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Beate Kellner

Chaos in komischer Literatur des späten


Mittelalters und der frühen Neuzeit
Heinrich Wittenwilers Ring und Johann Fischarts
Geschichtklitterung

1 Chaos und komische Literatur: Chaos als


Resultat des Zusammenbruchs von Ordnung
Während der höfische Roman im Mittelalter häufig Spannungen zwischen indi-
viduellen Interessen und gesellschaftlichen Ansprüchen verhandelt und dabei
tendenziell auf die Überwindung von Krisen und Unordnung zielt, zeigen Genres
der komischen Literatur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zumeist, warum
und wie es zur Störung von sozialer Ordnung kommt. So wird in einer Fülle von
maeren und Schwänken deutlich, wie leicht Freundschaft, Ehe und Familie, Dorf-
und Stadtgesellschaft, aber auch die höfische Welt durch triebhaftes Verhalten,
Egoismus und Habgier zu erschüttern sind. Nicht selten wird dargestellt, wie sich
bereits aus geringfügigen Anlässen eine Kette von Ereignissen mit einer Eskala-
tion der Gewalt ergibt, die bis zum Zusammenbruch der Ordnung und zum Chaos
führen kann. Wenn sich, zum Beispiel in Konrads von Würzburg Schwankmaere
Heinrich von Kempten, eine ernste Bedrohung für den Kaiser und das Reich aus
dem lächerlichen faux pas eines Kindes beim Festmahl am Ostersonntagmorgen
entwickeln kann, wird mit den Mitteln der Komik dargelegt, wie labil die höfische
Ordnung selbst im Zentrum des Reiches sein kann.¹ Dass gerade Fest und Mahl,
die in besonderem Maße die Harmonie der Großen des Reiches bei Hof zur Schau
stellen sollen, in die Katastrophe ausarten, macht die Störanfälligkeit dieser Ri-
tuale nachgerade offenkundig.²

 Vgl. Edward Schröder, Hg., Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg, Bd. 1, mit einem
Nachwort v. Ludwig Wolff (Dublin und Zürich: Weidmann, 101970). Vgl. dazu u. a. Beate Kellner,
„Zur Kodierung von Gewalt in der mittelalterlichen Literatur am Beispiel von Konrads von
Würzburg Heinrich von Kempten,“ in Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturan-
thropologie, Friedmar Apel, Wolfgang Braungart und Klaus Ridder, Hg., Bielefelder Schriften zur
Linguistik und Literaturwissenschaft 20 (Bielefeld: Aisthesis, 2004), 75 – 103.
 Belege etwa bei Gerd Althoff, „Der frieden-, bündnis- und gemeinschaftstiftende Charakter des
Mahles im frühen Mittelalter,“ in Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit. Vorträge eines in-

https://doi.org/10.1515/9783110655001-007
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Komische Literatur bietet sich dazu an, nicht nur Modelle von Konsoziation
durchzuspielen, sondern auch den Zusammenbruch von Ordnung und den Ab-
sturz ins Chaos zu veranschaulichen. Enorm sind das Ausmaß der Gewalt und die
Formen der Brutalität, welche die Erzähler in diesen Texten präsentieren, kom-
mentieren und worüber sie auch ihre Figuren lachen lassen. Hörern und Lesern
sollen die Geschichten zur Unterhaltung dienen, doch da man die Umstände der
Rezeption in den meisten Fällen nicht kennt, weiß man nicht, inwieweit diese
kurzewîle sie tatsächlich zum Lachen gereizt hat. Das Verhältnis von Gewalt und
Komik ist ohnehin prekär, das provozierte Lachen ist kein heiteres Gelächter,
sondern eher ein Verlachen in Form von Spott und Hohn. Die Darstellung
menschlicher Fehler und Laster sowie Absturz der Ordnung in Unordnung werden
daher in komischen Texten des Mittelalters und der frühen Neuzeit in aller Regel
gerahmt durch Pro- und Epiloge, durch Kommentare, Drohungen und Warnun-
gen, die deutlich machen sollen, dass es um abschreckende Beispiele zu verur-
teilender Verhaltensmuster und gesellschaftlicher Unordnung geht, die ex nega-
tivo auf das Richtige verweisen. Das Lachen und Verlachen wird auf diese Weise
gerechtfertigt, handelt es sich doch um Didaxe, die am Beispiel des Falschen und
Törichten das Richtige nur umso deutlicher betonen will. Aber so einfach ist es
nicht: Komik in Form von Satire und Parodie eröffnet Lizenzen zum Reden über
das, was eigentlich ausgeschlossen sein soll, und bietet diskursive Ermögli-
chungsstrategien für das Sprechen über das Unflätige, Triebhafte, Wilde, Natür-
liche vor und jenseits der Ordnung. Blickt man auf das Verhältnis von narratio und
paratextueller Rahmung, von Warnungen, Fingerzeigen, Kommentaren und nar-
rativer Proliferation dessen, wovor gewarnt werden soll, so ist zu fragen, ob die
Texte nicht weit mehr Raum bieten, um den Imaginationen und Gelüsten der
Rezipienten freien Lauf zu lassen, als für deren Erbauung und Didaxe zu sorgen.
Die Texte erzeugen literarische Überschüsse, welche, einmal produziert, schwer
wieder einzuhegen sind und das Potential haben, die Didaxe zu sprengen.

terdisziplinären Symposions vom 10.–13. Juni 1987 an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Irmgard
Bitsch, Trude Ehlert und Xenja v. Ertzdorff, Hg. (Sigmaringen: Thorbecke, 21990 [1987]), 13 – 25,
hier 22– 24; ders., Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbin-
dungen im früheren Mittelalter (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990), 207– 208.
Zum Phänomen der scheiternden Repräsentation vgl. etwa Rüdiger Brandt, „das ain groß ge-
lächter ward. Wenn Repräsentation scheitert. Mit einem Exkurs zum Stellenwert literarischer
Repräsentation,“ in Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Hedda Ragotzky
und Horst Wenzel, Hg. (Tübingen: Niemayer, 1990), 303 – 331.
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2 Die Verkehrung höfischer Muster und der Sturz


ins Chaos in Heinrich Wittenwilers Ring
Dies gilt in besonderem Maße für Heinrich Wittenwilers um 1400 entstandenen
Roman Der Ring, der in einer einzigen Handschrift (Bayerische Staatsbibliothek
München, Cgm 9300) auf uns gekommen ist.³ Obgleich die mediävistische For-
schung große Mühe darauf verwendet hat, dieses „Haupt- und Schlüsselwerk des
Spätmittelalters“⁴ zu dechiffrieren,⁵ gibt es uns bis heute viele Rätsel auf. Als
schwierig erweist sich nicht nur die Zuordnung des Textes zu einer Gattung der
spämittelalterlich deutschen Literatur, sondern besonders auch der Versuch, die
Perspektive der Erzählung und die Position des Autors zu erschließen. Dement-
sprechend gibt es ein weites Spektrum von Deutungsangeboten zum Ring. So hat
man den Text in jüngerer Zeit auf der einen Seite in einer allegorischen Gesamt-
deutung als eine Darstellung des Abfalls von Gott in geistliche Hurerei festzulegen
versucht,⁶ während ihm auf der anderen Seite unter dem Schlagwort Irrsinn und
Kolportage jede Ernsthaftigkeit abgesprochen wurde.⁷ Die Integration von Wissen

 Vgl. die Ausgaben: Heinrich Wittenwilers Ring, nach der Meininger Handschrift, Edmund
Wießner, Hg. (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1964, ND der Ausg. Leipzig 1931);
Heinrich Wittenwiler, Der Ring. Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach dem Text von Ed-
mund Wießner ins Neuhochdeutsche, Horst Brunner, Übers. und Hg., Reclams Universal-Bi-
bliothek 8749 (Stuttgart: Reclam 42007 [1991]); Heinrich Wittenwiler, Der Ring. Text – Überset-
zung – Kommentar, nach der Münchener Handschrift, erläutert von Werner Röcke, Hg. und Übers.
Mit einem Abdruck des Textes von Edmund Wießner (Berlin und Boston, Mass.: De Gruyter, 2012).
 Vgl. Max Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum
Ende des 16. Jahrhunderts, Dorothea Klein, Hg. (Stuttgart: Reclam, 31997 [1980]), 724.
 Berichte zur älteren Forschung bietet Ortrun Riha, Die Forschung zu Heinrich Wittenwilers Der
Ring 1851 – 1988, Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 4 (Würzburg: Königshausen &
Neumann, 1990); dies., „Die Forschung zu Heinrich Wittenwilers Ring 1988 – 1998 (Mit einer Bi-
bliographie),“ in Vom Mittelalter zur Neuzeit. FS für Horst Brunner, Dorothea Klein, Elisabeth
Lienert und Johannes Rettelbach, Hg. (Wiesbaden: Reichert, 2000), 423 – 430. Vgl. an neueren
Arbeiten besonders Eckart Conrad Lutz, Spiritualis fornicatio. Heinrich Wittenwiler, seine Welt und
sein Ring, Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen. Neue Folge der Konstanzer Stadtrechts-
quellen 32 (Sigmaringen: Thorbecke 1990); Hans-Jürgen Bachorski, Irrsinn und Kolportage. Stu-
dien zum Ring, zum Lalebuch und zur Geschichtklitterung, Literatur – Imagination – Realität 39
(Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2006 [postum erschienen]), 74– 258; Tobias Bulang, Enzyklo-
pädische Dichtungen. Fallstudien zu Wissen und Literatur in Spätmittelalter und früher Neuzeit,
Deutsche Literatur. Studien und Quellen 2 (Berlin: Akademie Verlag, 2011), 189 – 336, mit der
jeweils verzeichneten Forschungsliteratur. Vgl. dazu besonders auch die Bibliographie in der
Ausgabe von Röcke 2012 (wie Anm. 3), 501– 516.
 Vgl. Lutz 1990 (wie Anm. 5).
 Vgl. Bachorski 2006 (wie Anm. 5), 74– 258.
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und Lehre, die geradezu enzyklopädische Dimensionen annimmt, und das Ver-
hältnis von Komik, Unterhaltung und Didaxe verdienen demgegenüber einen
genaueren Blick und gehen nicht in einer einsinnigen Betrachtung auf.⁸

2.1 Prolog

Auf der Prologseite der Münchener Handschrift findet sich in der D-Initiale (fol. 1v,
Abb.), deren Gestalt selbst schon derjenigen eines Ringes ähnelt, die Abbildung
eines Mannes, der einen Ring mit einem eingefassten Edelstein hält. Darunter ist
ein Wappen mit einem steigenden Ziegenbock gemalt. Die in grüner Farbe aus-
geführte Bekleidung und Kopfbedeckung des Mannes verweisen auf einen
Scholaren, in dem man den Erzähler gesehen hat, der sich am Ende des Prologs
als Hainreich Wittenweilär (V. 52) zu erkennen gibt. Insofern ist der Titelbegriff des
Ringes in Schrift und Bild dem Erzähler und Autor zugeordnet. Dass verschiedene
Herangehensweisen an den Text möglich sind, wird überdies bereits im Prolog
erörtert: Nachdem der Erzähler sein Buch, dem er den Namen Der Ring gibt (V. 8),
in den Dienst und Ruhm der höchsten Dreifaltigkeit, der Jungfrau Maria und der
himmlischen Heere gestellt und auf diese Weise Transzendenzbezüge unterstri-
chen hat (V. 1– 4), teilt er sein Publikum in gute und böse Menschen ein und er-
läutert, dass es zur Freude dieser und zum Leid jener gedacht sei (V. 5 – 8). Das
Bild des Fingerrings, der mit einem Edelstein besetzt ist (V. 9), ruft die Vorstellung
von Kostbarkeit hervor, und dementsprechend äußert der Sprecher: Chain vingerli
ward nie so guot | Sam ditz, gehabt in rechter huot (V. 13 f.),⁹ was so viel heißt wie, es
habe nie einen vortrefflicheren Ring gegeben als diesen, auf den man dement-
sprechend achten solle. Der Titel Ring verweist zugleich auf den gesamten Erd-
kreis (orbis terrarum) und den Lauf der Welt (cursus mundi): Wan es ze ring umb
uns beschait | Der welte lauff und lert auch wol, | Was man tuon und lassen schol (V.
10 – 12). Damit wird zum einen der Anspruch auf Universalität erhoben, wie er
einer enzyklopädischen Dichtung zukommt, ruft man sich in Erinnerung, dass
sich Enzyklopädie vom griechischen Begriff κύκλος für Ring und Kreis ableitet.¹⁰
Zum anderen haftet den Ausführungen etwas Negatives an, denn mit dem Lauf
der Welt wird in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur oft das

 Vgl. Bulang 2011 (wie Anm. 5), 189 – 336.


 Textzitate nach Röcke 2012 (wie Anm. 3).
 Vgl. Edmund Wießner, Kommentar zu Heinrich Wittenwilers Ring, Deutsche Literatur. Reihe
Realistik des Spätmittelalters, Kommentar zu Bd. 3 (Leipzig: Reclam, 1936), 8; Bulang 2011 (wie
Anm. 5), 279, mit Quellenangaben.
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Abb. 1: Heinrich Wittenwiler, Der Ring, Prologseite, aus: Bayerische Staatsbibliothek München.
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närrische und sündhafte Treiben der Menschen bezeichnet.¹¹ Zu dieser Vorstel-


lung passt die didaktische Funktion, die ebenfalls im Zusammenhang mit dem
Namen des Buches formuliert wird (V. 10 – 12). In diesem Sinne möchte der erste
Teil Hoflehre, der zweite Tugendlehre mit Haussorge und der dritte Teil Lehren für
Not- und Kriegszeiten bieten (V. 10 – 28):

In dreu schol ez getailet sein


Besunder nach den sinnen mein.
Daz erste lert hofieren
Mit stechen und turnieren,
Mit sagen und mit singen
Und auch mit andern dingen.
Daz ander kan uns sagen wol,
Wie ein man sich halten schol
An sel und leib und gen der welt:
Daz hab dïr für das best gezelt.
Daz dritte tail dïr chündet gar,
Wie man allerpest gevar
Ze nöten, chrieges zeiten
In stürmen, vechten, streiten.
Also leit des ringes frucht
An hübschichait und mannes zucht,
An tugent und an frümchät (V. 15 – 31).

[Das Buch soll meiner Intention nach in drei Teile geteilt sein. Der erste lehrt höfisches
Benehmen mit Stechen und Turnieren, mit Rede und Singen und auch mit anderem. Der
zweite Teil macht deutlich, wie ein Mann sich im Hinblick auf Leib und Seele und gegenüber
der Welt verhalten soll. Das halte für das Wichtigste! Der dritte Teil gibt vollständig Auskunft
darüber, wie man in Notlagen und Kriegszeiten, beim Stürmen, Fechten und Kämpfen am
Besten fährt. So liegt der Nutzen des Rings in der Vermittlung von Höfischheit, Erziehung des
Mannes, Vortrefflichkeit und Tüchtigkeit.]¹²

Dass es sich beim Ring um Lehrdichtung handelt, unterstreicht wiederum gerade


auch der Name des Buches. Schon die Tatsache, dass der Text überhaupt einen
Titel hat, stellt ihn in das Umfeld gelehrter lateinischer Literatur, zudem tauchen
Begriffe wie Edelstein (gemma) und Schatz (thesaurus) recht häufig im Titel von
lateinischen und deutschen Kompendien mit enzyklopädisch lehrhaftem Zu-

 Vgl. etwa Sebastian Brandt, Das Narrenschiff, Manfred Lemmer, Hg., Neudrucke deutscher
Literaturwerke N. F. 5 (Berlin und New York: De Gruyter, 42010, ND der Ausg. Tübingen 2004), 4.
Vgl. dazu Bulang 2011 (wie Anm. 5), 277– 278, mit Belegen.
 Übersetzungen BK, angelehnt an Brunner 2007 (wie Anm. 3).
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schnitt auf.¹³ Im Blick auf die Erzählung selbst lässt sich ebenfalls ein paradig-
matischer Zusammenhang erkennen zwischen dem Ring als Namen des Buches
und dem schäbigen, mit Fischaugen statt Perlen verzierten Ehering, den der
Protagonist seiner Braut übergibt (V. 5278 – 5287). Die Ebenen von discours und
narration werden also auch über die Vorstellung des Ringes zusammengehalten.
Es zeigt sich nachgerade, dass im Sinnbild des Ringes mehrere Dimensionen
miteinander verbunden sind. Folgerichtig belässt es der Prolog auch nicht bei der
Formulierung von Didaxe, der Sprecher betont vielmehr, dass der Mensch auf-
grund seiner Kleinmütigkeit nicht in der Lage sei, ständig von ernsten Dingen zu
hören, vielmehr wolle er auch durch Scherz unterhalten sein (V. 32– 35), weswe-
gen er das Geschrei der Bauern unter die Belehrung gemischt habe, damit sie die
Rezipienten umso leichter zur Umkehr führe: Dar umb hab ich der gpauren ge-
schrai | Gemischet unter diseu ler, | Daz sei dest senfter uns becher (V. 36 – 38). Zu
beachten ist hier, dass der Erzähler den Begriff „Bauer“ nicht im soziologischen
Sinne versteht und damit jemanden meint, der sich von bäuerlicher Arbeit redlich
ernährt (V. 45 – 48), sondern einen, der unrecht lept und läppisch tuot (V. 44). Bauer
in diesem Sinne ist gleichzusetzen mit Narr und Tölpel, die bäuerliche Welt er-
scheint also nicht nur als Gegenbild zu höfischer Vorbildlichkeit, sondern allge-
meiner als Gegenentwurf zu Maß und Moral, Bildung und Kultiviertheit. Insge-
samt hat man in Wittenwilers Aussagen (V. 36 – 38) in der Forschung in aller Regel
eine Rezeption des Horazischen aut prodesse uolunt aut delectare poetae | aut
simul et iucunda et idonea dicere uitae („Entweder die Dichter wollen nützen, oder
sie wollen erfreuen, oder aber sie wollen das sagen, was für das Leben zugleich
angenehm und nützlich ist.“) gesehen,¹⁴ doch so einfach stellt sich die Gleichung
nicht dar.
Dies zeigt schon die Auszeichnung der Handschrift mit roten und grünen
Linien, welche die beiden Bereiche nach der Anweisung des Prologs auseinan-
derhalten soll: Die rot die ist dem ernst gemain, | Die grüen ertzaigt uns törpelleben.
(V. 40 f.). Dass die Linienführung gerade nicht im beschriebenen Sinne aufgeht,
hat die Forschung einerseits verstört und andererseits immer wieder zu halsbre-
cherischen Zurechtrückungen und Reinterpretationen der Zuordnung von Scherz
und Ernst geführt.¹⁵ Allerdings geben sowohl der Text des Prologs wie auch die

 Vgl. Bulang 2011 (wie Anm. 5), 279 – 287, mit Quellenbelegen und Hinweisen auf weitere
Forschungsliteratur.
 Horaz, Ars poetica, V. 333 – 334., vgl. Horace, Epistle, Book II and Epistle to the Pisones (Ars
poetica), Niall Rudd, Hg., Cambridge Greek and Latin Classics (Cambridge u. a.: Cambridge
University Press, 1989).
 Beispiele bei Bachorski 2006 (wie Anm. 5), 95 – 100, 246– 252. Lutz 1990 (wie Anm. 5), 427–
429, kommt bei seiner Untersuchung von Gebrauchsspuren, Merkzeichen, nota-Kürzeln, Para-
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Gestaltung der Prologseite Hinweise darauf, dass die Dichotomie von Scherz und
Ernst, rot und grün, vielleicht nicht ganz ernst gemeint sein könnte. Auf der
Prologseite wird die Figur, die den Ring in der Initiale hält und die auf gleicher
Höhe wie die Anweisung zur Differenzierung der Linien in der zweiten Spalte zu
finden ist, gerade mit grüner Farbe bemalt, wodurch suggeriert wird, dass sie
nicht ernst zu nehmen sei. Zugleich wird die Unterscheidung in Unterhaltung und
Didaxe im Text von einer dritten Kategorie überlagert, wenn der Sprecher sagt, wer
das Buch als etwas ansieht, was weder Nutzen noch Unterhaltung (V. 50) biete,
könne es einfach als ein mär (V. 51) nehmen. Zumeist hat man mär im pejorativen
Sinne als „erfundene, erlogene Geschichte“ verstanden,¹⁶ demgegenüber möchte
ich andere Varianten ins Spiel bringen.
Zum einen kann man an die Gattung maere und besonders das schwankhafte
maere denken, zum anderen bezeichnet maere häufig die der Erzählung zugrunde
liegende materia, den Stoff, der vom Erzähler zu bearbeiten ist sowie die erzählte
Geschichte selbst ohne pejorativen Beigeschmack. Die Wendung wäre dann in
dem Sinne zu verstehen, „dann nehmt das Buch doch einfach als eine literarische
Erzählung, einen guten Schwank“, also als Gattungshinweis einerseits und Fik-
tionalitätssignal andererseits. Damit wird der didaktische Anspruch zwar einer-
seits im Prolog erhoben, aber andererseits auch wieder relativiert, was sehr gut zu
der nicht konsequent durchgeführten Scheidung der ernsten Passagen und des
törpellebens durch die Farblinien rot und grün passt, geht man nicht davon aus,
die Lösung des Problems liege schlicht darin, dass der Schreiber farbenblind war.
Hierzu ist auch zu bemerken, dass die Didaxe in der narratio bei der ausufernden
Darstellung des törpellebens immer wieder in den Hintergrund tritt und sich zu
verflüchtigen scheint. Die Schwankhandlungen entfalten eine Proliferation und
produzieren narrative Überschüsse, die nicht mehr durch den didaktischen An-
spruch einzuhegen sind. Der Text entzieht sich daher einerseits der einfachen
Dichotomie, nach der die Darstellung des törpellebens gegenbildlich auf das
Richtige wiese, das noch zusätzlich positiv durch Lehren untermauert werde.
Zugleich verselbständigen sich andererseits die Lehren (Minnelehren, religiöse
Lehren, Gesundheitslehren, Haushaltslehren, Kriegslehren), denn auch sie
schießen über den Handlungsrahmen hinaus und laufen in der narratio ins Leere,
zumal sie von den Protagonisten zumeist nicht befolgt werden. Die Lehren wirken
daher oft dysfunktional zum Handlungsverlauf. Zum Dritten sind die Lehren in

graphenzeichen und Marginalien zu dem Schluss, dass diese sich zum einen auf lehrhafte Partien
beziehen und zum anderen Schreibung, Lautung und gelegentlich Wortwahl bearbeiten.
 Vgl. den Kommentar von Röcke 2012 (wie Anm. 3), 442– 443.
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sich nicht selten zweifelhaft und werden moralisch höchst fragwürdigen Perso-
nen in den Mund gelegt, die sie häufig zu hinterhältigen Zwecken einsetzen.¹⁷
Der Text bietet einerseits in ausuferndem, mitunter weit über das für die
Handlung erforderliche Maß hinaus Lehre, doch er zeigt andererseits auch, wie
diese im Milieu der Bauern oft bloß missbraucht wird und warum es nicht zu einer
tatsächlichen Belehrung der offensichtlich unbelehrbaren törper kommt. Insofern
scheint das in der Forschung geläufige Verständnis des Textes als Didaxe revisi-
onsbedürftig, denn er lässt sich eher als Kommentar und Parodie auf Didaxe
begreifen.¹⁸ Ebenso übersteigt der Text den gattungsgeschichtlichen Rahmen von
maere und Schwank, und dennoch knüpft er daran an und ist aus einer Reihe von
Schwänken aufgebaut,¹⁹ so dass sich seine Gattung am ehesten als Schwankro-
man verstehen ließe. Zugrunde liegt denn auch ein Hochzeitsschwank, von dem
es zwei verschiedene Fassungen gibt, Von Metzen hochzit und Meier Betz. ²⁰

2.2 narratio

Der Ort des Geschehens ist die Bauernwelt des Dorfes Lappenhausen im Grau-
sental:

Jn dem tal ze Grausen


Ein dorff, hiess Lappenhausen,
Was gelegen wunnechleich,
An holtz und wasser überreich,
Dar inn vil esler pauren
Sassen ane trauren […]. (V. 55 – 60).

[Im Grausental gab es ein Dorf namens Lappenhausen ganz wunderbar gelegen. Es war
besonders reich an Holz und Wasser. Darin lebten in Freude viele ‚adlige‘ Bauernesel.]

Die Rede von den esler pauren beruht auf dem in spätmittelalterlichen Texten
verbreiteten Wortspiel von Adel, edel und Esel: Die Bauern sind eben nicht edel,
sondern Esel, auch wenn sie höfische Verhaltensweisen und Titel für sich in

 Vgl. dazu detailliert Bulang 2011 (wie Anm. 5), 189 – 218, 235 – 305.
 Auf der anderen Seite schließt dies eine didaktische Rezeptionshaltung, die auch doku-
mentiert ist, nicht aus. Zur Glossierung der ernsten Textstellen der Handschrift mit Merkzeichen
vgl. Lutz 1990 (wie Anm. 5), 427– 429.
 Vgl. Bulang 2011 (wie Anm. 5), 189 – 218.
 Vgl. die Fassungen des Bauernhochzeitsschwanks nach der Ausgabe von Brunner 2007 (wie
Anm. 3), 586 – 645.
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Anspruch nehmen.²¹ Erzählt wird die Geschichte der Verheiratung des Lappen-
hausener Bauernburschen Bertschi Triefnas mit dem Bauernmädchen Mätzli
Rüerenzumph (Schwanzgrapscherin), das eingangs der Erzählung nach dem
Muster höfischer Schönheitsbeschreibungen de capite ad calcem als Ausbund von
Hässlichkeit vorgestellt wird:

Sei was von adel lam und krumpf,


Ir zen, ïr händel sam ein brand,
Ir mündel rot sam mersand.
Sam ein mäuszagel was ir zoph.
An ir chelen hieng ein chroph,
Der ir für den bauch gie.
Lieben gsellen, höret, wie
Ir der rugg was überschossen:
Man hiet ein gloggen drüber gossen!
Die füessli warend dik und brait,
Also daz ir chain wind laid
Getuon mocht mit vellen,
Wolt sei sich widerstellen,
Ir wängel rosenlecht sam äschen,
Ir prüstel chlein sam smirtäschen.
Die augen lauchten sam der nebel,
Der atem smacht iͤr sam der swebel.
So stuond iͤr daz gwändel gstrichen,
Sam ir die sele wär enwichen.
Sei chond also schon geparen,
Sam sei wär von drien jaren. (V. 76 – 96)

[Sie war vor lauter Adel lahm und krumm. Ihre Zähne und Händchen waren schwarz wie
verbrannt, ihr Mündlein war so rot wie der Sand am Meer. Ihr Zopf war wie ein Mäuse-
schwanz. An ihrer Kehle hing ein Kropf, der bis zum Bauch hinunterreichte. Liebe Freunde,
hört nun, was für einen Buckel sie am Rücken hatte: Man hätte eine Glocke darüber gießen
können! Die Füßchen waren dick und breit, so dass kein Wind sie umstoßen und ihr damit
Leid zufügen konnte, wenn sie sich nur dagegen stemmen wollte. Ihre Wänglein waren so
rosenfarben wie Asche und ihre Brüstlein so zierlich wie Fettsäcke. Ihre Augen leuchteten
wie der Nebel und ihr Atem duftete wie Schwefel. Ihr Kleidchen schlotterte an ihr, als sei ihr
die Seele entwichen. Sie benahm sich so vollendet, als ob sie drei Jahre alt wäre.]

Wie inkonsequent die Verteilung der roten und grünen Farblinien als Kommen-
tierung des Textes ist, zeigt sich gerade an Passagen wie dieser. Der Schönheits-
preis ist nämlich rot markiert und soll danach gerade nicht das törpelleben (wie in

 So lässt sich etwa Bertschi von jedermann als junkherr (V. 68) anreden, beim Hochzeitsmahl
gibt es einen Graf Purkhart (V. 5745) unter den Gästen, Mätzli stilisiert sich beim Mahl als höfische
Dame (z. B. V. 6125 – 6128), und von anderen Gästen heißt es: Seu assen hofeleichen gar (V. 6079).
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V. 41 angekündigt), sondern Ernstleich sach (V. 34) und damit Lehre anzeigen.²²
Wie auch immer sich dies verhalten mag: Der vermeintliche Junkherr Bertschi
verliebt sich unsterblich in diese „Schönheit“, so dass er um ihretwillen sterben
will (zerserten im Sinne von ‚verrecken‘, V. 102). Seine sexuelle Gier zeigt sich
bereits im Griff nach Mätzlis Geschlechtsteil auf der ersten Seite der Handschrift
im Bild des Paares, das der Autorinitiale diagonal gegenübersteht. Nach einigen
Verwicklungen und langen Beratungen beider Familien über die Frage, ob Bert-
schi Mätzli heiraten soll oder nicht, gibt man sie ihm schließlich zur Ehe (V. 5203 –
5276). In unserem Zusammenhang interessiert besonders der Ablauf der Hoch-
zeitsfeier des Paares.
Zur Hochzeit versammelt sich eine große Menge von mächtig lärmenden
Nachbarn aus den umliegenden Dörfern Nissingen, Säurensdorf und Rotzingen
(V. 5305 – 5311). Geschrei (V. 5310), nicht gepflegte Konversation, kennzeichnet die
Gäste von Anfang an, was mit dem Hinweis im Prolog zu verbinden ist, der Er-
zähler habe der gpauren gschrai (V. 36) unter die Lehre gemischt. Die sprechenden
Namen der Bauern verraten ihre Interessen nur zu gut. So deutet sich die Rauflust
der Männer etwa in Namen wie Gerwig Schinddennak (V. 5317), Wüetreich (V. 6696)
oder Siertdasland („Schänd das Land“, V. 3628) an. Bosheit, Sündhaftigkeit und
die Verbindung mit Hölle und Teufel sprechen sich besonders in den Namen von
Jäckel Reuschindhell („Rausche in die Hölle“, V. 5340), Teufelsgaden („Wohnstatt
für den Teufel“, V. 5333) oder Frau Laichdenman („Frau Mannsbetrug“, V. 5505)
und Lastersak (V. 5723) aus. Die leichte sexuelle Erregbarkeit und Gier der Frauen
klingt in Namen wie Chützeldarm die gail („die ausgelassene Kitzeldarm“, V. 5326)
oder Gredul Ungemäss („die maßlose Gretel“, V. 5327) oder in Ändel Pfefferräss
(„die pfefferscharfe Anne“,V. 5328) und Lena Vallinsstroh („Lena fall ins Stroh“,V.
5336) an. Die Mensch-Tiergrenze wird in Namen wie Ochsenchroph (V. 5479),
Storchenpain (V. 5321), Farindkuo („Fahre in die Kuh“, V. 5573, Hinweis auf Sodo-
mie) überschritten. Auf Urin und Kot weisen zum Beispiel Harnstain (V. 5321),
Elsbet Follipruoch („Hosenvoll“ V. 5511) oder Scheissindpluomen (V. 2731). Die
ungeheure Fress- und Sauflust zeigt sich besonders in den Namen Gumpost
(„Eingemachtes“, „Sauerkraut“, V. 6161), Trinkavil (V. 5849), Füllenmagen (Ent-
weder verschliffen aus „Füll den Magen“ oder „Magenfüller“, V. 3705) oder Ha-
fenschleken („einer, der den Topf ausschleckt“, V. 2635) und Schlinddenspek
(„Speckfresser“ V. 2636). Auf körperliche Defekte weisen etwa die Namen Schi-
lawingg („der ein wenig schielt“, V. 6695) oder Graff Purkart mit dem überpän
(„Höcker“, V. 6035).

 Bulang 2011 (wie Anm. 5), 318 – 319, erläutert umfassend, dass sich die Beschreibung Mätzlis
nicht als ernstgemeinte Didaxe auffassen lässt.
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Die Gaben der Gäste stehen teils im Zusammenhang mit bäuerlicher und vor
allem weiblicher Arbeit wie Nadeln, Spindelring, Spindeln (V. 5506 – 5507), Be-
senstiel, Kochtopf, Essigkrug, Korb und Sieb (V. 5520 – 5523), teils belasten sie das
junge Paar eher als dass sie ihm helfen, wie zum Beispiel die Jungtiere, die noch
aufgezogen werden müssen, ein Kitz (V. 5484) oder ein neugeborenes Kalb (V.
5488). Teilweise handelt es sich um bizarre Geschenke wie eine kranke Ente (V.
5492– 5494) oder einen Deckel zu einem Salzfass, das nicht existiert (V. 5524–
5525), oder kaputte, abgetragene Kleidungsstücke wie verschimmelte Hand-
schuhe (V. 5517 f.) und einen alten Hut (V. 5526 – 5528). Der Erzähler lässt im Üb-
rigen keinen Zweifel daran, dass die Gäste selbst solche Gaben höchst ungern
verschenken, so tut zum Beispiel der Besitzer der kranken Ente kund, dass er sie
am liebsten selbst gefressen hätte (V. 5493 f.). Straub beglückt oder besser belei-
digt den Bräutigam gar mit Aphrodisiaka (V. 5501).²³ Statt Wohlwollen zeigen die
Gäste also üble Gesinnung, Geiz und Schadenfreude beim Verschenken des Wert-
und Nutzlosen.
In diesem Zeichen beginnt das Hochzeitsmahl (V. 5541– 6186), für das der
Bräutigam schon tags zuvor einen Esel statt einer Kuh geschlachtet hat (V. 5372–
5375). Man hat die Textpartie, die durch die rote Linie der Handschrift am Rand
des Textes als ernst und lehrhaft ausgewiesen wird, in der Forschung zumeist als
Gegenbild zu Tischzuchten gedeutet, das wie in der späteren grobianischen Li-
teratur des 16. Jahrhunderts²⁴ ex negativo auf das Richtige weise. Damit hat man
sie genau in dem Sinne verstanden wie es das Titelblatt von Caspar Scheidts
Grobianus angibt: Liß wol diß buchlin offt und vil | Vnd tu allzeit das widerspil. ²⁵
Doch sprengt die vielschichtige Darstellung des Hochzeitsmahles im Ring, welche
die Perspektive mehrfach wechselt, den didaktischen Rahmen und gewinnt ein
Eigengewicht jenseits von Lehrhaftigkeit.²⁶ Dies gilt zumal, da es unklar ist, ob
Idealvorstellungen höfischen Benehmens im bäurischen Milieu überhaupt gelten
sollen und welcher Standard an Regeln des Benehmens angelegt wird. Zugleich
changiert der Bauernbegriff und man muss sich fragen, ob es überhaupt um
Bauerntölpel geht oder ob die Figuren des Rings nicht eher für jeden Menschen

 Vgl. Röcke 2012 (wie Anm. 3), Kommentar, 467– 468.


 Vgl. Friedrich Dedekind, Grobianus. Von groben sitten vnd vnhöflichen geberden. Erstmals in
Latein beschriben, durch den wolgelerten Fridericum Dedekindum, vnd jetzund verteutschet durch
Casparum Scheidt von Wormbs (Worms: Gregor Hoffman, 1551); siehe dazu Hans-Jürgen Bachor-
ski, „Grobianismus,“ in Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des
Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, Klaus Weimar u. a., Hg. (Berlin: De Gruyter,
2007 [1997]), 743 – 745.
 Vgl. Anm. 24. Siehe dazu Brunner 2007 (wie Anm. 3), Kommentar zu V. 5541– 6186, 576.
 Vgl. die Deutung von Bachorski 2006 (wie Anm. 5), 131– 156.
Chaos in komischer Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 93

und jeden Narren stehen, worauf die Ausführungen des Prologs zu zielen schei-
nen.
Die Grenzen des guten Geschmacks werden vom Beginn des Hochzeitsmahles
an überschritten: Als Tischtuch dient ein Sack, der höchstens einmal im Jahr
gewaschen wird, statt Becher und Gläser zu benutzen, säuft man aus Krügen.
Messer und geschnittenes Brot gibt es nicht, dafür werden ganze Brotlaibe her-
beigebracht und verzehrt. Die höfische Prozedur des Händewaschens wird aus-
gelassen oder man überschüttet sich mit Wasser, bis man klatschnass daher ge-
laufen kommt, ausgleitet, auf dem ars landet und Krüge zerschlägt (V. 5554 –
5620). Vor Hunger essen die Gäste beim ersten Gang die Suppe so hastig, dass
einer sich verbrüht und dem Tode nahe kommt (V. 5541– 5543). Gewalt flammt auf,
als der Geschädigte die Suppenschüssel mit der Faust zerschlägt, so dass Brühe
und Brot im Dreck landen (V. 5545 – 5547). Doch damit nicht genug, die Gier der
Gäste ist so groß, dass sie die Brühe aus dem Dreck (kat,V. 5550) aufsammeln und
weiterverzehren bis zum letzten Schluck (V. 5548 – 5552). Was hier zum Ausdruck
kommt, ist paradigmatisch für das ganze Mahl: Man kämpft um das Essen, ver-
spritzt es, schlürft es vom Boden auf, isst es wieder und speit oder hustet es aus.
Auf diese Weise entsteht ein permanenter Kreislauf der Nahrungsaufnahme und
Ausscheidung. Eine Logik des Überflusses und eine Logik des Mangels stehen
sich dabei gegenüber. Einerseits hat man genug, um es zu verspritzen und zu
verschwenden und sich an der Vergeudung noch zu ergötzen, andererseits kon-
kurriert man um jeden Bissen und verzehrt sogar erneut, was man selbst fallen
lässt oder was anderen durch die Lappen geht (V. 5775 – 5804). Man säuft, bis
einem die Luft ausgeht und sich die schielenden Augen überquellend verdrehen,
und man hört nicht auf, so lange noch ein Schluck im Krug ist. Sobald er leer ist,
verlangt man nach mehr (V. 5653 – 5684): Do trunchens her und suffend, ǀ Daz in die
augen truffend (V. 5847 f.). Das Trinken nimmt so sehr orgiastische Züge an, dass
man keuchend fast vergeht und seinen Schweiß am Tischtuch abwischen muss:
Secht, do ward er cheichent, | Den swaiss ans tischtuoch streichent (V. 5853 f.).
Während essen und trinken den Körper eigentlich aufbauen und zusammenhalten
sollen, tritt hier das Gegenteil ein. Die Bauern ruinieren sich durch fressen und
saufen.
Am Eselsbraten wird gekaut und gezerrt, die Knochen werden benagt, bis
einem die Zähne ausfallen. Die Hunde fressen mit, ziehen zum Beispiel Frau Else
den Eselsknochen aus dem Mund und haben ihren Spaß damit, Untz daz in
nichtznicht was beliben (V. 5706). Frau Else scheint sich nicht sichtlich an der
Mahlgemeinschaft mit den Tieren zu stören und isst unverdrossen weiter (V.
5685 – 5706). Auch Kraut mit Speck werfen die als „höfisch gesittet“ ausgewie-
senen Diener den Gästen so vor, wie man Kälber mit Gras füttert: Und wurfens für
recht, sam eim kalb | Man gäb das gras in einem stal | In die chripp und überal (V.
94 Beate Kellner

5718 – 5720). Essen erscheint als Kampf gegen den Nebenmann und die Neben-
frau, die man als Konkurrenten um die Nahrung versteht und gegen die man sich
durchsetzen muss (V. 5731– 5765). Wie beim grotesken Körper im Bachtin’schen
Sinne stehen die Mäuler allzeit offen: Won die mäulr in warend weit | Und offen gar
ze aller zeit (V. 5783 f.).²⁷ Man verlangt nach mehr und droht Triefnas überdies, die
Braut mitsamt der Schwägerin zu schänden, wenn er nicht auf der Stelle Wein,
Met und Bier herbeischaffe: ‚Ich sirt dirs weib mit sampt der gsweigen, | Trifnas,
pringst du uns nit schier | Wein und mett und dar zuo pier […] (V. 5812– 5814). Als
der Bräutigam als Reaktion darauf gewalttätig wird und einen Diener beim Bart
packt, malträtiert man ihn selbst ebenso, zieht ihm die Hose aus, gießt ihm
Wasser in den ars, packt ihn bei den Beinen und schlägt ihn an einen Baum (V.
5823 – 5842). Auf beinahe wundersame Art eskalieren diese Gewaltausbrüche aber
nicht weiter, sondern verpuffen: Also ward nicht mer dar aus (V. 5843), bemerkt der
Erzähler lakonisch. Auch über die Fische macht man sich mit größter Gier her: Als
der snelle Vahrindwand beim Verschlingen eines Kopfstücks an den Gräten stirbt,
ist man froh, einen Mitesser weniger zu haben und dankt noch Gott für seinen Tod
(V. 5901– 5916). Listig führt man einen der gesellen, Herrn Kuckuck, hinter’s Licht,
indem man vorgibt, man wolle seine Lieder über Dietrich von Bern hören, was
einzig dem Zweck dient, ihn für die Zeit des Singens als Nahrungskonkurrenten
auszuschalten (V. 5919 – 5945).
Der Hochzeiter Bertschi sieht sein Hab und Gut mit Recht davonschwimmen
und versucht, sich an Lehren vom Haushalten erinnernd, Einhalt zu gebieten,
dementsprechend ermahnt er die Gäste zu diätetischem Maßhalten (V. 5946 –
5960). Hier werden Partikel aus der Gesundheitslehre aufgerufen, doch die Lehren
werden zweckentfremdet, da es nicht um das Wohl der Gäste geht, sondern um
die Schonung des eigenen Geldbeutels. So steigert sich die Orgie – ungeachtet der
Ermahnungen des Gastgebers – bis zum letzten Gang, bei dem Obst aufgetragen
wird. Gegen das Benehmen der Gäste und die Geschwindigkeit ihres Fressens und
Verschlingens weist die Braut ihren vermeintlichen höfischen Anstand aus, indem
sie siebenmal von einer Kirsche abbeißt (V. 6125 – 6128). Vermeintlich höfisches,
de facto jedoch wiederum absurdes Benehmen, wird dem bäurischen entgegen-
gesetzt, was die Frage, worin das Ideal denn nun liege, einmal mehr aufwirft.
Gegen Ende des Mahles erledigt man schließlich kollektiv seine Notdurft (V. 6168 –
6172).

 Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, mit einem Vorwort
versehen v. Renate Lachmann, Hg., STW 1187 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 21998), besonders 345 –
412.
Chaos in komischer Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 95

Dann folgt der Tanz (V. 6187– 6448), man spielt auf, singt ausgelassen und
erhitzt sich immer mehr. Der Spielmann selbst gibt zu erkennen, dass er für eine
narrenvart pfeift (V. 6197) und der Erzähler kommentiert, dass jeder wie in einem
Traum auf und nieder sprang (V. 6206 f.). Der Vergleich mit dem Fallobst (Sam die
äpfel von dem paum, V. 6208) zeigt die Bewegung nach unten, die als eine na-
türliche, triebhafte zum Ausdruck kommt. Die Welt ist aus den Fugen (V. 6210),
man fällt übereinander her und miteinander in den Dreck. Die Kleider reißen auf,
Knöpfe springen ab, Schnürbänder öffnen sich, und die Geschlechtsteile quillen
mitunter heraus:

Hilden haubtloch was ze weit;


Dar umb iͤr an der selben zeit
Daz tüttel aus dem puosem sprang
Tantzens gir sei dar zuo twang.
Hüdellein der ward so haiss,
Daz sei den kittel vor auf raiss;
Des sach man iͤr die iren do
Und macht vil mängeu herzen fro;
Seu schreuwen all: ‚Sei wil ein man:
Sei hat ein maul und har dar an.‘ (V. 6404– 6413).

[Hildes Ausschnitt war zu weit, weshalb ihr damals das Tittlein aus dem Busen sprang:
Tanzlust hatte sie dazu gezwungen. Hüdlein wurde es so heiß, dass sie vorne den Kittel
aufriss. Man sah die ihrigen, was viele Herzen froh machte. Sie schrien alle: ‚Sie will einen
Mann: Sie hat ein Maul und Haare dran.‘]

Was Michail Bachtin für den grotesken Körper in karnevalesker Literatur be-
schrieben hat, gilt auch hier. Es werden offene Körper gezeigt, sie erscheinen
entgrenzt und verbinden sich zu einem großen Haufen oder Klumpen von Kör-
pern. Betont werden die Körperöffnungen, Mund und Nase, Bauch und Verdau-
ungsorgane sowie die Geschlechtsteile.²⁸ Dass der Protagonist Bertschi Triefnas
über Nase und Rotz gekennzeichnet ist und Mätzli Rüerenzumph das Begehren
nach dem Penis im Namen trägt, wirkt wie eine Abbreviatur, die man stellver-
tretend auf alle Teilnehmer des Hochzeitsmahls beziehen kann. Der Strom der
Nahrungsaufnahme und Ausscheidung verbindet sich unentwegt mit dem Flie-
ßen der Körpersäfte.²⁹ Die Szenen zeigen nicht nur eine Verkehrung und Ver-

 Vgl. Bachtin 21998 (wie Anm. 27), 76, 359.


 Dass die Darstellung dieser Körperlichkeit und Vergemeinschaftung von Bachorski 2006 (wie
Anm. 5), 152, im Anschluss an ältere Forschungspositionen auf die spätmittelalterliche und
frühneuzeitliche Zurichtung des Individuums und eine aufkommende „Kälte der neuen Sozial-
beziehungen‘“ zu beziehen ist, scheint mir ein sozialgeschichtlicher Kurzschluss zu sein.
96 Beate Kellner

spottung höfischer Tischsitten, sondern man entledigt sich – viel weit reichen-
der – sämtlicher Errungenschaften der Zivilisation. Die Narration gewinnt eine
Dynamik, die im poetischen Überschuss jeden normativen Rahmen sprengt. Im
Bild der dörflichen Hochzeitsgesellschaft wird die tierische Natur des Menschen
hervorgekehrt und offengelegt. Der Erzähler kommentiert entsprechend schon zu
Beginn des Mahles: Da mit so huob sich frauw und man ǀ Hin zum tisch sam säw
zum nuosch (V. 5570 – 5571). Man begibt sich zu Tisch wie die Säue zum Trog.³⁰
Die bäurischen Gäste spiegeln nicht nur den Stand der Bauern, sondern sie
werden zur Chiffre für das nackte Leben des Menschen, das sich bloß unter dem
Firnis der Kultivierung verbirgt. Insofern hält der Ring nicht nur den Bauern den
Spiegel vor und macht sie lächerlich, sondern er entlarvt den Menschen in seiner
bestialischen Natürlichkeit. Er zeigt, was eintritt, wenn man sich ungehemmt
seinen Trieben überlässt. Dieses Chaos entsteht durch die Entledigung von jeg-
licher Ordnung und zeigt den Menschen gewissermaßen im unzivilisierten Roh-
zustand. Die Konstitution des Menschen wird hier offensichtlich als eine ver-
deutlicht, die so säuisch ist, dass sie sich jeder Belehrung, Höfisierung und
Kultivierung entgegensetzt. Da schon im Prolog das Verständnis der Bauern als
Narren betont wird und diese Auffassung auch in weiteren Anklängen an die
Fastnacht und die Fastnachtstage bestätigt wird, erweist sich das Geschehen im
Ring als Karneval, der gerade nicht auf die bloße didaktische Verkehrung der
Ordnung festzulegen ist.³¹
Es versteht sich, dass in der beschriebenen Situation der Entgrenzung und
Vertierung nur noch ein Funke fehlt, um Gewalt zum Ausbruch zu bringen. Ver-
schiedentlich flackert diese beim Gastmahl und beim Tanz bereits auf (vgl. etwa V.
5823 – 5843), doch sie kann erstaunlicherweise immer wieder unterdrückt werden.
Dies gilt nicht mehr nach jener Szene, als der Lappenhausener Eisengrein die
Nissingerin Gredul aus Liebe – wie es im Text heißt – haimleich (V. 6452) an der
Hand kratzt, worauf sie zu bluten beginnt (V. 6450 – 6455). Der Erzähler führt dies
auf das Wirken des Teufels zurück, der Asche gesät habe, als das Fest gerade auf
dem Höhepunkt gewesen sei: Und do es an dem besten was, ǀ Do sat der tiefel
äschen drein (V. 6447– 6448). In der Forschung geht man gewöhnlich von der

 Ganz in diesem Sinne zögert man auch nicht, sich mit „Du Sau!“ anzusprechen: So, sau, so,
sau, so, du, so? (V. 5621).
 Wiederholt hat man versucht, die Zeit des Ringes auf die Fastnachtstage festzulegen. Vgl.
besonders Kurt Ruh, „Ein Laiendoktrinal in Unterhaltung verpackt. Wittenwilers Ring,“ in Lite-
ratur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Symposion Wolfenbüttel
1981, Ludger Grenzmann und Karl Stackmann, Hg., Germanistische Symposien Berichtsbände 5,
(Stuttgart: J. B. Metzler, 1984), 344– 355.
Chaos in komischer Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 97

Vorstellung eines tatsächlichen Eingreifens des Teufels aus,³² was den folgenden
Ereignissen eine religiöse Begründung unterlegt und sie als Strafe für das Fehl-
verhalten der Dörfler beim Fest erscheinen lässt. Damit versucht man die Ab-
surditäten der Orgie und des folgenden Kampfes theologisch zu begründen.
Versteht man die Verse über den Teufel dagegen metaphorisch, wofür ich plä-
dieren möchte, wird die Geschehensfolge in ihrer Unwahrscheinlichkeit deutlich
gemacht, ohne dass sie im strengen Sinne theologisch motiviert wäre. In absurder
Verkettung der Ereignisse und rasanter Eskalation der Gewalt entwickelt sich
nämlich aus der geringfügigen Verletzung Greduls eine Rauferei der Hochzeits-
gäste, die zu Totschlag, Gemetzel, Vergewaltigung und Frauenraub und schließ-
lich Krieg und Untergang führt (V. 6447– 9666). Meine These ist, dass hier das aus
dem maere und der höfischen Epik bekannte Motiv schwankhaft aufgegriffen
wird, dass sich aus einem geringfügigen Ereignis ein großer Kampf entspinnen
kann.
In diesem Sinne sagt beispielsweise Konrad von Würzburg, als er den Un-
tergang Trojas erzählt, dass aus einem Funken ein großer Brand wird, der nicht
mehr einzudämmen ist: ûz einer gneisten wirt ein rôst, ǀ der niht ir zünden un-
derstât […] (V. 410 – 415).³³ So entwickelt sich etwa auch in dem eingangs schon
erwähnten Schwankmaere Heinrich von Kempten aus dem bloßen faux pas eines
Kindes eine ernsthafte Gefahr für das Leben des Kaisers und das Kaiserreich.³⁴
Erinnert man sich daran, wie rüde die Figuren im Ring schon vor Eisengreins
Übergriff auf Gredul miteinander umgegangen sind, und bedenkt man auch, dass
die Geilheit der Frauen so groß ist, dass sie in der sich an das Hochzeitsfest an-
schließenden Sexorgie mit bis zu zehn verschiedenen Partnern Beischlaf haben
(V. 7088 – 7095),³⁵ ist die Verletzung Greduls nichts als eine Kleinigkeit, auch wenn
sie vom Erzähler zum Wendepunkt der Geschichte stilisiert wird: Dar umb so cham

 Vgl. Riha 1990 (wie Anm. 5), 152; Brunner 2007 (wie Anm. 3), Kommentar, 578; Röcke 2012 (wie
Anm. 3), Kommentar, 469, mit Hinweisen auf Mt 13,24– 30 und redensartliche Wendungen
(Stellen, die jedoch alle nicht passgenau sind).
 Konrad von Würzburg, Trojanerkrieg und die anonym überlieferte Fortsetzung, Heinz Thoelen
und Bianca Häberlein, Hg., Wissensliteratur im Mittelalter 51 (Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert,
2015).
 Vgl. Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg (wie Anm. 1), Heinrich von Kempten, V. 60 –
382.
 Dass es sich hier um eine „sexuelle Utopie mit allgemeiner Kopulation und allseitiger Freude“
handelt, wie Bachorski 2006 (wie Anm. 5), 153, meint, würde ich nicht folgern. Auch seiner These
von zwei Erzählsträngen (ebd., 153– 156), von denen der eine in die Utopie, der andere in Gewalt
und Untergang führt, kann ich mich nicht anschließen.
98 Beate Kellner

der gpauren schimph | Nach iͤr gewon ze ungelimph (V. 6456 f.). – Deshalb artete der
Scherz der Bauern, wie es bei ihnen üblich ist, ins Unglück aus.³⁶
Nachdem das Für und Wider eines Krieges im Kriegsrat der beiden Dörfer
erwogen worden ist (V. 6682– 7601), entsteht tatsächlich ein förmlicher Krieg
zwischen Nissingen und Lappenhausen, der sich in immer weitere Dimensionen
ausdehnt. Die Schlacht, in die neben den umliegenden Dörfern auch Hexen,
Riesen, Zwerge und Heiden sowie bekannte Helden der mittelalterlichen Sagen-
welt eingreifen, während die Artusritter vorgeben, keine Zeit zu haben (V. 8025 –
8030) und auch die Städte in der Haltung kluger Neutralität absagen (V. 7765 –
7857), wird als Orgie der Gewalt erzählt (V. 7602– 9666). Im Verlauf der Kämpfe
werden zahllose Körper durchbohrt, zerstochen, verstümmelt, geblendet, zerfetzt,
gebissen, geschändet und zerstückelt.³⁷ Worum es in diesen Schlachten geht,
gerät immer wieder aus dem Blick, die Motivation der mythischen und sagen-
haften Helfer bleibt fragwürdig. Besonders deutlich manifestiert sich die Absur-
dität des Krieges beim Auftreten der Figur des Wilden Mannes, der zu einem
Zeitpunkt, als beide Kriegsparteien schon schwer geschädigt sind, auf einem
großen Hirsch daherreitet und nicht mit Schwert und Speer, sondern mit einem
ungeschlachten Kolben in die Kämpfe eingreift (V. 8718 – 8776). Wahllos verteilt er
Stöße an Männer und Frauen und verletzt auf diese Weise viele von ihnen tödlich.
Doch er kämpft nicht nur mit seiner Waffe, sondern wirft die Kämpfer einfach in
seinen Rachen, beißt sie mit seinen zwei langen und scharfen Zähnen tot und
frisst sie auf. Das einzige Ziel, das er verfolgt, ist es, wahllos möglichst viele zu
töten, insofern versteht er den Kampf der Parteien, die sich untereinander
schwächen, als seinen Vorteil:

Und wolt ³⁸ die streiter all gemain


Nider legen so allain;
Won er gedacht in seinem sinn:
Iͤr vechten daz ist mein gewin,
Daz seu unter enander tuond.‘ (V. 8727– 8731)

[Und er wollte die Kämpfer alle zusammen ganz allein umbringen; denn er dachte sich: ‚Ihr
Kampf gegeneinander ist mein Nutzen.‘]

 Vgl. die Scheltrede von Greduls Onkel Schindennak auf Eisengrein (V. 6461– 6463).
 Vgl. Bachorski 2006 (wie Anm. 5), 156 – 162; vgl. dazu auch Werner Röcke, „Drohung und
Eskalation. Das Wechselspiel von sprachlicher Gewalt und körperlicher violentia in Heinrich
Wittenwilers Ring,“ in Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Ver-
hältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit, Jutta Eming und Claudia
Jarzebowski, Hg., Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 4 (Göttingen: V&R unipress,
2008), 129 – 143.
 Ausgabe Röcke 2012 (wie Anm. 3), wol.
Chaos in komischer Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 99

Für den Wilden Mann spielen die Motive für den Krieg keine Rolle, der Krieg er-
scheint in seiner Perspektive als Kampf aller gegen alle. Dementsprechend bringt
er die Fronten in Verwirrung, die ohnehin labile Schlachtordnung wird aufgelöst,
und der Wilde Mann bewirkt, dass sich die gerade noch erbittert gegeneinander
kämpfenden Parteien der Zwerge und Hexen zum gemeinsamen Kampf gegen ihn
vereinen. Doch er erweist sich aufgrund seiner Behendigkeit und Schnelligkeit als
überlegen, tötet sie mit dem eisernen Kolben und reißt sie mit den Hörnern seines
Hirsches auf. Die Überschreitung der Mensch-Tier-Grenze, die sich auch sonst im
Ring immer wieder zeigt,³⁹ wird im symbiotischen Kampf von Mann und Hirsch
besonders deutlich. Als beide schließlich doch besiegt werden, töten sie noch als
Tote weiter, denn der Erzähler berichtet, dass so manche, über den toten Wilden
Mann stürzend, selbst den Tod fanden, da sie ihr Leben an den Hörnern des toten
Hirsches verloren. In seiner tierhaften Gestalt repräsentiert der Wilde Mann das
Andere, das Wilde und Naturhafte, das schwer Bezähmbare als Gegenbild zur
höfischen Ordnung. Weil er fundamentale kulturelle Differenzen entgrenzt,
nämlich die Mensch-Tier-Grenze und die Grenze zwischen Leben und Tod, lässt er
sich geradezu als Chiffre des chaotischen Zusammenbruchs der Ordnung in
Wittenwilers Ring verstehen. Kein Wunder, dass der Erzähler kommentiert: Das
was ein wildes gferte (V. 8755). [Das war ein wildes Durcheinander.]
Der Krieg geht immer weiter, erst durch die Verräterin Frau Laichdenman wird
er zugunsten der Nissinger entschieden (V. 9418 – 9539). Jede Ordnung ist zu-
sammengebrochen, die bäuerliche Welt ist im Chaos versunken, das Dorf Lap-
penhausen ist vernichtet. Der Protagonist Bertschi kann fliehen und verteidigt
sich auf einem Heuschober sitzend (V. 9541– 9652). Als der einzige Überlebende
Bertschi das Ausmaß der Katastrophe erkennt und sieht, dass auch seine Frau den
Kämpfen zum Opfer gefallen ist (V. 9653 – 9666), fällt er in tiefe Ohnmacht, jam-
mert über sein Leid und schreibt sich selbst die Schuld an seinem Unglück zu, weil
er sich um die Lehren, in denen er unterwiesen worden war, nicht geschert habe
(V. 9667– 9686). Sodann zieht er sich in der Erkenntnis, dass alles Irdische ver-
gänglich ist, als Einsiedler in den Schwarzwald zurück, um sich gottesfürchtig das
ewige Leben zu verdienen:

Also fuor er hin so bald


Enmitten in den Swartzwald.
Da verdienet der vil gwär
In gantzer andacht an gevär
Nach disem laid das ewig leben.
Das well uns auch der selbig geben,

 Vgl. die obigen Überlegungen zum Hochzeitsmahl und den Namen der Gäste.
100 Beate Kellner

Der wasser aus dem stain beschert


Hat und auch ze wein bekert!

Amen
(V. 9692– 9699)

[So ging er sogleich mitten in den Schwarzwald. Dort verdiente der wahrhaft Aufrechte in
tiefer Andacht ungefährdet nach diesem Leid das ewige Leben. Das möge auch uns der
gewähren, der Wasser aus dem Stein hervorgebracht und auch in Wein verwandelt hat.
Amen.]

Es ist seit jeher die große Forschungsdiskussion zum Ring, ob dieser Schluss eine
religiöse Gesamtdeutung des Romans rechtfertigt oder sogar zwingend erforder-
lich macht.⁴⁰ Einiges spricht dagegen: Zu absurd mutet das Schlussbild an, der
unmittelbar vorausgehende Kampf Bertschis auf dem Heuschober, der ihn zwingt,
Heu zu fressen, um zu überleben, was ihn in den Augen seiner Belagerer so un-
heimlich macht, dass sie fliehen und ihn in Ruhe lassen. Bertschi wird am Ende
des Romans von den Kontrahenten als wicht (V. 9648), als „Unhold“, gesehen und
nicht als Einsiedler. Zu wenig weiß der Text auch von einer inneren Umkehr dieses
zweifelhaften Helden. Der Schluss wirkt daher angehängt, so als brauche man
eine religiöse Abrundung, weil man eine Geschehensfolge nicht ertragen und
stehenlassen kann, die zeigt, wie im Bild des Dorfes die ganze Welt ins Chaos
versinkt. Der Erzähler bemüht sich daher, das Geschehen in einen anderen und
höheren Zusammenhang einzuordnen, indem er die Möglichkeit, das Seelenheil
zu erlangen, gegen die sichtbare Vergänglichkeit der Welt setzt.
Doch dies kann nicht verdecken oder vergessen lassen, was vorher ausufernd
beschrieben und aufgedeckt worden ist, nämlich die tierische Natur des Men-
schen in all ihrer kruden Begehrlichkeit, Sauf- und Fresslust, Hurerei und Ge-
waltbereitschaft. Ob Bertschi in seinem neuen Leben der Eremitage so einfach in
der Lage ist, diese Natur zu überwinden und ein frommes Leben zu führen, um
sich das Seelenheil zu verdienen, stellt der Text am Ende sogar selbst in Frage,
nimmt man das Spiel mit den Linien und Farben der Handschrift ernst. Denn der
Entschluss, sich gottesfürchtig in den Schwarzwald zu begeben, wird ausge-
rechnet mit der Farbe grün markiert und somit als Scherz interpretiert (V. 9692–
9695). Auch wenn die Linienführung grün (Unterhaltung, Scherz) und rot
(ernstgemeinte Passagen, Lehre) nicht konsequent im Text durchgehalten ist, ir-
ritiert die grüne Linie dennoch gerade bei dieser gewichtigen Passage am Schluss.
Die Unvermitteltheit der Umkehr des Protagonisten und die Unterlegung dieses
Schrittes mit der grünen Farbe als scherzhaft lassen sich gegen die vordergründige

 Vgl. besonders Lutz 1990 (wie Anm. 5).


Chaos in komischer Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 101

Aussage als Hinweis darauf lesen, wie schwer es ist, die bäurische und das heißt
die tierische und bestialische Natur des Menschen zu überwinden. Und selbst
wenn der eine gerettet werden kann, bleibt, dass alle anderen ohne innere Um-
kehr untergegangen sind.

3 Das Reich der Riesen als ein verwirretes


ungestaltes Muster der heut verwirrten
ungestalten Welt in Johann Fischarts
Geschichtklitterung⁴¹
Johann Fischarts Geschichtklitterung stellt den wohl bedeutendsten deutsch-
sprachigen Roman der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts dar. Mit diesem Werk
überträgt der deutsche Autor den ersten Teil der Pentalogie seines französischen
Vorgängers Rabelais, Gargantua,⁴² ins Deutsche und erweitert die Vorlage in den
drei Ausgaben von 1575, 1582 und 1590 auf den dreifachen Umfang.⁴³ Das Titelblatt

 Zu den nachfolgenden Zitaten vgl. Johann Fischart, Geschichtklitterung, mit einem Glossar, Ute
Nyssen, Hg. (Düsseldorf: Karl Rauch Verlag, 1963), hier 8; zu den Erweiterungen von Ausgabe zu
Ausgabe vgl. besonders Johann Fischart, Geschichtklitterung. Synoptischer Abdruck der Fassungen
von 1575 / 1582 / 1590, 2 Bde., Hildegard Schnabel, Hg. (Halle a. d. S.: Niemeyer Verlag, 1969).
 Vgl. Rabelais, Œuvres complètes, Mireille Huchon, Hg. (Paris: Gallimard, 1994), 1– 153.
 Vgl. zu Fischarts Bearbeitungstendenzen das immer noch grundlegende zweibändige Werk
von Adolf Hauffen, Johann Fischart. Ein Literaturbild aus der Zeit der Gegenreformation, 2 Bde.
(Berlin und Leipzig: De Gruyter, 1921– 1922); vgl. aus jüngerer Zeit besonders Florence M. Wein-
berg, Gargantua in a Convex Mirror. Fischart’s View of Rabelais, Studies in the Humanities, Lite-
rature – Politics – Society 2 (New York u. a.: Peter Lang, 1986), mit durchgängiger Tendenz zur
Abwertung des deutschen Textes; vgl. auch dies.: „Fischart’s Geschichtklitterung: A Questionable
Reception of Gargantua,“ in The Sixteenth Century Journal 13 (1982), 23 – 35; dies.: „Thélème selon
Fischart: Omissions Fécondes,“ in Études Rabelaisiennes 21 (1988): 373 – 379; Jan-Dirk Müller,
„Texte aus Texten. Zu intertextuellen Verfahren in frühneuzeitlicher Literatur, am Beispiel von
Fischarts Ehzuchtbüchlein und Geschichtklitterung,“ in Intertextualität in der Frühen Neuzeit.
Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, Wilhelm Kühlmann und Wolfgang
Neuber, Hg., Frühneuzeit-Studien 2 (Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang, 1994), 63 – 109; Frank-Rutger
Hausmann, „Differente Lachkulturen? – Rabelais und Fischart,“ in Differente Lachkulturen?
Fremde Komik und ihre Übersetzung, Thorsten Unger, Brigitte Schultze und Horst Turk, Hg., Forum
Modernes Theater. Schriftenreihe 18 (Tübingen: Gunter Narr, 1995), 31– 45; Ulrich Seelbach, Ludus
Lectoris. Studien zum idealen Leser Johann Fischarts, Beihefte zum Euphorion 39 (Heidelberg: C.
Winter, 2000); Bachorski 2006 (wie Anm. 5), 345 – 530; Beate Kellner, „Spiel mit gelehrtem Wis-
sen. Johann Fischarts Geschichtklitterung und François Rabelais’ Gargantua,“ in Text und Kontext.
Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik,
102 Beate Kellner

der Ausgabe von 1590 verspricht, eine Affentheuerlich Naupengeheurliche Ge-


schichtklitterung:
Von Thaten und Rhaten der vor kurtzen langen unnd je weilen Vollenwolbeschreiten Helden
und Herren Grandgoschier Gorgellantua und deß deß Eiteldurstlichen Durchdurstlechtigen
Fürsten Pantagruel von Durstwelten, Königen in Utopien, Jederwelt Nullatenenten und Nie-
nenreich, Soldan der Neuen Kannarien, Fäumlappen, Dipsoder, Dürstling, und OudissenInseln:
auch Großfürsten im Finsterstall und Nu bel NibelNebelland, Erbvögt auff Nichilburg, und
Niderherren zu Nullibingen, Nullenstein und Niergendheym. ⁴⁴

Das Adjektiv Affenteuerlich kombiniert die Lexeme „Affe“ und „Abenteuer“ und
kündigt auf diese Weise an, dass die Gattung der Abenteuerromane hier nicht nur
nachgeahmt, sondern auch im Nachäffen parodiert werden soll. Naupengeheu-
erlich hängt mit naupe, noppe, nuppe für „Tücke“, „Schrulle“, „Grille“ zusam-
men⁴⁵ und weist darauf hin, dass etwas folgen wird, was gerade nicht geheuer,
sondern Vngeheuerlich ist⁴⁶ und damit „wunderlich“, „merkwürdig“, „außerge-
wöhnlich“, „grotesk“ und „monströs“.⁴⁷ Im Verb klittern aus dem Begriff der
Geschichtklitterung kommt die Arbeitsweise Fischarts in besonderem Maße zum
Ausdruck, denn klittern lässt sich einerseits mit „schlecht, flüchtig schreiben“,
„sudeln“, „klecksen“ zusammenbringen, andererseits mit klittern, klüttern, mhd.

Jan-Dirk Müller, Hg., Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 64 (München: R. Oldenbourg,
2007), 219 – 243; Bulang 2011 (wie Anm. 5), 337– 489; Elsa Kammerer, „Enthousiasme, fureur et
Ergeysterung. Une nouvelle hypothése d’interpretation du Glucktrarara de Johann Fischart (1575 –
1590),“ in Langues hybrides. Expérimentations linguistiques et littéraires (XVe – Début XVIIe siècle).
Hybridsprachen: Linguistische und literarische Untersuchungen (15. – Anfang 17. Jh.), Anne-Pascale
Pouey-Mounou und Paul J. Smith, Hg., Travaux d’Humanisme et Renaissance 598. De lingua et
linguis 6 (Genève: Droz, 2019): 349 – 366; Beate Kellner: „Sprachspiel, Sprachenvielfalt und Hy-
bridisierung in Johann Fischarts Geschichtklitterung“, in ebd., 385 – 402; vgl. jetzt auch die Bei-
träge zur Geschichtklitterung von Elsa Kammerer, Nicola Kaminski, Beate Kellner, Andreas Mahler,
Jan-Dirk Müller und Ulrich Seelbach, in Johann Fischart, genannt Mentzer. Frühneuzeitliche Au-
torschaft im intermedialen Kontext, Tobias Bulang, Hg., Wolfenbütteler Abhandlungen zur Re-
naissanceforschung 37, (Wiesbaden: Harrassowitz, 2019), 189 – 292.
 Für die Erschließung der Geschichtklitterung sind die wichtigsten Hilfsmittel Jacob Grimm,
Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 16 Bde. in 32 Teilbänden (Leipzig: S. Hirzel, 1854– 1960,
Quellenverzeichnis Leipzig: S. Hirzel, 1971); vgl. dazu die Neubearbeitung durch die Arbeitsstellen
der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissen-
schaften zu Göttingen (Stuttgart: S. Hirzel 1965 – 2018) (im Folgenden als DWB); und das ebenfalls
an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen fortgeführte Projekt: Frühneuhochdeutsches
Wörterbuch, Robert R. Anderson u. a., Hg. (Berlin und New York: De Gruyter, 1989 – 2017), derzeit
15 Bde.
 DWB, 13,474.
 So noch in der Ausgabe von 1575. Zu Vngeheuerlich vgl. DWB 24,708.
 Einen wichtigen Kontext bildet hier auch die Monstra- und Mirabilienliteratur.
Chaos in komischer Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 103

verklütern im Sinne von „verwirren“, „gaukeln“, „spintisieren“ und zum Dritten


mit klüttern, „grübeln“.⁴⁸ Wie in Rabelais’ Gargantua soll es auch bei Fischart um
das überaus berühmte und wohl bekannte, zugleich aber auch verrufene Herr-
scherhaus (Vollenwolbeschreiten) der Riesen Grandgoschier und Gorgellantua
gehen. Die Wendung vor kurtzen langen unnd je weilen ruft sowohl die Vorstellung
von Langeweile wie Kurzeweile hervor und deutet an, dass die Handlung vor
kurzem und vor langem und jederzeit spielt.
Wenn die Riesen als Fürsten von Utopien bezeichnet werden, gibt dies Fi-
schart Anlass, im Titelblatt mit dem Begriff der Utopie zu spielen und ihn mit
Nebelland und Niemandsland abzuwandeln. Griechische (οὔ), lateinische (nihil,
nullus)⁴⁹ und deutsche Lexeme („nirgend“, „nie“) für „nichts“, „nirgends“, „kein“
werden hier variiert und mit den Konnotationen von Finsternis und Nebel ver-
knüpft. Die Riesen sind Herrscher und sie hausen überall und nirgends. Sie sind
Großfürsten über die Durstigen und zeichnen sich selbst besonders durch ihren
Durst aus, wie in den Begriffen Eiteldurstlich und Durchdurstlechtig und Dipso-
der ⁵⁰ offengelegt wird. Dass sie darüber hinaus auch große Esser sind, deutet sich
schon darin an, dass sie Sultane der Kanarischen Inseln sein sollen, die dem
Verständnis des 16. Jahrhunderts nach so heißen, weil die Bewohner wie Hunde
(canes) angeblich alles roh essen und besonders begierig sind.⁵¹ Zugleich wird
über die griechische Wurzel οὔ eine Brücke zur Odyssee und den Irrfahrten des
Odysseus geschlagen, was auf die abenteuerliche Fahrt der Pantraguelisten in
Rabelais’ Pentalogie verweisen könnte.
Bei der Darstellung des Riesengeschlechts werden die mittelalterlichen und
frühneuzeitlichen Leitideen von Idoneität und Genealogie als Voraussetzung
adliger Herrschaft parodiert. Die Verkehrung höfischer Legitimierungsmuster von
Herrschaft zeigt sich schon zu Beginn des Gargantua im Blick auf die Genealogie,
denn bei Rabelais wird der Gedanke entwickelt, dass selbst die höchsten weltli-
chen und geistlichen Würdenträger wie Kaiser, Könige, Herzöge, Fürsten und

 Vgl. DWB 11,1213 – 1214; Hermann Fischer, Schwäbisches Wörterbuch, Bd. 4, bearb. unter Mitw.
v. Wilhelm Pfleiderer (Tübingen: Laupp, 1914), 493; ders. und Hermann Taigel, Schwäbisches
Handwörterbuch (Tübingen: Laupp u. a., 1986), 262; Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Hand-
wörterbuch, Bd. 3 (Stuttgart: Hirzel 1992, ND der Ausg. Leipzig 1872– 1878), 146 – 147; Charles
Schmidt, Historisches Wörterbuch der elsässischen Mundart, mit besonderer Berücksichtigung der
früh-neuhochdeutschen Periode, aus dem Nachlasse. (Straßburg: Heitz, 1901 [postum erschienen]),
200; vgl. dazu auch Erich Kleinschmidt, Stadt und Literatur in der Frühen Neuzeit. Vorausset-
zungen und Entfaltung im südwestdeutschen, elsässischen und schweizerischen Städteraum, Lite-
ratur und Leben N. F. 22 (Köln und Wien: Böhlau, 1982), 308 – 309, mit Anm. 262.
 Nullatenenten, gebildet aus nulla und tenere.
 Die Dipsodes kommen in der Pentalogie vor: Pantagruel, c. 23.
 Vgl. Nyssen 1963 (wie Anm. 41), Glossar, 19.
104 Beate Kellner

Päpste von einfachen Kerlen abstammen können, und dass umgekehrt auch
manch ein Habenichts aus königlichem respektive kaiserlichem Blut entsprossen
sei (Gargantua, c. 1, 9 – 11). Der deutsche Autor übernimmt Rabelais’ Thema in die
Geschichtklitterung (c. 1, 32– 44), doch er dekonstruiert das Legitimationsmuster
noch weiter und prolongiert die Gedanken seines literarischen Vorgängers, indem
er die Vorstellung einer genealogischen Mischung der Geschlechter und gentes
gleichermaßen an den Völkerwanderungen exemplifiziert wie an Kriegen und
gewaltsamen Eroberungen wie am Herumziehen einzelner Gruppen von Zigeu-
nern, Studenten und fahrenden Schülern, Handwerksgesellen, Bettlern, Mön-
chen, Pilgern, Soldaten, Juden etc. (Geschichtklitterung, c. 1, 33 – 39).
Die Parodie genealogischer Legitimierungsmuster verschiebt sich bei ihm auf
die Vorstellung einer allgemeinen Promiskuität in der Welt über Völker, Reiche,
Stände und Geschlechter hinweg. Offen gelegt wird die durch nichts beherrsch-
bare, weder durch Völker- noch durch Ständegrenzen, noch durch geistliche
Gelübde einzudämmende sexuelle Gier des Menschen, der genealogische Exkurs
wird genutzt, um eben diese im Sinne sündhafter concupiscentia zu zeigen.
Dementsprechend ist im Blick auf die Natur des Menschen auch vom eingenom-
menem Gifft des Cornelagrippischen Erbsündigen Schlangenschwantzes ⁵² die Rede
(Geschichtklitterung, c. 6, 109). Der genealogische Diskurs mündet solchermaßen
nicht in Inszenierungen des Wunderbaren, des Besonderen, des Transzendenten
zur Auszeichnung und Legitimierung des Herrschergeschlechts der Riesen, son-
dern es wird gezeigt, dass dieses Legitimierungsmuster auf nichts als Gewalt und
sexuellem Exzess beruht. Ist Genealogie ein Ordnungs- und Legitimierungs-
muster von Herrschaft, so wird bei Fischart im Gegensatz dazu das blanke Chaos
gezeigt, das sich aus der Vermischung der Völker und Geschlechter ergibt:

Also kugelts im kreiß herumb, wie solt es nicht kegel geben: Ja daß ich geschweig des verreisens,
migrirens, verruckens unnd auffbrechens etwann gantzer Länder unnd Völcker von wegen
plagung der Mäus und Schnacken. Darvon gantze Postillen von Noe Kasten auß vorhanden, der
Goten, Wandeln, Langparten, Nortmannen, Saracenen, Marckmannen, Wenden, Sclaven, Ru-
gen, Walen, die untereinander gehurnauset, gewalet, gewandelt und gewendet haben, wie ein
Hafen voll Beelzebubmucken: also daß es dem Wolffio im Scipionischen Himmel noch ein lust

 Vgl. Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, De originali peccato, (Augsburg: Drucker,
1568): hunc serpentem non alium arbitramur, quam sensibilem carnalemque affectum, imo quem
rectè dixerimus, ipsum carnalis concupiscentiae genitale viri membrum, membrum reptile, mem-
brum serpens, membrum lubricum, variijsque anfractibus tortuosum, quod Euam tentauit atque
decepit. Zitiert nach Seelbach 2000 (Anm. 43), 337.
Chaos in komischer Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 105

herab zusehen gibt, daß die Mirmidonische zweibeynige Omeysen hie unten noch also durch
einander haspeln unnd graspeln. (Geschichtklitterung, c. 1, 34).⁵³

Das Hervorkehren der Aspekte von Sexualität und Gewalt wird immer wieder auch
durch die Ausstellung obszöner Zweideutigkeiten der Sprache potenziert. So wird
schon bei der Aufzählung der Völkernamen und Völkerwanderungen das sexuelle
Thema – etwa in den Wendungen, die zugleich mit den Völkernamen spielen, die
untereinander gehurnauset, gewalet, gewandelt und gewendet haben (ebd.) und
noch also durch einander haspeln und graspeln (ebd.) – angeschlagen. Fischart
reizt die Namen der Völker aus und spielt, die Wörter karnevalesk verzerrrend und
die Affektivität der Sprache auskostend, mit ihrer Polyphonie.⁵⁴ Und schließlich
wird der Gedanke der genealogischen Vermischung auch in der Überschreitung
der einzelnen Sprachen manifest, Völkergemenge und babylonische Sprachver-
wirrung gehören zusammen.⁵⁵ Chaotisch verwirrt und vermischt sind die Spra-
chen wie die Geschlechter. Ursache und Effekt des Durcheinanders in der Welt ist
die sexuelle Begehrlichkeit des Menschen. Die dem genealogischen Denken in-
härente Strategie zur Naturalisierung des Herkommens wird hier beibehalten,
aber in eine ganz andere Richtung geführt.
Im Blick auf die Romanhandlung passt dies zu der besonders bei Fischart
übersteigert dargestellten Affektivität der Riesenfamilie. Die Riesen sind sozusa-
gen der Ausbund devianter Herrscher, sie widersprechen in ihrer grobianischen
Fress- und Sauflust sowie ihrer überbordenden sexuellen Gier allen höfischen
Vorstellungen von zuht und mâze. So heißt es etwa von Grandgurgler (Grandgo-
schier), er sei ein ziemlicher Rollart und Ramler gewesen, dem man warlich die
Geyssen hat auß dem weg führen müssen (Geschichtklitterung, c. 3, 59). Die Herr-
scher von Utopien werden wie hungrige und gierige Tiere dargestellt und diese
Animalisierung und Bestialisierung soll auch für die Leser leitend sein, wenn der
Erzähler dazu aufruft, auch sie sollen wie die Protagonisten der Geschichte den
Säuen gleich werden:
Also auch ihr (verzicht mir, daß ich euch den Säuen vergleich, sie geben dannoch guten Speck)
wie könt ihr gedeuen, wann ihr nicht tapffer keuen, speien und widerkeuen, und gleich werd den
Säuen. Aber den Säuen gleich werden ist kein schand, fürnemlich was den Magen antrifft:

 Es handelt sich wohl um eine Anspielung auf den Mythos von Myrmidon, dessen Tochter von
Zeus in Gestalt einer Ameise verführt worden ist. Zugleich könnte die Passage auch auf den Traum
des Zeussohnes Aiakos zielen: Jener träumte, dass von einer Zeus geweihten Eiche große Mengen
von Ameisen fielen, die zu Männern wurden. Vgl. Nyssen 1963 (wie Anm. 41), Glossar, 39.
 Zum Verfahren vgl. etwa Müller 1994 (wie Anm. 43); Kellner 2007 (wie Anm. 43).
 Einen Hinweis auf die ursprüngliche Differenzierung bietet etwa Geschichtklitterung, c. 1, 35,
wo von der Babilonischen trennung die Rede ist.
106 Beate Kellner

dieweil doch die Menschen unnd Säu, so viel den innern Leib betrift, einander änlich sind […].
(Geschichtklitterung, c. 3, 56)

Das Leben Grandgoschiers wirkt wie eine fortgesetzte, durch nichts begrenzte
Fastnacht, und dementsprechend weist Fischart seinen Text selbst als fantasti-
sche Fastnachtsdichtung aus (Geschichtklitterung, Prolog, 18), was auch noch
einmal eine Brücke zu Wittenwilers Ring darstellt. Die Doppelbödigkeiten der
Sprache, die Fischart sich poetisch zu nutze macht, erlauben es, bei der Dar-
stellung des Essens und Trinkens die Ebene der Sexualität immer wieder an-
klingen zu lassen.⁵⁶ Rabelais’ Kapitel zu den Trinkergesprächen der Riesen
(Gargantua, c. 5, 17– 20), in welchem diese mit ihren Gästen dem Wein frönen,
wird bei Fischart zur sogenannten Truncken Litanei (Geschichtklitterung, c. 8, 117–
145) ausgebaut und gewinnt orgiastische Züge. Der deutsche Autor weicht hier
sehr deutlich von seiner Vorlage ab, verzehnfacht den Umfang des Kapitels und
gestaltet die Szenerie breit aus. Lateinische Wendungen und pseudophilosophi-
sche Inhalte legen nahe, dass Fischart sich wohl an studentische und akademi-
sche Zechgelage sowie akademische Scherzreden angelehnt hat. Der älteren
Forschung galt das Kapitel mit seiner Fülle von anzitierten Trinkliedern⁵⁷ als
„Meisterstück treuer Menschenbeobachtung und realistischer Darstellung“ sowie
als „Sittenschilderung von typischem Wert“, die sich gleichermaßen aus „volks-
tümlichen und gelehrten Elementen“ zusammensetze.⁵⁸ Die Vielzahl an Späßen,
Einfällen, Flüchen, Zwischenrufen macht den Text unübersichtlich, dennoch
lässt sich die Entwicklung des Trinkgelages zumindest in Ansätzen erkennen.
Bezeichnungen für Gläser, Becher, Krüge und Kannen werden nach einigen die
Szene kurz einführenden Bemerkungen in langer Auflistung aneinandergereiht
(Geschichtklitterung, c. 8, 117). Dann folgen Trinksprüche, Lieder, Reden über den
Durst und das Trinken. In Anspielungen an die Säftelehre wird das Trinken als
Mittel, um die Körperwärme zu steigern sowie gegen das Ausdörren und beson-
ders das Austrocknen der Seele empfohlen. Die Lieder und Trinksprüche kippen
immer wieder und immer öfter ins Obszöne, wie etwa die folgende Passage ver-
deutlichen kann:

Meydlin sind dir die Schuh recht, bei nachte, bei nachte, halt dich Annele feste. Du bist mir
lieber dann der Knecht, pum Meydle pum, Ich freu mich dein gantz umb und umb, wa ich
freundtlich zu dir kumm, hinderm Ofen und umb und umb, freu dich Stiffelbrauns Meidelein,

 Vgl. Kellner 2007 (wie Anm. 43).


 Vgl. dazu Bulang 2011 (wie Anm. 5), 356– 368, mit zahlreichen Nachweisen und Hinweisen auf
Forschungsliteratur.
 Vgl. Hauffen 1921 (wie Anm. 43), Bd. 1, 227.
Chaos in komischer Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 107

Ich kumm ich kumm, ich kumm. Wolauff wolauff am Bodensee, sonst find man nindert freuden
meh, Mit dantzen und mit springen, und welcher gleich nicht dantzen will, der hört doch höflich
singen. Wolauff vollauff, vollsauff, dollauff, frisch auff, friß auff mein Brüderlein, Es sey gleich
gut Bier oder Wein, […]. (Geschichtklitterung, c. 8, 123 f.)⁵⁹

Gegen vier Uhr morgens gelangt der Exzess allmählich auf den Höhepunkt. In
Fischarts Darstellung hat das Thema der Trunkenheit längst auf den Gestus der
Sprache übergegriffen, die Zecher lallen: prim, pram, prim, prom, pram, da gien-
gen die Glocken an, prim, pram (Geschichtklitterung, c. 8, 132). Saufen und (homo)
sexuelle Entgrenzung scheinen eins zu sein, die Zecher fallen übereinander her
(ebd., c. 8, 132 f.). Der Durst will nicht enden, wird immer wieder von neuem an-
geregt, man reizt ihn mit Salzigem und Saurem. Man übergibt sich und verliert
jede Kontrolle (ebd., 139 – 145). Es kommt zu Rauferei und Schlägerei (ebd., 133).
Die Szenerie löst sich in der Orgie auf: Sex, Saufen und Gewalt. Die Welt des
Herrschergeschlechts der Riesen versinkt in diesem Kapitel im Chaos. Der
Sprachmodus dafür ist das Lallen, in dem der konnotative, affektive Reichtum der
Sprache hervorgekehrt wird. Das Delirieren wird in der Trunkenlitanei in einer
mise en abyme szenisch vor Augen geführt. In der Arbeit am Sprachmaterial
werden die Grenzen der Wörter unter- und überschritten, kommen verschiedene
Sprachen ins Spiel und werden hybridisiert. Die Entgrenzung der Wörter und
Sprachen, die semantische Entleerung im Lallen, aber auch die semantische
Verdichtung durch Übereinanderschichten verschiedener Sinndimensionen
spiegelt die verworrene Welt im poetischen Überschuss.
Man könnte nun folgern, dass Fischarts Text auf eine Didaxe ex negativo
hinausläuft, durch die der Tisch- und Hofzuchtenliteratur durch die Ausstellung
der grobianischen Lebensweise von Pseudoherrschern das Wort geredet wird.
Doch die Feier des Animalischen, des Somatischen und Sinnlichen entfaltet eine
Dynamik, die den Rahmen moralischer Nutzanwendung im Sinne einer Didaxe ex

 Vgl. auch etwa Geschichtklitterung, c. 8, 124– 125: Nun auß eim andern thon, wer singt uns eins?
Herbei, herbei, was Löffel sey, zu disem Brei, gar bald und frei: Ich hof uns soll gelingen, hetten wir
nur Löffel, Stöffel, lang Löffel, […]: vor freuden wolten wir springen, und Muslöffel, Busenlöffel,
Bubenlöffel, Stubenlöffel, die thut uns auch herbringen, und gewaschene Löffel, eng Jungfraulöffel,
Ein futer mit Löffel, und unsere löffel […]. Nun sih ich wol, daß ich auch soll, Mein Löffel einher
tragen, So bring ich Rotzlöffel, Orenlöffel, Butterlöffel, Schaumlöffel, Was soll ich weiter sagen: Secht
liebe Freund schön glatte Löffel, rau Wirtshaußlöffel, Ammeisterstubenlöffel, der Martschen Löffel,
der Dürlin Löffel, der Ursel Löffel, der Hopffensidrin Löffel, Heyntz Löffel, Kuntz Löffel, Claus Löffel,
Fritz Löffel, Ule Löffel: wer will darüber klagen, All Ort voll Löffel, all Winckeln voll Löffel, die Stub
voll Löffel, das Hauß voll Löffel, Ich will nach keim mehr fragen: Singt nur mit Schall, ihr Löffel all,
hoho Löffel do.Weit verbreitet ist der Löffel als Metapher des Penis, und die vorstehende „Löffelei“
lässt sich unschwer ganz in diesem Sinne verstehen.
108 Beate Kellner

negativo und einer Satire, bei der es um das bloße Verlachen geht, immer wieder
sprengt: Dargestellt wird vielmehr die Unübersichtlichkeit der Welt, die nicht in
einem Schema von satirischer Dichotomie von Schwarz und Weiß aufgeht, son-
dern ein verwirretes ungestaltes Muster der heut verwirrten ungestalten Welt vor
Augen führt (Geschichtklitterung, Prolog, 8). Hieraus scheint kein Weg in eine
neue Ordnung zu führen.

4 Fazit
Wittenwilers Ring und Fischarts Geschichtklitterung zeigen in unterschiedlicher
Ausprägung im Genre des schwankhaften und komischen Romans, wie die Ver-
kehrung höfischer Verhaltensformen, die Devianzen im Milieu der Giganten und
der Bauern die Ordnung einer Gemeinschaft ins Chaos stürzen können. Sie ver-
weisen damit keineswegs nur ex negativo auf das Richtige, sondern sie zeigen die
Fragilität der gesellschaftlichen Ordnung und der Prozesse von Höfisierung und
Kultivierung. Sie machen deutlich, dass schon vermeintlich Geringfügiges, wie
Greduls Verletzung an der Innenhand, eine Katastrophe auslösen kann und sie
decken die gewalttätige, barbarische, rohe Natur des Menschen unter dem Firnis
der Zivilisierung auf. Indem die Texte höfische Werte und Normen sowie adlige
Legitimierungsmuster wie Genealogie und Ideoneität des Herrschers dekonstru-
ieren und parodieren, legen sie den Finger auf die wunden Punkte dieser Ideale
und Modelle. Dadurch zeigen sie, dass mit Erziehungsprogrammen und Lehren
sowie Strategien der Konsolidierung und Legitimierung von Herrschaft allenfalls
nur eine fragile Ordnung hergestellt werden kann. Insofern bilden die parodisti-
schen Texte einen Gegendiskurs zu den Mustern der Begründung und Legiti-
mierung von Konsoziation.
Gegen den Absturz in Unordnung und Chaos wird in den Texten aber auch
nach neuer Ordnung gesucht, die aus der Katastrophe und dem Zusammenbruch
wieder entstehen kann. So endet Wittenwilers Ring gerade nicht mit der Auslö-
schung der dörflichen Welt, sondern mit der Enscheidung des Protagonisten zum
gottesfürchtigen Leben in der Eremitage als Voraussetzung des Seelenheils. Mag
dieser Schluss zwar bloß als angehängt erscheinen, so zeigt er auf der anderen
Seite doch, wie schwer es selbst in einem schwankhaften literarischen Text ist, die
Auslöschung der Ordnung im Chaos und die Vernichtung aller als Endpunkt des
Romans stehen zu lassen.⁶⁰ Am weitesten geht hier Fischarts Text, denn in ihm

 Ein Seitenblick auf die Heldenepik mag dies bestätigen. Es ist bemerkenswert, dass es selbst
beim Untergang der Nibelungen am Etzelhof noch Überlebende gibt. Vgl. Nibelungenlied, 39.
Chaos in komischer Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 109

lässt sich kein Fixpunkt mehr erkennen, von dem her eine Ordnungsperspektive
entwickelt würde, auch wenn der Prolog dies vorzugeben scheint. Im Gegenteil:
Die Handlung wird durch Gelehrsamkeit einerseits, durch Wort- und Sprachspiele
andererseits bis zur Unkenntlichkeit zersetzt. Das Chaos greift immer wieder auch
auf die zitierten gelehrten Diskurse über, wenn diese parodistisch verdreht und
verkehrt werden. Schließlich spiegelt sich die Unordnung auch auf der poetischen
Ebene, indem die Grenzen der Wörter, Sprachen und Alphabete überschritten und
hybridisiert werden, indem die Wörter zersetzt werden bis nur noch Silben oder
Buchstaben übrigbleiben. Dabei können sie ihrer ursprünglichen Sinndimensio-
nen verlustig gehen und eine affektive, häufig sexuell konnotierte Schicht der
Sprache offenlegen, die wiederum zur überbordenden Begehrlichkeit der darge-
stellten Protagonisten passt.

Âventiure, in Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St.
Gallen, Mittelhochdeutscher Text, Übers. und Komm., Joachim Heinzle, Hg., Bibliothek des Mit-
telalters. Texte und Übersetzungen 12 (Berlin: Deutscher Klassiker Verlag, 2015).

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