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Frühe Neuzeit
Herausgegeben von
Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann,
Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 209
Intermedialität in der
Frühen Neuzeit
Herausgegeben von
Jörg Robert
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung
ISBN 978-3-11-048355-0
e-ISBN (PDF) 978-3-11-052178-8
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052089-7
ISSN 0934–5531
www.degruyter.com
Inhalt Inhalt
Einleitung
Jörg Robert
Intermedialität in der Frühen Neuzeit – Genealogien und Perspektiven 3
I Theatrale Intermedialität
Irmgard Scheitler
Die Verthönung – Illustration auf dem Theater 21
Rüdiger Singer
»Grief’s true picture« – Enargeia als intermediales Konzept und Leitmodell für
actio und acting 55
II Musikalische Intermedialität
Florian Mehltretter
Maske und Performanz – Zum intermedialen Charakter der italienischen
Madrigaldichtung zwischen Trecento und Cinquecento 79
Nicola Gess
»L’opéra est un spectacle« (Voltaire): Zur Intermedialität der tragédie en
musique 95
Dirk Werle
»Ich singe, wie der Vogel singt« – Bestimmung der Lyrik von Goethe
bis Opitz 116
VI Inhalt
Jürgen E. Müller
Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit 153
Jürgen Müller
»Cazzon da mulo« – Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer
Eidechse gebissen 180
Monika Schmitz-Emans
Graphien der Zeit: Über Stundenbücher in Mittelalter und Neuzeit 215
Joachim Hamm
Zu Paratextualität und Intermedialität in Sebastian Brants Vergilius pictus
(Straßburg 1502) 236
Astrid Dröse
Paragonale Relationen? Das Verhältnis von Musik, Bild und Text in Titelkupfern
barocker Liedersammlungen 260
IV Literarische Bildpoetik
Stefanie Arend
Vorüberlegungen zum Entwurf einer intermedialen Rhetorik anhand von
emblematischen Figurationen in der Frühen Neuzeit 287
Jörg Wesche
Laokoons Schlange 306
Jörg Robert
»geschwiester Kinder« – Bildtheorie und Paragone bei Martin Opitz 322
Inhalt VII
Stefanie Stockhorst
Text und Bild bei Harsdörffer: Vom Paragone zur synästhetischen
Animation 347
Seraina Plotke
Bildgestalt aus den Lettern – Die Intermedialität der visuellen Poesie im
17. Jahrhundert 366
Register 391
Einleitung
Jörg Robert
Intermedialität in der Frühen Neuzeit –
Genealogien und Perspektiven
1 Werner Wolf: Intermedialität. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kul-
turtheorie. Stuttgart, Weimar 22001, S. 296–297, hier S. 296; die folgenden Ausführungen nehmen
Überlegungen auf, die ich im systematischen Teil meiner Einführung in die Intermedialität zu-
erst vorgestellt habe: Jörg Robert: Einführung in die Intermedialität. Darmstadt 2014, hier S. 7–29.
2 Uwe Wirth: Hypertextuelle Aufpfropfung als Übergangsform zwischen Intermedialität und
Transmedialität. In: Urs Meyer, Robert Simanowski, Christoph Zeller (Hgg.): Transmedialität. Zur
Ästhetik paraliterarischer Verfahren. Göttingen 2006, S. 19–38, hier S. 32–33.
DOI 10.1515/9783110521788-001
4 Jörg Robert
3 Elizabeth Eisenstein: The Printing Revolution in Early Modern Europe. Cambridge 22005;
Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die
Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a. M. 1998. Für
eine historische Geschichte der Medialität und Intermedialität in anthropologischer Perspektive
verweise ich exemplarisch auf Christian Kiening: Fülle und Mangel. Medialität im Mittelalter.
Zürich 2016.
4 Giesecke (Anm. 3).
5 Jörg Robert, Friedrich Vollhardt (Hgg.): Unordentliche Collectanea. Lessings Laokoon zwi-
schen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin, Boston 2013.
6 Robert (Anm. 1), S. 78–108.
7 Zu den ersten, wegweisenden Skizzen zählten Werner Wolf: Intermedialität als neues Para-
digma der Literaturwissenschaft? Plädoyer für eine literaturzentrierte Erforschung von Grenz-
überschreitungen zwischen Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von Virgina Woolfs
The String Quartet. In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 21, (1996), S. 85–116 und Jörg
Helbig: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes. Berlin
1998.
8 Vgl. Gustav Frank, Barbara Lange: Einführung in die Bildwissenschaft. Darmstadt 2010.
Intermedialität in der Frühen Neuzeit – Genealogien und Perspektiven 5
historisch wie systematisch einschließt, hat sich zerschlagen. Éric Méchoulan hat
schon 2003 von den »illusions perdues« des intermedialen Projekts gesprochen.9
Will man mögliche Chancen und Reichweiten des Intermedialitätstheorems –
auch und gerade im Hinblick auf historische Phänomene – abschätzen, lohnt ein
Blick auf Genese und Genealogie des Ansatzes: Obwohl von Anfang an Literatur-
wissenschaftler wie Werner Wolf (Amerikanist), später Irina Rajewsky (Romanis-
tin) beteiligt waren, ist Intermedialität10 ursprünglich ein medienwissenschaftli-
ches Projekt und damit eine »Provokation«11 für die Philologie(n). Seine Wurzeln
liegen in Marshall McLuhans visionärer Idee einer Hybridisierung oder ›Bastar-
disierung‹ von Medien, die ungeahnte Explosivkräfte freisetze – McLuhan scheut
nicht den Vergleich mit der Wasserstoffbombe oder der »Kern-Fusion«12: »Der
Bastard oder die Verbindung zweier Medien ist ein Moment der Wahrheit und
Erkenntnis, aus dem neue Form entsteht.«13 Gegen die Laokoontische Differen-
zierung der Medien und Künste werden alte Ideen des Gesamtkunstwerks in kul-
turkritischer Emphase revitalisiert. Wenn sich in der Unterscheidung der Medien
das Trauma der modernen Ausdifferenzierung spiegelt, bedarf es einer neuen
Verschmelzung und Hybridisierung, um den modernen »geteilte[n] Menschen«14
wieder ›ganz‹ zu machen, zu heilen. Es ist diese kultur- und modernekritische
Emphase, diese Verheißung der symmedialen Ganzheitlichkeit, die alle interme-
dialen Phantasien und Phantasmen seit dem 18. Jahrhundert hervortreibt.
Neben die anthropologische Verheißung vom ganzen (Medien-)Menschen
tritt im Zeitalter des Web 2.0 (3.0., 4.0. usw.) das Versprechen universeller Teilhabe
(Partizipation) und entgrenzter globaler Kommunikation. Solche Entgrenzungs-
und Emanzipationshoffnungen durchziehen etwa Henry Jenkins’ Plädoyer für
eine »convergence culture«.15 Analyse und Manifest, Dokumentation und Vision
überlagern sich dabei bis zur Ununterscheidbarkeit: Wenn Jenkins Medienkon-
9 Éric Méchoulan: Intermédialité. Le temps des illusions perdues. In: Intermédialités. Histoire et
théorie des arts, des lettres et des techniques 1 (2003), S. 9–27.
10 Intermedialität wird hier neuerdings flankiert von dem (eher kommunikationswissenschaft-
lichen) Begriff ›Multimodalität‹ einerseits und von dem der »Medienkonvergenz« andererseits.
S. u.
11 Jürgen E. Müller: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation. Münster
1996, S. 92.
12 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media (zuerst engl. Understan-
ding Media. The extensions of man; 1964). Düsseldorf, Wien, New York u. a. 1992, S. 65–73;
Robert (Anm. 1), S. 66–71.
13 McLuhan (Anm. 12), S. 73.
14 Ebd., S. 67.
15 Henry Jenkins: Convergence culture. Where old and new media collide. New York 2008.
6 Jörg Robert
vergenz bestimmt als »the flow of content across multiple media platforms, the
cooperation between multiple media industries, and the migratory behavior of
media audiences […]«,16 schwingt schon in den Metaphern und Begriffen (»flow«,
»migratory behavior«) eine Emphase schrankenloser Partizipation mit, die zwi-
schen adventistischer Naherwartung und offener Drohung schwankt: »Conver-
gence is coming and you had better be ready.«17
Neben dem Konvergenz-Paradigma hat sich, aus den Kommunikationswis-
senschaften kommend, ein weiterer Konkurrenzbegriff etabliert, der der Multi-
modalität. Multimodalität bezeichnet Kommunikationsprozesse, die in der Regel
oder optional mehrere Sinneskanäle oder modes involvieren.18 Für Reichweite
und Ausrichtung gilt ähnliches wie für Jenkins’ convergence culture: Der zentrale,
emphatisch betonte Gegenstand der Multimodalitätsforschung sind die neuen
Medien, das Internet. Mit der Bildwissenschaft weiß man sich darin einig, dass
die Gutenberg-Ära mit ihrer monomedialen Hegemonie des Textes (des Buches)
zugunsten immer komplexerer medialer Hybride, in denen tendenziell das Iko-
nische dominiert, abgelöst worden sei.19 Multimodalität entsteht – so Gunther
Kress – durch den »shift from the book and the page to the screen« bzw. »the shift
from the older technologies of print to digital, electronic means«.20 Dass nun auch
auf dem Bildschirm weiterhin – vor allem – Texte erscheinen, bleibt hier außer
Betracht. Gegenüber dem vermeintlich präzedenzlos Neuen der Medienmoderne
treten Evolutionen des Textuellen, genuin intermediale Synthesen von ikoni-
schen und symbolischen Zeichensystemen, vor allem aber jegliche historische
Phänomene zurück. Die Frage nach historischen (Vor-)Formen wird ausgeklam-
mert, wo das schlechthin Andere der neuen Medien die legitimatorische Grund-
lage der eigenen Forschung bedeutet. An eine Abstimmung mit Philologien oder
den klassischen inter art-studies ist nicht gedacht. Sie stellen ja gerade das Über-
wundene und Alte, die Prähistorie dar (older technologies). Medienkonvergenz
16 Ebd., S. 2.
17 Ebd., S. 10.
18 Gunther Kress: Multimodality: Exploring Contemporary Methods of Communication. Lon-
don 2009; Gunther Kress, Theo van Leuwen: Reading Images. Grammar of visual design. Lon-
don 2006; einen Querschnitt vermittelt der Einführungsband von Sigrid Norris, Carmen Daniela
Maier (Hgg.): Interactions, Images and Texts. A Reader in Multimodality. Berlin 2014 (Trends in
Applied Linguistics; 11).
19 John A. Bateman: Multimodality and Genre. A Foundation for the Systematic Analysis of
Multimodal Documents. Houndmills, Basingstoke, Hampshire u. a. 2008, S. 1. »But things have
changed: nowadays that text is just one strand in a complex presentational form that seamlessly
incorporates visual aspects ›around‹, and sometimes even instead of, the text itself«.
20 Kress 2009 (Anm. 18), S. 6.
Intermedialität in der Frühen Neuzeit – Genealogien und Perspektiven 7
und Multimodalität treten mit der Verheißung auf, die elitären Text-Kulturen der
Gutenberg-Ära durch neue Formen multi-sensueller Kommunikation und Parti-
zipation, wie sie v. a. die populäre Kultur oder die Alltagskommunikation kennt,
weniger zu flankieren als zu ersetzen. Die Diagnose mag zugespitzt klingen. Doch
die Tendenz folgt einer Logik der Ausdifferenzierung, nicht der Re-Integration.
Die disziplinären Autonomien und Logiken setzen dem Ideal des Transdisziplinä-
ren jene Grenzen, die, sofern sie das eigene System ›autopoetisch‹ stabilisieren,
kaum überwindbar scheinen: Multimodalität und media convergence sind for-
schungsstrategische Begriffe; sie haben die Funktion, die Medienwissenschaften
einerseits gegenüber den Literaturwissenschaften, andererseits gegenüber den
Kunstwissenschaften (inter art-studies) abzugrenzen und zu legitimieren. Die
Analogie zur Bildwissenschaft liegt in der gemeinsamen Abwendung vom Text
und in der Emphase der Sinnlichkeit (visuelle Kultur) begründet.21 Dieser Abwen-
dung von Buch- und Textkulturen ist die geringe Resonanz des Multimodalitäts-
paradigmas in den Literaturwissenschaften geschuldet.22 Während es sich in den
Medien- und Kommunikationswissenschaften, in Lernpsychologie oder Päda-
gogik breit entfaltet, scheint es für historische Phänomene ›literaturzentrierter‹
Intermedialität23 kaum operabel.
21 Gustav Frank, Barbara Lange: Einführung in die Bildwissenschaft. Darmstadt 2010, S. 11. Die
Bildwissenschaften konstituieren ein Feld jenseits des Textes, »auf dem mit interdisziplinären
Verfahrensweisen die Objekte einer visuellen Kultur erst konstruiert, dann analysiert und inter-
pretiert werden [sollen]«.
22 Unter den drei Einträgen für Multimodalität findet sich der Beitrag eines historisch arbeiten-
den Linguisten über den multimodalen Ansatz von Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer
Gesprächsspielen. Markus Hundt: Diskursivierung von Wissen durch Sprache – der multimodale
Ansatz von Georg Philipp Harsdörffer in den Frauenzimmer Gesprächspielen. In: Thorsten Burk-
hard, Markus Hundt, Steffen Martus, Claus-Michael Ort (Hgg.): Politik– Ethik – Poetik. Diskurse
und Medien frühneuzeitlichen Wissens. Berlin 2011, S. 177–200; ferner Magdalena Makowska:
Im multimodalen Dialog. Zum Zusammenspiel von Text und Bild auf den Einbänden von Kinder
büchern. In: Convivium 2013, S. 115–142.
23 Wolf (Anm. 1).
8 Jörg Robert
konzepts. Vor allem erwies sich die Umsetzung der Verheißungen von Transgres-
sion und Emanzipation vom Text als schwierig. Schnell wurde die »inflationäre
Verwendung des Begriffs«24 und »plurale[…] Beliebigkeit«25 der Theoriemodelle
beklagt.26 Für die praktische Arbeit wiegt die Diskrepanz zwischen einem weiten
und einem eher engen Verständnis von Intermedialität schwer. Es ist dieselbe
Herausforderung, der sich das – theoriegenetisch zentrale – Nachbarfeld der
Intertextualitätsforschung zu stellen hatte.27 Die philologische Implementierung
des Intertextualitätsbegriffs führte bekanntlich von dem weiten, kultursemioti-
schen Verständnis Julia Kristevas zu dem enger philologischen (im Übrigen nur
auf Inter-Texte bezogenen!) Gérard Genettes. Ähnlich auf dem Gebiet der Inter
medialität: Der Herausforderung, »eine historisch begründete Systematik der
Figurationen der Intermedialität«28 zu entwickeln, stellt sich die Einführung von
Irina O. Rajewsky.29 An Narratologie und Intertextualitätstheorie geschult, will
sie dem »Fehlen eines einheitlichen Begriffsinstrumentariums« durch eine dif-
ferenzierte Taxonomie begegnen; ein Versuch, der sich – wie auch die Beiträge
dieses Bandes zeigen – breit durchgesetzt hat.30 Das fein justierte, analytische
Instrumentarium wird auf die Analyse von Text-Film-Beziehungen (filmisches
Schreiben, Adaptation/Verfilmung) beschränkt, während die Erprobung seiner
»Allgemeingültigkeit« ausdrücklich »zukünftiger Forschung« überlassen bleibt.31
Diese Entscheidung – letztlich im Sinne eines modernen, restringierten Medien-
begriffs – sichert die Homogenität der Theoriebildung, weil sie die Heterogenität
der medialen Kontaktaufnahmen auf einen (Sonder-)Fall beschränkt, der gleich-
sam zur Regel wird. Damit werden jedoch sowohl historische als auch trans-
disziplinäre Ansätze a limine ausgeschlossen. Genuin frühneuzeitliche Formen
der Medienkombination und -reflexion werden aus dem Theoriehorizont der
37 Wolf (Anm. 7), S. 88 definiert Intermedialität als »das innerhalb eines Kontaktnehmers faß-
liche Resultat der Inszenierung eines fremdmedialen Kontaktgebers (in Form von Imitation, In-
tegration oder Kombination), wobei Kontaktgeber und -nehmer verschiedenen Medien in einem
weiteren Sinn zugehören […]«.
38 Barbara Bauer: Multimediales Theater. Ansätze zu einer Poetik der Synästhesie bei den Jesu-
iten. In: Heinrich F. Plett (Hg.): Renaissance-Poetik. Renaissance Poetics. Berlin, New York 1994,
S. 197–238.
39 Rüdiger Zymner: Das Emblem als offenes Kunstwerk. In: Wolfgang Harms, Dietmar Peil
(Hgg.): Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik. Akten des 5. Internationalen Kon-
gresses der Society for Emblem Studies, Bd. 2. Frankfurt a. M. 2002, S. 9–24.
40 Robert (Anm. 1), S. 24.
41 Gabriele Rippl (Hg.): Handbook of Intermediality: Literature – Image – Sound – Music. Ber-
lin, Boston 2015.
Intermedialität in der Frühen Neuzeit – Genealogien und Perspektiven 11
49 Walter Benjamin: Medienästhetische Schriften. Auswahl und Nachwort von Detlev Schöttker.
Frankfurt a. M. 2002, S. 356.
50 Werner Wolf: Musicalized fiction and Intermediality. Theoretical Aspects of Word and Music
Studies. In: Walter Bernhard, Steven Paul Scher, Werner Wolf (Hgg.): Word and Music Studies.
Defining the Field. Amsterdam 1999, S. 37–58.
51 Vgl. den Beitrag von Seraina Plotke in diesem Band.
52 Jürgen E. Müller: Intermedialität und Medienhistoriographie. In: Joachim Paech, Jens Schrö-
ter (Hgg.): Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen. München 2008,
S. 31–46, hier S. 32. Vgl. auch Marion Froger, Jürgen E. Müller: Introduction: Intermédialité et
socialité. In: M. F., J. E.M.: Intermédialité et socialité. Münster 2007, S. 7–13.
53 Robert (Anm. 1), S. 16.
54 Jürgen E. Müller: Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept. In:
Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines intermedialen Forschungsgebietes.
Berlin 1998, S. 31–40, hier S. 32.
Intermedialität in der Frühen Neuzeit – Genealogien und Perspektiven 13
schon im Titel an eine von mir und Friedrich Vollhardt konzipierte Konferenz zu
Lessings Laokoon55 an, die sich unter dem Titel ›Unordentliche Collectanea – Les-
sings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theorie-
bildung‹ auf methodische und historische Voraussetzungen von Lessings Schrift
konzentrierte.56 Beiden Zeiträumen – diesseits wie jenseits des Laokoon – ist
gemeinsam, dass sie in der historischen Intermedialitätsforschung noch nicht
systematisch dargestellt und untersucht worden sind.57 In der Geschichte der
Intermedialität stellt Lessings Laokoon (1766) eine Zäsur dar. Seine Polemik
gegen »Allegoristerei« und »Schilderungssucht« distanziert sich erstmals deut-
lich und prinzipiell von der Idee der ›Schwesterkünste‹58 und des ut pictura
poesis-Prinzips.59 Vor allem die germanistische Forschung ist Lessings (Selbst-)
Darstellung gefolgt. Erst Lessing habe – so die Communis opinio – mit seiner
Unterscheidung zwischen Kopräsenz (Malerei) und Konsekutivität (Dichtung,
Musik) ein differenziertes medienästhetisches Modell entwickelt, das eine Zäsur
zwischen Früher Neuzeit (Vormoderne) und Moderne schaffe. Erst bei ihm werde
die Theorie des Mediums zur Grundlage der Poetik. Die hier unterstellte teleo-
logische Entwicklung verkennt einerseits die Kontinuität älterer Konzepte wie
dem des Gesamtkunstwerkes über die Schwelle Lessing hinweg und unterschätzt
andererseits Lessings Verpflichtung auf Ansätze der antiken Poetik, namentlich
des Aristoteles,60 sowie die Fülle intermedialer Phänomene und Reflexionen zwi-
schen Renaissance und Frühaufklärung.
Der vorliegende Band setzt bei der Frage nach den vormodernen Kontinui-
täten an. Er erfasst Text-Bild- bzw. Text-Musik-Beziehungen der Frühen Neuzeit
55 Veranstaltet vom 11.–13. 11. 2010 im Kloster Bronnbach bei Wertheim. Die Tagungsakten sind
erschienen unter dem Titel: Jörg Robert, Friedrich Vollhardt (Hgg.): Unordentliche Collectanea:
Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Ber-
lin, Boston 2013; vgl. auch die in diesem Kontext entstandene Neuedition des Laokoon. G. E. Les-
sing: Laokoon. Studienausgabe. Hg. von Friedrich Vollhardt. Stuttgart 2012 (mit grundlegender
Einführung des Herausgebers, S. 437–467).
56 Für das 19. Jahrhundert vgl. den Tagungsband Wolf Gerhard Schmidt, Thorsten Valk (Hgg.):
Literatur intermedial – Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968. Wiesbaden 2009 (Compa-
rative Studies; 19); Stefan Keppler-Tasaki, Wolf Gerhard Schmidt (Hgg.): Zwischen Gattungsdis-
ziplin und Gesamtkunstwerk. Literarische Intermedialität 1815–1848. Berlin, München, Boston
2015.
57 Vgl. meinen kurzen Abriss: Robert (Anm. 1), S. 34–39.
58 Jean H. Hagstrum: The Sister Arts: The Tradition of Literary Pictorialism and English Poetry
from Dryden to Gray. Chicago 1987.
59 Gottfried Willems: [Ut] pictura poesis. In: Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen
Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin 2003, S. 82–84; ders.: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Ge-
schichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989.
60 Robert (Anm. 1), S. 30–34.
14 Jörg Robert
61 Claire J. Farago: Leonardo da Vinci’s Paragone. A Critical interpretation with a new edition
of the text in the Codex Urbinas. Leiden, New York, Kopenhagen u. a. 1992; Eric Achermann: Das
Prinzip des Vorrangs. Zur Bedeutung des ›Paragone delle arti‹ für die Entwicklung der Künste.
In: Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch.
Berlin, New York 2011, S. 179–209.
62 Vgl. mit Blick auf Caravaggio den Beitrag von Jürgen Müller; zur Bilderfrage im protestan-
tischen Raum Sergiusz Michalski: The Reformation and the visual arts. The Protestant image
question in Western and Eastern Europe. London, New York 1993; zur katholischen Bildtheo-
rie eingehend Jörg Robert: Texttabernakel. Jacob Baldes sakrale Ekphrasen und die Krise des
religiösen Bildes. In: Thorsten Burkard, Günter Hess, Wilhelm Kühlmann, Julius Oswald (Hgg.):
Jacob Balde im kulturellen Kontext seiner Epoche. Zur 400. Wiederkehr seines Geburtstages. Re-
gensburg 2006 (Jesuitica; 9), S. 287–312.
63 Ulrich Pfisterer: Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance. Eine Geschichte in Quel-
len. Stuttgart 2002.
Intermedialität in der Frühen Neuzeit – Genealogien und Perspektiven 15
gehend von Andrea Alciatis modellbildendem Buch (1531) bis ins frühe 18. Jahr-
hundert floriert,64 synergetisch in der Form der Oper, die unter Bezugnahme auf
die griechische Tragödie eine neue Synthese von Wort, Ton und Bild herstellen
möchte (Florentiner Camerata, erste deutsche Oper(ntheorie) in Harsdörffers
Seelewig, Händels Maschinentheater etc.).65 Gleiches gilt für die Vokalmusik
allgemein (Oratorium, Passion, Kantate, Madrigal, Kirchenlied), deren Theorie
sich systematisch das Kategorienarsenal der Wirkungsrhetorik zu eigen macht.66
Eingehend zu diskutieren ist in diesem Kontext, ob die multimediale Praxis des
Barock bereits Gesamtkunstwerkcharakter besitzt und damit entsprechende Ent-
wicklungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts präformiert oder ob sie eher
quer zu solchen Tendenzen (Glucks Opernreform, Wielands Librettoaufwertung
etc.) steht.67 Besonderes Augenmerk verdient zudem das bisher wenig beachtete
Phänomen der ›Vertönung‹ auf dem Theater, d. h. das Exponieren von tableaux
(vivants), scenae mutae, Projektionen, und/oder Posituren.68 Auch die Etablie-
rung musikalischer Strukturmodelle in der Barockprosa69 und die vielfältigen
Versuche lyrischer Sprachmusikalisierung sind bisher nicht zureichend unter-
sucht.70
Ein zentraler Gegenstand des Bandes sind die ut pictura poesis-Konzepte vor
Lessing.71 Wie sich zeigt, ist der Vergleich (paragone, comparatio) der Künste von
feinen Positionierungen und Aushandlungsprozessen bestimmt. Dies betrifft vor
allem paragonale Strukturen in Bildgedicht und Kunstbeschreibung (Ekphrasis),
die nach klassischem Vorbild – gestützt auf die Rhetorik der descriptio und ver-
ankert in den praeexercitamenta der Lateinschule – die gesamte Frühe Neuzeit
bestimmen. Hier sind Konzepte ästhetischer Bilderzeugung (enargeia, phantasia,
imaginatio) von großer Relevanz.72 Die Pragmatik der Medienkombination und
-konkurrenz bestimmt auch das Feld der Buchillustration. Seit dem Frühdruck
64 Vgl. die Beiträge von Stefanie Arend und Astrid Dröse in diesem Band.
65 Vgl. den Beitrag von Nicola Gess in diesem Band sowie Wolf Gerhard Schmidt: Harmonika-
lität und Inkommensurabilität als Komplemente barocken Systemdenkens. Zur Integralästhetik
von Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspielen [1641–1649]. In: DVjs 86 [2012]. H. 4, S. 483–531.
66 Vgl. den Beitrag von Florian Mehltretter in diesem Band.
67 Vgl. Barbara Bauer: Multimediales Theater. Ansätze zu einer Poetik der Synästhesie bei den
Jesuiten. In: Heinrich F. Plett (Hg.): Renaissance-Poetik. Renaissance Poetics. Berlin, New York
1994, S. 197–238.
68 Vgl. den Beitrag von Irmgard Scheitler in diesem Band.
69 Vgl. den Beitrag von Stefanie Stockhorst in diesem Band.
70 Vgl. den Beitrag von Dirk Werle in diesem Band.
71 Dazu im Überblick Willems (Anm. 59).
72 Vgl. aus unterschiedlicher Perspektive die Beiträge von Michael Bauer/Angelika Zirker, Rüdi-
ger Singer und Lothar van Laak in diesem Band.
16 Jörg Robert
Dank
Der Herausgeber ist vor allem der Fritz Thyssen Stiftung zu Dank verpflichtet, die
zunächst die Eichstätter Tagung, schließlich auch die Publikation dieses Buches
durch großzügige finanzielle Unterstützung ermöglicht hat. Für die Organisa-
tion, Durchführung und administrative Begleitung der Konferenz danke ich Wolf
Gerhard Schmidt sowie den Eichstätter, Würzburger und Tübinger Hilfskräften.
Insbesondere danke ich Marisa Irawan, M. A., Dr. Astrid Dröse (Tübingen) und
meinen Hilfskräften für ihre redaktionelle Begleitung des Bandes in seiner End-
phase. Für dessen Aufnahme in die Reihe Frühe Neuzeit danke ich den Reihen
herausgebern. Für die kompetente Betreuung der Publikation im Verlag Walter de
Gruyter danke ich Dr. Manuela Gerlof, Dr. Jacob Klingner, Stella Diedrich, Lena
Ebert sowie Julia Hachula. Den Satz hat Dörlemann Satz, Lemförde besorgt.
I Theatrale Intermedialität
Irmgard Scheitler
Die Verthönung – Illustration auf dem
Theater
Im Jahr 1659 konnten die Bürger von Nürnberg in ihrem Theatersaal im Marstall
das Schauspiel Der Lehr- und Weisheit-begierige Jüngling des jungen Theologie-
studenten Christoph Paul Spieß sehen.1 Der Nebentext sagt über den Beginn
der Aufführung: »Der Anfang wird mit der Orgel und etlichen Violen gemacht /
dann nach eröffneten Fürhängen des ersten Actus vornehmste Abhandlungen
in vier Verthönungen fürgestellet.«2 Das Stück wurde also, wie üblich, musika-
lisch eröffnet, wohl mit einer Intrada für Streicherconsort mit Orgelcontinuo. Die
nachfolgend erwähnten »Verthönungen« haben in der Forschung Anlass zu Ver-
wirrung gegeben.3 Der Terminus, der im 17. Jahrhundert ganz geläufig war, ist
offenbar vollständig in Vergessenheit geraten. Er hat nichts mit Vertonung oder
mit Tönen zu tun, auch wenn das genannte Beispiel dies suggerieren könnte.
Vielmehr entstammt er dem Niederdeutschen bzw. Niederländischen: Vertooning
meint Erscheinung, Darstellung.4
1 Der Lehr- und Weisheitbegierige Jüngling; Aus der alten sinnreichen Tafel des vortrefflichen
Philosophi, Cebetis, mit nutzlichen Lehren unterrichtet. In welcher der Jugend Thorheit / Irr
thum und Laster gezeiget; Sie dagegen zu guten Künsten / Wissenschafften / herrlichen Tu-
genden und Weisheit angeführet wird. In einer Comoedy von jungen Knaben praesentiret und
aufgesetzet von M. Christophoro Paulo Spieß / N. S. S. Th. Studioso. Nürnberg 1659. Vgl. zum Fol-
genden grundsätzlich Irmgard Scheitler: Schauspielmusik. Funktion und Ästhetik im deutsch-
sprachigen Drama der Frühen Neuzeit. Bd. I: Materialteil. Mit MP3. (Würzburger Beiträge zur
Musikforschung; 2.1) Tutzing 2013; Bd. II: Darstellungsteil. (ortusstudien; 19) Beeskow 2015.
2 Spieß ebd. Bl. (6v.).
3 Klaus Haberkamm und Lieselotte E. Kurth: Christoph Paul Spieß: Der Lehr- und Weisheitbegie-
rige Jüngling (1659). Ein Nürnberger Schul-Drama nach dem Modell der Tabula Cebetis. In: Sim
pliciana 11 (1989), S. 129–148, hier S. 140: »Die Bezeichnung Vertonung meint wohl, daß diese an
die picturae von Emblemen erinnernden Darstellungen musikalisch untermalt wurden«.
4 Deutsches Wörterbuch. Hg. von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearb. hg. von der Aka-
demie der Wissenschaften der DDR. Leipzig, Stuttgart 1854–1971, Bd. XII,1 Sp. 1918: »Vertonen,
verb. [oder verthönen] […] zeigen, vor augen stellen, lehren, andeuten, offenbaren.« – »Dazu das
subst. Vertonung, f., schaustellung, darstellung, erscheinung«.
DOI 10.1515/9783110521788-002
22 Irmgard Scheitler
5 Johann Caspar Weissenbach: Auffnemmende Helvetia. Zug 1705, Bl. J5v: »Franciscus König
in Franckreich nimbt gesambten Eydgnoßsischen Stand zu Gevatteren. Welches durch ein still-
schweigende Scenam entworffen worden.«
6 Christian Funcke: Neu-ersonnene Mayen-Lust. Görlitz 1667, Bl. 310v: »Hierauff gehet nach voll-
endeten Posituren / oder Stellungen der Personen / an die erste Handlung«.
7 Poetische Schäffer-Lust. Zeitz 1668, »Kurtzer Entwurff«: »Darbey denn bey allmehlicher Ent-
deckung der verborgenen Liechter / die Verstellungen MelJxJanDers und Selandons / zweyer
Schäffer / mit abwechßlenden Geberden / wie auch RUBadors / eines andern Hirtens / von
dreyen musicierenden Schäfferinnen begleitet«.
8 Simon Rettenpacher: Francia Gallice delusa. Kremsmünster 1689, Prolog: »Indessen wird der
gantze Inhalt nachfolgender Histori in Posituren angedeutet«.
9 Paul Aler: Ursula Coloniensis Tragoedia. Köln 1710, Bl. A2r: »Exhibitiones passim adnotare,
consulto negleximus.«
10 Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Nachdruck der Ausg. Nürnberg
1644–1649. Hg. von Irmgard Böttcher. Tübingen 1968 f., Bd. III, S. 205 (225).
11 Vgl. Heinz Kindermann: Theatergeschichte Europas. II. Bd.: Das Theater der Renaissance.
2. verm. u. verb. Aufl. Salzburg 1959, S. 217–219.
12 Jan Vos: Beschrijving der Vertooningen op de Staatcywagens, die voor Mevrouw Hare Koning
lyke Hoogheit De Princes Van Oranje, […] door order van de […] Heeren Burgermeesteren der
Stadt Amsterdam, op de Markt vertoont zijn. Amsterdam 1660.
13 Kindermann (Anm. 11), S. 221, 241 f.
14 Dort heißt es zu Beginn des Spiels im Spiel III,2: »Hautboys play. The dumb-show enters.«
Die Verthönung – Illustration auf dem Theater 23
hunderts; sie verdanken sich vielleicht erst der näheren Bekanntschaft mit dem
niederländischen Theater durch Wanderbühnen oder dem Aufenthalt deutscher
Schriftsteller im Nachbarland. Dort waren Lebende Bilder zur Illustration sehr
beliebt. Autoren des 17. Jahrhunderts, z. B. Jan Vos (1615–1657), setzten sie nicht
nur in ihre Stücke, sondern ergänzten sie sogar in vorliegenden Dramen.15
Sieht man von Extremfällen wie Harsdörffers »Gesprächspiel von der Welt
Eitelkeit«16 ab, einem Schauspiel, bei dem emblematische Gemälde, Verthönun-
gen, Pantomimen mit Vokal- und Instrumentalmusik von Sigmund Theophil
Staden den gesamten Spieltext ausmachen, so finden sich im Drama Verthönun-
gen als ein optisches Medium, das zu gesprochenem und gesungenem Wort und
zu Instrumentalmusik hinzutreten kann, als eine Spielart und Komponente der
visuellen Präsentation. In seiner schon von den Zeitgenossen zitierten Erläu-
terung schreibt Harsdörffer zum Zusammenwirken der Künste im Drama im
VI. Band der Gesprächspiele:
Also muß auch der Poet den Schauplatz / wo er sein Gedicht vorstellig machen / und dar-
durch / ob der Hörer / und Zuschauer Neigungen / Sinne und Gedanken siegen wil / nach
allen Fügnissen bequemen / und vorbereiten. Zu diesem Ende sol der Poet verstehen / die
Baukunst / die Perspectiv / oder Sehkunst / die Mahlerey / die Music / den Dantz / und im
Ende aller Personen Geberden ziemlich nachzuahmen.17
Die folgenden Ausführungen fragen nach der Funktion Lebender Bilder im Schau-
spiel, nach dem Ort ihres Einsatzes und nach Möglichkeiten, sie durch andere
optische Medien zu ersetzen. Das Tableau ist gleichsam eine lebende Skulptur
und wird als ein Element der bildenden Kunst in das Theater herübergenommen.
Medienwechsel und auch Medienkombination kennzeichnen seinen Einsatz auf
der Bühne. Mit vielem Recht betont Harsdörffer, gutes Theaters sei multimediales
Theater: »Mahl- Reim- und Musickunst / solche drey Stüke nun […] können einen
prächtigen Aufzug bringen.«18
15 Heinz Kindermann: Theatergeschichte Europas. III. Bd.: Das Theater der Barockzeit. 2. verb.
u. erg. Aufl. Salzburg 1959, S. 252; 264. Als Beispiel sei genannt Jan Vos: Medea. Treurspel. Ams-
terdam 1657, S. 65: »Hier ziet men, na’t oopenen van een gordijn, in een rouwkamer, daar zich het
lijkedt van Kreüza, onder boggen vol toortsen, deur zwart floers, vertoont.«
16 Harsdörffer (Anm. 10), Bd. III, 170–242 (190–262). Abbildung einer Verthönung im Bühnen-
hintergrund z. B. S. (212) neben S. 193.
17 Harsdörffer (Anm. 10), Bd. VI, S. 42 (162). Zitiert bei Johann Rist: Die AllerEdelste Belustigung
Kunst- und Tugendliebender Gemühter / […] und zwahr Eine Aprilens-Unterredung. Hamburg:
Naumann 1666. In: Johann Rist: Sämtliche Werke. Hg. von Eberhard Mannack, Bd. V, Berlin, New
York 1974, S. 309.
18 Harsdörffer (Anm. 10), Bd. III, S. (191) 171.
24 Irmgard Scheitler
1 D
ie Verthönung zu Beginn des Stückes –
ein Ersatz für das Argumentum
Den Inhalt eines Dramas zu Beginn von einem Argumentumsprecher erzählen
zu lassen, schien im 17. Jahrhundert veraltet. Keines der Stücke von Opitz hat
mehr diesen umständlichen Handlungsbericht, der zunächst für das Drama als
Ganzes und schließlich noch für die einzelnen Akte vorgetragen wurde. Gleich-
wohl schien es unerlässlich, den Zuschauern die Personen und den Inhalt vor-
zustellen. Nun war es üblich, dass die Schauspieler nach Gruppen geordnet zu
Beginn in einer Parade auf die Bühne zogen oder sich jedenfalls dort zeigten. Es
bot sich also an, diese Präsenz zu nützen und nicht nur die Figuren des Spiels,
sondern auch dessen Szenen zu präsentieren. Eine anschauliche Beschreibung
liefert Sigmund von Birken im Rahmen seines Friedensspieles von 1650:
ließen sich alsobald […] Vertönungsweis sehen etliche Personen / die stunden mit unver-
wandten Augen und Leibern / als wären es Bilder; und diese Vorbildungen wurden durch
Auff- und Zuziehung des Vorhangs mit unterschiedenen Posituren oder Stellungen vor
jedem Aufzug ein mal oder vier abgewechselt.19
Die Verthönungen haben ihren Platz nach dem Prolog, der seit alters gesprochen
wurde, während die Schauspieler auf der Bühne versammelt waren. In Birkens
Margenis ist der Götterbote Merkur der Prologsprecher. Er übernimmt zugleich
die Vorstellung:
Allhier öffnet sich hinter ihm [Merkur] der ganze Schauplatz / auf welchem alle Haubt-Per-
sonen des Schauspiels / ohne Verwendung der Leiber und Gesichter Zu beiden Seiten neben
einander / die Grössern fornen / die Kleinern hinter / als in einem Perspectiv oder See-
kunst-Stück / sich sehen lassen. Mercurius tritt darzwischen hinein / und wann er von einer
Person redet / so weist er mit dem Stab auf dieselbe. […] Nachdem er ausgeredet / bleibt er
mitten zwischen den andern auch unverwendet stehen / gleich als wäre er zu einem Bild
worden / und wird darauf der ganze Schauplatz wieder verzogen.20
Der Druck von 1679 bildet als Titelkupfer die Formation der Schauspieler mit
Merkur ab; Autor und Verleger hielten diese Eröffnungsszene offenbar für werbe
wirksam.
19 Sigmund von Birken: Teutschlands Krieges-Beschluß und FriedensKuß / beklungen und be-
sungen In den Pegnitzgefilden von dem Schäfer Floridan. Nürnberg 1650, S. 22
20 Sigmund von Birken: Margenis oder Das vergnügte, bekriegte und wieder befriedigte Teutsch-
land. Nürnberg 1679, S. 15, 17. Die Abhängigkeit von Harsdörffer (Anm. 10) Bd. V, S. (208 f.) 93 f.
und der nachfolgenden Abbildung liegt auf der Hand.
Die Verthönung – Illustration auf dem Theater 25
Im Grunde sollten die Verthönungen den verbalen Bericht über den Inhalt
und die gesprochene Vorstellung der Schauspieler ersetzen. Doch sehen wir
aus Birken, dass sich beides auch verbinden ließ. Besonders beliebt war es hin-
gegen, erklärende Worte nicht sprechen, sondern im Lied singen zu lassen. So
hat Michael Albinus 1650 in seinem Danziger Stück Die Königin im Liebenthal
»Augen-Belustigungen«, d.i. die stummen Bilder, durch Gesang erläutern lassen.
»Die Erste Handlung (Welche anzeiget daß Mittel seyn müssen / im fall man den
Dürfftigen recht helffen wolle;) wird mit mancherley Augen-Belustigungen ange-
fangen / und unter andern eine Musik auf nachgesetztes Liedlein gehöret.«21
Doch konnten Tableaux auch für sich selbst wirken. Sie konnten vor jedem
Akt eingeschaltet werden oder wie ein General-Argumentum zu Beginn das
gesamte Stück vorstellen. Im letzteren Fall kam es zu eindrucksvollen Reihun-
gen. Eine Neuruppiner Weihnachtsvorstellung von 1646 mit dem Titel Theopha-
nia begann mit 28 Verthönungen. Dazu spielten die Musen auf »allerhand Instru-
menten« in offenbar raffiniert wechselnder Besetzung Philipp Nicolais bekanntes
Lied »Wie schön leuchtet der Morgenstern«. Künstliche Beleuchtung erhöhte den
Effekt: Das Ganze vollzog sich »Bey brennenden Liechtern«, wobei vor den Perso-
nengruppen »allewege eine Decke auff- und nidergezogen worden«.22
Dieses weihnachtliche Schulspiel wird aber an Anzahl der Verthönungen
noch weit übertroffen von einer Stralsunder Festaufführung. Stadt und Schule
feierten jährlich den Jahrestag der Befreiung von Wallensteins Truppen. 1692
führten sie ein zweitägiges Schauspiel auf. In ihm machten die Schauspieler
zum allerersten Mahl unter einer Musicalischen Entrée denen geneigten Zuschauern ein
nicht unangenehmes divertissement, mit 70. vorhergehenden Praesentationen, oder
sogenanten Verthönungen: worinnen das gantze Werck und die vorkommende Zwischen-
Scenen in einer stummen Abbildung und unbeweglichen Postur mit sonderbahrer grace
vorgestellet werden.23
21 [Michael Albinus] Kurtzverfaster Nachricht Des Dantziger Schauspiels / von der Königin im
Liebenthal / etc. So auff Vergünstigung E. Hochw. Rahts vorstellen wird Andreas Gärtner. o. O.
[ca. 1650].
22 Christian Rose: S. Theophania Rhetoricè disponiret, Schrifftmässig außgeführet Und In
einem new- sehr anmutig- Fünff-fachen Actu mit gutem Nutze öffentlich vorgestellet Zu Newen
Ruppin / Im Jahr / nach Christi Geburt 1646. Berlin 1647, Bl. B1r.
23 Jakob Wolf: Feuer- und Schwerdt-Bühne / Der Durchleuchtigsten Pomeris Ältesten Tochter
Aktinoporthmus / Sonst Strahlsundische Mnemosyne genant. Stralsund 1692, S. 35.
26 Irmgard Scheitler
Roses Neuruppiner Schulspiel aus dem Jahr 1646 ist ein recht früher Beleg
für die Verwendung von Verthönungen. Fast häufiger als die Tableau-Reihe, die
das ganze Schauspiel zeigt, ist die stumme Präsentation der Szenen vor jedem
einzelnen Akt. Hier scheint mir das früheste Beispiel ebenfalls aus dem Jahr 1646
zu stammen.
Am 11. September 1646 haben die Freyberger Springer [in Dresden] auf dem obern Schloß-
saal den Bären tanzen lassen, hernach auf dem theatro getanzt, worauf eine Comödie mit
Personen, vom verlorenen Sohn, agiret worden, wo vor jedem actus der inhalt mit stummen
Personen repräsentiret […] worden.24
Der Einsatz von Scenae mutae schien dem Chronisten immerhin wert, eigens ver-
merkt zu werden. In der Folge gibt es zahlreiche Beispiele für die Erwähnung von
Verthönungen zur Information über die Inhalte der einzelnen Akte. Hier ein paar
ausgewählte Fälle:
Die protestantischen Bürger von St. Gallen entwickelten in der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts einen Ehrgeiz, den aufwendigen Dramenaufführungen des
Benediktinerklosters ihrer Stadt etwas entgegenzusetzen. So kam es zu einer
Serie von Gryphius-Aufführungen, z. B. wurde 1680 Papinianus gespielt. »In dem
die Vorhäng unter dem Trommlen und Trompeten Schall fielen / stunde einer
von den Kayserlichen Hofleuten da und machte / nach gebührender Ehrerbietung
und Titlen / also den Eingang«. »Hierauff sind die Vertönungen oder Stellungen
der ersten Abhandlungen / gleich wie allezeit von den folgenden / bey einer
Music von Violen und anderen Instrumenten gezeiget worden.«25 Trompeten und
Trommeln kündigen wie üblich den Beginn des Dramas an. Hingegen waren die
Verthönungen, die das Argumentum ersetzen, von einem sanften Gambencon-
sort und anderen, den jeweils vorherrschenden Affekt ausdrückenden Instru-
menten begleitet.
Deutlicher wurde der Inhalt natürlich durch erläuternde Lieder. So sieht
eine Wormser Schulaufführung von 1667 unter der Überschrift »Absingungen der
Verthönungs-Scenen« Strophen zur Erklärung vor, die alle in der ersten Zeile mit
einem ostentativen »Hier« beginnen.26
24 Moritz Fürstenau: Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe der Kurfürsten von
Sachsen. 2 Tle. Dresden 1861 f., Hildesheim 1971, Bd. I, S. 107.
25 Vgl. Willi Flemming: Andreas Gryphius und die Bühne. Halle 1921, S. 252.
26 Johann Hartmann Misler: Actus Theatralis Latino-Teutonici […] in Theatro Gymnasii Worma-
tensis […] solemniter instituendi […] perofficiose invitans. Darmstadt 1675, Anhang: »Absingun-
gen der Verthönungs-Scenen«.
Die Verthönung – Illustration auf dem Theater 27
zwahr fein anzusehen / aber doch gleichwol von vielen Liebhabern dieser Kunst mehr-
mahlen wird getadelt / denn / wann diese Fürstellung / (die man gemeiniglich Vertoninge
nennet) sind geendiget / so weiß schon ein jedweder Zuschauer / wie viele / und was
für Spieler / auch wie sie gekleidet sind / in gegenwärtigen Komoedien oder Tragoedien
erscheinen werden / welches die Lust / die man sonst aus Anschauung solcher Spiele zu
schöpffen vermeinet / sehr vermindert / denn / je öffter neue Personen aufftreten / die man
hiebevor noch nicht gesehen / je vielfältiger wird die Ergetzlichkeit bey den Zuschauern /
und je hefftiger mehret sich das Verlangen bald andere Spiele und Auffzüge für sich zu
sehen und anzuhöhren.28
Damit benennt Rist ein Problem, das vor ihm, soweit ich sehe, keiner als solches
erkannt hatte und das auch nachher noch lange kein Diskussionsgegenstand war.
Spannung spielte im Drama der Frühen Neuzeit so gut wie keine Rolle. Allerdings
sind Rists Gegenvorschläge nicht stringent: Er meint nämlich, man könne »den
Jnhalt oder die Meinung solcher SchauSpiele auff eine weit bessere Ahrt präsen-
tieren«, nämlich durch die »erstlich von den Italiänern« erfundenen Kulissen.
Nun können freilich Kulissen weder viel über den Inhalt einer Szene aussagen,
noch waren sie im Veröffentlichungsjahr der Unterredung 1666 gar so neu.29
Johann Georg Sulzer schreibt in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen
Künste unter dem Stichwort »Haltung des Körpers« emphatisch:
Aber dieser Theil der Kunst liegt ganz außer der Kunst; nicht der Künstler, sondern der
Mensch von empfindsamer Seele, der jede Aeusserung des unsichtbaren Wesens, das den
Körper belebt, vermag zu bemerken und an sich selbst zu empfinden, sieht den Charakter
und den besonderen, aus der Empfindung entstehenden, inneren Zustand des Menschen in
der Haltung des Leibes.30
Für das 17. Jahrhundert verhält es sich jedoch ganz anders. Nicht durch Empa-
thie, sondern aufgrund der hohen Formalisierung und der damit verbundenen
Semantisierung des Bildnerischen konnten die Zuschauer Verthönungen als
Inhaltsangaben »lesen«. Die Schauspieler trugen Symbolkostüme, an denen ihre
Rolle sofort zu erkennen war. Viele entsprechende Äußerungen in Dramentex-
ten bestätigen dies; noch deutlicher machen es Figurinen, wie sie etwa von der
Amsterdamer Schouwburg überliefert sind.31 Körpersprache und Gebärde waren
durch Konvention in ihrer Bedeutung festgelegt. Ebenso wie gemalte Bildnisse
oder Skulpturen durch Handgesten, Kleidung, Blick »sprechen« konnten, so auch
Lebende Bilder.32 Erklärende Worte waren nicht nötig; vielmehr stellt der Ersatz
des Argumentums durch Verthönungen einen Medienwechsel dar. Tritt, was
häufig der Fall ist, Musik hinzu, so überbrückt sie die Zeit und unterstreicht den
Affekt mit dem Ziel einer Vertiefung des Eindrucks durch Medienkombination.
30 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Leipzig 1771–1774, Bd. 1, S. 506.
31 Het Eeuwgetyde von den Amsteldamschen Schouwburg. Zinnespel. Amsterdam 1738, Bd. I:
Kostümbilder vornehmlich allegorischer und mythologischer Figuren.
32 Die Kunst der Gestik ist in den letzten Jahren in den Blick der Forschung geraten, desgleichen
die v. a. bei Franz Lang: Dissertatio de actione scenica. München 1717 dargestellte theatrale Kör-
persprache. Die Literatur zum Thema ist inzwischen umfangreich. Zuletzt z. B. Lars Olof Larsson:
»… Nur die Stimme fehlt!« Portrait und Rhetorik in der Frühen Neuzeit. Kiel 2012.
33 Jacob Masen: Palaestra Eloquentiae Ligatae Dramatica. Pars III. & ultima, quae complectitur
Poesin Comicam, Tragicam, Comico-Tragicam. Praeceptis & historiis rarioribus cum Exemplis
Die Verthönung – Illustration auf dem Theater 29
singulorum Poematum illustrata. Nova editio. Priori longe correctior. Köln 1683, p. III, S. 21. lib. I,
caput 4 § 1 Nr. 4. Dagegen gibt es im Josaphatus und im Mauritius Chorlieder.
34 Ebd. Tragico-Comoedia Parabolica Androphilus, S. 383–437; Tragico-Comoedia Parabolica
Telesbius, S. 438 (verdruckt 348)-596. Zur niederländischen Praxis vgl. Jan Tonnis: Josephs droef
en bly-eynd’-spel. Groeningen 1639.
35 Franz Callenbach: Quasi vero, Der Hinckende Bott Hat sich Wohl. o. O. 1714, S. 84.
36 Irmgard Scheitler: Einige bedeutende deutschsprachige Musiktheater-Dokumente im Stift
Lambach. In: Klaus Landa, Christoph Stöttinger, Jakob Wührer (Hgg.): Stift Lambach in der Frü-
hen Neuzeit. Frömmigkeit, Wissenschaft, Kunst und Verwaltung am Fluss. Tagungsband zum
Symposion im November 2009. Linz 2012, S. 511–532, hier S. 511–520.
30 Irmgard Scheitler
37 Vorstellung der Heylwertigen Geburt Jesu Christi Welche durch Vier unterschiedliche Hand-
lungen auff Offentlichen Schau=Platz nach Anleitung des Alten und Neuen Testaments / wie
auch der KirchenHistorien geschehen ist in Görlitz Bey Vollendung des Weynacht-Festes Anno
1668. BU Wrocław: Cod. Mil. II/129 Bl. 49–64 und Bl. 64–65 Verzeichnis der 39 Verthönungen.
38 Ferdinand Rosner: Passio Nova. Das Oberammergauer Passionsspiel von 1750. Historisch-
kritische Ausgabe. Hg. und mit einem Nachw. vers. von Stephan Schaller. (Geistliche Texte des
17. und 18. Jahrhunderts; 1) Bern 1974.
Die Verthönung – Illustration auf dem Theater 31
3 D
ie Verthönung als Verbildlichung des
Verborgenen
Das präfigurative, allegorische oder emblematische Tableau bringt Assoziationen
ins Bild, materialisiert Parallelwissen; bei einer kontinuierlichen Verthönungs-
reihe in den Intermedien ergibt sich sogar eine Parallelhandlung. Überraschender
als in der geschlossenen Einheit des Zwischenakts wirken kurze Einblendungen
Lebender Bilder während der Hauptspiels: Der Vorhang hebt sich und gibt den
Blick in den hintersten Bühnenabschnitt frei. Dort zeigt die Scena muta, was der
dramatischen Wahrscheinlichkeit zufolge auf der Szene selbst gerade nicht sicht-
bar sein kann: räumlich oder ontologisch Entrücktes, Gedachtes, Gewusstes, Er-
innertes. Musik unterstreicht den realitätsfernen Charakter dieser Präsentation.
Das so eingesetzte Tableau kann an die Stelle der Mauerschau-Replik treten,
also das gesprochene Wort durch das Bild ersetzen, wie etwa in Johann Sebas-
tian Mitternachts Schuldrama Politica dramatica 1667. Dort leistet gegen Ende das
Kabinett den Treueid auf den König. Auf der Bühne spielt sich Anderes ab, der
Nebentext aber gibt an: »Hier können hinter dem Vorhange unter der Music die
4. Rähte und Cantzler kniend mit aufgerekkten Fingern vor dem Könige reprae
sentiret werden.«39
Noch unwirklicher ist die Darstellung von Visionen. Das frühneuzeitliche
Drama kompensiert die Ungerechtigkeit auf Erden durch visionären Vorgriff auf
die Vergeltung im Jenseits. Quälende Reue, Angst, Todesphantasien peinigen
den Bösen und zerrütten sein scheinbar kraftstrotzendes und unangefochtenes
Leben. Andreas Gryphius’ späte Ergänzung zu Carolus Stuardus setzt in Akt V
Poleh solchen inneren Bildern aus. »Weh mir! was schau ich dort? weh mir! die
Rach erscheinet!« Der Zuschauer sieht den Grund für Polehs Seelenqual mit
Augen, denn der Nebentext lautet: »Unter disen Worten öffnet sich der innere
Schau-Platz / und stellet die Virtheilung des Hugo Peters und Hewleds vor.«
Dieses Bild bleibt stehen, während Polehs Rede genau das thematisiert, was die
Verthönung zeigt; dann schließt sich der Vorhang wieder.40 Das Verfahren wie-
derholt sich noch mehrfach. Johann Christian Hallmann hat die Einblendung von
Tableaux bei gesprochenen Texten, aber auch in den Reyen, extensiv angewandt.
39 Johann Sebastian Mitternacht: Politica dramatica. Gera 1667, V,3. Johann Sebastian Mitter-
nacht: Dramen 1662/1667. Hg. von Marianne Kaiser. (Deutsche Neudrucke Reihe Barock; 22) Tü-
bingen 1972, S. 312.
40 Andreas Gryphius: Ermordete Majestät Oder Carolus Stuardus König von Groß Britanien.
Trauer-Spil. In: Freuden und Trauer-Spiele auch Oden und Sonnette. Breslau, Leipzig 1663.
Andreas Gryphius: Dramen. Hg. von Eberhard Mannack. Frankfurt a. M. 1991, S. 536.
32 Irmgard Scheitler
4 Optische Variationen
Verthönungen visualisieren eine Tiefenschicht der Handlung; hierzu gehören
auch Träume, etwa der Traum des biblischen Königs Nebukadnezar aus dem Buch
Daniel. Er steht am Beginn von Elias Heidenreichs Der siegende Hof–Mann Daniel:
Der König liegt / nach eröffnetem Theatro, unter noch anhaltender Sonata, anfänglich auf
seinem Bette und hat den Traum von dem Bilde / so die 4. Monarchien bedeutet / welches
im Prospect durch eine Praesentation für Augen gestellet wird.43
41 Johann Christian Hallmann: Die Sterbende Unschuld / Oder Die Durchlauchtigste Catharina
Königin in Engelland / Musicalisches Trauer-Spiel / In Hoch-Teutscher gebundener Rede erfun-
den und abgefasset. Breslau 1684. Johann Christian Hallmann: Sämtliche Werke. Hg. von Ger-
hard Spellerberg. Berlin 1975–1987, Bd. II, S. 232 f.
42 Johann Christian Hallmann: Die Sinnreiche Liebe Oder Der Glückseelige Adonis und Die Ver-
gnügte Rosibella, Zu Aller-unterthänigster Bedienung des Aller-Durchläuchtigsten Kaiserlichen
Beylagers von Johann Christian Hallmann JCto. erfundenes und In Hoch-Teutscher Poesie ge-
setztes Pastorell. Breslau, Steinau a.d.O. 1673. Sämtliche Werke (Anm. 41), Bd. III/1, S. 360–365.
Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. München 31993, der von der
irrigen Voraussetzung ausgeht, erst Hallmann habe Scenae mutae in Deutschland eingeführt
(S. 187), vertritt die Meinung, dass es sich um gemalte Bilder gehandelt habe; etwas anderes
könne man sich bei solch schnellem Wechsel nicht vorstellen (S. 188). Was den schnellen Wech-
sel von Verthönungen angeht, so mussten die Schauspieler in Wolfs Aktinoporthmus noch mehr
leisten (siehe oben Anm. 23). Für eine andere Spezies hält Schöne, meines Erachtens grundlos,
die zwölf Verthönungen zu Adonis und Rosibella I,7, bei denen die Darstellung »mit lebendigen
Personen« ausdrücklich vermerkt ist (Sämtliche Werke S. 133). Hier handle es sich um »Exempel«
oder »Historien«, die »in den dramatischen Texten häufig angelegt [seien], ohne daß sie verwirk-
licht wurden oder verwirklicht werden mußten.« (S. 189). Allerdings sind die Zwischenaktver
thönungen bei Masen und den Ordensspielen genau solche Exempel, präfigurative »Historien«.
43 Elias Heidenreich: Der siegende Hof-Mann Daniel. In einem Trauer-Freuden-Spiel vorgestel-
let / Als […] Herr Johann Adolff / Herzog zu Sachsen […] Dero […] Gemahlin […] Fr. Johanna Mag-
dalena […] Den Ersten des Wintermonats darauf in die Residentz-Stadt Halla […] heimgeführet.
Halle a.d.S. 1671, I,1.
Die Verthönung – Illustration auf dem Theater 33
Ess eröffnet die Clausur und zeiget sich der leichnamb des St. Joannis auf einem erhöhten
Castro Doloris. Östreich, die Kirche, Böhmen und die Stadt Praag in trauer auffzug machen
verschiedene traurige Figuren und bitten mit stillen lazzo den Heyland umb beystand. der
ihnen von einen in der wolcken Machine erscheinenden himlischen Genio zu gröstem trost
versprochen wird unter stiller Music.53
Die Figuren sprechen nicht. Ihre stummen Gebärden nennt der Verfasser »lazzo«,
improvisiertes Spiel, weil jeder Schauspieler ohne Anleitung in der Lage war,
durch Körpersprache Affekte und Intentionen auszudrücken.
Johann Rist, dessen Vorbehalte gegen die Argumentumsverthönung oben
angeführt wurden, war kein Gegner von Bildern aus der Verthönungkammer und
Julio agirt, Jetzundt aber […] verteutschet durch Johannem Christophorum Stipitium. Straßburg
1615, Akt II.
51 Die Siegende Weißheit. Darmstadt 1686, S. 28.
52 Kaspar Stieler: Willmut / Lustspiel / Des Spaten. o. O. 1680, S. 97.
53 Fritz Homeyer: Stranitzkys Drama vom »Heiligen Nepomuck«. Mit einem Neudruck des Tex-
tes. Berlin 1907, New York 1970 (Palaestra; 62), Finis, S. 199. (Die Autorschaft Stranitzkys ist sehr
unsicher.)
Die Verthönung – Illustration auf dem Theater 35
Der Schauplatz eröffnet sich zuem anderen mahl / da sitzen eben diese vier Kavallier
und sauffen einander rechtschaffen auff die Haut / ein paar sitzet auff den Knien trinket
Gesundheit / der dritte stehet auff dem Tische und säufft in floribus, der vierte singet immit-
telst daß Runda dinella und andere Saufflieder / haben einen Kerl mit der Leier oder sonst
einen Bierfiedeler bey sich / sind sehr lustig und machen allerhand Possen / der Schauplatz
schliesset sich.54
Das Publikum wird von solchen raschen Einblendungen ebenso verblüfft und
begeistert gewesen sein wie Sausewind.
Sieht man von den Argumentum-Verthönungen ab, so kann grundsätzlich ein
Gemälde das Tableau ersetzen. Was jeweils einfacher und sinnvoller war, hängt
von den Umständen ab. Bei Einsatz von gemalten Bildern lässt sich insbesondere
ein emblematischer Charakter besser ausdrücken. 1713 führte man im katholi-
schen Zug, einer Stadt mit langer Spieltradition, das religiöse Stück Kleines in die
Stadt Zug gefallenes Liebs-Füncklein auf.55 Der Autor stattete die Darbietung auf
öffentlichem Platz mit viel Musik und mit allegorischen Scenae mutae aus. Die
Scena muta nach Akt II »Stellet vor ein Schlag-Uhr / dessen Gewicht / das Gött
liche und Menschliche Hertz / anzuzeigen / wann dise zwey Hertz correspondi-
ren / alles beym Menschen wohl eingerichtet seye.«56 Eine Darbietung als Tableau
würde bei dieser Vorgabe große Schwierigkeiten machen. Das Emblem erscheint
hier – wörtlich genommen – als pictura, ergänzt von einem lateinischen Motto
und einem deutschen Vers zur Erklärung. Gleichwohl steht außer Frage, dass die
in Zug verwendeten Embleme die gleiche Funktion haben wie etwa die präfigura-
tiven Tableaux im Ordenstheater.
Ein völlig neuartiges Medium war der Schattenriss. Man projizierte, was
man zeigen wollte. Das erste mir bekannte Beispiel entstammt einem Augsbur-
ger Jesuitenspiel von 1650, Excitatio Lazari. […] Von Aufferweckung Lazari. Dort
werden, begleitet von dem Gesang des Chores, »durch Umbras« das Begräbnis
des Lazarus und das Totenmahl »repräsentiert«, was nichts anderes meinen
kann als den Einsatz eines Projektionsapparates.57 Es fällt auf, dass man die Dar-
stellung gerade dieser beiden Szenen durch Schattenspiele ersetzte, während –
fast paradox – allegorische Szenen und Auftritte des Todes mit seinen Parzen
leibhaft und häufig im Tanz präsentiert wurden. Durch den Schattenriss rückt
das reale Geschehen, der historische Bericht von Lazarus und das Totenmahl, in
die Abstraktion, die Auslegung aber, der allegorische Auftritt des Todes und der
Parzen, wird durch den Tanz leibhaftig.
1646 widmete Athanasius Kircher optischen Phänomenen mit seinem
Werk Ars magna lucis et umbrae eine umfassende, reich illustrierte wissen-
schaftliche Darstellung, die in vermehrter Auflage 1671 erschien.58 Künstliche
Projektionen bilden darin freilich nur einen kleinen Teil der Abbildungen und
Beschreibungen,59 waren aber wohl von großer Wirkung.
Der Projektionsapparat, die Laterna magica, wurde erst in den 50er Jahren
des 17. Jahrhunderts in größerem Umfang genützt. Die ersten Projektionsappa-
rate besaßen der niederländische Physiker Christiaan Huygens, der möglicher-
weise als Erfinder gelten darf, und der dänische Schausteller und Mathematiker
Thomas Rasmussen Walgenstein.60 Besonders letzterer zeigte seinen Apparat
auf Jahrmärkten und bei Messen in verschiedenen Ländern.61 Wahrscheinlich
57 Excitatio Lazari. Augsburg 1650, II,2: »Lazarus wirdt begraben / wirdt alles durch Umbras re-
praesentiert. Cum Choro«. II,3: »Todtenmahl wirdt auch auff vorige weiß für die Augen gestellet.
Cum Choro«.
58 Athanasius Kircher: Ars Magna Lucis Et Umbrae. In decem Libros digesta; Quibus Admiran-
dae Lucis Et Umbrae in mundo, atque adeò universa natura, vires effectusque uti nova, ita varia
novorum reconditiorumque speciminum exhibitione, ad varios mortalium usus, panduntur.
Rom 1646. Athanasius Kircher: Ars magna lucis et umbrae. Amsterdam 1671.
59 Vgl. Liber II, Pars I, Propositio V–VI; Liber X, Magia lucis pars III, Caput III, sowie Liber X,
Crypologia nova pars I: De projectione figurarum in quamlibet distantiam per solem Caput I–
VIII. Die Abbildung der Laterna magica selbst, die technisch fehlerhaft ist, findet sich nicht in
der 1., sondern erst in der 2. Auflage von 1671. Vgl. www.didaktik.mathematik.uni-wuerzburg.de/
history/ausstell/kircher/laterna/erfinder.html (Stand: 07. 12. 2016). Die technischen Ungereimt-
heiten gehen wohl auf Konto des Zeichners, da Kirchers Abbildungen in der 1. Auflage alle den
optischen Gesetzen entsprechen.
60 Ulrike Hick: Geschichte der optischen Medien. München 1999, S. 122.
61 Walgenstein machte die Laterna magica auf seinen Reisen durch Europa bekannt. Hick
(Anm. 60), S. 120. 1677 präsentierte Abraham Weber aus Dresden zur Leipziger Ostermesse
»durch eine Magische Latern den Italienischen Schatten«. Bärbel Rudin in Verbindung mit Horst
Flechsig und Lars Rebehn (Hgg.): Lebenselixier. Theater, Budenzauber, Freilichtspektakel im
Alten Reich. 1. Bd. Das Rechnungswesen über öffentliche Vergnügungen in Hamburg und Leipzig
(mit einem Anhang zu Braunschweig). Quellen und Kommentare. Reichenbach i. V. 2004, S. 199.
Die Verthönung – Illustration auf dem Theater 37
setzte der Leipziger Christoph Kormart bei seinem wohl von einer Leipziger Stu-
dententruppe gespielten Polyeuctus oder Christlicher Märtyrer 1669 die Laterna
magica ein.62 Es heißt im Nebentext:
Der Paulinen Traum durch den Schatten des Polyeucti, welcher die Posituren in Zerstörung
des Heiligthums nach iedem Verse vorbildet. Das Theatrum ist ein dunckles Zimmer der
Paulinen mit auffziehung der Gardiene in welchem sie auff einem Stuel sitzend schläffet
und mit des Polyeucti Schatten träumend spielet / worbey unter trauriger Music folgen-
des abgesungen / und bey iedes Verses letzten Worten diese zur Seiten stehende Worte im
Schatten gezeiget werden.63
Die Vorstellung fand auf der Hinterbühne statt, der Mittelvorhang, die »Gar-
diene«, wurde aufgezogen. Pauline sieht im Traum die Stationen der Zerstörung
des Jupitertempels durch Polyeuct. Entweder Polyeucts Körper selbst warf den
Schatten oder er war, was wahrscheinlicher ist, für die Laterna gezeichnet. Ein
besonderer Effekt kommt daneben noch durch das Zusammenspiel von Gesang
und Projektion von Schrift zustande: In jeder der sechs vierzeiligen Alexandri-
nerstrophen wird ein entscheidendes Wort der letzten Zeile durch die Projektion
konterkariert. Paulines Text, der von Angst und Sorge geprägt ist, wird so zum
Positiven hin korrigiert. Die erste Strophe lautet:
62 Christoph Kormart: Polyeuctus oder Christlicher Märtyrer Meist aus dem Französischen des
H. Corneille ins Deutsche gebracht. Leipzig, Halle a.d.S. 1669. Vgl. Irmgard Scheitler: Die Leipzi-
ger Studentenbühne im 17. Jahrhundert und ihre Schauspielmusik. In: Katrin Stöck, Gilbert Stöck
(Hgg.): Musik – Stadt. Traditionen und Perspektiven urbaner Musikkulturen. Bericht des XIV. In-
ternationalen Kongresses der Gesellschaft für Musikforschung Leipzig 2008, Teilband IV: Freie
Beiträge. Leipzig 2012, S. 205–227, hier S. 214 f. Hellmuth Christian Wolff: Laterna Magica-Projek-
tionen auf dem Barocktheater. In: Maske und Kothurn 15 (1969), S. 97–104, hier S. 101 f. bespricht
ein polnisches Stück mit Schattenbildern und begleitender Musik von 1663 und erwähnt S. 103
die Verwendung von Ombre-Szenen in der französischen Comédie Italienne des ausgehenden 17.
und in der Hamburger Oper des angehenden 18. Jahrhunderts. Vielleicht ist auch eine Laterna
magica gemeint, wenn 1683 eine »hochdeutsche Compagnie« in Danzig um Spielerlaubnis bittet
und verspricht, »italienischen Schatten benebens solchen schönen Figuren« zu präsentieren.
Johannes Bolte: Das Danziger Theater im 16. und 17. Jahrhundert. Hamburg, Leipzig 1895 (Thea-
tergeschichtliche Forschungen; 12), S. 129.
63 Kormart (Anm. 62), S. 101 f.
64 Ebd. S. 102. Hervorhebung im Original.
38 Irmgard Scheitler
Mit Hilfe von zwei Lichtquellen konnte die Laterna magica auch zwei Schat-
tenwürfe zeigen und komplexe Bilder projizieren – dies war ein Vorteil gegen-
über der Verthönung. Der Effekt besteht – wie auch beim Lebenden Bild – in der
verwirrenden, »magischen« Irrealität des so realistisch Gezeigten. Das durch das
Medium hindurchgehende Bild befindet sich auf einer anderen Realitätsstufe.65
Es ist gleichzeitig fern und nah, wahr und unecht. Genau darin, in der Entrü-
ckung, dem Vermeiden von Verismus, bestand, der ästhetischen Auffassung des
17. Jahrhunderts zufolge, die Kunst. Auch Oper und Maschinentheater, die auf
die äußerste Verblüffung des Zuschauers zählten, verzichteten nicht auf Verthö-
nungen oder Laterna-Magica-Projektionen.66 »Wenn man«, so schreibt der Ham-
burger Musiktheoretiker Johann Mattheson, »wirkliche Häuser oder dergleichen
Dinge auf einem Schauplatze bauen […] wollte, das wäre keine Nachahmung,
sondern ein elendes Original«. Interessant ist die Darstellung dann, wenn sie
dem Verstand die Technik zu bewundern, den Augen aber auch etwas »zu er-
rathen oder zu entdecken« gibt.67 Das genau leistete die optische Demonstration
der Verthönung – ebenso wie ihre Begleiter oder Nachfolger, das emblematische
Gemälde oder die Projektion. Sie können die Sprache, das eindeutige und nahe-
liegende Medium ergänzen oder sogar ersetzen. Sie präsentieren sich selbst als
künstlich und unterstreichen diese Abstraktion noch durch ihre häufig anzutref-
fende Verbindung mit Musik. Das optisch präsente, aber zugleich unrealistische
Bild ist infolge seiner Künstlichkeit geeignet, andere ontologische Zustände ein-
zufangen: Überweltliches, Träume, Visionen, Embleme; es kann das Entfernte
einblenden oder auch im Vorgriff die Schauspielhandlung präsentieren. Somit
ist die Verthönung, wie schon ihr Name sagt, ein Inbegriff theatraler Zurschau-
stellung.
65 Vgl. Christian Zeidlers Passionsspiel: Die Verlohrne doch Neu-gebohrne Unschuld […] In
einer Geistlichen Comödie vorgestellet und Auf Begehren zum Druck befördert durch M. Johann
Caspar Zopfen / des Hochgräfl. Gymnasii zu Gera Conrectorem. Gera 1676, II,6 S. 26 »I. Die Krö-
nung des Herrn Christi. II. Die Creutzigung aber wie auch Christus am Oelberge betend / in glei-
chen seine Geisselung wird im Schatten praesentiret.«
66 Vgl. Hellmuth Christian Wolff: Die Barockoper in Hamburg (1678–1738). 2 Bde. Wolfenbüttel
1957, Bd. I, S. 37 und Abb. 27 und 28 sowie ders.: Laterna Magica (Anm. 62), Abb. 3 und 4.
67 [Johann Mattheson]: Die neueste Untersuchung der Singspiele, nebst beygefügter musikali-
schen Geschmacksprobe, liefert hiemit Aristoxenus, der jüngere. Hamburg 1744. Reprint Leipzig
1975, S. 74 f.
Matthias Bauer, Angelika Zirker
Shakespeare und die Bilder der Vorstellung:
»The soul’s imaginary sight« im 27. Sonett
In der Frühen Neuzeit wäre das Phänomen, um das es in diesem Beitrag geht,
nicht »Intermedialität« genannt worden. Es handelt sich auch noch nicht einmal
direkt um das, was unter dem Begriff der Geschwisterkünste, Sister Arts, der
Renaissance geläufig war.1 Dennoch kann es, ohne den Medienbegriff bis zur
Bedeutungslosigkeit auszuweiten, als eine Interaktion und Konvergenz verschie-
dener Medien gefasst werden. Es geht um Bilder der Vorstellung im doppelten
Sinn: gedankliche Bilder, die unter Bezugnahme auf die Bühne von Texten
erzeugt bzw. in diesen reflektiert werden.2 Ein Gedicht, in dem dies geschieht,
ist Shakespeares Sonnet 27:
1 Dabei steht, unter Rückgriff auf die Formel des Horaz, ut pictura poesis, die Analogie zwi-
schen den Künsten (und insbesondere zwischen Malerei und Dichtung) im Vordergrund. Siehe
Jean Hagstrum: The Sister Arts. Chicago 1958, repr. 1987; Phillip John Usher: Epic Arts in Renais-
sance France. Oxford 2013, S. 22; sowie Gabriele Rippl: English Literature and Its Other: Toward
a Poetics of Intermediality. In: Christian J. Emden, Gabriele Rippl (Hgg.): ImageScapes: Studies
in Intermediality. Oxford, Bern, Berlin u. a. 2010, S. 39–65, hier S. 50.
2 Medialität spielt also eine Rolle, weil verschiedene Orte der Vermittlung (die Bühne und die
Seele) involviert sind, wo das Wahrgenommene mit äußeren und inneren Sinnen erfasst wird.
Das OED definiert »medium« unter Bedeutung 4.a. folgendermaßen: »An intermediate agency,
instrument, or channel, a means; esp. a means or channel of communication or expression«. Die
ersten Belege für diese Bedeutung sind 1585 R. Bostocke Difference Aunc. & Latter Phisicke sig.
Bvii, »It is agreeable with our Anima (the Medium aforesayd). 1605 Bacon Of Aduancem. Lear-
ning ii. sig. Pp3, But yet is not of necessitie, that Cogitations bee expressed by the Medium of
Wordes.« Es wird also einerseits die Seele, andererseits die Sprache als Medium aufgefasst. In
Bostockes Traktat, das die Verteidigung der Paracelsischen Medizin gegenüber der Galenischen
zum Thema hat, geht es um die Vermittlung zwischen Körperlichem und Geistigem. So heißt es
an einer etwas früheren Stelle (Biiiv): »Unquietnesse beginneth in things, where Meum & tuum is
become to knowen in them: whereof cometh griefe, which is a sense of feeling that can not abide
deuision or corruption. Whereby it appeareth how desirous Anima (which is medium inter cor-
pus & spiritum) is of unitie in his body, which bendeth it selfe and striueth against that passion
or griefe of his body, by the which it greeueth him, that his unitie and integritie should be weake-
ned.« Von hier aus ist es nur ein Schritt, das Gedankenbild als Vermittlung zwischen Körperlich-
Stofflichem und Geistigem zu fassen. In Shakespeares 27. Sonett ist die anima (»mind«) ebenfalls
voller »Unquietnesse« (vgl. Z. 13–14) in der Vermittlung zwischen »Meum & tuum« begriffen. Die
vermittelnde Stellung der Imagination (etwa bei Boethius und Ficino) wird in der Geschichte der
Anmerkung: Die Arbeit an diesem Beitrag wurde mit einer Reisebeihilfe der Fritz Thyssen Stiftung
für Angelika Zirker unterstützt.
DOI 10.1515/9783110521788-003
40 Matthias Bauer, Angelika Zirker
Der Sprecher sucht nach den Mühen des Tages4 die Ruhe der Nacht und die Erho-
lung des Schlafes, doch diese werden ihm nicht gewährt: Die Gedanken finden
keine Ruhe und machen sich auf die Reise zum Adressaten, dem mehrfach ange-
sprochenen Du. Die Augen bleiben offen und schauen in die Dunkelheit. Dort
sehen sie aber nichts anderes als das, was die Blinden auch sehen: die »imagi-
nary sight« der Seele. Dieser Ausdruck ist in beiden Teilen mehrdeutig: »imagi-
nary« kann ›bloß eingebildet‹ bedeuten (»having no real existence« OED 1.a.),
oder aber ›durch die Einbildungskraft hervorgebracht‹ bzw. ›durch Einbildungs-
kraft gekennzeichnet‹ (»imaginative«, OED 2., hier wird das 27. Sonett zitiert);
»sight« ist das, was gesehen wird, der Anblick, oder aber die die Sehkraft bzw.
der Sehsinn selbst. In der Kombination ergeben sich also vier Bedeutungsmög-
lichkeiten. Die Bedeutung ›Sehkraft‹ wird dadurch nahegelegt, dass »sight« per-
sonifiziert erscheint. »Sight« macht etwas; es präsentiert Schatten, genauer: den
Schatten des Adressaten. Und kurioser Weise findet dabei eine paradoxe Verdop-
pelung statt: der Anblick präsentiert den Schatten dem blinden (OED 1.a.) oder
unsichtbaren (OED 2.) Blick oder Anblick (»to my sightless view«), wobei »view«
eine ähnlich mehrfache Bedeutung wie »sight« hat; es kann ebenso das Bild,
das Gesehene (z. B. einen Landschaftsprospekt, OED 8.b., oder OED 7.: »Visual
Imaginationskonzepte immer wieder betont; siehe Georg Braungart: Topik und Phantasie. In:
Thomas Schirren, Gert Ueding (Hgg.): Topik und Rhetorik: Ein interdisziplinäres Symposium.
Tübingen 2000, S. 307–319.
3 Zitiert wird nach der Ausgabe der Sonette von G. Blakemore Evans. William Shakespeare: The
Sonnets. Hg. von G. Blakemore Evans; Einl. Anthony Hecht. Cambridge 1996.
4 Die Formulierung »Weary with toil« greift Sir Philip Sidneys 38. Sonett in Astrophil and Stella
auf: »Tired with the dusty toils of busy day« (Z. 7). Sidneys Sonettzyklus wird zitiert nach der
Ausgabe von William A. Ringler: The Poems of Sir Philip Sidney. Oxford 1962.
Shakespeare und die Bilder der Vorstellung 41
appearance or aspect«) wie die Sicht (OED 6.) oder den Blick (OED 5.) und die
Sehfähigkeit (OED 4.) bezeichnen (vgl. point of view als Blickwinkel oder Pers-
pektive). Verfolgen wir die Rolle von »sight« als Personifikation, so ergibt sich
eine Kohärenz: die imaginative Sehkraft der Seele kann dem ins Dunkle gerich-
teten Blick des Betrachters den Schatten des Menschen präsentieren, dem der
Sprecher von dieser Erfahrung erzählt. Mit anderen Worten: die Einbildungskraft
wird als Präsentator gezeigt, dem es gelingt, auf dunkler Bühne den Schatten des
geliebten Menschen so vorzustellen, dass er wie ein Juwel in der Nacht scheint.
Personifikationen konnten auf Shakespeares Bühne als presenter auftreten, z. B.
die Gestalt des Rumor in 2 Henry IV, die den Prolog spricht. In Anspielung auf
solche Praxis werden also die Bilder der Vorstellung in unserem Sonett als Bilder
einer Vorstellung gefasst.5 Dies gilt auch, wenn wir »my soul’s imaginary sight /
Presents« nicht als Präsentator sehen, sondern als Darsteller, so wie es etwa
in A Midsummer Night’s Dream heißt »This man, […] / Presenteth Moonshine«
(5.1.134–135).6 In diesem Fall spielt das Gedankenbild von Sonnet 27 die Rolle des
Adressaten bzw. seines Schattens. In jedem Fall erscheint der geliebte Mensch im
Medium des Gedankenbildes,7 und dieses Medium bestimmt sich mittels eines
anderen Mediums, des Theaters.
5 In seiner Studie zum Sommernachtstraum beschreibt Lengeler den umgekehrten Vorgang, der
das intermediale Verhältnis von Bühne und Seele gleichermaßen deutlich macht: »Die Bühne ist
sichtbar gewordene Phantasie, ja im Hinblick auf das ganze Werk müssen wir sogar sagen, sicht-
bar gewordene Seele«; Rainer Lengeler: Das Theater der leidenschaftlichen Phantasie. Shake-
speares Sommernachtstraum als Spiegel seiner Dichtungstheorie. Neumünster 1975, hier S. 22.
6 Zitate aus den Dramen Shakespeares folgen der Gesamtausgabe The Norton Shakespeare. Hg.
von Stephen Greenblatt, Walter Cohen, Jean E. Howard, Katharine Eisaman Maus. New York
2008.
7 Während die Verbindung zwischen Gedankenbild und Bühne für das 27. Sonett charakteris-
tisch ist, findet sich das Motiv des Sehens im Dunkeln bzw. Sehens ohne Augen mehrfach in
den Sonetten. So schreibt Baldwin: »Here [in SON 27] Shakspere develops the figure of ›sightless
view‹. And this figure explains what he means by that of ›sightless eyes‹ in Sonnet XLIII. So
Sonnet XLIII is a continuation of the idea in Sonnet XXVII«; Thomas Whitfield Baldwin: On the
Literary Genetics of Shakspere’s Poems and Sonnets. Urbana 1950, hier S. 246. Es gibt allerdings
einen wichtigen Unterschied: Obwohl im 43. Sonett die geschlossenen Augen besser sehen als
die geöffneten, geht es darum, dass das unvollkommene Traumbild, »thy fair imperfect shade«,
vom Original, dem Anblick bei Tage, übertroffen wird. Im 27. Sonett wird letzteres ausdrücklich
nicht erwähnt, sondern der Nacht-Blick viel stärker überhöht: »a jewel hung in ghastly night«.
Demgegenüber werden im 28. Sonett, das eine Fortsetzung des 27. bildet, Tag und Nacht als
gleichermaßen qualvoll bezeichnet. Den weiteren Hintergrund bildet das Motiv der sich verselb-
ständigenden Gedanken des einsamen Sprechers bei Nacht, wie es sich in Shakespeares Umkreis
u. a. in Sidneys Astrophil and Stella findet. Zu nennen ist dort z. B. wieder das 38. Sonett: »This
night while sleepe begins with heavy wings / To hatch mine eyes, […] The first that straight my
42 Matthias Bauer, Angelika Zirker
Dieser Intermedialität, die ebenso grundlegend für die Konzeption des Thea
ters als Ort der Anschauung oder theoria ist8 wie für die Konzeption der geisti-
gen, inneren Vorstellung, soll weiter nachgegangen werden. Die zu reflektierende
Frage besteht darin, wie sich das Verhältnis näher bestimmen lässt, d. h. auch,
welche Implikationen es sowohl im Hinblick auf eine Poetik des Theaters besitzt
als auch im Hinblick auf das, was im Sonett Seele (»soul«) genannt wird, also
auf den Ort, wo der Wahrnehmungsprozess stattfindet.9 Die Verbindung deutet
darauf hin, dass das flüchtige Gedankenbild nur als Theater konkret und greifbar
wird, während umgekehrt das Theater nur als Gedankenbild seine ideelle Subs-
tanz und Wirkung entfalten kann.
Wir konzentrieren uns auf einige Texte oder Textpassagen Shakespeares,
weil sich dort Formulierungen finden, die für dieses Verhältnis ausgesprochen
aufschlussreich sind, und weil die Verbindung von Vorstellungsbild und Theater
ihrerseits ein Wesensmerkmal seiner (immanenten) Poetik und Anthropologie
(im Sinne eines Konzepts der Natur des Menschen und seiner physischen und
seelischen Eigenschaften) bildet. Letztere erkennt in der Funktionsweise der Ima-
gination eine Affinität zum Theater, das gerade deshalb die Imagination anspre-
chen und herausfordern kann, weil sie nach Art der Bühne beschaffen ist.10 Dies
fancie’s error brings / Unto my mind, is Stella’s image […]« (Z. 1–2, 4–5); auch wenn es bei Sidney
heißt »seing better sights in sight’s decay« (Z. 12), so ist das Phantasiebild hier doch (anders als
im 27. Sonett Shakespeares) von der Art, dass es die Qual des unerfüllt Liebenden erhöht. Reli-
giös gewendet findet sich das Motiv in George Herberts »Love Unknown«. G. Blakemore Evans
(Anm. 4) verweist ferner auf das 98. Sonett aus Astrophil and Stella: »While the blacke horrors of
the silent night, / Paint woe’s blacke face so lively in my sight / That tedious leisure marks each
wrinckled line«. Auch hier findet sich eine paradoxe Umkehr des Sehens bei Tage und bei Nacht:
Wenn die Sonne aufgeht, schließen sich die Augen »Mine eyes then only winke«; hier wird aber
nicht (wie in Shakespeares Sonetten) das wahre Sehen dem unvollkommenen gegenübergestellt,
sondern der Jammer des Sehens in der Nacht wird abgelöst vom Jammer am Tag: Jeder Wurm hat
eine Sonne, doch der Sprecher nicht. The Poems of Sir Philip Sidney. Hg. von Wiliam A. Ringler.
Oxford 1962, S. 488 verweist in seinen Anmerkungen zu Sidneys 98. Sonett auf den petrarkisti-
schen Hintergrund der »Addresses to the bed«.
8 Zur Etymologie siehe Isidor von Sevilla: Etymologiarum sive originum libri XX. Hg. von
W. M. Lindsay. Oxford 1990, Bd. 1, 15.2.34 und 18.42.1.
9 Obwohl Schoenfeldt sich in seiner Studie zu Bodies and Selves mit dem Thema der Innerlich-
keit in Shakespeares Sonetten beschäftigt, lässt er Sonett 27 unerwähnt; vermutlich liegt dies
an seinem Fokus auf dem Zusammenhang zwischen Innerlichkeit und der »Theory of Humours«
in der frühen Neuzeit. Vgl. Michael C. Schoenfeldt: Bodies and Selves in Early Modern England:
Physiology and Inwardness in Spenser, Shakespeare, Herbert, and Milton. Cambridge 1999.
10 Dies ergibt sich nicht zuletzt auch durch die Verbindung zum Gedächtnis (siehe dazu unten
Anm. 35), das bekanntlich von Giulio Camillo, aber auch z. B. von Robert Fludd, John Willis u. a.
als Theater gedacht bzw. veranschaulicht wurde. S. dazu Frances Yates: The Art of Memory. Lon-
Shakespeare und die Bilder der Vorstellung 43
kann im 27. Sonett erkannt werden. Mehrere Kommentatoren des Sonetts bemer-
ken eine intertextuelle Referenz in Zeile elf bis zwölf, welche die Verbindung
zum Theater verstärkt11: »Which like a jewel hung in ghastly night, / Makes black
Night beauteous, and her old face new«.12 So sagt Romeo über Juliet: »It seems
she hangs upon the cheek of night / As a rich jewel in an Ethiope’s ear« (1.5.42–
43). Diese Worte geben Romeos allerersten Eindruck wieder, als er Juliet beim
Maskenball der Capulets erblickt. Sein Vergleich speist sich aus dem Kontrast von
Licht und Dunkel;13 er ist der Zuschauer im Dunkel des abendlichen Festes, das
gewissermaßen ein Schauspiel im Schauspiel bildet. Wenn Romeo im gleichen
Atemzug sagt »I ne’er saw true beauty till this night«, so erscheint die Nacht
don 1966; ferner z. B. Lina Bolzoni: Gallery of Memory: Literary and Iconographic Models in the
Age of the Printing Press. Toronto 2001; Claudia Olk, Anne-Julia Zwierlein: Innenwelt, Gedächt-
nistheater, Seelenlandschaft: Zur Einführung. In: Diess. (Hg.): Innenwelten vom Mittelalter zur
Moderne: Interiorität in Literatur, Bild und Psychologiegeschichte. Trier 2002, S. 9–20, hier S. 12.
Lina Perkins Wilder: Shakespeare’s Memory Theatre: Recollection, Properties, and Character.
Cambridge 2010 hebt hervor (S. 56 f.): »For the purposes of the memory arts, theatre is defined
by its ability to make the internal external. Describing Camillo’s theatre to Erasmus, Vigilius
Zuichemus writes that Camillo ›called it a theatre because it can be seen with the body‹ – that is,
Camillo’s memory theatre is a ›theatre‹ not so much because it resembles the structures in which
plays were performed as because it literalizes the Greek root of the word ›theatre‹, which means
›seeing.‹ Through the use of physical objects, real or imagined, this memory theatre places the
mind on display. […] theatres […] do what loci do: they make the mind visible.«
11 G. Blakemore Evans (Anm. 4) verweist in der Cambridge Ausgabe der Sonette auf die fol-
gende Stelle in Romeo and Juliet (S. 132); s. auch Blakemore Evans 140n11; William Shakespeare:
The Complete Sonnets and Poems. Hg. Colin Burrow. Oxford 2002, S. 434n; Shakespeare’s Son-
nets: The Problems Solved. A Modern Edition with Prose Versions. Hg. von A. L. Rowse. London
1973, S. 57; The Sonnets. Hg. mit Einl. von C. C. Stopes. London 1904, S. 172n11; Gerald Massey:
Shakspeare’s [sic] Sonnets Never Before Interpreted: His Private Friends Identified: Together
with a Recovered Likeness of Himself. London 1866, S. 180n1; Maria Wickert: Das Schattenmotiv
bei Shakespeare. In: Anglia 71 (1953), S. 274–309, hier S. 283n1. Booth verweist in seiner Ausgabe
zudem auf Titus Andronicus: »Martius. Upon his bloody finger he doth wear / A precious ring
that lightens all this hole, / Which like a taper in some monument / Doth shine upon the dead
man’s earthy cheeks« (2.3.226–30); William Shakespeare: Shakespeare’s Sonnets. Hg. von Ste-
phen Booth. New Haven, London 2000, S. 179n11–12; s. auch Shakespeare’s Sonnets. Hg. von Ka-
therine Duncan Jones. London 2003, S. 164n11. Unserer Auffassung nach ist jedoch die Stelle aus
Romeo and Juliet die treffendere, weil es auch hier (wie im Sonett) um den Anblick der Schönheit
geht.
12 S. die Variante in der Quarto-Ausgabe der Sonette (Q): »Which like a jewel (hung in ghastly
night)«; vgl. G. Blakemore Evans’ Kommentar zu Zeile 11: »Q makes a more direct association of
›jewel‹ (compare 131.4) with ›shadow‹ (line 10)«. (Anm. 4, hier S. 132).
13 Zur Lichtmetaphorik sowie dem Gegensatz von Licht und Dunkel in Romeo and Juliet siehe
Inge Leimberg: Shakespeares Romeo und Julia. München 1968, insb. S. 152 f.
44 Matthias Bauer, Angelika Zirker
geradezu als Bedingung der Schau der Schönheit.14 Wie im Sonett bildet das
Nicht-Sehen den Rahmen für das Sehen. Das Dunkel ermöglicht die Wahrneh-
mung des Entscheidenden und Wahren.15 Gleichzeitig wird aber auch klar, dass
es nicht (nur) darum geht, eine schöne Frau zu erblicken. In dem Anblick von
Juliet sieht Romeo die Schönheit selbst, das Urbild, das im Abbild aufscheint.
Als Hintergrund taucht also die Platonische Vorstellung des Sehens mit den
Augen des Geistes auf, das etwa in Diotimas Rede im Symposium auf »das göttlich
Schöne selbst in seiner immer sich gleich bleibenden Form« bezogen wird.16
Auch hier schafft der Kontext latent mehrfache Deutungsmöglichkeiten: Der
Begegnung mit Juliet gehen, nur unterbrochen durch eine kurze Dienerszene,
Mercutios weitschweifige Ausführungen über die Träume und die Phantasie
voran. Nach Romeos Ansicht redet er über gar nichts (»Thou talk’st of nothing«
1.4.96), und Mercutio pflichtet ihm bei: »True, I talk of dreams, / Which are the
children of an idle brain, / Begot of nothing but vain fantasy« (1.4.96–98). Ist also
die Vorstellung von Juliet, die erste Begegnung, der Anblick der Idee der Schön-
14 In seinem Traktat The Arte of Limning beschreibt Nicholas Hilliard ein ähnliches Phänomen,
wenn er die Sichtbarkeit des Diamanten in der Dunkelheit betont: »being clear, more clearer
than air, yet being set on his black tent, or on any black pitch molten fast underneath him, he
changeth not his bright clear whiteness«; Treatise Concerning the Arte of Limning. Hg. von R. K.
R. Thornton und T. G. S. Cain. Manchester 1992, S. 93. Für den Hinweis auf Hilliard zur Frage, ob
Edelsteine in der Dunkelheit ihre Farbe verlieren, danken wir Karin Leonhard.
15 Auch hier finden sich Verbindungen zur religiösen Tradition, in diesem Fall zur Mystik des
Sehens im Dunkeln, wie es bei Dionysius Areopagita (Über die mystische Theologie, Kap. 1–2) im
Kontext der via negativa formuliert ist und wie es in der englischen Metaphysical Poetry, etwa
bei Richard Crashaw und Henry Vaughan, eine große Rolle spielt. Siehe dazu Inge Leimberg:
Heilig öffentlich Geheimnis: Die geistliche Dichtung der englischen Frühaufklärung. Münster
1996; bes. S. 71 f., 324–327, 405–415; Pseudo-Dionysius Areopagita: Über die mystische Theologie
und Briefe. Übers. und hg. von Adolf Martin Ritter. Stuttgart 1994, S. 74–77. Auch die Verbindung
des Sehens im Nichtsehen mit dem Motiv der Suche und menschlichen Pilgerschaft, wie sie sich
bei Vaughan charakteristisch findet, ist in Shakespeares 27. Sonett vorgeprägt, wo sich der Spre-
cher als Pilger charakterisiert (»zealous pilgrimage«, Z. 6). Die erhellende Funktion des Dunkels
findet sich auch in Edmund Spensers 66. Amoretti-Sonett: »for now your light doth more it selfe
dilate, / and in my darknesse greater doth appeare« (Edmund Spenser: Amoretti and Epithala-
mion: A Critical Edition. Hg. von Kenneth J. Larson. Tempe, AZ 1997, Z. 11–12; vgl. Margaret Healy:
Shakespeare, Alchemy and the Creative Imagination: The Sonnets and a Lover’s Complaint.
Cambridge 2001, S. 99).
16 211e–212a; zitiert nach der Übersetzung von Otto Apelt: Platon: Sämtliche Dialoge, Bd. 3.
Hamburg 1988. Während Diotima (und mir ihr Sokrates) hervorhebt, dass es darauf ankommt,
»im Anschauen des Schönen mit seinem geistigen Auge nicht bloß Schattenbilder der Tugend
zu erzeugen«, ist bei Shakespeare wichtig, dass die sinnliche Wahrnehmung die Quelle für das
innere Bild bleibt. Zu dieser Fragestellung bei Plato siehe Dorothea Frede: Plato on What the
Body’s Eye Tells the Mind’s Eye. In: Proceedings of the Aristotelian Society 99 (1999), S. 191–209.
Shakespeare und die Bilder der Vorstellung 45
heit, ebenfalls eine eitle Phantasie? Wie kann Romeo Juliet überhaupt richtig
erkennen in der Dunkelheit? Nimmt man das 27. Sonett und Romeo and Juliet
zusammen, so wird zwar durch Ausdrücke wie »imaginary« im Sonett und »vain
fantasy« in der Tragödie jeweils ein solcher Kontext evoziert, doch sollten wir
festhalten, dass es im Sonett das Bild des existierenden geliebten Menschen ist,
das dem Sprecher, der wach liegt, vor Augen tritt. Und in Romeo and Juliet ist ent-
scheidend, dass Romeo nur ehe er Juliet gesehen hat von dem Nichts (»nothing«)
der puren Vorstellung spricht. Es bedarf der konkreten Anschauung, der Begeg-
nung mit dem lebenden Menschen, um jene Gedankenoperation auszulösen, die
ihn sagen lässt: »I ne’er saw true beauty till this night.« Die Zeile, die dieser Fest-
stellung vorangeht, lautet: »Did my heart love till now? Forswear it, sight.« Wie
im Sonett wird »sight« personifiziert: Sight – hier wohl primär der Sehsinn – soll
der Tatsache abschwören, dass Romeo jemals vor diesem Augenblick, vor diesem
Anblick, geliebt hat. (Mitten im Drama wird demnach ein weiteres, allegorisches
und innerseelisches Drama evoziert.)
Wo stehen wir hinsichtlich unserer Fragestellung? In beiden Texten geht es
um visuelle Wahrnehmung; das Medium des Gedankenbildes, von dem im Sonett
die Rede ist, wird wirksam durch seine Rückbindung an das real Erblickte (also
die Erinnerung);17 seine Funktion wird gefasst als Schau-Bild des Ideellen, das
von ›Sight‹ präsentiert wird. Im Drama findet ein Wahrnehmungsprozess statt;
vor dem Hintergrund einer Erörterung eitler Phantasiebilder kommt es zu einer
Wahrnehmung, bei der Ideelles im konkreten Anblick erlebt wird, wobei eben-
falls eine innere Bühne im Spiel ist, auf der sich dieser Prozess vollzieht. Was wir
feststellen: Gedanken- oder Seelen-Bild und Theater sind aufeinander bezogen,
aber insbesondere die genaue Funktion der Bühne in diesem intermedialen
Bezug ist noch näher zu erhellen.18
17 Cocking weist darauf hin, dass der Wahrnehmungsbegriff bei Plato sowohl das innerlich
wie das äußerlich Geschaute umfasst: »Plato’s aesthesis, which is the word often translated as
›perception‹, can include awareness of dreams as well as of waking reality. The verb phainestai
can refer to what appears to the mind in what modern usage calls perception or in imagination.
Phantasia, the noun corresponding to the verb, is used where Plato is discussing the nature of
perception in terms of ›judgments‹ made by the mind about sensation«; J. M. Cocking: Imagina-
tion: A Study in the History of Ideas. London 1991, S. 13.
18 Lea vergleicht die Theaterbühne mit der inneren Bühne und nennt letztere »less actual yet
more real, it comprises scenes, events, and figures that we are encouraged to see not with the
bodily, but with the mind’s eye; its traffic is with the significant shadows that gather round
Shakespeare’s characters inviting manipulations upon which subtle effects may depend. It is
upon the inward eye, the eye of the imagination, that they register.« Leider wird hier das ge-
naue Verhältnis von Gedankenbild und Bühne nicht klar; insbesondere wird nicht deutlich, wo
oder was die »significant shadows« sind und worin die »manipulations« bestehen; Kathleen M.
46 Matthias Bauer, Angelika Zirker
[…] the prince of philosophers sticks not to say animam non intellegere absque phantasmate;
[…]. And this fantasy may be resembled to a glass, as hath been said, whereof there be many
tempers and manner of makings, […]. Euen so is the fantastical part of man (if it be not
disordered) a representer of the best, most comely, and beautiful images or appearances of
things to the soul and according to their very truth. If otherwise, then doth it breed chimeras
and monsters in man’s imaginations, and not only in his imaginations, but also in all his
ordinary actions and life which ensues.19
Die Notwendigkeit innerer Bilder, auf die schon Aristoteles (in De anima 3.7.431a15)
als Bedingung des intellektuellen Verstehens hinweist, führt zu einer Unterschei-
dung zwischen wahren Bildern und bloßen Chimären.20 Sir Philip Sidney trifft,
unter Rückgriff auf Platons Sophistes, eine ähnliche Unterscheidung zwischen
dem, was »eikastike« ist und dem, was nur als »phantastike« bezeichnet werden
kann, wobei erstere Bilder keineswegs bloß imitativ sind, d. h. sklavisch an die
Wirklichkeit gebunden, sondern sich (charakteristisch für Sidney) durch ihre
moralische Qualität von den Chimären unterscheiden: sie sind Bilder der Wirk-
lichkeit als moralisch vorbildliche Wahrheit.21 Im Puttenham-Zitat scheint dabei
Lea: Shakespeare’s Inner Stage. In: John Carey (Hg.): English Renaissance Studies: Presented to
Dame Helen Gardner in Honour of Her Seventieth Birthday. Oxford 1980, S. 132–140, hier S. 132.
19 George Puttenham: The Art of English Poesy. A Critical Edition. Hg. von Frank Whigham und
Wayne A. Rebhorn. Ithaca, London 2007, hier Buch I, Kap. 8 (S. 109 f.).
20 Vgl. hierzu auch die Ausführungen Murrays zur Imagination in der Renaissance; Penelope
Murray: Editor’s Introduction. In: J. M. Cocking (Anm. 17), S. vii–xvi, hier S. viii–ix. S. auch Co-
ckings Kapitel 3 (S. 49–68). Die Fähigkeit der Imagination, physisch nicht Präsentes oder Exis-
tentes darzustellen, führt zur Gefahr bloßer Chimären. Auch die Tatsache, dass die Imagination
nicht abgestellt werden kann, führt zu ihrer traditionell häufig negativen Bewertung. Vgl. Babb:
»[The imagination] has the power of conceiving circumstances and situations other than those
existing at the moment and of forming synthetic images from disparate elements as it pleases
(hence, centaurs, griffons, and chimeras)«; Lawrence Babb: The Elizabethan Malady: A Study of
Melancholia in English Literature from 1580–1642. East Lansing 1951, hier S. 3; »[i]t is a faculty
which never rests; even when the other sensory and intellectual powers are in repose, a stream of
images flows aimlessly through the imagination, and when one is asleep, this stream continues
in his dreams. It is called the eye of the mind.« Ebd.
21 Sir Philip Sidney: An Apology for Poetry. Hg. Geoffrey Shepherd und R. W. Maslen. Man
chester 2002, hier S. 104: »I will not deny that man’s wit may make Poesy, which should be
eikastike, which some learned have defined, ›figuring forth good things‹, to be phantastike,
Shakespeare und die Bilder der Vorstellung 47
wieder eine Verbindung von Vorstellung und Vorstellung auf: Die Presenter-
Rolle spielt hier die Phantasie selbst (»the fantastical part of man«); die Seele (in
welcher der Vorgang stattfindet) ist zugleich der Zuschauer, dem die Bilder vorge-
stellt werden.22 Die ganze innere Aufführung dient der Erkenntnis der Wahrheit
(»according to their very truth«).
Das Problem, dem wir hier begegnen, ist also das Verhältnis von Vorstel-
lungsbild und Wahrheit (d. h. auch von Vorstellungsbild und dem Guten und, in
unseren Shakespeare-Beispielen, dem ideal Schönen). Die Theorie, wie wir sie in
Puttenham und Sidney, und hinter ihnen in Aristoteles und Platon sehen, bleibt
begrifflich affirmativ: es gibt solche richtigen und falschen Vorstellungsbilder,
und es ist wichtig, dass man die richtigen pflegt (generiert, usw.).
Leitlinien für die Praxis einer solchen Unterscheidung finden sich in explizit
christlichen Kontexten: Wo die Vorstellungskraft nicht gänzlich dem nur Sinn
lichen zugeordnet und damit insgesamt negativ bewertet wird,23 geht es darum,
sie von ihm zu reinigen, d. h. es kommt darauf an, dass letztlich rein Geistiges
vorgestellt wird.24 So unterscheidet Origenes, vor neuplatonischem Hintergrund
which doth contrariwise infect the fancy with unworthy objects«. In seiner Einleitung zur Apo-
logy schreibt Shepherd, dass Sidney der Auffassung folgte: »[the] making [of the poem] is the
active recognition of newly discovered patters, but existing or at least existable patters, not a
making out of nothing. It is eikastike, making likenesses, not phantastike, fantastic imaginings
[…], not the delivery from the brain of much matter which never was begotten by knowledge.
[…] Sidney rejects the notion of a poem as a bright and patterned self-supporting construction
where the brightness and pattern are painted on with words, and turns towards the Augustinian
ideal which would regard a poem as the setting out of a direct communication of a certain vision
of truth« (S. 60). Zu Theorien der Imagination in der englischen Renaissance s. auch William
Rossky: Imagination in the English Renaissance: Psychology and Poetic. In: Studies in the Re-
naissance 5 (1958), S. 49–73 sowie E. Ruth Harvey: The Inward Wits: Psychological Theory in the
Middle Ages and the Renaissance. London 1975.
22 Eine ähnliche Vorstellung findet sich in Ciceros Tusculanae disputationes, wenn vorgestellt
wird, wie die Seele nach ihrer Trennung vom Körper durch den Tod »verschiedene, wie großar-
tige Schauspiele […] im Himmel genießen wird«; Tusculanae disputationes / Gespräche in Tus-
culum. Übers. und hrsg. Ernst Alfred Kirfel. Stuttgart 2008, hier 1.21.47; »quam multa, quam
varia, quanta spectuacula animus in locis caelestibus esset habiturus«. Baldwin betont, dass die
Gespräche in Tusculum fester Bestandteil des Curriculums der grammar schools waren; s. Bald-
win (Anm. 7), hier S. 249.
23 Vgl. Günter Butzer: Soliloquium: Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäi
schen Literatur. München 2008, hier S. 94.
24 In Buch 7, Kap. 8 der Confessiones spricht Augustinus davon, dass sein innerer Blick verwirrt
und verdunkelt sei (»aciesque conturbata et contenebrata mentis meae«); allerdings hofft auch
er auf eine Reinigung dieser inneren Schau durch die göttliche Salbe (»acri collyrio salubrium
dolorum de die in diem sanabatur«); Augustinus: Confessiones / Bekenntnisse: Lateinisch und
Deutsch. Hg. und übers. von Joseph Bernhart. Darmstadt 1984, 7.8.12, S. 328.
48 Matthias Bauer, Angelika Zirker
25 Butzer (Anm. 23), hier S. 95, verweist auf Origenes: De principiis I.1.9, übers. nach Karl Rah-
ner: Die ›geistlichen Sinne‹ nach Origenes. In: K. R: Schriften zur Theologie. Bd. 12. Zürich, Ein-
siedeln, Köln 1975, S. 111–136, hier S. 113.
26 Die ideale Schau findet sich bei Spee, wo allerdings das Theater selbst Teil der Imagina-
tion ist: »Nun aber sprich ich, dass auß dieser selbigen lehr von den innerlichen bildnußen,
geistliche leut gelegenheit nehmen können, dass sie zunzeiten […] so wol ihnen selbsten als
Gott dem Herren, etwan allerhand schöne lüstige Spectacul oder auffzüg in ihrem innerlichen
Sinn und Seelen mögen anstellen. Dan weil unsere Fantasey eine solche krafft hat, dass sie auß
denen bildnußen, die sie allbereit ihr gantzes leben durch eingenommen hat, widerumb durch
deren vilfältige vermischung und zusammenfügung, auch zertrennung, veränderung, vermeh-
rung etc newe andere seltzame, manigfältige, uberauß wunderliche und herrliche vorbildun-
gen machen kann: und weil dan diese newe vorbildungen sich auch also bald abbilden etc. so
ist leicht zu ermessen, wie wunderbarliche schöne sachen man Gott zu ehren erdencken, und
in die Seel abreissen könne«; Friedrich Spee: Güldenes Tugend-Buch. Hg. von Theo G. M. van
Oorschot. München 1968, S. 462. Vgl. Wodiankas Hinweis, dass Spee dabei »ausdrücklich die
Einbildungskraft in ihrer schöpferischen, d. h. nicht nur reproduzierenden Dimension« betont;
Stephanie Wodianka: Betrachtungen des Todes: Formen und Funktionen der »mediatio mortis«
in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2004, hier S. 37. Das Bild bzw. Kon-
zept findet sich schon bei Tertullian in De Spectaculis, wenn er abschließend auf das Jüngste
Gericht als bestes Drama zu sprechen kommt (»Quale autem spectaculum in proximo est ad-
ventus domini indubitati, iam superbi, iam triumphantis! […] At enim supersunt alia specta-
cula, ille ultimus et perpetuus iudicii dies, […]« (30.296). Auch dieses Drama findet in der Ima-
gination statt: »Ut alia spectes, ut talibus exultes, quis tibi preator aut consul aut quaestor aut
sacerdos de sua liberalitate praestabit? Et tamen haec iam quodammodo habemus per fidem
spiritu imaginante repraesentata« (30.298). Tertullian [Tertullianus, Quintus Septimius Flo-
rens]. De Spectaculis. Apology and De Spectaculis. Übers. von T. R. Glover. Cambridge, MA 1931,
S. 230 f.
27 Wickert (Anm. 11), hier S. 274. In den Sonetten spielt das Verhältnis von »substance« und
»shadow« vor allem im 37. und 53. Sonett eine Rolle. S. dazu auch John Hollander: The Substance
of Shadow: A Darkening Trope in Poetic History. Chicago 2016.
Shakespeare und die Bilder der Vorstellung 49
auf der Bühne der Seele in der Nacht kommen als erstes die (ungefähr zeitgleich
mit Romeo und Juliet und vermutlich auch den meisten Sonetten) entstandenen
Epilog-Worte des Midsummer Night’s Dream in den Sinn:
Trotz der konventionellen Demutsgeste und Apologetik des Epilogs fällt auf, dass
dem Publikum eine entscheidende Rolle bei der Konstituierung des Bühnenge-
schehens beigemessen wird. Ob die Zuschauer nun im Halbdunkel des Theaters
nur geträumt haben oder nicht: was sie sahen, waren »visions«, Erscheinungen,
und die Schauspieler waren Schatten. In vergleichbarer Weise kann im 27. Sonett,
wie bemerkt, das Sehvermögen (sight) selbst als der Schauspieler aufgefasst
werden, der »thy shadow« (re-)präsentiert, also selbst die Rolle des Geliebten
spielt. In beiden Fällen wird somit das Bühnengeschehen als das vom Betrach-
ter Vorgestellte definiert. Im 27. Sonett ist der Schatten auf der Bühne der Seele
zugleich das Juwel in der Nacht, die als »ghastly« bezeichnet wird und damit die
Düsternis des Todes evoziert.29 So kann der Schauspieler als Abbild – oder das
vor dem geistigen Auge gesehene schattenhafte Bild – zur Vision des Urbilds
werden oder überhaupt des Lebens unter dem Vorzeichen des Todes.30 Die Pilger-
reise des Sprechers im 27. Sonett ist auch eine Katabasis zum Schatten des Gelieb-
ten. Dabei wird der Tod nicht zuletzt durch den Ausdruck »quiet« evoziert – man
denke nur an Hamlets »When he himself might his quietus make«31 oder an den
»quietus« der Natur im 126. Sonett, der darin besteht, den »lovely boy« der Macht
der Zeit auszuliefern.32 Die Negation der Todesruhe im 27. Sonett (»For thee, and
for myself, no quiet find«) zeigt jedoch, dass diese Gedanken- und Lebensreise
eine paradoxe Umkehrung bedeutet: Die Vorstellung der Imagination ist eine
Reise in eine Schattenwelt, aber gerade diese führt zum »no quiet«, zur Erneue-
rung des Lebens (»Makes […] her old face new«).
Diese Implikation des Sommernachtstraum-Epilogs und des 27. Sonetts – Ima-
gination verbindet sich mit der Vorstellung des Lebens im Tod – wird deutlicher
in der Diskussion über die Imagination, die im Stück selbst von Theseus und
Hippolyta geführt wird. Theseus vertritt die skeptische Position gegenüber der
Imagination, wonach sie vor allem Täuschungen und Chimären produziert; also
das Nichts, als das sie auch Romeo zuerst erscheint. In quasi metatheatralischer
Reflexion bezeichnet er das, was im Wald geschehen ist, als reine Ausgeburt der
Phantasie, wie sie den Liebenden, den Wahnsinnigen und den Dichtern eignet.
Der Dichter gibt zwar »to airy nothing / A local habitation and a name« (5.1.16–
17), doch lässt Theseus keinen Zweifel daran, dass er das als bloße »tricks« (Z. 18)
der Einbildungskraft versteht. Hippolyta pflichtet ihm nicht bei, sondern macht
deutlich, dass Theseus keineswegs einen von Shakespeare autorisierten Konsens
30 S. dazu Matthias Bauer, Angelika Zirker: Sites of Death as Sites of Interaction in Donne and
Shakespeare. In: Judith H. Anderson, Jennifer Vaught (Hgg.): Shakespeare and Donne: Generic
Hybrids and the Cultural Imaginary. New York 2013, S. 17–37.
31 Hamlet (Anm. 6) 3.1.77.
32 Die letzte Zeile lautet: »And her [i.e. Nature’s] quietus is to render thee«. Hier handelt es sich
um die acquittance der Natur, die ihre Schuld bei der Zeit begleicht. Booth merkt an, dass der
Anfang des 27. Sonetts eine Übersetzung von Ovids »cum lassa quiete« in den Metamorphosen
15.188 ist (Anm. 11, S. 178n1; vgl. Duncan-Jones, Anm. 11, hier S. 164n1): »You see how the spent
nights speed on to dawn, and how the sun’s bright rays succeed the darkness of the night. Nor
have the heavens the same appearance when all things, wearied with toil, lie at rest at mid-
night and when bright Lucifer comes out on his snowy steed«; Ovid: Metamorphosen. Hg. und
übers. von Frank Justus Miller. Cambridge, MA und London 1916, hier 15.186–190. Miller scheint
hier in seiner Wortwahl von Shakespeare inspiriert. Arthur Golding, der für die Shakespearezeit
maßgebliche Übersetzer, wählt »when all things weery lye« (Booth, Anm. 11, hier Appendix 2,
552.208). Die Verbindung zum 27. Sonett ist nicht ganz präzise, da bei Shakespeare nur lassus
(müde, erschöpft) eine Rolle spielt. Ovids Adverb »quiete« bezieht sich, in »cum lassa quiete /
cuncta iacent media« auf »iacent«; das Ich des Gedichts liegt aber gerade nicht ruhig im Schlaf.
Der weitere Kontext der Ovid-Passage ist für das 27. Sonett im Hinblick auf die Thematik der Un-
sterblichkeit der Seele von Interesse (15.158–175).
Shakespeare und die Bilder der Vorstellung 51
über die Bilder der Vorstellung formuliert. Hippolyta, die das letzte Wort in dieser
Diskussion hat, vertritt die Gegenposition: Was Theseus sagt, mag für »fancy’s
images« gelten, doch die Wirklichkeit selbst, wie sie in der Geschichte der Nacht
aufscheint, gibt Zeugnis von einer größeren Verwandlungskraft, »and grows to
something of great constancy«.33 »The story of the night« ist also nicht flüchtig
wie die bloße Einbildung, sondern konstant wie die Schau eines Urbildes. Was
hier als »story« bezeichnet wird, ist das, was wir in den Worten des Epilogs als
»vision« vor Augen hatten. Wir haben wirklich gesehen, was für Theseus nur
Hirngespinste sind. Oder nicht?34
Wieder ist festzuhalten, wo wir im Hinblick auf unsere Fragestellung stehen.
Was hoffentlich deutlicher wird: Es geht um eine Alternative ebenso zu den
Bildern der Vorstellung als bloßer Chimäre und Irreführung wie zu ihrer Salvie-
rung um den Preis des materiell Wirklichen, wo die geistigen Bilder dann reine
Gedanken sind.35 Shakespeare reflektiert die Frage, wie animam non intellegere
33 Vgl. Lengeler: »Auf die Elfenhandlung als Illustration der dichterischen Phantasie ange-
wandt, hieße das [Theseus’ Sicht auf die Phantasie als Vermögen der Illusion], daß sie rein schi-
märischen Charakter hätte, und, mit Theseus zu sprechen, daß sie nichts als unglaubwürdiges
Feenmärchen wäre. Dagegen erhebt Hippolyta Einspruch« (Lengeler, Anm. 5, hier S. 112). Er fährt
fort: »Der Irrtum des Theseus besteht gerade darin, daß er den sinnbildlichen Charakter der
dichterischen Gestalten nicht erkennt und sie den Schimären des Wahnsinnigen und des Liebha-
bers gleichsetzt« (Ebd., S. 113). Theseus’ Irrtum beruht folglich darauf, dass er für Illusionen und
Täuschungen der Wahrnehmung hält, was eigentlich die Vision des Urbildes ist.
34 »Die Auseinandersetzung zwischen Theseus und Hippolyta über die Phantasie impliziert,
daß die ›Nachtgeschichte‹ der jungen Athener ein Altweibermärchen bleibt, wenn die allegori-
sche Verweisung, von der Hippolyta spricht, vom Leser oder Zuschauer nicht nachvollzogen wird.
Weiter baut Pucks Epilog zwar denen, die mit dem Spiel unzufrieden sind, eine Eselsbrücke,
indem er ihnen anbietet, in dem Stück nur einen Traum zu sehen. Wer allerdings diese Brücke
beschreitet, findet sich unversehens wie Bottom in einen Esel verwandelt, weil er – in Pucks Wor-
ten – geschlafen hat« (Lengeler, Anm. 5, hier S. 206 f.). Unseres Erachtens muss es sich allerdings
nicht um eine allegorische Bedeutung handeln, die durch die Vorstellungsbilder etabliert wird.
35 S. hierzu Butzer: »Plotin unterscheidet zwei Vorstellungsvermögen, die der ›inkorporier-
ten‹ bzw. der ›reinen‹ Seele entsprechen, wobei sich erstere an Wahrnehmungen, letztere an
Gedanken erinnere« (Anm. 23, S. 94). Er verweist hier auf Plotins Enneaden: »Es wird übrigens
nichts der Annahme im Wege stehen, daß der Akt der Wahrnehmung für das Gedächtnis ein Akt
der Vorstellung sei, und daß dem davon verschiedenen Vorstellungsvermögen die Erinnerung
und das Festhalten derselben zukomme; denn darin endet die sinnliche Wahrnehmung, und
wenn sie auch nicht mehr ist, so bleibt doch das vorgestellte Bild«; IV.3.29; Plotin: Enneaden.
Übers. von Otto Kiefer. Jena, Leipzig 1905, Bd. 2, hier S. 75. Plotin unterscheidet hier zwischen
der Wahrnehmung und der Erinnerung, die jeweils auf einem mentalen Bild beruhen, dabei aber
verschieden sind: sobald die Wahrnehmung endet (sie ist zeitlich begrenzt), geht sie in die Er-
innerung über, und das mentale Bild dort ist bleibend (die Dauer der Erinnerung ist individuell
verschieden). Der Unterschied zum 27. Sonett besteht dann darin, dass auch hier die Wahrneh-
52 Matthias Bauer, Angelika Zirker
mung der Ursprung des inneren Bildes ist, dass dieses Bild dann aber urbildhafte Qualität ge-
winnt. S. hierzu auch das Plotin-Kapitel von Murray Wright Bundy: The Theory of Imagination in
Classical and Medieval Thought. Urbana 1928, S. 117–130.
36 S. Matthias Bauer: Playing on Translation in Shakespeare’s Henry V (Act 5, Scene 2). In: Se-
bastian Knospe, Alexander Onysko, Maik Goth (Hgg.): Crossing Languages to Play with Words:
Multidisciplinary Perspectives. Berlin 2016, S. 261–281.
37 Zur Deutung des »O« im Prolog zu Henry V s. etwa Travis D. Williams: The Story of O: Rea-
ding Letters in the Prologue to Henry V. In: Russ McDonald, Nicholas D. Nace, Travis D. Williams
(Hgg.): Shakespeare Up Close: Reading Early Modern Texts. London 2012, S. 9–16.
38 Ebenso wird die Eins nur zu einer großen Zahl, wenn ihr Nullen folgen; s. dazu Inge Leim-
Shakespeare und die Bilder der Vorstellung 53
Wortspiel, das aber zum Verständnis des Vorgangs hier vorausgesetzt werden
darf, ist die Eins, der gerade senkrechte Strich vor den crooked figures der Nullen,
auch als das Ich des Zuschauers zu denken, I, und dieses Ich ist in dieser Hinsicht
gleichzusetzen mit dem Auge, eye, des Betrachters.39 In diesem Ich, vor seinem
inneren Auge, entsteht die Armee. Sie ist ein Vorstellungsbild, zugleich aber nicht
nur ein leeres Produkt der Imagination, sondern das Ergebnis eines Vorgangs, der
von den lebendigen, realen Menschen auf der Bühne ausgelöst wird.
Wir erkennen eine Wechselbeziehung: Während in Romeo and Juliet die Phan-
tasie ein Nichts ist, ehe Romeo die Idee der Schönheit in der sich ihm wie eine
Bühne präsentierenden Wirklichkeit erblickt, sind die Gestalten auf der Bühne
ebenso nichts, solange sie nicht in innere Bilder verwandelt werden. Dies gilt
übrigens nicht nur für die Schauspieler, die in die Figuren zu verwandeln sind,
die sie repräsentieren, sondern für die historischen Figuren selbst; so wünscht
sich der Prolog in Henry V, dass der König in der Rolle des Gottes Mars erscheine
(»Then should the warlike Harry, like himself / Assume the port of Mars«); die
Re-Präsentation auf der Bühne ist immer zugleich eine Projektion. Das Theater
stellt uns Wirklichkeit vor Augen, aber es braucht dazu das Gedankenbild. Umge-
kehrt zielt das imaginierte Bild auf die Wahrheit ab, aber es braucht, um dies
tun zu können und um keine reine Chimäre zu sein, eine Rückbindung an die
Wirklichkeit, die sie als theatralische Anschauung gewinnt. Das Theater ist die
Realisierung eines Gedankenbildes und kann in seiner repräsentativen Funktion
nur als Gedankenbild existieren, d. h. richtig rezipiert werden; umgekehrt ist das
Gedankenbild nur fassbar als Theater, d. h. im Modus konkreter Anschauung.
Wir kehren noch einmal zum 27. Sonett zurück. Die Ambiguität, die wir dort
eingangs festgestellt haben, hat sich in verschiedener Form durch die anderen
Textbeispiele hindurch gezogen. Ist »my soul’s imaginary sight« eine reine Selbst-
täuschung der Psyche oder ist es eine innere, geradezu mystische Schau der
Seele? Ist der Schatten ein Abglanz der ideenhaften Substanz, der allein schon
ausreicht, die Nacht in Schönheit zu verwandeln, oder ist er nur der jämmerliche
Rest, mit dem sich der einsame, liebende Sprecher abfinden muss? Die Interde-
pendenz der Medien – das Bild als innere Vorstellung und die auf der Bühne prä-
sentierte Szene setzen einander wechselseitig voraus – liefert zwar keine Garan-
tie für die Wahrheit des Geschauten, diese Wechselseitigkeit, das Miteinander
berg: »M. O.A. I.« Trying to Share the Joke in Twelfth Night 2.5 (A Critical Hypothesis). In: Conno-
tations 1 (1991) H. 1, S. 78–95, hier S. 87.
39 Shakespeare spielt mit der Homophonie von I und eye etwa auch in Romeo and Juliet, und
zwar in der berühmten Balkonszene; William Shakespeare: Romeo and Juliet. Hg. von Brian Gib-
bons. London 1980 (The Arden Shakespeare), hier 2.2.62–106. Auffällig ist in diesem Zusammen-
hang auch die Häufung des Lautes in Sonnet 27, z. B. »by night my mind«.
54 Matthias Bauer, Angelika Zirker
von außen und innen, öffentlich und privat, geschaut und gedacht, wird aber als
Mittel zur Verhinderung des bloß Illusionären präsentiert.
Wir stellen im 27. Sonett fest, dass letztlich die Ambiguität des Imaginierten
in der Vorstellung als Bühnenszene aufgehoben ist. Denn wenn wir in dem Sonett
in bestimmter Hinsicht den Eindruck einer Autosuggestion gewinnen, so fügt
sich dies in die rhetorische Gesamtkonzeption des Gedichts als adressatenbezo-
genes Selbstgespräch ein. Nach der bekannten Regel des Horaz, wonach nur der-
jenige sein Publikum zu Tränen rühren wird, der sich selbst in die entsprechende
Gemütslage hineinversetzt hat (»si vis me flere, dolendum est / primum ipsi
tibi«)40 findet hier eine Selbstaffektion des Sprechers statt.41 Wie ein Schauspie-
ler, der durch die Vergegenwärtigung von Phantasiebildern so in seine Rolle hin-
einkommt, dass er die Zuschauer zu überzeugen vermag, wird der Sprecher durch
die nächtliche Szene des geliebten Menschen, welche die »imaginary sight« der
Seele vor seinem inneren Angesicht aufführt, so affiziert, so bewegt (ganz wört-
lich »no quiet find«), dass er selbst hoffen kann, eine entsprechende Wirkung auf
den Adressaten auszuüben. Die Besonderheit besteht darin, dass der Sprecher
denjenigen zu überzeugen sucht, den er sich in seinem Phantasiebild vergegen-
wärtigt; der geliebte Mensch ist Gegenstand und Publikum zugleich, so wie der
Sprecher auch zugleich Gegenstand seiner Rede ist. Klar wird dies im final couplet
mit der überraschenden Wendung zum Imperativ: »Lo, thus …« (»Schau, so …«).
In dieser Hinsicht spielt es eine untergeordnete Rolle, ob der Sprecher wirklich
etwas geschaut hat, das die Nacht in jugendfrischen Tagesglanz verwandelt hat,
oder ob das nur eingebildet war. Entscheidend ist, dass Gedankenbild und Büh-
nenszene aufgehen in der sprachlichen Äußerung, im rhetorischen Akt. »Gently
to hear, kindly to judge, our play« ist die abschließende Bitte des Prologs in Henry
V. Im gespielten Wort ist das Schauen immer ein Hören – und umgekehrt – und
die Vorstellung des Schauspielers immer ein Geschehen auf der Bühne der Seele.
40 Horaz: De Arte Poetica. In: Horaz: Sämtliche Werke: Lateinisch-deutsch. Hg. von Hans Fär-
ber. Darmstadt 1967, S. 230–259, hier S. 236 (2.3.102–03): »Willst du mich zu Tränen nötigen, so
mußt du selbst zuvor das Leid empfinden«. S. dazu Butzer (Anm. 23), S. 82 sowie sein Kap. 1.9,
S. 85–92.
41 Vgl. Butzer (Anm. 23), S. 87; s. auch Cicero, De oratore: »Neque fieri potest, ut doleat is, qui
audit, ut oderit, ut invideat, ut pertimescat aliquid, ut ad fletum misericordiamque deducatur,
nisi mones illi motus, quos orator adhibere volet iudici, in ipso oratore impressi esse atque inusti
videbuntur«. Cicero: De Oratore / Über den Redner. Hg. von Harald Merklin. Stuttgart 1997, hier
II.45.189 (»Es ist auch gar nicht möglich, daß der Zuhörer Schmerz oder Haß, Neid oder Furcht
empfindet, daß er sich zu Tränen und Mitleid bewegen läßt, wenn alle die Gefühle, zu denen
der Redner den Richter bringen will, dem Redner selbst nicht eingebrannt und eingeprägt er
schienen«).
Rüdiger Singer
»Grief’s true picture« −
Enargeia als intermediales Konzept
und Leitmodell für actio und acting
1 A
usgangspunkt: Intermedialität und Wieder
belebung in einer Schauspieler-Elegie von 1619
Im Jahr 1619 stimmt ein anonymer englischer Funeraldichter einen intermedialen
Musenanruf an:
Es handelt sich um den Beginn einer Anonymous funeral elegy for Richard Bur
bage.1 Der 1567 geborene Burbage war der erste berühmte Shakespeare-Darsteller;2
das Gedicht stellt den ersten mir bekannten Text der abendländischen Literatur
1 So der Kurztitel in: Glynne Wickham, Herbert Berry, William Ingram (Hgg.): Theatre in Europe:
A Documentary History. English Professional Theatre 1580–1660. Cambridge, New York, Port
Chester u. a. 2000, S. 181–183, hier 181 f., nach dessen orthographisch modernisierter Version hier
wie im Folgenden zitiert wird. Im zugrundeliegenden Manuskript, das sich in der Huntington
Library (San Marino, USA) befindet (Signatur 198.99–101), lautet der Titel allerdings A Funerall
Ellegy on ye Death of the famous Actor Richard Burbedg who dyed on Saturday in Lent the 13 of
March 1618 – nach heutiger Zeitrechnung ist dies das Jahr 1619. Ich hatte keine Gelegenheit,
das Manuskript einzusehen und verweise auf die Transkription in Clement Mansfield Ingleby:
Shakespeare. The Man and the Book. Being a Collection of Occasional Papers On the Bard and
His Writings. Bd. 2. London 1881, S. 180–182; dort auch die Wiedergabe einer weiteren Fassung
(S. 177–179) und eine Diskussion der verwickelten Überlieferungslage (S. 169–177), gekennzeich-
net durch spätere, stark ausgeschmückte Fassungen, die heute noch im Internet kursieren.
2 Zu Burbage siehe Edwin Nungezer: A Dictionary of Actors […] before 1642. London, New Haven
1929, S. 67–79; Andrew Gurr: The Shakespearean Stage 1574–1642. Cambridge 31992, S. 91; zum
lange unsicheren Geburtsjahr William Ingram: The Business of Playing. The Beginnings of the
Adult Professional Theatre in Elizabethan London. Cornell 1992, S. 102.
DOI 10.1515/9783110521788-004
56 Rüdiger Singer
dar, in dem die Arbeit eines historischen Schauspielers als ›Kunst‹ gewürdigt
wird – rund anderthalb Jahrhunderte, bevor sich in England das Konzept ›Schau-
spielkunst‹ durchzusetzen beginnt und in Deutschland, noch etwas später, der
Begriff.3
In der Elegy wird ›Schauspielkunst‹ kunstvoll auf die ›Schwesterkünste‹
bezogen. Für die Wortkunst steht die Sprechinstanz bzw. der Funeraldichter
selbst. Er thematisiert die lamentatio, eine der drei klassischen Aufgaben des
Grabredners und -dichters neben laudatio und consolatio,4 und repräsentiert
sie durch die Nennung des damit verbundenen Affektes, den er zunächst »woe«
nennt. Obwohl dieses Substantiv sich von einer Interjektion herleitet und damit
eigentlich eine akustische Dimension anklingen lässt,5 ruft der Dichter zunächst
einen »limner« – d. h. einen Maler, insbesondere Porträtmaler – als Beistand
an.6 Der Affekt lässt sich also besser noch visuell als verbal darstellen, insbe-
sondere mimisch. Deshalb wird als Alternative ein ›trauriger Tragöde‹ ins Spiel
gebracht; die nun folgende metaleptische Pointe macht deutlich, dass es um den
Tragödienschauspieler Burbage geht, der wiederum Gegenstand des Gedichtes
ist. Von ihm wird behauptet, er könne den Affekt der Trauer – alternativ auch
»grief« genannt – nicht nur spielen, sondern auch ›porträtieren‹ (»limn«). Dass es
jedoch auch enge Bezüge zwischen Wort- und Schauspielkunst gibt, mag implizit
3 Für England siehe Arnold Hare, David Thomas (Hgg.): Theatre in Europe: A Documentary
History. Restoration and Georgian England 1660–1788. Cambridge, New York, Port Chester u. a.
2009, bes. S. 127–204; 341–424, sowie Jean Benedetti: David Garrick and the Birth of Modern
Theatre. London 2001, bes. S. 48–70; für Deutschland Wolfgang F. Bender (Hg.): Schauspielkunst
im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Stuttgart 1992, sowie Peter Heßelmann: Gerei-
nigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika
des 18. Jahrhunderts (1750–1800), Frankfurt am Main 2002, bes. S. 296–390.
4 Zu den (bereits für die antike Funeralrhetorik verbindlichen) rhetorischen Grundlagen des
Epicediums siehe Krummacher: Das barocke Epicedium. In: Schiller-Jahrbuch 18 (1974), S. 89–
147. Der abschließende Trostteil (consolatio) fällt in der vorliegenden Elegy recht knapp aus, ähn-
lich wie im lateinisch-neuhumanistischen Epicedium (siehe dazu Elisabeth Springer: Studien
zur humanistischen Epicediendichtung. Wien 1955).
5 Vgl. Terry F. Hoad (Hg.): The Concise Oxford Dictionary of English Etymology. New Edition.
Oxford, New York 1993, S. 544.
6 Die Begriffsverwendung lässt sich durch den Blick in einen neueren Roman illustrieren, der
ebenfalls vom Thema der Schwesterkünste bzw. des Paragone inspiriert ist: In Will Davenport:
The Painter. A Novel of Rembrandt’s Most Secret Seduction. London 2003 findet die Heldin den
Begriff limner 2001 in Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahr 1662, muss ihn nachschlagen und
übersetzt ihn schließlich zutreffend als »portrait painter« (S. 86). Bei Shakespeare findet sich das
Verb to limn out im Sinn von »paint, draw, portray« und das Partizip limned im Sinn von »por-
trayed, reproduced, painted« (vgl. Ben Crystal, David Crystal: Shakespeare’s Words. A Glossary
and Language Companion. London u. a. 2002, S. 264). Siehe auch das Chapman-Zitat in Anm. 13.
»Grief’s true picture« − Enargeia als intermediales Konzept 57
Tertium comparationis zwischen Schauspielkunst und Malerei ist das Ziel, einen
Affekt bildhaft, aber auch ›lebensecht‹ oder ›nach dem Leben‹ zu zeichnen. Der
Aspekt des Lebens wird in den folgenden Versen weitergeführt im Sinne von
Lebendigkeit und Verlebendigung:
7 Vgl. J. A. Simpson, E. S. C. Weiner (Hgg.): The Oxford English Dictionary. Second Edition.
Bd. 18: Thro-Unelucidated. Oxford 1989, S. 359 f.
8 Zur englischen Cicero-Rezeption siehe Jones Howard: Master Tully. Cicero in Tudor England.
Nieuwkoop 1998.
9 Siehe Bernd Steinbrink: Art. ›Actio‹. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhe-
torik, 9 Bde. Tübingen 1992–2009. Bd. 1, Sp. 43–74; Dietmar Till: Rhetorik und Schauspieltheorie.
In: Rebekka von Mallinckrodt (Hg.): Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit.
Ausstellungskatalog Wolfenbüttel 2008, S. 61–84; 270–283.
58 Rüdiger Singer
Acting, bis zu diesen Versen vor allem als ›Verbildlichung‹ schmerzlicher Emotio-
nen verstanden, bedeutet hier die ›Verlebendigung‹ einer Vielzahl von Rollen. Vier
tragische Partien werden in einem kurzen Katalog präsentiert, die zwar teilweise
miteinander korrespondieren,10 vor allem aber in ihren Gegensätzen die Spann-
weite von Burbages Kunst ahnen lassen.11 Der Begriff ›Verlebendigung‹ oder auch
›Wiederbelebung‹ wird lautlich durch Variation hervorgehoben: reviv(e)d ist erst
zweisilbig, dann dreisilbig realisiert.
Ich möchte nun behaupten, dass sich dieses Wirkungsziel auf einen alt-
ehrwürdigen Leitbegriff zurückführen lässt, der aus der spätantiken Rhetorik
stammt: Enargeia oder auch, mit einem folgenreichen Übersetzungsvorschlag
Ciceros, evidentia.12 Der Terminus lässt sich sowohl als ›Anschaulichkeit‹ über-
setzen wie auch als ›Lebendigkeit‹; die in der englischen Renaissance übliche
Standardübersetzung liveliness und die heute übliche als vividness umfassen
beide Aspekte.13 Enargeia ist zunächst eine Qualität von Texten, dann aber auch
von Bildern. Obwohl es zu diesem Thema wichtige Studien gibt – für die Litera-
tur etwa von Jean Hagstrum, Heinrich F. Plett, Graham Zanker, Murray Krieger,
Perrine Galand-Hallyn und Ruth Webb, für die Malerei von Valeska von Rosen –,14
10 »[O]ld Hieronimo« ist die Hauptfigur in Thomas Kyds Spanish Tragedy (1592), die in vieler
Hinsicht zum Vorbild für Shakespeares Hamlet wurde (siehe Rudolf Stamm: Kyd’s Spanish Tra-
gedy und Shakespeare’s Hamlet [1967]. In: Willi Erzgräber (Hg.): Hamlet-Interpretationen. Darm-
stadt 1977, S. 462–487); Lear und Othello lassen sich beide von ihrer Leidenschaft dazu hinrei-
ßen, die Liebe ihrer Tochter bzw. Frau zu verkennen.
11 Zu Burbages Repertoire siehe John H. Astington: Actors and Acting in Shakespeare’s Time.
The Art of Stage Playing. Cambridge u. a. 2010, S. 128–130.
12 Im Folgenden wird allerdings nur von ›Enargeia‹ die Rede sein, um die juristischen und phi-
losophischen Implikationen von ›Evidenz‹ zu vermeiden.
13 »The word ›liveliness‹ is usually a synonym for enargeia. Many contexts make clear the as-
sociation with painting.« (Jean H. Hagstrum: The Sister Arts. The Tradition of Literary Pictioria-
lism and English Poetry from Dryden to Gray. Chicago 1958, S. 64) Die Aussage bezieht sich auf
die englische Renaissance. Konkret erläutert Hagstrum hier eine Passage aus George Chapmans
1595 verfasstem Gedicht Ovid’s Banquet of the Sense, die bezeichnenderweise auf den ersten
Vers der Burbage-Elegie vorausweist: »That, Enargeia, or cleerness of representation, required
in absolute Poems is […] high, and harty inuention exprest in most significant, and vnaffected
phrase; it serues not a skilfull Painters turne, to draw the figure of a face onely to make knowne
who it represents, but hee must lymn, guiue luster, shaddow, and heightening […].« (The Poems
of George Chapman. Hg. von Phyllis Brooks Bartlett. New York 21962, S. 49; die letzten beiden
Hervorhebungen von mir; siehe dazu von Rosen [Anm. 14], S. 185). – Siehe außerdem Mary E.
Hazard: The Anatomy of »Liveliness« as a Concept in Renaissance Aesthetics. In: The Journal of
Aesthetics and Art Criticism 33 (1975), S. 407–418.
14 Hagstrum (Anm. 13); Heinrich F. Plett: Rhetorik der Affekte. Englische Wirkungsästhetik im
Zeitalter der Renaissance. Tübingen 1975; Graham Zanker: Enargeia in the Ancient Criticism of
Poetry. In: Rheinisches Museum für Philologie 124 (1981), S. 297–311; Murray Krieger: Ekphrasis.
»Grief’s true picture« − Enargeia als intermediales Konzept 59
The Illusion of the Natural Sign. Baltimore, London 1992; Perrine Galand-Hallyn: Le reflet des
fleurs. Description et métalangage poétique d’Homère à la Renaissance. Genf 1994; Dies.: Les
yeux de l’eloquence. Poétiques humanistes de l’evidence. Orleans 1995; Ruth Webb: Ekphrasis,
Imagination and Persuasion in Ancient Rhetorical Theory and Practice. Burlington 2009; Va-
leska von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des Ut-pictura-poesis
und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwis-
senschaft 27 (2000), S. 171–208.
15 Zahlreich sind allerdings seit Mitte der 1990er Jahre die Studien zur Ekphrasis aus der Per-
spektive der Interart Studies und der Intermedialitätsforschung. Die ursprüngliche Bindung
dieser rhetorischen Schreibweise an das Wirkungsziel der Enargeia (dazu mehr im folgenden
Abschnitt) wird jedoch zumeist gar nicht oder allenfalls oberflächlich berücksichtig. Siehe ex-
emplarisch den Forschungsabriss von Christina Schäfer und Stefanie Rentsch: Ekphrasis. An-
merkungen zur Begriffsbestimmung in der neueren Forschung. In: Zeitschrift für französische
Sprache und Literatur 114/2 (2004), S. 132–157: Die Autorinnen sehen zwar die Wichtigkeit der
Enargeia für das ursprüngliche Ekphrasis-Konzept (S. 137 f.), berücksichtigen diese Qualität aber
nicht für ihren eigenen Definitionsvorschlag (S. 158).
16 Meine Darstellung des Ekphrasis-Konzepts stützt sich vor allem auf Webb (Anm. 14), ak-
zentuiert aber den von ihr nur en passant angesprochenen Aspekt der szenisch-theatralischen
Struktur enargischer Texte (siehe unten).
17 Werner Wolf: Shakespeare und die Entstehung ästhetischer Illusion im englischen Drama.
In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 43 (1993), S. 279–301, hier S. 284, siehe auch
Robert Weimann: Author’s Pen and Actor’s Voice. Playing and Acting in Shakespeare’s Theatre.
Cambridge 2000 sowie Matthias Bauers Beitrag in diesem Band.
60 Rüdiger Singer
2 D
er dargestellte Affektkörper: Zur Enargeia der
Sister Arts in der antiken Rhetorik
Ausgangspunkt ist eine Passage aus Plutarchs Schrift Vom Ruhm der Athener. Sie
ist für das Thema dieses Sammelbandes insofern zentral, als sie den – neben dem
Horazischen ut pictura poesis – wichtigsten Gemeinplatz für den Zusammenhang
der Schwesterkünste, das sogenannte Dictum des Simonides, zitiert und erläu-
tert.18 Es geht darum, inwiefern die Dichtung der Malerei nachstreben sollte,
obwohl beide sich in ihren Mitteln unterscheiden. Plutarchs Fallbeispiel sind
Kriegsdarstellungen in Malerei und Geschichtsschreibung.
Simonides nennt nun die Malerei ›schweigende Dichtung‹, die Dichtung hingegen ›spre-
chende Malerei‹. Denn die Taten, die die Maler als werdende zeigen, die beschreiben
und legen die Worte als gewordene dar. Wenn aber die einen mit Farben und Formen, die
anderen hingegen mit Begriffen / Namen und Wörtern dasselbe deutlich machen, sie sich
im Material und in der Art der Nachahmung unterscheiden, haben doch beide ein einziges
Ziel, und von den Historikern ist derjenige der beste [i. S. v. stärkste], der seine Erzählung
wie ein Gemälde durch Affekte [pathos] und Figuren [prosopon] bildlich geformt hat [eidolo-
poiein = Bild-machen]. Thukydides kämpft natürlich stets mit dem Wort für die Anschau-
lichkeit [enargeia], weil er schließlich den Leser [eigentl.: Hörer] zum Zuschauer machen
will und weil er die beim Sehen entstehenden Emotionen des Staunens und der Bestürzung
den Lesern deutlich machen will.19
Ein Dichter/Historiker, der wie ein Historienmaler mit ›Affekten und Personen‹
arbeitet, erzielt also, wie dieser, Enargeia; Enargeia besteht ursprünglich – d. h.
im Rahmen der spätantiken Rhetorik – darin, Zuhörer (gewissermaßen ›vir-
tuell‹) in Zuschauer zu verwandeln. Gemeint ist eine Wirkung, um die sich der
Redner in besonders intensiven Passagen seiner Rede bemühen soll, welche die
18 Siehe Hagstrum (Anm. 13), bes. S. 9–11; Gabriele K. Sprigath: Das Dictum des Simonides. Der
Vergleich von Dichtung und Malerei. In: Poetica 36 (2004) 3/4, S. 243–280.
19 »Πλὴν ὁ Σιμωνίδης τὴν μὲν ζωγραφίαν ποίησιν σιωπῶσαν προσαγορεύει, τὴν δὲ ποίησιν
ζωγραφίαν λαλοῦσαν. ἃς γὰρ οἱ ζωγράφοι πράξεις ὡς γινομένας δεικνύουσι, ταύτας οἱ λόγοι
γεγενημένας διηγοῦνται καὶ συγγράφουσιν. εἰ δ’ οἱ μὲν χρώμασι καὶ σχήμασιν οἱ δ’ ὀνόμασι
καὶ λέξεσι ταὐτὰ δηλοῦσιν, ὕλῃ καὶ τρόποις μιμήσεως διαφέρουσι, τέλος δ’ ἀμφοτέροις ἓν
ὑπόκειται, καὶ τῶν ἱστορικῶν κράτιστος ὁ τὴν διήγησιν ὥσπερ γραφὴν πάθεσι καὶ προσώποις
εἰδωλοποιήσας. ὁ γοῦν Θουκυδίδης ἀεὶ τῷ λόγῳ πρὸς ταύτην ἁμιλλᾶται τὴν ἐνάργειαν, οἷον
θεατὴν ποιῆσαι τὸν ἀκροατὴν καὶ τὰ γινόμενα περὶ τοὺς ὁρῶντας ἐκπληκτικὰ καὶ ταρακτικὰ
πάθη τοῖς ἀναγινώσκουσιν ἐνεργάσασθαι λιχνευόμενος.« (Plutarch: De gloria Atheniensium § 3,
mor.346 F-347A, zit nach: Plutarch’s Moralia in Fifteen Volumes. Hg. und übersetzt von Frank
Cole Babbitt. London 1960–1962, Bd. 4, S. 501). Für die Übersetzung danke ich PD Dr. Meike Rühl,
Wuppertal. Vgl. die Übersetzung in Sprigath (Anm. 18), S. 1; 6 f. sowie in Michael Franz: Von Gor-
gias bis Lukrez. Antike Ästhetik und Poetik als vergleichende Zeichentheorie. Berlin 1999, S. 62 f.
»Grief’s true picture« − Enargeia als intermediales Konzept 61
das ungewisse Fliehen der einen, die letzte Umarmung, in der andere an den Ihren hängen,
das Weinen der Kinder und Frauen und die unseligerweise bis zu diesem Tag vom Schicksal
bewahrten Greise; dann die Plünderung der geweihten und ungeweihten Stätten, die Beute,
die die Eroberer wegschleppen, deren Umhereilen, um sie einzutreiben, die Gefangenen,
die jeder Sieger in Ketten vor sich hertreibt, die Mutter, die versucht, wenigstens ihr eigenes
Kind festzuhalten, und, wo es sich um größeren Beuteanteil handelt, der Wettstreit unter
den Siegern
20 Dieser Zusammenhang zwischen Enargeia und Ekphrasis ist besonders deutlich formuliert
in den Progymnasmata des Nikolaos (vgl. Webb [Anm. 14], S. 202 f., zur Erläuterung siehe ebd.,
S. 87–106).
21 Ἔκφρασίς ἐστὶ λόγος περιηγηματικὸς ἐναργῶς ὑπ’ὄψιν ἄγων τὸ δηλούμενον. (Theon: Pro-
gymnasmata 118.6, zit. nach Webb [Anm. 14], S. 199 Übersetzung nach Fritz Graf: Ekphrasis.
Die Entstehung der Gattung in der Antike. In: Gottfried Boehm, Helmut Pfotenhauer [Hgg.]: Be-
schreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München
1995, S. 143–156, hier S. 144).
22 Webb (Anm. 14), S. 54; von Rosen (Anm. 14), S. 178 interpretiert bereits eine Stelle in Aristo-
teles’ Poetik in diesem Sinn.
23 Siehe zu diesem Zusammenhang Sprigath (Anm. 18).
24 Siehe George Paul.: Urbs capta. Sketch of an Ancient Literary Motif. In: Phoenix 36 (1982),
S. 144–155.
62 Rüdiger Singer
›vor Augen gestellt‹ werden.25 Kontrastiert werden hier die von Gier und Grau-
samkeit gekennzeichneten Aktionen der Sieger mit dem Jammer der Besiegten,
der sich in expressiver Mimik und Gestik äußert. Solche Konzentrate aus ›Affek-
ten und Personen‹ finden sich auch in Tragödien wie etwa den Troerinnen und
frühneuzeitlichen Historiengemälden;26 mit Aby Warburg könnte man sie als
›Pathosformeln‹ im Sinne von »Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergrif-
fenseins« bezeichnen.27
Da Enargeia aber ein Merkmal von Wortkunst wie von bildender Kunst ist,
kann sie auch eine intermediale Wirkungskette begründen. So leitet Philostrat der
Ältere seine Gemäldebeschreibung Pantheia mit folgendem programmatischen
Satz ein:
25 »[…] aliorum fuga incerta, alii extremo complexu suorum cohaerentes et infantium femi-
narumque ploratus et male usque in illum diem servati fato senes: tum illa profanorum sacro
rumque direptio, efferentium praedas repetentiumque discursus et acti ante suum quisque
praedonem catenati et conata retinere infantem suum mater et, sicubi maius lucrum est, pugna
inter victores.« (Quint. inst. VIII.3. 68 f.; Übersetzung und Original zit. nach Marcus Fabius Quin-
tilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hg. und übersetzt von Helmut Rahn. 2 Bde.
Darmstadt 31995, Bd. 2, S. 178 f.). Siehe dazu Webb (Anm. 14), S. 72 f.
26 Besonders im Fall der antiken Tragödie spielen oft die auf der Bühne gezeigten affektinten-
siven Handlungen zusammen mit jenen, die durch Botenbericht vermittelt werden. Auch die-
ser wiederum lässt sich als Ekphrasis im Sinne enargischer Rede verstehen, die genau das für
die Imagination des Zuschauers ergänzt, was auf der realen Bühne nicht gezeigt werden kann
oder darf (siehe die Analyse von dessen dramatischer Funktion bei Irene J. F. de Jong: Narra-
tive in Drama. The Art of the Euripedian Messenger Speech. Leiden 1991 [Mnemosyne Supp.;
116], S. 172–177). Dort spielen die erst Jahrhunderte nach Euripides geprägten Begriffe Ekphrasis
und Enargeia zwar keine Rolle, doch ist das Modell präsent über ein Horaz-Zitat [Ars poetica
179–182], das den Ausgangspunkt von Jongs Schlussbetrachtung bildet). – Da die Meisterwerke
antiker Malerei verloren sind, muss man sich in der Neuzeit an späthellenistische Skulpturen
wie die Laokoon-Gruppe halten oder auf Beschreibungen zurückgreifen (z. B. Plutarch: De gloria
Atheniensium § 2, mor.346F – unmittelbar vor der zitierten Passage – oder auch Quint. int. II.13.
13–14). Den Einfluss des Enargeia-Konzepts auf die frühneuzeitliche Historienmalerei haben von
Rosen und Wolfgang Brossat am Beispiel von Raffaels Brand des Borgo diskutiert, bei dem ein
Einfluss von Quintilians urbs capta-Passage wahrscheinlich ist (von Rosen [(Anm. 14], S. 192–197;
Wolfgang Brossat: Das Historienbild im Zeitalter der Eloquenz. Von Raffael bis Le Brun. Berlin
2002, S. 45–48).
27 Aby Warburg: Einleitung zum Mnemosyne-Atlas. In: Gesammelte Schriften. Studienausgabe.
Hg. von Horst Bredekamp u. a. Bd. 2.1. Berlin 2000, S. 3; siehe dazu grundlegend Ulrich Port:
›Katharsis des Leidens‹. Aby Warburgs ›Pathosformeln‹ und ihre konzeptionellen Hintergründe
in Rhetorik, Poetik und Tragödientheorie. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissen-
schaft und Geistesgeschichte. Sonderheft: Wege deutsch-jüdischen Denkens im 20. Jahrhundert
(1999), S. 5–42.
»Grief’s true picture« − Enargeia als intermediales Konzept 63
Die schöne Pantheia ist von Xenophon zwar nach ihrem Wesen geschildert, daß sie Araspes
verschmähte, dem Kyros nicht erlag und mit Abradates von gleicher Erde bedeckt sein
wollte; wie schön aber ihr Haar war, wie kräftig ihre Braue, wie ihr Blick war und der Aus-
druck ihres Mundes, dies hat Xenophon noch nicht beschrieben, so geschickt er war, dies
zu schildern; ein Mann aber, der Geschichte freilich zu schreiben nicht fähig war, dafür aber
wunderschön malen konnte, ein Mann, der Pantheia selbst zwar nicht sah, aber seinen
Xenophon kennt, der malt Pantheia, wie er sie sich in seiner Seele vorstellte.28
Wie bei Plutarch geht es hier um das Verhältnis von Historiographie und Histori-
enmalerei. Der Geschichtsschreiber charakterisiert eine historische Gestalt durch
die Erzählung ihrer Taten: Die schöne Witwe weist alle Bewerber ab, um ihrem
gefallenen Mann ins Grab zu folgen.29 Obwohl Xenophon, wie es heißt, auch ihr
Äußeres hätte schildern können, scheint dies doch eher die Domäne des Malers
zu sein, der sich Pantheias Schönheit aufgrund der Enargeia von Xenophons Text
›ausmalen‹ kann.30 Die Enargeia seines Gemäldes wiederum wirkt auf dessen
Betrachter und inspiriert ihn zu einer enargischen Beschreibung des Bildes (für
deren Vorstellung hier nicht der Ort ist).31
Die Eikones des Philostrat sind sowohl ein Beispiel für lebendige rhetorische
›Beschreibungskunst‹ als auch das wichtigste Modell für Ekphrasis im moder-
nen Sinn poetischer ›Kunstbeschreibung‹. Wichtig für den hier interessierenden
Zusammenhang ist, dass Philostrat die von ihm beschriebenen Bilder ›drama-
tisiert‹ und die ›Lebendigkeit‹ von ›Affekten und Personen‹ beschwört, die auf
den Beschreibenden wirkt.32 Um dies wiederum dem Leser vor Augen zu führen,
bedient sich Philostrat wiederholt eines Kunstgriffs, den ich als intermediale
Metalepse bezeichnen möchte: In den Eikones spricht der Rhetoriklehrer Phi-
28 Philostr. imag. I. 9.1; Übers. zit. nach Philostratos: Die Bilder. Griechisch-deutsch. Nach Vor-
arbeiten von Ernst Kalinka herausgegeben, übersetzt und erläutert von Otto Schönberger. Mün-
chen 1968, S. 199; siehe dazu Webb (Anm. 14), S. 20 f.
29 Vgl. Xenophons Erziehung des Kyros (Xen. cyr. VI.4.2).
30 Den Begriff verwendet Philostrat zwar nicht, doch erlaubt die Parallele zum Bild des ›Vor-
Augen-Stellens‹ und zu Plutarchs Beispiel eine klare Zuordnung zum Modell der Enargeia (siehe
Webb [Anm. 14], S. 20 f.).
31 Immerhin sei darauf hingewiesen, dass Pantheias Schönheit im Moment ihrer Selbstopfe-
rung dargestellt ist; somit hat auch die Enargeia des Gemäldes einen deutlich, ›dramatischen‹
Charakter.
32 Schon Hagstrum stellt lapidar fest: »Philostratus reads paintings as though they were dra-
mas.« (Hagstrum [Anm. 13], S. 31) Intertextuelle Bezüge einiger ›Bilder‹ zu spezifischen Dramen
werden aufgezeigt in Jaś Elsner: Philostratus Visualizes the Tragic. Some Ecphrastic and Picto-
rial Receptions of Greek Tragedy in the Roman Era. In: J. E., Helene P. Foley, Simon Goldhill u. a.
(Hgg.): Visualizing the Tragic. Drama, Myth and Ritual in Greek Art and Literature. Oxford 2007,
S. 309–337.
64 Rüdiger Singer
lostrat zu einer Gruppe junger Hörer über Gemälde;33 sein Vortrag verhält sich
also zu dem von den Bildern dargestellten Handlungen wie extradiegetischer
Erzählakt und intradiegetische Erzählung – mitunter jedoch erscheinen ihm die
darauf dargestellten ›Affekte und Personen‹ so ›lebendig‹, dass er die gemalten
Figuren wie echte, lebendige Menschen anspricht. Ein schönes Beispiel ist die
Eröffnung der Kunstbeschreibung Jäger: »Stürmt nicht an uns vorbei, ihr Jäger,
und treibt eure Pferde nicht so an, bis wir euch auf der Spur sind, was ihr wollt
und was ihr jagt!«.34 Die Apostrophe wird noch einige Sätze lang fortgeführt,
bevor sich der Sprechende zur Ordnung ruft: »Wie ist mir geschehen? Ich wurde
von dem Bild ganz hingerissen und meinte, sie seien nicht gemalt, sondern wirk-
lich, bewegten sich und seien verliebt; wenigstens necke ich sie, als ob sie mich
hörten, und glaube, eine Antwort zu vernehmen«.35
Denn es machen nicht nur die Hände, sondern auch schon Winke unseren Willen klar und
dienen bei Stummen als Sprache; auch das Tanzen versteht man häufig ohne Worte und
läßt sich davon beeindrucken; ferner läßt sich aus Miene und Gang die Geistesverfassung
entnehmen, und auch bei Lebewesen, die keine Sprache besitzen, lässt sich Zorn, Freude,
Schmeichelei sowohl an den Augen wie auch an körperlichen Merkmalen ablesen. Kein
Wunder, daß diese Gebärden, die ja doch auf einer Art von Bewegung beruhen, so stark auf
den Geist wirken, da ja ein Gemälde, ein Werk, das schweigt und immer die gleiche Haltung
zeigt, so tief in unsere innersten Gefühle eindringen kann, daß es ist, als überträfe es selbst
die Macht des gesprochenen Wortes. Wenn umgekehrt Gebärde und Miene mit der Rede in
Widerspruch steht, wir also Trauriges mit heiterer Miene sagen oder etwas mit Kopfschüt-
teln bekräftigen, so dürfte gewiß den Worten nicht nur aller Nachdruck, sondern sogar die
(schlichte) Glaubwürdigkeit fehlen.36
Die actio eines Redners trägt also entscheidend zur Steigerung des Pathos bei –
freilich nur, sofern sie auch ein Ethos vermittelt (Quint. inst. VI.2.18). Verbun-
den sind Ethos und Pathos durch den Grundsatz, wir sollten »in unseren Lei-
denschaften denen gleichen, die wirkliche Leidenschaften durchmachen, und
unsere Rede sollte aus einer Gemütsstimmung hervorgehen, wie wir sie auch bei
dem Richter zu erzeugen wünschen.«37 Selbstemotionalisierung ist deshalb die
Voraussetzung, um auch andere enargisch zu emotionalisieren. Das Problem ist
freilich, dass sich ein Verteidiger oder Ankläger nicht unbedingt von vorneherein
mit der Position identifiziert, die er vertritt. Damit stellt sich die Frage:
Aber wie ist es möglich, sich ergreifen zu lassen? Die Gemütsbewegungen stehen doch
nicht in unserer Gewalt! […] Jeder, der das, was die Griechen φαντασίαι nennen – wir
könnten ›visiones‹ (Phantasiebilder) dazu sagen –, wodurch die Bilder abwesender Dinge
so im Geiste vergegenwärtigt werden, daß wir sie scheinbar vor Augen sehen und sie wie
leibhaftig vor uns haben: jeder also, der diese Erscheinungen gut erfaßt hat, wird in den
Gefühlswirkungen am stärksten sein. […] [D]as kann uns, wenn wir wollen, leicht gelin-
gen. Umgeben uns doch schon in Zeiten der Muße, wenn wir unerfüllten Hoffnungen nach-
hängen und gleichsam am hellen Tage träumen, solche Phantasiebilder so lebhaft, als ob
wir auf Reisen wären, zu Schiffe führen, in der Schlacht ständen […]. Sollen wir aus dieser
Schwäche nicht einen geistigen Gewinn machen? Ich habe Klage zu führen, ein Mann sei
erschlagen. Kann ich da nicht all das, was dabei, als es wirklich geschah, vermutlich vor-
gefallen ist, vor Augen haben? Wird nicht plötzlich der Mörder hervorbrechen? Nicht das
Opfer vor Angst aufschrecken? Wird es schreien oder fliehen? Werde ich nicht den Schlag
fallen, das Opfer zusammenbrechen sehen? Wird sich nicht sein Blut, seine Blässe, sein
Stöhnen und schließlich sein letzter Todesseufzer meinem Herzen tief einprägen? Daraus
36 »[Q]uippe non manus solum, sed nutus etiam declarant nostram voluntatem et in mutis pro
sermone sunt, et saltatio frequenter sine voce intellegitur atque adficit, et ex vultu ingressuque
perspicitur habitus animorum, et animalium quoque sermone carentium ira, laetitia, adulatio et
oculis et quibusdam aliis corporis signis deprenditur. nec mirum si ista, quae tamen in aliquo
posita sunt motu, tantum in animis valent, cum pictura, tacens opus et habitus semper eiusdem,
sic in intimos penetret adfectus, ut ipsam vim dicendi nonnumquam superare videatur. contra
si gestus ac vultus ab oratione dissentiat, tristia dicamus hilares, adfirmemus aliqua renuentes,
non auctoritas modo verbis sed etiam fides desit.« (Quint. inst. XI. 3, 66–67, Quintilian/Rahn
[Anm. 25], Bd. 2, S. 634 f.
37 »[Q]uare in his, quae esse veri similia volemus, simus ipsi similes eorum, qui vere patiuntur,
adfectibus, et a tali animo proficiscatur oratio, qualem facere iudici volet.« (Quint. inst. VI. 2, 27,
Quintillian/Rahn [Anm. 25], Bd. 1, S. 708 f.)
66 Rüdiger Singer
ergibt sich die ένάργεια (Verdeutlichung), die Cicero ›illustratio‹ (Ins-Licht-Rücken) und
›evidentia‹ (Anschaulichkeit) nennt, die nicht mehr in erster Linie zu reden, sondern viel-
mehr das Geschehen anschaulich vorzuführen scheint, und ihr folgen die Gefühlswirkun-
gen so, als wären wir bei den Vorgängen selbst zugegen.38
Die Passage wurde in extenso zitiert, weil sie von kaum zu überschätzender
Bedeutung ist für die hier interessierende Verbindung zwischen der Enargeia von
Texten und der von actio und acting. Quintilian diskutiert den Begriff Enargeia mit
expliziter Nennung insgesamt dreimal, davon zweimal im Sinn der Qualität eines
Textes: zum einen (Quint. inst. IV.2, 63–65) als Qualität rednerischer narratio, die
über die Grundanforderungen Klarheit, Deutlichkeit, Kürze und Glaubwürdigkeit
hinausgeht, zum anderen (Quint. inst. VIII.3.61–71) als Element des ornatus, das
durch die Fähigkeit zur Vergegenwärtigung über die perspicuitas (Durchsichtig-
keit) hinausgeht – in diesem Zusammenhang steht die zitierte urbs capta-Skizze.
Drittens aber wird Enargeia im Zusammenhang mit den durch eine Rede hervor-
zubringenden Gefühlswirkungen (affecti) diskutiert (Quint. inst. VI.2), die nicht
nur durch den Text erzeugt werden, sondern womöglich noch intensiver durch
die glaubwürdige Körpersprache des Redners, die Selbstaffizierung voraussetzt –
diesem Kontext entstammt das letzte Zitat.39 Gleichwohl enthält Quintilians Fall-
beispiel des Plädoyers gegen einen Mörder die Skizze einer Ekphrasis,40 die der
38 »[A]t quo modo fiet, ut adficiamur? neque enim sunt motus in nostra potestate. […] quas
φαντασίαι Graeci vocant (nos sane visiones appellemus),per quas imagines rerum absentium ita
repraesentantur animo ut eas cernere oculis ac praesentes habere videamur, has quisquis bene
conceperit, is erit in adfectibus potentissimus.[….] nisi vero inter otia animorum et spes inanes
et velut somnia quaedam vigilantium ita nos hae, de quibus loquor, imagines prosequuntur, ut
peregrinari, navigare proeliari […]. hoc animi vitium ad utilitatem non transferemus? hominem
occisum queror: non omnia, quae in re praesenti accidisse credibile est, in oculis habebo? non
percussor ille subitus erumpet? non expavescet circumventus? exclamabit vel rogabit vel fugiet?
non ferientem, non concidenten videbo? non animo sanguis et pallor et gemitus, extremus de-
nique exspirantis hiatus insident? insequentur ένάργεια, quae a Cicerone inlustratio et evidentia
nominatur, quae non tam dicere videtur quam ostendere, et adfectus non aliter, quam si rebus
ipsis intersimus sequentur.« (Quint. inst. VI. 2, 29–32; zit. nach Quintillian/Rahn [Anm. 25], Bd. 1,
S. 708–711; die Erläuterungen in einfachen Klammern stehen so in Rahns Übersetzung.
39 Selbst in der grundlegenden Studie von Bernhard F. Scholz: Ekphrasis and Enargeia in
Quintilian’s Institutionis oratoriae libri xii. In: Peter L. Oesterreich, Thomas O. Solane (Hgg.): Rhe-
torica movet. Studies in Historical and Modern Rhetoric in Honour of Heinrich F. Plett. Leiden,
Boston, Köln 1999, S. 3–24, wird diese Passage nur sehr knapp zitiert (S. 20) und nicht themati-
siert, dass Enargeia hier nicht als Wirkung eines Textes aufgefasst ist, sondern als Voraussetzung
für mitreißende actio (wobei freilich in der gelungenen Rede beides zusammenwirkt).
40 Wie im Fall der urbs-capta-Passage werden dabei effektvoll die Aktionen von Täter(n) und
Opfer(n) kontrastiert.
»Grief’s true picture« − Enargeia als intermediales Konzept 67
Redner nicht nur körpersprachlich, sondern auch als Text auszuführen hätte;
inventio und actio scheinen also in gleicher Weise dem Gesetz der Selbstaffizie-
rung zu unterliegen.
Allerdings ist daran zu erinnern, dass jenes Eingangszitat dieses Teilkapitels,
das die Gebärdensprache des Redners mit der von gemalten Figuren vergleicht
(ohne explizit den Begriff Enargeia zu verwenden), dem eigentlichen actio-Kapitel
XI.3 entstammt und dass dieses Kapitel nicht nur glaubwürdigen Affektausdruck
durch Selbstaffizierung empfiehlt (Quint. inst. XI.3.62), sondern komplementär
dazu ein hohes Maß an Selbstkontrolle. Ohne sie nämlich würde dem Vortrag »die
kunstvolle Gestaltung« (ars) fehlen,41 um die es denn auch in diesem Kapitel mit
seinen detaillierten Anweisungen zu Körpersprache und Deklamation vor allem
geht.
Nun war Quintilians Ausbildung des Redners der wichtigste Bezugspunkt für
die Schauspielkunst der frühen Neuzeit.42 Sie orientierte sich einerseits an seinen
Hinweisen zur Gestaltung von Körpersprache und Deklamation, woran etwa
Hamlets Ermahnung einer Schauspieltruppe die Schauspieler erinnert (Hamlet
III.2). Andererseits orientiert sie sich an der Methode der Selbstaffizierung, was
schließlich zum Modell vom ›Empfindungsschauspieler‹ oder ›heißen Schau-
spieler‹ führt, das im 18. Jahrhundert mit dem Modell des ›kalten Schauspielers‹
konkurriert.43 Für die Shakespeare-Zeit wird dieser Aspekt greifbar, wenn man
eine weitere Passage aus der Institutio oratoria mit einer Passage aus dem Hamlet
vergleicht. Quintilian erzählt, er habe oft erlebt,
daß Schauspieler und Komödianten, nachdem sie nach einem ernsteren Auftritt die Maske
abgelegt hatten, noch weinten, wenn sie hinaustraten. Wenn aber bei Stücken, die andere
geschrieben haben, allein schon das Vortragen nur durch erdichtete Gefühle eine solche
Bewegung mit sich bringt, was werden wir erst tun, die wir darauf sinnen müssen, wie wir
uns in den Stand setzen, so gerührt zu werden, als wären wir die vom Prozeß Bedrohten
selbst?44
Hier parallelisiert Quintilian also ausdrücklich die actio von Schauspielern und
Rednern, schreibt aber den Rednern eine größere Gefährdung zu, weil sie nicht
geschützt sind durch den fiktionalen Status eines Rollentextes. Wie ein Echo
darauf erscheint Hamlets Reaktion auf die Deklamation des First Player einer
Schauspieltruppe:45
Was Hamlet hier kommentiert, ist ein Hybrid aus actio und acting: Der First Player
deklamiert nämlich eine elaborierte Ekphrasis vom Typ urbs capta. Es geht um
deren Urmodell, die Zerstörung Trojas, deren Horror sich konzentriert in der
Abschlachtung des greisen König Priamos durch Pyrrhus, den Sohn des Achill.47
Unmittelbar bevor Priamos ermordet wird, stellt die Ekphrasis einen Moment vor
Augen, der aus intermedialer Perspektive besonders bemerkenswert ist: Abge-
lenkt vom Zusammenkrachen der trojanischen Burg, erstarrt Priamos’ Mörder,
das Schwert bereits zum tödlichen Streich erhoben, mitten in der Bewegung und
suissent, flentes adhuc egredi. quod si in alienis scriptis sola pronuntiatio ita falsis accendit ad-
fectibus, quid nos faciemus, qui illa cogitare debemus, ut moveri periclitantium vice possimus?«
(Quint. inst. VI. 2, 35; Quintillian/Rahn [Anm. 25], Bd. 1, S. 712 f:, vgl. bereits Cicero: De oratore
III.215.)
45 Roach (Anm. 42), S. 44 f. bringt diese Passage ausdrücklich mit dem Wirken von Enargeia in
Verbindung, erläutert sie aber auch vor dem Hintergrund der Pneuma-Lehre (ebd., 45 f.).
46 Ham. II.2. 545–559; zit. nach William Shakespeare: Hamlet. Hg. von Harold Jenkins. Arden
Edition. London [1982] 22001, S. 269 f.
47 Ich orientiere mich vor allem an Harry Levin: An Explanation of the Player’s Speech [1959].
In: Harold Bloom (Hg.): William Shakespeare’s Hamlet. Modern Critical Interpretations. New
York, New Haven, Philadelphia 1986, S. 29–44; siehe auch Samuel Leslie Bethell: Die Rede des
Schauspielers und Hamlet als Theaterkritiker [1944]. In: Erzgräber (Anm. 10), S. 191–200; Arthur
Johnston: The Player’s Speech in Hamlet. In: Shakespeare Quarterly 13 (1962), S. 21–30.
»Grief’s true picture« − Enargeia als intermediales Konzept 69
bietet den Anblick eines »painted tyrant«.48 Damit ist die für Malerei bezeich-
nende Starre, von der schon Quintilan spricht, eingedrungen in die Abfolge der
›szenischen‹ Aktion und verbindet Enargeia und thrill.49
Umso ›enargischer‹ wirkt dann die Erzählung der Ermordung selbst, zumal
sie gestaltet wird aus der Perspektive der von Hamlet erwähnten Gemahlin des
Priamos, Hekuba, die barfuß und in ein Laken gehüllt ansehen muss, wie ihr
Mann zerstückelt wird.50 Hekuba ist das anschauliche Konzentrat des Jammers,
und so heißt es denn auch, dass ihr Anblick sogar die Götter hätte rühren können,
wenn diese geruht hätten, auf sie den Blick zu wenden.51 Auch wenn die Götter
auf der Ebene der vorgetragenen Erzählung ungerührt bleiben – auf der Ebene
des Dramas spiegelt sich Hekubas Jammer in der Mimik des First Player und über-
trägt sich auf die Mimik Hamlets, so dass Polonius befiehlt, den Vortrag abzu
brechen.52
The Player’s Speech ist also eine Ekphrasis nicht im Sinne von Kunst
beschreibung, sondern im ursprünglichen Sinne von Beschreibungskunst, in die
jedoch, mit Irina O. Rajewsky gesprochen, ein expliziter ›intermedialer Bezug‹
mit ›expliziter Systemerwähnung‹ eingelassen ist.53 Gewissermaßen spiegelbild-
lich dazu verhält sich eine Passage aus Shakespeares Erzählgedicht Lucrece von
1594.54 Lucretia, so die Rahmenhandlung, wartet verzweifelt auf ihren Ehemann
Ähnlich wie in Philostrats Beschreibung eines Bildes von Themistokles als Redner
wird betont, dass die Rede zwar nicht vernehmbar, ihr Sinn aber körpersprach-
lich erschließbar ist.56 Lucretia aber lässt sich nicht von der stummen Kriegs-
rhetorik des alten Mannes ergreifen, sondern von der stummen Kriegsanklage
Hecubas, die in diesem Fall auf die Wunden des bereits erschlagenen Priamos
starrt: In ihr, heißt es, habe der Maler »anatomiz’d / Time’s ruin, beauty’s wrack,
and grim care’s reign«.57 Die Betrachterin ist zwar eine junge Frau, erkennt aber
die eigene Gewalterfahrung im Bild wieder; die Einfühlung in die gemalte Figur
bewegt sie enargisch zur Klage, die das ergänzt, was der ›schweigenden Dich-
tung‹ des Bildes fehlt: »So Lucrece set a work, sad tales doth tell / To pencillʼd
pensiveness and colourʼd sorrow; / She lends them words, and she their looks
doth borrow.«58
Noch mehr jedoch versetzt sie eine Figur außer sich, die man im weiteren
Sinn als Schauspieler bezeichnen kann: Der gefangene Grieche Sinon täuscht die
Trojaner durch seine Mimik und überredet sie, das trojanische Pferd in die Stadt
tress is Stell’d«: Enargeia, Ekphrasis, and Mourning in The Rape of Lucrece and the Aeneid. In:
Comparative Literature 54 (2002), S. 97–126; Catherine Belsey: Invocation of the Visual Image.
Ekphrasis in Lucrece and Beyond. In: Shakespeare Quarterly 63 (2012), S. 176–198.
55 Luc. 1401–1407, hier wie im Folgenden zit. nach: William Shakespeare: The Poems, hg. von
E. T. Prince. Arden Edition, London 1960, hier S. 132.
56 Vgl. Philostr. imag. I.31.4bd: Der Bilddeuter schließt aus der Miene des Dargestellten und den
Reaktionen seiner Hörer sogar, dass Themistokles Persisch spricht. Nestors Worte lassen sich
ergänzen aus Hom. Ilias II., 337–398.
57 Luc. 14450 f., Shakespeare (Anm. 55), S. 132.
58 Luc. 1496–1498, ebd.
»Grief’s true picture« − Enargeia als intermediales Konzept 71
Hier kann nur kurz darauf verwiesen werden, dass im Hamlet Ähnliches
geschieht, wenn der Held sich über die Täuschungskunst des Claudius empört
(Ham. I. V.106–109) und ihn schließlich in seine ›Mausefalle‹ lockt (Ham. III.2.234;
vgl. II.2.588–590;), die darin besteht, dass er die Höflinge zu ›Zuschauern‹ eines
Spiels macht, dessen Plot er als ›Hörer‹ der väterlichen Mord-Ekphrasis aufge-
nommen hat.
4 D
er dargestellte darstellende Affektkörper:
Noch einmal die Elegie auf Richard Burbage
Im Lucrece-Gedicht wird die Enargeia des von Lucretia betrachteten Bildes in den
Versen komprimiert: »A thousand lamentable objects there, / In scorn of nature,
art gave lifeless life«;62 die Burbage-Elegie – es sei noch einmal zitiert – klagt:
»He’s gone and with him what a world are dead, / Which he reviv’d, to be revived
so / No more« (13 f.). Hier liegt eine zusätzliche Pointe darin, dass der Verleben-
diger nun tot ist; somit hat das Gedicht die Aufgabe, ihn wiederum zu verleben-
digen. Dies geschieht nun auch, und zwar in einer Weise, die deutlich an die
Technik der intermedialen Metalepse erinnert:
Wie im Fall Philostrats und Hamlets suggeriert hier die intermediale Metalepse ein
Umkippen ästhetischer Illusion – zu der ja immer ein Bewusstsein für das ›Als-
ob‹ der Darstellung gehört – in tatsächliche Illusion, tatsächliche Täuschung.63
Zudem wird das Wortfeld des ›Wiederbelebens‹ durch das Adjektiv »lively« fort-
geführt. Die Schraube der Paradoxie wird insofern noch eine Umdrehung weiter-
getrieben, als das, was Burbage offensichtlich besonders überzeugend ›verleben-
digen‹ konnte, das Sterben war. In einer letzten Umkehrung wird dieses Paradox
nochmals auf den Anlass dieses Gedichtes zurückbezogen:
Hier wird Enargeia besonders deutlich in den Dienst der hyperbolischen laudatio
gestellt, der die verbale Evokation von Burbages Kunst letztlich untergeordnet
ist. In den folgenden Versen wird diese Priorität durch eine Umakzentuierung
des Wortes ›to act‹ unterstrichen, und zwar in Abgrenzung zu ›play‹: Burgbage
›spielt‹ Roscius, den größten Schauspieler Roms, nicht, sondern ›agiert‹/wirkt als
Wiederverkörperung dieses Vor-Bilds:
Immerhin ist auch von Roscius nur bekannt, dass er der größte Schauspieler Roms
gewesen sein soll, nicht jedoch, inwiefern.64 So könnte mit der Apotheose Bur-
bages als neuer Roscius das Gedicht durchaus sinnvoll enden. Doch folgen nun
einige Verse, die sich einem besonderen Aspekt von Schauspielkunst widmen,
nämlich der Rezitation in ihrem Verhältnis zur Körpersprache:
Burbage artikuliert jedes Wort also mit genau dem ›Gewicht‹, das ihm innerhalb
der Rede zukommt; mit dem Ausdruck der Rede wiederum korrespondieren Gang
und Gestik. Wie Hamlets Ratschläge für die Schauspieler bewegt sich dieses Lob
im Rahmen von Quintilians actio-Lehre, orientiert an aptum und decorum.65 Die
folgenden Verse schreiben der Deklamation aber noch die zusätzliche Qualität
des ›Bezaubernden‹ zu und beziehen sie wiederum auf ein Publikum, genauer
gesagt, einen Zuhörer, der allegorischen Status besitzt: den Tod.
64 Zu Gallus Quintus Roscius siehe Horst-Dieter Blumes Artikel in Hubert Cancick u. a. (Hgg.):
Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 10: Pol–Sal. Stuttgart 2001, Sp. 1136 f.
65 »Suit the action to the word, the word to the action, with this special observance, that you
o’erstep not the modesty of nature.« (Ham. III.2, 17 ff.; [Anm. 46], S. 297); vgl. Quint. inst. XI.3.14.
74 Rüdiger Singer
Der Text entwirft eine ›Szene‹, in der deklamierender Schauspieler und allegori-
sierter Tod als Antagonisten aufeinandertreffen, spielt also mit einer strukturel-
len Analogie, die noch für Mimen-Ekphrasen und grafische Darstellungen von
Schauspielkunst im 18. Jahrhundert bedeutsam ist:66 Personalallegorien ›verkör-
pern‹ Abstrakta, Schauspieler ›verkörpern‹ Rollen, und diese Rollen wiederum
können, wie im Fall des englischen morality play vom Everyman aus dem späten
15. Jahrhundert, auch Personalallegorien sein. Nun sind Personalallegorien auf
der Bühne allerdings typisch für die »Spielillusion« der mittelalterlichen Bühne
und wurden im Zeichen voranschreitender »mimetischer Illusion« zurückge-
drängt.67 Doch bleiben Spuren davon auch bei Shakespeare erhalten; man denke
an den Sommernachtstraum oder den Sturm.68
Wahrscheinlich ist außerdem, dass hier auf die Gattung des Totentanzes
angespielt wird, in dem ja der Tod die Vertreter verschiedener Stände aus dem
Leben reißt. Totentänze sind üblicherweise ein Gemeinschaftswerk beider
›Schwesterkünste‹;69 zudem klingt die Verbindung zu einer medienkombinato-
rischen Gattung an, die deutliche Spuren im elisabethanischen Drama hinter-
lassen hat, nämlich dem Emblem.70 Hier wird es zum einen aufgerufen durch
das Bild der Zunge: Sie steht in Emblemen typischerweise für die Wirkung des
gesprochenen Wortes und erscheint dabei in der Regel vom Körper getrennt;71
66 Man denke nur, um lediglich die berühmtesten Beispiele zu nennen, an Joshua Reynoldsʼ
Gemälde David Garrick between Tragedy and Comedy (1760) und Mrs Siddons as the Tragic Muse
(1784), siehe dazu Shearer West: The Image of the Actor. Verbal and Visual Representation in the
Age of Garrick and Kemble. New York 1997, S. 42; 113–115; Ian McIntyre: Joshua Reynolds. The Life
and Times of the First President of the Royal Academy. London 2003, S. 127 f., 416 f.
67 Siehe Wolf (Anm. 17).
68 Siehe Ingrid Landau: Das allegorische Modell in Shakespeares Sommernachtstraum und an-
deren Dramen bis 1600. Bebra 1992.
69 Die anhaltende Popularität dieser Bildgattung in England weit über das Mittelalter hinaus
bezeugt beispielsweise Thomas Rowlandsons Zyklus The English Dance of Death von 1814–1816
(Norbert Jung ([Hg.]: Vom Ende der Zeit. Totentanz im Wandel der Geschichte. Diözesanmuseum
Bamberg. Begleitband zur Sonderausstellung. Münsterschwarzach 2011, S. 73–79), der Karikatur
und Totentanz-Tradition verbindet. Hier findet sich insofern ein Bezug zur Bühne, als der Zyklus
durch die Abholung von Commedia-dell’Arte-Darstellern eröffnet wird: »Behold the signal of Old
Time: / That bids you close your Pantomime« (ebd., 73). Der Zyklus ist durch Hans Holbeins
Totentanz-Zyklus angeregt, der ab 1538 in Buchform erschien.
70 In der Elegy fehlt zwar eine Bebilderung, doch waren die Übergänge fließend, insofern es
auch sogenannte Emblemata nuda gab, d. h. bildlose Embleme (siehe Gilbert Heß: Text und Bild
in der frühen Neuzeit: Die Emblematik. In: Torsten Hoffmann, Gabriele Rippl (Hgg.): Bilder – ein
neues Leitmedium? Göttingen 2006, S. 168–190, hier 172.)
71 Siehe die Beispiele in Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hgg.): Emblemata. Handbuch zur
Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1967, Sp. 1007.
»Grief’s true picture« − Enargeia als intermediales Konzept 75
72 Siehe Carla Mazzio: Sins of the Tongue. In: David Hillman, C. M. (Hgg.): The Body in Parts.
Fantasies of Corporeality in Early Modern Europe. New York, London 1997, S. 52–79.
73 Vgl. Henkel, Schöne (Anm. 71), Sp. 276 f.
74 Hingewiesen sei nur auf die Parallelität des Gesamtaufbaus bezüglich der menschlichen
Adressaten (zunächst wird jeweils dekretiert, sie sollten ihre Tätigkeit gänzlich beenden, dann
wird dieses Verdikt gemildert) und auf die Formulierung, durch den Tod Burbages in der Fasten-
zeit werde »Lent / […] more lenten« (V. 62 f.).
II Musikalische Intermedialität
Florian Mehltretter
Maske und Performanz –
Zum intermedialen Charakter der
italienischen Madrigaldichtung zwischen
Trecento und Cinquecento
Zweifellos ist das Madrigal in der Frühen Neuzeit ein historisch spezifischer Fall
von Intermedialität; er ist insofern geeignet, Intermedialitätskonzepte zu histori-
sieren. Ich möchte nun in diesem Beitrag zeigen, dass die Theorie und Praxis des
Madrigals der italienischen Renaissance sogar in sich eine historische Differenz
zwischen zwei diachronisch zu unterscheidenden Madrigalpraxen zu bewältigen
versucht: Sie ist also auch epochenintern nochmals zu historisieren. Dies wird, so
meine ich, unmittelbar greifbar in der wohl wirkmächtigsten volkssprachlichen
Poetik des Cinquecento, Pietro Bembos Prose della volgar lingua von 1525:
Freie Gattungen sind die, die keinerlei Beschränkungen in Verszahl oder Reimschema
unterliegen, sondern von jedem nach Gutdünken geformt werden können; und diese nennt
man allgemein Madrigale, entweder weil man in dieser selbst losen und materialhaften
Versgattung anfangs über materielle und grobe Dinge sang; oder weil jene Leute in dieser
Weise mehr als in anderer über Hirtenliebe und andere Waldesereignisse redeten, so wie
die Lateiner und Griechen in ihren Eklogen, wobei sie den Namen für diese Liedform von
den Herden [mandre] abgeleitet haben könnten; obwohl es allerdings auch eine andere Art
von Madrigalen gibt, die nicht ganz so regellos geformt ist wie ich es eben dargelegt habe.1
Das Madrigal ist also nach Bembos Auskunft das Musterbeispiel für eine struktu-
rell – und das heißt hier vor allem: metrisch – freie Gattung. Dies wird als Kunstlo-
sigkeit interpretiert und durch einen bukolischen Ursprung erklärt. Sodann muss
Bembo zugeben, dass es auch in sich regelmäßig geformte Madrigale gibt, die
wohl geeignet wären, seine Theorie des freien Madrigals zu widerlegen. Dieser
Widerspruch ergibt sich daraus, dass die Dichter des frühen 16. Jahrhunderts,
insbesondere Bembo selbst, eine Madrigalform etabliert haben, die ohne jede
Stollensymmetrie eine fast beliebige Zahl frei gereimter Sieben- und Elfsilbler
kombiniert. Die Madrigale desjenigen aber, den Bembo in ebendieser Schrift als
den Musterautor volkssprachlicher Poesie etablieren will, sind in strenger Stol-
lensymmetrie aus regelmäßigen piedi und einer volta zusammengesetzt. Dieser
1 Übersetzung: F. M. nach: Pietro Bembo: Prose e Rime. Hg. von Carlo Dionisotti, Turin 1960,
S. 152.
DOI 10.1515/9783110521788-005
80 Florian Mehltretter
Musterautor ist natürlich niemand anders als der lyrische Klassiker des 14. Jahr-
hunderts, Francesco Petrarca. Bembo versucht die Differenz zwischen der ihm
zeitgenössischen Praxis und der historisch älteren Norm, die Petrarca repräsen-
tiert, nicht diachronisch zu erklären, sondern als synchronische Varianz auszu-
weisen. Ich will nun im Gegensatz zu Bembo diese Differenz herauspräparieren,
bevor ich zum Umgang des 16. Jahrhunderts mit diesem Problem zurückkehre.
Ausgehen möchte ich von der Ursprungserzählung, die in Bembos Zeilen
steckt: Der Begriff Madrigal verweist demnach entweder auf die erwähnte Regel-
losigkeit oder Ungeformtheit der Gattung, der sozusagen nach dem Aptumsprin-
zip dann auch eine rohe, unbehauene Thematik entsprechen würde. Oder er geht
auf den bukolischen Charakter des Genres zurück und ist aus dem italienischen
Wort für ›Herde‹, mandra, entstanden. In dem Falle wäre das Madrigal ein Schä-
fergedicht. Jedenfalls neigt es zum niederen, schlichten Stil. Diese Einschätzung
entspricht, wie übrigens schon Massini 1588 bemerkt, nicht unbedingt der tat-
sächlichen Praxis des 16. Jahrhunderts. Sie ist vielmehr Bestandteil einer poeto-
logischen Tradition.2
1509, also 16 Jahre vor Bembos Prose, wurde in Venedig ein Traktat aus der
Mitte des vierzehnten Jahrhunderts gedruckt, der bis zu diesem Erstdruck in
zahlreichen Handschriften zirkulierte: Antonio Da Tempos Summa Artis Rithimici
Vulgaris Dictaminis. Dort wird das Madrigal charakterisiert durch eine aus heuti-
ger Sicht eigenartige Kombination von musikalischer Komplexität und textlicher
Ländlichkeit:
Das Madrigal leitet seinen Namen von der Schafherde mit ihren Hirten ab, denn anfangs
rührt diese Weise des Reimens und Singens von den Schafhirten her. Denn die Hirten
haben, wie es Bauerntölpeln und groben Menschen ansteht, zunächst über die körperliche
Liebe grobe Worte zusammengestellt und sie in grober Weise gesungen und mit ihren Flöten
begleitet, und zwar natürlich, wenngleich die Madrigale heute subtiler und schöner von
den Dichtern abgefasst werden. […] Aber der Klang des Madrigals muss nach heutiger Sing-
weise schön sein, wobei er im Gesang einige ländliche oder madrigalhafte Teile aufweisen
soll, damit der Gesang mit den Worten übereinstimmt. Und damit er diesen schönen Klang
hat, muss er mindestens von zwei Leuten in verschiedenen zusammen passenden Stimmen
gesungen werden.3
2 Vgl. allgemein die Argumentation zum Madrigal bei Filippo Massini: Il Madrigale. In: Lettioni
dell’Estatico Insensato, Recitate da lui publicamente in diversi tempi nell’Accademia de gli In-
sensati di Perugia. Nuovamente poste in luce. Perugia 1588. Außerdem: Madrigal und Ballata.
In: Bernhard Huss, Florian Mehltretter, Gerhard Regn: Lyriktheorie(n) der italienischen Renais-
sance. Berlin 2012 (Pluralisierung & Autorität; 30). S. 207–232.
3 Übersetzung F. M. nach: Antonio Da Tempo: Summa artis rithimici vulgaris dictaminis. Hg.
von Richard Andrews. Bologna: Commissione per i testi di lingua 1977 (Collezione di Opere
Inedite o Rare; 136), S. 70 f.
Maske und Performanz 81
Diese letzte Angabe scheint für die Gattung entscheidend: Das Madrigal ist poly-
phon, zwei- oder mehrstimmig. Es erhält damit eine ganz bestimmte Systemstelle
im Gefüge der metrischen Gattungen des Trecento. Dieses System könnte man
als Viererkonstellation nach medialen Gesichtspunkten beschreiben, die nach Da
Tempo für das vierzehnte Jahrhundert folgende Formen differenziert:
1. Die Canzone als – zumindest in der Theorie – einstimmig gesungene Gattung.
2. Das Sonett, definiert als gesprochene Gattung.
3. Das Madrigal als mehrstimmig gesungene Gattung.
4. Die Ballata als einstimmig gesungene und getanzte Form.
Einerseits soll nach Da Tempo also der Text des Madrigals von der angeblichen
rustikalen Urszene der Gattung noch niedere, grobe Formulierungen bewahren;
andererseits dichten auch die zeitgenössischen Dichter bereits subtiler. Die Musik
wird dabei unmissverständlich auf die avancierteste Faktur der zeitgenössischen
Musik festgelegt: eben die Polyphonie. Es handelt sich also um ein zumindest
auf den ersten Blick widersprüchliches Konzept von so etwas wie rustikaler
Höhenkammkunst. In dem dadurch aufgespannten oxymoralen Rahmen bewegt
sich die gesamte poetologische Diskussion der Hoch- und Spätrenaissance, von
Bembo über Minturnos Poetica4 bis hin zu Filippo Massinis Traktat über das
Madrigal von 1588. Wie kommt es dazu?
Ein möglicher Erklärungsansatz wäre folgender: Der pastorale Ursprung ist
nur ein Topos, der mehr mit Mythen über den Ursprung von Lyrik und Gesang zu
tun hat als mit historischer Wirklichkeit. Es könnte sich (diesem Ansatz zu Folge)
beim Madrigal von Anfang an um ein Kunstprodukt handeln, dem nur aufgrund
dieser pastoralen Topik eine Option auf den stilus humilis beigegeben ist. Diese
Erklärung ist mir sehr sympathisch, aber sie scheint mir zu schwach, um etwa
Da Tempos komplexes Hin- und Herargumentieren angemessen zu erklären. Wir
müssen diese Hypothese etwas modifizieren, und zu diesem Zweck möchte ich
nochmals einige Jahrzehnte zurückgehen. Die erste heute bekannte Erwähnung
einer Variante unseres Madrigalbegriffs findet sich in einem Text von ca. 1310, den
sogenannten Documenti d’amore von Francesco da Barberino. Es handelt sich um
einen Selbstkommentar zu eigenen Dichtungen, und in diesem taucht an einer
Stelle eine kleine Poetik volkssprachlicher Gattungen auf. Francesco definiert
in diesem Zusammenhang eine Form namens voluntarium, und das Madrigal ist
anscheinend eine Spielart davon: »[…] voluntarium est rudium inordinatum con-
4 Antonio Sebastiano Minturno: Dell’arte poetica. Venetia: Per Gio. Andrea Valvassori, 1564.
Nachdruck München 1971 (Poetiken des Cinquecento; 6). Zu den anderen Quellen vgl. Anm. 1
und 2.
82 Florian Mehltretter
cinium. ut matricale et similia.«5 Wichtig scheint mir, dass hier die pastorale Stili-
sierung noch gar nicht vorhanden ist. Wohl aber scheint in dem Begriff concinium
bereits eine Option auf polyphones Zusammen-Singen zu stecken, und zwar –
wie es der Begriff voluntarium suggeriert – in Form einer Art von Improvisation;
deswegen wohl auch inordinatum. Wir wissen nicht, wie sich das angehört hat.
Ich will nur einige Vermutungen aufstellen:
Es ist denkbar (und wurde vielfach vermutet), dass die Entwicklung der
Mehrstimmigkeit in Europa im Zusammenhang steht mit Improvisationspraxen,
etwa über einen bekannten und daher vorhersehbaren Tenor. Eine solche Praxis
muss, da sie zunächst ohne Schriftlichkeit auskommt, nicht notwendig gelehrt
sein; sie kann in bestimmten lokalen Konstellationen sogar volkstümlich sein, in
anderen vielleicht nicht.6 Aber in dem Augenblick, in dem eine solche Impro-
visation niedergeschrieben wird, vor allem wenn dies unter Berücksichtigung
ihrer rhythmischen Struktur geschieht – also in Mensuralnotation – in diesem
Moment wird eine solche potentiell volkstümliche Praxis bereits aus medialen
Gründen zu einer gelehrten Buchpraxis. Niedergeschriebene Polyphonie erfor-
dert sofort ein hohes Maß an musikalischer Alphabetisierung. Im Moment der
Verschriftlichung wird aus solchen Improvisationsformen ein raffiniertes Kunst-
produkt. Aber die Erinnerung an die improvisierenden, vielleicht sogar populä-
ren Anfänge wird in dieses neue Medium übertragen. Die Gattung mythisiert oder
transponiert sozusagen ihre medialen Ursprünge, seien diese nun historisch real
oder nur imaginär. Was nun aber vorher die inhärente Regularität einer Impro-
visationspraxis gewesen sein könnte, wird im Moment der Verschriftlichung zu
einer expliziten poetologischen Norm wie sie Antonio Da Tempo zu formulieren
versucht: Der Dichter soll grobe Worte verwenden, wenngleich die Komposition
in subtiler Harmonie erklingt. Das Bukolische könnte dann im Sinne der Rota
Virgilii als thematisches Korrelat des niederen Stils quasi nachträglich hinzuge-
kommen sein. Die poetologische Normierung erzeugt mithin eine genretypische
Semantik, die sozusagen das mediale Gedächtnis der neuen Gattung ist. Diese
bukolische Semantik ist allerdings nicht ganz leicht mit dem edlen, erlesenen
Klagegestus Petrarcas zu vereinbaren; und Petrarcas Canzoniere ist ja der fundie-
rende Text der frühneuzeitlichen Liebeslyrik nicht nur in Italien.
Um zu sehen, wie diese Kluft bei Petrarca überbrückt wird, sehen wir uns das
erste der vier kanonischen Madrigale aus dem Canzoniere an. Die Musik stammt
5 Francesco Da Barberino: Documenti d’amore. Hg. von Francesco Egidi. 4 Bde. Rom 1924. Bd. 2,
S. 263.
6 Zu dieser Problematik vgl. allgemein Elena Abramov-van Rijk: Parlar cantando. The practice of
reciting verses in Italy from 1300 to 1600. Bern, Frankfurt a. M., New York 2009.
Maske und Performanz 83
Non al suo amante piu Diana piacque, / quando per tal ventura tutta ignuda / la vide in
mezzo de le gelide acque, // Come la pasturella alpestra et cruda: / Fissa albagnare unlegia-
dretto uelo: / Chal sole allaura eluago capel chiuda, // tal che mi fece, or quand’egli arde ’l
cielo, / tutto tremar d’un amoroso gielo.7
Betrachten wir die Metrik in Relation zur Musik: Wir haben ein Gebilde aus zwei
Terzinen und einem Distichon. Die beiden Terzinen werden auf die gleiche Musik
gesungen, das Distichon hingegen auf eine andere. Es herrscht also Stollensym-
metrie. Die Textmenge ist relativ gering und die Syntax für Petrarcas Verhältnisse
übersichtlich. Dies steht eventuell im Zusammenhang mit der melismatischen
und zugleich polyphonen Vortragsweise: Weil die einzelnen Silben viele Noten
und also eine gewisse Dehnung erhalten, ist erstens in einer für damalige Praxis
üblichen Musikdauer nur eine begrenzte Textmenge unterzubringen und zwei-
tens der Abstand syntaktischer Einheiten nicht unbegrenzt vermehrbar, ohne
dass das Verständnis litte – zumal die Zweistimmigkeit zusätzlich eine gewisse
Unübersichtlichkeit generiert. Nicht nur die stilistisch eher abgesenkte Tradition
des Madrigals, sondern auch dessen spezifische Performanz-Situation des melis-
matischen polyphonen Vortrags erfordert also eine schlichte Textstruktur.
Ich möchte mich jetzt mit der Semantik dieses Textes befassen, und zwar
ausgehend von einem philologischen Detail. Diejenigen Leser, die Petrar-
cas Madrigal aus gedruckten Ausgaben des Canzoniere kennen, werden in der
Squarcialupi-Fassung, die wohl ein früheres Stadium des Textes widerspiegelt,
ein abweichendes Detail bemerkt haben. Die Squarcialupi-Fassung lässt sich wie
folgt übersetzen:
Mehr gefiel dem, der sie liebte, Diana nicht, / als er sie durch solches Los ganz nackt / sah
inmitten der eisigen Wasser, // als mir die berg-raue Hirtin, / die gerade einen anmutigen
Schleier wusch, / der vor Sonne und Wind ihr schönes Haar verschlösse, // so sehr, dass sie
mich, obgleich der Himmel brennt, / ganz in Liebesfrösteln erzittern ließ.
Die Situation, in der der Liebende eine Hirtin beim Waschen ihres Schleiers
sieht (das heißt also: mit entblößtem Haar) ist hyperbolisch vergleichbar mit
jener mythischen Situation, in der Actaeon Diana nackt im Bade sah und die,
wie wir aus dem Actaeon-Mythos wissen, eine tödliche ist: Actaeon wird von
seinen eigenen Hunden zu Tode gehetzt. In der Frühen Neuzeit las man dies oft
allegorisch in dem Sinne, dass denjenigen, der sich der Augenlust hingibt (oder
überhaupt erotischem Begehren), seine Begierden in den seelischen Untergang
treiben. Im Distichon wird ausgesagt, dass dieser Anblick der Hirtin, die ihren
Schleier wäscht, so stark und vielleicht auch so gefährlich für das Seelenheil des
Liebenden sei, dass er trotz des heißen Wetters erschaudere. Es handelt sich also
um ein Madrigal über eine Hirtin in anscheinend ländlicher Umgebung. Dies ent-
spricht unseren Erwartungen an die gattungsspezifische Semantik. Aber wieso
verbergen Hirtinnen eigentlich ihr Haar sittsam unter einem Schleier? Tun das
nicht eher Edelfräulein? Da wir bei Petrarca damit rechnen müssen, dass auch
das kleinste Detail mit Absicht gestaltet ist, liegt die Vermutung nahe, dass ein
Element dieser Konstellation uneigentlich gebraucht wird: Vielleicht ist der
Begriff pastorella hier metaphorisch.
Wenden wir uns zum Vergleich Petrarcas Textfassung letzter Hand im Codex
Vaticanus Latinus 3195 zu, die in den gängigen Ausgaben abgedruckt ist:
Non al suo amante piú Dïana piacque, / quando per tal ventura tutta ignuda / la vide in
mezzo de le gelide acque, // ch’a me la pastorella alpestra et cruda / posta a bagnar un
leggiadretto velo, / ch’a l’aura il vago et biondo capel chiuda, // tal che mi fece, or quand’egli
arde ’l cielo, / tutto tremar d’un amoroso gielo.8
Petrarca ändert nur wenig, und zwar in der zweiten Terzine. Statt »al sole e a
l’aura il vago capel chiuda« schreibt er nun: »all’aura il vago e biondo capel
chiuda.« Petrarca verstärkt hier lediglich eine Lesart, die schon in der musikali-
schen Fassung möglich, aber nicht wahrscheinlich ist: allaura kann sowohl ›vor
dem Wind‹ als auch ›für Laura‹, also dativisch für die Minnedame des Canzo-
niere, heißen. In dieser letzten Fassung, in der das Madrigal in den Gedichtzyklus
für Madonna Laura aufgenommen wird, wird die Lesart: ›Der Schleier würde
Lauras Haar verbergen‹ verstärkt, während die Lesart: ›Er würde das Haar der
Dame gegen die Witterung beschirmen‹ geschwächt wird. Dies geschieht, indem
einerseits die Sonne verschwindet, so dass die meteorologische Lesart nicht mehr
durch die Paarung von Sonne und Wind relevant gemacht wird, andererseits wird
in der Bestimmung des Haares als blond die dem Leser als blond bekannte Dame
Laura kognitiv fokussiert.
8 Zitiert nach: Francesco Petrarca: Canzoniere. Hg. von Marco Santagata. Mailand 1996, Nr. 52.
Maske und Performanz 85
Aber Laura ist, wie der Leser weiß, keine Hirtin. Das heißt: Die Bezeichnung
Lauras als Hirtin wird, wie wir schon vermuteten, metaphorisch. Ihre bergraue
Wesensart ist Metapher für ihr scheues und vielleicht auch grausames, jeden-
falls abweisendes Verhalten gegenüber dem Liebenden. Zugleich wird im Zuge
dieser allegorischen Einpassung der Episode in den Laura-Zyklus die moralische
Brisanz des Actaeon-Mythos auf die Höhe der Seelenheilsproblematik geholt,
die auch sonst im Canzoniere verhandelt wird. Dies wird unmittelbar greifbar in
den Veränderungen, die Petrarca zwischen der frühen und der späten Fassung
vorgenommen hat. Die ländliche Semantik des Madrigals wird also durch Alle-
gorisierung dem Niveau der Höhenkammliteratur angepasst, und dadurch wird
zugleich die Kluft zwischen den möglichen niederen Ursprüngen des ungeordne-
ten Zusammensingens und der hoch entwickelten Polyphonie, die wir tatsächlich
hören, geschlossen. Die Ursprünge der Polyphonie wirken nach in einer pastora-
len Semantik, die in der neuen gehobenen Stil- und Gegenstandsumgebung nur
noch uneigentlich präsent sein kann. Das Trecento-Madrigal setzt insofern seinen
Gegenständen eine pastorale Maske auf, die mit der polyphonen Performanz der
Gattung zusammenhängt. Nun verändert sich aber die Praxis des Madrigals vor
allem im Laufe des 15. Jahrhunderts; vor allem seine Systemstelle in der Mediali-
tät der lyrischen Gattungen ist spätestens in der Mitte des 16. Jahrhunderts eine
andere (vgl. Abb. 1).
einstimmig x x
esungen
g
mehrstimmig x x x
gesungen
getanzt x
gesprochen x x x
Abb. 1: Die Medialität des Madrigals im System der lyrischen Leitformen des 14. und
16. Jahrhunderts
Die Canzone nähert sich insofern dem Sonett, als sie nicht mehr gesungen wird.
Die Ballata nähert sich insofern dem Madrigal, als auch sie mehrstimmig wird –
und sogar das ursprünglich definierende Element des Tanzes einbüßt. Das Madri
gal ist damit nicht mehr eindeutig in einer von vier Positionen, sondern es teilt
eine von zwei Positionen in einer einfachen Opposition zwischen Gesungen und
Gesprochen mit der Ballata. Es wird medial unspezifisch, und damit ist es auch
86 Florian Mehltretter
Mandrialis
Cantati meco, inamorati augelli, / poiché vosco a cantar Amor me invita; / e voi, bei rivi e
snelli, / per la piagia fiorita / teneti a le mie rime el tuon suave. // La beltà de che io canto
è sì infinita / che il cor ardir non have / pigliar lo incargo solo, / ché egli è debole e stanco,
e il peso è grave. // Vagi augelleti, voi ne giti a volo / perché forsi credeti / che il mio cor
senta dolo, / e la zoglia che io sento non sapeti. // Vaghi augeleti, odeti: / che quanto gira
9 Vgl. Kurt von Fischer, Gianluca D’Agostino, James Haar: Art. ›Madrigal‹. In: Stanley Sadie (Hg.):
New Grove Dictionary of Music and Musicians. London 2001, Bd. 15, S. 545: »There is no connec-
tion between the 14th- and the 16th-century madrigal other than that of name.« Vgl. auch Dorothea
Baumann, James Haar: Art. ›Madrigal‹. In: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und
Gegenwart. Kassel 1998, Bd. 5, S. 1542–1569; Alfred Einstein: The Italian Madrigal, Princeton/
New Jersey 1949. Ulrich Schulz-Buschhaus: Das Madrigal. Zur Stilgeschichte der italienischen
Lyrik zwischen Renaissance und Barock. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1969 (Ars poetica. Texte
und Studien zur Dichtungslehre und Dichtkunst; 7).
Maske und Performanz 87
in tondo / il mare e quanto spira zascun vento, / non è piacer nel mondo / che aguagliar se
potesse a quel che io sento.10
Wir können uns hier nicht mit dem Inhalt des Textes befassen; es soll vielmehr
(wie gesagt) um die Metrik gehen. Hier ist Folgendes festzuhalten: Die vier Teile
der Binnengliederung dieses Madrigals sind völlig unterschiedlich gebaut,
sowohl was die Verteilung der Lang- und Kurzverse als auch was die Verszahlen
und die Reimordnung betrifft. Im Gegensatz zum stollensymmetrischen Trecen-
tomadrigal würde ein solches Gedicht keine Wiederholung eines musikalischen
Abschnittes erlauben. Man kann das damit erklären, dass der genaue Bau eines
Madrigals einfach nicht mehr allgemein bekannt war. Oder man könnte vermu-
ten, der Abbau der Stollensymmetrie des Madrigals stehe in Zusammenhang mit
der seit Petrarca zu konstatierenden Tendenz zur Reduktion von Symmetrien im
Abgesang der Canzonenstrophe (die in einer genetisch begründeten Äquivalenz-
relation zum Madrigal steht). In jedem Fall wird die Form weniger symmetrisch,
steht aber noch in einer Ähnlichkeitsbeziehung zu den klassischen Prätexten.
Dies gilt es im Auge zu behalten.
Gehen wir 35 Jahre weiter, zur Erstausgabe der Asolani von Pietro Bembo im
Jahre 1505. Noch bevor es zu den das Buch hauptsächlich einnehmenden drei Dia-
logen über die Natur der Liebe im Garten der Königin von Zypern zu Asolo kommt,
erleben die Leser dieses Buches eine gattungspoetologisch interessante Musik-
szene nach dem königlichen Bankett. Zunächst treten zwei Hofdamen auf, die mit
Lautenbegleitung jede ein Lied singen. Dann tritt die Lieblingsdame der Königin
vor und trägt mit Begleitung einer Streichviella ein weiteres Vokalstück vor. Und
nun heißt es im Text, dieses neue Lied habe so sehr gefallen, dass die anderen
beiden im Vergleich dazu wie erloschene und erkaltete Kohlen wirkten. Ich gebe
die drei Texte in der innerfiktionalen Reihenfolge ihres Erklingens wieder:
1.
Io vissi pargoletta in festa e ’n gioco, / De’ miei pensier, di mia sorte contenta: / Or sì m’af-
flige Amor e mi tormenta, / Ch’omai da tormentar gli avanza poco. // Credetti, lassa, aver
gioiosa vita / Da prima entrando, Amor, a la tua corte; / E già n’aspetto dolorosa morte: /
O mia credenza, come m’hai fallita. // Mentre ad Amor non si commise ancora, / Vide Colco
Medea lieta e secura; / Poi ch’arse per Iason, acerba e dura / Fu la sua vita infin a l’ultim’ora.
2.
Io vissi pargoletta in doglia e ’n pianto, / De le mie scorte e di me stessa in ira: / Or sì dolci
pensieri Amor mi spira, / Ch’altro meco non è che riso e canto. // Arei giurato, Amor, ch’a
te gir dietro / Fosse proprio un andar con nave a scoglio; / Così là ’nd’io temea danno e
cordoglio, / Utile scampo a le mie pene impetro. // Infin quel dì, che pria la punse Amore, /
10 Matteo Maria Boiardo: Amorum libri tres. Hg. von Tiziano Zanato. Turin 1998. I, 8.
88 Florian Mehltretter
Andromeda ebbe sempre affanno e noia; / Poi ch’a Perseo si diè, diletto e gioia / Seguilla
viva, e morta eterno onore.
3.
Amor, la tua virtute / Non è dal mondo e da la gente intesa, / Che, da viltate offesa, / Segue
suo danno e fugge sua salute. / Ma se fosser tra noi ben conosciute / L’opre tue, come là dove
risplende / Più del tuo raggio puro, / Camin dritto e securo / Prenderia nostra vita, che no ’l
prende, / E tornerian con la prima beltade / Gli anni de l’oro e la felice etade.11
Was macht das dritte Stück so viel attraktiver als die anderen beiden? Obwohl
es dafür im Rahmen der Bedeutungsökonomie der Asolani auch einen gewich-
tigen inhaltlichen Grund gibt,12 scheint mir hier ein Blick auf die Metrik inter-
essant, denn erstens wird auf der Handlungsebene der umgebenden Prosa eher
ästhetisch als inhaltlich argumentiert und zweitens haben die beiden abgeschla-
genen Darbietungen etwas gemeinsam, das sie genau von dem siegreichen Lied
unterscheidet: Die ersten beiden Texte sind strophisch und insofern auf Wie-
derholungssymmetrien hin angelegt. Das siegreiche Stück sieht hingegen recht
asymmetrisch aus. Es handelt sich um eine vereinzelte Canzonenstrophe. Ihr
Aufgesang lässt sich noch in Stollen einteilen, wenngleich das Reimschema zur
Symmetrie der Verslängen quer läuft. Der Abgesang ist nicht mehr symmetrisch
teilbar. Am Ende steht ein Paarreim wie er in der Theorie der Canzone als Combi-
natio bekannt ist. Aus dieser Form entwickelt sich in den ersten Jahrzehnten des
16. Jahrhunderts die neue Gattung des Cinquecento-Madrigals. Dabei wird auch
noch die potentielle Symmetrie der ersten Hälfte aufgegeben. Heraus kommt ein
metrisch völlig freies Gebilde aus Elf- und Siebensilblern mit freiem Reimschema,
das sogar Waisen enthalten darf; am Ende steht meist weiterhin ein Paarreim.
Dies ist aber im Lichte des oben Ausgeführten wiederum nicht völlig unerwartet,
denn einen Abbau der Symmetrie finden wir bereits in dem Gedicht von Boiardo.
Und in diesem Zusammenhang möchte ich nochmals kurz auf das anfangs ana-
lysierte Zitat aus Bembos Prose della volgar lingua zurückkommen. Wenn Bembo
dort die Freiheit des Madrigals betont, dann denkt er an diese neue Form, die er
selbst nicht nur durch die Asolani befördert hat, sondern vermutlich auch durch
seinen bislang noch nicht ganz erforschten Anteil an der Entwicklung des Madri-
gals in seinen römischen Jahren am Hof Leos X. Aber er möchte an der zumindest
durch den Namen (aber, wie wir nun wissen, auch durch eine gewisse Durch-
11 Pietro Bembo: Prose e Rime. Hg. von Carlo Dionisotti. Turin 1960. S. 318–319.
12 Die drei Lieder fassen im Sinne einer mise en abyme die Positionen der drei dann folgenden
Dialoge über die Liebe zusammen, die ersten beiden die letztlich abgewerteten Positionen der
Schmerzliebe und der sinnlichen Liebe, das dritte im Gegensatz dazu die durch die Inszenierung
des Dialoges (Bericht über Gespräch mit einem ehrwürdigen Eremiten, Anwesenheit der Köni-
gin) autorisierte Konzeption der neuplatonischen Liebe.
Maske und Performanz 89
gängigkeit der Entwicklung) suggerierten Kontinuität zwischen der alten und der
neuen Gestalt festhalten.
Springen wir von hier zur voll entwickelten Madrigalform der Spätrenais-
sance. Als Beispiel soll ein Madrigal aus der Feder von Torquato Tasso dienen.
Auch hiervon existiert eine berühmte Vertonung – von Claudio Monteverdi.
Ecco mormorar l’onde, / e tremolar le fronde / a l’aura mattutina, e gli arboscelli, / e sovra i
verdi rami i vaghi augelli / cantar soavemente, / e rider l’Oriente; / ecco già l’alba appare, /
e si specchia nel mare, / e rasserena il cielo, / e le campagne imperla il dolce gelo, / e gli
alti monti indora: / O bella e vaga Aurora, / l’aura è tua messaggera, e tu de l’aura / ch’ogni
arso cor ristaura.
[Siehe wie die Welle murmelt / und die Blätter zittern zum morgendlichen Lufthauch, und
die Bäumchen, / und wie auf den grünen Zweigen die anmutigen Vögel süß singen, / und
wie der Osten lacht; / siehe, schon erscheint die Morgendämmerung und spiegelt sich im
Meer / und erheitert wieder die Himmel, und die Gefilde beperlt der süße Tau, / und ver-
goldet die hohen Berge: / O schöne und anmutige Morgenröte, / der Lufthauch (Laura) ist
deine Botin und du des Lufthauchs (Lauras), / der (die) jedes brennende Herz erfrischt.]13
Auch Tasso besingt eine Laura und kann sich aufgrund dieser günstigen Namens-
konstellation ähnliche Wortspiele erlauben wie Petrarca – und damit zugleich
seine Position gegenüber diesem Musterautor der Dichtung bestimmen. Das Raf-
finement dieses Cinquecento-Madrigals besteht neben den Klang- und Wortspie-
len in einem Spiel mit Analogie und Kontiguität. Die Morgendämmerung spiegelt
sich im Meer – hier herrscht Analogie zwischen Urbild und Spiegelbild. Der Luft-
hauch ist Bote der Morgenröte: Hier herrscht eine metonymische Beziehung. Aber
diese Botenbeziehung ist auch umkehrbar, die Morgenröte ist auch Botin des
Lufthauchs. Dadurch entsteht wieder eine Analogie zwischen den je füreinander
einstehenden Wesen: Die Morgenröte ist wie der Lufthauch und der Lufthauch
ist wie die Morgenröte, weil ja jeder das Boten-Amt des anderen übernehmen
kann. Aber wir wissen auch, dass der Lufthauch auf der Ebene des Signifikanten,
l’aura, zugleich identisch ist mit der Dame, die in dem Gedichtzyklus besungen
wird: Laura (übrigens eine Sängerin im Konzert der Hofdamen zu Ferrara; Lorenz
Welker hat darauf hingewiesen, dass Monteverdis Komposition vielleicht auf
diesen Umstand Bezug nimmt14). Und insofern, als der Lufthauch auch die Dame
Laura ist, ist diese Dame selbst die Botin der Morgenröte, der AurORa (diese
ist Aura + oro, also Luft und Gold – letzteres Element wird durch den Ausdruck
13 Torquato Tasso: Aminta e Rime. Hg. von Francesco Flora. Turin 1976. Bd. I. S. 130. Überset-
zung: F.M.
14 Lorenz Welker: Monteverdi, Tasso und der Hof von Mantua: Ecco mormorar lʼonde (1590). In:
Archiv für Musikwissenschaft 53, 3 (1996), S. 194–206.
90 Florian Mehltretter
indora relevant gemacht); aber auch die Morgenröte ist die Botin der Dame, und
die Dame ist der Göttin Aurora aufgrund dieser Reziprozität ebenso analog wie
es der Lufthauch war. Der letzte Paarreim gewinnt daraus die Pointe, dass nicht
nur der Lufthauch jedes brennende Herz erfrischt – aufgrund seiner Tempera-
tur – sondern dass auch die Dame die brennenden Herzen erfrischt – vermutlich
durch ihren Anblick, von dem man freilich systemimmanent annehmen muss,
dass er das Brennen der Herzen ebenso sehr auch befördert. Andreas Kablitz hat
gezeigt, dass in diesem Madrigal im Vergleich zu seinem primären Referenztext,
Petrarcas Sonett 119, Aurora ihre mythische Identität verliert. Stattdessen wird
sie Bestandteil einer Landschaftsevokation, die mit dem mehrmaligen Ecco auf
Präsenzeffekte zu zielen scheint. Zugleich wird über den Verlauf der Vokalfarben
von dunklen Os zu hellen Es und Is der Sonnenaufgang auch klanglich evoziert.15
Gerhard Regn hat darauf hingewiesen, dass diesem Gedicht in Tassos eigener
poetologischen Reflexion der Status einer mustergültigen Realisation lyriktypi-
scher Semantik zukommt, denn für Tasso ist die Lyrik unter anderem dadurch
gekennzeichnet, dass in ihr bestimmte Konzepte oder Motive vorkommen – dass
der Gegenstand also durch eine bestimmte Auswahl des Wirklichkeitsausschnitts
oder durch Tropen auf diese lyriktypische Semantik hin perspektiviert wird.16
Diese lyriktypische Semantik ist nun nach Tasso eine solche der frohen Wälder,
der Hirtenliebe, der Blumen und ähnlicher Dinge: also eine Menge, die die für
das Trecento-Madrigal so typische bukolische Semantik als Teilmenge in sich
begreift.
Wichtig sind hier zwei Dinge: Erstens ist dies nicht mehr die spezielle (etwa
bukolische) Semantik des Madrigals, sondern dies gilt nach Tasso für Lyrik über-
haupt. Auch außerhalb von Tassos Schaffen ist das Madrigal nicht mehr durch
spezielle Inhalte von anderen lyrischen Gattungen unterschieden. Die Semantik
hat nicht mehr die Funktion, die medialen Ursprünge der Gattung im Gegensatz
zu anderen aufzubewahren, zumal dieser Gegensatz – wie wir wissen – nicht
mehr medial definiert ist. Zweitens: Das Bukolische wird nicht mehr wie bei
Petrarca den Gegenständen als eine allegorische Maske aufgesetzt; wir müssen
nicht suchen, wer gemeint ist und was der tiefere, etwa moralische Sinn der
Erwähnung des Aurora-Mythos sein könnte, sondern wir erfassen unmittelbar
die uns vor Augen gestellte morgendliche Landschaft und die Stellung der Dame
darin. Die Semantik des Madrigals ist nun also im Unterschied zu Petrarcas Usus
15 Andreas Kablitz: Petrarkismus. Einige Anmerkungen zu einer Debatte über seinen Status
(diskutiert an einem Beispiel aus Tassos Lyrik). In: Romanistisches Jahrbuch 55 (2004), S. 104–
120.
16 Gerhard Regn: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition. Stu-
dien zur Parte prima der Rime (1591/1592). Tübingen 1987 (Romanica Monacensia; 25), S. 241.
Maske und Performanz 91
allgemein lyriktypisch und dabei nicht mehr speziell auf Allegorese ausgerichtet.
Wenn man sich die Musik anhören würde, so würde man feststellen, dass die
Vertonung ebenfalls eine Technik der Veranschaulichung anwendet. So gibt es
in ihr klangliche Darstellungen – etwa wird das Wort mormorar durch eine tief
liegende, stark rhythmische Figur auf einem Ton nachgebildet (ein musikalisches
Murmeln). Es gibt darüber hinaus so etwas wie ein Präsentwerden des Singens,
indem auf dem Wort cantar ein Melisma, eine Koloratur, eingeführt wird: die
Stimme tut in diesem Falle, wovon sie spricht, und zeigt darauf. Die vielen Mög-
lichkeiten solcher Umsetzung von Semantik hat die Musikwissenschaft gerade
bei diesem Stück umfassend aufgezeigt; sie können hier außer Acht bleiben.
Auch kann hier nicht die spannende Frage diskutiert werden, ob diese Techniken
im Sinne eines rhetorischen Vor-Augen-Stellens oder im Sinne einer mimetischen
Poetik – oder gar im Sinne eines barocken Analogismus zu interpretieren sind.
Ich möchte vielmehr ein anderes, vielleicht banaleres Strukturelement
erwähnen: Jeder musikalische Gedanke wird in einer solchen Komposition über
eine gewisse Strecke hinweg ausgeführt, oft durch mehrere Stimmen hindurch,
ein Gedanke nach dem anderen. Was es hier nicht gibt (und was in der Madri-
galmusik des sechzehnten Jahrhunderts überhaupt eine vernachlässigbare
Rolle spielt), ist die Möglichkeit, einen ganzen Abschnitt zu wiederholen oder
gar mehrere Stollen oder Strophen auf exakt die gleiche Musik zu singen. Die
Musikwissenschaft lehrt uns, dass Wiederholungen ganzer Abschnitte eher zu
den niederen, einfachen Formen gehören und dass die raffinierte Musik, die
seit Anfang des sechzehnten Jahrhunderts von Vertretern der frankoflämischen
Schule nach Italien gebracht wird, im Gegensatz dazu einer Varietas-Ästhetik
gehorcht. Wie diese Ästhetik der Abwechslung mit ihrer Tendenz zur Verselb-
ständigung musikalischer Gedanken sich zu einer Poetik der Einheit verhält, hat
Hartmut Schick erforscht.17 Es drängt sich literarhistorisch betrachtet sofort der
Eindruck auf, dass das nicht mehr stollensymmetrisch gegliederte, in sich ganz
unregelmäßige Cinquecento-Madrigal die ideale Versgattung für einen solchen
Stil ist: Die neue Metrik steht so gesehen in engem Zusammenhang mit der neuen
musikalischen Praxis. Aber die Musikdrucke des sechzehnten Jahrhunderts,
auf denen Madrigali steht, enthalten beileibe nicht nur solche asymmetrischen
Cinquecento-Madrigale, sondern auch Sonette, Oktaven, Canzonen und Sesti-
nen. Sie alle werden aber musikalisch so behandelt, als wären sie Cinquecento-
Madrigale: Mehrstrophigkeit wird getilgt, Stollensymmetrien werden nivelliert.
Die in sich asymmetrische Versgattung des Cinquecento-Madrigals übernimmt
17 Vgl. Hartmut Schick: Musikalische Einheit im Madrigal von Rore bis Monteverdi. Phänomene,
Formen und Entwicklungslinien. Tutzing 1998 (Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft; 18).
92 Florian Mehltretter
18 Vgl. die Kommentare in den Ausgaben: Francesco Petrarca: Petrarcha con doi commenti sopra
li Sonetti et Canzone el primo del ingeniosissimo Francesco Philelpho, laltro de sapientissimo
Misser Antonio da Tempo. Venetia 1522. Francesco Petrarca: Le volgari opere del Petrarcha con la
esposizione di Alessandro Vellutello da Lucca. Stampati in Vinegia per Giovanniantonio et fratelli
Da Sabbio, 1525. Für den modernen Kommentar Santagatas vgl. Petrarca (Anm. 7). Bei Vellutello
wird dieses Madrigal ganz aus dem Laura-Zyklus herausgenommen und in einen – von Petrarcas
Manuskripten, wie wir sie kennen, nicht legitimierten – Anhang verlegt. Vellutello spekuliert,
Petrarca zeige hier eine Szene aus seiner Reise aus der Provence nach Italien, als er die Liebe zur
schönen Laura aus der Vaucluse bereits hinter sich gelassen habe. Dabei habe er beim Übergang
Maske und Performanz 93
in den Kommentaren, die nicht mehr in der performativen Praxis des Trecento
wurzeln, unter ihrer Hirtinnenmaske nicht mehr erkannt. Die Veränderung der
intermedial bestimmten Gattungsidentität hat Folgen für den Deutungshorizont,
in dem das Gedicht gelesen wird: Die diffizile Verbindung von bukolischer Maske
und polyphoner Performanz gerät in Vergessenheit, und dadurch entfällt die
Disposition zur Allegorese, die ursprünglich die Rezeption eines solchen inter-
medialen Kunstwerks bestimmte. Intermedialität ist mithin bereits innerhalb der
Frühen Neuzeit zu historisieren.
über die Alpen (alpestra) in der Tat ganz wörtlich eine Hirtin (pastorella) beim Waschen ihres
Schleiers beobachtet (ob Hirtinnen Schleier tragen, wird nicht diskutiert). Und angesichts dieses
Anblicks habe sich das Ich gewünscht, es möge noch einmal den Schleier auf Lauras goldenem
Haar betrachten können. Auch Santagata bezweifelt, dass der Ausdruck pastorella auf Laura
referiert, obwohl der Zykluskontext einen unmarkierten Referenzwechsel dieser Art m. E. kaum
zulässt.
Nicola Gess
»L’opéra est un spectacle« (Voltaire): Zur
Intermedialität der tragédie en musique
Ist das Theater ein Medium? Je nachdem, welchen Medien- und welchen Thea-
terbegriff man in Anschlag bringt, lässt sich diese Preisfrage der Gesellschaft für
Theaterwissenschaft aus dem Jahr 2006 unterschiedlich beantworten.1 Greift
man zum Beispiel auf Friedrich Kittlers technikgeschichtlich geprägten Medien-
begriff zurück, ist das Theater selbst nicht als Medium zu verstehen, wohl aber
der Einsatz diverser Medien (z. B. Video- und Audiotechnik) auf der Bühne zu
diskutieren, wie dies in der jüngeren Theaterwissenschaft unter dem Stichwort
der Intermedialität auch häufig geschehen ist. Greift man aber auf Werner Wolfs
Intermedialitätstheorie zurück, die unter dem Begriff des Mediums ein »konven-
tionell als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv« versteht,2 so muss
man auch das Theater, das populärwissenschaftlich als »szenische Darstellung
eines inneren und äußeren Geschehens als künstlerische Kommunikation zwi-
schen Akteuren (Darstellern) und dem Publikum« bestimmt wurde,3 als ein
Medium behandeln.
Aus der oben genannten Preisfrage ist ein voluminöser Band hervorgegan-
gen, der eine kaum überschaubare Vielzahl widersprüchlicher Antworten ver-
sammelt, die die Notwendigkeit einer begrifflichen wie historischen Spezifizie-
1 Vgl. Andreas Kotte: Definierbar ist nur, was keine Geschichte hat. Über Fortschritte der Me-
dien und Wandlungen von Theater. In: Henri Schoenmakers, Stefan Bläske u. a. (Hgg.): Theater
und Medien. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme. Bielefeld 2008,
S. 31–41, hier S. 40.
2 Werner Wolf: Intermedialität und mediale Dominanz. Typologisch, funktionsgeschichtlich
und akademisch-institutionell betrachtet. In: Uta Degner, Norbert Christian Wolf (Hgg.): Der
neue Wettstreit der Künste. Legitimation und Dominanz im Zeichen der Intermedialität. Biele-
feld 2010, S. 241–259, hier S. 241.
3 Online: http://de.wikipedia.org/wiki/Theater (Stand: 07. 12. 2016).
Anmerkung: Der vorliegende Aufsatz hat sehr profitiert vom Austausch mit den Mitgliedern
des NCCR eikones-Bildkritik der Universität Basel, insbesondere mit Dominika Hens, Annette
Kappeler und Irina Kaldrack, denen ich an dieser Stelle ausdrücklich danken möchte. Er wurde
im Sommer 2012 verfasst; da seitdem einige Zeit vergangen ist, sind einige Gedanken bereits in
anderen meiner Texte in weiter entwickelter Form publiziert worden, so insbesondere in: Nicola
Gess, Tina Hartmann: Barocktheater als Spektakel. Eine Einführung. In: N. G., T. H., Dominika
Hens (Hgg.): Barocktheater als Spektakel. Maschine, Blick und Bewegung auf der Opernbühne
des Ancien Regime. München 2015, S. 9–40.
DOI 10.1515/9783110521788-006
96 Nicola Gess
rung der Problematik demonstrieren. Mir geht es in diesem Aufsatz darum, ein
Verständnis der französischen tragédie en musique als ›intermedial‹ zu kontu-
rieren und den Charakter dieser Intermedialität in der Auseinandersetzung mit
historischen Positionen einerseits und der gegenwärtigen theaterwissenschaft-
lichen Debatte andererseits zu bestimmen, für die exemplarisch ein Aufsatz von
Kati Röttger aus dem genannten Sammelband herangezogen wird,4 in dem sie
sich mit medientheoretischen Positionen von Sybille Krämer und Erika Fischer-
Lichte auseinandersetzt.5
Die beiden oben genannten Medienbegriffe lassen sich heute sowohl für das
Sprechtheater als auch für das Musiktheater in Anschlag bringen. In der Frühzeit
der Oper sieht das jedoch anders aus. Im 17. Jahrhundert gibt es noch keine Kon-
vention, die die Oper als distinktes, d. h. von anderen Theaterformen unterschie-
denes ›Kommunikationsdispositiv‹ begreifen würde. In Frankreich etwa wird die
tragédie en musique von manchen Kritikern viel eher als skandalöse Verirrung der
klassischen Tragödie verstanden. So nennt Rémond de Saint-Mard in den Réfle
xions sur l’opéra die Oper ein »monströses Schauspiel«, monströs insofern es sich
dabei um eine »von Anfang bis Ende in Musik gesetzt[e] [Tragödie]« handle.6 Auch
andere Abweichungen von der Tragödiennorm beklagen die Kritiker, so vor allem
eine auf visuelle Opulenz und Vielfalt ausgerichtete und darum häufig unmoti-
vierte, ungeordnete und unwahrscheinliche Handlung.7 Die Oper wird also, das
4 Kati Röttger: Intermedialität als Bedingung von Theater: methodische Überlegungen. In:
Schoenmakers, Bläske u. a. (Anm. 1), S. 117–124.
5 Dabei handelt es sich insbesondere um folgende Texte: Erika Fischer-Lichte: Was verkörpert
der Körper des Schauspielers? In: Sibylle Krämer (Hg.): Performativität und Medialität. München
2004, S. 141–162; Sibylle Krämer: Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performa-
tivität und Medialität. In: Uwe Wirth (Hg.): Performanz: Zwischen Sprachphilosophie und Kul-
turwissenschaften. Frankfurt a. M. 2002, S. 323–346; Sibylle Krämer: Erfüllen Medien eine Kons-
titutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren.
In: Stefan Münker, Alexander Roesler, Mike Sandbothe (Hgg.): Medienphilosophie. Beiträge zur
Klärung eines Begriffs. Frankfurt a. M. 2003, S. 78–90.
6 »Mais quel monstre qu’une Tragédie mise en Musique d’un bout à l’autre?«. Toussaint Ré-
mond de Saint-Mard: Réflexions sur l’opéra (Den Haag 1741, facsimile). Genf 1972, S. 11–12. Vgl.
zur Metapher des Monströsen in der französischen Opernästhetik: Nicola Gess: Oper des Mons-
trösen – Monströse Oper. Zur Metapher des Monströsen in der französischen Opernästhetik des
18. Jahrhunderts. In: Achim Geisenhanslücke, Georg Mein (Hgg.): Monströse Ordnungen. Zur
Typologie und Ästhetik des Anormalen. Bielefeld 2009, S. 655–667, hier S. 656. Andere waren
allerdings auch der Meinung, dass die Oper die Vorgaben der Tragödie vorbildlich erfülle (vgl.
Herbert Schneider: Die Rezeption der Opern Lullys im Frankreich des Ancien Régime. Tutzing
1982, S. 260). Vorherrschend wird die Haltung, die Sprechtragödie als Ideal zu sehen, von der die
Oper eine Abweichung darstellt, vor allem im Lauf des 18. Jahrhunderts.
7 Vgl. dazu ebenfalls im Detail Gess (Anm. 6), S. 655.
»L’opéra est un spectacle« (Voltaire) 97
zeigen diese Einschätzungen, noch nicht als eigenes Medium behandelt, sondern
in den Blick rückt ihre illegitime Kombination unterschiedlicher Kommunika-
tions- und vor allem auch Wahrnehmungsdispositive: des Mediums der tragédie
classique (deren Idealtypus, folgt man Bettine und Christoph Menke, weniger das
Schauspiel denn das Lesedrama war8), der Musik, des Tanzes und des höfischen
Festes. Nicht in Kittlers sondern in Wolfs Sinne kann man die französische tragé-
die en musique also als intermediale Kunstform verstehen: intermedial, weil sie
in der Wahrnehmung ihrer Zeitgenossen unterschiedliche Kommunikations- und
Wahrnehmungsdispositive vereint.
Diese offensichtliche Regellosigkeit [der Sujets der Balletteinlagen] läßt vermuten, dass
die Bezeichnung ›dramatisches Gedicht‹ nicht für die Oper passt, und man würde sich viel
exakter ausdrücken, wenn man sie ›spectacle‹ nennen würde; denn es scheint so, als ob es
einem wichtiger wäre die Augen und die Ohren zu entzücken als den Geist zu befriedigen.9
8 Bettine u. Christoph Menke: Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. Drei Weisen des Theatralen.
In: B. u. C. M. (Hgg.): Tragödie, Trauerspiel, Spektakel. Berlin 2007, S. 6–15.
9 »Cette irrégularité si palpable fait penser que le nom de poëme dramatique ne convient pas à
l’opéra, & qu’on s’exprimeroit beaucoup plus exactement en l’appellant un spectacle: car il sem-
ble qu’on s’y attache plus à enchanter les yeux & les oreilles, qu’à contenter l’esprit.« Jaucourt:
»Opéra«. In: Denis Diderot, Jean d’Alembert (Hgg.): Encyclopédie des sciences, des arts et des
métiers. Paris 1751–1780. Bd. 11, S. 494. Zit. nach Béatrice Didier: La musique des Lumières. Paris
1985, S. 248.
98 Nicola Gess
10 Auch dieses merveilleux wird jedoch zunächst noch häufig als mit einer vraisemblance der
Oper vereinbar gesehen. Im Universum der tragédie en musique des 17. Jahrhunderts geht es
nicht um eine vraisemblance im Sinne naturwissenschaftlicher Glaubwürdigkeit, sondern im
Sinne geordneter Sphären und geregelter Abläufe. So widerspricht es den vraisemblance-Regeln
nicht, dass ein Gott auf einer Wolke herabsinkt, es widerspräche denselben aber, wenn derselbe
Gott sich den Regeln der menschlichen Fortbewegung anpassen und die Bühne zu Fuß betreten
würde (vgl. dazu etwa Catherine Kintzler: L’opéra, révélation et trahison du théâtre. In: Ronald
Tobin (Hg.): Racine et/ou le classicisme. Tübingen 2001, S. 73–92). Das ändert sich im 18. Jahr-
hundert (vgl. dazu etwa Rousseaus Opernkritik, auf die unten noch einzugehen sein wird).
11 »[P]arce que mon principal but ici était de satisfaire la vue par l’éclat et la diversité du spec-
tacle, et non pas de toucher l’esprit par la force du raisonnement, ou le coeur par la délicatesse
des passions«. Pierre Corneille: Andromède Argument. In: P. C.: Théâtre complet. 3 Bde. Rouen
1984–1986. Bd. 2, S. 501–503, hier S. 502. Deutsch zit. aus Margret Dietrich: Der Barocke Corneille.
Ein Beitrag zum Maschinen-Theater des 17. Jahrhunderts. In: Maske und Kothurn 4 (1958), S. 199–
219 u. S. 316–345, hier S. 212.
12 »Les deux côtés et le fond du théâtre sont des palais magnifiques, tous différents de struc-
ture, mais qui gardent admirablement l’égalité et les justesses de la perspective. Après que les
yeux ont eu le loisir de se satisfaire à considérer leur beauté […].« Pierre Corneille: Andromède.
In: P. C.: Théâtre complet. 3 Bde. Rouen 1984–1986. Bd. 2, S. 510–560, hier S. 513. Deutsch zit. aus
Dietrich (Anm. 11), S. 214.
»L’opéra est un spectacle« (Voltaire) 99
Abb. 1: Jean Dolivar nach Jean Bérain: Zerstörung des Tempels. Bühnenbild zu Jean-Baptiste
Lullys Armide (Paris 1686). In: Philippe Quinault: Armide, Tragédie en musique […]. Paris 1686,
[Frontispiz, o.S]. Bibliothèque nationale de France, Signatur: P16–EGC-686.
100 Nicola Gess
Marais stellte sich vor, die Basspartien seines Unwetters nicht nur wie gewöhnlich auf den
Fagotten und den Bassgeigen spielen zu lassen, sondern auch auf wenig gespannten Trom-
meln, welche, kontinuierlich rollend, einen dumpfen und düsteren Klang erzeugen, der
begleitet von hohen, durchdringenden Tönen der Chanterelle der Geigen und der Oboen,
das aufgewühlte Meer und den wütenden Wind, der braust und pfeift, sprich ein echtes und
tatsächliches Unwetter fühlen lässt.13
Auch Jean-Baptiste Lullys Alceste ou Le Triomphe d’Alcide (1674) wurde für den
Meeressturm am Ende des ersten Akts berühmt sowie ebenfalls Philippe Rameaus
Platée (1745), die gleich zwei Stürme im ersten Akt enthielt, und in England lobte
Joseph Addison Georg Friedrich Händels Rinaldo (1711/1731): »Die Oper Rinaldo
schwelgt in Donner und Blitz, Illumination und Feuerwerk«.14 Unterstützt wird
das musikalische Unwetter häufig durch einen der berühmtesten und langle-
bigsten Effekte des Maschinentheaters, den künstlichen Donner, der die Zuhörer
zusammenschrecken lässt und dessen Erzeugung in den Barocktraktaten zum
Maschinentheater ausführlich erörtert wird.15
13 »Marais imagina de faire exécuter la partie de la basse de sa tempête, […] non seulement par
les bassons et les basses de violons à l’ordinaire, mais encore sur des tambours peu tendus, qui,
roulant continuellement, forment un bruit sourd et lugubre, lequel, joint à des tons aigres et
perçants sur le haut de la chanterelle des violons et sur les hautbois, fait sentir ensemble toute la
fureur d’une mer agitée et d’un vent furieux qui gronde et qui siffle, enfin d’une tempête réelle et
effective.« Évrard Titon du Tillet: Le Parnasse françois. Paris 1736, S. 626. Zit. aus Carl Mennicke:
Hasse und die Brüder Graun als Symphoniker. Hildesheim 1977, S. 263.
14 »[T]he opera of Rinaldo is filled with thunder and lightning, illuminations and fire-works.«
Joseph Addison: The Spectator. London 1711. Bd. 1, S. 106. Zit. bei Hans G. Nicklaus: Opern des
Barock als technisches Spektakel. In: Frühneuzeit-Info 14 (2003), H. 1, S. 40–46, hier S. 40.
15 Zum Beispiel: Nicolo Sabbatini: Pratica di fabricar scene e machine né teatri. Ravenna 1638.
Dt: Nicolo Sabbatini: Anleitung, Dekorationen und Theatermaschinen herzustellen. Übers. von
Willi Flemming. Weimar 1926. Joseph Furttenbach: Mannhafter Kunst-Spiegel, oder Continua-
tio, und fortsetzung allerhand Mathematisch- und Mechanisch-hochnutzlich sowohl auch sehr
erfrölichen delectationen, und respective im Werck selbsten experimentirten freyen Künsten.
Augsburg 1663. Zur Geschichte und Ästhetik des Theaterdonners und des Donners seit der Antike
vgl. Florian Nelle: Theaterdonner – Geräusch und Illusion um 1800. In: Hans-Peter Bayerdörfer
(Hg.): Stimmen – Klänge – Töne. Synergien im szenischen Spiel. Tübingen 2002, S. 493–506.
»L’opéra est un spectacle« (Voltaire) 101
16 Vgl. grundsätzlich zur Tonmalerei z. B.: Joachim Kremer: Johann Matthesons Vergleich der
Malerei mit Musik im ›Neu-Eröffneten Orchestre‹. In: Carsten Lange, Brit Reipsch (Hgg.): Tele-
mann, der musikalische Maler. Telemann-Kompositionen im Notenarchiv der Sing-Akademie zu
Berlin. Hildesheim 2010, S. 104–113; Michael Philipp: Läppische Schildereyen? Untersuchungen
zur Konzeption von Programmmusik im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1998; Peter Schleuning:
Die Sprache der Natur: Natur in der Musik des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1998.
17 Vgl. hierzu: Gess (Anm. 6), S. 662–663 sowie Nicola Gess: »Musique déguisée«. In: N. G., Tina
Hartmann, Robert Sollich (Hgg.): Barocktheater heute. Wiederentdeckungen zwischen Wissen-
schaft und Bühne. Bielefeld 2008, S. 145–151.
18 Jean-François Marmontel: Opéra (Belles-Lettres, Musique). In: Denis Diderot, Jean le Rond
d’Alembert: Encyclopédie, Supplément. Paris 1779. Bd. 23, S. 740–750. Zit. aus Alfred R. Oliver:
The Encyclopedists as Critics of Music. New York 1947, S. 53.
102 Nicola Gess
bringt, wo sich die Zuschauer ganz auf das Spektakel konzentrieren können
sollen: Er will
die Ohren der Zuschauer erfreuen, während die Augen damit beschäftigt sind, die Flugma-
schinen herabsteigen zu sehen, oder sonst durch etwas gefesselt sind, das den Zuschauer
hindert, seine Aufmerksamkeit den Worten der Schauspieler zu widmen.19
Diese Perspektive auf das intermediale Spektakel ist jedoch aus zweierlei Hinsicht
zu ergänzen. Erstens erscheint es in meinen bisherigen Ausführungen als eine Art
Proto-Gesamtkunstwerk, das durch die Kumulation der unterschiedlichen Medien
eine maximale sinnliche Wirkung auf den Zuschauer haben will. Kritiker der fran-
zösischen tragédie en musique weisen jedoch auf ein anderes Moment dieses Spek-
takels hin, nämlich die Dissonanz der Medien; anachronistisch gesprochen: Nicht
die Verschmelzung, sondern die Neigung der Intermedialität zur Ausstellung
medialer Differenzen und damit von Medialität als solcher steht hier im Fokus
der Beobachtung. Zweitens ist das intermediale Spektakel auch im Kontext seiner
politischen Funktion, d. h. der Repräsentation und Konstitution von Herrschaft zu
sehen, für die die Frage nach der Medialität an die der Verkörperung gebunden ist.
19 »[…] avec un concert de musique que je n’ai employé qu’à satisfaire les oreilles des spec-
tateurs, tandis que leurs yeux sont arrêtés à voir descendre ou remonter une machine ou
s’attachent à quelque chose qui emeche de prêter attention à ce que pourraient dire les acteurs, «
Pierre Corneille: Andromède Examen. In: P. C.: Théâtre complet. 3 Bde. Rouen 1984–1986. Bd. 2,
S. 505–509, hier S. 507. Deutsch zit. nach Dietrich (Anm. 11), S. 211.
20 Röttger (Anm. 4), S. 120.
»L’opéra est un spectacle« (Voltaire) 103
Forderung nach einer Natürlichkeit der dramatischen Handlung und also einem
Illusionstheater. So meint Jean-Jacques Rousseau, das Publikum der französi-
schen tragédie en musique würde durch eine zur Nachahmung unfähige Musik und
durch einen ebensolchen Gesang irritiert, den es als »lächerlich« (weil unwahr-
scheinlich) erleben müsse.21 Ähnlich klagt auch schon François-Marie Voltaire,
die Oper sei »ein Schauspiel, in dem man während der Zerstörung einer Stadt
Arien trällern muss«.22 Durch die Differenz zwischen musikalischem Zeichen und
Bezeichnetem wird das Publikum auf die Medialität der Musik und in der Konse-
quenz auf die Künstlichkeit des ganzen Unterfangens nachdrücklich aufmerksam
gemacht. Das heißt: Es hört den Gesang als Gesang und eben nicht als angesichts
der Zerstörung einer Stadt emotional bewegtes Sprechen. Da hilft es auch nichts,
dass das merveilleux von Opernverfechtern als eine der Unwahrscheinlichkeit
des Gesangs angemessene Unwahrscheinlichkeit der Handlung angeführt wird,
in dessen Kontext das Singen dann wieder als wahrscheinliche Äußerungsform
beurteilt werden müsse.23 Im Gegenteil: Für Rousseau verstärkt das merveilleux
21 »Quinault […] a fait précisément des Opera. Il a senti qu’il n’y avoit qu’un seul moien pour
déguiser aux spectateurs le ridicule qu’il y a de faire la conversation en musique; qu’il faloit les
enlever à eux même, les transporter dans un monde enchanté, dans le séjour des fées; les étourdir
à force de surprenant et de merveilleux: afin qu’au milieu de tant de choses extraordinaires ils fus-
sent moins surpris de n’y voir parler qu’en chantant et marcher en dansant.« Jean-Jacques Rous-
seau: Lettre sur l’opéra italien et français. In: J.-J. R.: Oeuvres complètes. 5 Bde. Hg. von Bernard
Gagnebin und Marcel Raymon. Paris 1959–1995. Bd. 5, S. 249–257, hier S. 252. »Quinault […] hat
wirklich Opern geschrieben. Offenbar hat er gespürt, dass es nur ein einziges Mittel gäbe, den Zu-
schauern das Lächerliche einer Unterhaltung in Musik zu verschleiern, dass man sie nämlich über
sich selbst hinausheben, sie in eine Zauberwelt entführen müsse, etwa in ein Feenreich, dass man
sie mithilfe von Überraschungswirkungen und Wunderdingen täuschen müsse, weil sie inmitten
aussergewöhnlicher Erscheinungen weniger überrascht sein werden, wenn gesungen wird, wo
man eigentlich spricht, und getanzt, wo man zu gehen pflegt.« Jean-Jacques Rousseau: Musik und
Sprache. Ausgewählte Schriften. Übers. von Dorothea und Peter Gülke. Wilhelmshaven 1984, S. 11.
22 »L’opéra est un spectacle […], où il faut chanter des ariettes dans la destruction d’une ville«.
François-Marie Voltaire: Oedipe, Préface de l’édition de 1730. In: F.-M. V.: Oeuvres complètes de
Voltaire. 52 Bde. Hg. von Louis Moland. Paris 1877–1885. Bd. 2, S. 52. Deutsch: François-Marie Vol-
taire: Vorrede zur Ausgabe des Ödipus vom Jahre 1729. Anonyme zeitgenössische Übersetzung.
In: Renate Petermann, Peter-Volker Springborn (Hgg.): Theater und Aufklärung. Dokumentation
zur Ästhetik des französischen Theaters im 18. Jahrhundert. Berlin 1979, S. 146–158, hier S. 150.
23 So argumentiert zunächst auch Rousseau: »car quel meilleur usage pouvoit-on faire au
Théâtre d’une Musique qui ne savoit rien peindre, que de l’employer à la représentation des
choses qui ne pouvoient exister, et sur lesquelles personne n’étoit en état de comparer l’image
à l’objet? Il est impossible de savoir si l’on est affecté par la peinture du merveilleux comme on
le seroit par sa présence.« Jean-Jacques Rousseau: Opéra. In: J.-J. R.: Dictionnaire de Musique.
In: J.-J. R.: Oeuvres complètes (Anm. 21), Bd. 5, S. 948–962, hier S. 953. (»Wie hätte man schon
im Theater eine Musik, die nichts darzustellen vermochte, besser einsetzen können als bei der
104 Nicola Gess
die Problematik nur, wirkt sozusagen als dramatische und visuelle Verkörperung
der genannten Differenz. In ähnlicher Weise kritisieren andere Zeitgenossen wie
Louis de Cahusac die divertissements mit ihren reichhaltigen Tanzeinlagen dafür,
dass sie den Handlungsgang unterbrechen und den Tanz als solchen in den Vor-
dergrund rücken würden, das heißt als ein entweder gar nicht an der Vermittlung
der dramatischen Handlung interessiertes oder nur in unvollkommener Weise zu
dieser Vermittlung fähiges Medium.24 Auch hier ist das Problem, dass der Tanz
nicht hinter der dramatischen Handlung verschwindet, sondern als Tanz in
seiner Medialität sichtbar wird und so die Illusion unterbricht.
Die Ausstellung medialer Differenzen gehört nicht unbedingt zum Programm
der französischen tragédie en musique, sondern ist zunächst als bloße Begleit
erscheinung einer Praxis der Medien-Kumulation zu verstehen, die nicht so sehr
auf dramatische Einheit als auf Maximierung des Effekts ausgerichtet war und für
die die offenbare Medialität auch nicht unbedingt abträglich war (man denke nur
an das so ermöglichte Staunen über artistische Meisterleistungen). Sie wird erst
dort zum Problem, wo alles dem Drama und der Täuschung durch das Bühnen
geschehen untergeordnet werden soll.
Aber sie wird umgekehrt dort zur Chance, wo man sich für die Medienreflexion
des Theaters gerade interessiert. Heute nutzen Regisseure die tragédie en musique
gern für eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen visuellen Medien, für
die sich die französische Oper aufgrund ihrer ausgeprägten Wertschätzung des
visuellen Spektakels und ihrer Integration des Tanzes besonders anbietet. Ein
gutes Beispiel dafür ist die Inszenierung von Rameaus Les Paladins am Pariser
Châtelet-Theater (2004) durch José Montalvo und Dominique Hervieu, in der
mithilfe von virtuos eingesetzter Videotechnik nicht nur eine zeitgenössische
Variante des visuellen Spektakels des merveilleux gefunden wird (das in dieser
Oper durch die Illusionsspielchen einer Fee inhaltlich motiviert wird), sondern
dieses zugleich auch zu interpretatorischen Zwecken genutzt wird. Das geschieht
etwa in der surrealen Vervielfältigung der Charaktere, durch die eine tänzerische
Sichtbarmachung des gesanglich ungesagt Bleibenden erfolgt – Tanz und Gesang
und oft auch Tanz und Musik gehen hier darum häufig gerade nicht synchron –
und zudem eine Reflexion auf unterschiedliche visuelle Medien und Abbildungs-
verhältnisse möglich wird. Auf dem abgebildeten Ausschnitt ist die Protagonistin
Darbietung von nicht existierenden Dingen, bei denen niemand das Abbild mit dem wirklichen
Gegenstand vergleichen konnte? Es ist ganz unmöglich, sicher zu sagen, ob man durch die Ge-
genwart des Wunderbaren so angerührt würde wie durch seine Darstellung.« Rousseau: Musik
und Sprache [Anm. 21], S. 290.)
24 Vgl. hierzu Louis de Cahusac: Artikel »Divertissement«. In: Diderot, d‘Alembert (Anm. 11),
Bd. 4, S. 1069.
»L’opéra est un spectacle« (Voltaire) 105
Abb. 2: Still aus Jean-Philippe Rameaus Les Paladins. Comédie lyrique en trois actes.
Filmmaterial (DVD). Heathfield 2005. Live aus dem Théâtre du Châtelet, Paris 2004. Bühnen
direktion: José Montalvo. Théâtre du Châtelet, © M.-N. Robert.
Ähnlich komplex verfährt die Inszenierung auch mit dem grundlegenden Ver-
hältnis von Räumlichkeit und Bildlichkeit sowie von Bildlichkeit und Bewegung,
die sie als Wahrnehmungsdispositive ausstellt, indem sie auf die barocke Tiefen-
bühne eine Leinwand stellt, vor der leicht nach hinten versetzte Terrassen über-
einander angeordnet sind, so dass insgesamt eher der Eindruck einer Bildfläche
denn der eines Raumes entsteht. Diese friert immer wieder zu einer Art tableau
vivant ein, um dann durch von rechts nach links oder von unten nach oben lau-
fende Bewegungen der Tänzer wieder dynamisiert zu werden.25
25 Diese These hat Dominika Hens im Mai 2013 in einem bei eikones gehaltenen Vortrag ver-
treten.
106 Nicola Gess
Abb. 3: Still aus Jean-Philippe Rameaus Les Paladins. Comédie lyrique en trois actes.
Filmmaterial (DVD). Heathfield 2005. Live aus dem Théâtre du Châtelet, Paris 2004. Bühnen
direktion: José Montalvo. Théâtre du Châtelet, © M.-N. Robert.
Visuelles Spektakel ist diese Inszenierung ohne Zweifel noch immer. Doch sie
zeigt, dass man mit der französischen tragédie en musique den Begriff des Spek-
takels im doppelten Sinn verstehen kann. In der Filmsoziologie ist der Vorschlag
gemacht worden, filmische special effects zu definieren als diejenigen filmischen
Verfahren, die »das Moment der Visualität selbst zu steigern« versuchen, »indem
sie das Nichtdarstellbare darstellen und die Bedingungen der Darstellbarkeit
sichtbar machen«.26 Sofern man die special effects des Films als heutiges Pendant
zu dem verstehen kann, was im 17. und 18. Jahrhundert die visuelle Opulenz und
das Maschinentheater der französischen Opernbühne war, lässt sich diese Defi-
nition auch für die tragédie en musique fruchtbar machen: Sie erlaubt es, das
intermediale Spektakel ebenso als ein auf den maximalen Effekt berechnetes und
sinnlich überwältigendes wie zugleich als ein seine medialen Bedingungen jeder-
zeit reflektierendes Meta-Theater zu verstehen.27
26 Urs Stäheli: Spezialeffekte als Ästhetik des Globalen. In: Gregor Schwering, Carsten Zelle
(Hgg.): Ästhetische Positionen nach Adorno. München 2002, S. 191–213.
27 Vgl. zu einem solchen Spektakelbegriff (allerdings dort mit Bezug auf das Trauerspiel) auch:
Menke, Menke (Anm. 8), S. 15.
»L’opéra est un spectacle« (Voltaire) 107
Während Fischer-Lichte mit dem Konzept der Verkörperung ein unabgeschlossenes Poten-
tial im Sinne von aktiver Hervorbringung von Körperlichkeit verbindet, beschränkt sich ihre
Verwendung des Medienbegriffs auf eine rein instrumentelle oder semiotische Verwendung
(des Körpers).28
Wahrhaft König, will sagen Monarch, ist der König nur in Bildern. Sie sind seine reale
Präsenz: ein Glaube an die Wirksamkeit und Operativität seiner ikonischen Zeichen ist
obligatorisch […]; aber weil umgekehrt seine Zeichen die königliche Wirklichkeit, das Sein
und die Substanz des Fürsten sind, wird dieser Glaube notwendig von den Zeichen selbst
eingefordert.30
Marin spricht hier zwar zunächst nur über das Portrait des Königs, doch versteht
er auch das Fest des Fürsten, dessen Dramaturgie das Spektakel der tragédie
en musique folgt und das selbst auch theatrale Darbietungen umfasst, als eine
»gründende Wiederholung der Repräsentation des Königs«.31
Eine wesentliche Rolle spielt für Marins These, dass es im Bild des Königs,
beim höfischen Fest und auf der Hof-Bühne nicht nur um die Repräsentation von
Macht, sondern auch um die Macht der Repräsentation geht, über die der König
verfügt und sich auf diese Weise als Souverän demonstriert. In der spektakulä-
ren Intermedialität der tragédie en musique präsentiert sich der König gleich-
sam als »Zauberer«, der dem Hofstaat wunderbare Dinge und darin zugleich die
eigene Allmacht zu sehen gibt. Darum ist es für die französische Hofoper auch so
wichtig, beim Zuschauer ein Bewusstsein dafür wach zu halten, dass es sich beim
Bühnengeschehen nur um eine äußerst kunstvolle Illusion handelt: Nicht allein
in der Repräsentation des Königs, sondern in der Offenbarung der Repräsenta-
tion als Repräsentation wird die Macht des Monarchen zur Schaffung spektaku-
lärer Repräsentationen sichtbar:
Es ist gerade […] die Geste, die ›aller Welt‹ zeigt, daß es sich nur um eine Illusion handelt, […]
d[ie] versuch[t], aus der sich inszenierenden Repräsentation eine unendliche Präsenz und
aus der Gewalt, die sich in der Ökonomie ihrer Zeichen reserviert, eine absolute Macht zu
machen.32
Die Verbrennung der Maschine […] ist die Epiphanie des verklärten Leibs des Königs im
kurzen und plötzlichen Augenblick seiner Realpräsenz, deren Repräsentationen und
Simulakren hatten vervielfacht werden müssen, damit ihre Verbrennung sie offenbaren
konnte.33
Es ist unter anderem diese Logik, die politische Denker der Aufklärung wie
Denis Diderot und Rousseau später für die vierte Wand der Natürlichkeit plä-
dieren lässt – Diderot mit dem Konzept des theatralen Tableau, Rousseau mit
dem Konzept einer unmittelbaren musikalischen Gefühlssprache, Jean Georges
Noverre mit dem Konzept einer pantomimischen Tanzsprache –, die die Theatra-
lität des Theaters unsichtbar(er) machen soll. Denn eine sich als Repräsentation
offenlegende Repräsentation ist für sie immer schon mit der Theatokratie des
Souveräns verbunden. Insofern ist die oben angesprochene Ausstellung media-
31 Ebd., S. 320.
32 Ebd., S. 329.
33 Ebd., S. 330.
»L’opéra est un spectacle« (Voltaire) 109
ler Differenzen und der Medialität als solcher durchaus mit diesem Theater des
Souveräns vereinbar, wenn nicht gar ihm förderlich.
Marin spricht jedoch auch von einem Risiko, das von der spektakulären Illu-
sion und ihrer noch spektakuläreren Offenlegung ausgeht: Der König riskiere
rituell und grundlos die Ordnung seines Orts, das Monument seines Ruhms, seinen symbo-
lischen Körper in den Räumen der königlichen Zerstreuung, als ob er durch das spektaku-
läre Dispositiv […] der Macht seiner Repräsentation eine Übergewalt, seiner Repräsentation
selbst eine Überpräsenz geben wollte.34
Dieses Risiko lässt sich in der französischen tragédie en musique insofern verifi-
zieren und konkretisieren, als ihr Spektakel im mehrfachen Sinne destabilisie-
rend auf die Repräsentation der Macht und die königliche Macht der Repräsenta-
tion wirkt. Dafür einige Beispiele: Im Unterschied zum Ballet de Cour, in dem der
König choreographisches Zentrum war, gibt es auf und vor der barocken Opern-
bühne eigentlich keinen Ort mehr für den natürlichen wie symbolischen Körper
des Königs bzw. seiner Stellvertreter. Erstens basiert die Bühne der tragédie en
musique, so zeigen Ulrike Haß’ Ausführungen, auf einer Dynamisierung und
vor allem Verräumlichung des zentralperspektivischen Bildes.35 Sie vermag so
erstaunliche Tiefenwirkungen zu erzeugen – aber für den Körper, der im Barock
weniger raumgreifend und bewegt denn flächig und statisch präsentiert wird und
(außer an der Rampe) die perspektivische Illusion nur stört, ist dieser Tiefenraum
eigentlich nicht mehr geeignet (siehe Abb. 4).36
Auch die Winkelperspektive schafft zwar neue, für die Zuschauer interes-
sante, weil uneinsichtige Raumfluchten, beraubt die Bühne aber vollends ihres
34 Ebd., S. 320.
35 Ulrike Haß zufolge wird diese »Verräumlichung« unter anderem durch die Abschaffung der
Rahmung des Bühnenraums, die Sabbatini noch vorschreibt, und der damit einhergehenden
Trennung von Bühne- und Zuschauerraum sowie Techniken der Tiefe konstituierenden Bühnen-
malerei, wie sie bereits Giulio Troili in Paradossi per pratticare la prospettiva senza saperla (Bolo-
gna 1683) beschreibt, gewährleistet; vgl. hierzu ausführlich Ulrike Haß: Das Drama des Sehens.
Auge, Blick und Bühnenform. Paderborn 2005, S. 366–374 sowie Ulrike Haß: Vom Wahnsinn des
Sehens in geschlossenen Räumen. Raumdebatten und Szenografie im 17. Jahrhundert. In: Nicola
Gess, Tina Hartmann, Dominika Hens (Hgg.): Barocktheater als Spektakel. Maschine, Blick und
Bewegung auf der Opernbühne des Ancien Regime. München 2015, S. 139–161.
36 Der französische Tanzmeister Pierre Rameau beschreibt die geforderte Körperhaltung folgen-
dermaßen: »Il faut avoir la tête droite sans être gêné, les épaules en arriere (ce qui fait paroître
la poitrine large & donne plus de grace au corps,) les bras pendants à côté de soi, les mains ni
ouvertes ni fermées, la ceinture fermée, les jambes étenduës, & les pieds en dehors […].«; Pierre
Rameau: Maître à Danser. Paris 1725, S. 2 f.
110 Nicola Gess
Abb. 5: Piero Bonifazio Algieri: Bühnenbildmodell für die Wiederaufführung am 25. April 1761
von Rameaus Zaïs (1748). Centre des monuments nationaux, Signatur: PLC97–0151. © Pascal
Lemaître / CMN.
optischen Zentrums und damit des Ortes, der einst für die Figur des Königs vorge-
sehen war (siehe Abb. 5).37
37 Ulrike Haß bemerkt zur Entwicklung der Winkelperspektive auf dem Theater: »Die Theater-
historie bezeichnet üblicherweise Fernando Galli-Bibiena (1657–1743) als den Erfinder der Au-
tonomie des Bühnenbildraumes […]. Galli-Bibiena entwickelt für das Bühnenbild ein vom Zu-
schauerraum völlig unabhängiges Achsensystem. Anstatt entlang der Mittelachse auf einen in
derselben Achse orientierten Raum zu schauen, blickt der Zuschauer auf die Kreuzung zweier
Diagonalräume, die sich in der Mitte des Bühnenbildes mit ihren Winkeln berühren und sich
über den Bildrand rechts und links auszudehnen scheinen. Galli-Bibiena hat diese Idee der Kon-
struktion eines in der Winkelperspektive diagonal angelegten Bühnenbildes ‒ vedere le scene
per angelo ‒ 1711 veröffentlicht und ausdrücklich als seine Erfindung bezeichnet. Zweifellos
unterbricht diese Gestaltung des Bühnenbildes die illusionäre Kontinuität zwischen dem Zu
schauerraum und der Bühne und vermittelt nicht länger das Ideal eines gemeinsamen, geschlos-
senen Raumes. Doch Galli-Bibiena erfindet nicht den Schnitt zwischen Bühne und Zuschauer-
112 Nicola Gess
raum, der optischer (und nicht darstellender) Natur ist und die optische Schnittmenge zwischen
Entwurf und Wahrnehmung bezeichnet. Die Winkelperspektive Galli-Bibienas nutzt nur, was in
Pozzos Architektur des Sehens vorliegt und bringt zu Bewußtsein, was die Autonomie des qua-
dro auszeichnet und erlaubt.« (Haß: Das Drama des Sehens [Anm. 35], S. 377–378).
38 Diese Architektur beschreibt Pozzo, wenn er von »la scena come quadro« spricht. Meilen-
steine auf dem Weg zu diesem neuen Blickpunkt, in dem sich erstmals »Darstellen und Wahr-
nehmen« treffen, sind Haß zufolge Mottas Entdeckung der »Möglichkeit der abstrakten, ein-
heitlichen Maßeinheit, über die sich ein Raum rein rechnerisch ›finden‹ läßt« sowie Torellis
Entdeckung des »dynamische[n] Element[s] dieses abstrakten Raumes und […] seine[r] Bedin-
gungen: Relativierung ‒ Frontalität ‒ Spiegel.«; vgl. zur Raumkonzeption Mottas und Torellis
ebd., S. 348–354 und S. 360–365.
39 Vgl. Juliane Vogel: Solare Orientierung. Heliotropismus in Tragödie und Tragédie en mu-
sique. In: Gess, Hartmann, Hens (Anm. 35), S. 71–88.
40 Annette Kappeler: »Un opéra sans machines. Parbleu, c’est une femme sans fontanges.« Auf-
trittsformen der Tragédie en musique. Dissertation (masch.). Universität Konstanz 2014, S. 75–79;
inzwischen gedruckt als: Annette Kappeler: L’Oeil du Prince. Auftrittsformen in der Oper des
Ancien Régime. Paderborn 2016, S. 85–86.
41 Vgl. Annette Kappeler: Les lois de la pesanteur. Auftrittsformen in Glucks Pariser Opern. In:
Juliane Vogel, Christopher Wild (Hgg.): Auftreten. Wege auf die Bühne. Berlin 2014, S. 93–112.
»L’opéra est un spectacle« (Voltaire) 113
Abb. 6: François Chareau nach Jean Bérain: Sturz des Phaeton. In: Quinault, Philippe:
Phaéton, tragédie en musique […]. Paris 1683, [Frontispiz, o. S.]. Bibliothèque nationale de
France, Signatur: 8–RA3–154.
114 Nicola Gess
42 Zu diesem Thema arbeitet bei eikones im Rahmen ihres Postdoc-Projektes: Annette Kappeler
(Körperlose Stimmen. Herrschaftsdiskurse in Rameaus ›Zoroastre‹. In: Gess, Hartmann, Hens
[Anm. 35], S. 163–180). In Rameaus und Cahusacs zweiter Fassung von Zoroastre (1756) überla-
gern sich visuelle Auftritte mit akusmatischen Vorankündigungen. So gehen den (Maschinen-)
Auftritten von Zoroastres Gegenspieler Abramane Donnergeräusche voraus. Zoroastre selbst tritt
hingegen nach visueller Vorankündigung in Form von Lichtwechseln zum Hellen auf, meist in
Verbindung mit der verbalen Ankündigung der veränderten Lichtsituation. Schließlich ist es je-
doch eine körperlose Stimme, die aus der Bühnenversenkung tönend prophezeit, dass sich das
Blatt für das Volk und Zoroastre zum Guten, »Hellen« wenden wird. Zu den kompositorischen
und dramaturgischen Besonderheiten der beiden Werkfassungen vgl. Arnold Jakobshagen: Art.
»Zoroastre«. In: Carl Dahlhaus und das Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bay-
reuth unter der Leitung von Sieghart Döhring. Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. 7 Bde.
München, Zürich 1986–1997. Bd. 5, S. 178–180.
43 Die »Gemachtheit« des Bühnengeschehens tritt auch in der Rezeption zutage, wenn etwa
die Illusion durch maschinelle Dysfunktionen gestört wird: »II est vray que ces artifices plaisent
quelquefois a la veuë; mais il faut aussi reconnoître qu’ils ont le desavantage d’exciter souvent
des risées parmi un Peuple indiscret, & mesme parmi les plus ages, quand ils manquent de joüer
selon l’intention de la Scène«. Jules de La Mesnadière: La Poëtique. Paris 1640, S. 418.
»L’opéra est un spectacle« (Voltaire) 115
I.
Im Jahr 1800 erschien im Verlag von Johann Friedrich Unger in Berlin ein Buch
mit dem Titel Göthes Neueste Gedichte als siebter Band der Neuen Schriften des
Autors. Die Publikation enthielt auch eine Gruppe »Balladen«, die die Früchte
der Tätigkeit der 1790er Jahre versammelte. Die Gedichte waren großenteils
bereits in Schillers Musenalmanachen auf die Jahre 1797 und 1798 erschienen.
Das traf aber nicht auf das den Beginn der Gruppe bildende Gedicht zu, dem
durch die Anfangsposition auch inhaltlich-programmatisch eine herausgeho-
bene Stellung zukommt. Das Gedicht trägt den Titel »Der Sänger«; es berichtet
von einer Geschichte, die in einem imaginären Mittelalter situiert ist: Ein König
befindet sich mit seinem Hofstaat im Saal seiner Burg, hört von draußen das Lied
eines Sängers erklingen und schickt seinen Pagen, um den Sänger hereinzuho-
len. Der Sänger tritt ein, begrüßt die Gesellschaft und bewundert den prächtigen
Saal. Gegenüber dessen sichtbarer Pracht hebt er die hörbare Schönheit seines
Liedes hervor, dem man mit geschlossenen Augen lauschen möge. Es folgt im
Gedicht die Darstellung des Gesangs des Sängers: »Der Sänger drückt’ die Augen
ein, | Und schlug in vollen Tönen; | Die Ritter schauten muthig drein, | Und in den
Schooß die Schönen. | Der König, dem es wohlgefiel, | Ließ, ihn zu ehren für sein
Spiel, | Eine goldne Kette holen.«1 Der Sänger verschmäht das Dankgeschenk;
die Kette, die »goldne Last«, möge der König, so der Sänger, seinen Rittern geben
oder von seinem Kanzler »[z]u andern Lasten tragen«‹ lassen. Die Begründung
lautet wie folgt:
1 Johann Wolfgang Goethe: Der Sänger. In: Göthe’s neueste Gedichte. Berlin 1800, S. 39–41, hier
S. 40.
DOI 10.1515/9783110521788-007
»Ich singe, wie der Vogel singt« − Bestimmung der Lyrik von Goethe bis Opitz 117
II.
Im Folgenden möchte ich mich auf die Erläuterung vor allem eines, und zwar
des berühmtesten Verses dieses Gedichts konzentrieren: »Ich singe, wie der Vogel
singt«. Dazu wird es nötig sein, in die Geschichte der Lyrik vor Goethe auszugrei-
fen, nämlich bis zu Martin Opitz’ Dichtungsreform und den daran sich anschlie-
ßenden vielgestaltigen Versuchen, eine deutschsprachige lyrische Dichtung zu
etablieren. Doch zunächst zu dem hervorgehobenen Vers:
Er enthält die zentrale Aussage innerhalb des poetologischen Gedichts. Der
Dichter, so der Gedanke, bringt Flüchtiges, Geistiges hervor, ist daher unabhän-
gig von materiellen Gütern; darum ist er kein Fürstenknecht, sondern eine freie
Persönlichkeit, ja mehr noch, er ist der weltlichen Macht des Fürsten entzogen
und über sie hinausgehoben in eine andere Sphäre. Der Last der goldenen, aber
auch bindenden Kette zieht er die Freiheit vor, auch die künstlerische Freiheit, die
durch den Wein beflügelt wird. Obwohl es sich um ein Goethe-Gedicht handelt
und obwohl der Vers »Ich singe, wie der Vogel singt« wie so viele Goethe’sche
Verse und Sätze den Rang eines geflügelten Worts erlangt hat, liegen gar nicht
so viele Interpretationen des schon auf den ersten Blick ziemlich intrikaten Texts
vor. Eine neuere Interpretation stammt von Ulla Hahn; sie ist 1992 in einem von
Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen Band mit Interpretationen von Goethe-
Gedichten erschienen – vorher bereits in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
im Rahmen der Frankfurter Anthologie. In ihrer Interpretation hebt Hahn zwei
Aspekte hervor: Erstens habe Goethes Gedicht »die Vorstellungen, wie ein Dichter
zu sein habe, bis auf den heutigen Tag geprägt«.3 Zweitens trete in dem Gedicht
aber ein »Widerspruch zwischen Dichtung und Wirklichkeit« zutage: Der Dichter
2 Ebd., S. 40 f.
3 Ulla Hahn: Schmeicheleien reinsten Wassers. In: Johann Wolfgang von Goethe: Verweile doch.
111 Gedichte mit Interpretationen. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt a. M., Leipzig 21992,
S. 147–149, hier S. 147. Vgl. zur Interpretation des Gedichts auch Wilhelm Grenzmann: Johann
Wolfgang Goethe. Der Sänger. In: Rupert Hirschenauer, Albrecht Weber (Hgg.): Wege zum Ge-
118 Dirk Werle
Goethe, der als Weimarer Geheimer Rat durchaus ein Fürstendiener gewesen sei,
habe sich mit dem Phantasieprodukt der Ballade seine »Sehnsucht nach dem
reinen, freien Dichterleben vom Leibe« gedichtet.4
Das mag so sein; es sei aber auf einen weiteren zentralen Aspekt aufmerksam
gemacht, nämlich darauf, dass Dichtung hier als Gesang vorgestellt wird. Das ist
wohl zunächst der historischen Lokalisierung des Dargestellten geschuldet: Die
in der Ballade präsentierte Geschichte spielt im Mittelalter, und das Mittelalter ist
nicht nur die Zeit der Ritter, sondern auch die der fahrenden Sänger. Hier wird
also ein für Goethes Zeit anachronistisches Dichterbild entwickelt, ein Ideal einer
fernen Zeit. Dieser Bezug auf eine ferne Zeit ist Programm; präsentiert wird mit der
mittelalterlichen Figur des Dichters als mündlich vortragenden Rhapsoden eine
Konzeption der Dichtung, die ursprünglich und zeitenthoben gedacht ist.5 Dazu
gehört die bis auf die griechische Antike rückführbare Vorstellung, dass lyrische
Dichtung eigentlich Gesang sein soll. Dass der Dichter in der Ballade für sich in
Anspruch nimmt zu singen, wie der Vogel singt, treibt dieses Prinzip noch weiter:
Imaginiert wird damit ein Dichter aus alter Zeit, der völlig traditionslos dichtet,
der stattdessen von Natur aus den Gesang aus sich selbst hervorbringt. Das aber
entspricht den in Goethes Zeit verbreiteten Vorstellungen des Dichtergenies und
gleichzeitig und damit verknüpft einer Vorstellung, die man seit Goethes Zeit mit
der Lyrik allgemein verbindet, nämlich dass sie Ausdruck unmittelbarer Empfin-
dungen sei. Dass die assoziative Verknüpfung von Dichtergenie, lyrischer Dichtung
und Vogelgesang bis ins 20. Jahrhundert hinein manchem poetologisch evident
schien und dass Goethe als Pate dieser Verknüpfung gesehen werden konnte,
zeigt folgende Passage aus einem erzähltheoretischen Beitrag der 1930er Jahre:
Hätte Goethe auf dem Kickelhahn seinen Zustand geschildert, wäre er nicht zu seinem
unsterblichen Gedicht »Über allen Gipfeln ist Ruh« gekommen. […] Er wollte aber etwas viel
Einfältigeres, nämlich seinem Gefühl, wie man sagt, Luft machen; und er war darin nicht
von der Amsel verschieden, die in den Abend singt. Auch er wollte in den Abend singen;
und weil er keine Töne wie die Amsel hatte, wurde ein Lied in Worten, ein Gedicht daraus.6
dicht II: Interpretation von Balladen. Mit einer Einführung von Walter Müller-Seidel. Neuauflage
München, Zürich 1968, S. 169–175.
4 Hahn (Anm. 3), S. 149. Die Parallele zur Konstellation um Torquato Tasso ist augenfällig. Vgl.
dazu Klaus-Detlef Müller: Das Elend der Dichterexistenz. Goethes Torquato Tasso. In: Goethe-
Jahrbuch 124 (2007), S. 198–214.
5 Vgl. zur Figur des Sängers Rüdiger Singer: Sänger [Art.]. In: Dieter Burdorf u. a. (Hgg.): Metzler
Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart, Wei-
mar 2007, S. 677 f.
6 Wilhelm Schäfer: Epik oder Zustandsschilderung. In: Die Neue Literatur 38 (1937), S. 175–181,
hier S. 175.
»Ich singe, wie der Vogel singt« − Bestimmung der Lyrik von Goethe bis Opitz 119
Bemerkenswert ist nun an Goethes Ballade, dass der Dichter als traditionsloses
Naturgeschöpf hier zwar postuliert wird, aber wie eine Dichtung konkret aussieht,
die wie der Gesang der Vögel ist, das wird nicht unvermittelt vorgeführt, darüber
wird nur berichtet, nämlich mit den Versen: »Der Sänger drückt’ die Augen
ein, | Und schlug in vollen Tönen; | Die Ritter schauten muthig drein, | Und in den
Schooß die Schönen.« Dargestellt wird, was der Sänger von außen betrachtet tut
und wie die Wirkung dieser Handlung auf das Publikum aussieht; mehr erfährt
der Leser/Hörer nicht.7 Das Konzept der Dichtung als Vogelgesang wird also hier
nur vermittelt dargestellt, und dabei wird beim Rezipienten statt des Gehörs
das Sehen als zentraler Sinn angesprochen.8 Dem entspricht auch die Wahl der
Textsorte: Goethe wird bekanntlich einige Jahre später, in dem Abschnitt über
»Naturformen der Dichtung« innerhalb der Noten und Abhandlungen zu besserem
Verständnis des West-Östlichen Divans, die Ballade als die Dichtart beschreiben,
die die drei Naturformen Epos, Lyrik und Drama vereinigt. Es handelt sich nach
dieser Sichtweise beim vorliegenden Gedicht nicht um reine Lyrik, sondern um
eine Mischform.
Die Vermitteltheit der Darstellung der Dichtung geht aber noch weiter. Ich
habe bisher unterschlagen, dass das vorliegende Gedicht zwar im Jahr 1800 zum
ersten Mal unter dem Titel »Der Sänger« separat veröffentlicht wurde, dass die
Erstveröffentlichung des Gedichttexts aber fünf Jahre früher stattgefunden hat:
Das Gedicht ist eines der Lieder, die der Harfner, einer der Protagonisten des
Romans Wilhelm Meisters Lehrjahre, zu Gehör bringt. Der Roman wurde 1795 ver-
öffentlicht; verfasst hat Goethe das einschlägige Kapitel aber bereits 1783. Inner-
halb der Romanhandlung ist das vorliegende Gedicht das erste Stück des Harf-
ners, das im Wortlaut vorgestellt wird, und überhaupt das erste lyrische Stück, das
in den Roman eingeschaltet ist. Es besitzt auch programmatische Bedeutung für
7 Grenzmann weiß mehr: »Was er [Goethes Sänger, D. W.] singt, wissen wir nicht; aber indem
der Blick sich von ihm auf die Zuhörer wendet, ist kein Zweifel über den Sinn des Liedes mehr
möglich: es gilt dem Ruhm männlichen Heldentums, dem Lob weiblicher Liebe und Schönheit.«
Grenzmann (Anm. 3), S. 170. Diese etwas kurzschlüssige Deutung berücksichtigt nicht den ironi-
schen Ton, in dem geschildert wird, wie die Ritter mutig dreinschauen, um nicht preisgeben zu
müssen, dass sie vom Lied des Sängers genauso stark berührt sind wie ihre Damen, die in den
Schoß blicken, um ihre Rührung zu verbergen.
8 Vgl. Amanda Glauert: ›Ich singe, wie der Vogel singt‹: Reflections on Nature and Genre in
Wolf’s Setting of Goethe’s Der Sänger. In: Journal of the Royal Musical Association 125 (2000),
S. 271–286, hier S. 278: »Yet, despite the singer’s assertion of artistic freedom, we are given no hint
by Goethe of what he actually sings about; at the heart of the poem is a vacuum which we are left
to make sense of as we might.«
120 Dirk Werle
das vom Harfner personifizierte Dichtungskonzept.9 Nun ist aber das vorliegende
Gedicht nicht überhaupt das erste Stück lyrischer Dichtung, das der Harfner im
Rahmen der Romanhandlung zum Vortrag bringt. Als erstes trägt er ein Gedicht
vor, das »ein Lob auf den Gesang« enthält, »das Glück der Sänger« preist und
die Menschen ermahnt, »sie zu ehren«.10 Dieses Gedicht wird aber vom Erzähler
des Romans nur erwähnt und nicht in seinem Wortlaut präsentiert, und die vor-
liegende Ballade erscheint demgegenüber bloß als sekundäre poetische Erläute-
rung, warum der Harfner die als Reaktion auf das als erstes rezitierte Gedicht von
Wilhelm angebotene materielle Unterstützung ablehnt. Die Aussage »Ich singe,
wie der Vogel singt« ist also im Romankontext ein Kommentar im Kommentar zur
eigentlichen Dichtung, die vielleicht ist wie Vogelgesang, die der Rezipient aber
nicht direkt präsentiert bekommt.
Mit Blick auf Goethes gesamtes Œuvre ist das Sänger-Gedicht als Teil der
Hafner- und Mignon-Gedichte im Wilhelm Meister und damit als Teil eines poe-
tologischen Versuchs zu sehen, die Möglichkeiten unmittelbaren Dichtens ›senti-
mentalisch‹ zu reflektieren und zu problematisieren. Darüber hinaus ist in diesem
Zusammenhang signifikant, dass im Jahr 1783, dem Jahr der Abfassung des Sän-
ger-Gedichts, in Goethes Schaffen ein zeitweiliger Abbruch lyrischen Dichtens
zu beobachten ist. Dieser Abbruch markiert ein Ende des Projekts, Unmittelbar-
keit als zentrales Charakteristikum lyrischer Dichtung ins Werk zu setzen, eines
Projekts, das mit den Liedern und Hymnen der 1770er Jahre seinen Höhepunkt
erreicht hatte. In den 1790er Jahren beginnt Goethe neu mit der Produktion lyri-
scher Dichtung, aber vor dem Hintergrund einer neuen poetologischen Agenda.
Es versucht sich jetzt in Formen traditionsbezogener Dichtung, die sich markant
in den großen Elegie- und Epigrammzyklen manifestiert.
III.
Warum thematisiert Goethe einerseits das Konzept der Dichtung als Vogelgesang
in einem poetologischen Gedicht, dies aber andererseits in einer ostentativ
vermittelten Weise, als Kommentar im Kommentar zu einer Dichtung, die nur
9 Vgl. zu diesem Dichtungskonzept im Kontext von Goethes Œuvre Hellmut Ammerlahn: Pro-
duktive und destruktive Einbildungskraft: Goethes Tasso, Harfner und Wilhelm Meister. In:
Orbis Litterarum 53 (1998), S. 83–104.
10 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre [1795/1796]. In: Goethes Werke. Ham-
burger Ausgabe in 14 Bden. Hg. von Erich Trunz. Bd. 7: Romane und Novellen 2. Textkritisch
durchgesehen und kommentiert von E. T. München 131994, S. 128.
»Ich singe, wie der Vogel singt« − Bestimmung der Lyrik von Goethe bis Opitz 121
erwähnt, aber nicht im Wortlaut präsentiert wird? Zur Beantwortung dieser Frage
lohnt es sich darüber nachzudenken, woher Goethe das Konzept der Dichtung als
Vogelgesang übernommen haben könnte. Kennen konnte er es aus der zeitgenös-
sischen Lyrik- und Sprachtheorie.
1799 wird an der Universität Greifswald von einem jungen schwedischen
Gelehrten namens Benjamin Lundelius eine Übungsdissertation verteidigt unter
dem Titel De poesi lyrica, über die lyrische Poesie. Darin entwickelt Lundelius ein
Ursprungsszenario, in dem zunächst eine Opposition zwischen der Redekunst als
ars eloquendi und der Musik als ars canendi aufgebaut wird. Erstere sei im Laufe
der Kulturgeschichte erst spät aufgetreten, letztere dagegen sei vom Anfang der
Menschheitsentwicklung an da gewesen: Es habe sich um eine Form von imitatio
der Vögel gehandelt. Entsprechend sei auch heute noch die menschliche Rede
durch musikalische Reste geprägt, insofern etwa jeder gefühlsgesteuerte Ausruf
etwas von einem Gesang an sich habe.11 Eine ähnliche Darstellung findet sich
in Johann Gottfried Herders einige Jahre zuvor, 1795, erschienener Abhandlung
Die Lyra. Von der Natur und Wirkung der lyrischen Dichtkunst: »Allem, was lebt,«
schreibt Herder, »gab die Natur mehr oder minder Stimme.« Herder wehrt die Vor-
stellung ab, »daß die Menschen nur von den Vögeln ihren Gesang gelernt haben,
und ohne sie dazu nicht gelangt wären«. Aber er bringt wie später der Greifs-
walder Autor den Gesang mit einer anderen Fähigkeit des Menschen in Verbin-
dung: »Denn Ihm gab der Schöpfer nicht nur Stimme, sondern auch Sprache. Da
jede Sprache nun, schon ihrer Natur nach, Musik ist: so war, auch ohne Lyra und
Cither, dem Menschen mit ihr das Werkzeug einer lyrischen Poesie gegeben.«12
Zu der Frage, ob die lyrische Poesie ihren Ursprung im Gesang der Vögel habe
oder als Melodie mit Text darüber hinausgehe, wird auch im Wilhelm Meister eine
von der Position des Sängers in der Ballade des Harfners abweichende Position
11 De poësi lyrica, venia ampliss. facult. philos. Gryph. Disserunt Mag. Benjam. Lundelius Smo-
landus, et Laurentius Hellstadius, stipendiarius Victorinianus, in auditorio minori die 9 martii
1799. Horis ante meridiem solitis. Greifswald 1799, S. 5. Vgl. Dirk Werle: Lyriktheorie ›um 1800‹
an der Universität Greifswald: Benjamin Lundeliusʼ Dissertation De poesi lyrica. In: Reimund
B. Sdzuj u. a. (Hgg.): Dichtung – Gelehrsamkeit – Disputationskultur. Festschrift für Hanspeter
Marti zum 65. Geburtstag. Wien u. a. 2012, S. 702–715. – Ein erster Vorläufer dieses Vorstellungs-
komplexes könnte – wenig überraschend – Aristoteles sein, der zu Beginn der Poetik von der
Kunst derer berichtet, die mit ihrer Stimme die Natur nachahmen. Vgl. Aristoteles: Poetik [~355
v. Chr.]. Griechisch/deutsch. Übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 4
[1447a].
12 Johann Gottfried Herder: Die Lyra. Von der Natur und Wirkung der lyrischen Dichtkunst
[1795]. In: ders.: Werke in zehn Bden. Hg. von Günter Arnold u. a. Bd. 8: Schriften zu Literatur
und Philosophie 1792–1800. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt a. M. 1998, S. 117–135, hier
S. 120 f.
122 Dirk Werle
vertreten, nämlich von Wilhelm, der den Harfner zur Präsentation seiner eigenen
Dichtung auffordert und in diesem Zusammenhang über das Wesen des Gesangs
äußert: »[…] Melodien, Gänge und Läufe ohne Worte und Sinn scheinen mir
Schmetterlingen oder schönen bunten Vögeln ähnlich zu sein, die in der Luft
vor unsern Augen herumschweben, die wir allenfalls haschen und uns zueignen
möchten; da sich der Gesang dagegen wie ein Genius gen Himmel hebt und das
bessere Ich in uns ihn zu begleiten anreizt.«13
Goethe konnte, obwohl Herders zitierte Abhandlung zur Zeit der Abfassung
des entsprechenden Kapitels des Wilhelm Meister noch nicht erschienen war, die
Diskussion über das Verhältnis von Vogelgesang, Sprache und lyrischer Dich-
tung gleichwohl vermittelt über Herder kennen gelernt haben. In anderer Per
spektivierung referiert Herder den Gedanken bereits in der Abhandlung über den
Ursprung der Sprache, die 1772 erschien, die Goethe aber bereits seit 1770 kannte:
»Die Tradition des Altertums sagt; die erste Sprache des menschlichen Geschlechts
sei Gesang gewesen, und viele gute musikalische Leute haben geglaubt, die Men-
schen könnten diesen Gesang wohl den Vögeln abgelernt haben […].«14 Den
Gedanken wehrt Herder freilich ab, weil seine Sprachtheorie gerade auf dem
Unterschied des Menschen vom Tier beruht.15 Was Herder genau mit der »Tra-
dition des Altertums« meint, auf die er sich als Quelle des Gedankens bezieht,
darüber gibt Ulrich Gaiers Kommentar keine Auskunft. Stattdessen verweist er
global auf Bernard de Bovier de Fontenelles Abhandlung Sur la Poésie en général,
wo der »Ursprung des Gesangs auf Imitation der Vögel« zurückgeführt werde.16
Dass daher bereits der Fontenelle-Briefpartner und -Herausgeber Johann Chris-
toph Gottsched den Gedanken kennen konnte, liegt als Vermutung nahe, trifft
aber vermutlich nicht zu: Fontenelles Abhandlung ist ein Spätwerk, das erst 1751
im Druck erschien. Zu Beginn der Abhandlung schreibt Fontenelle, die Poesie
habe zwei Quellen: erstens die in der Erinnerung abspeicherbaren Versgesetze,
zweitens den Gesang »à l’imitation des oiseaux«.17
von Gaier genannten Abhandlung handelt es sich um einen anderen Text als jenen, der in Luise
Gottscheds Übersetzung in vier Folgen im Neuen Büchersaal der schönen Wissenschaften und
freyen Künste erschienen ist: L.[uise] A.[delgunde] V.[ictorie] G.[ottschedin]: Des Herrn von Fon-
tenelle Betrachtungen über die Dichtkunst. Aus dem VI. Theil seiner Œuvres div. übersetzt. In:
Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 1 (1745), S. 496–514 [6. Stück,
Nr. 2] und 2 (1746), S. 33–52 [1. Stück, Nr. 3], S. 162–175 [2. Stück, Nr. 7] sowie S. 225–238 [3. Stück,
Nr. 3]. In diesem Text geht es nicht um Lyrik und Vogelgesang, sondern um Theatertheorie.
18 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst für die Deutschen […].
Zweyte und verbesserte Auflage […]. Leipzig 1737, S. 68 [Teil 1, Kap. 1, § 3].
19 Ders.: Versuch einer Critischen Dichtkunst [31742]. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Jo-
achim und Brigitte Birke. Bd. 6, T. 1. Berlin, New York 1973, S. 131.
20 Ebd., S. 116.
21 Skizzenartig bereits im ersten, allgemeinen Teil: »Und so sehen wir denn nicht nur, daß die
alleraelteste Gattung der Poesie in Gesaengen, Liedern und Oden bestanden; sondern auch in
wie vielerley Gattungen sich dieselben allmaehlich eingetheilet. Ein Lied zum Lobe der Goet-
ter, hieß nachmals im griechischen Hymnus, oder Paean; ein Lied auf einen Helden, Encomium
oder Scolion; ein satyrisch Lied, Dithyrambus; ein verliebtes Lied, Melos oder Threnus; und ein
Trinklied, hieß eine Ode […]. So gar als allmaehlich die Heldengedichte, Tragoedien, Comoedien
und Schaefergedichte aufkamen, war noch der Gesang ein unentbehrliches Stueck bey allen.
124 Dirk Werle
an erster Stelle Lieder, oder Oden. Unter Oden versteht Gottsched mithin nicht
Gedichte in antiken Odenversmaßen, sondern liedhafte Gedichte. ›Ode‹ heißt im
Griechischen ›Lied‹, und ein anderer aus dem Griechischen vermittelt über das
Lateinische tradierter Name für solche Gedichte ist lyrica. Gottsched steht am
Beginn einer Begriffsverschiebung, die am Ende des 18. Jahrhunderts, zur Zeit
der Abfassung der Ballade »Der Sänger«, zu einem Abschluss gelangt, nämlich
von einem Konzept der Lyrik als liedhafter, der Idee nach zu einer Melodie gesun-
gener Dichtung hin zu einem Konzept der Lyrik als Makrogattung, die vom Epos
einerseits, vom Drama andererseits abgegrenzt wird.22 Die Idee der Dichtung als
Vogelgesang wird bei Gottsched in Verbindung mit der Lyrik, im älteren Sinne
verstanden als liedhafte, sangbare Dichtung, gedacht.
IV.
Diese traditionelle Vorstellung von Lyrik geht für den Bereich der Poetik der
Dichtung in deutscher Sprache zurück auf Martin Opitz. In Opitz’ 1624 erschiene-
nem Buch von der deutschen Poeterey findet sich im die dispositio der Dichtung
betreffenden fünften Kapitel ebenfalls eine Gattungslehre, die aber, anders als
bei Gottsched, im Sinne der rhetorischen Stillehre sortiert ist. Dementsprechend
steht die Lyrik hier an letzter Stelle, sie entspricht am reinsten dem stilus humilis.
Opitz erläutert zu dieser Textsorte: »Die Lyrica oder getichte die man zur Music
sonderlich gebrauchen kann / erfodern zueförderst ein freyes lustiges gemüte /
Das Heldengedichte naemlich, entstund aus den Lobliedern auf Goetter oder Helden […]. Die
Tragoedien und Comoedien entstunden aus den satirischen Spottliedern […]. Die Schaeferge-
dichte entstunden aus den verliebten Liedern, welche sonderlich in Arkadien und Sicilien, als
ein paar fruchtbaren und gesegneten Landschaften, moegen im Schwange gewesen seyn […].«
Ebd., S. 132 f.
22 Vgl. dazu allgemein Irene Behrens: Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehm-
lich vom 16. bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen. Halle 1940
(Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie; 92), S. 180–195. Behrens macht im Rahmen
ihrer Studie auf Vorläufer dieser Sichtweise bereits in der italienischen Renaissance aufmerk-
sam. Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gott-
sched bis Herder. Stuttgart 1968 hat für den deutschen Bereich gezeigt, dass die Dreiteilung der
Poesie in die Makrogattungen Epik, Lyrik und Drama schon in Alexander Gottlieb Baumgartens
Dissertation Meditationes Philosophicae de Nonnullis ad Poema Pertinentibus von 1735 auftaucht
und sich im Rahmen der Batteux-Rezeption seit Mitte des 18. Jahrhunderts nach und nach durch-
setzt (ebd., S. 261 f.). Vgl. auch Stefan Trappen: Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis
19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Heidelberg 2001 (Beihefte
zum Euphorion; 40).
»Ich singe, wie der Vogel singt« − Bestimmung der Lyrik von Goethe bis Opitz 125
vnd wollen mit schönen sprüchen vnnd lehren häuffig geziehret sein […].«23 Auch
Opitz schreibt den lyrica im Rahmen seiner Gattungslehre eine herausgehobene
Bedeutung zu. Das wird allerdings nicht durch die Konstruktion einer Ursprungs-
geschichte begründet, sondern durch rhetorische Kategorien. Die herausgeho-
bene Bedeutung der lyrica wird unterstrichen durch den Umstand, dass diese
Textsorte im Rahmen der Gattungslehre die einzige ist, die durch ein Textbeispiel
veranschaulicht wird, nämlich durch Opitz’ eigene Ode »Ich empfinde fast ein
grawen«, eine freie Übersetzung von Pierre Ronsards zuerst 1554 erschienener
Ode Nr. 18, »J’ai l’ésprit tout ennuyé«.24 Bekanntlich hat Opitz seine Vorstellun-
gen von Dichtung an anderer Stelle im großen Stil durch Beispiele veranschau-
licht, nämlich durch das Parallelunternehmen zum Buch von der deutschen Poe-
terey, die Teutschen Poemata. Hier findet sich eine ganze Gruppe von lyrica oder
auch Oden, und die Ode Nr. 5 gestaltet den Vergleich von Lyrik und Vogelgesang.
23 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey [1624]. Studienausgabe. Hg. von Herbert Jau-
mann. Stuttgart 2002, S. 33 [Kap. 5].
24 Vgl. zum Verhältnis zwischen Ronsards Vorlage und Opitz’ imitatio Detlef Haberland:
Opitz’ Ode Ich empfinde fast ein grawen zwischen Pierre Ronsard und Siegmund von Birken.
In: Mirosława Czarnecka u. a. (Hgg.): Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und
Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki
(1928–1992). Wrocław 2003, S. 309–325, hier S. 311–315.
25 Martin Opitz: Weltliche Poemata 1644. Zweiter Teil. Hg. von Erich Trunz. Tübingen 1975
(Deutsche Neudrucke. Reihe: Barock; 3), S. 333 f.
126 Dirk Werle
Wie später in Goethes »Sänger«-Gedicht werden hier die Vögel mit einem freien
Leben assoziiert. Die Freiheit ist aber nicht wie bei Goethe Freiheit von materiel-
len und gesellschaftlichen Bindungen, sondern eine Freiheit von Emotionen und
Bedürfnissen. Opitz’ Ode ist ein Liebesgedicht, in dem sich das Ich wünscht, wie
die Vögel singen zu können, nämlich frei von emotionalen Beschwernissen, die
durch das Nicht-erhört-Werden durch die Geliebte bewirkt werden. Wichtig für
den hier verfolgten poetikgeschichtlichen Zusammenhang ist aber ein weiterer
Aspekt: Das Ich setzt seinen Gesang nicht wie später Goethes Sänger selbstbe-
wusst mit dem der Vögel gleich, sondern es beschreibt den Vogelgesang als Ideal,
das nicht erreicht wird. Der Vogelgesang ist etwas, dem der lyrische Dichter nach-
eifern kann, ohne dass er wirklich glaubt, es jemals erreichen zu können. Die
Lyrik-Konzeption von Goethes Sänger ist geradezu gegen eine Vorstellung künst-
licher und regelgeleiteter Rhetorik als Referenzrahmen für Dichtung formuliert;
bei Opitz stehen die beiden Referenzen Vogelgesang und Rhetorik sich dagegen
nicht unvermittelbar gegenüber: Der Gesang der Vögel kann als exemplum des
Dichters gelten, den er nachahmen kann; dabei ist jedoch immer klar, dass die
rhetorischen Mittel des Dichters die Natürlichkeit des Vogelgesangs nicht wirk-
lich erreichen können; zudem sind die Gründe, warum die Frau ihn nicht erhört,
andere als der, dass er nicht naturähnlich genug dichtet.
Woher übernimmt Opitz seine Konzeption der Lyrik als liedhafter, sangbarer
Dichtung? Das ist, soweit ich sehe, bislang ebenso unvollständig geklärt wie die
allgemeinere Frage, woher er seine Gattungslehre bezieht. Verschiedene Kandida-
ten kommen in Frage, an erster Stelle die Poetik des Julius Caesar Scaliger,26 aber
auch dichterische Vorbilder wie Daniel Heinsius oder auch Francesco Petrarca.27
Die Bestimmung der Lyrik durch Opitz hatte vermutlich auch für viele Zeitgenos-
sen keine eindeutig erkennbaren Bezugspunkte. Zudem definiert er sie im Buch
von der deutschen Poeterey alles andere als präzise; an die oben zitierte knappe
Bestimmung schließt Opitz eine an eine Stelle bei Horaz anknüpfende Liste mög-
26 Vgl. zur Erklärung auf den ersten Blick inkonsistenter Darlegungen Opitz’ zur Gattungs
poetik im Anschluss an Scaliger Stefan Trappen: Dialektischer und klassischer Gattungsbegriff
bei Opitz. Ein übersehener Zusammenhang zwischen Aristoteles, Scaliger und der deutschen
Barockpoetik. In: Thomas Borgstedt, Walter Schmitz (Hgg.): Martin Opitz (1597–1939). Nach
ahmungspoetik und Lebenswelt. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit; 63), S. 88–98.
27 Vgl. auch die Hinweise bei Jörg Robert: Vetus Poesis – nova ratio carminum. Martin Opitz und
der Beginn der Deutschen Poeterey. In: Jan-Dirk Müller, J. R. (Hgg.): Maske und Mosaik. Poetik,
Sprache, Wissen im 16. Jahrhundert. Berlin 2007 (Pluralisierung & Autorität; 11), S. 397–440, hier
S. 420–426. Zur Bedeutung von Heinsius im gegebenen Zusammenhang vgl. Achim Aurnham-
mer: Daniel Heinsius und die Anfänge der deutschen Barockdichtung. In: Eckard Lefèvre, Eckart
Schäfer (Hgg.): Daniel Heinsius. Klassischer Philologe und Poet. Tübingen 2008 (NeoLatina; 13),
S. 329–345.
»Ich singe, wie der Vogel singt« − Bestimmung der Lyrik von Goethe bis Opitz 127
licher Inhalte der lyrica an: Horaz wolle, so Opitz, »zue verstehen geben / das sie
alles was in ein kurz getichte kann gebracht werden beschreiben können; buhle-
rey / täntze / banckete / schöne Menscher / Gärte / Weinberge / lob der mässigkeit /
nichtigkeit des todes / etc.«28 Diese Liste ist erstaunlich unspezifisch. Anscheinend
kann alles Mögliche Gegenstand von lyrica sein. Weiter führt hier die Beobachtung
dessen, was nicht Teil der Liste ist, etwa Theoretisches und Religion. Als mögliche
Gegenstände lyrischer Dichtung bleiben jedoch, auch wenn man diese Bereiche
ausgrenzt, noch sehr viele mögliche Inhalte übrig. Formal hingegen bestimmt Opitz
die lyrica nicht. Da er sie aber andererseits als Textsorte kodifiziert und darüber
hinaus als besondere Textsorte hervorhebt, ist es nicht verwunderlich, dass die
Autoren, die in der Nachfolge von Opitz versuchten, eine genuin deutschsprachi-
ge Kunstdichtung ins Werk zu setzen, besonders auch an der Frage herumexperi-
mentierten, was eigentlich ein gelungenes lyrisches Lied, eine gelungene Ode sei.
Daraus resultiert in den Zentren der Opitz-Nachfolge in den 1630er und 1640er
Jahren, in Königsberg, in Hamburg, vor allem aber in Leipzig und Umgebung, eine
rege und vielgestaltige Produktion von lyrischen Liedern.29 Als einem der ersten
regionalen Zentren, in denen die Opitz’sche Dichtungsreform im größeren Stil
umzusetzen versucht wird, kommt Leipzig und dem dort ansässigen Dichterkreis
eine literaturhistorisch eminente Bedeutung zu. Diese Bedeutung hat bislang
nicht zu entsprechenden Forschungsaktivitäten geführt, so dass die Namen der
Protagonisten des Leipziger Dichterkreises bisher vor allem Spezialisten geläufig
sind.30 Eine Ausnahme bildet Paul Fleming, der Leipzig aber früh wieder verlas-
sen hat und somit innerhalb des Kreises eine Sonderrolle einnimmt.31 Bekannt
28 Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (Anm. 23), S. 33 [Kap. 5].
29 Vgl. dazu Anthony J. Harper: Zur Verbreitung und Rezeption des weltlichen Liedes um 1640
in Mittel- und Norddeutschland. In: Gudrun Busch, A. J. H. (Hgg.): Studien zum deutschen welt-
lichen Kunstlied des 17. und 18. Jahrhunderts. Amsterdam, Atlanta 1992 (Chloe. Beihefte zum
Daphnis; 12), S. 35–52.
30 Allen voran Anthony J. Harper; vgl. die vorangegangene und die folgende Fußnote. Der Leip-
ziger Dichterkreis müsste, wie Forschungen der letzten Jahrzehnte gezeigt haben, eigentlich
zumindest in Anführungszeichen gesetzt werden. Es handelte sich weniger um eine eng verbun-
dene soziale Gruppierung, sondern eher um einen lockeren Zusammenhang von dichtenden Ge-
lehrten im mitteldeutschen Raum mit mehr oder weniger enger Affinität zur Leipziger Universi-
tät. Dieser Zusammenhang erstreckt sich über mindestens zwei Generationen, und gerade in der
zweiten Generation erweitert bzw. verlagert sich der regionale Schwerpunkt der Gruppierung,
einerseits an die Universität Wittenberg, die durch die Strahlkraft des dort lehrenden August
Buchner für jeden an Poesie Interessierten Attraktivität besaß, andererseits nach Dresden, wo
man als Gelehrter bei Hofe in Lohn und Brot gelangen konnte.
31 Vgl. überblickshaft zu dem Zusammenhang Anthony J. Harper: Die Leipziger Lyrik nach Paul
Fleming – ein neuer Überblick. In: ders.: Schriften zur Lyrik Leipzigs. Stuttgart 1985, S. 21–46;
Volker Meid: Barocklyrik. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar 2008
128 Dirk Werle
war der Leipziger Dichterkreis des 17. Jahrhunderts allerdings noch im wichtigsten
Leipziger Gelehrtenkreis des 18. Jahrhunderts, im Kreis um Gottsched. Im 1746 er-
schienenen zweiten Band des Neuen Büchersaals der schönen Wissenschaften und
freyen Künste findet sich die Edition einer Abschiedsode aus der Feder des Gott-
lieb Siegmund Corvinus, und sie wird eingeleitet durch eine »Vorerinnerung. Von
den berühmtesten Meißnischen Dichtern«32 – beschrieben wird im Großen und
Ganzen dieselbe Gruppierung, die in der Forschung lange Zeit als Leipziger Dich-
terkreis firmierte. Gottsched muss, wie sich zeigen wird, die Vorstellung von lyri-
scher Dichtung als Vogelgesang nicht aus französischen Poetiken kennen gelernt
haben; er kann sie auch aus der deutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts kennen, viel-
leicht vermittelt über die regionale Leipziger Tradition. Dafür kann der genannte
Fund freilich nur ein erstes Indiz bieten.
Die Leipziger Lyriker des 17. Jahrhunderts arbeiten also an der Umsetzung
von Opitz’ Andeutungen zur Dichtung von lyrischen Liedern; im protestanti-
schen Kernland ist in diesem Kontext jedoch noch ein weiterer Gattungsprätext
prägend: das protestantische Kirchenlied, das hier durch das 16. Jahrhundert
hindurch gepflegt, tradiert und weiterentwickelt worden war. Liederdichtung
nach Opitz ist damit für das Verständnis der Zeitgenossen immer auch ein ›Säku-
larisat‹ geistlicher Vorbilder (umgekehrt können dann im Lauf des 17. Jahrhun-
derts die weltlichen Lieder wieder zu Vorbildern neuer geistlicher werden). Vor
diesem Hintergrund ist es nicht ohne Bedeutung, wenn Christian Brehme, einer
der Protagonisten des Leipziger Dichterkreises, seine 1637 erschienene Ode »Auff
der Schaeferin Magdalis Namens-tag« formal im Wesentlichen identisch wie
Martin Luthers De profundis-Variation »Aus tiefer Not schrei ich zu dir« gestal-
tet. Dieses Modell übernimmt noch strenger als Brehme später auch Goethe für
seine Sänger-Ballade,33 was einmal mehr ein Hinweis für die gattungspoetische
Reflektiertheit des Autors ist. Wichtiger für den hier traktierten Zusammenhang
ist aber: Auch Brehmes Ode gestaltet den Vergleich zwischen lyrischer Dichtung
und Vogelgesang.
(Sammlung Metzler; 227), S. 83–99; ders.: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom
Späthumanismus zur Frühaufklärung 1570–1740. München 2009 (Geschichte der deutschen Lite
ratur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begründet von Helmut de Boor und Richard Ne-
wald), S. 144–166.
32 Weil. Gottlieb Siegmund Corvini, sonst Amaranthes, letztere Poesie und Abschieds-Ode. In:
Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 2 (1746), S. 238–256 [3. Stück,
Nr. 4], vor allem S. 238–244: Vorerinnerung. Von den berühmtesten Meißnischen Dichtern.
33 Vgl. den Hinweis bei Hahn (Anm. 3), S. 147.
»Ich singe, wie der Vogel singt« − Bestimmung der Lyrik von Goethe bis Opitz 129
34 Christian Brehme: Auff der Schäferin Magdalis Namens-tag. In: ders.: Allerhandt Lustige /
Trawrige / vnd nach gelegenheit der Zeit vorgekommene Gedichte [1637]. Mit einem Nachwort,
Bibliographie und einem Neudruck der »Weltlichen Gedichte« (1640) hg. von Anthony J. Harper.
Tübingen 1994, Bl. Q2v f.
130 Dirk Werle
Wie bei Opitz wird der Vergleich zwischen lyrischem Gedicht und Vogelgesang
innerhalb eines Naturszenarios entwickelt. Aber anders als bei Opitz ist das
Brehme’sche Szenario das einer idealisierten Schäferwelt. Schäferdichtung
ist bekanntlich im 17. Jahrhundert verbreitet und beliebt und besitzt seit ihrer
Erfindung in der Antike als festen Bestandteil eine poetologische Dimension:
Die Hirten sind immer auch Dichter.35 Wie bei Opitz spielt auch in Brehmes
Gedicht eine Frau als Zielpunkt des Gesangs des lyrischen Ich eine Rolle, aber
hier ist es keine unerreichbare Geliebte, sondern eine Jubilarin – ob das Ich der
Geliebte der Hirtin namens Coridon ist, der in der zweiten Strophe von sich in der
dritten Person redet, bleibt unbestimmt, ist aber zu vermuten: Coridon ist auch
ein Dichter. Seit Opitz’ Corydon-Ode, deren Bekanntheit durch die zahlreichen
Parodien belegt ist, war der Name mit dieser Bedeutung eng verbunden, konnte
als Chiffre für Dichtertum gelten und rief einen intertextuellen Zusammenhang
auf. Wie bei Opitz spielt in Brehmes Gedicht die Konkurrenz des Dichters mit
den Vögeln eine Rolle, aber in einem anderen Sinne. Die Vögel sind bei Brehme
gerade nicht frei, sie stehen unter dem Zwang, die Hirtin Magdalis besingen zu
müssen. Das liegt daran, dass sie Teil der Natur sind, über die Magdalis gebietet
und die darum im Ganzen ihren Namenstag besingen muss. Demgegenüber kann
der Dichter nur »schlechten Leyer-klang« produzieren; sein Gedicht ist gegen-
über dem imaginierten Naturgesang defizitär. Dieser Aspekt ist für die hier ver-
folgte poetikgeschichtliche Fragestellung relevant, denn in der Konkurrenz mit
den Vögeln wird das Dichter-Ich, konträr zu dem in Goethes Gedicht entfalteten
Szenario, gerade als nicht naturbezogener Sänger beschrieben, dessen Kunst
gegenüber dem Naturgesang stets nur defizitär sein kann. Bei all dem ist zudem
zu berücksichtigen, dass das Szenario bei Brehme ironisch perspektiviert wird:
Der Lobgesang auf die Schäferin Magdalis endet in ohrenbetäubendem Lärm.
Die poetologische Relevanz des Gesagten wird durch diese Brechung ein wenig
zurückgefahren.
An einem weiteren Beispiel der Leipziger Lyrik des 17. Jahrhunderts wird eine
Konsequenz des Modells deutlich, nach dem der Dichter in Konkurrenz mit den
Vögeln tritt, deren als Ideal angesehener Gesang jedoch niemals erreicht werden
kann. Der vielleicht wichtigste Leipziger Lyriker der zweiten Generation ist David
Schirmer. Schirmer veröffentlicht 1654 eine Gedichtsammlung unter dem Titel
Singende Rosen Oder Liebes- und Tugend-Lieder.36 Diese Sammlung weist gegen-
35 Vgl. dazu die klassische Studie von Ernst A. Schmidt: Poetische Reflexion. Vergils Bukolik.
München 1972.
36 Vgl. die Würdigung Schirmers in der genannten »Vorerinnerung. Von den berühmtesten
Meißnischen Dichtern« aus dem Jahr 1746 (Anm. 32), S. 240: »Es ist kein Lob für seine Nachkom-
men, daß man ihn so gar ins Vergessen gerathen lassen, da er wohl werth wäre, vor vielen neu-
»Ich singe, wie der Vogel singt« − Bestimmung der Lyrik von Goethe bis Opitz 131
über den bisher erwähnten von Opitz und Brehme eine Besonderheit auf. Opitz’
Oden sind idealiter zum Singen gedacht, aber eine Melodie dazu ist nicht fest-
gelegt. Das trifft auch auf Brehme zu, der jedoch, für die Zeit nicht untypisch,
vielen seiner lyrischen Gedichte Hinweise beifügt, auf welche bekannten Melo-
dien die von ihm verfassten Texte gesungen werden können; es handelt sich dem
Anspruch nach um Kontrafakturen, um Neuvertextungen.37 Schirmer repräsen-
tiert mit seiner Sammlung demgegenüber den konsequenten nächsten Schritt:
Seine Gedichte sind mit musikalischen Notationen versehen, die der böhmische
Komponist Philipp Stolle zu den Texten verfertigt hat. In dieser Sammlung ist
mithin die Vollform liedhafter Dichtung verwirklicht. Passend zu diesem Befund
erscheint drei Jahre später, 1657, im Rahmen von Constantin Christian Dedekinds
Aelbianischer Musen-Lust, einer Sammlung von Vertonungen deutschsprachiger
Lyrik seit Opitz, vornehmlich sächsischer Provenienz, auch eine Vertonung von
Opitz’ Ode »Komt lasst uns ausspazieren«, die damit nachträglich ebenfalls zu
einem ›echten‹ Lied transformiert wird.38 In einem der in Schirmers Singenden
Rosen versammelten Lieder, einem carpe diem-Gedicht, wird, wie bereits der
beste Kenner der nord- und mitteldeutschen Liederdichtung des 17. Jahrhunderts,
Anthony J. Harper, gezeigt hat, die Konkurrenz zum Vogelgesang experimentell
ins Werk gesetzt, indem durch daktylischen Rhythmus sowie die Mittel der Ono-
matopoiie, der Alliteration, der Assonanz und des Binnenreims Tier- und insbe-
sondere Vogellaute nachgeahmt werden. Dabei spielt nicht bloß Klangmalerei
eine Rolle, sondern allgemeiner ein Spiel mit den Möglichkeiten der Sprache:
ern gelesen zu werden; die ihn zwar in Fehlern übertroffen, aber an reinem Feuer und lauterm
Witze nicht erreichet haben.«
37 Vgl. zu dieser Relation von Lyrik und Musik Winfried Eckel: Lyrik und Musik. In: Dieter Lam-
ping (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart, Weimar 2011, S. 180–192,
hier S. 189. Eckels Handbuchbeitrag bietet einen guten Überblick über das gesamte intermediale
Feld ›Lyrik und Musik‹. Spezifischer zum 17. Jahrhundert Achim Aurnhammer und Dieter Mar-
tin: Musikalische Lyrik im Literatursystem des Barock. In: Siegfried Mauser (Hg.): Handbuch der
musikalischen Gattungen. Bd. 8,1: Musikalische Lyrik. Teil 1: Von der Antike bis zum 18. Jahrhun-
dert. Hg. von Hermann Danuser. Laaber 2004, S. 334–348. Noch spezifischer zu Brehme Werner
Braun: Lieder ohne Noten: Christian Brehme (1637 und 1640). In: Christoph-Hellmut Mahling,
Ruth Seiberts (Hgg.): Festschrift Walter Wiora zum 90. Geburtstag (30. Dezember 1996). Tutzing
1997 (Mainzer Studien zur Musikwissenschaft; 35), S. 24–33.
38 Constantin Heinrich Dedekind: Die Aelbianische Musen-Lust. Faksimiledruck der Ausgabe
von 1657. Hg. und eingeleitet von Gary C. Thomas. Bern u. a. 1991 (Nachdrucke deutscher Litera-
tur des 17. Jahrhunderts; 47), Bl. C1v f. Auf Dedekinds Vertonung von Opitz’ Ode weist bereits An-
thony J. Harper: German Secular Song-Books of the Mid-Seventeenth Century. An examination of
the texts in collections of songs published in the German-language area between 1624 and 1660.
Aldershot/Hampshire, Burlington/Vermont 2003, S. 194 hin.
132 Dirk Werle
39 David Schirmer: Ermuntert euch meine Gedancken und Sinnen. In: ders.: Singende Rosen /
Oder Liebes- und Tugend-Lieder Jn die Music gesetzt Durch Philipp Stollen […]. Dresden 1654,
Nr. 67. Vgl. die Hinweise bei Harper: German Secular Song-Books (Anm. 38), S. 187 f.
40 Vgl. zur symbolgeschichtlichen Bedeutung insbesondere von Nachtigall und Lerche als poe
tologischen Symbolen der Dichtung die Artikel von Günter Butzer und Joachim Jacob: Lerche
sowie von Adam Lengiewicz: Nachtigall. In: G. B., J. J. (Hgg.): Metzler Lexikon literarischer Sym-
bole. Stuttgart, Weimar 2008, S. 204 f. und 246 f. Kanonische lyrische Gestaltungen der Thematik
im 18. Jahrhundert liegen vor von Christian Fürchtegott Gellert: Die Nachtigall und die Lerche
[1746] sowie Die Lerche und die Nachtigall [1756]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Kritische,
kommentierte Ausgabe. Hg. von Bernd Witte. Bd. 1: Fabeln und Erzählungen. Hg. von Ulrike
Bardt, B. W. Berlin, New York 2000, S. 58 f. und 218; von Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Elegie
auf eine Nachtigall [1771], Die Nachtigall [1773/1783] sowie An eine Nachtigall, die vor meinem
Kammerfenster sang [1776]. In: ders.: Gesammelte Werke und Briefe. Kritische Studienausgabe.
Hg. von Walter Hettche. Göttingen 22008, S. 46–50, 163 f. und 225 f.; schließlich von Friedrich
Gottlieb Klopstock: Die Lerche, und die Nachtigall [1796]. In: ders.: Werke und Briefe. Historisch-
kritische Ausgabe. Hg. von Horst Gronemeyer u. a. Abt. Werke, Bd. I/1: Oden. Text. Hg. von H. G.,
Klaus Hurlebusch. Berlin, New York 2010, S. 531 f. Zu Gellert vgl. Bernd Witte: »Die Wahrheit,
durch ein Bild, zu sagen.« Gellert als Fabeldichter. In: ders. (Hg.): »Ein Lehrer der ganzen Na-
tion«. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts. München 1990, S. 30–50.
»Ich singe, wie der Vogel singt« − Bestimmung der Lyrik von Goethe bis Opitz 133
41 Vgl. die allgemeine Einschätzung von Günther Müller: Geschichte des deutschen Liedes. Vom
Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart. Darmstadt 1959, S. 75: »Schirmer gehört mit Zesen an den
Anfang der ausgesprochen klangvirtuosen Lieddichtung.«
42 David Schirmer: Marnia und ein Buch. In: ders.: Poetische Rosen-Gepüsche. Dresden 1657,
S. 77 f. Vgl. den Hinweis bei Harper: German Secular Song-Books (Anm. 38), S. 171. Eine weitere
Parodie von Opitzʼ Ode im Umfeld des Leipziger Dichterkreises findet sich bei Gottfried Finckel
thaus: Er entsaget der Liebe. In: ders.: Deutsche Gesänge. Hamburg 1640, Bl. F1v. Vgl. zu Fin-
ckelthaus’ Opitz-Parodien auch die Hinweise bei Harper: Leipziger Lyrik (Anm. 31), S. 29 f. sowie
bei dems.: German Secular Song-Books (Anm. 38), S. 130. Zu den Opitz-Parodien Schirmers und
Finckelthaus’ sowie einiger anderer Autoren vgl. auch Haberland (Anm. 24) Auf weitere zeitge-
nössische Parodien von Opitz’ Gedicht macht Karl F. Otto, Jr.: Parodies of an Opitz Poem. In: Bar-
bara Becker-Cantarino, Jörg-Ulrich Fechner (Hgg.): Opitz und seine Welt: Festschrift für George
Schulz-Behrend zum 12. Februar 1988. Amsterdam, Atlanta 1990 (Chloe. Beihefte zum Daphnis;
10), S. 391–398 aufmerksam. Kurioser Weise vertont Dedekind in der Aelbianischen Musen-Lust
nicht Opitzʼ Vorlage, sondern Finckelthausʼ Parodie. Vgl. Dedekind (Anm. 38), Bl. H1v f. Von
allen Gründen, die man hierfür vermuten kann, gefällt mir der am besten, dass Dedekind Humor
hatte. Statt des Opitz-Gedichts, in dem das Ich Grauen vor Platon und seinen gelehrten Kumpa-
nen empfindet, denen es zu lange gefrönt hat, und als Antidot in die Natur geht, wo die Vögel
singen, also statt eines dem Inhalt nach ausgesprochen musikaffinen Gedichts, vertont Dede-
kind das Finckelthaus-Gedicht, in dem das Ich Grauen vor der Liebe empfindet, der es zu lange
gefrönt hat, und als Antidot in seine Bibliothek geht, um zu schauen, »Was doch meine Bücher
machen/ | Die ich lange nicht gesehn«, also ein dem Inhalt nach überhaupt nicht musikaffines
Gedicht.
43 Die Zitate nach Elisabeth Rothmund: Musikalische Elemente in Zesens Theorie der Lyrik. In:
Maximilian Bergengruen, Dieter Martin (Hgg.): Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur.
Tübingen 2008, S. 35–54, hier S. 53. Rothmund bezieht sich hier vor allem auf Philipp von Zesen,
setzt seine Lyrikauffassung dabei jedoch in Beziehung zu der der Leipziger Lyriker.
134 Dirk Werle
das poetologische Ideal der lyrischen Dichtung, die ist wie der Gesang der Vögel,
bleibt dagegen mindestens bis Ende des 18. Jahrhunderts poetologisch relevant.
V.
Wenn Goethe Ende des 18. Jahrhunderts in seiner Ballade »Der Sänger« das Ideal
einer Dichtung entwirft, die wie der Gesang der Vögel ist, dann steht er in einer
langen poetologischen und lyrikhistorischen Tradition, die mindestens bis auf
Opitz zurückgeht. Die scheinbar widersprüchliche Strategie, auf dem Umweg
über die Tradition, das Alte, das Vermittelte eine höhere Form der Unmittelbar-
keit herzustellen, findet sich in Goethes Schaffen nicht selten. Dass Goethe für
seine Thematisierung und Problematisierung der alten Vorstellung von lyrischer
Dichtung als Vogelgesang die Textsorte Ballade wählt, erscheint vor dem Hin-
tergrund der vorangegangenen Explorationen nochmals in einem anderen Licht:
Christian Wagenknecht betont in seinem Artikel im Reallexikon der deutschen
Literaturwissenschaft, dass »die Regelpoetik des Barock und der frühen Aufklä-
rung (von Opitz bis Gottsched) im Kanon der Gattungen für die Ballade keinen
Platz« hatte.44 Goethe wählt diese Textsorte vermutlich auch, um anzuzeigen,
dass er das Konzept der Dichtung als Vogelgesang im Rahmen eines Volkspoesie
modells konzipiert, in das sich viele der einschlägigen Gedichte seit Opitz aus
der Retrospektive einordnen lassen und das unabhängig von den Regelpoeti-
ken gedacht wird – die aber zur Tradierung des Konzepts von Lyrik als Vogel-
gesang, wie skizziert, maßgeblich beigetragen hatten. Der Vergleich ausgewähl-
ter Beispiele von und nach Opitz mit Goethes Text führt nun zu einer These zur
Geschichte der Bestimmung der Lyrik im doppelten Sinne, deren Triftigkeit durch
weiterführende Untersuchungen überprüft werden müsste: Im Kontext der Oden-
dichtung nach Opitz dient der poetologische Vergleich mit dem Vogelgesang der
Anzeige einer Konkurrenz, bei der der menschliche Dichter stets den Kürzeren
zieht – noch Schirmers selbstbewusster Versuch zeigt ja im Grunde ein Schei-
tern an, insofern er vorführt, dass der Versuch, den Vogelgesang mit sprach
lichen Mitteln zu imitieren, nicht zu einem vollständig überzeugenden Ergebnis
führt. Prinzipiell wird die Konkurrenz des Dichters mit den Vögeln jedoch nicht
als aussichtslos vorgestellt. Mit der im 18. Jahrhundert sich vollziehenden Aus-
weitung des Konzepts der Lyrik zur Makrogattung, die als Modell für Dichtung
überhaupt gilt, wird auch die Vorstellung der Dichtung als Vogelgesang von dem
44 Christian Wagenknecht: Ballade [Art.]. In: Klaus Weimar u. a. (Hgg.): Reallexikon der deut-
schen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 192–196, hier S. 193.
»Ich singe, wie der Vogel singt« − Bestimmung der Lyrik von Goethe bis Opitz 135
begrenzten Bereich liedhafter, sangbarer Lyrik auf lyrische Dichtung als Modell
von Dichtung überhaupt ausgeweitet.45 Gleichzeitig wird der Vergleich lyrischer
Dichtung mit Vogelgesang in ein anthropologisches Narrativ eingepasst. Die Vor-
stellung erhält am Ende dieser Entwicklung bei Goethe mit dem Bezug auf eine
Vorstellung geniehafter, ursprungs- und naturbezogener Dichtung die Implika-
tion eines maximalen Anspruchs für den Dichter. Imaginiert wird, im Zuge einer
poetologischen Verschiebung von einer Fundierung der Dichtung in der Rhetorik
hin zur Fundierung in der ›Natur‹, eine Dichtung, für die kein Beispiel gegeben
werden, sondern über die man nur noch vermittelt sprechen kann, weil das min-
destens seit Opitz formulierte Ideal, zu singen, wie der Vogel singt, eine solche
poetologische Ernsthaftigkeit erlangt, dass es prinzipiell nicht mehr eingelöst
werden kann. Immerhin tritt etwa zur selben Zeit ein Vogelfänger auf den Plan,
der anstelle der Vögel singt. Eine Lösung der durch Goethe markierten Proble-
matik zeichnet sich später im romantischen Kunstlied ab, indem nämlich dort
das Erreichen des Natürlichen auf dem Umweg über die dezidierte Artifizialität
auf die Agenda gesetzt wird. So ist es kein Zufall, dass Goethes Sängerballade
durch romantische Komponisten von Franz Schubert bis Hugo Wolf vertont wird,
dass die Vertonungen erkennbar die intermediale Konkurrenz aufnehmen und
versuchen, angemessen auf das durch Goethes Ballade markierte Dilemma zu
reagieren.46 Aber auch im Medium des unvertonten lyrischen Gedichts finden
sich in der Romantik Versuche, mit dem durch Goethe formulierten Dilemma
umzugehen. Ein Beispiel bietet Ludwig Tiecks Herbstlied, in dem der singende,
aber nach Menschenart, mit Text singende Vogel das Ich in einen Zustand ver-
setzt, in dem sich Schmerz und Freude vereinen: Freude über die Schönheit des
Gesangs, Schmerz über den bevorstehenden Abschied des Vogels, der im Herbst
nach Süden zieht. Durch seine emotionale Reaktion gelingt es dem Ich jedoch,
den Vogel noch einmal zur Rückkehr zu bewegen und ihm sowie dem Leser zu
eröffnen, dass der Herbst eine bloß äußerliche Angelegenheit sei; solange Liebe
45 Bernhard Asmuth hat überzeugend dargelegt, inwieweit auch das moderne, an der Lyrik
orientierte Modell von Dichtung – im hier beschriebenen Sinne einer Dichtung als Vogelgesang –,
wie es Goethes Sänger vertritt, in veränderter Form rhetorisches Gedankengut weiterführt, das
für das ältere, frühneuzeitliche Modell von Dichtung konstitutiv war. Vgl. Bernhard Asmuth: Von
der Höhe der Rhetorik zur Mitte der Lyrik. Mit einem Hinweis auf die Bedeutung Pseudo-Longins
für das neuere Lyrikverständnis. In: Walter Baumgartner (Hg.): Wahre lyrische Mitte – »Zentral-
lyrik? Ein Symposium zum Diskurs über Lyrik in Deutschland und Skandinavien. Frankfurt a. M.
u. a. 1993 (Texte und Untersuchungen zur Germanistik und Skandinavistik; 34), S. 51–85.
46 Vgl. dazu Glauert (Anm. 8).
136 Dirk Werle
vorhanden sei, »[i]st und bleibt Frühlingesschein«. Diese tröstliche Einsicht wird
ihrerseits präsentiert in Gestalt eines Liedes, des Herbstlieds.47
Medienhistorisch gesprochen, passt sich das in diesem Beitrag skizzierte
Szenario einer Ideengeschichte von lyrischer Poesie als Vogelgesang in Vorstel-
lungen des sich wandelnden Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit
ein: Im 17. Jahrhundert ist für die lyrische Dichtung eine Situation der Schriftlich-
keit maßgeblich, in der die Mündlichkeit als reales Komplement immerhin noch
den poetologischen Vorstellungshintergrund bildet. Im 18. Jahrhundert dagegen
hat sich die Situation insofern verschärft, als die Mündlichkeit der Dichtung vor
allem als Phantasma vorstellungsleitend ist, das eine Reaktion auf zeitgenössi-
sche medien- und sozialhistorische Problemlagen darstellt, deren Grundlage
die – in medientechnischer wie -soziologischer Hinsicht – weitestgehende Durch-
setzung der Schriftlichkeit von Dichtung bildet.48 Der Dichter kann in dieser
Situation zwar imaginierend behaupten, er singe, wie der Vogel singt, aber ob er
das wirklich kann, dafür muss er dem Publikum den Beweis notwendig schuldig
bleiben, denn das Modell der Dichtung als Vogelgesang ist in dieser Situation ein
Ideal, das grundsätzlich nicht konkret exemplifiziert werden kann, sondern der
Imagination des Publikums anheimgestellt wird.
47 Ludwig Tieck: Herbstlied [1796/1799]. In: ders.: Schriften in zwölf Bänden. Hg. von Manfred
Frank u. a. Bd. 7: Gedichte. Hg. von Ruprecht Wimmer. Frankfurt a. M. 1995, S. 27 f. Das komplexe
Gedicht bedürfte eingehenderer Interpretation. Dabei wäre zu berücksichtigen, dass Tiecks Text
(auch in dieser Hinsicht vergleichbar Goethes »Sänger«, der im Kontext eines größeren Texts ent-
steht und später auch separat publiziert wird) zwar zunächst als separates Gedicht entstanden
ist, später aber in den Kontext eines größeren Texts, des Dramas Prinz Zerbino, integriert wurde
und in diesem Kontext eine spezifische Funktion und Bedeutung erhält. Ausgehend nicht von
Goethes »Sänger«, sondern von »Ein Gleiches (Wandrers Nachtlied)« entwickelt Theodore Ziol-
kowski nicht eine poetik-geschichtliche These, wie es im vorliegenden Aufsatz versucht wird,
sondern ein Szenario, nach dem sich in der Geschichte der Darstellung des Verhältnisses von Ich
und Vögeln über Hölderlin und Eichendorff bis hin zu Rilke der Wandel von Konzeptionen des
Subjekts und des Raums ablesen lasse. Vgl. Theodore Ziolkowski: Ich und die Vögel: Subjekt und
Raum in vier Gedichten. In: The German Quarterly 87 (2014), S. 33–48.
48 Joh. Nikolaus Schneider: »Still auf dem Blatt ruhte das Lied«. Lyrische Gedichte zwischen
Lesetext und Hörerlebnis. In: Wolfgang Adam, Markus Fauser (Hg): Geselligkeit und Bibliothek.
Lesekultur im 18. Jahrhundert. Göttingen 2005 (Schriften des Gleimhauses Halberstadt; 4),
S. 135–148, hier S. 148 konstatiert mit Blick nicht auf ideengeschichtliche, sondern auf pragmati-
sche und strukturelle Aspekte der Thematik: »[…] pessimistischen Stimmen zum Trotz führt die
leise Gedichtlektüre nicht zum Untergang der Gattung. Sie zieht vielmehr ein Hineinwandern
akustischer Strukturen in die Verse selbst nach sich. Um 1800 ist Lyrik nicht mehr ein zur Lyra
gesungenes Lied, sondern ein geschriebener Text, für den Sprachklang und Sprachrhythmus
konstitutive Merkmale sind.«
Lothar van Laak
Einbildungskraft und Intermedialität bei
Friedrich Spee und Catharina Regina von
Greiffenberg
1 V
orüberlegung zu Intermedialität, Medialität
und Einbildungskraft
Intermedialität ist als ein überaus dynamisches Phänomen zu sehen.1 In dieser
Dynamik kann sie eine sehr differenzierte Funktionalität entfalten. Für die früh-
neuzeitlichen Formen der Intermedialität, von denen die Emblematik und die
Oper kulturell besonders bedeutsam sind, ist dabei fest zu stellen, dass sich ihre
rhetorische und ästhetische Funktionalität in den diskursiven politischen und
religiösen Zusammenhängen erweisen muss. Von ihnen her erhält sie ihre Legiti-
mität und ihre Aufgabe. Wie dies gelingen kann und wo dabei Probleme auftau-
chen können, soll im Folgenden exemplarisch an der Lyrik Friedrich Spees und
Catharina Regina von Greiffenbergs gezeigt werden.
Der rote Faden, den ich dabei in den einzelnen Überlegungen knüpfen will,
bezieht sich auf die Einbildungskraft. Die Rede von ihr, wie die von der Imagina-
tion und der Phantasie, führe ich dabei synonym; auch wenn das selbst histo-
risch durchaus noch weiter zu differenzieren wäre.2 Die Einbildungskraft ist als
das entscheidende anthropologische Vermögen zu sehen, das die Medialität von
Kommunikation – im ästhetischen Sinn von Kommunikationsformen im Bereich
des Imaginären – bestimmt und gestaltet.3
1 Siehe zum Phänomen der Intermedialität die Beiträge in: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität.
Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin 1998. Immer noch anre-
gend der Beitrag von: Werner Wolf: Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissen-
schaft? Plädoyer für eine literaturzentrierte Erforschung von Grenzüberschreitungen zwischen
Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von Virginia Woolfs The String Quartet. In: Arbeiten
aus Anglistik und Amerikanistik 21.1 (1996), S. 85–116.
2 Siehe zur historischen Differenzierung der Rede von Einbildungskraft, Phantasie und Imagi-
nation: Bernadette Malinowski: Theorien des Imaginären – Fragmente einer Geschichte der Ein-
bildungskraft. In: Hans Vilmar Geppert, Hubert Zapf (Hgg.): Theorien der Literatur. Grundlagen
und Perspektiven, Bd. I. Tübingen 2003, S. 51–88.
3 Ausführlicher ist das dargelegt in: Lothar van Laak: Selbstgefühl und literarische Imagination.
Überlegungen zu einer Mediengeschichte der Einbildungskraft um 1800 (Goethe, Moritz, Tieck).
DOI 10.1515/9783110521788-008
138 Lothar van Laak
In: Günter Butzer, Hans Vilmar Geppert (Hgg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspek-
tiven, Bd. V. Tübingen 2011, S. 217–233. Siehe dort auch weitere Literaturhinweise.
4 Vgl. Richard G. Dimler: On the Structure and Composition of Friedrich Spee’s Trutznachtigall.
In: Modern Language Notes 89 (1974), S. 787–796.
Einbildungskraft und Intermedialität bei Friedrich Spee 139
es schon intensiver diskutiert, auch im Blick darauf, dass die Umsetzung in der
späteren Druckfassung sich von der Bild-Idee Spees deutlich abgelöst hat.5
Neben der musikalischen Intermedialität und diesen zwei Varianten pik-
toraler Medialität (die sich zur Präzisierung als piktoral-emblematisch und
piktoral-illustrativ unterscheiden lassen) lässt sich noch eine weitere Form von
Intermedialität thematisieren. Man kann sie als synästhetische Intermedialität
bestimmen, d. h. als eine sehr variable Dynamik intermedialer Wechselprozesse.
In ihnen konstellieren sich die konkreten Bilder, die konkrete Musik und die kom-
plexe textliche Synthetisierung musikalischer, bildlicher und literarischer Effekte
in einer Weise, wie wir sie in der plurimedialen Kunstform der (barocken) Oper
oder eben in der Rezeptionsform der Synästhesie modellhaft Gestalt annehmen
sehen bzw. zumindest rekonstruierend beschreiben können.6
Diese Wechselprozesse sind in der Trvtz-Nachtigal in ihrem kontrafaktori-
schen Verfahren greifbar.7 Sie verweisen aber auch ganz unmittelbar und grund-
legend auf die Möglichkeiten und Leistungen der Einbildungskraft. Sie modelliert
diese Wechselprozesse, indem sie die einzelnen medialen Dimensionen kom-
biniert, zwischen ihnen wechselt usw., und sie gleicht auch immer wieder das
Wirkliche mit dem Möglichen oder dem Anderen des Wirklichen ab. Iser hat die
erste Leistung mit der Kategorie des Imaginären, die zweite mit der des Fiktiven
zu bestimmen versucht.8 Seine Kategorienbildung geht jedoch nicht ganz auf,
5 Siehe für einen knappen Überblick das Nachwort Theo van Oorschots in der von ihm hg. Aus-
gabe der Trvtz-Nachtigal, Stuttgart 1985. Der Entwurf und das Titelkupfer finden sich auf den
S. 344 f.
6 Siehe zur kulturgeschichtlichen, anthropologischen und ästhetischen Bedeutung der Synäs-
thesie die Beiträge in: Hans Adler, Ulrike Zeuch (Hgg.): Synästhesie. Interferenz – Transfer – Syn-
these der Sinne. Würzburg 2001. Einen Überblick bietet: Waltraud Naumann-Beyer: Anatomie
der Sinne im Spiegel von Philosophie, Ästhetik, Literatur, Köln u. a. 2003. Zuletzt in systemati-
scher Hinsicht aufschlussreich: Christiane Heibach: Durch Analyse zur Synthese. Paradigmen
und kulturelle Voraussetzungen der Synästhesieforschung. In: Carsten Gansel, Dirk Vanderbeke
(Hgg.): Telling Stories/Geschichten erzählen: Literature and Evolution/Literatur und Evolution.
New York u. Berlin 2012, S. 195–214.
7 Siehe zur Kontrafaktur bei Spee: Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit,
Bd. 3: Barock-Mystik. Tübingen 1988, S. 167 f. Vgl. auch: Eric Jacobson: Die Metamorphosen der
Liebe und Friedrich Spees Trutznachtigall. Studien zum Fortleben der Antike I, Kopenhagen
1954; Alois M. Haas: Geistlicher Zeitvertreib. Friedrich Spees Echogedichte. In: Martin Bircher,
ders. (Hgg.): Deutsche Barocklyrik. Gedichtinterpretationen von Spee bis Haller. Bern, Mün-
chen 1973, S. 11–48. Vgl. auch die umfassende Studie mit dem Versuch einer Gesamtdeutung
von Spees Trutznachtigall: Cornelia Rémi: Philomela mediatrix. Friedrich Spees Trutznachtigall
zwischen poetischer Theologie und geistlicher Poetik. Frankfurt a. M. u. a. 2006.
8 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie,
Frankfurt a. M. 1991.
140 Lothar van Laak
9 Dazu kritisch auch schon: K. Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen
kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt a. M. 1999.
10 Siehe zu unterschiedlichen Bestimmungen der Illusion bei Lessing: Gottfried Willems: An-
schaulichkeit. Zur Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen
Darstellungsstils. Tübingen 1989, der ihn auf sein Modell eines »mimetischen Illusionismus«
verpflichtet und Lessing von der Moderne her bestimmt. Demgegenüber betont stärker die Orien-
tierung an älteren (aber dann zur neu konstituierten ästhetischen Erfahrung gewendeten) Ganz-
heitsvorstellungen bei Lessing: Karlheinz Stierle: Das bequeme Verhältnis. Lessings Laokoon
und die Entdeckung des ästhetischen Mediums. In: Gunter Gebauer (Hg.): Das Laokoon-Projekt.
Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart 1984, S. 23–58.
11 Siehe dazu die Hinweise bei: Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen
des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar 1995, S. 88 ff.
12 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe
hg. von Raymund Schmidt. Hamburg 1976, § 24, B 152.
13 Catharina Regina von Greiffenberg: Andächtige Betrachtungen. Zit. nach: Dies.: Sämtliche
Einbildungskraft und Intermedialität bei Friedrich Spee 141
Kemper schließt daraus auch, dass »Phantasie und Realität in der frühen Neuzeit
noch keine gegensätzlichen Welten konstituieren, sondern Imaginiertes und sinn-
lich Wahrgenommenes in einem magischen Bedingungsverhältnis zueinander
stehen« und – insofern auch gegen Iser – dass »die Phantasie gerade nicht eine
weltabgewandt-fiktionale, sondern eine realitätsbezogene, soteriologische Funk-
tion der Schöpfungserneuerung durch Reduzierung und Überwindung des Bösen
erhält.« Für Kemper wird deshalb die Einbildungskraft zum »entscheidende[n]
Organ, in dem die ›Gottesgemeinschaft‹ ›real‹ und deshalb im Medium der Poesie
wie auch der bildenden Kunst darstell- und nachvollziehbar wird.«16
So hilft also der Blick auf das – implizite oder explizite – Verständnis der
Einbildungskraft zum einen, die Sinnlichkeit der Darstellung präziser zu bestim-
men, und zwar als das Reale, das die Einbildungskraft im Spiel mit ihren Medien
konstituiert. Zum anderen stellt sich damit aber eben auch die Frage nach der
medialen Organisation selbst, die mit der Einbildungskraft diese Sinnlichkeit
erwirkt. Einbildungskraft und Medialitätsbewusstsein stehen, so scheint es, in
einem konstitutiven Wechselverhältnis.
Was aber heißt das nun, wenn dieses Wechselverhältnis nicht von der Media
lität, sondern vorrangig vom Phänomen der Intermedialität her bestimmt wird?
Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bircher u. Friedhelm Kemp. Milwood N. Y., 1983, Bd. III,
S. 280.
14 Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungspro-
zeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Literatur in Barock und Aufklärung. 2 Bde.
Tübingen 1981.
15 Kemper (Anm. 7), S. 85.
16 Ebd.
142 Lothar van Laak
Sie verschiebt ja den Blick von der medialen Bedingtheit und Verfasstheit eines
Kunstwerks und seiner Hervorbringung durch die Einbildungskraft auf das
Dazwischen und das Dazwischenspielen der einzelnen Medien, in denen sich ein
konkretes, individuelles Kunstwerk realisiert. Das soll im Folgenden an der Lyrik
Spees und Greiffenbergs diskutiert werden.
4 W
issen der Einbildung Gottes als intermedial
konstituiertes Gefühl im Spiegel der Liebe
Das 11. Gedicht der Trvtz-Nachtigal beschäftigt sich mit der Figur der Maria Mag-
dalena am leeren Grab ihres Herrn, wie es in Joh 20 erzählt wird. Die Figur der
Maria Magdalena wird als Allegorie vorgestellt, wie es der vollständige Titel aus-
weist: Spiegel der Liebe. oder von Maria Magdalena da sie nach dem Iudischen
Osterfest am großen Sabbath morgens früh ihren IESVM in dem grab gesucht.
Ioannis am 20 Capitel.17 Die ausgeführte Allegorie über 59 Strophen bzw. diese
Perikopendichtung, die nach dem Modell der Jesus-Minne und Brautmystik ver-
fährt, endet mit den folgenden fünf Strophen:
55.
O JESV nitt verschiebe,
Den Dunst beseyten treib:
Dich kund nun einmahl gibe
Dem höchst betrangten Weib.
Nur bald, nur laß erschallen,
Laß Jhr zum höchsten lust
Ein kleines Wörtlein hallen,
Ein Wörtlein dir bewust.
56.
Er schon ihm läßt gesagen
Vnd, wie zu morgen gut
Der Blitz mitt zartem schlagen,
Ein Flämmlein zeigen thut:
Mitt Nahmen er sie rühret;
Er nur MARIA klingt:
Gleich Sie das Flämlein spüret,
Gleich auff in frewden springt.
17 Friedrich Spee: Trvtz-Nachtigal, hg. Theo van Oorschot. Stuttgart 1985, S. 55–71.
Einbildungskraft und Intermedialität bei Friedrich Spee 143
57.
Ihrs Marck in beinen wallet,
Vnd wider lebend blut
Jn süssem sod erprallet,
Vnd farbet hertz, vnd muth.
O Gott, vnd wer mitt worten
Mögt ie nun zeichnen ab,
Was jubel mancher sorten
Alßdàn sie trieben hab?
58.
Mir Stimm, vnd zung erstarren,
Mir bresten red, vnd wort,
Jchs nimmer auß wurd harren,
Wurd finden grund, noch bord.
Die Feder schon sich sencket,
Die dinten drucknet ein:
Wen ie die Lieb gekrencket,
Mags nur betrachten fein.
59.
Den Boltz wer ie gefühlet
Geschmidt in süssem brand,
Jm brand so wärmt, vnd kühlet,
Mags greiffen mitt verstand.
Allein, allein mags wissen,
Vnd ihm recht bilden ein,
Wem ie die Lieb durchrissen
Leib, Seel, und Marck, vnd Bein.18
18 Ebd., S. 70 f.
19 So Emmy Rosenfeld: Neue Studien zur Lyrik von Friedrich von Spee, Mailand 1963; und auch:
Margarete Gentner: »daß futter misch mit rose.« Literaturwissenschaftliche Notizen zu Spees
»kindlicher Naivität«. In: Anton Arens (Hg.): Friedrich Spee im Lichte der Wissenschaften. Bei-
träge und Untersuchungen. Mainz 1984, S. 37–62.
144 Lothar van Laak
Mit Worten ist ihr Jubel nicht ›abzuzeichnen‹, d. h. zu repräsentieren. Diese Struk-
tur der Unsagbarkeit wird in der vorletzten, der Strophe 58, noch weiter bestimmt
und verstärkt. Das lyrische Ich wendet seine Erfahrung in eine mediale Reflexion.
Die Stimme versagt ihm, die Rede findet weder Grund noch Halt. Der schon im
Niedersinken begriffenen Feder trocknet die Tinte.
Dieses Innehalten, dieses Erstarren, findet in den beiden Schlussversen von
Strophe 58 und der Schlussstrophe, 59, selbst ein appellatives Schluss-Bild. Es
resultiert aus diesem Blick in den »Spiegel der Liebe«, so ja der Titel, der sich
durch das ganze Gedicht eröffnet hat. Nur wer die Liebe in ihrem feurig-kalten
Schmerz gefühlt hat,
Die Einbildungskraft wird hier als verständige und verstehende, Wissen um das
Gefühl verleihende Kraft der Vorstellung bestimmt. Sie ist, in der ästhetischen
Tat, eben nicht einfach nur reproduktiv oder produktiv, wie es die Kantische
Unterscheidung vorsieht. Vielmehr lässt die allegorische und rhetorische Struk-
tur des Gedichts das Wissen als Gefühl im Rezipienten »recht bilden ein«. Die
Differenziertheit wie die Intensität, die Stärke, dieses Gefühls werden durch den
intermedial modellierten Charakter der Unsagbarkeit in der drittletzten Strophe
vorbereitet und durch deren mediale Reflexion in der vorletzten Strophe in ihre
Darstellbarkeit umgeprägt.
Die zehn letzten Verse der vorletzten und letzten Strophe drücken dies aber
nicht direkt aus, sondern relational. Diese Darstellung ist mit den indirekten Fra-
gepronomen dreimal, in einer Klimax, profiliert, auf die Erfahrung der Liebes-
kränkung, den Liebesschmerz und die Zerreißung durch die Liebe. Dieser Klimax
korreliert ist die von Betrachtung, dann dem Zusammenspiel von Gefühl und Ver-
stand und schließlich dem Wissen durch Einbildung. Damit wird die Einbildungs-
kraft zu dem entscheidenden Vermögen, das alleiniges Wissen herbeiführt. Der
Prozess, in dem sich die Einbildungskraft dazu bringen lässt, verdankt sich dem
zweifachen Schritt vom intermedialen oder synästhetischen Moment der Erfah-
rung über die mediale Verarbeitung und Reflexion hin zum Wissen des Gefühls.
Einbildungskraft und Intermedialität bei Friedrich Spee 145
16.
Weß Wesens nur der Concipist,
So selb sich concipiret;
Der schön Concept auch selber ist,
Vnendlich gleich formiret.
Jn ihm dieselbe Krafft, vnd Macht
Sich zeiget vngefehlet,
Geschöpff in ihm, als obgesagt,
Auch bleibens vnverheelet.
17.
Schaw da dan zeiget sich das Bild,
Ein Gott, von Gott gestaltet:
Ein Sohn, von seinem Vatter milt,
Jm Wesen vnzerspaltet:
Ein Red, von seinem Mund gezihlt;
Ein Hertz, von seinem Hertzen,
Ein Bild, von ihm recht abgebildt;
Ein Licht von seiner Kertzen.
20 Ebd., S. 152–161.
146 Lothar van Laak
Diese menschlichen Begrenztheiten treten umso schärfer in den Blick, als in der
Strophe zuvor, Strophe 20, von Gottvater die Rede ist, der sein göttlich-geistiges
»HertzenWort« liest:
Auch hier, in diesen beiden Strophen, findet sich das schon im Spiegel der Liebe
inszenierte Wechselspiel zwischen Medialität und Intermedialität: Als Interme
dialität zeigt sich eine Erfahrung von Negativität, weder visuell noch sprachlich
die Liebesfreude, das göttliche Liebesfeuer, angemessen darstellen zu können.
Medialität ist das göttlich-trinitarische Selbstverhältnis einer reineren Bildlich-
keit und einer tieferen, tiefsinnigeren Sprache des sich selbst (in Gottvater) und
mit sich selbst (mit Gott Sohn) kommunizierenden »HertzensWortes«. Beides
findet aber auch in diesem Lobgesang wieder gemeinsame Fluchtpunkte. Der
göttliche wird im Prinzip des Heiligen Geistes offenbar, der menschliche Flucht-
punkt aber wird in der Einbildung erfahrbar. So heißt es in der dichterischen
Selbstanrufung in Strophe 12:
13.
Der Vatter sich von Ewigkeit
Notwendiglich betrachtet,
Sein Wesen, Pracht, vnd Herrlichkeit
Er mitt verstand erachtet.
Sich selbsten er ihm bildet ein,
Unendlich sich begreiffet;
Jn ihm Geschöpff so Müglich sein,
Jm selben Blick durchstreiffet.
Das göttliche Auge mit seinem unendlichen Begreifen bleibt zwar über allem,
aber die Einbildungskraft eröffnet auch dem Menschen einen Bereich visionä-
rer Schau. Damit findet auch der Sprachklang der Loblieder mit ihrer musikali-
schen Intermedialität die Vollendung oder Aufhebung in einer visuell gedachten
Intermedialität. Sie produziert kombinatorisch das Zusammenspiel musikalisch,
sprachlich und piktoral angelegter Intermedialitätsprozesse in der Vorstellung
einer von Gott wissenden und ihn im Bild begreifenden Einbildungskraft.
5 G
reiffenbergs sinnliche Übersteigerung
der Einbildungskraft und die Aufhebung von
Intermedialität in der compassio
An Catharina Regina von Greiffenberg sollen nun die Probleme und Grenzen
dieser Dynamik der Einbildungskraft kontrastierend zu Friedrich Spee in den
Blick genommen werden. Wenn sich bei Spee die Umakzentuierung von der
musikalischen Intermedialität auf eine visuelle, dynamische, emanative Interme-
dialität der Einbildungskraft herausarbeiten lässt, lässt sich an der Lyrik Greif-
fenbergs diese Umakzentuierung selbst noch einmal kritisch und differenzierend
diskutieren. So heißt es in Greiffenbergs Gedicht An Gott den heiligen Geist:
148 Lothar van Laak
Das Bittgebet an den Heiligen Geist sieht ihn als Vollender dessen, was das
lyrische Ich »jetzt im Geist« sieht. Was dieser ihm »bewust« macht, ist die gute
»Herz-Erquickung«, die die sinnliche »Erden-Lust« übersteigt. Was das lyrische
Ich durch den Geist sieht, ist »das sondre Sinnen-Spiel / auf dem Schauplatz der
Gedanken«. Der Geist realisiert sich im Spiel der Einbildungskraft, ja als Spiel der
Einbildungskraft, und damit verweist er darauf, in der Ewigkeit ›von Angesicht
zu Angesicht‹ zu schauen, was jetzt »auf dem Schauplatz der Gedanken« durch
die Einbildungskraft ein Vorspiel findet. Die Einbildungskraft rückt damit in den
Status, Medium des Göttlichen zu sein. Das ist ein noch radikalerer Anspruch,
als er sich bei Spee findet, bei dem die Einbildungskraft als Geistes-Abbild und
Geist-Ebenbild erschien.
Dieser veränderte Blick auf die Einbildungskraft in ihrer göttlichen Mediali-
tät rückt damit aber auch die Intermedialität in ein neues Licht. Kurz und etwas
zugespitzt gesagt, wird sie ganz von der Sinnlichkeit literarischer Bildlichkeit
her gedacht. Diese wiederum stellt sich dar als Verkörperung bzw. Einverleibung
göttlicher Präsenz. Sie geht weit hinaus über die ignatianische Technik, sich in
die vorgestellte Figur hinein zu versetzen, wie sie sich z. B. in Spees Maria Mag-
dalena zeigt. Während Spee die Dynamik der Intermedialität theologisch hinter-
fängt und die Einbildungskraft damit auf die Reproduktion des Göttlichen ver-
pflichtet, entwickelt die Einbildungskraft bei Catharina Regina von Greiffenberg
eine Produktivität der Präsenz,22 durch die die mystische Selbst-Erfahrung gött-
21 Catharina Regina von Greiffenberg: Geistliche Sonnette / Lieder und Gedichte / zu Gottseeli-
gem Zeitvertreib, Nürnberg: In Verlegung Michael Endters, 1662, S. 377.
22 In der Mystik liegen Modelle der »Produktion von Präsenz« vor, von denen grundsätzlich zu
überprüfen wäre, ob sie mit den von Karl Heinz Bohrer und Hans Ulrich Gumbrecht entwickelten
Präsenz-Modellen tatsächlich adäquat zu erfassen sind oder diese nicht doch zu sehr von der
modernen Zeitlichkeit bzw. der modernen und postmodernen Medienkultur der Gegenwart her
verstanden sind. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit,
Frankfurt a. M. 1994; eine Zusammenstellung seiner Überlegungen zu diesem Thema findet sich
in: Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz. Berlin 2012.
Einbildungskraft und Intermedialität bei Friedrich Spee 149
Die verschiedenen Medien der Einbildungskraft verlieren sich, heben sich auf in
ihrer imaginativen Wirkung und intermediale Offenheit wird von der literarisch
erwirkten Schau und ihrer spürbar werdenden Erfahrung bei Catharina Regina
von Greiffenberg bis zu einem gewissen Grad geschlossen. Es ist eine mystische
Medialität, die das intermediale, sich wechselweise steigernde Zusammenspiel,
das bei Friedrich Spee die Dynamik der Einbildung hin auf das Bild Gottes führt,
in das Erwirken der göttlichen Erfahrung selbst übersteigen soll.
23 Kemper (Anm. 7), S. 252–269, betont, wie in seiner Lyrikgeschichte insgesamt, besonders die
häretischen Tendenzen, die aus dieser Dynamik der religiösen Selbstermächtigung durch die
Poesie folgen können. In der hier vorgeschlagenen Deutungsperspektive von Intermedialität,
Medialität und Einbildungskraft in ihrem spezifischen kombinatorischen Zusammenspiel von
Theologie und Religion, Rhetorik und Poesie lässt sich dieser inhaltlichen Bestimmung eine for-
male, ästhetisch-strukturelle Bestimmung hinzufügen, mit der sich Charakter und Grenze des
religiösen Gefühls genauer spezifizieren lassen. Das gilt dann auch für seine besondere Zeit-
struktur, die es ebenfalls genauer zu untersuchen gälte.
24 Catharina Regina von Greiffenberg: Andächtige Betrachtungen. Zit. nach: Dies.: Sämtliche
Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bircher u. Friedhelm Kemp. Milwood N. Y., 1983, Bd. X,
S. 550.
25 Ebd., S. 566.
26 Greiffenberg (Anm. 21), S. 357.
III Bildende Kunst, Buchdruck, Medien
Jürgen E. Müller
Mediale Netzwerke und Intermedialität in
der Frühen Neuzeit
1 Manuel Castells, zitiert in: Jochen Koubek: Vernetzung als kulturelles Paradigma. Eine Kultur-
theorie des Internets. Saarbrücken 2008, S. 41.
2 Andreas Hepp: Netzwerke der Medien. Medienkulturen und Globalisierung. Wiesbaden 2004,
S. 128.
3 Vgl. Jochen Koubek (Anm. 1).
DOI 10.1515/9783110521788-009
154 Jürgen E. Müller
4 Vgl. Manuel Castells: The Rise of the Network Society. Oxford 2000.
5 Vgl. Gilles Deleuze, Felix Guattari: Tausend Plateaux. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin
2002.
6 Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropolo-
gie. Berlin 1995. Law, John (1992): Notes on the Theory of the Actor-Network: Ordering, Strategy
and Heterogeneity. In: Systems Practice (5), S. 379–393.
7 Vgl. Friedrich Krotz: Soziale Kommunikation, soziale Netzwerke, Privatheit. Strukturen und
Probleme des Zusammenlebens in mediatisierten Gesellschaften. In: Petra Grimm, Rafael
Capurro (Hgg.): Neue Kommunikationswelt oder Ende der Privatheit? Die Veröffentlichung
des Privaten in Social Media und populären Medienformaten. Stuttgart 2012 (Medienethik; 11),
S. 189–208 sowie F. K.: Mediatisierung: Fallstudien zum Wandel von Kommunikation. Wiesba-
den 2007, S. 13.
8 Vgl. Andreas Hepp: Netzwerke der Medien. Medienkulturen und Globalisierung. Wiesbaden
2004 (Medien – Kultur – Kommunikation).
9 Susanne Lachenicht: Hugenotten in Europa und Nordamerika. Migration und Integration in
der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M./New York 2010.
Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit 155
2 M
ediennetzwerke, Intermedialitäten,
»réseaux« oder »corps métaphoriques« als Vor-
stellungen und Konzepte der Frühen Neuzeit
Beginnen wir diesen knappen historischen Parcours mit einem Zitat des Non-
konformisten, Esoterikers und Rebellen Giordano Bruno, der im Jahre 1591 in
Anlehnung an Simonides von Keos das folgende, immer noch aktuell anmutende
Prinzip formulierte:
Alibi dixi de cognatione quadam mira quae est inter veros poetas qui ad eandem speciem
referuntur atque musici, veros pictores et veros philosophos: quandoquiquem vera philoso-
phia musica seu poesis et pictura est, vera pictura et est musica et philosophia. Vera poesis
id est musica, est divina sophia quaedam et pictura.
Alibi dictum est ut pictor quidam imaginum scilicet infinitarum effirmator est phantasia
potentia visis et auditis multipliciter combinando architectans.10
Giordano Bruno, dessen Leben im Jahre 1600 auf dem Scheiterhaufen endete,
lenkt uns auf ästhetisch-synästhetisch spannende Verbindungen und Netzwerke
zwischen den Medien und Künsten. In den vergangenen Jahrzehnten hat sein her-
metisches Werk De Imaginum, Signorum, & Idearum Compositione breitere Auf-
merksamkeit gefunden – nicht zuletzt durch die Arbeiten des Fluxus-Künstlers
und Kunsttheoretikers Dick Higgins.11 In seinem unvollendeten Werk entwirft
Bruno einen die damaligen Gattungsmuster und Gattungsgrenzen transzendie-
renden (ikonoklastisch-mystischen) Essay zum »Licht«, zum »Sehen« sowie zu
den »Zeichen«, und stellt auch erste theoretische Fragmente zur Interaktion der
Künste und der Medien vor. Dieser hochkomplexe Text kompiliert und re-codiert
nicht allein zahlreiche ästhetische, philosophische und religiöse Schriften der
Antike und der Renaissance und setzt sich zudem das Ziel der Gründung einer
neuen »Thoth«-Religion (die sich übrigens nicht in exklusiver Weise vom Chris-
10 Giordano Bruno: De Imaginum, Signorum, & Idearum Compositione. Frankfurt 1591, S. 102;
Giordano Bruno: On the Composition of Images, Signs & Ideas (übersetzt von Charles Doris,
herausgegeben und annotiert von Dick Higgins). New York 1991, S. 129: »Elsewhere I spoke of
a certain marvelous kinship that exists among true poets, who are referred to the same species
as musicians, and that exists as well among true painters and true philosophers. For true phi-
losophy, music or poetry is also painting, and true painting is also music and philosophy; and
true poetry or music a kind of divine wisdom and painting. Elsewhere I have discussed how any
painter is naturally an establisher of infinite images who, by his image-forming power constructs
from sights and sounds by combining in a multiplicity of ways.«
11 Dick Higgins: The Poetics and the Theory of the Intermedia. Carbondale, Edwardsville 1984.
156 Jürgen E. Müller
AD specierum complementum, earum quae sedis spacia atque loci vicem obtinent, sufficit
definitio seu determination qua fini unius regionis vel atrii, alterius regionis vel atrii prin-
cipium annectatur, utpote annexum intelligatur, vel imaginis adiectivae similitudine: vel
indicatorio quodam ordine in morem, quo paginae pagina assuitur: vel intentiones alibi
descriptae depictaeque certo indice istis heic depictis atque descriptis adjciuntur. […]
Rursum loca locis assuuntur […].14
12 Leider ist mir nicht bekannt, ob sich die gleichnamige renommierte Filmzeitschrift an Bruno
orientierte und somit einen Bogen zwischen den Medien der Renaissance und der Moderne
spannen wollte.
13 Manfredi Piccolomini: Foreword: Omnia Quae Sunt, Sunt Lumina. In: Bruno (Anm. 10), S. 9 f.
14 De Imaginum (1591), S. 98; Übers., (Anm. 10) S. 122: »For the species’ complement, which of
them obtain the space of a seat and the use of a place, a definition or determination is sufficient,
by which the beginning of an atrium or the area of a second atrium is connected to the end of
one atrium’s region or second region or area, since the connection may be perceived either by an
added image’s likeness, or by some signifying order, in the same way page is sewn to page, or
intentions described and depicted elsewhere by a set indication or sign joined to those intentions
or extensions depicted and described here. […] Once again, places are attached to places […].«
Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit 157
15
15 Ebd., S. 101.
16 »[…] addition of words and the linkage of extensions, and the signs of the primary combina-
tions will be conceived according to the elements by region and site.« Ebd., S. 100.
17 Eine derartige weiterführende Spurensuche findet sich bei Jörg Robert: Einführung in die
Intermedialität. Darmstadt 2014, S. 34–39 (»Körper, Gedächtnis, Schrift. Mittelalter und Frühe
Neuzeit«).
158 Jürgen E. Müller
Ein vollständiges Lebewesen, dem Sinn und Vernunft innewohnen, kann man als einen
Kosmographen betrachten, dem eine Stadt mit fünf Toren der Sinne eigen ist. Durch diese
treten die Boten aus der ganzen Welt ein und geben Kunde von der gesamten Lage der Welt
in folgender Ordnung: diejenigen, welche vom Licht und ihrer Farbe etwas Neues berich-
ten, treten durch das Tor des Sehens ein; die von Ton und Geräusch erzählen, durch das
Tor des Gehörs; die von den Düften reden, durch das Tor des Geruchs; die vom Wohlge-
schmack sprechen, durch das Tor des Geschmacks; und die von Wärme, Kälte und anderem
Spürbarem berichten, durch das Tor des Tastgefühls. Und der Kosmograph thront darin-
nen und schreibt alles nieder, das ihm berichtet worden ist, so dass er in seiner Stadt die
Beschreibung der gesamten sinnlichen Welt aufgezeichnet hat. Wenn aber nun irgendein
Tor dieser seiner Stadt ständig geschlossen bleibt, z. B. das des Sehens, dann wird, weil es
keinen Einfluss gibt, für den Boten des Sichtbaren, die Beschreibung der Welt mangelhaft
sein. Denn die Beschreibung wird keine Erwähnung tun von Sonne, Sternen, Licht, Farben
Gestalten der Menschen, der Tiere, der Bäume und des größeren Teils der Schönheit der
Welt. Ebenso wird die Beschreibung, wenn das Tor des Gehörs geschlossen bleibt, nichts
von Gespräch, Gesang Melodien und ähnlichem erhalten bleiben. Dasselbe gilt von den
übrigen Sinnen. […] Auf Grund des Verhältnisses der Karte zu der wirklichen Welt erblickt
er in sich selbst als dem Kosmograph den Schöpfer der Welt im Gleichnis […].18
Für Nikolaus von Kues konstituieren trans- und intermediale sowie ekphras-
tische Leistungen und Aktivitäten des Geistes eine Weltkarte und bilden damit
die Voraussetzung für unsere Erkenntnismöglichkeiten.
Die hier angedeutete Spurensuche nach Theoriefragmenten intermedialer
Vernetzungen wäre noch um zahlreiche Elemente zu erweitern, wie wir sie z. B.
in Baxandalls inzwischen klassischem Werk zur Malerei und Erfahrung im Italien
des 15. Jahrhunderts19 finden. Baxandall rekonstruiert dort die Vernetzungen zwi-
schen pikturalen Kunstwerken, Ökonomie, Naturwissenschaften (insbesondere
Optik und Mathematik) sowie Reise- und Arbeits-Netzwerken der Meister und
ihrer Gehilfen. Malerei erscheint in diesem Sinne als das Resultat vielschichtiger
Vernetzungen im Spektrum zwischen Wahrnehmungsmustern, kognitiven Stilen,
Geschichten, Körpern, Perspektiven (vor allem der sich in geometrischen Netz-
werken etablierenden Zentralperspektive), zwischen Farben, Maßen, Gewichten,
Geldwerten und -umrechnungen sowie dem (moralischen) Blick des Betrachters.
In Verlängerung von Baxandalls Argumenten ließe sich die Hypothese formu-
lieren, dass die herausragende ästhetische Innovation der Malerei des Quattro-
cento, die Zentralperspektive, nur möglich war durch die strukturbildende Ein-
18 Nikolaus von Kues (1401–1464, Kardinal Brixen/Rom), zitiert in: Stephan Otto (Hg.): Ge-
schichte der Philosophie in Text und Darstellung. Stuttgart 1984. Bd. 3 (Renaissance und Frühe
Neuzeit), S. 243 f.
19 Michael Baxandall: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahr-
hunderts. Frankfurt a. M. 1987.
Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit 159
Springen wir in diesem kleinen historischen Exkurs noch kurz ins 18. Jahrhun-
dert, zu naturwissenschaftlichen Netzwerk-Konzepten und deren Einbettung von
Hunden und Menschen in Netzwerke, wie sie im Zuge der Aufklärung entstanden
sind:24 Im Jahre 1755 entwirft beispielsweise Georges Buffon eine geordnete Netz-
Karte zu den Hunderassen oder -variationen. Diese netzwerkartige Taxonomie
hat sich zwar noch nicht vollständig von linearen Modellen der Naturdarstellung
gelöst, bietet jedoch erstaunliche Ansätze für die Entwicklung neuer Repräsen-
tationsverfahren in den Naturwissenschaften. Vor dem Hintergrund unserer For-
schungsachse der Vernetzungen und des Netzwerkphänomens wird deutlich,
20 Ebd., S. 155.
21 Ebd., S. 153.
22 Dieser Sachverhalt wurde von Kittler später in Verbindung mit kolonialen Netzwerken ge-
bracht. Vgl. dazu Friedrich Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin 1999.
23 Online: http://www.imss.fi.it/masaccio/05/appro/1_01.html und http://www.imss.fi.it/
masaccio/05/appro/1_02.html; Stand: 07. 12. 2016.
24 Ich folge hier den sehr hilfreichen Erläuterungen von Sebastian Gießmann: Netze und Netz-
werke. Archäologie einer Kulturtechnik. 1740–1840. Bielefeld 2006, S. 40–48.
160 Jürgen E. Müller
dass Buffon entscheidende Schritte hin zur Ablösung von linearen Darstellungs-
mustern genealogischer Stammbäume leistet: So setzt er ein rhizomatisches
Netzwerk an die Stelle des Hirtenhundes als ›Ausgangs-chien‹ bzw. Begründer
des Stammbaums aller Hunderassen. Ganz im Sinne der heutigen Netzwerktheo
rien sehen wir Fäden oder Verbindungen sowie Knoten (Hirtenhund, Schäfer-
hund und Dogge), um die sich Variationen oder Mischlinge gruppieren.
Als weiteren Versuch einer Abkehr von zweidimensionalen und linearen
Modellen der Naturdarstellung, wie sie im 18. Jahrhundert z. B. Linné propagierte
und als Versuch einer Rekonstruktion der gestalterischen Kraft der Natur verstand
(»la nature a fait tout ce qui étoit possible«),25 sollten wir – mit Gießmann26 – noch
einen kurzen Blick auf Johann Hermanns Tabula affinitatum animalium aus dem
Jahre 1783 werfen. Der Straßburger Professor versuchte sich mittels einer hyper-
komplexen Visualisierung an einer neuen Form und Dimension der Klassifika-
tion der Entwicklung von Tier und Mensch. Der Mensch erscheint bei Hermann
dezidiert als historische Krone der Schöpfung und wird in einem hochkomplexen
Netzwerk von Querverbindungen und Knotenpunkten zu Säugetieren, Amphi-
bien etc. verortet. Auch Hermann löst sich – wie Buffon – von rein linearen Dar-
stellungsformen und nähert sich rhizomatischen Konzepten an – allerdings mit
einem kleinen Abstrich: Die Krux seines Modells besteht darin, dass es immer
nur eng umgrenzte Ausschnitte dieser Entwicklung repräsentieren kann – ein
Problem, dessen sich Hermann wohl bewusst war.
Im begrenzten Rahmen dieses Artikels lässt sich leider keine weitere Betrach-
tung derartiger rhizomatischer Rekonstruktionsmodelle von Tieren und Pflan-
zen, die im 18. Jahrhundert ihren Beginn nahmen, durchführen.27 Beenden wir
daher die Justierung unseres Blickes auf eine Archäologie der Kulturtechnik der
Netzwerke mit einem knappen Hinweis auf die Relevanz des Netzwerk- oder Kör-
perkonzepts für die Sozialutopien des 19. Jahrhunderts.
Frankreich war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch eine Viel-
zahl neuer technologischer Entwicklungen, neuer Kommunikationsnetzwerke
und sozialer, politischer und ökonomischer Netzwerke in den urbanen Zentren
geprägt; zudem war die Nation auch wesentlich von den Sozialutopien der Saint-
Simonisten beeinflusst, die Walter Benjamin einmal ironisch-treffend als eine
»Heilsarmee in der Bourgeoisie«28 bezeichnete. Es ist hier nicht der Ort, um die
sozialen und ökonomischen Implikationen dieser frühsozialistischen Heilslehre
25 Ebd., S. 48.
26 Siehe Anm. 24.
27 Weitere interessante Aspekte bei Sebastian Gießmann (Anm. 24).
28 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main 1991. Bd. 5,
S. 734. Vgl. dazu auch Gießmann (Anm. 24, S. 93).
Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit 161
zu diskutieren – jedoch ist ein Aspekt hier vor dem Hintergrund unserer histori-
schen Rahmung erwähnenswert:
In Saint-Simons Entwurf einer politischen Physiologie der Industrialisierung
findet der Begriff des »réseau« – des Netzwerkes – keine Verwendung, gleich-
wohl sind seine von Sozialromantik geprägten Ideen nicht allein in Verbindung
zur industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts, sondern auch zur Metaphorik
eines Körper-Netzwerkes zu sehen. Dieses solle die Grundlage aller politischen
Bestrebungen bilden:
Mes amis, nous sommes des corps organisés; c’est en considérant comme phénomènes phy-
siologiques nos relations sociales que j’ai conçu le projet que je vous présente, et c’est par
les considérations puisées dans le système que j’emploie pour lier les faits physiologiques
que je vais vous démontrer la bonté du projet que je vous présente.29
3 Z
u einigen wissenschaftlichen Kernpunkten des
Netzwerk-Konzepts
»Der Netz-Begriff gehört zu den Konzepten, die gewissermaßen erzeugen, was sie
erkennen, und dies dann auch dort erkennen, wo nichts erzeugt, sondern evolu-
tionär emergiert ist […].«30 Wie uns allen bekannt, haben sich in den vergange-
nen Jahrzehnten zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen oder Ansätze des Netz-
29 Claude Henri de Saint-Simon: Mémoire sur la science de l’homme. In: Œuvres de Claude-
Henri de Saint-Simon. 5 Bände. Paris 1966. Bd. 4, S. 11. Vgl. dazu auch Sebastian Gießmann
(Anm. 24), S. 90. – [Meine Freunde, wir bilden einen organischen Körper; dadurch, dass ich
unsere sozialen Beziehungen als physiologische Erscheinungen auffasste, entwickelte ich das
Ihnen vorgelegte Projekt und will Ihnen seine Nützlichkeit auf Grund von Betrachtungen bewei-
sen, die ich dem von mir angewendeten System der Verbindung der physiologischen Tatsachen
entnehme. Übertragung ins Deutsche von Sebastian Grießmann.]
30 Hartmut Böhme: Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion. In: Jürgen Bark-
hoff, Hartmut Böhme, Jeanne Riou (Hgg.): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln
2004, S. 27.
162 Jürgen E. Müller
Hierzu gehören:
– komplexe diskursive Wechselwirkungen zwischen Natur, Technik und
Gesellschaft, die uns zu Netzwerken als Paradigmen oder aber auch als
»Imaginationen«34 leiten
– Basisbegriffe wie »Fäden – Linien – Kanten – Knoten – Verflechtung – Netz«
– die Vorstellung von Vernetzungen mit Knotenpunkten, Verbindungslinien
und auch »Löchern«35
– soziale Funktionen von Netzwerken in verschiedenen sozialen Feldern (im
Sinne von Bourdieu)36
– das räumliche und zeitliche Markieren des »Dazwischens« von Systemen
– diachrone und synchrone (um zwei aus der Mode geratene Begriffe zu ver-
wenden) Forschungsachsen, die von Netzwerk-Ansätzen generiert werden37
sowie nicht zuletzt:
– die Netzwerken inhärente Dynamik medialer Transformationen38 – also
– die Tatsache ständigen Wandels, welcher sich wiederum am präzisesten
mittels der axes de pertinence der Remediation und der Intermedialität fassen
lässt.39
Soweit einige Punkte, die wir mit Blick auf Medien-Netzwerke der Frühen Neuzeit
nicht aus den Augen verlieren sollten.
34 Vgl. Jürgen E. Müller: Populärkultur, mediale Recyclings, soziale Räume und ökonomische
Prozesse – oder Anmerkungen zu einer intermedialen Ökonomie der Popikone Michael Jackson.
In: Klaus Michael Bogdal, Achim Geisenhanslüke, Heribert Tommek (Hgg.): Transformationen
des literarischen Feldes in der Gegenwart. Berlin 2012, S. 169–185.
35 Wenn wir mit Peter Weibel davon ausgehen, dass ›das Netz‹ »ein wirklich offenes und dyna-
misches System ist, dass die Knoten sich ständig woanders bilden und damit die Verbindungs-
linien sich stets zwischen verschiedenen Elementen ziehen und somit neue (größere, bizarrere)
Lücken entstehen, wo die die gefangenen Raum- und Zeitpunkte hindurch entschlüpfen [und]
ein Netz ja nicht nur aus Knoten, sondern auch aus Löchern besteht«, dann stellt sich die Frage,
welche medialen (oder auch ästhetischen) Prozesse in den Knotenpunkten oder Verbindungs
linien ablaufen. Peter Weibel: Polylog. Für eine interaktive Kunst. In: Gerhard Johan Lischka,
Peter Weibel (Hgg.): Kunstforum International 103 (1989), S. 65–86, hier: S. 73.
36 Vgl. dazu den Artikel von Pierre Bourdieu: Champ intellectuel et projet créateur. In: Les
Temps Modernes 246 (Nov. 1966), S. 865–906.
37 Ich beziehe mich hier wiederum auf den Band von Gießmann (Anm. 24), S. 13.
38 Vgl. Krieger, David J.; Belliger, Andréa (2014): Interpreting Networks. Hermeneutics, Actor-
Network Theory & New Media. 1., Aufl. Bielefeld: transcript (Digitale Gesellschaft, 4).
39 Vgl. Anna Wiehl: »Non-linearity, multiple points of view and intercultural understanding.
Interactive documentaries as sets of possibilities to tackle the complexities of 21st century’s so-
cio-cultural reality. A ›Werkstattgespräch‹ with Judith Aston.« In: Ochsner, Beate; Fahle, Oliver;
Wiehl, Anna: Die Herstellung von Evidenz oder: Zum Phänomen interaktiver Web Dokumenta
tionen. Marburg: Schüren, Augenblick – Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft, 2016.
164 Jürgen E. Müller
4 N
etzwerke und Intermedialität in der Frühen
Neuzeit
4.1 Ur-Intermedialität
Da die angeblich vorgängigen Medienmonaden wie ›Fotografie‹, ›Malerei‹ oder ›Film‹ ihren
privilegierten Status verlieren und so etwas werden wie konventionelle Verdichtungen und
temporäre Stabilisierungen eines im Digitalen modulierbaren intermedialen Feldes, werfen
der im Prinzip universelle Computer und seine konventionalisierten konstellativen Verdich-
tungen die Frage auf, ob nicht alle scheinbar vorgängigen ›Monomedien‹ und ihre ›Spe-
zifiken‹ das Resultat diskursiv-praktischer und institutionell verankerter Stabilisierungen,
Einschnitte und Ausschlussmechanismen sind.40
In der Konsequenz bedeutet dies, dass nicht erst das digitale Zeitalter diese Frage
nach dem Konstrukt-Charakter der so genannten ›Monomedien‹ aufwirft, die – je
nach historischer Perspektivierung der Produzierenden, Künstler und Wissen-
schaftler – in unterschiedlicher Weise als vernetzt und intermedial erscheinen,
vielmehr stellt sich – wie wir im Folgenden sehen werden – diese Frage bereits
hinsichtlich der Frühen Neuzeit und der vorangehenden Epochen. In diesem
Sinne wären multi- oder intermediale Prozesse und Performanzen nicht die
Ausnahme, sondern der Regelfall von Medienprodukten und -kunstwerken –
gewissenmaßen als ›Ur-Intermedialität‹. Vieles scheint, ganz im Sinne von Wolf
Gerhard Schmidts Überlegungen zum »prä-modernen Gesamtkunstwerk« für die
Richtigkeit und Relevanz dieser These zu sprechen.41
Die Annahme einer seit Beginn der Mediengeschichte vorhandenen Inter
medialität hat zahlreiche Implikationen für die Medienhistoriologie und Medien-
40 Jens Schröter: Das ur-intermediale Netzwerk und die (Neu-)Erfindung des Mediums im (digi-
talen) Modernismus. Ein Versuch. In: Joachim Paech, Jens Schröter (Hgg.): Intermedialität ana-
log/digital. Theorien – Methoden – Analysen. München 2008, S. 579–601, hier S. 590.
41 Wolf Gerhard Schmidt: Was ist ein ›Gesamtkunstwerk‹? Zur medienhistorischen Neu
bestimmung des Begriffs. In: Archiv für Musikwissenschaft 68 (2011), S. 157–179. – neu publ.
in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. N. F. 52 (2011), S. 251–278; Wolf Gerhard S
chmidt: Har-
monikalität und Inkommensurabilität als Komplemente barocken Systemdenkens. Zur Integra-
lästhetik von Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspielen [1641–1649]. In: DVjs 86 [2012]. H. 4,
S. 483–531.
Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit 165
theorie – so etwa die Forderung nach der Entwicklung einer vernetzten und
intermedialen Geschichte der audiovisuellen Medien und einer dynamischen Re-
Ekritüre vorgängiger Geschichte(n). Eine derartige Geschichtsschreibung fordert
eine Abkehr von gängigen Verfahren der Aus- und Eingrenzung. Intermediale
Fusionen, Brüche und Interferenzen müssen von der Peripherie medienwissen-
schaftlich-historischer Erkenntnisinteressen in deren Zentrum gerückt werden,
um dem medialen ›Status‹ und den historischen und sozialen Funktionen media
ler Erscheinungen gerecht zu werden, und um die medialen Eindimensionalitä-
ten von Theoriebildung und Analyse zu durchbrechen.
Bei meiner Annäherung an die intermedialen Vernetzungen einiger Medien
der Frühen Neuzeit werden im Folgenden nicht allein die eben genannten Fakto-
ren eine entscheidende Rolle spielen, sondern auch Phänomene wie Re-Media
tionen, Recyclings von Gattungen und Gattungsmustern und deren korrespon-
dierende historische Funktionen. Wir werden in Form einiger Aphorismen und
Thesen den Versuch unternehmen, erste (und vorläufige) Schritte in Richtung
einer intermedialen Netzwerk-Geschichte der Medien der Frühen Neuzeit zu
unternehmen. Diese neuzeitliche(n) Netzwerk-Geschichte(n) sollen von einigen
Splittern prä- und postneuzeitlicher Historien gerahmt werden. Insgesamt
gesehen wird der Akzent – wie bereits erwähnt – bewusst nicht auf eine inter-
mediale Geschichte von ›Höhenkamm-Werken‹ gelegt. »Laokoon« erfährt somit
eine gewisse ›Einklammerung‹.42 Im Erkenntnis leitenden Kontext dieses Artikels
ziehen wir es vor, die Aufmerksamkeit stattdessen auf populäre mediale Netz-
werke in der Frühen Neuzeit zu lenken. Doch werfen wir zunächst einen kurzen
Blick auf prä-neuzeitliche und säkulare Netzwerke.
illustrierter Texte und Medien hat Norbert Ott darauf verwiesen, dass diese illus-
trierten Texte oder Holzschnitte sich nicht auf eindimensionale und statische
Text-Bild-Relationen reduzieren lassen, sondern sich in einem Spannungsfeld
zwischen künstlerischen und medialen Anforderungen befinden. Mittelalterliche
Schriften zeichnen sich demzufolge durch vielschichtige, wechselhafte, dynami-
sche und intermediale Beziehungen zwischen Text und Bild aus. Diese sozial- und
gattungshistorisch variablen Interaktionen oszillieren unter anderem – abhängig
von den Intentionen und zuzuordnenden Handlungsmustern von Produzent und
Rezipient – zwischen den Polen ›Bilder mit Texten‹ sowie ›Texte mit Bildern‹. In
diesem Zusammenhang kommt auch den Traditionen der mise en page von Hand-
schriften eine entscheidende Rolle als Kompositionselement zu.
Schriften, wie z. B. die Berliner Eneit (um 1215) bedienen sich der mise en page,
benutzen aber ausgiebig weitere Kompositions- und zugleich Sinn-Elemente,
nämlich erläuternde Schriftzeichen in den Bildrahmen und beschriftete Bande-
rolen mit den Äußerungen der im Bild agierenden Personen.44 Schrift – volks-
sprachliche Schrift – wird als integrativer Bild-Bestandteil sichtbar, und dies
bedeutet, dass »die Sprechakte der handelnden und im Bild dargestellten Prota-
gonisten […] sowohl als Schrift wie als formales Bildelement, gewissermaßen als
eine ganz spezifische Schicht meta-oraler Kommunikation, vergegenwärtigt«45
sind. Die Schriften sind in intertextuelle und intermediale Netzwerke eingebettet,
wobei die Vor-Bilder der Handschriften- und Buchillustrationen bis zur byzanti-
nischen Buchmalerei zurückverfolgt werden können. Den Illustrationen kommt
somit eine Funktion zu, die weit über eine ›Verlebendigung‹ des Textes oder über
eine rein ästhetische – oder Wert steigernde – Schmuckfunktion hinausgeht. Sie
dienen damit auch nicht als Verstehenshilfe für illiterate Laien, »vielmehr erzäh-
len die Bilder später Codices picturati den Text ›anders‹, sprechen eher ›über‹
ihn, und zwar in der ihrem eigenen Medium immanenten Sprache. Illustrationen
bereiten den Text, den sie begleiten, neu auf, da sie ihre eigene, unabhängig von
der Realität der Texte existierende Realität besitzen.«46 Mittelalterliche Schriften
erweisen sich in dieser Perspektive als funktionale Elemente eines Raum und Zeit
überspannenden intertextuellen und intermedialen Netzwerks.
Als abschließendes Beispiel dieser Funktion mittelalterlicher intermedialer
Netzwerke sei an dieser Stelle noch auf die einzigartige Tapisserie de Bayeux ver-
wiesen, die auf knapp 70 Metern Länge nicht nur eine intermediale Geschichte
der Norman Conquest Englands durch Wilhelm dem Eroberer im elften Jahrhun-
dert erzählt, sondern im klerikal-narrativen Raum ein quasi kinematographi-
sches Verfahren entwickelt.
Nachdem wir an diesen Beispielen die Relevanz historischer Analysen mit-
telalterlicher Medien-Netzwerke gesehen haben, wollen wir nun unseren Blick
auf intermediale Netzwerke der Frühen Neuzeit lenken, wobei wir uns aus argu-
mentationsökonomischen Gründen leider nicht mit den neuzeitlichen Re-Me
diationen der biblischen Isaak-Erzählung in den bildenden Künsten, in Dramen,
47 Online: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Bayeux_Tapestry?uselang=de#/
media/File:BayeuxTapestryScene22.jpg Stand: 07. 12. 2016.
48 Vgl. dazu den von Johann Anselm Steiger und Ulrich Heinen herausgegebenen Band: Isaaks
Opferung (Gen 22) in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit. Berlin, New York 2006.
49 Vgl. Friedrich Gennrich: Troubadours, Trouvères, Minne- und Meistergesang. Köln 2010.
50 Vgl. Dick Higgins: Pattern Poetry. Guide to an Unknown Literature. New York 1987.
51 Vgl. Jürgen E. Müller: Une vie à la recherche des effets de vie – ou quelques remarques sur
l’oeuvre multi- et intermédiatique de la Margrave Wilhelmine de Bayreuth. In: Francois Guiyoba
(Hg.): Entrelacs des arts et effet de vie. Paris 2012, S. 83–113.
Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit 169
licher Erkenntnis mit dem Denken und Wissen der Magie der Natur zu verbin-
den – womit sie das Bewusstsein der Europäer in der Neuzeit entscheidend
prägten.
Aus unserer Perspektive der intermedialen Netzwerke gilt es festzuhal-
ten, dass diese Funktion auf einer intermedialen Nutzung von Remediationen,
d. h. klassischen Vorbildern des abendländischen pikturalen und literarischen
Kanons, sowie auf einer Überlagerung ökonomischer, sozialer, medialer und
technologischer Netzwerke basierte, welche erst die Verbreitung dieser Bilder
und deren Eindringen ins kollektive Imaginäre ganzer Landstriche und Gene-
rationen von Bewohnern ermöglichte. Diese intermedialen Netzwerke erweisen
sich – in Übereinstimmung mit unseren eingangs beschriebenen grundlegenden
Aspekten – als komplexe diskursive Prozesse, die ihre Funktion in spezifischen
sozialen »Feldern« entfalten. Sie zeichnen sich durch permanente mediale Trans-
formationen und durch einen fortwährenden Wandel auf verschiedenen Ebenen,
von den Zeichencodes, über Migrationsweisen bis zu den Vernetzungsformen
aus.
Seriöse Schätzungen lassen vermuten, dass bis ins 19. Jahrhundert einige Mil-
lionen Europäer aber auch Bewohner anderer Kontinente an Vorstellungen der
Laterna magica und der Guckkästen teilgenommen haben. Diese als multi- und
intermediale Spektakel konstruierten Vorstellungen der Savoyarden und Gaukler
waren weit mehr als reine Bilder-Vorführungen: Sie konstituierten ein globales
Netz der Begegnung mit fremden und unbekannten Welten, die sich von der
mikroskopischen Nähe bis zur exotischen Ferne fremder Fauna und Flora und
fremder Kulturen erstreckte.
Die in Athanasius Kirchers Ars Magna Lucis et Umbrae im Jahre 1645/6 vorge-
stellte Laterna magica55 sollte sich bald als ein äußerst erfolgreiches Medium und
55 Athanasius Kircher: Ars magna lucis et umbrae in decem libros. Rom 1645/1646 (2. Aufl. 1671).
Wie Laurent Mannoni in seinem Band Le grand art de la lumière et de l’ombre darlegt, kommt
Kircher – wohl zu Unrecht – der Ruf des alleinigen ›Erfinders‹ der Laterna Magica zu. Der Nieder-
länder Huygens scheint dieses Dispositiv in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts offensicht-
lich in sehr viel differenzierterer Weise entwickelt zu haben. Vgl. Laurent Mannoni: Le grand art
de la lumière et de l’ombre. Archélogie du cinéma. Paris 1995.
Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit 171
Abb. 5: Guckkästen auf dem Jahrmarkt; im Hintergrund ein Panoramagebäude (1843). Abb. aus
Deutsches Filmmuseum (Hg.): Magische Schatten. Frankfurt/M. 1988, S. 96.
als ein ökonomisches Vehikel für ein weltumspannendes Netzwerk von magi-
schen Licht-Spielen und von naturwissenschaftlichen Belehrungen entpuppen.
Klammern wir im phänomenologischen Sinne die apparativen Vorausset-
zungen der Laterna magica ein und richten stattdessen unsere Aufmerksamkeit
auf Prozesse intermedialer Vernetzungen und mögliche soziale Funktionen dieses
paradigmatischen Mediums und weiterer Multi-Medien der Frühen Neuzeit,
welche in gewisser Weise die oben zitierten sinnesbezogenen und kartographi-
schen Spekulationen eines Nikolaus von Kues fortsetzen. In Christoph Weigels
Abbildung Der Gemein-Nützlichen Haupt-Stände […] aus dem Jahre 1698 finden
wir Informationen über die Abfolge teilbewegter Bilder einer Laterna magica:
1) Die Hölle, aus der drei Vizekardinäle zu entkommen suchen 2) Christi Him-
melfahrt, 3) eine Windmühle, 4) eine göttliche Hand die von den Wolken her-
niedergeht, 5) ein apokalyptisches Tier, das vom Meer auf den Strand springt,
6) eine nächtlich beleuchtete Uhr 7) eine Uhr, die sich nicht aus einem Ziffern-
blatt, sondern aus Bildern der zwölf Apostel zusammensetzt, 8) ein vierbeiniges
Tier, ein Bär, der sich auf zwei Beinen erhoben wütend einem Angreifer entgegen-
172 Jürgen E. Müller
stellt, 9) ein einen Taktstock schwingender Dirigent und 10) eine Dame, die eine
Verbeugung macht.56
Wie Gian Piero Brunetta feststellt, sollte sich die künstliche Bildersprache
der Laterna magica in wenigen Jahrzehnten zu einer Art lingua franca aller euro-
päischen Länder entwickeln, deren Einfluss bis nach China ›ausstrahlte‹. Die
Lanternisten konstituierten populäre Bilder-Spektakel-Netzwerke, die mit ihren
intermedialen Recyclings von Vor-Bildern und tradierten Geschichten Eingang
in das kollektive Imaginäre fanden und die pikturalen Codes breiter Bevölke-
rungsschichten prägten. Diese intermedialen Netzwerke, welche die Wanderer
mit ihren Laternen spannten, wurden durch Hunderte ›pikturaler‹, multi- und
multimedialer Repräsentationsformen und Gattungen unterfüttert: Transfor-
mationen, Visionen, Inkarnationen, Himmelfahrten, Bewegungen, Exploratio-
nen, Wanderungen, Reisen, Stationen, Kosmogonien, Fantasmagorien, Grillen,
Träume, Späße, Verrücktheiten, Metamorphosen, Apotheosen, Lithomorphosen,
Zoomorphosen, Seelenwanderungen und viele andere.57
Vorführungen der Laterna Magica unterrichteten Ende des 18. Jahrhunderts
als »fléau des aristocrates« (Plage der Aristokraten) die illiterate Pariser Bevölke-
rung über die Revolutionsereignisse. Vor Beginn der Vorführung sang der savo-
yardische Lanternist:
Accourez à ma Lanterne, / Peuple fier et généreux, / J’apporte avec moi de Berne, / Ce bijou
si précieux. / Eh haye eh heu, Eh haye eh heu, Eh haye eh heu: / V’là comme on arrive. /
Le bon François me goûtera, / Car la liberté lui plaira, / Et par de-là le Mont-Jura (bis), /
l’aristocrate il renverra (bis). / Il verra dans mon optique, / Comment il brise ses fers, / De
son courage héroïque, / Les tableaux y sont offerts. / Eh haye eh heu.58
Die Kinder umtobten mich indes die ganze Zeit derart, dass ich mich kaum von ihnen frei
machen konnte – so sehr wollten sie die herrlichen, einzigartigen Bilder sehen, die da auf
die Mauer projiziert wurden. Welch Aufschrei der Bewunderung beim Erscheinen des Ele-
fanten! Welch angstvolle Aufmerksamkeit beim Auftritt des Löwen, der Boa, des Tigers.
Welch freudige Überraschung beim Aufblitzen des Canale Grande in Venedig, des Peter-
doms in Rom, des schiefen Turms von Pisa, des Golfs von Neapel mit seinem rauchenden
Vulkan! Welch vor Staunen weit aufgerissene Augen bei der Vergrößerung eines Insektes,
einer Blume, einer Pflanze! Und über dem Ganzen – welch Wissensdurst, welch köstlicher
und tiefer Wunsch zu sehen, vielmehr nochmals zu sehen – und zu verstehen.59
Dieses Zitat gibt einen kleinen Einblick in das Spektrum sozialer und emotionaler
Funktionen, die an die ›Bilder-Produktions-und-Recyclings-Maschine‹ Laterna
magica‹ gebunden sind. Auf die intermedialen Netzwerke und ikonologischen
Codes dieses Apparats sollte im späten 19. Jahrhundert das zunächst ebenfalls
mobile Dispositiv des Kinos treffen. Diese intermedialen Netzwerke stehen, wie
eingangs erwähnt, in enger Verknüpfung und Überlagerung mit ökonomischen,
sozialen, politischen und technologischen Netzwerken – und dies nicht erst mit
dem Aufkommen der modernen Medien des 19. und 20. Jahrhunderts.
59 »Di piccoli, intanto, non mi potevo liberare. Ad ogni momento mi erano intorno per rive-
dere le grandi e splendide figurazioni proiettate sul muro. Che gridi di ammirazione all’apparire
dell’elefante! Che paurosa attenzione al passagio del leone, del serpente boa, della tigre. Che lieta
sorpresa al balenare de Canal Grande di Venezia, della Chiesa di San Pietro a Roma, della torre
pendente di Pisa, del Golfo di Napoli col vulcano fumante! Che occhi spalancati par meraviglia
quando si presentava l’ingrandimento di un insetto, di un fiore, di un’erba! E su tutto, quale
delizioso e profondo desiderio de vedere, anzi de rivedere e di sapere.« In Brunetta (Anm. 53),
S. 225 f. [Übertragung aus dem Italienischen von Jürgen E. Müller.]
174 Jürgen E. Müller
Schauspiele und Spektakel, unter denen die inter- und multimedial aufbereiteten
Bildergeschichten und Laternae Magicae mehr als drei Jahrhunderte lang zu den
Hauptattraktionen zählten.
Kolporteure als Verbreiter von Informationen und Imag(o)inationen für die
Massen, ambulante Händler populärer Texte und Gattungen – wie etwa des
spanischen Schelmenromans – oder quasi industriell, xylographisch, d. h. mit
Holzschnitten hergestellter Heiligenbilder, Bilder von seltenen Tieren, Soldaten,
Städten usw., waren die entscheidenden ›Medienträger‹ an den urbanen und
dörflichen ›Knotenpunkten‹. Dabei sollten wir diese Medien nicht als Monome-
dien und aufgespaltene Entitäten, sondern als in permanenten, komplexen, mul-
timedialen Interaktionen befindliche Phänomene, begreifen. Die Laterna magica
als »grande boîte dans laquelle les Savoyards portent des objets qu’ils offrent de
montrer comme curieux«60 war auf den städtischen Plätzen in ein intermedia-
les Medienverbundsystem eingebettet, dessen spektakuläre Aspekte sich von der
Musikbegleitung bis zur theatralen Vorstellung erstreckten. Analoges gilt für die
englischen »raree shows« in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
In seinen Tableaux de Paris berichtet Mercier davon, wie ein Lanternist seine
Vorführung mit einer »nasalen Stimme« begleitete, mit einem »Käfig, in dem sich
ein Murmeltier befand«, oder die bewegten Bilder mit einem »nächtlichen Orgel-
konzert« untermalte, das sich durch die dunkle Stille verbreitete.61 Aus unserer
Perspektive der intermedialen Netzwerke der Frühen Neuzeit erweist sich hierbei
der Sachverhalt als entscheidend, dass diese urbanen und dörflichen Räume
Knotenpunkte für Spektakel und Darbietungen theatraler, musikalischer und
pikturaler Gattungen darstellten, in denen sich real-räumliche mit imaginären
und virtuell medialen Netzwerkfäden überlagern, die mehrschichtige und drei
dimensionale Netzwerkgeflechte konstituieren.
62 Online: http://www.bdcmuseum.org.uk/uploads/item_images/42993//opt/webapps/
billdouglas/repository/billdouglas/uploads/images/42992–2.jpg; Stand: 07. 12. 2016.
176 Jürgen E. Müller
63 Online: http://images.nzz.ch/app.php/eos/v2/image/view/643/-/text/6adfea4e/
1.10785293.1306939145.jpg; Stand: 07. 12. 2016.
64 Vgl. Albert Robida: Le Vingtième siècle. Paris 2006, S. 202.
Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit 177
Abb. 8: Die Zeitschrift L’Epoque wird im literarischen Text als eine cross-mediale Ton-Bild-
Zeitung entworfen, die an einem globalen Netzwerk audiovisueller Medien partizipiert. 65
65 Ebd.
66 Vgl. dazu meinen Artikel: Tele-Vision als Vision: Einige Thesen zur intermedialen Vor- und
Frühgeschichte des Fernsehens (Charles François Tiphaigne de la Roche und Albert Robida).
In: Ernest W.-B. Hess-Lüttich (Hgg.): Autoren, Automaten, Audiovisionen. Neue Ansätze zur Me-
dienästhetik und Telesemiotik. Wiesbaden 2001, S. 187–208.
178 Jürgen E. Müller
5 M
ediale Netzwerke und Intermedialität in der
Frühen Neuzeit – ein Wort zum Schluss
Am Ende dieses knappen tour d’horizon – um nicht zu sagen: dieser Gradwande-
rung – durch die Geschichte intermedialer Netzwerke der Frühen Neuzeit sollten
wir eine thesenartige Zusammenfassung versuchen.
1) Die gefundenen vorläufigen Ergebnisse können als weiterer Beleg für die
Relevanz und Richtigkeit einer historischen Umsetzung der intermedialen
Forschungsachse gelten. Eine derartige historische Annäherung an das weite
Feld der Intermedialität führt uns zu weitaus nützlicheren Resultaten als sie
rein taxonomisch orientierte Forschungen generieren kann.
2) Intermediale Prozesse setzten nicht erst mit der Moderne oder Postmo-
derne ein, sondern finden sich bereits in den Mediennetzwerken der Frühen
Neuzeit. Diese stellen also auch für die Forschung ein äußerst relevantes Feld
dar, dem die ihm gebührende Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte.
3) Das Netzwerk-Konzept erweist sich – wie wir hoffentlich an den Interaktions
feldern und Schnittflächen einiger Medien-Netzwerke der Frühen Neuzeit
andeuten konnten – als eine wichtige komplementäre Forschungsachse der
Intermedialitätsforschung, die es erlaubt, Elemente und Prozesse medialer
Netzwerke mit sozialen, ökonomischen, technologischen, mentalitätshistori-
1 Die Dokumente des Prozesses wurden kürzlich von Michele Di Sivo in einer neuen philologi-
schen Auflage publiziert, sind aber bereits seit dem 19. Jahrhundert bekannt und in Teilen pu
bliziert. Vgl. Michele di Sivo: Uomini valenti. Il processo di Giovanni Baglione contra Caravaggio.
In: M.d.S., Orietta Verda, Eugenio Lo Sardo (Hrsg): Caravaggio a Roma – Una vita dal vero. Rom
2011, S. 90–108, hier S. 90–96.
2 Caravaggio und Filippo Trisegni wurden am 11. September 1603 festgenommen und im Torre
di Nona inhaftiert. Trisegni wird noch am selben Tag, Caravaggio erst am 13. September verhört.
3 Giovanni Baglione hat seine Klage gegen Caravaggio, Orazio Gentileschi, Filippo Trisegni und
Onorio Longhi am 28. August 1603 vorgebracht. Die Gedichte sind, wie Tommaso Salini in seiner
Aussage berichtet, seit Mai 1603 im Umlauf. Longhi weilt nicht in Rom und Trisegni wird als
Zeuge, nicht als Angeklagter gehört.
4 Das Gefängnis Conte Savelli.
5 Der Prozess endet mit den Strafen am 25. September. »Pro Michelangelo Merisio de Caravaggio
None carcerato pro pretenso libello famoso […] de non offendendo sub penis arbitrio etc. necnon
iniuncto precepto de non offendendo e domo sue habitationis sine licentia in scriptis etc. sub
pena triremium arbitrio […].« Vgl. Di Sivo (Anm. 1), S. 108.
Anmerkung: Dieser Beitrag ist während eines Forschungsaufenthaltes an der Bibliotheca Hert-
ziana im akademischen Jahr 2006/07 entstanden und im Winter 2006 als Referat an der ge-
nannten Forschungsinstitution vorgestellt worden. Er ist seit dem an zahlreichen Universitäten
und Museen in deutscher und englischer Sprache gehalten worden. Seit dem 16. 12. 2009 ist
er als IKKM-Lecture im Netz zugänglich. Ich danke Andrea Kiehn, Lothar Sickel, Barbara Kuhn,
Linda Nolan für Hinweise und Korrekturen. Bei der später beigefügten Übersetzung haben mich
Francesca Santamaria und Stefano Rinaldi tatkräftig unterstützt, wofür beiden an dieser Stelle
gedankt sei.
DOI 10.1515/9783110521788-010
Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen 181
6 Caravaggio: »Signor non che io non me deletto de compor versi né volgari né latini. […] Io non
ho mai inteso né in rima, né in prosa, né volgari, né latini, né de nessuna sorte nelle quali se sia
fatto mentione di detto Giovanni Baglione«. Di Sivo (Anm. 1), S. 104. – Gentileschi: »Io non ho
mai inteso che nessuno né in voce né in scrittura habbi burlato per conto di detta collana detto
Giovanni Baglione. […] Mai io ho inteso et ho hauto notitia nessuna che se sia fatti versi volgari
che se tratti la persona di detto Giovanni et Thomasso o Mao. […] Queste sono le prime parole
che io ho intese che se siano fatti versi sopra a Giovanni et che se facci mentione di collana«.
Ebd. S. 106.
7 Gentileschi: »Sono amico de tutti questi pittori, ma c’è bene una certa concorrenza fra noi«.
Ebd., S. 104; «Io non so chi se dica male di Giovanni Baglione se non quelli che vedono le sue
opere et in quello che defettano dicono quello che se cognoscono come se vuol fare de tutti i
pittori, che tutti hanno qualche imperfettione, come ancora nelle mie opere che se possono re-
prendere in qualche cosa«. Ebd., S. 105.
8 Gentileschi: »Il detto Giovanni Baglione […] non gl’ho parlato più, […] perché nell’andare
per Roma lui aspetta che io facci di beretta, et io aspetto che facci di beretta a me«. Ebd., S. 104.
9 Caravaggio: »Io non so niente che ce sia nessun pittore che lodi per buon pittore Giovanni
Baglione.« Ebd., S. 103.
10 Caravaggio: »Io credo cognoscere quasi tutti li pittori di Roma et cominciando dalli
valent’huomini io cognosco Gioseffe [Cavalier d’Arpino], il Caraccio [Annibale Carracci], il Zuc-
chero [Federico Zuccari], il Pomarancio, il Gentileschi, Prospero [Prospero Orsi], Giovanni And-
rea [il Mastelletta?], Giovanni Baglione, Gismondo e Giorgio Todesco [Sigismondo Lair und Joris
Hoefnagel], il Tempesta [Antonio Tempesta] et altri.« Ebd.
11 Caravaggio: »Quasi tutti li pittori che io ho nominati di sopra sono miei amici, ma non sono
tutti valent’homini.« Ebd.
12 Caravaggio: »Delli pictori che ho nominati di sopra et per buoni pittori Gioseffe, il Zuccaro, il
Pomarancio, et Annibale Caraccio, et gl’altri non li tengo per valent’huomini. […] M’è ben scordato
de dirvi che Antonio Tempesta ancora quello è valent’huomo. […] Io non so che nessun pittore
lodi et habbi per buon pittore nessuno de quelli pittori che io non tengo per buoni pittori.« Ebd.
13 Vgl. Anm. 5.
182 Jürgen Müller
hende Personen gewesen sein sollen, die die Gedichte verbreitet haben. So wird
in diesem Zusammenhang sein ehemaliger Diener Bartolomeo erwähnt,14 der die
Gedichte allen gegeben haben soll, die sie begehrten. Der Prozess nimmt seinen
Ausgangspunkt, als Tommaso Salini, ein Mitarbeiter Bagliones, der in einem der
beiden Gedichte ebenfalls verunglimpft wird, die Gedichte vom Maler Filippo
Trisegni gezeigt bekommt.15 Salini wiederum behauptet, er habe sie von »Gio-
vanni Battista« erhalten,16 einem Strichjungen, mit dem Caravaggio und Longhi
Umgang pflegen, worüber noch zu sprechen sein wird. Erwähnenswert ist zudem
der Umstand, dass Trisegni die Gedichte an Salini weiterreicht, weil er sich
dadurch erhofft, von diesem in der Chiaroscuromalerei unterrichtet zu werden.17
Was diese wenigen Sätze deutlich machen, ist zum einen die Konkurrenz
unter Malern,18 zum anderen, dass es durchaus üblich gewesen sein muss, Spott-
gedichte über unliebsame Kollegen zirkulieren zu lassen. Denn im Zusammen-
hang des Prozesses finden weitere Gedichte, aber auch Briefe19 Erwähnung, die in
kritischer Weise von Malern gegenüber Kollegen verfasst wurden. Dass Baglione
in die Schusslinie gerät, ist nicht verwunderlich. Er wird das Seine dazu beige-
tragen haben, den Unmut der anderen Maler zu erregen, wenn wir noch einmal
14 Salini: »[…] dicendomi che anco che un cero Bartolomeo servitore del detto Michelangelo
andava distribuendo questi sonetti a chi ne voleva«. Di Sivo (Anm. 1), S. 98.
Caravaggio: »Io cognosco Bartolomeo già mio servitore che andò due mesi sono alli Castelli di
Soderino«. Ebd., S. 104.
15 Salini: »Io ho visto et vedo benissimo questi doi sonetti […] che mi havete mostrati et io vi
dico che sono quell’istessi che ho hauti da detto Filippo et li riconosco benissimo«. Ebd., S. 98.
16 Salini: »[E]t [Filippo Trisegni] mi disse che l’havevano fatto detti Michelangelo e Honorio, et
che lui l’haveva havuto da una bardassa di essi Honorio et Micalangelo chiamato Giovanni Bat-
tista che habita dietro a Banchi«. Ebd. Trisegni behauptet stattdessen, dass er die Gedichte von
Gregorio Rotolanti bekommen habe. Ebd., S. 99.
17 Trisegni legt dar, dass ihn Tommaso Salini nach dem Urheber der Gedichte gefragt habe, er
aber nicht antworten wollte: »[…] ma io non ve lo voglio nominare [den Autor]. Et io aspettavo
che me insegnasse di fare una figura sbattimentata et che allora glelo volevo dire, ma lui non
me imparò mai et così non glelo dissi«. Ebd. Vgl. außerdem Sybille Ebert-Schifferer: Caravaggio.
Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. München 2012, S. 158.
18 Wir lesen mehrfach das Wort ›invidia‹ in den Protokollen. Baglione: »[L]i detti querelati, per
invidia, […] sono andati sparlando del fatto mio, […] perché li suddetti querelati sempre m’hanno
perseguitato, sono stati miei emoli et m’hanno havuto invidia vedendo che le mie opere sono in
consideratione più che le loro«. Ebd., S. 97. – Salini: »Io m’imagino e tengo fermamente che li pre-
detti Micalangelo et Horatio si siano mossi a fare questi versi infamatorii contro detto Giovanni
per invidia che li portano per esser del medesimo essercitio, perché le pitture et opere del detto
Giovanni sono tenute in maggior consideratione che le loro, et in particolare tra loro c’è nata
invidia […].« Ebd., S. 98.
19 Und zwar ein Brief von Gentileschi gegen Baglione. Ebd., S. 104.
Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen 183
daran denken, dass er von anderen Respekt insofern fordert, als sie als Erste den
Hut zu ziehen haben.20 Vielleicht trug er seine Nase auch ein wenig zu hoch, weil
er von Kardinal Giustiniani eine Ehrenkette21 und unlängst einen ehrenvollen
Auftrag von den Jesuiten für eine Auferstehung erhalten hatte,22 den vielleicht
auch andere Künstler gerne bekommen hätten. Für Caravaggio geht der Prozess
vergleichsweise harmlos aus. Durch die persönliche Bürgschaft des französi-
schen Botschafters kommt er schon bald frei.23 Darüber hinaus ist der Brief eines
befreundeten Adeligen überliefert, der für den lombardischen Maler bürgt.24 In
diesem Durcheinander von Neid, Spott und Arroganz sind Caravaggios Aussa-
gen übrigens die einzigen Egodokumente, die wir von dem Maler besitzen. Umso
erstaunlicher ist der Umstand, dass es keine Übersetzung der beiden Gedichte ins
Deutsche gibt und der Prozess so selten untersucht wurde.
Das Gedicht, das ich nun vorstellen will, ist in Bezug auf das Phänomen der
Invektive effizient.25 Es ist ebenso banal wie ehrabschneidend, ebenso obszön
20 Vgl. Anm. 8.
21 Wie Gentileschi behauptet, wurde die Kette Baglione von dem Auftraggeber Kardinal Be-
nedetto Giustiniani für das Bild »Himmlische und Irdische Liebe« geschenkt. Vgl. De Sivo
(Anm. 1), S. 104. Das Bild wurde in Konkurrenz zu Caravaggios Bild »Amor Vincitore« für Be-
nedetto Giustianinis Bruder Vincenzo geschaffen. Beide Gemälde entstanden 1602. Vgl. Stefania
Macioce: Giovanni Baglione. In: Alessandro Zuccari (Hg.): I Caravaggeschi. Percorsi e protago-
nisti, Mailand 2010, Bd. 2, S. 295–305.
22 Das Gemälde wurde von Baglione für die Kapelle des rechten Transeptes der Chiesa del Gesù,
einer der wichtigsten Jesuiten-Kirchen in Rom, geschaffen. Es wurde im Jahre 1601 in Auftrag
gegeben und zu Ostern 1603 der Öffentlichkeit präsentiert. Wahrscheinlich wurde das Gemälde
nie ganz bezahlt. Es gibt einen Brief von 1607, in dem Giovanni Baglione sich beschwert, dass
die Jesuiten ihm nicht saldieren wollen und dass er nur 200 anstatt 1000 scudi bekommen habe.
Das Altarbild wurde später, wahrscheinlich in den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts, aus
der Kapelle entfernt und ging verloren. Eine Skizze des Gemäldes befindet sich im Louvre, vgl.
Macioce (Anm. 21), S. 295–305 und Federica Papi: Ombre e luci nel processo a Caravaggio. Ipotesi
sulla Resurrezione di Baglione, novità su Filippo Trisegni e una proposta per Francesco Scarpel-
lino. In: Michele Di Sivo, Orietta Verdi (Hgg.): Caravaggio a Roma. Una vita dal vero. Rom 2011,
S. 109–116. Das Bild wird jedenfalls mehrmals in dem Prozess erwähnt.
23 Vgl. Anm. 5.
24 Ainolfo Bardi Conti di Vernio: »[P]rometto et do la mia parola al illustrissimo monsignor
Governatore di Roma che Michelagniolo da Caravaggio pitore non ofenderà né farà ofendere né
alla vita né nel onore Giovanni Baglione pitore et Tomaso alias Mau pitore.« Stefania Macioce
(Hg.): Michelangelo Merisi da Caravaggio. Documenti, fonti e inventari 1513–1875. Rom 2010,
S. 133.
25 Im Rahmen von Caravaggios Malerei kommt seinem »Amor als Sieger« die Aufgabe eines
subversiven Kommentars zu, vgl. Lothar Sickel: Caravaggios Rom. Annäherungen an ein disso-
nantes Milieu. Berlin 2003, S. 132–159, bes. 137.
184 Jürgen Müller
wie bösartig, stellt es doch einen Frontalangriff auf die Integrität des Malers Gio-
vanni Baglione dar. Die Verse des kurzen Textes lauten folgendermaßen:
Das Gedicht beginnt mit einer umfassenden Herabsetzung, werden doch sowohl
der Name, die Kompetenz als auch die Werke Bagliones verspottet. Aus dem Nach-
namen des Malers wird wertloser Krempel »Bagaglia«, er habe keine Ahnung und
seine Bilder werden als »große Schmierereien« deklariert. Sie seien so schlecht,
dass er noch nicht einmal genug Stoff für ein Paar Hosen erwerben könne, die
sein Hinterteil vollständig bedecken. Zudem seien seine Zeichnungen von so
minderer Qualität, dass man nur Wurst darin einpacken kann. Jetzt erfolgt ein
Sprung in Bezug auf die Argumentation insofern, als nicht nur Baglione, sondern
auch sein Mitarbeiter Tommaso Salini und dessen Frau beschimpft werden. Der
Sinn des Ganzen ist klar: Nicht nur du, sondern auch die Deinen sind unwürdig
und verabscheuenswert. Ein weiteres Mal ist es der Name, der zur Herabstufung
dient, wenn aus Tomaso der umgangssprachliche »Mao« wird. Dabei wird dessen
Maultierschwanz hier weniger durch Größe als durch die Unfruchtbarkeit jenes
Tieres definiert, die mit der Kreuzung von Pferd und Esel einhergeht. Die vulgären
Wörter »cazzon« und »potta« tun ein Übriges, um die Personen herabzusetzen.
Der Schluss des Textes ist von ausgesuchter Bösartigkeit und geradezu sarkas-
tisch, wenn der Vers in Bezug auf die Person Bagliones pseudohöflich beginnt,
»perdonami dipintore«, um ihn dann der Kette als unwürdig und als Schande der
Malerei zu bezeichnen. Ja, das Gedicht besitzt eine gewisse Achterlastigkeit und
ist ohne Zweifel auf das letzte Wort »vituperio« hin komponiert, das gleichsam
zum Fazit wird.
Zusammenfassend sei auf die Bildhaftigkeit des Textes verwiesen, der einen
Mann in zu kurzen Hosen zeigt und ihn der Lächerlichkeit preisgibt. Mehr noch,
viele der in den Versen beschriebenen Vergleiche kann man sich als karika-
turhafte Zeichnung vorstellen. Das Gedicht erinnert uns aber auch daran, wie
eminent ästhetisch im Sinne von wirksam Spott ist, der sich quasi automatisch
einstellt. Dies gilt ja ebenso für das Lachen, das wir als vorbewusste und automa-
tische Reaktion bezeichnen dürfen, die der Planung bedarf. So hat das Lachen
wohl seit jeher eine doppelte Stoßrichtung im Sinne von ridere und deridere,
von Lachen und Auslachen, lachen wir doch sowohl mit als auch über jeman-
den. Es in- und exkludiert, es hat einen transitiven und intransitiven Modus. Im
letzteren Fall stiftet es Identität durch Abgrenzung oder genauer noch Ausgren-
zung.
Die Prozessakten sind noch in anderer Hinsicht von großer Bedeutung, wird
hier doch von einer »bardassa« gesprochen, einem Homosexuellen, dem die
weibliche Rolle zufällt. Zwei Mal nutzt Salini dieses Wort und nennt jene Person
lediglich beim Vornamen »Giovanni Battista«. Er insinuiert, dass Caravaggio und
Onorio Longhi mit dem Jungen nicht nur Umgang pflegen, sondern auch sexuel-
len Kontakt haben. Giovanni Battista, »che habita dietro a Banchi«27 scheint mit
mehreren Personen des Prozesses in Kontakt zu stehen, soll er es doch gewesen
sein, der die Gedichte Filippo Trisegni gegeben hat. Ein weiteres Mal sagt Salini
im Verlauf des Prozesses aus, dass er die Gedichte von Trisegni erhalten habe,
27 Salini: »[E]t [Filippo Trisegni] mi disse che l’havevano fatto detti Michelangelo e Honorio,
et che lui l’haveva havuto da una bardassa di essi Honorio et Micalangelo chiamato Giovanni
Battista che habita dietro a Banchi«. Ebd, S. 98.
186 Jürgen Müller
der sie von jener »bardassa« bekommen habe, deren Name schon gefallen sei.28
Später wird der Richter Caravaggio fragen, ob er einen »iuvenem« kenne, der
»post bancos« wohne,29 womit der Stadtteil hinter der Via dei Banchi gemeint ist,
worauf Caravaggio antwortet: »Io non cognosco nessuno giovane che se chiami
Giovanni Battista et in particolare che stia dietro a Banchi e che sia giovane«.30 Es
fällt auf, dass der Untersuchungsbeamte den Umstand der »bardassa« ausklam-
mert. Vielleicht weil dies zu einem weiteren Prozess geführt hätte, ohne dass der
erste zu einem Abschluss gekommen wäre. Vielleicht aber auch, weil er unter-
stellte, Salini wolle Caravaggio durch diese Behauptung schaden.
Es ist interessant zu sehen, wie oft die Frage der Homosexualität in der For-
schung ausgeklammert wird. Entweder wird sie mit dem Hinweis abgewiesen,
dass die Quellenlage nicht ausreiche, sie angemessen zu beantworten, oder sie
wird schlichtweg übergangen. Auch die gegenteilige Reaktion ist zu nennen,
wenn auch selten: Texte, die in apologetischer Hinsicht verfasst wurden, um en
passant einer schwulen Ästhetik das Wort zu reden. Im Folgenden sei weder das
eine noch das andere versucht, sondern der Spott als ästhetische Kategorie ernst
genommen, den wir soeben kennen gelernt haben und der in den Protokollen
einmal als »burla« bezeichnet wird.31 Damit verbindet sich die Aufgabe, eine Bild-
poetik zu rekonstruieren, die im Modus der Latenz operiert und alle Erkenntnis
in die Phantasie des Betrachters und dessen Vermögen verlegt, obszöne Bilder
oder Witze zu entdecken. So gesehen wird das Gedicht quasi zum Resonanzraum
meiner Interpretation. Dabei kann der Text insofern als Interpretament dienen,
als wir gelernt haben, dass Obszönität der Idiomatik, also feststehender sprach-
licher Ausdrücke bedarf. Mögen auch nur wenige Wörter wie »cazzon da mulo«
oder »turegli la potta« explizit obszön sein, verleihen eben diese Ausdrücke dem
Gedicht seinen pejorativen Charakter und machen es zur Invektive. Die Übertra-
gung vom Wort zum Vorstellungsbild, aber auch umgekehrt vom dargestellten
Motiv zum sichtbaren Wort sei also nun genauer in den Blick genommen.
Freilich muss hier aus kunsthistorischer Sicht eine Vorbemerkung gemacht
werden. Seit Jahren erleben wir die Feier ikonischer Differenz, als würden Bilder
28 Salini: »[E]t in particolare che glel’haveva dati [die Gedichte zu Filippo] uno che sta dietro a
Banchi che me specificò il nome et che era bardassa di quelli che ho specificato nel mio essa-
mine«. Ebd., S. 102.
29 Richter: »Interrogatus an cognoscat quendam Iohannem Baptistam iuvenem degentem post
Bancos.« Ebd., S. 104.
30 Ebd.
31 Gentileschi: »Io non ho mai inteso che nessuno né in voce né in scrittura habbi burlato […]
detto Giovanni Baglione.« Ebd., S. 106.
Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen 187
ihre spezifische Dignität erst dann erhalten, wenn sie uns sprachlos und bass
erstaunt werden lassen. Im Gegenteil glaube ich, dass es gerade die Transposi-
tion von Bild zu Text und umgekehrt ist, die uns die Bildende Kunst wertschät-
zen lässt und das genuin ästhetische Erlebnis ermöglicht. Das Gesehene wird
verbalisiert und wirkt auf das zu Sehende zurück. Es schärft die Erkenntnis und
leitet in diesem Zusammenhang unsere Aufmerksamkeit. Gemälde müssen Worte
werden. Wir haben vergessen, dass es in der Frühen Neuzeit ein »lautes Betrach-
ten« gab.32 Obszönität, Frivolität, Witz oder Pointen kann es nur geben, wenn
sie einen kollektiven, einen sprachlich vermittelten Rahmen haben. Gelächter
kann es nur dann geben, wenn das Gesehene ausgesprochen und Schamgrenzen
überschritten werden. Für sich genommen sind Frivolität oder Obszönität bedeu-
tungslos. Erst ihre Aufführung im Sinne der Verbalisierung lässt sie zum Ereignis
werden, das Lacher produziert. Die ikonische Differenz selbst ist historisch und
hat im Paragone ihre Voraussetzung. Im Gegensatz zu dieser analytischen und
für uns seit Lessing kanonischen Konstruktion möchte ich behaupten, dass wenn
unsere Sinne unvermittelt nebeneinander stünden, Sprache nicht das Medium
synästhetischer Erlebnisse sein könnte. Ich sehe, weil ich spreche. Ich spreche,
weil ich sehe, höre, schmecke, rieche oder fühle.
Doch bevor meine eigentliche Interpretation beginnt, sei daran erinnert,
dass sich der leidgeprüfte Giovanni Baglione nicht nur als Maler, sondern auch
als Biograph betätigte. 1644 erscheint in Rom unter dem Titel Le vite de’ pittori,
scultori, architetti ed intagliatori dal Pontificato de Gregorio XIII del 1572 fino a’
tempi di Papa Urbano VIII nel 1642 eine Sammlung von Künstlerviten. Bei seiner
Darstellung der Caravaggiovita stellt man allerdings fest, dass der Prozess und
die Schmähgedichte Spuren hinterlassen haben. So erwähnt er dessen Sinn für
Spott und Satire. Bezeichnenderweise spricht er in Bezug auf Caravaggio in einem
Atemzug vom »huomo Satirico« und »altiero«, von Spottsucht und Hochmut:
»Michelangelo Amerigi fu huomo Satirico, & altiero; ed usciva tal’hora a dir male
di tutti li pittori passati, e presenti per insigni, che si fussero; poiche a lui parea
d’haver solo con le sue opere avanzati tutti gli altri della sua professione.«33
Welchen konkreten Wahrheitsgehalt wir dieser Aussage nach den zugefügten
Verletzungen auch immer zumessen wollen, selbst als Topos ist dieser Passus
noch aussagekräftig. In der Beschreibung Bagliones sieht sich Caravaggio als
32 Vgl. Jürgen Müller: Vom lauten und vom leisen Betrachten. Ironische Bildstrukturen in der
holländischen Genremalerei des 17. Jahrhunderts. In: Wilhelm Kühlmann (Hg.): Intertextualität
in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, Frankfurt
a. M. 1994, S. 607–647.
33 Giovanni Baglione, zitiert nach Howard Hibbard: Caravaggio. London 1983, S. 354–355.
188 Jürgen Müller
34 Eine knappe Deutungsgeschichte findet sich bei Maurizio Marini: Caravaggio. »Pictor praes
tantissimus«. L’iter completo di uno dei massimi rivoluzionari dell’arte di tutti i tempi. Roma
4
2005, S. 393–395.
35 Vgl. mit Nennung der wichtigsten Deutungsansätze und Datierungen Mia Coinotti, Gian Al-
berto dell’ Acqua: Michelangelo Merisi detto il Caravaggio. Bergamo 1983, S. 436, Nr. 16.
36 Zum Topos von Käuflichkeit und Schönheit vgl. Jürgen Müller: Von der Verführung der Sinne –
Eine neue Deutung von Hans Holbeins »Lais von Korinth« in der Öffentlichen Kunstsammlung
Basel. In: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 55 (1998), S. 227–236.
Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen 189
ein Gegenstück hat, aber auch das auftoupierte Haar und die rot geschminkten
Lippen zeugen von seinem Wunsch, so attraktiv wie möglich zu erscheinen. Auf
dem Tisch vor ihm sieht man allerlei Früchte, wobei die beiden roten Kirschen
an der vorderen Bildgrenze besonders prominent in Szene gesetzt sind. Dahin-
ter befinden sich möglicherweise Feigen und weitere, dunklere Kirschen. Unmit-
telbar neben den Früchten steht eine Glaskaraffe mit Rose und Jasminblüten.
Die Lichtführung im Zimmer scheint auf die untergehende Sonne zu verweisen,
sieht man doch einen langen Schlagschatten, der sich an der rückwärtigen Wand
abzeichnet. Die Glaskaraffe spiegelt das warme Sonnenlicht, das farblich deut-
lich von den anderen Reflexen unterschieden ist.
Der Junge hat nach einer der vor ihm liegenden Früchte greifen oder diese –
wie zuvor die Blumen in der Vase – hübsch arrangieren wollen. Dabei hat er eine
Eidechse aufgeschreckt, die sich dort versteckt hielt. Diese fühlt sich angegriffen
und beißt ihn in den Mittelfinger. Bei der ruckartigen Bewegung, in der er auch
die linke Hand empor gerissen hat, ist sein weißes, gebauschtes Untergewand
verrutscht und hat die rechte Schulter entblößt. Erschrocken blickt er in Richtung
Betrachter und doch an diesem vorbei.
Der deskriptive Titel »Junge von einer Eidechse gebissen« zerstört diese nar-
rative Pointe des Bildes. Denn zunächst gilt unsere Aufmerksamkeit dem auf-
schreckenden Jungen und seinem überraschten Gesicht, dessen geöffneter Mund
seinem Schmerz Ausdruck verleiht. Wir fragen uns, welch böses Geschick ihn
ergriffen hat, um erst dann die winzige Eidechse zu entdecken und die Unverhält-
nismäßigkeit von Ursache und Wirkung.
Nahezu alle Interpreten haben betont, dass Caravaggio die Sukzession
unserer Wahrnehmung über die Lichtregie steuert, weshalb uns die Ursache des
Schmerzes relativ spät deutlich wird. So ist die kleine Eidechse absichtsvoll ins
Dunkel versetzt. Dabei ist nur zu offensichtlich, dass die Reaktion des Jünglings,
der die linke Hand so dramatisch emporgerissen hat, übertrieben ausfällt. Das
Entsetzen verhält sich umgekehrt proportional zu seiner Entstehungsursache.
Hat man dies einmal erkannt, wirken seine Bewegungen geziert und theatralisch.
In seiner Affektiertheit wird der Junge der Lächerlichkeit preisgegeben.
Der überlegene Illusionismus des Bildes ist bewundernswert. Zweifelsohne
darf man hier von einem malerischen Kabinettstück sprechen. Das starke Schlag-
licht inszeniert den weiß gekleideten Jungen vor dunklem Hintergrund. Wunder-
bar mysteriös leuchtet der Farbakkord der Blumen, Blätter und Früchte. Das Licht
erscheint spielerisch in den Reflexen auf der Glaskaraffe, welche ohnehin ein
malerisches Meisterwerk darstellt, das, wie oft betont wird, der lombardischen
Tradition des Künstlers geschuldet ist. Sie ist zugleich durchsichtig und undurch-
sichtig. So können wir die beiden dargestellten Blumenstängel erkennen. An
einem von beiden befindet sich sogar noch ein Blatt. Die überzeugende feinma-
Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen 191
lerische Technik steigert die Präsenz des Dargestellten und führt die technische
Brillanz des Künstlers vor Augen.
Caravaggio entspricht mit seinen frühen Genrebildern dem Postulat, Schön-
heit auf solch erotische Weise darzustellen, dass sie den Betrachter zu verführen
vermag. Leonardo schreibt über die Darstellung menschlicher Schönheit: »[…]
sie macht dich verliebt und ist die Ursache, dass sämtliche Sinne sie mit dem
Auge zugleich besitzen möchten, so dass es den Anschein hat, als wollten sie mit
diesem um den Vorrang streiten.«37 Schönheit ist für Leonardo vor allem sicht-
bare Schönheit, die alle anderen Sinne nachordnet, aber nichtsdestoweniger evo-
ziert. Wer sieht, möchte auch berühren.
Das »Eidechsenbild« war häufig Gegenstand der Forschung. In den letzten
Jahren hat sich mehrheitlich die Deutung durchgesetzt, dass es sich um eine Alle-
gorie des Tastsinns bzw. um die Darstellung menschlicher Affekte handelt.38 Die
Deutungen des Bildes als Ausdrucksstudie können sich dabei auf Caravaggios
Biographen Baglione berufen, der das Bild ausdrücklich in Hinsicht auf den dar-
gestellten Affekt lobt: »[…] fece anche un fanciullo, che da una lucerta, la quale
usciva da fiori e di frutti, era morso; e parea quella testa veramente stridere, e il
tutto con diligenza era lavorato.«39 John F. Moffit verweist auf Alciatos Emblem
»In Fraudolentos« (Abb. 3), das die Eidechse als Sinnbild der Missgunst aus Eifer-
sucht und enttäuschter Liebe vorstellt.40 Weiterhin wurde das Gemälde von Klaus
Krüger im Rahmen seiner Untersuchung zum Problem frühneuzeitlicher Bildlich-
keit diskutiert: Es ziele auf den Akt des Sehens und Erkennens, über den sich die
Bildwirklichkeit bei Caravaggio zuallererst herstelle.41
Hellsichtig, aber wenig einflussreich für die Forschung war auch Liselotte
Stauchs Hinweis auf den sogenannten »Eidechsentöter« von Praxiteles und ein
37 Zitiert nach der deutschen Übersetzung von Heinrich Ludwig. Leonardo Da Vinci: Traktat
von der Malerei. Hg. und eingel. von Marie Herzfeld, Jena 1925, Kap. 27, S. 21–22.
38 Mina Gregori (Hg.): Michelangelo Merisi da Caravaggio. Come nascono i capolavori. Mailand
1991, S. 124–137, hier S. 130; Catherine Puglisi: Caravaggio. London 1998, S. 61; Sybille Ebert-Schif-
ferer: Caravaggios »Früchtekorb« – das früheste Stilleben? In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 61
(2006), S. 1–23, hier S. 10.
39 Vgl. Hibbard (Anm. 33), S. 352.
40 John F. Moffit: Caravaggio in Context. Learned Naturalism and Renaissance Humanism. Jef-
ferson 2004, S. 155.
41 »Daß die Existenz des Gegenstandes geknüpft ist an die Bedingungen seiner Erscheinung
und seiner Sichtbarkeit im Bild, bestimmt den Darstellungsbegriff bei Caravaggio in maßgeb
licher Weise. Er begründet sich durch die Aktualisierung und Involvierung des Betrachters, des-
sen Sehen an der Konstituierung der Bildwelt unmittelbar teilhat.« Vgl. Klaus Krüger: Das Bild
als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien.
München 2001, S. 255, außerdem ebd. S. 259.
192 Jürgen Müller
Abb. 3: Anonym: In
fraudulentos, Holz-
schnitt, in: Andrea
Alciatus: Emblemata,
Lyon 1551, Emblem 57,
Exemplar in Rudol-
stadt, Historische
Bibliothek Rudolstadt,
Ma IX, Nr. 10., ca. 63 ×
60 mm.
Epigramm Martials, das sich auf die berühmte Skulptur bezieht und von der
Knabenliebe berichtet.42 Leonard J. Slatkes weist außerdem auf die Bedeutung
des Mittelfingers als »impudicus« hin und zieht ein weiteres Epigramm Martials
heran, in dem einem gewissen Sextius geraten wird, den anderen einfach ›seinen
Mittelfinger zu zeigen‹.43 Der amerikanische Kunsthistoriker deutet das Eidech-
senbild als Ausdruck cholerischen Temperaments, was wenig überzeugend
erscheint. Einleuchtend ist hingegen sein Hinweis auf das breite Deutungsspek-
trum der Blumen. In diesem Zusammenhang hat Donald Posner die hinter das
Ohr gesteckte Rose als amouröses Angebot gedeutet.44 Die im Bild thematisierte
Homosexualität haben viele Interpreten zu präzisieren versucht, wie zum Bei-
spiel Christoph Luitpold Frommel, der in Mario Minitti das Modell für die Gen-
rebilder jener Zeit und wohl auch den damaligen Geliebten des Künstlers sieht,
sodass er von einer Einheit von Kunst und Leben ausgeht.45
Und doch will mir scheinen, dass keine Interpretation den Gehalt des Bildes
angemessen beschrieben hat. Wie spricht man auf anzügliche Weise über Homo-
sexualität, so lautet meine Frage, ohne dass dies manifest wird? Dies gelingt,
wenn man seine Aussage ironisch verschlüsselt. Ironie stellt eine List dar. Sie
zielt auf das Unkenntlichmachen, auf Abweichung und Unterscheidung, auf die
Umkehr von Machtverhältnissen, wenn ich trotz Zensur etwas ausdrücke, was ich
eigentlich nicht ausdrücken darf.46
Meine erste These besteht darin, dass sich der Künstler verschiedener Bildty-
pen bedient, die er anspielungsreich miteinander in Beziehung setzt. Die andro-
gyne Qualität der Knaben charakterisiert die Bilder jener Zeit deutlich, sie stellen
effeminierte Jungen dar, die keinesfalls älter als 14 oder 16 Jahre sind. So geht es
hier auch nicht allgemein um Homosexualität, sondern um Knabenliebe. So wurde
immer wieder festgestellt, dass diese Gemälde nicht ohne eine bestimmte Klientel
denkbar sind. Mit dem Kardinal Francesco Maria del Monte schien ein solcher
homophiler Auftraggeber und Mäzen gefunden zu sein, von dem es in zeitgenös-
sischen Quellen heißt, er habe bei seinen Feiern Lustknaben wie Mädchen ver-
kleidet teilnehmen und tanzen lassen.47 Allerdings scheint das Gemälde »Junge
man wissen, dass die Worte Eidechse und Phallus im Griechischen ähnlich sind. Wenn es im
Epigramm heißt, dass der ›listige Knabe die Eidechse verschonen solle, die zum ihm kriecht‹,
ist damit einerseits die Annäherung des erwachsenen Liebhabers an den Knaben, andererseits
dessen Phallus gemeint, womit ein gewisser Hintersinn entsteht, vgl. Liselotte Stauch: Eidechse.
In: RDK, Bd. IV, Sp. 931–939.
43 Vgl. Leonard J. Slatkes: Caravaggio’s boy bitten by a lizard. In: Print review 5 (1976), S. 149–153.
44 Donald Posner: Caravaggio’s homo-erotic early works. In: Art Quarterly 34 (1971), S. 301–324,
hier S. 304–305.
45 Vgl. Christoph Luitpold Frommel: Caravaggio und seine Modelle. In: Castrum Peregrini 96
(1971), S. 21–56.
46 Zur Einführung vgl. Marika Müller: Die Ironie. Kulturgeschichte und Textgestalt. Würzburg
1995.
47 Diesen Hinweis entnehme ich Moffit (Anm. 40), S. 152.
194 Jürgen Müller
von einer Eidechse gebissen« nicht für den ersten Förderer Caravaggios bestimmt
gewesen zu sein, sondern könnte sogar vor 1594 entstanden sein.
Im »Eidechsenbild« verwendet Caravaggio zunächst einmal Motive und
»Requisiten« venezianischer Kurtisanenbildnisse. Dies beginnt mit der entblöß-
ten Schulter als Teil lasziver Inszenierung des Dargestellten. Zum Vergleich sei an
Tizians »Junge Frau bei der Toilette« erinnert, die sich heute im Louvre befindet
(Abb. 4). Hinter einer Balustrade steht eine junge Frau, die versonnen in einen
Spiegel blickt und ihr blondes Haar richtet, wobei sie in ihrer Linken ein kleines
Glasgefäß hält. Ihr plissiertes Untergewand ist verrutscht und hat ihre schöne
Schulter entblößt. Über die Inszenierung einer gewissen Nachlässigkeit weiß
der Maler die Grazie der jungen Frau herauszustellen. Im Zusammenhang des
Kurtisanenbildes denkt man natürlich an Tizians »Flora« in den Uffizien, die
in ihrer rechten Hand weiße und rosafarbene Rosen sowie Jasminblüten hält,
wie wir sie auch im Bild des lombardischen Malers entdeckt haben (Abb. 5). Im
Vergleich zum Pariser Bild geht Tizian hier insofern einen Schritt weiter, als er
die junge Frau stärker entblößt und dem Betrachter deutlich annähert. Schließ-
lich scheint es auch kein Zufall zu sein, dass sich Caravaggio für ein plissiertes,
weißes Untergewand entschieden hat, das im Rahmen von Kurtisanenbildnis-
sen häufig vorkommt. Auch die im »Eidechsenbild« abgebildeten Früchte fin-
den im Kurtisanenbildnis einen Anknüpfungspunkt, wenn man Sebastiano del
Piombos Frauenbildnis hinzuzieht, das unterschiedliche Deutungen hervorge-
bracht hat und in seiner Direktheit einen provozierenden Eindruck hinterlässt
(Abb. 6).
Es ließen sich weitere Vergleiche anstellen, aber es reicht festzustellen, dass
der Reiz des Kurtisanenbildes für Caravaggio in dessen kunsttheoretischer Grund-
ausrichtung besteht. Mit diesem Bildtypus geht ein bestimmtes Geltungsniveau
einher: Keine geringeren Maler als Giorgione, Raffael, Tizian, Palma Vecchio,
del Piombo und andere mehr haben berühmte Kurtisanenbildnisse geschaffen
und damit den Anspruch formuliert, in der Tradition des Apelles zu stehen, dem
es bekanntlich gelang, weibliche Grazie besser als jeder andere Maler schildern
zu können. Malt Caravaggio also ein inverses Kurtisanenbildnis männlicher
Grazie, so stellt er sich damit in eine große Tradition und macht sich zugleich
über diese lustig, wenn er statt einer schönen Frau einen käuflichen Lustknaben
darstellt.
Caravaggio konstruiert Witz und Pointe, indem er die ikonographischen Topoi
der Kurtisanenikonographie um das unerwartete Motiv der Eidechse zu ergänzen
weiß. Denn mit dem Tier ist ein Hinweis auf das männliche Geschlecht gegeben.
Auch ohne das immer wieder zitierte Sauroktonos-Epigramm des Martial wäre
die Identifikation der Eidechse als Phallus für einen italienischen Rezipienten
des 16. Jahrhunderts möglich gewesen. So bezeichnet das italienische Wort
Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen 195
Abb. 6: Sebastiano del Piombo: Bildnis einer jungen Frau, um 1512, Öl auf Pappelholz,
78 × 61 cm, Berlin, SMB, Gemäldegalerie, 259B [Online: https://upload.wikimedia.org/
wikipedia/commons/8/86/Dorotea_berlino.jpg, Stand: 19. 12. 2015].
lucertolotto das männliche Geschlecht, wie der »Dizionario della Lingua ita-
liana« unter Verweis auf eine Belegstelle bei Niccolò Machiavelli bemerkt.48
Der Biss der Eidechse in den Mittelfinger des Jungen ist somit ein Bild für den
homosexuellen Geschlechtsakt. So heißt es in Machiavellis Karnevalslied Canto
de’ ciurmadori: »Diese Echse, wohl gerollt und dick, / hat lieber einen Mann
vor sich / und schert sich um euch Frauen wenig, / ein Fall, den ihr die Natur
48 Lucertolotto. In: Salvatore Battaglia (Hg.): Grande dizionario della lingua italiana. Bd. 9.
Turin 1975, S. 251.
Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen 197
gewährt. / Gewisse Echslein haben wir hierin, / die einen hinterrücks anfallen, /
und wenn sie nicht gleich Schreck einjagen, / gelingt dann doch manch böser
Stich.«49
49 »Questo ramarro grosso e ben raccoloto, / piglia piacer di veder l’uomo in volto, / e di voi,
donne, non si cura molto, / cosa che li ha concessa la Natura. / Certi luccertolotti abbiam qui
drento / ch’assaltono altri dreto a tradimento; / e se da prima e’ non danno spavento, / riesce
la lor poi mala puntura.« Italienischer Text und Übersetzung zitiert nach Dirk Hoeges: Niccolò
Macchiavelli. Dichter – Poeta. Frankfurt a. M. 2006, S. 41–42. Das Thema des Karnevalsliedes
sind vornehmlich die Spielarten heterosexueller Geschlechterbeziehung, die für die Zielgruppe
198 Jürgen Müller
Die ikonographischen Elemente des Bildes werden umso pikanter, als es sich bei
der Darstellung des Jungen um ein Zitat aus der Laokoongruppe handelt (Abb. 7).
Diese Entdeckung geht auf Maurizio Calvesi zurück, der allerdings einen Ver-
gleich zum Motiv des kämpfenden Vaters zieht.50 In Wirklichkeit spielt der Künst-
ler auf den älteren Sohn auf der rechten Seite an, den die Schlange gefesselt hat,
und der in banger Erwartung dem grausigen Geschehen zuschauen muss. Cara-
vaggio übernimmt die leidende Miene und den charakteristischen Blick über die
vorgestreckte Schulter. Für den Betrachter hat der Maler mehrere Markierungen
gesetzt, die diesen Zusammenhang bestätigen. So sitzt das heruntergerutschte
Hemd genau an jener Stelle, an der sich in der Skulptur die Schlange befindet.
Noch deutlicher wird das Zitat durch den Verlauf des hochgeschobenen Mantels
auf der linken Schulter des Laokoonsohnes, das deutlich in Szene gesetzt wird
und auf das antike Vorbild verweist.
Sogar das Haar des Jungen, das auf den ersten Blick toupiert erscheint, könnte
man mit den wilden Locken des Vaters in Verbindung bringen. Damit würde der
Künstler sogar den Regeln und Vorschriften der Kunsttheorie folgen. Giovanni
Paolo Lomazzo legt ausführlich in seinem Tratatto dell’arte della pittura, in dem
Kapitel, das den »moti« und »capelli« gewidmet ist, die Bedeutung angemesse-
ner Gestaltung der Haare dar. Er warnt davor, die Haare Christi auf dieselbe Weise
zu gestalten, wie jene der Gottheit Mars, aber sehr wohl wie jene Jupiters.51 Im
Anschluss an diese Forderung heißt es im Tratatto, dass die guten Künstler bei
der Gestaltung der Haare deshalb »[…] la maniera degli antichi, come quelli del
Laocoonte« imitiert hätten.52 Der lombardische Künstler wertet seinen Bildgegen-
stand scheinbar durch diese Befolgung der Kunsttheorie auf, macht sich jedoch
in Wirklichkeit über die normative Forderung lustig, das Haar in antiker Manier
zu gestalten.
Diese kunsttheoretische Verpflichtung gilt natürlich a fortiori für das Thema
von Caravaggios Bild, stellt es doch einen Menschen dar, der von einem Reptil
gebissen wird – wie schon der trojanische Priester und seine Söhne. So gesehen
der Frauen anhand der Schlangensymbolik erörtert wird, wobei auch die Homosexualität der
Männer nicht unerwähnt bleibt. Mittels der Gattung der Spott- und Karnevalslieder als Teil der
populären Gebrauchslyrik war die Möglichkeit gegeben »in Lied und Tanz […] Unzucht öffent-
lich« zu machen. »Die durch Form gebändigte Unzucht wird Teil des Kultes, in dem die verdeckte
Fülle des Lebens jetzt ihrer selbst ansichtig werden will.« Ebd., S. 34.
50 Vgl. Maurizio Calvesi: Le realtà del Caravaggio. Turin 1990, S. 393–394.
51 »E quivi si hà d’havere accurata avertenza; acciò che per essempio le chiome di Christo non
si diano a Marte, ma sì bene a Giove.« Zitiert nach Salvatore Settis: Laocoonte. Fama e stile. Rom
2
1999, S. 195.
52 Ebd.
Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen 199
Abb. 8: Anonym: Dolore, Holzschnitt, in: Cesare Ripa, Iconologia, Rom 1603, S. 102,
Exemplar in Heidelberg, Universitätsbibliothek, C 5456 A RES [Universitätsbibliothek
Heidelberg, online: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ripa1603/0135/image?sid=
b49d8969098e66dfd1d42d280c945c76, Stand: 19. 12. 2016]
200 Jürgen Müller
stellt der Biss der Eidechse die Gedankenbrücke zum antiken Vorbild dar. Den
Schriften Giovanni Andrea Gilios verdanken wir die definitive Bestimmung des
Laokoon als »exemplum doloris«, das sodann in Cesare Ripas Iconologia ver-
breitet und kanonisiert wird (Abb. 8). Caravaggio macht sich ebenfalls über
dieses Gebot klassizistischer Kunsttheorie lustig, wenn er aus dem tragischen
Todeskampf des Priesters und seiner Söhne ein komisches Histörchen werden
lässt.53
Doch er belässt es nicht bei dieser Klassizismus-Kritik. Die Dramaturgie
seines Bildes folgt dem Prinzip der Steigerung oder Überbietung. Wenn wir uns
vor diesem Hintergrund noch einmal dem »Eidechsenbild« nähern, können wir
eine erstaunliche Entdeckung machen, weiß Caravaggio doch ein signifikantes
Motiv aus der Marienikonographie zu nutzen. Die vor Schreck emporgerissene
sowie die mit den Fingern nach unten weisende Hand – in der wir eine Geste der
Kurtisanenbildnisse entdeckt zu haben glaubten – entstammt in Wirklichkeit dem
Typus der Verkündigung, wie uns ein Blick auf eine um 1442 entstandene Darstel-
lung dieses Themas von Filippo Lippi in San Lorenzo zu Florenz zeigt (Abb. 9).
In der Predigtlehre werden für das Mysterium der Begegnung Mariens
mit dem Erzengel drei Phasen unterschieden: Erstens erfolgt die Botschaft des
Engels, sodann zweitens die Begrüßung und schließlich drittens das Gespräch
mit Gabriel. Dabei entfaltet sich das Gespräch wiederum in einer idealen Abfolge
von fünf Schritten. Lippis Verkündigung zeigt den Beginn des Gesprächs, das
verständlicherweise mit der Aufregung Mariens, der sogenannten Conturbatio
beginnt.54 Caravaggio orientiert sich für die exaltierten Gesten seines Jünglings am
Motiv der Conturbatio Mariens – wenn auch unsere Blickrichtung auf seine Figur
eine andere ist, als man es im Kontext dieses Bildtypus gewohnt ist. In Darstellun-
gen der Conturbatio ist eine Hand überrascht oder erschreckt erhoben, während
die Finger der anderen nach unten weisen. Ein berühmtes Exemplum stellt in
diesem Zusammenhang sicherlich auch Leonardos Verkündigung aus den späten
1470er Jahren in den Uffizien dar, die die gleichen Hand- und Armhaltungen auf-
weist.
Allerdings ist der Witz, den Caravaggio hier nutzt, alles andere als neu
und entstammt einmal mehr der Kurtisanenikonographie. Die erhobene – so
53 Als Modell einer solchen Einschätzung dienen meine eigenen Forschungen zu Pieter Bruegel
d. Ä. Vgl. Jürgen Müller: Das Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d. Ä.
München 1999. Zur Einführung: Albert Blankert (Hg.): Hollands Classicisme in de zeventiende-
eeuwse schilderkunst (Ausst.-Kat. Rotterdam Museum Boijmans Van Beuningen / Frankfurt am
Main Städelsches Kunstinstitut). Rotterdam 1999.
54 Vgl. Michael Baxandall: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des
15. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 21987, S. 64–73, bes. S. 66–67.
Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen 201
Abb. 9: Filippo Lippi: Martelli-Verkündigung, um 1440, Temperaauf Holz, 175 × 183 cm, Florenz,
San Lorenzo [Beck, James H.: Malerei der italienischen Renaissance. Köln 1999. Abb. 109].
geziert wirkende – linke Hand findet in dieser Tradition ein Vorbild, wenn man
eine Arbeit Palma Vecchios aus Wien hinzuzieht (Abb. 10). Die dort dargestellte
junge Frau nimmt direkten Kontakt mit dem Rezipienten auf, den sie scheinbar
erschrocken anblickt und entsprechend ihre Linke emporgerissen hat, als wäre
sie vom Betrachter überrascht worden. Schon der venezianische Künstler nutzt
einen Topos erotischer Literatur, dass nämlich Männer Frauen besonders dann
begehren, wenn diese ausgesprochen keusch erscheinen, wie man in jedem
202 Jürgen Müller
Abb. 10: Jacopo Negretti, gen. Palma il Vecchio: Junge Frau in blauem Kleid,
1512/1514, Öl auf Pappelholz, 63,5 × 51 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum,
GG 63 [Online: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/aa/
Jacopo_Negretti%2C_called_Palma_il_Vecchio_-_Young_Woman_in_a_
Blue_Dress%2C_with_Fan_-_Google_Art_Project.jpg, Stand: 19. 12. 2016]
55 Ovid: Ars Amatoria, lateinisch – deutsch. Hg. von Michael von Albrecht. Stuttgart 2005, III,
473–476, III, 579–583.
Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen 203
Abb. 11: Jacopo Zucchi: Amor und Psyche, um 1589, Öl auf Leinwand, 173 × 130 cm, Rom,
Galleria Borghese, inv. no. 10 [Christian Stukenbrock und Barbara Töpper: 1000 Meisterwerke
der Europäischen Malerei von 1300 bis 1850, Hagen, Verlag Könemann, 2005, S. 968].
204 Jürgen Müller
56 Apuleius. Der goldene Esel. Metamorphosen lateinisch – deutsch. Hg. von Edward Brandt,
Wilhelm Ehlers. Darmstadt 41989, V, 22, 1–7, S. 192/193–194/195.
57 »Quaeque prius medio Rosa candida floruit horto: Panditur explicitis suaue rubens folijs«.
Vgl. Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hgg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI.
und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1967, Sp. 299.
Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen 205
Abb. 12: Bernard Salomon: Defloratio, Holzschnitt, ca. 50 × 37 mm, in: Bartholomaeus
Anulus: Picta Poesis, Lyon 1552, S. 101, Exemplar in Rom, Biblioteca centrale di Roma, 9.15.A.14
[Online: https://books.google.de/books?id=Yyr6BVPnrgAC&hl, Stand: 19. 12. 2016]
206 Jürgen Müller
seiner Söhne von den Schlangen getötet wird.«58 Vor dem Hintergrund dieser lite-
rarischen Inszenierung von Schmerz und sexueller Lust entsteht die Frage, ob wir
nicht auch den Gesichtsausdruck des Jungen im Sinne eines Orgasmus’ deuten
dürfen. Das hieße allerdings, dass die Deutung des Affekts nicht a priori feststeht,
sondern entsprechend dem erzählerischen Kontext interpretiert werden kann.59
Die hier festgestellte Ambivalenz hat meines Erachtens erneut einen kunsttheore-
tischen Zusammenhang, findet hier doch insofern eine Kritik der Gattungshierar-
chie statt, als der Schmerz als Distinktionsmerkmal und exklusives Charakteris-
tikum der Historienmalerei gelten kann. Wie schon in Bezug auf die vermeintlich
notwendige Übernahme bewährter Vorbilder weist Caravaggio damit eine allzu
mechanische Konzeption von gelungener Kunst zurück, ganz so als würde schon
der Einsatz eines antiken Motivs im Rahmen eines Historienbildes ein bedeuten-
des Werk generieren können.
Dabei muss man sich die Arroganz dieses Entwurfs vor Augen führen, prä-
sentiert Caravaggio doch zugleich ein Kabinettstück im Sinne manieristischer
Difficoltà. Er kritisiert die von klassizistischen Kunsttheoretikern verordnete Lao-
koon-Begeisterung, aber er lässt es sich auch nicht nehmen, dabei seine künst-
lerische Souveränität zu demonstrieren. Hat er für seinen Blick auf den Jungen
doch eine Perspektive gewählt, die faktisch unmöglich ist. Das Bild positioniert
den Betrachter an jene Stelle, die bei der Laokoon-Gruppe dem Vater vorbehalten
ist. In Caravaggios Gemälde fallen Spott und Überbietung in eins.
Das Gemälde erzählt auf anspielungsreiche Weise die Geschichte einer Deflo-
ration. Der mit einer weißen Rose geschmückte Junge hat das Süße gesucht und
nach den roten Kirschen gegriffen, aber den schmerzhaften Biss einer Pene-
tration erfahren müssen. Dies ist der Grund für seinen ebenso überraschten
58 Pietro Aretino: Ragionamento della Nanna e della Antonia. Venedig 1534, zitiert nach Pietro
Aretino: Die Gespräche des göttlichen Pietro Aretino. Übertr. von Heinrich Conrad, Leipzig 1999,
S. 44.
59 Der Ausdruck des menschlichen Gesichtes kann somit nicht zweifelsfrei, im Sinne einer
archetypischen Deutung, der von Aby Warburg geprägten Pathosformel, interpretiert werden,
die eine unveränderliche Urgebärde voraussetzt. Vgl. Aby Warburg: Dürer und die italienische
Antike. In: Verhandlungen der 48. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in
Hamburg vom 3. bis 6. Oktober 1905. Leipzig 1906, S. 55–60. Vielmehr bedarf es der Annahme der
Sinnoffenheit von Gesichtsausdrücken, wie sie sich im Bereich der Filmmontagetechnik 1921 der
russische Regisseur Lew Kuleschow zu Eigen macht. Über die Kombination dreier unterschied
licher situativer Einstellungen mit der jeweils identischen Aufnahme des Gesichtsausdrucks
eines Schauspielers erzeugte er beim Zuschauer – obwohl es sich immer um die gleiche Auf-
nahme handelte – drei vollkommen unterschiedliche Wahrnehmungen dieses Gesichtsaus-
drucks. Vgl. Hochschule für Film und Fernsehen der DDR (Hg.): Lew Kuleschow. Filmwissen-
schaftliche Materialien. Potsdam 1977, S. 16.
Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen 207
Abb. 13: Michelangelo Buonarroti, Verkündigung, 1547–1550, Schwarze Kreide auf Papier,
38,3 × 29,7 cm, New York, Pierpont Morgan Libary, IV,7 [Pierpont Morgan Library].
wie erschreckten Gesichtsausdruck. Der Junge wird gebissen, aber nicht vorne,
sondern hinten. Der Biss findet also gar nicht dort statt, wo man ihn zu sehen
glaubt, und es handelt sich auch nicht wirklich um einen Biss in den Mittelfinger.
Dies mag man für mehr oder weniger lustig halten. Der zotige Spaß des Bildes hat
aber durchaus einen ernsten Hintergrund im Sinne der Kritik der Imitatio artis,
der Verwendung und Kombination kunsthistorischer Vorbilder sowie der Affekte-
lehre, die als Grundlage der Gattungshierarchie gelten kann.
Caravaggio hat für seine satirische Darstellung christliche und antike Über-
lieferung in unvorhersehbarer Weise zu verbinden gewusst. Dies ist freilich nicht
neu. Im Gegenteil stellt die Überhöhung christlicher Themen durch antike Motive
seit dem Quattrocento ein wichtiges Verfahren künstlerischer Praxis dar. Meines
Erachtens ist es kein geringerer als Michelangelo, auf den der lombardische
Künstler mit seinem Eidechsenbild reagiert. So sei auf eine Zeichnung Buonarro-
tis aus den 1540er Jahren verwiesen, die in ikonographischer Hinsicht für Cara-
208 Jürgen Müller
vaggios Entwurf bedeutsam gewesen sein muss (Abb. 13).60 Schwebend hat sich
Gabriel der Gottesmutter angenähert und spricht sie an. Maria blickt sich um und
hat ihre linke Hand vor Schreck emporgehoben, während ihre Rechte auf dem
Buch ruht, in dem sie soeben noch gelesen hat.
Bei der Zeichnung handelt es sich um den ersten Versuch, das Motiv von
Laokoons älterem Sohn, wenn auch in spiegelbildlicher Form, für eine Verkündi-
gungsszene zu nutzen. Buonarroti passt das antike Motiv dem neuen Kontext an.
Eine ästhetische Maßnahme, die man insofern als gelungen erachten kann, als
der Schrecken des Sohnes auch im neuen Kontext lesbar bleibt. Die Verwendung
des Motivs aus der Laokoon-Gruppe weiß den affektiven Eindruck gegenüber vor-
hergehenden Verkündigungsbeispielen sogar zu steigern. Wenn Caravaggio auf
kuriose Weise Elemente der Verkündigung und solche der Laokoon-Gruppe zu
verbinden weiß, bezieht er sich nicht nur auf eine gängige Praxis, sondern auch
auf ein berühmtes Vorbild. Während in der Verkündigung Michelangelos ein pro-
fanes Motiv in ein christliches verwandelt wird, geht sein Nachfolger den umge-
kehrten Weg und rückverwandelt das christliche Motiv in ein profanes. Michelan-
gelo transformiert den älteren Sohn Laokoons in die Gottesmutter, Caravaggio die
Gottesmutter in einen Lustknaben. Bei Michelangelo werden die profanen Gesten
des Jungen in christliche umgedeutet. Doch während Michelangelo die Verkün-
digungsikonographie durch antike Formensprache überhöhen will, macht sich
Caravaggio über Michelangelo lustig, indem er alles in sein Gegenteil verkehrt
und eine religiöse Bildsprache kritisiert, in der christliche und antike Formen
beliebig austauschbar geworden sind.
60 Die Komposition war im 16. Jahrhundert schon so bekannt, dass sie von Giorgio Vasari in
Buonarrotis Vita erwähnt wird: »Ha fatto poi fare messer Tommaso a Michelagnolo molti di-
segni per amici, come per il cardinale di Cesis la tavola là dove la Nostra Donna annunziata
dall’Angelo, cosa nuova, che poi fu da Marcello Mantovano colorita e posta nella cappella di
marmo che ha fatto fare quel cardinale nella chiesa della Pace di Roma.« Das Zitat verdeutlicht,
dass die Zeichnung ihrer innovativen Formensprache wegen eine gewisse Berühmtheit erlangt
hat. Ausdrücklich redet Vasari von der Verkündigung als einer »cosa nuova«, vgl. Giorgio Vasari:
Le Vite de’ più eccelenti pittori scultori e architettori. Bd. 6. Hg. von Rosanna Bettarini, Paola Ba-
rocchi. Florenz 1987, S. 110. Vergleichen wir Michelangelos Verkündigung mit Beispielen aus dem
Quattrocento, leuchtet Vasaris Urteil unmittelbar ein. Mariens Schreck findet in ihrem Blick nach
hinten und nach oben einen gelungenen Ausdruck. Sie hört die Stimme aus einer Richtung, aus
der sie sie nicht erwartet hat. Wie einflussreich Michelangelos Entwurf geworden ist, belegt auch
ein Stich von Mario Cartaro nach Marco Pino aus dem Jahre 1571. Maria ist in das Studium der
Hl. Schrift vertieft, als ihr plötzlich der Engel erscheint. Halb ist sie noch dem Buch zugewandt,
auf dessen aufgeschlagene Seiten sie ihre Hand gelegt hat, während sie den Kopf wendet und
in Richtung des Engels blickt. Man achte auf die Handgesten, die nicht mehr weiter beschrieben
werden müssen.
Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen 209
Abb. 14: Anonym: Pinkelnder Homer, Holzschnitt, ca. 55 × 73 mm, in: Guillaume la Perrière,
Morosophie, Lyon 1553, d2v, Emblem 14, in: München, Bayerische Staatsbibliothek
München, P.o.gall. 1179 [Bayerische Staatsbibliothek München, P.o.gall. 1179, d2v,
urn:nbn:de:bvb:12-bsb10189291–4].
210 Jürgen Müller
Diese Beobachtung gilt nicht nur für den Umgang mit Motiven, sondern
schon für die Gattung von Caravaggios Gemälde. Das »Eidechsenbild« gehört in
den Bereich der Genremalerei, die im 16. und 17. Jahrhundert ein Experimentier-
feld für Modernisten darstellt. Seit langem sind wir es gewohnt, diesen Prozess als
»Querelle des anciens et des modernes« zu bezeichnen. Dass sich dieser Prozess
über weite Strecken als Polemik gestaltet hat, belegt der französische Emblem-
buchautor Guillaume de la Perrière. In seiner Morosophie aus dem Jahre 1553 ent-
wirft er ein drastisches Bild, um übertriebene Antikenverehrung zu denunzieren
(Abb. 14).61 Die Pictura seines Emblems zeigt Homer, wie er auf einem Renais
sancebrunnen steht und in dessen Schale uriniert. Aus dieser Schale trinken
seine Verehrer den Urin, den sie als besonders köstlich zu empfinden scheinen.
Die Metapher vom Urin des Homer verballhornt die Vorstellung vom Text als
nahrhafter Speise, scheint es doch den Verehrern des antiken Dichters gleichgü-
tig zu sein, was sie sich vom Meister aneignen, solange es nur von Homer ist.62
In meiner Interpretation wird das »Eidechsenbild« durch drei ironisch-kri-
tische Negationen bestimmt, die vorherrschende Konventionen in Frage stellen,
indem sie sie der Lächerlichkeit preisgeben. So verweigert sich der Maler erstens
der Tradition des Kurtisanenbildes als Ausdruck spezifisch weiblicher und spe-
zifisch malerischer Schönheit. Es sind weder die Darstellung von Grazie, noch
der Ehrentitel eines neuen Apelles, die Caravaggio zu reizen scheinen. Sodann
bricht er zweitens mit dem Modell einer ebenso kanonischen wie beispielhaften
Antike, die im Laokoon eines ihrer wichtigsten Vorbilder hat. Damit geht kunst-
theoretisch eine Ablehnung der Imitatio veterum einher. Davon nicht zu trennen
ist drittens seine Ablehnung der Bildrhetorik Michelangelos und der von Vasari
behaupteten Vorbildlichkeit der Kunst der Hochrenaissance bzw. der Synthese
vorbildlicher Kunstwerke von Raffael oder Michelangelo, wie sie von den Zeitge-
nossen Merisis betrieben wird.
Doch wie viel Ernst liegt bei Caravaggio im Unernst verborgen? Hat seine
Satire vielleicht doch einen seriösen Hintergrund? Von Erasmus von Rotterdam
kennen wir den Ausdruck des Serio-ludere, was nichts anderes bedeutet, als
ein ernsthaftes Problem in komischem Kleid daherkommen zu lassen. Um den
ernsten, aller Ironie Caravaggios zugrundeliegenden Gedanken sowie die dritte
Negation seiner Ironiekonzeption aufdecken zu können, müssen wir uns ein
letztes Mal der marianischen Symbolik zuwenden. Lippi zeigt die Gottesmutter
vor einem Lesepult (Abb. 9). Eben widmet sie sich noch dem Studium der Heili-
gen Schrift, als sich Gabriel niedergekniet und die zitierten Worte spricht. Seine
Verkündigung erzählt von der unbefleckten Empfängnis Mariens. Wir sehen die
Taube des Hl. Geistes vom Himmel herabschweben. Die Jungfrauengeburt hat im
Glasgefäß ein aussagekräftiges Symbol, weist es doch die Form eines Uterus auf.
Zudem erkennen wir seine Durchsichtigkeit einerseits, und den Schatten, den es
ins Bild hineinwirft andererseits.
Der Maler macht somit zweierlei deutlich, dass nämlich erstens der Licht-
strahl das Glas passiert, ohne es zu zerstören; und dass zweitens das Gefäß trotz
seiner Durchsichtigkeit materieller Natur sein muss, könnte es doch sonst keinen
Schatten werfen. Lippi führt dem Betrachter eindringlich vor Augen, dass sich
bei der Jungfrauengeburt Göttliches und Menschliches begegnen, wie auch die
Menschwerdung Christi die Ankunft Gottes auf Erden repräsentiert. Er nimmt
sogar für sich in Anspruch, durch das Symbol die Anwesenheit des Göttlichen
im Bild selbst darstellen zu können und legitimiert somit die Zeichenhaftigkeit
der Malerei. Schließlich kommentiert Lippi damit sogar die besondere Seinsweise
seines eigenen Bildes. Denn es handelt sich keinesfalls um einen Zufall, wenn
die Karaffe so auffällig die ästhetische Grenze des Bildes bezeichnet und damit
den Berührungspunkt von Bild- und Betrachterraum bildet. Auch das Bild, so
scheint der Künstler sagen zu wollen, ist eine solch geheimnisvolle »Membran«,
in der das Materielle für das Ideelle durchlässig wird, damit das Göttliche den
Menschen berühren kann und Gott durch das Bild für den menschlichen Betrach-
ter erfahrbar wird.
Christiane Kruse hat in ihrer anregenden Studie über die Metaphorik früh-
neuzeitlicher Bildlichkeit dem Problem von Inkarnation und Bildwerdung ein
eigenes Kapitel gewidmet.63 Dabei stellt sie fest, dass dem Verkündigungsthema
eine kunsttheoretische Bedeutung zukommt. Viele Künstler haben in bildlich-
argumentativer Form bei ihrer Gestaltung dieser Ikonographie geltend gemacht,
dass in der Entwicklung von der Bildidee zum Bildkörper eine ähnliche Kluft über-
brückt werden muss, wie in der Inkarnation Christi. Das ontologische Paradox
der Menschwerdung Christi wird auf diese Weise zum Paradox des Bildes. Das
Paradox findet im Glasgefäß seinen überzeugenden Ausdruck. Es ist lichtdurch-
lässig und seiner Natur nach zugleich materiell. Dies ist eine wahrhaft metaphy-
sische Definition des Bildes, das zum Medium göttlicher Gnade avanciert.
Schauen wir daraufhin auf Caravaggios Glaskaraffe, erkennen wir, dass
der Maler im Unterschied zu Lippi die Oberfläche des Gefäßes inszeniert hat.
63 Vgl. Christiane Kruse: Fleisch werden – Fleisch malen. Malerei als »incarnazione«. Mediale
Verfahren im Libro del’Arte des Cennino Cennini. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63 (2000),
S. 305–325.
212 Jürgen Müller
Zunächst entdeckt man auf der Oberfläche unterschiedliche Lichtreflexe. Bei den
Reflexionen kann es sich nur um das Licht handeln, dass durch das Fenster oder
eine Tür des rückwärtigen Raumes eindringt. Jedenfalls spiegelt sich das Licht
einmal kalt und weiß und ein anderes Mal warm und gelb auf der Glasoberflä-
che. Wir sehen – und dies ist mir wichtig zu betonen – nicht das Licht, sondern
nur seinen Abglanz. Als es selbst bleibt es unsichtbar. Caravaggio scheint sagen
zu wollen, dass das Bild nicht die durchlässige Membran ist, die wir bei Lippi
kennen gelernt haben, sondern lediglich eine spiegelnde Oberfläche. Das Bild
ist nicht das Fenster von der materiellen Welt des Menschen zur ideellen Welt
Gottes, sondern nur ein Spiegel der Wirklichkeit. Das Bild kann nicht die Gegen-
wärtigkeit Gottes im Bild repräsentieren, sondern nur auf seine Abwesenheit
verweisen. Um daran keinen Zweifel zu lassen, hat Caravaggio auf der Glasober-
fläche vier Wassertropfen gemalt. Diese vier Wassertropfen demonstrieren die
spiegelnde Undurchlässigkeit der Karaffe und sind somit ein Sinnbild der Malerei
und ihrer begrenzten Möglichkeiten, kann sie doch in Wirklichkeit niemals das
Göttliche selbst darstellen, sondern höchstens die Wirklichkeit perfekt nach-
ahmen.
Wenn Caravaggio sich bei der Darstellung einer »bardassa« eines Haltungs
motivs und einer Bildmetapher der Verkündigungsikonographie bedient, ver-
kehrt er somit den höchsten aller Bildgegenstände ironisierend in sein Gegenteil.
Darüber hinaus übt er eine – ganz ernsthafte – Kritik an einer metaphysischen
Definition der Malerei, nämlich dass sie in der Lage ist, die Gegenwärtigkeit
des Göttlichen darstellen zu können. Zahlreiche religiöse Historien Caravaggios
werden, eindringlicher als dies je zuvor geschehen ist, den vermessenen Anspruch
des Menschen aufzeigen, aus eigener Kraft das Göttliche erkennen zu können.
Man mag Lippis Bild als ein frommes Bekenntnis erachten, aber es ist auch eine
Geste der Ermächtigung, die nichts weniger als die Anwesenheit des Göttlichen im
Bild verspricht und zugleich eine Erklärung für die Art und Weise seiner Präsenz
geben möchte. Caravaggio wird genau den umgekehrten Weg gehen. Durch seine
Ironisierungen zeigt er Scheitern und Unvermögen, Gott bleibt unverfügbar. So
provokativ das »Eidechsenbild« auch daherkommt, in seiner ironisch-distan-
zierenden Grundstruktur verweist es auf das Problem des religiösen Bildes und
inszeniert sein Scheitern.
Meine Interpretation hat unerwartete Wendungen genommen. So bin ich
zunächst dem satirischen Gehalt nachgegangen, der im Bild zweifelsohne ent-
halten ist. Lässt man sich davon in negativer Weise beeindrucken, wird einem die
denkerische Tiefe des Bildes verschlossen bleiben. Caravaggio schafft eine spöt-
tische Malerei, in der sich Komik und Kritik, Spaß und Ernst auf das Beste ergän-
zen und gegensätzliche Interpretationen provozieren. Ob ich »cazzo«, »mentula«
oder gar »mentulatus«, »ucello«, »Phallus«, »lucertolotto« oder »membrum
Sprach- und Bildwitz in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen 213
64 Die Kultur der Burla definiert auch Baldassare Castiglione in seinem zweiten Buch des Cor-
tegiano im Sinne eines geistvollen und taktvollen Scherzes, der für Verwirrung und Erschrecken
sorgen dürfe, seine Auflösung jedoch in einem Lachen wider die Erwartung und letztlich in
einem ruhigen Ende finden solle. Vgl. Baldassare Castiglione: Das Buch vom Hofmann. Über-
setzt u. erläutert von Fritz Baumgart. Bremen 1960, S. 214, 222. Das Verständnis für Humor und
ironischen Feinsinn war gleichfalls Charakteristikum von Caravaggios Mäzen Francesco Maria
del Monte, den sein Biograph Dirk van Ameyden als »uomo di giocondissima maniera e conver-
satione« beschreibt und der das Streben Del Montes nach Harmonie als herausragende Inspi-
ration seiner Persönlichkeit hervorhebt. »[…] quella possibilità di armonia, quell’ideale irenico
che sembra ispirare tutta la maturità del cardinal Del Monte.« Zitiert nach Luigi Spezzaferro: La
cultura del cardinal Del Monte e il primo tempo del Caravaggio. In: Storia dell’arte 9/10 (1971),
S. 57–92, hier S. 90.
65 Riccardo Bassani, Fiora Bellini: Caravaggio assasino. La carriera di un »valenthuomo« fazi-
oso nella Roma della Controriforma. Rom 1994, S. 59.
214 Jürgen Müller
die Entjungferung des nicht Jungfräulichen im Sinne des Deflorare, die Eidechse
als Penis im Sinne des Lucertolotto, das Naschen der Früchte und deren »dol-
cezza« – all das sind sprachorientierte Anspielungen, die sich etablierter Topoi
bedienen. Sodann gibt es ikonographische Traditionen, derer sich der Künstler
bedient. Die Conturbatio als spezifische Handstellung, Kleidung und Attribute
als Bestandteil der Kurtisanen- und Marienikonographie, das Motiv des älteren
Laokoonsohns, die übertriebene Darstellung der Haare etc. Die Kunst der Bild-
lektüre besteht in der permanenten Verschränkung all dieser Traditionen, Motive
und rebusartiger Konstruktionen.
Es gibt eine Phase frühneuzeitlicher Bildkunst, die in der Tradition von Apu-
leius, Petron und Martial steht, eine Tradition, in der nicht nur Diotimas hehre
Lobrede auf den Eros, sondern auch die spöttischen Bemerkungen des Alkibiades
über den Verstellungskünstler Sokrates und dessen besondere Verführungskunst
ihre Wirkung gezeitigt haben und in der es einen fließenden Übergang vom Lus-
tigen zum Lächerlichen gibt. Mit Nietzsche gesprochen besteht die Antike eben
nicht nur aus Apoll, sondern auch aus Dionysos, nicht nur aus Platon, sondern
auch aus dem Kuppler Sokrates in Xenophons Gastmahl, nicht nur aus Hetero-,
sondern auch aus Homosexualität, um bei meinem Beispiel zu bleiben.
Ich fasse zusammen: Als Dichter ist Caravaggio eine Katastrophe. In Bezug
auf die Komplexität des Bildes ist seine Invektive allerdings erregend. Abschlie-
ßend stellt sich die Frage, ob und inwieweit Bild und Text einen gemeinsamen
Verstehenshorizont haben. Im Sinne der Transgression ist dies ohne Zweifel der
Fall. Bild und Text überschreiten in extremer Weise das Schickliche. Dabei ist
das Gemälde im Vergleich zum Gedicht keinesfalls weniger transgressiv. Doch
während das Gedicht den Gegner benennt, wird im Bild alles dissimuliert. Dies
hängt zweifellos mit den blasphemischen Konnotationen in Bezug auf Jungfräu-
lichkeit, aber auch mit dem justiziablen Tatbestand der Sodomie zusammen.
Doch kritisiert Caravaggio weniger Michelangelo oder die Qualität bestimmter
Kunstwerke, als vielmehr jene Künstler, die klassizistischer Imitatiopraxis folgen
und die Kunst nicht voranbringen, da sie bloß nachäffen. Dies alles mag zutref-
fend scheinen oder auch nicht. Es stimmt, was der Volksmund sagt: Über Humor
und dessen Inhalt lässt sich trefflich streiten. Keiner hat es konziser formuliert als
Johann Wolfgang von Goethe. In seinen Gesprächen mit Eckermann beschwört er
das Diktum Christoph Martin Wielands: »Ich wollte die Menschen wohl amüsie-
ren, wären sie nur amüsabel.«66
66 Regine Otto, Peter Wersig (Hgg.): Johann Peter Eckermann. Gespräche mit Goethe in den letz-
ten Jahren seines Lebens. Berlin 1982, S. 233.
Monika Schmitz-Emans
Graphien der Zeit: Über Stundenbücher in
Mittelalter und Neuzeit
1 Vgl. William J. T. Mitchell: Bildtheorie. Hg. und mit einem Nachwort von Gustav Frank. Frank-
furt a. M. 2008.
2 Ebd., S. 152 f.
3 Ebd., S. 154 f.
DOI 10.1515/9783110521788-011
216 Monika Schmitz-Emans
ren, das als Darstellung einer temporalen Sequenz gedeutet wird.4 Darauf, daß
Schrift- oder Text-Bilder u. a. dazu dienen, Zeit zu gliedern und zu ordnen, weist
Barthes ebenfalls hin.5
Untersuchungen zum wechselseitigen Bedingungszusammenhang zwischen
Formen der Graphie (als einer textbildlichen Darstellungspraxis) auf der einen,
jeweils kulturspezifische Vorstellungen über die Zeit und ihre Ordnungen auf der
anderen konvergieren; Theorien der écriture, Reflexionen über die ikonotextuelle
Dimension aller Formen von Schrift und kulturgeschichtlichen Forschungen zur
Geschichte der Zeitvorstellungen greifen ineinander. Zeit – so haben wichtige
Studien dargelegt6 – ist nicht an und für sich wahrnehmbar; sie wird immer
an etwas sichtbar, hörbar oder ablesbar (für Aristoteles waren dies die Bewegun-
gen). Im Bereich der Artefakte dienen vor allem Kalender, wie sie seit prähisto-
rischen Zeiten hergestellt wurden, der Wahrnehmbarmachung von Zeit. Aber
auch Sequenzen von Stunden-, Tages- und Monatsnamen, von Jahreszahlen
und Daten, Listen von Tagesheiligen, von Taten und Ereignissen etc. visualisie-
ren Zeitlichkeit – ebenso wie die Darstellung von Geschichten durch Bilder und
Bildzyklen sowie die Repräsentation von Jahreszeiten und anderer mit Zeitver-
lauf konnotierter Gegenstände. Ernst Cassirer erörtert in den 1920er Jahren in
seiner Philosophie der symbolischen Formen fundamentale Praktiken der Model-
lierung von Zeit und entwickelt dabei die These einer Gleichursprünglichkeit
und Wechselabhängigkeit von Zeiterfahrung und Schriftlichkeit.7 Nach seiner
Überzeugung sind im mythischen Denken Zeit- und Raumvorstellungen noch
ungeschieden; erst allmählich kommt es zum Übergang »diese[r] mythische[n]
›Urzeit‹ […] in die ›eigentliche‹ Zeit«, in »das Bewußtsein der Folge«. Grundle-
gend seien jeweils, so Cassirer, Verfahren der Unterteilung,8 welche die Diffe-
renz eines Hier und Dort, eines Vorher und Nachher sinnfällig machen; sie lassen
dadurch Räume entstehen, in denen man sich anhand von Differenzierungen
orientieren kann, und sie segmentieren Zeit in einer Weise, die temporale Orien-
4 Vgl. Roland Barthes: Variations sur l’écriture / Variationen über die Schrift. Frz./Dt. Übers. von
Hans-Horst Henschen. Mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil. Mainz 2006. Eine Definition
von »Erzählen« erfolgt im Artikel »Ruban« (»Band«), S. 91, 93, 95.
5 Vgl. ebd. die Abschnitte »Mapping« (frz.-dt., S. 84–91), wo auf die Markierung von Wintern
durch Piktogramme bei den Dakota-Indianern hingewiesen wird (S. 86 f.), und »Astronomie«,
wo Barthes die »privilegierte Verbindung zwischen Astronomie und Schrift« (S. 105) erörtert.
6 Vgl. insbesondere: Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Eu-
ropa. Opladen ³1985.
7 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde. und Indexband. Darmstadt
²1964.
8 Ebd., S. 132.
Graphien der Zeit: Über Stundenbücher in Mittelalter und Neuzeit 217
9 Ebd., S. 132.
10 André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Dt.
von Michael Bischoff. Frankfurt a. M. 1980 (zuerst frz. 1964). Zu frühen Ritzungen bzw. Kerbun-
gen auf Stäben als Ausdruck erster Maßsystemen: S. 391.
11 Ebd., S. 238.
12 Vgl. dazu Peter Gendolla: Zeit. Zur Geschichte der Zeiterfahrung. Vom Mythos zur ›Punktzeit‹.
Köln 1992, S. 19, sowie Cassirer (Anm. 7), S. 133.
218 Monika Schmitz-Emans
2 S
tundenbuch und historische Zeitauffassungen:
Vom Mittelalter zur Neuzeit
Das Stundenbuch als Buchtypus entsteht vor dem Hintergrund einer sich im Mit-
telalter herausbildenden spezifischen Zeitauffassung. Diese ist vor allem durch
dreierlei charakterisiert. Erstens durch ein theologisch-religiös motiviertes Anlie-
gen: Im Horizont des christlichen Denkens besteht ein Bedarf, zwischen der
irdischen Lebenszeit des Menschen und seinen Beschäftigungen auf der einen
Seite, der als Heilszeit verstandenen Gotteszeit auf der anderen Seite, zwischen
endlicher Zeit und Ewigkeit gleichsam, zu vermitteln, und zwar sowohl ideolo-
gisch-konzeptuell als auch praktisch. Der Christ soll insbesondere auch während
seines irdischen Alltags stets daran erinnert werden, daß sein endliches Dasein
in einen größeren Zeit- und Sinnzusammenhang eingebettet ist. Zweitens korre-
spondiert dem eine Strategie im Umgang mit der Zeit: Der Alltag des Christen
wird einem formalen Schema unterworfen, das ihn dazu anleitet, seinen Tages-
ablauf regelmäßig zugunsten des Gebets zu unterbrechen. Arbeit und Gebet
bekommen feste Zeiten zugewiesen. Als Gliederungsschema des Tages setzt sich
die Segmentierung nach Stunden durch, die bis weit ins Mittelalter keine große
Rolle gespielt hatte; als Folge der Einteilung des Tages in Gebets- und Arbeits-
zeit beginnt sich das Leben nun also drittens im Rhythmus von mehrstündigen
Takten zu organisieren. Ermöglicht wird dies durch Uhren, deren Technologie
sich sukzessiv verbessert, sowohl hinsichtlich der Präzision der Zeitmessung als
auch hinsichtlich der Wahrnehmbarkeit eingeteilter Zeit für ganze Kollektive, die
ja gemeinsam nach dem Takt der Uhr leben sollen. Wie andere kulturelle Leistun-
gen auch, so hat die neue Praxis der Segmentierung des Tages im Stundentakt
und des stundenweise geregelten regelmäßigen Gebets ihren Ursprung in den
mittelalterlichen Klöstern. Das Brevier und das Stundenbuch teilen sich hier bis
zu einem gewissen Grad ihre Funktion mit der Uhr: Sie gliedern den Tag, sorgen
dafür, daß die Phasen des irdischen Alltags nach einem festgelegten Rhythmus
von Phasen der religiösen Besinnung und der Hinwendung zur Ewigkeit unter-
brochen werden. Ebenso wie mit dem Stundenbuch das Buch des Klerikers (das
Brevier) vom klösterlichen Bereich in die Welt der Laien (als Laien-Stundenbuch)
übergreift, so setzt sich die Zeiteinteilung im Takt der Tagesstunden von den Klös-
tern ausgehend in die säkulare Sphäre hinein fort.
Die mittelalterlich-christliche Kultur etabliert das Leben nach der Uhr zwar
zunächst, um den diesseitigen Menschen regelmäßig an die Ewigkeit zu mahnen,
zumindest ist dies die ideologische Begründung der neuen Zeitmessungs- und
Zeitnutzungspraxis. De facto wird mit der strikt regulierten Zeit aber ein wichtiges
Dispositiv für eine ökonomische, also ganz und gar irdische Effizienz geschaffen:
Graphien der Zeit: Über Stundenbücher in Mittelalter und Neuzeit 219
13 Benjamin Franklin, der die Formel Zeit ist Geld geprägt haben soll, führt ein solches Tages-
Stunden-Buch. Vgl. Benjamin Franklin: Autobiographie. Nach der dt. Übers. von Friedrich Kapp
von 1882 bearb. von Ernst Habersack. Berlin 1954, S. 151.
14 Werner Sombart hat dargelegt, inwiefern die Geschichte des Kapitalismus auch und gerade
eine Geschichte der Buchführung ist, wobei er die kaufmännische Buchhaltung meint. Werner
Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des Gesamteuro-
päischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. II/1: Das europäische
Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus, vornehmlich im 16., 17. und 18. Jahrhundert.
München, Leipzig 61924.
220 Monika Schmitz-Emans
15 Zur Verbreitung und (auch wirtschaftlichen) Bedeutung des Stundenbuchs in der frühen
Neuzeit vgl. Roger Chartier: Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit. Aus d. Frz.
von Brita Schleinitz u. Ruthard Stäblein. Frankfurt a. M., New York, Paris 1990. Kap. 2: »Verle-
gerstrategie und volkstümliche Lektüre zwischen 1530 und 1660«, S. 55–90. Das Stundenbuch
als Gebetbuch wurde innerhalb der Familie oft weitervererbt; in dieser Funktion stand es noch
Graphien der Zeit: Über Stundenbücher in Mittelalter und Neuzeit 221
der Bibel voran. – Zum Stundenbuch vgl. auch: Janet Backhouse: Books of Hours. London 1985.
Christopher de Hamel: Scribes and Illuminators. Toronto ²1993. Christopher de Hamel: A His-
tory of Illuminated Manuscripts. London ²1994. John Harthan: The Book of Hours. New York
1977. Joachim M. Plotzek: Andachtsbücher des Mittelalters aus Privatbesitz. Köln 1987. Joachim
M. Plotzek: Ars Vivendi – Ars Moriendi. München 2001. Roger S. Wieck: Time Sanctified. The
Book of Hours in Medieval Art and Life. New York 1988. Roger S. Wieck: Painted Prayers. The
Book of Hours in Medieval and Renaissance Art. New York 1997. Eleanor Simmons: Les heures de
Nuremberg. Paris 1994. Rob Duckers, Pieter Roelofs: The Limbourg Brothers – Nijmegen Masters
at the French Court 1400–1416. Gent 2005. Robert G. Calkins: Illuminated Books of the Middle
Ages. Ithaca, New York 1983. Otto Pächt: Book Illumination in the Middle Ages. London 1986.
16 Die Texte im Stundenbuch sind meist lateinisch. Es gibt aber auch Beispiele, die teilweise
oder ganz in einer der europäischen Volkssprachen verfaßt wurden; das Niederländische ist hier
besonders gut vertreten.
17 Bereits im Brevier finden sich alle im Stundenbuch anzutreffenden Texttypen auf eine Weise
arrangiert, die ihnen einen bestimmten zeitlichen Ort zuweist: eine bestimmte Tageszeit, einen
Wochentag, einen Tag im Jahreslauf. Zudem sind die Feiertage des Kirchenjahrs und die Jah-
reszeiten im Stundenbuch durch einen liturgischen Kalender dargestellt, dem man entnehmen
kann, welche Texte gerade zu lesen sind. Am Anfang des Stundenbuchs plaziert, besitzt dieser
eine komplexe Struktur. (Dem römischen Kalender hatte sich der durch die religiösen Feiertage
strukturierte christliche Kalender überlagert.) Neben fest im Kalender verankerten Feiertagen
222 Monika Schmitz-Emans
Besitzer eines Stundenbuchs war dazu angehalten, achtmal täglich seine lektü-
regestützte Andachtsübung zu vollziehen.18 Während solch regelmäßige Andach-
ten auf der Basis des Breviers in Klöstern an der Tagesordnung waren, ist bezogen
auf die Welt der Laien kaum entscheidbar, ob und wie die fraglichen Übungen
wirklich stattfanden. (Der gute Erhaltungszustand vieler Stundenbücher könnte
ein Indiz dagegen sein – doch es könnte auch sein, daß die intensiv genutzten
einfach nicht erhalten sind.19)
Der kalendarische Teil machte neben den Andachts- und Gebetstexten einen
wichtigen Bestandteil des Stundenbuchs aus.20 Die meisten Manuskripte begin-
nen mit einer Übersicht über das Kirchenjahr. Den einzelnen Tag sind bestimmte
Heilige zugeordnet. Die Namen besonderer Feste werden oft rot geschrieben, die
gibt es bewegliche Feiertage, deren Datierung sich nach Sonnen- und Mondzyklen und Wochen-
tagen richtet. Feste wie bewegliche Feiertage dienen der Erinnerung an das Leben Christi, dessen
Stationen ihre Folge grob abbildete. Aus mittelalterlich-christlicher Sicht bildet nicht nur der
Jahreszyklus das Leben Christi ab, sondern auch der Wochenzyklus hat eine symbolische Bedeu-
tung: Er entspricht den sieben Schöpfungstagen und den sieben Tagen der Passion Christi bis
zur Auferstehung.
18 Zentrale Textbestandteile des Stundenbuchs sind die Gebete. Die Tagzeiten sind in dreistün-
digem Rhythmus zu bestimmten Stunden des Tages zu beten: um Mitternacht zunächst die Ma-
tutin; dann die Laudes (3 Uhr morgens), mit denen die Matutin später zusammengefaßt wurde.
Um 6 Uhr morgens wurde die Prim gebetet, dann in dreistündigen Abständen die Terz, die Sext,
die Non, die Vesper und die Komplet. Als typisch für Stundenbücher können ferner, vor allem
im 15. Jahrhundert, folgende Bestandteile gelten: Auszüge aus den vier Evangelien, das kleine
Offizium der Heiligen Jungfrau Maria (eine Marienliturgie), Stufenpsalmen, Bußpsalmen, eine
Heiligenlitanei, Gebete, die als Stunden des Heiligen Geistes bezeichnet wurden, Texte zu den
Passionsstunden, ein Totenoffizium. Beliebt sind die Mariengebete Obsecro te und O Intemerata.
Selten enthalten Stundenbücher auch Gedichte, die eigens für die Besitzer verfaßt wurden. Oft
aber werden bestehende Texte in einer Weise modifiziert, die auf den vorgesehenen Besitzer
abgestimmt war, etwa durch Aufnahme von deren Namen in Gebete. – Die Litanei – auf die frü-
hen Formen christlicher Liturgie zurückgehend – ähnelt der Form und Funktion nach Zauber-
formeln; die mit ihr verbundene Fürbitte ist stark emotiv (vgl. de Hamel [Anm. 15], S. 160). Ein
enger Zusammenhang besteht zu den Bußpsalmen. Gerade Litanei und Bußpsalmen sowie das
Totenoffizium entsprechen dem intensiven Interesse des Mittelalters am Thema Tod, an der End-
lichkeit und Zeitlichkeit des menschlichen Lebens. Im 15. Jahrhundert intensivierte sich dieses
Interesse bis zur Obsession; Todesdarstellungen florieren. Das Totenoffizium, in frühen Formen
seit dem 9. Jahrhundert gebräuchlich, etablierte sich erst im 13. Jahrhundert breit. Als Text findet
es sich meist am Ende der Stundenbücher. Es sollte bei Todesfällen rezitiert werden, aber auch
unabhängig davon der täglichen Erinnerung an die eigene Sterblichkeit dienen – und, so hoffte
mancher, als Schutzmaßnahme gegen einen plötzlichen und unvorhergesehenen Tod.
19 de Hamel (Anm. 15), S. 160.
20 Ergänzt wird der liturgischen Kalender im Stundenbuch durch sogenannte Cisiojanus-Merk-
verse, welche die Datierung der beweglichen Feiertage leichter memorierbar machen sollen.
Graphien der Zeit: Über Stundenbücher in Mittelalter und Neuzeit 223
Namen der gewöhnlichen Heiligen schwarz. (Manchmal werden auch die Farben
Blau, Rot, Gold eingesetzt.)
Das wohl älteste erhaltene englische Stundenbuch entstand um 1240 für eine
Frau aus dem Raum Oxford. Es enthält viele illuminierte Initialen, aber keine
ganzseitigen Bilder. Nicht alle Stundenbücher also sind bebildert, aber die Ver-
bindung von Text- und Bildanteilen prägt doch sehr viele Beispiele, und die wert-
vollsten und bekanntesten Stundenbücher erscheinen nicht wegen ihrer Textan-
teile, sondern wegen ihrer graphischen Ausstattung bedeutend.21 Illuminierte
Stundenbücher zeigen typischerweise jeweils eine größere Miniatur zu Beginn
jedes Hauptabschnitts der Texte; die Bilder strukturieren die Bücher also bzw.
machen deren Struktur sichtbar. Viele Stundenbuchillustrationen gelten bibli-
schen Episoden, aber auch Szenen aus der zeitgenössischen Alltagswelt.22 Die
Illustrationen zum kleinen Gottesdienst beziehen sich meist auf die Weihnachts-
oder die Passionsgeschichte, letzteres vor allem in England. Die Kalendarien
stellen oft die typischen Arbeiten der einzelnen Monate dar. Manche der schöns-
ten Stundenbücher, die für höfische Rezipienten angefertigt wurden, spiegeln
deren Interessen gerade im Kalendarium wider. Das Totenoffizium hat Anlaß zu
originellen Miniaturdarstellungen gegeben, in denen sich die Faszination durch
29 Handgefertigte oder per Hand nachbearbeitete Stundenbücher sind Unikate, auch wenn ihre
Textelemente einander ähnlich bleiben, weil sie zu weiten Teilen ja festliegen.
30 Überliefert ist u. a. ein Primer von 1599: Primer, or Office of the Blessed Virgin Marie, lat.-
engl., Antwerpen.
31 Zum folgenden: Marion Janzin, Joachim Güntner: Das Buch vom Buch. 5000 Jahre Buch
geschichte. Hannover ³2007: Gedruckter Buchschmuck wurde in Frankreich erst spät heimisch,
weil die Buchmalerei auf so hohem Niveau praktiziert wurde. Jean Dupré und andere Drucker
produzierten ab 1481 aber aufwendig geschmückte gedruckte Stundenbücher – nach dem Mo-
Graphien der Zeit: Über Stundenbücher in Mittelalter und Neuzeit 227
dell der illustrierten Livres d’heures. Oft auf Pergament gedruckt, wiesen diese neben Illustra
tionen auch Randleisten in Holz- und Metallschnitt auf. Diese Gebet- und Stundenbücher waren
Luxusprodukte und fanden guten Absatz. Ihre Auflage war relativ hoch, und Paris wurde zu
einem Zentrum für Gebetbuchproduktion (Ebd., S. 147). Wichtig waren die Druckereien von An-
toine Vérard (ab 1485), Dupré und Philippe Pigouchet. Die Pariser Graveure setzten Vorbilder aus
der Buchmalerei geschickt in Druckgraphiken um, und sie verwendeten die neuartige Ornamen-
tik der Renaissance. Metallene Druckstöcke wurden um der größeren Feinheit der Abbildungen
willen gern verwendet, obwohl sich das aufwendigere Verfahren gegenüber dem Holzschnitt ins-
gesamt dann nicht durchsetzte. Pariser Druckereien bedienten sich dieser Metalldruckstöcke für
Missal-Drucke und Stundenbücher aber noch bis ins 16. Jahrhundert (Ebd., S. 147). Das Zentrum
des niederländischen Buchdrucks lag im 16. Jahrhundert in Antwerpen. Der zum Hofbuchdru-
cker ernannte Franzose Christoph Plantin produzierte Missale, Breviere und Stundenbücher von
hoher Qualität (Ebd., S. 164).
32 Auch manche protestantische Fürsten sammelten Stundenbücher, wenngleich als papisti-
sche Objekte, aber doch in Anerkennung ihres künstlerischen Werts. Ein Beispiel bietet das von
einem flämischen Maleratelier ausgestaltete Stundenbuch aus dem 16. Jahrhundert, von dem
nicht bekannt ist, für wen es geschaffen wurde, das aber später in den Besitz Herzog Augusts des
Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel gelangte und auch heute wieder zu den Beständen der
Wolfenbütteler Bibliothek gehört. Herzog August sammelte solche (und andere) Bücher. Vgl. den
Katalog: Härtel (Anm. 24). – Gerade Fürstengebetbücher wurden gern opulent ausgestattet; aus
der Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit sind verschiedene erhalten: das Gebetbuch
Kaiser Ludwigs des Bayern († 1347), das Herzog Leopolds IV. von Österreich († 1411), das Kaiser
Friedrichs II. († 1493) sowie die Gebetbücher Kaiser Maximilians I. († 1519).
228 Monika Schmitz-Emans
Unter dem Aspekt seiner Bedeutung für die Geschichte der Kunst und der
ästhetischen Erfahrung ist gerade das Stundenbuch als Brücke vom Mittelalter
zur Neuzeit beschreibbar, schon weil sich die Buchmalerei hier sukzessiv neuen
Gegenstandsbereichen zuwendet. (Damit verbunden sind neue Funktionen der
Kunst: die der Selbstdarstellung der kulturtragenden sozialen Schichten, die der
Repräsentation ihrer Lebensformen. In einem Stundenbuch wie dem des Herzogs
von Berry stellt sich vor allem die durchaus diesseitige Welt des Rezipienten selbst
stilisiert, semantisch aufgeladen und ästhetisch verklärt dar. Im Spiegel der Kunst
sieht sich der Besitzer selbst als Objekt künstlerischer Darstellung). Man wird
wohl mit Blick auf die berühmtesten Stundenbücher sagen dürfen, daß die ästhe-
tisch motivierte Freude am wertvollen Kunstobjekt und die Freude an der Darstel-
lung der eigenen Welt im Buch sich erkennbar gegenüber der religiös-spirituellen
Nutzungspraxis des Stundenbuchs emanzipiert. Umberto Eco hat die Très riches
heures des Herzogs von Berry33 unter dieser Akzentuierung kommentiert.34 Als
33 »Dieser hochverfeinerte Mann hatte lüsterne, vergnügungssüchtige Augen, er hatte die Zer-
streuung zu einer Kunst entwickelt. […] Es wird nicht respektlos sein, wenn wir uns vorstellen,
daß der Duc de Berry im Zwielicht der Kirche die Bilder seines Buches so gierig verfolgte, wie wir
heutzutage die Bilder im Fernsehen« So Umberto Eco über den Herzog von Berry. In: Raymond
Cazelles, Johannes Rathofer: Das Stundenbuch des Herzogs von Berry/Les très riches heures. Mit
einer Einführung von Umberto Eco, dt. von Burkhart Kroeber. Luzern o. J., Einführung, S. 8–12,
Zitat S. 10.
34 In Ecos Bemerkungen über das Stundenbuch des Herzogs von Berry – die das Buch mit Kino
und Fernsehen und mit erzählenden Bildfolgen insgesamt analogisieren (vgl. ebd., S. 9 u. 10) –
fließen auch Hinweise darauf ein, welche bildlichen Konkretisationen die Imaginationen der
Künstler bereits in dieser noch dem Mittelalter zugerechneten Kunst erfuhren. Wie er sich für
Monster und Fabelwesen in anderen Spielformen mittelalterlicher Malerei interessiert (siehe Il
nome della rosa), so entdeckt er auch monströse Figuren in den scheinbar marginalen Zonen des
berühmten Stundenbuchs: im Bereich der Initialen (Ebd., S. 9). Wie im Roman Il nome della rosa
(1980) dient der Hinweis auf diese phantastischen Fabelwesen zur Plausibilisierung eines moder-
nespezifischen Blicks auf Kunst: Kunst, so Ecos implizite These, wird zwar in den Dienst von Ideo-
logien und Dogmen genommen (in diesem Fall: der christlichen Gedankenwelt), aber sie geht in
dieser Funktion nicht auf, läßt sich nicht komplett disziplinieren. Wie die kleinen Monster, die
der fiktive Buchmaler Adelmus von Otranto an den Rändern von Manuskripten anbringt (nach
dem Eco wohlbekannten Muster realer mittelalterlicher Buchmalereien), so haben die monströ-
sen Wesen, die sich im ansonsten einem ganz anderen Bildprogramm verpflichteten Stunden-
buch des Herzogs von Berry tummeln, einen subversiven Zug. Für Eco ist es dabei wohl besonders
interessant, daß Initialenmalereien dem Monströsen einen gern genutzten Spiel-Raum bieten.
Denn für ihn ist Kunst – in der Malerei wie in der Literatur – gleichbedeutend mit der Etablierung
und der Nutzung eines Spiel-Raums, einer antidogmatischen Freiheit der Gestaltung von Ungese-
henem, Unerhörtem. Bachtins Karnevalsästhetik, von diesem selbst an der Literatur der frühen
Neuzeit exemplifiziert, wird von dem Mediävisten Eco auf die mittelalterliche Kunst der Buch
malerei zurückprojiziert – zugleich aber als wegweisend für die ästhetische Moderne verstanden.
Graphien der Zeit: Über Stundenbücher in Mittelalter und Neuzeit 229
4 Moderne Stundenbücher
Im 20. Jahrhundert wird an die verschiedenen Spielformen und Funktionen des
Stundenbuchs in Mittelalter und Früher Neuzeit angeknüpft: So gibt es immer
noch katholische Stundenbücher, die im Dienst religiös-meditativer Praktiken
stehen. Dichtern und bildenden Künstlern bietet die Erinnerung an das Buch-
format Stundenbuch vor allem immer wieder Anlaß, Formen der Text-Bildlich-
keit auszuloten. So unterschiedlich die unter dem Titel Stundenbuch gestalteten
Werke moderner Literatur und Kunst sind – sie konvergieren doch in einer (dem
Genre Stundenbuch seit seinen Anfängen inhärenten) Tendenz zur Aufhebung
der Grenze zwischen Wort und Bild. Rainer Maria Rilkes Stundenbuch (3 Teile,
1988–1903) ist zwar ein Gedichtzyklus und damit konkret-medial ein reines Text-
Gebilde. Aber inhaltlich geht es doch um Malerei, und die Bilder des Maler-Mönchs
sind in den Texten als aufgehoben zu denken: Rilkes Stundenbuch-Gedichte
stehen in der Tradition des Bildgedichts und erinnern an dessen Anspruch einer
Vergegenwärtigung von Bildlichem durch das evokative lyrische Wort.
Frans Masereels Bildfolge Mein Stundenbuch (1920) erzählt eine Geschichte
(und wendet sich bereits dadurch implizit gegen eine konventionelle Diffe-
renzierung von dichterischer Zeit-Kunst und bildnerischer Darstellung von
Augenblicken).35 Sie übernimmt als Bild-Erzählung eine Funktion, die konven-
tionellerweise Texte erfüllen. Masereels Bildgeschichte ist in ihrer konsequen-
ten Wortlosigkeit zwar noch bildlastiger als der Comic, als dessen Vorläufer sie
35 Zu Masereels Stundenbuch vgl. Thomas Mann: Vorwort zu Masereels ›Stundenbuch‹. In: Tho-
mas Mann: Reden und Aufsätze 2. Frankfurt a. M. 1960, S. 660–673. Mann würdigt Masereel,
den Holzschneider, hier als Fortsetzer einer mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Tradition,
vgl. S. 663. – Sowie Thomas Mann: Vorwort [zu Frans Masereel: ›Jeunesse‹]. In: Thomas Mann:
Essays VI (1945–1950). Frankfurt a. M. 2009, S. 281–288.
230 Monika Schmitz-Emans
manchmal gedeutet wird; gleichwohl besitzt sie doch auch wieder Anschlußstel-
len an die Sphäre des Verbalen, beim Titel beginnend – und vor allem mit Blick
auf die prägenden Metaphern und Symbole. Sonne, Stadt, Wald, Gerippe und
andere Bildmotive stehen in einer bildsprachlichen Tradition, die von der Litera-
tur und von der bildenden Kunst gemeinsam getragen wird.
Eugen Gomringers stundenbuch (1977) ist eine Sequenz konkreter Gedichte
(die Gomringer selbst auch als Konstellationen charakterisiert). Gomringer
möchte das Changieren seiner Textgebilde zwischen Sprachlichem und Bild
lichem für die meditative Auseinandersetzung mit ihnen fruchtbar machen: Denn
als Texte, die zugleich Bilder sind, stimulieren diese Texte – den Prämissen ihres
Verfassers zufolge – dazu, sie nicht einfach durchzulesen, sondern sich in sie zu
vertiefen, zu Leseweisen und Denkspielen anregen zu lassen. Wichtig ist insbe-
sondere das Strukturprinzip der variierenden Wiederholung. Es akzentuiert die
Idee des Zyklischen und unterstreicht den nicht-mitteilenden Grundzug dieser
Texte. Als Text-Bilder entsprechen die stundenbuch-Texte weder dem Konzept
des bewegungslosen, momentgebundenen Bildes noch dem des auf Verlauf hin
angelegten Wortes: Sie sind in mehrfachem Sinn Texte, in denen die Zeit aufgeho-
ben erscheint. Die Wahl des Titels stundenbuch suggeriert nicht zuletzt, daß das
Stundenbuch-Format einer solchen Aufhebung der Zeit besonders gut disponiert
ist – und transportiert so eine implizite These über Stundenbücher insgesamt.36
Gomringers zur Meditation einladendes Stundenbuch ist insbesondere zu lesen
vor dem Hintergrund einer Zeitwahrnehmung, die durch den Eindruck perma-
nenter Beschleunigung geprägt wird. Und es suggeriert, daß es des meditieren-
den Blickens auf Wörter bedarf, um die Zeit zu entschleunigen.
Peter Malutzkis rezentes Stundenbuch ist als multimedial gestaltetes Künst-
lerbuch eine Hommage an das Stundenbuch, insofern es zu den Vorformen
moderner Buchgestaltungskunst gehört.37 Bei Malutzki fungieren bestimmte
Bildmotive – insbesondere der Davidsstern – als Anlässe der Erinnerung und der
Besinnung auf Historisches; das Stundenbuch wird im doppelten Sinn säkulari-
siert, knüpft aber dennoch an das Format des Meditationsbuches an.
So unterschiedlich diese modernen Stundenbücher auch gestaltet sind – auf
jeweils spezifische Weise akzentuieren sie die Bedeutung des Formats Stunden-
buch für eine reflexive Auseinandersetzung mit Zeit und Zeitlichkeit. Rilke stellt
sein Stundenbuch ins Zeichen der ästhetisch-zitathaften Evokation einer vergange-
nen, vor-modernen Zeit – und dies letztlich, um einer zerrissenen, metaphysisch
haltlosen und orientierungslosen Moderne ihr Gegenbild vorzuhalten. Masereel
gestaltet einen ausnehmend zeitgenössischen Stoff, akzentuiert durch das Ende,
welches er seinen Protagonisten nehmen läßt, allerdings auch, daß die lineare,
im Zeichen von Dynamik und Innovation stehende Lebenszeit des Großstadtmen-
schen in eine sie umgreifende natürlich-zyklische Zeitordnung eingebettet ist.
Reminiszenzen an die Bildtradition des Totentanzes verstärken diese Suggestion
einer anderen Zeitstruktur. Gomringer verordnet dem Leser in einer als sukzessiv
beschleunigt erfahrenen Gegenwartszeit meditative Verlangsamung und bietet
das Text-Bild als Anlaß solch meditativer Übungen an. Und Peter Malutzki lädt
den Betrachter ein, sich in die historische Semantik der verwendeten Text- und
Bildmaterialien zu vertiefen. Gerade weil sie den mittelalterlichen und frühneu-
zeitlichen Stundenbüchern oberflächlich unähnlich sind, lenken jüngere Stun-
denbücher die Aufmerksamkeit auf das, was sie jenseits dieser Oberfläche mit
den traditionellen Stundenbüchern verbindet: die reflexive Auseinandersetzung
mit einer Zeit, die sich im Raum des Buchs veranschaulicht findet.
Das Stundenbuch ist zudem ein visuelles (text-bildliches) Modell einer mehr-
fach geschichteten Zeitlichkeit. Denn es gliedert den Tagesverlauf ja – wie aus-
geführt – in Stunden, die der säkularen Welt und der Alltagsarbeit gehören, und
solche, die dem Gebet und der Meditation gehören: in zwei Sorten von Zeit also.
Hier die Zeit des zweckgerichteten, rationalen Handelns, mit der ökonomisch
umgegangen werden muß, dort die Zeit der Hinwendung zur Ewigkeit und der
Meditation. Die Vorstellung einer Überlagerung differenter Zeiten (Dimensionen
von Zeitlichkeit), in der Moderne ausgeweitet zum Modell der Polychronie, bleibt
für das Verständnis von Zeitlichkeit bedeutsam, auch nachdem die christlich
interpretierte Heilszeit (performativ vergegenwärtigt und repräsentiert in den
Phasen des Gebets) an Signifikanz verloren hat. An deren Stelle tritt unter neu-
zeitlichen Verhältnissen etwa die Zeit der Selbstsorge (insofern diese über die
Verfolgung praktischer Belange hinausgeht), die Zeit der Reflexion, d. h. der refle-
Stundenbuch Herzog Augusts des Jüngeren. Das Format ist doppelt so groß wie das der Vorlage.
Die Texte sind handgesetzt, die Vergoldungen mit Blattgold ausgeführt.
232 Monika Schmitz-Emans
xiven Distanz zur Welt mit ihren konkret-praktischen Zwängen und Forderungen,
die Zeit des Genusses, die Zeit des ästhetischen Erlebens.
In ihrer Abstraktheit, ihrem teilweise elementar wirkenden Notationscharak-
ter erinnern manche künstlerisch gestaltet Stunden- und Zeitbücher der Moderne
an die phylogenetischen Anfänge und die ontogenetischen Ursprünge kalendari-
scher Notation. Und damit gemahnen sie an die Anfänge der Zeit, die es für den
Menschen nur insofern gibt, als er sie gliedert, rhythmisiert, skandiert – was wie-
derum an Notationsverfahren gebunden ist. Hanne Darboven spezialisiert sich
vor allem darauf, größere Zeitintervalle durch regelmäßige, einem bestimmten
System unterworfene Notationsverfahren in Buchform sinnfällig zu machen.38
Sie stellt eine homogenisierte, abstrakte Zeit dar – jene quantifizierbare und bere-
chenbare Zeit, wie sie in der Frühen Neuzeit konzeptualisiert und zur Grundlage
rationaler Verfügung über die Lebenszeit gemacht wird. Ihre Notationsverfahren
sind auf eine ostentative Weise selbsterfunden und insofern doch auch wieder
individuell; sie wechseln und demonstrieren dadurch ihre Bindung an den zeit-
messenden Menschen. Je nachdem, wie Zeit notiert wird, ergeben sich andere
Zeit-Bilder. Gerade die Schematik und die Konsequenz, mit der Darboven Zeit in
Büchern zur Anschauung bringt, unterstreicht die Kontingenz des gewählten Ver-
fahrens. Welche Bilder der Zeit wir uns machen, ist dabei entscheidend dafür, wie
Zeit erlebt wird.39
38 Verwiesen sei insbesondere auf folgende Werke: Hanne Darboven: R. M.Rilke – Das Stun-
denbuch. Leo Castelli, Feb. 1. 1957 – Feb. 1. 1987 NYC. 1500 num. Ex., 64 Seiten, 32 Farbtafeln
Offsetdruck. München 1987. – Hanne Darboven: Die Stundenbücher. 1 Exemplar. 80 Bände, 4.80
Blätter, Pergamentpapier, eingeklebte Photographie, Klebebindung, eingelegte Zwischenpap-
pen, schwarze und rote Leineneinbände, Etiketten auf Buchdeckeln und –rücken. 1990–1993. –
Hanne Darboven: Stundenbuch. 160 Seiten, grüner Leinenrücken, schwarzmarmorierter Papp-
deckel, Etikett auf Deckel, roter und schwarzer Stift. 1991.
39 Darbovens Zeit-Bücher bieten u. a. Sequenzen von Zahlen, ausgeschrieben in Wörtern, an
den Zeilengrenzen ohne Rücksicht auf Teilungsregeln getrennt. Bestandteil der Darstellung
von Zeit sind insbesondere auf den ersten Blick rätselhafte, aber systematische Berechnungen,
ausgehend von den Datenangaben; Darboven entwickelt ein eigenes Verfahren systematischer
Additionen der Zahlzeichen, die dann zu Werten führen, mit denen die Tage bezeichnet werden.
Die zu Kalenderdaten gehörigen Ziffern werden jeweils zur Quersumme addiert, und daraus re-
sultieren zum einen Expansions-, zum anderen Reduktionsprozesse (vgl. Elke Bippus, Ortrud
Westheider: Hanne Darboven: Kommentiertes Werkverzeichnis der Bücher. Köln 2002, S. 12).
1968–77 New York präsentiert das in New York entwickelte Darstellungsverfahren von Zeit. 1971
wird Ein Jahrhundert 1970–1971 ausgestellt: Aktenordner stehen in Holzregalen; in den Ordnern
finden sich Blätter, die das Darbovensche System der Zeitdarstellung repräsentieren. Die Dauer
der Ausstellung entsprach dem Titel des Projekts: ein Jahr; die Ordner wurden sukzessiv in die
Galerie gebracht. Regale, Ordner und Tische erlaubten aber auch die Konsultation der Darstel-
lungen bereits vergangener Daten. Darboven setzt verschiedene Formen des Buchs ein. Die Stun-
Graphien der Zeit: Über Stundenbücher in Mittelalter und Neuzeit 233
denbücher, 1990–1993, basieren – wie auch andere Arbeiten – auf zu Büchern mit Leineneinband
gebundenen Schreibheften. Eine Gruppe gestalterisch ähnlicher Objekte bilden die Kalenderbü-
cher (Existenz, 1966–1999, Diaries, 1990–1999, Wochenaufzeichnungen, 1993–1996). Das für Leo
Castelli gestaltete Stundenbuch verwendet zitierend Rilkes Stundenbuch und betont so seinen
Meta-Stundenbuch-Charakter, der sich hier gleichsam potenziert.
40 Vgl. Barbara Schmidt-Heins, Gabriele Schmidt-Heins: Buchwerke. Stichworte zu unserer Ar-
beit. [Bemerkungen über ihre Bücher und Buch-Installationen]. In: Overbeck-Gesellschaft Lü-
beck (Hg.): Das Buch als Kunstobjekt. Lübeck 17. Juni – 12. August 1979.
41 Verwiesen sei insbesondere auf folgende Werke: Gabriele Schmidt-Heins: Stundenbuch. 120
Ex., 27 Seiten, Hamburg ca. 1980. – Barbara S chmidt-Heins: Gezeiten. 150 Ex., 30 Seiten, Ham-
burg 1981. – Barbara Schmidt-Heins: Gedenkminute für die Zeit. 200 Ex., o. O. 1980.
42 Die Sequenz von Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen, Jahren bildet seit Einführung der
exakt die Zeit einteilenden Uhr ein abstraktes Gerüst. Dessen Darstellung bzw. Ausfüllung kann
im Zeichen der Subjektivierung stehen. So erfolgt z. B. eine Aneignung der Zeit durch Schreib-
Gesten, indem die Einteilung der Zeit gestisch nachvollzogen wird.
234 Monika Schmitz-Emans
43 Sara McKillop: 1 Day Diary. Pocket Size. A project by Sara McKillop. o. O., o. J. (erschienen
2011).
44 Miranda Maher: Redbook. A Book of Hours. New York 1992.
45 Maher hybridisiert für ihr Book of Hours mehrere Texttypen: Das Stundenbuch als einen
Buchtypus, der den Ablauf von Zeit darstellt (1), einen Kalender (2), eine Verbrechensstatistik
über Vergewaltigungen, derzufolge alle 5 Minuten eine Frau vergewaltigt wird (3), sowie ein
alphabetisches Verzeichnis von Frauennamen (4). In Monats-Abschnitte eingeteilt und hier
wiederum nach einander folgenden Tagen gegliedert, besteht das Stundenbuch aus Listen von
Einträgen mit Zeitangaben im Fünfminutentakt. Vor den einzelnen Zeitangaben steht jeweils
ein Frauenname; die Sequenz der Frauennamen entstammt der alphabetischen Namensliste.
Wenn das Verzeichnis einmal ganz verwendet wurde, wird wieder von vorn angefangen (nicht
immer beim selben Namen. (»January 1 / Abbey 12:00 am / Abigail 12:05 am …«). Das Vorwort
thematisiert Statistik als eine Form der Darstellung von Zeit, welche den Schrecken abstrahiere
Graphien der Zeit: Über Stundenbücher in Mittelalter und Neuzeit 235
Zu registrieren ist bei den genannten Beispielen eine Tendenz zum Verzicht
auf Abbildlichkeit. Wo Schrift selbst als Schrift-Bild, als Medium von Ikonotexten
aufgefaßt wird, ist dies durchaus konsequent – und es scheint, daß gerade die
moderne Fortsetzung der Stundenbuch-Tradition diese Ostension von Schrift-
bildlichkeit konsequent betreibt. Die enge Wechselbeziehung zwischen graphi-
schen Bildern der Zeit und den in ihnen artikulierten Modellen und Erfahrungs-
modi von Zeit wird dadurch implizit betont. Zeit ist das, als was sie ins Bild gesetzt
wird. Insofern die älteren Stundenbücher aber eben nicht nur Abbilder boten,
sondern auch Kalendarien, Namenslisten, Datensequenzen und andere Formen
skripturaler Zeitdarstellung, bieten gerade sie einer Kunst, deren Bild-Begriff sich
gewandelt hat, naheliegende Anknüpfungsmöglichkeiten.
So erinnern moderne Stundenbücher daran, daß die Zeit selbst eine
Geschichte hat: die ihrer Notationspraktiken, die ihrer Kalender und die der an
diese anschließenden Modellierungen. Als Reflexionen über den Entwurf von
Zeitlichkeit durch Praktiken der Zeitdarstellung nehmen sie vor allem implizit,
aber deutlich Bezug auf die frühneuzeitlichen Verschiebungen in der Formung
und Interpretation von Zeit. Gerade die Frühe Neuzeit, so ließe sich bilanzieren,
hat eine wichtige Scharnierfunktion zwischen modernem Künstler-Stundenbuch
und dem im Mittelalter entstandenen Buchtypus, von dem es seinen Namen
übernimmt. Denn hier werden die Konsequenzen jenes Prozesses manifest,
den das Stundenbuch vorzubereiten hilft und der die Zeiterfahrung sowie das
Selbstverständnis der Moderne prägt: Der Konstitution meßbarer, berechenbarer
Uhrenzeit und der Verschärfung eines Bewußtseins für die Diskrepanz von Zeit
ordnungen, das schließlich in modernen Konzepten von Polychronie mündet.
Letztlich sind die modernen Stundenbücher dadurch, daß sie sich Stunden-
bücher nennen und damit ein altes Format zitieren, per se Meta-Stundenbücher;
Meta-Stundenbücher sind sie darüber hinaus aber insbesondere als Zeugnisse
der Reflexion über Verfahren im Buch veranschaulichter Temporalität. In dieser
Eigenschaft sind sie zugleich Reflexionen über das Buch: das Buch als sequen
zielles Format, das durchschritten werden kann und dabei Zeitlichkeit erfahrbar
werden läßt – aber auch das Buch als Intermedium, das die Möglichkeit bietet,
Schrift und Bild zu schrift-bildlichen Arrangements zu fügen und damit zum Ver-
weilen, zur Entschleunigung, zur Meditation über ästhetische Konfigurationen
einzuladen, in denen die Zeit aufgehoben ist.
und neutralisiere. Eine Einführung erinnert an die Form des christlichen Stundenbuchs. Zu den
Stundenzyklus-Angaben werden jeweils Erläuterungen gesetzt, die sich auf die moderne Tages-
zeiteinteilung beziehen.
Joachim Hamm
Zu Paratextualität und Intermedialität
in Sebastian Brants Vergilius pictus
(Straßburg 1502)
1 P
aratextualität um 1500: eine mediengeschicht-
liche Annäherung
Im Jahr 2008 erschien ein Tagungsband, der sich mit der »Pluralisierung des Para-
textes« in der Frühen Neuzeit auseinandersetzt.1 Gegenstand ist das von Gérard
Genette sogenannte »Beiwerk zum Buch«, all das also, was in einem gedruck-
ten Buch dem Kerntext beigegeben ist, um Aufmerksamkeit und Verständnis
des Lesers zu lenken und die literarische Kommunikation zu steuern.2 Im früh-
neuzeitlichen Buch gehören hierzu etwa Titelblatt und Kolophon, Rahmentexte
wie Widmungen, Vorreden und Nachworte, Hilfen zur Texterschließung wie Ver-
zeichnisse oder Register, Layoutelemente wie Kolumnentitel, Kapitelüberschrif-
ten oder typographische Auszeichnungen, zudem alle Formen der Texterläute-
rung wie Glossen, Anmerkungen und Kommentare. Solche Paratexte sind keine
Erfindung des Druckzeitalters, sondern vielmehr schon der antiken und mittel-
alterlichen Handschriftenüberlieferung eigen. Doch mit dem frühneuzeitlichen
Medienwechsel zum gedruckten Buch erlebt der Paratext einen wahren Boom,
es kommt zu einer Vervielfachung und Ausfächerung paratextueller Formen und
Funktionen: Neues Beiwerk wie das Titelblatt entsteht, und gleichzeitig differen-
zieren sich traditionelle Elemente wie Widmung, Vorrede oder Register typolo-
gisch und funktional aus. Im Zuge dieses Prozesses entstehen jene für die frühe
Neuzeit so charakteristische Vielfalt und Allgegenwart des Beiwerks zum Buch,
dessen kommunikatives Potential nunmehr voll entfaltet und ausgeschöpft wird.
Die Frühe Neuzeit, so Frieder von Ammon und Herfried Vögel, könne insofern als
erste eigentliche Epoche des Paratextes gelten, und seine Pluralisierung als ihre
markante Epochensignatur.
1 Vgl. Frieder von Ammon, Herfried Vögel (Hgg.): Die Pluralisierung des Paratextes in der Frü-
hen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Münster 2008 (Pluralisierung & Autorität; 15), hier
S. VII–XIX.
2 Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Aus dem Französischen von
Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1989 (stw; 1510).
DOI 10.1515/9783110521788-012
Zu Paratextualität und Intermedialität in Sebastian Brants Vergilius pictus 237
3 Abgesehen von Bettina Wagners wichtigem Beitrag (An der Wiege des Paratexts. Formen der
Kommunikation zwischen Druckern, Herausgebern und Lesern im 15. Jahrhundert. In: Ammon,
Vögel [Anm. 1], S. 133–155) bleibt die buchgeschichtliche Seite des Paratextes im erwähnten Ta-
gungsband weitgehend unberücksichtigt.
4 Vgl. Jürgen Schulz-Grobert: Das Straßburger Eulenspiegelbuch. Studien zu entstehungsge-
schichtlichen Voraussetzungen der ältesten Drucküberlieferung. Tübingen 1999 (Hermaea; 83)
und jetzt Anthony Grafton: The Culture of Correction in Renaissance Europe. London 2011. Zum
frühneuzeitlichen corrector vgl. zudem Paul Boesch: Julius Terentianus, Factotum des Petrus
Martyr Vermilius und Korrektor der Offizin Froschauer. In: Zwingliana 8 (1948), S. 587–601; Hein-
rich Grimm: Von dem Aufkommen eines eigenen Berufszweiges Korrektor und seinem Berufsbild
im Buchdruck des XVI. Jahrhunderts. In: Gutenberg-Jahrbuch 39 (1964), S. 185–190; Oskar von
Hase: Die Koberger. Eine Darstellung des buchhändlerischen Geschäftsbetriebes in der Zeit des
Überganges vom Mittelalter zur Neuzeit. 3. Aufl. Amsterdam, Wiesbaden 1967, S. 55, 82 f.; Jürgen
Geiß: Herausgeber, Korrektor, Verlagslektor? Sebastian Brant und die Basler Petrarca-Ausgabe
von 1496. In: Wilhelmi (Anm. 10), S. 83–102.
5 So Hase (Anm. 4), S. 29 mit Blick auf die Offizinen des Aldus und Stephanus; Schulz-Grobert
(Anm. 4) hat dies am Beispiel des Straßburger Druckers Johannes Grüninger gezeigt. Die Bedeu-
tung der Offizinen wurde auf der Tagung Buchkulturen des deutschen Humanismus (1430–1530).
Netzwerke und Kristallisationspunkte (Berlin 2011) gewürdigt und ist Gegenstand des von Elsa
Kammerer und Jan-Dirk Müller geleiteten Projekts Dynamik der Volkssprachigkeit im Europa der
Renaissance. Akteure und Orte, das Austauschprozesse zwischen Latein und den Volkssprachen
analysiert und sich hierzu Offizinen, Höfen und berufsspezifischen Netzwerken zuwendet. Die
238 Joachim Hamm
sieren oder gar destruieren, seine poetologische Faktur offenlegen oder über so
zentrale Kategorien wie Fiktionalität, Autorität und Autorschaft Auskunft geben.
Nicht selten gewinnt das Beiwerk eine solche ästhetische, explikative oder poe-
tologisch-metapoetische Eigenständigkeit, dass Genettes Hierarchisierung von
Text und subsidiärem Paratext ins Wanken gerät: Gerade in der paratextuellen
Zone, am vermeintlichen Rand des Textes, ereignet sich doch immer wieder Ent-
scheidendes.
Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass gerade im späten 15. und
16. Jahrhundert das Beiwerk zum Buch nicht nur aus Paratexten, sondern auch
aus Bildern bestand. In der Frühdruckzeit war nicht nur für volksprachige Texte
das Format des »Bildbuchs« sehr verbreitet, das sich durch ein aufwendiges Bild-
Text-Layout auszeichnet und heute zu den Vorgängern der Emblematik gerech-
net wird.7 Die Bimedialität in zahlreichen Frühdrucken ist mit Genettes Paratext-
modell (auch wenn dieses den Bildern einen »paratextuellen Wert« zugesteht)
nicht angemessen zu erfassen, sondern empfiehlt sich der historischen Interme-
dialitätsforschung: Wenn in Bildbüchern, um mit Irina Rajewski zu sprechen,8
zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien kombiniert werden,
7 Vgl. Joachim Knape: Mnemonik, Bildbuch und Emblematik im Zeitalter Sebastian Brants
(Brant, Schwarzenberg, Alciati). In: Werner Bies, Hermann Jung (Hgg.): Mnemosyne. Festschrift
Manfred Lurker. Baden-Baden 1988, S. 133–178. Neuere Studien vermuten in den volkssprachi-
gen Bildbüchern eine Protoemblematik, vgl. Seraina Plotke: Emblematik vor der Emblematik.
Der frühe Buchdruck als Experimentierfeld der Text-Bild-Beziehungen. In: ZfdPh 129 (2010),
S. 127–142 und jetzt Karl A. E. Enenkel: Illustrations as Commentary and Reader’s Guidance. The
Transformation of Cicero’s De officiis into a German Emblem Book by Johann of Schwarzenberg,
Heinrich Steiner, and Christian Egenolff (1517–1520; 1530/1531; 1550). In: K. E. (Hg.): Transforma-
tions of the Classics via Early Modern Commentaries. Leiden, Boston 2014 (Intersections; 29),
S. 167–259.
8 Irina Rajewsky: Intermedialität. Tübingen 2002 (UTB; 2261), S. 1–27. Nicht in den Blick kommen
in dieser Einführung historische Konzepte von Intermedialität, die doch schon immer Gegen-
stand eines breiten (mediävistischen) Forschungsdiskurses sind. Zur geschichtlichen Dimen-
sion vgl. Jörg Robert: Einführung in die Intermedialität. Darmstadt 2014 und u. a. Horst Wenzel:
Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995; Ulrich
Schmitz, Horst Wenzel (Hgg.): Wissen und neue Medien. Bilder und Zeichen von 800 bis 2000.
Tübingen 2003; Horst Wenzel, C. Stephen Jaeger (Hgg.): Visualisierungsstrategien in mittelal-
terlichen Bildern und Texten. Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen; 195); Michael
Curschmann: Wort–Bild–Text. Studien zur Medialität des Literarischen in Hochmittelalter und
früher Neuzeit. 2 Bde. Baden-Baden 2007; Gerald Kapfhammer, Wolf-Dietrich Löhr, Barbara Nit-
sche (Hgg.): Autorbilder. Zur Medialität literarischer Kommunikation in Mittelalter und Früher
Neuzeit. Münster 2007 (Tholos – Kunsthistorische Studien; 2); Karin Krause, Barbara Schelle-
wald (Hgg.): Bild und Text im Mittelalter. Köln 2011; Eckart Conrad Lutz, Martina Backes, Stefan
Matter (Hgg.): Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und
Handschriften. Zürich 2010 (Medienwandel–Medienwechsel–Medienwissen; 11).
240 Joachim Hamm
2 S
ebastian Brant, Johannes Grüninger und der
Vergilius pictus von 1502
Bereits in seiner Studentenzeit hatte Sebastian Brant10 mit Basler Druckern und
Verlegern zusammengearbeitet. Bis 1501 beteiligte er sich als Autor, Herausgeber
9 Vgl. Plotke (Anm. 7); Birgit Emich: Bildlichkeit und Intermedialität in der Frühen Neuzeit.
Eine interdisziplinäre Spurensuche. In: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008), S. 31–56;
zudem Jan-Dirk Müller: Das Bild – Medium für Illiterate? Zu Bild und Text in der Frühen Neuzeit.
In: Ryozo Maeda, Teruaki Takahashi, Wilhelm Vosskamp (Hgg.): Schriftlichkeit und Bildlichkeit.
Visuelle Kulturen in Europa und in Japan. München 2007, S. 71–104.
10 Vgl. Joachim Knape: Brant (Titio), Sebastian. In: Franz Josef Worstbrock (Hg.): Deutscher Hu-
manismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Berlin, New York 2005, Bd. 1, S. 247–283 sowie Thomas
Wilhelmi (Hg.): Sebastian Brant. Forschungsbeiträge zu seinem Leben, zum Narrenschiff und
zum übrigen Werk. Basel 2002; Hans-Gert Roloff, Jean Marie Valentin, Volkhard Wels (Hgg.):
Sebastian Brant (1457–1521). Berlin 2008; Klaus Bergdolt (Hg.): Sebastian Brant und die Kom-
Zu Paratextualität und Intermedialität in Sebastian Brants Vergilius pictus 241
14 In der Offizin waren u. a. der Terenz (1496) und der Horaz (1498) erschienen; Brant selbst
gab 1501 den Boethius und 1502 den Vergil heraus; von 1499 bis 1515 druckte Grüninger zudem
Übersetzungen des Terenz (1499), Vergil (1509, 1515), Caesar (1507) und Livius (1507). Adelphus
Muling übersetzte Vergils Bucolica, Matthias Ringmann den Caesar, vgl. Franz Josef Worstbrock:
Deutsche Antikerezeption 1450–1550. Teil I: Verzeichnis der deutschen Übersetzungen antiker
Autoren. Mit einer Bibliographie der Übersetzer. Boppard am Rhein 1976 (Veröffentlichungen zur
Humanismusforschung; 1). Einige dieser Grüninger-Ausgaben untersucht das Bochumer DFG-
Projekt Klassiker im Kontext (Leitung: Bernd Bastert, Manfred Eikelmann), siehe http://staff.
germanistik.rub.de/klassiker-im-kontext/ (Stand: 07. 12. 2016).
15 Vgl. das neue Werkverzeichnis von Knape/Wilhelmi (Anm. 10). Einen konzisen Überblick gibt
Henkel 2010 (Anm. 17), S. 132–136.
16 Publij Virgilij Maronis opera cum quinque vulgatis commentariis: expolitissimisque figuris
atque imaginibus nuper per Sebastianum Brant superadditis: exactissimeque reuisis: atque eli-
matis. Straßburg (J. Grüninger) 1502 (VD16 V 1332). Vgl. Knape/Wilhelmi (Anm. 10), Nr. D554. Im
Folgenden zitiert als »Brant, Vergilius pictus«. Die Übersetzungen stammen, soweit nicht anders
angegeben, von mir.
17 Vgl. jetzt Bernd Schneider: Vergilius pictus. Sebastian Brants illustrierte Vergilausgabe von
1502 und ihre Nachwirkung. Ein Beitrag zur Vergilrezeption im deutschen Humanismus. In: Wol-
fenbütteler Beiträge 6 (1983), S. 202–262; Werner Suerbaum: Handbuch der illustrierten Vergil-
Ausgaben 1502–1840. Geschichte, Typologie, Zyklen und kommentierter Katalog der Holzschnitte
und Kupferstiche zur Aeneis in Alten Drucken. Hildesheim 2008, S. 51–55, 151–157; Nikolaus Hen-
kel: Die Carmina Priapea in Sebastian Brants Vergil-Ausgabe (1502). Strategien einer angeleite-
ten Kommunikation. Mit einem Anhang: Die Sammlung der Vergil-Epitaphien der Straßburger
Ausgabe. In: Bergdolt (Anm. 10), S. 131–172. Nach meinem Eichstätter Vortrag erschienen und im
Folgenden berücksichtigt ist Nikolaus Henkel: Das Bild als Wissenssumme. Die Holzschnitte in
Sebastian Brants Vergil-Ausgabe, Straßburg 1502. In: Mossman (Anm. 13), S. 379–410.
Zu Paratextualität und Intermedialität in Sebastian Brants Vergilius pictus 243
3 V
ergil in Begleitung: zur paratextuellen
Inszenierung von Autorschaft
Die Straßburger Ausgabe ist ein Musterbeispiel für Paratextualität um 1500.
Ihr Vorbild war die berühmte, erstmals 1491 in Venedig gedruckte Ausgabe des
Antonio Mancinelli, die einen Vergilius cum quinque commentis präsentiert.18
Diese vielfach aufgelegte Edition umfasst, wie seit der Karolingerzeit üblich, die
drei Hauptwerke Vergils (Eklogen, Georgica, Aeneis) sowie eine Reihe von Carmina
minora. Dem Text Vergils sind fünf Kommentare beigegeben, die von den spätan-
tiken Kommentatoren Servius und Donat und von den italienischen Humanisten
Antonio Mancinelli, Cristoforo Landino und Domizio Calderini verfasst wurden.
Den Rahmen bilden weitere, u. a. biographische Paratexte, die sich aus antiker
und humanistischer Tradition speisen.
Sebastian Brant übernahm von Mancinelli die Anordnung und Textgestalt
der Vergilwerke, einzelne Paratexte sowie das Layout der Textpräsentation.19
Dieses entspricht einem Typus, der bei Editionen juristischer, theologischer oder
literarischer Texte von kanonischem Rang gebräuchlich war und auch in Grü-
ningers Offizin schon mehrfach Verwendung gefunden hatte. In der Seitenmitte
ist der Vergiltext in großer Type mit Durchschuss gesetzt, so dass Raum für eine
handschriftliche Glossierung inter lineas bleibt (Abb. 1). Die fünf Kommentare
sind in kleinerer Schriftgröße synoptisch um den Vergiltext angeordnet. Schon
das Schriftbild markiert den Abstand zwischen kanonischem Dichterwort und
Exegese. Sebastian Brant verstärkt diesen noch, wenn er die fünf Kommentare
neu anordnet. Mancinelli hatte die Erläuterungen nacheinander abgedruckt, in
jeweils längeren Textblöcken, die durch den Namen des jeweiligen Gelehrten
gekennzeichnet sind. Brant löst diese Textblöcke auf, sortiert die Anmerkungen
neu und ordnet sie dem Lemma im Vergiltext zu, auf das sie sich beziehen. Damit
wandelt sich die Semantik des Layouts: Gegenüber Mancinelli rückt die lemma-
bezogene Exegese ins Zentrum des Lesevorgangs.
Brant und Grüninger vereinfachen zudem die Benutzung der Ausgabe, indem
sie in den Vergiltext Minuskeln eindrucken, welche die Lemmata exakt mit ihrer
Erläuterung verknüpfen. Dem Leser wird damit nahegelegt, zwischen Text und
18 Benutzt wurde die Erstausgabe Vergilius cum quinque comentis. Venedig (Philippus Pincius)
1491 (GW M 49944). Zu dieser Ausgabe und ihren Auflagen vgl. Schneider (Anm. 17), S. 220 f.
19 Zum Textlayout der Vergilausgabe vgl. bereits Schneider (Anm. 17), S. 220 f.; Henkel 2010
(Anm. 17), S. 137 f.; Henkel 2013 (Anm. 17), S. 393 f. Zur Grüningers Horaz-Ausgabe vgl. Jürgen
Leonhardt: Brants Handschrift der Ars poetica des Horaz und ihr Kontext. In: Bergdolt (Anm. 10),
S. 121–130, hier S. 124.
244 Joachim Hamm
Abb. 1: Der Beginn von Verg. Aen. II (Brant, Vergilius pictus, fol. 157r; München, SB,
Res/2 A.lat.a. 292, http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00001879/image_333,
Stand: 07. 12. 2016).
Zu Paratextualität und Intermedialität in Sebastian Brants Vergilius pictus 245
20 In Grüningers deutschem Terenz (Straßburg 1499, GW M 45583) werden fünf Regeln zur Be-
nutzung der Ausgabe aufgestellt (fol. 8v). »Die ander Regel besagt: So die personen im principal
[gemeint ist der einleitende Holzschnitt, J. H.] also erkant / vnd die Comedi vß dem Argument
vnd declaration verstanden sind. so sol yeglicher in der ersten scen anfahen in der gloß / vnd
den anfang lesen biß vff den buochstaben a und darnach im text byß vff das a vnd darnach
wyderumb in der gloß biß vff das.b. vnd also für vnd für alweg wan du im text lysest byß du ein
vfgesetzten buochstaben fyndest über dem text der ist ein zeichen das der text nit wort zeuerston
ist vnd darumb sollte faren vff den selben buochstaben in die gloß da würt der text baß erklert
etc.« Vgl. auch die Hinweise in Boethius de Philosophico consulatu. Straßburg (Johannes Grünin-
ger) 1501 (VD16 B 6404), fol. A4r.
21 Vgl. Florian Mehltretter: Kanonisierung und Medialität. Petrarcas Rime in der Frühzeit des
Buchdrucks (1470–1687). In Zusammenarbeit mit Florian Neumann, Berlin 2009 (Pluralisierung
& Autorität; 17).
22 Brant, Vergilius pictus, fol. 1v: Sebastian. Brant Ad Lectorem operis.
246 Joachim Hamm
Dieses Buch spricht zum Leser und empfiehlt ihm / die Bildtafeln, wie es sie dem Vergil hin-
zugefügt hat. / Schau nur all die Vergilausgaben genau durch, geschätzter Leser, wie viele /
Du auf der ganzen Welt nur finden kannst, und vergleiche mich mit ihnen. / Du wirst, so
hoffe ich, sagen, dass ich die anderen bei weitem übertreffe, / und Du wirst erkennen, dass
mir nirgends eine zuvor gleich kam. / Viel Lob schuldest Du den Schrifttypen der anderen,
viel ihren Korrekturen / und ihrer Sorgfalt. Mir aber wirst Du allumfassende Bewunderung
zollen. […]
Das personifizierte Buch rühmt sich hier seiner Einzigartigkeit und Unvergleich-
barkeit, keine andere Vergilausgabe auf der ganzen Welt könne ihm das Wasser
reichen. Im Gestus des alios superare stellt es sich über alle Vorgängerausgaben –
und damit auch über jene berühmten italienischen Vergileditionen, denen es
doch in so vielem verpflichtet ist.
Man mag hierin eine Art translatio studii erkennen, wie sie Konrad Celtis
1486 in Nürnberg besingt,23 genauer: eine e d i t o r i s c h e translatio von Italien
nach Deutschland, die im Modus des Agon, des Wettstreits erfolgt.24 Wenn Brant
seinen Vergil zum Wendepunkt der Editionsgeschichte stilisiert und sich selbst
in die Pose des Archegeten wirft, der noch nie Gesehenes geleistet habe, so ist
dies eine ihm grundsätzlich nicht fremde25 und im konkreten Fall berechtigte
Prätention: Denn in der Tat konnte Brant als erster Herausgeber eine durchgängig
bebilderte Vergilausgabe vorlegen. Gemeinsam mit Grüninger stattete er Manci-
nellis Vergiltext mit 214 meist großformatigen Holzschnitten aus, die für diese
Ausgabe neu hergestellt wurden und als Szenenbilder suo loco in den fortlau-
fenden Text eingefügt sind. Aus der unbebilderten Ausgabe Mancinellis wird ein
Vergilius pictus, der die Opera omnia in Wort und Bild präsentiert – eine Sensa-
tion für die Zeitgenossen, und für die Editionsgeschichte Vergils ein Markstein:
Die Straßburger Vergilholzschnitte übten, wie Werner Suerbaum gezeigt hat,
einen beherrschenden Einfluss auf die Aeneis-Illustration bis ins 17. Jahrhundert
aus – auch und gerade in Italien.26
Die Grundkonzeption dieser Holzschnitte dürfte auf Brant zurückgehen, der
auch bei seinen anderen Bildbüchern den Zeichnern beratend zur Seite stand,
die Bildinhalte festlegte und gelegentlich wohl auch Vorzeichnungen anfertigte,
wie sie sich auf einem Druckstock zur Terenzausgabe erhalten haben.27 Hier wie
dort insistierte Brant darauf, die Bilder gemacht zu haben, beanspruchte also
eine (zumindest konzeptionelle) Autorschaft, die ihm die neuere Forschung auch
zugesteht. Es steht dahinter ein neuartiges Verständnis von Autorschaft, das die
Möglichkeiten des Buchdrucks zu nutzen weiß und sich selbst wie eine Marke
inszeniert: Seit dem Welterfolg des Narrenschiffs ließ Brant auf den Titelblättern
seiner eigenen Werke ein Autorbild von sich abdrucken. Die innovative Bimedia-
lität der Straßburger Ausgabe gab ihm Anlass, weit über das topische Korrektur-
rühmen hinauszugehen und sich selbstbewusst neben den augusteischen Dichter
zu stellen: Der Titel nennt neben Vergil Sebastian Brant selbst, der, wie es heißt,
die hochwertigsten Holzschnitte auf das sorgfältigste konzipiert und anfertigt
habe.28
Die Leistung des Herausgebers besteht nun nicht allein in einer illustrati-
ven Bildausstattung. Gegen die Annahme, es handele sich bei den Holzschnit-
ten lediglich um schmückendes Beiwerk, sprechen schon der buchgestalteri-
sche Aufwand, die künstlerische Qualität der Bilder und die Hochschätzung der
Bildkunst, die der Herausgeber äußert: Dass der Malerei unter den Künsten ein
besonderer Rang zukäme und dies zur ihrer hohen Wertschätzung in der Antike
führte, erläutert Brants Vorrede in einer exkurshaften Laus picturae, die sich am
35. Kapitel von Plinius’ Naturalis historia orientiert.29 Im Anschluss nennt die
Vorrede einen weiteren Vorzug der Bilder: »Hic legere historias, commentaque
plurima doctus: / Nec minus indoctus perlegere illa potest. […].«30 (»Hier kann
der Gelehrte von historischen Ereignissen und auch sehr viel Erfundenes lesen, /
und ebenso kann auch ein Ungebildeter all dies durchmustern.«)
Wie auch an anderer Stelle, spielt Brant hier mittelbar auf das berühmte
Dictum Gregors des Großen an, der Bilder als die Lektüre der Laien bezeichnet
hatte.31 Mit Blick auf die Holzschnitte zur Aeneis lässt sich durchaus sagen,
dass sich die 137 Szenenbilder zu einer kohärenten Bilderzählung formieren, die
nahezu die gesamte epische Handlung abbildet. Doch ermöglicht dies für indocti
wirklich eine alternative, vom Text unabhängige Bildlektüre? Die Forschung hat
längst darauf hingewiesen, dass eine Bildlektüre Wissen voraussetzt. Vielfigurige
Historienbilder wie die vorliegenden basieren auf einer Geschichte, und wenn
man diese nicht kennt, ist das Bild unverständlich und bleibt stumm.32
Man könnte nun an vergleichbare textbasierte Bilder für indocti denken,
etwa an Lehrbilder, wie sie seit der Antike im Schulunterricht eingesetzt wurden.
Solche Lehr- und Ordnungsbilder sind Grüningers Terenzausgaben (1496, 1499)
beigegeben: Als figura principalis setzen sie die beigegebene Textzusammenfas-
sung der Komödienakte ins Bild und ermöglichen so einen schnellen Überblick
über Handlung, Figuren und Orte.33 Ihre Funktion ist eine didaktische, hinfüh-
29 Es handelt sich wohl um das erste Beispiel für eine Beschäftigung mit Schriftquellen der
antiken Kunstgeschichte in Deutschland. Vgl. Thomas Cramer: Der bildniß ich hab har gemacht –
noch einmal: Zu Text und Bild im Narrenschiff. In: PBB 111 (1989), S. 314–335, hier S. 332 f.;
Schneider (Anm. 17), S. 210 f.
30 Brant, Vergilius pictus, fol. 1v: Sebastian. Brant Ad Lectorem operis.
31 Hierzu Henkel 2010 (Anm. 17), S. 152.
32 Vgl. Suerbaum (Anm. 17), S. 52; Henkel 2010 (Anm. 17), S. 152.
33 In der Declaratio figure, die Grüningers Terenzausgabe (Straßburg 1496, GW M45481) beige-
geben ist, heißt es: »Cum autem doctor melius doctrinare non possit: quam cum ea quae dicit ad
oculum discentis realiter demonstrat. Id ego facere studui per hoc quod ad argumentorum decla-
rationem Comoediarum omnium unam principalem sculpsi figuram: in qua intuitu vno simplici
respectus personarum cernitur omnium« (fol 2r). In Grüningers Terenzübersetzung lautet die
Passage: »So aber der lerer nit bas leren mag dann so er die ding die er sagt zuo oug des lerenden
wesenlich zögt / das ich zethuon geflyssen hab / durch daz das ich ouch erclerung der argument
und der Comedien ein furtreffenliche figure begraben hon in welcher in einer einfaltigen an-
schowung gegensichtig der personen allen gesehen würt […]« (fol. Br). Zu Grüningers Terenz vgl.
Zu Paratextualität und Intermedialität in Sebastian Brants Vergilius pictus 249
rende: Die Bilder sollen einen leichteren, visuellen Zugang zum nachfolgenden
Text eröffnen, indem sie im Bildmedium zentrale Details vorwegnehmen, die der
Text in Wort fassen wird. Auch wenn die figurae der Terenz- sich von denen der
Vergilausgabe erheblich unterscheiden, so ist doch die vorbereitende Hinfüh-
rung auf die Texterzählung als eine in dieser Zeit mögliche Bildfunktion festzu-
halten.34
Zugleich unterstützen die Terenz- ebenso wie die Vergilbilder die Erinnerung
des Gelesenen. Diese mnemotechnische Funktion von Bildern ist für die Zeit um
1500 längst eine Selbstverständlichkeit. Die Klassiker der antiken Mnemonik und
die nachfolgenden artes memorativae waren weit verbreitet, Brant selbst hatte
sich mit ihnen nachweislich beschäftigt und zu einer einschlägigen Ausgabe
einen Beiträgertext verfasst, in dem er das Erinnerungspotential von Bildbeiga-
ben rühmt.35 Dass Holzschnitte zu einer die Textlektüre vertiefenden und festi-
genden memoria beitragen, wurde für Brants Bildbücher längst nachgewiesen.36
Dass dies auch für den Vergilius pictus gilt, sagt der Herausgeber selbst: »Nec
tamen abiectus labor hic: nec prorsus inanis. / Nam memori seruat mente figura
librum.«37 (»Dennoch ist diese Mühe nicht vergebens oder völlig umsonst. /
Denn das Bild bewahrt den Buchtext im erinnernden Gedächtnis.«)
Brants Medienkombination hat also zunächst eine mnemotechnische Funk-
tion. Die philologisch-exegetische Lektüre, die zwischen Text und Kommentar
hin und herwechselt, wird durch Memorialbilder (imagines agentes) vertieft und
im Gedächtnis verankert: Mnemonik in Reinform.
Cora Dietl: Die Dramen Jacob Lochers und die frühe Humanistenbühne im süddeutschen Raum.
Berlin, New York 2004, S. 137–147.
34 Zudem fungieren die Bilder als eine Art bildliches argumentum, das die im Text erzählte
Handlung verdichtet (ich danke Jörg Robert für den Hinweis). In einem Epigramm verkündet
Brant, er wolle mit den Bildern den ungebildeten Leser belehren: »Virgilium exponant alij ser-
mone diserto. / Et calamo pueris: tradere et ore iuuet. / Pictura agresti voluit Brant: atque tabel-
lis: / Edere eum indoctis rusticolisque viris« (Brant, Vergilius pictus, Anhang fol. 33v).
35 Brant verweist bereits im Vorwort zu den Dekretalen (Basel 1494) auf die Mnemotechnik
Quintilians, vgl. Knape (Anm. 7), S. 134. Vgl. auch Brants poetische Beigabe zur illustrierten Aus-
gabe des Rationarium evangelistarum des Petrus von Rosenheim (Pforzheim 1502; zit. nach Wil-
helmi [Anm. 24], Nr. 385): »Quisquis percupies facile evangelica dicta / Servare: et memori mente
tenere cito: / Picturam hanc cernas: lege carmina: mystica signa / Imprime […].« – »Wenn Du die
evangelischen Sprüche leicht bewahren und schnell im Gedächtnis verankern willst, dann sieh
das Bild, lese die Gedichte und präge Dir die geheimnisvollen Zeichen ein.«
36 Vgl. Knape (Anm. 7); Schneider (Anm. 17); Henkel 2013 (Anm. 17). Siehe hierzu Brant, Vergi-
lius pictus, fol. A2r: »Nemo tibi voluit pingere Virgilium. / Nunc memorare potes monochromata
cuncta maronis.«
37 Brant, Vergilius pictus, fol. 35v des Anhangs.
250 Joachim Hamm
40 Vgl. Brant, Vergilius pictus, fol. 145r (ad Verg. Aen. I 489).
41 Vgl. Henkel 2013 (Anm. 17), S. 398–409 und Henkel 2010 (Anm. 17), S. 140.
42 Diese bisher unbeachteten Bezüge belegt ein Detail des Titelholzschnitts (fol. A1r, siehe
Abb. 3) der Straßburger Ausgabe, auf das u. a. Schneider (Anm. 17), S. 206–208 und Suerbaum
(Anm. 17), S. 134 zu sprechen kamen. Im Hintergrund des Holzschnitts sieht man den jungen Ver-
gil bei zwei Pferden stehen, neben ihm eine vornehm gekleidete Figur, von links eilt ein Diener
mit einem Brotkorb herbei. Schneider identifiziert diese Szene zutreffend als eine Jugendepi-
sode, die in der Vergilvita des Donatus auctus berichtet wird: »Danach soll sich Vergil, als er nach
Beendigung seiner Studien in Neapel nach Rom kam, mit dem Stallmeister des Augustus ange-
freundet und als Pferdedoktor betätigt haben, wofür er als Lohn die Brotration eines Stallknech-
tes bezog. Durch seine Erfolge in der Pferdemedizin wurde Augustus selbst auf ihn aufmerksam,
und so trat Vergil, jedenfalls nach dem Bericht des Donatus auctus, zum ersten Mal in Beziehung
zu Augustus.« Dass dieses Detail Eingang in den Holzschnitt fand, dankt sich allerdings nicht
notwendig der Gelehrsamkeit des Herausgebers, der sogar auf die entlegene Überlieferung des
Donatus auctus zurückgreift. Vielmehr wird die fragliche Episode in der Straßburger Ausgabe
selbst drei Seiten nach dem Titelholzschnitt berichtet: in Landinos Vita Maronis (fol. A4r). Auch
das entlegene Bilddetail hat also einen konkreten Textbezug innerhalb der Vergilausgabe von
1502.
252 Joachim Hamm
Abb. 2a: Aeneas und Achates betrachten den Bilderfries auf dem Junotempel von Karthago
(Aen. I 441–493; Brant, Vergilius pictus, fol. 141v–142r); linke Seite (München, SB, Res/2 A.lat.a.
292, http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00001879/image_302, Stand: 07. 12. 2016).
Zu Paratextualität und Intermedialität in Sebastian Brants Vergilius pictus 253
Abb. 2b: Rechte Seite (im unteren Bilderregister links steigen aus Memnons Asche Vögel
empor; München, SB, Res/2 A.lat.a. 292, http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00001879/
image_303, Stand: 07. 12. 2016).
254 Joachim Hamm
Abb. 3: Titelholzschnitt der Straßburger Vergilausgabe (Brant, Vergilius pictus, fol. 1r; München,
SB, Res/2 A.lat.a. 292, http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00001879/image_7, Stand:
07. 12. 2016). Im Hintergrund Vergil als »Pferdedoktor« (siehe hierzu Anm. 42).
Zu Paratextualität und Intermedialität in Sebastian Brants Vergilius pictus 255
Lektüremodus ab, den Brant in seiner Vorrede angedeutet hatte: Wie der indoctus
Aeneas den Bilderfries des Tempels in erinnernder Vergegenwärtigung betrachtet,
so kann der indoctus lector der Straßburger Ausgabe die Bilderzählung der Holz-
schnitte lesen, perlegere. Diese Bildlektüre verweist auf die rhetorische Theorie.
Die Junotempel-Ekphrase der Aeneis ist – ebenso wie die Beschreibung des Bilder-
frieses auf dem cumaeischen Apollotempel (Aen. VI 9–36), die Brant gleichfalls
in einen Holzschnitt umsetzt43 – ein rhetorischer locus classicus, an dem gezeigt
werden kann, worum es in einer descriptio geht: um das veranschaulichende und
vergegenwärtigende Vor-Augen-Stellen eines Sachverhalts mit sprachlichen Mit-
teln.44 Wie hierbei Verlebendigung (energeia) und Veranschaulichung (enargeia)
zusammenwirken und den Präsenzeffekt der evidentia erzeugen, führt Vergil vor,
indem er die descriptio fokalisiert (lustrat … singula, Aen. I 453) und ihre emotio-
nale Wirkung über die Figurenwahrnehmung und -erinnerung vermittelt.
Wesentlich ist hierbei der Aspekt der evidentia.45 Im Straßburger Holzschnitt
sehen wir Aeneas im Gestus des Zeigens. Genau dieser Gestus findet in der Aeneis
seine textuelle Entsprechung: Als Aeneas voller Überraschung in einem der
Bilder König Priamus entdeckt, zeigt er mit den Worten En Priamus! (Aen. I 461)
auf ihn. Der Präsenzeffekt ist hier maximiert: Aeneas sieht in diesem Moment
nicht mehr nur ein Bild von Priamus, er sieht Priamus selbst: laus picturae, per
quam non imago sed ipse ostenditur, sagt Servius zur Stelle (fol. 144r). Es ist die
Verlebendigung und Vergegenwärtigung des Erinnerten, auf welche die Medien-
kombination im Vergilius pictus abzielt, und genau in dieser Kombination von
43 Auch diese zweite große Tempelbeschreibung der Aeneis wird von Brant mit einem (aller-
dings nur einseitigen) Holzschnitt ausgestattet, vgl. Brant, Vergilius pictus, fol. 253r. Der Bilder-
fries dieses Tempels wird in der Straßburger Ausgabe gleichfalls im Vergiltext, im Kommentar, in
der Wahrnehmung des epischen Betrachters und als Holzschnitt vergegenwärtigt.
44 Zur descriptio vgl. als Überblick Albert W. Halsall: Descriptio. In: HWRh 2 (1994), S. 549–553
und Nikolaus Henkel: Descriptio. In: RLW 1 (1997), S. 337–339; zur Architekturbeschreibung vgl.
Arwed Arnulf: Architektur- und Kunstbeschreibungen von der Antike bis zum 16. Jahrhundert.
München, Berlin 2004; Christine Ratkowitsch: Descriptio Picturae. Die literarische Funktion der
Beschreibung von Kunstwerken in der lateinischen Großdichtung des 12. Jahrhunderts. Wien
1991 (Wiener Studien Beiheft; 15); Christine Ratkowitsch (Hg.): Die poetische Ekphrasis von
Kunstwerken. Eine literarische Tradition der Großdichtung in Antike, Mittelalter und früher
Neuzeit. Wien 2006; Ulrich Schlegelmilch: Descriptio templi. Architektur und Fest in der lateini-
schen Dichtung des konfessionellen Zeitalters. Regensburg 2003 (Jesuitica; 5); Haiko Wandhoff:
Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin,
New York 2003 (Trends in Medieval Philology; 3).
45 Vgl. Jan-Dirk Müller: Evidentia und Medialität. Zur Ausdifferenzierung von Evidenz in der
Frühen Neuzeit. In: Gabriele Wimböck, Karin Leonhard, Markus Friedrich (Hgg.): Evidentia.
Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Münster 2007, S. 59–84.
256 Joachim Hamm
memoria und evidentia sahen auch Zeitgenossen Brants den besonderen Wert der
illustrierten Vergilausgabe. Thomas Murner schreibt im Jahr 1503:
Vidistine Virgilium in hac nostra imperiali vrbe Argentina formis diuersis impressum et
imaginibus decorum vt fere vitali precepto Eolus ipse tempestates videatur sonoras excitare
ilium destrui bello. vrbisque rhome menia noua visionis iucunditate exurgere et cetera id
generis.46
Hast Du den Vergil gesehen, der in unserer kaiserlichen Stadt Straßburg mit verschiedenen
Holzschnitten gedruckt und durch Bilder geschmückt wurde, so dass man Aeolus selbst
erblickt, wie er geradezu lebendig den Befehl erteilt, die tosenden Sturmwinde aufzupeit-
schen, dass man sieht, wie Troja im Krieg zerstört wird und wie – ein ungekanntes Vergnü-
gen, es zu betrachten! – sich Roms Mauern erheben und anderes dieser Art mehr?
46 Thomas Murner: Honestorum poematum condigna laudatio impudicorum vero miranda Casti-
gatio. Straßburg 1503 (VD16 M 7038), fol. 9r.
47 Vgl. Grüningers Terenz (Straßburg 1496, GW M 45481), fol. 1v: »Quis non existimet? cum pic-
tum spectaculum: Effigiatasque fabellas In hoc facundissimo ac politissimo opere conspicit. se
romanum pompeianumque Theatrum invisere. Viva omnia sunt: que tamen ad umbram thea
tricam ad harenam palestricam ac vite imagines a poeta nostro excogitata sunt.« – »Wer würde,
wenn er das bildlich dargestellte Schauspiel und die mit Illustrationen ausgestatteten Stücke in
diesem außerordentlich sprachgewandten und verfeinerten Werk sieht, nicht meinen, dass er in
ein römisches und pompejanisches Theater blicke? Alles hier lebt, obwohl es doch nur von un-
serem Dichter für den schattigen Raum des Theaters und die Schularena als Abbilder des Lebens
ausgedacht worden ist« (Übers. von Dietl [Anm. 33], S. 139).
48 Vergilij maronis dryzehen Aeneadischen Bücher von Troianischer zerstoerung vnd vffgang des
Römischen Reichs. durch doctor Murner vertuetst. Straßburg (Johannes Grüninger) 1515 (VD16
V 1426), vgl. hierzu Carola Redzich: … in zeiten des fridens ein gelerte gab. Zu Thomas Murners
Übertragung der Aeneis (1515) und ihrer Widmungsvorrede an Kaiser Maximilian I. In: JOWG 17
(2009), S. 107–121 (mit weiterführender Literatur); Nikolaus Henkel (Freiburg) bereitet eine Edi-
tion der Übersetzung vor.
Zu Paratextualität und Intermedialität in Sebastian Brants Vergilius pictus 257
49 Im Widmungsbrief der deutschen Aeneis von 1515 schreibt Murner, seine Vergilübersetzung
sei »[…] zuo wolgefallen allen denen so sich in Vergilio ieben […] vnd nach verfaßtem latyn Kei-
serliche recht begeren zuo leeren […] vssenwendig mit verzeichnetem latyn da menglich schier
on meister Vergilium lesen moeg / vnd was geweltigs dalmetschen sie dabei erlernen« (fol. 1v).
Diese an sich schon eindeutige Aussage wird noch durch den Umstand bekräftigt, dass Mur-
ner bereits 1519 die Institutiones für Juristen ins Deutsche übersetzt, mit lateinischen Initia »in
margine« ausgestattet (wie in der deutschen Aeneis!) und »vff der hohen schuol Basel in syner
ordenlichen lectur offenlich mit dem latin verglichet« hatte, wie es im Titel der Ausgabe (Basel
[Adam Petri] 1519; VD 16 C 5233) heißt.
50 Murners lateinische Vorlage ist bisher unbekannt. Den Vergilius pictus von 1502 benutzte er
nicht, wie abweichende Lesarten in den lateinischen Marginalien belegen: Wenn Murner zu Aen.
VI 698 f. das Initium Nate dea angibt und entsprechend übersetzt (»das ich dich ietz kan sehen
baß / Ein sun von einer goettin gborn«, fol. 88v), so weicht er von allen von mir überprüften
frühneuzeitlichen Editionen der Aeneis (Venedig 1475, 1491, 1494; Leipzig 1494; Straßburg 1505)
ab, die – wie die modernen Editoren – Nate, tua lesen. Sollte es sich um eine simple Verlesung
Murners handeln, wäre diese zumindest vergilisch, vgl. Aen. I 582; IV 560.
51 Romische Historie vß Tito Liuio gezogen. Mainz 1505 (VD16 L 2102); Römsche history vß T. Liuio.
Straßburg (Johannes Grüninger) 1507 (VD16 L 2103).
258 Joachim Hamm
52 Zu den insgesamt 53 in den Livius übernommenen Holzschnitten vgl. Suerbaum (Anm. 17),
S. 155 f.
Zu Paratextualität und Intermedialität in Sebastian Brants Vergilius pictus 259
Abb. 4: Bilderfries des Apollotempels von Cumae (Verg. Aen. VI 9–36). Der Holzschnitt in der
deutschen Liviusübersetzung (Straßburg [Johannes Grüninger] 1507; VD16 L 2103, fol. 11r)
wurde aus Brant, Vergilius pictus, fol. 253r übernommen (München, SB, 2 A.lat.b. 461, http://
daten.digitale-sammlungen.de/bsb00001874/image_23, Stand: 07. 12. 2016).
Astrid Dröse
Paragonale Relationen? Das Verhältnis
von Musik, Bild und Text in Titelkupfern
barocker Liedersammlungen
Die Titelbildgestaltung eines Buches durch einen dekorativen, meist allegorisch
aufgeladenen Kupferstich wurde im Barock geradezu zur Konvention.1 »Bey
dieser Zeit / ist fast kein Buch verkaufflich / ohne einen Kupfertitel / welcher dem
Leser desselben Inhalt nicht nur mit Worten / sondern auch mit einem Gemähl
vorbildet«, schreibt Harsdörffer.2 Dem Rezipienten wird, so könnte man diese
Feststellung umschreiben, durch ein Titelbild gleichsam ein »Entree aus Schrift
und Bild«3 dargeboten, das ihm einen ersten Eindruck von dem gewährt, was
ihn im Folgenden erwarten wird. Doch die Aufgaben von frühneuzeitlichen Titel-
bildern sind noch vielfältiger: Sie dienen zunächst der Werbung, indem sie als
Blickfang zur Lektüre bzw. zum Kauf eines Buches stimulieren – »Die Titul der
Bücher / nicht die Bücher selbst füllen des Käuffers und Verkäuffers Augen«, weiß
der Satiriker Aegidius Henning.4 Darüber hinaus bieten Titelbilder dem Autor
und/oder dem Verleger Möglichkeit zur Selbstdarstellung, sie können program-
matisch konzipiert sein, dabei »Formen und Funktion literarischer Prologtopik«5
übernehmen und als Gradmesser der verlegerischen Wertschätzung eines Werkes
aufgefasst werden. Häufig präsentieren sie sich dabei als »dichter semantischer
1 Jutta Breyl: »Nichtige Äußerlichkeiten?« Zur Bedeutung und Funktion von Titelbildern aus
der Perspektive des 17. Jahrhunderts. (Harsdörffer – »Kunstverständiger Discurs« – Lairesse). In:
Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 24 (1997), S. 389–421, hier S. 389.
2 Frauenzimmer Gesprächspiele. VI. Teil. Nürnberg 1646. Hg. von Irmgard Böttcher. Tübingen
1969 (Deutsche Neudrucke; 18), Vorrede, S. 18. S. auch Jutta Breyl: Pictura loquens – Poesis ta-
cens. Studien zu Titelbildern und Rahmenkompositionen der erzählenden Literatur des 17. Jahr-
hunderts von Sidneys »Arcadia« bis Ziglers »Banise«. Hg. von Hans Geulen, Wolfgang Harms
und Nikola von Merveldt. Wiesbaden 2006 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; 44),
S. 11.
3 So der Titel des einschlägigen Tagungsbandes: Werner Busch, Hubertus Fischer, Joachim Möl-
ler (Hgg.): Entree aus Schrift und Bild. Titelblatt und Frontispiz im England der Frühen Neuzeit.
Berlin 2008.
4 Aus dem Kontext der Passage geht hervor, dass der Autor mit »Titul« sowohl die graphische
als auch die textuelle Ebene meint. Gepriesener Büchermacher Oder von Büchern / und Büchern
machen ein zwar kleines jedoch lustiges und erbauliches Büchlein. Frankfurt 1666. (Kapitel: Ein
kurtzer Bericht von den Titulen der Bücher, S. 107 ff.), S. 107.
5 Wolfgang Harms: Programmatisches auf Titelblättern naturkundlicher Werke der Barockzeit.
In: Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), S. 326–355, hier S. 327.
DOI 10.1515/9783110521788-013
Paragonale Relationen? 261
Komplex aus sprachlichen Zeichen und aus Bezügen auf das Buch, seinen Autor
und ihre Vorgänger«6 usw. Dass jedoch von der wörtlich genommenen ›Stirn-
Ansicht‹ (frontispicium) eines Buches einfach dessen Inhalt ›abgelesen‹ werden
könne, ist eine Fehlannahme, vor der die Zeitgenossen selbst warnten: »Was du
thust / der du Bücher kauffest / kauffe sie ja nicht auff den eusseren Titul / der ins
gemein blendet und betreugt«, gab der erwähnte Aegidius Henning zu bedenken,
denn die »schönen Titul« seien oft »als der Italiener geschmincket- und geschmü-
cket Toden«. »Mundus vult decipi«, lautet das Fazit.7
Es ist jedenfalls hervorzuheben, dass ein barockes Titelbild »niemals als
Illustration im heutigen Sinne zu verstehen« ist, es »hat eigene Bedeutung, kann
den Text [des Titelblattes] gewissermaßen ersetzen, tritt an seine Stelle. So wurde
oft das Bild als Kupfertitel dem Buch als zweiter Titel vorangestellt. Gelegent-
lich verzichtete der Autor selbst auf den Texttitel und ließ im Kupfertitel allein
das Bild sprechen.«8 Aufgrund ihrer mannigfaltigen künstlerischen Gestal-
tungsmöglichkeiten und den diversen Funktionen, die sie erfüllen können, sind
barocke Titelbilder daher als wichtige Zeugnisse für verschiedenste kulturhisto-
rische Fragen von Relevanz. Indes stellt ihre systematische Erforschung, auch
wenn ein zunehmendes Interesse in den zuständigen Disziplinen erkennbar ist,
ein Desiderat dar. Wichtige Impulse sind von der neuesten Paratextforschung zu
erwarten.9
In dem hier zu interessierenden Kontext ist hervorzuheben, dass auf einem
frühneuzeitlichen Frontispiz Wort und Bild intermedial zusammenwirken,10
6 Ebd.
7 Gepriesener Büchermacher (Anm. 4), S. 108 f. zitiert z. T. auch bei Breyl (Anm. 2), S. 12.
8 Dietrich Donat: Zu Buchtiteln und Titelblättern der Barockzeit. In: Dietrich Gerhardt u. a.
(Hgg.): Orbis Scriptus. Dmitrij Tschizewskij zum 70. Geburtstag. München 1966, S. 163–173, hier
S. 169 f.
9 Vgl. Frieder von Ammon, Herfried Vögel (Hgg.): Die Pluralisierung des Paratextes in der Frü-
hen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Berlin 2008 mit einer programmatischen Einleitung.
Die wichtigsten neueren germanistischen Beiträge seien im Folgenden aufgeführt: Jutta Breyl
(Anm. 2) konzentriert sich auf die Titelbilder von Romanen des 17. Jahrhunderts, einen regiona-
len Schwerpunkt setzt Annette Frese: Barocke Titelgraphik am Beispiel der Verlagsstadt Köln
(1570–1700). Funktion, Sujet, Typologie. Köln/Wien 1989. Vgl. ferner Dietmar Peil: Titelkupfer/
Titelblatt – ein Programm? Beobachtungen zur Funktion von Titelkupfer und Titelblatt in ausge-
wählten Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Ammon/Vögel (Anm. 9), S. 301–336 mit einem
Forschungsüberblick zum Thema (ebd., S. 301 f.). Vgl. auch den Beitrag von Joachim Hamm in
diesem Band.
10 Zur Terminologie (›Titelbild‹, ›Titelblatt‹, ›Titelkupfer‹, ›Frontispiz‹) vgl. Joachim Möller: Ein-
tree aus Schrift und Bild. In: Werner Busch, Hubertus Fischer, Joachim Möller (Hgg.): Ein Ent-
ree aus Schrift und Bild. Titelblatt und Frontispiz im England der Frühen Neuzeit. Berlin 2008,
S. 9–39, hier S. 9–11. Seit Ende des 16. Jh. emanzipiert sich das in Kupfer gestochene Titelbild
262 Astrid Dröse
(Frontispiz) von dem typographischen Titelblatt. Ich folge dem terminologischen Vorschlag Möl-
lers, »nur Seiten mit Titelei am Anfang eines Buches als Titelblatt zu bezeichnen«, während ich
unter Frontispiz oder Titelbild »eine Seite ohne Titelei, auf der visuelle Darstellungen überwie-
gen, auch wenn sie durch einen Text ergänzt werden«, verstehe (Ebd. S. 11).
11 Donat (Anm. 8), S. 173.
12 Breyl wählte diesen Titel mit Rückgriff auf den Titel des Emblembuchs von David Manas-
ser (»Poesis tacens, Pictura loquens«), der sich seinerseits auf Horaz (›ut pictura poesis‹) und
das Diktum des Simonides bezieht. Vgl. Breyl (Anm. 2), S. 13. Zu diesen zentralen Topoi der
abendländischen Intermedialitätsdiskussion vgl. Jörg Robert: Einführung in die Intermedialität.
Darmstadt 2014, S. 31 ff. Aus kunstwissenschaftlicher Perspektive vgl. Christiane J. Hessler: Zum
Paragone. Malerei, Skulptur und Dichtung in der Rangstreitkultur des Quattrocento. Berlin 2014
(Ars et Scientia) mit Überblickskapiteln zur Begriffsgeschichte des Paragone-Disputs und zum
Paragone in der Literatur.
13 Zum Thema Titelkupfer als Form angewandter Emblematik vgl. Karl Josef Höltgen: Engli-
sche emblematische Titelblätter in der frühen Neuzeit und ihr kultureller Kontext. In: Gerhard
F. Strasser, Mara R. Wade (Hgg.): Die Domäne des Emblems. Außerliterarische Anwendungen
der Emblematik. Wiesbaden 2004 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; 39), S. 263–
299. Hinsichtlich des Begriffs ›angewandte Emblematik‹ gab es in der Emblemforschung einige
Kontroversen. Während Schöne die terminologische Dichotomie in ›reine Emblematik‹, also
Emblembücher, und ›angewandte Emblematik‹ (das bedeutet auch »Wirkungen der Emblematik
im Bereich der Literatur«, Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock.
München ²1968, S. 59) beibehält, schlägt Harms eine Unterscheidung in literarische Emblematik,
innerliterarische Verwendung des Emblems und außerliterarische Emblematik vor. Es gilt also
zu differenzieren, ob es sich bei einem Untersuchungsgegenstand um ein Emblem-Zitat in einem
literarischen Text (z. B. sprachliche Bilder in einem Drama) handelt, um ein Emblembuch oder
um emblematische Wandbemalungen. Vgl. Wolfgang Harms: Einleitung. In: Ders., Hartmut Frey-
tag (Hgg.): Außenliterarische Wirkungen barocker Emblembücher. Emblematik in Ludwigsburg,
Gaarz und Pommersfelden. München 1975, S. 7–18. Vgl. auch Dieter Peil: Zur Diskussion über ›an-
gewandte Emblematik‹. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 29 (1979), S. 200–2007.
Paragonale Relationen? 263
gegenüber der Musik in Deutschland nun aufgeholt. Und auch wenn der »süsse
Bund«19 (Sigmund von Birken) als Geschwisterschaft betrachtet wurde, war in
dieser Diskussion auch Konkurrenz im Spiel. »Sie bildet ein neues Element im
Lied dieser Zeit.«20
Die folgenden Ausführungen können angesichts der Quantität und Hetero-
genität der Titelbildgestaltung barocker Liederbücher keinen Anspruch darauf
erheben, eine Typologie zu entwickeln. Es wurde indes versucht, ein gewisses
regionales Spektrum einzubeziehen (Sachsen, Hamburg, Nürnberg), bei einer
Konzentration auf den Zeitraum ›um 1650‹. Berücksichtigt werden Bücher, als
deren Autoren Dichter (Rist, Gläser), Komponisten (Kindermann) oder ›Doppel-
begabungen‹ (Dedekind) verantwortlich zeichnen. Auch diese Unterschiede in
der Editionsleitung könnten bei der Gestaltung des ›Entrees‹ von Belang sein.
entstanden. Zum humanistischen Konzept der Verwandtschaft von Dichtung und Musik vgl. bei-
spielsweise die grundlegende Studie von Daniel Pickering Walker: Der musikalische Humanis-
mus im 16. und frühen 17. Jahrhundert. Kassel/Basel 1949 (Musikwissenschaftliche Arbeiten; V)
[engl. 1941].
19 S. Birken-Wälder zitiert nach Braun (Anm. 16), S. 92.
20 Braun (Anm. 16), S. 93.
21 In einem jüngst erschienenen Aufsatz befasst sich Achim Aurnhammer eingehend mit der
Opitz-Ikonographie auf Titelbildern bzw. -kupfern verschiedener, postum erschienener Werke.
»Die Opitz-Präsentationen in Gruppenbildern« (S. 56) werden dabei als »Autor-Inszenierungen
und Positionsnahmen im literarischen Feld« interpretiert (ebd). Zu den untersuchten Frontis-
pizen zählen auch die beiden hier behandelten Frontbilder zu Rists Florabella und Dedekinds
Aelbianischer Musenlust. Der vorliegende Beitrag setzt mit der Betrachtung der musikalischen
Repräsentation einen anderen Akzent und ist somit als Ergänzung zu Aurnhammers Analyse
zu verstehen. Achim Aurnhammer: Dichterbilder mit Martin Opitz. In: Achim Hölter, Monika
Schmitz-Emans (Hgg.): Literaturgeschichte und Bildmedien. Heidelberg 2015 (Hermeia; 14),
S. 55–76.
22 Im Folgenden seien einige, hier nicht näher behandelte Werke genannt: Mit einem Kup-
fertitel, auf dem die antiken Figuren durch christliche ersetzt sind (Christus als Apoll etc.), ist
Christian Knorr von Rosenroths Neuer Helicon mit seinen Neun Musen. Das ist: Geistliche Sitten-
Lieder / […] Nürnberg 1684 [1699] ausgestattet (VD17 1:669812U). Ein Doppelparnass, offenbar an
Dedekind (s. u.) orientiert, auf dem sich musizierende Engel mit David als ›Musagetes‹ (»Geist-
Paragonale Relationen? 265
liches Sion«) und die Musen des »irdischen Helicon« gegenübersitzen, ziert Johann Franckens
Geistliches Sion Das ist: Neue Geistl. Lieder / und Psalmen: nebst beygefügten/ … Melodeyen / Wie
auch sein Irrdischer Helicon o. O. 1674. (VD17 12:120767W). Der Kupfertitel von Johann Rists Neüer
Teütscher Parnass. Lüneburg 1652 [Kopenhagen 1668] zeigt drei musizierende Männer auf einem
Miniaturhelikon, einer kleinen Elbeinsel vor Hamburg. (VD17 23:280884P).
23 Zu den folgenden Ausführungen vgl. die grundlegende Arbeit von Elisabeth Schröter: Die
Ikonographie des Themas Parnass vor Raffael. Hildesheim, New York 1977 (Studien zur Kunst
geschichte; 6), S. 5–23.
24 Eine detaillierte Darstellung des Parnassmotives bei Dante und Petrarca ist ebenfalls bei
Schröter (Anm. 23), S. 64–85, zu finden.
25 Vgl. aber auch Ernst Robert Curtius: Die Musen im Mittelalter. In: Zeitschrift für romanische
Philologie (1939), S. 129–188, der die »Musen« als »literarische Konstanten« seit der spätrömi-
schen Dichtung verfolgt.
26 Zur Ikonographie des Freskos im Hinblick auf antike, mittelalterliche und humanistische
Schrift- und Bildgeschichte vgl. Schröter (Anm. 23).
266 Astrid Dröse
27 Die (verlorenen gegangene) Erstausgabe enthielt 50 Lieder mit Melodien, die zweite Auf-
lage 72 Stücke. Weitere Auflagen folgten.
28 Abgedruckt auch bei Braun (Anm. 15), S. 173. Vgl. auch die kurze Beschreibung ebd. Zu dieser
Sammlung hinsichtlich Metrik und Topik vgl. Anthony Harper: German Secular Song-Books of
the Mid-Seventeenth Century. An examination of the texts in collection of songs published in the
German-language area between 1624 and 1660. Aldershot 2003, S. 232–234.
29 Zu der Vorstellung vom Helikon als Ort, auf dem sich Dichter verschiedener Zeiten versam-
meln vgl. die Ausführungen bei Schröter (Anm. 23), S. 18 f.
30 Braun (Anm. 15) vermutet, dass es sich um Guarini handelt.
Paragonale Relationen? 267
Abb. 1: Des Edlen Dafnis aus Cimbrien besungene Florabella. Hamburg 1666.
BSB München, Signatur: Mus.pr. 109.
268 Astrid Dröse
misch zum Hügel hin, wobei er mit der Linken bedeutungsvoll auf das poetische
Siebengestirn um den Musengott weist. Daphnis bzw. Rist verfolgt voll Ehrfurcht
die Geste seines Führers. Aus Demut vor dem erhabenen Anblick oder vielleicht
auch, weil er beim Herbeieilen verlorenzugehen drohte, hat er seinen Hut abge-
nommen. Im rechten Bildhintergrund schwingt sich derweil Pegasus von einem
höhergelegenen Felsen zum Sprung auf.
Einige Hinweise haben es bereits angedeutet: Das Titelkupfer inszeniert
das Erweckungserlebnis des Autors in einer sinnbildlichen Traumbegegnung.31
Durch die Weisung Opitzens, als dessen Adept Daphnis/Rist präsentiert wird,
erkennt dieser in den europäischen Meistern der volkssprachlichen Dich-
tung seine künftige Inspiration. Ihrem Beispiel wird er im Sinne einer imitatio
modernorum folgen, um gemeinsam und in Fortsetzung seines Meisters Opitz
die deutsche Kunst buchstäblich zum Gipfel zu führen. Das vorliegende Buch,
das scheint das Bild anzudeuten, ist das Ergebnis von Rists Bemühungen. Dieses
stellt womöglich zugleich das Entrebillet dar, mit dem der Autor Opitz folgend
den metaphorischen Parnass besteigen und seine Dichterweihung empfangen
wird, um neben dem Archegeten der deutschen Dichtung seinen Platz im Kreis
der bedeutendsten europäischen Poeten einzunehmen, womit die neun Musen-
plätze auf dem Parnass adäquat vergeben wären. Traditionsbeziehungen und
Genealogien werden hier effektvoll ins Bild gebracht. Der Bescheidenheitsgestus,
mit dem sich ›Daphnis‹ den ehrwürdigen Vorbildern dabei zuwendet, verdeckt
also nur vordergründig das durchaus beachtliche Selbstbewusstsein, mit dem
die Sammlung bzw. der Autor präsentiert wird.32 Dass es Rist daran ohnehin nie
gefehlt hat, ist hinreichend bekannt.33
31 Zur Tradition der »Traumreise zum Parnass« mit ›Berühmtenversammlung‹ vgl. Schröter
(Anm. 23), S. 125 ff.
32 Aurnhammer (Anm. 21., S. 62 f.) weist darauf hin, dass die »programmatische Indienstnahme
des Martin Opitz« in zwei Liedern der Sammlung »poetisch reflektiert« wird: In der Eingangsstro-
phe des zweiten Liedes der Sammlung wird explizit »das Setting des Frontispizes auf[gerufen]«
(ebd., S. 62), indem die Dichter des gezeigten Parnasses um Beistand gebeten werden. Auch das
Lied Nr. 65 thematisiert Rists ›Gradus ad Parnassum‹. Laut Aurnhammer wird deutlich: Rist kon-
struiert »zwar einerseits eine Tradition zu Opitz, setzt sich aber andererseits, indem er einen
aktuellen, nachopitzischen Parnass erklimmt, als sein Vollender von ihm ab. « Ebd., S. 63.
33 Klaus Garber: Literarischer und kulturpolitischer Statthalter im Norden Deutschlands. Ein
Portrait Johann Rists. In: Anselm Steiger (Hrsg.): »Ewigkeit, Zeit ohne Zeit«. Gedenkschrift zum
400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Neuendettelsau 2007, S. 9–36; Günter
Dammann: Johann Rist als Statthalter des Opitzianismus in Holstein. Aspekte seiner literatur
politischen Strategie anhand der Widmungsbriefe und Vorreden. In: Literaten in der Provinz –
Provinzielle Literatur? Schriftsteller einer norddeutschen Region. Hg. von Alexander Ritter.
Heide 1991, S. 47–66; Stefanie Stockhorst: Dichtungsprogrammatik zwischen rhetorischer Kon-
Paragonale Relationen? 269
Assoziationen ergeben sich sogleich zu der von Ovid geschilderten Episode vom
musikalischen Wettstreit der Musen mit den vermessenen Pieriden (Ovid, Meta-
morphosen, V, 298–314), der für die Töchter des Königs Pieros bekanntlich übel
endete. Doch der Fall scheint hier anders gelagert zu sein. Die Landschaft des
Bildes erinnert mit ihren bizarren Felsenformen wie gesagt augenfällig an das
sächsische Elbsandsteingebirge, deutsche und klassische Hippocrene vereinen
sich hier zu einem lieblichen Strom, der Elbe. Zwischen dem alten und dem
neuen Helikon wird der Blick weit in die arkadische Landschaft mit schafewei-
denden Hirten freigegeben, die wie die Helikonpoeten durch Überschriften als
aktuelle deutsche Autoren ausgewiesen werden: Enoch Gläser (1628–1668), Ernst
Christoph Homburg (1607–1681, nicht sichtbar) und Johann Christoph Göring
(1624–1684). Dedekinds Dresdner Kollege, der Komponist und Musiktheore-
tiker Christoph Bernhard (1628–1692), blickt mit der Laute in der Hand hinter
dem Musenberg hervor und lauscht dem doppelchörigen Konzert. Direkt unter-
halb Apoll-Opitz auf dem teutonischen Parnass sind Fleming (1609–1640) und
Paragonale Relationen? 271
›wörtlich‹ nehmen könnte – dann würde man die beiden Musenhügel im Elb-
sandsteingebirge vergeblich suchen; die aufgerufene mythologische bzw. allego-
rische Welt ist nicht real, sondern eben bildlich zu verstehen. Schließlich geht
es darum, die Anordnung der Dichter und Musen zu rechtfertigen, denn diese
suggeriere eine Hierarchie, auf die es dem Autor nicht ankäme.
Auf diese Fragen geben nun die »Aelbianischen Musen« selbst Antwort.
Zunächst wird der Name des Werks erklärt und zugleich die Disposition der
Sammlung erläutert:
Und verstehe erstlich / so viel den Nahmen dieses Werks betrifft / daß wihr Musen die wihr
an der Aelbe unseren Aufenthalt suchen / an denen hier aufgeführten Poeten und ihren
Liedern / unsere Lust gehabt und noch haben / also / daß wihr nicht umhin gekunnt / die
jenigen Liedere / so uns sonderlich gefallen / dergestalt zu erwählen / daß / wie du sichest /
immer Zehen und Zehen / unter des Dichters Nahmen / zu seinem wohlerworbenem Gedächt-
nüsse versam(m)let / mit der ädlen Musik / als poetischer Seelen / belebet / und endlich /
wie iedes Zehen mit einem […] Inhalts-Liede […] zu unerer Lust beschlossen worden. Daher
dem Wercke auch billig der Nahme Aelbianische MusenLust gebühren wollen.41
Auch in dieser Erläuterung begegnet die eingangs erwähnte Idee von der Besee-
lung der Dichterworte durch die Musik. Gerade die Verbindung vortrefflicher
Poesie mit Tönen verzückt die Musen und begründet ihren Aufenthalt an der Elbe.
Im Folgenden wird der metaphorische Charakter des Doppelparnass betont – wie
der antike Musenberg sei auch dieser »erdichtet« und diene »der Vergleichung
derer Poeten mit jenen Musen« (ebd.). Die Anordnung der Dichter auf dem
Parnass (die auch der Reihenfolge im Buch entspricht) sei so konzipiert, dass
die Verstorbenen, »die den Sternen am nähesten seind«, im Sinne eines »Ehren-
Gedächtnüss« den Gipfel des Hügels besetzen. Die folgende Ordnung sei dagegen
eher kontingent, nämlich nach der »Gelegenheit, welche uns die annoch leben-
den Poeten und ihre Schriften an die Hand gegeben«.42 Die Positionierung der
lebenden Autoren solle also dezidiert keine Hierarchie symbolisieren. Zudem –
so kann man ergänzen – wird eine genealogische Reihe abgebildet, an deren
Spitze Opitz steht, gefolgt von dessen sächsischen ›Nachkommen‹ Fleming und
Finckelthaus, die das Erbe des Doyen der deutschen Dichtung weitertragen. Die
jüngeren Autoren stehen ebenfalls in dieser Tradition.
41 Vohrbericht zur Erläuterung des Kupfertituls. [Ed. Thomas, unpaginiert]. Die folgenden Zi-
tate stammen aus diesem »Vohrbericht«. Auf die komplexe Anordnung der Sammlung in Zehner-
gruppen mit Inhaltsliedern etc. geht Thomas detailliert ein. (s. Kommentar zur Edition [Anm. 35],
S. 21 ff.).
42 Ob es sich hierbei nur um eine apologetische Schutzbehauptung handelt, um keinen der
Kollegen zu brüskieren, diskutiert Thomas (Anm. 35), S. 23.
Paragonale Relationen? 273
Dedekind verlegt den Musenhügel nach Sachsen, wobei die ›alten Musen‹ –
entsprechend der Idee der translatio studii bzw. musicae – den Umzug mitvoll-
zogen haben, um sich zur Freude der ›neuen Musen‹, der »Aelbianischen«, mit
den Dichtern unter Führung Opitz’ in einem Wettstreit zu messen. Die Eröffnung
der Sammlung des Dichterkomponisten Dedekind nimmt dabei auf die musikali-
sche Komponente des Buches Bezug: Musen und Dichter spielen zeitgenössische
Instrumente und singen dazu. Die Erklärung des Titelbildes betont den musika-
lischen Charakter der Sammlung und damit die Aufwertung (Stichwort »Besee-
lung«), den die Dichtungen durch die vorliegende Arbeit des Komponisten erfah-
ren haben.
43 Gläser stammte aus Schlesien, hörte in Wittenberg bei Buchner und schloss ein Jurastudium
in Helmstedt ab. Dort wurde er 1661 Professor. Seinen literarischen Ruhm (er war Poeta Lau-
reatus) begründeten seine Schäferdichtungen und Liedsammlungen. Vgl. Bernd Prätorius, Rei-
mund Sdzuj: Art. ›Enoch Gläser‹. In: Killy (Anm. 33). Bd. 4. Berlin, New York 2009, S. 226 f. Zu
Gläsers musikalischen Kontakten vgl. Braun (Anm. 15), S. 172.
Paragonale Relationen? 275
Abb. 3: Enoch Gläser: Schäffer-Belustigung oder Zur Lehr und Ergetzligkeit angestimmter
Hirthen-Lieder: Erstes und Andres Buch; Nebenst zugehörigen Melodeyen / ausgefärtiget von
Enoch Gläsern / aus Schlesien. Altdorf 1653. SUB Göttingen: Signatur: 8 P GERM II, 7462 (1).
Auf ein Ensemble von Ehren- und Widmungsgedichten folgt auch in dieser Samm-
lung eine Erklärung des Titelkupfers. Sie stammt nicht vom Autor, sondern von
»Strefon« – bekanntlich Harsdörffers Gesellschaftsname im Blumenorden. Das
ist insofern besonders interessant, als Harsdörffer an anderer Stelle, nämlich in
der Vorrede zum sechsten Teil der Frauenzimmer Gesprächspiele (1646), zu seinen
Vorstellungen von Gestaltung und Funktion eines Titelkupfers Stellung bezieht.
Seine poetische Ergänzung des Frontispizes von Gläsers Liederbuch ist also von
theoretischen Vorüberlegungen getragen. Sie seien hier kurz zusammengefasst:44
Das Ziel des schmalen Traktats ist evident: Harsdörffer definiert für die interme-
diale Gattung des Kupfertitels Qualitätsstandards und erläutert diese an Mustern,
um damit Autoren und Verlegern (weniger den bildenden Künstlern) Orientie
rungshilfe anzubieten. Einen normativen Anspruch verfolgt er dabei jedoch aus-
drücklich nicht.45 Die Abhandlung beginnt mit einem Systematisierungsversuch
46 »Wie aber der Bücher zweyerley Arten / so sind auch der Gemähle / so darzu erkieset wor-
den / zeweyerley: oder von diesen beeden zusammengesetzet. Alle Bücher […] behandeln: Ent-
weder Lehren oder Geschichte.« (S. 109)
47 »Die rhetorische Dreistillehre gilt auch für das Bild; Anforderungen, die an die Rede gestellt
werden – sie solle ›Verständlich-zierlich und den Sachen gemäß sein‹ [Poetischer Trichter I,
S. 106] –, hat auch ein Titelbild zu erfüllen und macht die Qualität eines Bildes aus.« Zum Bei-
spiel schlägt Harsdörffer vor, dass in einem Buch über »Geschichten«, der Titel der Kupferstich
»in einer Wolken / an einem Baum / auf einem Stein / an einer Thür« etc. »einverleibt« werde.
Harsdörffer (Anm. 2), S. 113.
48 Breyl (Anm. 1), S. 400.
49 Vgl. Bettina Bannasch: Von der ›Tunkelheit‹ der Bilder. Das Emblem als Gegenstand der Me-
ditation bei Harsdörffer. In: Gerhard Kurz (Hg.): Meditation und Erinnerung in der Frühen Neu-
Paragonale Relationen? 277
Verschiedene Paratexte eignen sich laut Harsdörffer als Ort der Exegese: die
Vorrede, die Zuschrift oder ein beigefügtes Gedicht – letzteres sei besonders für
Lyriksammlungen zu empfehlen (S. 116). Bemerkenswert ist der abschließende
Paragraph der Abhandlung, in dem Harsdörffer nochmals die Bedeutung der
inventio eines Titelkupfers unterstreicht: so appelliert er zwar ausdrücklich an
»Buchhändler und Verläger«, auch bei der Umsetzung durch einen Stecher auf
Qualität zu achten, doch »wird der verständige Leser / nicht die Zierlichkeit der
Handarbeit / sondern die Würdigkeit der Kopfarbeit zu beobachten wissen«
(S. 118). Diese Einschätzung spiegelt den Status von Kupferstechern im ›inter-
nen‹ Paragone der bildenden Kunst der Frühen Neuzeit. Neben Bildhauern und
Malern hatten Druckgraphiker, deren Werke auf technische Reproduzierbarkeit
angelegt waren, seit jeher einen generell eher schwereren Stand.50
Kommen wir an dieser Stelle zurück zu Harsdörffers Erläuterung des Titel-
kupfers der Gläser-Sammlung.51 Er entwirft hierzu eine kleine dramatische
Szene in der Tradition bukolischer Dialoge bzw. humanistischer Paragonegesprä-
che mit diskutierenden Personifikationen52:
Poetische Begebenheit Zur Erklärung des Tittel-Blats ausgedichtet. Demnach die Holde
Lentze(n)-Göttin Flora sich mit singen und klingen jederzeit belustiget / hat sie bey erneu-
erung ihres zarten reiches eine(n) Krantz von bunte(n) und wohlriechende(n) Blume(n)
gebunden und solchen dem Schäffer Amyntas zugestellet / daß er ihn den Schönsten und
Lieblichsten unter der Musik und Poeterey zustellen solle: Solchen Ehrenpreiß zu erlan-
gen / haben sich bey ihm angegeben erstbesagte Kunst-schwestern folgender gestalt um
den vorzug streitender.
Musik. Wann das Alter ist zu loben / So dring’ ich dir billig vor.
Poeterey. Meiner Künste neuer Proben / Heb ich über dich empor.
Musik: Wenn man feste will begehen / Dien ich mit dem Seyten-Klang
Poeter. Niemand wird dein Spiel verstehen / Ohn mich und mein Reimgesang.
Musik: Hertz und Sinne zu erregen / Stimm ich meine tönung an.
Poeter. Und den willen zu bewegen / Dicht’ ich was ich dichten kan.
Musik: Lauten / Geigen und Schalmeyen / Bring’ ich zu dem Freuden-dantz.
Poeter. Ich sing’ an der Musen-reyen / Mir gebührt der Blumen-Krantz.
Die Argumente sind bekannt: Am Beginn steht die Querelle des Anciens et des
Modernes. Die Musik reklamiert für sich, das höhere Alter zu haben. Dagegen
setzt die Poesie gerade ihre Innovationskraft, sie kann mit »neue[n] Proben«
aufwarten, also Tradition und Neuheit zusammenführen – »Summa enim laus in
Poetica, Novitas« heißt es z. B. bei Scaliger.53 Die Musik macht ferner ihre sensu-
elle und emotionale Wirkkraft zur Freude der Menschen bei Festen und Tänzen
geltend. Die Poesie erkennt demgegenüber ein Defizit der Schwester darin, dass
ihre Kunst einer semantischen Ebene entbehre (»Niemand wird dein Spiel ver-
stehen«). Erst das Wort mit seinem hermeneutischen Potential könne der Musik
Sinn verleihen, sie selbst (also die Poesie) verfüge somit über die viel wichtigere
rhetorische Fähigkeit des movere (»den willen zu bewegen«) – ein Argument, das
bereits im Umfeld der Florentiner Camerata, im Kontext der Seconda Prattica
bzw. der frühen Operndiskussion von Bedeutung war, um dem Wort den Vorrang
gegenüber der Musik einzuräumen.
Der Dialog wirkt insgesamt ausgeglichen, das Gefecht endet gleichsam in
einem Patt. Jede der Schwestern hat gute Gründe dafür vorgetragen, als Siege-
rin prämiert zu werden. Das liegt auch daran, dass die theologischen Argumente
in lutherischer Tradition angesichts des weltlichen Charakters des Liederbuchs
ausgespart bleiben: In anderen Zusammenhängen wirft Harsdörffer, dessen
große Affinität zur Musik bekannt ist,54 die transzendentale Ebene der Musik
als »Widerhall der himmlischen Freuden«55, ihre Trostwirkung, ihre therapeu-
53 Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Unter Mitwirkung von Manfred
Fuhrmann. Hg. und übers. von Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira. 5 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt
1994–2003, hier Bd. 1, S. 162.
54 Vgl. Irmgard Scheitler: Harsdörffer und die Musik. Seelewig im Kontext deutschsprachiger
Musikdramatik. In: Georg Philipp Harsdörffers Universalität: Beiträge zu einem uomo universale
des Barock. Hg. von Stefan Keppler-Tasaki und Ursula Kocher, S. 213–236, mit zahlreichen wei-
terführenden Literaturhinweisen.
55 So heißt es im Prolog des Seelewig. Hier tritt »Die Musik oder Singkunst« auf, um ihre Funk-
tion und Wirkung zu erläutern. Vgl. die Analyse des Prologs durch Sven Rune Havsteen: Der
musiktheologische Diskurs in der Musikanschauung Georg Philipp Harsdörffers. In: Keppler-
Tasaki/Kocher (Anm. 54), S. 197–211, hier S. 199 ff.
Paragonale Relationen? 279
tische Funktion und ihre doxologische Aufgabe mit in die Waagschale. Hier gilt
sie dann zweifelsohne als die höchste Kunst. In dem kleinen Streitspiel fällt die
Entscheidung offenbar schwerer. Harsdörffer fährt fort und erklärt nun, warum
der Titelkupfer den Schäfer mit zwei Kränzen in der Hand zeigt: Er hat aus einem
Siegerkranz zwei gewunden. Genau diesen Moment hält das Bild fest. Die Preis-
verleihung und die ironische Urteilsbegründung, nicht Gegenstand der Graphik,
schließen sich an:
Nach genommenem bedacht theilte Amynthas den wettpreis und machte also aus einem
zween Blumen-kräntze; sätzte solche den freundlich-streitenden Schwestern auf / und
liesse folgenden entscheid-spruch hören:
3 C
ollegium Musicum: Johann Erasmus Kinder-
manns Opitianischer Orpheus (Nürnberg 1642)
Die 1642 vom Nürnberger Musiker Johann Erasmus Kindermann (1616–1655),
einem Schüler Johann Stadens, publizierte Sammlung Opitianischer Orpheus
stellt innerhalb der deutschen Liedgeschichte des 17. Jahrhunderts insofern eine
Besonderheit dar, als sie das einzige Liederbuch ist, in dem (drei Jahre nach
dem Tod des Bunzlauers) ausschließlich weltliche Opitz-Texte vertont sind.56
56 Abdruck von Titelblatt und Vorrede auch bei Thomas Schlage: Die Vokalmusik Johann Eras-
mus Kindermanns (1616–1655). Neckargemünd 2000, S. 324 ff., s. auch ebd., S. 51. Im selben Jahr
veröffentlicht Kindermann auch ein geistliches Pendant, den »Concentus Salomonis«, eine Ver-
tonung von Opitz’ Hohelied-Übersetzung. »Die Titelfiguren beschwören mit Orpheus die heid-
nische, mit Salomon die biblische Tradition der Musica.« (Braun [Anm. 16], S. 184). Der Opitia-
nischen Orpheus umfasst 24 Lieder für ein oder zwei Stimmen, Generalbassbegleitung und drei
Violinen für die Ritornelle im Stil Heinrich Alberts. Zur musikalischen Faktur und Auswahl der
Texte vgl. Schlage (Anm. 56), v. a. S. 93–108 sowie Braun (Anm. 16), S. 184–189.
280 Astrid Dröse
insofern quellenkritisch aufschlußreich ist als man augenscheinlich nicht stets vom Titel-
kupfer auf die Aufführungspraxis des in der Ausgabe Enthaltenen schließen kann […], denn
weder liegen in dieser Liedausgabe die abgebildeten Querquartstimmbücher vor […], noch
stehen die Angaben für die Besetzung damit in Einklang. Der Zeichner Abraham Bosse
lernte gewiß in Paris eine anders ausgeführte Kammermusik kennen als diejenige, welche
der Nürnberger Organist seinem Käufer anbot. Bild und Sache stimmen somit nicht stets
überein.62
Die Darstellung eines solchen Collegium Musicum63 findet man auf zahlreichen
Titelbildern barocker Liedersammlungen: Johann Martin Ruberts Musikalische
Arien 1. Teil (Stralsund 1647) ziert ein ähnlicher Stich des Künstlers »D. D.« (ver-
mutlich der in Hamburg wirkende Dirk Diricksen, gest. 1653). Hier passt die Dar-
stellung zu der praktischen Umsetzung der Arien: Man sieht zwei Musiker, die die
Violenduette (»Sinfonien«) der Sammlung spielen, ein Clavichordspieler beglei-
tet das Ensemble durch Ausführung des Generalbasses, unterstützt durch akkord
liche Ergänzungen des Lautenisten (er blickt in das Stimmbuch des Tastenspie-
lers). Auch der zweite Lautenist und der Gambist intonieren offenbar gemeinsam
nach der Generalbassstimme. Dazwischen sitzen drei Sänger. »Musica noster
Amor« ist auch ihr Motto.64 Rists Sammlung Frommer und GottSeliger Christen
Alltägliche HausMusik (Lüneburg 1654) zeigt in verwandter Weise das Interieur
eines Pfarrhauses, den Hausvater als König David stilisiert mit der Laute, um ihn
herum singen und musizieren die Hausmutter und die Kinder.65
4 Fazit
Die ausgewählten Titelkupfer weltlicher Barockliederbücher zeigen unterschied-
liche Motive, die bisweilen stärker, bisweilen eher peripher auf die Beteiligung
zweier Künste im vorliegenden Buch referieren. Für eine Typologie müssten frei-
lich weitere Frontispize hinzugezogen werden. Ein weiterer Bildbereich, den man
in diesem Zusammenhang immer wieder antrifft, ist z. B. der des Venusgärtleins.66
Dennoch lassen die analysierten Exempel die Vermutung zu, dass zum Beispiel
das Motiv des Helikon/Parnass für diese Gattung mehrfach gewählt wurde. Es
weckt durch den mythologischen Bezug auf Apoll und die singenden Musen
Assoziationen mit dem Bereich, wo die musische Kraft des ›Singen und Sagens‹
ihren Ursprung hat, die Idee der ursprünglichen Einheit von Musik und Sprache
im lyrischen Gesang. Außerdem eignet es sich, poetologisch-programmatische
Ideen mit kulturpatriotischem Impetus wie die ›translatio artis‹ (Dedekind) und
die ›imitatio modernorum‹ (Rist) darzustellen. Auch bietet es die Möglichkeit
einer effektvollen Autorinszenierung, indem dieser mit dem vorliegenden Buch
Teil des Helikons ist bzw. wird. Musik und Poesie werden in diesen Stichen jeden-
falls nicht als Konkurrenten gesehen, sondern als ohnehin untrennbar miteinan-
der verbundene Künste dargestellt. Der sozialgeschichtlichen Bezugsrahmen der
Liederbücher spielt häufig eine Rolle; so ist das Collegium Musicum ein typisches
graphisches Element auf den Titelblättern (Rubert, Rist, Kindermann), wobei der
Quellenwert dieser Darstellung hinsichtlich der Aufführungspraxis der Lieder in
jedem Einzelfall zu untersuchen ist (s. Beispiel Kindermann). Neben dem Helikon
mit Pegasus und verschiedenen Musenvariationen begegnet man auf den Stichen
mythologischen bzw. antiken Musikerfiguren wie Orpheus (Kindermann) und
Apoll (Dedekind) sowie Pythagoras (Kindermann). Ferner hat sich die Vermutung
bestätigt, dass bei Autoren, die selbst (auch von Berufs wegen) der Musik näher
stehen wie Dedekind und Kindermann, der Tonkunst eine wichtige(re) Funktion
bereits im Titelbild zugesprochen wird. Beim Textautor mit musikalischer Ambi-
tion, Enoch Gläser, kann die Poesie der Musik auf Augenhöhe begegnen, der
Paragone zwischen Musik und Poesie wird hier auf einer dritten medialen Ebene,
nämlich im Medium des Titelkupfers, allegorisch ausgetragen, um in einem ver-
söhnlichen Remis zu enden.
66 Z. B. bei Georg Greflinger: Zwei seiner Liederbücher (Seladons beständige Liebe, Frankfurt
1644 bzw. Seladons weltliche Lieder, Frankfurt 1651) zeigen eine Garten-Eden-Kontrafaktur. Vgl.
dazu die Verf.: Georg Greflinger und das weltliche Lied im 17. Jahrhundert. Berlin, Boston 2015
(Frühe Neuzeit; 191), S. 217–219.
284 Astrid Dröse
1 Vgl. Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. Mit 67 Abbildungen.
München 1964, S. 25. Wolfgang Neuber: Locus, Lemma, Motto. Entwurf einer mnemonischen
Emblematiktheorie. In: Jörg Jochen Berns, Wolfgang Neuber (Hgg.): Ars memorativa. Zur kultur-
geschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400‒1750. Tübingen 1993, S. 351‒372. Bernhard
F. Scholz: Ontologie oder Semantik. In: B. F. S.: Emblem und Emblempoetik. Historische und
systematische Studien. Berlin 2002 (Allgemeine Literaturwissenschaft. Wuppertaler Schriften;
3), S. 247‒269. Joachim Küpper: Bild und Text. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunst-
wissenschaft. Heft 50/1 (2005), S. 77‒109. Rüdiger Zymner: Das Emblem als offenes Kunstwerk.
In: Wolfgang Harms, Dietmar Peil (Hgg.): Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik.
Teil 1. Unter Mitarbeit von Michael Waltenberger. Frankfurt am Main u. a. 2002 (Akten des 5. In-
ternationalen Kongresses der Society for Emblem Studies), S. 9‒24. Thomas Althaus: Differenz-
gewinn. Einwände gegen die Theorie von der Emblematik als synthetisierender Kunst. In: Wolf-
gang Harms, Dietmar Peil (Hgg.): Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik (wie ebd.),
S. 91‒109.
2 Michael Schilling: Flugblatt und Drama in der Frühen Neuzeit. In: Daphnis 37 (2008),
S. 243‒270. Vgl. Michael Schilling: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen
DOI 10.1515/9783110521788-014
288 Stefanie Arend
Grundzüge einer intermedialen Rhetorik in der Frühen Neuzeit über die Grenzen
einzelner Textsorten hinweg zu entwerfen, ist bisher jedoch nicht unternommen
worden. Die Frage ist zunächst, ob es überhaupt möglich ist, generell Aussagen
darüber zu treffen, wie idealtypisch intermediale Rhetorik in der Frühen Neuzeit
funktioniert. Können wir davon ausgehen, dass Text und Bild, wie Harsdörffer
es in seinem Kunstverständigem Discurs, von der edlen Mahlerey metaphorisch
ausdrückt, idealerweise das Verhältnis einer guten Ehe spiegeln, einen »fried
lichen / glücklichen Ehestand« führen?3 Was sagen intermediale Text-Bild-Kom-
binationen über sich selbst und ihr Miteinander? Wie machen sich paragonale
Tendenzen bemerkbar? Welche Szenarien des Zusammenspiels zwischen Lesen
und Sehen, zwischen äußerem und innerem Bild sind denkbar? Welche Rolle
spielt ein weiteres Medium, das Gedächtnis, die memoria? Zur Annäherung und
Anregung wurden Beispiele aus unterschiedlichen Kontexten gewählt: ein Flug-
blatt aus der geistlichen Erbauungsliteratur, ein Emblem aus dem Bereich der
moralisch-politischen Paränese und das Titelkupfer einer Poetik.
Dieses Flugblatt (Abb. 1)4 der allegorischen Figur der Gedult, der patientia,
kursierte 1616 in Nürnberg. Peter Isselburg fertigte den Kupferstich an, Johan-
nes Preisegger vermutlich den Text.5 Merkmale eines idealtypischen Flugblattes
sind, dass es 1. dem rhetorischen Ideal der Kürze entspricht, der brevitas, 2. das
Ziel seiner Paränese unmissverständlich deutlich wird und 3. es Aufmerksamkeit
erregt, das attentum parare leistet. Dafür kam dem Bild außerordentliche Bedeu-
tung zu, weil es den Blick zunächst auf sich ziehen sollte. Spitzfindigkeiten, wie in
einigen gelehrten Ausprägungen der eigentlichen Emblemkunst, waren weniger
zu erwarten. Dies hatte auch ökonomische Gründe. Häufig wurden Flugblätter
des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700. Tübingen 1990 (Studien und Texte zur
Sozialgeschichte der Literatur; 29); Wolfgang Harms, Michael Schilling: Das illustrierte Flugblatt
der frühen Neuzeit. Traditionen, Wirkungen, Kontexte. Stuttgart 2008.
3 Georg Philipp Harsdörffer: Kunstverständiger Diskurs, von der edlen Mahlerey. Nürnberg 1652.
Hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Michael Thimann. Heidelberg 2008 (Texte zur
Wissenschaftsgeschichte der Kunst; 1), S. 17. Ein sehr harmonisches Miteinander von Text und
Bild im Emblem suggeriert Harsdörffers Definition in den Frauenzimmer Gesprächsspielen: Das
»Gleichniß ist die Seele des Sinnbildes / dessen Dolmetscher die Obschrift / und der Leib ist das
Bild oder die Figur an sich selbsten / gleicher gestalt der Musickunst gemässe Zusammenstim-
mung / und in der Uhr die Bewegung der Röder / derselben Geist genennet werden können /
aber nicht die Noten / oder Zahlen / welche der Zeichner [sic] weiset.« Georg Philipp Harsdörffer:
Frauenzimmer Gesprächsspiele. Hg. von Irmgard Böttcher. I. Teil. Tübingen 1968, hier S. 59.
4 Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Kommentierte Ausgabe. Hg. von
Wolfgang Harms und Michael Schilling. Bd. 1: Die Sammlung der Herzog-August-Bibliothek in
Wolfenbüttel. Teil 1: Ethica. Physica. Tübingen 1985, S. 37.
5 Vgl. die Erläuterungen ebd., S. 36.
Vorüberlegungen zum Entwurf einer intermedialen Rhetorik 289
Abb. 1
290 Stefanie Arend
auf öffentlichen Plätzen verkauft. Das Bild sollte zuerst neugierig machen und
anziehen und möglicherweise bereits von selbst bewegen und aufrühren, das
movere leisten. Es kam folglich in erheblicher Weise auf die inventio des Bildes
an, das dann in einer unmissverständlichen Relation zum Text stehen sollte,
um Irritationen auf Seiten des Rezipienten zu vermeiden. Idealerweise hätten
wir es bei Text und Bild mit einer wechselseitigen Erhellung des Sinns zu tun,
so dass sich beim Hin- und Herschalten zwischen den Medien die Deixis ver-
stärkt, etwa die moralische Paränese deutlicher wird, die hier lautet, sich in der
christlich-stoischen Tugend der Geduld, der patientia, zu üben. Die Überschrift
kann die Rezeptionshaltung lenken: »Gedult / Die Edele Tugent / mit ihren lieb-
reichen eigenschafften und nutzbarkeiten / anmütlich und tröstlich für / und
abgebildet.«6 Zu sehen ist die allegorische Personifizierung der Geduld, die eine
Kerze und ein Buch mit der Inschrift verbum dei, »Wort Gottes«, in der Hand hält.
Vor ihr liegen ein Skelett, eine Teufelsfigur mit einem Vogelfuß und eine Welt-
kugel als typisch barocke Requisiten der Vergänglichkeit. Links sehen wir ein
Lamm als Sinnenbild der Geduld. Die patientia wendet ihr Gesicht nach oben
zur Putte, die einen Lorbeerkranz und einen Palmzweig in der Hand bereithält.
Die pictura ist einfach zu verstehen, offenbar dazu angetan, das Wirkungsziel
der Affekterregung (movere) und des Trostes (consolari) einzulösen, zumal beim
christlich versierten Betrachter, der ikonographisch einiges wiedererkennen
könnte, seinen Gedächtnisspeicher aktiviert sieht. Damit das Wirkungsziel ohne
Irritation erreicht wird, müssten paragonale Tendenzen ausgeschlossen werden,
die Unruhe zu stiften imstande sind und somit das didaktische Moment unter-
laufen. Ist dies aber tatsächlich der Fall? Welche Szenarien sind denkbar, die ein
homogenes Zusammenspiel von Text und visuellem Bild stören? Welchen Status
haben der Kupferstich und der darunter stehende Text? Erfüllt der Kupferstich
das klassische rhetorische Ideal der Deutlichkeit, der perspicuitas so, dass die
Lektüre der Verse nicht unbedingt nötig ist?
Es fällt auf, dass im Bild eine gewisse Unruhe herrscht. Die Figuren zu Füßen
der Geduld sind alle in Bewegung, verrenken ihre Körperteile, die Erdkugel rollt
am Boden herum, das Lamm verdreht seinen Kopf, die Geduld selbst liest nicht
in dem Buch, sondern schaut zur Putte empor, die herbeigeeilt kommt. Das Bild
lässt den Blick nicht ruhig haften. Auch die direkt unter ihm stehenden Verse
lenken ihn auf sich, allein schon deshalb, weil sie graphisch im Fettdruck her-
vorgehoben sind, wie im weiteren Verlauf des Textes auch einzelne Worte. Der
erste Vers besitzt deiktische und ermahnende Funktion und vermag den Blick
festzuhalten. Die Geduld tritt selbst als Rednerin auf und beginnt zu sprechen:
6 Ebd., S. 37.
Vorüberlegungen zum Entwurf einer intermedialen Rhetorik 291
»Schaue mich an O lieber Christ«.7 Nun gibt sie den Ton an, ihre Ermahnung
könnte zunächst den Blick wieder auf den Kupferstich zurücklenken, aber das
›schau mich an‹ meint zugleich ›lies weiter‹. Es entsteht auf synästhetische Weise
eine neue und andere Energie, wenn der Rezipient selbst angesprochen wird und
die Geduld sich selbst noch einmal vor ihm ›fürbildet‹, sich vor seinem geisti-
gen Auge neu erfindet, die Imagination erst recht in Gang bringt, so, dass sie
ihr Abbild im Kupferstich Schritt für Schritt überflüssig werden lässt. Schritt für
Schritt entwirft die nun redende Geduld ihr eigenes Bild im Gedächtnis des Rezi-
pienten neu. Womit kann sie rechnen? Entweder ist dort schon ein Vorstellungs-
bild von ihr vorhanden, dann wird sie dieses bestätigen und bekräftigen, oder
sie malt in ihrer Rede eines dorthin, ins ›Wachs‹ des Gedächtnisses, und schreibt
die Bedeutung der Zeichen gleich hinzu. Falls der Titelkupfer ohne Worte die
Imagination in Gang gesetzt hat, amplifiziert sie diese oder errichtet sie Grenzen,
verhindert, dass sie eigensinnig ausschweift. Wie auch immer motiviert sie das
Denken und beschränkt es zugleich oder stellt es sogar still, denn sie beansprucht
Autorität und meißelt besonders die Zeichen, die im Druck hervorgehoben sind,
wie »Kron«, »Buch«, »Kertz«, »Todt«, »Teufl«, »Lamb« und »Ehrnkrentzlein« im
Gedächtnis ein oder erinnert an sie,8 falls sie dort bereits als Bilder vorhanden
sind. Zugleich deutet sie sie aus im Hinblick auf das Wort Gottes, das im Zentrum
steht. Die homiletisch anmutende die Rede der patientia richtet die Zuhörer auf
dieses Wort aus und erläutert die eigene Haltung als Frucht der Lektüre des para-
doxen verbum dei. Sie spricht ihren betrachtenden Leser als »Jesu nachfolger«
an,9 als jemanden, in dem das Wort Gottes ebenfalls Fleisch werden könnte, so
er denn ihre Worte recht beherzigt. So legt sie ihn auf seine Rolle fest und fordert
ihn auf, sich selbst zu bilden im Sinne des Gotteswortes.
Entscheidend für die intermediale Rhetorik ist, dass der Rezipient sich im
Kupferstich nicht wiederfindet. Er muss sich von der Ikonographie nicht ange-
zogen fühlen. Es ist möglich, dass er sich nicht angesprochen, seine Neugierde
nicht erregt wird, weil das Dargestellte ihm fremd ist ‒ was im Kontext der Frühen
Neuzeit wenig wahrscheinlich ist ‒ oder, weil es ihm nur zu gut bekannt ist und
der Reiz des Neuen fehlt. Wie auch immer: Er ist in seinem Sehen frei, er kann
wegschauen, es nicht auf sich beziehen.10 Erst die Rede der Geduld nimmt ihn
7 Ebd.
8 Ebd.
9 Ebd.
10 Das Übersehen gehört zur Performativität des Sehens dazu. »Habituell bedingte Blindhei-
ten« bestehen darin, »Vertrautes nicht mehr zu sehen oder durch eingespielte Deutungsbilder zu
übersehen.« Eva Schürmann: Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von
Sicht und Einsicht. Frankfurt am Main 2008, S. 109.
292 Stefanie Arend
mit ins Bild hinein, nun findet er sich angesprochen, nun findet die applicatio
des Bildes statt, im ›schaue mich an O lieber Christ‹. Da schaut er sich auch selbst
an, denn hier wird deutlich, dass die Geduld ja ein besserer Teil seiner selbst
ist, der mit ihm spricht. Ihre Rede läuft dem visuellen Bild den Rang ab, setzt
sich an seine Stelle, indem sie den Betrachter mit ins Geschehen hinein nimmt.
Falls sich sein Blick dann doch einmal wieder nach oben bewegen sollte, ist sie
aber dennoch da. Allein aber die Worte vermögen, ihn am Geschehen zu beteili-
gen und zu sagen, »Deine Sache wird verhandelt«, »es geht um Dich«, »tua res
agitur«. So ein Fall wie dieser zeigt, dass eine Theorie der intermedialen Rhetorik
über die Frage nachdenken sollte, die auch für die klassische Rhetorik und ihre
Anverwandlungen in der modernen Persuasionsforschung äußerst wichtig ist:
Wo könnte sich der Zuhörer befinden, wo und auf welche Weise wird er ange-
sprochen, wie bewegt er sich zwischen Worten und sichtbaren wie unsichtbaren
Bildern, an welcher Stelle wird er eigentlich erst so affiziert, dass Überzeugung,
persuasio, zustande kommt?11
Auch ist es hilfreich, den ideengeschichtlichen Kontext zu beachten. In
Luthers bildtheologischen Überlegungen stehen die Adressaten im Zentrum, die
potentiellen Zuhörer einer Predigt in Worten. Luther hat nicht nur eine weitaus
gemäßigtere Haltung gegenüber der Bilderfrage eingenommen als etwa Karlstadt
in seiner Schrift Von Abthuung der Bilder oder als die Reformierten.12 Stand er
auch der Allegorese kritisch gegenüber, so hat er der Bildlichkeit in der Predigt
eine außerordentliche Rolle zuerkannt. Homiletische Grundlage ist zwar stets
der »Literalsinn«,13 aber Bilder und Gleichnisse sollen die Lehre und die Glau-
bensinhalte, die doctrina, verdeutlichen, sie »amplifizieren« und sie »zieren«.14
Das ›Fürbilden‹, das auch in der Überschrift des Flugblattes zur Geltung
kommt, spielt in der bildreichen Predigtsprache Luthers eine wichtige Rolle,
es zielt auf das ›Einbilden‹ des Bildes und seiner Lehre in der Seele des Gläu-
11 Vgl. Heike Mayer: Rhetorische Kompetenz. Grundlagen und Anwendung. Mit Beispielen
von Ahmadinedschad bis Juli Zeh. Paderborn u. a. (Rhesis. Arbeiten zur Rhetorik und ihrer Ge-
schichte), S. 85‒97.
12 Vgl. Andreas Bodenstein, gen. Karlstadt: Von abthuhung der Bylder, Und das keyn Betdler
unther den Christen seyn soll [1522]. In: Von Strittigkeit der Bilder. Texte des deutschen Bilder-
streits im 16. Jahrhundert. Bd. 1 und 2. Berlin, Boston 2014 (Frühe Neuzeit; 184), S. 91‒114. Vgl.
Walther von Loewenich: Bilder VI: Reformatorische und nachreformatorische Zeit. In: Theologi-
sche Realenzyklopädie. Studienausgabe. Teil I. Bd. 6, S. 546‒557, hier S. 549 f.
13 Johann Anselm Steiger: Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Com-
municatio – Imago – Figura – Maria – Exempla. Mit einer Edition zweier christologischer Früh-
schriften Johann Gerhards. Brill 2002 (Studies in the History of Christian Thought; 104), S. 126.
14 Ebd., S. 126.
Vorüberlegungen zum Entwurf einer intermedialen Rhetorik 293
Abb. 2
15 Vgl. ebd., S. 123. Vgl. WA 2,689,24‒29; WA30/I,267,22;268,2. Vgl. auch Birgit Stolt: Martin Lu-
thers Rhetorik des Herzens. Tübingen 2000, S. 67.
16 Zit. wird nach: Plotin: Enneaden. In: Plotins Schriften. Übersetzt von Richard Harder. Neube-
arbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen. Bd. 1: Die Schriften 1–21 der chronologi-
schen Reihenfolge. a Text und Übersetzung. Hamburg 1956.
17 Julius Wilhelm Zincgref: Emblematum ethico-politicorum centuria. Editio ultimo, auctior et
emendatior annexa Indice. Heidelberg 1666, Clemens Ammon. Hier das Emblem XLII, L2v.L3r.
294 Stefanie Arend
1619 in Heidelberg und dem Kurfürsten Friedrich von der Pfalz gewidmet. Die
Sammlung war sehr erfolgreich und erschien bis 1698 in elf Ausgaben, die sich
in Teilen erheblich vom Erstdruck unterscheiden. Ich verwende hier die Ausgabe
von 1666, die in ihrer Komposition dem Original wieder relativ nahe kommt. Die
Gestaltung spiegelt insgesamt eine typische Entwicklung der Emblembücher
im 17. Jahrhundert wider. Im Unterschied zum ›Idealtyp‹ sind den eigentlichen
Emblemen längere Kommentare, in dieser Ausgabe auf der linken Seite, beigege-
ben.18 Die erläuternden Unterschriften, die subscriptiones, sind in französischer
und in deutscher Sprache verfasst und mit kurzen Überschriften versehen. Dem
Betrachter und Leser wird folglich so einiges abverlangt, wollte er sich intensiv
allen Einzelheiten widmen. Die Zugänge zu Emblem und Kommentar sind dabei
variabel, etliche Möglichkeiten der Erschließung denkbar.
Auch bei diesem ausgewählten Emblem mit dem Motto Nisi infundas oleum
handelt es sich sowohl graphisch als auch sprachlich um ein komplexes Kons-
trukt, das auf verschiedenen Wegen durchwandert werden könnte. Lassen sich
hier deutlich die Funktionen von Text und Bild in Hinsicht auf die Überzeugung
des Rezipienten bestimmen? Ist beispielsweise der Kommentar, um mit Albrecht
Schöne zu sprechen, »eine entbehrliche Zutat« – da ja, nach seiner Auffassung,
das Bild ›Priorität‹ besitzt und die Deutung bereits in sich enthält?19 Allein die
Möglichkeiten des Zutritts zu diesem Text oder Bildraum sind vielfältig. Auch
wenn die Lesegewohnheit das Auge von links nach rechts führen würde, schaut
man vermutlich erst auf das Bild –, weil es die Aufmerksamkeit bindet. Es kommt
hinzu, dass das dichte unsinnliche Zitatengeflecht, zudem auf Latein, nicht sehr
einladend wirken könnte. Generelle Aussagen zur Rezeption sind allerdings
kaum zu treffen, ein schriftfixierter Gelehrter beginnt vielleicht zuerst zu lesen
und erfaßt das Bild nur am Rande.
Was sehen wir? Im Vergleich zum Kupferstich des Flugblattes handelt es
sich um eine recht abstrakte Szenerie. Abgebildet sind unbelebte Dinge aus der
Alltagswelt, eine Öllampe, ein Federkiel, im Hintergrund etliche Bücher, es ist
18 Vgl. zu den einzelnen Ausgaben und zur Druckgeschichte die Erläuterungen von Theodor
Verweyen und Dieter Mertens: Einleitung zu: Julius Wilhelm Zincgref: Emblematum ethico-
politicorum centuria. Hg. von Dieter Mertens und Theodor Verweyen. Bd. 1‒2. Tübingen 1993
(Julius Wilhelm Zincgref: Gesammelte Schriften. Bd. 2/ 1‒2), hier 2. Teilband: Erläuterungen
und Verifizierungen, hier S. 43 f. Nach Albrecht Schöne zeichnet sich der ›Idealtyp‹ eines Emb-
lems dadurch aus, dass es deutlich in drei Teile gegliedert werden kann, Lemma/Motto (Über-
schrift), pictura (Bild) und subscriptio (Unterschrift), und dass das Bild relativ leicht auch ohne
die Schriftanteile zu verstehen ist. Das Bild besitzt »Priorität«. Schöne: Emblematik und Drama
(Anm. 1), S. 27, vgl. ebd., S. 32.
19 Ebd., S. 19, vgl. ebd. S. 27.
Vorüberlegungen zum Entwurf einer intermedialen Rhetorik 295
Nacht in einer schlichten Stube. Das Bild evoziert die fast idyllische Szenerie
eines Schriftstellerdaseins, ist doch die Öllampe seit der Antike wichtiges Zeichen
für den Poeten, der nächtlicher Weise seine Verse schmiedet. Wo aber läge die
sinnbildliche Dimension der Zeichen? Im Gedächtnis fände sich vermutlich die
abbrennende Kerze, die in der frühneuzeitlichen Emblematik und in der Lyrik
gerne als Zeichen für die Vergänglichkeit genutzt wird.20 Die Bücher würden dazu
passen, denkt man an die oft christlich motivierte Kritik an der menschlichen
Vielwisserei, die am Ende auch die Frage nach den letzten Dingen nicht lösen
kann.21 Allerdings drängt sich der Eindruck sinnbildlicher vanitas nicht auf und
wäre auch mit der Zielrichtung eines Fürstenspiegels nicht gut zu vereinbaren.
Indem die abstrakte pictura wenig sagt oder die imaginativen Zuweisungen unbe-
friedigend bleiben und nach mehr Erläuterung verlangen, erzeugt es Spannung,
in rhetorischer Begrifflichkeit eine sustentatio (vgl. Quint. Inst. orat., 9. 2. 22 f.).22
Die Gesamtkomposition ist dazu angetan, die Spannung aufrecht zu erhalten.
Der dichte Kommentar und die verschiedenen Sprachen dienen ihr, indem sie
unterschiedliche intellektuelle Fähigkeiten erfordern, vielleicht geheimnisvoll
wirken, wenn sie nicht verstanden werden. Das lateinische Motto erzeugt auf-
grund seiner Grammatik Spannung: Nisi infundas oleum ‒ ›wenn Du kein Öl
hinzugießt‹. Es nimmt den Rezipienten mit hinein als ein ›Du‹, allerdings wird
der Irrealis zunächst nicht aufgelöst. Wer spricht da wen eigentlich an? Am
ehesten könnten die deutschen Verse die Spannung etwas lösen, aber sie machen
zunächst nur einen Teil des Bildes verständlicher: »Oehl her / sonst lösch ich
auß. So lang ich werd im öle stehen / So lang solstu mich brennend sehen / So
lang man wird die Kunst begaben / So lang wird man sie Völlig haben.« Wie in der
Darstellung der Geduld im Flugblatt, so beginnt hier etwas im Bild zu sprechen,
ein ›Du‹ anzureden, in Form einer etwas rüde erscheinenden Ermahnung, einer
adhortatio. Die Flamme ist Zeichen einer Existenz, die von diesem ›Du‹ gespeist
wird, durch dessen Öl, durch dessen Fürsorge brennen kann. Es geht offenbar
um ein Abhängigkeitsverhältnis, so dass nun der Kontext des Fürstenspiegels
etwas geöffneter erscheint. Die moralisch-politische Konnotation unterstreichen
die französischen Verse in weit höherem Grade. Ein zweiter Sprecher ergreift das
Wort, kommentiert im Sinne des anderen Sprechers dessen Worte und deutet die
20 Die Kerze als Requisit der Vergänglichkeit erscheint gerne neben Totenschädel und Sanduhr.
Vgl. Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hgg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI.
und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart, Weimar 1996, Sp. 998.
21 Zum Buch als Zeichen der Vergänglichkeit im Verein mit der Kerze vgl. ebd., Sp. 1366 f.
22 Zit. wird nach: Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Latei-
nisch und deutsch. Hg. und übersetzt von Helmut Rahn. Einbändige Sonderausgabe. 5., unver-
änderte Aufl. 2011 (unveränderter Nachdruck der 3. Auflage 1995), S. 278 f.
296 Stefanie Arend
Zeichen sinnbildlich aus: »Deine mit Öl gefüllte Lampe, wenn Du willst, dass sie
leuchtet, wenn Du willst, dass man Dir dient, sei dankbar dafür, der loyale Diener
muss entlohnt werden, der würdige Mitstreiter ist sein Geld wert.« Überschrieben
sind die Verse mit den Worten ›Despense necessaire‹ ‒ ›notwendige Ausgaben‹.
Die französischen Verse streichen heraus, dass auch der Herrscher vom Diener
abhängig ist. Erlöscht dessen Lampe, so herrscht auch Dunkelheit um den Herr-
scher herum, mit anderen Worten: ist auch seine Existenz in Gefahr.
Bisher lösen die Schriftanteile aus verschiedener Perspektive die Spannung
auf und lassen das Bild komplexer werden, setzen zugleich einen Kontrapunkt
zu dieser schlichten Szenerie im Bild, das wenig codiert offen für Einschreibun-
gen und Zurufe ist, die auch dann von allen Seiten erfolgen. Die Schlichtheit des
Bildes suggeriert jedoch zunächst Eindeutigkeit.
Ich werfe einen kurzen Blick auf Zincgrefs Vorrede Praefatio de origine et usu
emblematum, Vorrede über Ursprung und Gebrauch der Embleme. Um die eigene
Vorgehensweise zu beschreiben, wird Seneca herbeizitiert und hier sein 59. Brief,
der sich mit dem Schreibstil des Adressaten Lucilius beschäftigt. Zincgref flicht
die Stelle in seine Rede ein, an der der Brief in Hinsicht auf »bildliche Ausdrü-
cke« die »alten Schriftsteller« lobt, »deren Vortragsweise doch noch nicht auf
den rauschenden Beifall berechnet war« und die sich einer »einfachen, einer […]
rein sachlichen Darstellung befleißigten«.23 Sie nutzten »Gleichnisse[n], die sie
für unentbehrlich hielten«, nicht um durch Effekte zu gefallen, sondern »um der
sprachlichen Notlage einigermaßen abzuhelfen und die Vortragenden und die
Hörer in die Lage zu bringen, sich mit der Sache gehörig abzufinden.«24 In unmit-
telbarem Anschluss an das Zitat Senecas werden die heiligen Schriften angeführt,
die mit ihrer Bildersprache ebenso umgingen.25 Zincgref beschreibt mit diesen
Verweisen seine Ästhetik im Grunde als eine, die der res ganz angemessen ist,
keinen asiatischen Zierrat bereit hält; sein Stil erscheint als sermo humilis, wie
Augustinus’ in De doctrina christiana den Stil der Bibel nennt, den die Predig-
ten nachahmen mögen (Aug., De doctr. christ., 4. 19. 104).26 Folgt man Zincgrefs
23 Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Bd. 1‒4. Übersetzt, mit Einleitungen und
Anmerkungen versehen von Otto Apelt. Hamburg 1993, hier Bd. 3: Briefe an Lucilius. Erster Teil:
Brief 1‒81, hier S. 215. (Sen. Ep. 59. 6, zit. nach Lucius Annaeus Seneca: Ad Luilium Epistulae
morales. Recognovit et adnotatione critica instruxit L. D. Reynolds. Tomus I: Libri I‒XIII. Oxford,
10. Aufl. 1991).
24 Ebd. Vgl. Zincgref: Emblematum ethico-politicorum centuria (Anm. 17), hier die praefatio,
unpag.
25 Vgl. ebd.
26 Zitiert wird nach: Aurelius Augustinus: Die christliche Bildung/De doctrina christiana. Über-
setzung, Anmerkungen und Nachwort von Karla Pollmann. Stuttgart 2002. Vgl. zum sermo hu-
Vorüberlegungen zum Entwurf einer intermedialen Rhetorik 297
Vorrede, so geht es ihm nicht darum, mit effektreichen und komplizierten Zei-
chenkombinationen bewusst Rätsel aufzugeben. Allerdings besteht gerade, wie
diese pictura in dem besprochenen Emblem (Nr. XLII) zeigt, in ihrer Schlichtheit
eine Herausforderung, weil sie einerseits wenig anbietet, andererseits den Ima-
ginationen weiten Raum geben könnte, den aber die Textanteile gleich besetzen.
Eigentlich ist es erst der Kommentar auf der linken Seite, der die ganze Trag-
weite des Bildes entfaltet, die es alleine kaum von selbst andeutet. Im gesam-
ten Buch hat Zincgref von etwa 120 Autoren 1300 Zitate, die kursiv gesetzt sind,
genutzt und sie mit den eigenen Worten wie ein Cento verflochten.27 Es findet
sich viel Antikes und Spätantikes. In diesem Fall diskutiert der Kommentar die
interessante Frage, was man mit langgedienten Staatsdienern tut, die viel geleis-
tet haben. Gleich zu Anfang geht es um Anaxagoras, den Hofphilosophen des
Perikles, der im hohen Alter keine Aufmerksamkeit mehr erfuhr und sich das
Leben nehmen wollte. Als Perikles dies vernahm, soll er ihn darauf hingewie-
sen haben, dass er allein ihn als Ratgeber entlassen könne. Da habe Anaxagoras
gesagt, er müsse Öl hineingießen, sonst wolle er nicht weiter leben, das heißt ihm
Aufmerksamkeit und Fürsorge zu Teil werden lassen.28 Der weitere Kommentar
nimmt mit Hilfe von Zitaten eine sozialkritische Perspektive ein oder eine christ-
liche, verweist den Herrscher auf die christliche Tugend der misericordia, die ihn
verpflichtet, den verarmten und alten Staatsdienern Zuwendungen zu gewäh-
ren. Das Sinnenbild nimmt folglich das Ergebnis klugen und fürsorglichen Herr-
schens vorweg. Der Kommentar stellt es unmissverständlich in den Kontext eines
Fürstenspiegels. Die Frage ist aber, ob er die Spannung vollständig auflöst, weil
man – zur pictura zurückgeführt ‒ sich doch noch einmal fragen könnte, ob die
Schlichtheit des Sinnenbildes nicht eher die komplexen Zuweisungen verdeckt.
Ist diese pictura überhaupt, wenn nicht allein, so auch im Kontext des Textgewe-
bes imstande, das Überzeugen zu befördern? Allegorisiert nicht die Dominanz der
Schriftanteile, die den gelehrten poeta doctus nicht verkennen lassen, auch hier
den Status der pictura als im Grunde überflüssige Zutat, in diesem Fall deshalb,
weil sie die komplexe res nicht verhandeln kann?
Was den Status der Kupferstiche im Verhältnis zum Kommentar angeht, so
könnten die besonderen Entstehungsbedingungen eine Rolle spielen. Die Her-
ausgeber haben in der Einleitung zur Edition der Erstauflage darauf hingewiesen,
dass das Buch unter Zeitdruck entstanden sei und dass der Kupferstecher Mat-
milis auch Erich Auerbach: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und
im Mittelalter. Bern 1959, S. 42.
27 Vgl. Dieter Mertens und Theodor Verweyen: Einleitung zu: Zincgref (Anm. 18), hier S. 20.
28 Vgl. Zincgref: Emblematum ethico-politico centura (Anm. 17), L2v.
298 Stefanie Arend
thäus Merian Bilder geliefert habe, die nicht immer unbedingt passten, manch-
mal deshalb, weil sie in anderen Kontexten genutzt wurden.29 Auf den Kommen-
tar legte Zincgref besonderen Wert. Mit den zahlreichen Marginalien sollte er in
seiner Ästhetik Justus Lipsius’ Politica nachahmen – sechs Bücher, die ganz ohne
visuelle Bilder auskommen, ganz der verbalen Rhetorik verpflichtet sind.30
So ist bezeichnend, dass in der Erstausgabe die Bildseite noch links angeord-
net ist und in Leserichtung Priorität erhält. Wenn man aber bedenkt, dass man
angeblich erst auf die rechte Buchseite schaut, dann liegt das Gewicht auf dem
Kommentar. Dann erschienen Ausgaben, die den Kommentar ganz wegließen.31
Erst in der hier genutzten Ausgabe von 1666 springt der Kommentar nach links,
so wird ihm zumindest graphisch ein größeres Gewicht eingeräumt, erhält der
poeta doctus zunächst die Stimmgewalt und redet die Schrift das Bild förmlich an
die Wand. Auf der Suche nach Bausteinen für eine intermediale Rhetorik könnte
es hilfreich sein, derartige komplizierte produktionsästhetische Bedingungen
mit zu berücksichtigen. Sie können unter Umständen den Befund erklären, der
sich hier zeigt, dass das Bild keineswegs ›Priorität‹ besitzt, indem es sich selbst
deutet, sondern aufgrund seines schlichten Stils, der die Schrift herausfordert,
imstande ist, Spannung zu erzeugen, am Anfang des Weges sowie am Ende noch
einmal neu.
Zum Schluss ist noch ein besonderes Beispiel intermedialer Rhetorik vorzu-
stellen. 1692 legt Christian Weise seine Poetik Curieuse Gedancken von Deutschen
Versen vor, verfasst vor allem für seine Schüler am Zittauer Gymnasium. Die
Gedancken schmücken dieses Titelkupfer (Abb. 3)32.
Als Blickfang finden sich die Worte Numero, mensura et pondere ‒ ›nach
Maß, Zahl und Gewicht‹, ursprünglich ein Zitat aus dem Buch der Weisheit (vgl.
Weish 11.20), das nun zu dichtungstheoretischen Überlegungen genutzt wird. In
der Mitte dominieren an den Seiten zwei Gesichter, die nach unten gerichtet sind.
Im unteren Bildteil sieht man zwei Poeten an einem Tisch sitzen. Blätter liegen
auf dem Tisch und fallen herunter. In der Nachricht wegen des Kupffertituls heißt
es gleich zu Anfang:
29 Vgl. Dieter Mertens und Theodor Verweyen: Einleitung zu: Zincgref (Anm. 18), S. 2.
30 Vgl. ebd., S. 16.
31 Vgl. ebd., S. 43.
32 Christian Weise: Curieuse Gedancken Von Deutschen Versen / Welcher gestalt Ein Studieren-
der in dem galantesten Theile der Beredsamkeit was anständiges und practicables finden sol /
damit er Gute Verse vor sich erkennen / selbige leicht und geschickt nachmachen endlich eine
kluge Maße darinn halten kan: wie bißhero Die vornehmsten Leute gethan haben / welche / von
der klugen Welt / nicht als Poeten / sondern als polite (sic) Redner sind æstimirt worden. Verlegts
Johann Friedrich Gleditsch 1692, hier das Titelblatt.
Vorüberlegungen zum Entwurf einer intermedialen Rhetorik 299
Als ich in einer langen Vorrede gethan hätte / das habe ich in einem kurtzen Bilde verrich-
tet. Wer es mit Bedacht ansiehet / der hat die Erklärung selbst vor Augen. Und es ist viel-
leicht ein Uberfluß / wenn ich die ledigen Seiten mit solchen Gedancken anfülle.33
Wie sich herausstellt, muss Weise zu dieser Vorrede dann doch anheben, um
etwas Wichtiges herauszustreichen, dass durch sogenannte imagines agentes,
bewegliche Bilder im Gedächtnis, verdeckt werden könnte. Imagines agentes
zeichnen sich eben dadurch aus, dass sie ‒ wie es in der anonymen Rhetorica ad
Herennium heißt ‒ »etwas in Bewegung bringen« (Rhet. ad Her., 3. 37).34 Weises
Titelkupfer ist ebenso ein solches Bild, das an andere bewegliche und bewegende
Bilder erinnert.
Zum Beispiel erinnert es aufgrund einer strukturellen Analogie an das Titel-
kupfer von Birkens Rede-bind und Dichtkunst (1679, Abb. 4)35.
Auch dort dominiert die obere Hälfte des Bildes die untere und steht zur
Tätigkeit der beiden Figuren in der unteren Hälfte in einer Beziehung. In Birkens
Inspirationstheorie ist es »die Feuer-Flut des himlischen Geistes«,36 die, in
Anlehnung an die Inspirationstheorie in Platons Ion, die Dichter anweht (vgl.
Plat. Ion. 533e‒534a).37 Die ersten Dichter seien die biblischen Hirten gewesen.
Die »Wohnung der Herrlichkeit Gottes« sei »der rechte Parnassus«, aus dem die
»Geistes-Flut« hervorquelle und herunterschieße.38 Diese hätten die Hirten-Dich-
ter in Lieder zu Ehren Gottes zu verwandeln und wieder »gen Himmel« aufstei-
gen zu lassen, so wie ein Brunnensystem das Wasser auffange und wieder nach
oben abgebe.39 Die »Erde« sei durch Poesie und Musik »Echo« und »Gegenhall«
des Himmels.40 An diesen flatus von oben, an das himmlische ›Gebläse‹ erinnert
nun auch die Komposition in Weises Titelkupfer, allerdings schauen die beiden
lustigen Gesellen am Tisch nicht andächtig nach oben. Dass Blätter zur Erde
fallen, markiert eine wichtige Differenz zu Birken. Die Funktion dieses speziellen
Windes erläutert die Nachricht wegen des Kupffertituls.
binden / und bereiten […]«.42 Harsdörffer spart das ›Gewicht‹ aus, und eben hier
greift Weise ein und fügt es hinzu. Diese kleine Nuance ist der Schlüssel zum Bild.
Auch wenn man richtig zähle und abmesse, worin man, so Weise, »die meiste
Kunst« sehe, könne es an etwas fehlen:43
Allein die Syllben sind offte wol gezehlet / die Scansion hat alles richtig abgemessen: und
dennoch fehlt es nirgends als allenthalben. Das machts / der Dichter hat das Gewichte ver-
42 Ebd.
43 Weise: Curieuse Gedancken (Anm. 32), Nachricht wegen des Kupffertituls, unpag.
Vorüberlegungen zum Entwurf einer intermedialen Rhetorik 303
gessen. Und wenn der Wind die Lufft beweget / ich wil sagen / wenn die Menschliche Curio
sität mit ihrem Urthel darzwischen kommt / so müssen die Blätter gleichsam vom Tische
fliegen: denn das beste fehlt / welches dem Winde wiederstehen soll.44
Ob ›das Gewichte‹ als ›das beste‹ fehlt, das beurteilen »die allgemeinen Richter
im gelehrten Parnasso«, die gelehrten Autoritäten und Vorbilder, deren Urteil
»dem Winde« zu vergleichen ist, der an die Stelle des himmlischen spiritus in
Birkens Titelkupfer tritt.45 Geht es Birken darum, besonders die geistige Poesie zu
profilieren, so verfolgt Weise ein anderes Ziel. Er stellt den Schüler ins Zentrum
und die Idee, dass dieser lernfähig ist und seine Erzeugnisse von anderen beur-
teilt werden. Versinnbildlicht wird folglich auch die Literaturkritik, die Instanzen
im Gelehrtenkosmos üben. Die Gesichter rechts und links blasen gewisserma-
ßen ihre Urteile herab und fegen die poetischen Produkte der Schüler mit einem
Streich vom Tisch, vernichten sie mit ihrer Kritik.
Der Schwerpunkt der Nachricht wegen des Kupffertituls liegt auf der Kritik
und ihrem Anspruch, auf dem, was sie von den Schülern verlangt. Genau dies
ist der virulente Punkt, der dazu zwingt, dann eben doch zu reden und das Bild
nicht einfach für sich sprechen zu lassen: »Worinn aber das Gewichte bestehe /
damit man auch den Wind braviren kan / solches habe ich im Bilde nicht abmah-
len können. Doch im gantzen Buche wird darauff gezielet.«46 Es gibt einen obscu-
ren und nicht malbaren Aspekt im Bild, der mit Worten erklärt werden muss und
der das aptum meint, das Ideal der Angemessenheit. Ein änigmatisches Konzept,
um das seit jeher seit dem Streit zwischen Asianismus und Attizismus diskutiert
wird und das, nach der Auffassung der klassischen Rhetoriker, nicht gelernt und
eigentlich nicht abstrakt in Worte gefasst werden kann.47
Weise kündigt an, sich in seinen Curieusen Gedancken von Deutschen
Versen um diesen Aspekt zu kümmern, zu vermitteln, wie poetischen Produk-
ten ›Gewicht‹, d. h. die Angemessenheit zu Teil werden kann. Dies ist deshalb
ein exklusiver Anspruch, da das aptum nach klassischer Auffassung erst so recht
eigentlich das Zentrum des dichterischen Könnens, des ingeniums, darstellt und
nicht als Ergebnis von Übung aufgefasst wird, sondern als Anzeiger der natür-
lichen Begabung, der natura. Gegenüber dieser wertet Weise die Übung deut-
lich auf und weist auf »Doctrina & Experientia« hin, die mit den Jahren dazu
44 Ebd.
45 Ebd. Im Buch der Weisheit ist die Rede vom Strafgericht Gottes, das mit einem »einzige
Hauch« zu Fall bringen kann (Weish 11.20).
46 Ebd.
47 Vgl. Bernhard Asmuth: Art. ›Angemessenheit‹. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg.
von Gert Ueding. Bd. 1 (1992), Sp. 579–604.
304 Stefanie Arend
führe, sich auf das ›Gewicht‹ zu verstehen.48 Er nutzt dann recht viele sprachliche
Bilder, um dasjenige, was das Titelkupfer seiner Meinung nicht sagen kann, poe-
tisch zu versinnbildlichen und lanciert einen Seitenhieb auf Harsdörffers Poetik.
»Poetische Trichter« gehörten mit anderen Kollektaneen zu »gebrechlichen Rohr-
stäben«, die nicht lehrten, worauf es letztlich ankomme, sondern den jungen
angehenden Dichter betrögen, so dass er verzweifelte, »ob er jemahl etwas nur in
wenigen Zeilen abfassen könte / das vor dem Winde sicher seyn / und auff dem
Tische / das ist vor dem Patrone möchte liegen bleiben«.49
Weises Nachricht wegen des Kupffertituls setzt seine Curieusen Gedancken von
Deutschen Versen deutlich von den Poetiken Birkens und Harsdörffers ab und
verspricht etwas Neues, da er an dem durch antike Rhetorik und Poetik tradierten
Bild eines Dichters rüttelt, der das Besondere, das Wichtigste eben nicht erler-
nen kann, das Ideal der Angemessenheit. Im Unterschied zu den Sinnbildern
von Birkens und Harsdörffers Poetiken problematisiert Weise den dichterischen
Produktionsprozess und stellt ihn zunächst als etwas dar, was nicht einfach
gelingt. Das Misslingen ist das Normale. Das Misslingen der Angemessenheit, des
›Gewichtes‹, im Bild durch die herunterfallenden Blätter allegorisiert, ist Legi-
timation für die Curieusen Gedancken in Deutschen Versen. Diese werden dazu
dienen, so die Verheißung, die Angemessenheit zu lernen.
Das Titelkupfer läuft aber Gefahr, von imagines agentes, von Birkens und
Harsdörffers Allegorisierungen der Dichtkunst, überblendet zu werden. Deshalb
sind dann doch Worte nötig, das Titelkupfer zu erklären und seine Besonder-
heit zu unterstreichen. Hier finden sich Anklänge einer kritischen Auseinander-
setzung mit der Formel ut pictura poesis, mit dem Ziel allerdings, nicht nur die
anderen Möglichkeiten des Wortes, sondern auch dessen Notwendigkeit heraus-
zustreichen. Dies ist anders, aber ähnlich in den vorhergehenden Beispielen der
Fall.
Was zeigt diese Beispielreihe? Es könnte so scheinen, als laufe das Wort regel-
mäßig dem Bild den Rang ab, aber so einfach verhält es sich nicht; sei es, weil das
Wort selbst das Bild noch einmal entwirft, wie im Flugblatt, sei es, weil das Bild,
wie die pictura im Emblem, aufgrund dessen, dass es zunächst wenig codiert
erscheint, besondere Spannung erzeugen könnte, auch noch nach dem Lesen
oder erst recht nach dem Lesen, sei es, dass das Bild wie in Weises Titelkupfer
auch intermedial mit anderen imagines agentes in ein fast paragonales Verhältnis
tritt, weswegen das Wort sein muss. Ruhig jedenfalls geht es nirgendwo zu, und
vielleicht ist dies der erste Baustein, ein Sockel für die Frage nach Spezifika einer
48 Weise: Curieuse Gedancken (Anm. 32), Nachricht wegen des Kupffertituls, unpag.
49 Ebd.
Vorüberlegungen zum Entwurf einer intermedialen Rhetorik 305
DOI 10.1515/9783110521788-015
Laokoons Schlange 307
seinen beiden Söhnen gibt es in der Skulptur also so etwas wie eine theriozen-
trische Schauanordnung, die – wie in den genannten Beispielen – allerdings
leicht aus dem Blickpunkt fällt. Die nachfolgenden Überlegungen nehmen daher
probeweise die nicht periphere, sondern eigentümlich im Zentrum überblendete
Perspektive des blinden Flecks ein, um wichtige Rezeptionsdimensionen der
Schlangendarstellung in einschlägigen Kunstwerken bzw. Laokoon-Dichtungen
zu rekonstruieren.5 Gefragt wird damit letztlich nach der wirkungsgeschicht
lichen Bedeutung der animalischen Geschöpflichkeit, die dem Mythos im Kern
eingeschrieben ist. Intensiver beleuchtet werden dabei dichtungspraktische und
ästhetiktheoretische Positionen, welche die Schlangendarstellung argumen-
tativ in die Kunstreflexion einbeziehen (Goethe), dem kreatürlichen Moment
im Mythos wenig Beachtung schenken (Lessing) oder es darstellungstechnisch
gezielt ausspielen (Vergil). Die Gegenüberstellung solcher Grundpositionen führt
in einem rezeptionsgeschichtlichen Ausblick schließlich noch einmal gezielt zum
Problem der anhand der Laokoon-Gruppe verhandelten Frage nach den medialen
Eigenheiten der Künste. Wie ist also der in der kunst- und dichtungstheoretischen
Diskussion zentrale Zusammenhang von Affekt, Illusion und Vorstellung im Hin-
blick auf die sprach- oder bildästhetisch zu bewältigende Abgeschiedenheit der
stoffgeschichtlich gegebenen Tierperspektive zu verstehen?
5 Dazu grundlegend ist im Folgenden die diachrone Quellensammlung Schmälzles (Anm. 4).
6 Die Anzahl der Schlangen folgt gemäß dem Mythos der generationellen Bildlogik der Skulp-
tur, indem der Gegenüberstellung von Vater und Söhnen die Zuordnung der beiden strafenden
Schlangen korrespondiert. Abweichend von der Vergilschen Überlieferung kann die Zahl der In-
dividuen auch variieren. Vgl. z. B. bereits Lessings Hinweis auf den Singular bei Lykophron (Gott-
hold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Hg. von Wilfried
Barner [= Werke Bd. 5/2] Frankfurt a. M. 2007, S. 50) oder in der Frühen Neuzeit die Darstellung
Tod des Laokoon Hans Brosamers (1538), auf der sechs Schlangen abgebildet sind (Nachdruck
bei Schmälzle [Anm. 4], S. 30).
308 Jörg Wesche
Es ist also dieses ein Hauptsatz: der Künstler hat uns eine sinnliche Wirkung dargestellt, er
zeigt uns auch die sinnliche Ursache. Der Punkt des Bisses, ich wiederhole es, bestimmt die
gegenwärtigen Bewegungen der Glieder: das Fliehen des Unterkörpers, das Einziehen des
Leibes, das Hervorstreben der Brust, das Niederzucken der Achsel und des Hauptes, ja alle
die Züge des Angesichts seh ich durch diesen augenblicklichen, schmerzlichen, unerwarte-
ten Reiz entschieden.8
Geht die Bewegung Laokoons mit Goethe also aus dem »Punkt des Bisses« hervor,
erscheint das Tier als Impulsgeber des menschlichen Hauptaffekts. Der Schmerz
rührt vom tödlichen Schlangenbiss, so dass die Kreatur als das zentrale ›Movens‹
menschlicher Gefühlsbildung fungiert. Dabei setzt die Schlange im Doppelsinn
Bewegung in Gang: als Pathos und als Imagination. Denn die vorgestellte Beweg-
lichkeit des skulptural stillgestellten Augenblicks entzündet sich an ihrer bild-
kompositionellen Zentrierung. Goethe beschreibt dazu bekanntlich eine gleich-
sam photographische Betrachtungstechnik der Gruppe. Durch schnelles Öffnen
und Schließen der Augen aus der Distanz werde das dargestellte Bild wie ein
»fixierter Blitz« eingefangen und mit dem Bisspunkt als Zündung der Imagina-
tion in eine vorgestellte Bilderfolge überführt.9 Für diesen auch im Fackelschein
entstehenden Effekt findet Goethe dann die einprägsame Formulierung vom
»ganzen Marmor in Bewegung«.10
Wird die Schlange ebenso als Initialpunkt des Marmors in Bewegung wie
als Initialpunkt menschlicher Empfindungen gesehen, ist deutlich, dass die
Gruppe durchaus auch das Verhältnis von Tier und Mensch in Szene setzt. Goethe
wertet das ästhetische Sujet von »Menschen mit gefährlichen Tieren im Kampfe«
7 Dazu etwa Inka Mülder-Bach: Sichtbarkeit und Lesbarkeit. Goethes Aufsatz Über Laokoon. In:
Inge Baxmann, Michael Franz, Wolfgang Schäffner (Hgg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichen
regime im 18. Jahrhundert. Berlin 2000 (Literaturforschung), S. 465–479 sowie Ernst Osterkamp:
Nachwort. In: Johann Wolfgang Goethe: Über Laokoon (1798). Nachdruck der Ausgabe von 1896.
Stuttgart, Weimar 1998 (Goethes Werke I. Abteilung, Bd. 47), S. 1–34.
8 Johann Wolfgang Goethe: Über Laokoon. In: Erich Trunz (Hg.): Goethes Werke. Bd. XII. Schrif-
ten zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen. München 121994, S. 56–66, hier
S. 61.
9 Ebd., S. 60.
10 Ebd. (Die »unendliche Mannichfaltigkeit« bzw. Facettierung des Sinneseindrucks durch Fa-
ckelbeleuchtung beschreibt bereits Karl Philipp Moritz: Reisen eines Deutschen in Italien in den
Jahren 1786 bis 1788. Bd. 3. Berlin 1793, S. 155.)
Laokoons Schlange 309
als eines der »glücklichsten, die sich denken lassen.«11 Bezogen auf Laokoon
erscheint das dramatisch zuspitzende Motiv des Zweikampfs somit eingebunden
in den Dualismus von Humanität und Animalität. Entsprechend stellt sich ihm
schlicht
ein Vater mit zwei Söhnen [dar], in Gefahr, zwei gefährlichen Tieren unterzuliegen. So
sind auch hier keine göttergesandten, sondern bloß natürliche Schlangen, mächtig genug,
einige Menschen zu überwältigen, aber keineswegs, weder in ihrer Gestalt noch Handlung,
außerordentliche, rächende, strafende Wesen. Ihrer Natur gemäß schleichen sie heran,
umschlingen, schnüren zusammen, und die eine beißt erst gereizt.12
Die postulierte Natürlichkeit der Kreaturen als ästhetische Kreuzung von Würge-
und Giftschlangen lässt sich trotz der vordergründig realistischen skulpturalen
Gestaltung zwar biologisch nicht stützen.13 Doch geht der naturkundlich interes-
sierte Goethe immerhin auf die schlangenspezifische Morphologie ein und hebt
die »ausgedehnte Organisation« der Tiere, ihre Fähigkeit, »drei Menschen mehr
oder weniger ohne Verletzung zu paralysieren«, als »Mittel der Lähmung« hervor,
wodurch bei der »großen Bewegung, über das Ganze schon eine gewisse Ruhe
und Einheit verbreitet« sei.14 Insofern handelt es sich bei Goethe letztlich um eine
gleichzeitige Inanspruchnahme der Schlange(n) als Initialpunkt von Bewegung
und Stillstand. Dem Bisspunkt des Marmors in Bewegung ist die artspezifische
Paralyse als Anzeichen plastischer Statik gegenübergestellt. So gesehen erwächst
das von Goethe gesehene Humanum des Kunstwerks, das den hässlichen Schre-
cken bzw. die »leidenschaftlichen Ausbrüche der menschlichen Natur in der
Kunstnachahmung zu mäßigen und zu bändigen versteht«,15 auch der ästhetisch
stillstellenden Animalität der Schlangen.
2 D
er Künstler als Anthropograph. Über Lessings
ästhetisches Desinteresse am Tier
Lessings Überlegungen zum Laokoon sind im Vergleich zur Argumentation
Goethes weitaus weniger auf die Kreatürlichkeit der Schlangen gerichtet. Allge-
mein lässt sich dieser Befund zunächst im Werkkontext bedenken. Am deutlichs-
ten zeigt sich Lessings ästhetisches Tierverständnis wohl in der zweiten fabel-
theoretischen Abhandlung Von dem Gebrauche der Tiere in der Fabel (1759).16 In
kritischer Erwiderung auf Breitingers Begründungsversuch, Tiere in der Fabel als
Elemente des Wunderbaren poetisch einzusetzen, hebt Lessing darin die »allge-
mein bekannte Bestandheit der Charaktere« als Legitimation für die Verwendung
von Tieren in der Fabel hervor.17 Der Gedankengang verknüpft dieses Argument
schließlich mit einem angenommenen Mangel an Empathiefähigkeit des Men-
schen gegenüber Tieren:
Ja, ich will es wagen, den Tieren, und andern geringern Geschöpfen in der Fabel noch einen
Nutzen zuzuschreiben, auf welchen ich vielleicht durch Schlüsse nie gekommen wäre,
wenn mich nicht mein Gefühl darauf gebracht hätte. Die Fabel hat unsere klare und leben-
dige Erkenntnis eines moralischen Satzes zur Absicht. Nichts verdunkelt unsere Erkenntnis
mehr als die Leidenschaften. Folglich muß der Fabulist die Erregung der Leidenschaften
so viel als möglich vermeiden. Wie kann er aber anders, z. B. die Erregung des Mitleids ver-
meiden, als wenn er die Gegenstände desselben unvollkommener macht, und anstatt der
Menschen Tiere oder noch geringere Geschöpfe annimmt?18
Was in der berühmten Begründung ähnlich funktioniert wie später in der dia-
lektischen Theaterkonzeption Brechts – also das Wachrufen lebendiger Erkennt-
nis durch das distanzierende Unterbinden leidenschaftlicher Anteilnahme –,
mag aus heutiger Sicht insofern als Irritation erscheinen, als aktuell vielmehr
ein ausgeprägter, auch medial stetig eingeübter Hang zu affektiven Bindungen
an Tiere verbreitet ist. Entsprechend wähnt man sich von Tierfabelfiktionen als
Erfolgsgarant in Literatur und Film geradezu umstellt. Lessing denkt es seiner-
zeit anders, indem er die mangelnde Empathie für Tiere hervorkehrt und in dieser
Eigenschaft ihr Potential als Sittenlehrer erblickt. Die angedeutete kulturhistori-
sche Differenz ist dabei sicherlich auch wissensgeschichtlich verwurzelt. Nimmt
Lessing mit seiner Überlegung eine leidenschaftslose Haltung gegenüber Tieren
16 Zur Fabeltheorie immer noch grundlegend Siglinde Eichner: Die Prosafabel Lessings in sei-
ner Theorie und Dichtung. Ein Beitrag zur Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Bonn 1974.
17 Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Bd. 5. Literaturkritik. Poetik und Philologie. Hg. von Her-
bert G. Göpfert. München 1973, S. 389 (Hervorh. i. Orig.).
18 Ebd., S. 393 f.
Laokoons Schlange 311
ein, wäre etwa zu prüfen, inwiefern dabei – trotz der poetischen Distanznahme
gegenüber den materialistischen Ausweitungsversuchen auf den Menschen bei
La Mettrie19 – das cartesische Tiermaschinenmodell im Hintergrund steht. Der
affektiven Ausweidung steht bei Lessing jedenfalls das Ausstopfen von Tieren mit
menschlichen Eigenarten (in der Fabel meist Fehler) zur Seite. Aus kulturwissen-
schaftlicher Perspektive dienen Tiere somit als ›Container‹ menschlicher Devi-
anz.20 Entsprechend exklamiert Lessing in der Fabeltheorie: »Als ob man in den
Fabelbüchern die Naturgeschichte studieren sollte!«21 Denn, so seine Überlegung,
von diesen Wesen die wenigsten, ihrer Natur nach geschickt waren, die Rollen freier Wesen
über sich zu nehmen, so erweiterte man lieber die Schranken ihrer Natur, und machte sie,
unter gewissen wahrscheinlichen Voraussetzungen, dazu geschickt.22
19 Zu diesem Komplex Roman Lach: Das Skandalon des Zufalls. Lessing und La Mettrie. In:
Jürgen Stenzel, Roman Lach (Hgg.): Lessings Skandale. Tübingen 2005 (Wolfenbütteler Studien
zur Aufklärung; 29), S. 129–144.
20 Vgl. Hartmut Böhme: Im Zwischenreich. Von Monstern, Fabeltieren und Aliens. In: Mensch
und Tier. Geschichte einer heiklen Beziehung. Hg. von ZDF-Nachtstudio. Frankfurt a. M. 2001,
S. 233–258. Ist man zu etwas spielerischer Phantasie aufgelegt, bietet auch der Laokoon-Stoff
nicht nur die bedrohliche Andersartigkeit der Schlange, sondern mit dem Danaer-Geschenk
des trojanischen Pferds auch den Tiercontainer, sozusagen die künstliche Tierhülle, die mit den
listenreichen Griechen nur allzu Menschliches enthält.
21 Ebd., S. 392.
22 Ebd., S. 390.
23 Vgl. das Geleitwort Ernst Mayrs zu Neuausgabe von Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine
Betrachtungen über die Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe. 2 Bde. Hg. von Jürgen
312 Jörg Wesche
Ich weiß nicht, wie es gekommen, daß die Kunstrichter diese Verschiedenheit, welche sich
in den Windungen der Schlangen zwischen dem Kunstwerke und der Beschreibung des
Dichters so deutlich zeiget, gänzlich mit Stillschweigen übergangen haben.27
27 In der Forschung hat man für die Skulptur den Quellenstatus der Fassung Vergils allerdings
in Frage gestellt und mögliche Bezüge zu Arktinos von Milet hervorgehoben. Vgl. Erika Simon:
Laokoon und die Geschichte der antiken Kunst. In: Archäologischer Anzeiger 8 (1984), S. 643–
672, bes. S. 651 f.
28 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Lessings ›enárgeia‹-Auffassung (dazu Friedrich Voll-
hardt: Nachwort. In: Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und
Poesie. Studienausgabe. Hg. von Friedrich Vollhardt. Stuttgart 2012, S. 437–467, hier S. 450–452).
Zur ›enárgeia‹ als frühneuzeitliches Leitmodell der englischen Schauspielkunst s. den Beitrag
von Rüdiger Singer in diesem Band.
29 Hier zeigt sich die auf Sichtbarkeit und Körperlichkeit abgestellte Schönheitsauffassung
Lessings, die er für die Dichtkunst suspendiert (s. Joachim Jacob: Die Schönheit der Literatur.
Tübingen 2007, S. 188).
30 Ebd. Außer Kraft gesetzt ist dieses bildkünstlerische Postulat unter den frühneuzeitlichen
Belegen z. B. in der Laokoon-Illustration von John Ogilby zu John Drydens Vergil-Übersetzung
von 1697 (s. Schmälzle [Anm. 4], S. 41). Vgl. den entsprechenden Hinweis bei Lessing (Anm. 6),
S. 57, Anm. 9.
31 Dass Lessing den prägnanten Augenblick der bildlichen Darstellung als Handlungsablauf
zwischen Schlangenbiss und Schrei lesbar macht und damit die postulierte Künstedifferenz
letztlich unterläuft, betont Peter J. Burgard: Schlangenbiß und Schrei. Rhetorische Strategie und
ästhetisches Programm im Laokoon. In: Wolfram Mauser, Günter Saße (Hgg.): Streitkultur. Stra-
tegien des Überzeugens im Werk Lessings. Tübingen 1993, S. 194–202, bes. S. 201.
32 Lessing (Anm. 6), S. 22.
314 Jörg Wesche
Was giebt es denn nun zu betrachten? Da repräsentieren sich: ›Entblößte Hügel, die ihr
Inneres aufdecken […].‹ Und abermals repräsentieret sich: ›Die schönste Gegend […].‹ Und
abermals repräsentieret sich: ›eine unzählbare Menge von Stauden‹. Und abermals reprä-
sentieren sich: ›teils Pflanzen, teils lebendige Geschöpfe‹. Und abermals repräsentieren
sich – O verzweifelt! Ich wollte meinen Herren noch das ganze Tierreich repräsentieren;
aber Sie sehen das Licht geht mir in dem Kasten aus. ›Die Betrachtung des Tierreichs soll
daher Ihnen selbst überlassen sein!‹38
33 Ebd., S. 23, Anm. 2. Vgl. im Gesamtwortlaut: »Sie [= Polygnotus, Dionysius und Pauson] mal-
ten allesamt menschliche Figuren; und daß Pauson einmal ein Pferd malte, beweiset noch nicht,
daß er ein Tiermaler gewesen, wofür ihn Hr. Boden hält. Ihren bestimmten die Grade des Schö-
nen, die sie ihren menschlichen Figuren gaben, und Dionysius konnte nur deswegen nichts als
Menschen malen, und hieß nur darum vor allen andern der Anthropograph, weil er der Natur zu
sklavisch folgte, und sich nicht bis zum Ideal erheben konnte, unter welchem Götter und Helden
zu malen, ein Religionsverbrechen gewesen wäre.«
34 Zur Tiermalerei grundlegend Claudia List: Tiere. Gestalt und Bedeutung in der Kunst. Stutt-
gart, Zürich 1993.
35 Vgl. Evelyn Lehmann: Das große Kasseler Tierbild. Das barocke »Thierstück« von Johann Mel-
chior Roos, die Kasseler Menagerien und einiges mehr über Mensch und Tier. Petersberg 2009.
36 Vgl. zuletzt: Herbert W. Rott (Hg.): George Stubbs (1724–1806): Die Schönheit der Tiere. Von
der Wissenschaft zur Kunst. München, London, New York 2012.
37 Dazu mit weiterführenden Belegen Vollhardt (Anm. 28), S. 451. Zum diskursgeschichtlichen
Kontext Hans Christoph Buch: Ut Pictura Poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker
von Lessing bis Lukács. München 1972.
38 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in 12 Bänden. Bd. 4. Werke 1758–1759. Hg. von
Wilfried Barner. Frankfurt a. M. 1997, S. 574 (vgl. auch Fick [Anm. 2], S. 171).
Laokoons Schlange 315
3 M
ythische Meta- und Theriomorphose.
Gestaltwandlungen bei Vergil
Blickt man vor dem dargelegten Hintergrund in die Vergilsche Quelle,39 ist den
Tieren in der Laokoon-Episode weitaus mehr Eigenständigkeit als in der anthro
pographischen Sicht Lessings abzugewinnen. Zunächst fällt in der bei Vergil
stoffgeschichtlich besonders ausgearbeiteten Laokoon-Erzählung im zweiten
Buch der Aeneis die ungeheuerliche Größe der Schlangen ins Auge. Diese
bemerkt auch Lessing und begründet sie durch das Wahrscheinlichkeitsgebot,
da »von dieser Größe die Wahrscheinlichkeit der folgenden Erscheinung« abhän-
ge.40 Ohne übermenschliche Dimensionierung scheint ihm die Überwältigung
Laokoons und seiner Kinder unglaubwürdig.41 Wichtig ist darüber hinaus aber
auch die Berücksichtigung der Erzählperspektive. Ist es bei Vergil Aeneas, der
die Geschichte der Geliebten Dido erzählt, fällt dabei ins Auge, dass Vergil bei der
Laokoon-Episode möglichst auf Erzählerkommentare verzichtet und die Darstel-
lung im Modus berichtender Zeugenschaft hält. Teichoskopisch – gleichsam von
den Mauern Trojas aus – wird mit dem erzählerisch aus der Erinnerung vergegen-
wärtigenden Beobachter auch der Leser zum entsetzten Zeugen der furchtbaren
Angriffsszene. Bemerkenswert ist dabei, dass die Beschreibung der Schlangen
hier weitgehend von anthropomorphen Attribuierungen frei ist:
39 Zur antiken Literaturgeschichte und Vorgeschichte des Mythos bis zu Lessing Heinz-Günther
Nesselrath: Laokoon in der griechischen Literatur bis zur Zeit Vergils. In: Dorothee Gall, Anja
Wolkenhauer (Hgg.): Laokoon in Literatur und Kunst. Berlin, New York 2009 (Beiträge zur Alter-
tumskunde; 254), S. 1–13 sowie Anja Wolkenhauer: Laokoon vor Lessing. Anmerkungen des La-
okoonstoffs und seiner Präsenz in Lessings Laokoon. In: Jörg Robert, Friedrich Vollhardt (Hgg.):
Unordentliche Collectanea. Gotthold Ephraim Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Ge-
lehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin, Boston 2013 (Frühe Neuzeit; 181), S. 153–
174. Grundlegend zudem Clemens Zintzen: Die Laokoon-Episode bei Vergil. In: Akademie der
Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftli-
chen Klasse 10 (1979), S. 1–77.
40 Lessing (Anm. 6), S. 54, Anm. 8.
41 An die biologische Unwahrscheinlichkeit von Würgeschlangen, die zugleich Giftschlangen
sind, denkt der zoologisch desinteressierte Lessing hier ebenso wie Goethe allerdings nicht.
316 Jörg Wesche
Affektive Zuschreibungen aus dem Bereich der menschlichen Natur, die über die
Gefühlslage der Schlangen Auskunft gäben (wie ›strafend‹ oder ›zornig‹) sucht
man vergebens.43 Stattdessen springen ins Auge: die erwähnte Überdimensio-
nierung, die bildliche Parallelsetzung von Wellen- und Schlängelbewegung als
Engführung mit der Naturgewalt sowie die anschauliche Darstellung der scheuß-
lichen Sinnesorgane mit dem starren, blutunterlaufenen Blick und der zucken-
den zischenden Zunge, die zudem durch effektvoll schwankende Tempuswechsel
vom dramatischen Präsens zur gleichsam flüchtend distanzierenden Vergangen-
heitsform begleitet wird. Undurchdringlich starr blickt das Tier gewissermaßen
aus dem Text zurück. Zwar kann man bei diesem animalischen ›stare down‹ in
der Lessingschen Optik argumentieren, dass der poetische Text hier schlicht die
Sukzession der Sprachzeichen ausreizt, indem er den schrecklichen Augenblick
durch solche anbahnenden Spannungsmomente dramaturgisch steigert, doch
bleibt die tierhafte Geschöpflichkeit als wichtiger Aspekt der Erzählpassage in
dieser Sicht unberücksichtigt. Bei Vergil leitet sich das Entsetzliche der Szene
jedoch wesentlich aus der verstörend fremdartigen Animalität der Schlangen
her, die der Text nicht einfach als dinglichen Götterfluch, sondern als lebendige
Ungeheuer einführt. So erwächst das Schreckliche der Szene dem undurchsichtig
Kreatürlichen, das nicht durch menschliche Zuschreibung eingeholt oder – wie
Lessing es in der Fabeltheorie formuliert – ›Bekanntheit‹ bewältigt werden kann.
Stattdessen lässt die distanzierte Außensicht den grotesk starren (An-)Blick
(»visu«) stehen. Fremdartig feurig und blutunterlaufen markiert er in der Episode
42 Vergil: Aen. II, V. 201–212. Dt.: »Da! Da gleitet von Tenedos her durch ruhige Wogen / –
jetzt noch faßt mich Entsetzen – in riesigen Bogen ein Paar von / Schlangen im Meere dahin
und strebt gemeinsam zum Strande. / Steilauf recken sie zwischen den Fluten die Brust, ihre
Kämme / glühn blutrot aus Wogen empor. Der übrige Teil streift / hinten das Meer und wirft zu
gewaltiger Windung den Rücken. / Schaurig schäumt das Wasser der See; schon gingen an Land
sie, / brennend starrten die Augen, vom Blut unterlaufen und Feuer, / und schon leckten sie zi-
schend ihr Maul mit zuckenden Zungen / Bleich vom Anblick fliehn wir hinweg« (Vergil: Aeneis.
Lateinisch-Deutsch. Hg. und übers. von Johannes Götte. München, Zürich 71988, S. 61).
43 In der Frühen Neuzeit betont diesen Effekt auch für die skulpturale Schlangendarstellung
Jacopo Sadoletos Beschreibung Über die Statue des Laokoon (1506) die Animalität der »flam-
menden Reptile« und die Fühllosigkeit ihrer »mitleidlosen Zähne« (Schmälzle [Anm. 4], S. 29).
Laokoons Schlange 317
eine angstauslösende Grenze zum unbändigen Tier, vor dem auch der sprachlich
in die Unmittelbarkeit der Szene hineinversetzte Betrachter mit bleichem Entset-
zen entflieht (»diffugimus visu exsangues«). An dieser Stelle lässt sich eine Über-
legung aus Lessings Paralipomena heranführen, in der er sich im Zusammenhang
der Illusionsbildung tatsächlich dezidiert mit dem Tierblick auseinandersetzt. So
formuliert er mit Bezug auf die Zeuxis-Anekdote über die Täuschung der Vögel
durch naturgetreu gemalte Trauben: Thierische Augen sind schwerer zu täuschen
als menschliche; sie sehn nichts, als was sie sehen; uns hingegen verführet die
Einbildung, daß wir auch das zu sehen glauben, was wir nicht sehen.44
Der Kontrast zwischen dem blutlosen Menschengesicht und den blut
unterlaufenen Schlangenaugen bei Vergil stellt sich vor diesem Hintergrund als
Schrecken vor der Fremdheit der absoluten Illusionsleere im Tierblick dar. Ent-
sprechend entfällt in der Fassung Vergils durch den Verzicht auf die Benennung
der Schlangen mit Individualnamen auch ein basaler Akt der anthropomorphi-
sierenden Bewältigung des Animalischen, während zuvor etwa in Nikanders
Mythenversion die Namen ›Porkes‹ und ›Chariboia‹ geläufig sind.45 Bedenkt man
bei Vergil zudem den lateinischen Wortlaut, wird deutlich, dass hier weniger eine
vermeintlich natürliche Tierdarstellung, wie sie z. B. Goethe beim Anblick der
Skulptur im Sinn hat, (s. o.), sondern offenbar eine archaisch-mythisch geprägte
Tierauffassung zu Grunde liegt. So erwächst das Grauen der dichterischen
Anschauung bei Vergil nicht zuletzt dem sprachlich mitvollzogenen Gestaltwan-
del der Tiere von Seeschlangen im Meer (»angues«), zu Kriechtieren an Land
(»serpentes«) und schließlich zu Schlangendrachen im Tempel (»dracones«46).
So wird die Schrecklichkeit der göttergesandten Kreaturen auch in ihrer unge-
heuerlichen Metamorphose ausgedrückt. Dieser Verstörung korrespondiert nun
auf der menschlichen Seite die Verwandlung Laokoons ins Tierhafte. Denn der
furchtbar klagende Schrei Laokoons findet bei Vergil bezeichnenderweise im
gleichfalls riesenhaft überdimensionierten Stier (»taurum ingentem«), den
der Priester gerade auf dem Altar zu opfern im Begriff ist, sein schmerzvolles
Echo:
Liest man die Passage im Zusammenhang, erscheint die Verdopplung des Schreis
durch den Stier als Anzeichen für die rein kreatürliche Qualität des Schmerzes,
die Laokoon im Augenblick des Leidens seines Menschseins beraubt und auf die
Stufe des Opfertiers herabsetzt. Im Schmerz, so arrangiert es der Text, werden
Mensch und Tier sich gleich. Die Strafe verwandelt den hochmütig gegen die
Götter aufbegehrenden Priester selbst zum Tieropfer. Insofern spiegelt die Erzäh-
lung die Metamorphose der Schlangen in der Theriomorphose Laokoons.48
4 V
erhandlungen der anthropologischen
Differenz. Rezeptionsgeschichtlicher Ausblick
Steht die theriomorphe Anlage der Erzählung Vergils u. a. gegen das klassische
Kunstideal einer erhabenen Bewältigung des Schmerzes durch ›stille Größe‹,
welche Winckelmann der Plastik als ästhetisches Überlegenheitsmoment
zuschreibt,49 macht der kreatürliche Absturz des Priesters zum Opfertier deut-
lich, inwiefern der Laokoon-Mythos als Tier-Mensch-Konstellation letztlich die
anthropologische Differenz zur Disposition stellt. Wertet man in dieser Hinsicht
Christoph Schmälzles rezeptionsgeschichtliche Sammlung weiter aus, rückt
zunächst Schiller ins Zentrum. Die Idee einer ästhetischen Rettung des schmerz-
erfüllten Menschen in die Kunst (wie bei Winckelmann oder Goethe) erprobt er
für die Dichtung explizit durch Abgrenzung gegenüber dem Animalischen. So
47 Dt.: »Jener [Laokoon] bemüht mit den Händen sich hart, zu zerreißen die Knoten, / schwarz
übergossen von Geifer und Gift an den heiligen Binden, / furchtbar zugleich tönt klagend sein
Schrei hinauf zu den Sternen. / So brüllt auf der Stier, der wund vom Altare geflüchtet / und
das Beil, das unsicher traf, geschüttelt vom Nacken. / Aber zum Tempel hoch drüben entfliehn
schnell gleitend die beiden / Schlangen und streben hinauf zur Burg der grausen Tritonis, / ber-
gen zu Füßen der Göttin im Rund sich unten des Schildes.« (Vergil [Anm. 42], S. 60).
48 Spiegelsymmetrisch ins Bild gesetzt ist das Motiv des Doppelopfers im 17. Jahrhundert z. B. in
einer Graphik Pietro Santo Bartolis (Nachdruck bei Schmälzle [Anm. 4], S. 20 f.).
49 Zum Komplex etwa Balbina Bäbler: Laokoon und Winckelmann. Stadien und Quellen seiner
Auseinandersetzung mit der Laokoongruppe. In: Gall, Wolkenhauer (Anm. 39), S. 228–241.
Laokoons Schlange 319
Je entscheidender und gewaltsamer nun der Affekt in dem Gebiet der Thierheit sich äußert
ohne doch im Gebiet der Menschheit dieselbe Macht behaupten zu können, desto mehr wird
diese letztere kenntlich, desto glorreicher offenbart sich die moralische Selbständigkeit des
Menschen, desto pathetischer ist die Darstellung und desto erhabener das Pathos. […] Die
Gruppe des Laokoon und seiner Kinder ist ungefähr ein Maaß für das, was die bildende
Kunst der Alten im Pathetischen zu leisten vermochte.53
Man denke sich statt der Schlangen in dieser Gruppe, den reißenden Tyger, den verwun-
denden Pfeil, den tödtenden Dolch – nichts kommt dem Entsetzen dieser furchtbaren
Umwindung bei, wo die mächtigen Ungeheuer in schrecklichen Krümmungen den ganzen
Gliederbau umfesseln – das Edle, Gebildete erliegt der Macht des Ungeheuers; der Mensch
dem Wurme –.55
Ripas illustrierten Fassung der Iconologia (1603), die den trojanischen Priester
durch den gefesselten Prometheus ersetzt und diesen der Schlange ausliefert.60
Mögen die versammelten Belege die Wahrnehmung des Laokoon-Mythos
in Literatur und Kunst als Tier-Mensch-Konstellation plausibilisieren, lässt sich
die ästhetiktheoretische Dimension dieser Konstellation abschließend bündeln.
Wichtig ist mit Blick auf die mediale Differenz zwischen bildender Kunst und
Dichtung vor allem die in der Künstedebatte überblendete ästhetische Unverfüg-
barkeit, die mit der Tierdarstellung Einzug in den Laokoon-Mythos hält. So setzt
Vergils Erzählung ebenso wie die Laokoon-Gruppe mit den Schlangen Zeichen
ins Bild, die sich der Vorstellung entziehen und im Wort- oder Bildkunstwerk
letztlich auch auf die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft verweisen.
Lessing würdigt die Entsinnlichung der Gegenstände in der Dichtkunst aller-
dings als etwas, das der Malerei überlegen ist, indem die Sprachzeichen das
freie Spiel der Einbildungskraft ermöglichen. Dieser Imaginationsfreiheit sind
bei Tierperspektiven jedoch in der sprachlichen Repräsentation Grenzen gesetzt.
Wertet Lessing es als Nachteil der auf den Sehsinn abgestellten Malerei, dass ihr
im Gegensatz zur Poesie vor allem der ›innere‹ Mensch verschlossen bleibt, muss
man vor diesem Hintergrund also bedenken, dass tierische Innenwelten auch der
Dichtkunst auf besondere Weise entzogen sind. Als Vorteil der sprachlichen Dar-
stellung gegenüber der von Lessing herausgestellten Nachahmung des Nebenein-
anders der Gegenstände und Körper im Bildkunstwerk kommt bei Vergil vielmehr
zur Geltung, dass die animalische Fremdheit der Schlangen der linearen Drama-
tik als starrer (An-)Blick bedrohlich entgegengestellt bleibt und der Erzählverlauf
zudem als mythischer Gestaltwandel (Seeschlange, Kriechtier, Schlangendrache)
ausgespielt werden kann.
Man kann die besonders von Goethe gesehene, im Wortsinn tragende Funk-
tion der Schlangen in der Laokoon-Gruppe mit der Ausgangskonstellation von
Uwe Saegers Roman Laokoons Traum (2002) zuspitzen. Die berühmte Marmor-
gruppe ist »explosionsartig« in Einzelteile zerfallen.61 Das zersprungene Kunst-
werk scheint endgültig verloren, da es sich nicht mehr zusammensetzen lässt.
Denn die Schlangen haben sich gehäutet und sind davongeschlängelt.
1 Opitz-Bilder
Unter den Bildnissen des Martin Opitz nimmt das Ölgemälde, das Bartholomäus
Strobel d. J. (um 1591–um 1650/60) zwischen 1635 und 1639 verfertigte, einen
besonderen Rang ein. Es befindet sich heute in der Stadtbibliothek zu Danzig.1
Das eindrucksvolle Standesporträt ist das Dokument einer langen Freundschaft:
Opitz lernt Strobel, einen der »wichtigsten Epigonen der rudolfinischen Manier«2,
1627 in Breslau kennen, wo der Dichter in Diensten des schlesischen Kammerprä-
sidenten Karl Hannibal von Dohna stand (seit 1626).3 In einem Brief an Buchner
vom 1. 10. 1627 nennt er Strobel »nobilissimus Germanie pictor« und »amicus
1 Zu den Abbildungen kurz und mit weiterer Literatur Klaus Conermann (Hg.): Martin Opitz:
Briefwechsel und Lebenszeugnisse. Berlin 2009, 3 Bde., hier Bd. 1, S. 160–163; vgl. auch Achim
Aurnhammer: Dichterbilder mit Martin Opitz. In: Achim Hölter, Monika Schmitz-Emans (Hgg.):
Literaturgeschichte und Bildmedien. Heidelberg 2015 (Hermeia; 14), S. 55–76, der vor allem die
weitere Opitz-Ikonographie bis ins 18. Jahrhundert eingehend untersucht.
2 Jan Harasimowicz: Johann Christian – ein unbeugsamer Fürst. Die ›Europäische Allegorie‹
von Bartholomäus Strobel dem Jüngeren im Museo del Prado in Madrid. In: J. H.: Schwärmergeist
und Freiheitsdenken. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neu-
zeit. Köln, Weimar, Wien 2010 (Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte; 21), S. 143–155,
hier S. 144. (Geringfügig modifizierter Wiederabdruck des Beitrages: J. H.: Strobel, Opitz, Gry-
phius und die ›Europäische Allegorie‹ im Museo del Prado in Madrid. In: Thomas Borgstedt,
Walter Schmitz (Hgg.): Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit; 63),
S. 250–271; zu Strobel weiterhin: Jacek Tylicki: Bartholomäus Strobel the Younger; a post-Rudol-
fine Painter in Silesia and Poland. In: Lubomir Konečný, Beket Bukovinská, Ivan Muchka (Hgg.):
Rudolf II, Prague and the world. Papers from the international conference, Prague, 2–4. Septem-
ber 1997. Prag 1998, S. 145–155; Ernst Scheyer: Der Maler Bartholomäus Strobel. Künstlerische
Beziehungen Breslaus zu Danzig in der Zeit des großen Krieges. In: Ostdeutsche Monatshefte 13
(1932–1933), S. 517–537.
3 Vgl. Marian Szyrocki: Martin Opitz. Berlin 1956, S. 77–99; Klaus Garber: Martin Opitz. In: Ha-
rald Steinhagen, Benno von Wiese (Hgg.): Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und
Werk. Berlin 1984, S. 116–184, hier S. 128–130 (mit Lit.). Schon in Danzig verspricht Opitz seinem
Freund August Buchner die Kopie eines Strobel’schen Porträts (271001 ep; 280507 ep; 281216
ep). Conermann (Anm. 1), Bd. 1, S. 159 f. Möglicherweise existierte gar kein solches Porträt; das
Danziger Porträt datiert erst in die Danziger Zeit.
DOI 10.1515/9783110521788-016
»geschwiester Kinder« – Bildtheorie und Paragone bei Martin Opitz 323
meus optimus«.4 Nach dem Frieden von Prag sehen sich beide 1635 genötigt,
Herzog Johann Christian von Brieg auf seiner Flucht nach Thorn zu begleiten.5
In Danzig werden beide von dem überzeugten Calvinisten Gerhard Graf von
Dönhoff, dem Berater Władisławs IV. und späteren Danziger Kastellan sowie
Marienburger Ökonom, protegiert.6 Auf sein Betreiben wird der Dichter dem pol-
nischen König vorgestellt und erhält das Amt des königlichen Historiographen,
später des Sekretärs »mit einem beachtlichen Salär«.7 Dönhoffs Fürsprache ist es
wohl auch zu verdanken, dass Strobel 1636 zum Kammermaler des Königs bestellt
wird; am 16. 11. 1639 wird ihm von Władisław IV. der Freibrief ausgestellt, der die
früheren kaiserlichen Privilegien bestätigte.8
Strobels Porträt ist mehr als ein Bild des Martin Opitz, es ist zugleich (s)ein
Image. Es zeigt den Autor des berühmten Buches von der Deutschen P oeterey
(1624) und der Acht Bücher Deutscher Poematum (1624 bzw. 1625), allerdings
ohne jeden Hinweis auf sein Dichteramt. Alle Attribute des Gelehrten – Bücher,
Schreibutensilien, ein entsprechendes Studiolo o. ä. – fehlen. Wir sehen nicht
den Philologen, den »Vater der deutschen Dichtung« oder den »Boberschwan«,
sondern einen Würdenträger, Diplomaten und Hofmann.9 Opitz’ Haltung auf dem
Porträt drückt seine Stellung aus: Den Körper leicht zur Dreiviertelansicht gewen-
det, die Weste lässig geöffnet, stemmt er den linken Arm stolz und ein wenig her-
ausfordernd in die Hüfte. Der Blick richtet sich selbstbewusst auf den Betrachter.
Gekleidet nach der neuesten spanischen Mode tritt uns Opitz als Funktionär des
frühmodernen Staates und Vertreter einer neuen, durch virtus und fama legiti-
mierten Geistesaristokratie, einer vera nobilitas, entgegen.10
4 Conermann (Anm. 1), Bd. 2, S. 566 (271001 ep): »Jubeo eam paulo post te expectare, ubi copia
mihi nobilissimi Germaniae pictoris Strobelij amici mei optimi fieri potuit.«
5 Richard Alewyn: Opitz in Thorn (1635/1636). In: Zeitschrift des Westpreußischen Geschichts-
vereins 66 (1926), S. 169–179; Scheyer (Anm. 2), S. 526–537.
6 Vgl. hierzu Gustav Sommerfeld: Zur Geschichte des Pommerellischen Woiwoden Grafen Ger-
hard von Dönhoff († 23. Dezember 1648). In: Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins
43 (1901), S. 219–265; Gerhard Kosellek: Martin Opitz im Dienst des polnischen Königs Władysław
IV. Wahrheit und Legende. In: Germanoslavica 19 (2008), S. 17–33.
7 Garber (Anm. 3), S. 132.
8 Vgl. Harasimowicz (Anm. 2), S. 148.
9 Garber (Anm. 3), S. 133: »Tatsächlich war Opitz jedoch in erster Linie Diplomat und erst in
zweiter Linie Gelehrter und Dichter.«
10 Vgl. Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des
deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters (Studien und Texte zur Sozial-
geschichte der Literatur; 3). Tübingen 1982, S. 255–267.
324 Jörg Robert
Dass die »prächtige Erscheinung des hofmännischen Opitz« auf Strobels Bild
»mit dem Urteil über das gar nicht so eindrucksvolle Aussehen des schmächtigen
Mannes«,12 wie es die Lebenszeugnisse überliefern, kontrastiert, ist kaum überra-
schend. Das Bild zeigt nicht das Individuum Opitz, sondern seine soziale imago,
die für sich spricht, weil er nicht (oder mehr) zu uns sprechen kann. Bilder schaf-
fen Gegenwart – über die räumliche Distanz oder die Distanz des Todes hinweg.
Das Bild des »Vaters der deutschen Poesie«13 ist dabei besonders erfolgreich, denn
Strobels Opitz-Porträt wurde bis ins 18. Jahrhundert hinein immer wieder kopiert.
Von Gottsched wissen wir, dass er eine Kupferstichkopie des Strobel’schen
Gemäldes für die Deutsche Gesellschaft in Leipzig in Auftrag gab, die es »neben
Canitzen und Bessern auf[ge]stellet« hat.14 Opitz’ Biograph Kaspar Gottlieb
Lindner schreibt (1741): »Jn Gemählden wird er auch hier und dar angetroffen«.15
Auf der anderen Seite ist es doch nur ein phantasmagorisches und geisterhaftes
Leben. Das Dichterporträt ist eine paradoxe Form. Mag das Bild auch zum Leitbild
werden, so sieht sich der Künstler doch vor eine prekäre Frage gestellt: Wie bildet
man einen Menschen ab, dessen Bestimmung das Wort, die hörbare Stimme ist,
wie es der Topos vom »Boberschwan« suggeriert? Der Dichter lebt im Gemälde
fort, aber lebt er auch? Kann er zu uns sprechen, wenn er nicht spricht?
Dieser Paradoxie stellt sich das zweite authentische Opitz-Porträt. Auch
dieses wird für das Bildgedächtnis des Dichters bedeutsam.16 Auf der Rückreise
aus Paris ließ sich Opitz im September 1630 in Straßburg von einem unbekannten
Maler porträtieren. Die Entwurfszeichnung zum Kupferstich wurde im Mai 1631
vollendet.17 »Caeterum ut tibi ac Berneggero nostro tandem obsequerer, passus
sum Argentorati me depingi, ita ut Calcographi manu, si nunc coram non licet,
vel sic tamen brevi me visurus sis«.18 Der unbekannte Künstler fertigte eine Zeich-
nung an, die der bekannte ›Chalcograph‹ Jacob van der Heyden (1573–1645) in
Kupfer stechen ließ.19 Bernegger finanzierte den Kupferstich.20 Erst auf dessen
mehrfache Mahnung hin vollendete Jacob van der Heyden sein Werk im Früh-
jahr 1631. Er zeigt das Brustbild des Autors in einem medaillonähnlichen Oval (in
der Tradition der römischen imago clipeata), ein Typus, der für den kaiserlichen
13 So Gottsched in seiner Lobrede auf Opitz (Johann Christoph Gottsched: Lob- und Gedächt-
nißrede auf den Vater der deutschen Dichtkunst […]. Leipzig 1739, S. 161).
14 Conermann (Anm. 1), S. 162.
15 Ebd., S. 162.
16 Zuletzt Susanne Skowronek: Autorenbilder. Wort und Bild in den Porträtkupferstichen von
Dichtern und Schriftstellern des Barock. Würzburg 2000 (Würzburer Beiträge zur deutschen Phi-
lologie; 22), S. 80–95; Erich Trunz: Das Opitz-Porträt des Jacob van der Heyden von 1631. In: Bar-
bara Becker-Cantarino, Jörg Ulrich Fechner (Hgg.): Opitz und seine Welt. FS für George Schulz-
Behrend zum 12. Februar 1988. Amsterdam 1990 (Chloe; 10), S. 527–539; wieder abgedruckt in:
Erich Trunz: Deutsche Literatur zwischen Späthumanismus und Barock. München 1995, S. 356;
Conermann (Anm. 1), S. 176 f.
17 Vgl. Skowronek (Anm. 16), S. 80.
18 An Buchner, 27. 9. 1630; Conermann (Anm. 1), Bd. 2, S. 868.
19 Da sich van der Heyden auf dem Stich selbst nur als Stecher bezeichnet, wird er nicht mit
dem Urheber der Zeichnung identisch sein.
20 Brief vom 27. 3. 1631 an Opitz. Conermann (Anm. 1), Bd. 2, S. 976 f.
326 Jörg Robert
21
Hof in Prag um die Jahrhundertwende vielfach belegt ist und sich am »Ideal des
Hofmannes« orientiert.22 Der Dichter erscheint (vom Betrachter aus) leicht nach
rechts gewandt; das als Brüstung deutbare untere Ovalsegment war offenbar
für Motti oder Symbole gedacht. Um die subscriptio entbrannte ein regelrechter
Streit23: Bernegger bittet mehrfach Balthasar Venator um ein Epigramm, während
Opitz selbst bei Buchner anfragt. Venator und Bernegger besuchen im Septem-
ber/Anfang Oktober 1630 Caspar von Barth in Sellerhausen (bei Leipzig), welcher
mehrere Epigramme auf Opitz’ Bildnis dichtet.24 Spontan vorgetragen, findet
eines Gefallen und wird an Bernegger nach Straßburg übersandt, der es dem
Kupferstecher übergibt. Offenbar geschieht dies jedoch ohne explizite Billigung
Barths, der sich verstimmt von Opitz distanziert.25 Das Epigramm hat folgenden
Wortlaut:
So sah es aus, lieber Leser! Das apollinische Antlitz des Sängers (wörtl. der Sirene),
des Fürsten31 der Deutschen Dichtung – Opitz.
(Übers. J. R.)
Das Emblem ist nicht nur ein »bi-medial realisiertes Concetto«32; die intermediale
Struktur ist nicht nur Form, sondern Thema des Gedichts: seine argutia entfaltet
sich in der Reflexion seiner dreifachen Medialität.33 Lesen, Sehen, Hören – Opitz
ist in allen drei medialen Aggregatzuständen präsent: der Dichter ist die betö-
rende Stimme (»Seiren«)34, deren Laut aber nur im Aufzeichnungsmedium Buch
(»Lector«) wahrnehmbar wird, dem die imago (»facie apollinea«) als (gedachtes)
Autorenbild vorausgeht. Im Zusammenspiel von Bild und Schrift wird ein drittes,
flüchtigeres Medium – die Stimme, der Klang – greifbar, das sich der Repräsen-
tation entzieht. Die Mediensynthese dient der Medienevokation.35 Der Leser sieht
ein Bild, das einen Text begleitet, in dem die Stimme des Dichters virtuell präsent
ist.
Auffällig ist die Anachronizität des Arrangements. Das Porträt hat prolep-
tische Struktur: Die Unterscheidung von Lesen und Hören, Schrift und Stimme
impliziert die von Tod und Leben. Schon Erich Trunz fand die imperfektische Form
(»erat«) »etwas ungewöhnlich«36, sie wird jedoch ganz bewusst eingesetzt.37 Das
Bild ist ein Gedenk- und Ahnenbild. Es setzt die Präsenz des Autors in das Prä-
teritum des Nachrufs. Caspar von Barths Epigramm verwandelt die viva imago
in eines jener Sterbe- oder Memorialbilder, die die humanistische Tradition her-
vorgebracht hat. Eines der prominentesten Beispiele dürfte Hans Burgkmairs so
31 Dass in »princeps« neben dem aristokratischen Anspruch auch das »principium« und mithin
der Archeget mitschwingt, lässt sich hier nur schwer wiedergeben.
32 Bernhard F. Scholz: Emblem. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hg.
von Klaus Weimar. Berlin, New York 1997, S. 435–438, hier S. 436.
33 Vgl. dazu meine Überlegungen in: J. R.: Einführung in die Intermedialität. Darmstadt 2014,
S. 91.
34 Als Bezeichnung für Dichter schon bei Sueton und Horaz. Vgl. Karl Ernst Georges: Ausführ-
liches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Sp. 2691 (s.v. ›Siren‹). Skowronek (Anm. 16),
S. 82.
35 In der Typologie von Uwe Wirth: Intermedialität. In: Alexander Roesler, Bernd Stiegler (Hgg.):
Grundbegriffe der Medientheorie. Paderborn 2005, S. 118 f. liegt hier eine Intermedialität auf 2.
Stufe vor: Die Kopplung zweier Zeichenverbundsysteme. Die Pointe dieser harten Intermedialität
liegt jedoch gerade darin, dass sie eine ›konzeptionelle‹ Intermedialität – die Rückführung von
Schrift auf Stimme – entwickelt.
36 Trunz 1990 (Anm. 16), S. 82.
37 Skowronek (Anm. 16), S. 82.
»geschwiester Kinder« – Bildtheorie und Paragone bei Martin Opitz 329
genanntes Sterbebild des Conrad Celtis sein.38 Die Strategie des zu rhetorischen
Zwecken antizipierten Todes ist hier noch deutlicher formuliert:
Barths Epigramm vollzieht drei Metamorphosen: a) eine mediale (von der Schrift
über das Bild zur Stimme), b) eine gender-logische (vom Vater und »Fürsten« zur
Sirene) und c) eine zeitliche (von der Präsenz zum Präteritum). Während das Bild
den leibhaftigen Dichter zeigt, antizipiert die subscriptio seinen Tod. Die paulini-
sche Unterscheidung (2 Kor. 3,6): »littera enim occidit. spiritus autem vivificat«
38 Skowronek (Anm. 16), S. 43–46; Jörg Robert: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen
Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich.
Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit; 76), S. 497–509; Peter Luh: Kaiser Maximilian gewidmet. Die
unvollendete Werkausgabe des Conrad Celtis und ihre Holzschnitte. Frankfurt am Main 2001,
S. 282–312.
39 Bildquelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/30/Conrad-Celtis.jpg (Zugriff
am 25.4.2017).
330 Jörg Robert
(»der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig«) kehrt sich um:40 Denn (nur)
das tote Bild ist Ausdruck eines Lebens über den Tod hinaus – imago und imitatio.
2 »geschwiester Kinder«
Opitz’ imago lebt fort – auch nach dem Tod des Dichters, der das imaginierte
zum realen Epitaph werden lässt. Ein unbekannter Künstler hat das van der
Heyden’sche Epitaph im Auftrag des Nürnberger Kupferstichhändlers Paul
Fürst (1605–1666) vor 1655 nachgestochen (Abb. 4). Der Stich ist dem Nürnber-
ger Organisten Sigmund Theophil Staden (1607–1655) gewidmet. Die Grundkon
zeption bleibt bestehen. Das Bild zeigt Martin Opitz, der jetzt als »bedeutendster
Dichter Europas« apostrophiert wird, in einem ovalen Medaillon. Insgesamt wird
ein Bestreben nach amplificatio sichtbar: Die schlichte Betitelung des ovalen
Rahmens bei van der Heyden wird deutlich erweitert.
Die neu gefasste Umschrift hebt sowohl Opitz’ Stellung bei Hofe als auch
die in der europäischen respublica litterarum gebührend hervor: »NOBILISS.
[IMUS] EXCELL:[ENS] DN: [DOMINUS] MARTINUS OPITIUS, REGIAE MAIESTATIS
POLONIAE A CONSILIIS ET SECRETIS, OMNIUM EUROPAE POETARUM FACILE
PRINCEPS.« Dies spiegelt v. a. Opitz’ polnische Karriere nach 1636 wider: seine
Ernennung zum Hofhistoriographen und zum königlichen Sekretär (1636), zudem
im Rückblick die Dichterkrönung (1625) und die Nobilitierung (1627; »nobilis
Opitius«). Interessanterweise setzt auch die völlig neu verfasste subscriptio des
Hieronymus Ammon eine intermediale Pointe:
Das ist das gemalte Antlitz des edlen (adligen) Dichters Opitz
Die Gaben seines Geistes kann jedoch niemand malen.
(Übers. J. R.)
Im Epigramm klingt ein Topos des humanistischen Autorenbildes an: Das Bild
kann nur ein Abbild des Äußeren sein, während alle inneren Werte und Qualitä-
ten (»dona ingenii«) undarstellbar bleiben. Die Kunst liefert ein Bild des äußeren,
die Schrift das des inneren Menschen. Idealtypisch findet er sich bereits auf ver-
schiedenen Porträtstichen Dürers, etwa dem bekannten Porträt des Erasmus von
40 Peter Koch, Wulf Oesterreiche: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz: Mündlichkeit und
Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches
Jahrbuch 36 (1985), S. 15–43.
»geschwiester Kinder« – Bildtheorie und Paragone bei Martin Opitz 331
41
Rotterdam (Abb. 5).42 Die lateinisch-griechische Beischrift bietet eine Reflexion
über die Möglichkeiten und Grenzen der Malerei. Zunächst der lateinische Vor-
dersatz: »Imago Erasmi Roterodami ab Alberto Durero ad vivam effigiem deli-
niata«, das heißt: »Bildnis des Erasmus von Rotterdam, von Albrecht Dürer nach
dem Leben gezeichnet«. Dieser Stolz auf die gelungene Porträtähnlichkeit wird
im griechischen Nachsatz jedoch wieder zurückgenommen: »τὴν κρείττω τὰ
συγγράμματα δείξει« also: »Besser aber werden ihn seine Schriften zeigen«. Diese
41 Bildquelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/87/Martin_Opitz_F%C3%
BCrst_excud.jpg (Zugriff am 25.4.2017).
42 J. R.: Evidenz des Bildes, Transparenz des Stils. Erasmus und die Semiotik des Porträts. In:
Frank Büttner (Hg.): Die normierende Kraft des Bildes – die normierende Kraft von Bildern (Plu-
ralisierung & Autorität; 4). Münster u. a. 2004, S. 205–226; Rudolf Preimesberger: Albrecht Dürer:
Imago und effigies (1526). In: R. P., Hannah Baader, Nicola Suthor (Hgg.): Porträt. (Geschichte
der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren; 2). Darmstadt 2003, S. 228–
237; Walther Ludwig: Ein Porträt des Erasmus. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertums
wissenschaft, NF 27 (2003), S. 161–179.
332 Jörg Robert
Schriften wiederum sind im Vordergrund zu sehen. Dürer zeigt sie, wie sie uns
den ›wahren‹ Erasmus, sein ingenium, zeigen. Das Bild zeigt die Schrift, die Schrift
zeigt das Bild des Erasmus – d. h. das Bild seines Charakters und seines Genies.
Dürer bemächtigt sich der Schrift, indem er sie schon technisch (in Form der Bei-
schrift) in sein Medium, den Kupferstich, hinüber moduliert. Auf der anderen
Seite bemächtigen sich die Bücher und die Schrift des Bildraumes: Nur indem
Dürer uns die Bücher zeigt, zeigt er uns mehr von Erasmus, als er uns eigentlich
zeigen kann – Medienkombination wird zur Medienkonkurrenz, der Agon zum
Paragone.43 Das Bild scheint den humanistischen Geist der Schrift verinnerlicht
zu haben, so, wie es die Schrift – oder doch das Bild der Schrift – ins Innerste des
Bildes stellt. Dort, im Herzen des Bildes, ist die Schrift. Damit scheint das Bild einer
logozentrischen Unterscheidung von Körper und Geist, Stoff und Form zuzustim-
men, die den paragone der Künste bis Lessing bestimmen wird. Denkbar ist aber
auch eine konträre Lesart. Sie würde betonen, dass im intermedialen Spannungs-
raum des Porträts das Bildmedium die Grenzen der Sichtbarkeit und der Lesbarkeit
der Schrift bestimmt. Die Schrift ist – frei nach McLuhan – der Inhalt des Bildes.
Auch Opitz kannte den porträtskeptischen Topos; er greift ihn in einem
Enkomion auf den Maler-Freund Bartholomäus Strobel auf, entstanden wahr-
scheinlich während der gemeinsamen Breslauer Zeit.44 Sein Titel lautet: Über deß
berümbten Mahlers Herrn Bartholomei Strobels Kunstbuch:
43 Zum Paragone vgl. Eric Achermann: Das Prinzip des Vorrangs. Zur Bedeutung des Paragone
delle arti für die Entwicklung der Künste. In: Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkul-
tur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Berlin, New York 2011, S. 179–209; Ekkehard Mai, Kurt
Wettengl (Hgg.): Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. Wolfrats-
hausen 2002.
44 Es ist enthalten in der sogenannten Sammlung C der Deutschen Poemata (Breslau: Müller
1629). Schulz-Behrend datiert es in die Jahre 1626 bis 1629, in denen Opitz und Strobel in Breslau
freundschaftlich verbunden waren. Eine Beziehung zum späteren Porträt liegt also nicht vor.
Abdruck des Textes in: Martin Opitz: Die Werke von Ende 1626 bis 1630. Hg. von George Schulz-
Behrend. Stuttgart 1990. Bd. 4.2., S. 492–494 (Im Folgenden: MOGW). Seraina Plotke: Gereimte
Bilder. Visuelle Poesie im 17. Jahrhundert. München 2009, S. 115–117.
»geschwiester Kinder« – Bildtheorie und Paragone bei Martin Opitz 333
Opitz wendet die humanistisch-platonische Bildkritik in ein Lob des Malers, der
nicht nur den Körper, sondern auch Charakter und Wesensart eines Menschen
darzustellen vermag. Dabei gibt er diesem Lob eine bestimmte funktionale
Wendung. Opitz geht es nicht um die Darstellung des ingenium des porträtierten
Gelehrten. Die Malerei offenbart nicht nur die Vorzüge (wie »Güte und Gerech-
tigkeit«), sondern vor allem die sittlichen »Mängel« des Menschen. Porträtkunst
legt jene Affekte und Regungen bloß, die den neostoischen Idealen der constan-
tia und der tranquillitas animi widersprechen: Neben »Zorn/Rachgier« werden
»Unbestand«, »Angst« und ein »flüchtiges Gemüthe« erwähnt. Kunst wird zum
öffentlichen Instrument der ›guten Affekt-Polizey‹. Wenn sie entlarvt, »was für
thun ein Mensch im Schilde führ«, kann sie nachgerade der Kriminalprävention
zuarbeiten. Was zunächst wie ein Lob wirkt, enthält jedoch eine verdeckte Spitze:
Kunst wird erst dann zur Kunst, wenn sie sich transzendiert und – wie es heißt –
»mit ungefärbter Farb’« malt. Im Paradox treffen eigentliche und uneigentliche
Bedeutung des Wortes Farbe aufeinander. »Farbe« ist einerseits Medium der
Malerei als einer sinnlichen Kunst (im Gegensatz zum intelligiblen disegno), ande-
rerseits – im Begriff des »Schönfärbens« – ein Ausdruck der Verstellung, des fal-
schen rhetorischen Schmucks (colores rhetorici), der Lüge. Die Malerei ist »unge-
färbt«, d. h. schonungslos, aufrichtig und echt; sie dissimuliert nicht, sondern
enthüllt – als Medium der Hofkritik – die dissimulatio, paradoxerweise durch den
Einsatz von Farben.
Hieran schließt sich ein zweiter Topos an, der für die intermediale Selbst-
verständigung über Grenzen der Malerei und der Poesie in der Frühen Neuzeit
zentral ist. Es handelt sich um das berühmte ›Diktum des Simonides‹.46 Es ent-
stammt einer Schrift des Plutarch, die lateinisch oft mit dem Titel Bellone an pace
clariores fuerint Athenienses (»ob die Athener durch ihre zivilen oder kriegeri-
schen Leistungen mehr Ruhm verdienten«) wiedergegeben wird:47
Simonides nun nennt die Malerei eine schweigende Dichtung, die Dichtung aber eine
sprechende Malerei. Denn die Handlungen, welche die Maler in ihrem Vollzug schildern,
diese erzählen und beschreiben die literarischen Werke (logoi) wie vollzogene. Wenn nun
die einen Farben und Figuren, die anderen Wörter und Sätze verwenden, so unterscheiden
sie sich zwar im Material und Vorgehen, doch haben beide dasselbe Ziel, und der beste
Geschichtsschreiber imaginiert seine Erzählung wie ein Gemälde durch Leidenschaften
und Charaktere.
(Übers. J. R.)
Dass Opitz auch diesen Topos kennt, zeigt unser Gedicht an Bartholomäus
Strobel:
[…] es weiß auch fast ein Kindt /
Das dein’ vnd meine Kunst geschwiester Kinder sindt.
Wir schreiben auff Papier / jhr auff Papier vnd Leder /
Auff Holtz / Metall vnd Goldt. der Pinsel macht der Feder /
Die Feder wiederumb dem Pinsel alles nach.
Diß ists was hiebevor der Cheroneser [sc. Plutarch; J. R.] sprach /
Der mann dem Griechenlandt vnd Rom nicht kan bezahlen
Der Klugheit hohen werth; daß ewer edles mahlen
Poeterey die schweig’ / vnd die Poeterey
Ein redendes gemeld’ vnd bildt das lebe sey.48
46 Gabriele K. Sprigath: Das Dictum des Simonides: der Vergleich von Dichtung und Malerei. In:
Poetica 36 (2004), S. 243–280.
47 Plutarch 345C-351B, hier 346F. Plutarque: De Gloria Atheniensium. Ed. critique et commen-
tée. par. J. Cl. Thiolier. Paris 1985, hier S. 40.
48 Vgl. Martin Opitz: Ueber deß herühmten Mahlers Herrn Bartholomei Strobels Kunstbuch. In:
Martini Opitii Weltliche Poëmata. Der Ander Theil. Frankfurt 1644, S. 43.
»geschwiester Kinder« – Bildtheorie und Paragone bei Martin Opitz 335
49 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 33 Bde., Nachdruck München
1984, hier Bd. 5, Sp. 4006.
50 Jean H. Hagstrum: The Sister Arts: The Tradition of Literary Pictorialism and English Poetry
from Dryden to Gray. Chicago 1987; Gottfried Willems: Anschaulichkeit: Zu Theorie und Ge-
schichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989 (Stu-
dien zur deutschen Literatur; 103); W. Lee Rensselaer: Ut pictura Poesis. The humanistic theory
of painting. New York 1967.
51 Georg Philipp Harsdörffer: Kunstverständiger Discurs, von der Mahlerey. Nürnberg 1652. Hg.,
komm. und mit einem Nachwort von Michael Thimann. Heidelberg 2008, S. 17.
52 Ebd., S. 15.
53 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Studienausgabe. Hg. von Herbert Jaumann.
Stuttgart 2002, S. 52.
336 Jörg Robert
Die Bestimmung und Begabung zur Kunst adelt den Künstler – das natura-Argu-
ment schließt Dichter und bildenden Künstler ein. Diese Aufwertung der Malerei
wird jedoch unterlaufen durch eine Argumentation, die den Vergleich zur Kon-
kurrenz der Künste (aemulatio) überschreitet. Sieht man genau hin, erweist sich
nämlich die Dichtung als die überlegene Kunst. Schon das Diktum des Simoni-
des verteilt die Leistungen ungleich. Denn ist nicht eine »Poeterey die schweig’«
letztlich eine, die sich selbst negiert und ad absurdum führt? Ist nicht umgekehrt
die Dichtung die wahre Malerei, sofern es ihr gelingt, »ein redendes Gemäld’ und
Bild das Lebe [zu] seyn«, während der Malerei genau diese Qualitäten – Sprache,
Leben – fehlen? Die Lektion, die Strobel zwischen den Zeilen lernt, ist unmiss-
verständlich: Die Feder ahmt zwar dem Pinsel nach, wie es heißt, verleiht jedoch
den Dingen Sprache, Leben und Präsenz, wo das Gemälde nur mortifiziert.
Opitz’ Gedicht entwickelt eine komparative Medientheorie: Sein Begriff
von Dichtung wie sein Autorkonzept gehen stark vom Schrift-Steller und vom
Schreibvorgang aus. Nur so gelingt die Analogie. Während das Diktum des Simo-
nides geradezu die Ungleichheit der Künste nahelegt – hier belebte Rede, dort
totes Schweigen –, gelingt der Vergleich auf der Grundlage der Materialität des
Mediums: Pinsel und Feder, Schrift und Buch. Opitz fasst die Malerei als ein
Schreib- und Aufschreibsystem auf, das evolutionär der Literatur vorausgeht. Er
›propft‹ ihr die Qualität des eigenen Mediums auf: »Wir schreiben auff Papier /
ihr auff Papier und Leder«. Diese Argumentation ist zugleich widersprüchlich:
Obwohl die Dichtung »redendes Gemäld’« ist, scheint sie nur dort zu ihrer Bestim-
mung zu finden, wo sie schreibt, d. h. lebendige Rede im Buchstaben mortifiziert.
54 Wenn Opitz dem Dichter die »heißen Sinnen« zuweist, so nimmt dies die Longin-Referenz
der Poeterey auf, wonach die Dichter »εὐϕαντασιωτὸϛ« sein müssten. Ebd., S. 18; vgl. zudem
ebd., S. 19: »Denn ein Poete kan nicht schreiben wenn er wil / sondern wenn er kan / vnd jhn die
regung des Geistes welchen Ovidius vnnd andere vom Himmel her zuer kommen vermeinen /
treibet.«
»geschwiester Kinder« – Bildtheorie und Paragone bei Martin Opitz 337
Dies schafft ihr aber auch eine Unabhängigkeit gegenüber der Natur. Denn weiter
unten heißt es:
Malerei und Dichtung sind gleichermaßen in der Mimesis verankert. Hier wirkt
die aristotelische Tradition doppelt nach: Einerseits die Poetik mit ihren zahlrei-
chen Vergleichen zwischen Poesie und Malerei im allgemeinen Teil. Andererseits
die Aussage in der Physik (II, 8, 199a 15–17), dass Kunst bestrebt ist, »einerseits zu
vollenden, andererseits (das Naturgegebene) nachzuahmen«. Kunst kann Natur
supplementieren, indem sie das »von der Natur Liegengelassene« aufnimmt und
gewissermaßen ›einspringt‹ für die Natur, wo diese mögliche Erfindungen (noch)
nicht selbst hervorgebracht hat.55 Die Malerei scheint dabei doppelt im Vorteil:
Einerseits ist sie der Natur näher, weil sie sich, wie Dubos und nach ihm Lessing
feststellen werden, natürlicher, nicht künstlicher Zeichen bedient.56 Andererseits
aber ist gerade sie es, die Natur durch imitatio zu transzendieren vermag. In Opitz’
Strobel-Enkomion steht die Malerei in einem doppelten Paragone: Sie wetteifert
nicht nur mit der Dichtung, sondern mit der Natur als universaler Produktivkraft
selbst. Sie ist das Prinzip der Produktivität schlechthin, die Erz- und Urkünstle-
rin. Doch dieses Lob der Malerei wie der Natur ist ambivalent, und dies von zwei
Seiten. Zunächst, weil die Natur selbst eine ambivalente Instanz ist. Bei Opitz
gewinnt sie mythopoetisch die Konturen einer großen Mutter.57 Diese Figuration
55 Hans Blumenberg: »Nachahmung der Natur«. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen
Menschen. In: H. B. (Hg.): Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart
1981, S. 55–103, hier S. 55 f.; Arne Moritz (Hg.): Ars imitatur naturam: Transformationen eines
Paradigmas menschlicher Kreativität im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Münster 2010.
56 Jean-Baptiste Dubos: Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture. Premiére partie
(Section; 40). Paris 1719, S. 375: »La premiere [sc. raison; J. R.] est que la peinture agit sur nous
par le sens de la vûe: La seconde est que la peinture n’employe pas des signes artficiels ainsi que
le fait la poësie, mais bien des signes naturels«.
57 Vgl. dazu meine Überlegungen in J. R.: Martin Opitz: Vesuvius. In: Roland Borgards, Harald
Neumeyer, Nicolas Pethes u. a. (Hgg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch.
338 Jörg Robert
Weltliche Poemata 1644. Hg. von Erich Trunz. Ndr. Tübingen 1967, S. 43
Stuttgart 2013, S. 301–305; zum Naturbegriff Ralph Häfner: Naturae perdiscere mores. Natur-
recht und Naturgesetz in Martin Opitz’ wissenschaftlichem Gedicht ›Vesuvius‹. In: Zeitschrift für
Germanistik 19 (2009), S. 41–50; Claus Zittel: La terra trema. Unordnung als Thema und Form
im frühneuzeitlichen Katastrophengedicht (ausgehend von Martin Opitz, ›Vesuvius‹). In: Zeit-
sprünge 12 (2008), S. 385–427.
58 Zur Motivik vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter,
S. 116–137 (»Göttin Natur«).
59 Silvia Serena Tschopp: Die Grotte in Martin Opitz’ ›Schäfferey von der Nimfen Hercinie‹ als
Kreuzungspunkt bukolischer Diskurse. In: Thomas Borgstedt, Walter Schmitz (Hgg.): Martin
Opitz (1597–1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit; 63),
S. 236–249.
60 Hartmut Böhme: Geheime Macht im Schoß der Erde. Das Symbolfeld des Bergbaus zwischen
Sozialgeschichte und Psychohistorie. In: H. B. (Hg.): Natur und Subjekt. Frankfurt a. M. 1988 (es;
470), S. 67–144.
61 D. Martin Luthers Werke. Weimarer Ausgabe Band 3. Weimar 1885, 338a: »Der Teufel ist
»geschwiester Kinder« – Bildtheorie und Paragone bei Martin Opitz 339
Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedma-
ßen, von überallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so daß als Fisch
von häßlicher Schwärze endet das oben so reizende weib: könntet ihr da wohl, sobal man
euch zur Besichtigung zuließ, euch das Lachen verbeißen, Freunde? Glaubt mir, Pisonen,
solchem Gemälde wäre ein Buch ganz ähnlich, in dem man Gebilde, so nichtig wie Träume
von Kranken, erdichtet, so daß nicht Fuß und nicht Kopf derselben Gestalt zugehören.
Horaz, De arte poetica, v. 1–5. Q. H. Flaccus: Sämtliche Gedicht. Lat. und dt. Hg. von Bern-
hard Kytzler. Stuttgart 1992, S. 628 f.
Opitz gibt dem Bild der Chimäre eine doppelte Wendung: er positiviert schein-
bar das Horazische monstrum im Sinne einer produktiven Einbildungskraft, wie
sie etwa Montaigne in seinen Essais De la force de l’imagination oder De l’oisivité
beschrieben hatte.63 So gilt: »In der Geschichte der literarischen Phantasie wäre
vielleicht die Position von Opitz damit neu zu bestimmen«.64 Neben die Asso
ziation des Dämonischen tritt die des Materialismus. Der Maler hält es nicht nur
mit der Natur (im Sinne von natura naturans), sondern auch mit Epikur, bei dem
die Natur die Elemente zu immer neuen, kontingenten Formationen zusammen-
führt und wieder auflöst.65 Auf der anderen Seite bestreitet gerade die wichtigste
Quelle – Lukrez mit seinem Lehrgedicht De rerum natura – die Möglichkeit der
Bildung von Monstren und Chimären ausdrücklich,66 da diese nicht lebensfähig
seien. So bleibt das Lob der Malerei, die es der »Tausendkünstlerin« Natur gleich
tut, zwiespältig. Die Mimesis rückt in den Horizont ambivalenter Naturzuschrei-
bungen ein: treue Dienerin einer Natur, die selbst eine dämonische Instanz ist,
übersteigt die Malerei diese noch in der Produktion möglicher und unmöglicher
Wesen. Und gerade in dieser Produktion des Chimärischen, Grotesken und Hybri
den findet die Malerei zu ihrer eigentlichen Bestimmung. Die Malerei besitzt
ferner die göttliche Gabe der Ubiquität, d. h. »allenthalb sein [zu können]« (V. 30)
und – wie eingangs zitiert – die Fähigkeit, die Toten am Leben zu erhalten bzw.
wiederzuerwecken. Sie ist eine Art ästhetischer Nekyomantie:
63 Michel de Montaigne: Essais. 3 Bde. Hg. von Pierre Michel. Paris 1965. Bd. 1, S. 81–82 bzw.
Bd. 1, S. 160–171. Zur Rezeption der Horazischen Stelle vgl. Urte Helduser: Imaginationen des
Monströsen. Wissen, Literatur und Poetik der ›Missgeburt‹ (1600–1835). Göttingen 2016, S. 25–29.
64 Markus Fauser: Bild und Text bei Martin Opitz. Beschreibung und mentale Bilder in den Lie-
besgedichten. In: Thomas Borgstedt, Walter Schmitz (Hgg.): Martin Opitz (1597–1639). Nachah-
mungspoetik und Lebenswelt (Frühe Neuzeit; 63). Tübingen 2002, S. 123–153, hier S. 143.
65 Vielleicht ist konkret auch auf die Theorie der Simulacren angespielt. Lukrez: De rerum na-
tura, 4. Buch, v. 30–53. Schulz-Behrends Hinweis auf die Zwischenweltentheorie (intermundia)
passt dagegen weniger zur Stelle (Schulz-Behrend 1990 (Anm. 44), S. 492). Vgl. auch v, 878–881.
66 Lukrez De rerum natura 2, 700–710: »Nec tamen omnimodis conecti posse putandum est /
omnia.« (v. 700 f.). Titus Lucretius Carus: De rerum natura – Welt aus Atomen. Lat. u. dt. Übers.
und mit einem Nachwort hg. von Karl Büchner. Stuttgart 1973, S. 134 bzw. 135.
»geschwiester Kinder« – Bildtheorie und Paragone bei Martin Opitz 341
Die Malerei verwandelt – wie der Nekyomant Faust, der die schöne Helena
beschwört67 – das Tote ins (scheinhaft) Lebendige. Sie schafft materiale Trugbil-
der. Hieran schließt sich die bereits erwähnte Gabe an, die verborgenen Inten-
tionen der Menschen zu erforschen. Auch die polizeiliche Detektion dessen,
»was für thun ein Mensch im schilde führt« (v. 33), steht in der Fluchtlinie dieser
magischen Fähigkeiten, die hier in den Dienst einer Überwachungsphantasie der
guten ›Policey‹ gestellt wird.
Doch all dies ist nicht genug. Die Pointe des Gedichtes spitzt den doppelten
Paragone zu. Dem ars imitatur naturam stellt Opitz sein pictura imitatur poeticam
entgegen. Ziel der Malerei sei es nun nicht, die Natur zu transzendieren, sondern
das eigene Medium und seine Materialität. Hier nun verlagern sich eindeutig
die Gewichte zwischen den »geschwiester Kinder[n]«. Jetzt klärt sich der Titel
des Gedichtes auf. Das Enkomion auf Strobel gipfelt nicht im Lob seiner Kunst,
sondern im Lob seiner ars, seines »Kunstbuchs« also.68 Das Enkomion erweist
sich als exhortatio ad theoriam. Wie Opitz wenige Jahre vor unserem Gedicht mit
dem Buch von der Deutschen Poeterey so soll Strobel durch sein nicht erhaltenes,
wohl eher nie geschriebenes ›Kunstbuch‹ sein Malen auf ein theoretisches Funda-
ment von Regeln und Gesetzen bringen:
Daß aber dein gemüt’ auch durch ein Buch wil weisen
Des klugen pinsels Geist / wie soll ich dieses preisen?
Deß Menschen bildt vnd er sindt nur ein spiel der Zeit /
Die farb’ entfärbet sich; du suchst die ewigkeit /
Vnd hast auch diß erlernt vom Volcke der Poeten/
Daß Bücher für den rost / für Neidt vnd sterbensnöthen
Die besten ärzte sindt. wolan / so brich herfür /
Mahl’ ab dein mahlen selbst / laß deines pinsels Ziehr
Nicht immer Häusern nur vnd Fürsten Höfen stehen /
Sie soll auch durch das Hauß der liechten Sonnen gehen /
Vnd gläntzen neben jhr: dann eine solche Handt
Ist würdig daß sie sey durch alle Welt bekandt.
Das Finale rückt die Verhältnisse zurecht. Die Malerei mag die Vertraute der
Natur sein, als Kunst ist sie Schülerin der Poetik (»Vnd hast auch diß erlernt vom
67 Andreas Kraß: Ein sehr herrlich Gestalt eins Weibsbilds. Helena als Figur des Begehrens in
der Historia von D. Johann Fausten. In: Mireille Schnyder (Hg.): Schrift und Liebe in der Kultur
des Mittelalters. Berlin, New York 2008 (Trends in Medieval Philology; 13), S. 243–256.
68 Von ihm haben sich keine Spuren erhalten.
342 Jörg Robert
Volcke der Poeten«). Dies beruht auf zwei Argumenten: Dauer und (theoretische)
Durchdringung. Gefordert ist also der pictor doctus (»des klugen pinsels geist«),
der ein Buch von der deutschen Kunst vorlegt (vergleichbar etwa Dürers Trakta-
ten oder dem Schilder buch des Karel van Mander). Das konservatorische Argu-
ment wendet die vanitas-Thematik medienästhetisch: Das Buch ist universeller
und demokratischer, von der Materialität seines Mediums entkoppelter als die
Malerei, die der physischen Verderbnis ausgesetzt ist. Erst wenn die Hand-Arbeit
zum Geistes-Werk und Schrift-Stück wird, kann sie als Mal-Kunst Anerkennung
finden. Erst im Prozess der Selbstreflexion und Selbstregulierung nobilitiert sich
das Handwerk zur Kunst, gewinnt die Kunst Bestand und Ruhm (»ewigkeit«). Jetzt
enthüllt sich auch der Sinn des etwas umständlichen Eingangs (›Man fragt mich,
ob ich dich kenne‹). Vorerst kennt nämlich nur Opitz den Freund, »aller mahler
liecht«. Sein Ruhm ist erst noch zu erobern, und zwar dadurch, dass Strobel dem
Theoriebefehl des Poeten, der Verpflichtung auf Selbstreflexion und Selbstregu-
lation, nachkommt. Erst unter dieser Bedingung ist seine Hand »würdig daß sie
sey durch alle welt bekandt« (v. 62). Das Enkomion erweist sich somit als Wechsel
auf die Zukunft, ein Lobgedicht unter Vorbehalt und auf Kredit. Strobel muss sich
auf die grundlegende Priorität der Dichtung als durchregulierter – und regulie-
render! – Kunst einlassen. Aus ut pictura poesis wird am Ende ut poesis pictura.
Aus den Geschwisterkindern sind Lehrerin und Schülerin geworden.
Opitz’ Paragone der Künste zeigt, so könnte man resümieren, nur deren vor-
läufige Unvergleichbarkeit. Dichtung und Malerei stehen sich gegenüber wie Geist
und Natur, Wahrheit (res. Vernunft) und Betrug. Erst die Entkoppelung von der
(sichtbaren) Natur kann die Malerei zur Kunst machen. Malerei ist Handwerk, das
auf zweideutige Weise in Dämonie, Materialismus und Magie verstrickt ist. Diese
dämonischen Ursprünge müssen durch Regel und Gesetz exorziert werden. Erst in
der Schrift findet das Bild zu sich. Hier artikuliert sich eine Position im Paragone,
die dann Lessing aufnehmen wird: Die »Geistigkeit«69 der Dichtung siegt über
die »Dinglichkeit«70 der schönen Künste. Für Opitz ist der Buchstabe der Geist.
Erst als Meta-Kunst ist Malerei echte Kunst, nicht mehr nur magische Praxis und
Nekyomantie. Hinzu kommt die alte Verbindung von Farbe und Fleisch, Farbe
und Sterblichkeit: »Die Farb entfärbet sich«, während das Schwarz der Lettern
die reine Struktur und Logizität garantiert. Am Ende hat Opitz sowohl Horaz als
auch Simonides korrigiert. Die Gemeinsamkeit von Dichtung und Malerei besteht
69 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. Briefe, antiquarischen Inhalts. Hg. von Wilfried Barner.
Frankfurt a. M. 1990, S. 60.
70 David E. Wellbery: Lessing’s Laocoon: Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cam-
bridge 1984, S. 118, der von »thingness« und »the heaviness and coarseness of things them
selves« spricht.
»geschwiester Kinder« – Bildtheorie und Paragone bei Martin Opitz 343
weniger in der Mimesis und ihrer Reichweite als in ihrer Fähigkeit, sich selbst
Regeln zu geben. Diese Regeln jedoch sind immer Regeln der Schrift.
WEm seh’ ich / oder wer sieht mir vom bilde zu?
Hatt’s die Natur gemacht / Herr Strobel / oder du?
O Bildt! / o nicht ein Bildt! diß lieblich sehn / diß lachen /
Den Halß / diß Haar / den Mundt / kan diß der Pinsel machen?
Wo bleibet dann der Geist? das Antlitz ist allhier:
Der Geist sey wo er wil / das Mensch steht doch bey mir.
Es lebet / oder muß ja etwas in ihm leben/
Bist du Bildt oder Mensch? wilt du nicht Antwort geben?
Der Text steht in der langen Tradition ekphrastischer Epigramme, wie sie ins-
besondere die Anthologia Graeca überliefert.71 Auf welches Gemälde Strobels
angespielt wird, bleibt unklar. Dass es sich um ein Porträt (Brustbild) handelt,
wird dadurch nahe gelegt, dass die Ekphrasis nur das »Antlitz« und dessen Teile
anspricht. Deutlich sind die motivischen Analogien zum Strobel-Enkomion,
das nun in eine szenische Miniatur verwandelt wird. Die vollkommene Kunst
(Malerei) illudiert den Betrachter. Originell ist die Inszenierung des Topos. Sie
beruht auf der radikalen Subjektivierung der Perspektive. Der Leser nimmt an
einem inneren Monolog teil, der wiederum den Moment einer ästhetischen
Erfahrung reflektiert. Die Aussage scheint allzu offensichtlich: Vollkommene
Kunst hat die Fähigkeit, wieder Natur zu werden. Das Porträt der Dame substi-
tuiert diese selbst. Die Unterscheidung »Bildt oder Mensch« ist das Leitmotiv: In
Aristotelischer Tradition führt Bodmer in seinen Betrachtungen über die poeti-
schen Gemählde der Dichter (1741) das Vergnügen an den Künsten darauf zurück,
»daß sie das Gemüthe durch die Ähnlichkeit und die Uebereinstimmung ihrer
71 Irmgard Männlein-Robert: Stimme, Schrift und Bild. Zum Verhältnis der Künste in der helle-
nistischen Dichtung. Heidelberg 2007, S. 37–81.
344 Jörg Robert
Bilder mit den Urbildern zu erfreuen und zu ergezen suchen«.72 Der Gedanke der
Übereinstimmung von Bild und Urbild wird im Epigramm als Frage formuliert: In
Bodmers Logik sind beide immer schon klar voneinander getrennt. Der Vergleich
ruht auf dem sicheren Wissen, dass Bild Bild und Wirklichkeit Wirklichkeit bleibt.
Die Opitz’sche Pointe liegt dagegen in der Unentschiedenheit und Ambivalenz,
die zwischen beiden entsteht. Das Epigramm löst sie selbst nicht auf, im Gegen-
teil: Es beginnt und endet mit der Frage nach dem Status des Gesehenen und
erzeugt so auf doppelter Ebene das Gefühl der Unschlüssigkeit (»hésitation«),
das Todorov als Kennzeichen des Phantastischen identifiziert: »le fantastique,
c’est l’hésitation éprouvée par un être qui ne connait que les lois naturelles, face à
un événement en apparence surnaturel«.73 Eine solche ›Unschlüssigkeit‹ – »Bildt
oder Mensch« – liegt auch im Epigramm vor. Sie stellt sich einerseits auf der
Ebene des Bildbetrachters im Text (Beobachtung erster Ordnung), andererseits
auf der Ebene des Lesers (Beobachtung zweiter Ordnung) ein. Das Phantastische
entsteht in der Kombination beider Unschlüssigkeiten. Es impliziert »une intégra-
tion du lecteur au monde des personnages. Il se définit par la perception ambiguë
qu’a le lecteur même des événements rapportés«.74 Die Berechtigung dieser Defi-
nition zeigt das Epigramm: Sein Kern ist eine Beobachtung zweiter Ordnung:
Während der Sprecher (und Beobachter) am Status des Bildes zweifelt, zweifelt
der Leser am Status der Beobachtung des Sprechers. Aus dieser Potenzierung der
›hésitation(s)‹ ergibt sich der besondere Effekt des Textes, der Faszination und
Unbehagen am Bild verbindet. Er fokussiert kein reales Bild mehr, sondern ein
Wahn- und Trugbild, das Ergebnis einer affektiv motivierten Perzeptionsstörung
des Beobachters/Sprechers.
Das Fantastische – könnte man sagen – resultiert hier aus der Interferenz von
Ästhetik und Erotik. Der Sprecher schildert ein Wahrnehmungsexperiment am
eigenen Körper bzw. Auge. Dabei kreuzen sich der Blick des Betrachters und der
Blick aus dem Bild. Der Blick aus dem Bild ist eine Bildkonfiguration, die »mit der
72 Johannes Jacob Bodmer: Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter. Frank-
furt a. M. 1741, S. 27. Diese im Kern rationalistische Kognitions- und Lerntheorie der ästhetischen
Erfahrung geht von Aristoteles aus, der im vierten Kapitel der Poetik auf den Grund des Vergnü-
gens an der Kunst zu sprechen kommt: »Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes
Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen (diese haben freilich nur
wenig Anteil daran). Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern, weil sie beim
Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei, z. B. daß diese Gestalt den
und den darstelle.« Aristoteles: Poetik. Gr. und dt. übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann.
Stuttgart 1982 (bibliogr. ergänzt 2008), S. 11–13.
73 Tzvetan Todorov: Introduction à la littérature fantastique. Paris 1970, S. 29 f.
74 Ebd., S. 35.
»geschwiester Kinder« – Bildtheorie und Paragone bei Martin Opitz 345
ästhetischen Grenze illusionistisch spielt und die Trennung von Kunst und Wirk-
lichkeit versucherisch in Frage stellt«.75 Die Belebung des Bildes verdankt sich
dem pygmalionischen Effekt, dem Blick des Begehrens, das unheimliche Züge
trägt. Das Leben des Bildes ist ein geliehenes, es beruht auf Projektion. Malerei
enthüllt also nicht nur Triebe – siehe das Gedicht an Strobel – es befördert diese
auch. Der Blick des Betrachters dringt gerade nicht auf den »Geist« der Darge-
stellten, sondern tastet beobachtend deren Antlitz ab. In der bekannten Logik
der enumeratio partium zerfällt ein Gesicht in disiecta membra. Die correctio (»O
Bildt! / o nicht ein Bildt!«) vollzieht performativ die Verwandlung des toten Bildes
in ein Phantasma des Begehrens. Der Maler wird zum ›pictor creator‹. Das Verb
»machen« in der Frage: »Den Halß / diß Haar / den Mundt / kan diß der Pinsel
machen?« ist im starken Sinn des englischen to make oder des griechischen
poiein als schöpferischer Akt gemeint.
Doch auch hier wirkt die Dichotomie von Geist und Körper, der porträtskep-
tische Topos. Die Frage »Wo bleibet dann der Geist« verweist auf die Grenzen der
Malerei; das Enkomion hatte Strobel noch die Fähigkeit attestiert, auch diesen
Geist und die Wesensart der Dargestellten zu erfassen. Hier geht es um Anderes.
Der Geist wird sogleich für irrelevant erklärt (»Der Geist sey wo er wil«); was den
männlichen Betrachter anzieht und bewegt, ist die schiere körperliche Präsenz
der Figur (»das Mensch«). Namen, Stellung und Herkunft der Dargestellten
interessieren nicht. Auch von ›interesselosem Wohlgefallen‹ ist nicht die Rede,
sondern von einer physischen Attraktion, die zur Verstrickung in die Illusion der
Präsenz führt. Die abgebildete Dame ist ein simulacrum, wie die schöne Helena in
der Historia von D. Johann Fausten, die als eine Art 3D-Hologramm das Begehren
von Fausti Studenten entzündet – bis Faust dem Ansinnen nachgibt, von ihr ein
autorisiertes Porträt anzufertigen.76 Lebensechte, veristische Kunst steht im Ver-
dacht Teufelsspuk zu sein. Hier und am Enkomion auf Strobel zeigt sich die enge
Verflechtung von ästhetischen und magischen Diskursen: Begriffe wie Faszina-
tion, Illusion/Täuschung oder Suggestion werden um 1600 im dämonologischen
geprägt und wandern sukzessive in den ästhetisch-literarischen Kontext ein.77
Noch fünfzig Jahre nach Faust und Helena ist Malerei im Verruf, eine »Tausend-
künstlerinn« zu sein, die mit magischen Praktiken Leben gewinnt. Im Horizont
der Dämonologie gewinnt die evidentia-Lehre magische Formen. Das Epigramm
75 Alfred Neumeyer: Der Blick aus dem Bilde. Berlin 1964, S. 11.
76 Jörg Robert: Dämonie der Technik – Die Medien des D. Johann Fausten. In: Kirsten Dickhaut
(Hg.): Kunst der Täuschung – Art of Deception: Über Status und Bedeutung von ästhetischer und
dämonischer Illusion in der Frühen Neuzeit (1400–1700) in Italien und Frankreich. Wiesbaden
2016 (culturae; 13), S. 373–396.
77 Vgl. dazu die Beiträge des in Anm. 76 zitierten Sammelbandes.
346 Jörg Robert
leuchtet den Zusammenhang von Bild und Begehren, Malerei und Magie aus.
Die sinnliche Kraft des Bildes ist so groß, dass es leicht die rationalistische Frage
nach dem fehlenden Geist überwindet. Der pygmalionische Blick ist zugleich ein
nekyomantischer. Vom Maler angezettelt, belebt er das Bild, schafft sich einen
imaginären Sukkubus, der unentschieden zwischen Leben und Tod steht. Die
abgebildete Dame ist weder lebendig noch tot, sondern ein Zwischenwesen, das
die Malerei als praktische Magie beschwört und festhält. Der Betrachter unter-
liegt der Macht der Immersion, der Suggestion der Präsenz. Das Bild stimuliert
seine Einbildungskraft, die wiederum das Bild belebt.
Das Gedicht zeigt auf diese Weise – gleichsam im poetisch-ästhetischen
Selbstversuch – den magischen Grund der Malerei. Dass hier Aspekte einer all-
gemeinen Bildkritik und Bilddiätetik verhandelt werden, die einerseits aus den
Debatten um das sakrale Bild, andererseits aus dem dämonologischen Diskurs
gewonnen werden, scheint unabweisbar. Opitz ist ein faszinierter Bildskeptiker,
der die magische Identität des Bildes mit dem Abgebildeten einerseits preist,
andererseits fürchtet. Das Gedicht zeigt die Macht der Malerei und votiert im
Umkehrschluss für ihre Desillusionierung, ihre Domestizierung durch den logos.
Die Malerei muss ihre sinnliche Präsenz ablegen, sie muss sich ›entfärben‹, selbst
reflektieren und völlig in Schrift übergehen (wozu sie evolutionär disponiert ist),
um sich zu ent-dämonisieren und zur Technik zu reifen. Erst ihre innere Regula-
rität und Rationalität sichert den Abstand von der bloßen Magie, der reinen Illu-
sion, die Surrogate und Sukkuben statt Kunst schafft. Die Frage nach dem Prinzip
des Lebens (»wo bleibet dann der Geist?«) wiederum zeigt Opitz’ Zugehörigkeit
zum cartesischen Zeitalter, das res extensa und res cogitans, Geist und Materie,
auseinanderfallen lässt. Opitz’ Ekphrasis gibt der Topik des lebenden Bildes
damit eine ganz neue Wendung oder Tönung: Im Streiflicht auf einen Moment der
»Zeichenvergessenheit«78 und der Bildverfallenheit kündigt sich ein Unbehagen
am Bild an, wie es in den romantischen Puppen, Automaten und Marmorbildern
wiederkehren wird.79
1 Vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Vorrede. Bestehend in 50. Lehrsätzen / von der Sinnbild-Kunst
[Vorrede zu Neue Zugabe: Bestehend in C. Sinnbildern, in Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher
Mord-Geschichte; 1649]. In: ders.: Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte. Beige-
bunden ist: Neue Zugabe: Bestehend in C. Sinnbildern. Reprint der Ausgaben von 1656. Hildes-
heim, New York 1975, S. 3–10.
2 Albrecht Schöne, Artur Henkel (Hgg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und
XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1967.
3 Vgl. z. B. Christel Meier, Uwe Ruberg (Hgg.): Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens
zweier Künste in Mittelalter und Früher Neuzeit. Wiesbaden 1980; Carsten-Peter Warncke: Spre-
chende Bilder – sichtbare Worte. Das Bildverständnis in der frühen Neuzeit. Wiesbaden 1987
(Wolfenbütteler Forschungen; 33); sowie Wolfgang Harms (Hg.): Text und Bild, Bild und Text.
DFG-Symposium 1988. Stuttgart 1990 (Germanistische Symposien Berichtsbände; 11).
4 Vgl. Ingrid Höpel: Harsdörffers Theorie und Praxis des dreiständigen Emblems. In: Italo Mi-
chele Battafarano (Hg.): Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Ge-
lehrter. Bern u. a. 1991 (Forschungen zur europäischen Kultur; 1), S. 195–234; Bettina Bannasch:
Von der ›Tunkelheit‹ der Bilder. Das Emblem als Gegenstand der Meditation bei Harsdörffer. In:
Gerhard Kurz (Hg.): Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2000, S. 307–
325 sowie die Beiträge von Doris Gerstl, John Roger Paas, Mara R. Wade und Rosmarie Zeller in
DOI 10.1515/9783110521788-017
348 Stefanie Stockhorst
Doris Gerstl (Hg.): Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Nürnberg 2005 (Schriftenreihe der
Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg; 10).
5 Andreas Herz: Der Hase des Zeuxis: Von Sandrart über Birken zu Harsdörffer. Harsdörffers
unbekannter »Discurs Von der edlen Mahlerey«. In: Daphnis 25 (1996), S. 387–422; eine Zusam-
menschau von Harsdörffers wichtigsten Argumenten bietet Barbara Becker-Cantarino: Ut pic-
tura poesis? Zu Harsdörffers Theorie der »Bildkunst«. In: Gerstl (Anm. 4), S. 9–21.
6 Georg Philipp Harsdörffer: Kunstverständiger Discurs, von der edlen Mahlerey. Nürnberg 1652.
Hg., komm. u. mit einem Nachw. versehen von Michael Thimann. Heidelberg 2008 (Texte zur
Wissensgeschichte der Kunst; 1).
7 Kunstbüchlein Von der RADIER- und Etzkunst / Wie man nemlich mit Scheidwasser in Kupffer
etzen / das Scheid- oder Etzwasser / wie auch den harten und weichen Etzgrund machen solle /
beneben Kurzter Beschreibung / wie man die Kupffer-Platten abdrucken / die Truckerpreße ma-
chen / und was sonsten bey dieser Kunst nöthig zu wissen / in acht nehmen solle. Erstmahls
durch A. BOSSE, Kupferstecher zu Pariß / in Französischer Sprach beschrieben / Anjetzo aber
uff begehren vieler Liebhaber ins Teutsche befördert Durch GEORG-ANDREAM Böckler / Ingeni-
eur. Diesem ist angefüget worden ein Kunstverständiger Discurs von der edlen Mahlerey / durch
einen vnbenenneten Autorem. Nürnberg 1652.
8 Vgl. den ausführlichen Nachweis auf verschiedenen Ebenen bei Herz (Anm. 5), bes. S. 394–399.
9 Vgl. den richtungweisenden Sammelband von Michael Thimann, Claus Zittel (Hgg.): Georg
Philipp Harsdörffers »Kunstverständige Discurse«. Beiträge zu Kunst, Literatur und Wissen-
schaft in der Frühen Neuzeit. Heidelberg 2010.
10 Herz (Anm. 5), S. 390.
11 Nicola Kaminski: »ut pictura poesis«? Arbeit am Topos in Georg Philipp Harsdörffers Seele-
wig. In: Miroslawa Czarnecka, Thomas Borgstedt, Tomasz Jablecki (Hgg.): Frühneuzeitliche Ste-
reotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster. Bern 2010 (Jahrbuch
für Internationale Germanistik, Reihe A; 99), S. 367–397, hier S. 371.
Text und Bild bei Harsdörffer: Vom Paragone zur synästhetischen Animation 349
12 Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Hg. von Irmgard Böttcher. VIII
Tle. Tübingen 1968–69 (Deutsche Neudrucke; Reihe Barock; 13–20).
13 Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst / ohne
Behuf der Lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugießen. Reprint Hildesheim/New York
1971 [drei Teile in einem Band; die fehlerhafte Paginierung wurde beibehalten].
14 Vgl. Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. 3. Aufl., München 1993
[zuerst 1964], S. 206 f.
15 Herz (Anm. 5), S. 408.
16 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. V, S. 118.
350 Stefanie Stockhorst
seine Kunst erstudiren muß; also bedienet sich der Poet der Natur selbsten […]«.17
Als Ideal der Nachahmung klingt immer wieder die täuschende Echtheit an,
infolge derer man »fast darzu zuschreiben nötig hat / es sey Gemähl und nicht
die Sache selbsten«.18 Bei der vollkommenen Sinnestäuschung durch die Kunst
handelt es sich freilich um einen Topos. Über jahrhundertelange Nachahmungs-
diskurse hinweg – und nicht zuletzt auch bei Harsdörffer selbst19 – wurde er in
der Anekdote von Zeuxis veranschaulicht, der im Wettstreit mit Parrhasius derart
natürlich wirkende Trauben gemalt haben soll, dass die Vögel daran zu picken
versuchten (Plinius, Naturalis Historia XXXV, 64–66). Nicht von ungefähr also
führt der folgende Leitsatz, der in seiner Unterscheidung der Poesie als geistiger
Kunst von der handwerklichen Malerei eine gewisse Voreingenommenheit zeigt,
die Künste in ihrer illusionistischen Wirkung zusammen: »Die Mahlkunst ist ein
beliebter Betruge des von künstlicher Hand geführten Pinsels / und gleichwie die
Poeten ihre Entzuckungen in dem Haubte leiden; Also haben selbe Mahler in den
Händen«.20 An anderer Stelle heißt es prägnanter: »Jm Ende sind die Mahler und
Poeten die besten Betrüger«.21
Während zeitgenössische Text-Bild-Debatten oftmals von dem notorisch
missverstandenen22 Horazischen Diktum des »ut pictura poesis« ausgehen, greift
Harsdörffer vorzugsweise auf einen anderen Gemeinplatz antiken Ursprungs
zurück. Es handelt sich dabei um die in ihrer chiastischen Wendung recht ein-
gängige Vorstellung vom Gedicht als redendem Bild (pictura loquens) und der
Malerei als schweigender bzw. schweigsamer Poesie (poema tacens/tacitum), die
bei Plutarch einmal im expliziten Rekurs auf Simonides und einmal als allge-
meine Ansicht belegt ist.23 Bei Harsdörffer liest man entsprechend im Poetischen
Trichter:
Es wird die Poëterey ein redendes Gemähl / das Gemähl aber eine stumme Poëterey genen-
net / nicht nur wegen der Freyheit dieser verbrüderten und verschwesterten Kunste / in
dem wir nach beliebten Einfällen / Reden im Gemähl und Mahlen in der Rede; sondern
auch wegen der Bilde welche mit Kunstartiger Zierlichkeit dardurch vorstellig gemacht
werden / deßwegen auch die Redner und Poëten sich der Personenbildung vielfältig
gebrauchen […].24
Nach dieser Denkfigur erscheinen Dichtkunst und Malerei zwar als ebenbür-
tig, aber in den deutschsprachigen Formulierungen der barocken Dramen- und
Emblematiktheorie wird die Malerei meistens nicht als ›schweigend‹, sondern als
›stumm‹ und damit als unterlegen bezeichnet.25 Peter Hess bemerkte zu Recht,
dass der lateinische Chiasmus nur eine »oberflächliche Ähnlichkeit«26 aufweise,
was Nicola Kaminski dahingehend präzisierte, dass Harsdörffer zum einen sein
»binäres Differenzkriterium (›redend‹ versus ›nicht redend‹) einseitig aus dem
Repertoire der Wortkunst« gewinne und die Bildkunst sich zum anderen »nicht
nur als ›schweigend‹ erfahren müsse, sondern in der Rolle der ›stummen[n] Poë-
terey‹ als defizitär, verstümmelt, des Sprachvermögens beraubt«.27 Dieser Proble
matik begegnet Harsdörffer in den Gesprächspielen mit einer spitzbübischen
Erzählung, die er der Figur des Vespasian in den Mund legt:
Als es wird von dem Mahler erfordert List und Verschlagenheit / wie aus folgendem Exempel
zu beweisen: Es mahlten ihrer zween üm das Meisterstück / der erst fertiget ein so natür-
liches Bildniß / daß alle / so selbe anschaueten / bekennen musten / es ermangele daran
nichts anders / als die Rede. Der ander aber hat auch ein Brustbild hervorgebracht / und /
damit demselben ohne Entschuldigung die Rede nicht mangeln könte / hat er es mit einem
Becher in der Hand trinckend gemahlet.28
finges«30 dem Maler gleichzustellen. Eine verbindliche Festlegung der Poesie auf
das Malen in Worten kann indes aus Harsdörffers Anspielung schwerlich abge-
leitet werden. Im Gegenteil – im Discurs wird als tertium comparationis beider
Künste nicht das pingere, sondern eben doch das fingere herausgestellt, was in
der frühneuzeitlichen Theorie der Künste keineswegs unüblich ist.31 So zitiert
Harsdörffer dort den nachstehenden Ausspruch des Horaz, den er allerdings irr-
tümlich Ovid zuschreibt:32 »Der Erfindung nach / ist die Mahlerey befreundet
mit der Poeterey / daher Ovidius saget: Der Mahler und Poet hat gleiche Macht
zu dichten«.33 Die Ausdrucksmittel beider Künste erachtet er dabei jedoch, so
heißt es wiederum in den Gesprächspielen, für materiell verschieden: »Was dem
Poeten die Wort sind / das sind dem Mahler die Farben: Jedes mit Verstand / an
gehörigen Orten aufzutragen / ist Lobwürdig«.34
30 Im Zusammenhang: »Annuimus. pinges non finges ampliùs, inquit. Carmen enim mox fiet
Imago.« (Iacobi Balde e Societate Iesv Sylvæ Lyricæ. Ed. 2. auctior et emendatior. Köln 1646,
S. 117). Vgl. auch Spolia Vetustatis. Die Verwandlung der heidnisch-antiken Tradition in Jakob
Baldes marianischen Wallfahrten: Parthenia, Silvae II Nr. 3 (1643). Eingel., hg., übers. u. erl. von
Andreas Heider. München 1999 (Münchner Balde-Studien; 1), S. 184.
31 Vgl. Ulrich Pfisterer: Künstlerische ›potestas audendi‹ und ›licentia‹ im Quattrocento. Be-
nozzo Gozzoli, Andrea Mantegna, Bertoldo di Giovanni. In: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca
Hertziana 31 (1996), S. 107–147.
32 Vgl. Thimann, Kommentar, in: Harsdöffer, Discurs, S. 56. – Der entsprechende Passus bei
Horaz lautet: »pictoribus atque poetis / quidlibet audendi semper fuit aequa potestas.« (Quintus
Horatius Flaccus, Ars Poetica, V. 9 f. [S. 4]).
33 Harsdörffer (Anm. 6), S. 16.
34 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. V, S. 143.
35 Vgl. Christiane J. Hessler: Maler und Bildhauer im sophistischen Tauziehen. Der Paragone in
der italienischen Kunstliteratur des 16. Jahrhunderts. In: Ekkehard Mai, Kurt Wettengel (Hgg.):
Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. Wolfratshausen u. a. 2002,
S. 82–97.
Text und Bild bei Harsdörffer: Vom Paragone zur synästhetischen Animation 353
weise behaupteten Vorrang wurden dabei neben den erforderlichen Kosten und
Mühen sowie die vermöge der jeweiligen Disziplinen zu stiftende künstlerische
Reputation insbesondere die Theoriefähigkeit, d. h. die Rückführbarkeit auf Prin-
zipien geltend gemacht, nicht zuletzt, um die bildenden Künste aus den artes
mechanicae in den Rang der artes liberales zu erheben.36 Bei Harsdörffer wird
im Gegensatz dazu der geistige Ursprung aller Künste behauptet, wenn es in den
Gesprächspielen heißt:
Viel achten die Sinnreiche Erfindung höher als die Handarbeit: Dann / gleichwie keiner
kein Poet zu nennen / der nichts erdichten / kein Musicus / der nur singen und Lieder
abschreiben / aber nichts auß seinem Kopf aufsetzen kan: So ist auch der kein Mahler /
der die Dichtkunst nie studieret / und alle Stellungen von Gemählen oder Kupferstükken
absehen muß.37
Ruft Harsdörffer hier mit der ›Erfindung‹ bereits das rhetorische officium der
inventio auf, so erfolgt im Discurs eine weitergehende Rhetorisierung38 der Malerei
in der folgenden Auflistung von Grundvoraussetzungen:
Diese Zusammenstellung, bei der es sich möglicherweise um eine sehr freie Para-
phrase nach Étienne Binets Essay des merveilles de nature, et des plus nobles arti-
fices (1636) handelt,40 findet sich mit leichten Abwandlungen insgesamt nicht
weniger als vier Mal in Harsdörffers Œuvre, neben der zitierten Passage auch an
zwei Stellen in den Gesprächspielen sowie in den Mathematischen und Philoso-
36 Vgl. die Übersicht bei Ulrich Pfisterer: Art. ›Paragone‹. In: Historisches Wörterbuch der Rhe-
torik. Hg. von Gert Ueding. Bd. VI. Tübingen 2003, Sp. 528–546, bes. Sp. 529 f.
37 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. V, S. 119 f.
38 Auf deren Verankerung in der kunsttheoretischen Tradition verweist Becker-Cantarino
(Anm. 5), S. 16.
39 Harsdörffer (Anm. 6), S. 20.
40 Harsdörffers Verweis auf De pictura veterum (1637) des Franciscus Junius in der Marginalie
zu den Gesprächspielen (Bd. VIII, S. 207) ist offenbar nicht als Quellenangabe zu verstehen (vgl.
Thimann, Kommentar, in: Harsdöffer, Anm. 6, S. 64).
354 Stefanie Stockhorst
41 Vgl. Georg Philipp Harsdörffer [Bd. 2 u. 3]/Georg Daniel Schwenter [Bd. 1]: Deliciae physico-
mathematicae oder mathematische und philosophische Erquickstunden. Neudruck. Hg. und
eingel. von Jörg Jochen Berns. Frankfurt a. M. 1990/91 (Texte der Frühen Neuzeit; 3/1–3), Bd. III,
S. 262; sowie Harsdörffer (Anm. 12), Bd. V, S. 119 u. Bd. VIII, S. 207.
42 Vgl. Eric Achermann: Das Prinzip des Vorrangs. In: Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der
Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Berlin, New York 2011, S. 179–209, hier
S. 195.
43 Vgl. ebd., S. 199–200.
44 Ebd., S. 198–199
45 Eine explizite Auseinandersetzung mit frühneuzeitlichen disegno-Theorien findet indes
nicht statt (vgl. Thimann, Kommentar, in: Harsdöffer, Anm. 6, S. 99).
46 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. V, S. 132.
Text und Bild bei Harsdörffer: Vom Paragone zur synästhetischen Animation 355
Das Angesicht ist weiß wie der Schnee / die Lefftzen Corallenzincken / die Zähn Perlen /
auf beiden Wangen Lilien und Rosen / an statt der Augen zwo Sonnen / welche Pfeil und
Flammen von sich stralen / die Augenbraun sind zween Bögen von Ebenholtz / die Stirn
gläntzend wie das Eiß / und auf derselben Cupido in seinem Thron sitzend / die Haar theils
als güldene Ketten / theils als Netze und Garn / in welchen die Hertzen der Verliebten
bestricket zu sehen / beide Brüste aber sollen die Himmel vnd Erdkugel bemerken.49
Die zweifelhafte Güte der poetischen Metaphern wird durch eine spöttelnde
Bemerkung Degenwerts unterstrichen: »Wann aber dieser Cupido / als ein unfle-
tiges und schwaches Kind / solte auf der Stirn glitschen / und sich auf die Nasen
herablassen / solte die Sach wohl gefährlich seyn«.50 Spätestens die bildliche
Umsetzung zeigt, dass das Experiment zu Lasten beider Künste ausgeht und letzt-
lich nicht ganz ernstgemeint ist (Abb. 1).
Gleichwohl lohnt es sich, die Frage nach der Leistungsfähigkeit der Künste
genauer zu verfolgen. Denn nur vordergründig erscheinen Poesie und Malerei bei
medialer Verschiedenheit (»Was dem Poeten die Wort sind / das sind dem Mahler
die Farben […]«.51) in ihren Darstellungsmöglichkeiten als ebenbürtig, wenn es
z. B. heißt: »Der Poet handelt von allen und ieden Sachen / die ihm vorkommen /
wie der Mahler alles / was er sihet / bildet […]«.52 Oder auch: »Man kan also mit
den Bildern zu verstehen geben / alles / was man sonst mit Worten ausdruk-
ket […]«.53 Desgleichen wird der Medienwechsel zumindest von der bildenden
Kunst in die Poesie nicht grundsätzlich als Problem aufgefasst: »Nichts ist aber
mit so natürlichen Farben ausgemahlet / oder in Gibs / Holtz und Stein nach dem
Leben gebildet / daß man nicht mit mehr eigentlichen Worten solte ausdrukken
können«.54
Weitere Belege finden sich in den Gesprächspielen, etwa: »[D]er Mahler und der
Poet haben gleiche Arbeit / indem ein jeder sein Bild auszieret und jener das
Aug / dieser das Ohr / belustiget […].«57 Mit derselben Stoßrichtung, aber etwas
ausführlicher liest man auch:
Die Wort betreffen das Gehör / wie das Gemähl das Gesicht: jenes hab ich den Sinn der
Vnterrichtung / diesen den Sinn der Erfindung nennen hören: Beyde aber belustigen sich
in der Vbung / und wird das Ohr nicht ermüdet in Anhörung wolgesungener Gedichte /
noch das Aug in Beschauung künstlicher Schildereyen; Daher ist allen Menschen die Nacht
beschwerlich / weil sie still und schwartz ist / daß noch das Gehör noch das Gesicht sich in
gemässer Beübung erlustigen kan.58
Indem Harsdörffer die spezifische Medialität der Künste an der sinnlichen Wahr-
nehmung, also im Wortsinne an der Ästhetik festmacht, stellt er zunächst einmal
eine Vergleichbarkeit über den sensualistischen Reiz her, der gleichermaßen von
ihnen ausgeht, einmal für das Auge, einmal für das Ohr. Darüber hinaus war
es traditionell üblich, die Reichweite der Sinne als Argument für die Rangfolge
der Künste zu bemühen.59 Demnach müsste die Malerei der Poesie übergeord-
net sein, sofern man letztere nicht als geistige, sondern – wie Harsdörffer – als
akustische Kunst begreift. Harsdörffer deutet zwar eine Beschränkung der Künste
nach Maßgabe der angesprochenen Sinne an, gelangt darüber jedoch zu der
recht kuriosen Schlussfolgerung, die Malerei mit der Astrologie gleichstellen zu
wollen:
Alle andere Sinne erheischen Ziel und Maas / als das Gehör erfordert / daß die Stimme nicht
zu nahe sey meinen Ohren und nicht zu ferne; der Geruch / der Geschmak und die Fühlung
deßgleichen. Das Gesicht allein erstrekket sich auch zu dem Abwesenden ja biß an den
Himmel. Mit Recht solte deswegen die Kunst der Mahlerey neben der Sternkündigung ihren
Ehrensitz haben / als welche noch viel beweißlicher als jene ist […].60
In: Stefan Keppler-Tasaki, Ursula Kocher (Hgg.): Georg Philipp Harsdörffers Universalität. Bei-
träge zu einem uomo universale des Barock. Berlin 2011 (Frühe Neuzeit; 158), S. 213–235.
62 Ebd., S. 397.
63 Ebd., S. 393–394.
64 Diese komplexe Konstellation verdient eine gesonderte Untersuchung, wie sie Wolf Ger-
hard Schmidt vornimmt: Harmonikalität und Inkommensurabilität als Komplemente barocken
Systemdenkens. Zur Integralästhetik von Harsdörffers ›Frauenzimmer Gesprächspielen‹ [1641–
1649]. In: DVjs 86 [2012]. H. 4, S. 483–531.
65 Harsdörffer (Anm. 6), S. 17.
66 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie
[1766]. In: ders.: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert in Zusammenarb. m. Karl Eibl, Helmut Göbel,
Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schirnding u. Jörg Schönert. 8 Bde., München 1970–1979,
Bd. VI, S. 102 f.
67 Harsdörffer (Anm. 6), S. 17.
68 Ebd.
Text und Bild bei Harsdörffer: Vom Paragone zur synästhetischen Animation 359
Nicht alle Bildungen lassen sich wohl mahlen / oder sind aus dem Gemähl deutlich zu ver-
stehen / ohne Beyschrift: Als / wann ich die bösen / und nicht hafftenden Gedanken bilden
wolte / durch einen Mann / der seine Kinder an einem Stein zerschmeisst / das lässt sich
besser sagen / als mahlen / daß man die Meinung daraus vernehmen könte.70
Zum anderen verstoße die allzu explizite atrocitas gegen den guten Geschmack,
wie folgender Empfehlung für die Dramatik aus dem Poetischen Trichter zu ent-
nehmen ist: »[G]rausame Marter und Pein so die Henkerbuben verüben / werden
auf den Schauplätzen nicht gesehen / sondern von den Botten oder auch der
Geplagten Angehörigen und Freunden erzehlet«.71 Außerdem sieht Harsdörf-
fer die Grenzen der einzelnen Künste nicht nur in ihrer Medialität, sondern
auch in der Begabung der Künstler, was er im Discurs mit einer Beschreibung
des berühmten Schlüsselemblems aus den Zincgrefschen Emblematum ethico-
politicorum centuria (EA 1619) illustriert, dessen Inschrift, »Non omnia possumus
omnes.« er zusätzlich auf Deutsch anführt, um jegliche Sprachdistanz auszuräu-
men: »Alles kann ein jeder nicht«.72 Mit diesem intermedialen Verweis kann er
sich offenbar im Vertrauen auf das emblematische Gedächtnis seiner Adressaten
weitergehende Erläuterungen seines Arguments ersparen.
Im Zusammenhang mit den Grenzen der Künste ist es geboten, noch einmal
auf die Formel von der Dichtung als pictura loquens und dem Bild als poema
tacens zurückzukommen, darauf nämlich, dass »die Rede nicht bilden / das Bild
aber nicht reden kann«.73 Denn in Aussagen wie diesen stellt Harsdörffer nicht
nur eine mediale Verschiedenheit der Künste fest, sondern jeweils ein Defizit, ein
Nicht-Können, das sich auch in der Wirkung bemerkbar macht: »Dem Gemähl
ermangelt sonsten die Stimme / welche es begeistert und beseelet / dem Gedicht
ermangelt die liebliche Figur / welche es für die Augen stellet […]«.74 Wenn es
dementsprechend schon bei Seneca heißt, »imago res mortua est«,75 das Bild also
weder schweigend noch stumm, sondern tot ist, so erscheint es nur konsequent,
wenn Harsdörffer den mängelbehafteten Künsten Leben einhauchen will, indem
er ihre Beseelung fordert.
Dieser Beseelung, die mit Hilfe der synästhetischen Wirkung von Text und
Bild erzielt werden soll, schickt Harsdörffer die Unterscheidung von mimeti-
schen und nicht-mimetischen Bildern, gemeint sind Sinnbilder, voraus.76 In den
Zusammenspiel von Text und Bild stellt für ihn ein derart wichtiges Anliegen dar,
dass er nicht nur praktisch »in wohl allen seinen Werken Bild und Text (sei es
als Titelkupfer, Illustration oder Emblem) [verwendet],«86 sondern auch für die
theoretische Grundlegung – entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten – einen
beachtlichen Katalog von Autoritäten aufzählt:
Es sol der Mahler ein Poet / oder der Poet ein Mahler seyn / wo nicht mit dem Pinsel / jedoch
mit der Feder: Stehet aber beides wol beysammen / dieses hilfft jenem / jenes diesem. Meine
Meinung bestärken die Sinnreichsten und Kunsterleuchtesten Geister dieser Zeit / Saave-
dra, Petro Sancta, Fammianus Strada, Hessus, Becanus, Hermannus, und viel andere /
welche nicht nur ihrer Leser Gedächtniß mit beweglichen Worten anfüllen / sondern auch
ihre Augen mit allerhand anmuhtiger Bilderey belustigen / und ihnen ihre Gedanken
erkenntlich beybringen.87
5 V
erbinden statt Trennen – Harsdörffers
ästhetische Animation
Um Harsdöffers theoretischen Zugriff auf das Verhältnis von Text und Bild zusam-
menfassend einschätzen zu können, scheint es sinnvoll, sich vorab zu vergegen-
wärtigen, mit welcher Art von Theoriearchitektur man es zu tun hat. Wie eingangs
erwähnt, verzichtet Harsdörffer bei seinen Einlassungen ebenso auf Systematik
wie auf Geschlossenheit. Vielmehr werden in einer Reihe von unterschiedlichen
Texten manche Aussagen als sentenzartige Belehrungen vorgetragen, andere –
vor allem in den Gesprächspielen – als concettistische Einwürfe, deren histori-
sche, systematische und logische Belastbarkeit nicht weiter verfolgt wird, und
einzelnes erweist sich in der Zusammenschau sogar als widersprüchlich. Eine
prima facie ähnliche Schreibweise wird, wenn sie in späteren Jahrhunderten auf-
tritt, als Essayistik bezeichnet, während sie barocken Autoren häufig abwertend
als ›Eklektizismus‹ oder ›Kompilatorik‹ angelastet wurde, obwohl sie nicht nur
als barocke Wissensordnung eigenen Rechts anzusehen ist, sondern auch als
Reflex einer übergeordneten Kosmologie, die den großen Heilsplan des Makro-
kosmos in kleinen und vordergründig disparaten Beobachtungen des Mikrokos
mos aufspürt.88 Die Eigenheiten der untersuchten Texte, die »verstreuten Aussa-
gen und Anekdoten zur Malerei«,89 als Symptome einer bloß kompilatorischen
Oberflächlichkeit und Unkenntnis abzutun, würde der Sache auch in diesem
Fall nur teilweise gerecht. Etwas zurückhaltender beobachtete Herz daher eine
»Tendenz der Literarisierung des Gegenstandes«90 bei Harsdörffer, was der Tatsa-
che Rechnung trägt, dass man es – abgesehen vom Poetischen Trichter – nicht mit
akademischer Traktatliteratur, sondern mit einer nur im Sinne des allgegenwär-
tigen prodesse et delectare lehrhaften Konversationsliteratur für ein ästhetisch
gebildetes Publikum zu tun hat.91 Es darf somit durchaus als programmatisch
gelten, wenn Julia in den Gesprächspielen resümiert: »Also kan man einer Sache
vielmals gedenken / aber iedesmals andere Betrachtungen darüber haben; wann
sonderlich selbe so weitlaufftig ist / als die Mahlerey«.92
Dass Harsdörffer mit denkgeschichtlichen Versatzstücken arbeitet, lässt sich
nicht leugnen.93 So erzählt er im Abschnitt XII seines Discurses sowie in der Ars
Apophthegmatica94 Maleranekdoten aus den Künstlerviten Giorgio Vasaris,95 die
er möglicherweise über die Schilderconst (1604) Karel van Manders rezipierte96
und in seinen eigenen Texten frei wiedergibt. Spätestens mit dieser Anbindung
nistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983 (Paradeigmata; 1), bes. S. 249–292; ferner
Jörg Jochen Berns: Kompilation und Kombinatorik. Zusammenhänge und Grenzen von Hars-
dörffers naturwissenschaftlichen und ästhetischen Interessen. In: Hans-Joachim Jakob, Her-
mann Korte (Hgg.): Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur von
1847–2005. Frankfurt a. M. u. a. 2006 (Bibliographien zur Literatur- und Mediengeschichte; 10),
S. 55–83; Jörg Robert: Im Silberbergwerk der Tradition. Harsdörffers Nachahmungs- und Über-
setzungstheorie. In: Keppler-Tasaki, Kocher (Anm. 61), S. 1–22, bes. S. 21 f.; Schmidt (Anm. 64)
sowie die Beiträge in Flemming Schock (Hg.): Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre
Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit. Berlin 2012 (Frühe Neuzeit; 169).
89 Herz (Anm. 5), S. 390.
90 Herz (Anm. 5), S. 395.
91 Vgl. auch Peter-André Alt: Literarische Imagination als ars combinatoria. Zum Verhältnis von
Bildpoetik, Fiktion und Epistemologie bei Harsdörffer. In: Keppler-Tasaki, Kocher (Anm. 61),
S. 23–38, bes. S. 33–36.
92 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. VIII, S. 207.
93 Zu Harsdörffers Verhältnis zur frühneuzeitlichen Kunsttheorie vgl. insbes. Michael Thimann:
Bilddiskurse von Dürer bis Winckelmann. Eine Revision anläßlich der Edition von Harsdörffers
Kunstverständigem Discurs von der edlen Mahlerey. In: ders./Zittel (Anm. 9), S. 11–38 sowie Heiko
Damm: Georg Philipp Harsdörffers und Michelangelos Witz. In: ebd., S. 39–88, bes. S. 62–72.
94 Vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Ars Apophthegmatica. Das ist: Kunstquellen Denckwürdiger
Lehrsprüche und Ergötzlicher Hofreden. Bd. I. Neudruck der Ausgabe Nürnberg 1655. Hg. von
Georg Braungart. Frankfurt a. M. 1990 (Texte der Frühen Neuzeit; 2), S. 81, 287 u. 506 f.
95 Vgl. Jutta Breyl: »Nichtige Äußerlichkeiten«? Zur Bedeutung und Funktion von Titelbildern
aus der Perspektive des 17. Jahrhunderts (Harsdörffer –»Kunstverständiger Discurs« – Lairesse).
In: Wolfenbütteler Barocknachrichten 24 (1997), H. 2, S. 389–422, hier S. 408.
96 Vgl. Kommentar, in: Harsdöffer (Anm. 6), S. 41.
364 Stefanie Stockhorst
beide täuschen, und beider Täuschung gefällt«.101 Während sowohl Lessing als
auch Harsdörffer jeweils unterschiedlich gelagerte Stärken bzw. Defizite im Dar-
stellungsvermögen von Text- und Bildkunst beobachten, ziehen sie doch unter-
schiedliche Konsequenzen. Lessing empfiehlt bekanntlich eine Auswahl der
Gegenstände nach Maßgabe der medialen Ausdrucksmöglichkeiten:
Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder
Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese
aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu
dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur
Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander
folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren
Teile auf einander folgen.102
Harsdörffer hingegen tritt dafür ein, die Zuständigkeiten der Künste nicht zu
trennen, sondern sie zu verbinden. Wenn es um die Frage nach Text und Bild
bei Harsdörffer geht, liegt es deshalb nahe, auch als letztes noch einmal an die
Emblematik zu denken.103 Idealtypisch charakterisiert Harsdörffer die Sinnbild-
kunst durch eine untrennbare semantische Verzahnung von Text und Bild: »Die
besten Sinnbilder sind also geartet / daß man das Bild ohne die Obschrifft / und
die Obschrifft ohne das Bild nicht verstehen kan«.104 Darüber hinaus kommt es
Harsdörffer immer wieder auf die eigentümliche synästhetische Wirkung der
Sinnbildkunst an. Sie übertreffe bei weitem den ästhetischen Effekt, den Bild
oder Text allein erzielen könnten, weil es ihr gelinge, »mit dem Gemäld das
Gesicht / mit desselben Obschrift das Gehör / mit beiden aber die Ein- und Vorbil-
dung / (von denen in den Gedanken schwebenden Bildern also genennet /) den
Verstand und das Gedächtnis mächtiglich zu beherrschen«.105 Bei den geistigen
Vermögen, die Harsdörffer hier ins Feld führt, handelt es sich nicht nur um ratio
und memoria, sondern abermals um die Einbildungskraft des Rezipienten, die
freilich hier eher noch als reproduktives denn als produktives Vermögen begrif-
fen wird. Jedenfalls, so viel kann festgehalten werden, fordert Harsdörffer ange-
sichts medial bedingter Defizite beider Künste eine wechselseitige Ergänzung von
Text und Bild, um durch die Wirkung auf Auge, Ohr und Einbildungskraft eine
›Beseelung‹ des Werks, also eine synästhetische Animation zu erzielen.
101 Ebd., S. 9.
102 Ebd., S. 102–103.
103 Vgl. auch den Beitrag von Seraina Plotke in diesem Band.
104 Harsdörffer, Vorrede. Bestehend in 50. Lehrsätzen, S. 6.
105 Harsdörffer (Anm. 12), Bd. IV, S. 168.
Seraina Plotke
Bildgestalt aus den Lettern –
Die Intermedialität der visuellen Poesie
im 17. Jahrhundert
Visuelle Poesie als besondere Spielart der Lyrik ist heute in erster Linie in ihren
Ausprägungen des 20. Jahrhunderts bekannt. Avantgardistische Künstlerbewe-
gungen wie der Dadaismus oder der Futurismus, literarische Strömungen wie
die Konkrete Poesie, Autoren wie Guillaume Apollinaire und Ernst Jandl, sie alle
haben Textgebilde hervorgebracht, die die graphische Anordnung von Wörtern
und Buchstaben auf der Blattfläche nutzen, um dadurch Sinn zu erzeugen.1 Prä-
sentiert werden Schrift-Bilder, in denen von der konventionellen Gebrauchsweise
des Alphabets abgewichen wird, das gemeinhin (nur) darauf ausgerichtet ist, dass
die einzelnen Zeichen digital entschlüsselt werden und die besondere Stellung
der Wörter auf dem Blatt oder auch die genaue Ausformung des einzelnen Buch-
stabens keine signifikante Rolle spielen.2 Für sogenannt visuelle Texte jedweder
Art und Epoche gilt hingegen, dass die Schriftzeichen sowohl digital als auch
analog zu rezipieren sind und erst aus dem Zusammenspiel der beiden Wahrneh-
mungsvarianten die vollständige Bedeutung des Textgebildes zu erschließen ist.3
Oder anders gesagt: Visuelle Texte verwenden sowohl bildnerisch-graphische als
1 Siehe mit einführendem Charakter: Jeremy Adler, Ulrich Ernst: Text als Figur. Visuelle Poesie
von der Antike bis zur Moderne. Katalog der Ausstellung in der Herzog August Bibliothek Wol-
fenbüttel. Weinheim 1987, S. 212–318; Klaus Peter Dencker: Optische Poesie. Von den prähistori-
schen Schriftzeichen bis zu den digitalen Experimenten der Gegenwart. Berlin 2011, S. 312–430;
Jörg Robert: Einführung in die Intermedialität. Darmstadt 2014, S. 59–77.
2 Die Buchstaben des lateinischen Alphabets zeichnen sich gemäß Nelson Goodman dadurch
aus, dass sie »differenziert« und »disjunkt« sind – Goodman benutzt dafür auch den Ausdruck »di-
gital« (vgl. Nelson Goodman: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols. Indianapolis
1968, dt.: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Übers. von Bernd Philippi. Frankfurt
a. M. 1995, S. 154–157). Das heißt, dass die alphabetische Schrift im Zuge der Decodierung grund-
sätzlich Ja-Nein-Entscheidungen nötig macht: Das a im Wort ›Band‹ ist entweder ein a oder kein
a (im letzteren Fall handelt es sich u. U. um das Wort ›Bund‹); ob das betreffende Wort in Antiqua
oder kursiv gesetzt, gemalt oder gedruckt, gar vertikal (etwa in einer Leuchtreklame) ausgerichtet
ist, spielt für diese Frage keine Rolle (vgl. Sabine Gross: Schrift-Bild. Die Zeit des Augen-Blicks.
In: Georg Christoph Tholen, Michael O. Scholl (Hgg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen
zwischen Endzeit und Echtzeit. Weinheim 1990 (VCH Acta humaniora), S. 231–246, hier S. 242).
3 Zur Differenzierung digitaler und analoger Zeichen mit Blick auf die Spezifik der visuellen
Poesie siehe Seraina Plotke: Gereimte Bilder. Visuelle Poesie im 17. Jahrhundert, München 2009,
S. 41–43.
DOI 10.1515/9783110521788-018
Bildgestalt aus den Lettern 367
17. Jahrhundert als doppelter Gründervater der Bukolik und der visuellen Poesie
galt (vgl. Abb. 1).7
Richtungsweisend für die frühneuzeitliche produktive Auseinandersetzung
mit dem durch die griechischen Archegeten autorisierten Gedichttypus war
dessen Aufnahme in die Poetices libri septem von Julius Caesar Scaliger, die 1561
postum erschienen und als Beispiele zur Nachahmung zwei Ei-Gedichte präsen-
tieren.8 Während der italienische Humanist damit (noch) auf eine der aus der
Antike überlieferten Konturen rekurriert, wurde das kreative Potenzial, das in der
Gattung steckt, im 17. Jahrhundert produktiv entfaltet, indem Gedichte entstan-
den, die denkbar vielseitige Formen und Figuren wiedergeben. Als besonders
beliebte Sujets kristallisierten sich die Pokal-, die Kreuz- und die Pyramidenge-
stalt heraus,9 daneben finden sich aber auch Gedichte, die Herzen, Bäume, Äpfel,
Kerzen, Bahren oder Sanduhren und vieles mehr abbilden (vgl. Abb. 2, 3 u. 4).10
7 Vgl. ausführlich Silvia Strodel: Zur Überlieferung und zum Verständnis der hellenistischen
Technopaignien. Frankfurt a. M. 2002 (Studien zur klassischen Philologie; 132). Drei der sechs
überlieferten hellenistischen Figurengedichte – die Gedichte in Ei-, in Beil- und in Flügel-
form – stammen vom alexandrinischen Dichter Simias von Rhodos; die ›Panflöte‹ wird Theo-
krit zugeschrieben. Als Verfasser der beiden Altar-Gedichte gelten der wenig bekannte Dosiadas
von Kreta sowie ein nicht weiter zu identifizierender Dichter Besantinos. Siehe auch: Seraina
Plotke: Selbstreferentialität im Zeichen der Bimedialität oder die Geburt einer Gattung. Visuelle
Poesie aus hellenistischer Zeit. In: Arcadia. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft
40 (2005), S. 139–152; Irmgard Männlein-Robert: Stimme, Schrift und Bild. Zum Verhältnis der
Künste in der hellenistischen Dichtung. Heidelberg 2007 (Bibliothek der klassischen Altertums-
wissenschaften N. F. Reihe 2; 119), S. 140–153.
8 Das 25. Kapitel des 2. Buchs der Poetices libri septem ist dem Umrissgedicht gewidmet (vgl. Ju-
lius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Hg. von Luc Deitz.
Bd. 1. Stuttgart, Bad Cannstatt 1994, S. 555 f.). Neben dem auf die hellenistischen Vorbilder zu-
rückgehenden Typus des Umrissgedichts existieren andere Macharten wie das Gittergedicht oder
das Imago-Gedicht, die in der Spätantike und im Mittelalter entwickelt wurden und ebenfalls
der Gattung der visuellen Poesie zugerechnet werden (dazu umfassend: Ulrich Ernst: Carmen
figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des
Mittelalters. Köln, Weimar, Wien 1991).
9 Siehe Ulrich Ernst: Europäische Figurengedichte in Pyramidenform aus dem 16. und 17. Jahr-
hundert. Konstruktionsmodelle und Sinnbildfunktionen. Ansätze zu einer Typologie. In: Eupho-
rion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 76 (1982), S. 295–360 [wieder abgedruckt in: Ulrich Ernst:
Intermedialität im europäischen Kulturzusammenhang. Beiträge zur Theorie und Geschichte
der visuellen Lyrik. Berlin 2002 (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften; 4),
S. 91–153]; Ulrich Ernst: Die neuzeitliche Rezeption des mittelalterlichen Figurengedichtes in
Kreuzform. Präliminarien zur Geschichte eines textgraphischen Modells. In: Peter Wapnewski
(Hg.): Mittelalter-Rezeption. Ein Symposium. Stuttgart 1986 (Göppinger Arbeiten zur Germanis-
tik; 360), S. 177–233 [wieder abgedruckt in: Ernst: Intermedialität (Anm. 9), S. 181–223].
10 Das reiche Formenspektrum demonstrieren Adler, Ernst (Anm. 1), S. 44–194.
Bildgestalt aus den Lettern 369
Abb. 1: […] Theocriti Idyllia sex et triginta, cum scholijs in octodecim priora Zachariae
Calliergi perquam utilius: et in fistulam, Ioannis Pediasmini: Annotatiunculisque in
reliqua, Guilielmi Xylandri. Eiusdem Theocriti Epigrammata, Bipennis, et Ala. Per
Petrum Brubachium, Francoforti [1558], S. 356 [Universitätsbibliothek Basel: Bc V
225:1]. Eine Analyse dieses Figurengedichts findet sich in: Plotke (Anm. 7), S. 148–152.
370 Seraina Plotke
Gerade im 17. Jahrhundert erlebte die Gattung eine erstaunliche Blüte, was mit
einer Reihe von Faktoren in Zusammenhang zu bringen ist.11 So spielen medien-
geschichtliche Gesichtspunkte eine Rolle, Aspekte des höfischen (und auf das
Bürgertum ausgreifenden) Repräsentationswesens, im deutschsprachigen
Bereich aber insbesondere auch Fragen der Etablierung des Deutschen als den
klassischen Sprachen ebenbürtige Dichtersprache. Hand in Hand mit diesen
kulturpragmatischen Faktoren beeinflussten spezifische vormoderne Denkmus-
ter wie etwa die erst mit der Aufklärung modifizierte Vorstellung vom ›Buch der
Natur‹12 den Stellenwert der Gattung der Figurengedichte, die sich als Ausgangs-
punkt für die häusliche Frömmigkeit ähnlich gut eignete wie die im 17. Jahrhun-
dert in viele Lebensbereiche vorgedrungene Emblematik (vgl. Abb. 5 u. 6).
Was die medientechnische Situierung der Gattung innerhalb der frühneu-
zeitlichen Druckkultur angeht, so ist grundsätzlich festzuhalten, dass dem
Zusammenspiel von Text und Bild gerade im frühen Buchdruck ein besonders
hoher Stellenwert zukam. Quasi von Anfang an wurde die Methode des mecha-
nischen Gebrauchs beweglicher Lettern mit verschiedenen Verfahren des Bild-
drucks kombiniert. Bereits die Vorform des Blockbuchs verknüpfte xylographisch
Text und Bild und bot die Möglichkeit, reich illustrierte Bücher, wie sie im Spät-
mittelalter zunehmend an Bedeutung gewannen, in effizienterer Herstellung
zu produzieren. In den auf die Gutenberg-Erfindung folgenden Dekaden führte
der Einbezug von Holzschnitten oder Metallstichen in die Textausgaben dazu,
dass sich mit Bildern illuminierte Drucke nicht nur für praktisch alle Textsorten
finden, sondern aus der Verbindung des Letterndrucks mit Verfahren der Bildver-
vielfältigung insbesondere auch neue, spezifisch intermediale Gattungen – wie
die Impresenkunst oder die schon genannte Emblematik – entstanden.
Dass das skizzierte reiche Spektrum an gedruckten Text-Bild-Konfigu ra
tio
nen einen fruchtbaren Nährboden für die wiederentdeckte hellenistische
Gedichtform der Technopaegnien bildete, liegt auf der Hand. Im Gefolge der
Experimentierfreudigkeit des prosperierenden Buchdrucks, der sich auf dem Feld
publizistischer Neuschöpfungen wie dem Flugblatt besonders kreativ in Text und
Bild ausdrückte, hatte auch eine Gattung wie die visuelle Poesie ihren Platz. Sie
stellte, satztechnisch betrachtet, besonders hohe Ansprüche an die Offizinen, da
ihre pikturale Komponente nicht – wie etwa bei den Emblemen – aus dem Ein-
bezug bearbeiteter Holzblöcke oder gravierter Platten erfolgte, sondern durch die
Bilder-Reime / so die Frantzosen Accolade nennen / welche recht die Mahlerey der Poeten
können heissen / sind diejenigen / welche der Natur nachgehen / und eine Sache gleichsam
lebendig / oder wie sie beschaffen ist / vorstellen. Unter die Bilder-Reime werden gerech-
net: Ein Hertze / Ey / Creutz / Becher / Blumkrug / Spiegel / Stern / Rose / Tulipan / Nar-
cisse / Baum / Pyramide / Apffel / und dergleichen / welche Sachen alle durch die Verße
also müssen abgemahlet werden / daß sie eben daßjenige praesentieren was man will
haben […].15
Männling modifiziert den Topos von der Ähnlichkeit der beiden Künste in der
Weise, dass er nicht, wie üblich, allegorische Bildlichkeit oder rhetorisches ›Vor-
Augen-Stellen‹ als »die Mahlerey der Poeten« bezeichnet, sondern die der visuel-
len Poesie eigene figurative Anordnung der Wörter.
13 Siehe etwa Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Be-
ziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989; Bernhard F. Scholz: Emblem
und Emblempoetik. Historische und systematische Studien. Berlin 2002 (Allgemeine Literatur-
wissenschaft – Wuppertaler Schriften; 3), S. 43–230.
14 Rhetorica ad Herennium, IV, 39: Poema loquens pictura, pictura tacitum poema debet esse
(zitiert nach der Ausgabe: Rhetorica ad C. Herennium. De Ratione Dicendi. Lateinisch-deutsch.
Hg. und übers. von Theodor Nüßlein. Darmstadt 1994). Vgl. dazu Plotke (Anm. 3), S. 111–125.
15 Johann Christoph Männling: Europaeische Parnassus, Oder Kurtze und deutliche Anweisung
zu der Deutschen Dicht-Kunst […]. Wittenberg 1685, S. 84 (im Kapitel »Von den Arten der Verße«,
unter dem Punkt »Die 13. Art. Bilder-Reime«).
Bildgestalt aus den Lettern 377
Weil man auf Hochzeiten mit Trinkgeschirren ümgehet / und zwischen Braut und Bräuti-
gam eine hertzbrünstige Liebe erspüret wird: würde es nicht übel stehen / wan ein Pocal
oder Hertze in gewisse Verse verfasset und getichtet würde.20
16 Vgl. Philipp von Zesen: Sämtliche Werke. Hg. von Ferdinand van Ingen. Unter Mitw. von Ul-
rich Maché und Volker Meid. Berlin, New York 1971–2003. Bd. 9 (Ausgaben deutscher Literatur
des XV. bis XVIII. Jahrhunderts; 25), S. 335, 341–344.
17 Siehe Plotke (Anm. 3), S. 20–28; Adler, Ernst (Anm. 1), S. 73–86.
18 Vgl. Adler, Ernst (Anm. 1), S. 154–167; Jeremy Adler: Pastoral Typography. Sigmund von Bir-
ken and the ›Picture-Rhymes‹ of Johann Helwig. In: Visible Language 10/1 (1986), S. 121–135;
Plotke (Anm. 3), S. 94–109.
19 Vgl. Plotke (Anm. 3), S. 183–202; Adler, Ernst (Anm. 1), S. 183––194.
20 Johann Heinrich Hadewig: Kurtze und richtige Anleitung / Wie in unser Teutschen Mutter-
sprache Ein Teutsches Getichte zierlich und ohne Fehler könne verfertiget werden […]. Rinteln
1650, S. 163 f.
378 Seraina Plotke
21 Diesen Fokus auf die Gattung wählt beispielsweise Sigmund von Birken in seiner Poetik
Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst, indem er ein Gedicht in Kreuzform als Beispielgedicht
präsentiert und dazu folgenden Aufruf an die Rezipienten formuliert: »Wer seinen Jesum recht
kennet und liebet / wird neben-stehendem Creuz noch viele nachmachen / auch dergleichen mit
der DornKrone der Geisel-Seule / und andrem unsers theuren Heilands Passion-Zeug / ersinnen
können« (Siegmund von Birken: Deutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst. Nachdruck der Ausgabe
Nürnberg 1679. Hildesheim, New York 1973, S. 144).
Bildgestalt aus den Lettern 379
22 Der vollständige Titel des Bands lautet: Johann Rudolf Karstens Deutscher Dicht-Kunst Lust-
und Schau-Platz. Darinnen zu finden I. Etliche sonderbahre / hohen Stands-Personen zu tieff-
schuldigsten Ehren / verfertigte Freuden- und Glükkwünschungs-Gedichte. II. Der weltberuf-
fenen Statt Frankkfurt am Meyn neugebundener Lorbeer-Krantz. III. Zwey Dutzet anmüthige /
mit feinen Kunst-Stükken und artig-gefügten Bilder-Reimen beschlossene Neu-Jahrs-Gedichte.
IV. Allerhand lustige Hochzeit- und Freuden-Gedichte / wobey gleichfalls einige zuvor in Teut-
scher Spraach nie gesehene Kunst-Stükk zu beobachten / sampt nützlicher Einführung feiner
geist- und weltlicher Rätsel / wie nicht weniger underschiedliche Klag-Schallmeyen und Trauer-
Zimbeln. V. Fünffzehen schöner Ehrenbinde / in welchen etlicher vornehmer Heiligen Christlich-
geführter Handel und Wandel / Leben und Todt in lieblicher Zierde besungen und vorgestellet
wird. Frankkfurt am Mayn / Jn Verlegung Wilhelm Serlins. Jm Jahr MDCLXVII.
23 Grundlegend zur Casuallyrik Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Ge-
schichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977.
24 Zum Beispiel: Balthasar Kindermann: Der Deutsche Poet / Darinnen gantz deutlich und aus-
führlich gelehret wird / welcher gestalt ein zierliches Gedicht / auf allerley Begebenheiten / […]
kan wol erfunden und ausgeputzet werden / […]. Wittenberg 1664. Reprint Hildesheim, New York
1973. Häufig wurden die Gelegenheitsgedichte in den Poetiken auch typenweise besprochen.
Magnus Daniel Omeis beispielsweise handelt in seiner Gründlichen Anleitung Zur Teutschen
accuraten Reim- und Dichtkunst die folgenden Gedichttypen einzeln ab: »Geburts-Gedichte«,
380 Seraina Plotke
Texte, die dem Verfasser einiges verskünstlerische Geschick abverlangt, adele die
deutsche Sprache als Dichtersprache.
Das erste der beiden Gedichte, die ich nun eingehender betrachten möchte,
ist Johann Georg Fabricius, Pfarrer zu Oberwiddersheim, sowie dessen Gattin
gewidmet und auf das Jahr 1663 datiert. Es gehört in die Sammlung der Neujahrs-
gedichte und wird eingeleitet durch rund sechzig Alexandriner, die in die The-
matik des Jahreswechsels einführen und zugleich die Dedikanden als »Freunde
Paar« apostrophieren.28 Das Figurengedicht selbst trägt den Titel (Abb. 7): »Der
wahren Freundschafft Ehren-Seul. Syrach. 6.«29 Nicht nur aufgrund dieser Über-
schrift, sondern auch durch die markante Figurierung der Verse lässt sich der
dargestellte Umriss bereits beim ersten Augenschein als Säule interpretieren und
erinnert damit an die Triumphsäulen, die schon im alten Rom zu Ehren siegrei-
cher Feldherren aufgestellt wurden.
Als Prototyp antiker Siegessäulen darf die mit einem Reliefband verzierte Tra-
janssäule gelten, die – wie die ungeschmückten Ehrensäulen und die Triumph-
bögen auch – eigentlich als Sockel für die Statue des betreffenden Heerführers
diente. Über die aktuelle Glorifizierung des Feldherrn hinaus dienten derartige
Siegessäulen als Erinnerungsmal: Das Monument verherrlicht die Taten des Heer-
führers zum einen in der Festsituation des Triumphzugs, zeigt diese zum anderen
aber auch späteren Generationen an. Der Leser des 17. Jahrhunderts kannte die
antike Sitte, erfolgreichen Generälen Ehrensäulen oder Triumphbögen zu errich-
ten, nicht nur aus der Literatur, von Skizzen oder Kupferstichen:30 Die Gepflo-
28 Ebd., S. 68.
29 Ebd., S. 70.
30 Heute noch erhaltene Skizzen der Trajanssäule beispielsweise von Giovannantonio Dosio
(1569, Federzeichnung), Etienne du Pérac (1575, Mischtechnik), Gillis van Valckenborch (1590,
Mischtechnik), der Säule des Marc Aurel von Dosio (um 1580, Federzeichnung); Abbildungen in:
Hermann Egger (Hg.): Römische Veluten. Handzeichnungen aus dem XV. bis XVIII. Jahrhundert
zur Topographie der Stadt Rom. 2. Bd. Wien 1931, Tafeln 45 und 76; James E. Packer: The Forum of
Trajan in Rome. A Study of the Monuments. Bd. 1. Berkeley, Los Angeles, Oxford 1997 (California
studies in the history of art; 31), S. 26 f. Die antiken Monumente konnten zudem auch von Italien
reisenden vor Ort bewundert werden. Neben den Pilgern, wie sie zu allen Zeiten Rom aufsuch-
ten, müssen hier die englischen, französischen und deutschen Studenten genannt werden, die
sich gern an italienischen Universitäten einschrieben. Des Weiteren begannen bereits im 17. Jahr-
hundert die Söhne aus gutem Hause Bildungsreisen in die Ewige Stadt zu unternehmen (vgl.
etwa Attilio Brilli: Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus: Die »Grand
Tour«. Berlin 1997 (Wagenbachs Taschenbuch; 274), S. 14–17). Zahlreiche Reisebeschreibungen
belegen die rege Reisetätigkeit jener Zeit (Beispiele aus dem späten 16. und dem 17. Jahrhundert
präsentiert Dorothea Kuhn: Auch ich in Arcadien. Kunstreisen nach Italien 1600–1900. Stuttgart
1966 (Sonderausstellung des Schiller-Nationalmuseums; 16), S. 10–36; Lucia Tresoldi: Viaggia-
tori Tedeschi In Italia 1452–1870. Bd. 1. Rom 1975, S. 11–40).
382 Seraina Plotke
31 Vgl. Werner Haftmann: Das italienische Säulenmonument. Versuch zur Geschichte einer an-
tiken Form des Denkmals und Kultmonuments und ihrer Wirksamkeit für die Antikenvorstellung
des Mittelalters und für die Ausbildung des öffentlichen Denkmals in der Frührenaissance. Leip-
zig, Berlin 1939 (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance; 55), S. 151.
32 In der Festarchitektur fiel der Aspekt des materiellen Erinnerungsmals aufgrund der Ephe
me ri
tät des Festakts allerdings weg. Die erinnerungsstiftende Funktion übernahmen hier
die Festberichte, die solche Ehrensäulen häufig in Kupferstichen zeigen (siehe zu den Funk-
tionen der Festberichte Thomas Rahn: Fortsetzung des Festes mit anderen Mitteln. Gattungs
beobachtungen zu hessischen Hochzeitsberichten. In: Jörg Jochen Berns, Detlef Ignasiak (Hgg.):
Frühneuzeitliche Hofkultur in Hessen und Thüringen. Erlangen, Jena 1993 (Jenaer Studien; 1),
S. 233–248).
33 Siehe beispielsweise Hieronymus Lauretus: Silva allegoriarum totius sacrae scripturae. Bar-
celona 1570. Fotomechanischer Nachdruck der zehnten Ausgabe Köln 1681. Hg. von Friedrich
Ohly. München 1971, S. 257.
34 Vgl. Plotke (Anm. 3), S. 176–183; Adler, Ernst (Anm. 1), S. 87–101.
35 Nicht nur um der politischen Korrektheit willen, sondern auch, weil im 17. Jahrhundert der
Anteil des weiblichen Lesepublikums eine markante Größe darstellte, verwende ich im Folgen-
den abwechselnd weibliche und männliche Formen.
36 Auch der Zusatz »Syrach.6. « weist dezidiert auf das Thema der Freundschaft hin: Im Buch
Jesus Sirach, Kapitel 6, geht es um wahre und falsche Freundschaft.
384 Seraina Plotke
Zeile heißt, werden in der gerundeten Gestalt der Verse im Oszillieren zwischen
dem pikturalen und dem diskursiven Signifikationsmodus sichtbar.
Mit der voranschreitenden Lektüre des Säulen-Gedichts eröffnen sich dem
Leser weitere Charakteristika wahrer Freundschaft, indem die Verse benennen,
was einen Freund als solchen auszeichnet: Dieser ist in jeder Lebenssituation
»Ein treuer Raht«, er ist »Willfertig« und »Getreu«. Es folgen Sprachbilder, die
das Wesen eines Freundes in überhöhender Weise veranschaulichen, wobei
die Aufhäufung von Edelstein-Metaphern, die das wertvolle Strahlen betonen,
heraussticht. So wird über die Bestimmungen des Freundes als »Augenstein«,
»Diamant« und »Amethist« die besondere Kostbarkeit und Seltenheit echter
Freundschaft hervorgehoben. Geradezu analog zu den Reliefbändern antiker
Siegessäulen, die die militärischen Leistungen des geehrten Feldherrn entlang
des Säulenschafts abbilden, illustrieren hier die metaphorischen Charakterisie-
rungen die ›Heldenhaftigkeit‹ wahrer Freundschaft. Aufgrund der Positionierung
der betreffenden Wörter als Bauteile der Schafttrommel werden die Merkmale
und Qualitäten eines Freundes gleichzeitig aber auch zu funkelnden Steinen des
Schmucks an der Ehren-Säule.
Der Verstext endet in der Säulenbasis mit der maximenartigen Erkennt-
nis, dass der – gerade nicht mit Gold aufzuwiegende – Schatz eines »solchen
Gönner[s]« für denjenigen, der ihn »findet / | Und sich mit ihm in Lieb verbindet«,
echtes Himmelsglück bedeutet. Im Lob des Freundschaftssegens steckt hier auch
die Aufforderung, sich selbst einen entsprechenden Verbündeten zu suchen. Es
wird nicht zuletzt an dieser Stelle deutlich, dass das Säulen-Gedicht im Grunde
genommen eine emblematische Struktur besitzt. Gemäß Albrecht Schöne korre-
spondiert mit dem meist dreiteiligen Aufbau eines Emblems die »Doppelfunk-
tion des Abbildens und Auslegens oder des Darstellens und Deutens«, wobei die
Pictura auch der Ausdeutung dienen kann, Motto und Subscriptio auch an der
Abbildung teilhaben können.37 Zudem zeichnen sich Embleme dadurch aus,
dass mit der Ausdeutung der res significans der Aufruf zur Befolgung bestimmter
Verhaltensmaximen verknüpft ist.38 Auch Karsts Figurengedicht besitzt Motto,
Pictura und Subscriptio, wobei sich die Pictura nicht allein durch den Umriss der
Verse konstituiert, sondern in ihren Einzelheiten erst während des Rezeptions
prozesses im Flottieren zwischen bildlicher und textueller Wahrnehmung des
Gebildes sichtbar wird. Als Motto fungiert die Überschrift des Gedichts, die über
den Verweis auf das Alte Testament Aspekte des Freundschaftsthemas implizit
37 Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. München 31993, S. 21.
38 Schöne spricht vom »imperativische[n] Maximencharakter emblematischer Texte« (ebd.,
S. 45).
Bildgestalt aus den Lettern 385
anzitiert – eine Verfahrensweise, wie sie in den Lemmata von Emblemen aus dem
17. Jahrhundert häufig zur Anwendung kommt.
Über die Säulengestalt und dem mit dieser verbundenen Symbolgehalt
wird in Karsts Figurengedicht nicht nur die Beständigkeit und hoffnungsfrohe
Stärke wahrer Freundschaft ausgewiesen, sondern darüber hinaus dem Freund,
quasi als Institution, ein Denkmal gesetzt. Das Baumaterial der Wörter ist so
eingesetzt, dass einzelne metaphorische Beschreibungen, aufgrund der für die
visuelle Poesie charakteristischen Verschmelzung von Text und Bild, zu eigent-
lichen stofflichen Säulenkomponenten werden: Die verwendeten Sprachbilder
avancieren zu pikturalen resp. materialen Bestandteilen der Ehren-Säule, sobald
sich im Lektüreprozess die Vorstellung des reliefgeschmückten Schafts nach dem
Vorbild antiker Siegessäulen einstellt. Nicht zuletzt die emblematische Struktur
des Gebildes führt dazu, dass dieses Figurengedicht über die spezifische casual-
lyrische Funktion hinaus das Wesen der Freundschaft im Allgemeinen und auch
den aus diesem resultierende Aufforderungscharakter, eine Freundschaft einzu-
gehen, buchstäblich vor Augen stellt.
Mit der Säulenform ist ein gut etablierter Umriss gegeben, der in der früh-
neuzeitlichen visuellen Poesie weit verbreitet war und satztechnisch betrachtet
nicht durch figurale Komplexität hervorsticht. Karsts Gedichtsammlung bietet
aber auch Wort-Bild-Konstellationen, die das intermediale Spiel eher unkonven-
tionell und erfindungsreich gestalten und in ihrem graphischen Arrangement
geradezu modern anmuten. Um eine solche handelt es sich beim Figurenge-
dicht für Wolffgang Dietherich Badern, das sich ebenfalls in der Sammlung der
Neujahrscarmina befindet. Der Adressat ist Doktor beider Rechte und »Hoch-
gräffliche[r] Ysenburgische[r] fürnehme[r] Rath«39, die einleitenden Alexandri-
ner sind nicht mit einem expliziten Datum versehen, nennen die Thematik des
Jahreswechsels aber bereits zum Auftakt: »Seht! wie das alte Jahr nun gantz und
gar verschwunden!«40 Die insgesamt 56 Widmungsverse, die der Text-Bild-Kon-
figuration vorangestellt sind, gehen vor allem auf die Vergänglichkeit des Irdi-
schen ein, die mit dem Neujahrstag besonders ins Bewusstsein rückt, überbrin-
gen des Weiteren gute Wünsche an den Dedikanden und kündigen zum Schluss
das Figurengedicht als besondere Gabe wie folgt an: »Hiemit gehabt Euch wohl /
und lebet stäts mit Freuden | Und nemt zum neuen Jahr diß Hertzgen / so das
Leiden | Den Prast / die Last und Pein der Frommen bildet ab / | Dieweil ich eurer
Gunst sonst nichts zu schencken hab.«41
die meisten europäischen Sprachen wie französisch, englisch, holländisch, dänisch, polnisch,
russisch, spanisch oder portugiesisch. Auf Deutsch beispielsweise gibt es über ein Dutzend un-
terschiedliche Übersetzungen und Bearbeitungen, sowohl katholische wie auch protestantische.
Siehe weiterführend etwa: Gabriele Dorothea Rödter: Via piae animae. Grundlagenuntersuchung
zur emblematischen Verknüpfung von Bild und Wort in den »Pia desideria« (1624) des Herman
Hugo S. J. (1588–1629). Frankfurt a. M. 1992 (Mikrokosmos; 32).
45 Die Schola cordis des belgischen Benediktiners Benedict van Haeften ist 1629 in Antwerpen
erstmals ediert worden und hat zahlreiche Auflagen und Übersetzungen erfahren. In Haeftens
Erbauungsbuch wird jede der 55 lectiones durch einen Kupferstich eingeleitet, der eine Szene mit
einem Herz zeigt, um das sich der geflügelte Amor divinus und die weiblich dargestellte Anima in
irgendeiner Weise bemühen oder sich an ihm zu schaffen machen. Das Motto nimmt immer auf
das Herz Bezug, das im Titel des Werks prominent genannt ist.
Bildgestalt aus den Lettern 389
ander verwoben sind, dass einzelne Buchstaben an der Abbildung von jeweils
zwei Gegenständen teilhaben, was einerseits zur Folge hat, dass das Gebilde drei
dimensionale Plastizität erhält, andererseits aber auch dazu führt, dass die Buch-
seite (oder der Kopf der Rezipientin) auch schon bei der verbalen Decodierung
des Herz-Textes gedreht werden muss.
Die über den pikturalen Wahrnehmungsmodus als Herz identifizierte Figur
wird mit dem Beginn der Verslektüre mit »manch ErlIche[m] Hertz« gleichge-
setzt, womit offensichtlich – im Sinne der zeitgenössischen Erbauungsliteratur –
die frommen Christen gemeint sind. Beschrieben wird, passend zu den vorausge-
gangenen Alexandrinern, die irdische Lebenssituation des Gläubigen, die durch
»Plag Jammer unnd Schmertz | Angst / Elend unnd Grämen« geprägt ist. Die
Unwegsamkeiten des Diesseits führen aber laut Verstext auch dazu, dass sie die
flammende Liebe zu Gott entfachen: sie »entzünden die Glut«. Die seufzenden
Verse, die den Pfeil illustrieren, greifen dieses Thema auf und betonen ihrerseits,
welch Qual und Elend das Erdenleben ausmacht – wobei die graphische Pointe
hier darin besteht, dass die den Pfeilschaft abbildenden Wörter drei Mal den
ersten Halbvers konstituieren und also lesend zu wiederholen sind, während sich
die jeweils zweiten Vershälften mit differentem Wortlaut in die Befiederung ver-
laufen. Als Kontrapunkt formuliert hingegen die Flamme: »Im Himmel ists gut.«
Dabei zeichnet sie das nach oben hin trachtende Streben der göttlich entzünde-
ten menschlichen Seele mittels der Laufrichtung der Buchstaben gerade nach.
Mit der Lektüre des verbalen Texts wird das abgebildete Herz also zum frommen
Gläubigen, der auf Erden leidet, aber gleichzeitig in Gottesliebe entflammt ist und
sich nach dem Himmel sehnt. Der durch das Herz gestoßene Pfeil erhält dabei
eine ambivalente Deutung, die die christliche Dichotomie von Diesseits und Jen-
seits, von hiesigem Jammertal und dortiger göttlicher Vereinigung aufgreift: So
ist der Pfeil einerseits Marterwerkzeug, das die christliche Seele »ritzet«, wie es
in den Herz-Versen heißt – womit der Bezug zum Leidensweg Christi hergestellt
ist, zu dem sich der Rezipient, lesend und betrachtend, in ein Verhältnis setzt.
»Heilands Passion-Zeug« in Figurengedichten abzubilden, um dadurch Frömmig-
keit zu beweisen, dies rät Sigmund von Birken in seiner Poetik Deutsche Rede-
bind- und Dicht-Kunst einige Jahre später.46 Andererseits ist der Pfeil aber auch
Zeichen der flammenden Liebe und der Verbindung des Menschen mit Gott (oder
wie es die Herzfigur nennt: »hitzet«). Der das Herz durchdringende Pfeil und die
Flamme stehen beide für die Liebesglut, die der Gläubige zu Christus empfindet
und die er, während er sich meditativ in das Figurengedicht versenkt, zu spüren
vermag. Beide markieren sie schließlich die Beschwerlichkeit des Erdenlebens –
was sich wiederum in der aufwändigen und mühevollen Rezeption der Text-Bild-
Konfiguration spiegelt, die der Leserin immer wieder abverlangt, den ›geraden‹
(Lektüre-)Weg zu verlassen und Hindernisse zu bewältigen.
Die fromme Ernsthaftigkeit, die in diesem Figurengedicht steckt, wird durch
die in spielerischer Leichtigkeit formulierten Zusatzverse etwas zurückgenom-
men, die auf derselben Blattseite abgedruckt sind (und zum festlichen sowie
nach vorne gerichteten Akt des Jahreswechsels zurückführen). Diese sprechen,
auf den Flammen-Vers der Text-Bild-Konstellation rekurrierend, die hoffnungs-
frohe Botschaft des Paradieses aus, die dank Jesu Kreuzestod für die Menschen
eröffnet worden ist und die das irdische Dasein unter dem Himmelszelt – »In dem
blau-gewölbten Saal« – erträglicher macht.
Alles in allem ist das als Neujahrsdedikation konzipierte Figurengedicht für
Wolffgang Dietherich Badern durchdrungen von allgemeinen Gedanken religiö
ser Erbauung, wie sie in der zeitgenössischen Emblematik omnipräsent sind.
Karst bestätigt damit, was er bereits im Vorwort der Sammlung ankündigt, dass
nämlich die Carmina zu allererst für den frommen Dienst an Gott formuliert sind.
Häusliche Andacht und anlassgebundene Widmung gehen hier Hand in Hand –
auch dies eine in der Lyrik des 17. Jahrhunderts weit verbreitete Praxis. Bemer-
kenswert ist an diesem Gedicht der kreative Umgang mit dem Buchstabenmate-
rial, der in seiner spielerischen Art aus heutiger Sicht gar nicht so richtig zum
frommen Thema passen will und an die visuelle Poesie der Moderne erinnert,
etwa an die Calligrammes von Guillaume Apollinaire. Doch zeigt das vielseitige
intermediale Spiel figuraler Gedichte in der frühen Neuzeit und der verbreitete
Einbezug derartiger Elemente in die damalige Erbauungsliteratur, dass sich reli-
giöser Ernst und dichterische Kombinatorik im 17. Jahrhundert nicht ausschlie-
ßen, im Gegenteil.47
47 Siehe dazu auch die grundlegende Untersuchung: Alfred Liede: Dichtung als Spiel. Studien
zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache. Neu hg. von Walter Pape. Berlin 1992 (Repr. d.
Ausg. Berlin 1963).
Register Register
Erasmus von Rotterdam, Desiderius 210, Harsdörffer, Georg Philipp 7, 15, 22–24, 33,
331, 333 164, 260, 275–279, 288, 301 f., 304, 335,
Eros 214 347–365
Haslinger, Gotthard 29
Farnese, Alessandro 225 Heidenreich, Elias 32 f.
Finckelthaus, Gottfried 133, 271 f. Heine, Heinrich 320
Fleming, Paul 127, 270, 272 f. Heinse, Wilhelm 309
Fontenelle, Bernard de Bovier de 122 f. Heinsius, Daniel 126
Franklin, Benjamin 219 Held, Heinrich 271, 273
Fredis, Felice de 306 Henning, Aegidius 260 f.
Friedrich II. (Kaiser) 227 Herder, Johann Gottfried 121 f., 124, 357
Funcke, Christian 22, 30 Hervieu, Dominique 104
Fürst, Paul 330 Heyden, Jacob van der 325–327, 330 f.
Furttenbach, Joseph 100, 114 Higgins, Dick 155, 168, 367
Hilliard, Nicholas 44
Gabriel 200, 208, 211 Hirt, Alois 307 f.
Galli-Bibiena, Fernando 111 f. Hochreither, Joseph Balthasar 30
Garrick, David 56, 74 Hoefnagel, Joris (Giorgio Tedesco) 181
Geiler von Kayersberg, Johann(es) 241 Homburg, Ernst Christoph 270, 284
Gentileschi, Orazio 180–183, 186 Homer 11, 59, 69, 209 f., 265
Gerhard Graf von Dönhoff 323 Höpfner, Wilhelm 320
Gerhard, Paul 338 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 39, 54, 60,
Gilio, Giovanni Andrea 200 62, 126 f., 242 f., 245, 262, 328, 339 f.,
Giorgione (Giorgio da Castelfranco) 342, 350, 352, 376
194 Huygens, Christiaan 36, 170
Giunta, Lucantonio 226
Giustiniani, Benedetto (Kardinal) 183 Jaucourt, Louis de 97
Gläser, Enoch 264, 270, 274 f., 277, 283 Jean, Duc de Berry (Herzog von Berry) 225,
Goethe, Johann Wolfgang 116–120, 122, 126, 228
128, 130, 134–137, 214, 307–310, 312 f., Johann Georg II. (Sachsen) 271
315, 317 f., 320 f.
Gomringer, Eugen 230 f. Kant, Immanuel 140, 144
Göring, Johann Christoph 270 Karl Hannibal von Dohna 322
Gottsched, Johann Christoph 122–124, 128, Kindermann, Balthasar 379
134, 325 Kindermann, Johann Erasmus 264, 279–284
Greflinger, Georg 283 Kircher, Athanasius 36, 170, 280, 284
Gregor der Große 248 Knorr von Rosenroth, Christian 264
Grüninger, Johannes 237, 240–243, Kormart, Christoph 37
245–248, 251, 256 f., 259 Kues, Nikolaus von 157 f., 171
Gryphius, Andreas 26, 31, 322, 324
Guth, Christian 266 Lair, Sigismondo (Gismondo Tedesco) 181
Landino, Cristoforo 243, 251, 257
Hagesandros 197 Lang, Franz 28
Hahn, Ulla 117 f., 128 Laokoon 4 f., 12 f., 16, 59, 62, 140, 154, 165,
Haller, Albrecht von 139, 314 179, 197 f., 200, 204, 206, 208, 210, 214,
Hallmann, Johann Christian 31 f. 306–321, 342, 358, 364
Händel, Georg Friedrich 15, 100 Leeu, Gerard 226
Register 393
Leopold IV. (Herzog von Österreich) 227 Mitchell, William J. Thomas 215
Leroi-Gourhan, André 217, 233 Mitternacht, Johann Sebastian 31
Lessing, Gotthold Ephraim 4, 13, 15 f., 140, Montaigne, Michel de 340
187, 306 f., 310–317, 321, 332, 337, 342, Montalvo, José 104 f., 106
358, 364 f. Monte, Francesco Maria del (Kardinal del
Liesfelt, Adriaen van 226 Monte) 188, 193, 213
Limburg, Herman 225 Monteverdi, Claudio 89, 91
Limburg, Johan 225 Moos, Carl Joseph 35
Limburg, Paul 225 Moritz, Karl Philipp 137, 308, 319
Lippi, Filippo 200 f., 210–212 Muling, Johannes Adelphus 241 f.
Lomazzo, Giovanni Paolo 198 Murner, Thomas 241, 256 f.
Longhi, Onorio 180, 182, 185
Lope de Vega Carpio, Félix 266 Nauwach, Johann 263
Ludwig IV. (Kaiser HRR) 227 Nicolai, Philipp 25
Lukrez (Titus Lucretius Carus) 60, 340 Nietzsche, Friedrich 140, 214
Lully, Jean-Baptiste 96, 99 f. Nikander 317
Lundelius, Benjamin 121
Luther, Martin 14, 128, 278, 292 f., 338, 386 Ogilby, John 313
Lykophron 307 Opitz, Martin 24, 117, 124–128, 130–135,
263 f., 266, 268–270, 272–274, 279 f.,
Machiavelli, Niccolò 196 322–328, 330–342, 344, 346
Maher, Miranda 234 Orpheus 279–281, 283
Malutzki, Peter 230 f. Orsi, Prospero 181
Manasser, David 262 Ovid, Publius (Publius Ovidius Naso) 50, 58,
Mancinelli, Antonio 243, 245–247 202, 270, 336, 352
Mander, Karel van 342, 363
Marais, Marin 100 Palma il Vecchio, Jacopo (Jacopo
Maria 208, 210, 222 f., 226, 292, 352 Negretti) 202
Marmontel, Jean-François 101 Pauli, Johannes 241
Martial, Marcus Valerius 192, 194, 214 Pauson 313 f.
Masen, Jacobus 28, 32 Perrier, François 306
Masereel, Frans 229, 231 Perrière, Guillaume de la 209 f.
Mastelletta (Donducci, Giovanni Andrea) 181 Petrarca, Francesco 80, 82–85, 87, 89 f.,
Mattheson, Johann 38, 101 92 f., 126, 237, 245, 265 f.
Maximilian I. (Kaiser HRR) 227, 256 Petronius Arbiter, Titus (Petron) 214
McKillop, Sarah 234 Philostrat der Ältere (Flavius Philostratos) 59,
McLuhan, Marshall 5, 10, 12, 332 62–64, 69–72
Meier, Peter 226 Pigouchet, Philippe 227
Mercier, Louis-Sébastien 174 Pino, Marco 208
Merisi da Caravaggio, Michelangelo 180, Piombo, Sebastiano del (eigentlich
182 f., 185, 187–189, 191, 207 f., 210, Luciani) 194, 196
214, 363 Plantin, Christoph 227
Mettrie, Julien Offray de la 311 Platon 44, 46 f., 88, 133, 214, 300, 333
Michelangelo (Michelangelo di Lodovico Plinius d. Ä. 248, 306, 350
Buonarroti Simoni) 207 f. Plutarch 59–63, 334, 350
Minitti, Mario 193 Polydoros 197
Misler, Johann Hartmann 26 Polygnotus 314
394 Register
Pomarancio (Roncalli, Cristoforo) 181 Sidney, Sir Philip 40–42, 46 f., 49,
Pozzo, Andrea 110, 112 260
Praxiteles 191 Sieber, Justus 273
Psyche 203 f. Simonides von Keos 155, 376
Puttenham, George 46 f. Sokrates 44, 214
Sombart, Werner 219
Quinault, Philippe 99, 103, 113 Sopher, Gervasius 241
Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus) 59, Sorel, Charles 355
61 f., 64–68, 73, 249, 287, 295 Spieß, Christoph Paul 21
Staden, Johann 279
Raffael (Raffaello Sanzio da Urbino) 62, 194, Staden, Sigmund Theophil 23, 330
210, 265 Stieler, Kaspar 34
Rameau, Philippe 100, 104–106, 109, 111, Stolle, Philipp 131 f.
114 Stranitzky, Joseph Anton 34
Reimarus, Hermann Samuel 311 f. Strobel, Bartholomäus d. J. 322–325, 332,
Rettenpacher, Simon 22 334–338, 341–343, 345 f.,
Reusner, Nikolaus 327 Stubbs, George 314
Rilke, Rainer Maria 136, 229, 231–233 Sulzer, Johann Georg 27 f.
Ringmann, Matthias 241 f.
Ripa, Cesare 199 f., 321 Tempesta, Antonio 181
Rist, Johann 23, 27, 34 f., 264–266, 268 f., Terenz (Publius Terentius Afer) 242, 245,
271, 273, 282–284, 290 247–249, 256
Robida, Albert 176–178 Themistokles 70
Ronsard, Pierre de 125, 266 Thourneyser, Johann Jakob 306
Roos, Johann Melchior 314 Tieck, Ludwig 135 f., 138
Roscius (Quintus Roscius Gallus) 72 f., 75 Tizian (Tiziano Vecellio) 194 f., 320
Rose, Christian 25 f. Tonnis, Jan 29
Rosner, Ferdinand 30 Trisegni, Filippo 180, 182 f., 185
Rotolanti, Gregorio 182 Troschel, Peter 269, 274
Rousseau, Jean-Jacques 98, 103 f., 108 Tscherning, Andreas 271, 273
Rubert, Johann Martin 282 f.
Uccello, Paolo 159
Sadoleto, Jacopo 316 Unger, Johann Friedrich 116
Saint-Mard, Rémond de 96
Salini, Tommaso 180, 182, 184–186 Vasari, Giorgio 14, 208, 210, 363
Salomon, Bernard 205 Venus 27, 34, 204, 283 f.
Sandrart, Joachim von 14, 306, 348, 364 Vérard, Antoine 227
Scaliger, Julius Caesar 126, 278, 368 Vergil (Publius Vergilius Maro) 71, 130,
Schiller, Friedrich 56, 116, 318–320, 381 242–252, 254–259, 307, 312 f., 315–319,
Schirmer, David 130–134, 271, 273 321
Schöfferlin, Bernhard 258 Viau, Théophile de 266
Schubert, Franz 135 Vinci, Leonardo da 14, 191
Schütz, Heinrich 269 Volpato, Giovanni 320
Seneca 296, 360 Voltaire (François-Marie Arouet) 103
Servius (Maurus Servius Honoratus) 243, 255 Vondel, Joost van den 266
Shakespeare, William 39–53, 55 f., 58 f., Vos, Jan 22 f., 86
67–71, 74
Register 395