie ist sein
einziger Versuch, den Chor der antiken Tragödie wieder einzuführen.
Nach der Jungfrau von Orleans ist die Braut von Messina nun der Versuch
einer Aneignung des Griechisch-Antiken im Zeichen einer Poetik der
Freiheit des Subjekts.
Schlußsatz
Seit ihren Anfängen entwickelt sich in der Gattung der Tragödie und ihrer
Poetik diese strukturelle Spannung: zwischen individuierendem Leiden
des Subjekts und dem Opfer für einen höheren Wert: die Götter, die Ge-
meinschaft, die Polis, den Staat. Das Opfermodell hat auch für die neuere
Literatur nicht unbedingt an Attraktivität eingebüßt. Nur traut man ihm
nicht mehr als einem verläßlichen, institutionalisierten Ritual. Es wird
nicht einfach appliziert, genausowenig wie der Mythos im religiösen Ri-
tual. Auf diese Struktur von Leiden und Opfer als 'Subtext' der Tragödie
aufmerksam zu werden, hilft, die Spannungen zwischen Anthropologie
und Geschichtlichkeit der Tragödie präziser zu beschreiben: also den
historischen Sinn und die historische Ausformung eines anthropologischen
Grundproblems im theatralen Spiel.
Wolfgang Braungart
Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld
Mythos und Ritual, Leiden und Opfer 415
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