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Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening
Theo Kobusch · Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa
Volume 13
Schrift und Liebe
in der Kultur
des Mittelalters
Herausgegeben von
Mireille Schnyder
◯
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier,
das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISSN 1612-443X
ISBN 978-3-11-020315-8
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
Inhaltsverzeichnis
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Stephan Müller:
Sprechende Bücher – verschwundene Schrift. Probleme und
Praktiken der Kodifizierung von Intimität in der Volkssprache
im Früh- und Hochmittelalter. Zugleich eine These zur
Spätüberlieferung des Minnesangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Astrid Bußmann:
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn’.
Variationen des Liebesgeständnisses
in Heinrichs von Veldeke Eneasroman . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Christoph Huber:
Minne als Brief. Zum Ausdruck von Intimität im nachklassischen
höfischen Roman (Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens;
Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich) . . . . . . . . . . . . . 125
Margreth Egidi:
Schrift und ‚ökonomische Logik‘ im höfischen Liebesdiskurs:
Flore und Blanscheflur und Apollonius von Tyrland . . . . . . . . . . . . . 147
Barbara Kuhn:
Körperzeichen, Zeichenschrift, Schriftkörper: die Liebe der Schrift
in Dantes Vita nuova . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
VI Inhaltsverzeichnis
Ludger Lieb:
Minne schreiben. Schriftmetaphorik und Schriftpraxis
in den ‚Minnereden‘ des späten Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . 191
Susanne Reichlin:
Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung:
Sprache und Begehren im Märe Des Mönchs Not . . . . . . . . . . . . 221
Andreas Kraß:
Ein sehr herrlich Gestalt eins Weibsbilds. Helena als Figur
des Begehrens in der Historia von D. Johann Fausten . . . . . . . . . . 243
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters.
Einführung
chen Studien zur höfischen Liebe ist der mediale Aspekt zwar immer mit
bedacht, nie aber in seiner konstitutiven Relevanz gesehen.7 Eine engere
Verknüpfung von historischer Emotionalitätsforschung und medientheore-
tischen Fragestellungen ist, trotz entsprechender Tendenzen in neueren Ar-
beiten, noch Desiderat.8 Hier setzt der vorliegende Band an, der auf ein im
Oktober 2005 in Konstanz veranstaltetes Kolloquium zurückgeht.9
Die Zeit des 11. bis 15. Jahrhunderts ist die Zeit der Verschriftlichung
der Volkssprachen und des Eindringens der Schrift in die Bereiche von
Verwaltung, Rechtswesen und Herrschaftsausübung. Dieser Prozess der
‚Verschriftung‘10 der europäischen Kultur bildet seit längerer Zeit einen
Schwerpunkt des Forschungsinteresses, wobei in erster Linie die dadurch
sich verändernden politischen Handlungsmöglichkeiten (Herrschafts-,
Verwaltungs- und Kommunikationspraktiken) interessieren.11 Gleichzeitig
gibt es aus religions- und philosophiegeschichtlicher Perspektive Arbeiten,
Ages. Hrsg. von JAN M. ZIOLKOWSKI, Leiden, Boston, Köln 1998, S. 139-154; JAN M. ZI-
OLKOWSKI: Alan of Lille’s Grammar of Sex. The Meaning of Grammar to a Twelfth-Cen-
tury Intellectual, Cambridge 1985; CAROLYN DINSHAW: Chaucer’s Sexual Poetics, Madinson
1989; ERIC JAGER: The Tempter’s Voice: Language and the Fall in Medieval Literature,
Ithaca, N.Y. 1993, v. a. S. 61-75, 244-51.
7 WILHELM WATTENBACH: Das Schriftwesen im Mittelalter, Leipzig 1875; ERNST ROBERT CUR-
TIUS: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern, München 101984; HARTMUT
HOFFMANN: Zur mittelalterlichen Brieftechnik. In: Spiegel der Geschichte. Festschrift Max
Braubach. Hrsg. von KONRAD REPGEN/STEPHAN SKALWEIT, Münster 1964, S. 141-170.
8 Es sind nicht zuletzt die neuen Medien, die die Notwendigkeit dieser Verknüpfung deutlich
werden lassen. Hingewiesen sei nur auf ein paar der neusten Studien: Mediale Emotionen. Zur
Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound. Hrsg. von OLIVER GRAU u. a., Frankfurt a. M.
2005; Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne. Hrsg. von FRANK
BÖSCH/MANUEL BORUTTA, Frankfurt a. M. 2006; Homo medialis. Perspektiven und Probleme
einer Anthropologie der Medien. Hrsg. von MANFRED L. PIRNER, München 2003. Wie eng
diese zwei Erkenntnisfelder zusammengeführt werden können, zeigt sich auch in den gerade
auch für diese Fragestellung grundlegenden und vielfältig weiterführenden Überlegungen der
Systemtheorie. Vgl. dazu: NIKLAS LUHMANN: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.
M. 1997, v. a. S. 249-291 und 316-393; NIKLAS LUHMANN: Liebe als Passion. Zur Codierung
von Intimität. Frankfurt a. M. 1982. Zum Desiderat in der Mediävistik vgl. oben, Anm. 1.
9 Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Konstanz, 13.-15. Oktober 2005. In Zusammen-
arbeit mit Christian Kiening und dem Nationalen Forschungsschwerpunkt „Medienwandel –
Medienwissen – Medienwechsel“ der Universität Zürich. Die Veranstaltung wurde ermöglicht
durch: Gerda-Henkel-Stiftung, Stiftung Landesbank Baden-Württemberg, Sparkasse Boden-
see, Universitätsgesellschaft Konstanz e. V., Star-Minen. Ihnen sei hier herzlich gedankt.
10 Zum Begriff der Verschriftung vgl. WULF OESTERREICHER: Verfschriftung und Verschriftlichung
im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit. In: Schriftlichkeit im frühen Mit-
telalter. Hrsg. von URSULA SCHAEFER, Tübingen 1993 (ScriptOralia 53), S. 267-292.
11 Vgl. die durch die DFG unterstützten Sonderforschungsbereiche, die sich in grösserem
Rahmen dem Problem der Verschriftung der Lebenswelt widmeten: SFB 231 „Pragmatische
Schriftlichkeit im Mittelalter“, Universität Münster sowie SFB 321 „Übergänge und Span-
nungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“, Universität Freiburg. Dazu u. a.
Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen.
Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Einführung 5
welche die sich im 12. und 13. Jh. herausbildende ‚Textkultur‘ in Zusam-
menhang bringen mit einer intensivierten Erforschung der Beziehung von
Sprache und Realität in dieser Zeit, dem Entstehen eines „Inventars inter-
pretierter Erfahrung“ (Stock), sowie einer Veränderung von Bewusst-
seinsstrukturen und Interpretationsmodellen, die unter anderem – als
Folge des Versuchs, logische und natürliche Veränderungen zu paralleli-
sieren sowie dem wachsenden Interesse an der Natur in der Scholastik – zu
einer ‚Entsakralisierung‘ des natürlichen Universums führten.12 Dabei
wird auf die enge Verbindung dieser Entwicklung eines neuen Intellektua-
lismus mit sozialgeschichtlichen und religionspolitischen Veränderungen
hingewiesen. Zu der herausragenden Bedeutung der Grammatik (ars gram-
matica) für die sich in der Auseinandersetzung mit Schrift konstituierende
mittelalterliche Kultur sowie die Wirkung dieser Kunst auf die Wahrneh-
mungsstrukturen gibt es verschiedene Untersuchungen.13 Einzelstudien
Bd.1. Hrsg. von PETER DRONKE, Oxford 1965, S. 282f.; Erotischer Grammatikbetrieb (Scribere
clericulis). In: Parodie im Mittelalter. Hrsg. von PAUL LEHMANN, 2. Aufl. Stuttgart 1963, S.
223f.; Walther von Châtillon: Declinante frigore. In: Vagantendichtung. Lateinisch und deutsch.
Hrsg. und übers. von KARL LANGOSCH, Bremen 1968, S. 84-87. Man kann in der mlat. Ge-
lehrtenerotik von einem eigentlichen Fetischismus der Schreibutensilien reden. Vgl. u.a. Das
Klagelied eines Abtes und Erzbischofs im 12. Jahrhundert über die alte Wachsschreibtafel in der Über-
setzung von Dr. Moser. In: Vom Wachs. Wachs als Beschreib- und Siegelstoff. Wachsschreib-
tafel und ihre Verwendung. Hrsg. von R. BÜLL, Frankfurt a. M., Hoechst 1968 (Höchster
Beiträge zur Kenntnis der Wachse, Bd. 1.9), S. 876f.; Richard de Bury: Philobiblon. In: Das
Buch vom Buch. Mit einer Übersetzung des Philobiblons von LUTZ MACKENSEN. Hrsg. von
HELMUT PRESSER, Bremen 1962, S. 279-360.
14 Vgl. dazu Anm. 7.
15 Zu Gedächtniskonzepten und Wissensordnungen: MARY CARRUTHERS: Reading with Atti-
tude, Remembering the Book. In: The Book and the Body. Hrsg. von D. WARWICK FRESE/K.
O’BRIEN O’KEEFE, Notre Dame, Indiana 1997, S. 1-33; MARY CARRUTHERS: The Book of
Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1990; Friedrich Ohly: Zum
Buch der Natur. In: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeu-
tungsforschung. Hrsg.von UWE RUBERG/DIETMAR PEIL. Stuttgart, Leipzig 1995, S. 726-843;
RICHARD H. ROUSE: L‘évolution des attitudes envers l’autorité écrite: le développement des
instruments de travail au XIIIe siècle. In: Culture et travail intellectuel dans l’Occident mé-
diéval. Bilan des ,Colloques d’humanisme médiéval‘. Hrsg. von GENEVIÈVE HASENOHR/
JEAN LONGÈRE, Paris 1981, S. 115-144; PAUL SAENGER: Space Between Words. The Origins
of Silent Reading, Stanford 1997.
Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Einführung 7
grundlegend bis in die Neuzeit bestimmt. Zu denken ist hier unter anderem
an die Geschlechtergeschichte in Bezug auf Kreativität und Intellekt, an
die Wahrnehmung des Körpers und seiner „richtigen“ Handlungsweisen,
an Konzepte der Geist- und Körper-Thematik, an eine Umkehr und Um-
deutung der Schreib- und Sprachmacht im Rahmen der Rhetorik(geschichte)
und Literatur(geschichte).16
Indem dabei die Liebe – im Sinne einer kulturellen Formung der
menschlichen Sexualität – in den Blick genommen wird, bietet sich die
Möglichkeit, die sich im Medium artikulierende und darin artikulierte Kör-
perlichkeit des Menschen, wie sie gerade im Liebesdiskurs gern als „Natur“
(im Gegensatz zu Kultur) definiert wurde, in ihrer medialen Bedingtheit
und Formung zu thematisieren. Im Bereich des sexuellen Begehrens, da,
wo unter anderem von einer ‚orthographia Veneris‘ (Alanus ab Insulis) die
Rede ist,17 lässt sich exemplarisch fragen, wie durch die Schriftpraxis ge-
prägte Denk- und Wahrnehmungsmuster die Deutung und darin Konsti-
tuierung „natürlicher“ Vorgänge leiten und es zu einer Literarisierung der
„Natur“ kommt. So soll dieser Band auch Teil einer noch zu schreibenden
„Mediengeschichte der Emotionen“ sein.
Interessant ist aber, dass es gerade das Thema der Liebe ist, das die
Fragestellung in einer Art zuspitzt, die immer wieder neu erregt und reich-
lich Zündstoff bietet. Denn wenn eine kultur-konstruktivistische Lesart
davon ausgeht, dass es durch einen medialen Wandel zu Neucodierung
und Neuorganisation von Denkstrukturen, Deutungsmustern und Sinn-
ordnungen kommt, wird die emphatisch aufgeladene Authentizität und
Unmittelbarkeit des Gefühls zweifelhaft. Authentizität und Unmittelbar-
keit sind aber gerade die Kriterien, die in jedem Liebesdiskurs das Ideal
bestimmen.18
Hier liegt eine grundlegende Schwierigkeit der medienanthropologischen
Forschungsdiskussionen zum Verhältnis von Medialität und Emotionalität.
Es ist ein neuralgischer Punkt, der bei entsprechenden Untersuchungen
zur „Trauer“ kaum schmerzt, der sich aber bei der Frage nach der „Liebe“
regelmäßig entzündet. Selbst da, wo grundsätzlich die kulturelle Bedingtheit
von sozialen Handlungsweisen und damit verbundenen Emotionen aner-
kannt wird, gibt es einen leisen Vorbehalt, wenn es um die Liebe geht. Denn
dieses Gefühl will man sich als authentisches nicht nehmen lassen, das heißt
immer auch: genuin eigenes, voraussetzungsloses und reines. Aus dem
Liebesdiskurs ist der Essenzialismus nicht wegzudenken.19
Der vorliegende Band will nicht in diese Debatte einsteigen, sondern
hat zum Ziel, in der präzisen Fokussierung der medialen Aspekte das The-
ma der Liebe exemplarisch für historische Emotionalitätsforschung unter
medialen Aspekten anzugehen. Entsprechend stehen medientheoretische
Kategorien im Vordergrund der Analyse.20
18 Dass die Problematik von Authentizität an die Differenzierung von Innen und Außen ge-
koppelt ist, wird immer wieder betont. Dass dies mit Denkstrukturen, die durch Schriftlich-
keit ermöglicht werden, zusammenhängt, zeigt sich auch in den vorliegenden Studien. Evo-
lutionspsychologische Thesen, wie „die Entdeckung der Innerlichkeit“ um 1200 (oder je nach
Forschungshorizont: um 1800), können so in ihrer Problematik entschärft werden. Denn
wenn die Trennung einer innerlichen und äusserlichen Welt als Folge von in der Schriftlichkeit
sich ausprägenden Denkstrukturen gesehen wird, erstaunt nicht mehr, dass dieses Phänomen
in der lateinischen Literatur schon früher auftaucht als in der volkssprachlichen. Zu diesem
Staunen und der entwicklungspsychologischen These vgl. SCHNELL (Anm. 1), S. 251ff.
19 Diese Schwierigkeit der Debatte, die auch im Beitrag von PETER VON MOOS reflektiert ist,
zeigt sich nicht zuletzt bei den engagierten Beiträgen von RÜDIGER SCHNELL in Reaktion auf
entsprechende medienanthropologische Forschungsansätze. U. a. RÜDIGER SCHNELL: Medi-
alität und Emotionalität. Bemerkungen zu Lavinias Minne. In: GRM 55 (2005), S. 267-282.
Es handelt sich dabei um eine Art Gegenschrift zu MIREILLE SCHNYDER: Imagination und
Emotion. Emotionalisierung des sexuellen Begehrens über die Schrift. In: Codierungen von
Emotionen im Mittelalter. Hrsg. von C. STEPHEN JAGER/INGRID KASTEN, Berlin, New York
2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. 237-250.
20 Vgl. zu diesen grundlegenden Kategorien der Schriftlichkeitsforschung u. a. WALTER J. ONG:
Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London, New York 1982.
21 Zu diesem Begriff vgl. ALEIDA ASSMANN: Exkarnation. Gedanken zur Grenze zwischen
Körper und Schrift. In: Raum und Verfahren. Hrsg. von JÖRG HUBER/ALOIS MARTIN MÜL-
LER, Basel 1993 (Interventionen 2), S. 133-155.
Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Einführung 9
22 Vgl. dazu u. a.: ZIOLKOWSKI: Alan of Lille’s Grammar of Sex. (Anm. 6); ZIOLKOWSKI:
Obscenity in the Latin Grammatical and Rhetorical Tradition (Anm. 6); JOHN A. ALFORD:
The Grammatical Metaphor. A Survey of Its Use in the Middle Ages. In: Speculum 57
(1982), S. 728-760.
23 Zur grammatischen Erotik vgl. auch die Untersuchungen zu einzelnen Texten. PAUL LEH-
MANN: Die Parodie im Mittelalter, 2. Ausg., Stuttgart 1963; ROBERTA KRUEGER: Constructing
Sexual Identities in the High Middle Ages. The Didactic Poetry of Robert de Blois. In: Pa-
ragraph 13 (1990), S. 105-131; C. STEPHEN JAEGER: Ennobling Love. In Search of a Lost
Sensibility, Philadelphia 1999.
10 Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Einführung
überliefert sind, zielen immer auch auf eine Partizipation einer literari-
schen Öffentlichkeit, die an diesem intimen Diskurs Teil haben soll und
dadurch zu Empathie angeleitet wird. Die Intimität der Briefe ist im-
mer auch eine öffentliche, damit eine rhetorisch-poetologisch zugerichtete
(HUBER, VON MOOS).
Gleichzeitig bietet diese Möglichkeit der Abstrahierung vom präsenten
Körper und der konkreten Situation, über die das Physische aus dem Dis-
kurs ferngehalten werden kann, auch die Möglichkeit einer Radikalisierung
des Affekts, wie sie im physischen Vollzug nicht eingeholt werden kann/
muss. Über die Schrift erschließt sich eine Welt jenseits des Erträglichen,
jenseits des Todes und jenseits des Körpers (HUBER, BUßMANN, KUHN).
So ermöglicht die Schrift im Liebesdiskurs ein Reden da, wo im konkreten
Erlebnis die Sprache versagt und setzt sich an die Stelle, wo die Erfahrung
im Überwältigtsein sich selber auslöscht. Damit wird die körperliche Liebe
im Schriftdiskurs zur Aporie. Anders als im auf orale Performanz ange-
legten Minnesang, wo die Liebe den Liebenden verstummen lässt, ist es
hier der Körper, der sich dem Liebenden verweigert, während die Schrift
zum Instrument der Liebe wird (KUHN, LIEB). Als solches funktioniert sie
aber nur, weil darüber auf den durch die Schrift vermittelten Diskurs der
Liebe zurückgegriffen werden kann.
Dass aus dieser Rationalisierung der Liebe über die Schrift immer wie-
der neu Auswege gesucht werden, um dem Ideal einer unfassbaren, die
Ratio gerade übersteigenden Emotion als Signum „wahrer Liebe“ nahe zu
kommen, wird nicht zuletzt da deutlich, wo die Schrift in einer Re-Mythi-
sierung der im Schriftdiskurs allegorisierten mythischen Figuren überwun-
den werden soll auf den Bereich eines unaussprechlich Besonderen hin
(QUAST/SCHAUSTEN). Damit zeigt sich die authentische Liebe deutlich als
Sehnsuchtsziel schriftliterarischer Diskurse sowie die Unbegreiflichkeit der
Liebe als ihr imaginäres Konstituens.
Indem in der Schrift das aus dem Kontext gelöste Wort möglich ist,
kann über Rekontextualisierung, Verschiebung, Neucodierung eine grund-
sätzliche Reflexion der Begrifflichkeit, Sprachlichkeit und damit kulturellen
Ordnung vorgenommen werden, worüber auch die sich in diesen Ord-
nungen konstituierenden Liebesdiskurse irritiert werden (REICHLIN, KUHN).
Gleichzeitig erzeugen diese Verschiebungen im schriftliterarischen Verfah-
ren ein textuelles Begehren. Damit wird der schriftliterarische Text zum
Mittel der Erzeugung von Liebe als rhetorischem Effekt. Die Figur der
begehrten Frau wird zur Begehrenswerten durch die Tradition der schrift-
lichen Überlieferung und die Mimesis des früheren Begehrens. Das Liebes-
objekt wird zum Produkt des schriftgelehrten Wissens (KRAß, VON MOOS,
LIEB).
Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Einführung 11
25 Die divergierenden Deutungen eines solchen Phänomens der frühen Verschriftlichung (des
St. Galler Spinnwirtelspruch) in den Beiträgen von MÜLLER und HUBER ist Indiz genau
dieser grundlegenden Problematik.
Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Einführung 15
„neuer Ritter“, wird zum besten Liebhaber – und lässt Pfaffen und Ritter,
die sich früher darum stritten, hinter sich.28 Die Liebe spielt sich nicht mehr
in der Distanz der Schrift ab, sondern in der Nähe der Körper.
Die hier kurz skizzierten Ergebnisse fußen auf den Beobachtungen der
einzelnen Beiträge, die sich mit verschiedenen Formen der Schrift-Liebe
auseinandersetzen. Dabei hat sich die Frage nach der Authentizität als eine
der Kernfragen erwiesen, die in ganz verschiedener Art immer wieder auf-
taucht, immer neu aber auch als der imaginäre Kern dessen deutlich wird,
was sich diskursiv als Liebe konstituiert.
Der Beitrag von PETER VON MOOS führt exemplarisch vor Augen, wie die
Frage nach der Medialität der Liebe immer wieder mit der Frage nach der
Authentizität konfrontiert wird. In philologischer Genauigkeit zeigt von
Moos auf, wie die in den Epistolae duorum amantium verschriftlichte Liebe
Produkt ihrer medialen Darstellung und Präsentation ist, die nicht nur eng
mit der Materialität der Schriftmedien zusammenhängt, sondern auch mit
dem rein schriftlichen Liebesdiskurs, wie er sich aus der ars dictaminis im
späteren Mittelalter als eine Art ars amandi entwickelt hat, so dass Liebe zur
Briefkunst wurde und Briefkunst als Liebeskunst vermittelt wurde.
Da, wo die Medialität und Materialität des Liebesausdrucks in den
Blick kommen, wird die Fiktionalität dieser Briefe als geschriebene, schein-
bar intime Zeugnisse eines persönlichen Ausdrucks deutlich. Authentische
Gefühle sind in den stilisierten Texten und der vervielfältigten, kopierten,
gekürzten, veränderten und überarbeiteten Schrift nicht zu haben. Das
macht Projektionen dieser angelesenen Gefühle auf ein als authentisch
definiertes Fühlen eines scheinbar identifizierbaren Liebespaars proble-
matisch.
Dass dieser Blick auf das Mediale als konstituierendes Moment in der
Figuration der Liebe für Zündstoff sorgt, zeigt die im Beitrag skizzierte
Debatte um eben die Zuschreibung dieser Liebesbriefe. Die Schrift als Mo-
ment der Anonymisierung und Abstrahierung sowie Mittel der Einspeisung
in eine Tradition und Überlieferung wird im Bezug auf diese Briefsamm-
lung gern negiert. Insofern ist der Beitrag von PETER VON MOOS ein idealer
Einstieg in die Frage nach dem Verhältnis von Schrift und Liebe, der Kons-
tituierung und Veränderung des Liebesdiskurses durch den Schriftgebrauch
und die Einbindung des Liebesredens in das Schrifthandeln.
28 Zum Topos des Streits zwischen Pfaffe und Ritter vgl. u. a. Die Leda-Parodie (Inaspectam). In:
Vagantendichtung. Lateinisch und deutsch; Hrsg. und übers. von KARL LANGOSCH, Bremen
1968, S. 258-279; Venus. In: Sterzinger Spiele. Die weltlichen Spiele des Sterzinger Spielar-
chivs nach den Originalhandschriften (1510-1535) von Vigil Raber und nach der Ausgabe
Oswald Zingerles (1886). Hrsg. von WERNER M. BAUER, Wien 1982 (Wiener Neudrucke 6),
S. 206-236.
Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Einführung 17
kommunikation tritt. Dies zeigt sich nicht nur in der Konstituierung eines
hermeneutischen Innenraums, sondern auch an der Rezeption und Ver-
breitung der Minnereden in engeren, exklusiven Kreisen. Die Textpraxis
der Minnereden ist Liebespraxis. Diese aber wird als eine bessere Welt
imaginiert, als utopischer Raum, wie er sich erst in einer ausgeprägteren
Schriftkultur entwickeln kann.
Auch hier wird deutlich, dass es über die Schriftlichkeit zu einer Öko-
nomisierung der Liebe und einer regelrechten Minne-Bürokratie kommt,
in der sich die Liebesgemeinschaft als eine Schrift-Gemeinschaft konstitu-
iert. Indem die Minnereden als Texte konzeptueller Schriftlichkeit gedacht
werden müssen, inszenieren sie die Authentizität über die Schrift: Die
Schrift (als Buch, als Zettel, als Brief) dient einerseits immer als Beweis der
Authentizität des Minneleidens und ist anderseits die alleinige Möglichkeit,
in die Welt der Minne einzutreten. Gleichzeitig handelt es sich um einen
Prozess der Ästhetisierung der persönlichen Minne des Ich-Sprechers, die
über das Produzieren von Minnereden auf Dauer gestellt wird. Die in den
Herzinnenraum verlegte Minnekommunikation, die nur als schriftliche
möglich ist, löst sich von dem Gegenüber ab. Es ist ein Lieben, wie es nur
denkbar ist in einer rein schriftlichen Welt.
Die schriftgenerierte Minne ist auch Thema des Beitrags von SUSANNE
REICHLIN zu dem Märe Des Mönchs Not. Im Vordergrund der Überlegungen
steht das Begehren als Produkt eines Diskurses und Effekt sprachlicher
Prozesse. Dabei zeigt sich auch hier, dass im Rahmen der Schriftkultur, die
das verabsolutierte, aus dem Kontext gelöste Wort erst möglich macht,
über Verschiebungen und Neukontextualisierungen Diskurse reflektiert
werden. Als Hintergrund der in diesem Text reflektierten Missverständnis-
se, die durch die fremde Kontextualisierung von einzelnen Wörtern her-
vorgerufen werden, ist die scholastische Schriftkultur zu sehen. Das Wort/
Zeichen erscheint von Beginn an als ein verschobenes, was das Interesse
auf die Figur der Verschiebung richtet. Die Kontextlosigkeit des Einzel-
worts, wie es am Anfang eingeführt wird, stellt das literarische Potential der
Vieldeutigkeit der Schrift aus. Damit wird in der Schriftszene am Anfang
eine „poetologische Urszene“ schriftliterarischen Erzählens sichtbar. Das
Begehren in Des Mönchs Not wird nicht auf der Handlungs-, sonder allein
auf der Erzählebene erzeugt. Das textuelle Begehren ist jedoch kein gene-
rell hermeneutisches, sondern Schriftpraxis, die mit Zitat, Isolierung, Re-
kontextualisierung arbeitet.
Indem das Verhältnis von Sprache und Begehren auf den unterschied-
lichen Ebenen des Textes und in verschiedenen medialen Konstellationen
untersucht wird, findet sich eine irritierende Kongruenz von Diskurs und
Körper. Denn wenn der Minnediskurs durch den Körper eingeholt wird,
dieser aber in ein dem Minnehandeln entgegengesetztes Gewaltgeschehen
eingebunden ist, kommt es in den Mären zu einer Dissoziation von Körper
22 Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Einführung
1 Das Folgende hebt einige neue Aspekte hervor gegenüber PETER VON MOOS: Die Epistolae
duorum amantium und die ,säkulare Religion der Liebe‘. Methodenkritische Vorüberlegungen
zu einem einmaligen Werk mittellateinischer Briefliteratur. In: Studi Medievali 44.1 (2003),
S. 1-113, und DERS.: Abaelard, Heloise und ihr Paraklet: ein Kloster nach Maß. Zugleich eine
Streitschrift gegen die ewige Wiederkehr hermeneutischer Naivität. In: Das Eigene und das
Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum. Hrsg. von GERT MELVILLE/
MARKUS SCHÜRER, Münster u. a. 2002 (Vita regularis 16), S. 563-620. Auch der nachträgliche
Exkurs zur Neuauflage dieses Beitrags in meinen Gesammelten Studien zum Mittelalter, Bd.
I: Abaelard und Heloise, Münster 2005, S. 282-292, wird hier vertieft und erweitert. – Ohne
negative Wertung scheint mir an dem Briefwechsel eine beabsichtigte stilistische Artifizialität
zentral, wie ich sie ähnlich schon in Die Epistolae..., S. 40, als Gegensatz aller neuzeitlichen
Ausdrucksästhetik beschrieben habe. Ich komme hier nicht mehr darauf zurück. Vgl. auch
GILES CONSTABLE: Sur l’attribution des Epistolae duorum amantium. In: Académie des Inscrip-
tions & Belles-Lettres, comptes rendus, nov.- déc. 2001, Paris 2001, S. 1679-1693, hier S.
1690: „Les références érudites, le vocabulaire élégant et la recherche de la variété […] tout a
plus odeur d’huile que de pressante passion. […] ici chaque formule de salutation est diffé-
rente et souvent plate, comme si la recherche d’une variété dans l’énoncé comptait plus que
l’expression d’un sentiment réel.“ (Dieser französische Beitrag ist eine erweiterte Neufassung
von: The Authorship of the Epistolae duorum amantium. A Reconsideration. In: Voices in
Dialogue: New Problems in Reading Womens’s Cultural History. Hrsg. von LINDA OLSON/
KATHRYN KERBY-FULTON, Notre Dame 2005, S. 167-178.)
2 Wissenschaftsgeschichtliche Hintergrundinformationen bei EWALD KÖNSGEN: „Der Nord-
stern scheint auf den Pol“. Baudolinos Liebesbriefe an Beatrix, die Kaiserin – oder Ex
Epistolis duorum amantium. In: Mittel- und neulateinische Studien für PAUL GERHARD SCHMIDT.
Hrsg. von ANDREAS BIHRER/ELISABETH STEIN, München, Leipzig 2004, S. 1113-1121.
3 Epistolae duorum amantium, Briefe Abaelards und Heloises? Hrsg. von EWALD KÖNSGEN, Lei-
den, Köln 1974 (Mittellat. Studien u. Texte VIII).
Vom Nutzen der Philologie für den Umgang mit anonymen Liebesbriefen 25
wurde, hier handle es sich um die frühen Liebesbriefe, die Abaelard und
Heloise, ihren eigenen Aussagen zu Folge vor der tragischen Trennung
ausgetauscht hatten. KÖNSGEN äußerte diese Annahme selbst vorsichtig
in alteram partem, ohne die ihr widersprechenden Argumente zu verschwei-
gen, und ließ das Problem schließlich unentschieden, wie dies schon das
Fragezeichen hinter seinem Titel: „Briefe Abaelards und Heloises?“ be-
zeugt, das er gegen den Widerstand des Reihenherausgebers KARL LAN-
GOSCH hartnäckig und mutig zu verteidigen wusste. Die Zuschreibungs-
Hypothese fand seinerzeit in den Rezensionen ziemlich einhellige Ableh-
nung.4 Dass sie eines Tages wieder ausgegraben und erneut ins Gespräch
gebracht würde, war abzusehen und hätte normalem Forschungsfortgang
auch durchaus entsprochen. Doch es kam nicht dazu. Ohne jegliche Dis-
kussion unter Mediävisten wurde die Zuschreibung an Heloise und Abae-
lard (in dieser Reihenfolge der Namen) 1999-2000 plötzlich als feste Tat-
sache verkündet, als gäbe es daran nichts mehr zu rütteln. CONSTANT J.
MEWS und STEPHEN C. JAEGER traten in drei unmittelbar hintereinander
erscheinenden und für ein eher breites englischsprachiges Publikum be-
stimmten Bänden mit folgenden Thesen vor die Öffentlichkeit:5 1. Die
Epistolae duorum amantium stammen unbedingt aus dem frühen 12. Jahr-
hundert, auch wenn sie erst um 1471 exzerpiert wurden; 2. sie haben zwei
verschiedene Autoren, nämlich einen verliebten Mann und eine verliebte
4 EDWARD F. LITTLE in: Cahiers de civilisation médiévale 19 (1976), S. 181f.; ANKE PARAVICI-
NI in: Francia 4 (1976), S. 844-7; HUBERT SILVESTRE in: Scriptorium 31 (1977), S. 130f.;
ARNULF STEFENELLI in: Zeitschrift für Romanische Philologie 93 (1977), S. 118f.; GIOACHI-
NO CHIARINI in: Maia 33 (1981), S. 245f.; A. PATTIN in: Tijdschrift voor Filosofie 41 (1979),
S. 521 sowie die Miszellen von UDO KINDERMANN: Abaelards Liebesbriefe. In: Euphorion
70 (1976), S. 287-295, bes. 291-5 und JEAN JOLIVET: Abélard entre chien et loup. In: Cahiers
de Civilisation Médiévale 20 (1977), S. 307-322, bes. S. 312.
5 CONSTANT J. MEWS: The Lost Love Letters of Heloise and Abelard, Perceptions of Dialogue
in Twelfth-Century France (with Translations by NEVILLE CHIAVAROLI/CONTANT J. MEWS),
New York 1999; DERS.: Philosophical Themes in the Epistolae duorum amantium, The First
Letters of Heloise and Abelard. In: Listening to Heloise, The Voice of a Twelfth-Century
Woman. Hrsg. von BONNIE WHEELER, New York 2000, S. 35-52; C. STEPHEN JAEGER: En-
nobling Love. In Search of a Lost Sensibility, Philadelphia 1999, S. 160-164, 226-229. JAN
ZIOLKOWSKI stellt eine – m. E. für die Internationalität der Forschung beunruhigende – ge-
ographisch-sprachliche Wasserscheide fest: Die Befürworter dieser Thesen „have been An-
glophone, preponderantly in the United States of America and Australia, to a lesser extent
in England. In contrast, the sceptics have been prevalently European.“ JAN ZIOLKOWSKI,
Lost and Not Yet Found: Heloise, Abelard, and the Epistolae duorum Amantium. In: Journal
of Medieval Latin 14 (2004), S. 169-200, hier S. 175. Diese Differenz dürfte mit dem unter-
schiedlichen Verbreitungstempo der ‚Internet-Kultur‘ einhergehen, die doch die wissen-
schaftliche Kommunikation eigentlich verbessern könnte und sollte, doch dort, wo sie zum
Hauptinformationsmittel aufgestiegen ist, geradezu epidemisch beschleunigte Formen einer
fama volans befördert, die alle kritische Prüfung und sorgfältige Diskussion unter Fachleuten
„rechts überholt“.
26 Peter von Moos
6 JAN ZIOLKOWSKI: Rez. C. MEWS, The Lost Love Letters. In: Mediaevalia et Humanistica 30
(2004), S. 152-156; DERS (Anm. 5); PETER DRONKE/GIOVANNI ORLANDI: New Works by
Abaelard and Heloise? In: Filologia Mediolatina 12 (2005), S. 123-178. Vgl. auch bereits
MICHAEL MECKLERs kritische MEWS-Rezension in: Speculum 78.2 (2003), S. 572-574 zu den
nicht zwingenden „similarities in vocabulary“; zu einzelnen vermeintlichen Analogien s.
auch die Anmerkungen in VON MOOS: Die Epistolae (Anm. 1), S. 7f., 43f., 73, 81f. Sogar
MICHAEL T. CLANCHY, ein anfänglich engagierter Befürworter der These, fragt sich in der
Einleitung zu seiner Neuausgabe der englischen Übersetzung in ‚Penguin Books‘: The Let-
ters of Abelard and Heloise, übers. von BETTY RADICE, London 2003, S. LXXVII: „Is the
coincidental use of a few words really significant?“ und verweist ebd. S. LXXXIV auf mei-
nen Beitrag von 2003. Um hier nur nochmals das meist diskutierte scibilitas herauszugreifen,
hat das Wort in der Stelle von Mulier (Ep. 53): De favo sapiencie si michi stillaret guttula scibilitatis,
einen ganz anderen Sinn als bei Abaelard (Dialectica I 2, 3), der es passivisch auf das „Er-
kennbare, Wissensmögliche, was man wissen kann“ bezieht, während Mulier von einer akti-
ven „Fähigkeit des Erkennens, vom Wissenkönnen“ (einem „Tröpfchen Verständnis“)
spricht. – Für die Ursache dieses Kurzschlusses zwischen kontext-entbundenen Einzelbe-
griffen hielt ich zuerst eine unkritische Verwendung elektronischer Datenbanken, doch das
auf http://www.abc.net.au/rn/relig/spirit/stories/s99224.htm transkribierte Interview
von MEWS (13. 2. 2000) lässt eher an eine extrem spezialistische Fixierung auf Abaelards
sprachlogische Terminologie („words“) denken: „I was reading these letters again […] and
I have to say that I got a cold chill down my spine, because some of the words that the man
who seems to be a famous teacher, having a very literary type of relationship with a brilliant
student of philosophy, these words, some of the words that he was using, I knew, because I
had been studying Abelard’s logic and the development of his ideas on language for many
years, in a very specialist environment.“ Die letztere Bemerkung erweckt allerdings auch den
unguten Eindruck eines vor Unkundigen vorgebrachten Autoritätsarguments. Diesen Ein-
druck verstärkt JAEGERS vorerst noch ganz begründungslose Berufung auf das Buch von
MEWS (in JAEGERS (Anm. 5), S. 275), „which places the ascription to Heloise and Abelard
beyond question“, bei gleichzeitiger Mitteilung, er habe diese Arbeit erst in der letzten Pha-
se der Drucklegung seines eigenen Buchs („when this manuscript was in its last stages“)
kennen gelernt. Auch wenn der Germanist sich im Nachhinein um alle möglichen Argumen-
te zur Abstützung dieses seines summarischen magister dixit bemüht hat (dazu s. gleich unten
und Anm. 8, 23, 43, 52), scheint doch am Anfang eine beinahe publizistische Eile den Ent-
scheid für die Zuschreibung beflügelt zu haben, als sei es darum gegangen, einen bereits
fahrenden Zug nicht zu verpassen. Das ist, was ich unter ‚Internet-Kultur‘ (oben Anm. 5)
verstehe.
28 Peter von Moos
SKI moniert, den Fund der Liebesbriefe des berühmten Paars als eine
unter Mediävisten unangefochtene „evidence“ anpriesen.7
Die für uns theoretisch interessantesten und provokantesten Aspekte
steuerte der angesehene Germanist C. STEPHEN JAEGER zunächst in seinem
Buch „Ennobling Love“ (1999) und in mehreren nachfolgenden Beiträgen
bei,8 weil er in geradezu paradigmatischer Weise die einstige Echtheitsdebatte
über die acht Klosterbriefe Abaelards und Heloises mit der jetzigen Zuschrei-
bungsdebatte verknüpfte. Auf diesem Pfade folgte ihm der französische His-
toriker SYLVAIN PIRON, der kürzlich die französische Übersetzung der Episto-
lae duorum amantium besorgte.9 Ich fasse hier die weitgehend gleich lautende
Argumentationsform beider Forscher zusammen. Ein bereits von MEWS an-
gedeutetes „Argument“ wurde in zwei Denkschritten verschärft: Wenn die
anonymen „Briefe eines Liebespaars“ nicht von Abaelard und Heloise stam-
men, wer sonst sollte sie dann geschrieben haben? Dies zu beantworten wäre
viel komplizierter als die nahe liegende, einfache, elegante und ökonomische
Annahme, sie stammen tatsächlich von dem berühmten Liebespaar. Hier
werden zwei klassische Sophismen gekoppelt, die ich mit 1. ‚Umkehr der
Beweislast‘ und 2. ‚facilior lectio‘ abkürze. Grundsätzlich ist niemand ver-
pflichtet, eine unbewiesene Zuschreibung durch Alternativvorschläge zu wi-
7 Die erste und einflussreichste Sensationsmeldung fand sich in der online-Rezension von BA-
RABARA NEWMAN in: The Medieval Review (TMR) vom 6. Januar 2000 (s. hierzu die „Ideo-
logiekritik“ von ZIOLKOWSKI, (Anm. 5), S. 177 und meinen Kommentar in: Heloise, Abaelard
und ihr Paraklet 2002 (Anm.1), S. 568-77). NEWMAN äußert sich heute vorsichtiger in ihrer
Besprechung der neuen Synthese von MEWS: Abelard and Heloise, Oxford 2005. In: H-
France Review 5, September 2005, Nr.102 (online): „Meanwhile, the skeptical position has
been argued by Jan Ziolkowski in North America and Peter von Moos in Germany, the lat-
ter with a polemical fervor rivaling that of Abelard and his enemies. I do not wish to reent-
er the fray in this review, for Ziolkowski’s arguments in particular deserve a thoughtful and
careful response. But in what follows I will adopt Mews’ usage and refer to the anonymous
letter-writers [!] as if they were in fact Abelard and Heloise.“ Meine hier beanstandete Pole-
mik (im Beitrag von 2002, nicht mehr jedoch in dem von 2003) richtete sich weniger gegen
eine an sich diskutierbare wissenschaftliche Hypothese als gegen deren „akademisch unkor-
rekte“, d.h. die Diskussion gerade blockierende Propagierung als sensationelles fait accompli
(so auch ZIOLKOWSKI, (Anm. 5), S. 178f. und unten bei Anm. 17).
8 JAEGER (Anm. 5); DERS.: The Epistolae duorum amantium and the Ascription to Heloise and
Abelard. In: OLSON/KERBY-FULTON (Anm. 1), S. 125-166; DERS.: A Reply to Giles Constable,
ebd., S.179-186; DERS.: Epistolae duorum amantium nr. 66: A Victorious Teacher, his Conquered
Rival, and his Rejoicing. Vortrag an der Medieval Academy, Seattle 2004, im Ersch. und online.
9 Lettres des deux amants attribuées à Héloïse et Abélard, traduites et présentées par SYLVAIN
PIRON, Paris 2005, bes. S. 7-28 (Présentation), S. 175-218 (Enquête sur un texte). Im übrigen
ist inzwischen auch der Darstellungsteil von ‚The Lost Love Letters‘ in französischer Sprache
erschienen: CONSTANT J. MEWS: La voix d’Héloïse: un dialogue de deux amants. Postface
inédite, trad. par EMILE CHAMPS avec la collaboration de FRANÇOIS-XAVIER PUTALLAZ et
SYLVAIN PIRON, Fribourg, Paris 2005; die „Postface“ in dem mir noch nicht zugänglichen
Buch wird hier in der englischen Online-Fassung zitiert: Postscipt. The Epistolae duorum
amantium and Discussions of Love in the Twelfth Century. Some Recent Debate.
Vom Nutzen der Philologie für den Umgang mit anonymen Liebesbriefen 29
derlegen (1); die Rückkehr zur Anonymität genügt; sie ist sogar die einzige
hinreichende und notwendige Gegenmaßnahme. Und ebenso grundsätzlich
lassen sich Werke nicht durch einfache Gewaltstreiche einer Benennung leib-
haftiger, insbesondere berühmter Autoren aus der Anonymität befreien (2),
sondern nur mühsam auf dem schmalen Weg einer allmählichen, konsequent
fortschreitenden Einkreisung bestimmter Textverwandtschaften unter gleich-
zeitiger Ausscheidung ‚falscher Verwandter‘. Sonst setzen wir das gerade im
Mittelalter verbreitete unphilologisch- vorwissenschaftliche Verfahren der
Zuschreibung von dubia et spuria an Kirchenväter und andere Berühmtheiten
fort, nur weil wir den horror vacui der Anonymität nicht ertragen.10
Die Verteidigung der ‚facilior lectio‘ hat in diesem Fall einen wissenschafts-
geschichtlichen Hintergrund: Mehrfach zeichnete JAEGER das Schreckge-
spenst der komplizierten Fälschungshypothesen BENTONs und SILVESTREs
hinsichtlich der acht berühmten Parakletbriefe an die Wand.11 Nur aus diesem
Zusammenhang erklärt sich die sonst unverständliche Behauptung, eine so
10 Vgl. in diesem Sinn auch ZIOLKOWSKI, (Anm. 5), S. 180f.: „The horror vacui that is understand-
able in nature must be avoided in the world of learning, where a principle comparable to
‚innocent until proven guilty‘ obtains: a text must be anonymous until the authorship has been
firmly established. Otherwise our horror anonymitatis will transport us back to the Middle Ages,
where poems were taken with abandon and attributed to Ovid, Walter Map, or other prestig-
ious authors or legends.“; analog bereits VON MOOS, Die Epistolae (Anm. 1), S. 7. – Zuversicht-
lich stimmt jedoch in dieser Hinsicht die neue lateinisch-deutsche Ausgabe in der gediegenen
Manesse Bibliothek der Weltliteratur: „Und wärst du doch bei mir“, Ex epistolis duorum aman-
tium. Hrsg. von EVA CESCUTTI/PHILIPP STEGER, Zürich 2005, in der die Unzuschreibbarkeit
des Werks ohne jegliche negative Konsequenz für dessen literarischen Wert schlicht als gege-
ben hingenommen wird. Über die Qualität dieser deutschen Übersetzung will ich mich hier
allerdings nicht äußern. Ich danke EWALD KÖNSGEN für ein paar Bemerkungen hierzu, die in
derselben Linie liegen wie seine feinsinnige Kritik bereits bestehender anderssprachiger
Übersetzungen in KÖNSGEN (Anm. 2). Einzig zum Titel „Und wärst du doch bei mir“ sei
angemerkt, dass er der bereits von PIRON (Anm. 9) in diesem Sinne missverstandenen prezi-
ösen Pointe des „Gute Nacht“-Wunsches aus der salutatio von Brief 15 entstammt : Cordi suo
fidelissimus eius noctem candidam et utinam mecum, die CHIAVAROLI/MEWS (Anm. 5), noch richtig
verstanden haben: „an unclouded night – would that it [the night] were with me.“ Zur diskurs-
typischen nox candida s. PAUL VEYNE, L’élégie érotique romaine, Paris 1983, S. 242.
11 Eine Zusammenfassung dieser durch Historiker und Philosophiehistoriker (seit SCHMEID-
LER und GILSON) entfachten jahrzehntelangen Debatte bietet JOHN MARENBON: Authenti-
city Revisited. In: WHEELER (Anm. 5), S. 19-34. Er versteht diesen Beitrag ausdrücklich als
Fortsetzung meiner Arbeit ‚Mittelalterforschung und Ideologiekritik. Der Gelehrtenstreit
um Heloise‘, München 1974. Dass die diesem Streit ab ovo zugrunde liegende Äquivokation
von Fälschung, Fiktion und „réécriture“ – d.h. wesentlich literaturwissenschaftlich-philolo-
gischer Begriffe – heute immer noch nicht genügend durchdacht wird, habe ich in einem
offenen Brief an JOHN MARENBON (Abaelard und Heloise (Anm. 1), S. 210-213) nochmals
betont. Im Einzelnen bleibt nämlich nach wie vor ungeklärt, „wie, wann, durch wen, an
welchen Stellen, in welcher Intention und für welches Publikum dieses echte Dossier zusam-
mengestellt worden ist, da es auf keinen Fall eine reale im Originalzustand überlieferte Pri-
vatkorrespondenz darstellen kann.“ Auch hier liegt das letzte Wort noch lange nicht bei ir-
gendeiner sancta simplicitas; vgl. hierzu auch unten Anm. 21.
30 Peter von Moos
raffinierte ‚Fälschung‘, wie sie nötig gewesen wäre, um die Epistolae duorum
amantium als Briefe Abaelards und Heloises zu fingieren, bzw. um sich als
Mann in die Haut Heloises hineinzuversetzen, sei im Mittelalter ganz undenk-
bar. Jedem, der an der einstigen Echtheitsdebatte teilgenommen hat, fällt
dabei unwillkürlich der geniale ‚Dritte‘ – bei SILVESTRE war es sogar Jean de
Meun – ein, der die mit der Historia calamitatum eröffnete Briefreihe aufgrund
anderer vorangehender Fälschungen oder Redaktionen gefälscht haben soll.
Diese tatsächlich überkomplizierte Hypothese wurde zuletzt durch ihren ers-
ten Urheber JOHN BENTON wieder mit dem in der Tat einfachen ‚common
sense‘-Argument beseitigt, dass kein Fälscher bis in die letzten Einzelheiten
den Stil Abaelards derart genau nachmachen könnte.12 JAEGER und PIRON
haben bei der Neuauflage dieses Arguments allerdings übersehen, dass ihr
Thema nicht eine vermeintliche Fälschung des Mittelalters, sondern eine rein
mediävistische Zuschreibung der letzten Jahre darstellt13 und dass grundsätz-
lich Zuschreibungsprobleme auf das Gegenteil von Echtheitsproblemen hi-
nauslaufen. FRANÇOIS DOLBEAU hat diesen Unterschied in einem meisterhaf-
ten methodenkritischen Beitrag erläutert:14 Authentizitätskritik ist ein be-
währtes, bis auf die Antike zurückgehendes Prüfungsverfahren, mit dem die
traditionelle Geltung einer Autorschaft akzeptiert oder verworfen wird. Erst
mit der neuzeitlichen Philologie entstand das viel schwierigere Verfahren,
anonyme oder unter mehreren Autornamen zirkulierende Texte durch einen
komplexen Indizienbeweis ihren wahren Verfassern zurückzugeben. DOL-
BEAU äußert sich im übrigen zu den heutigen Chancen dieses zweiten Verfah-
rens eher pessimistisch: „Ich glaube nicht, dass es uns auf mittellateinischem
oder anderem Gebiet gelingen wird, die Zahl der anonymen oder pseudepi-
graphischen Texte stark zu reduzieren“.15 Während die Beweislogik in der
Echtheitskritik mit einem einfachen Entweder-Oder – ist der vermeintliche
der wirkliche Autor oder nicht? – auskommt, erfordert die Zuschreibungskri-
12 JOHN F. BENTON: The correspondence of Abelard and Heloise. In: Fälschungen im Mittel-
alter. Hrsg. von HORST FUHRMANN, Bd. V, Hannover 1988, S. 95-120, hier S. 98, Anm. 6
(gegen SILVESTRE gerichtet).
13 CONSTABLE (Anm. 1), S. 1683 bemerkt dazu mit feiner Ironie: „Puisque les lettres ne sont
attribuées ni à Abélard ni à Héloïse dans le texte pas plus que dans le manuscrit, ni probab-
lement dans l’exemplar, elles ne peuvent être qualifiées de fraude, de contrefaçon ni de mys-
tification au sens habituel du terme, à moins que les rédacteurs aient été assez subtils pour
prévoir que les érudits pourraient, dans le futur, attribuer les lettres à Abélard et Héloïse“.
14 F. DOLBEAU: Critique d’attribution, critique d’authenticité. Réflexions préliminaires. In: Fi-
lologia mediolatina VI-VII (1999-2000), S. 33-62; im übrigen ist der ganze Band dem Zu-
schreibungsproblem gewidmet; s. insbesondere auch PAUL GERHARD SCHMIDT: Perchè tan-
ti anonimi nel medioevo? Il problema della personalità dell’autore nella fililogia mediolatina,
ebd. S. 1-8, sowie FABIO TRONCARELLI: L’attribuzione, il plagio, il falso. In: Lo spazio let-
terario del Medioevo I, La produzione del testo, Bd. I, Roma 1992, S. 373-390.
15 DOLBEAU (Anm. 14), S. 36: „je doute qu’on parvienne, dans le domaine médiolatin ou ail-
leurs, à réduire massivement le nombre des pièces anonymes ou pseudépigraphes.“
Vom Nutzen der Philologie für den Umgang mit anonymen Liebesbriefen 31
tik gerade umgekehrt eine komplexe Dialektik von Spurensuche und Einkrei-
sung des Ziels, ein Hin und Her zwischen Öffnung des Hypothesenfächers
und Elimination unpassender Möglichkeiten, d. h. einen vom Allgemeineren
– Milieu, Epoche, Region, Gattung – herab zum Besonderen, am Ende viel-
leicht sogar zu einem bestimmten Autor fortschreitenden Selektionsprozess.
Selbst eine nicht bis zu diesem letzten Erfolg der Personalisierung, sondern
nur bis zur approximativen Eingrenzung eines zeitlichen, geographischen
und kulturellen Umfeldes (etwa einer „textual community“) gelangende Re-
cherche, wäre ein historisch nützlicherer Beitrag als die nachträgliche, oft gar
nicht mehr so ‚einfache‘ Abstützung einer fahrlässig aufgestellten Autorhypo-
these durch allerlei Hilfskonstruktionen. ‚Einfach‘ ist es, eine Fangfrage, wie
die erwähnte, an den Anfang zu stellen: „wenn nicht Heloise, wer denn sonst?“
Dem Zweifelnden wird derart die Pistole auf die Brust gesetzt. Da ihm un-
mittelbar keine Alternative einfällt, soll er zustimmen. Eine in der Echtheits-
kritik halbwegs sinnvolle Frage wird damit in der Zuschreibungskritik zu ei-
nem bloßen Taschenspielertrick.
Welche Unsicherheit die Vermengung dieser zwei Arten philologischer
Kritik bei Nicht-Spezialisten erzeugen kann, zeigt ein Zeitungsartikel vom
Februar 2005 über die französische Übersetzung der Epistolae beim renom-
mierten Verleger Gallimard. Im Unterschied zu der in den Vereinigten Staaten
sich wie ein Lauffeuer ausbreitenden Nachricht vom unbestreitbaren „Fund
der Liebesbriefe“, stieß die These in Frankreich mehrheitlich auf Skepsis. Der
Redaktor, der das Buch in „Le Monde“ anzuzeigen hatte, schrieb darum in
sichtbarer Verlegenheit: „wenn die Authentitzität der Briefe auch kaum Zwei-
fel bereitet, so zögern die Kenner doch, sie Heloise und Abaelard zuzuschrei-
ben, auch wenn nichts dieser Hypothese radikal widerspricht.“16 Ich frage
mich, was hier unter „Authentizität“ zu verstehen ist. Dass das Werk aus dem
16 Vgl. oben Anm. 5 zur unterschiedlichen Rezeption der Hypothese diesseits und jenseits des
Atlantiks; PHILIPPE-JEAN CATINCHI: „Où est la très sage Héloïs“. In: Le Monde 11.2.2005:
„Si l’authenticité ne fait guère de doute, les spécialistes hésitent à les attribuer à Héloïse et
Abélard, même si rien ne contrarie radicalement l’hypothèse“. Der Artikel war nur zum Teil
der Übersetzung von PIRON gewidmet, sondern galt in erster Linie dem neuen Buch von
GUY LOBRICHON: Héloïse. L’amour et le savoir, Paris 2005, der einzig die Klosterbriefe
Heloises heranzieht und die Epistolae duorum amantium als Quelle ausdrücklich ausschließt.
Allein schon die gemeinsame Behandlung beider Briefkorpora kann den Nichtspezialisten
in die Irre führen, wovor auch JACQUES LE GOFF in seiner Rundfunk-Sendung (Anm. 50)
gewarnt hat, indem er die „vraies lettres“ von den anderen unterschied. Selbst in der medi-
ävistischen Rezeption der Zuschreibungshypothese werden gelegentlich die echten acht
Klosterbriefe des Paars und dessen vermeintlichen Liebesbriefe in verhängnisvoller Weise
vermengt; besonders gravierend bei JOHN O. WARD/NEVILLE CHIAVAROLI: The Young He-
loise and Latin Rhetoric: Some Preliminary Comments on the „Lost“ Love Letters and Their
Significance. In: WHEELER (Anm. 5), S. 53-120, wo beide Briefwechsel unterschiedslos als
biographisch-psychologische „Quellen“ nebeneinander benützt werden. Vgl. auch die sich
darauf stützende Arbeit von JUANITA FEROS RUYS: Eloquencie vultum depingere: Eloquence and
32 Peter von Moos
Dictamen in the Love Letters of Heloise and Abelard. In: Rhetoric and Renewal in the Latin
West 1100-1540, Essays in Hon. of JOHN O. WARD. Hrsg. von C. J. MEWS u. a., Turnhout
2003, S. 99-114. MARK CHINCA andererseits erwähnt in seiner Besprechung von JAEGERs
Ennobling Love (in: Arbitrium 2002, S. 13-19, hier S. 15) Heloises „language of tragic self-
sacrifice“, was sich eher auf ihre monastischen Briefe bezieht, obwohl der Autor von den
Epistolae duorum amantium handelt.
17 Ganz in diesem Sinne richtet auch ZIOLKOWSKI, (Anm. 5), S. 173-176, seine Kritik gegen die
publizistische Umgehung der internen wissenschaftlichen Diskussion.
18 Ich mache mir damit eine Formulierung wörtlich zu eigen, die ROLF KÖHN, einer der besten
Kenner des mittelalterlichen Briefwesens, am 6. Januar 2002 in einem ausführlichen Brief an
C.S. JAEGER gebraucht hat, um diesem weitere redundante „Apologien“ der Abalelard-He-
loise-Hypothese auszureden.
19 CONSTABLE (Anm. 1), S. 1691f.; DRONKE/ORLANDI (Anm. 6), S. 142.
Vom Nutzen der Philologie für den Umgang mit anonymen Liebesbriefen 33
jeden Preis auf Kosten des Mediums bevorzugt. Hinzu kommt die Wieder-
kehr eines Romantizismus, dem wir seit langem den Heloisen-Mythos einer
„großen Heiligen der Liebe“ verdanken und dessen pseudowissenschaftli-
che Auswüchse ich vor einem Vierteljahrhundert ideologiekritisch analy-
siert hatte. Dieser Trend verbindet sich nicht erst heute mit einer spezifi-
schen gender-Variante, nach der Abaelard und die gesamte durch Männer
kanalisierte Überlieferung die Stimme Heloises zum Schweigen gebracht
haben sollen. Dank der Epistolae duorum amantium soll nun aber diese Stimme
endlich wieder als seelische Realität unmittelbar hörbar geworden sein.20
Gewiss ist das Erkenntnisinteresse an leibhaftigen Autoren solange
durchaus legitim, als deren Texte ohne Kurzschluss eine biographisch-psy-
chologische Interpretation als ‚documents humains‘ zulassen. Während die
Parakletbriefe, insbesondere der erste – Abaelards Historia calamitatum –
immerhin eine Fülle von Realien (Ereignisse, Namen, ja Datierungen) zur
Sprache bringen und dennoch nicht ohne den schwierigen Umweg über die
intentio operis, d. h. nicht ohne die Rekonstruktion des kommunikativen
Kontexts eines Klostergründungs-Dokuments interpretiert werden kön-
nen,21 enthalten die wesentlich mehr phatischen als informativen Epistolae
duorum amantium schlechthin keine konkreten Hinweise auf irgendwelche
persönlichen Lebensumstände.22 Dies allein ist schon ein Indiz dafür, dass
20 VON MOOS (Anm. 11), bes. S. 70-72 zu feministischen Projektionen auf Heloise zu Beginn
des 20. Jhs.; vgl. auch DERS., Abaelard, Heloise und ihr Paraklet (Anm. 1), S. 565-577. CON-
STABLE (Anm. 1), S. 1689f.; die daraus in Anm. 1 zitierte Stelle genügt im übrigen, um den
erlebnisästhetischen Erkenntniswert dieser Briefe in Frage zu stellen. Theoretisch ausgezeich-
netes „Gegengift“ gegen diese Tendenz enthält auch WALBURGA HÜLK: Schrift-Spuren von
Subjektivität. Lektüren literarischer Texte des französischen Mittelalters, Tübingen 1999.
21 Sehr erhellend, aber vielleicht zu subtil für biographistische Interpreten zitiert CONSTABLE
(Anm. 1), S. 1689 hierzu eine eigene frühere Äußerung: „Même si les lettres sont authenti-
ques au sens où elles furent écrites par Abélard et Héloïse […], elles furent reprises dans un
ouvrage littéraire destiné à être lu dans son intégralité comme un récit rétrospectif.“ Eine
plausible Möglichkeit einer solchen Literarisierung zu einem Parakletdenkmal zeigt neuer-
dings JACQUES DALARUN: Nouveaux aperçus sur Abélard, Héloïse et le Paraclet. In: Francia
32.1 (2005), S. 19-66; vgl. auch oben Anm. 11.
22 Mit spürbarer Verlegenheit vermerkt eine Rezensentin von MEWS: The Lost Love Letters
(Anm. 5), CHRISTINE CALDWELL, in: The History Teacher 35.2, 2002 (online), obwohl sie sich
über den Wiedergewinn einer jener „all too easily lost voices of...women“ freut: „That lack
of anchoring detail makes the letters less suitable for teaching. For secondary-school students
and undergraduates, the Historia calamitatum and the later letters serve as a better introduction
to Abelard and Heloise and to high-medieval culture. Despite these gifted lovers’ gorgeous
and ingenious imagery („to a reddening rose under the spotless whiteness of lilies“), the let-
ters’ insularity and opacity do not offer an accessible portal for younger students.“ Hier wird
im Übrigen deutlich, welche Art von Publikumsbedarf durch die Zuschreibung an das be-
rühmte Liebespaar gedeckt werden sollte. Im Vorwort zu The Lost Love Letters (Anm. 5),
S. XII bekundet MEWS die Absicht, in einer Zeit schwindender Lateinkenntnisse etwas für die
allgemeine Öffnung und Wiederbelebung von „literary and philosophical treasures jealously
guarded by devoted scholars“ tun zu wollen, als ob latinistische Gralshüter die wahre Stimme
Heloises für sensibel mitschwingende „undergraduates“ verborgen hätten.
34 Peter von Moos
23 Vgl. MATHIAS BEER: „Wenn ych eynen naren hett zu eynem man, da fragen dye freund nyt vyl danach“:
Private Briefe als Quelle für Eheschließung bei den stadtbürgerlichen Familien des 15. und
16. Jhs. In: Ordnung und Lust. Hrsg. von HANS JÜRGEN BACHORSKI, Trier 1991, S. 71-94;
vgl. auch VON MOOS, Die Epistolae (Anm. 1), Anm. 111. Zur Unterscheidung von Ver-
brauchs- und Wiedergebrauchsrede, s. HEINRICH LAUSBERG: Elemente der literarischen Rhe-
torik, 3. Aufl., München 1967, S. 16f. – JAEGER zählt in seiner Reply to Giles Constable
(Anm. 7) eine Reihe von „inconsistencies“, d. h. Stellen, die aus dem Kontext des jeweiligen
Briefs allein nicht verständlich sind, auf, um daraus den privaten Charakter des Briefwechsels
abzuleiten. Lücken und Verständnisschwierigkeiten habe ich in Die Epistolae (Anm. 1), S.
11-29 ebenfalls hervorgehoben, doch aus den Kürzungen de Veprias erklärt (zu JAEGERs
Argument bes. S. 29). Hier ist zu ergänzen, dass das Inkonsistenzen-Register so gut wie nur
ganz unspezifische Metaphern und Gefühlsäußerungen, aber keine der (in der Verbrauchs-
rede üblichen) konkreten Hinweise auf das Alltagsleben enthält. Man kann nicht einmal den
Versuch feststellen, durch Anspielungen auf Ereignisse und Referenten außerhalb des Texts,
dem Briefwechsel einen Realitätseffekt, ein „coloris de vérité“ zu geben, wie dies Guillaume
de Machaut in seinem eindeutig fiktiven Voir Dit tut; vgl. dazu PAUL IMBS: Le „Voir-dit“ de
Guillaume de Machaut: Etude littéraire, Paris 1991, S. 13 und HÜLK (Anm. 20), Kap. III,
S. 149 ff.: Das Textbegehren des Guillaume de Machaut. Interessant ist hier auch die von
WERNER PARAVICINI analysierte echte französische Liebeskorrespondenz des burgundischen
Vogts Peter von Hagenbach (11 Briefe): Parler d’amour au XVe siècle: Pierre de Hagenbach
et la dame de Remiremont. In: Académie des Inscriptions & Belles-Lettres, comptes rendus,
juillet-octobre 2003, Paris 2003, S. 1277-1293, weil hier sorgfältige historische Rekonstruk-
tionsarbeit trotz aller Geheimhaltungsstrategien der Verfasser (bis hin zur Anonymität der
adeligen Stiftsdame aus Remiremont) doch einige sehr konkrete Fakten und Datierungen
erschließen ließ (wie etwa die Schlacht von Buxy vom 14. März 1471).
24 In Die Epistolae (Anm. 1), S. 11-37 habe ich andere Argumente, hauptsächlich Widersprüche
in den vagen Anspielungen auf Lebensumstände (wie Altersangaben, Status-Zugehörigkeit,
Trennungen und Begegnungen) hervorgehoben. Ein weiteres Argument dieser Art lässt sich
Vom Nutzen der Philologie für den Umgang mit anonymen Liebesbriefen 35
die Anzahl der Briefe stellt unter den erhaltenen Korrespondenzen des
lateinischen Mittelalters ein absolutes unicum dar: (je nach Zählung) 113
oder 118 Briefe und vielleicht noch wesentlich mehr, da sie etwa zur Hälf-
te durch den Kopisten de Vepria als fragmentarisch gekennzeichnet sind
und wir nicht wissen, wie viele Briefe der Vorlage er, ohne es zu vermer-
ken, übersprungen hat. Ganz abgesehen vom Sonderfall der Privat- und
Liebesbriefe, werden mittelalterliche Briefe nach Empfänger – oder Ab-
senderüberlieferung gesammelt, überarbeitet und veröffentlicht. Fast nie
handelt es sich dabei um Briefwechsel, sondern nur jeweils um eine Hälf-
te von Korrespondenzen. In den seltenen Fällen, zu denen gerade auch
die Klosterbriefe Abaelards und Heloises gehören, überschreiten eigent-
liche Briefwechsel kaum je vier Briefpaare, also acht Briefe. Die Geschich-
te des Liebesbriefs, die bisher einzig ERNSTPETER RUHE monographisch
behandelt hat,25 erfährt mit der reifen Ars dictaminis seit dem späten 12.
Jahrhundert ihren ersten Aufschwung (hauptsächlich in fiktionalen Mus-
terbriefen wie denen der Rota Veneris des Boncompagno), doch noch im
13. Jahrhundert lassen sich auch in dieser Gattung niemals eigentliche
Korrespondenzen von mehr als acht Briefen nachweisen. Originalbriefe
oder Autographen finden sich im Mittelalter ausgesprochen selten, und
dann fast nur als zufallsbedingte ‚Überreste‘. Sie gehören zur Alltags-
archäologie, wie etwa jenes echte „Billet doux“ des Jean de Gisors an
eine geliebte Aélis aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, das in einer Mau-
ernische der Kirche St-Pierre auf dem Montmartre gefunden worden
ist.26 Vermutlich ist ein beträchtlicher Teil mittelalterlicher Briefautogra-
phen endgültig verloren. Die Existenz mittelalterlicher Privatbriefe (wohl
mehr volkssprachlicher als lateinischer) ist gewiss nicht von der Hand
zu weisen, auch wenn man über deren reales Ausmaß nur spekulieren
kann. Erst sehr spät und vereinzelt finden sich Originalbriefsammlungen
wie in den für das Mittelalter keineswegs typischen Strozzi- oder Paston-
aus den Briefen 32 und 33 gewinnen: In dem ersten beglückwünscht die Frau den Partner zur
Genesung, die genau mit dem Frühlingsbeginn zusammenfällt (der letzte Schnee ist ge-
schmolzen); im nächsten Brief antwortet der Mann, er müsse wegen der Sommerhitze seine
Trägheit überwinden und einen novus dictandi fervor entfachen. Diese Zusammenstellung von
Jahreszeiten erinnert vor allem an Artes dictandi mit ihren zur Option gestellten Briefthemen,
nicht an eine reale Abfolge eines Sommerbriefs Monate nach einem Frühlingsbrief.
25 ERNSTPETER RUHE: ,De amasio ad amasiam‘. Zur Gattungsgeschichte des mittelalterlichen
Liebesbriefes, München 1975 (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters 10).
26 ROLF KÖHN: Dimensionen und Funktionen des Öffentlichen und Privaten in der mittelal-
terlichen Korrespondenz. In: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Hrsg. von
GERT MELVILLE/PETER VON MOOS, Köln u. a. 1998 (Norm und Struktur 10), S. 309-358,
hier S. 338; zu den Paston-Archiven vgl. REBECCA KRUG: Reading Families, Women’s Lite-
rate Practice in Late Medieval England, Ithaca, London 2002.
36 Peter von Moos
27 Ebd. S. 326f., 331f. Am meisten ist bisher für die Erschließung deutscher Privatbriefe des
Spätmittelalters getan worden durch GEORG STEINHAUSEN: Geschichte des deutschen Brie-
fes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. 2. Aufl., 2 Bde., Berlin 1889-1891 (Nach-
druck: Dublin u. Zürich 1968). Ähnliche Arbeiten stehen, wie PARAVICINI (Anm. 23), S. 1293
dies kritisch vermerkt, für den gleichzeitigen französischen Privatbrief noch weitgehend aus.
Die einzelnen „Privatbriefe“ hochgestellter Persönlichkeiten beiden Geschlechts im ,Recueil
de lettres Anglo-Françaises‘ (1265-1399). Hrsg. von F. J. TANCQUEREY, Paris 1916 sind eher
als halb-öffentliche Briefe anzusehen.
28 CONSTABLE (Anm. 1), der dieselben medialen Argumente in den Vordergrund stellt, spitzt
die ‚deductio ad absurdum‘ noch im Sinne der Zuschreibungshypothese konkret so zu
(S. 1689): „La raison pour laquelle Abélard et Héloïse se seraient écrit si fréquemment et si
longuement à une époque où ils étaient censés vivre sous le même toit et se voyaient chaque
jour est obscure.“ Man kann dies mit der lapidaren Feststellung PARAVICINIs (Anm. 23),
S.1281 ergänzen: „On ne s’écrit que si l’on est séparé: cause évidente de toute correspon-
dance.“
29 Guillaume de Machaut: Le livre du Voir dit. Hrsg. von JACQUELINE CERQUIGLINI-TOULET,
Paris 1999 (Lettres gothiques 4557). DIESELBE: Le Livre du Voir Dit. Un art d’aimer, un art
d’écrire, Paris 2001; Guillaume de Machaut 1300-2000, Actes du Colloque de la Sorbonne.
Hrsg. von J. CERQUIGLINI-TOULET/N. WILKINS, Paris 2002. Eine Forschungsanthologie
1898 bis 2001 bietet: „Comme mon coeur désire“. Guillaume de Machaut, Le Livre du Voir
Dit. Hrsg. von DENIS HÜE, Orléans 2001; vgl. auch IMBS (Anm. 23); HÜLK (Anm. 20), S.
161-165 zur Bestimmung als „Briefroman“ und zur neuen Liebes-Metaphorik des Schrei-
bens auf Papier im Vergleich mit dem Schreiben auf Pergament.
30 Ep. 14 (Vir): Si tabulas tuas, dulcissima, diutius retinere michi liceret, plurima scriberem, sicut plurima
occurrerent; Ep. 37 s. unten bei Anm. 42-43; Ep. 38a (Vir): iam facio finem concludens ista sigillo.
Vom Nutzen der Philologie für den Umgang mit anonymen Liebesbriefen 37
Ep. 62: Tempus es […] .ut has amaras atque flebiles descriptiones proiciamus, secundis autem et letioribus
manus cere imprimamus. Ep. 69 (Mulier): hos, rogo, ne versus oculus legat invidiosus. Man könnte auch
annehmen, dass diese Stellen nichts miteinander zu tun haben, dass das eine Mal auf Wachs
geschrieben, das andere Mal Pergament versiegelt wurde. Aber das ändert nichts an der
Unwahrscheinlichkeit beider Vorgänge, wie dies schon CONSTABLE (Anm. 1), S. 1688 nach-
drücklich hervorgehoben hat.
31 E. LALOU: Les tablettes de cire médiévales. In: Bibliothèque de l’École des Chartes 147
(1989), S. 123-140; DIESELBE: Inventaire des tablettes médiévales et présentation générale.
In: Les tablettes à écrire de l’Antiquité à l’Epoque Moderne, Turnhout 1992, S. 233-285;
CONSTABLE ( Anm. 1), S. 1688f; RICHARD H. ROUSE/MARY A. ROUSE: Wax Tablets. In:
Language & communication 9 (1989), S. 175-191.
32 Vgl. Lampert von Hersfeld (ad annum 1075) über Anno von Köln (ed. HOLDER-EGGER,
MG Scr. Rer. Germ. 1894, S. 247): Alii cuidam, quem beneficiis suis maxime fidum sibi obnoxiumque
fecerat, familiares litteras a seipso in tabulis propter maiorem secreti cautelam conscriptas dedit episcopo […].
Meinhard von Bamberg (ed. ERDMANN, MG Briefe... 1950, Ep. 77) spricht von litteras tabu-
lares in quibus ego me […] pro te ipso […] intercessor opposui. Ich verdanke diese Referenzen ROLF
KÖHN.
33 Zur ovidischen Topik vgl. RUHE (Anm. 25), S. 80-82, 218; ROUSE/ROUSE (Anm. 31), S. 176;
FRANCESCO BRUNI: L’ars dictandi e la letteratura scolastica. In: Storia della civiltà letteraria in
Italia, dalle Origini al Trecento. Hrsg. von G. BARBERI SQUAROTTI, u. a., Bd. I, 2, Torino 1990,
S. 155-210, hier S. 183f. (zum Floire et Blacheflor-Stoff bei Boccaccio); HÜLK (Anm. 20), S.
113f. zur Clef d’Amors,v. 3049f.: „S’en parchemin ne pués escrire / ton desir porras metre
en chire“. Zur Wachstafelmetaphorik vgl. auch ALEIDA ASSMANN: Zur Metaphorik der Er-
innerung. In: Memnosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hrsg. von
DIESELBE/DIETRICH HARTH, Frankfurt a. M. 1991, S. 13-35.
38 Peter von Moos
34 Vgl. etwa die Regel für Dominikanerinnen (1259) durch Humbert von Romans. In: Analecta
s o. fr. Praedicatorum 3 (1897), S. 337-348, hier S. 341: Item nulla mittat vel recipiat sine licencia
litteras vel cedulam scriptam eciam sine sigillo, nec eciam scriptum aliquod in tabulis vel in cera, nisi magistro
vel priori provinciali vel vicario.
35 […] de auditu dixit quod Catherina recepit tabulas cereas a quodam juvene scriptas, zit. nach MARY
GARRISON: „Send more socks“. On Mentality an Preservation Context of Medieval Letters,
in: New Approaches to Medieval Communication. Hrsg. von MARCO MOSTERT, Turnhout
1999, S. 69-99, hier S. 97; ausführlich zu diesem Visitationsbericht s. PETER LINEHAN: The
Ladies of Zamora, Manchester 1997, S. 48-50 und ebd. Anm. 24.
36 MAX MILLER: Die Söflinger Briefe und das Klarissenkloster Söflingen bei Ulm a. D. im Spät-
mittelalter, Würzburg 1940. Dasselbe gilt von dem französischen Liebesbriefwechsel zwischen
Peter von Hagenbach und der Remiremonter Kanonissin (Anm. 23), die erstaunlicherweise
ihre Briefe nicht selber schrieb, sondern diktierte und sie danach dank mehrfacher Faltung im
Taschenformat mit Hilfe von Vertrauensleuten ans Ziel bringen ließ. Im übrigen danke ich
LUDGER LIEB für den Hinweis auf einen etwa gleichzeitigen Skandal, die 12 in betrügerischer
Absicht geschriebenen Liebesbriefe, die Hermann Konemund unter dem Namen einer Bür-
gerin dem Göttinger Schulrektor Curt Hallis schickte, erhalten als Anlage zum Notariatspro-
tokoll des Geständnisses vor Gericht. Hrsg. von GUSTAV SCHMIDT: Erdichtete Liebesbriefe des
XV. Jhs. in niederdeutscher Sprache. In: Germania (Wien) 10 (1965), S. 385-394. Sowohl in
diesem Fall wie bei den Söflinger Briefen verdanken wir die Überlieferung einzig der gericht-
lichen Konfiskation und Archivierung. Auch Hagenbachs Korrespondenz wurde nach dessen
Enthauptung 1474 unter Herzog Sigismund mit dem übrigen Schriftgut beschlagnahmt und
in Innsbruck aktenmäßig archiviert; grundsätzlich zu den geringen Überlieferungschancen
von Liebesbriefen vgl. PARAVICINI (Anm. 23), S. 1278f. und S. 1293 und PAUL GERHARD
SCHMITT, Editoren als Zensoren. In: Mittellateinisches Jahrb. 40,3 (2005), S.431-443. Im Ver-
gleich mit diesen Beispielen echter Korrespondenzen wirkt unser wie ein Dialog zwischen V
und M angelegter Briefwechsel vollends wie eine virtuose Schulübung. Seine Überlieferung
führt nicht in Gerichtsarchive, sondern ins Skriptorium eines Klosters, das seit Transmundus
zu den Zentren formvollendeter Ars dictaminis nördlich der Alpen gehörte.
37 Auf Anfrage schrieb mir die Spezialistin für Siegelkunde BRIGITTE BEDOS-REZAK hierzu
dankenswerterweise: „Il y a un aspect de la correspondance des deux amants que je ne saisis
guère. Si le texte de leurs lettres était effacé au reçu, quelle est la source des lettres recueillies
dans le manuscrit du XVe siècle? […] En tout cas, la sécurité offerte par les tablettes de cire
(Lampert de Hersfeld et Meinhard de Bamberg) devait bien tenir au fait que leur contenu
pouvait être effacé sans laisser de traces.“
Vom Nutzen der Philologie für den Umgang mit anonymen Liebesbriefen 39
Wenn wir uns im Sinne der Hypothese ins frühe 12. Jahrhundert zurückver-
setzen, wäre die einzig mögliche Antwort, dass einer der beiden Partner die
eigenen Briefe und die Antworten des anderen systematisch aus den Wachs-
täfelchen auf Pergament übertragen hätte. Dabei müsste man ein beacht-
liches Kopiertempo annehmen. Denn aus dem Briefgedicht Nr. 87: tran-
siit annus ex quo tuus me sibi vinxit amor („Ein Jahr ist vergangen, seit [in
dem] mich deine Liebe besiegt hat“) – das man freilich auch bloß als einen
poetischen Geburtstagwunsch lesen könnte – ergibt sich nach der fakten-
positivistischen Lektüre der Hypothese-Befürworter, dass die Korrespon-
denz hier nun genau ein Jahr alt ist.38 In einem Jahr also wären mindestens
87 Briefe (wegen der fragmentarischen Überlieferung vielleicht auch we-
sentlich mehr) auf Wachstäfelchen geschrieben, verschickt, gelesen, ge-
löscht und überdies wie in einer päpstlichen Kanzlei vollständig in ein ‚Re-
gister‘ übertragen worden.39 Schließt man die Zuschreibung an Heloise und
Abaelard aus, so bleibt immer noch die Frage, ob eine solche Menge oft
inhaltsloser, aber stets preziös-hochartifizieller Liebesbriefe in der Vorlage
de Veprias auf Pergament oder auf Papier standen. Nur sehr reiche Brief-
schreiber oder deren öffentlich anerkannte ‚Textgemeinschaften‘ (Klöster,
fürstliche Kanzleien) hätten sich den Luxus eines solchen privaten Brief-
buchs im Zeitalter des Pergaments leisten können, aber im Zeitalter des
Papiers dürfte das tautologisch-repetitive Ausufern des erotischen Diskur-
ses kein Problem mehr dargestellt haben; ebenso hat sich dann natürlich
der komplizierte Umweg über Wachstäfelchen erübrigt.40 Jedenfalls benüt-
zen Euryalus und Lucretia in De duobus amantibus historia des Enea Silvio
Piccolomini für ihre Geheimkorrespondenz gewöhnliches Papier.41 Guil-
laume de Machaut andererseits war vom adeligen Publikum und Mäzenat
derart begünstigt, dass er seine scheinbar intimen Kunstprodukte, sein „art
de vivre en poésie“ (wie Michel Zink treffend sagt) auch in Prachtausgaben
verbreiten konnte.42
43 Ich glossiere damit eine Bemerkung von MONIQUE GOULLET in dem Anm. 50 erwähnten
Referat: „La précision de ce détail tranche tellement avec le caractère abstrait et elliptique du
reste qu’on est tenté d’y voir là encore une ,pose‘, une sorte de posture codifiant l’amour.“
Interessant ist hier die Problem-Lösung JAEGERS, (Anm. 8), S. 130, 154, Anm. 48, der sich
alle Möglichkeiten eines nachträglichen „Postscriptums“ vorstellt (entweder hat der Mann
dem Boten befohlen zu warten, um hinterher noch diesen Satz auf die Wachstafel zu schrei-
ben, oder der Bote verzögerte seine Abreise aus irgendeinem anderen Grund, sodass Zeit
für einen Nachtrag blieb, oder der Mann wies den Boten an, die Szene, wie beschrieben, zu
erzählen, gleichviel ob sie wirklich stattgefunden hat oder nicht.) Vergessen hat er einzig die
Möglichkeit, dass der „Mann“ zwischen dem Lesen und Antworten noch eine Kopierphase
eingeschaltet haben könnte, um den Inhalt des Wachstäfelchens von „Frau“ auf Pergament
oder Papier zu übertragen. Wenn wir auf kriminalistische Spekulationen über die einzelnen
Umstände eines vermeintlichen „Briefwechsels“ verzichten und nur gelten lassen, was in
dem Text selbst steht, so erübrigt sich das Postscriptum-Konstrukt. Man kann mit JAEGER
zweifellos den Eindruck einer „rash, impatient and impetuous personality“ gewinnen, ohne
dass dadurch entschieden wäre, wer diese literarische Inszenierung einer „ungestümen Per-
sönlichkeit“ an welche Adresse richtet, an die Frau als Briefempfängerin oder den Leser des
Briefdialogs, wenn es sich nicht gar bloß um eine rhetorische Stilübung in der Ethopoiie
handeln sollte. CONSTABLE (Anm. 1, S. 1688) schließt aus dieser Stelle, selbst wenn sie erst
nach dem Brief geschrieben worden wäre, auf die geringe Spontaneität der ganzen Korres-
pondenz angesichts einer möglicherweise vom männlichen Partner besorgten Kopialüber-
lieferung. Nichts ist in der Tat unwahrscheinlicher als die Hintergrundannahme, dieses um-
fangreiche Briefwerk sei ein Austausch echter, unüberarbeiteter Autographen.
Vom Nutzen der Philologie für den Umgang mit anonymen Liebesbriefen 41
Petrarcas und Boccaccios, die bereits raffinierte Regeln für das Abfassen
von Liebesbriefen ‚mit Realitätseffekt‘ ausgedacht hat, und von der
FRANCESCO BRUNI mit Recht sagte, sie sei aus einer ars dictandi zu einer
eigentlichen ars amandi geworden.44 Unsere Briefsammlung sieht auf den
ersten Blick wie ein Briefsteller aus, der mit einfachen Salutations- und
Schlusswunschformeln beginnt und zusehends komplexere, emotionell
und intellektuell aufwendigere Themen aufgreift. Fest steht, dass sie der
Zisterzienser de Vepria mit stilistischem Interesse wie einen Briefsteller
ausgebeutet und damit vielleicht ‚missbraucht‘ hat. Doch bei genauerem
Hinsehen finden wir in seiner Vorlage etwas ganz anderes als eine Muster-
briefsammlung, nämlich vielmehr das, was GÉRARD GENETTE „Literatur
im zweiten Grad“, „Palimpsest“ oder „Pastiche“ nennt.45 Die Musterbrie-
fe der einstmals so pragmatischen ars dictaminis sind hier nur der Vorwand
44 BRUNI (Anm. 33), S.182 (Überschrift); VON MOOS, Die Epistolae (Anm. 1), S. 45-59 zu Bichi-
linus u. a. Liebesbrief-Theoretikern. Allgemein zum Thema „Liebeskunst“ und Literatur vgl.
z. B. PETER L. ALLEN: The Art of Love. Amatory Fiction form Ovid to the Romance of the
Rose, Philadelphia 1992; MICHÈLE GALLY: L’intelligence de l’amour d’Ovide à Dante. Arts
d’aimer et poésie au Moyen Âge, Paris 2005.
45 GÉRARD GENETTE: Palimpsestes, La littérature au second degré, Paris 1982. – MEWS,
(Anm.7), S. 64 wendet dagegen ein: „While individual love letters, written in Latin, were
sometimes included as models of style by theorists of prose composition in the later twelfth
and thirteenth centuries, the Epistolae duorum amantium testify to the practice of the art of
composition (ars dictaminis) already richly developed in the eleventh century before theorists
of the art sought to impose precise Ciceronian rules in epistolary manuals […]“ Grund-
sätzlich geht in der Tat jegliche literarische Praxis deren präzeptiven Theoretisierung voran,
und gerade die Regelkunst der frühen ars dictaminis ist gegenüber der hochentwickelten
Briefrhetorik der vorangehenden Zeit keine „Revolution“, sondern eine Fortsetzung auf
pragmatisch-einfacherem Niveau, wie ich dies selbst seit meiner Arbeit über einen der
größten mittelalterlichen Meister der Briefkunst, in ‚Hildebert von Lavardin 1056-1133‘
(Stuttgart 1965), immer wieder gegenüber einer verbreiteten Überschätzung der ars dictandi
vertreten habe (zuletzt wieder in ‚Briefkonventionen...‘ (Anm. 40), S. 185f.). Doch die Ent-
stehung dieser italienischen Kunstlehre im späten 11. Jahrhundert ist hier nicht das Thema,
sondern deren spätere intensive (nicht bloß „gelegentliche“) Spezialisierung auf den Lie-
besbrief (13.-14. Jh.) mit einer ganz eigenen und unverkennbaren Topik und Intertextua-
lität (s. dazu ausführlich Die Epistolae (Anm.1), S. 45ff.), von der im frühen 12. Jh. noch
nichts zu spüren ist. Diese seit rund 1200 zusehends autonom werdende Diskurstradition
der epistola amatoria macht uns die Unterscheidung von ‚echten‘, real ausgetauschten Briefen
und literarischen Fiktionen oder stilistischen ‚Fingerübungen‘ vor allem deshalb so schwer,
weil beides im Laufe der Zeit sich innerhalb einer Konvention oder Mode wechselseitig
beeinflusst hat. Aus der allgemeinen Weisheit über die zeitliche Prioriät der Praxis vor der
Theorie ist in unserem bestimmten Fall also kaum ein tragfähiges Argument zu gewinnen.
Viel eher ließe sich die Denkfigur umkehren: Der exzessive, oft beinahe phatische Manie-
rismus der Epistolae duorum amantium setzt schlichtere Vorformen in der ars dictaminis voraus.
Bevor ein l’art pour l’art sich entwickeln kann, muss es überhaupt erst einmal Kunst und
Kunstlehre geben.
42 Peter von Moos
oder das Substrat für deren literarische „mise en abîme“.46 Wenn in Brief
9 die Frau sich mit aller Inbrunst wünscht, eines Tages das Antlitz des ge-
liebten Mannes zu sehen, so ist anzunehmen, dass sich die beiden noch nie
körperlich begegnet sind und dass mulier ihren vir nur vom Hörensagen
kennt, d. h. wegen seiner Berühmtheit, wie dies der 50. Brief des Mannes
denn auch ausdrücklich sagt: Tu […] me ob aliquam bonam opinionem, quam de
me habuisti, me in tuam noticiam vocare dignata es.47 Dies erinnert wiederum
an den bereits erwähnten Liebesbriefwechsel Voir Dit des Guillaume de
Machaut, wo die jüngere Peronnelle die Initiative ergreift, dem ihr persön-
lich unbekannten und nur aus der fama bekannten Dichter und Musiker,
dem schon über sechzigjährigen Chorherrn von Reims, Liebesbriefe zu
schreiben.48 In beiden Fällen wird die Liebe durch die Schrift gespeist und
die Schrift durch die Liebe. Darum wird der Brief selbst in Nr. 69 unserer
Sammlung auch personifiziert: die Frau schickt ihn mit einer Du-Anrede
(in einem sog. ‚envoi‘) auf den Weg – Littera vade, meas et amico ferte querelas!
–, damit er den Geliebten dictaminis dulcedine für sie einnehme. Wenn sie ihn
so häufig magister nennt, so ist wohl kaum ein Lehrer irgendeines Schul-
fachs, sondern viel eher ein magister amoris, also ein Nachfahre Ovids ge-
meint.49 Dies verweist einmal mehr auf die Fiktion eines Briefwechsels, der
Liebe als Briefkunst und Briefkunst als Liebe lehrt. Bedenkt man die völli-
ge Profillosigkeit der mit M und V wie in einem Schuldialog abgekürzten
Briefschreiber, so kann man der Schlussfolgerung von MONIQUE GOULLET
bei einem Round Table-Gespräch über unsere Briefe nur zustimmen:
„Nichts zwingt uns,“ sagte sie, „in ihnen Menschen aus Fleisch und Blut
46 Etwa ein Jahrhundert nach der Exzerpt-Arbeit de Veprias komponierte der Humanist und
Bischof von Chalon-sur-Saône, Pontus de Tyard für König Heinrich III. eine vergleichbare
Kompilation von Mustertexten, die ebenso gut als Stilblütensammlung wie als Briefroman
gelesen werden konnten: Modèles de phrases suivis d’un recueil de modèles de lettres d’amour. Hrsg.
von JOHN C. LAPP, Chapel Hill 1967. Der Liebesbriefsteller erzählt in petrarkistischer Manier
die „péripécies d’une liaison secrète“ und folgt im Sinne der „recherche précieuse“ der
Spielregel (S. 21): „il n’y a point de si grand plaisir en l’amour que le discours.“ Als ein über-
lieferungsgeschichtliches Kuriosum sei erwähnt, dass sich die einzige Handschrift dieses
Texts (heute Bibl. Municipale Haguenau, Ms 2.11) bei der Auflösung der Klosterbiliotheken
nach der Französischen Revolution wie die Epistolae duorum amantium ebenfalls in Clairvaux
befand. Das Kloster des hl. Bernhard als spätmittelalterlich-frühneuzeitliches Liebesbrief-
archiv? (s. auch unten Anm. 54 zu anderer Liebesliteratur in den Bibliothekskatalogen.)
47 Die Übersetzung von CHIAVAROLI/MEWS (Anm. 5): „because of some good report you
heard about me, you also thought fit to invite me to make your acquaintance“, trifft diesen
Punkt besser als die von CESCUTTI/STEGER (Anm. 10): „Du warst auch so freundlich, mich
– aufgrund einer vielleicht guten Meinung, die du von mir hattest – ins Vertrauen zu ziehen.“
Dabei wird wiederum (s. oben Anm.10) die französische Übersetzung von PIRON ins Deut-
sche übertragen: „c’est peut-être parce que tu avais une bonne opinion de moi […]“
48 Hierzu bes. IMBS (Anm. 23), S. 26f.: „cette merveille d’un amour sans avoir vu“.
49 Vgl. VON MOOS, Die Epistolae…(Anm. 1), S. 37.
Vom Nutzen der Philologie für den Umgang mit anonymen Liebesbriefen 43
50 Unveröffentlichte ‚Table ronde‘ über die Epistolae duorum amantium vom 11. 2. 2005 an der
École Normale Supérieure in Paris, bei der unter dem Vorsitz von RUEDI IMBACH und MI-
CHEL ZINK über die Vorlagen der Befürworter C. MEWS, S. JAEGER und S. PIRON sowie der
Opponentin MONIQUE GOULLET diskutiert wurde. (Ich möchte letzterer Kollegin bestens
für die Präsentierung und Verteidigung meines Beitrags von 2003 danken, da ich an der
Teilnahme selber verhindert war.) In diesem Zusammenhang haben sich brieflich oder
mündlich PASCALE BOURGAIN, FRANÇOIS DOLBEAU, GUY LOBRICHON, JACQUES VERGER,
JEAN-YVES TILLIETTE, ANNE-MARIE TURCAN-VERKERK und MICHEL ZINK gegen die
Zuschreibung an Abaelard und Heloise geäußert. Dasselbe gilt von JACQUES LE GOFF, der
sich am 28.3.2005 in seiner Rundfunksendung „Les lundis de l’histoire“ auf France Culture
anlässlich des Buches von LOBRICHON (Anm. 16) entschieden dagegen ausgesprochen
hat. Wie über diese Tagung in der englischsprachigen Internet-Presse berichtet wurde, wirft
ein Licht auf eine neue Art von Sensations-Mediävistik. Ich zitiere nur eine Stelle von
CAROLINE BROTHERS (Reuters) vom 21.3.2005: „Two star-crossed medieval lovers, Abelard
and Heloise, are again stirring passions in France as a literary controversy rages nearly
900 years after their affair. At the heart of the drama is an obscure Latin text that some
scholars say contains the long lost love letters written by the ill-fated pair. Others say the
correspondence is fake. Translated for the first time into French, their publication this month
has revived the scandal and divided historians in France and abroad. Feelings ran high at a
seminar in Paris where believers tried to convince skeptics the attribution is right. ,I don’t think
everyone in the room was convinced,‘ said historian Sylvain Piron, who translated the cor-
respondence, after a long day’s debate on the subject. ,Some still believe it’s a faked or forged
collection.‘ “. Den Rest kann man, wenn man Lust hat, nachlesen auf http://news.yahoo.
com/news?tmpl=story&u=/nm/20050303/lf_nm/france_loveletters_dc_1 und http://
www.theage.com.au/articles/2005/03/04/1109700675545.html?oneclick=true
51 ZIOLKOWSKI (Anm. 5).
44 Peter von Moos
lich macht.52 Eine Datierung in die Zeit Abaelards schien mir nicht nur aus
solchen mehr kulturgeschichtlichen, für sich genommen gewiss diskutier-
baren,53 aber im Verband sich stützenden Gründen unmöglich, sondern
schon einfach aufgrund einer völlig anderen Technik des Satzrhythmus
(Cursus). Indizien für die Fiktionalität dieser späten Liebesbriefe, die sich
oft, aber nicht durchgehend nach Art eines Briefwechsels aufeinander be-
ziehen, sind allein schon das für das ganze Mittelalter und a fortiori für das
12. Jahrhundert ganz und gar einmalige Ausmaß der Sammlung sowie deut-
liche Spuren romanhafter Dramatisierung. Eigentliche, aber für die Öffent-
lichkeit bestimmte lateinische Privat-Briefwechsel sind erst aus der Zeit des
Frühhumanismus bekannt, was bei der an sich unwahrscheinlichen Annah-
me wirklich getauschter und überdies aufbewahrter, überlieferter und
schließlich durch de Vepria „veröffentlichter“ Liebesbriefe zwischen zwei
Personen, die Datierung erst recht hinaufzuschieben zwänge, etwa in die
Gegenwart des humanistisch orientierten und gerade für zeitgenössische
‚Curiosa‘ der Liebesliteratur interessierten Sammlers Johannes de Vepria,
über den leider noch viel zu wenig bekannt ist.54 Überhaupt möchte ich
52 PIRON, Lettres (Anm. 9), S. 216f. scheint den von KURT FLASCH stammenden Begriff „sä-
kulare Religion der Liebe“ in meinem Titel als ironisch missverstanden zu haben. Ich habe
in keiner Weise eine unernste oder gar frivole intentio operis angenommen, sondern im Ge-
genteil die Heiligung des Eros im Sinne Dantes oder des „dolce stil nuovo“ betont und da-
rum JAEGERs Bezeichnung „ennobling love“ für diese Briefe (unabhängig von jeder Zu-
schreibung) durchaus gutgeheißen (2003, S. 47 und Anm. 227; S. 97 und Anm. 292). Mit
Bezug auf Guillaume de Machauts Voir-dit spricht auch IMBS (Anm. 23), S. 28f. von einer
„émotivité de teinture nettement religieuse“; „une certaine forme de religiosité profane si
l’on peut dire“; „la persistante forme de syncrétisme entre la tradition judéo-chrétienne, qui
est un fait de civilisation, et des pans entiers de mythologie païenne qui procèdent de la
culture acquise à l’école du grammairien.“
53 MEWS insistiert in seinem z. T. als Antwort auf meinen Aufsatz Die Epistolae (Anm.1) ver-
fassten „Postscript“ (Anm. 9) hauptsächlich auf einer anderen Abfolge der Liebeskonzep-
tionen vom 11. bis zum 14. Jh. Auf die mehr philosophiegeschichtliche als philologische
Argumentation kann ich in diesem der Medialität des Liebesdiskurses gewidmeten Rahmen
nicht eingehen, hoffe aber bei anderer Gelegenheit darauf zurückzukommen. Ich denke
heute, dass wir beide, CONSTANT MEWS und ich, dem Text mehr ideengeschichtliches Ge-
wicht gegeben haben, als einem derart manieristisch ambitionierten Werk überhaupt zu-
kommt. Es geht um ein Problem methodischer Verhältnismäßigkeit.
54 Vgl. KÖNSGEN (Anm.3), S. XX-XXXIII und MEWS, The Lost Love Letters (Anm. 5), S. 8-11.
ROLF KÖHN hat eine umfassende Studie über das Profil und die Interessen dieses „Anti-
quars“ geplant, über deren aktuellen Stand ich nicht informiert bin. Dabei wollte er sämtliche
von de Vepria abgeschriebenen Handschriften (neben der schon von KÖNSGEN beschriebe-
nen Troyes 1452 auch Troyes 2139; 2471, fol.6-86; auch Troyes 1266 und 1306, fol. 61-106)
sowie die beiden Bibliothekskataloge von Clairvaux von 1472 und ca. 1521 untersuchen, aus
deren Vergleich der Zuwachs an humanistischen Codices und Inkunabeln während der Ak-
tivität de Veprias im Skriptorium hervorgeht. Vgl. ANDRÉ VERNET/JEAN-FRANÇOIS GE-
NEST: La bibliothèque de Clairvaux du XIIe au XVIIIe siècle, I. Catalogues et répertoires,
Paris 1979; ANDRÉ VERNET: Un abbé de Clairvaux bibliophile: Pierre de Virey. In: Scripto-
rium 6 (1952), S. 76-88, hier S. 85 und Anm. 68. Aufgrund dieser Vorarbeiten steht schon
Vom Nutzen der Philologie für den Umgang mit anonymen Liebesbriefen 45
nochmals betonen, dass ich diese meine Arbeit an den Epistolae duorum
amantium nur als einen Anfang verstehe, der die Dringlichkeit weiterer har-
ter Forschung (im Unterschied zu leichtverkäuflichen Vulgarisationen) mit
einigen methodologischen Leitlinien hervorstreichen wollte. So scheint mir
die genauere Datierung dieser Briefe nach etwa 1180 und vor 1471 heute
noch weitgehend offen, auch wenn ich Argumente für verschiedene Zeiten
versuchsweise zur Diskussion gestellt habe. Dabei darf ich, wo nicht als
Beweis, so doch als operationelles Prinzip mindestens eines festhalten: Je
später wir die Entstehung ansetzen, desto weniger Rätsel gibt das Werk
dem Kenner der Diskurstraditionen auf. Am allerwenigsten war es meine
Absicht, eine Fahndung nach anderen Zuschreibungskandidaten an Stelle
des so ‚nahe liegenden‘ Liebespaars Heloise und Abaelard zu veranstalten
und gar eine nominelle Gegenthese aufzustellen.55
Die Hauptsache ist, dass die Epistolae duorum amantium nach dem derzei-
tigen mediävistischen Konsens einer maior et sanior pars solange nicht als
Liebesbriefe Heloises und Abaelards gelten können und somit anonym
bleiben müssen, als keine überzeugenderen Argumente für ihre Verfasser-
schaft als die bisherigen vorgebracht werden. Wirklich unwiderleglich wäre
auf diesem Gebiet nur ein neuer Handschriftenfund der Epistolae (oder
fest, dass de Vepria sich nicht nur von Amtes wegen für mittelalterliche und monastische
Texte interessierte, sondern sich wohl aus privaten Vorlieben auch stark für die Überliefe-
rung von Ovidiana (Flores aus Ovids De amore, Ovidius moralisatus; s. KÖNSGEN (Anm. 3), S.
XXV) und der lateinischen Literatur des Trecento (Petrarca) und des Quattrocento (Enea
Silvio Piccolomini) einsetzte. Nach VERNETs Einleitung zur Edition der Bibliothekskataloge
findet sich der Besitzvermerk de Veprias u. a. auf Inkunabeln und Frühdrucken von Terenz,
Sueton, Polizian, Leonardo Bruni. Von Bedeutung ist auch, dass der frühere Katalog von
1472 kein einziges Werk von Abaelard verzeichnet; erst der spätere von ca. 1521 enthält
dessen Brief X (ed. SMITS) an Bernhard von Clairvaux (über das Vaterunser) und sonst
nichts. Auch der berühmte Codex Troyes 802 mit den Parakletbriefen stammt bekanntlich
nicht aus Clairvaux, wo sich offenbar niemand, nicht einmal ein so eifriger Sammler wie de
Vepria für Abaelard und Heloise interessierte. Nach dem Katalog von 1472 zu urteilen, gab
es in Clairvaux als Vorlagen weder die Epistolae duorum amantium, noch die Cicero-Exzerpte,
noch die (von de Vepria übrigens vollständig abgeschriebenen) Briefformulare des Carolus
Virolus; sie mussten vielmehr aus anderen Bibliotheken besorgt werden (vielleicht aus Paris,
wo sich der damalige Abt des Klosters, Pierre de Virey längere Zeit aufhielt, s. oben VER-
NET). Umgekehrt enthält der Katalog von 1521 Werke von Filippo Beroaldo d. Ä. (der auch
ein De duobus amantibus verfasst hat); das Bucolicon carmen ad Pium papam (wohl Enea Silvio)
eines Paraclitus Cornetanus, anonyme Texte wie Corone amantium tractatus, Cantica canticorum
prosaice, Matthaeus von Vendôme, De arte metrificandi, einen anonymen Dialogus senis et juvenis
de amore disputantibus, mehrfach das De remedio amoris von Enea Sivio Piccolomini und derglei-
chen Raritäten, die vielleicht Indizien für die Bestimmung der Epistolae enthalten. Damit sei
nur kurz angedeutet, wie viel ernsthafte Identifikationsarbeit auf diesem Feld gerade auch
in kodikologischer Hinsicht noch ansteht.
55 Wie mir dies PIRON (Anm. 9), S. 216f. unterstellt, um das Scheitern dieser vermeintlichen
„contre-expertise“ zu betonen.
46 Peter von Moos
56 DRONKE (Anm. 6) hat neuerdings ein unzweifelhaftes wörtliches Zitat aus der elegischen
Komödie De nuncio sagaci bzw. Ovidius puellarum in Ep. 84 (Mulier) entdeckt: Sperabam me curis
finem posuisse futuris. Da sich dieser immerhin signifikante Vers 2 (der gewissermaßen noch
zum zum ‚Incipit‘ der Dichtung gehört) auch im 10. Tegernseer Liebesbrief (jetzt ed. H.
PLECHL, MGH Epistolae, Die Briefe der deutschen Kaiserzeit 8, Hannover 2002) findet,
macht DRONKE daraus ein Argument für die Herkunft unserer Epistolae aus dem Bayern des
späteren 12. Jhs. Diese interessante milieumäßige Zuschreibung müsste an anderer Stelle
diskutiert werden, doch die Datierung des Pseudo-Ovidianums könnte – wäre sie nur sicher!
– einen terminus post quem für unsere Epistolae abgeben. Anstelle der älteren Datierung des
Ovidius puellarum ins 11. Jh. wurde nämlich in letzter Zeit die erste Hälfte des 12. Jhs. vorge-
schlagen (frühester Zitat-Beleg im Policraticus Johanns von Salisbury 1159, s. unten ROSSET-
TI). Wie immer dem sei, zu einem Erfolgswerk des Triviums dürfte die Komödie nicht vor
der zweiten Hälfte des 12. Jhs. geworden sein. So oder so ist zu bedenken, dass der Ovidius
puellarum zusammen mit dem Pamphilus und anderen Pseudo-Ovidiana zum Grundbestand
sowohl der italienischen Liebes-dictamina des 13. Jhs. als auch der Schulübungen des Anfän-
gerunterrichts im 14. Jh. gehört, wie etwa noch der Frühhumanist Sicco Polenton in einem
autobiographischen Rückblick vermerkt (s. BRUNI unten). Vgl. De nuncio sagaci. Hrsg. von G.
ROSSETTI (Commedie latine del XII e XIII secolo 2), Genova 1980 mit ausführlicher Einlei-
tung zur Wirkungsgeschichte; ein Petrus von Vinea fälschlich zugeschriebenes Liebesgedicht
Cum plurima sint tempora transcursa als sog. „Versus cum auctoritate“ aus dem Pamphilus, Hs.
Reims 1275, fol. 35rb-vb, Nr. 27. Hrsg. von A. HUILLARD-BRÉHOLLES, Pierre de la Vigne,
Paris 1865, S. 417-421 (zum möglichen Einfluss auf unsere Liebesbriefe s. von MOOS 2003,
Anm. 63); FRANCESCO BRUNI: Testi e chierici del medioevo, Genova 1991, S. 274-277 zur
Lebendigkeit des mittelalterlichen Pseudo-Ovid in den frühhumanistischen Kreisen bis Boc-
caccio. Die nun feststehende Benützung des Ovidius puellarum kann also höchstens als mög-
licher terminus post quem, keinesfalls aber als Datierungsindiz für das 12. Jh. dienen.
57 So wenden PIRON, Enquête (Anm. 9), S. 194 und, ihm folgend, MEWS, (Anm. 7), S. 64 gegen
eine Spätdatierung der Epistolae ein, dass darin die aristotelische Ethik nicht zitiert werde.
Das Argument wäre selbst dann nicht zwingend, wenn wir es mit philosophischen Texten
zu tun hätten; doch in Liebesbriefen und Liebeslyrik sind eigentliche Zitate aus der Nikoma-
chischen Ethik selbst nach 1250 allein schon aus Gattungs- oder Diskursgründen nicht zu
erwarten. Finden sie sich etwa in Petrarcas Canzoniere? Wenn Cicero neben Ovid in den
Epistolae als Autorität der Liebe erscheint, so liegt dies durchaus in derselben, schon durch
die Accessus ad auctores festgelegten schulliterarisch-rhetorischen Diskurstradition, die in der
ars dictaminis weiterlebt. Sucht man hingegen nicht nach Zitaten im philologischen Sinn,
sondern nach Denktraditionen, so dürfte ein Hauptmotiv der Epistolae, die Anwendung der
Freundschaftsideale auf die (treue) geschlechtliche Liebe durchaus mit der aristotelischen
Ethik (z.B. EN VIII 14) übereinstimmen; vg. hierzu RÜDIGER SCHNELL: Sexualität und Emo-
tionalität in der vormodernen Ehe, Köln u. a.. 2002. S. 173-200 und FRANCESCO BRUNI:
Boccaccio. L’invenzione della letteratura mezzana, Bologna 1990. S. 131-135. Allerdings
bleibt auch hier die in Anm. 53 ausgesprochene Warnung zu beherzigen.
Vom Nutzen der Philologie für den Umgang mit anonymen Liebesbriefen 47
werden wir wohl noch lange warten müssen, bis diese Liebesbriefe aus dem
Limbus der Anonymität erlöst werden. Aber da sie sich dort in bester Ge-
sellschaft befinden, besteht für uns kein Grund, an irgend einem „horror
vacui“ zu leiden.58
58 Damit antworte ich auf den vorletzten Satz von PIRONs „Enquête sur un texte“ (Anm. 9),
S. 217, der nochmals eine sehr kühne ‚Umkehr der Beweislast‘ enthält: „[…] cette proposi-
tion peut être considérée comme valable tant qu’elle n’aura pas été réfutée. Pour l’instant, et
peut-être pour longtemps, nous pouvons estimer que l’attribution des Lettres à Héloïse et
Abélard est acquise.“ Gleichzeitig beantworte ich damit dankbar und erheitert einen freund-
lichen Brief von EWALD KÖNSGEN, der mir schrieb, er würde sich aufrichtig freuen, wenn
gegen die Autorschaft Abaelards und Heloises eines Tages nicht nur „plausible Argumente“,
sondern sogar „Beweise“ gefunden werden könnten. Solange letztere als Adynata gelten
dürfen, bleiben einstweilen eben nur die ersteren.
STEPHAN MÜLLER
1. Problemkonstellation
Die Schrift ist im Früh- und beginnenden Hochmittelalter ein exklusives
Medium. Sie ist Teil institutioneller und funktionaler Zusammenhänge zu-
erst der klösterlichen und dann zunehmend auch der Kultur der frühen
Fürstenhöfe.1 Die Produktion und Rezeption von Schrift ist tendenziell
gebunden an Situationen der Gemeinsamkeit und Öffentlichkeit und in
dieser Form kaum ein Medium, dem man Persönliches oder gar Intimes
anvertraut; das ändert sich erst auf dem Weg hinein in die Neuzeit. Jenes
prekäre Potential, vor dem Rousseau die Leserinnen seiner Nouvelle Héloïse
mit einem Augenzwinkern warnt,2 wenn er betont, dass sie zu verlorenen
Mädchen, zur „fille perdue“ zu werden drohen, wenn sie nur eine einzige
Seite, „une seule page“, des Romans zu lesen wagen, ist der Schriftkultur
des frühen Mittelalters fremd. Das jeder sozialen Kontrolle entzogene Al-
leinsein mit der Schrift, die Träne, die das Tagebuch benetzt, der Roman,
der das einsame Herz zum Entflammen bringt, all das kannte das frühe
Mittelalter nicht. Aus diesem Grund sind aus dieser Zeit einerseits Spuren
individueller Schreib- und Lesepraxis selten und kommen andererseits In-
1 Über deren Schriftproduktion man allerdings nur sehr wenig sagen kann. S. dazu TIMO
REUVEKAMP-FELBER: Volkssprache zwischen Stift und Hof. Hofgeistliche in Literatur und
Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2003 (Kölner Germanis-
tische Studien N. F. 4).
2 JEAN-JACQUES ROUSSEAU: La nouvelle Héloïse. Éditions Gallimard 1964 (Œuvres complètes II.
Édition publiée sous la direction de BERNARD GAGNEBIN et MARCEL RAYMOND), S. 6. Au-
genzwinkernd deshalb, da ROUSSEAU seine Warnung insofern modifiziert, dass jene Mäd-
chen, die bereits zu Lesen begonnen hätten, ruhig weiterlesen können, denn „elle n’a plus
rien à risquer“.
50 Stephan Müller
2. Das Frühmittelalter
Ein Beispiel ist der sogenannte Kicila-Vers. Er gehört nicht in den Bereich
einer wie auch immer gearteten Liebeslyrik, sondern ist eine scheinbar in-
dividuelle Aussage über eine schöne Frau und zwar, was den Eintrag für
uns interessant macht, über eine lesende Frau. Er findet sich in der Heidel-
berger Handschrift von Otfrids Evangelienbuch (Cod. Pal. lat 52) und wur-
3 MGH Legum Sectio II. Capitularia Regum Francorum, Tom. I. Hrsg. von ALFRED BORE-
TIUS, Hannover 1883, S. 62-64, Nr. 19.
4 Zu diesem Komplex s. CYRIL EDWARDS: winileodos? Zu Nonnen, Zensur und den Spuren der
althochdeutschen Liebeslyrik. In: Theodisca. Zur Stellung der althochdeutschen und altnie-
derdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters. Hrsg. von WOLF-
GANG HAUBRICHS u. a., Berlin, New York 2000 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der
Germanischen Altertumskunde 22), S. 189-206, hier S. 190.
5 ELIAS VON STEINMEYER: Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, Berlin 1916
(ND 1971), Nr. 28, S. 146, Z. 37.
Sprechende Bücher – verschwundene Schrift 51
Abb. 1: Hirsch und Hinde (Brüssel, Bibliothèque Royale Albert Ier, cod. 8860-8867,
fol. 15v)
de wohl in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts mit einem stumpfen
Griffel, also ohne Tinte, ins Pergament eingedrückt. Eine gewisse Promi-
nenz genießt der Spruch deshalb, weil man hinter der Frau eine Kaiserin
vermutete: Kicila diu scona min filu las, „die schöne Gisela las oft in mir“,
lautet er und man dachte an die Kaiserin Gisela, die Gattin Konrads II., die
für ihr Interesse an deutschen Texten bekannt und für den möglichen
Diebstahl von Notkers Psalter und dessen Moralia-Bearbeitung berüchtigt
ist.6 Aber diese Idee ist wohl zu schön, um wahr zu sein. Zwar konnte man
das intervokalische c mit Mühe noch als Spirans auffassen, denn normaler-
weise würde man es als Affrikat lesen, seit VOLKER SCHUPP und JOHANNA
AUTENRIETH jedoch das K in Kicila als unziales H identifiziert haben, wissen
wir, dass das Buch über eine Frau mit dem gängigen Namen Hicila spricht.7
Für unser Anliegen ist das allerdings unerheblich. Wichtig sind dagegen
zwei Feststellungen: Erstens, der Eintrag ist als Griffeleintrag schwer zu
finden, er verbirgt sich förmlich am Blattrand und zweitens spricht hier ein
Buch. Die Erste Person Singular ist der Codex selbst und es ist das erste
deutsch sprechende Buch überhaupt.8
Den zweiten Fall kennt man unter dem Titel Hirsch und Hinde (s. Abb. 1).
Der Text findet sich auf dem Rand einer Brüsseler Handschrift:9 Hirez
runeta hintun in daz ora: ‚uuildu noh, hinta?‘ („Der Hirsch raunte der Hinde in
das Ohr: ‚Willst du noch, Hinde?‘“). Der Randeintrag aus dem 11. Jahrhun-
dert steht in Zusammenhang mit einem volkstümlichen Ritual, das sich bis
in die Neuzeit gehalten hat. Es handelt sich dabei um einen Neujahrs-
brauch, das cervulum facere („den Hirsch machen“), gegen das sich im 6. Jahr-
6 Vgl. STEPHAN MÜLLER: 1027, August: Monastic Scriptoria. In: A New History of German
Literature. Hrsg. von DAVID E. WELLBERY, Cambridge/Mass, London 2004, S. 28-33.
7 VOLKER SCHUPP: Die Hilfe der Kodikologie beim Verständnis althochdeutscher Texte. In:
Freiburger Universitätsblätter 136 (Juni 1997), S. 57-77, bes. S. 76f.
8 RUDOLF SCHÜTZEICHEL: Cod. Pal. lat. 52. Studien zur Heidelberger Otfridhandschrift, zum
Kicila-Vers und zum Georgslied, Göttingen 1982 (Abhandlungen der Akademie der Wis-
senschaften in Göttingen, phil.-hist. Klasse. Dritte Folge 130), S. 49-51.
9 UTE SCHWAB: Das althochdeutsche Lied ‚Hirsch und Hinde‘ in seiner lateinischen Umge-
bung. In: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100-1500. Hrsg. von NIKOLAUS
HENKEL/NIGEL F. PALMER, Tübingen 1992, S. 74-122.
52 Stephan Müller
hundert schon Caesarius von Arles richtet, wenn er jene kritisiert, die „die
höchst schmutzige Schändlichkeit mit der Hinde und dem Hirsch betrei-
ben“.10 Auch eine in Pforzen aufgefundene Runeninschrift scheint sich
gegen diese Sitte auszusprechen, indem sie zwei Personen dem elahu, dem
Elch, abschwören lässt.11 Der wahrscheinlich ein Tanzritual begleitende
Text ist in der Handschrift umrahmt von lateinischen Sentenzen, die – und
darauf kommt es an – wie der deutsche Satz mit Neumen versehen sind.
Es geht hier also nicht nur um den Text, sondern auch um die Überliefe-
rung der Melodie, nicht nur um Wort, sondern auch um Weise und das im
Kontext einer lateinischen Umgebung. Das ist kein Einzelfall: Es ist eine
wenig beachtete Tatsache, dass viele althochdeutsche Kleintexte mit Neu-
men überliefert sind. Ich nenne neben noch zu besprechenden Beispielen
das Petruslied 12 und den sogenannten St. Galler Spottvers, der von einer miss-
glückten Verlobung erzählt.13 Überhaupt gibt es gute Zeugnisse dafür, dass
es bei der Erhaltung von Vortragstexten oft mehr um die Melodie und
weniger um den Wortlaut ging. Beleg dafür ist auch die Übersetzung von
Ratperts Galluslied durch Ekkehard IV., die in allen Handschriften mit Neu-
men versehen ist, so dass sie uns die Melodie, nicht aber den Wortlaut des
althochdeutschen Werkes zu erhalten sucht.14 Der Inhalt von Hirsch und
Hinde scheint sich – zusätzlich gedeckt von den benachbarten lateinischen
Sentenzen – hinter der Neumierung förmlich zu verbergen.
Auch das nächste Beispiel ist neumiert, indes auf eine ganz und gar
seltsame Weise: Früher hat man den auf um 900 datierten Randeintrag zur
Gruppe der St. Galler Spottverse gezählt, jetzt firmiert er – besser, aber auch
noch nicht ganz passend – als Spinnwirtelspruch (s. Abb. 2):15 veru – taz ist spiz.
taz santa tir tin fredel ce minnon. Man hat vor allem am ersten Wort gerätselt
und für veru Übersetzungen wie „Oh Weh“ oder „Wahrlich“ vorgeschlagen.
Inzwischen darf man sich aber sicher sein, dass es sich um ein romanisches
Wort handelt, das wie das folgende deutsche Wort „spitz“ bedeutet, so dass
zu übersetzen ist: „veru [romanisch], das heißt spitz, das sandte dir dein
Freund aus Liebe“. Der Text schließt sich dabei an eine volkstümliche
Tradition an, für seine Geliebte auf einen spitzen Gegenstand etwas einzu-
ritzen. Bezeugt sind solche Ritzungen auf Spinnwirteln und ähnlichen Ge-
genständen. Für die vorliegende Untersuchung kommt es darauf an, zu
betonen, dass der Text in einer Handschrift steht, und dass die erste Zeile
sich an die monastisch-gelehrte Praxis der Glossierung anschließt; wobei
die romanisch-deutsche Glossierung auf den Bereich der Spracharbeit in
der Kontaktzone von Romania und Germania verweist und damit etwa in
der Tradition der sogenannten ‚Gesprächsbüchlein‘ steht. Der fredel, der
Geliebte, schickt seiner Freundin also eine Glosse und holt damit die ge-
nannte volkstümliche Tradition der eingeritzten Sprüche, die außerhalb der
Handschriftenkultur existierte, in den Raum eines Codex herein. So steht
auf dem Pergamentrand eine amouröse Glosse, die, wenn auch recht lose,
mit Neumen versehen ist und es scheint mir, dass es bei diesen Neumen
nicht um die Überlieferung einer Melodie geht, sondern vielmehr der Ver-
such vorliegt, vom frechen Inhalt der Glossierung abzulenken. Recht fa-
denscheinig decken die Neumen auch diesen Text, der zusätzlich im Ge-
wand eines gelehrten oder zumindest in den Bereich der Schulpraxis ver-
weisenden Eintrags daherkommt.
Das nächste Beispiel führt nun in den engeren Bereich der Liebeslyrik:
Es ist das Gedicht, das unter dem Titel Kleriker und Nonne Teil der Cam-
bridger Liederhandschrift16 aus dem 11. Jahrhundert ist, oder – eigentlich
korrekter – war (s. Abb. 3). Es ist nicht das einzige deutsche Stück der
Handschrift, die bei den Germanisten besonders als Trägerin des deutsch-
lateinischen De Heinrico17 bekannt ist. Anders als dieses ist das Liebeslied
jedoch in der Handschrift radiert und wurde überdies in der Neuzeit mit
Reagenzien behandelt, so dass man über den Inhalt nur folgendes sagen
kann: Sicher ist, dass eine Nonne auftritt, der Kleriker dagegen ist schon
unsicher, es könnte sich auch um einen Weltlichen handeln. Sicher scheint
auch zu sein, dass es sich um ein Dialoglied handelt, das in der Tradition
des‚Verführungsliedes‘ steht, da es neben dem auch anderwärts überliefer-
ten lateinischen „Komm mein süßer Freund“ steht, das ebenfalls den Ein-
satz des Schabeisens provozierte. Es muss unklar bleiben, ob die Nonne
dem Liebeswerben nachgab, aber der Einsatz des lunellarium spricht eher für
den Erfolg der Werbung. Dieser Text ist also eingebunden in eine lateinische
Überlieferungstradition, doch der Liebestext hat – anders als das politische
Lied De Heinrico – seinen Schritt hinein in die Schriftlichkeit nicht überlebt
und wurde im Konvoi der lateinischen Textreihe aufgespürt und getilgt.
Das letzte Beispiel ist der bekannte Tegernseer Liebesbrief, der uns nun
chronologisch in das 12. Jahrhundert führt; also in die Zeit der Entstehung
der volkssprachigen höfischen Liebeslyrik, die allerdings erst viel später
den Einzug in die Handschriften gefunden hat. Es ist das allbekannte: du
bist min, ich bin din,18 das den Schluss eines lateinischen Briefes bildet, also
wie Kleriker und Nonne Teil einer gängigen lateinischen Überlieferungspraxis
ist, in dieser Position indes, anders als der deftigere Cambridger Vergleichs-
fall, in seiner ja bis heute hinreißenden Schlichtheit überlebt hat.
Überblicken wir diese fünf Fälle, so lässt sich festhalten, dass deutsche
Texte über die Liebe oder allgemeiner über individuelle intime Gefühle es in
der Handschriftenkultur des Frühmittelalters ganz offensichtlich nicht leicht
hatten und nur mit Mühe einen Platz auf dem Pergament fanden: Versteckt,
nahezu unsichtbar wie der Hicila-Vers. Als Melodien neumiert, wie Hirsch und
Hinde, oder auch – so meine These für den Spinnwirtelspruch – nur scheinbar
neumiert. Eingelassen in Formen lateinischer Schriftpraxis wie der Spinnwir-
telspruch, Kleriker und Nonne und das ich bin din der Tegernseer Briefsamm-
lung.19 Stets waren also jene volkssprachigen Texte, die im weiten Zusam-
menhang mit einem Diskurs über Liebe und Intimität stehen, gefährdet und
deutlich Fremdlinge in der Codex-Kultur des frühen Mittelalters und im Fall
der Cambridger Liederhandschrift griff man sogar zum Messer.
20 Lied I-III: Zürich, Zentralbibliothek, Ms. C 58, „wohl Ende des 12. Jahrhunderts“ (KARIN
SCHNEIDER: Gotische Schriften in deutscher Sprache. I. Vom späten 12. Jahrhundert bis
um 1300. Textband, Wiesbaden 1987, S. 63); Lied IV: Wien, ÖNB, cod. 160, fol. 100v, spätes
12. Jahrhundert (Des Minnesangs Frühling. Hrsg. von. HUGO MOSER/HELMUT TER-
VOOREN, Stuttgart 381988, S. 16) und Lied V: München, BSB, Cgm 5249/42a, um 1200 oder
Anfang 13. Jahrhundert (KARIN SCHNEIDER: Die Fragmente mittelalterlicher deutscher
Versdichtung der Bayerischen Staatsbibliothek München [Cgm 5249/1-79], Stuttgart 1996
(ZfdA. Beiheft 1), S. 70).
21 München, BSB, Clm 4570, kurz nach 1190 (ERICH PETZET/OTTO GLAUNING: Deutsche
Schrifttafeln des IX. bis XVI. Jahrhunderts aus Handschriften der Königlichen Hof- und
Staatsbibliothek in München. III. Abteilung, München 1912 (ND 1975), Tafel 24).
22 Krakau, Bibl. Jagielloľska, Berol. mgq 1418. Anfang des 13. Jahrhunderts (FRANZ-JOSEF
HOLZNAGEL: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung
der mittelhochdeutschen Lyrik, Tübingen, Basel 1995 (Bibliotheca Germanica 32), S. 23).
23 GÜNTER BERNDT. In: ²VL 1 (1978), Sp. 1179-1186.
24 Als frühester Zeuge kann wohl das Morungen-Fragment aus Kremsmünster (Stiftsbibl., Cod.
248, Bl. 237v) gelten, wobei die Datierung „2. Viertel des 13. Jhs.“ (Minnesangs Frühling (Anm.
20), S. 469) eher Richtung Jahrhundertmitte (oder auch kurz danach) zu verstehen sein dürfte.
25 S. dazu HOLZNAGEL (Anm. 22).
26 Zu nennen sind hier drei Handschriften. Erstens: Die Fragmentengruppe: Karlsruhe, LB, Cod.
Donaueschingen 69, München, BSB, Cgm 5249/31 und (jüngst wieder aufgefunden) Regens-
burg, Bischöfl. Zentralbibl., Fragm. I.5.1 aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts (KARIN
SCHNEIDER: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mit-
telalterlichen Fragmente Cgm 5249-5250 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae
Monacensis V, 8), Wiesbaden 2005, S. 69). Zweitens: Krakau, Bibl. Jagielloľska, Berol. mgq
661 um 1200 (NIGEL F. PALMER: Manuscripts for reading: The material evidence for the use
of manuscripts containing middle high german narrative verse. In: Orality and Literacy in the
Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D. H. Green. Hrsg.
von MARK CHINCA/CHRISTOPHER YOUNG, Turnhout 2005, S. 67-102, S. 94 und Drittens:
Krakau, Bibl. Jagielloľska, Berol. mgq 1418. Anfang des 13. Jahrhunderts (Anm. 22).
27 Trier, Stadtbibl., Mappe X, Fragm. 13 und Trier, Stadtbibl., Mappe X, Fragm. 14. Um 1200
oder auf Anfang des 13. Jahrhunderts datiert von SCHNEIDER (Anm. 20), S. 119.
Sprechende Bücher – verschwundene Schrift 57
um die Wende zum 13. Jahrhundert einsetzen. Das Fehlen des Themas
‚Liebe‘ speziell in der Lyrik scheint mir auf einer anderen als nur der inhalt-
lichen Ebene zu liegen, nämlich auf einer pragmatischen. Mit Pragmatik ist
dabei ganz allgemein jene Sinndimension der Texte gemeint, die durch die
Formen ihres Gebrauchs entstehen. Für den Minnesang ist es dabei zum
Handbuchwissen geworden, dass er gerade in der frühen Zeit als höfisches
Zeremonialhandeln in die sozialen Praktiken des höfischen Lebens einge-
bunden war. Auch wenn das ein allzu pauschales Urteil ist, könnte es doch
erklären, warum der Minnesang sein Leben außerhalb der Handschriften
führte und erst von einer elaborierten, im späten 13. Jahrhundert nun auch
weltlichen Schreibpraxis beachtet wurde. Man hat in der neueren For-
schungsdiskussion für dieses Problemfeld das Begriffspaar „Aufführung
und Schrift“28 eingeführt: Der primäre Ort mittelalterlicher Lyrik liege in
der Dimension ihrer Aufführung; die teils sehr komplexen Texturen der
Lieder seien dagegen nicht ohne das Medium der Schrift produzierbar und
in ihrer ganzen hermeneutischen Tiefe wohl auch nicht rezipierbar. Wir
müssen also akzeptieren, dass die Schriftförmigkeit als einziger uns verfüg-
barer Überlieferungszustand der Texte nur sehr mittelbar einen Zugriff
auf die Liedkultur des Mittelalters erlaubt. Die Suche nach Spuren der
Aufführung und deren spezifischer kommunikativer Logik29 ist eine müh-
same, wenn nicht vergebliche. Für die folgende Argumentation ist es nun
entscheidend, dass das Medium der Schrift in diesem Problemfeld zweimal
vorkommt: Einerseits ist es – zumindest für prominente Teile des Minne-
sangs – ein Medium der Produktion und möglichen Rezeption30 und spielt
damit auch eine Rolle in jenen sozialen höfischen Zusammenhängen, zu
der die Praxis des Sangs konstitutiv gehörte. Wie diese Rolle jedoch konkret
aussah, wird wohl unklar bleiben. Sicher wurden die Lieder meist auswen-
dig vorgetragen, aber der lange Weg des Repertoires von seiner Entstehung
bis hinein in die großen Liederhandschriften ist ganz ohne die Schrift
kaum denkbar. Doch von den Trägern dieser Schrift, die man sich als wie
auch immer geartete Konzeptaufzeichnungen31 vorstellen muss, ist uns
28 Vgl. Aufführung und Schrift in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 1994.
Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, Stuttgart, Weimar 1996.
29 Als Beispiel etwa JAN-DIRK MÜLLER: Performativer Selbstwiderspruch. Zu einer Redefigur
bei Reinmar. In: PBB 121 (1999), S. 379-405.
30 Vgl. dazu NIGEL F. PALMER (Anm. 26).
31 Ein Beispiel wäre hier das früheste Fragment des Wartburgkriegkomplexes, das – evt. als Rest
eines Rotulus – eine solche Konzeptaufzeichnung darstellt (Berlin, GStAPK: XX. HA Hs. 33,
Bd. 11). Vgl. Katalog der mittelalterlichen deutschsprachigen Handschriften der ehemaligen
Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg. Nebst Beschreibung der mittelalterlichen
deutschsprachigen Fragmente des ehemaligen Staatsarchivs Königsberg, auf der Grundlage
der Vorarbeiten LUDWIG DENECKES erarbeitet von RALF G. PÄSLER/UWE MEVES, München
2000 (Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 15), S. 161f.
58 Stephan Müller
32 Vgl. STEPHAN MÜLLER: ‚Erec‘ und ‚Iwein‘ in Bild und Schrift. Entwurf einer medienanthro-
pologischen Überlieferungs- und Textgeschichte am Beispiel der frühesten Zeugnisse der
Artusepen Hartmanns von Aue. In: PBB 127 (2005), S. 414-435.
33 S. dazu SCHÜTZEICHEL (Anm. 8).
Sprechende Bücher – verschwundene Schrift 59
genes Beispiel gibt es auch in späterer Zeit: Der Heimliche Bote34 im clm 7792
verkündet seine Minnelehre als sprechendes Buch und wurde im ersten
Viertel des 13. Jahrhunderts aufgeschrieben,35 steht also weit vor den ersten
schriftlichen Spuren des Minnesangs und stellt eine auf das Medium der
Schrift bezogene höfische Minnedidaxe dar.
Ich verstehe diese textuell organisierte Kohärenzbildung als eine Stra-
tegie, die ‚Liebe‘ in der Schrift thematisierbar zu machen. Die Abwendung
von der Aufführungslogik hin zur Schriftlogik ist dabei eine Strategie, die
mit dem Befund der sehr frühen Überlieferung gerade dieser Texte kor-
respondiert.
Aber auch im Korpus des Sangs selbst scheint mir die Differenzierung
zwischen performativer und textueller Kohärenzbildung beobachtbar zu
sein. Ich will vorschlagen, im Gegensatz zum performativen ‚Rollenlied‘
die Tradition des ‚Tageliedes‘ in einer textuellen Perspektive zu interpretie-
ren, selbst wenn die Tagelieder natürlich auch vorgetragen wurden.36 Das
Tagelied steht, wir wissen es, in einer internationalen Tradition. Im deut-
schen Sprachraum spielt diese in der Frühzeit des Minnesangs jedoch keine
große Rolle. Anders als im romanischen Bereich entfaltet sich die deutsche
Tradition nach punktuellen Anfängen erst mit Wolframs Tageliedern, die
– CHRISTIAN KIENING hat es beschrieben – das ganze poetische Potential
der Gattung ausloten.37 Die frühen Tagelieder setzen zwar den Situations-
entwurf des Tagelieds voraus, dass Liebender und Liebende sich nach ge-
meinsamer Nacht trennen müssen, wobei oft eine dritte Instanz, besonders
die des Wächters, von Bedeutung ist; doch wird im frühen Sang dieser Si-
tuationsentwurf nicht auserzählt.38 Erst als das geschieht, kommt der prag-
matischen Dimension des Textes eine wichtige Rolle zu, die ich hier her-
vorheben will. Der Rollenentwurf des Tageliedes ist in seinen Referentia-
lisierungsstrategien nämlich nicht nur performativ, sondern auch textuell
strukturiert: Wie das sprechende Buch substituiert die Schrift hier Rollen,
die nicht auf das Feld der Aufführung referieren. Neu ist, dass sich diese
Tradition nicht auf die Rolle der Ersten Person Singular (als sprechendes
Buch) zurückzieht, sondern eine dritte Person – inhaltlich und grammati-
kalisch – einführt: Man kann das poetologisch als Episierung des Liedes
beschreiben, als Etablierung eines textinternen Situationsrahmens, der eine
erste und zweite Person, aber nun auch eine dritte Instanz adressierbar
macht. Mit dem Heraustreten aus der Beschränkung auf die Erste und
Zweite Person und eine Erweiterung auf den Bereich der Dritten wird im
Lied ein textuell organisierter, abgeschlossener Rahmen der Referentialisie-
rungen aufgebaut, der ganz anders als die dominant performative Integra-
tion der Rollenlyrik funktioniert.39 Die Verwendung der Ersten und Zwei-
ten Person nämlich geht von der Kommunikation unter Anwesenden aus,
die Dritte Person (und ihre Pronomina) dagegen verweist auf potentiell
Abwesende und muss deshalb z. B. etwas über das Geschlecht dieser drit-
ten Person aussagen.40
Diese Eigenschaft der Tagelieder rücken sie näher als die Rollenlieder
an die Dimension der Schrift. Es wäre zu bedenken, ob daraus nicht der
relativ späte Erfolg der Tagelieder bzw. dessen spärliche frühe Spuren er-
klärbar sind. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Spannung zwischen
‚Liebe‘ und volkssprachiger ‚Schrift‘ könnte man vermuten, dass die per-
formativ konzipierte Liebeslyrik für eine Vortragskultur attraktiver war,
während die Situationsentwürfe einer elaborierten Tageliedtradition auf
die Schrift verweisen. Diese These wird durch einen letzten, punktuellen
Überlieferungsbefund gestützt. Vom Minnesang gibt es, wie gesagt, vor
dem Ende des 13. Jahrhunderts keine nennenswerten Überlieferungsträ-
ger. Nur ein Fall ist noch vor die Jahrhundertmitte zu datieren: Zwei von
Wolframs Tageliedern (Minnesangs Frühling (Anm. 20), XXIV, I und II)
sind im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts im cgm 1941 überliefert, Wolf-
rams Minnelieder finden sich dagegen erst in den späteren Sammlungen.
Ohne den Befund überanstrengen zu wollen, will ich folgenden Schluss
daraus ziehen: Der schriftbezogene, textuell organisierte Liedtyp des Tage-
liedes hat also anscheinend einen schweren Start in die zeremonielle Lied-
kunst der höfischen Kultur, aber er fand in seiner textuellen Zugewandtheit
an die Schrift dann schnell den prekären Weg aufs Pergament. Der rituellen
Praxis des Rollensangs blieb dieser Weg noch eine Zeit verbaut, so lange
bis die archivalischen oder repräsentativen Interessen einer neuen Schreib-
praxis sich auch dieser Tradition annahmen.
Mir scheint, dass der Hohe Sang und das Tagelied zwei verschiedene
Lösungen ein und desselben Problems anbieten. Sie sind zwei Lösungen
des Problems der Kodifizierung von Liebestexten, das für das Frühmittel-
alter nachzuzeichnen war. Das Rollenlied wendet sich zunächst von der
Schrift ab und findet seine Lebensform im höfischen Ritual – das Tagelied
geht dagegen, wenn man so will, auf die Schrift zu. Dieser Schritt hin zur
Schrift ist dabei keine Erfindung der deutschen Tradition, sondern ein
grundsätzliches Angebot des Genres, das in der frühen deutschen Praxis
des Liedvortrags keinen guten Platz fand. Erst der Epiker Wolfram greift
die textuellen Chancen des Genres auf, die seine Vorgänger im Kontext
einer performativen Textpraxis nicht zu nutzen wussten.
Der höfische Liebesdiskurs, der hinter der Tradition des Sangs steht, ist
ein öffentliches Sprechen über die Liebe; für ein Schreiben über die Liebe
eroberte die literarische Tradition in der Volkssprache sich erst langsam
jenen Raum, in dem das spezifische Alleinsein mit der Schrift, das Spiel
zwischen emotionaler Passion und medialer Distanz das Thema ‚Liebe‘
ganz entscheidend prägen wird. Für die Zeit davor begegnen uns mit den
frühen Spuren und dann mit Tagelied und Rollensang alternative Reaktio-
nen auf das prekäre Verhältnis von Liebe und Schrift. So gesehen könnte
die sich verändernde Widerständigkeit der Handschriftenkultur gegen die
Liebe, die wir seit dem Frühmittelalter beobachten können, bei einer Neu-
bewertung der Tradition des frühen Minnesangs helfen und damit nach-
drücklich für die literarhistorischen Chancen einer Überlieferungsgeschich-
te plädieren, wie ich sie hier nur punktuell vorschlagen konnte.
BRUNO QUAST/MONIKA SCHAUSTEN
Amors Pfeil
Liebe zwischen Medialisierung und Mythisierung
in Heinrichs von Veldeke Eneasroman
Die glückliche Liebe hat keine Geschichte
(DENIS DE ROUGEMONT)
1 DENIS DE ROUGEMONT: Die Liebe und das Abendland, Zürich 1987 (Originalausgabe Paris
1939).
2 Ebd., S. 446.
64 Bruno Quast/Monika Schausten
stehung geht. Seit langem jedenfalls wird darauf hingewiesen, dass Hein-
rich mit seiner den französischen anonym überlieferten Vorlagentext adap-
tierenden Ausgestaltung der Liebesgeschichte zwischen Eneas und Lavinia
die bei Vergil im Vordergrund stehende Erzählung von der unglücklichen
Leidenschaft zwischen dem trojanischen Helden und der karthagischen
Königin Dido nicht allein ergänze, sondern der einen ‚fatalen‘ („falschen“)
Liebeskonzeption seines Helden eine weitere, ‚richtige‘ gegenüberstelle.3
Dies, so die ältere Forschung, geschehe in legitimatorischer Absicht, denn
der trojanische Held muss in der Erzählung ja bekanntlich der Gründer des
Römischen Reiches werden, und hierfür kommt allein die Heirat mit Lavinia
in Frage.
Hätte DE ROUGEMONT aber mit Sicherheit die leidenschaftliche, da un-
glückliche, Leiden schaffende Liebe zwischen Dido und Eneas als Beleg für
seine These interessiert, so gilt der jüngsten Forschung, so scheint es, inte-
ressanterweise die Lavinialiebe als Ausweis für die Entwicklung einer lite-
rarischen Codierung eines Affekts bzw. noch weitergehend als Ort der
Entstehung eines reflektierten Gefühls in mittelalterlicher Literatur, das, so
MIREILLE SCHNYDER, erst da überhaupt entstehen könne, „wo es Teil einer
medial vermittelten, dadurch reflektierten und in einen Kommunikations-
zusammenhang eingebundenen Affektordnung“ sei.4 Dies geschehe in der
Laviniaepisode in einem Lehrgespräch zwischen Mutter und Tochter, wel-
ches erklärt, was genau unter Liebe zu verstehen ist, sowie anschließend in
einem Brief der Lavinia an Eneas, in dem sie ihm ihre Liebe offenbart.5
3 FRIEDRICH MAURER: „Rechte“ Minne bei Heinrich von Veldeke. In: Archiv 187 (1950), S.
1-9. – Modifizierend zu MAURERs Thesen GERRIT J. OONK: Rechte Minne in Veldekes Enei-
de. In: Neophilologus 57 (1973), S. 258-273; ARTHUR GROOS: Amor and his Brother Cupid:
The „Two Loves“ in Heinrich von Veldeke’s „Eneit“. In: Traditio 32 (1976), S. 239-255;
Kritisch zu MAURERs Thesen vor allem WERNER SCHRÖDER: Dido und Lavine. In: ZfdA 88
(1957/58), S. 161-195, und KURT RUH: Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Bd. 1,
Berlin 1967, S. 67-84. Zu dieser Forschungsdiskussion vgl außerdem MONIKA SCHAUSTEN:
Gender, Identität und Begehren: Zur Dido-Episode in Heinrichs von Veldeke „Eneit“. In:
Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in
der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von INGRID BENNEWITZ/HELMUT TERVOO-
REN, Berlin 1999 (Beihefte zur ZfdPh 9), S. 143-158.
4 MIREILLE SCHNYDER: Imagination und Emotion. Emotionalisierung des sexuellen Begeh-
rens über die Schrift. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hrsg. von C. STEPHEN
JAEGER/INGRID KASTEN, Berlin, New York 2003 (TMP 1), S. 237-250, hier S. 238. – Hierzu
kritisch RÜDIGER SCHNELL: Medialität und Emotionalität. Bemerkungen zu Lavinias Minne.
In: Germanisch-romanische Monatshefte 55 (2005), S. 267-282, hier S. 280: „Meines Erach-
tens entsteht das Gefühl nicht erst dort und dadurch, wo bzw. dass es materialisiert bzw.
vermittelt wird; sondern das Gefühl selbst ist es, das materialisiert werden will, damit das
Gegenüber von diesem Gefühl erfährt und es erwidern kann. Das Gefühl fordert die Ver-
mittlung und schafft sich ein Medium, nicht umgekehrt.“
5 Zum Komplex der ‚Medialisierung des Gefühls‘ zählt auch jene Szene im Eneasroman, in der
Lavinia den Namen des geliebten Eneas in eine Wachstafel ritzt (V. 10614-10627).
Amors Pfeil 65
Die Betonung auf Lehrgespräch und Brief, die Heinrich hier als entschei-
dende Kommunikationsmedien der Liebe inszeniert, bestimmt die jüngere
Forschung in besonderem Maße.6 Nimmt man ältere und die gegenwärtige
Forschung in den Blick, könnte man den Eindruck gewinnen, dass die
Liebe entweder primär als mythisches7 oder als mediales Ereignis interes-
siert, dass mögliche Relationen beider Modi, von der Liebe zu erzählen,
indes überwiegend gerade nicht in Betracht gezogen werden. Von daher
wundert es auch nicht, dass die literarästhetischen Urteile unterschiedlich
ausfallen, die sich um die Darlegung des innovativen Moments von Hein-
richs Liebeskonzeptionen im hohen Mittelalter bemühen bzw. bemüht ha-
ben: Galt der älteren Forschung, wie gesagt, die Betonung der mythischen
und damit nicht-rationalen Semantisierung der Gefühlsqualität als ent-
scheidend, so sieht die jüngere Forschung das Neue in Bezug auf Heinrichs
Liebesauffassung deutlicher in der literarischen Inszenierung der Erklä-
rung der Liebe im neuen Medium der Schrift.
Wir vermuten indes, dass besonders die Lavinia-Episode einen komple-
xen Zusammenhang zwischen mythischer und medialer Begründung der
Liebe entwickelt. Von daher versucht dieser Beitrag in einem close reading zu
ergründen, in welchem genaueren Verhältnis Medialisierung und Mythisie-
rung der Affektordnung bei Heinrich zueinander stehen. Dafür scheint es
erforderlich zu sein, alle relevanten Episoden des Eneasromans, die für die
Liebesproblematik zentral sind, heranzuziehen: die Dido-Episode und die
Lavinaepisode, zwischen denen der Text deutliche Bezüge herstellt. Wich-
tig sind für beide Teile die Aussagen zu Entstehung und Wesen der Minne.
Wir konzentrieren uns im Folgenden nun zunächst auf die Episode, die
sich mit der Entstehung der Dido-Minne beschäftigt.
8 Vgl. dazu bes. ANETTE SYNDIKUS: Dido zwischen Herrschaft und Minne. Zur Umakzentu-
ierung der Vorlagen bei Heinrich von Veldeke. In: PBB 114 (1992), S. 57-107.
9 Vergil: Aeneis. Lateinisch und Deutsch. Eingeleitet und übertragen von AUGUST VEZIN. 3.,
verbesserte Aufl., Münster 1960.
10 HANS BLUMENBERG: Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1996 (Erstauflage 1979), S. 148.
Amors Pfeil 67
chen unter anderem Geschichten, indem sie sich verwandeln. Cupido ver-
wandelt sich in Ascanius. Für Ovid stellt die Metamorphose die zentrale
Qualität des Mythos dar, weil erst die Metamorphose die ästhetische Er-
zählbarkeit des Mythos herstellt. Ohne die Geschichten der Götter, ohne
deren Metamorphosen keine Erzählung, kein Mythos. Man kann nur von
Veränderungen erzählen, Identität im Sinne von substanzieller Unverän-
derlichkeit ist schlechterdings nicht erzählbar. Der Schein ist die Bedin-
gung, dass Didos Liebe initiiert werden kann. „Der Doketismus ist die dem
Mythos angemessene Ontologie“.11 Der Mythos kennt die scheinhafte
Existenz der Götter, deren verfremdete Authentizität zuhauf. List, die List
der Götter, Metamorphose und Schein: In Vergils Version der Entstehung
der Didoliebe werden unverkennbar mythische Aktions- und Interaktions-
muster aufgegriffen.
Die Begründung für die Dido-Liebe ist im altfranzösischen Roman
d’Eneas bereits stark verändert. Venus, die Mutter des Eneas, hegt den
Wunsch, das wilde Volk möge ihn gut behandeln. Die Konkurrenz der
Götter ist weitgehend ausgeschaltet. Es greift hier so etwas wie eine mittel-
alterliche ‚Psychologisierung‘. Der RdE12 suggeriert unverkennbar eine
Tristan-Parallelität. Wenn Dido Askanius küsst, trinkt sie „tödliches Gift“
(mortel poison la dame beit, V. 811), „jeder trinkt für sein Teil reichlich davon“
(chascuns en beit bien a son tor, V. 818), heißt es, sie hat eine tödliche Krankheit
in sich aufgenommen. Im Tristan des Thomas von Britannien – im Frag-
ment Douce V. 1223 – liest man den Vers: „wir haben unseren Tod getrun-
ken“ (El beivre fud la nostre mort).13 Dem Trankmotiv ist im RdE eine Vor-
stellung von Quantifizierung beigegeben; je öfter einer trinkt, um so mehr
trinkt er vom tödlichen Gift. Dido legt ein törichtes Verhalten an den Tag,
indem sie bis in den Abend hinein Ascanius liebkost. So ist sie diejenige,
die am intensivsten trinkt. Hier setzt etwas ein, was bei Heinrich von Vel-
deke intensiviert wird: die Exkulpierung des Eneas.
Die mythischen Ingredienzien List, Metamorphose und Schein sind im
RdE fallengelassen, an ihre Stelle tritt – neben einer anderen Motivierung
der Liebeserweckung – das Motiv des Gifttrankes. Venus ist zwar noch
aktiv, die Götter sind nicht verabschiedet, aber das, was das Mythische
ausmacht, das Moment der Verwandlung und des Scheins, scheint nicht
mehr kommunizierbar zu sein. Stattdessen greift hier eine Literarisierung
11 Ebd., S. 153.
12 Wir zitieren den Roman d’Eneas (RdE) im Weiteren nach folgender Ausgabe: Le Roman
d’Eneas. Übersetzt und eingeleitet von MONICA SCHÖLER-BEINHAUER, München 1972 (Klas-
sische Texte des Romanischen Mittelalters 9).
13 Thomas. Les Fragments du Roman de Tristan. Poème du XIIe siècle. Édités avec un com-
mentaire par BARTINA H. WIND, Genf/Paris 21960 (Textes Littéraires Français 92), Frag-
ment Douce 1223.
68 Bruno Quast/Monika Schausten
14 Wir zitieren den Text Heinrichs im Weiteren nach folgender Ausgabe: Heinrich von Veldeke:
Eneasroman. Nach dem Text von LUDWIG ETTMÜLLER übersetzt, mit einem Stellenkommen-
tar und einem Nachwort von DIETER KARTSCHOKE, Stuttgart 1989.
Amors Pfeil 69
nius küsst, Eneas aber nicht. Die Exkulpierung des Eneas, die im RdE
bereits angelegt ist, dadurch nämlich, dass er seinen Sohn weniger intensiv
küsst und somit weniger Gift aufnimmt, wird hier intensiviert. Die tragi-
sche Distanz zwischen Dido und Eneas wird nicht nur durch den Götter-
befehl zur Weiterfahrt des Helden beeinflusst, vielmehr schon durch die
häufigeren Küsse der Dido plausibilisiert. Welche Mechanik der Liebeser-
weckung wird bei Veldeke in Gang gesetzt, wie geht die Erweckung von
statten? Wenn Dido Ascanius küsst, heißt es: diuz dar abe nam (V. 821). HANS
FROMM übersetzt: „Sie pflückte es von seinen Lippen“.15 Das, was übertra-
gen wird, durch Berührung, durch Küssen übertragen wird, das Feuer der
Liebe, hat eine material-stoffliche Qualität. Liebe entsteht über Berührung,
das ist auch schon bei Vergil und im RdE der Fall, Liebe ist aber darüber
hinaus bei Heinrich von Veldeke von stofflicher Qualität. Die Liebe ent-
steht nicht erst in der Protagonistin, in einem imaginierten Inneren, son-
dern wird ihr als material-stoffliche Qualität übermittelt. Bei Heinrich von
Veldeke kommt der Berührung also eine besondere Bedeutung zu. Denn
das Mythische – von der Partizipation der Götter einmal abgesehen – kon-
kretisiert sich geradezu in der Berührungsqualität der Minne. Veldeke be-
tont den Übertragungsweg der Minne. Es ist noch nicht das Auge, durch
das die Minne einfällt. Dieser Weg der Minneentstehung wird in der höfi-
schen Literatur zum Königsweg der Liebesentstehung schlechthin.16 Es ist
die Berührung in Form des Kusses, die das Feuer der Liebe überträgt. Das
bestätigt sich auch, wenn der Erzähler als Bedingung dafür, dass Dido
Eneas verfällt, ins Feld führt, dass er zum einen ein schöner und einneh-
mender Mann sei, zum andern – und dies scheint wichtiger – neben ihr
sitzt: Ênêas bî ir saz (V. 840; „Eneas saß neben ihr“). Das Nebeneinander ist
eine Form mythischer Kausallogik. Weil Eneas neben ihr sitzt, weil sie in
Kontakt sind, verliebt sie sich in ihn und in keinen anderen. Auf den Kon-
takt kommt es an, er begründet die Richtung der Liebe, den Adressaten der
Liebe. Die Macht der Berührung gilt zumindest für die Dido-Minne unein-
geschränkt. Die Laviniaminne wird sich davon entscheidend absetzen.
Für die Dido-Minne bedeutet dies: Sie ist wie schon bei Vergil und im
RdE und stärker noch magische Kraft, die unabhängig von einem ‚perso-
nalen‘ Liebesethos existiert. Zwischen einer Vorstellung von Liebe als ma-
gischer Kraft und einem personalen Liebesethos kann eine fruchtbare
Spannung entstehen, dies ist bereits in Veldekes Eneasroman der Fall, wenn
Dido sich kurz vor ihrem Selbstmord eine Schuld am Liebeswahnsinn zu-
15 Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und
Kommentar. Hrsg. von HANS FROMM, Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek des Mittelalters 4).
16 Vgl. RÜDIGER SCHNELL: Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mit-
telalterlichen Literatur, Bern/München (Bibliotheca Germanica 27), S. 241-274.
70 Bruno Quast/Monika Schausten
spricht. Heinrich von Veldeke hat darüber hinaus in einem Minnelied die
Spannung zwischen Minne als magischer Kraft und Minne als ethischer
Ausrichtung thematisiert. Dort heißt es:
Tristran muose sunder sînen danc
staete sîn der küneginne,
wan in daz poisûn dar zuo twanc
mêre danne diu kraft der minne.
Des sol mir diu guote sagen danc,
wizzen, daz ich sölhen tranc
nie genam und ich sî doch minne
baz danne er, und mac daz sîn.
wol getâne,
valsches âne,
lâ mich wesen dîn
und wis dû mîn. (MF 58,35)17
Tristan mußte gegen seinen Willen
treu sein der Königin,
weil ihn der Liebestrank dazu zwang
mehr als die Macht der Minne.
Dafür soll mir die Gute Dank
wissen, daß ich solchen Trank
nie zu mir nahm und ich sie dennoch liebe
mehr als er, wenn das sein kann.
Wohlgestalte
ohne Falsch,
laß mich dein sein
und sei du mein.18
17 Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von KARL LACHMANN und
MORIZ HAUPT, FRIEDRICH VOGT und CARL VON KRAUS bearbeitet von HUGO MOSER und
HELMUT TERVOOREN. I. Texte. 38., erneut revidierte Aufl., Stuttgart 1988.
18 Übersetzung nach GÜNTHER SCHWEIKLE: Mittelhochdeutsche Minnelyrik I. Frühe Minnelyrik.
Texte und Übertragungen, Einführung und Kommentar, Stuttgart, Weimar 1993, S. 175.
19 Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von FRIEDRICH RANKE neu hrsg. von RÜDI-
GER KROHN, Bd. 2., Stuttgart 31985. Tristan bekennt sich aus freien Stücken zu den Folgen des
Tranks: V. 12494ff.: ’nu walte es got!’ sprach Tristan / ’ez waere tôt oder leben: / ez hât mir sanfte vergeben.
/ ine weiz, wie jener werden sol;/ dirre tôt der tuot mir wol ./ solte diu wunneclîche Îsôt / iemer alsus sî mîn
tôt, / sô wolte ich gerne werben / umbe ein êwêclîchez sterben.’ ; „Das walte Gott“, sagte Tristan. / „Ob
Tod oder Leben: / Es hat mich angenehm vergiftet. / Ich weiß nicht, wie der andere Tod ist;
/ dieser jedenfalls gefällt mir gut. / Wenn die herrliche Isolde / immer so mein Tod sein soll,
/ dann will ich mich mit Vergnügen bemühen / um einen ewigen Tod.“ Vgl. dazu außerdem
CHRISTOPH HUBER: Gottfried von Straßburg Tristan, Berlin 22001, S. 81.
Amors Pfeil 71
Er kann sich nicht verlieben, weil er Ascanius nicht geküsst hat, daher
bleibt für ihn der hier einzig denkbare Weg der Liebesentstehung, der
kontaguöse Weg, verschlossen.
Das Minnegespräch zwischen Lavinia und ihrer Mutter im zweiten Teil des
Eneasromans konfrontiert die mythische Form der Liebesentstehung durch
Götterberührung mit einer Rationalisierung, wenn der Liebesgott Amor
einer Allegorese unterzogen wird. Man kann dies als Depotenzierung der
Götter verstehen, sie sind nur mehr als allegorische Figuren kommunizier-
bar. Die Allegorese sorgt dafür, dass Lavinia, wenn sie sich in Eneas, also
in den für sie nicht vorgesehenen Mann, verliebt, um ihre Verwundung
durch die Liebe wissen kann.
74 Bruno Quast/Monika Schausten
Amor verwundet Lavinia durch einen Blick. Menschliches Tun – der Blick
der Lavinia – und göttliche Aktion – das Abschießen des Pfeils – sind un-
trennbar miteinander verbunden. Wenn es heißt: Er verwundete mich
Amors Pfeil 75
durch einen Blick, ‚ist‘ der Blick der Lavinia auf den schönen Trojaner der
Pfeil des Gottes Amor. Man kann das metaphorische Geschehen auf eine
Formel bringen: Im Minnemonolog der Lavinia fungiert der Blick anders
als im erzählten Geschehen als Amors Pfeil. Mythisches Geschehen wird
in mittelalterliche Liebespsychologie überführt.
Wie sieht diese Szene bei Heinrich von Veldeke aus?
Dô der hêre dare quam
und sîn diu maget lussam
dâ nidene wart gewar
und si ir ougen kêrde dar,
dâ si was ûf deme hûs:
dô schôz si frouwe Vênûs
mit einer scharphen strâle.
daz wart ir al ze quâle
sint uber ein lange stunden (V. 10031-39)
Im Minnemonolog der Lavinia, der sich dieser Szene anschließt, heißt es:
Amôr hât mich geschozzen
mit dem goldînen gêre
des mûz ich quelen sêre
und ez koufen tûre (V. 10110-13).
Später klagt sie: von sînen minnen bin ich wunt / und lîde micheln ungemach (V. 10196f.;
„Die Liebe zu ihm hat mich verwundet, / und ich leide große Qual“).
‚Mythische‘ Rede – Amor hat auf mich geschossen – steht neben bereits
abstrakter allegorischer Rede – die Liebe zu ihm hat mich verwundet; bei
Heinrich von Veldeke sind beide Redeweisen, die mythische und die alle-
gorische, zumindest der Tendenz nach weniger aufeinander bezogen, als
dies im RdE der Fall ist. Während im RdE in der Figurenrede die allego-
risch-metaphorische Redeweise obsiegt, konstruiert Heinrich von Veldeke
76 Bruno Quast/Monika Schausten
Hier wird nicht davon erzählt, dass Amor wie im Fall der Lavinia einen Pfeil
auf Eneas schießt, im Gegenteil, um Minne in Eneas zu entzünden, bedient
sich Lavinia eines Liebesbriefs, den sie mit einem Pfeil verschickt bzw.
verschicken lässt. Eneas deutet diesen Liebespfeil der Lavinia nur mehr als
Amors Pfeil. Im Zusammenhang der Eneasminne sind im RdE die Götter
nicht mehr im Spiel, sie sind nur mehr Figuren der Deutung des Gesche-
hens. Es ist die Schrift in Form des Briefes, die die Liebe entzündet, gleich-
23 Vgl. RdE, V. 8972f.: Mais li brievez ki entor ert,/ m’a molt navré dedenz le cors („Aber das Briefchen,
das darumgebunden war, hat mich heftig innen in meinem Körper verwundet.“)
Amors Pfeil 77
sam nur mehr zitathaft-topisch bedient sich der RdE hier der Geste einer
mythischen Stiftung.
Das sieht nun bei Heinrich von Veldeke anders aus. Er nimmt die Deu-
tung des Eneas im RdE, die Interpretation des Pfeils der Lavinia als Pfeil
Amors, zum Anlass, die Götter erneut ins Spiel zu bringen. Im Eneasroman
Heinrichs von Veldeke gibt es neben dem briefbeschwerten Pfeil der Lavi-
nia einen Pfeil Amors, der in Eneas die Liebe zu Lavinia entzündet. Einen
solchen Pfeil Amors als erzähltes Geschehen sucht man im RdE vergebens.
Im RdE ist Amor im Zusammenhang der Entstehung der Eneasminne
keine Figur des erzählten Geschehens, er ist eine Deutungsfigur, im deut-
schen Eneasroman wird Amor als agierende Größe erneut ins Recht gesetzt
– allerdings in einem Wissen um die in der Allegorese betriebene ‚Entmy-
thologisierung‘ der Götter.
ein ritter die strâle nam
und gab si Ênêase in die hant.
den brief her dar ane vant,
der under die vederen was geleget.
[…]
geswâslîche er abe nam
den brief derm an dem zeine quam.
dô hern gesach unde gelas,
daz dar an gescriben was,
dô wart her frô unde sweich.
der junkfrouwen her geneich,
dâ si in dem venster lach.
si frowete sich dô sin gesach
unde neich im hin wider
von dem venster hin nider.
her neich hin ûf und sie her abe. (V. 10916-10941)
Hier liegt eine Inszenierung von Minneentstehung über Schrift vor. Sie
bedeutet eine entschiedene Rationalisierung des mythischen Minnegesche-
hens. Die Rationalisierung der Minneentstehung durch Schrift ist das Pen-
dant zur allegorischen Entmachtung der Götter. Der RdE verharrt bei
solcher Rationalisierung, Veldeke hingegen kommt erneut auf die Götter,
auf eine mythische Erklärung der Minne zu sprechen.
Nachdem Eneas den Brief gelesen hat, reitet er näher an die Burg heran:
her reit dem venster nâher bî,
dâ diu junkfrouwe inne lach.
ir antluze her besach,
daz alsô minnechlîch was.
dô markte Ênêas
ir ougen unde ir munt:
dô schôz in Amôr sâ ze stunt
mit dem goldînen gêre
eine wunden sêre
und Vênûs diu mûder sîn
geschûf daz im daz magedîn
lieb wart als sîn eigen lîb,
daz im nie weder maget noch wîb
dâ vor nie sô lieb ne wart.
daz geliebete im die vart. (V. 10976-10990)
Die Entstehung der Liebe über die Lektüre des Briefes und den Anblick
Lavinias reichen Veldeke nicht aus, es bedarf einer weiteren Wirkmacht,
eines zweiten, eines göttlichen Pfeils, und darüber hinaus des Zutuns der
Venus, um die Liebe zu entzünden.24
4. Remythisierung/Neuer Mythos
Der altfranzösische Roman d’Eneas bildet den historischen Prozess der My-
thenentwicklung25, die Ablösung des Mythos durch die Allegorese des My-
thos, erzählsyntagmatisch ab. Der mythisch initiierten Didominne stehen das
im Zeichen der Allegorese konstruierte Minnegespräch zwischen Mutter
und Tochter und die metaphorisch-allegorisch gefärbte Genese der Lavi-
nia-Eneas-Minne gegenüber. Die in Frage stehenden historischen Statio-
nen der Entwicklung des Mythos – Mythos und allegoretische Entmächti-
gung des Mythos – bilden paradigmatische Positionen innerhalb des Ro-
mangeschehens. Der deutsche Eneasroman Heinrichs geht im Vergleich zur
französischen Vorlage einen entscheidenden Schritt weiter. Er verlängert
die Abfolge Mythos und Allegorese um eine Perspektive auf die Minne, die
man als Remythisierung oder Neuen Mythos bezeichnen könnte. Beson-
ders deutlich führt dies die Entstehung der Eneasminne gegenüber Lavinia
vor Augen. Zwar löst der Brief den Blick des Eneas auf Lavinia aus, aber
das genügt offenbar nicht, um Minne entstehen zu lassen.
Der Neue Mythos ist typisch für das 13. Jahrhundert, Heinrichs Eneas-
roman belegt diese Denkweise als einer der ersten Zeugen bereits im 12.
Jahrhundert. HANS ROBERT JAUSS meint, dass im Mittelalter als dem Zeit-
alter der babylonischen Gefangenschaft der antiken Mythologie, genauer
um 1200 herum, die Grenze des ornamentalen Gebrauchs der Mythologie
überschritten worden sei und in der allegorischen Aneignung antiker My-
then und Fabeln ein gegenläufiger Prozess der Remythisierung personifi-
zierter Wesenheiten sich abzeichne. „Um die Wende vom 12. zum 13. Jahr-
hundert werden im besonderen die antiken Mythen von Amor und Venus
zum Kristallisationskern, um den sich die höfische Literatur ritualhaft ver-
festigt und ihre neue Mythologie ausbildet“.26 Dies ist vor allem in der
neuen Gattung der Minneallegorie im 13. Jahrhundert der Fall. Wichtig ist
der Umstand, dass Heinrich von Veldeke den Neuen Mythos als postalle-
gorischen Mythos einführt. Der Neue Mythos ist ein dezidiert literarischer
Mythos, die Götter werden als bereits allegorisch entmachtete Figuren er-
neut ins literarische Spiel eingebracht.
Der post-allegorische Mythos des Hochmittelalters bleibt stets auf die Zwischen-
welt allegorischer Personifikationen bezogen, nicht also auf die erzählbare Struk-
tur kulthafter oder textgebundener Geschichten von Göttern und Menschen.
Historisch vorauszusetzen ist hier der […] schon vor der christlichen Ära einset-
zende Prozeß, daß die antiken Götter […] mehr und mehr zu Personifikationen
herabsanken, während die menschlichen Affekte wie alle seelischen Kräfte […]
über die psychologische Beschreibung zu personifizierten Wesenheiten von fast
mythischem Rang hinauswuchsen.27
Man kann den Neuen Mythos darüber hinaus als Versuch verstehen, dem
Nichterklärbaren der Minne literarisch-mythisch beizukommen. Nicht von
ungefähr bedarf es zweier Pfeile, um die Minne des Eneas entstehen zu
lassen. Der Liebesbrief gibt nur die Richtung der Aufmerksamkeit vor, er
lenkt den Blick des Eneas auf Lavinia. Erst Amors Pfeil macht diesen Blick
zu einem Liebesblick.
Didos Minne zu Eneas wird von den Göttern verhängt, sie wird durch
unmittelbare Berührung – Kuss – auf Dido übertragen, kann aber keine
Erwiderung finden. Diese Form magischer Minne setzt einen unmittel-
baren Kontakt voraus, sie kennt das vermittelnde Zeichen noch nicht.
Demgegenüber ermöglicht im Fall der Lavinia das Medium der Schrift
zwar das Antragen der Liebe und die Evokation des Blicks, ohne indes die
Erwiderung entzünden zu können. Lavinia stellt daher im RdE eine be-
zeichnende Überlegung an: sie habe zwar viele Männer angesehen, das
Feuer der Liebe sei in ihr aber nicht jedes Mal entstanden.
Maint altre en ai ge ja veü,
onc mais de nul rien ne me fu.
L’en n’aime pas quant que l’en veit;
trop par sereie en grant destreit,
se ne poeie home esguarder
que mei ne l’esteüst amer:
o merveilles en amereie
o molt poi en esguardereie. (V. 8149-8156)
27 Ebd., S. 286f.
Amors Pfeil 81
Der Blick ist zwar eine notwendige, aber eben nicht hinreichende Bedin-
gung für die Entstehung von Liebe. Deshalb deutet sie den Blick als göttli-
chen Pfeil, ohne Amor diesen Pfeil abschießen zu lassen. Über den Blick
hinaus bedarf es eines Besonderen, Nichterklärbaren, das verantwortlich
zeichnet für das Zustandekommen von Liebe. Dieses Besondere chiffriert
der Eneasroman Heinrichs erneut in Gestalt des in das Geschehen eingrei-
fenden Liebesgottes. In Heinrichs Roman zeigt sich, dass es trotz der Me-
dialisierung des Liebes-Affekts eben doch seiner Mythisierung bedarf. So-
mit prägen besonders in der Version des deutschen Autors nicht-rationale
Semantisierungen deutlich die Diskursivierung der Liebe.
Hatte das antike Epos des Vergil bekanntlich die Liebe den Belangen
des mythischen Motivs einer genealogischen Verwurzelung Roms in Troja
gänzlich nachgeordnet, so stellen die mittelalterlichen Versionen in den
Volkssprachen ihre Erzählungen von Liebe geradezu in den Mittelpunkt
der berichteten Ereignisse. Schaut man auf die Erzählung von Dido und
Eneas bei Vergil, so dient der Bericht von der in Hass umschlagenden
Liebe zwischen Dido und Eneas vor allem einer mythischen Begründung
der Feindschaft zwischen Rom und Karthago, und Lavinia ist lediglich als
Spielball im Kampf der Trojaner gegen den Rutulerfürsten Turnus von
Interesse, dessen Gewinn allein die Zukunft des Römischen Reiches zu
garantieren vermag.28 Diese Zukunft ist freilich über ein Orakel der Götter
schon geklärt, das dem Vater der Lavinia bereits vorausgesagt hatte, die
Tochter müsse an einen auswärtigen Helden verheiratet werden, um den
Bestand des Reiches auf Dauer sichern zu können.29 Die Veränderungen
vor allem der Lavinia-Geschichte in den mittelalterlichen Texten gegenüber
der antiken Vorlage sind offensichtlich einschneidend. Die Herrschaft über
das Römische Reich und nicht allein die Feindschaft zwischen Rom und
Karthago wird in ihnen über eine Liebesgeschichte mythisch begründet.
Der Akzent allerdings liegt nun weniger auf dem genealogischen, sondern
vielmehr auf dem Liebesmotiv. Auch Lavinia, obwohl sie doch von vorn-
herein von den Göttern als Partnerin des Eneas vorgesehen ist, wird – wie
oben bereits erwähnt – Protagonistin einer zunächst aussichtslos erschei-
nenden, und deshalb an ihrem Beginn unglücklichen Liebesgeschichte, ist
sie doch in den mittelalterlichen Erzählungen bereits dem Rutuler-Fürsten
Turnus versprochen, so dass ihre plötzlich aufkeimende Leidenschaft für
Eneas durchaus einen Konflikt heraufbeschwört. Der RdE und Heinrichs
Text lenken die Aufmerksamkeit ihrer Rezipienten damit auf das Wesen
der Liebe, wie es sich am Beispiel der Lavinia-Figur zeigt, und damit auf
28 Vgl. dazu bes. MANFRED FUHRMANN: Geschichte der römischen Literatur, Stuttgart 1999,
S. 208f.
29 Vgl. Vergil (Anm. 9), 7. Gesang.
82 Bruno Quast/Monika Schausten
ihre Codierung und Begründung. Lavinias Brief und der Pfeil, mit dem er
das Objekt ihrer Begierde im wahrsten Sinne des Wortes trifft, aber codie-
ren letztlich gemeinsam die Liebe als Leidenschaft, wie Rougemont es for-
muliert hat.30 Nur in ihrem problematischen Anfang ist die Liebe Lavinas’
und Eneas’ für die mittelalterlichen Autoren von Interesse, eben nur inso-
fern, als sie Leiden, Verwundung sowie die Gefahr von sozialer Isolation
mit sich bringt. Die mittelalterlichen Texte aber gehen noch einen Schritt
weiter: Denn sie betonen vor allem abschließend darüber hinaus den Ge-
danken, dass die Liebe als Gefühl sich letztlich selbst nicht im Medium
ihrer schriftlichen Darlegung rational begründen lässt, den Gedanken also,
dass es eine besondere Qualität der Liebe ist, dass ihre Entstehung und
damit sie selbst sich jeder möglichen Form der Begründung gerade ent-
zieht. Die besondere Qualität der Liebe als Gefühl konkretisiert sich in der
Literatur demzufolge nicht allein im Rekurs auf ihre seit der Antike durch
eine Engführung mit dem medizinischen Diskurs tradierten physischen
Akzidentien. Indem gerade in der Version Heinrichs der Liebesbrief dann
doch der Unterstützung des göttlichen Pfeiles bedarf, demonstriert der
Roman einmal mehr mythisch die Unbegründbarkeit der Liebe als Ge-
fühl.
30 DE ROUGEMONT (Anm. 1), S. 20: „Und doch bedeutet die Leidenschaft der Liebe tatsächlich
ein Leiden.“
ASTRID BUßMANN
1 Ich verwende den Begriff ‚Gefühl‘ zur Bezeichnung eines über Texte vermittelten, in Dich-
tung stilisierten und in Metaphorik reflektierten, kurz gesagt, eines codierten Affektes.
Wendungen wie ‚personales Gefühl‘ implizieren demnach kein individualisiertes Gefühl im
neuzeitlichen Sinne, sondern kennzeichnen ein im Text als individuell, d. h. als Affekt einer
Figur, inszeniertes Gefühl – in Abgrenzung zu überpersonalen Konzepten wie dem fatum,
die sich jenseits der Figuren, gewissermaßen quer zu ihnen, vollziehen.
2 Programmatisch zog dieses Fazit etwa die Ausstellung liebe.komm – Botschaften des Herzens im
Museum für Kommunikation Frankfurt (15. Februar bis 31. August 2003), die durch den
von BENEDIKT BURKARD herausgegebenen Katalog: liebe.komm. Botschaften des Herzens,
Heidelberg 2003 (Kataloge der Museumsstiftung Post und Telekommunikation 17) doku-
mentiert wird. Das Zitat entstammt dem Klappentext. Zur Einheit von Liebe und Kom-
munikation und zur Phasenhaftigkeit der Liebe vgl. auch BURKARDs Katalogbeitrag: Die
Boten des Glücks. Liebe im Zeitalter der Kommunikation, S. 10-27. – Dieser Aufsatz ist eine
überarbeitete Fassung des zweiten Kapitels meiner Magisterarbeit: von holder minne guetiu red.
Schriftliche Liebeskommunikation in mittelhochdeutscher Epik, Münster (masch.) 2004. Für
ihre Unterstützung danke ich Herrn Prof. Dr. Volker Honemann, Münster, sowie Herrn
Prof. Dr. Hartmut Kugler und Frau Prof. Dr. Susanne Köbele, Erlangen-Nürnberg.
84 Astrid Bußmann
3 WALTER HAUG: Das Geständnis. Liebe und Risiko in Rede und Schrift. In: Gespräche –
Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von HORST
WENZEL, Berlin 1997 (PhSt 143), S. 23-41, hier S. 23 (Zitat). HAUG untersucht die drei
Geständnisszenen im König Rother (2. H. 12. Jh.), in Gottfrieds Tristan (um 1210) und im
Prosalancelot (zwischen 1230 und 1250). Ohne dabei eine literarhistorische Linearität be-
haupten zu wollen, klassifiziert er seine drei Beispielfälle als Vertreter der „fraglosen Kom-
munikation“, der „vollentfalteten Problematik der Kommunikation in der personalen Be-
gegnung“ und der „Radikalisierung der Problematik im Versagen der Sprache und den
scheiternden Versuchen, sie durch andere Formen der Kommunikation zu ersetzen“ (S. 32)
– kurz als „Botschaften, Geständnisse[ ] und Sprachlosigkeiten“ (S. 40). Auf den Eneasroman
verweist er beiläufig als Variation dieser heuristischen Muster (S. 33, Anm. 11).
4 Einschlägig ist besonders die Klage von Wolframs Parzival-Erzähler gegenüber der personi-
fizierten Minne: het er uns dô bescheiden baz / wie man iuch süle behalten! / er hât her dan gespalten /
wie man iuch sol erwerben. (Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeut-
scher Text nach der 6. Ausgabe von KARL LACHMANN. Übersetzung von PETER KNECHT.
Einführung zum Text von BERND SCHIROK, Berlin, New York 1998, 292,20-23; „Wenn er
uns nur deutlicher auseinandergelegt hätte, wie man Euch behalten kann! Er hat davon bloß
die Frage abgespalten, wie man Euch erwirbt.“).
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ 85
sie nun wollte oder nicht“),5 in Eneas. Ihrer Liebe bleibt die Gegenliebe
aber vorläufig verwehrt, da der Trojaner weder von ihren maßlosen Gefüh-
len weiß, noch jemals eigene Gefühle zu erkennen gegeben hat (285,2-5).
Ein Minnebekenntnis ist für Lavinia insofern zwar besonders riskant, wird
von ihr aber in einer Minnelogik, die Liebe durch Liebe – oder genauer:
durch das Wissen um Liebe – generiert, gleichwohl zum einzigen Weg er-
klärt, Gegenliebe zu erlangen:6
‚wister daz ich ime bin
sô unmâzlîchen holt
âne menneschlîche scholt,
der ich nie kunde gewan,
hern wâre nie sô ubel man,
hern mûste mich minnen.‘ (276,12-17)
5 Ich zitiere den Eneasroman nach: Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neu-
hochdeutsch. Nach dem Text von LUDWIG ETTMÜLLER ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit
einem Stellenkommentar und einem Nachwort von DIETER KARTSCHOKE, 2., durchgesehene
und bibliographisch ergänzte Ausgabe Stuttgart 1997 (RUB 8303). Jeweils verglichen sind die
Ausgaben von FRINGS/SCHIEB (Henric van Veldeken: Eneide. Hrsg. von THEODOR FRINGS/
GABRIELE SCHIEB, Bd. 1: Einleitung – Text, Berlin 1964 [DTM 58]) und FROMM (Heinrich von
Veldeke: Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und Kommentar.
Hrsg. von HANS FROMM. Mit den Miniaturen der Handschrift und einem Aufsatz von DO-
ROTHEA und PETER DIEMER. Frankfurt a. M. 1992 [Bibliothek des Mittelalters 4 = Bibliothek
deutscher Klassiker 77]). Den Roman d’Eneas zitiere ich nach: Le Roman d’Eneas. Übersetzt und
eingeleitet von MONICA SCHÖLER-BEINHAUER, München 1972 (Klassische Texte des roma-
nischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 9), der im Wesentlichen dem kritischen Text
von SALVERDA DE GRAVE (Eneas. Texte critique. Hrsg. von JACQUES SALVERDA DE GRAVE,
Halle 1891 [Bibliotheca Normannica 4]) folgt. Meine Übersetzungen basieren auf den Über-
setzungen der genannten Editionen, wobei ich mir in Zweifelsfällen Änderungen vorbehalte.
6 Vgl. auch die Wiederholung dieses Gedankens: ‚ich mûz, wâne ich, scrîben / gefûchlîche an einen
brief / daz grôze leit âne lief, / des ich mich mûz genieten, / und wil im enbieten, / wie wê mir sîn minne
tût. / hât her dan manlîchen mût, / her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn. / dar umbe
enbiete ich ime daz.‘ (285,24-33; „‚Ich muß, glaube ich, in aller Schicklichkeit in einem Brief das
große, untröstliche Leid niederschreiben, das ich zu ertragen habe, und will ihm mitteilen,
wie weh mir die Liebe zu ihm tut. Besitzt er ein männliches Herz, wird er mir umso gewo-
gener sein, wenn er weiß, was ich will. Deshalb teile ich ihm das mit.‘“), in der die Kausalität
von Wissen und Liebe durch das dar umbe besonders eklatant ist.
7 Wegen des breiten Bedeutungsspektrums von scholt, das auch ‚Verpflichtung‘ heißen könnte,
aber auch, weil sich scholt potentiell auf Eneas statt auf Lavinia beziehen könnte, ist die
Übersetzung von V. 276,14f. letztlich eine Frage der Interpretation. Meine Hauptthese ist
durch diese Mehrdeutigkeit jedoch nicht berührt.
86 Astrid Bußmann
8 HANS-JÜRGEN BACHORSKI: Posen der Liebe. Zur Entstehung von Individualität aus dem
Gefühl im Roman Paris und Vienna. In: Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Weltbildwandel.
Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Literatur des
Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von WERNER RÖCKE/URSULA SCHAEFER, Tübin-
gen 1996 (ScriptOralia 71), S. 109-146, hier S. 117.
9 INGRID KASTEN: Herrschaft und Liebe. Zur Rolle und Darstellung des ‚Helden‘ im Roman
d’Eneas und in Veldekes Eneasroman. In: Monatshefte 78 (1988), S. 225-245, hier S. 228,
Anm. 3.
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ 87
10 MARION OSWALD: Gabe und Gewalt. Studien zur Logik und Poetik der Gabe in der früh-
höfischen Erzählliteratur, Göttingen 2004 (Historische Semantik 7), S. 228f. Für den Kon-
nex zwischen Gabe- und Minneverhalten – zwischen Gabe und Hingabe – vgl. auch S. 174.
Interessant ist der Gabendiskurs, weil er Lavinias Liebesbrief in einer Doppelfunktion per-
spektiviert: Der Brief ist einerseits selber Gabe, die die nicht gegebenen Minnegaben hârbant,
rîse, mouve, vingerlîn und borden ersetzt (322,8-324,13; „Haarband, Schleier, Ärmel, Ring und
Gürtel“), andererseits Träger einer versprochenen, ‚aufgeschobenen‘ Gabe, des im Brief
gegebenen Liebesversprechens (S. 232f.).
11 BERND A. RUSINEK: Veldekes Eneide. Die Einschreibung der Herrschaft in das Liebesbe-
gehren als Unterscheidungsmerkmal der beiden Minne-Handlungen. In: Monatshefte 78
(1986), S. 11-25, hier S. 22.
12 DIETMAR WENZELBURGER: Motivation und Menschenbild der Eneide Heinrichs von Veldeke
als Ausdruck der geschichtlichen Kräfte ihrer Zeit, Göppingen 1974 (GAG 135), S. 89.
13 Die – sicher auch moralisch entlastende – Funktion der fata formuliert für Dido HERFRIED
VÖGEL: Das Gedächtnis des Lesers und das Kalkül des Erzählers. Zum Eneasroman Hein-
richs von Veldeke. In: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisens-
burg, 4.-7. Januar 1996. Hrsg. von DIETMAR PEIL/MICHAEL SCHILLING/PETER STROH-
SCHNEIDER, Tübingen 1998, S. 57-85, hier S. 63: „Dido scheitert nicht aufgrund einer defizi-
tären Minne, sondern weil sie gemäß dem geschichtlichen Telos der Handlung scheitern
muß.“ Impliziter, aber mit gleicher Ausrichtung, argumentiert URSULA LIEBERTZ-GRÜN: Ge-
schlecht und Herrschaft. Multiperspektivität im Roman d’Eneas und in Veldekes Eneasroman.
In: Variationen der Liebe. Historische Psychologie der Geschlechterbeziehung. Hrsg. von
THOMAS KORNBICHLER/WOLFGANG MAAZ, Tübingen 1995 (Forum Psychohistorie 4),
S. 51-93, hier S. 64, für Turnus.
88 Astrid Bußmann
15 In der Intensivierung der Schriftthematik folgt der Eneasroman einer allgemeinen Tendenz
der mittelalterlichen deutschen Literatur, denn deutsche Epen verstärken generell die Schrift-
motivik ihrer französischen Prätexte. Vgl. dazu ULRICH ERNST: Formen der Schriftlichkeit
im höfischen Roman des hohen und späten Mittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 31
(1997), S. 252-369, hier S. 365f.
16 Dies sei gegen MICHEL HUBY: L’adaptation des romans courtois en Allemagne au XIIe et
au XIIIe siècle, Paris 1968 (Publications de la Faculté des Lettres et Sciences Humaines de
Paris-Nanterre), S. 124-138, angemerkt, für den sich Umarbeitungsstrategien des deutschen
Retextes vornehmlich auf ein breiteres Ausführen dessen beschränken, was im franzö-
sischen Prätext bereits im Kern angelegt ist. Ein Innovationspotential spricht HUBY dem
deutschen Retext damit ab. Im Sinne dieser Argumentation favorisiert er als Vorlage des
Eneasromans nicht die Roman-Handschrift A (auf der die Edition von SALVERDA DE GRAVE
[Anm. 5] beruht), sondern die Roman-Handschrift G, die gegenüber A insbesondere Kür-
zungen im Schluss aufweist und damit Veldekes innovative Schlusskonzeption auf eine „ex-
plication matérielle“ reduziert (S. 135-139).
17 Dass diese Konzeption einer Liebe aus der Schrift keineswegs dem neuzeitlichen Liebesdis-
kurs vorbehalten ist, sondern auch den mittelalterlichen Liebesdiskurs entscheidend prägt,
war Gegenstand der von MIREILLE SCHNYDER und CHRISTIAN KIENING vom 13. bis 15.
Oktober 2005 in Konstanz veranstalteten Tagung Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters,
die in dem hier vorliegenden Tagungsband dokumentiert wird. Mit dem Eneasroman beschäf-
tigt sich neben meinem Beitrag auch der Beitrag von BRUNO QUAST und MONIKA SCHAUSTEN:
Amors Pfeil. Liebe zwischen Medialisierung und Mythisierung in Heinrichs von Veldeke
Eneasroman, S. 63-82. Diese Interpretation ist meiner Interpretation allerdings insofern
entgegengesetzt, als QUAST/SCHAUSTEN gerade für die Eneas-Lavinia-Minne im Spannungs-
feld zwischen einer mythischen, nicht-rationalen (Liebesentstehung durch den Pfeil Amors)
und einer medialen, rationalen (Liebesentstehung durch den Pfeil mit dem Liebesbrief) Se-
mantisierung des Liebesaffektes für die Remythisierung und damit letztlich für die Nichter-
klärbarkeit der Liebe votieren. – Ich danke Frau Prof. Dr. Monika Schausten, Siegen, für die
Gelegenheit, bereits vor der Drucklegung Einsicht in den Aufsatz nehmen zu dürfen.
90 Astrid Bußmann
ferenziert, soll sie als Paradigma für die Minne von Eneas und Dido und
die Minne von Turnus und Lavinia durch eine detaillierte Interpretation
etabliert werden. Wesentlich für eine solche Interpretation erscheint mir
dabei, dass die Minne von Eneas und Lavinia in der Zeit der Waffenruhe
während der trojanischen Belagerung von Latium entsteht. Denn wenn-
gleich der temporäre Friede einen Moment gegenseitiger Annäherung –
und damit einen Moment des Sich-Verliebens – allererst ermöglicht, blei-
ben in der Kommunikation des Liebesgefühls Distanz und Distanzüber-
windung die bestimmenden Faktoren, da sich Eneas trotz des Waffenstill-
standes außerhalb, Lavinia hingegen innerhalb Latiums befindet und beide
feindlichen Lagern angehören. Diese Distanz wird in der gesamten Minne-
kommunikation nicht aufgehoben, sondern vielmehr in allen Kommunika-
tionssituationen des Paares durch die Markierung der Grenzlinie im Ge-
dächtnis des Lesers gehalten. Zu erwähnen wären in dieser Funktion neben
den mûren (266,39) als explizites Zeichen der graben (267,7), als implizites
Zeichen hingegen das venster (267,9), an dem die Prinzessin steht und dessen
Rahmen metaphorisch als Rahmung, als Umgrenzung verstanden werden
kann.18 Es ist daher nur folgerichtig, dass die Grenze nicht allein zeichen-
haft in der Liebeshandlung präsent ist, sondern vom Erzähler auch offen
konstatiert wird: ne mohte er ir niht nâher komen (306,19; „konnte er ihr auch
nicht näher kommen“), wie es etwa über Eneas heißt.
In dieser Situation der Distanz profiliert sich der Lavinia-Brief als das
adäquate Medium, die durch graben und venster mehrfach markierte Gren-
ze zu überwinden. Insofern lässt sich der Brief nicht allein auf seine litera-
turhistorische Bedeutung als erste Minnebriefeinlage der mittelhochdeut-
schen Literatur reduzieren,19 der Brief erfüllt vielmehr eine dezidiert nar-
rative Funktion.20 Signifikant für die Verbindung von Liebe und Schrift ist
dabei, dass Veldeke neben der Schrift den Blick als zweites Medium der
18 Als Zeichen ist das venster ambivalent, da es einerseits als Grenze, also als Zeichen des
Schließens, andererseits als partielle Durchbrechung dieser Grenze, also als Zeichen des
Öffnens, verstanden werden kann. Zur Weiterführung der Grenzmarkierung durch venster
und graben in den Eneas-Lavinia-Szenen und zur Verknüpfung beider Markierungen
vgl. 287,13-27 (venster); 290,5-13 (venster und graben); 291,6-9 (venster); 301,2-7 (venster);
305,22-306,12 (venster und graben); 327,20ff. (venster).
19 HELMUT BRACKERT: Da stuont daz minne wol gezam. Minnebriefe im späthöfischen Roman. In:
ZfdPh 93 (1974), Sonderheft: Spätmittelalterliche Epik. Hrsg. von HUGO MOSER/BENNO
VON WIESE, S. 1-18, hier S. 2, Anm. 4; und PETER DREHER: Enclosed Letters in Middle High
German Narratives, Diss. (masch.) University of California, Riverside, 1979, S. 78f.
20 Diese auch von BRACKERT (Anm. 19), S. 2, Anm. 4, und S. 4f., Anm. 10, betonte Funktio-
nalität von Lavinias Liebesbrief hat eine differenzierte Interpretation jedoch eher behindert.
Denn weil der Lavinia-Brief in seiner stilistischen Schlichtheit und handlungsauslösenden
Funktion dem Briefideal der älteren Mediävistik entspricht, wird er selbst in Überblicks-
darstellungen mittelalterlicher Einlagebriefe meist nur beiläufig erwähnt, während das
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ 91
daz ichs in innen bringe / mit gefûchlîchem dinge‘ (285,8ff.; „‚Wie soll ich es nun
anfangen, dass ich es ihm auf schickliche Weise zeige?‘“), was insofern
entscheidend ist, als die Prinzessin die Gegenliebe des Eneas von ihrer
eigenen gevuocheit abhängig macht (277,1-19).22 Als gefûchlîches Medium der
Minnekommunikation profiliert sich der Liebesbrief nun insbesondere
durch die Heimlichkeit des Briefvorgangs – also die Unverfügbarkeit ge-
genüber den huote-Instanzen –, durch die Dialektik von Verhüllung und
Offenbarung in Briefstil und Briefsituation – also die Unverfügbarkeit ge-
genüber dem Minnepartner – und durch die Wahrhaftigkeit des verbrieften
Gefühls. Gerade Heimlichkeit als erstes Charakteristikum der Briefkom-
munikation muss dabei im intertextuellen Zusammenhang als konstitutiver
Bestandteil von Liebesgesprächen verstanden werden, weil sich als kom-
munikative Grundbedingung der Minne immer schon die Verschwiegen-
heit des Liebespaares gegenüber der Hofgesellschaft erweist. Die notwen-
dige Intimität des Minnebekenntnisses wird im narrativen Kontext daher
durch die Negation aller Merkmale betont, die der Eneasroman für öffent-
liche Briefe etabliert:
dô hiez er scrîben brieve.
vil wîten her die sande
mit boten after lande
dâ sîne frunt wâren. (129,34-37)
Indem sie einem Schreiber diktiert, von Boten überbracht und öffentlich
verlesen werden, erfüllen diese Schreiben des Turnus alle Bedingungen des
Briefes als Herrschaftsinstrument. Den Liebesbrief der Prinzessin kenn-
22 In der Diskussion um die Wahl des Briefes als Medium des Liebesgeständnisses ist der Roman
d’Eneas ausführlicher als der Eneasroman. Lavinias Entscheidungsfindung folgt hier einem
zweiphasigen Modell, von dem Veldeke nur die erste Phase übernimmt (276,36-277,15). In
dieser ersten Phase erwägt die französische Lavinia ein durch einen Boten mündlich kom-
muniziertes Minnebekenntnis, verwirft diese Möglichkeit aber wegen der Mitwisserschaft des
Boten und wegen der Gefahr, für leichtfertig oder sogar unbeständig in der Liebe gehalten zu
werden, wenn sie ihre Minne als Erste gesteht (V. 8360-8380). In der zweiten Phase erwägt sie,
ihr eigener Bote zu sein, also selbst mündlich mit Eneas zu kommunizieren: ,Quel mesage porras
aveir? . . . / Ge ne quier nul altre que mei . . .‘ (V. 8714f.; „‚Welchen Boten wirst Du bekommen
können? . . . Ich verlange keinen anderen als mich . . .‘“). Auch diese Möglichkeit verwirft sie
wegen des Anscheins der Leichtfertigkeit. Erst dann wählt sie den Brief, ermöglicht dieser es
ihr doch, kommunikative Nähe ohne die gefährliche körperliche Nähe einzugehen (für die
vollständige Szene vgl. V. 8701-8730).
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ 93
In Verbindung mit der Überwindung der angest und der Sorgfalt des Kor-
rekturlesens (286,37) erscheint daher bereits die Eigenhändigkeit des
Schreibens als Metapher für die Tiefe des verbrieften Gefühls – ein inte-
ressanter Nebenaspekt des Heimlichkeitsdiskurses. Denn trotz der zweifa-
chen Codierung ist unstrittig, dass der Schreibvorgang primär die Heim-
lichkeit der Liebeskommunikation fokussiert, erst sekundär und in der
Fokussierung der kommunikativen Heimlichkeit auch das kommunikative
Risiko. Schließlich reduziert sich der Heimlichkeitsdiskurs nicht auf den
‚inneren‘ Schreibvorgang, er wiederholt sich auch im ‚äußeren‘ Schreibvor-
gang, beispielsweise im Verschließen der Tür, und im Übermittlungsvor-
gang. So versteckt Lavinia ihren Brief unter dem gevidere eines Pfeiles, wobei
sie die beschriebene Seite des Blattes am Pfeilschaft nach innen wendet
(287,2-12). In dieser Geste potenziert sich das Bild der Inklusion, ist der
Liebesbrief doch nicht nur Text im Text, sondern wird als Text erneut im
Text verborgen25 – eine subtile Analogie zum Rückzug der Prinzessin in
ihre kemenâten während des Schreibvorgangs. Es erscheint deshalb nur fol-
gerichtig, dass auch die Inszenierung des Lesevorgangs auf Heimlichkeit
basiert, dass Eneas, indem er den Minnebrief heimlich liest und in Schwei-
gen verschließt (290,1-5), analog zur verschlossenen kemenâten Lavinias ei-
nen Raum der Innerlichkeit, der Heimlichkeit, konstituiert.26
Da sich die Briefkommunikation insofern selbst über mûren und graben
hinweg auf Eneas und Lavinia beschränkt, profiliert sie sich als exklusi-
ve Form der Paarkommunikation. Dennoch kann die Tatsache, dass die
Prinzessin Störungen der huote-Instanzen erfolgreich suspendiert, nicht
verbergen, dass ihre Strategie der Heimlichkeit selber Störungen produ-
ziert, wie etwa im Übermittlungsvorgang evident wird. Wesentlich für den
Übermittlungsvorgang ist nämlich seine Dialektik von Distanz und Dis-
tanzüberwindung: Lavinia, die durch die Übermittlung des Briefes mit
einem Pfeil27 realiter die Distanz zu ihrem Geliebten aufheben will, gibt
nach außen vor, diese Distanz noch vergrößern zu wollen, den Feind ihres
Vaters durch den Pfeilschuss hinnen trîben (288,26) zu wollen. Diese Dialek-
tik der Kontaktaufnahme bewirkt aber eine Störung der Kommunikation,
weil Eneas zunächst allein die Zeichen der Distanzierung liest, den Pfeil
allein als Angriff versteht: den zein her enzwei brach (289,31; „er zerbrach den
Pfeil[-schaft]“).28 Das Scheitern der Minne aufgrund gestörter Paarkom-
munikation, wie es in den anderen Minnehandlungen des Eneasromans
explizit wird, prägt implizit so auch die Lavinia-Minne.
25 Vgl. dazu eine entsprechende Interpretation der Liebesbriefe in Johanns von Würzburg
Wilhelm von Österreich bei BURKHARD HASEBRINK: ein einic ein. Zur Darstellbarkeit der Liebes-
einheit in mittelhochdeutscher Literatur. In: PBB 124 (2002), S. 442-465, hier S. 458.
26 SCHNYDER (Anm. 20), S. 245.
27 Nicht erst der Übermittlungsvorgang, bereits der Pfeil ist dialektisch codiert, da er Liebes-
metaphorik und Kriegsgeschehen gleichermaßen verhaftet ist: So sind Pfeile einerseits At-
tribute der Venus (38,38f.; 267,24 f.), lösen andererseits durch den Tod des Hirschen aber den
Krieg aus (133,6-24) und verwunden Turnus und Eneas (207,37-208,23; 313,19-36). Gerade
die mit dem Pfeil verbundene Liebesmetaphorik erhält dabei im Übermittlungsvorgang eine
interessante Aktualisierung, denn indem das Venus-Attribut ‚Pfeil‘ zum Attribut Lavinias
wird, tritt die Prinzessin – durch ihren Brief – für Eneas in die Rolle der Liebesgöttin.
28 Zweifelhaft erscheint daher SIEBERs (Anm. 20) Schlussfolgerung, Lavinia steigere durch den
Verzicht auf einen Boten „bewußt die Wahrscheinlichkeit einer gesicherten Informations-
übertragung gerade entgegen den üblichen Konventionen des Mediengebrauchs“ (S. 57).
Denn wenngleich Lavinia durch den Pfeilschuss tatsächlich einen potentiellen Störfaktor in
der Nachrichtenübermittlung an einen feindlichen Heerführer ausschaltet – die Ermordung
des Boten –, schafft der Pfeil in seiner scheinbaren Aggressivität neue Störfaktoren.
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ 95
35 Zur Kodifizierung der unpersönlichen Rede in den lateinischen Briefrhetoriken vgl. DREHER
(Anm. 19), S. viii; und SCHUBERT (Anm. 20), S. 42f. und Anm. 38. WUTH (Anm. 20), der den
Eneasroman als Reflex eines medialen Umbruchs liest (S. 76) und folglich Veldekes
Briefkonzeption als rückwärtsgewandte Reaktion auf diesen medialen Umbruch, als Imita-
tion alter Medienformen – des Boten – im neuen Medium – dem Brief – deutet (S. 70),
sieht hingegen in der Verwendung der dritten Person eine Annäherung des Briefes an den
Botenbericht (S. 69).
36 SCHNYDER (Anm. 20), S. 245. Lavinias – übrigens aus dem Roman d’Eneas (V. 8778) übernom-
mene –Verwendung des Lateinischen wird von MEYER als unspezifisch gewertet, weil La-
vinia Latinerin sei und Latein demnach für sie die Volkssprache repräsentiere. Allerdings
werden MEYERs Folgerungen durch den Versuch beeinträchtigt, den Lavinia-Brief als Be-
weis für und Reflex auf realexistierende deutschsprachige Liebesbriefe wahrscheinlich zu
machen. Vgl. dazu ERNST MEYER: Die gereimten Liebesbriefe des deutschen Mittelalters.
Mit einem Anhang: ungedruckte Liebesbriefe aus der Dresdener Handschrift M. 68, Diss.
Marburg 1898, S. 44f. – Bislang hat anscheinend noch kein Rezipient des Eneasromans die
darin liegende Ironie bemerkt, dass der als erste mittelhochdeutsche Minnebriefeinlage
gerühmte Liebesbrief im narrativen Kontext keineswegs ein deutscher, sondern ein latei-
nischer Brief ist.
98 Astrid Bußmann
ziiert.37 Weil somit nicht allein die Notwendigkeit des Briefes Distanz
abbildet, sondern Briefstil und Schriftsprache selber zu Trägern formvoll-
endeter Zurückhaltung werden, bedingt letztlich die Schriftlichkeit des Lie-
besgeständnisses die höfische Konzeption von Eneas’ und Lavinias
Minne.
Im Sinne dieser gevuocheit kann es nur als folgerichtig erscheinen, dass
der Lavinia-Brief insgesamt die Vorteile schriftlicher Kommunikation – die
Sublimierung körperlichen Begehrens – mit Aspekten der Mündlichkeit
verbindet, indem die Prinzessin in der Briefsituation versucht, die durch die
Schriftlichkeit verlorene Unmittelbarkeit des kommunikativen Aktes zu-
rückzugewinnen. Insofern wird im Eneasroman die substantielle Ge-
sprächsersatzfunktion von Briefen zur Inszenierung eines tatsächlichen
Gespräches – d. h. von der Gesprächs- zur Stimmersatzfunktion – ver-
schoben. Denn weil sich Eneas und Lavinia während der Briefübergabe
sehen (290,1-13), nutzt die Prinzessin die Möglichkeit, durch Schrift die
Grenzen der eigenen Körperlichkeit zu überwinden, allein auf der akusti-
schen Ebene. Der sich an das Lesen des Briefes anschließende Austausch
von Verbeugungen versteht sich so nicht nur als vollwertiger Ausdruck von
Minne,38 sondern als Versuch, die Stimme des Briefes durch Gestik und
Mimik zu einer face-to-face-Kommunikation zu komplettieren. In der In-
direktheit der Körper ermöglicht die Briefform damit die – scheinbare –
Direktheit des Liebesgesprächs.
In der Gegenseitigkeit der Verbeugungen – her neich hin ûf und sie her abe
(290,11) – finden Eneas und Lavinia aber nicht allein einen gemeinsamen
Minnecode, der sie symbolisch als Paar konstituiert. Die literarische In-
szenierung von Körpersprache verweist vielmehr auf die dritte Kompo-
37 Zu diesen dialektischen Konnotationen von Latein und Volkssprache und zu ihrer Funk-
tionalisierung vgl. die Interpretation der Tegernseer Liebesbriefe (um 1170/1180) von EVA LIA
WYSS: Dû bist mîn, ich bin dîn. Deutschsprachige Liebesbriefe vom Mittelalter bis in die Ge-
genwart. In: BURKARD: liebe.komm (Anm. 2), S. 64-81, hier S. 64f. Durch die Beigabe eines
volkssprachigen Liebeszettelchens mit dem berühmten dû bist mîn, ich bin dîn zu einem latei-
nischen Liebesbrief werden in einem der elf Tegernseer Liebesbriefe nämlich lateinische und
volkssprachige Passagen gezielt miteinander kombiniert – laut WYSS „eine stilistische
Meisterleistung“.
38 MARTIN J. SCHUBERT, Zur Theorie des Gebarens im Mittelalter. Analyse von nichtsprach-
licher Äußerung in mittelhochdeutscher Epik. Rolandslied, Eneasroman, Tristan, Köln, Wien
1991 (Kölner germanistische Studien 31), S. 145. Die gevuocheit der Szene offenbart sich auch
darin, dass Veldeke Lavinias Gestik auf Verbeugungen reduziert, während sie Eneas im Ro-
man d’Eneas Handküsse zuwirft (V. 8876-8886). Der konzeptionelle Vorteil dieser Min-
neszene besteht darin, dass sie eine Problematisierung von Fernkommunikation (und Fern-
minne) ermöglicht, da Eneas die Küsse zwar sehen, aber nicht fühlen kann (V. 8880ff.). Dem
steht der konzeptionelle Nachteil gegenüber, dass die Handküsse die Differenz von taktil
konnotierter Dido-Minne und visuell konnotierter Lavinia-Minne aufheben. Erst Veldeke
vereindeutigt diese Trennung.
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ 99
Denn gerade indem die Schrift die Grenzen der Körperlichkeit über-
schreitet – wie es für das Minnebekenntnis über mûren und graben hinweg
schließlich notwendig ist –, löst sie das gesprochene Wort aus seinem
Ursprungskontext, seiner sichernden Rahmung von Gestik und Mimik,
und schafft so das Problem der Ausdeutung. Wie ein Roman benötigt ein
Liebesbrief deshalb Interpretation. Es ist somit nur einsichtig, wenn die
Prinzessin ihr Minnebekenntnis re-kontextualisiert, wenn sie es durch die
Etablierung des in der face-to-face-Situation noch vorhandenen Interpreta-
tionsrahmens auf eine Aussage hin vereindeutigen will – die Wahrhaftig-
keit ihrer Liebe.
Die Fragilität der Briefkommunikation wird vom Text aber nur aufge-
rufen, um demonstrativ negiert zu werden. So verweist Eneas’ Befürch-
tung, Lavinia könne sowohl ihm als auch Turnus einen Minnebrief ge-
schrieben haben, zwar auf die Möglichkeit, sich in der Schrift selbst zu
stilisieren:
Doch weil sich die Wahrhaftigkeit des Liebesgeständnisses auf ein dem
Brief inhärentes Merkmal gründet – den von der personifizierten Minne
inspirierten Stil –, wird die Brüchigkeit des schriftlichen Zeichensystems
zurückgewiesen:
100 Astrid Bußmann
39 So bewirken die Lügen des Ulixes den Untergang Trojas (42,7-45,40), erringt Dido durch
eine List die Herrschaft über Karthago (25,5-26,8) und verleumdet Lavinias Mutter Eneas
vor ihrer Tochter (282,30-283,25).
40 In dem um Aeneas, Turnus und Lavinia zentrierten zweiten Teil der Aeneis wird nur die Liebe
von Turnus zu Lavinia in der narratio explizit, während potentielle Liebesgefühle des Aeneas
für den Vollzug der fata irrelevant sind und daher nicht narrativ gestaltet werden. In detail-
lierten Minnemonologen stellen Roman d’Eneas und Eneasroman hingegen nur Lavinia und
Eneas – und Dido in der Dido-Episode – als Liebende dar, während Turnus weder Min-
nemonologe noch Minnegefühle zugestanden werden.
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ 101
Die Tatsache jedoch, dass die Prinzessin Eneas liebt und Turnus hasst
(274,20-25), setzt das fatum in Gefühl um. Wie bereits angemerkt, verdeutlicht
Veldeke dieses Gefühl auf der Figurenebene seines Romans aber im Kom-
munikationsverhalten seiner Protagonisten. Bedeutsam wird hierfür vor allem
der Brief, der geschriebene wie der nicht-geschriebene Brief Lavinias.
Ausgangspunkt meiner Überlegungen zur Minnekommunikation der
Turnus-Figur ist dabei, dass Eneas im Roman d’Eneas die Wahrhaftigkeit der
ihm von Lavinia entgegengebrachten Gefühle bezweifelt. Weitaus wahr-
scheinlicher sei ihre Liebe zu Turnus, denn ihm sei sie nah, ihn könne sie
sehen (V. 9025), ihn könne sie sogar sprechen: ,parler pueent ensenble andui‘
(V. 9002). Damit wird als Voraussetzung von Minne die Nähe, die Nah-
kommunikation, etabliert, was letztlich modernen kommunikationstheo-
retischen Liebeskonzeptionen entspricht, nach denen sich Liebe in der
Synchronisation diachroner Lebensentwürfe mittels einer Vielzahl kom-
munikativer Akte vollzieht.41 In dieser Engführung von Liebe und Kom-
munikation erscheint es umso auffälliger, dass ein dialogischer Austausch
Beachtenswert ist dieser Brief – in dem die Königin dem Rutuler den dro-
henden Verlust von wîb, borge und lant (126,28f.) mitteilt – bereits wegen
seiner kunstvollen Einfügung in den narrativen Kontext. Denn indem der
indirekt wiedergegebene Briefinhalt durch emotionale Reaktionen des Tur-
nus kommentiert und durch eben diesen Kommentar in die narratio einge-
bunden wird, liest der Rezipient des Eneasromans den Brief durch die Augen
der Figur und folgt so deren Informationsselektion (126,11 und 16f.).43
42 Im Roman d’Eneas greift die Königin nicht auf eine durch ihren kamerâre (126,6) schriftlich
übermittelte Botschaft, sondern auf eine durch einen willkürlich ausgewählten escuir (V. 3387;
„Schildknappen“) mündlich vermittelte Botschaft zurück (für die vollständige Szene vgl.
V. 3385-3509). Das hat zur Folge, dass sich vom französischen zum deutschen Roman der
Fokus der Darstellung vom rhetorischen Geschick des Boten zum rhetorischen Geschick
der Königin verlagert.
43 Der vollständige Brief erscheint 126,1-127,6. WAND-WITTKOWSKIs (Anm. 33) Kritik, der
Brief sei so abstrakt mitgeteilt, dass ihn nur die Kenntnis des Zusammenhangs verständlich
mache, basiert darauf, dass sie fälschlicherweise als Brieftext lediglich 126,1-5 wertet (S. 64,
Anm. 129, und S. 337).
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ 103
Der durch die Lektüre erregte grôze[ ] zoren (127,7) des Rutulers wird da-
durch nachvollziehbar. In ihrer Wirkung sind die beiden Frauen-Briefe des
Romans somit dialektisch aufeinander bezogen, da sie entgegengesetzte
Gefühle hervorrufen – Liebe und Hass.
Beachtenswert im Rahmen einer minnekommunikativen Interpretation
der Turnus-Episode ist der Brief von Lavinias Mutter jedoch primär wegen
der bereits erwähnten Strukturparallele zu Lavinias eigenem Brief – eine
Parallele, die trotz Veldekes bekanntem Faible für Parallelstrukturen in der
Forschung bislang keine Aufmerksamkeit gefunden hat. Dabei wird die
Vergleichbarkeit beider Briefe nicht allein durch die analoge Inszenierung
des Briefvorgangs suggeriert: Wie die Prinzessin schreibt die Königin selbst
(286,19-23 vs. 125,36ff.), wie der Trojaner liest der Rutuler selbst (290,3f.
vs. 125,40), wie die Worte der Prinzessin scône[ ] sind, sind auch die Worte
der Königin schône[ ] (286,23 vs. 125,37). Vielmehr wird sie von vornherein
auch dadurch konstituiert, dass beide Briefe im Liebeskontext geschriebe-
ne Briefe von Frauen an Männer sind und dass diese Frauen gewisserma-
ßen als Minimalpaar (Lavinia/Lavinias Mutter) konzipiert sind. Gegen
RASMUSSEN ist der im Eneasroman für die Botschaft der Königin vorgenom-
mene Wechsel von einer mündlichen zu einer schriftlichen Botschaft, vom
Medium ‚Bote‘ zum Medium ‚Brief‘, damit deutlich mehr als nur eine me-
diale Modernisierung.44 Denn gerade über ihre Medialität verbindet der
deutsche Roman beide Akte der Kommunikation und markiert so, dass in
der unglücklichen Minnebindung Lavinias Mutter die Rolle usurpiert, die
in der glücklichen Minnebindung die Rolle Lavinias ist. Als charakteristisch
für die Liebe des Turnus – und im Sinne der programmatischen Korrelati-
on von Minne und Minnekommunikation letztlich als fatal – erweist sich
insofern, dass seine Liebeskommunikation um eine Stelle im Figurenmo-
dell des Eneasromans verschoben ist, dass er statt mit Lavinia mit einer La-
vinia-Stellvertreterin kommuniziert. In dieser Stellvertreterfunktion etab-
liert sich die – möglicherweise auch aus diesem Grunde namenlose45 – Kö-
nigin nicht allein durch die Analogie des Kommunikationsmediums, son-
44 ANN MARIE RASMUSSEN: Mothers and Daughters in Medieval German Literature, Syracuse,
N. Y. 1997, S. 38, Anm. 12.
45 Die in Eneasroman und Roman d’Eneas vollzogene Anonymisierung der Königin von Latium
– der Amata der Aeneis – wurde in der Forschung häufig konstatiert und noch häufiger in-
terpretiert. Wahlweise erscheint die Namenlosigkeit der Königin dabei als Akt „der Nega-
tivierung und der Bagatellisierung“ (MARTIN BAISCH/HENDRIKJE HAUFE: Väter und Söhne
– Mütter und Töchter. Normbruch und Normerfüllung in Heinrichs von Veldeke Eneasro-
man. In: Der Deutschunterricht 55/1 [2003], S. 62-75, hier S. 69, Anm. 12), als Korrektur
ihres bedrohlichen Wissens über die Vergangenheit des Eneas, so dass sie, wie diese Vergan-
genheit selber, aus der narratio getilgt werden müsse (SUSAN L. CLARK: Said and Unsaid, Male
and Female. Leaving, Left, and Left out in Heinrich von Veldeke’s Eneide. In: Proceedings of
the Patristic Medieval and Renaissance Conference 11 [1986] 51-70, hier S. 60f.), und als
104 Astrid Bußmann
dern auch durch die Analogie des kommunizierten Gefühls, der Zusicherung
von ihrer (und Lavinias) Minne, die sie mit der Einführung eines nonver-
balen Minnecodes verbindet. Sie codiert nämlich Turnus’ Kampftaten als
Liebestaten:
ouch enbôt sim mêre,
her solde sich versinnen
und trôst nemen zir minnen
unde zû Lavînen,
daz her daz lieze schînen,
wie lieb sime wâre,
daz her den Troiâre
ûz dem lande verstieze. (126,32-39)
Anders als EMBERSON, die Turnus kategorisch jedes Eingehen auf diese
Sprache der Liebe und damit auch jedes Liebesgefühl absprechen will,47
werte ich zwar den an Lavinias Mutter in der Kemenaten-Szene geleisteten
Schwur des Rutulers, die bôsen trôischen zagen / ûzer diseme lande (141,27f.; „die
elenden trojanischen Feiglinge aus diesem Land“) zu vertreiben, als Akzep-
tanz des Minnecodes, als Etablierung nonverbaler Formen der Kommuni-
kation – immerhin wiederholt die Formulierung des Schwures fast zitathaft
die briefliche Formulierung der Königin. Ob diese Kommunikation jedoch
Liebeskommunikation im ‚romantischen‘ Sinne ist, also ein Gefühl codiert,
das nicht primär auf politischer Zweckmäßigkeit basiert, sei dahingestellt.
Reaktion auf ihre Liebesunfähigkeit – weil sie als Repräsentantin des Machtprinzips weder
Liebe geben noch nehmen könne, werde ihr der Name ‚Amata‘ (‚Geliebte‘) verweigert (RAS-
MUSSEN [Anm. 44], S. 34). In Verbindung mit einer Stellvertreterfunktion für Lavinia wurde
die Anonymität der Königin aber bislang nicht gebracht. Dabei markiert bereits der Roman
d’Eneas diese Stellvertreterfunktion mit Lavinias Vorwurf, die Königin liebe Turnus: ‚Vos
l’amez bien‘, der effektvoll mit der Negation eigener Liebe kontrastiert wird (V. 8487-8496).
46 FROMMs (Anm. 5) Übersetzung: „Weiter schrieb sie ihm, er möge Fassung bewahren und
Zuversicht schöpfen aus ihrer und Lavinias Zuneigung“ nivelliert den Unterschied zwischen
Königstochter und Königin – im Sinne meiner Stellvertreter-These erschient es mir aber als
eklatant, dass minne im Briefkontext allein Lavinias Mutter, nicht Lavinia, zugeordnet ist.
47 „[I]t is dubious whether love is much of a spur to him. He passes over that part of the
Queen’s letter“ – so JANE EMBERSON: Speech in the Eneide of Heinrich von Veldeke, Göp-
pingen 1981 (GAG 319), S. 238.
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ 105
48 In ihrer Affektlosigkeit entspricht die Verbindung von Turnus und Lavinia der feudalen
Ehepraxis, sind doch gerade feudale Eheschließungen bis ins 13. Jahrhundert ein Vorgang
zwischen Bräutigam und Brautvater, bei dem Anwesenheit und Mitwirkung der Tochter
nicht erforderlich sind (Prinzip der Muntehe). Indem die episch ausgezeichnete Beziehung
aber auf einer affektiven Bindung beruht, wird diese Ehekonzeption zugunsten des etwa in
Gratians Decretum (um 1140) kodifizierten Konsens-Prinzips negiert. Vgl. zur mittelalterli-
chen Ehepraxis allg. MICHAEL SCHRÖTER: Wo zwei zusammenkommen in rechter Ehe . . . Sozio-
und psychogenetische Studien über Eheschließungsvorgänge vom 12. bis 15. Jahrhundert,
Frankfurt a. M. 1985 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft); und zur literarischen Diskus-
sion um Muntehe, Konsensehe und Liebesehe INGRID KASTEN: Ehekonsens und Liebeshei-
rat in Mai und Beaflor. In: Oxford German Studies (1993/1994), S. 1-20.
49 Wie bereits in Anm. 40 konstatiert, stellt diese von den beiden Aeneis-Adaptationen in der
Lavinia-Episode vorgenommene Verschiebung der Liebesdarstellung von Turnus auf Eneas
eine eklatante Abweichung von der Liebeskonzeption Vergils dar. Explizit wird in der Aeneis
nämlich nur die sich an der Schönheit der errötenden Lavinia entzündende Liebe des Turnus:
illum turbat amor figitque in virgine voltus (Vergil: Aeneis. Lateinisch/Deutsch. In Zusammenar-
beit mit MARIA GÖTTE hrsg. und übersetzt von JOHANNES GÖTTE. Mit einem Nachwort von
BERNHARD KYTZLER, München, Zürich 71988 [Sammlung Tusculum], XII,70; „Liebe ver-
wirrt den Turnus, sein Auge hängt an der Jungfrau“).
106 Astrid Bußmann
herzen holt‘ (261,3; „‚der dir von Herzen gewogen ist‘“). Turnus selber offen-
bart seine Gefühle im Eneasroman hingegen nie in einem verbalen Minnebe-
kenntnis, nicht einmal in einem so ambivalenten Bekenntnis wie im Roman
d’Eneas, dessen Formel ‚ce est la riens que ge plus aim‘ („‚es gibt da nichts, was
ich mehr liebe‘“) sich wahlweise auf Lavinia – also die Frau –, auf l’enor et
la terre d’Itaire – also Land und Ansehen –, in tot aber auch auf die Gesamt-
heit von Frau, Land und Ansehen beziehen könnte (V. 7748-7751). Statt
über die Ebene der Gefühle definiert er sein Verhältnis zu der Prinzessin
vielmehr ausschließlich über die Ebene der Macht, über die an sie gebunde-
ne Herrschaft, so dass er den Erwerb von Frau und Land auch sprachlich
miteinander verknüpft. Symptomatischerweise subsumiert er nämlich unter
den Begriffen min[ ] gût[ ] und mîn hant jeweils gleichermaßen seine Verlobte
und das Erbe ihres Vaters (151,40-152,7; 256,34-257,2; beides: „mein Be-
sitz“). Seine Besitzansprüche kulminieren in unmittelbarer Reaktion auf
den Brief der Königin zudem in der Veränderung der Possessivpronomina
von s î n tohter und s î n rîche (127,11) – über lant unde wîb (128,17) – zu m î n
lant und m î n wîb (128,34; meine Hervorhebungen).
In narrativer Ironie erfüllt Turnus so die Handlungsweise, die Eneas auf
der Figurenebene vorgeworfen wird, die Heirat aus Besitzgier (123,6-19;
261,10-13). In seinem Minneverhalten wiederholt sich damit die bôsiu girheit
(331,31; „niedrige Beutegier“), die im Ringraub bereits charakteristisch ist
für sein Verhalten im Kriege. Insofern lässt sich sein Scheitern nicht aus-
schließlich durch die mangelnde Liebe Lavinias erklären, sondern durch
seine eigene mangelnde Liebe ihr gegenüber. Spiegel dieser defizitären
Minne ist aber sein defizitäres Kommunikationsverhalten.
Neben der mangelnden Liebe des Rutulers wird jedoch auch die man-
gelnde Liebe der Prinzessin in den kommunikativen Strukturen der Tur-
nus-Episode explizit. Für eine erschöpfende Interpretation der Episode ist
es deshalb notwendig, von der in ihrer Risikolosigkeit defizitären Liebes-
kommunikation des Turnus – mit der Codierung seiner Kriegstaten als
Minnetaten geht er eben ‚nur‘ das Risiko des Körpers ein, nicht „das exis-
tentielle Risiko der Person“50 – zurückzukommen zur Liebeskommunika-
50 Für diese Differenzierung beziehe ich mich auf HAUGs (Anm. 3) emphatische Formu-
lierung: Das Risiko im Liebesgeständnis „ist nicht ein äußeres, es ist […] mehr als das Risiko
des Lebens, es ist das Risiko des ganzen Menschen, das existentielle Risiko der Person“
(S. 29). Damit will ich keineswegs per se einen Konnex zwischen dem Risiko des Körpers im
nonverbalen und dem existentiellen Risiko der Person im verbalen Liebesgeständnis bestrei-
ten, wie ihn schließlich auch HAUG für die nonverbale Minnekommunikation des Lancelot
im Prosalancelot konstatiert: „Das ins Unglaubliche gesteigerte äußere Risiko wird zum
Zeichen der totalen inneren Risikobereitschaft.“ (S. 31). Hervorzuheben bleibt aber, dass
Lancelots Sprache des Kampfes – insofern sie nicht auf den Erwerb von Herrschaft aus-
gerichtet ist – immer nur Sprache der Liebe sein kann, während Turnus’ Sprache des Kamp-
fes in dieser Hinsicht ambivalent bleibt.
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ 107
51 Gegen DITTRICH (Anm. 30), S. 320, die die Entscheidung über Sieg und Niederlage des
Turnus erzähllogisch erst nach der zweiten großen Aktion der Königin – der erfolglosen
Beeinflussung Lavinias zur Liebe – verortet, fällt diese Entscheidung also eigentlich schon
in der ersten Aktion – der erfolgreichen Beeinflussung des Turnus zum Krieg –, in dem
Moment, als die Königin statt der Prinzessin zum Schreibgriffel greift.
52 In der Perspektive des Scheiterns erscheint es auch eklatant, dass sich das für Turnus cha-
rakteristische Stellvertreter-Motiv bis in seinen Minnecode, d. h. bis in seine Kämpfe, verfol-
gen lässt. Statt Eneas in persona gelingt es dem Rutuler nämlich lediglich, zwei Eneas-Stell-
vertreter zu besiegen: Pallas und den Trojaner Neptanabus. In dieser Stellvertreterfunktion
etablieren sich beide Männer durch die Tatsache, dass Turnus ihnen wîb und rîche abgewinnt,
wie er sie nach der Formulierung seines Minnecodes eigentlich Eneas abgewinnen müsste.
Vgl. für den Sieg über Pallas 206,14-20; und für den Sieg über Neptanabus 316,1-318,5.
108 Astrid Bußmann
55 Für die unmâze der Liebe vgl. für Dido 38,29; 69,7; 76,19; und für Lavinia 270,17; 276,13;
285,2; 302,26f.; 303,12f. Gegen MAURER (Anm. 54) bleibt dabei anzumerken, dass unmâze
von Veldeke nicht als negativer Gegenbegriff zum positiven mâze gemeint ist, sondern die
rein adverbielle Funktion hat, den Grad der Erregung bei verba sentiendi anzugeben. Bezogen
auf den Minnekontext bezeichnet unmâze demnach einen Zustand höchster Erregung im
Liebesgefühl. Vgl. dazu RENATE KISTLER: Heinrich von Veldeke und Ovid, Tübingen 1993
(Hermaea N. F. 71), S. 212f. Forschungskonsens ist seit SCHRÖDER (Anm. 54) außerdem, dass
die Liebe von Dido, Lavinia (und Eneas) nicht nur mit demselben Attribut – eben unmâzlich
– beschrieben wird, sondern auch mit demselben Ovidianisch geprägten Motivrepertoire,
das die Liebe als Krankheit metaphorisiert.
56 Meine These, dass das minnekommunikative Verhalten von Dido und Lavinia und damit ihr
gesamtes Minneverhalten nicht „lediglich situationsbedingt“, sondern „grundsätzlich“ ver-
schieden ist, versteht sich als Korrektur von SCHRÖDERs (Anm. 54) oben genannter These.
Denn diese These basiert auf drei Fehleinschätzungen: (1) In Parallelszenen sieht SCHRÖDER
immer die Gleichheit von Dido und Lavinia, nie ihre Ungleichheit markiert. Schlüsselszenen
wie die von Dido (50,11-53,6), Lavinia (278,13-279,8) und Eneas (292,9-300,22) in Min-
nekrankheit schlaflos verbrachte Nacht sind für Dido hingegen deutlich anders als für Eneas
und Lavinia – nämlich erotisch – konnotiert, so dass statt der Gleichheit der beiden Frauen
ihre Ungleichheit, demgegenüber aber die Gleichheit von Eneas und Lavinia markiert wird.
(2) Diese Negation einer Differenz äußert sich auch darin, dass SCHRÖDER nicht zwischen
Denken und Handeln differenziert, etwa zwischen Lavinias nur erwünschtem (324,10-13)
und Didos vollzogenem Beischlaf (63,4-28) mit Eneas. (3) SCHRÖDER konstruiert Gleichheit
selbst dort, wo sie dem Rezipienten weder explizit durch inhaltliche, noch implizit durch
formale Parallelen suggeriert wird. So setzt er den von Dido im Beischlaf begangenen
Normverstoß mit dem von Lavinia im Widerstand gegen ihre Mutter begangenen Normver-
stoß gleich (vgl. für SCHRÖDERs Gegenüberstellung von Dido und Lavinia S. 174-179).
110 Astrid Bußmann
57 Rückblickend erkennt Eneas, dass er Dido nicht aufgrund der fata verlassen habe, sondern
weil er sie zu wenig geliebt habe, um das fatum ignorieren zu können (296,13-16). In der
bereits von SCHRÖDER (Anm. 54), S. 179f., zur Entlastung von Dido initiierten Debatte um
ein schuldhaftes Verhalten des Eneas wird diese Selbsterkenntnis sowohl zur Belastung
(ELISABETH LIENERT: Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001 [Grundlagen
der Germanistik 39], S. 98) als auch zur Entlastung des Protagonisten (ANETTE SYNDIKUS:
Dido zwischen Herrschaft und Minne. Zur Umakzentuierung der Vorlagen bei Heinrich von
Veldeke. In: PBB 114 [1992], S. 57-107, hier S. 104) herangezogen.
58 Zu Eneas’ eigenen Defiziten im Minne- und Minnekommunikationsverhalten, die durch
Didos Defizite keineswegs negiert werden sollen, vgl. weiter unten S. 122ff.
59 In dem Gespräch zwischen der französischen Dido und der französischen Anna wird Didos
Minnekommunikation nur insofern akzentuiert, als Anna Dido zu einer sprachlichen List
rät, um Eneas von der Abreise abzuhalten (V. 1377-1382). Das Problem des Wissenlassens
wird hingegen nicht diskutiert. Präsent in der narratio wird es so erst, als es als Problem
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ 111
muss das Gespräch zwischen Dido und Anna als Schlüsselszene für die
fatale Korrelation von Liebesgeständnis und Schweigen verstanden wer-
den, weil dieses Gespräch einerseits selber Liebesgeständnis ist, anderer-
seits verschiedene – verbale und nonverbale – Strategien des Liebesge-
ständnisses diskutiert. In seiner verbalisierten wie in seiner diskursivierten
Form ist das Liebesgeständnis für Dido aber mit Schweigen konnotiert.
Wenn ich mich in der Interpretation von Minne und Schweigen daher
zunächst dem von Dido verbalisierten Minnebekenntnis zuwende, dann
nicht deswegen, weil es grundsätzlich wichtiger ist als die diskursivierten
Minnebekenntnisse, sondern weil es in einer signifikanten Reduktion zu-
rückweist auf das Minnebekenntnis des Turnus: Das existentielle Risiko der
Person, das dem Liebesgeständnis in der Preisgabe gegenüber dem Anderen
immer eigen ist, wagt auch die karthagische Fürstin ausschließlich gegen-
über einer Stellvertreterfigur. Bereits in seiner Verbalisierung ist das Ge-
ständnis somit doppelt mit Schweigen codiert, da es nicht nur auf einen
Stellvertreter reduziert, sondern in dieser Reduktion zusätzlich fragmentiert
wird. Selbst gegenüber ihrer Schwester Anna vermag Dido nämlich den
Namen des Eneas lediglich stammelnd, zerlegt in Einzelsilben, zu nennen:
‚her heizet‘ sprach si ‚der Ê‘,
und dar nâch ‚NÊ‘, uber lank,
alsô sie diu minne dwank,
ê si vollesprâche ‚AS‘,
dô weste sie wol wer es was. (55,24-28)
aufgehoben wird, nämlich in einem Erzählerkommentar, der die Jagdszene – und damit die
sog. ‚Liebesvereinigung‘ – einleitet (V. 1437-1444). Veldeke übernimmt nicht nur die-
sen Kommentar (58,24-32), sondern inseriert zu Beginn der Dido-Episode einen zweiten
Kommentar (38,24-39), der qua seiner Stellung vorausdeutenden Charakter hat. Die
„sinntragende[n] Abweichungen und inhaltliche[n] Gewichtsverlagerungen“, die SYNDIKUS
(Anm. 57), S. 60, der deutschen Dido-Episode attestiert, betreffen also auch das Kommu-
nikationsverhalten der Protagonistin.
60 Übersetzung, Interpretation und Interpunktion bedingen in dieser Szene einander. Ich folge
mit meiner Interpunktion der Interpunktion bei FRINGS/SCHIEB und FROMM, die KART-
SCHOKE zwar nicht bietet, nach der er aber übersetzt (alle Anm. 5). Die eigentlich bei KART-
SCHOKE abgedruckte Version: ‚her heizet‘, sprach si ‚der Ê / und dar nâch NÊ.‘ uber lank, / alsô sie
diu minne dwank, / ê si vollesprâche AS, / dô weste sie wol wer es was hieße in Übersetzung: „‚Er heißt‘,
sagte sie, ‚E und dann NE.‘ Nach längerem Zögern, so wie die Minne sie zwang, noch ehe sie
vollenden konnte ‚AS‘, wusste sie [Anna], wer es war.“ Je nach Lesart potenziert sich damit das
Schweigemotiv, weil Dido in der zweiten Version den Namen gar nicht vollständig buchsta-
bieren muß, um von Anna verstanden zu werden. Vgl. dazu auch ERNST (Anm. 15), S. 352.
112 Astrid Bußmann
Wenngleich Didos Schmerz und ihre Scham die Artikulation des Namens
(55,21ff.) als Bewährung ihrer Minne charakterisiert, ihre Minnekommuni-
kation ein personales Wagnis also nicht völlig negiert, bleibt der Wert ihres
Bekenntnisses daher zweifelhaft – zumal sich das im Stammeln konkreti-
sierte Schweigen im weiteren Dialog dadurch verabsolutiert, dass die Frag-
mentierung des Namens keineswegs behoben wird. Die Schwestern ver-
ständigen sich vielmehr durch Umschreibungen wie ‚der man, / der nie gelîchen
gewan‘ (55,19f.; „‚der Mann, der niemals seinesgleichen hatte‘“) und ‚de[r]
man[ ], / den ich mit ougen nie gesach‘ (55,30f.; „‚ein Mann, wie ihn meine Augen
nie erblickten‘“). Dass die Fürstin den Trojaner direkt mit Namen anspricht,
inszeniert der Text sogar erst in der Krise ihrer Beziehung, der Tren-
nung.61
Als Chiffre des Schweigens erweist sich die Zergliederung von Eneas’
Namen damit auch als Chiffre für Didos gesamte Liebeskommunikation.
Denn letztlich nimmt ihr stammelndes Verstummen nur das voraus, was in
der von Anna initiierten Diskussion um ein Minnebekenntnis gegenüber
Eneas (56,25-28) – genauer: um die adäquate, verbale oder nonverbale
Realisierung dieses Bekenntnisses – von den Schwestern endgültig als
Kommunikationsstrategie etabliert wird: Didos Verstummen, zumindest
bezogen auf die verbale Liebeskommunikation. Diese Differenzierung ist
dabei zu betonen, weil die Fürstin im Zwiespalt zwischen Reden und
Schweigen nicht eigentlich das Schweigen wählt, sondern eine Variante
nonverbaler Liebeskommunikation, das fruntlîchen ane sehen, das kompro-
misshaft verbales Schweigen und nonverbales Reden miteinander kombi-
niert, nach außen hin freilich vor allem das Schweigen akzentuiert:62
61 Während Dido vor Beginn ihrer Liebe den Namen des Eneas gegenüber dem trojanischen
Boten problemlos artikulieren kann (30,33), spricht sie den Geliebten selbst erst bei der
Trennung mit Namen an (69,26).
62 Diese ausschließliche Wahrnehmung von Didos verbalem Schweigen wird durch vier
Erzählstrategien bewirkt: (1) Didos Kommunikation durch Blicke wird nach dem Ge-
spräch mit Anna gar nicht – vor dem Gespräch nur in zwei Versen (50,6f.) – in narratio
überführt, obwohl Veldeke, wie das Beispiel der Lavinia-Episode zeigt, entsprechende
Szenenmuster leicht zur Verfügung gestanden hätten. So dominiert in der narrativen Ge-
staltung der nonverbalen Kommunikation statt der Gegenseitigkeit der Blicke letztlich die
Gegenseitigkeit der Berührungen (35,32; 48,31-35; 61,10; 63,6-14; 64,2f.; 71,15f.). (2) Dem-
gegenüber wird die Nicht-Existenz der verbalen Kommunikation gezielt betont, etwa in-
dem der Erzähler Didos Schweigen konstatiert (38,33-37; 58,24-29). (3) Dialoge zwischen
Dido und Eneas werden nicht in indirekter, geschweige denn in direkter Rede inszeniert,
sondern vom Erzähler nur so kurz referiert, dass der Rezipient nicht einmal ihren Inhalt
erfährt (58,19-23). In einem narrativ ausgestalteten Dialog werden Dido und Eneas so erst
wieder bei ihrer Trennung präsentiert (67,9-73,9). (4) Während der Erzähler die Mög-
lichkeit, Didos Gedanken in Form eines Selbstgesprächs darzubieten, Dido insofern im
Schweigen als sprechend zu inszenieren, in Szenen wie der schlaflos verbrachten Nacht
durchaus nutzt (52,2-22), verzichtet er nach Didos Gespräch mit Anna darauf. Stattdessen
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ 113
betont er sein eigenes Reden, als er auch Gedankenrede hätte verwenden können, und
markiert dadurch umso deutlicher Didos Schweigen: Dô was diu frouwe Dîdô / beidiu rouwich
unde frô. / ich sage û, wes si frô was (64,7ff.; „Frau Dido war zugleich traurig und froh. Ich sage
euch, worüber sie froh war“). Zur narrativen Negation des Schweigens durch Gedanken-
rede am Beispiel von Hartmanns Enite vgl. BRITTA BUSSMANN: Dô sprach diu edel künegîn …
Sprache, Identität und Rang in Hartmanns Erec. In: ZfdA 134 (2005), S. 1-29, hier S. 19f.
63 Vgl. für das Nicht-Sprechen Didos 38,33-37; 58,24-39; für das Nicht-Wissen des Eneas
38,24-32; 51,34-37; und für die Weitertradierung des Nicht-Wissen-Motivs in Eneas’ Nicht-
Wissen über Didos Tod 80,16-31. Zusätzliche Prägnanz gewinnt die fatale Korrelation von
Nicht-Sprechen und Nicht-Wissen für die Dido-Episode dadurch, dass sie in derselben
Episode unter umgekehrten Vorzeichen wiederholt wird: Auch Eneas ist ein Schweigemotiv
zugeordnet – das Verschweigen seiner Italienpläne (57,33-58,4; 66,7-67,8) –, das mit Didos
Nicht-Wissen über eben diese Pläne korrespondiert (58,5ff; 67,9-23).
114 Astrid Bußmann
Weil ihre sublime Sprache der Blicke – zumal bei einem Rezipienten
wie Eneas, dessen Fähigkeit zur Liebe wie zur Rezeption von Liebeszei-
chen in der Dido-Episode deutlich eingeschränkt ist64 – somit nicht zur
ersehnten Gegenliebe führt, ist Dido gezwungen, ihr Minnebekenntnis zu
konkretisieren, das existentielle Risiko der Person, die Preisgabe gegen-
über dem Anderen drastisch zu intensivieren. Prinzipiell böten sich der
Fürstin dazu zwei Alternativen: Sie könnte von einem nonverbalen zu ei-
nem verbalen, von einem tendenziell risikolosen zu einem in seiner Ein-
deutigkeit riskanten Liebesgeständnis wechseln, sie könnte aber auch die
Eindeutigkeit, den Risikocharakter, ihres nonverbalen Liebesgeständnis-
ses intensivieren. Allerdings hat sie sich die erste Alternative aus Angst um
ihre êre von vornherein versagt (56,29-57,6). Wie sich in der nur bei Hein-
rich von Veldeke als Didos List inszenierten Jagd (58,33-64,6)65 – de facto
eine Minnejagd auf Eneas, in der Eneas aber nur erjagt wird, indem Dido
sich erjagen lässt – narrativ manifestiert, wählt sie daher notgedrungen die
Alternative, die ihr einzig verblieben ist: Sie vereindeutigt ihre nonverbale
Liebeskommunikation in der Hingabe, die sich innerhalb dieses Codes
nicht nur als Preisgabe, sondern als totale Preisgabe gegenüber dem Ande-
ren lesen lässt. Damit wird der sexuelle Akzent, der der Dido-Minne schon
immer inhärent ist und der in der Hingabe nur mehr konkret wird,66 in
64 Dies wird nicht nur implizit in Eneas’ Blindheit für Didos verliebte Blicke (50,4-10), sondern
auch explizit in einem auf die Lesbarkeit von Didos Minnesymptomen bezogenen Erzäh-
lerkommentar thematisiert: daz gesâgen die des nâmen war. (39,8; „Wer hinsah, konnte es erken-
nen.“). Dieser Kommentar verdeutlicht nämlich, dass Wissen und Nicht-Wissen eine Frage
der Rezeptionsbereitschaft ist und dass diese Rezeptionsbereitschaft bei Eneas nicht gege-
ben ist. Die Tragik der Dido-Minne entfaltet sich daher bereits darin, dass Dido als Frau, die
die Zeichen der Nicht-Liebe nicht lesen kann, mit Eneas einen Mann liebt, der die Zeichen
der Liebe nicht lesen kann.
65 Die minnestrategische Bedeutung der Jagd zeigt sich darin, dass Dido den Ausritt seit dem
Vorabend plant (59,2-7) und die ‚Beute‘ Eneas gezielt dazu einlädt (60,40f.) – und zwar
obwohl das winterliche Wetter eine Jagd verbietet (59,14f.). Dabei verdeutlicht die der ei-
gentlichen Jagd vorausgehende descriptio von Didos Gewand (59,19-61,10), dass die Strategie
der Fürstin eine Strategie der Verführung ist, etwa durch das Kalkül, mit dem sie statt eines
langen einen kurzen Mantel wählt (60,16ff.). Selbst ohne diese Implikationen stände die
Liebeserfüllung jedoch durch die descriptio unter dem Vorzeichen der Äußerlichkeit, da durch
sie Didos Körperlichkeit akzentuiert wird, während Eneas und Lavinia nie körperlich be-
schrieben werden. Zur narrativen Funktion von „absences“, „dissymétries“ und „parallélis-
mes“ in den Beschreibungen des Eneasromans und zum erotischen Akzent in der Beschrei-
bung von Dido vgl. auch MARIE-SOPHIE MASSE: La description dans les récits d’Antiquité
allemands fin du XIIe-début du XIIIe siècles. Aux origines de l’adaption et du roman, Paris
2004 (NBMA 68), S. 208-211 und S. 228-249.
66 Am explizitesten wird die Körperlichkeit der Dido-Minne nicht dort, wo sie als Akt kon-
kret wird – in der ‚Liebesvereinigung‘ fällt der Akt in eine markierte Ellipse (63,28) –,
sondern in der narratio von Didos in Minnekrankheit schlaflos verbrachter Nacht, in der
mittels eines Stellvertreters das höfische Berührungsverbot wie das literarische Schweige-
gebot unterlaufen wird: ir deckelachen sie nam / under ir arme vaste ./ ir getroumde von ir gaste: /
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ 115
der narratio als notwendige Folge von Didos Schweigen inszeniert. Wenn-
gleich Didos Verzicht auf ein verbales Geständnis durch die narrative
Entfaltung ihrer Beweggründe nachvollziehbar ist, muss ihr Schweigen
daher kritisch hinterfragt werden, zumal sie ihren primären Beweggrund,
die Bewahrung ihrer êre und ihrer Person, geradezu tragisch konterkariert,
indem sie die verbale Preisgabe durch die körperliche Preisgabe substitu-
iert. Schließlich erringt sie die Aufmerksamkeit des Geliebten allein durch
ihre Stilisierung zum sexuellen Objekt, zum Wild, das gejagt und – in
drastisch sexueller Bildlichkeit – erlegt wird (63,36ff.). Dies mag in ihren
Augen zwar den Vorteil haben, dass es in der Logik ihrer Inszenierung
Eneas ist, der den ersten Schritt zur Liebe vollzieht, nicht sie selber,
die diesen Schritt als Frau nicht offen zu vollziehen wagt.67 Dennoch
kann letztlich der Nachteil nicht negiert werden, dass die körperliche
Preisgabe statt Liebe eben nur Begehren stimuliert: do begunde ime irwarmen /
al sîn fleisch und sîn blût. (63,10f.; „Da begann sich ihm all sein Fleisch
und sein Blut zu erwärmen.“). So bedeutet der Moment der scheinbaren
Liebeserfüllung für die Fürstin keineswegs Erfüllung, sondern die Reduk-
tion auf den bloßen Körper und den endgültigen Verlust ihrer Sprach-
si dûhte daz ez wâre / Ênêas der mâre ./ sie dwanc es an ihr munt / zû vil maneger stunt. / grôz wunder
si machete. / dô si dô intwachete, / ein wîle hete sie gemach, / unze daz sie gesach, / daz der hêre Êneâs
/ dâ bî ir niene was. (52,32-53,4; „Sie nahm ihr Deckbett fest in ihre Arme. Sie träumte von
ihrem Gast. Sie bildete sich ein, es wäre der stattliche Eneas. Sie presste das Betttuch immer
wieder an ihrem Mund. sie verhielt sich sehr merkwürdig. Als sie aufwachte, fühlte sie
sich einen Augenblick lang glücklich, bis sie sah, dass Herr Eneas nicht neben ihr war.“;
vgl. dazu LECHTERMANN [Anm. 21], S. 264). Diese Szene kann als Schlüsselszene der Dido-
Episode verstanden werden, weil sich in ihr durch die troum-Metaphorik neben der Kör-
perlichkeit auch die Scheinhaftigkeit der Dido-Minne manifestiert. Im Kontext meiner
Interpretation ist die Szene darüber hinaus wegen eines Details interessant: Bei ihrem
gestammelten Liebesgeständnis gegenüber Anna wirft sich Dido auf das Bett, in wel-
chem sie zuvor den Traum von Eneas gehabt hat (53,26ff.), so dass das gesamte Gespräch
von vornherein sexuell konnotiert ist. – SCHRÖDERS (Anm. 54) Feststellung: „Die Über-
tragung des Gegensatzpaares: niedrige fleischliche und hohe entsinnlichte Frauenliebe
auf Dido und Lavine verbietet sich von selbst.“ (S. 167) kann damit nur zurückgewiesen
werden.
67 Die bereits zu Beginn der Dido-Episode etablierte Angst der Fürstin vor dem ersten Schritt
(38,33ff.) erklärt sich auf der Folie einer konventionellen Auffassung von Minne und
Minnekommunikation, deren narratives Sprachrohr Anna ist. Demnach dürfe die Frau in
der Liebe nicht selber die Initiative ergreifen, zumal nicht im Medium der Sprache. Das
verbale Liebesgeständnis dürfe vielmehr erst erfolgen, wenn der Mann die Liebe bereits an
nonverbalen Zeichen bemerkt habe (57,2-6), wenn das Geständnis also nicht mehr Preis-
gabe, sondern Formsache ist. Die Aktivität von Dido und Anna beschränkt sich im weiteren
insofern darauf, passiv abzuwarten, ob Eneas werbend aktiv wird (57,21-32; 58,30ff.), und
selbst die Minnejagd ist von Dido letztlich darauf ausgerichtet, Eneas aktiv werden zu lassen,
sich von ihm zur Liebe zwingen zu lassen. Trotz der fraglosen Totalität der körperlichen
Preisgabe ist die Hingabe daher in der „Offenbarung der Person als Preisgabe gegenüber
dem Andern“ (HAUG [Anm. 3], S. 29) deutlich eingeschränkt.
116 Astrid Bußmann
gewalt.68 Denn der Trojaner negiert nicht allein ihre Einwände gegen
einen Beischlaf, sondern ihre Stimme wird durch den indirekt bleibenden
Erzählerbericht aus der Handlung genommen:
minnechlîche her si bat,
daz si in gewerde
des si selbe gerde,
(iedoch sprach si dar wider)
und er legete sie dar nider,
alsez Vênûs geriet:
sine mohte sich erweren niet.
her tet ir daz er wolde (63,18-25)
68 Der Topos von der Frau, die sich nur scheinbar verweigert, deren Sprechakt demnach vom
Mann ignoriert werden kann, ist zwar ein Ovidianisch-misogynes Standardklischee, dennoch
scheint Veldeke die damit verbundene sprachliche Depotenzierung als Faktum wichtig zu
sein. Im Gegensatz zum Roman d’Eneas, in dem sich Dido dem Willen des Eneas keineswegs
verweigert (V. 1522-1525), wird im Eneasroman nämlich nicht nur Didos verbale (63,21) und
nonverbale (63,24) Verweigerung, sondern auch das Gewaltsame in Eneas’ Handeln akzen-
tuiert (63,13f; 63,22; 63,25). BRANDT (WOLFGANG BRANDT: Die Erzählkonzeption Hein-
richs von Veldeke in der Eneide. Ein Vergleich mit Vergils Aeneis, Diss. [masch.] Marburg
1967, S. 134) konstatiert daher sogar, dass die Liebesvereinigung „trotz der Bitte des Eneas
um Gewährung der Liebesgunst im Grunde einer Vergewaltigung gleichkommt“. Vgl. dazu
auch EMBERSON (Anm. 47), S. 131, Anm. 67.
69 Veldekes Erzählstrategie ist pointierter als die Erzählstrategie des Roman d’Eneas, denn nur
im Eneasroman bricht die Kommunikation zwischen Eneas und Dido dramatisch ab, nach-
dem mit dem Trennungsdialog (67,9-73,9) der kommunikative Höhepunkt der Dido-
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ 117
Für Heinrichs von Veldeke Version der Dido-Episode bleibt damit nur
mehr hervorzuheben, dass sich in der kontrastiven Parallelisierung von Di-
dos und Lavinias Minnekommunikation neben der Differenz von Reden und
Schweigen auch die Differenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit sinn-
trächtig manifestiert. Dies wird gerade in der Zergliederung von Eneas’ Na-
men im Liebesgeständnis augenfällig. Denn anders als in der Aeneis, wo eine
narrative Entfaltung der Lavinia-Minne – und damit ein kontrastiver Paral-
lelismus von Didos und Lavinias Minnekommunikation – von vornherein
nicht gegeben ist, anders aber auch als im Roman d’Eneas, wo die Zergliede-
rung von Eneas’ Namen nur in der Lavinia-Episode narrativ gestaltet ist
(V. 8535-8564),70 inszeniert der Eneasroman zweimal die Zergliederung von
Eneas’ Namen in der Minnekommunikation: im Liebesgeständnis Didos ge-
genüber ihrer Schwester (55,15-28) und im Liebesgeständnis Lavinias gegen-
über ihrer Mutter (281,25-282,23). Doch obwohl Angst, Schmerz und Scham
neben Didos (55,21ff.) auch Lavinias Minnebekenntnis prägen (282,5-18), ist
es durch seine Medialität als epische Überbietung zu Didos Minnebekenntnis
konzipiert.71 Die Prinzessin fragmentiert den Namen des Trojaners nämlich
nicht stammelnd, sondern indem sie Buchstabe für Buchstabe mit einem
griffel von golde72 auf einem tavelen (282,10f.) niederschreibt:
Mit angesten plânete sie daz was
und solde scrîben Ênêas,
do ir ir mûder urloub gab.
E was der êrste bûchstab,
dar nâch N und aber Ê.
Episode erreicht ist. Der deutsche Retext eleminiert damit Didos vergebliche Kommunika-
tionsversuche – Annas wiederholte Botengänge (V. 1883-1901), Didos Nachrufen und Nach-
winken cent feiz et cent (V. 1955-1970; „hundert- und aberhundertmal“) –, die sein franzö-
sischer Prätext von Vergil übernommen (IV,412-449) und noch intensiviert hat. Veldeke tut
dies, so meine These, um das mit Dido konnotierte Schweigemotiv gezielt zu potenzieren.
Es geht damit deutlich um mehr, als nur um die Reduktion von Übertreibungen (SCHUBERT
[Anm. 38], S. 146) – zumal sich nur im Eneasroman das „wortlose[ ] Verhältnis“ (WENZEL-
BURGER [Anm. 12], S. 298) von Eneas und Dido dadurch verabsolutiert, dass sich selbst das
Treffen in der Unterwelt in Schweigen vollzieht (99,25-40). Im Roman d’Eneas (V. 2625-2662)
und in der Aeneis (VI,440-476) spricht hingegen Eneas Dido an.
70 Zwar ist auch in die französische Dido-Episode die Nennung von Eneas’ Namen inseriert, doch
wird in dieser Szene der Name nicht fragmentiert. Vielmehr versucht Dido erst vergeblich, den
Namen zu nennen, und fällt dabei in Ohnmacht (V.1276-1278), worauf sie ihn in einer variierten
Wiederholung dieses Motivs tatsächlich nennt, aber wieder in Ohnmacht fällt, quant l’en sovint,
qu’el le noma (V. 1321-1325; „als sie sich bewusst wurde, dass sie ihn nannte“). Die französische
Lavinia hingegen stammelt – wie die deutsche Dido – den Namen des Eneas.
71 WUTH (Anm. 20), S. 75.
72 Wie SCHNYDER (Anm. 20), S. 244, assoziiere ich mit dem goldenen Griffel den goldenen gêr
Amors (264,28): Weil die Verwundung mit dem Goldpfeil rehte[ ] minne (264,40) hervorruft,
verweist der goldene Griffel nach dieser Lesart auf die Wahrhaftigkeit des mit ihm verschrif-
teten Liebesgeständnisses.
118 Astrid Bußmann
Gerade indem die Differenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit aber die
Funktion der Schrift als Speichermedium akzentuiert, muß Lavinias Min-
nebekenntnis gegenüber Didos als ungleich höheres personales Risiko
gelten. Denn durch seine schriftliche Fixierung kann es nicht zurückge-
nommen werden. ‚wan diz ne mach ich niht verdagen‘ (301,24; „‚denn dies
kann ich nicht [mehr] verschweigen“), wie die Prinzessin einsichtig for-
muliert – allerdings bezogen auf ihren Bekenntnisbrief an Eneas. In die-
ser Unumkehrbarkeit verdeutlicht sich letztlich eine Analogie ihrer beiden
Liebesgeständnisse auf Wachs und Pergament. Als materieller Zeichen-
träger übernimmt der Minnebrief nämlich, wie die beschriebene Wachs-
tafel, Funktionen der memoria. Er wiederholt zudem die schriftliche Na-
mensnennung des Geliebten und verbindet sie mit Lavinias eigenem Na-
men zu einer symbolischen Vorwegnahme späterer Zweisamkeit: ‚ez enbû-
tet Lavîne / Ênêase dem rîchen‘ (286,24f.). Das Verhältnis der drei weiblichen
Minnebekenntnisse des Eneasromans kann damit als Steigerung verstan-
den werden: vom mündlichen, dem Vergessen ausgelieferten Bekenntnis
Didos – über den leicht tilgbaren Schriftzug auf der Wachstafel – zu der
brieflichen Mitteilung, die einmal aus der Hand gegeben, nicht mehr re-
vidierbar ist.
120 Astrid Bußmann
74 DITTRICH (Anm. 30), S. 325, hingegen wertet die Distanz, die durch mûren, graben und venster
markierte Grenze zwischen Eneas und Lavinia primär als thematisch bedingt, nicht als Hin-
weis auf eine höfische Konzeption der Lavinia-Minne. Dabei ignoriert sie, dass Lavinia,
bevor sie die entkörperlichte Überschreitung der Grenze im Medium des Liebesbriefes un-
ternimmt, die körperliche Überschreitung der Grenze durchdenkt, dies wegen ihrer êre aber
zurückweist (305,2-21; für den Roman d’Eneas vgl. V. 8701-8730). Die Distanz wird also nicht
– unwillentlich – deswegen aufrecht erhalten, weil die Grenze nicht überschreitbar wäre,
sondern weil sie willentlich nicht überschritten werden soll. Damit setze ich mich auch von
LIEBERTZ-GRÜN (Anm. 13) ab, die in Lavinias Bejahung der Distanz vor allem eine Ver-
schleierung ihres Mangels an Gelegenheit sieht. (S. 69f.). Sie verkennt nämlich, dass nicht
nur diu minne vil getût (286,35), sondern dass auch der Autor vil getût, dass er also, wenn es
seiner Minnekonzeption entspräche, durchaus ein Treffen zwischen Eneas und Lavinia
inszenieren könnte. Es sei in diesem Zusammenhag auf einen Ovidianischen Prätext der
Lavinia-Episode verwiesen, die Scylla-Erzählung in den Metamorphosen (1 v. Chr.-10 n. Chr.),
in der sich Scylla eben nicht nur bei einem Blick vom Turm der Stadtmauer herab in König
Nisus verliebt, sondern in das feindliche Lager schleicht, um diese Liebe zu gestehen. Vgl.
dazu KISTLER (Anm. 55), S. 122ff.
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ 121
75 Die Beiläufigkeit von Eneas’ Worten wird durch den indirekt bleibenden Erzählerbericht
betont (63,18ff.). Die Schnelligkeit und Leichtigkeit seiner Werbung wird so effektvoll mit
Didos langem Sehnen kontrastiert, das leitmotivisch die Dido-Episode durchzieht (38,25f.;
58,33-59,1; 63,4f.). Freilich wird dieses lange Sehnen von Dido durch ihre vorschnelle Hin-
gabe – schiere (64,14) ist sie Eneas’ Willen gefolgt – verschleiert.
76 Nach DINZELBACHER (PETER DINZELBACHER: Gefühl und Gesellschaft im Mittelalter. Vor-
schläge zu einer emotionsgeschichtlichen Darstellung des hochmittelalterlichen Umbruchs.
In: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am
Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld [3. bis 5. November 1983].
Hrsg. von GERT KAISER/JAN-DIRK MÜLLER, Düsseldorf 1986 [Studia humaniora 6],
S. 213-241, hier S. 215 und S. 224ff.) ist die Konzeption der höfischen Minne mit ihrer Sub-
limierung der Triebbefriedigung im Mittelalter nur zwischen Gleichrangigen, zwischen peers,
denkbar. Im Umkehrschluss verdeutlicht die unmittelbare Triebbefriedigung, wie Eneas sie
vollzieht, eine Negation ständischer Gleichrangigkeit. Dabei ist beachtenswert, dass Eneas’
Forderung nach Hingabe auch eine Forderung nach Teilhabe an der Herrschaft impliziert,
da die Inbesitznahme einer Herrscherin immer auch die Inbesitznahme ihres Landes meint
(LECHTERMANN [Anm. 21], S. 252). In der Hingabe wird somit nicht nur Didos Rolle als
Frau, sondern auch ihre Rolle als Herrscherin prekär – ein Defizit, das sich aus kommunika-
tionstheoretischer Perspektive allerdings bereits in ihrem Schweigen manifestiert. Angeregt
wird diese Deutung des Schweigemotivs durch BRITTA BUSSMANN (Anm. 62), S. 13, die zu-
mindest für die Figur der Enite herausgearbeitet hat, dass im literarischen Herrschaftsdiskurs
die Sprache zum „eigentlichen Machtinstrument der Frau“, zum „Merkmal weiblichen
Herrschaftshandelns“ wird.
122 Astrid Bußmann
nicht zuletzt, dass das Risiko der verbalen Preisgabe die körperliche Preis-
gabe suspendiert. So ist das gefûchlîche Geständnis im Medium des Briefes
das einzige Geständnis, das Gegenliebe generiert, das im narrativen Kon-
text als Liebesgeständnis reüssiert. Die programmatische Frage: ‚sô saget mir
denne waz minne is‘ (262,6; „‚So sagt mir also, was Minne ist.‘“) beantwortet
der Eneasroman damit nicht allein durch die Minnelehre von Lavinias Mut-
ter (262,9-265,19), sondern auch durch die Variation verschiedener For-
men der Minnekommunikation – der sublimen Sprache des Briefes, der
erotischen, ja sexuellen Sprache des Körpers und der aggressiven Sprache
des Kampfes –, die mit der Medialität der Minnekommunikation aber auch
die Verbalität und damit das personale Risiko in der Preisgabe gegenüber
dem Anderen variiert. In der Variation der Liebeskommunikation ist der
Text damit mehr als ein bloßer Liebesroman. Lesbar, verstehbar wird er
auch als Meta-Liebesroman.
Ist Liebe folglich Kommunikation, ist Liebe folglich die gegenseitige
Preisgabe in der Kommunikation, fungiert die Verweigerung der kommu-
nikativen Preisgabe im Schweigen als Zeichen der Krise. Zumal im deut-
schen Eneasroman manifestiert sich diese Bedeutung des Schweigens, wie
in einem letzten Argumentationsschritt hervorgehoben werden soll, in der
Figur des Eneas, dessen Wandel vom defizitären Helden der Dido-Episode
zum idealen Helden der Lavinia-Episode neben einem Wandel von Nicht-
Liebe zu Liebe auch einen Wandel von Schweigen zu Reden impliziert –
wobei sich gerade der kommunikative Wandel erst sukzessive im Verlauf
der Lavinia-Episode vollzieht. Besteht aus minnekommunikativer Perspek-
tive nämlich bereits Eneas’ Defizit in der Dido-Episode im Verschweigen
seiner Italienpläne (57,33-58,4; 66,7-67,8), das Dido fälschlich die Bestän-
digkeit der realiter unbeständigen Minnebindung suggeriert (67,9-12), so
setzt sich dieses Schweigen in der Lavinia-Episode im Vermeiden eines
verbalen Liebesgeständnisses zunächst fort. Denn obwohl Eneas ein ver-
bales – ein vielleicht sogar briefliches – Liebesgeständnis erwägt (298,30-
299,1), so dass der Text punktuell die Idee eines Liebesbriefwechsels evo-
ziert, realisiert er diesen Gedanken vorerst deswegen nicht, weil er die
Preisgabe im Liebesgeständnis vermeiden will, missversteht er sie doch als
Preisgabe männlicher Überlegenheit:77
77 DITTRICH (Anm. 30) führt zur Erklärung narrative Gründe an: die Vermeidung einer „allzu
billige[n] Rückantwort“ und die Aufrechterhaltung „mannigfacher Spannungsmomente“
(S. 347). Aber auch wenn narrative Variation als Begründung auf der poetologischen Ebene
plausibel erscheinen mag, darf nicht übersehen werden, dass gerade Veldeke die von ihm
durch die Vermeidung des Liebesgeständnisses erlangte Variation auf der Ebene der nar-
ratio als Defizit seines Protagonisten inszeniert. Schließlich wird der nicht-geschriebene
Liebesbrief des Eneas auf der Folie von Lavinias geschriebenem Liebesbrief als Leerstelle
markiert, was in einer Liebeskonzeption, in der gegenseitige Liebe in Parallelszenen kon-
struiert wird, zumindest bemerkenswert ist. Zudem wird die Programmatik des Konfliktes
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ 123
Dieses Schweigen bringt die Beziehung zu Lavinia aber an den Rand des
Scheiterns. Denn der Trojaner verwirft zwar seine Überlegung, dass Lavinia
von ihm kêre / ir herze unde ir mût (299,18f.; „ihr Herz und ihren Sinn ab-
wendet“), tatsächlich bezweifelt sie aber seine Liebesbereitschaft: ‚ich vorhte
daz her niene gere / der minnen der ich ime enbôt.‘ (301,18f.; „‚Ich fürchte, er will
die Liebe gar nicht, die ich ihm gestanden habe.‘“). Ausschlaggebend dafür
ist nicht allein, dass die programmatische Korrelation von Wissen und Lie-
be zwangsläufig nach dem Wissenlassen der Gegenliebe verlangt, sondern
dass Eneas durch sein Schweigen die Dialogizität als spezifisches Merkmal
brieflicher Kommunikation pervertiert. Wenngleich nämlich nicht jeder
Brief einen Briefwechsel auslösen muß, komplettiert erst der Antwortbrief
den brieflichen Kommunikationsakt.
Die Gefährdung der Minnekommunikation durch Schweigen, die das
vollständige Scheitern der Paarbeziehung evoziert, begründet möglicher-
weise die Etablierung von Minnebriefwechseln in der höfischen Literatur.
Eneas zumindest bewährt sich in seiner Liebe zu Lavinia erst, als er nach
dem Sieg über Turnus sein defizitäres Kommunikationsverhalten bereut
und die Notwendigkeit einer dialogischen Liebeskommunikation für den
Fortbestand einer Beziehung anerkennt:
‚als schiere als ich den sige gewan,
daz ich zû ir niene reit,
daz was ein michel bôsheit
unde sal mich immer rouwen.
si beginnet mir missetrouwen
von Preisgabe und Nicht-Preisgabe dadurch betont, dass das Motiv der versäumten Preis-
gabe im Liebesgeständnis und damit auch das Motiv von Lavinias Liebeszweifeln in der
narratio gedoppelt wird – als nämlich Eneas nicht sofort nach dem Sieg über Turnus zu
der Geliebten eilt (vgl. für den Eneasroman 332,27-333,40; und für den Roman d’Eneas
V. 9831-9921).
124 Astrid Bußmann
„Dass ich nicht sofort, nachdem ich den Sieg errungen habe,
zu ihr geritten bin,
das war schlecht gehandelt,
und wird mich immer reuen.
sie wird anfangen, mir zu misstrauen,
und schlecht davon denken,
und es ist auch richtig, dass sie das tut.“
Als Paar haben Lavinia und Eneas dadurch die höchste Stufe ihrer Zweisam-
keit erreicht, die folgerichtig ihre Erfüllung findet in körperlicher Nähe, in
direktem mündlichem Gespräch und dem ersten Kuss (338,27-339,28).78
78 Anders als der deutsche Eneas, der sich letztlich doch in Liebe und Liebeskommunikation
preisgibt, indem er bereits vor dem festgesetzten Hochzeitstermin ein Treffen mit Lavinia
arrangiert (336,15-339,28), behält der französische Eneas die einmal festgesetzte Frist bei
(V. 10079-10090). Eine Steigerung der Minnemonologe von Eneas und Lavinia bis zum Minne-
dialog realisiert sich insofern nur im Eneasroman, während die Liebenden im Roman d’Eneas
monologisierend – und damit aus minnekommunikativer Perspektive eben keineswegs als
Paar – aus der Handlung scheiden (V. 9839-10078; die Hochzeit als erstes Treffen wird vom
Erzähler nur knapp referiert [V. 10091-10123]). Veldeke kreiert so eine gegenüber dem Ro-
man d’Eneas deutlich zugespitzte Konzeption von Minne und Minnekommunikation. Partiell
basieren Veldekes Verschiebungen gegenüber dem Roman d’Eneas dabei zwar auf Kürzungen
– er kürzt etwa die Monologe von Eneas und Lavinia (333,15-40 und 334,17-335,18 vs.
V. 9839-10078) – dennoch lassen sich diese Kürzungen, eben weil sie konzeptioneller Natur
sind, nicht lediglich mit HUBY (Anm. 16), S. 135ff., mit der Verwendung einer gekürzten
Vorlage, eben der von HUBY favorisierten Roman-Handschrift G, erklären.
CHRISTOPH HUBER
sel im Willehalm von Orlens des Rudolf von Ems, der damit eine literaturge-
schichtliche Landmarke setzt.6 Dieses kleine Corpus von drei Briefen der
Heldin Amelie und den Antwortschreiben Willehalms auf die ersten bei-
den ist geeignet, die über die Gattung des Briefs im Engeren hinausgrei-
fende Problematik schriftlicher Minnekommunikation aufzurollen.
Der Austausch der fünf Briefe konzentriert sich ganz auf eine bestimm-
te Phase in der Liebeshandlung des Romans.7 Er hält im dritten Buch wäh-
rend eines Turniersommers des soeben zum Ritter geschlagenen Helden,
der sich bewähren muss, die Verbindung zu der entfernten heimlichen Ge-
liebten aufrecht und verflicht und kontrastiert so, wie Franziska Wenzel
ausgeführt hat,8 zwei radikal entgegengesetzte Formen höfischer Kommu-
nikation: die öffentliche, durch Körperpräsenz und sinnliche Erfahrung
(besonders Gesicht, Gehör) imponierende ritterlich-heldische Machtde-
monstration und den durch Boten und Schrift hergestellten Austausch der
einsamen Repräsentanten einer verbotenen Liebe, welche das öffentliche
Geschehen in ihrem Sinne intentional umdeuten. Als handlungsmotivie-
rende Elemente spielen die Briefe im Vergleich zu dem dramatischen
Kampfgeschehen eine geringe Rolle. Doch sind gegen ihre Einschätzung
als isolierte und weitgehend „‚inhaltslose‘ Gebilde“ (BRACKERT)9, als ledig-
6 Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens. Hrsg. aus dem Wasserburger Codex der Fürstlich
Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen von VICTOR JUNK, Berlin 1905. 2.,
unveränd. Aufl. Zürich 1967 (Deutsche Texte des Mittelalters 2; Deutsche Neudrucke: R.
Texte des Mittelalters). Zur literaturgeschichtlichen Innovation BRACKERT (Anm. 1), S. 8f.
7 Übersicht des Briefwechsels in Buch III:
Willehalm Amelie
Turnier von Kamarzi
B1 6277-320
B2 6847-906
Turnier von Puys
B3 7559-616
B4 8025-080
Heiratsabkommen von Amelies Vater mit Avenis von Spanien
Turnier von Kurnoy
B5 8251-286
Dass dem Briefwechsel eine große Bedeutung beigemessen wird, zeigt der Illustrationszyklus
in der Münchener Handschrift (cgm 63). Unter 28 Miniaturen finden sich 4 Halbbilder mit Brief
(fol. 49r, 53r, 60v, 64v.), d. h., vier der fünf Briefszenen werden illustriert. Bildbeschreibungen
bei ELISABETH KLEMM: Die illuminierten Handschriften des 13. Jahrhunderts deutscher
Herkunft in der Bayerischen Staatsbibliothek. Textband, Wiesbaden 1998 (Katalog der illumi-
nierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München 4), Nr. 217 (S. 239-43).
8 FRANZISKA WENZEL: Situationen höfischer Kommunikation. Studien zu Rudolfs von Ems
‚Willehalm von Orlens‘, Frankfurt a. M. u. a. 2000 (Mikrokosmos 57), S. 124-134.
9 BRACKERT (Anm. 1), S. 10.
128 Christoph Huber
10 Vgl. V. 5160-5195.
11 Das gängige fünfteilige Schema umfasst salutatio, captatio benevolentiae, narratio, petitio und con-
clusio. Dazu ECKART CONRAD LUTZ: Rhetorica divina. Mittelhochdeutsche Prologgebete und
die rhetorische Kultur des Mittelalters, Berlin 1984 (Quellen und Forschungen zur Sprach-
und Kulturgeschichte der germanischen Völker 206 NF 82), S. 33-41; Anwendung auf den
literarischen Liebesbrief (lat. 12. Jh.; Wolframs Gramoflanz-Brief, S. 43-46).
Minne als Brief 129
Vaters Wilhelm um Hilfe angehen müsste. Auch die auf den Botenbericht
ausgelagerte Nachricht enthält keine petitio. Im Brief gibt sich Amelie resi-
gniert und formuliert Verzicht und Abschied, doch diese Aussparung er-
folgt nicht ohne Grund: Wilhelm muss die Konsequenzen für sein Han-
deln selbst ziehen und selbständig die Möglichkeit einer Verhinderung der
Trennung konzipieren, was ein Licht auf die Partner-Rollen wirft. Ich kom-
me auf den Punkt zurück.
Wir fragen nun nach dem Ort dieser konkreten Brief-Konstruktion im
Spannungsfeld von Oralität und Literalität und halten zuerst den mündli-
chen Charakter fest. In der mittelalterlichen Briefkommunikation sind bei
dem Fehlen einer institutionalisierten Beförderung das Schreiben und der
Bote nicht zu trennen, ja, man hat die Gewichte pointiert so verteilt, dass
am Brief das Wichtigste der Bote sei. Jedenfalls wird in der Regel die
schriftliche Botschaft mit einer mündlichen kombiniert, und die Rituale der
Überbringung, teils mit Beglaubigung durch ein materiales Zeichen, des
lauten Vortrags bzw. der oft lauten Lektüre des Briefes sind durchweg Ele-
mente des Kanals.12 Insofern ist die Figur des Knappen Pitipas integraler
Bestandteil der Korrespondenz. Die Wertschätzung der Figur bei Amelie
und Willehalm wird durch ihre bevorzugte Behandlung und die Höhe des
Botenlohns zum Ausdruck gebracht;13 sie indiziert auch die außerordent-
liche Wertschätzung des Briefaustausches durch die liebenden Korres-
pondenten. Kulturgeschichtlich ist es also keineswegs verwunderlich, dass
bestimmte Informationen durch Pitipas mündlich überbracht werden, teils
parallel zum Brief oder gar nicht in diesem enthalten.14 Dabei kommt es
jedoch darauf an, ob bestimmte Inhalte der Schrift vorbehalten werden. Es
sind dies vor allem Themen des intimen Liebesdiskurses.
Der vom Boten überbrachte Brief wird deutlich als Verlängerung des
Körpers der schreibenden Person vorgestellt. Als Willehalm den ersten
Liebesbrief erhält, reagiert er entsprechend: Do naic der hohgemůte man Der
schrift und ǒch der vrǒwen sin (V. 6268f.).15 Die Schrift vertritt die Geliebte,
diese ist in Form der Schrift präsent. Willehalms Körperbewegung bei der
Antwort wird genau registriert, sie heftet sich an den Brief und wird gleich-
sam mit diesem übermittelt.16 Amelies Klagebrief ist mit ihren Tränen
begossen.17 Das Material des Briefes ist so die Brücke zwischen den Kör-
pern, es rückt zum Medium körperlicher Berührung auf und erhält fast
fetischartige Qualitäten (vgl. Ärmel, Kamm und Ähnliches im Minnekult).
Die Materialität der Schrift als Mittel der Präsenzstiftung ist in der mittel-
alterlichen Buchkultur geläufig. Das Buch als Datenträger kann die Gegen-
wart des Heiligen Geistes als Instanz der Inspiration repräsentieren. Im
Messritual wird beim Evangelium in der Ehrung des Buches die Gegenwart
Christi selbst angezeigt, ähnlich Willehalms Verneigung vor dem ersten
Schriftstück.
Zu ergänzen ist, dass natürlich auch Pitipas selbst leiblich die Dame
vertritt, wenn er in Kamarzi mit auf das Turnierfeld geht, um Willehalms
Erfolge als Augenzeuge zu erleben;18 oder wenn dieser ihn in einer für das
Liebesverhältnis typischen Wendung als sin selbes lip wahrnimmt (V. 7544;
„wie sein eigenes Leben“). Die Stellvertretung des Absenders durch den
Körper des Boten ist aber eine Selbstverständlichkeit in der älteren oralen
Kommunikation, während gerade für die Liebeskommunikation die Prä-
senzstiftung durch die Schrift (samt ihrem Datenträger) zweifellos den
innovativen Akzent setzt.
Lassen sich nun anderseits auch spezifische Merkmale und Funktionen
der Literarisierung an dieser Korrespondenz festhalten? Bekanntlich be-
steht eine Nähe des Briefes zur Urkunde, die sich in der Wortgeschichte
wie in wichtigen Bereichen der Brief-Praxis niederschlägt.19 Die erwähnten
Sprechakte, die sich immer wieder um die Festlegung der Dienstverpflich-
16 Do schrab er mit siner hant / Ainen brief gen Engellant (V. 6835f.; „Da schrieb er eigenhändig
einen Brief nach England.“); vgl. V. 8019-24: Der ellethafte wigant / Schrab ainen brief mit siner
hant / Der suezen Amalien, / Siner trut amien, / Den solt ir bringen Pitipas. („Der kühne Kämpfer
schrieb eigenhändig einen Brief an die reizende Amelie, seine intime Freundin, den sollte ihr
Pitipas bringen.“) Die Variation der zwei Stellen zeigt, dass die Betonung der Hand nicht nur
vom Reim erzwungen wird, sondern offenbar dem Autor wichtig für seine Darstellung ist.
Vgl. WENZEL (Anm. 8): Der Bote trägt mit dem Brief die Spur der Schreibbewegung Wille-
halms zu Amelie.
17 V. 8287-89.
18 WENZEL (Anm. 8): Pitipas sei das „Sehwerkzeug Amelies“ (S. 128).
19 F.-J. SCHMALE: Artikel ‚Brief, Briefliteratur, Briefsammlungen‘. Teil IV. Lateinisches Mittel-
alter. In: Lexikon des Mittelalters, Stuttgart, Weimar 1999. Bd. 2, Sp. 652-659, hier: Sp. 655f.
VELUSIGs Zuspitzung, der mittelalterliche Brief sei im Gegensatz zur Briefkultur des 18.
Jahrhunderts von der Urkunde ungeschieden und gehöre grundsätzlich zur Domäne offi-
zieller Schriftlichkeit, ist so einseitig nicht haltbar; ROBERT H. VELLUSIG: Mimesis und Münd-
lichkeit. Zum Stilwert des Briefes im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der
Schrift. In: Medien und Maschinen. Literatur im technischen Zeitalter. Hrsg. von THEO ELM
u. a., Freiburg 1991 (Rombach Wissenschaft, Reihe Litterae 15), S. 70-92, hier S. 78.
Minne als Brief 131
[Die Damen, die dem Turnier zuschauen,] setzen untereinander eine Königin
als Richterin über ihre Klagen ein; von der wird in dieser Woche Minnerecht
gesprochen, so wie man juristisch Lehensrecht vor einem Herren klärt.
Und dies schlägt sich in Amelies brieflichen Forderungen mit der subtilen
Unterscheidung von Wilhelms Beziehungen und der Sicherung ihres per-
sönlichen Minne-Rechtsanspruchs nieder. Dabei fällt aber auf, dass die
gesellschaftlichen Regelungen wie die Abmachungen der Liebenden deut-
lich in der Sphäre mündlicher, nicht verbriefter Rechtsbindungen bleiben,
im Unterschied etwa zu einem Typus der Verschriftlichung, der in den
Minnegerichts-Urteilen bei Andreas Capellanus begegnet.20 Die Briefe tra-
gen nicht die Züge von öffentlichen Urkunden, sondern von intimen per-
sonalen Absprachen. So gibt sich Wilhelms eidliche Dienstverpflichtung in
Brief 2 als mündliche Rede zu erkennen (wie sie dem gesprochenen Eid
eignet) und verpflichtet sich nicht auf ein äußerlich objektivierbares Ver-
halten, sondern ein Gefühl:
Und sprich das uf minen ait
Das ich nie sider herzelait
Gewan, es waere da hin swen ich,
Herze lieb, gedaht an dich. (V. 6885-88)
und bestätige das eidlich, dass ich seither nie ein Herzensleid empfand, das
nicht verschwunden wäre, wenn ich, Herzensgeliebte, an dich dachte.
Ein schriftliterarischer Charakter der Briefe ist in erster Linie in der Form zu
finden, für die WULF OESTERREICHER bei seiner terminologischen Klärung
20 Andreae Capellani regii Francorum: De amore libri tres. Hrsg. von E. TROJEL. 2., unveränd.
Nachdr., München 1972. Vgl. das Urteil der Marie de Champagne vom 1. Mai 1174 über die
Streitfrage, ob Liebe in der Ehe möglich sei, S. 152-155.
132 Christoph Huber
Dass der neben ihr sitzende junge Willehalm als Partner das Pendant für
dieses Ideal verkörpert, drückt der Erzähler in üppigen Rekurrenzen aus:
Bi wunsche saz der wunsch al da.
Was der wunsch iendert anderswa?
Nain er, niht! er was alhie,
Da des wunsches crone vie
Bi der hant des wunsches kint. (V. 3787-91)
Beim Wunschtraum saß dort der Wunschtraum. War der Wunsch irgendwo
anders? Nein! Er war hier, wo des Wunsches Krone bei der Hand des Wun-
sches Kind ergriff.
kleineren Exkursen ausweiten (z. B. V. 4381-414 mit Verweis auf Ulrichs von
Türheim Kliges und Minnesanganklängen; oder V. 4456-484 eine Minne-
Adresse mit Bezug auf Walther von der Vogelweide). Rudolf von Ems zettelt
hier einen intertextuell anspielungsreichen Liebesdiskurs in der Art Wolframs
an, wie das später Johann von Würzburg noch forcieren wird. Hinzu kommen
Reflexionen der Kinder in Art von Gedankenmonologen24 und eine Reihe
von Minnegesprächen, die mit einer Belehrung des liebesunkundigen Mäd-
chens durch den erfahreneren Jungen eingeleitet werden (V. 4200-342).
Dramatischer Höhepunkt der Handlungsführung ist das dritte Ge-
spräch bei einem Besuch Amelies bei Willehalm, der durch die Verweige-
rung des Essens aufgrund ihrer Ablehnung in höchster Lebensgefahr
schwebt. Amelie holt den Geliebten durch ihre Zuwendung ins Leben zu-
rück; es kommt zu einem Geständnis und einem Liebesvertrag,25 der die
Minnestufen bis zu tactus und osculum durchläuft und festlegt, wie Willehalm
durch seine ritterliche Bewährung im kommenden Sommer die körperliche
Vereinigung erdienen kann.26 Das entscheidende innere Geschehen wird
durch den Erzähler im Raum des Herzens beschrieben; er verwendet das
Motiv vom wechselseitigen Herzenstausch (V. 4972-75) und sprachspielen-
de Einheitsformeln (V. 4976-84); auf den Schritt in der Handlung folgt
sogleich ein Exkurs über das, Was ainvaltigú minne si (V. 4999-5024. „was
vollkommene Minneeinheit sei“).
Dieser Rückblick zeigt, dass die Liebesbriefe mit ihrer rhetorischen
Form und den gewählten Bildern (vor allem aus der Herzmetaphorik) sich
ganz im Rahmen von anderen, vorher schon entfalteten literarischen Re-
gistern aufhalten.27 Der schriftliche Briefdiskurs unterscheidet sich prinzi-
piell nicht von den Gesprächen und der Erzählerrede, die durchweg die
stilistischen Register einer sprachlich ornamentierten Mündlichkeit zeigen.
24 Z. B. V. 4139-57.
25 Wan ich han gesehen wol / Das du von herzen minnest mich / Benamen, ich wil ǒch minnen dich. (V.
4914-16; „Denn ich habe genau gesehen, dass du mich von Herzen minnst; in der Tat, ich
will dich auch minnen.“).
26 V. 5156-64.
27 Vgl. etwa die Grußformel in Amelies Brief 1: ‚Lieb, aelles liebes blůmen schin / Der sinne und in
dem herzen min, / Lieb, mines liebes wunnen kranz, / Lieb, miner vrǒden sunnen glanz / […] / Lieb
sueze in dem herzen, / Lieb aen laides smerzen‘ (V. 6277-84; „Geliebter, aller Freude Blumenlicht,
von den Sinnen wahrgenommen und in meinem Herzen [wohnend], Geliebter, meiner
Freude Wonnekranz, Geliebter, meiner Freude Sonnenglanz […], Geliebter, süß im Herzen,
freudig ohne Leidschmerzen“) und den Bericht des Erzählers nach der Minneübereinkunft:
Und hůb in sinem herzen sich / Von lieb an soelicher sumerzit / Sunder laides widerstrit / Das alles sin
gemuete / Blůt in so suezer bluete / Das wunneclich bluemelin / Moehtint da gewahsen sin, / Waerint si
gewurzet da. (V. 4928-35; „und es begann in seinem Herzen durch Liebesfreude eine solche
Sommerzeit ohne Störung durch Leid, dass sein ganzes Inneres blühte, in so süßer Blüte,
dass lustvolle Blümchen da hätten wachsen können, hätten sie dort Wurzeln geschlagen.“).
Es stimmen überein die wichtigsten Leitwörter (Liebe, Freude, Leid), die Pflanzen- und
Frühlingsmetaphorik, ohne dass die zweite Stelle die erste kopieren würde.
134 Christoph Huber
28 So das Verständnis des ‚Briefes‘ in der klassischen Rhetorik. W. G. MÜLLER: Artikel ‚Brief‘.
In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von GERT UEDING. Bd. 2, Tübingen 1994,
Sp. 60-76, hier Sp. 61f. Die Wendung „zerdehnte Sprechsituation“ findet sich bei KONRAD
EHLICH: Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis
nach Überlieferung. In: Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunika-
tion I. Hrsg. von ALEIDA ASSMANN/JAN ASSMANN, München 1983, S. 24-43, hier S. 32.
29 Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich. Aus der Gothaer Handschrift hrsg. von ERNST
REGEL, Berlin 1906. Unveränd. Nachdr. Dublin 1970 (Deutsche Texte des Mittelalters 3).
30 1. Sequenz: Hof König Agrants
a) Während des Redeverbots zwischen den Liebenden
Ryal/ Wildhelm Agyle
B1 1933-976
B2 2003-041
B3 2095-133
b) Nach der Werbung Walwans um Aglye
B4 2547-582
B5 2596-622
Ryal muss mit Walwan gegen den König von Marroch in den Krieg ziehen. Es werden
noch
c) Abschiedsbriefe gewechselt.
B6 2876-916
B7 2993-3035
Minne als Brief 135
chens mit König Walwan aus Frigia geschrieben. Die vom Vater eingefä-
delte Trennung Wildhelms von Aglye bleibt ohne Briefverkehr. Als sich die
Liebenden anlässlich der Belagerung von Smirna räumlich wieder näher
kommen, tauschen sie vier Briefe (B8-B11) und in zeitlichem Abstand,
nachdem Wildhelm seinen Konkurrenten Walwan getötet und Aglyes Va-
ter nun Wildonis, den Sohn des Königs von Marroch, zum Schwiegersohn
erwählt hat, zwei letzte Schreiben aus. Ein Brief Aglyes, der Wildhelm die
Geburt seines Sohnes Friedrich mitteilt, fällt ganz aus dem Rahmen der
Liebeskorrespondenz, die man mit Brief 13 als abgeschlossen erachten
kann. So überbrücken Rudolfs Briefe eine Phase der Trennung des Paares,
während Johanns Briefe in räumlicher Nähe die Unmöglichkeit zu reden
kompensieren. Die Aspekte der Präsenz und des quasi-mündlichen Aus-
tauschs gewinnen in dieser Konstruktion an Gewicht. Dennoch kehrt der
Roman auch hier bald mehr den mündlichen, bald mehr den schriftlichen
Charakter der Kommunikation heraus.
Die Institution des Boten wird für nur einen Brieftausch (B8 und B9)
bemüht; der hier mitspielende Vogler transportiert den ersten Zettel in
einem Rosenstrauß versteckt, den anderen unter dem Flügel seines Tieres.
Seine mündliche Botschaft wird gegenüber dem Schriftstück deutlich he-
rabgestuft; über die Liebesangelegenheit, für die er seinen Dienst leistet,
hat er nur vage Vermutungen.31 Da genießt der Bote Pitipas im Willehalm
von Orlens ein größeres Vertrauen seiner Auftraggeber, doch ist auch hier
davon auszugehen, dass er den Inhalt der Schrift nicht kennt und dass die
Liebenden ihre Briefe in der Einsamkeit schreiben und lesen. Damit
schwindet bei Johann von Würzburg der für die historische Briefkultur
relevante Anteil des präsenten und redenden Boten soviel wie ganz, die
Botschaft übernimmt ausschließlich die Schrift. Wenn in B1 und B2 der
Brief selbst in der Ich-Form redet,32 lässt sich das mit dieser Stellvertretung
des Boten durch das Schriftstück verbinden. Wie lax letztlich die Modalität
der Zustellung behandelt wird, zeigt eine aus dem Rahmen fallende Vari-
ante: Bei der Sendung von Brief 6 wird einfach auf das Wissen der Aven-
tiure verwiesen und demonstrativ eine Leerstelle gesetzt.33
Im Übrigen tragen ausgerechnet die Niederschrift und die Lektüre wie
auch der Brieftext selbst Spuren des mündlichen Wortes. Von Aglye
heißt es:
nach der clage [in unartikulierten Seufzern] si einen brief
tiht mit ir munde:
swaz ir von hertzen grunde
laid und an minne was,
daz wart geschriben und auch daz
brievelin geworfen sider
Ryal in dem balle wider. (V. 2588-94 = B5)
Nach der Klage verfasste sie einen Brief mit ihrem Mund. Was sie aus Her-
zens Grunde betrübte und die Minne betraf, wurde niedergeschrieben und
dann das Brieflein mit dem Ball zu Ryal zurückgeworfen.
Oder:
zehant do wart ein brief geschriben
an ain zedel wizze,
der wart mit grozzem vlizze
getihtet von ir munde:
von des hertzen grunde
was da guº tes willen gunst,
der si lert wol die kunst
daz si suezziu wort vant,
diu schraip do willechlich ir hant,
mit gantzem vlizze tet si daz. (V. 6980-89 = B9)
Da wurde sogleich ein Brief auf ein weißes Blatt geschrieben, der wurde mit
großem Eifer von ihrem Mund gedichtet. Aus Herzens Grunde war da die
Gewogenheit des guten Willens, der sie vortrefflich die Kunst lehrte, süße
Worte zu finden. Die schrieb dann bereitwillig ihre Hand nieder, das machte
sie mit vollkommener Hingabe.
32 V. 1936f.; 2003f.
33 der wart, als mich bewisten / der aventuer kuendekait, / geantwuertet der diu kummer lait (V. 2864-66;
„Der wurde, wie mich die klugen Kenntnisse der Handlungsinstanz Aventiure unterrich-
teten, übermittelt an die, die Kummer litt“).
Minne als Brief 137
Offenbar wird das Verfassen des Briefes als einheitliche Handlung begrif-
fen, an der kontinuierlich das Herz, der Wille, die Zunge34 und der Mund
(vielleicht in einer Art lauten Mitsprechens) wie die Hand beteiligt sind. Die
seelische Disposition ‚lehrt‘ auch Kunstfertigkeit (etwa kontrapunktisch
zum gewöhnlichen Schulunterricht?). Jedenfalls muss das Unternehmen mit
Fleiß und Aufmerksamkeit zu Ende gebracht werden. Unmittelbarkeit des
Affekts, Beteiligung von Körper, Wille und Kunstfertigkeit, dazu die Arbeit
der Niederschrift verbinden sich im Amalgam dieser Schreibaktion.
Damit aber nicht genug. Die suezziu Minne persönlich unterstützt die
Schreiberin und soll ihr zuletzt noch raten, wie sie den Brief befördern
könne:
do der brief gemachet was
mit vlizz, als sie diu Minne lert,
do sprach diu kiusche vil gehert:
‚o we, het in der liebe nu!
gib lere suezziu Minne du,
wie schol ich nu behenden
den brief dem vræud ellenden,
dem stæten und dem zieren?‘ (V. 6990-97 = B9)
Als der Brief mit Eifer fertiggestellt war, wie es sie die Minne lehrte, sprach
die Reine, Hocherhabene: ‚O weh, hätte ihn jetzt schon der Geliebte! Lehre
mich, süße Minne, wie soll ich nun den Brief dem Freudeleeren zustellen, dem
Treuen, Hübschen?‘
34 Vgl. doch tihtet da sin zunge (B 6, V. 2862; „doch dichtete da seine Zunge“).
35 V. 6689-93. Vgl. Aglyes Abfassung von B11. Die Schreiberin leitet die Redaktion des Schrift-
stückes mit folgenden begleitenden Worten ein: ‚Ach hertze, lip und sinne! [Aufruf körperlicher
und seelischer Instanzen], / ach minneclichiu Minne [Appell an personifizierte, objektivierte
Liebesinstanz], / gib helf, kunst ze stiur,‘ [auch die Minne als Helferin in der ars scribendi!] / sprach
do diu gehiur, / ‚wie ich im wider schribe / daz im den jamer tribe / uz hertzeclichen laiden!‘ (V. 7497-503;
„‚Ach Herz, Leib und Sinne, ach minnespendende Minne, hilf und steuere die Kunst bei,‘
sagte die Traute, ‚wie ich ihm zurückschreibe, was ihm den Jammer aus herzergreifenden
Leiden vertreibe!‘“).
138 Christoph Huber
Ach Minne, könnte ich nur so dichten, dass ich den Brief an seinem Wert
ausrichten könnte! Ich glaube, dass auf Erden er das Briefdichten noch nie so
nötig hatte!
Doch will ich den Brief Korrektur lesen, damit er keinen Fehler enthält, da
die Liebe mich nicht geheim hält auf dem Sitz (dem Thron?) dieser Minne.
Wenn ihr nun wollt, werde ich euch des Briefes Rede mitteilen, seine Freude
und seine Klage.
In der Perspektive Aglyes, die den Brief rezipierend Korrektur liest, ist so
bereits die Ebenenversetzung zwischen innerliterarisch-privater und außer-
literarisch-öffentlicher Kommunikation angelegt.37
Daneben reflektiert der Erzähler die literarische Öffentlichkeit des fik-
tionalen Privatbriefs noch an zwei weiteren Stellen. Während Aglye den
Brief Wildhelms ueberlas (V. 7415 zu B10; – das kann leise sein oder laut38),
bemerkt der Erzähler über das Geschriebene im mündlichen Gestus:
Was darauf geschrieben war, das sage ich euch mit folgender Erläuterung: Wo
immer tugendhafte Menschen sind, hören sie ihn. Wer je auf Liebe seinen
Sinn richtete, hört gern von Liebe erzählen und Liebende einander ihr Leid
klagen.
Der unmittelbar folgende Brief Aglyes (B11) übt dann auf Wildhelm über
die Worte eine geradezu körperliche Wirkung aus39 und wird vom Erzähler
akustisch dargereicht:
derz gern hoert, so wil ich
sagen ir getihte,
daz sich dar nach rihte
vrawe diu ie lieben man
ze lieber trutschaft ie gewan. (V. 7534-38)
Wenn man es gerne hört, will ich sagen, was sie da dichtete, damit sich daran
jede adlige Dame orientiere, die je einen geliebten Mann zur liebevollen
Freundschaft gewann.
39 mit siner wolgestalten hant / entstrickt er des brieves sloz. / diu Minne braht im do ain schoz / mit des
brieves worten / daz im an allen orten / in dem libe uebte sich (V. 7528-33; „Mit seiner wohlgestalten
Hand öffnete er den Verschluss des Briefes. Die Minne schleuderte da auf ihn ein Geschoss
mit den Worten des Briefes, das in allen Gliedern seines Leibes zu spüren war.“, oder schoz
als ‚Schössling‘?).
140 Christoph Huber
Er las den Brief, an dem ihm klar wurde, wie er handeln sollte. Er glaubte vor
Freuden zu sterben durch die Worte, die er da fand. Das Verlangen nach
Aglie bohrte sich in ihn hinein, in Leib, Seele und alle Glieder.
Wie ein Aphrodisiakum, ein lusterregendes, tödliches Gift werden die ge-
schriebenen Worte körperlich und so auch seelisch aufgesogen. Bei Wild-
helms Antwortbrief (B10) wird das körperliche Ergriffenwerden der
Freundin bei der Zustellung durch den Falken als Gewaltakt ausgemalt.
Aglye hat Wildhelm insinuiert, sie könne seinen Falken durch ein an ihrem
Fenster ausgesetztes Täubchen locken. Dieser Plan wird ausgeführt:
zehant der valk die tuben stiez
daz si gehort noch gesach:
hin und her er si do trach
biz si im in die griffe wart. (V. 7386-89)
Sofort stieß der Falke auf die Taube nieder, dass ihr Hören und Sehen verging.
Hin und her zerrte er sie, bis er sie fest in seinen Fängen hatte.
Freudig die liebe mær erwartend, zieht Aglye die Stange mit den beiden Vö-
geln zum Fenster herein. Sie lässt den Falken die Taube rupfen und ihre
eigenen Hände blutig kratzen, um den Brief unter seinem Flügel hervor-
zuholen.41 Die Aggressivität und Destruktivität von Schrift als materialem
Objekt der Liebeskommunikation im Prozess einer zerstörerisch-beglü-
ckenden Minne wird hier drastisch konkretisiert.
Wenn Johann von Würzburg die Brief-Kommunikation konsequent auf
die je gegenwärtige körperliche und psychische Wirkung hin zuspitzt, das
heißt in der objektivierenden Schrift je neu Gegenwärtigkeit, Präsenz er-
zeugt, betrifft das auch die geschriebenen Inhalte. Rudolf und in seinem
Gefolge Johann entdecken den Brief als literarisches Verfahren, im Minne-
40 Die Verse nur in H und S, Herausgeber zur Stelle: „scheinen aber echt“.
41 en valken si ergramt, / daz tueblin doch erlamt, / des ahte si vil claine: / ir wizzen hende raine, / swa die
der valke ruorte, / da krazte er und fuorte / uz hendel bluotes tropfen; / si lie die tuben ropfen [in der ver-
schränkten Reihenfolge werden Taube und Hand parallel gesetzt.] / und graif mit ir verserten
hant / an in unblúclich biz daz si vant / den brief under dem fluegel sin. (V. 7399-409; „Den Falken
reizte sie auf, und das Täubchen erlahmte, sie achtete wenig darauf. Wo ihre weißen Hände
der Falke zu packen bekam, kratzte er und ließ aus ihnen Blutstropfen quellen. Sie ließ es zu,
wie die Taube gerupft wurde, und tastete den Vogel mit ihrer verletzten Hand unerschro-
cken ab, bis sie den Brief unter seinem Flügel fand.“).
Minne als Brief 141
45 Zu gefälschten und intriganten Briefen ERNST (Anm. 1), S. 320-324: Chrétien de Troyes:
Lancelot; Heinrich von Veldeke: Eneas; Mai und Beaflor. Zur Störung der Boten-Kommunika-
tion HORST WENZEL: Boten und Briefe. Zum Verhältnis körperlicher und nichtkörperlicher
Nachrichtenträger. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis
im Mittelalter. Hrsg. von HORST WENZEL u. a., Berlin 1997 (Philologische Studien und
Quellen 143), S. 86-105; hier S. 111-104. Gefälscht auch im Wilhelm von Österreich, Mahmets
Brief (V. 11044-094), s. DIETL (Anm. 30), S. 91f.
46 Vgl. zu B11 V. 7508f.: ain niwe zedel langen / nam si uz ainem schrin. („Ein neues großes Blatt
nahm sie aus einer Lade.“) Zum gehobenen Anspruch die Minne-Anrede vor der Abfassung
desselben Briefes V. 7497-99 (zit. oben. Anm. 35).
47 Deutlich in der Phase der Belagerung von Smirna B8 - B11.
Minne als Brief 143
Wie einmütig auch unser Sinn in einer einzigen Einheit verschlossen ist, so
kann doch keine Liebschaft [hier aber mit dem Ziel einer institutionalisierten
Beziehung] daraus werden.
Nimm jetzt alles zurück, was ich von dir zu Lehen habe! Ich will mein Leben
verlieren aus Liebe zu dir. Ich weiß nichts anderes, meine Seele, worin ich dir
weiter dienen kann.
Wildhelm verlegt seine ganze geistige Existenz in die Person Aglyes, hat
aber nicht die Kraft, daraus eine positive Zukunftsperspektive zu schöpfen.
Auch er imaginiert zusammen mit dem Verlust der Geliebten an einen
anderen Ehemann den Liebestod.
Nun liegen hier die Briefe den hoffnungsvolleren Gesprächen voraus,
werden aber erst danach von den Partnern rezipiert und dem Publikum
mitgeteilt. Sie sind also eigentlich überholt, was einen Rückstand brieflicher
Mitteilung gegenüber dem Stand des Seelendramas und eine Grenze der
Leistungsfähigkeit des Mediums ‚Brief‘ anzeigen könnte. Neue Weichen
sind bereits gestellt, die Zwangsehe wird später nicht vollzogen, die Lie-
benden finden schließlich doch zueinander. Im weiteren Horizont aber
Schrift ab, so dass über diesen Kanal der Innenraum der Liebe geformt und
vertieft werden kann. Im Wechselspiel der Seelenkräfte macht sich auch
eine intellektuelle, reflexive Seite stark, die sich aber noch nicht abspaltet,
sondern getragen wird vom psychophysischen Gesamterlebnis der Minne,
die als personifizierte Instanz agiert und stellenweise mit einem überindi-
viduellen Naturgesetz zusammengeht. Minne ist zugleich Vermittlungs-
instanz einer kunstgerechten Rhetorik der Liebe und erfahrene Gegenwart
mit transgressiven, anarchischen Zügen.
Im Raum der Intimität scheinen so Unmittelbarkeit der Affekte und
Intellekt keine Gegensätze zu sein, ebenso wenig Alleinsein und Hingabe.
So ist für die intime Minnekommunikation zumindest in den besprochenen
Texten eine Verschiebung von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit und
eine Abkoppelung vom Körper nicht festzustellen. Es gibt da keine lineare
Entwicklung, der Gegensatz und die Spannung zwischen den Kommuni-
kationsformen bleiben bestehen. Das hat zweifellos mit der proteischen
Textform ‚Brief‘ zu tun. Literarische Möglichkeiten der Selbstbespiegelung
und wechselseitigen Introspektion deuten sich bereits an, die später, etwa
im 18. Jahrhundert, in den Vordergrund treten und die Qualitäten der Prä-
senz in der Briefkommunikation stark machen.50 So hat man dem Brief,
besonders dem literarisch komplexen Liebesbrief im Langzeitprozess der
Verschriftlichung Sonderkonditionen einzuräumen.
50 Vgl. den substantiellen Theorieteil des Lexikonartikels von W. G. MÜLLER (Anm. 28), hier
Sp. 61-65.
MARGRETH EGIDI
1 Vgl. z. B. WERNER RÖCKE: Liebe und Schrift. Deutungsmuster sozialer und literarischer
Kommunikation im deutschen Liebes- und Reiseroman des 13. Jahrhunderts (Konrad Fleck:
Florio und Blanscheflur; Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich). In: Mündlichkeit –
Schriftlichkeit – Weltbildwandel. Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von
Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von DEMS./UR-
SULA SCHAEFER, Tübingen 1996 (ScriptOralia 71), S. 85-107.
2 JACQUES DERRIDA: Falschgeld. Zeit geben 1. Aus dem Französischen von ANDREAS KNOP/
MICHAEL WETZEL, München 1993 (frz.: Donner le temps 1: La fausse monnaie, Paris 1991);
DERS.: Wenn es Gabe gibt – oder: ‚Das falsche Geldstück‘, in: Ethik der Gabe. Denken nach
Jacques Derrida. Hrsg. von MICHAEL WETZEL/JEAN-MICHEL RABATÉ, Berlin 1993 (Acta
humaniora), S. 93-136.
148 Margreth Egidi
II.
Im höfischen Minnediskurs, so meine Vorannahme, ist es gerade die Rela-
tion von ökonomischer und anökonomischer Logik, die je neu verhandelt
wird. Dass dem so ist, wird schon an den bevorzugten Referenzialisierun-
3 Vgl. BERNHARD WALDENFELS: Das Un-Ding der Gabe. In: Einsätze des Denkens. Zur Phi-
losophie von Jacques Derrida. Hrsg. von HANS-DIETER GONDEK/BERNHARD WALDENFELS,
Frankfurt a. M. 1997, S. 385-409, hier S. 405.
4 MARCEL MAUSS: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaf-
ten. Mit einem Vorwort von E.E. EVANS-PRITCHARD, übers. von EVA MOLDENHAUER,
Frankfurt a. M. 41999 (frz.: Essai sur le don, Paris 1950).
5 Hierzu und zum Folgenden der grundlegende Aufsatz von WALDENFELS (Anm. 3). Zu Der-
ridas Gabenbegriff vgl. ferner weitere Beiträge in: GONDEK/WALDENFELS (Anm. 3), und in:
WETZEL/RABATÉ (Anm. 2); ULLA HASELSTEIN: Poetik der Gabe. Mauss, Bourdieu, Derrida
und der New Historicism. In: Poststrukturalismus – Herausforderung an die Literaturwissen-
schaft. DFG-Symposium 1995. Hrsg. von GERHARD NEUMANN, Stuttgart 1997, S. 255-272.
6 DERRIDA: Falschgeld (Anm. 2), S. 22f.
7 WALDENFELS (Anm. 3), S. 389 (Hervorhebung im Original).
8 DERRIDA: Falschgeld (Anm. 2), S. 24f.
9 Auch wird hier ausgeblendet, dass das Paradigma in Derridas Denken der Gabe der Text ist;
vgl. HASELSTEIN (Anm. 5), S. 286-288.
Schrift und ‚ökonomische Logik‘ im höfischen Liebesdiskurs 149
10 Vgl. RAINER WARNING: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. In: Deutsche
Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von
CHRISTOPH CORMEAU, Stuttgart 1979, S. 120-159.
11 Auf das Verhältnis von ökonomischer und anökonomischer Logik in der Idylle wie im ge-
samten Flore-Roman gehe ich ausführlicher im Rahmen meiner Habilitationsschrift ein. – Zu
Flore und Blanscheflur vgl. insbesondere ELISABETH SCHMID: Über Liebe und Geld. Zu den
Floris-Romanen. In: Der fremdgewordene Text. Festschrift für Helmut Brackert zum
65. Geburtstag. Hrsg. von SILVIA BOVENSCHEN u. a., Berlin, New York 1997, S. 42-57, und
MICHAEL WALTENBERGER: Diversität und Konvention. Kulturkonstruktionen im französi-
schen und deutschen Florisroman. In: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittel-
alters. Hrsg. von WOLFGANG HARMS/STEPHEN JAEGER/HORST WENZEL, Stuttgart 2003,
S. 25-43; ferner JUTTA EMING: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und
französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. bis 16. Jahrhunderts, Berlin/New
York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 39 [273]).
12 Flore und Blanscheflur. Eine Erzählung von Konrad Fleck. Hrsg. von EMIL SOMMER, Quedlin-
burg/Leipzig 1846 (Bibliothek der gesammten deutschen Nationalliteratur von der ältesten
bis auf die neuere Zeit 1/12).
150 Margreth Egidi
13 Sommer konjiziert ist, gegen die Handschriften BH, die beide was haben, während Golther
die Konjektur wieder rückgängig macht (Tristan und Isolde und Flore und Blanscheflur. Hrsg. von
WOLFGANG GOLTHER, 2. Teil, Stuttgart o.J. (Deutsche National-Litteratur 4/3), Nachdruck
Tokyo 1973, S. 233-470.)
14 mahte BH (Golther); machet Sommer.
15 mahte B (Golther); tete Sommer.
Schrift und ‚ökonomische Logik‘ im höfischen Liebesdiskurs 151
An den buoch von minnen lernen sie zugleich mit dem Umgang mit Schrift
die der Minne eigene Gesetzmäßigkeit. Dabei wird zwar die Unbegreiflich-
keit ihrer Willkürherrschaft suggeriert, doch zielt die Passage gerade nicht
auf die das Begreifen übersteigende Negation von Ordnung: Die Willkür
der Minne erscheint als Gegenstand des Wissens, als vermittelbar; mit der
Diskursivierung hebt sich ihr anökonomischer Charakter, der ja auch im
Eingreifen des Liebesgottes und in seiner Gabe aufscheint (s. o.), auf.
Mittags begeben sich die Kinder in einen Baumgarten. Der frühlings-
hafte locus amoenus bildet den Rahmen für einen Minnedialog (V. 777-801).16
Konstitutiv für ihn ist die Reziprozität der Bekenntnisse und ihrer Sprache
wie auch sein betont höfisch-formvollendeter Habitus, der sich schon in
den Anreden zum Ausdruck bringt (genâde, frou künginne; Flôre süezer amîs;
V. 777 und 787). Wechselseitigkeit und Symmetrie bestimmen auch die bei-
derseitige Artikulierung von ungemach und kumber (V. 785 und 793). Nach
der Mahlzeit in die Schule zurückgekehrt, beginnen sie, ihre Fertigkeiten
im Umgang mit Schrift systematisch vervollständigend, zu dichten:
16 Den Minnedialog (V. 777-801) hat der altfranzösische Conte de Floire et Blancheflor nicht (Le
conte de Floire et Blancheflor. Hrsg. von JEAN-LUC LECLANCHE, Paris 1983 [CFMA 105]); hierzu
und zur Bearbeitungstendenz bei Fleck generell vgl. KAREN PRATT: Rhetoric of Adaption.
The Middle Dutch and Middle High German Versions of Floire et Blancheflor. In: Courtly
Literature: Culture and Context. Selected papers from the 5th Triennial Congress of the
International Courtly Literature Society. Dalfsen 9-16 August 1986. Hrsg. von KEITH BUS-
BY/ERIK KOOPER, Amsterdam/Philadelphia 1990 (Utrecht Publications in General and
Comparative Literature 25), S. 483-497.
152 Margreth Egidi
schmerz außer als rhetorische Größe19 – je nach Lesart – nur sehr beiläufig
oder gar nicht Erwähnung (V. 806).20 Und die eigenen Gedichte lassen den
Leidaspekt ganz aus. In wechselseitigen Spiegelungen wird die Trennlinie
zwischen Liebe und und ihrer literarischen Diskursivierung unscharf.
Im Kontext von Liebesökonomie und Schriftlichkeit verdienen ferner die
goldenen Griffel der Liebenden besondere Erwähnung – sind sie doch weit
mehr als kostbare Schreibwerkzeuge. Beim erzwungenen Abschied werden
sie zu Liebespfändern, die die Kinder tauschen.21 Als solche sind sie Zeug-
nisse der unauflösbaren Liebesbindung (Flore spricht den Griffel später an
als urkünde [...] / der liebe die wir hâten; V. 2382f.; „Zeugnis [...] der Liebe, die
wir miteinander erlebten“) und bezeugen das wechselseitige Treuever-
sprechen. Noch auf andere Weise symbolisieren sie Reziprozität und Sym-
metrie der Liebe: in ihrer Funktion als Selbstmordwerkzeug (V. 1244-1249;
2388-2397). Noch vor dem Pfändertausch versucht Blanscheflur, sich mit
ihrem Schreibgriffel das Leben zu nehmen; danach – mit demselben Griffel
also – tut Flore es ihr gleich, als er wieder an den väterlichen Hof zurück-
kommt und von Blanscheflurs angeblichem Tod erfährt.
In den verschiedenen Fassungen des Stoffs variiert die Erzählung des
Selbstmordversuchs auffällig: So ist in zwei weiteren Versionen die Symbo-
lik der Griffel deutlich abgeschwächt. In einer niederdeutschen Floris-Dich-
tung ist es schlicht ein Schwert, mit dem der Protagonist versucht, sich das
Leben zu nehmen.22 Und der spätmittelalterliche Prosaroman Florio und
Bianceffora,23 der eine andere Stofftradition repräsentiert, bietet, allerdings in
einem anderen Handlungskontext, wieder eine eigene Lösung: Florio ver-
wirft nach einem Traumgesicht seine Selbstmordabsichten und nutzt den
Griffel, statt sich damit umzubringen, um einen Brief an seine Geliebte zu
schreiben. Bei Fleck dagegen verdichtet sich in den Griffeln aufgrund ihrer
unterschiedlichen Funktionen – Schreibgeräte, Liebespfänder und Selbst-
mordwerkzeuge – symbolisch die enge Verflechtung von Liebe und Kom-
19 Flore: ,wan des lîd ich ungemâch‘; Blanscheflur: ,joch solt ein kint sîn ungewon / solhes kumbers als ich
trage‘ (V. 785 u. 792f.); (‚denn ich leide deshalb großen Schmerz‘; ,einem Kind sollte doch
solches Leid, wie ich es ertrage, unvertraut sein‘).
20 daz heiz ich liep âne leit Sommer (wohl mit B; „das nenne ich Freude ohne Leid“); Das hies in
liep und leit H („das war ihnen Freude und Leid“); Golther konjiziert: daz was in liep âne leit
(„[...] Freude ohne Leid“).
21 Eine Szene, die sich im französischen Florisroman nicht findet: Im Conte wird von Floire nur
das Geschenk eines Griffels von Blancheflor rückblickend kurz erwähnt (V. 999-1003), ohne
dass es sich dabei um einen wechselseitigen Tausch von Pfändern handelt.
22 Vgl. SOMMER in den Anmerkungen seiner Ausgabe (Anm. 12), S. 292 (zu V. 1244); zu der
niederdeutschen Dichtung ebd., S. XVIf.
23 Florio und Bianceffora. Ein gar schone newe hystori der hochen lieb des kuniglichen fursten Florio vnd seyner
lieben Bianceffora. Nachdruck der Ausgabe Metz 1500, mit einem Nachwort von RENATE NOLL-
WIEMANN, Hildesheim, New York 1975 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken A/3).
Schrift und ‚ökonomische Logik‘ im höfischen Liebesdiskurs 155
munikation über Liebe;24 zugleich verweisen sie, insofern sie für Reziprozi-
tät und Symmetrie stehen, auf die ökonomische Ordnung der Liebe.
III.
In der ‚Rahmenhandlung‘ von Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyr-
land 25 erleidet der Protagonist in Pentapolis Schiffbruch und gelangt mit-
tellos an den Hof von König Altistratis. Von Anfang an wird hier das
Thema von Besitz und Besitzlosigkeit sehr exponiert und mit der Liebes-
thematik in Verbindung gebracht. Insbesondere ist die Nähe von höfischer
Liebe und Freigebigkeit, auf die Haferland hingewiesen hat, hier von zen-
traler Bedeutung.26
Als Lucina, die Tochter des Königs, Apollonius erblickt, lässt Minne sie
sogleich in Liebe zu ihm entbrennen. Diese Liebe äußert sich u. a. in groß-
zügigen Geldgaben an den Fremdling. Zunächst regt allerdings der König
dies an, ein Vorschlag, der ihr willkommen ist:27
‚Nu soltu, liebe tochter mein,
1735 Püssen im die armut sein.
Ich laß dich im geben was du wildt,
Das mich sein nummer pevildt.
Gib im was dir wol pehage,
Ergetz in seiner klage.‘
1749 Das gefiel der rainen art wol:
‚Ich gib im geren, seyt ich soll.‘
püssen und ergetzen – das sind Stichworte, die auf eine Wiedergutmachungs-
logik verweisen, denn das edle Äußere und Gebaren des Apollonius lassen
keinen Zweifel daran, dass er seinen Verlust unverdienterweise erleidet, wie
im Folgenden noch deutlicher wird. Im weiteren Verlauf ergreift Lucina
selbst die Initiative. Wie bei der vorausgehenden milte-Szene vollzieht sich
das Geben auch diesmal im harmonischen Zusammenspiel von Vater und
Tochter – er gibt seine Zustimmung, sie bestimmt die Höhe der großzügi-
gen Gabe; milte ist gleichermaßen Ausdruck fürstlicher hövescheit wie höfi-
scher Liebe:
Sy sprach: ‚sol ich Appolonio
Geben?‘ der kunig sprach do
‚Ja, vil schone dochter mein.
Was du wilt, das sol sein.‘
1810 Do sprach die vil märe
Zu dem Tyrlandere:
‚Nempt, her Tyrus, nu zestund
Rotes goldes zway tausend pfund
Und silberis vierhundert.‘
1815 Die geste alle wundert
Das sie hette so milte handt.
Apollonius erweist sich als dankbar und preist die milte des Königs und
seiner Tochter. Die fürstliche Freigebigkeit, auf die hier Bezug genommen
wird, ist, wie mir scheint, keineswegs per se eine ‚totale Gabe‘, sondern ein
Grenzphänomen, das z.B. aufgrund der Zirkulation von êre zur Ökonomi-
Schrift und ‚ökonomische Logik‘ im höfischen Liebesdiskurs 157
sierung tendiert. Auch auf andere Weise kann der Gabencharakter aufge-
hoben werden, wie der Beginn des Apollonius zeigt: Dort werden Minne
und milte ebenfalls miteinander in Verbindung gebracht. Mit Bezug auf die
Negativfigur des Antiochus tadelt der Erzähler Frau Venus:
Ich wil euch straffen doch ain tail;
335 Wan ir seyt gar ze milte:
Ir furett an ewrm schilte
Ain gebend auff stende hant.
Ewr milt wird da mit geschant
Das ir den swachen werett
340 Der susser mynne nie wardt wertt.
Der Begriff der milte wird hier in übertragenem Sinne verwendet; auffällig
ist dabei die Versprachlichung: Die aufgereckte spendende Hand, Zeichen
der Freigebigkeit, wird zum Wappen der Minne. Die Kritik am unter-
schiedslosen und verschwenderischen Geben der Frau Venus – das wäre ja
die totale Gabe – ist genau analog zur Kritik des Strickers an unterschieds-
loser fürstlicher milte,28 die vielmehr – wie hier die Minne – Unterschiede
machen, nämlich ihre Gaben nach Wert und Verdienst zuteilen soll. Das
rückt in die Nähe einer Relation von Leistung und Lohn und impliziert
daher eine Ökomisierung der Gabe.29
Am Verhältnis zwischen Altistratis, Lucina und Apollonius bestätigt
sich das, wie auch in Details der Handlung deutlich wird. So fordert der
König auf Bitten seiner Tochter den Gast auf, ihr Unterricht im Harfen-
spiel zu erteilen; er betont dabei den Nutzen, den dieser davon haben wür-
de, und den Wiedergutmachungsgedanken (V. 1922-1924):
28 Vgl. PETER STROHSCHNEIDER: Fürst und Sänger. Zur Institutionalisierung höfischer Kunst,
anläßlich von Walthers Thüringer Sangspruch 9, V [L. 20, 4]. In: Literatur und Macht im
mittelalterlichen Thüringen. Hrsg. von ERNST HELLGARDT/STEPHAN MÜLLER/PETER STROH-
SCHNEIDER, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 85-107, bes. S. 98f.; HEDDA RAGOTZKY: Die kunst
der milte. Anspruch und Funktion der milte-Diskussion in Texten des Strickers. In: Gesellschaft-
liche Sinnangebote mittelalterlicher Literatur. Mediävistisches Symposium an der Universität
Düsseldorf. Hrsg. von GERT KAISER, München 1980 (Forschungen zur Geschichte der älteren
deutschen Literatur 1), S. 77-92 (Textabdrucke S. 93-99; Diskussionsbericht S. 100-111) (zu
den beiden Bispeln Die Herren von Österreich und Falsche und rechte Milte des Strickers).
29 Vgl. STROHSCHNEIDER (Anm. 28), S. 99.
158 Margreth Egidi
Der zweite Graf sucht das zu überbieten – mit leicht geblümter Rede und
der Erhöhung der Summe:
‚Spiegel aller salikait!
2015 Lucina, freudenreiche mait!
Meiner selden obedach!
Viol, rosen, lilien schmach!
[...]
Schrift und ‚ökonomische Logik‘ im höfischen Liebesdiskurs 159
Der Bote soll Apollonius sein; er bringt die versiegelten Briefe zu Lucina,
die sich im Burginneren aufhält. Die räumliche Distanz, die hier mit der
Innenraum-Außenraum-Differenz angedeutet wird, hat keine weitere
Funktion als die, eine ‚zerdehnte‘ Kommunikationssituation herzustellen.
Zusammen mit den Werbungsbriefen der Grafen lässt der König seiner
Tochter durch Apollonius eine mündliche Botschaft ausrichten: Sie möge
160 Margreth Egidi
sich überlegen, wen sie zum Ehemann haben wolle. Sie jedoch funde in nicht
geschriben dar an / Den sy wolte zu manne han (V. 2063f.; „den Namen dessen,
den sie zum Mann haben wollte, fand sie dort nicht“): Der, den sie haben
will, steht ja vor ihr. Konsequenterweise sucht Lucina die face-to-face-Situati-
on, die ja durch die Botenfunktion entstanden ist, umzulenken, indem sie
ihr Gegenüber in einer Weise anspricht, die seine Funktion als Bote und
Stellvertreter des Absenders, ihres Vaters, ignoriert: Sie fragt Apollonius, ob
es ihm recht wäre, wenn sie einen der drei Grafen wählen würde, und ver-
sucht damit, seine Botenfunktion aufzulösen. Doch der Versuch, die Minne
zwischen ihnen zu thematisieren, misslingt, denn mit respektvoller Höflich-
keit und seiner Aufgabe treu bleibend bejaht er die Frage (Ja, frawe, es gefellt
mir wol / Und pillich wol gefallen soll, / Wann ir seyt euwres mutes frey; V. 2069-2071;
„‚Ja, Herrin, es ist mir recht, und das muss es auch, denn Ihr seid in Eurer
Entscheidung frei‘“). Als Stellvertreter des Absenders macht sich der Bote
Apollonius weiterhin die Position des Königs zu eigen, der die Entschei-
dung seiner Tochter in jedem Fall akzeptieren will (V. 2059f.). Lucina nimmt
daraufhin, um ihrem Vater zu antworten, ein Wachstäfelchen
2080 Und schraib dar an ir wyderpott
Synniclich und ane spot
Mit vil schonen spruchen:
‚Ich will den scheffpruchen,
Dem das gelucke hat gelogen
2085 Und das wilde mer petrogen.‘
Das Täfelchen bringt Apollonius wieder zum König zurück, der, den Wil-
len seiner Tochter sehr wohl begreifend, es ihm selbst zu lesen gibt. Errö-
tend gibt Apollonius zu, dass ihm der, den Lucina meint, namentlich be-
kannt ist. Wieder wird er also an der Botenfunktion vorbei unmittelbar
miteinbezogen.
Beide Kommunikationsversuche – die Briefwerbung der Grafen und
das Wachstafelbekenntnis Lucinas – lassen sich systematisch miteinander
vergleichen, und zwar hinsichtlich der ‚Logik der Liebe‘, der Funktion der
Schrift und der Kommunikationsstruktur.
Der Zusammenhang von Liebe und ‚Ökonomie‘ kann wohl kaum deut-
licher zum Ausdruck kommen als in der Werbung der Grafen. Der paro-
distische Effekt, der aus der unmittelbaren Abfolge von Frauenpreis-For-
meln und der Nennung konkreter Geldsummen entsteht, impliziert aber
Schrift und ‚ökonomische Logik‘ im höfischen Liebesdiskurs 161
mit seiner Tocher, während Apollonius vor dem Burgtor wartet, bis er ihn
schließlich hereinholen lässt und ihm in Gegenwart seiner Tochter deren
Zuneigung offenbart. Vom Ende her betrachtet wirkt diese Struktur wie
ein mehrfacher Aufschub der face-to-face-Interaktion zu Dritt, ein Aufschub,
der ohne das Medium der Schrift nicht möglich wäre. Es entsteht also ein
präziser Rhythmus von Verschiebungen zwischen den drei möglichen
Konstellationen, bis gleichsam das Rad einmal herumgedreht ist und alle
drei sich gegenüberstehen – das ist der Punkt, an welchem das Paar zusam-
mengegeben wird und dieser Erzählstrang zum Abschluss kommt. Mir
scheint, dass hier eine ähnliche Struktur sichtbar wird wie bei der oben
erwähnten komplexen Form ökonomischen Denkens, für die ebenfalls
Verschiebungen und Weiterverweisungen statt unmittelbarer Vergeltung
charakteristisch sind. In beiden Fällen schließt sich über Umwege und Auf-
schübe zuletzt der Kreis.
Unterschiedliche Formen der Liebesökonomie – die Forcierung unmit-
telbarer Vergeltung einerseits, komplexe Strukturen der ökonomischen Lo-
gik andererseits – werden, so das Fazit zum Apollonius, mit unterschiedli-
chen Strukturen schriftlicher Kommunikation in Verbindung gebracht;
dabei wird die erfolgreiche Form der Liebesökonomie, die ‚höfischer Rezi-
prozität‘ entspricht,33 im Rahmen einer Kommunikationsstruktur venti-
liert, in der das Medium der Schrift entscheidendes Eigengewicht erhält
und Verschiebungen das Verhältnis von face-to-face-Situation und zerdehn-
ter Kommunikation prägen.
Eine andere Problematik entfaltet der Flore-Roman am Verhältnis von
Schrift und Liebe, der in Szenen, die deutlich von Reziprozität und Aus-
gleich geprägt sind und in denen Liebe als enger Tauschzirkel gedacht ist,
vor allem die literarische Repräsentation der Liebe im Medium der Schrift
thematisiert. Dabei war zu beobachten, dass quer zur Abfolge vom unmit-
telbaren Erleben bis hin zur eigenen Literaturproduktion, die eine zuneh-
mende Distanznahme und Reflexivität suggeriert, zugleich eine andere
Tendenz entsteht, in der sich die Differenz zwischen Liebe und ihrer Re-
präsentation verringert. Schrift erhält somit die widersprüchlichen Impli-
kationen einerseits der Ermöglichung von Reflexivität und andererseits der
Aufhebung von Distanz.
In jenem Teil des Buches meiner Erinnerung, vor welchem man nur wenig
würde lesen können, findet sich eine Überschrift, die besagt: Incipit vita nova
[Hier beginnt das neue Leben]. Unter dieser Überschrift finde ich diejenigen
Worte geschrieben, welche ich in diesem Büchlein nachzuzeichnen gedenke;
und wenn auch nicht alle, so zumindest ihren Sinngehalt.2
1 Der Text wird, unter Angabe der Kapitel statt der Seitenzahlen, zitiert nach der Ausgabe:
Dante Alighieri: Vita nuova. Introduzione di EDOARDO SANGUINETI. Hrsg. von ALFONSO
BERARDINELLI, Milano 121995.
2 Dante Alighieri: Vita Nova. Das Neue Leben. Übersetzt und kommentiert von ANNA COSERIU
und ULRIKE KUNKEL (der italienische Text folgt der Ausgabe von MICHELE BARBI: La Vita
Nuova di Dante Alighieri, edizione critica, Florenz 1932. Die deutsche Übersetzung ist eine
vollständig neubearbeitete und revidierte Fassung der Übertragung von KARL FEDERN, Ber-
lin 1921), München 1988.
166 Barbara Kuhn
nicht allein das Buch selbst, sondern zugleich viele Türen zu diesem Buch
öffnet. So führt es nicht nur mit dem Buch der Erinnerung und den darin
geschriebenen Worten die im Mittelalter so beliebte Buchmetapher ein; vor
allem verweist dieser Anfang mit der Erwähnung der sentenzia auf die gro-
ße Rolle allegorischer Literatur in jener Zeit und umreißt er mit den dem
Ich zugeschriebenen Aufgaben dessen vielfältige Funktionen im und für
den folgenden Text. Dieses Ich führt sich nicht nur als Leser des von einem
anderen Schreiber geschriebenen Buches seiner Erinnerung ein, in dem es
zugleich Figur und Erzähler ist; es wählt zudem aus dem Vorgefundenen
aus, was es abschreibt, und gibt dem Leser des libello zusätzlich oder an
Stelle des Erinnerten dessen Deutung, fungiert also als Kopist und Kom-
mentator in einem. Um die Gewichtung dieser unterschiedlichen Funktio-
nen, mit anderen Worten, um die Frage, ob der Text primär allegorisch oder
primär autobiographisch zu verstehen sei, kreist ein gut Teil der Forschung
der vergangenen Jahrzehnte; sie soll jedoch hier weniger im Zentrum ste-
hen als die Tatsache, dass mit diesem Incipit die Vita nuova von Anfang an
unter das ‚Zeichen der Schrift‘ gesetzt wird, unter dem daher auch der
erste Teil dieses Beitrags steht.
Gleichzeitig gilt jedoch, dass die zahlreichen Gedichte, die in diesen
Text eingehen, undenkbar sind ohne die höfische Liebesdichtung vor allem
der Trobadors und der Sizilianer, eine Dichtung mithin, die wesentlich an
den Körper gebunden ist und gekennzeichnet durch die Simultaneität von
Präsentation und Rezeption, von „Wahrnehmung des Körpers“ oder der
Stimme und „Erfahrung des präsentierten Sinns“, wie GUMBRECHT formu-
liert.3 Weil diese Dichtung nicht allein in den gewählten lyrischen Formen
wie insbesondere Sonett und Kanzone Gegenwärtigkeit erlangt, sondern
ebenso in der Sprechhaltung des Ich und mehr noch in Topoi wie dem
Gruß, der Geheimhaltung, der Verspottung und Demütigung des Lieben-
den, dem Gerede der anderen, stellt sich die – zweite – Frage, wie solche
‚Körperzeichen‘ sich im libello manifestieren. Der dritten Frage, wie dann
aber Körper und Schrift koexistieren, geht der letzte Teil des Beitrags nach,
denn die Vita nuova macht schnell deutlich, dass die für das Mittelalter
charakteristische „Situation der Bi-Medialität“ nicht unbedingt ein friedli-
ches „Nebeneinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, von körperge-
bundener und schriftgebundener Kommunikation“4 impliziert; vielmehr
3 HANS ULRICH GUMBRECHT: Beginn von „Literatur“ / Abschied vom Körper? In: Der Ur-
sprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und
1650. Hrsg. von GISELA SMOLKA-KOERDT/PETER M. SPANGENBERG/DAGMAR TILLMANN-
BARTYLLA, München 1988 (Materialität der Zeichen), S. 15-50, hier S. 25.
4 HORST WENZEL: Einleitung. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schrift-
gedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von HORST WENZEL, Berlin 1997 (Philologische Studien und
Quellen 143), S. 9-21, hier S. 11.
Körperzeichen, Zeichenschrift, Schriftkörper 167
5 DOMENICO DE ROBERTIS: Storia della poesia e poesia della propria storia nel XXII della Vita
Nuova. In: Studi danteschi 51 (1978), S. 153-177, hier S. 154.
6 JEAN ROUSSET, der sich ausschließlich mit der „scène de première vue“ in Kapitel II und III
befaßt, gilt die Vita nuova als „prototype insurpassable de la rencontre sans approche, de
l’apparition qui demeurera jusqu’au bout une vision à distance. […] Ce récit a ceci d’unique
sans doute dans la longue série des face à face fondateurs, qu’il se construit sur le paradoxe
de l’apparition et disparition, vérifiable pour chacun des deux partenaires. Osera-t-on dire
qu’on assiste à quelque sublime jeu de cache-cache? La loi du secret propre à l’amour cour-
tois contraint l’amant à s’effacer, à se taire, renonçant à la communication directe; tout se
passe comme si, ne pouvant supporter la présence qui lui est révélée, il tentait, pour mieux
se consumer dans sa fonction de poète, de se rendre invisible sur le plan de la fiction pour
ne plus exister que dans la narration qu’il en fait, par le détour de la mémoire et des sonnets
qui multiplient le long du récit les pauses méditatives; ainsi dispose-t-il des écrans devant une
lumière qui l’aveugle.“ JEAN ROUSSET: Leurs yeux se rencontrèrent. La scène de première vue
dans le roman, Paris 1981, S. 137-140.
Körperzeichen, Zeichenschrift, Schriftkörper 169
In Gedanken an das, was mir erschienen war, nahm ich mir vor, es viele wissen
zu lassen, die zu jener Zeit berühmte Minnedichter waren. Und weil ich mir
damals schon von selbst Einsicht in die Kunst, in Reimen zu sprechen, ver-
schafft hatte, nahm ich mir vor, ein Sonett zu machen, in welchem ich alle
Getreuen Amors grüßte; und indem ich sie bat, mein Traumgesicht zu beur-
teilen, schrieb ich ihnen das, was ich in meinem Schlafe gesehen. Und ich
begann also dieses Sonett, das anfängt: A ciascun’ alma presa.
Die Wendung an die berühmten Dichter, der Bezug zur bereits geübten
Dichtkunst, die Entscheidung für ein sonetto, die Bitte um ein Urteil: Mit
allen Mitteln macht der Text deutlich, dass zwischen ‚Leben‘ und ‚Kunst‘
ein Verwandlungsprozess liegt, dass der Kunstcharakter der Gedichte den
Kunstverstand der Lesenden voraussetzt. Immer wieder wendet er sich an
diese Verständigen, an chi lo intende (VII, VIII), dem das einleuchten werde,
was im Gedicht zu lesen steht, und andere Adressaten als die Eingeweihten
interessieren ihn nicht: propuosi di farne alcuna lamentanza in uno sonetto; lo
quale io scriverò, acciò che la mia donna fue immediata cagione di certe parole che ne lo
sonetto sono, sì come appare a chi lo intende (VII; „beschloß ich, darüber in einem
Sonett manche Klage zu führen; dieses werde ich hier aufschreiben, weil
meine Herrin der unmittelbare Beweggrund war für gewisse Worte, die in
dem Sonett vorkommen, wie jenem klar wird, der es versteht“).
Um das Verständnis der Gedichte zu erleichtern, geht ihnen zum einen
jeweils die Erzählung in Prosa voraus, die zugleich auf den engen Bezug
der Vita nuova zu den Trobadorviten in den provenzalischen Liederhand-
170 Barbara Kuhn
schriften, den Vidas, weist; zum anderen folgt ihnen nicht immer, aber in
aller Regel eine Erläuterung, die nicht nur in scholastischer Manier die
Gedichte einer divisione unterzieht und sie in parti gliedert,7 sondern mit
dieser divisio textus jeweils auch ihre ragione angibt, so wie in den Liederhand-
schriften die „Einzellieder zunehmend mit Kommentaren“, mit razos, ver-
sehen worden waren, „die ihre Fremdheit aufhellten“.8 Im Unterschied zu
den Liederhandschriften, wo diese Einheit von Poesie und Prosa auf den
Einzeltext begrenzt bleibt, dehnt Dante das Verfahren auf die 31 Gedich-
te aus, um ein einheitliches Ganzes, einen als Ganzheit verstehbaren Text
zu schaffen, wie die immer wieder eingefügten Reflexionen zeigen:
Appresso ciò, cominciai a pensare uno giorno sopra quello che detto avea de la mia donna,
cioè in questi due sonetti precedenti; e veggendo nel mio pensero che io non avea detto di
quello che al presente tempo adoperava in me, pareami defettivamente avere parlato. E però
propuosi di dire parole, ne le quali io dicesse come me parea essere disposto a la sua opera-
zione, e come operava in me la sua vertude; e non credendo potere ciò narrare in brevitade
di sonetto, cominciai allora una canzone. (XXVII)
Hierauf begann ich eines Tages über das nachzudenken, was ich von meiner
Herrin gedichtet hatte, nämlich in diesen beiden vorhergehenden Sonetten;
und als mir einsichtig wurde, daß ich nichts von dem gesagt hatte, was sie zu
dieser Zeit in mir selbst bewirkte, schien mir, ich hätte lückenhaft gesprochen.
Und deshalb nahm ich mir vor, Worte zu dichten, in welchen ich sagen woll-
te, wie ich meinte, für ihr Wirken empfänglich zu sein, und wie ihre Tugend-
kraft in mir waltete; und da ich nicht glaubte, dies in der Kürze eines Sonetts
erzählen zu können, begann ich also eine Kanzone.
7 Aber nur dort, wo nötig, und wiederum nur an die Verständigen, die „fedeli d’Amore“ ge-
richtet: „Questo sonetto non divido in parti, però che la divisione non si fa se non per aprire la sentenzia de
la cosa divisa; onde con ciò sia cosa che per la sua ragionata cagione assai sia manifesto, non ha mestiere di
divisione. Vero è che tra le parole dove si manifesta la cagione di questo sonetto, si scrivono dubbiose parole,
cioè quando dico che Amore uccide tutti li miei spiriti, e li visivi rimangono in vita, salvo che fuori de li stru-
menti loro. E questo dubbio è impossibile a solvere a chi non fosse in simile grado fedele d’Amore; e a coloro
che vi sono è manifesto ciò che solverebbe le dubitose parole: e però non è bene a me di dichiarare cotale dubi-
tazione, acciò che lo mio parlare dichiarando sarebbe indarno, o vero di soperchio“ (XIV; „Dieses Sonett
teile ich nicht in Teile, dieweil man die Einteilung nur macht, um den Sinngehalt der unter-
teilten Sache zu erschließen; da es aber durch den erläuterten Hintergrund hinreichend klar
ist, bedarf es keiner Einteilung. Wahr ist, daß sich unter den Worten, in denen der Anlaß zu
diesem Sonett erklärt wird, zweifelhafte Worte geschrieben finden, nämlich, wenn ich sage,
daß Amor alle meine Geister tötet, und daß die des Gesichtes am Leben bleiben, wenn auch
nur außerhalb ihrer Wirkstätten. Aber dieser Zweifel ist unmöglich von jemandem zu lösen,
der nicht in gleichem Grade ein Getreuer Amors ist; und denen, die das sind, ist klar, was die
zweifelhaften Worte auflösen könnte: und daher ist nicht gut für mich, solches Zweifeln
aufzuklären, da doch mein erklärendes Reden vergebens oder aber überflüssig wäre“).
8 WINFRIED WEHLE: Dichtung über Dichtung. Dantes Vita Nuova: die Aufhebung des Min-
nesangs im Epos, München 1986, S. 25. Vgl. auch: GUGLIELMO GORNI: Vita nuova di Dante
Alighieri. In: Letteratura italiana. Le opere. Bd. I. Dalle origini al Cinquecento. Hrsg. von
ALBERTO ASOR ROSA, Torino 1992, S. 153-186, hier S. 178-179; MICHELANGELO PICONE:
Vita nuova e tradizione romanza, Padova 1979 (Ydioma tripharium 5).
Körperzeichen, Zeichenschrift, Schriftkörper 171
Wie das erzählende Ich an manchen Stellen Gedichte aus dem libro de la mia
memoria auslässt, die dem Verständnis nichts hinzufügten, trägt es an ande-
ren Dinge nach, deren Fehlen bei den Lesern Unverständnis erzeugen
könnte. Durch solches Weglassen, Hinzufügen und In-eine-angemessene-
Form-Bringen löst das Ich die Gedichte von ihrem punktuellen Anlass und
stellt so sein libello in den Horizont der Dichtung, wie insbesondere der
wiederum viel zitierte und kommentierte Exkurs über die Natur Amors,
über Personifikation und Allegorese im 25. Kapitel zeigt.9 Um möglicher
Kritik an seiner Dichtung den Wind aus den Segeln zu nehmen, beruft es
sich auf Vorbilder wie Vergil, Lucan, Horaz und Ovid und fordert zugleich
für die vulgärsprachliche Dichtung dieselben Freiheiten ein, wie sie der
lateinischen eingeräumt würden.
con ciò sia cosa che a li poete sia conceduta maggiore licenza di parlare che a li prosaici
dittatori, e questi dicitori per rima non siano altro che poete volgari, degno e ragionevole è
che a loro sia maggiore licenzia largita di parlare che a li altri parlatori volgari: onde, se
alcuna figura o colore rettorico è conceduto a li poete, conceduto è a li rimatori. (XXV)
Weil nun aber den Poeten eine größere Freiheit der Rede zugestanden wird, als
den Schriftstellern in Prosa, und weil jene, die in Reimen dichten, nichts anderes
sind als Poeten der Volkssprache, ist es recht und billig, daß ihnen eine größere
Freiheit der Rede eingeräumt wird als den anderen, die sich in der Volkssprache
ausdrücken: Wenn daher eine Redefigur oder ein rhetorischer Schmuck den
Poeten gestattet wird, so ist er auch den Reimdichtern gestattet.
Kriterium sei nur, dass die Dichtung eines solchen trovatore nicht clus bleiben
dürfe, sondern sich – durch Prosa, durch einen Kommentar – auf- oder
erschließen lasse: degno è lo dicitore per rima di fare lo somigliante, ma non sanza
ragione alcuna, ma con ragione la quale poi sia possibile d’aprire per prosa (XXV; „so
ist der Dichter, der in Reimen dichtet, berechtigt, ähnlich zu verfahren, aber
nicht ohne eine bestimmte Bedeutung, sondern mit einem Sinn, der sich
nachher in Prosa entschlüsseln ließe“). Raffiniert schreibt das Ich so sei-
nem libello implizit Modellcharakter zu und stellt sich damit – wie später der
Erzähler Dante in der Commedia neben die Ependichter – in eine Reihe mit
den Autoritäten der Zeit in Sachen Literatur, mit den Schulautoren des
mittelalterlichen Kanons. Indem das Ich nicht nur die allegorische Deutung
und Deutbarkeit rechtfertigt, sondern sie zudem wenig später mit seiner
Auslegung der Zahl neun, mit dem Hinweis auf deren häufiges Auftreten,
dem Anführen verschiedener Deutungen, dem Vorschlag einer eigenen
9 Vgl. etwa CHRISTIAN KIENING: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der
Literatur, Frankfurt a. M. 2003, S. 276-279; RÜDIGER SCHNELL: Causa amoris. Liebeskon-
zeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern, München 1985 (Bibli-
otheca Germanica 27), S. 381-386.
172 Barbara Kuhn
2. Körperzeichen
Dass dem Körper in diesem Schriftwerk eine so bedeutende Rolle zu-
kommt, liegt nicht zuletzt daran, dass eines der wesentlichen Strukturie-
rungsmerkmale der Liebesgeschichte und damit auch des Textes die Reihe
der Begegnungen von Ich und Beatrice konstituiert. Schon das erste Ele-
ment dieser Reihe, die unmittelbar auf das Proömium folgende Schilde-
rung der Begegnung des Neunjährigen und der knapp Neunjährigen, kon-
zentriert sich, außer auf die äußere Erscheinung der ‚Beatrice‘, vor allem
anderen auf die körperlichen Reaktionen des Ich, genauer, auf die Reak-
tionen der in den verschiedenen Körperorganen situierten spiriti, die alle
das außerordentliche Geschehen in lateinischer Sprache kommentieren.
Der im Herzen angesiedelte spirito della vita beginnt aufs heftigste zu zittern,
so dass es bis ins letzte Glied sichtbar wird, der spirito animale im Gehirn,
wohin alle spiriti sensitivi ihre Wahrnehmungen bringen, wundert sich über
das, was die spiriti del viso verkünden, und der im Magen untergebrachte
spirito naturale beginnt gar zu weinen, weil er bereits ahnt, dass es ihn in
Zukunft häufig treffen wird. Von diesem Augenblick an ist das Ich, dank
der Macht seiner Einbildungskraft, völlig der Herrschaft Amors unterwor-
fen, der ihm viele Male befiehlt, das engelsgleiche Wesen aufzusuchen.
Löst diese frühe Begegnung die Liebe allererst aus, überwältigt die im
folgenden Kapitel erzählte zweite Begegnung neun Jahre später das Ich
geradezu, so dass es sich von den Menschen zurückzieht:
10 Die Beantwortung der Frage nach Grund und Bedeutung des häufigen Auftretens der Zahl
neun stimmt folglich mit der scholastischen ‚Gattung‘ der quaestio überein: „Sie ging aus von
Zitaten aus Autoritäten, zeigte dann, dass andere Autoritäten den erstgenannten Texten
widersprechen, holte in einem nächsten Schritt weit aus zu einer eigenen ‚Lösung‘ (determi-
natio) und zeigte abschließend, wie die Widersprüche der Autoritäten zu harmonisieren
sind.“ KURT FLASCH: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machia-
velli, 2., rev. und erw. Aufl., Stuttgart 2000, S. 313.
Körperzeichen, Zeichenschrift, Schriftkörper 173
volse li occhi verso quella parte ov’io era molto pauroso, e per la sua ineffabile cortesia […]
mi salutoe molto virtuosamente, tanto che me parve allora vedere tutti li termini de la be-
atitudine […]; e però che quella fu la prima volta che le sue parole si mossero per venire a
li miei orecchi, presi tanta dolcezza, che come inebriato mi partio da le genti, e ricorsi a lo
solingo luogo d’una mia camera, e puosimi a pensare di questa cortesissima. (III)
wandte sie die Augen nach der Stelle, wo ich, ganz ängstlich, stand, und in
ihrer unaussprechlichen Huld [...], grüßte sie mich mit solcher Tugend, daß
ich also den Inbegriff aller Seligkeit zu schauen meinte [...]; und weil dies das
erste Mal war, daß ihre Worte sich bewegten, um an mein Ohr zu dringen,
spürte ich solche Wonne, daß ich mich wie berauscht von der Menge ent-
fernte, und ich flüchtete in die Einsamkeit eines meiner Zimmer und gab mich
den Gedanken an jene Höflichste hin.
Nicht nur der beseligende Gruß als bedeutungs- und folgenschwere Gebär-
de, auch das Zuwenden des Blicks und die gesprochenen Worte werden
quasi körperlich erfahren – le sue parole si mossero per venire a li miei orecchi („ihre
Worte [...] bewegten [sich], um an mein Ohr zu dringen“) – und üben eine
solche Wirkung auf das Ich aus, dass es wie trunken, wie in Ekstase ist und
die körperliche Nähe flieht. Doch auch die von diesem heftigen Eindruck
ausgelöste maravigliosa visione übersetzt das Unverständliche in ausdrucks-
starke Körperbilder. Nicht nur Amor erscheint dem Ich hier zum ersten Mal
in personam, in der Gestalt eines furchterregenden segnore inmitten einer feu-
erfarbenen Wolke; vor allem erzählt die Vision eine signifikante Variante des
im Mittelalter so beliebten Herzmäre, dessen älteste erhaltene Fassung sich
in einer provenzalischen Trobadorvita findet.11 Wie dort ist der Liebende
ein Dichter oder Sänger – unmittelbar danach wendet er, der sich bereits in
der Kunst des Reimeschmiedens geübt hat, sich an die famosi trovatori seiner
Zeit –, und wie dort muss die Dame das Herz essen und stirbt sie in der
Folge. Doch während in der überlieferten Version die Dame sich selbst das
Leben nimmt, wird sie hier mit Amor in den Himmel erhoben, und vor
allem fehlt völlig das mit der bekannten Geschichte verknüpfte Motiv der
gekränkten Gattenehre. Stattdessen signalisiert das Auffahren in den Him-
mel, das auf Beatrices Tod und ihre ‚Himmelfahrt‘, auf den definitiven
Entzug des Körpers später im Text vorausdeutet, hier die Reinheit der Lie-
be, so wie die buchstäbliche ‚Inkorporierung‘ als Bild für das Begehren des
Ich, für seinen unerfüllbaren Wunsch nach körperlicher Vereinigung steht.
Wie die gesamte Vision demnach in Körperschrift geschrieben ist, de-
ren Entzifferung erst durch den Verlauf der Geschichte möglich wird, ist
von dieser Vision an, wie der spirito naturale im Magen vorausgesehen hatte,
das normale ‚Funktionieren‘ des Körpers unterbunden:
11 Vgl. HANS-JÖRG NEUSCHÄFER: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurz-
erzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1969 (Theorie und
Geschichte der Literatur und der Schönen Künste 8), S. 33-43. Auf S. 33-35 findet sich der
nahezu ungekürzte Text der Vida.
174 Barbara Kuhn
Da questa visione innanzi cominciò lo mio spirito naturale ad essere impedito ne la sua oper-
azione, però che l’anima era tutta data nel pensare di questa gentilissima; onde io divenni in
picciolo tempo poi di sì fraile e debole condizione, che a molti amici pesava de la mia vista. (IV)
Seit dieser Vision begann mein natürlicher Geist, in seiner Tätigkeit behindert
zu werden, weil die Seele ganz dem Denken an jene Holdseligste hingegeben
war; hierdurch wurde ich in kurzer Zeit von so gebrechlicher und schwacher
Verfassung, daß mein Anblick viele Freunde bedrückte.
Weil dem Ich die Zeichen Amors im Gesicht geschrieben stehen – io porta-
va nel viso tante de le sue insegne, che questo non si potea ricovrire (IV; „ich [trug] auf
meinem Antlitz so viele seiner Zeichen [...], daß sich dies nicht verbergen
ließ“) –, werden die Neider neugierig auf das, was es vor den anderen ver-
bergen will, und die Blicke der anderen bestimmen auch die folgende, drit-
te Begegnung, die wohl in einer Kirche stattfindet: in parte ove s’udiano parole
de la regina de la gloria (V; „in einer Stätte [...], wo Worte über die Königin der
Herrlichkeit zu hören waren“). Von seinem Platz aus kann das Ich seine
beatitudine sehen, doch auf der geraden Linie zwischen ihm und ihr sitzt eine
andere gentile donna, die es, in dem Glauben, sein Blick ruhe auf ihr, häufig
verwundert anblickt. Dies nehmen auch die anderen wahr und schließen
daraus, sie sei die donna, deretwegen es sich so verzehre. Glücklich stellt das
Ich fest, dass sein doch so verräterischer Anblick das Geheimnis noch nicht
verraten hat: lo mio secreto non era comunicato lo giorno altrui per mia vista (V; „mein
Geheimnis [wurde] an jenem Tage nicht durch meinen Blick anderen mit-
geteilt“), und es bemüht sich nach Kräften, den Irrtum der anderen auf-
recht zu erhalten, was ihm mehrere Jahre lang gelingt, zumal es, um seiner
Fiktion noch größere Glaubwürdigkeit zu verschaffen, diesen ‚Schirm der
Wahrheit‘ in Gedichten besingt, wie das Minneritual es verlangt:
pensai di fare di questa gentile donna schermo de la veritade; e tanto ne mostrai in poco
tempo, che lo mio secreto fue creduto sapere da le più persone che di me ragionavano. Con
questa donna mi celai alquanti anni e mesi; e per più fare credente altrui, feci per lei certe
cosette per rima. (V)
gedachte ich, diese edle Frau zu einem die Wahrheit verbergenden Schirm zu
machen; und ich machte dies in kurzer Zeit so offensichtlich, daß die meisten
Personen, die über mich sprachen, mein Geheimnis zu kennen glaubten.
Durch diese Frau verbarg ich mich einige Jahre und Monate; und um die an-
dern in ihrem Glauben noch zu stärken, verfaßte ich für sie einige Kleinig-
keiten in Versen.
Wie der Körper der gentile donna den direkten Blick abschirmt und damit
verhindert, dass das Geheimnis öffentlich wird, so verhüllt auch das Ge-
dicht an die donna-schermo die Wahrheit, das Geheimnis, dass die eigentliche
Adressatin der Blicke wie der Gedichte Beatrice ist. Damit wird die donna-
schermo gleichsam zur personifizierten Allegorie: Sie ist das in Körper über-
Körperzeichen, Zeichenschrift, Schriftkörper 175
setzte Prinzip des alieniloquium, des uneigentlichen Sprechens, zumal die ins
Gesicht geschriebenen und den Körper verzehrenden Zeichen durchaus
sichtbar bleiben, das ‚Anders-Reden‘ jedoch deren korrekte Entschlüsse-
lung durch Nicht-Eingeweihte verhindert.
Dass das uneigentliche Sprechen jedoch nicht nur Schutz bietet, son-
dern auch Gefahren birgt, wird bei der nächsten Begegnung mit Beatrice
deutlich: Verärgert über das Gerede der anderen, das auch das Ich selbst
in Verruf bringt, verweigert sie ihren Gruß als jenes Zeichen, in dem alles
Glück des Ich liegt: quella gentilissima […], passando per alcuna parte,
mi negò lo suo dolcissimo salutare, ne lo quale stava tutta la mia beatitudine (X;
„verweigerte mir jene Holdselige [...], als sie an einer gewissen Stelle vor-
überging, ihr über die Maßen süßes Grüßen, in welchem doch all meine
Seligkeit bestand“). Um die Wirkung dieses ausgebliebenen Zeichens ver-
ständlich zu machen, erläutert das Ich seinen Lesern zunächst, welche
körperlichen Konsequenzen der Gruß seiner Herrin nach sich zieht:
E quando ella fosse alquanto propinqua al salutare, uno spirito d’amore, distruggendo
tutti li altri spiriti sensitivi, pingea fuori li deboletti spiriti del viso, e dicea loro: „Andate a
onorare la donna vostra“; ed elli si rimanea nel luogo loro. E chi avesse voluto conoscere
Amore, fare lo potea mirando lo tremare de li occhi miei. E quando questa gentilissima
salute salutava, non che Amore fosse tal mezzo che potesse odumbrare a me la intollerabile
beatitudine, ma elli quasi per soverchio di dolcezza divenia tale, che lo mio corpo, lo quale
era tutto allora sotto lo suo reggimento, molte volte si movea come cosa grave inanimata. Sì
che appare manifestamente che ne le sue salute abitava la mia beatitudine, la quale molte
volte passava e redundava la mia capacitade. (XI)
Und wenn sie eben zum Gruß anhob, vernichtete ein Geist der Liebe alle
anderen Geister der Empfindung und drängte dabei die schwächlichen Geis-
ter des Gesichtssinnes hinaus und sagte ihnen: ‚Geht, eure Herrin zu ehren‘;
und er selbst blieb an ihrer Statt. Und wer Amor hätte kennenlernen wollen,
der hätte es gekonnt, in Anbetracht des Zitterns meiner Augen. Und wenn
diese Holdselige mit ihrem Gruß grüßte, war Amor nicht etwa ein Hindernis,
das mir die unerträgliche Seligkeit hätte verdunkeln können, sondern wurde
gleichsam durch ein Übermaß an Süße sogeartet, daß mein Körper, der dann
vollkommen unter seiner Herrschaft stand, vielmals sich hinschleppte wie
etwas Schweres, Unbeseeltes. So daß ganz offensichtlich ist, daß ihrem Gruße
meine Seligkeit innewohnte, eine Seligkeit, die viele Male meine Kräfte über-
stieg und überforderte.
Es vermag nichts mehr zu sehen, wie überhaupt alle Sinne betäubt sind; an
seinen zitternden Augen kann ein jeder Amor erkennen, und sein Körper
wirkt wie ein lebloses Etwas, so sehr übersteigt die durch den Gruß ver-
spürte Seligkeit seine Kräfte. Die Zeichen des Körpers sind eindeutig – ap-
pare manifestamente –; am Körper lässt sich das Außer-sich-Sein, die Ekstase
ablesen. Entsprechende Wirkung muss zwangsläufig auch das Ausbleiben
des Grußes ausüben: Nicht nur die Gebärde, sondern ineins das von ihr
176 Barbara Kuhn
Bezeichnete wird verweigert – la mia beatitudine mi fue negata (XII) –, denn wie
bei jedem Kult-Bild sind Zeichen und Bedeutung nicht zu trennen,12 und
dem Ich bleiben nur amarissime lagrime, ungehörte Klagen und das Flehen
um Barmherzigkeit, bis es endlich come un pargoletto battuto lagrimando ein-
schläft und ihm wiederum Amor in einer Traumvision erscheint. Er rät
ihm, die simulacra zu beenden, mithin vom uneigentlichen zum eigentlichen
Sprechen überzugehen und das bisher Geheimgehaltene offenzulegen.
Entstand nach der ersten Vision das an die Dichterfreunde gerichtete So-
nett, verfasst das Ich nun eine ballata, die es als Botin auf den Weg zu seiner
Madonna schickt, damit sie ihr mit einer demütigen Bitte um Verzeihung
erkläre, warum es eine andere angeblickt habe; nur die Augen, nicht das
Herz hätten sich abgewandt, denn im Herzen sei es stets ihr treuer Diener
geblieben, dessen Gehorsam bis zum von ihr befohlenen Tod reiche:
Con dolze sono, quando se’ con lui,
comincia este parole,
appresso che avertai chesta pietate:
„Madonna, quelli che mi manda a vui,
quando vi piaccia, vole,
sed elli ha scusa, che la m’intendiate.
Amore è qui, che per vostra bieltate
lo face, come vol, vista cangiare:
dunque perché li fece altra guardare
pensatel voi, da che non mutò ’l core“.
Dille: „Madonna, lo suo core è stato
con sì fermata fede,
che ’n voi servir l’ha ’mpronto onne pensero:
tosto fu vostro, e mai non s’è smagato“.
Sed ella non ti crede,
dì che domandi Amor, che sa lo vero:
ed a la fine falle umil preghero,
lo perdonare se le fosse a noia,
che mi comandi per messo ch’eo moia,
e vedrassi ubidir ben servidore. (XII, V. 15-34)
12 Vgl. ULRIKE LANDFESTER: Tertium datur. ‚Schrift und Bild und Körper‘ als kulturtheoreti-
sche Denkfigur. In: Schrift und Bild und Körper. Hrsg. von ULRIKE LANDFESTER, Bielefeld
2002 (Schrift und Bild in Bewegung 4), S. 9-41, hier: S. 12. Vgl. ferner HANS BELTING: Bild
und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 52000, auf den
sich LANDFESTER mit ihren Überlegungen stützt.
Körperzeichen, Zeichenschrift, Schriftkörper 177
tung entwirft, zur von Raum, Zeit und vor allem Körper unabhängigen
Imagination als dem neuen Raum dieses Dichtens führt. Dass damit je-
doch längst nicht alles über den komplexen Text gesagt ist, darauf deutet
nicht allein die Tatsache, dass das libello an dieser Stelle keineswegs an
seinem Ende angekommen ist. Gegen einen solch einsinnigen Prozess
spricht insbesondere, dass sich das Bedauern des Ich ob seiner Vergangen-
heit, das Petrarcas berühmten Vers aus dem Eröffnungsgedicht des Can-
zoniere, di me medesmo meco mi vergogno, vorwegzunehmen scheint, sich nicht
auf allzu große Körperlichkeit richtet, sondern wiederum auf die Schrift,
auf sein bisheriges Dichten, das nun als mangelhaft erscheint: quasi vergo-
gnoso mi partio da loro, e venia dicendo fra me medesimo: ‚[…] perché altro parlare è
stato lo mio?‘ (XVIII; „recht beschämt [ging ich] von ihnen und kam dahin,
bei mir selbst zu denken: ‚[...] warum habe ich je von anderem geredet?‘“).
Und in der Tat enthüllt ein zweiter Blick auf die fünf Begegnungen, dass
sie nicht nur die Bewegung des Textes bis zu dieser Stelle bedingten, son-
dern das Ich sich mit ihnen quasi an den Topoi des Minnesangs abarbei-
tete, an Topoi, die viel mehr als nur Hilfsmittel bei der inventio eines Lie-
beslieds sind: Der Anblick und die Geste des Grußes, das Geheimnis und
die demütige Bitte um Verzeihen sowie schließlich die Verspottungsszene
dienen alle dazu, die Körperlichkeit der unmittelbaren Begegnung und die
Momente der mündlichen Darbietung zu inszenieren, wie sie die Troba-
dorlyrik charakterisieren. Es geht folglich nicht allein um eine Sublimie-
rung des körperlichen Begehrens mit den Mitteln christlicher Metaphysik;
der Kampf, den der Text ausficht, ist zugleich einer zwischen zwei kon-
kurrierenden Medien, zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, und es
ist vor allem ein Kampf zwischen unterschiedlichen Dimensionen von
Schrift wie von Körper.
13 HORST WENZEL: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter,
München 1995, S. 203.
Körperzeichen, Zeichenschrift, Schriftkörper 179
[ich nahm mir vor] Worte zu dichten, in denen ich ihr wunderbares und her-
vorragendes Wirken zu verstehen gäbe; auf daß nicht bloß jene, die sie leib-
haftig sehen konnten, sondern auch andere von ihr das erführen, was Worte
davon begreiflich machen können.
Nicht zufällig handelt es sich dabei um ein Gedicht, das wieder den Gruß
und seine Wirkung zum Anlass nimmt, wie bereits das erste Quartett dieses
wohl berühmtesten Sonetts von Dante überhaupt ausspricht:
Tanto gentile e tanto onesta pare
la donna mia quand’ella altrui saluta,
ch’ogne lingua deven tremando muta,
e li occhi no l’ardiscon di guardare. (XXVI, V. 1-4)
Auch das folgende Sonett soll jenen, denen der Anblick der donna nicht
vergönnt ist, kundtun, wie sie von allen geehrt und gelobt wird: volendo
manifestare a chi ciò non vedea, propuosi anche di dire parole, ne le quali ciò fosse sig-
nificato (XXVI; „da ich [...] willens war, es denen zu offenbaren, die derglei-
chen nicht sehen konnten, nahm ich mir vor, darüberhinaus Worte zu dich-
ten, in welchen dies bezeichnet würde“); der Übergang zum stilo de la sua
loda, von der konkret erfahrenen Situation zu ihrer Reflexion impliziert
demnach zugleich den Übergang von der individuellen zu einer verallge-
meinerten Erfahrung, wie auch die dem Sonett Tanto gentile vorausgehende
Prosa nicht nur die Pluralisierung der Redeinstanz signalisiert – Diceano
molti […]. E altri diceano […]. Io dico […] (XXVI; „Viele sagten [...]. Und an-
dere sagten [...]. Ich sage [...]“) –, sondern durch die Anrufung der Zeugen
das Gesagte beglaubigt: di questo molti, sì come esperti, mi potrebbero testimoniare
a chi non lo credesse (XXVI; „dies könnten mir viele aus eigener Erfahrung
bezeugen vor denjenigen, die es nicht glauben möchten“). Das mündliche
Zeugnis der Vielen bestätigt das individuelle schriftliche Zeugnis und illus-
triert so das Ineinander der beiden Medien.14
14 Die Passage zeigt den „langsamen ‚Übergang‘ von der Mündlichkeit“, den man sich „nicht
zu einfach vorstellen [darf]“, weil er als Prozess, als ein Hin und Her geschieht, in dem etwa
persönliche Zeugenschaft und schriftliche Urkunden einander gegenüber stehen. Vgl. WEN-
ZEL (Anm. 12), S. 360-361.
180 Barbara Kuhn
Dennoch dient die Schrift nicht allein dazu, ein – von vielen mündlich
bestätigtes – Zeugnis abzulegen, das die Zeiten überdauert und auch jene
erreicht, die der selig machenden Beatrice nicht selbst begegnen, sondern
in anderen Räumen oder Zeiten zu Hause sind. Einen Hinweis gibt bereits
der Kommentar des Ich zum Urteil der anderen, die Beatrice einfach als
Wunder bezeichnen und Gott für sie danken:
Io dico ch’ella si mostrava sì gentile e sì piena di tutti li piaceri, che quelli che la miravano
comprendeano in loro una dolcezza onesta e soave, tanto che ridicere non lo sapeano; né
alcuno era lo quale potesse mirare lei, che nel principio nol convenisse sospirare. (XXVI)
Ich sage, daß sie sich so huldvoll und so reich an Liebreiz zeigte, daß jene, die
sie ansahen, eine reine und zarte Wonne umfing, so sehr, daß sie es nicht zu
schildern wußten; und keinen gab es, der sie hätte anschauen können, ohne
sogleich seufzen zu müssen.
Die Entscheidung für die Schrift liegt in der Emotionalität des Liebenden
begründet, der sich – als Dichter – weder mit der topischen Unsagbarkeit,
dem ridicere non lo sapeano der anderen, noch mit dem bloßen sospirare begnü-
gen will, aber erkennen muss, dass nicht erst eine räumliche Trennung oder
das Vergehen der Zeit, sondern schon die Heftigkeit des Begehrens das
Vergessen und damit die Unmöglichkeit von Erfahrung bewirkt, wie das
Ich nach der gabbo-Episode und vor der Entscheidung für die nuova matera
lebhaft vor Augen stellt, indem es sein Begehren und seine bereits erlitte-
nen Leiden personifiziert:
sì tosto com’io imagino la sua mirabile bellezza, sì tosto mi giugne uno desiderio di vederla, lo
quale è di tanta vertude, che uccide e distrugge ne la mia memoria, ciò che contra lui si potesse
levare; e però non mi ritraggono le passate passioni da cercare la veduta di costei. (XV)
sobald ich mir ihre wunderbare Schönheit vorstelle, [ergreift mich] sogleich
ein Verlangen [...], sie wirklich zu sehen, und [...] dieses [ist] von solcher Wir-
kungsmacht [...], daß es in meinem Gedächtnis tötet und vernichtet, was sich
dagegen erheben könnte; und deshalb halten mich die vergangenen Leiden
nicht davon ab, ihren Anblick zu suchen.
Das Begehren also zerstört und tötet im Gedächtnis, was sich gegen das
Begehren erheben könnte; die vergangenen Leiden haben nicht die Kraft,
das Ich zurückzuziehen, es davon abzuhalten, jenen Anblick zu suchen, der
ihm alle Lebensgeister entzieht, es wie tot sein lässt. Wenn also die – kör-
perliche – Liebe hier zur Aporie wird, so nicht in der Weise, dass die donna
sich dem werbenden Sänger per definitionem entziehen muss, nicht in der
Weise des Minnerituals, das sich nur um den Preis der Berücksichtigung
dieser Spielregeln fortsetzen lässt, sondern weil der Körper Einspruch er-
hebt. Der Liebeskrieg, der in der battaglia d’Amore ebenso wie in den Verben
Körperzeichen, Zeichenschrift, Schriftkörper 181
15 Vgl. hierzu vor allem PICONE (Anm. 8) sowie dessen zahlreiche Aufsätze zu diesem Text,
insbesondere: MICHELANGELO PICONE: Il prosimetrum della Vita Nova. In: Studi e problemi
di critica testuale 15 (1977), S. 50-61.
182 Barbara Kuhn
Die amorosa erranza (V. 11), in der sich das Ich befindet, enthüllt sich als ein
Umherirren in den verschiedenen Arten, von Liebe zu reden; die Meta-
phern, die andernorts dazu dienen, die Liebe zu illustrieren – das Umher-
irren, der Kampf oder die Schlacht –, verschieben sich hier zu Metaphern
für das Schreiben und deuten in dieser verdächtigen Identität darauf, dass
es sich – lange vor der so genannten Entkörperlichung der Dame – um eine
Liebe der Schrift im doppelten Wortsinn handelt: eine Liebe der Schrift als
genitivus subiectivus, insofern diese Liebe fast ausschließlich in der Schrift
existiert, und als genitivus obiectivus, insofern sie wesentlich aus der Liebe, die
der Dichter der Schrift entgegenbringt, entsteht. Denn schon zu Beginn
hatte das Gedicht als Gruß an die Dichterfreunde Beatrices Geste des Gru-
ßes in der Schrift wiederholt, und auch die erwähnten Sonette, deren Schrift
Beatrice verewigen soll, machen deutlich, dass die von der donna und die
vom Gedicht ausgeübte Wirkung dieselbe ist: Ihr Anblick verschafft dolcez-
za al core (XXVI, Tanto gentile, V. 10; „[gibt] dem Herzen Wonne“), und wer
das Gedicht liest und sich folglich ihrer erinnert, kann nicht umhin, vor
dolcezza d’amore zu seufzen (XXVI, Vede perfettamente, V. 14; „der Liebe Süße“)
– wie in den vielen Sonett-Dialogen oder tenzoni der Zeit wird die Korres-
pondenz zusätzlich durch den von einem Sonett zum nächsten weiterge-
reichten Reim unterstrichen. Im Laufe des Textes findet mithin eine spre-
chende Umkehrung statt: Bewirkte anfangs die Erinnerung an die Erschei-
nung Beatrices das Buch, so bewirkt nun das Buch (als Erinnerung) die
Wirkung Beatrices und wird buchstäblich zum Supplement, das zum einen
als Ergänzung fungiert, indem es Beatrice auch in jenen Räumen oder Zei-
ten präsent macht, wo sie nicht ist, zum anderen sich letztlich an ihre Stel-
le setzt, insofern die eigentliche Seligkeit, der fine […] novissimo, im Gedicht
oder im Dichten selbst, in der Schrift dieser Liebe, besteht.
Wichtiger aber noch als dieser supplementäre Charakter der Schrift ist
das Verschieben durch den Aufschub, den die Schrift gewährt, ein Verschie-
ben, das sich immer wieder daran zeigen lässt, dass die Gedichte keineswegs
nur das zuvor in Prosa Erzählte wiederholen (oder vorwegnehmen, gemäß
der Entstehungsreihenfolge, wie der Text sie darlegt), sondern grundlegend
anderes sind, etwa aus der Todesvision, aus der erronea fantasia und dem
fallace imaginare, das die Prosa schildert, eine amorosa cosa da udire machen
(XXIII), genauer, die große Kanzone Donna pietosa e di novella etate, die nicht
zufällig als 16. von 31 Gedichten genau das Zentrum markiert und über
vielerlei zahlensymbolische Elemente mit dem Ganzen verwoben ist.16
Das von der Schrift verursachte Verschieben wird noch offensichtlicher
im Zusammenhang mit jener Grenze, die der Kommunikation von Ange-
sicht zu Angesicht gesetzt ist und die auf ein Jenseits als Horizont des
Danteschen Textes deutet, im Zusammenhang mit dem Tod selbst. Der
Tod der Geliebten, der das Dichten einer Kanzone unterbricht, ist selbst
unsagbar; daher tritt als ‚andere Rede‘ an seine Stelle zum einen ein Zitat
Körperzeichen, Zeichenschrift, Schriftkörper 183
16 Beispielsweise besteht das Gedicht aus 84, also zweimal 42 Versen, und 42 ist die Zahl, die
gematrisch für den Namen Dante steht und der Zahl der Kapitel des gesamten Werks ent-
spricht. Erzählt dieses Werk als Ganzes Dantes vita nova, wie das erste Kapitel angekündigt
hatte, so stellt das Gedicht in der Mitte dessen altes und neues Leben nebeneinander. Genau
in V. 42 heißt es: Morra’ti, morra’ti („Du wirst sterben, sterben wirst du“), während am Ende,
nachdem die Engel in V. 61, dessen Zahl auf den Namen Beatrice verweist, die Selig-Ma-
chende mit dem Ruf Osanna gegrüßt haben, das Ich dem alten Leben abgestorben ist und
durch die Schau der ‚schönen Seele‘ die Seligkeit erlangt: – Beato, anima bella, chi te vede! – Voi
mi chiamaste allor, vostra merzede (V. 83f.; „‚Selig der, schöne Seele, der dich schaut!‘ Da aber
rieft ihr mich, Dank sei eurer Güte“).
184 Barbara Kuhn
17 Etwa am Ende der Kanzone Quan chai la fuelha, die mit den Worten schließt: Vai t’en chansos.
denan lieis te presenta. que s’ill no fos. no-i meir’ Arnautz s’ententa. („Brich auf, Kanzone, geh zu ihr;
wäre es nicht für sie gewesen, hätte Arnaut sich dieser Mühe nicht unterzogen.“) In: Mille et
cent ans de poésie française. De la Séquence de Sainte Eulalie à Jean Genet. Hrsg. von BERNARD
DELVAILLE, Paris 1991, S. 154.
18 Während Platon im Phaidros (274c-278b) an der Schrift erstens moniert, sie schwäche das
Gedächtnis, da sie sich auf eine äußere Stütze, auf fremde Zeichen verlasse, unterstreicht
Giacomo da Lentini, das geschriebene Gedicht entstehe eben aus der Erinnerung und halte
das Bild lebendig, statt das Vergessen zu befördern. Gegen den zweiten Einwand Platons,
die Schrift biete nur einen stummen Text, sie könne keine weitere Erklärung geben, sondern
immer nur dasselbe wiederholen, führt das Gedicht vor, dass die konkrete Situation der
Begegnung gerade die Rede verhindert, dass sie verstummen lässt und folglich die ‚Rede‘ mit
der Geliebten nur als geschriebene möglich ist. Dem dritten Vorwurf, die Schrift kursiere
auch unter jenen, für die sie nicht bestimmt sei und die sie nicht verstünden, während die
mündliche Rede sich an einen ausgewählten Kreis von Adressaten richte, steht entgegen,
dass gerade der mündliche Vortrag des Gedichts die Gegenwart derer bewirke, für die diese
Rede nicht bestimmt sei, während die Schrift den Rückzug in die Privatheit der stillen Kam-
mer gestatte und so eine ganz neue, eigene Form der Unmittelbarkeit erzeuge. Und auch der
Kritik, die Schrift ermögliche die Ablösung von der konkreten Gesprächssituation und damit
vom Vater oder Autor der Rede, so dass vieles in einer geschriebenen Rede aufgrund der
Abwesenheit des Autors, der nicht mit dem Ernst seiner ganzen Person für die vorgebrach-
te Lehre einstehen müsse, zwangsläufig nur Spiel sei, hält das Gedicht entgegen, erst die
Schrift könne, dank dieser Ablösung und der damit möglichen Reflexion, über das eigene
Ich, das sich ob der Überwältigung durch die Emotionen nicht mehr (er-)kennt, Klarheit
schaffen, eben weil es nicht mehr im Spiel der höfischen Geselligkeit, im Ritual des Liebes-
werbens, befangen ist, sondern gleichsam sich selbst in vollem Ernst und unausweichlich
gegenübersteht.
Körperzeichen, Zeichenschrift, Schriftkörper 185
der Unmittelbarkeit zum Anlass für das Gedicht, das selbstbewusst als
neues Dichten präsentiert wird, als eine canzonetta novella, die eine nova cosa
besingt. Auch hier entsteht die Schrift aus der Erinnerung und hält das Bild
lebendig, vermag sie das Verstummen in der Situation der Unmittelbarkeit
zu überwinden und verschafft sie Klarheit über das eigene Ich, das sich
selbst fremd – altro che prima – geworden ist.19 Eben diese Reflexion greift
die Vita nuova auf und integriert sie in einen umfassenden Zusammenhang:
Es ist Amor, der dem liebenden und dichtenden Ich den Auftrag gibt, das
Botengedicht zu verfassen und auf den Weg zu schicken: Queste parole fa che
siano quasi un mezzo, sì che tu non parli a lei immediatamente, che non è degno (XII;
„Aber mach, daß deine Verse wie ein Mittler seien, so, daß du nicht unmit-
telbar zu ihr sprichst, was sich nicht ziemt“), und entsprechend dieser Auf-
fassung von der Lyrik als Medium wendet sich statt des Ich die ballata an
die donna (vgl. XII, V. 18-24). Nicht nur thematisiert die oben zitierte Kan-
zone, dass das Außen und Innen, die vista und ’l core, im Widerstreit sind;
vor allem wird sie selbst als Botin, als „Verkörperung der Botschaft“, zum
Sinnbild dafür, dass, wie WALTER HAUG schreibt, „eine Schranke zwischen
Innen und Außen, zwischen Leidenschaft und Bekenntnis“ bleibt, dass
Innen und Außen, anders als beim beide vermittelnden Geständnis, nicht
übereinstimmen20.
Was beim Blick auf das einzelne Gedicht als Manko erscheinen könnte
– die Notwendigkeit des Boten aufgrund der Unfähigkeit zum Geständnis
–, relativiert sich beim Blick auf den gesamten Text. Denn gerade indem
der Schriftkörper an die Stelle des eigenen Körpers gesetzt wird, eröffnet
sich eine Vielzahl von Möglichkeiten für alle Aspekte der Kommunikati-
on.21 So erlaubt das Gedicht als schermo oder ‚Schutzschild‘ die in der kon-
kreten Situation festgelegten Möglichkeiten aufzufächern; die Schrift wird
Körper, der sich als Verhüllung zwischen die Liebenden stellt; aber zu-
gleich, eben weil sie erscheinender Körper ist, verbirgt sie das Verbergen,
indem sie zwar das Innen nach außen dringen lässt, sich jedoch an eine
falsche Adressatin richtet. Umgekehrt vervielfältigt sich in den für den
anderen, aber doch über die eigene Trauer geschriebenen Gedichten das
sprechende Ich, so dass das Sonett wie ein vom Ich abgelöster Körper
wird, der unabhängig von ihm als seinem ‚Autor‘, losgelöst von der Situa-
tion des Redenden weiterleben kann22. Als ein solches vom einmaligen
Anlass sich lösendes Objekt war bezeichnenderweise bereits das erste So-
nett der Vita nuova eingeführt worden, das, gerichtet an andere Dichter mit
der Bitte um ein Urteil, die Funktionen eines Briefs übernimmt: Es geht
von vornherein als ein Körper aus Schrift in den Text ein und transzen-
diert die in der Folge der Begegnungen evozierte Situation der Unmittel-
barkeit und der Mündlichkeit; mehr noch, es wird zum Zeichen für die
Schrift selbst, in deren Zeichen die ganze Liebesgeschichte steht. Und
selbst dort, wo das Ich in eigenem Namen spricht, wo es der donna die
Zerrissenheit seines zwischen Innen und Außen gespaltenen Ich schildert,
löst sich die Schrift gewordene Rede vom Ich selbst ab, werden die Sonet-
te zu Erzählern, zu narratori di tutto quasi lo mio stato (XVII), den die mündli-
che Rede ebenso wenig wie der eigene Körper zuverlässig und umfassend
vermitteln kann.
Freilich ist mit solchem nach außen verlagerten Erzählen des Innen, mit
der Zerrissenheit des Ich zwischen seinem Empfinden und seinem Körper
und mit der Schrift als anderem Körper, der den Körper der anderen sup-
plementiert, nicht eine Vereinnahmung von Dantes Text als Beispiel für
‚neuzeitliche Subjektivität‘, für ein ‚modernes, gespaltenes Individuum‘ ge-
meint; vielmehr steht hinter den vorgestellten Überlegungen der Gedanke,
dass sich zu jeder Zeit „das Subjekt in seinem Konfliktcharakter als Grenz-
raum sich gegenseitig in Frage stellender Erkenntnis- und Wertbereiche
definiert“ und folglich „die Geschichte der Subjektivität wesentlich im
Neubestimmen und Neuverhandeln solcher Grenzen und Wertsphären“
besteht.23 Vor einer modernistischen Vereinnahmung ebenso wie vor einer
eindimensionalen teleologischen Lektüre warnt in – zumindest aus heuti-
ger Sicht – fast ironischer Weise eine letzte Körperinschrift kurz vor Ende
des Textes.
Die gentile donna giovane e bella molto (XXXV), die den Trauernden voll Mit-
leid aus ihrem Fenster anblickt, zeigt nicht nur selbst in ihrer Blässe die
Zeichen der Liebe – d’un colore palido quasi come d’amore (XXXVI) –; auch das
22 „Die Rede von der ‚Situation‘ des Redenden zu abstrahieren, sie ‚für sich‘ zu betrachten,
verhindert die Präsenz des Sprechers. Das gilt nicht mehr für die verschriftete Rede, weil der
‚Autor‘ sich von ihr entfernt, ja durch diese Entfernung überhaupt erst als ‚Autor‘ konstitu-
iert wird“. WENZEL (Anm. 12), S. 205.
23 ROLAND HAGENBÜCHLE: Subjektivität: Eine historisch-systematische Hinführung. In: Ge-
schichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Hrsg. von RETO LUZIUS FETZ/RO-
LAND HAGENBÜCHLE/PETER SCHULZ, Bd. 1, Berlin, New York 1998 (European cultures 11),
S. 1-88, hier S. 14.
Körperzeichen, Zeichenschrift, Schriftkörper 187
Ich selbst erfreut sich bald zu sehr an ihrem Anblick und tadelt sich in
seinem Herzen dafür: li miei occhi si cominciaro a dilettare troppo di vederla; onde
molte volte me ne crucciava nel mio cuore ed aveamene per vile assai (XXXVII; „meine
Augen begannen, sich bei ihrem Anblick allzusehr zu ergötzen; weswegen
ich mich viele Male in meinem Herzen bekümmerte und mich für recht
nichtswürdig hielt“). Unter erneuten sospiri […] grandissimi e angosciosi kommt
es wieder zu einem inneren Kampf, zu einer battaglia che io avea meco, und
wieder zu einer orribile condizione (XXXVII), vor der folglich die „Entkörper-
lichung der Dame“ und die Verlagerung der beatitudine vom Körper zur
Schrift nicht definitiv zu schützen vermochten. Hier steht nichts mehr fest,
die battaglia de’ pensieri ist ebenso wenig ausgefochten wie die Position des
pro und contra. Alles muss erklärt werden, weil alles vieldeutig wird: Das
Gedicht spricht von einem Gentil pensero, doch der edle Gedanke ist zu-
gleich niedrig, die einstigen Gegenbegriffe fallen zusammen: dico ‚gentile‘ in
quanto ragionava di gentile donna, ché per altro era vilissimo (XXXVIII; „und ich sage
‚hold‘, nur soweit er von einer holden Frau sprach, denn im übrigen war er
äußerst erbärmlich“); umgekehrt scheint das in cuore cioè l’appetito („[Herz],
das heißt [...] Begehren“) und anima cioè la ragione („Seele, das heißt die Ver-
nunft“) gespaltene Ich einmal für und einmal gegen das Herz zu sprechen
und muss erklären, was im einen und im anderen Fall mit den identischen
Begriffen gemeint ist (XXXVIII).
Mühsam wird die Zerrissenheit des Ich noch einmal eingeholt, indem
diesem unorthodoxen Hin und Her die doxa antwortet: Der malvagio deside-
rio wird verjagt; das Herz bereut bitter, der Beständigkeit der Vernunft
Widerstand geleistet zu haben, und das Ich schämt sich für seine begehrli-
chen Augen; der desiderio malvagio und die vana tentazione müssen zerstört
werden, doch weil das ganze religiöse Vokabular offenbar nicht ausreicht,
um einem erneuten Brechen der Dämme der Vernunft Vorschub zu leisten,
bedarf es der körperlichen Einschreibung, die nicht nur, dem religiösen
Diskurs gemäß, mit den Folterqualen der Märtyrer verglichen wird und auf
das Prinzip des contrappasso in der Commedia vorausweist:
li miei occhi pareano due cose che disiderassero pur di piangere; e spesso avvenia che per lo
lungo continuare del pianto, dintorno loro si facea uno colore purpureo, lo quale suole ap-
parire per alcuno martirio che altri riceva. Onde appare che de la loro vanitade fuoro deg-
namente guiderdonati; sì che d’allora innanzi non potero mirare persona che li guardasse.
(XXXIX)
meine Augen [schienen] zwei Gebilde [...], die nur noch weinen mochten; und
oft geschah es, daß sich infolge des langen ununterbrochenen Weinens um sie
herum ein purpurroter Rand bildete, wie er gewöhnlich dann auftritt, wenn
einer ein Martyrium erduldet. Daraus ergibt sich, daß ihnen ihre Eitelkeit
angemessen heimgezahlt wurde; so daß sie von da an niemanden mehr be-
trachten konnten, der sie [...] anschaute.
188 Barbara Kuhn
Der rechte Lohn, der hier die gerechte Strafe meint, deutet zugleich auf das
Vokabular der Trobadorlyrik und in dieser Umwendung einmal mehr,
ebenso wie die Verschiebung der merzede, der gewährten Huld, von der
donna auf Amor,24 auf die Veränderung gegenüber dem traditionellen Min-
nesang, da dieses Ich keinen guiderdone mehr von seiner donna erwartet oder
auch nur erfleht, im Gegenteil: Mit seinen Stigmata, den rot geränderten
Augen als dem ins Gesicht geschriebenen Lohn, kann es sich keiner donna
mehr präsentieren; der gemarterte Körper schützt vor dem begehrten Kör-
per und, mehr noch, vor dem Begehren tout court. Signifikanterweise aber
geschieht dieses Einschreiben in den Körper, durch das das unversehens
wieder Aufgebrochene notdürftig gekittet wird, gerade nicht durch die Ver-
nunft, sondern durch die Einbildungskraft, eine forte imaginazione, die sich
mit einer erneuten Erscheinung Beatrices wie am ersten Tag machtvoll
gegen den Widersacher erhebt:
Contra questo avversario de la ragione si levoe un die, quasi ne l’ora de la nona, una forte
imaginazione in me, che mi parve vedere questa gloriosa Beatrice con quelle vestimenta
sanguigne co le quali apparve prima a li occhi miei; e pareami giovane in simile etade in
quale io prima la vidi. Allora cominciai a pensare di lei; e ricordandomi di lei secondo
l’ordine del tempo passato, lo mio cuore cominciò dolorosamente a pentere de lo desiderio a
cui sì vilmente s’avea lasciato possedere alquanti die contra la costanzia de la ragione.
(XXXIX)
Gegen diesen Widersacher der Vernunft erhob sich eines Tages, beinah zur
neunten Stunde, in mir eine mächtige Erscheinung, denn es war mir, als sähe
ich die glorreiche Beatrice in denselben blutroten Gewändern, in denen sie
sich meinen Augen beim ersten Mal gezeigt hatte; und sie erschien mir jung,
im gleichen Alter, in welchem ich sie das erste Mal gesehen hatte. Da begann
ich an sie zu denken; und als ich mich ihrer gemäß der Abfolge der vergan-
genen Zeit erinnerte, begann mein Herz schmerzlich das Begehren zu bereu-
en, dem es sich wider die Standhaftigkeit der Vernunft einige Tage so schmäh-
lich hingegeben hatte.
Erst das Er-Innern Beatrices bringt den Konflikt zwischen Begehren und
Vernunft zum Schweigen; erst das Imaginieren, das Vor-Augen-Stellen des
Körpers von Beatrice schafft den ersehnten Einklang von Begehren und
Vernunft oder sospiri und pensieri. Erinnerung und Imagination fungieren als
die zentralen Kräfte in dieser neuen ‚Schrift der Liebe‘, die die Vita nuova
ist, wie auch die am Ende erzählte Rückkehr zur ersten Erscheinung Beat-
24 Wie sich die Seligkeit vom Anblick der Dame auf das Schreiben des Gedichts verschoben
hat, wird als Signal für diese Verschiebung die gewährte Huld von der donna auf Amor ver-
lagert: lo mio segnore Amore, la sua merzede, ha posto tutta la mia beatitudine in quello che non mi puote
venire meno (XVIII; „mein Gebieter Amor – Dank sei es ihm [bzw. in seiner Huld] – [hat] alle
meine Seligkeit in das verlegt, was mir nie geschmälert werden kann“).
Körperzeichen, Zeichenschrift, Schriftkörper 189
rices und damit zum Beginn des Textes zeigt. Das Kommentieren der je-
weils entstandenen Gedichte, die schriftauslegende Schrift, erlaubt, das
Er-Innerte secondo l’ordine del tempo passato nicht zu wiederholen, aber doch
wiederzuholen und nun, ora, dank dieser Liebe der Schrift, dank der Ima-
gination in einer neuen Weise, anders als allora, zu lesen (vgl. III).
Der Prozess, den die Vita nuova vorführt, scheint demnach komplexer
zu sein als einfach in einer „Entkörperlichung der Dame“ zugunsten christ-
licher Metaphysik (nach KABLITZ) oder einem „Abschied vom Körper“
zugunsten der Entstehung von Literatur (nach GUMBRECHT) zu bestehen:
Auf nahezu jeder Seite des libello befinden sich Körper und Schrift in einem
Widerstreit, und dieses Problem wird, wie die erneute Gefährdung durch
die donna gentile am Ende zeigt, nicht durch die „paradoxe Integration einer
Transgression“ gelöst, durch die „Entkörperlichung der Dame“, dank der
der prekäre „Brückenschlag zwischen der metaphysischen Ordnung und
einer Erklärung der außergewöhnlichen Passion für die exklusive Dame“
gelänge.25 Was der Text vielmehr überschreitet, was sich im Schrift gewor-
denen Reden über die Liebe gerade auflöst, statt zementiert zu werden, sind
die scheinbar klaren Grenzen von Körper und Schrift, indem durch die
Liebe der Körper zu Schrift, die Schrift der Liebe selbst aber Körper wird,
corpus oder volumen,26 das die vom Tod gesetzten Grenzen überwindet.
25 ANDREAS KABLITZ: Petrarcas Lyrik des Selbstverlusts: Zur Kanzone Nr. 360 – mit einem
Exkurs zur Geschichte christlicher Semantik des Eros. In: Geschichte und Vorgeschichte
der modernen Subjektivität. Hrsg. von RETO LUZIUS FETZ/ROLAND HAGENBÜCHLE/PETER
SCHULZ, Bd. 1, Berlin, New York 1998 (European cultures 11), S. 567-611, hier S. 602-603.
26 Vgl. WOLFGANG HÜBNER: Volumen. Zur Metaphorik der Buchrolle in der Antike und bei
Michel Butor. In: Vir bonus dicendi peritus. Festschrift zum 65. Geburtstag von Alfons
Weische. Hrsg. von BEATE CZAPLA/TOMAS LEHMANN/SUSANNE LIELL, Wiesbaden 1997, S.
153-174, hier S. 188 und S. 191.
LUDGER LIEB
Minne schreiben
Schriftmetaphorik und Schriftpraxis in
den ‚Minnereden‘ des späten Mittelalters
Die „Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnolo-
gien“1 im Europa der Frühen Neuzeit ist bekanntlich wesentlich an die
Erfindung und Ausbreitung des Buchdrucks gebunden. Der Buchdruck
gilt als einer der bedeutendsten Marker für die Epochenschwelle zwischen
Mittelalter und Früher Neuzeit. Gleichzeitig ist vielfach bemerkt worden,
dass diese Medienrevolution der Frühen Neuzeit ein komplexer und lang-
wieriger Prozess ist, dessen Anfänge weit ins Mittelalter zurückreichen.
Viele Argumente z. B., die die Zeitgenossen im 15. und 16. Jahrhundert als
Vorteile des Buchdrucks ausgegeben haben, wurden im Mittelalter schon
als Vorteile der Schriftlichkeit gegenüber der Mündlichkeit vorgebracht.2
Die Zäsur also zwischen Buchdruck und Handschrift, zwischen der
Kultur des ‚Gutenbergzeitalters‘ auf der einen Seite (mit ihrer anonymen
Distribution und anonymen Rezeption von Texten, mit ihrer Popularisie-
rung und Demokratisierung textueller Kommunikation, mit ihrer Distanz
vom Körper) und der mittelalterlichen Manuskriptkultur auf der anderen
Seite, in der – mit HORST WENZEL zu sprechen – Texte vorwiegend münd-
lich und unter Anwesenden in Räumen wechselseitiger Wahrnehmung
kommuniziert wurden,3 – diese Zäsur findet ihre Vorgeschichte in dem
ebenfalls langwierigen Prozess des Übergangs der mittelalterlichen Kultur
von einer dominant oralen zu einer dominant skripturalen Kultur.
Problematisch für die Erforschung dieses Übergangs zwischen Münd-
lichkeit und Schriftlichkeit ist unter anderem der Umstand, dass die Produk-
1 MICHAEL GIESECKE: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über
die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Mit einem
Nachwort zur Taschenbuchausgabe 1998, Frankfurt a. M. 1998.
2 DENNIS H. GREEN: Medieval Listening and Reading. The primary reception of German
literature 800–1300, Cambridge 1994, S. 12-14.
3 HORST WENZEL: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter,
München 1995, S. 16.
192 Ludger Lieb
te mündlicher Kommunikation flüchtig sind4 und sich nur dann nicht voll-
ständig verflüchtigt haben, wenn sie – meist eher zufällig – im Netz der Schrift
hängen geblieben sind. Aus diesem Grund ist hier – gerade für die volks-
sprachliche Literatur des Mittelalters – jene Differenz so wichtig, die WULF
OESTERREICHER terminologisch mit Verschriftung und Verschriftlichung bezeich-
net hat.5 Verschriftung meint die Tatsache, „daß ein gegebener Wortlaut [...]
ins graphische Medium transferiert wird“ (S. 272). Die Schriftlichkeit eines
solcherart verschrifteten Textes ist daher nur medial (man könnte in gewisser
Hinsicht das ahd. Hildebrantslied als Beispiel anführen). Verschriftlichung meint
dagegen, dass bestimmte Texte – die durchaus auch mündlich vorgetragen
werden – Ergebnisse eines konzeptionell fundierten Prozesses sind, in dem
das Potenzial der Schrift benutzt wird, das sich vor allem als hoher Grad an
kommunikativer Distanz manifestiert (Situationsabstraktheit, Öffentlichkeit,
Reflexion, Planung, kaum Emotionalität, keine Kooperationsmöglichkeit des
Rezipienten etc.). Die Schriftlichkeit eines solchen Textes ist eine ‚konzeptio-
nelle Schriftlichkeit‘. Schon für die Heldenepen und Romane des Hohen Mit-
telalters wird man eine solch konzeptionelle Schriftlichkeit sicher annehmen
dürfen (S. 274f.), auch für einen großen Teil der Lyrik.6
Doch konzeptionelle Schriftlichkeit bedeutet nicht auch schon, dass die
Verfasser ihre Texte selbst schreibend verfassten,7 vielmehr bestand die
Benutzung der Schrift im Mittelalter weitgehend im Diktieren, also in einer
Trennung von Textproduzent und Schreiber. OTTO LUDWIG betont in sei-
ner Geschichte des Schreibens, dass der Übergang vom Schreiben als Diktieren
mündlicher Rede zum Schreiben als eigener Textproduktion des Verfassers
sich erst im Spätmittelalter allmählich vollzog und dass sich mit diesem
Übergang auch die Funktion des Schreibens veränderte.8 Es gab zwar
schon früher auch den selbst schreibenden Textproduzenten – gerade den
großen Gelehrten des Hohen Mittelalters ist dies wohl nicht abzusprechen
4 Vgl. HANS-ULRICH GUMBRECHT: Schriftlichkeit in mündlicher Kultur. In: Schrift und Ge-
dächtnis. Hrsg. von ALEIDA ASSMANN/JAN ASSMANN/CHRISTOF HARDMEIER, München 1983
(Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation 1), S. 158-174, hier S. 159.
5 WULF OESTERREICHER: Verschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und konzepti-
oneller Schriftlichkeit. In: Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Hrsg. von URSULA SCHAEFER,
Tübingen 1993 (ScriptOralia 53), S. 267–292.
6 Vgl. THOMAS CRAMER: Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu
ihrer Ästhetik, Berlin 1998 (Philologische Studien und Quellen 148).
7 Vgl. GIESECKE (Anm. 1), S. 346: Zunächst musste (in der Gelehrtenkultur des 15. Jahrhun-
derts) „immer etwas ausgesprochen sein [...], bevor es in einem sekundären Transformati-
onsprozeß ge- oder beschrieben werden konnte.“
8 OTTO LUDWIG: Geschichte des Schreibens. Band 1: Von der Antike bis zum Buchdruck,
Berlin, New York 2005, bes. S. 170-186. Vgl. auch die These von GUMBRECHT (Anm. 4), S.
171, „daß sich die Volkssprache als schriftliches Medium der Laienkultur erst im XV. Jahr-
hundert konstituierte“.
Minne schreiben 193
9 Vgl. DIETMAR RIEGER: ‚Chantar‘ und ‚faire‘. Zum Problem der trobadoresken Improvisati-
on. In: Zeitschrift für romanische Philologie 106 (1990), S. 423-435, hier S. 427. – Ex nega-
tivo lässt sich die dienende Rolle des Schreibens auch am Autornamen „Der Tugendhafte
Schreiber“ ablesen. Dass ein Dichter mit eigenem Œuvre in der Manessischen Liederhand-
schrift (und als Teilnehmer am Wartburgkrieg) einen solchen Namen (mit dem nicht gerade
spezifischen Epitheton ‚tugendhaft‘) trägt, indiziert, dass sich alle anderen Dichter nicht als
Schreiber verstanden (dass sie sich nicht als ‚tugendhaft‘ verstanden, kann man wohl aus-
schließen). Schreiber zu sein ist ein Differenzkriterium gegenüber anderen Dichtern. Das gilt
wohl auch, wenn ‚Schreiber‘ eine „Berufsbezeichnung“ wäre (GISELA KORNRUMPF: Der
Tugendhafte Schreiber. In: 2VL 9 [1995], Sp. 1138-1141, hier Sp. 1138).
10 Vgl. TILO BRANDIS: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische
Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke, München 1968 (MTU 25); WAL-
TER BLANK: Die deutsche Minneallegorie. Gestaltung und Funktion einer spätmittelalterli-
chen Dichtungsform, Stuttgart 1970 (Germanistische Abhandlungen 34); INGEBORG GLIER:
Artes amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen
Minnereden, München 1971 (MTU 34).
11 Eine solche Rekonstruktion wurde von mir und andern verschiedentlich unter den Begriffen
der Anschlusskommunikation oder der Minnereden-Kommunikationsgemeinschaften ver-
sucht, vgl. z. B. LUDGER LIEB/PETER STROHSCHNEIDER: Die Grenzen der Minnekommuni-
kation. Interpretationsskizzen über Zugangsregulierungen und Verschwiegenheitsgebote im
Diskurs spätmittelalterlicher Minnereden. In: Das Öffentliche und Private in der Vormoder-
ne. Hrsg. von GERT MELVILLE/PETER VON MOOS, Köln, Weimar, Wien 1998, S. 275-305.
12 Um diesen Aspekt des schriftlich überlieferten Textes hat sich die Mediävistik in den vergan-
genen Jahrzehnten zurecht sehr verdient gemacht; vgl. neben vielem anderen z. B. PAUL
ZUMTHOR: The Text and the Voice. In: New Literary History 16 (1984/85), S. 67-92; JAN-
DIRK MÜLLER: Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung. Literarisierungstendenzen im späte-
ren Minnesang. In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen
mittelhochdeutscher Lyrik. Hrsg. von MICHAEL SCHILLING/PETER STROHSCHNEIDER, Hei-
delberg 1996 (GRM-Beiheft 13), S. 43-76; wiederabgedruckt in: DERS.: Minnesang und Lite-
raturtheorie. Hrsg. von UTE VON BLOH/ARMIN SCHULZ, Tübingen 2001, S. 177-208.
194 Ludger Lieb
sondern um die Entdeckung der Schrift als eines Mediums, das nicht nur
als Hilfmittel für das Verfassen, Memorieren und Vorlesen von langen und
komplexen Texten verwendet werden konnte, sondern auch der personalen
Identitätsstiftung des adligen oder stadtbürgerlichen Dilettanten diente.13
Die so genannten Minnereden bilden eine sehr umfangreiche Textmas-
se,14 deren überraschend großes Potenzial für kulturwissenschaftliche und
philologische Fragen derzeit in einem von der Fritz Thyssen Stiftung finan-
zierten Projekt an der TU Dresden erschlossen wird.15 Dieses Projekt hat
13 Man mag sich aus einsichtigen Gründen scheuen, einen Vergleich zwischen den Verfassern
von Minnereden und Petrarca zu ziehen, doch mit vielen Abstrichen kann man die Bedeu-
tung, die Petrarca dem eigenhändigen Schreiben zumisst, auch dem Produzieren von Min-
nereden zubilligen: Schreiben als „Akt der Selbstprüfung und Selbsthilfe“, ja der „Selbstkon-
stitution“ (LUDWIG [Anm. 8], S. 198, in Rekurs auf KARLHEINZ STIERLE: Francesco Petrarca.
Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, München, Wien 2003, S. 396f.).
14 Über 500 verschiedene Minnereden sind überliefert, mehr als die Hälfte davon in mehreren
Handschriften. Gemeinsam ist ihnen inhaltlich das Thema Minne. Formal zeichnen sie sich
dadurch aus, dass sie in Reimpaarversen abgefasst, also nicht sangbar sind (Minnereden sind
keine Minnelieder; sie sind auch meist viel umfangreicher) und dass in ihnen nicht das Er-
zählen im Vordergrund steht, sondern Reflexion, Didaxe, Allegorie und Exemplarik (Min-
nereden sind also keine Romane oder Mären); vgl. zur Einführung meinen Artikel: Minne-
rede. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons
der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von HARALD FRICKE, Bd. 2, Berlin 2000, S. 601-
604, sowie den vorzüglichen Forschungsbericht von WOLFGANG ACHNITZ: Minnereden. In:
Forschungsberichte zur Internationalen Germanistik. Germanistische Mediävistik. Hrsg.
von HANS-JOCHEN SCHIEWER unter Mitarbeit von JOCHEN CONZELMANN, Bern 2003 (Jahr-
buch für Internationale Germanistik, Reihe C, Forschungsberichte 6), S. 197-255.
15 Ziel dieses von mir geleiteten Projekts ist die Publikation eines Handbuchs Minnereden (mit
Auswahledition). Dieses Werk, das voraussichtlich 2008 bei de Gruyter, Berlin, New York er-
scheinen wird (hrsg. von JACOB KLINGNER und LUDGER LIEB), umfasst erstens eine völlige
Neubearbeitung des Repertoriums von BRANDIS (Anm. 10), das durch detaillierte Überliefe-
rungsbeschreibungen und ausführliche Inhaltsangaben ergänzt wird. Umfangreiche Register
werden diese Datenmassen erschließen. Zweitens gehört eine Edition zu diesem Handbuch,
die eine repräsentative Auswahl verschiedenster Minnereden für Forschung und Lehre bereit-
stellt. Drittens soll eine Einführung in mehreren Durchgängen das Textkorpus unter inhalt-
lichen und funktionalen Aspekten erschließen und dabei wichtige Aspekte und Faszinations-
typen der ‚Minne-Kultur‘ des 14. und 15. Jahrhunderts erarbeiten. Der vorliegende Aufsatz
versteht sich als Vorarbeit zu einem solchen Aspekt („Medien der Liebe“); Vorarbeiten zu
anderen Aspekten wurden bereits publiziert, vgl. etwa JACOB KLINGNER/LUDGER LIEB:
Flucht aus der Burg. Überlegungen zur Spannung zwischen institutionellem Raum und kom-
munikativer Offenheit in den Minnereden. In: Die Burg im Minnesang und als Allegorie im
deutschen Mittelalter. Hrsg. von RICARDA BAUSCHKE, Frankfurt a. M. 2006 (Kultur, Wissen-
schaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 10), S. 139-160; LUDGER LIEB/OTTO
NEUDECK: Zur Poetik und Kultur der Minnereden. Eine Einleitung. In: Triviale Minne. Kon-
ventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden. Hrsg. von DENS., Berlin,
New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 40), S. 1–17;
LUDGER LIEB: Umschreiben und Weiterschreiben. Verfahren der Textproduktion von Min-
nereden. In: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg.
von ELIZABETH ANDERSEN/MANFRED EIKELMANN/ANNE SIMON, Berlin, New York 2005
(Trends in Medieval Philology 7), S. 143–161; LUDGER LIEB/PETER STROHSCHNEIDER: Zur
Minne schreiben 195
1. Schriftmetaphorik
1.a. Schreiben als Sich Einschreiben: ‚Schreiben ins Herz‘
In der Minnerede mit dem Forschungstitel Glückliche Werbung wirbt das
personifizierte Glück als Bote des männlichen Ich-Sprechers um die Gunst
der Dame. Um die Authentizität der Liebe seines Mandanten zu bezeugen,
argumentiert das Glück folgendermaßen:17
Ich wais das woll furwar
Das er nit wenckt als vmb ain har
Aus ewr lieb zuo kainer stund
Wann im ist rechter lieb grundtt
Geschriben in das hertze sein
Von ewrn clarn ewglen schein
Was soll ich nw sprechen mer
Er tuot nach ewrs hertzen ger (V. 97-104)18
Ich weiß das ganz sicher,
dass er sich in der Liebe zu euch
nie auch nur ein kleines bisschen unsicher wird,
denn ihm ist von dem Schein eurer klaren Augen
der rechte Urgrund der Liebe
in sein Herz hineingeschrieben.
Was soll ich nun noch weiter davon sagen?
Er tut, wie euer Herz es will.
Konventionalität der Minnerede. Eine Skizze am Beispiel von des Elenden Knaben ‚Minne-
gericht‘. In: Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Hrsg. von
ECKART CONRAD LUTZ/JOHANNA THALI/RENÉ WETZEL, Tübingen 2005, S. 109-138.
16 Ich danke herzlich meinen Mitarbeitern JACOB KLINGNER und CHRISTOPH HAGEMANN für
Hilfe und Rat.
17 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 231: Glückliche Werbung. London, British Library, Ms. Add. 24946,
fol. 145r-148r, unediert, V. 97-104.
18 Die Hervorhebungen in diesem und in allen folgenden Zitaten stammen von mir.
196 Ludger Lieb
Das marmorne Herz der geliebten Dame, das auch ein Bild für ihre ‚Hart-
Herzigkeit‘ sein könnte, wird hier umcodiert: Der Marmor des Herzens
wird zum unvergänglichen Trägermedium einer Schrift, so dass die Schrift
und die Aussage der Dienstversicherung dauerhaft in ihrem Inneren beste-
hen bleibe und dauerhaft gewusst werde. Das Bild des Einschreibens ins
Herz impliziert aber auch die Vorstellung einer Medialisierung des Herzens
zu einem hermeneutischen Innenraum: Das Innere des Menschen wird
zum Ort hermeneutischer Akte, hier kann geschrieben und gelesen wer-
den. Genauerhin schreibt die Dame hier in den Marmor ihres Herzen den
Dienst des Mannes, d. h. sie schreibt die Taten des Mannes auf, so dass sie
dort im hermeneutischen Innenraum ihres Herzens unauslöschlich immer
wieder gelesen werden können.
Die archivalische Funktion eines solchen ‚Dienstaufschreibe-Apparats‘
findet ihren Sinn nicht zuletzt darin, dass mit ihr auch die Forderung nach
19 Zum biblischen Bild vom ‚Schreiben ins Herz‘ vgl. FRIEDRICH OHLY: Cor amantis non an-
gustum. Vom Wohnen im Herzen [zuerst 1970]. In: DERS.: Schriften zur mittelalterlichen
Bedeutungsforschung, Darmstadt 21983, S. 128-155, hier S. 130 mit Anm. 1 und 135f. mit
Anm. 14. Das alttestamentliche Bild wird im neuen Testament aufgenommen, vgl. z.B. 2 Kor
3,3: Gott schreibt mit den Fingern des Hl. Geistes non in tabulis lapideis, sed in tabulis cordis
carnalibus; „nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf die fleischlichen Tafeln des Herzens“.
20 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 164: Neujahrsgruß auf 1444. Edition: Liederbuch der Clara Hätzlerin.
Hrsg. von CARL HALTAUS, Quedlinburg, Leipzig 1840 (Bibliothek der gesammten deutschen
National-Literatur 8). Neudruck mit einem Nachwort von Hanns Fischer, Berlin 1966, Nr.
II 37.
Minne schreiben 197
einer Gegenleistung verbunden ist: Mit rechter lieb mich wider main (V. 46). Zu
Grunde liegt hier das für die Minnereden typische Denkmodell, dass der
Dienst des Mannes die Liebe der Frau als Gegengabe fordert, ja dass der
dienende Mann die Gegenliebe sogar einklagen könne. Diese Ökonomisie-
rung der Liebe als Tauschhandel führt z. T. regelrecht zu einer Minne-Büro-
kratie (auch das ist anthropologisch interessant, gehört aber nicht hierher).
Eine interessante Variante der Metapher vom ‚Schreiben ins Herz‘ fin-
det sich in der Minneburg. Hier bittet das Ich Frau Minne um Hilfe bei seiner
Liebeswerbung:21
In ires hertzen zedeln
Entwirf mich sunder wenken! (V. 1544f.)
Die metaphorische ‚Verzettelung‘ des Herzens weist bereits auf das voraus,
was unten (Abschnitt III.) eine wichtige Rolle spielt: die Schreibpraxis von
Minnereden als Liebespraxis. Hier sei zunächst auf die Funktionslogik der
Metapher hingewiesen: Auch hier ist – im Sinne des hermeneutischen In-
nenraums – das Abbild des Ichs, das Frau Minne in das Herz der Dame
hineinschreiben soll (der ‚Entwurf‘), der Grund dafür, dass die Frau an den
Geliebten denken muss:
Hilff daz sie muß gedenken
Truwe und allez gutes mir! (V. 1546f.)
Wie sehr die Bildlichkeit des Schreibens ins Herz eine lesbare Schrift aus
Buchstaben konnotiert, mag eine Stelle aus dem fünften Dresdner Liebesbrief
zeigen:22
Du pist mir in das hercz begraben
Mit hundert tausent buochstaben (V. 44f.)
21 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 485: Die Minneburg. Edition: Die Minneburg. Nach der Heidelberger
Pergamenthandschrift (cpg 455) unter Heranziehung der Kölner Handschrift und der Do-
naueschinger und Prager Fragmente hrsg. von HANS PYRITZ, Berlin 1950 (DTM 43).
22 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 123: Liebesbrief. Edition: Codex Dresden M 68. Bearbeitet von
PAULA HEFTI, München 1980, S. 326-328.
198 Ludger Lieb
Dass der hermeneutische Innenraum des Herzens nicht nur einer ist, in
dem geschrieben wird, sondern in dem auch das Geschriebene wieder und
wieder gelesen werden kann, hat Hans Folz in seiner Minnerede Der neu gülden
Traum explizit ausgedrückt. Als die Dame in der Kammer erscheint, sagt
sie als erstes folgendes:23
„eins ich dich fragen muß.
Sag, hastu auch in meim abwesen
Ye i n d e i m h e r c z e n ü b e r l e s e n :
Unser peyder glüpnus und trew,
Die in meym herczen noch sint new,
Mynderten sich nie um ein har?“ (V. 132-137)
„Nach einer Sache muss ich dich fragen.
Hast du auch in meiner Abwesenheit
immer in deinem Herzen
unser beiderseitiges Gelöbnis und Treueversprechen durchgelesen,
die in meinem Herzen noch immer neu sind
und deren Geltung sich kein bisschen vermindert hat?“
Wie mit den angeführten Beispielen (die noch um viele ergänzt werden
könnten) gezeigt werden konnte, impliziert die Metaphorik von Aufschrei-
ben und Einschreiben des Dienstes oder der Treue in das Herz zwei an-
thropologisch relevante Dimensionen:
1. Schreiben wird zum Akt des unmittelbaren Zugangs zum Herzen,
d. h. zum innersten Zentrum der oder des Geliebten.
2. Das Herz wird medialisiert zu einem hermeneutischen Innenraum,
in dem aufgeschrieben und gelesen wird, in dem das Geschriebene dauer-
haft archiviert und immer wieder abgerufen werden kann.24
23 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 252: Der Traum. Edition: Hans Folz: Die Reimpaarsprüche. Hrsg.
von HANNS FISCHER, München 1961 (MTU 1), Nr. 31. Zu diesem Text vgl. jetzt JACOB
KLINGNER: ‚Der Traum‘ – ein Überlieferungsschlager? Überlieferungsgeschichtliche Beob-
achtungen zu einer ‚populären‘ Minnerede des 15. Jahrhunderts. In: Triviale Minne? Kon-
ventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden. Hrsg. von LUDGER
LIEB/OTTO NEUDECK, Berlin, New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur-
und Kulturgeschichte 40), S. 91-118, hier S. 104-111.
24 Die Metaphorik kann so dominant werden, dass sie auf den ganzen Text ausgreift. So wird
eine Minnerede des 14. Jahrhunderts komplett und regelgerecht als Urkunde der Minne gestal-
tet: BRANDIS (Anm. 10), Nr. 14: Urkunde der Minne. Edition: Lieder-Saal. Sammlung altdeut-
scher Gedichte. Hrsg. von JOSEPH FREIHERR VON LASSBERG, Bd. 3, o. O. 1825. Nachdruck
Hildesheim 1968, S. 459-463, Nr. 232. Gelegentlich verlangt auch die geliebte Dame eine
solche Urkunde vom Werbenden, z. B. im Liebesgespräch des Fröschel von Leidnitz: BRANDIS
(Anm. 10), Nr. 235. Edition: Mittelhochdeutsche Minnereden II. Die Heidelberger Hand-
schriften 313 und 355. Die Berliner Handschrift Ms. germ. fol. 922. Aufgrund der Vorarbei-
ten von WILHELM BRAUNS hrsg. von GERHARD THIELE, o. O. 1938 (DTM 41). Nachdruck
mit einem Nachwort von INGEBORG GLIER, Dublin, Zürich 1967, S. 5-9, Nr. 3 sowie S. 214-
220, Anhang Nr. 3a. Die Frau begründet ihr Verlangen damit, dass sie sich auf die versiegel-
te Urkunde (68: brieff) im Falle des Betrugs (70: ob du mich wollest troffiernn;) berufen könne.
Minne schreiben 199
Die folgenden Verse stammen ebenfalls aus der Minneburg, genauer: aus
einer Werbungsrede des Ichs an seine Dame, in der der Sprecher seine
vollkommene Abhängigkeit von ihr dadurch ausdrückt, dass er sich mehr-
fach als ihr Leibeigener bezeichnet, u. a. auch in der Wendung:
Ich sten auch an den r o d e l n 27
Do eygen lut sin angeschriben. (V. 1720f.)
25 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 424: Der Minner im Garten. Edition: Mittelhochdeutsche Minnereden
I. Die Heidelberger Handschriften 344, 358, 376 und 393. Mit drei Tafeln. Hrsg. von KURT
MATTHAEI, Berlin 1913 (DTM 24). Nachdruck mit einem Nachwort von INGEBORG GLIER,
Dublin, Zürich 1967, Nr. 5. In dieser Minnerede, V. 6, findet sich auch die Metaphorik vom
Schreiben ins Herz.
26 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 485: Die Minneburg. Edition: Die Minneburg (Anm. 21).
27 rodeln sind Rotuli, also urkundliche Pergamentrollen, auf denen in diesem Fall die Leibeige-
nen einer Herrschaft aufgeschrieben sind.
200 Ludger Lieb
2. Intradiegetische Schriftlichkeit
Ich unterscheide hier insgesamt vier Funktionsaspekte von Schrift und
Schreiben. Die erste Funktion (II.a. Schrift als Speichermedium) war gera-
de schon in der Metapher des Aufgeschrieben-Seins Thema. Es folgen zwei
Funktionen, die in gegensätzlicher Weise auf die Minnekommunikation
bezogen sind: II.b. Schrift als Diskursstörung und II.c. Schrift als Diskurs-
generator. Die vierte Funktion besteht in einer affektiven Distanzierung
und Rationalisierung, die durch die Schrift gewährleistet wird (II.d. Schrift
als Reflexionsmedium). Alle diese Funktionen haben letztlich auch mit der
Schreibpraxis der Minnereden zu tun (Abschnitt III.), weshalb ich mich
hier gelegentlich kurz fasse bzw. auf den letzten Abschnitt vorausweise.
28 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 459: Des Elenden Knaben Minnegericht. Edition: Mittelhochdeutsche
Minnereden I (Anm. 25), Nr. 1; EKKEHARD SCHMIDBERGER: Untersuchungen zu „Der Min-
ne Gericht“ des elenden Knaben. Zum Problem der Tradierung, Rezeption und Tradition
in den deutschen Minnereden des 15. Jahrhunderts. Mit einem Textanhang, Mikrofiche-
Ausg. 1978; zum Minnegericht vgl. auch MARGRETH EGIDI: Ordnung und Überschreitung in
mittelhochdeutschen Minnereden. ‚Der Minne Gericht‘ des Ellenden Knaben. In: Triviale
Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden. Hrsg. von
LUDGER LIEB/OTTO NEUDECK, Berlin, New York 2006 (Quellen und Forschungen zur
Literatur- und Kulturgeschichte 40), S. 225-240; LIEB/STROHSCHNEIDER (Anm. 15).
Minne schreiben 201
29 Dies ist natürlich vor allem beim Liebesbrief eine Gefahr, die allerdings in den Minnereden
nur selten thematisiert wird, z. B. in der Minnerede Die getrennten Liebenden (BRANDIS [Anm.
10], Nr. 215), vgl. dazu LIEB/STROHSCHNEIDER (Anm. 11).
30 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 350: Ironische Minnelehre. Edition: Zwölf Minnereden des Cgm 270.
Kritisch hrsg. von ROSMARIE LEIDERER, Berlin 1972 (Texte des späten Mittelalters und der
frühen Neuzeit 27), Nr. 10. Gegenüber der hier zitierten Fassung im cgm 270 überliefert der
andere Textzeuge (Weimar, Herzogin Anna Amalia-Bibliothek, Ms. O 145, fol. 151r-160v)
diese einleitenden und ausleitenden apologetischen Bemerkungen nicht, so dass man eigent-
lich sagen muss: Im cgm 270 liegt ein Fall von reflektierter schriftlicher Rezeption vor, die
den Inhalt des rezipierten Textes zwar wiedergibt, aber mit Zusätzen versieht, so dass der
ursprüngliche Text als schriftlicher fixiert wird und dadurch auf Distanz gehalten wird.
Minne schreiben 203
Auf diese Weise geht es 200 Verse lang weiter. Die Problematik, die aus der
Abkoppelung der schriftlichen Texte von der gemeinsamen Face-to-face-
Kommunikation resultiert, findet sich auch in der erzählenden Minnerede
Der Frau Venus neue Ordnung. Hier trifft der Ich-Sprecher im amoenen Wald
auf zwei Damen, die ihn fragen, wie er denn die neue Ordnung der Liebe
finde. Der Sprecher weiß nichts von dieser neuen Liebe und bittet daher
die Damen, ihn aufzuklären. Eine der Damen tut dies:31
Sie sprach: ‚es ist vns b e s c h r i b e n g e b e n
Jr mensur vnd Jr geferte
*Doch ist Jr ordenn nicht so hertt
*Als der fordern liebe was‘
Sie zeiget mir e i n e n b r i e f d e n I c h l a s
Sie sprach: ‚den hat fraw Venus gesant
Jren besundern freünden In das lant‘
der hub von ersten an
Als Ich Jn verstan han
Das ist der brieff
Wir Venus von gotes gnaden
Erlauben das on vnsern schaden
Das ein yetlich mensch, fraw oder man
Sol fürpas drej pulen han.
[...]
31 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 356: Der Frau Venus neue Ordnung. Edition: Fastnachtspiele aus dem
fünfzehnten Jahrhundert. Hrsg. von ADELBERT VON KELLER, Bd. 3, Stuttgart 1853 (Biblio-
thek des Litterarischen Vereins in Stuttgart), S. 1407-1414, v. 104-116; *v. 106f. nach der
Parallelüberlieferung in Berlin, SBB-PK, Ms. germ. fol. 488. – Zu den Fassungen und zur
Überlieferungsgeschichte dieser Minnerede vgl. LIEB (Anm. 15), S. 152-154.
204 Ludger Lieb
Die Norm der Vermittlung von Lehren war oben im Minnegericht des Elenden
Knaben zu beobachten. Sie wird garantiert von einer quasi priesterlichen
Exegesekompetenz. Die Norm ist, dass Frau Minne (oder eine ihrer Perso-
nifikationen) in einer Face-to-face-Kommunikation ihre Lehren vermittelt.
In solchen Interaktionen kann die Lehre kontrolliert werden. Dass sie hier
einen Brief ausgibt, ist schon an sich ein Zeichen der Verkehrung. Dass
solche nicht-konformen Lehren intradiegetisch in der Schrift erscheinen, hat
meines Erachtens damit zu tun, dass in diesen Fällen Schriftlichkeit nicht
mehr umgeben und kontrolliert ist von den produzierenden Kommunikati-
onsgemeinschaften. Das ist gefährlich. Schrift kann Inhalte transportieren,
die außerhalb der Diskursregeln stehen und auf diese Weise den konventio-
nalisierten Diskurs zum Erliegen bringen. Im letzten Beispiel kann das daran
abgelesen werden, dass nach der Wiedergabe des Briefes und der Irritation
des Sprechers (er stellt indigniert fest, dass ihm eine Buhlschaft schon an-
strengend genug sei) gerade keine Minnekommunikation mehr stattfindet,
sondern die zwei Damen sich vom Sprecher verabschieden.
2.c. Schrift als Diskursgenerator
Die dritte Funktion ist gewissermaßen das positive Gegenstück zur Dis-
kursstörung. Schrifttexte, die diskursgenerierend wirken, die also An-
schlusskommunikation hervorbringen und kontrollieren, sind entweder
literarisch ausgezeichnete Prätexte der ganzen Minneredentradition (z. B.
der Tristanroman)32 oder persönlich weitergegebene Texte, wie der Brief
von Frau Venus im folgenden Beispiel.
Der Ich-Sprecher im Liebesgespräch (I) erzählt, wie er einst seiner Gelieb-
ten begegnete und zur Einleitung des Liebesgesprächs einen Brief benutz-
te, den ihm Frau Venus geschrieben hat:33
32 Diesen Aspekt habe ich mit PETER STROHSCHNEIDER (Anm. 11) bereits ausführlicher behan-
delt, so dass ich mir erlaube, diesen Abschnitt etwas kürzer zu fassen.
33 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 239: Liebesgespräch. Edition: Die Haager Liederhandschrift. Faksimi-
le des Originals mit Einleitung und Transkription. Hrsg. von ERNST FERDINAND KOSSMANN,
Haag 1940, Nr. 44.
Minne schreiben 205
Der Brief von Frau Venus, den der Sprecher hier benutzt, um im schwie-
rigen ersten Anfangen des Gesprächs nicht topisch zu verstummen,34 ist
ganz konventionell. Es wird nichts anderes formuliert als das, was in vielen
Minnereden an Formeln und stereotypen Argumenten vorgeführt wird.
Daran ist zu sehen, wie wichtig die schriftlich distribuierten konventionel-
len Minnereden für die konkrete Minnekommunikation sein können. Was
in der Schrift verfügbar ist, hat man als Wiedergebrauchsrede zur Hand,
und man kann auf diese Weise die Kommunikation zumindest erfolgreich
in Gang bringen.
,schreib folgendermaßen,
so wie es der Lust meines Herzens entspricht:
„Lieb und lieb, früher lieb und noch immer lieb
so bist Du, Liebster meines Herzens,
mir hier lieb ohne Ende!“‘
Die Dame, die von der Minne entzündet ist, ist offensichtlich unfähig einen
Brief zu diktieren, denn sie beherrscht nur die rhetorische Stilfigur der
Wiederholung: lieb vnd lieb... Dass hier ein unzulänglicher Text produziert
wird, sieht man auch daran, dass die drei Verse sich nicht reimen bzw. nicht
mehr als eine Assonanz (lieb : hie) installieren. Der Schreiber wiederum
moniert, dass das Diktierte keineswegs ausreichend sei. Er erwartet offen-
bar, dass die Dame – rhetorisch versiert – den Konventionen des Minne-
redens gemäß mehr Text produziert:
Ich sprach: ‚fraw, mit meiner hennd
Hab ich das p a l d g e s c h r i b e n .
Seit ir by synnen beliben,
So sagent mer, d a s s c h r e i b i c h f u r t .‘
[...]
Sy sprach: ‚Ey, lasz mich ruen bas,
Wann ich des wol bedarff.‘
Vor zoren ich die vedern hin warff.
Da sy nit mer kunt kallen,
Da sach ich empfallen
Der zarten lid vnd leib,
In onmächt viel das schön weib.
Da sach ich an der selben stund
Ain haissen flamm vs irem mund,
Das von der hitz der mund was truck. (V. 110-131)
35 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 213: Der Liebesbrief von Gozold. Edition: Liederbuch der Clara Hätz-
lerin (Anm. 20), Nr. II 10.
Minne schreiben 207
36 Eine Ausnahme bilden vor allem die Arbeiten von ANN MARIE RASMUSSEN, z. B.: Gendered
Knowledge and Eavesdropping in the Late Medieval German Minnerede. In: Speculum 77
(2002), S. 1168–1194; und zuletzt: Masculinity and the Minnerede: Berlin, Staatsbibliothek
Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. oct. 186 (Livonia, 1431). In: Triviale Minne? Konventi-
onalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden. Hrsg. von LUDGER LIEB/
OTTO NEUDECK, Berlin, New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und
Kulturgeschichte 40), S. 119-138.
208 Ludger Lieb
37 Das Scheitern von Gozolds Liebesbrief im vorigen Beispiel wäre vielleicht auch ein Indiz
dafür, dass das Diktieren im Bereich der Minnekommunikation nicht länger funktioniert.
38 Vgl. LUDGER LIEB: Eine Poetik der Wiederholung. Regeln und Funktionen der Minnerede.
In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Hrsg. von URSULA PETERS, Stutt-
gart 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 506-528.
39 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 4: Der erste Buchstabe der Geliebten. Edition: Liederbuch der Clara
Hätzlerin (Anm. 20), Nr. II 11.
Minne schreiben 209
Alles soll das zarte ‚E‘ grüßen. Bemerkenswert ist die Ordnung dieses ‚Al-
les‘: Wonne des Himmels, jede edle Frucht auf Erden (dazu die Lebewesen
in Luft und Wasser) und schließlich: Was sprechen, schreiben kann vnd lesen (V.
8), d. h. doch wohl das, was unter den menschlichen Akten das hervorra-
gende ist. In einem solch weltlichen Hymnus würde man eher die alte For-
mel ‚was singen und sagen kann‘ erwarten, aber neben dem Sprechen sind
in diesen Kontexten der Minnekommunikation eben offenbar vor allem die
Kompetenzen des Schreibens und Lesens von zentraler Bedeutung.40
In der Minnerede Das Wesen der Minne (II) wendet der Sprecher gegen
die klerikale Kritik an der Minne ein, aus seinem Buchwissen gehe hervor,
dass man die Minne nicht meiden solle. Sein Buchwissen über die Minne
aber – und das interessiert hier – unterstreicht er mit dem kodikologischen
Fachbegriff des Quaternio (quatern), einer Lage aus vier Blättern: ich han
manchen quatern / beid her unnd dar gewant.41 Neben dem Hinweis auf die
schriftliche Rezeption lässt sich in dieser Aussage eventuell auch ein Ver-
weis auf die Überlieferungstypik des Einzelfaszikels für solches minnethe-
oretisches Schrifttum (oder gar für Minnereden?) gewinnen. Quaternionen
waren immerhin nicht selten als Einzelfaszikel im Umlauf.42
Auch Minnereden wie der Alphabetische Liebesgruß 43 sprechen dafür, dass
Minnereden für die schriftliche Kommunikation gedacht waren, ebenso die
relativ vielen Texte mit festen Verszahlen (50, 100, oder in der Minneburg
auffallend häufig Einheiten mit 346 Versen).
Nachdem die Annahme eine gewisse Plausibilität erreicht hat, dass Min-
nereden zu einem guten Teil sich als Schrifttexte verstanden und wohl auch
für die ‚private‘ Lektüre bestimmt waren, soll das nächste Beispiel das Ver-
hältnis von Schriftpraxis und Eingeschrieben-Werden beleuchten: Im
Schloss Immer versucht der Ich-Sprecher vergeblich, ein Schloss zu erobern
40 Eines von vielen weiteren Beispielen wäre die Minnerede BRANDIS (Anm. 10), Nr. 267:
Neujahrsgruß an die Frauen. Edition: GEORG K. FROMANN: Neujahrsgruß an die Frauen von
Hans Krug. In: Germania 25 (1880), S. 107-108, hier S. 107f.: Der Sprecher lobt die Frauen:
Durch sy man alle kurtzweil treibt. / Von in man l i ß t s i n g t t v n d s c h r e i b t (V. 27f.; um
derentwillen man alle Kurzweil veranstaltet. Von ihnen liest, singt und schreibt man.)
41 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 285: Das Wesen der Minne. Edition: Mittelhochdeutsche Minnereden
II (Anm. 24), Nr. 8, V. 8f.: ich habe viele Quaternionen hin- und hergewendet.
42 Vgl. KARIN SCHNEIDER: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Ein-
führung, Tübingen 1999 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. B. Ergän-
zungsreihe 8), S. 175-178.
43 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 141: Alphabetischer Liebesgruß. Edition: Mittelhochdeutsche Minne-
reden II (Anm. 24), S. 108-109, Nr. 20.
210 Ludger Lieb
Was das Ich hier also bei sich hat, ist ein schriftlicher Text, der das Leiden
und die Trauer des Ichs ausdrückt. Dieser ‚Brief‘, der kein Brief in unserem
Sinne, sondern eher eine Selbstauskunft des Verfassers ist (also eine Min-
nerede!), dieser Brief legitimiert das Ich als einen traurigen Minnenden vor
einer Instanz der imaginären Welt. Dort und nur dort findet der Brief sein
Recht und seine Funktion. Gelesen wird der Brief nicht von anderen Min-
nenden, sondern allein von dieser Instanz der imaginären Minne-Welt:
Da sy den brief vsz gelas,
Sy sprach: ‚als ich vernomen han,
Du bist ain frädenloser man!
Dein hertz hatt trauren besessen,
Ich hab das wol gemessen;
Du bist auch ellends genosz,
Dein hertz ist an fräden plosz.‘ (V. 480-486)
Mit der Schrift seiner ‚Minnerede‘ hat der Ich-Sprecher also die Authenti-
zität seines Minneleidens bewiesen, so dass Frau Trauer ihrerseits diesen
Zustand des Sprechers schriftlich festhalten, ihn einschreiben kann in das
‚Buch der Elenden‘.
44 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 486: Schloß Immer. Edition: Liederbuch der Clara Hätzlerin (Anm.
20), Nr. II 14.
Minne schreiben 211
Die letzte Bedingung, die Aufforderung zur Abkehr von der Welt, zeigt,
worum es hier auch geht: um eine andere Welt, eine Welt des Herzens, die
einen exklusiven Anspruch hat. Diese andere imaginäre Minnewelt ist im
Wesentlichen nur über die Schrift zu haben.
In der umfangreichen Minnerede Der neuen Liebe Buch kommt der Ich-
Erzähler gar nicht mehr selbst zu dem utopischen Ort einer anderen, bes-
seren Welt der Minne, sondern diese Welt ist ihm nurmehr als Buch zugäng-
lich. Als der Ich-Erzähler mit seinem Freund einmal auf der Jagd ist, wird
er von einem fliegenden schwarzen Reiter überrascht. Dieser ist auf dem
Weg in die Stadt der neuen Liebe und übergibt dem Erzähler ein Buch, das
gewissermaßen den Geheimcode für den Zugang in diese Stadt enthält:45
45 BRANDIS (Anm. 10), Nr. 441: Der neuen Liebe Buch. Edition: HANS HOFMANN: Ein Nachahmer
Hermanns von Sachsenheim, Diss. phil. Marburg 1893; vgl. zu dieser Minnerede demnächst
auch JACOB KLINGNER: Minnereden im Druck [Diss. Berlin 2004].
212 Ludger Lieb
Dass dieses Buch mit Blut geschrieben ist, markiert seine Verbundenheit
mit (Herkunft aus?) dem Innern des Körpers. – Statt nun selbst in diese
Stadt der Liebe zu reiten oder zu fliegen, schickt der Ich-Sprecher seinen
Freund dorthin, der ihm nach 7 Jahren endlich ein Buch zukommen lässt,
in dem der utopische Weltentwurf einer Stadt der Minne grundgelegt ist.
Da nam ich her zehand
Das buoch mit lust vnd flyß
Es was vff birment wyß
Von hand geschriben kluog
Mit maisterlichem fuog
Gerymet vnd gedicht
Ich spart mich lenger nicht
Vnd was darzuo behend
Bis ich es het zeend
Gelesen gantz vnd gar
Ob ich gesagen thar
Was sin inhaltung sy
Da wont mir zwyfel by (V. 1740-1752)
Aus diesem Grunde wird das Buch nicht vorgelesen. Doch in einem be-
gleitenden Brief beschreibt jener Freund, was in dem Buch steht, und so
– doppelt über die Schrift vermittelt – erfährt auch der Rezipient schließlich
von der Stadt der neuen Liebe.
Mein letztes Beispiel ist die Minneburg.46 Die Minneburg, die in der Mitte
des 14. Jahrhunderts entstanden sein dürfte, ist eine der längsten Minne-
reden (über 5000 Verse) und wohl auch die in der Forschung bekannteste
Minnerede. Sie lässt sich als Metatext oder Programmtext für die ganze
Minne schreiben 213
46 Die neuesten Arbeiten zur Minneburg: DAVID F[LETCHER] TINSLEY: When the Hero Tells the
Tale. Narrative Studies in the Late-Medieval ‚Minnerede‘. Diss. Princeton University 1985,
S. 94-125; RALF SCHLECHTWEG-JAHN: Minne und Metapher. Die „Minneburg“ als höfischer
Mikrokosmos, Trier 1992 (Literatur, Imagination, Realität 3); ANJA SOMMER: Die Minneburg.
Beiträge zu einer Funktionsgeschichte der Allegorie im späten Mittelalter. Mit der Erstediti-
on der Prosafassung, Frankfurt a. M. u. a. 1999 (Mikrokosmos 52); DOROTHEA KLEIN: Zur
Metaphorik der Gewalt in der ‚Minneburg‘. In: Würzburg, der große Löwenhof und die
deutsche Literatur des Spätmittelalters. Hrsg. von HORST BRUNNER, Würzburg 2004, S. 103-
119; DIES.: Allegorische Burgen. Variationen eines Bildthemas. In: Die Burg im Minnesang
und als Allegorie im deutschen Mittelalter. Hrsg. von RICARDA BAUSCHKE, Frankfurt a. M
2006 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 10), S. 113-137.
47 BLANK (Anm. 10), S. 216-223.
48 widerminne ist ein Leitbegriff in der Minneburg.
49 Eine ausführliche, in erster Linie narratologische Analyse des Minnegerichts liefert TINSLEY
(Anm. 46), S. 109-116.
50 Um die Rolle der Schrift und des Schreibens in der Minneburg hat sich die Forschung bisher
wenig bemüht.
214 Ludger Lieb
und Venus getroffen und von diesen aufgefordert worden sei, seine Frau
zu beschreiben. Er habe dies als unmöglich zurückgewiesen:51
Wer ich als wise als Salomon [...]
Dannoch kuende ich volloben nitt
Daz aller mynste und cleinste gelitt,
Daz uz ir ist gekirnet.
Wie ich sie undervirnet
In der wysheit alter,
Yd o c h i r e s l o b e s s a l t e r
Wil ich uch lesen hie ein blat,
Als ir mich gebeten hat: [...] (V. 3356. 3361–3368)
Wäre ich so weise wie Salomon [...],
ich könnte trotzdem nicht das allergeringste
und kleinste Körperglied vollständig loben,
das aus ihr entsprossen ist.
Wie jung ich auch
bezogen auf das Alter der Weisheit bin,
ich will euch doch ein Blatt
aus dem Psalter ihres Lobes vortragen,
wie ihr mich gebeten habt: [...]
und hier nun beginnt die extrem hyperbolische Binnen-Minnerede: Irs na-
men luchtig gymme / Ist durch sußet als ein zimme [...] (V. 3369f.; „der leuchtende
Edelstein ihres Namens / ist ganz und gar süß wie Zimt ...“). Der Ich-
Sprecher liest also einen Text vor. Die Angabe, er lese ein Einzelblatt aus
dem Psalter ihres Lobes vor, scheint dabei mehr zu sein als eine hübsche
Metapher. Dahinter steht offenbar die Vorstellung, dass das minnende Ich
bereits eine ganze Sammlung von Minnereden angelegt habe, die es vor den
Instanzen der imaginären Minnewelt vortragen könne. Diese Vorstellung
scheint im Übrigen auch in dieser vorgetragenen hyperbolischen Minnere-
de selbst auf, wenn es von ihrer Schönheit heißt:
Solt man an ein brives zedeln
Daz halbes schriben unde sagen,
Ez kunde ein karre kaum getragen. (V. 3458-3460)
Würde man auf Zetteln
nur die Hälfte davon aufschreiben und sagen,
könnte man es mit einem Karren kaum transportieren.
erzählt, das am Ende ausschließlich darin besteht, dass zur Bestätigung der
rechten Minne des Ich-Sprechers dessen ‚eigene‘, ‚selbst verfasste‘ Minne-
reden vor Frau Minne und ihrem Hofstaat vorgetragen werden. Insgesamt
handelt es sich um fünf Binnen-Minnereden (von der letzten ist nur der
Anfang erhalten). Die ersten drei Reden haben übrigens annähernd densel-
ben Umfang (je ca. 346 Verse)52 wie das erste und zweite Kapitel der Min-
neburg (354 bzw. 346 Verse), was ein Indiz dafür sein könnte, dass es sich
hier um eine Art von Einschachtelung oder re-entry handelt: Was als kon-
ventionell literarisch ausdifferenzierter und bestimmbarer Text beginnt,
umschließt am Ende in seinem Innen, in seiner Diegese mehrere Texte, die
auf dieselbe Weise ausdifferenziert sind. Dadurch gewinnt der ganze Text
die Qualität eines sich selbst reproduzierenden Systems.
Eine treibende Kraft spielt dabei Frau Treue, die als Anwältin ihren
Mandanten, ihren Diener, vor Gericht vertritt. Um das Recht immer noch
evidenter zu machen, fordert sie nämlich Frau Minne auf, mit ihrem Urteil
noch zu warten und lieber noch eine Rede anzuhören. Dabei kommt es
zunächst für den Rezipienten zu einer Irritation, denn der Diener der Frau
Treue entpuppt sich nach und nach als der Ich-Sprecher selbst. Vor der
ersten Binnen-Minnerede, die offenbar Frau Treue vorträgt, berichtet diese
schon, dass die folgende Rede vom Verfasser der Minneburg auf den Diener
der Treue gedichtet worden sei und zudem dass diese beiden der Geburt
nach Zwillinge seien (V. 4246-4266). Nach dem Vortrag dieser Rede schlägt
Frau Treue vor, der Diener solle nun selbst eine Rede vortragen und zwar
wiederum eine Rede, die im durch lieb getichtet hat, / Der ditz buch hat vor getich-
tet (V. 4636f.; „die ihm aus Liebe derjenige gedichtet hat, der auch das
ganze Buch [die Minneburg] zuvor schon gedichtet hat“). Frau Minne stimmt
zu, und es heißt von diesem Diener der Treue:
Ich [!] sprach: ‚hoert zu; ich sag uch daz,
Als ich aller ferste kan.‘
Hie hebt sich die rede an. (V. 4650-4652)
Ich sagte: ‚hört zu, ich sage euch diese Rede,
wie ich es am besten vermag.‘
Hier beginnt die Rede:
Es wurde bemerkt, dass in V. 4650 „der Autor selbst oder aber einer der
Abschreiber die Kontrolle über die Identitäten kurzfristig verloren hat“.53
Hier müsste eindeutig „er sprach“ stehen, weil der Erzähler diesen Diener
von Frau Treue an allen anderen Stellen mit dem Personalpronomen der
dritten Person Singular bezeichnet.
‚O Venus, Kaiserin,
hier hört ihr wahre Minne
von meinem treuen Diener.
Befehlt, dass er noch eine schöne Rede vortrage,
eine, die gerade erst aus der Schmiede kommt.
Und nach der dritten und der vierten Rede
stellt dann erst in Wahrheit Fragen,
je nach dem, wie die Rede vorgelegt wurde.‘
So sprach Frau Treue.
‚Frau Minne, hört wegen des ganzen Kummers
meinem Diener zu.‘
Da antwortete Frau Minne, die Richterin,
und sagte: ‚Frau Treue, ich möchte
am liebsten nacheinander hundert
solcher Reden hören,
denn ich merke sehr gut, dass mein Feuer
in ihm ganz heftig lodert.
Wohlan, Geselle, beginne und trage
die Rede um deiner Dame willen vor.‘
Minne schreiben 217
54 Offenbar ging der Text aber noch auf der letzten Seite der Handschrift, cpg 455, fol. 202v,
weiter, doch laut PYRITZ (Anm. 21), S. XIX, ist diese Seite „so beschmutzt und abgerieben,
daß der Text (der bis zum Ende der Seite durchläuft) bis auf einige Buchstaben und kleine
Wörtchen unleserlich ist.“
55 PYRITZ (Anm. 21), S. XIX: „Groß wird der Umfang des Verlorenen nicht sein“; ebd., S.
LXVII: „kaum mehr als ein kleines Stück“; BLANK (Anm. 10), S. 223.
56 BLANK (Anm. 10), S. 223.
218 Ludger Lieb
Treue bestätigen darf und soll. Erzählzeit und erzählte Zeit fallen am Ende
der Minneburg zusammen: Das erzählte Ich kommt als weiterdichtendes Ich
im Präsens der Erzählzeit des erzählenden Ichs an.
4. Schluss
Um das besondere Verhältnis von Schreiben und Lieben in den Minnere-
den zusammenfassend zu beschreiben, möchte ich als Vergleichsfolie den
Minnesang heranziehen. Dabei geht es mir nicht darum, eine Aussage über
den Minnesang zu machen, sondern hinsichtlich der Rolle der Schriftlich-
keit die Besonderheiten der Minnerede herauszustellen. Ich erlaube mir zu
diesem Zweck, den Minnesang etwas vereinfacht zu beschreiben als: ten-
denziell für die öffentliche Aufführung bestimmtes Minnelied mit künstle-
rischem Anspruch. Vier Merkmale stecken neben dem Thema ‚Minne‘ in
dieser Beschreibung: Der Minnesang ist 1. kunstvoll, 2. für die Öffentlich-
keit bestimmt, 3. aufführungsorientiert und 4. als Lied sangbar. Diesen vier
Merkmalen möchte ich jeweils einen Gegenbegriff hinzufügen, der das
Potenzial der Schrift für die Minnerede ausleuchten soll:
1. nicht kunstvoll, sondern verfügbar: Es geht in den Minnereden nicht um
hohe Kunst eines Meisters, nicht um Werke mit ästhetischem Geltungsan-
spruch und elaborierten Formen, in denen sich ein Autorbewusstsein ma-
nifestierte oder das Bewusstsein, in einer literarischen Tradition zu stehen.
Es geht nicht um ein Gesamtkunstwerk aus Text, Musik, Gesang und Ge-
bärde, sondern es geht um die textuelle Selbstermächtigung eines Minnen-
den, am Minnediskurs teilzuhaben, es geht um Einübung und Benutzung
symbolischer Codes57, um mit anderen Minnenden oder auch mit einer
imaginären Minnediskursgemeinschaft zu kommunizieren. In der Schrift-
lichkeit werden diese Codes verfügbar gemacht. Im Bereich der Minnere-
den ist Schrift ein Diskurszugang, eine Ermöglichung von Ausdruck, eine
Verfügbarmachung einer Sprache über die Liebe.58
2. nicht öffentlich, sondern heimlich-exklusiv: Über die Minne, d. h. über eine
den politischen und kirchlichen Institutionen (z. B. der Ehe) fernstehende
zwischengeschlechtliche Beziehungsform, konnte im Spätmittelalter nicht
einfach öffentlich kommuniziert werden. Bedingung der Möglichkeit, dass
dennoch eine Kommunikation über die Minne zustande kam, war daher
einerseits eine Kommunikationsgemeinschaft mit starken Inklusions- und
57 NIKLAS LUHMANN: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1982.
58 Vgl. LIEB (Anm. 38); LUDGER LIEB/OTTO NEUDECK: Zur Poetik und Kultur der Minnere-
den. Eine Einleitung. In: Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittel-
alterlichen Minnereden. Hrsg. von DENS., Berlin, New York 2006 (Quellen und Forschungen
zur Literatur- und Kulturgeschichte 40), S. 1-17.
Minne schreiben 219
als Akte des Einschreibens eines Minnenden in den Diskurs, die dann wie-
der von den anderen Minnenden zu eigener Kreativität verwendet werden
konnten. Dieses Einschreiben ist somit auch Ausweis von Rede- und
Schreibkompetenz im Bereich der Minnedichtung, ja es wird selbst zu
einem Akt des Minnens, wie PETER VON MOOS im Bezug auf die Epistolae
duorum amantium formuliert: „Liebe und Liebesdichtung [fließen] als ein
und dieselbe Kunst ästhetischer Sublimierung harmonisch zu ‚einer säku-
laren Religion der Liebe‘ ineinander.“63 Die Textpraxis der Minnereden ist
Liebespraxis – zumal wenn man Liebe definiert als ‚Gedenken‘, als imagi-
natives Anfüllen des Ichs ‚mit der Dame‘ und mit dem Sprechen über die
Minne. So ließe sich auch RAINER WARNINGs Formel für den Minnesang:
„Singenkönnen ist Ausweis von Liebenkönnen“64 modifizieren. Für die
Minnereden gilt: Schreibenkönnen ist Ausweis von Liebenkönnen.
4. nicht liedhaft, sondern episch: Das Minnelied bleibt meist auf die gegen-
wärtige Situation und auf die diesseitige Welt bezogen. Die Minnereden
dagegen (vor allem die Minnereden mit stark narrativen Anteilen) machen
sich auf die literarische Suche nach einer besseren Welt. Sie versuchen eine
andere, ‚epische‘ Welt zu entwerfen, in der die Minne zu ihrem Recht
kommt und reflektiert gehandhabt wird. Minnereden träumen sich in die
‚säkulare Religion der Liebe‘ hinein:
In keiner anderen weltlichen Gattung des Spätmittelalters wird der Traum
vom besseren Menschen – und damit von der besseren Welt – so intensiv und
so dauerhaft geträumt wie in den Minnereden, in keiner wird die Liebe so
ausschließlich zum Prüfstein und zum erklärten Ziel menschlichen Glücks-
strebens.“65
63 PETER VON MOOS: Die Epistolae duorum amantium und die „säkulare Religion der Liebe“.
Methodenkritische Vorüberlegungen zu einem einmaligen Werk mittellateinischer Brief-
literatur. In: Studi Medievali 44.1 (2003), S. 1-115, hier S. 99.
64 RAINER WARNING: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. In: Deutsche Lite-
ratur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Gedenkschrift Hugo Kuhn. Hrsg. von
CHRISTOPH CORMEAU, Stuttgart 1979, S. 120–159, hier S. 129.
65 GLIER (Anm. 10), S. 13.
SUSANNE REICHLIN
Gescheiterte Liebeserziehung –
gelungene Beschriftung:
Sprache und Begehren im Märe Des Mönchs Not
In den Kulturwissenschaften hat sich der linguistic turn in den letzten Jahren
auch für das Verhältnis von Sprache, Körper und Begehren durchgesetzt:
In unterschiedlichen Theorieströmungen ist man sensibel dafür geworden,
dass das Begehren nicht in erster Linie körperlich zu verstehen ist. Stattdes-
sen wird es als Produkt eines Diskurses oder als Effekt sprachlicher Prozes-
se konzipiert.1 In der mediävistischen Literaturwissenschaft hat insbeson-
dere HOWARD BLOCH das Verhältnis von Sprache und Begehren in den Fa-
bliaux analysiert und kommt zu fast schon programmatischen Thesen:
To our initial question concerning the origin of desire, the response can only
be something on the order of language or [...] the fabliau itself.2
The language which covers – and always covers imperfectly – does not
stand in specular relation to the body (or to any body of representation), but
on the contrary, seems even to engender that of which it speaks.3
Die Annahme, dass der Sprache Vorrang vor dem Körper gebühre, hat sich
mit einer solchen Insistenz eingebürgert, dass sie oft geradezu plakativ wirkt.
Differenzierungen zwischen unterschiedlichen Ebenen des Textes und den
verschiedenen medialen Ausprägungen von ‚Sprache‘ werden verwischt.
In einer Erzählung ist das Verhältnis von Sprache und Begehren immer
ein zweifaches: Einerseits kann auf der Handlungsebene von sprachlich
1 Als theoretische Eckpfeiler dieser Entwicklung könnte man u. a. nennen: MICHEL FOU-
CAULT: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1. Der Wille zum Wissen. Übers. von Ulrich Raulff und
Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1999 (stw 716) ; ROLAND BARTHES: Die Lust am Text. Übers.
von Traugott König, Frankfurt a. M. 1986 (Bibliothek Suhrkamp 378); NIKLAS LUHMANN:
Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1994 (stw 1124) sowie die
Arbeiten JACQUES LACANS, vgl. dazu: ALAIN JURANVILLE: Lacan und die Philosophie. Übers.
von Hans-Dieter Gondek, München 1990 (Reihe Forschungen 3), S. 133-204.
2 R. HOWARD BLOCH: The Scandal of the Fabliaux, Chicago, London 1986, S. 87.
3 BLOCH (Anm. 2), S. 83.
222 Susanne Reichlin
4 HELGA GALLAS: Das Textbegehren des ‚Michael Kohlhaas‘. Die Sprache des Unbewussten
und der Sinn der Literatur, Reinbek bei Hamburg 1981 (das neue buch 162). S. u. Abs. VI,
insbesondere Anm. 60.
5 Ich zitiere im Folgenden (auch die Übersetzungen) nach: Der Zwickauer: Des Mönchs Not. In:
Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hrsg. von KLAUS GRUBMÜLLER, Frankfurt a. M.
1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), S. 666-695. Zu Überlieferung, Edition und Datierung
vgl. den Kommentar, S. 1250-1258 und HANNS FISCHER: Studien zur Märendichtung, Tübin-
gen 1968, S. 205, der das Märe einer anderen Handschrift entsprechend einem Zwingäuer
zuschreibt. Über den Verfasser ist nichts bekannt. Der „einzige verläßliche Anhalt“ für die
Entstehungszeit ist die Überlieferung zweier Handschriften, die auf vor 1300 schliessen lassen
(GRUBMÜLLER, S. 1251). Das Märe findet sich z. T. auch unter dem Titel Der schwangere Mönch
(so z. B. in Gesamtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen: Ritter- und Pfaffen-Mären.
Stadt- und Dorfgeschichten. Schwänke, Wundersagen und Legenden. 3 Bde. Hrsg. von
FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGEN, Darmstadt 1961, Bd. II, Nr. 24, S. 53-69).
Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung 223
Wald trifft er einen Mitbruder, der ihn mit Gewalt ins Kloster zurückbringt.
Da er weiterhin nach seinem Kind sucht, gilt er als besessen. Mit Gewalt
und Beichte wird ihm dies aber ausgetrieben, so dass er am Ende – wie zu
Beginn – seine Tage mit Lesen, Singen und Beten verbringt.
Die bisherige Forschung6 interessierte sich vor allem für die Schwanger-
schaft des Mönchs. Für ROBERT ZAPPERI7 verbildlicht die Schwangerschaft
die Effemination des Mönchs. Er liest das Märe als Kritik an Klerus und
Adel, die beide die Herrschaft des Mannes über die Frau zu sichern ver-
suchten. Der Mönch spreche am Ende als hysterisches Subjekt. ZAPPERI
liest dies als utopisches Moment, weil dabei das Geschlechterverhältnis
nicht mehr als hierarchisches, sondern als komplementäres gezeigt werde.
Für ANDRÉ SCHNYDER8 sind das Scheitern des ‚Minneabenteuers‘ und
die Schwangerschaft Anzeichen für die Homosexualität des Mönchs.9
Dank anthropologischer Konstanten10 unterstellt er auch da noch ein se-
xuelles Begehren, wo es gerade fehlt. Dem Mönch werde vom Klerus ein
„sexuelles Wissen“ vorenthalten, „dessen Besitz ihn erst zum Menschen
mach[e]“.11 SCHNYDER versteht den Mönch mit dem entsprechenden Ver-
weis auf Foucault als „Opfer sexueller Repression“.
Beide Analysen gleichen sich somit darin, dass sie ein Begehren voraus-
setzen, das von einer Macht unterdrückt oder verhindert wird.12 Sie lesen
das Märe soziohistorisch als Spiegel von Herrschaftspraktiken und ver-
nachlässigen dabei die Erzählebene, d.h. die (sprachliche) Art und Weise,
in der die Geschichte erzählt wird. Dabei versperrt die Fokussierung auf die
6 Ausführlichere Angaben zur bisherigen Forschung finden sich bei FISCHER (Anm. 5), S. 377
und GRUBMÜLLER (Anm. 5), S. 1258 und ANDRÉ SCHNYDER: Art: Zwickauer. In: Die deut-
sche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10. Hrsg. von BURGHART WACHINGER
u. a., Berlin, New York 1999, S. 1623-1625.
7 ROBERT ZAPPERI: Geschichten vom schwangeren Mann. Männer, Frauen und die Macht.
Übers. von Ingeborg Walter, München 21994 (Beck’sche Reihe 1068), S. 139-170.
8 ANDRÉ SCHNYDER: Des Mönchs Not. Mit Michel Foucault neu gelesen. In: Wirkendes Wort.
Deutsche Sprache in Forschung und Lehre 5 (1987), S. 269-283.
9 „Deutlichstes Indiz, dass bei unserem Mönch der Wunsch nach homosexuellen Beziehungen
namentlich zu seinen Vorgesetzten durch das Verlangen, Frau Minne zu treffen, und dann
durch die Idee, schwanger zu sein sich andeutet, ist die Hoffnung, Abt, Prior und Cellerar
als Paten (Väter !) des Kindes zu gewinnen“ SCHNYDER (Anm. 8), S. 273.
10 SCHNYDER (Anm. 8), S. 273, beruft sich auf problematische Art und Weise auf Ethnologie
und Psychoanalyse Freuds, um die Schwangerschaft als Verweis auf homosexuelle Wünsche
zu lesen. Bei seiner Paraphrase der Thesen Foucaults hebt er hingegen hervor, dass „Sexu-
alität nicht als ausserhistorisches, natürliches Faktum [...], sondern als Bewußtseinsinhalt, der
sich erst und nur unter konkreten historischen Bedingungen konstituieren kann“ zu begrei-
fen sei (S. 274). Seine Interpretation kann jedoch genau diesen Anspruch nicht einlösen.
11 SCHNYDER (Anm. 8), S. 271.
12 Ganz ähnlich argumentiert auch BRIGITTE SPREITZER: Die stumme Sünde. Homosexualität
im Mittelalter. Mit einem Textanhang, Göppingen 1988 (GAG 498), S. 101-103, die die
Teufelsaustreibung am Ende als ‚Verteufelung‘ der Homosexualität versteht.
224 Susanne Reichlin
1. Erotische Naivität
Im Märe Des Mönchs Not fällt als erstes die Entgegensetzung zweier Räume
auf, nämlich die Opposition zwischen dem abgeschlossenen Innenraum
13 IMGARD MEINERS: Schelm und Dümmling in Erzählungen des deutschen Mittelalters, Mün-
chen 1967 (MTU 20), S. 115-122.
14 MEINERS (Anm. 13), S. 117.
15 MEINERS (Anm. 13), S. 120: „Das Denken entfernt sich immer mehr von der Realität, und
schließlich fallen Realität und Denken völlig auseinander, wie am Schicksal des schwangeren
Mönchs und seiner geistigen Verwandten zu sehen ist.“
16 Vgl. KURT OTTO SEIDEL: Bücherwissen und Erfahrung im Märe. Die Auseinandersetzung
mit Lebensformen hinter Mauern, in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur
des Hoch- und Spätmittelalters. FS Volker Mertens. Hrsg. von MATTHIAS MEYER und HANS-
JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 2002, S. 691-711, hier S. 698. Er postuliert, dass das Märe die
„Unzulänglichkeit der klösterlichen Lebensform“ aufzeige, da diese nur ‚Buchwissen‘ und
kein ‚Erfahrungswissen‘ ermögliche.
Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung 225
des Klosters und dem des Außen. Die räumliche Aufteilung ist auch eine
biographische, motiviert sie doch die erotische Naivität des Mönches:
Ein kleines kint wart gegeben
zu einem münch in ein reinez leben.
im was diu werlt unbekant. (V. 9-11)
[…]
er konde singen unde lesen
vil baz denne minnen. (V. 172f.)
17 Bei FISCHER (Anm. 5), S. 97 stellt „Verführung und erotische Naivität“ einen eigenen The-
menkreis (mit 12 Vertretern) dar. MONIKA JONAS: Der spätmittelalterliche Versschwank.
Studien zu einer Vorform trivialer Literatur, Innsbruck 1987 (Innsbrucker Beiträge zur Kul-
turwissenschaft. Germanistische Reihe 32), S. 42-47, nennt den gegenüber FISCHER etwas
erweiterten Themenkreis „Sexuelle Unerfahrenheit/Verführung“ (S. 47). JONAS geht davon
aus, dass die Schwankerzählungen von einem „Spannungsverhältnis zwischen über- bzw.
unterlegener Partei“ beherrscht werden. In den Texten über die „sexuelle Unerfahrenheit“
besteht die Überlegenheit im Wissen um Sexualität (S. 46). Dadurch, dass JONAS von einem
nicht weiter spezifizierten „Wissen“ ausgeht, kann sie gerade die Dissoziation von Sprache
und Erfahrung, die in vielen Geschichten dominant ist, nicht fassen. HERIBERT HOVEN:
Studien zur Erotik in der deutschen Märendichtung, Göppingen 1978 (GAG 256), S. 316-
318, versteht die erotische Naivität einerseits als Möglichkeit „zur Entlarvung erstarrter
Normen und Verhaltensweisen“, andererseits zeige sie „die Ohnmacht einer Norm, die den
Trieb einzudämmen sucht“ (S. 317). Wie SCHNYDER (Anm. 8) stützt sich HOVEN auf die
anthropologische Konstante des Triebs. Ein Erklärungsversuch, der von Des Mönchs Not
unterlaufen wird.
18 Das Häslein. In: GRUBMÜLLER (Anm. 5), 590-617, V. 85; „Minne, Herr, was ist das?“
19 In Der Sperber. In: GRUBMÜLLER (Anm. 5), 568-589, sagt sie: daz ir mir hât vür gezelt / und ez
minne hât genant, /daz ist mir leider unbekant. (V. 130-133; „Das, was Ihr da erwähnt / und
Minne genannt habt, / das ist mir leider völlig unbekannt.“) In Des tiuvels âhte. In: VON DER
HAGEN (Anm. 5), Bd. II, Nr. 24, S. 127-135, verfügt das Mädchen über die Erfahrung, doch
fehlt ihr das Wort: sagt mir, herre, waz ist daz, / Des wir mit ein ander pfligen? (V. 50f.); „Sagt mir,
mein Herr, was ist es, / das wir miteinander treiben“ (Übers. S. R.).
226 Susanne Reichlin
20 Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller. Hrsg. und übers.
von DIETER KARTSCHOKE, Stuttgart 1986 (Universal-Bibliothek 8303). Lavinia fragt die
Mutter: dorch got, wer is diu Minne? (V. 261,27; „Um Gottes Willen, wer ist ‚die Minne‘?“) und
sô saget mir denne waz minne is. (V. 262,6; „So sagt mir also, was Minne ist.“). Liebe zeigt sich
hier somit – ganz im Sinne der am Anfang vorgestellten Thesen – als Effekt des Diskurses.
Vgl. dazu: MIREILLE SCHNYDER: Imagination und Emotion. Emotionalisierung des sexuellen
Begehrens über die Schrift. In: Codierung von Emotionen in der Literatur des Mittelalters
und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von INGRID KASTEN/C. STEPHEN JAEGER, Berlin, New York
2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. 237-250.
21 Sie geben beispielsweise vor, minne sei ein tauschbares Objekt; vgl. Der Sperber (Anm. 19),
V. 146ff; 169, und Das Häslein (Anm. 18), V. 105f. Ähnlich im Fragment Dulciflorie. In: Der Sper-
ber und verwandte mhd. Novellen. Hrsg. von HEINRICH NIEWÖHNER, Berlin 1913 (Palaestra.
Untersuchungen und Texe aus der deutschen und englischen Philologie 119), S. 95-105,
V. 170ff.
22 Vgl. HOVEN (Anm. 17), S. 337: „In den Mären Des Teufels Ächtung, Ehren und Höhnen, Rache
für die Helchensöhne u.a. geht ein komischer Reiz von Koitus-Umschreibungen aus, welche auf
eine möglichst grosse Distanz zwischen sprachlichem Zeichen und Gemeintem hinzielen.“
23 Des tiuvels âhte (Anm. 19).
24 Das Gänslein. In: GRUBMÜLLER (Anm. 5), S. 648-665.
Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung 227
Des Mönchs Not zitiert das Erzählmuster der ‚erotischen Naivität‘ an,
doch setzt es sich zugleich davon ab. Der Mönch wird nicht von einem
Dialogpartner gezielt trügerisch in den Minnediskurs eingeführt, sondern
ein geschriebener Ausdruck (minne bant) weckt seine Neugier.
Der Mönch versteht den Ausdruck nicht.25 Um dessen Bedeutung zu
ergründen, legt er das Buch weg. Er wendet sich nicht an eine klösterliche
Schriftautorität wie den Abt, sondern an den Grenzgänger, den Knecht.
Seine semantische Neugierde führt ihn zwar aus dem Kloster, nicht aber
aus dem Diskurs hinaus. Denn die Antworten des Knechtes zitieren ganz
unterschiedliche höfische und nicht-höfische Liebesdiskurse an. Einerseits
erzählt der Knecht vom Wechsel von Freud und Leid, der Liebeskrankheit
und der Heteronomie des Liebenden. Andererseits schildert er den Minne-
hof als Ort, an den man nur mit Geld hingelangen kann und der vor allem
leibliche Gelüste befriedigt.26
Das Märe erschöpft sich aber keineswegs in der Konfrontation unter-
schiedlicher literarischer Diskurse.27 Vielmehr werden damit gezielt falsche
Erwartungen auf alternative Erzählverläufe geweckt. Der Ausdruck minne
bant weckt zwar die sprachreferentielle Neugier des Mönches, doch kein
sexuelles Begehren. Während der Liebesnacht liegt er steif da. Die Liebes-
erziehung führt nicht – wie bei den vorwiegend weiblichen naiven Figuren
der anderen Mären – zu einem ‚unersättlichen‘ Begehren, sondern zu
wiederholter Gewalt.
Die Wirtin verkürzt dem Mönch die wile (V. 209; „vertrieb [...] ihm die
Zeit“) und spendet ihm vreude[ ] (V. 216; „Freude“). Zurück im Kloster gienc
der münch sochen (V. 278; „fing der Mönch zu kränkeln an“) und dies bestätigt
ihm seine Schwangerschaft.
Der höfische Liebesdiskurs geht in den Topoi der Liebeskrankheit von der
Übereinstimmung von Körper und Sprache aus. Liebe, die sprachlich behaup-
tet wird, ist auch am Körper sichtbar.28 Der Witz vieler Mären besteht hinge-
gen in der Dissoziation von Sprache und Körper. Eheleute tauschen – wie z.B.
im heissen Eisen29 – höfische Liebesworte aus, während sie sich gegenseitig
Gewalt zufügen. Wenn in Des Mönchs Not die Wirtin ihre Schläge als Minne-
briefe bezeichnet, wird auf diese Form der Pointen-Erzeugung angespielt.
Zugleich wird sie aber nochmals gesteigert. Denn ohne alle Erfahrung von
minne zeigt der Körper des Mönchs genau die Symptome auf, die diskursiv
angekündigt wurden. Körper und Sprache stimmen – zumindest auf der lite-
ralen Ebene – überein. Sie zitieren damit nicht nur den höfischen Liebesdis-
kurs, sondern auch andere Mären, die auf dessen Kosten Komik erzeugen.30
Die ironische Kongruenz von Körper und Diskurs hat noch einen wei-
teren Effekt, nämlich den, die Absenz des Begehrens prominent sichtbar
zu machen. Die oben beschriebenen Mären Das Gänslein und Des tiuvels âhte
erzeugen ihre Pointe aus der Dissoziation von Sprache und Erfahrung. Des
Mönchs Not verfährt genau umgekehrt. Die Pointe besteht u. a. in der irri-
tierenden Übereinstimmung von Liebesdiskurs und Körpersymptomen.
28 Dies gilt ausschliesslich für die Topoi wie Erröten, Erbleichen oder Ohnmacht. Bereits die
höfischen Texte spielen mit solchen Topoi und erzeugen Bedeutung gerade durch deren
Nicht-Übereinstimmung. Vgl. etwa INGRID HAHN: Zur Theorie der Personenkenntnis in der
deutschen Literatur des 12.-14. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen
Sprache und Literatur 99 (1977), S. 395-444, und HORST WENZEL: Hören und Sehen. Zur
Lesbarkeit von Körperzeichen in der höfischen Literatur. In: Personenbeziehungen in der
mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von HELMUT BRALL, Düsseldorf 1994 (Studia humaniora
25), S. 191-218.
29 Der Stricker, Das heiße Eisen. In: GRUBMÜLLER (Anm. 5), S. 44-55.
30 Auf der Erzählebene gibt es weitere Textsignale, die – im Spiel mit bekannten Erzählmus-
tern – den Vollzug der Liebesnacht andeuten, ohne dass er stattgefunden hätte. So wird etwa
der Preis für den scheinbaren Ehebruch sorgsam ausgehandelt (V. 97ff.) und als der Mönch
am anderen Morgen in aller Frühe ins Kloster zurück eilt, ist der Knecht überzeugt, der
gehörnte Ehemann sei der Anlass für den frühen Aufbruch (V. 234).
Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung 229
Das sexuelle Begehren wird als Leerstelle dargestellt; als ein Fehlen, auf das
mittels einer irritierenden Übereinstimmung von Körper und Sprache hin-
gewiesen wird.
Dies wirft auch ein anderes Licht auf die eingangs aufgeworfene Frage
nach dem Vorrang von Körper oder Sprache „concerning the origin of
desire“. Des Mönchs Not verweist auf das literarische Muster, Begehren mit-
tels Dissoziation oder Übereinstimmung von Körpersymptomen und Dis-
kurskonvention darzustellen. Durch die irritierende Übereinstimmung der
beiden macht das Märe die Absenz von etwas sichtbar, das der Opposition
von Körper vs. Sprache entgeht.
Dabei geht es weniger um ontologische Aussagen über ‚das Begehren‘,
als vielmehr um Fragen der Darstellung. Für die narrative Evokation von
Begehren scheint die Opposition von Körper und Sprache zentral; aber
nicht als eine stabile, sondern als eine, die konstante Verschiebungen er-
möglicht. Gerade weil sowohl Körper als auch Sprache letztendlich immer
mit sprachlichen Mitteln dargestellt werden, stösst das Erzählen weder auf
der einen noch auf der anderen Seite jemals zu einem ‚Ursprung‘ oder gar
zu einer soziohistorischen Realität vor.31
31 Vgl. BLOCH (Anm. 2), S. 90: „the erotic interest of the fabliaux consists neither of anything
like a natural act (a naturalism of the body) nor of the use of direct speech to describe such
an act (a naturalism of language) but of the refusal of the proper that characterizes the tales
analyzed above: a denaturing.“
32 Vgl. auch UDO FRIEDRICH: Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzer-
zählungen. In: Geltung in der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im
Mittelalter. Hrsg. von BEATE KELLNER, PETER STROHSCHNEIDER und FRANZISKA WENZEL,
Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190), S. 227-249, hier S. 238-242 und HOVEN
(Anm. 17), S. 327: „Metaphern werden ihrer herkömmlichen Metaphorik entkleidet und in
komisierender Weise ‚wörtlich‘ genommen“. Als Beispiel kann man Heinrich Kaufringer:
Der Zehnte von der Minne. In: Werke. Studienausgabe. Hrsg. von PAUL SAPPLER, Tübingen
1972, S. 131-139, anführen. Die theologische Metaphorik des almuosen (V. 57; „Almosen“)
und des waingart[s] (V. 276; „Weinbergs“) wird sexualisiert und ökonomisiert. Der Pfarrer
erschleicht sich den Ehebruch, indem er den zehenden (V. 59; „der Zehnte“) von der Frau
verlangt. Der Ehemann rächt sich, indem er dem Pfarrer den Urin der Frau als frucht (V. 287;
„Ernte“) vorsetzt (Übers. S. R.).
230 Susanne Reichlin
Auch in Des Mönchs Not werden die Minnetopoi des Knechtes schnell
märentypisch konkretisiert: Die personifizierte ‚Frau Minne‘ entpuppt sich
als kaufbare Frau, ihr hof 33 als gewöhnliche Herberge. Doch im Unter-
schied zu den anderen Mären, wo der Witz der Rekonkretisierung der Lie-
besmetaphorik in deren Sexualisierung besteht, ist die Sexualisierung hier
bloss eine kalkuliert geschürte, aber falsche Lese-Erwartung. Das Verkür-
zen der wile (V. 209; „Zeit“), die verbreitete vreude (V. 216; „Freude“) und
der stoz (V. 178; „Stoß“) der ‚Frau Minne‘ werden nicht als blumig ver-
schleierte Sexualität entlarvt,34 sondern es handelt sich um literale Stösse,
d. h. um gewöhnliche Gewalt.
Die vom Leser erwartete Konkretisierung findet zwar statt, doch wird
vorgeführt, dass auch das märenübliche Sexualvokabular selbst wiederum
metaphorisch verstanden werden kann. Der naive Blick, als Technik der
Rekonkretisierung literarischer Liebesdiskurse, ist keine Rückführung auf
einen scheinbaren Ursprung wie Sexualität, sondern bloss eine literarische
Technik der Bedeutungsverschiebung. Damit blitzt die generelle Metapho-
rizität von Sprache auf: Es gibt nicht die eine Konkretisierung einer Meta-
pher, sondern die Konkretisierung ist eine sprachliche Verschiebung, die in
ganz unterschiedliche Richtungen vorgenommen – und erst noch wieder-
holt werden kann.
Es geht hier also erneut um eine doppelte Bezugnahme. Des Mönchs Not
zitiert die Form, in der andere Mären auf den höfischen Liebesdiskurs
Bezug nehmen (Konkretisierung der Minne-Topoi) und verschiebt diese
Bezugnahme nochmals, indem die Konkretisierung nun metaphorisch ge-
lesen wird.
4. Verschiebungen
HOWARD BLOCH geht – wie eingangs erwähnt – davon aus, dass in den
Fabliaux die Sprache das Begehren erzeuge. Er begründet dies damit, dass
„the eroticism of the fabliaux“ nicht in einer ‚konkreteren‘ Darstellung von
33 V. 93; „Hof der Minne“. KARL-HEINZ SCHIRMER: Stil- und Motivuntersuchungen zur mit-
telhochdeutschen Versnovelle, Tübingen 1969 (Hermaea. Germanistische Forschungen,
N.F. 26), S. 272f., liest den Minnehof als Anspielung auf die „‚Institution‘ der Minnehöfe
[...], bei denen höchste adlige Kreise in geselligen Zirkeln zusammenkamen, um über pikante
amouröse Themen amüsante Diskussionen zu führen.“
34 Die Sexualmetaphorik des Stosses wird etwa in Claus Spaun: Fünfzig Gulden Minnelohn. In:
Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von HANNS FISCHER, München
1966 (MTU 12), S. 351-361, benutzt: der [Liebhaber] gap ir [Ehefrau] manchen herten stoß (V.
141, „der Liebhaber gab der Frau einige harte Stösse“ (Übers. S.R.). Vgl. zur erotischen
Metaphorik auch HOVEN (Anm. 17), 332.
Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung 231
35 R. HOWARD BLOCH: Postface. In: Fabliaux Érotiques. Textes de jongleurs des XIIe et XIIIe
siècles. Hrsg. von LUCIANO ROSSI, Paris 1992 (Lettres gothiques), S. 531-545, hier 537: „l’acte
lui-même est rarement représenté dans les fabliaux. A la rapidité de la description, qui est un
élément stylistique du conte comique, correspond la rapidité de l’accouplement.“
36 BLOCH (Anm. 2), S. 87.
37 R. HOWARD BLOCH: Modest Maids and Modified Nouns. Obscenity in the Fabliaux. In:
Obscenity. Social Control and Artistic Creation in the European Middle Ages. Hrsg. von JAN
M. ZIOLKOWSKI, Leiden, Boston, Köln 1998 (Cultures, beliefs and traditions 4), S. 293-307,
hier S. 300.
38 einen leczen si im do las (V. 224; „Sie gab ihm eine Lektion“). Das dreimalige Schlagen wird von
SCHNYDER (Anm. 8), S. 277, auf die drei nächtlichen Horen (Komplet, Vigilien und Laudes)
bezogen.
232 Susanne Reichlin
weisung (lectio) zur unmotivierten Gewalt wird, führt sie – wie in diesem
Märe – nicht zu Sinnstiftungen, sondern bloss zu weiterer Gewalt. Liebes-
briefe wiederum sind eine literarisch viel genutzte Möglichkeit, Liebe als
Kommunikation zwischen Getrennten darzustellen.39 Verabsolutiert man
jedoch die Darstellungsform, wird Distanz zur Voraussetzung von minne
und Nähe unmöglich: in [Mönch] duht im wære diu minne zu na (V. 212; „So
war ihm die Minne zu nah“).
Die von Figur oder Erzähler ironisch-verschobenen Bezeichnungen
sind für die Erzählung äusserst produktiv. Auf der Handlungsebene lösen
sie weitere Missverständnisse aus und motivieren so den Fortgang des Mä-
res. Auf der Erzählebene fallen sie aufgrund ihrer Kontext-Fremdheit auf
und ermöglichen so eine Reihe intra- und intertextueller Bezüge.
Kleinste sprachliche Verschiebungen haben in einer Erzählung, die als
differentielles System begriffen wird, immer weitere Verschiebungen zur
Folge, wie ich etwa anhand der intra- und intertextuellen Verweise deutlich
zu machen versuchte. Des Mönchs Not verschiebt das von neuem, was ande-
re Mären bereits verschoben haben, z. B. die Konkretisierung der Meta-
phorik oder das Verhältnis von Körper und Diskurs.40 Man könnte sich
also fragen, ob die einsträngige Handlungsstruktur41 der Mären stärker als
diejenige anderer Gattungen, zu intertextuellen Verschiebungen und auf
diese Weise zum Weiter- und Neuerzählen einlädt.
5. Kontextlosigkeit
Im Sperber steht das Mädchen auf der Klostermauer, also bereits auf der
Grenze, als sie von einem Objekt (Vogel) und dem Mann, die beide außer-
halb des Klosters stehen, verführt wird. In Des Mönchs Not kommt die Ver-
führung nicht von außen, sondern von innen. Es ist nicht das konkrete
Objekt ausserhalb, sondern das geschriebene Wort innerhalb, das verführt.
39 Vgl. HORST WENZEL: Fernliebe und Hohe Minne. Zur räumlichen und zur sozialen Distanz
in der Minnethematik. In: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutsch-
land. FS für Peter Wapnewski. Hrsg. von RÜDIGER KROHN, München 1983, S. 187-208 und
ZAPPERI (Anm. 7), S. 149.
40 Diese ‚Technik der Verschiebung‘ wird anhand der berühmten Frage nach der minne ansatz-
weise reflektiert: Heisst es etwa im Häslein (Anm. 18): minne, herre, was ist daz? (V. 85; „Minne,
Herr, was ist das? “), so wird in Des Mönchs Not die Frage nur noch indirekt wiedergegeben:
er […] vraget in waz minne wære (V. 40; „Er fragte ihn, was die Minne sei“). Die Indirektheit der
Frage macht ihre Zitathaftigkeit hörbar.
41 Dazu zuletzt KLAUS GRUBMÜLLER: Schein und Sein. Über Geschichten in Mären. In: Erzäh-
lungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg.
von HARALD HAFERLAND/MICHAEL MECKLENBURG, München 1996 (Forschungen zur Ge-
schichte der älteren deutschen Literatur 1985), S. 243-257, hier S. 246.
Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung 233
Der Mönch will keine Beschreibungen der Minne, sondern er will sie er-
fahren: so wil ich dar, / e daz werde ein halbez jar (V. 55f.; „Da muß ich hin, /
noch bevor ein halbes Jahr um ist.“). Damit folgt er gezielt einem weiteren
Topos der literarischen Liebeserziehung, nämlich der ‚Unsagbarkeit‘: Liebe
kann nicht beschrieben, sondern nur erfahren werden: diu Minne sal dichz
lêren sagt die Mutter zu Lavinia.42 Auch der Knecht sagt zum Mönch: si [die
Wirtin] sol iu zeigen (V. 135; „Sie soll es Euch zeigen“).43
Doch gerade das Zeigen oder Erfahren von Minne scheitert. Der Un-
sagbarkeitstopos wird verkehrt vollzogen. Statt dass die Unsagbarkeit wort-
reich betont wird, wird die Erfahrung ausgespart und somit die Ohnmacht
der Sprache, Begehren zu konstituieren, vorgeführt. Doch ist es wirklich
die Ohnmacht der Sprache, von der das Märe erzählt?
Der Mönch ist mit der Schrift alleine. Im Unterschied zu allen anderen
naiven Figuren begegnet er der Minne nicht in einem handlungsweltlichen,
sondern in einem schriftlichen Kontext. Der eigentliche Auslöser, der Aus-
druck minne bant, erscheint in der Erzählung kontextlos: einmal ist von ei-
nem Blatt, einmal von einem Buch die Rede, doch erfahren wir nichts über
den Satz oder den Text, in dem er steht.
Der Mönch wendet der Schriftkultur den Rücken zu und sucht die Ant-
wort ausserhalb des Klosterbereiches. Er stellt zuerst einige Fragen zur
Bedeutung,44 interessiert sich aber anschliessend nur noch für den Referen-
ten: welchez wær der minne bant oder wo man si [die minne] mochte finden (V. 41;
„wo man sie finden könne“). Er behandelt die Wörter als Verweis auf etwas
Konkretes und sucht in der ‚Welt‘ danach.45
Damit erweist er sich als Abkömmling einer scholastischen Schriftkul-
tur, so wie sie etwa IVAN ILLICH dargestellt hat. Die räumliche Separation
der Worte (die sich in Europa ab dem 7. Jh. durchsetzt) erleichtert die
Loslösung des Wortes aus dem Kontext.46 Sie erscheint damit als Voraus-
setzung für die Phantasmen, denen der Mönch hinterherjagt: einem objekt-
haften Referenten und einer kontextunabhängigen Bedeutung, auf die die
einzelnen isolierten Worte verweisen.47
Das Märe erzählt auf der Handlungsebene davon, dass die Suche des
Mönches nach einem ausser-sprachlichen Referenten und einer kontextlo-
sen Bedeutung scheitert. Auf der Erzählebene führt das ‚Scheitern‘ zu-
gleich eine andere Konzeption von ‚Bedeutung‘ und ‚Kontext‘ vor: Der
Ausdruck minne bant erscheint am Beginn des Märes bereits als zitierter,
ohne dass die Lesenden wüssten, welchem Kontext er entstammt. Der
Ausdruck wird nicht wie z. B. in Des tiuvels âhte von der naiven Figur
‚falsch‘ benutzt, sondern es erscheint als eine Grundbedingung von Schrift,
dass Worte in einem anderen, ungewohnten Kontext auftauchen. Der Aus-
44 waz ez mohte sin / oder waz ez mohte bediuten (V. 28f.; „was das sei / und was es bedeute“).
45 So wie das Mädchen im Sperber (Anm. 19; V. 95f.) nach dem Namen des Vogels fragt, macht
das Substantiv glauben, es sei ein Name.
46 IVAN D. ILLICH: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein
Kommentar zu Hugos ‚Didascalicon‘, Übers. von YLVA ERIKSSON-KUCHENBUCH. Frankfurt
a.M. 1991 (Luchterhand Essay), S. 91f.
47 Man kann sich sogar fragen, ob auch die weiteren Komplikationen auf dem Weg des Mönchs
mit einer „Textkultur“ im Zusammenhang stehen. Die weiteren Missverständnisse des
Mönchs resultieren alle daraus, dass der Mönch sich allzu sklavisch an Definitionen und
Regeln hält. Vgl. auch MEINERS (Anm. 13). Folgt man den kulturtheoretischen Analysen zum
12 Jh., dann löst sich hier der abstrakte Text vom konkreten (BRIAN STOCK: The implications
of literacy. Written language and models of interpretation in the 11th and 12th centuries,
Princeton, N.J. u. a. 1983, S. 11). Damit entsteht ein Graben zwischen Type und Token,
Regelgesetz und Praxis. Eine Möglichkeit, diesen Graben zu füllen, ist das sklavische Befol-
gen der Regel, im Glauben daran, dass sie die Praxis bestimme.
Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung 235
druck minne bant verweist auf eine ‚andere‘ Verwendung des Ausdrucks in
einem ‚anderen‘ Kontext, die aber nicht mehr erschliessbar ist. Ganz im
Sinne DERRIDAS erscheinen die Worte von Beginn an als verschobene,
ohne dass ein Grund für die Verschiebung und ein ‚richtiger‘ oder ‚ur-
sprünglicher‘ Kontext bekannt wäre.48
Anstatt dass die Spur des Ausdrucks minne bant im Verlauf der Erzäh-
lung zurückverfolgt würde, geht es um deren Folgen: Der Mönch begibt
sich in den Raum ausserhalb des Klosters. Das rein diskursive Minneaben-
teuer hat reale Konsequenzen, die das scheinbare Aussen in das Kloster
hineinbringen. Die Abtreibung macht zum einen klösterliche Minneprak-
tiken sichtbar,49 zum anderen resultiert daraus das Begehren des Mönches
nach dem Hasenkind. Dieses wiederum muss von den klösterlichen In-
stanzen mit Beichtpraktiken, Psalmenlesungen und Gewalt ausgemerzt
werden.50
Der Ausdruck minne bant verschafft dem Mönch keine sexuelle Erfah-
rung. Aber er ermöglicht neue Erzählzusammenhänge, aus denen neue
(den Mönch lenkende) Verweise hervorgehen. Die Abgeschlossenheit
eines Zeichensystems hat zur Folge, dass Bedeutungen stabilisiert
werden. Indem der Mönch das Buch weglegt und den textexternen Ver-
weisen folgt, verlässt er den eben nur partiell abgeschlossenen Zeichen-
48 Vgl. JACQUES DERRIDA: Signatur Ereignis Kontext. In: Randgänge der Philosohpie, Wien
1988, S. 291-314: „Jedes […] Zeichen kann als kleine oder große Einheit zitiert, in Anfüh-
rungszeichen gesetzt werden; dadurch kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen, un-
endliche viele neue Kontexte auf eine absolut nicht saturierbare Weise erzeugen. Dies setzt
nicht voraus, daß das Zeichen (marque) außerhalb von Kontext gilt, sondern im Gegenteil,
daß es nur Kontexte ohne absolutes Verankerungszentrum gibt.“ (S. 304; Herv. J.D.). Ein
Zeichen entsteht gemäss DERRIDA aufgrund seiner „Iterabilität“, d.h. der Möglichkeit, es an
einem anderen ‚Ort‘ zu wiederholen. Dies impliziert, dass ein Zeichen immer auf sein eige-
nes ‚anderes‘ (früheres und späteres) Vorkommen in einem ‚anderen‘ Kontext verweist.
„Diese Kraft des Bruches [eines schriftlichen Zeichens mit seinem Kontext] ist kein akzi-
dentelles Prädikat, sondern die Struktur des Geschriebenen selbst.“ (S. 300). Eine solche
Zeichenkonzeption darf jedoch ihrerseits nicht als ahistorische verstanden werden. Viel-
mehr wird sie, wie bspw. ILLICH (Anm. 46) und STOCK (Anm. 47) deutlich machen, erst im
Rahmen einer Schriftkultur denkbar.
‚Kontext‘ soll im Folgenden im Sinne DERRIDAS als (v. a. diskursiver) Rahmen einer Markie-
rung (i. e. eines realisierten Zeichens) verstanden werden, der bei jedem neuen Auftreten des
Zeichens ein anderer ist. Der jeweilige Kontext und die jeweilige Markierung prägen sich
gegenseitig, so dass DERRIDA behaupten kann, dass ein (realisiertes) Zeichen einen neuen
Kontext hervorbringt.
49 Der Junge, der die so genannte Abtreibung vornehmen soll, fragt, wer denn der Vater sei,
der Prior oder der Abt (V. 323ff.). Dies lässt sich als Anspielung auf Homosexualität in
Klöstern lesen, bedeutet aber nicht, dass der Mönch selbst von einem homosexuellen Be-
gehren getrieben werde; anders SCHNYDER (Anm. 8), S. 273.
50 Zum unterstellten ‚Wahnsinn‘ des Mönchs und dessen Austreibung, vgl. MATEJOVSKI
(Anm. 27).
236 Susanne Reichlin
51 Das Kloster erweist sich als nur partiell abgeschlossen, weil einerseits die Zeichen im Innern
(und im Text) auf das Aussen (das Nicht-Sprachliche) verweisen. Andererseits finden sich
ausserhalb des Klosters ‚Agenten‘ (der Mitbruder), die den Mönch ins Kloster zurückführen.
In diesem Sinne verweist das Märe auf andere Erzählungen, in denen das Verhältnis von
klösterlichem Innen und Aussen ebenfalls Thema ist; so z.B. der Mönch Felix. In: Erzäh-
lungen des späten Mittelalters und ihr Weiterleben in Literatur und Volksdichtung bis zur
Gegenwart. 2 Bde. Hrsg. von LUTZ RÖHRICH, Bern, München 1962, Bd. 1, S. 124-128, in der
sich die religiöse Transzendenzerfahrung durch das Transzendieren der Kloster-Grenzen
ergibt.
52 MEINERS (Anm. 13), S. 117, missachtet gänzlich, dass es um der minne bant geht und baut ihre
ganze Argumentation auf der Frage nach der minne auf.
53 ZAPPERI 1984 (Anm. 7), S. 148 versteht es als Zitat aus Heinrichs von Rugge MF 102,3. Auch
MATEJOVSKI (Anm. 27), S. 116 ist der Ansicht, dass der Ausdruck „eindeutig auf die ‚mit
dem Minnesang heimisch gewordene höfische Liebeslyrik‘ (ZAPPERI) Bezug nimmt.“ Bereits
SCHNYDER (Anm. 8), S. 283, Anm. 21, weist aber darauf hin, dass der Ausdruck häufiger
überliefert ist. Er vertritt die These, dass der Ausdruck auf Unterdrückung und Unfreiheit
anspiele (S. 275). GRUBMÜLLER (Kommentar (Anm. 5), S. 1259) glaubt, dass mit dem Aus-
druck auf einen „(realen oder fiktiven) Minnetraktat“ angespielt werde oder „dass nur das
Thema, dann in beliebigem Zusammenhang, gemeint ist.“ SEIDEL (Anm. 16), S. 695 verweist
auf Hosea 11,4 und Col. 3,14.
Es bleibt unbeachtet, dass der Ausdruck auch in Mären mehrfach benutzt wird: Im Studen-
tenabenteuer A (Die mittelhochdeutsche Novelle vom Studentenabenteuer. Hrsg. von WIL-
HELM STEHMANN, New York 1967 [Nachdr. von 1909] (Palaestra. Untersuchungen und
Texte aus der deutschen und englischen Philologie 67), S. 198-216) soll einer der beiden
Studenten der Tochter des Hausherrn das Lesen beibringen, macht ihr aber stattdessen den
Hof. Er tut dies so lange biz si [das Mädchen] gevie der minne bant (V. 234; „bis sie vom Band der
minne ergriffen wurde“). Aufgrund des Austauschs der Blicke erröten die beiden und der
Erzähler kommentiert: des twanc si der minne bant (V. 245; „dazu zwang sie das Band der minne “).
In anderen Mären wird die Metapher des Minnebandes wiederum ansatzweise konkretisiert:
So etwa wenn im nur in wenigen Handschriften überlieferten Epimythion des Herzmaeres
beklagt wird, dass das minne bant nicht einmal mehr die Stärke einer Weidenfaser habe
(V. 544 547; zit. n.: Kleinere Dichtungen von Konrad von Würzburg. Bd. I: Der Welt Lohn
– Das Herzmaere – Heinrich von Kempten. Hrsg. von EDWARD SCHRÖDER, mit einem Nach-
wort von LUDWIG WOLFF, Berlin 1959, S. 12-40 sowie S. XVII-XXI). Im Borten des Dietrich
von der Glezze verhandelt ein fremder Ritter mit einer Ehefrau um den Preis des Beischlafs.
Er bietet ihr zwei Hunde an: di winde gibe ich uch zuhant: / enstricket mir der minnen bant (V. 239f.;
„Die Hunde gebe ich euch sofort, wenn ihr für mich das Minneband auflöst“ (Übers. S.R.);
Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung 237
zit. n.: Der Borte des Dietrich von der Glezze. Untersuchungen und Text. Hrsg. von OTTO
RICHARD MEYER, Heidelberg 1915 (Germanistische Arbeiten 3)). Die Frau lehnt dieses
Angebot zwar ab, tauscht aber ihre minne kurz darauf gegen einen magischen Gürtel (borte)
ein, der unbesiegbar macht (V. 279-337). Der fremde Ritter kann somit seine metaphorische
‚Gebundenheit‘ durch die minne mit Hilfe eines konkreten kostbaren Bandes, dem Gürtel,
lösen.
Erwähnt sei zudem, dass der Ausdruck minne bant auch im Titurel gebraucht wird (Str. 48,4:
op daz alter minnen sich geloubet, / dannoch diu iugent wont in der minne bant; „Wenn auch das Alter
auf Minne verzichten kann, bleibt doch die Jugend in den Fesseln der Minne“), wo wahr-
scheinlich die Ausschöpfung des Konnotationsreichtums des (Minne-)Bandes ihren Höhe-
punkt findet (zit. n.: Wolfram von Eschenbach: Titurel. Hrsg. von HELMUT BRACKERT und
STEPHAN FUCHS-JOLIE, Berlin, New York 2003).
54 Im Sperber (Anm. 19) wird der Beischlaf als ‚Knüpfen des Bandes‘ bezeichnet: diu süeze minne
si [die Liebenden] beide bant (V. 168; „die süße Minne band sie aneinander“). Im Märe Der
Mönch als Liebesbote A. In: GRUBMÜLLER (Anm. 5), S. 524-543, ist das ‚Liebesband‘ hingegen
objekthaft. Der Erzähler beschreibt einen Gürtel, den die Frau ihrem Liebhaber zukommen
lässt, als es was ain gross liebe pant (V. 241; „Es war ein großes Minneband“). Im Märe Aristote-
les und Phyllis. In: GRUBMÜLLER (Anm. 5), S. 492-523, ist das Liebesband wiederum stärker
ideell konzipiert: ir beider [Liebende] bant vil gar zerbrach / dâmite sî gebunden / [...] von der strengen
minne (V. 162-165; „Die Fessel war gesprengt, / mit der sie [...] durch die unerbitterliche
Minne / gebunden gewesen waren“).
55 „Super omnia autem haec, charitatem habete, quod est vinculum perfectionis.“ (Col. 3,14;
„Vor allem aber liebt einander, denn die Liebe ist das Band, das alles zusammenhält und
vollkommen macht“ (Einheitsübersetzung)). Zur geistlichen Tradition vgl. auch SARAH
STANBURY SMITH: ‚Adam Lay I-Bowndyn‘ and the vinculum amoris. In: English Language
Notes XV/2 (1977), S. 98-102, hier S. 99-101; sowie UWE RUBERG: ‚Wörtlich verstandene‘
und ‚realisierte‘ Metaphern in deutscher erzählender Dichtung von Veldeke bis Wickram. In:
‚Sagen mit sinne‘. FS für Marie-Luise Dittrich. Hrsg. von HELMUT RÜCKER und KURT OTTO
SEIDEL, Göppingen 1976 (GAG 180), S. 205-220, hier S. 212-214. RUBERG zeigt, dass der
Ausdruck minne bant in Hartmanns Gregorius (V. 834) auf die riuwen bande (V. 2727) bezogen
und in der Beinfessel des Gregorius konkretisiert wird.
238 Susanne Reichlin
schichte, in der der Ausdruck nicht mehr auftaucht. Wie der Mönch kön-
nen sie aus der Erzählung, in der zwar die einzelnen Bestandteile des Aus-
drucks öfters auftreten,56 einige Vermutungen anstellen. Doch zeigt ihnen
die Geschichte zugleich, dass sie mit diesen Vermutungen ebenso falsch
liegen könnten.
Die Kontextlosigkeit erscheint dadurch als ein Stilmittel, das nicht nur
komische Fehlschlüsse ermöglicht, sondern das das literarische Potential
der Vieldeutigkeit von Schrift vorführt. Die Kontextlosigkeit eines Wortes
birgt die Möglichkeit unendlich vieler Formen der Konkretisierung. Es
weckt die Neugier der Lesenden. Das langsame Herausdestillieren einer
bestimmten Bedeutung aus einem zunächst unbestimmten oder anders
konturierten Bedeutungsspektrum ist eine oft genutzte Form der Struktu-
rierung einer Erzählung. Wenn Des Mönchs Not nun gezielt mit dieser Erwar-
tung bricht, wenn die Spannung auf eine Konkretisierung des Ausdruckes
minne bant zwar geweckt, aber nicht erfüllt wird, ist dies eine Liebeserziehung
der Lesenden: Ganz im Sinne der Liebeserziehung des Sperbers werden sie
auf ihr eigenes ‚textuelles Begehren‘ verwiesen. Sie erfahren den Wunsch
nach einer Kontextualisierung von potentiellen Bedeutungsträgern.
6. Verschobene Rekontextualisierung
Der zitierte, dem Kontext enthobene Ausdruck generiert ein zweifaches
Begehren. Er beinhaltet für die Figur das Versprechen, einen aussertextu-
ellen Referenten zu finden. Den Lesenden verspricht es das Umgekehrte,
nämlich dem scheinbar kontextlosen Ausdruck eine Geschichte zu geben.
Weder das eine, noch das andere wird erfüllt. Der Ausdruck ist einerseits
bloss Initiator, der die Handlung ins Rollen bringt und sie somit in Kon-
texte führt, in denen der Ausdruck selbst nicht mehr vorkommt. Anderer-
seits ist der Ausdruck so eng dem Kontext dieses Märes verhaftet – und in
dem Sinne überhaupt nicht kontextlos –, dass keine Kontext übergreifende
Bedeutungsstiftung möglich ist.
Doch gerade das ungestillte Begehren der Lesenden verdeutlicht, wes-
halb die Suche des Mönches scheitert. Er sucht nach einem konkreten
Referenten und schafft doch jedes Mal nur einen neuen Kontext für de-
kontextualisierte Diskursfragmente. Semiotisch könnte dies bedeuten, dass
der Kontext, in den ein Zeichen verschoben wird, nicht vorgängig besteht,
sondern im Moment der Rekontextualisierung erst entsteht.
Während der Mönch von einem Abenteuer ins nächste strauchelt, wer-
den die Lesenden von einem Erzählzusammenhang zum nächsten geführt.
56 Z. B. werden dem Mönch am Ende vom Mitbruder die Hände ‚gebunden‘ (V. 444f.).
Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung 239
57 Es fällt auf, dass die meisten Mären mit ähnlichen Motiven ‚stringenter‘ erzählt sind. Sie haben
nur einen Höhepunkt, während Des Mönchs Not mehrere Pointen aufweist, die dementspre-
chend auf unterschiedliche Erzählungen verweisen: In GIOVANNI DI BOCCACCIO: Das Deka-
meron. Übers. von Albert Wesselski. 2 Bde., Leipzig 1912, Bd. 2 (Novelle 9.3), S. 386-391,
besteht die Pointe in der Schwangerschaft und deren ‚Ausmerzung‘. (Weitere Belege zur
Schwangerschaft eines Mannes bei GRUBMÜLLER (Anm. 5), S. 1257f. und ZAPPERI (Anm. 7).
Das fetischisierte Begehren nach dem Hasenkind ist parallel zum Begehren des Mädchens im
Von dem Űtrigl. In: Codex Vindobonensis 2885. Hrsg. von URSULA SCHMID, Bern, München
1985 (Deutsche Sammelhandschriften des späten Mittelalters. Bibliotheca Germanica 26),
S. 580-591. Die diskursive Unerfahrenheit im Umgang mit Sexualität findet sich in den im
Abs. I behandelten Mären. Sowohl von Unerfahrenheit als auch von Schwangerschaft erzählt
das Märe Von einem Müller. In: Der Endkrist des Friedrich von Saarburg und die andern
Inedita des Cod. Vind. 2885. Hrsg. von UTE SCHWAB, Napoli 1964 (Quaderni della Sezione
Germanica degli Annali I), S. 97-105, doch wird hier nicht motiviert, weshalb dem Müller
unkunt waz die minne (V. 20). Die Schrift als Stimulus für die Transgression des Klosterbereichs
spielt hingegen in Mönch Felix (Anm. 51) und Die Legende vom zwölfjährigen Mönchlein. In: Mit-
telalter. Texte und Zeugnisse. Hrsg. von HELMUT DE BOOR, München 1965 (Die Deutsche
Literatur. Texte und Zeugnisse 1), S. 351-355, eine wichtige Rolle.
58 Wenn der Erzähler den dem Hasen nachjagenden Mönch mit einem tobende[n] hunt (V. 409;
„tollwütiger Hund“) vergleicht, wird dies erneut besonders deutlich. Der Erzähler verschiebt
– genau wie der Mönch, wenn er glaubt, sein imaginäres Kind könne wie ein Kalb abgetrie-
ben werden – Eigenschaften und Bezeichnungen von Tieren auf Menschen und umgekehrt.
Erzählen besteht hier – auch in einem nicht komischen Sinne – aus Verschiebungen und
Rekontextualisierungen.
240 Susanne Reichlin
dere der naive Blick als Mittel zur Konkretisierung von Metaphern, werden
gesteigert und dadurch ansatzweise als Technik reflektiert.
Die Eingangsszene verdeutlicht, dass solche Formen der Verschiebung
einer Schriftkultur entspringen, die verstärkt angefangen hat, das Wort aus
dem Text und den abstrakten Text vom konkreten zu lösen. Zugleich ist
das verschobene Zitat, das in der Verschiebung selbst neue weiterführende
Spuren generiert, eine der zentralen literarischen Techniken der Gattung
Märe. Das Märe Des Mönchs Not grenzt sich mittels des verschobenen Zitats
– wie mehrfach gezeigt wurde – von anderen Mären ab und schreibt sich
damit doch genauso deutlich in den Gattungszusammenhang ein.
Statt der Lust an der Konkretisierung und Rekontextualisierung eines
Signalwortes, wird den Lesenden also die Lust an der Verschiebung gebo-
ten. Diese Lust generiert sich aus kalkuliert gesetzten Versprechen, die
immer nur verschoben, nicht aber erfüllt werden. Das, was ich in diesem
Märe als ‚textuelles Begehren‘59 bezeichnen möchte, wird in dem Sinne
über die Nicht-Einlösung von Lese-Erwartungen generiert: Erwartungen,
die durch Verschiebungen immer wieder genährt, nie aber eingelöst wer-
den. Im Unterschied zu HELGA GALLAS Begriff des „Textbegehrens“60
59 Der Begriff orientiert sich an BLOCHS „eroticism of the fabliaux“ (BLOCH (Anm. 2), S. 87,
s.o. Abs. IV). Es scheint mir jedoch wichtig, mit dem Begriff des ‚textuellen Begehrens‘
genauer als BLOCH zwischen Handlungs- und Erzählebene zu unterscheiden. Für die Frage
nach der Darstellung von Begehren ist auch ANDREAS KRAß’ Analyse des Märes Der Borte
äusserst aufschlussreich (ANDREAS KRAß: Queer Studies – eine Einführung. In: Queer den-
ken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies). Hrsg. von ANDREAS KRAß, Frank-
furt a. M. 2003 (Edition Suhrkamp 2248), S. 7-28.). KRAß spricht von einem „Textbegehren,
das in einer unterschwelligen symbolischen Ordnung kodiert und nicht mit jenem Begehren
deckungsgleich ist, das sich in den Stimmen des Autors, des Erzählers und der Figuren arti-
kuliert“ (S. 22). In einem weiteren Aufsatz (ANDREAS KRAß: Männerfreundschaft. Bündnis
und Begehren in Michel de Montaignes Essay De l’amitié. In: Bündnis und Begehren: ein
Symposion über die Liebe. Hrsg. von ANDREAS KRAß/ALEXANDRA TISCHEL, Berlin 2002
(Geschlechterdifferenz & Literatur 14), S. 127-141) geht er bei Montaigne vom „Begehren
seines Textes“ aus, das zeige, „was der Text auf seiner Oberfläche zu verdrängen sucht“
(S. 140). Ich möchte KRAß insoweit folgen, als dass ich das ‚textuelle Begehren‘ in Des Mönchs
Not ebenfalls auf der Ebene der „symbolischen Ordnung“ ansiedeln würde. Problematisch
scheint mir hingegen die Unterscheidung zwischen „Oberfläche“ und „Subtext“, zwischen
„heteronormativer Zeichenökonomie“ und „Schattengeschichte“. Mir scheint, dass mit
einer solchen ‚Hermeneutik‘ das komplexe Ineinandergreifen unterschiedlicher Textstrate-
gien nicht erfasst werden kann.
60 GALLAS (Anm. 4) interpretiert Kleists Text mittels einer struktural-psychoanalytischen Lesart.
Die ‚manifeste‘ Textebene versteht sie analog dem Traum als Ausdruck eines latenten Begeh-
rens, das sich in verschobenen Signifikanten zeigt. Sie bestimmt dieses ‚Begehren‘ als dasjenige
des Subjekts, das seine Abhängigkeit und Gespaltenheit erfährt, aber nach Autonomie strebt
(S. 95, 109f.). Problematisch ist daran zum einen die Reduktion des manifesten Textes auf ein
einziges, beschreibbares Begehren. Zum anderen konzipiert sie das Begehren als ahistorisches.
Sie thematisiert nicht, inwiefern das von ihr festgestellte Textbegehren spezifisch für den einen
Text von Kleist ist oder ob es sich dabei – da es sich mit der für die LACANSCHE Psychanalyse
zentralen Form des Begehrens deckt – um ein generelles Textbegehren aller Texte handelt.
Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung 241
verweist diese Form des ‚textuellen Begehrens‘ nicht auf ein Unbewusstes
des Textes, das – auch wenn es nicht dem Autor zugeschrieben wird – doch
Subjekt-analog konzipiert ist.61 Vielmehr ist es eine Textstrategie, die durch
unerfüllte Erwartungen Spannung erzeugt. Begehren wird somit in Des
Mönchs Not nicht auf der Handlungs-, sondern allein auf der Erzählebene
erzeugt.
Dies bedeutet aber nicht – wie dies etwa BLOCH postuliert62 –, dass das
,textuelle Begehren‘ dasjenige auf der Handlungsebene hervorbringen
würde. Denn Des Mönchs Not führt gerade die Unterschiede zwischen tex-
tuellem, hermeneutischem und sexuellem Begehren deutlich vor. So hat
der Mönch, wenn er die Bedeutung des Ausdrucks minne bant erfahren
möchte, ein ‚hermeneutisches Begehren‘, doch fehlt ihm ein sexuelles. Der
Text stellt das sexuelle Begehren durch Verweise auf andere Mären als
absentes dar.
Das ‚textuelle Begehren‘ ist dagegen auf der Ebene der vom Text er-
zeugten Effekte anzusiedeln. Das Märe strukturiert sich über Erwartun-
gen, die geschürt, aber nur verschoben eingelöst werden. Mittels der
Schriftszene wird deutlich, dass dieses geschürte Begehren nicht einem
generell ,hermeneutischen Begehren‘ nach Sinn entspricht,63 sondern an
die Schriftpraxis des Zitats, an Isolierung und Rekontextualisierung gekop-
pelt ist. Während das ‚hermeneutische Begehren‘ einer Unfassbarkeit
(Mangel) von Sinn entspringt und das sexuelle Begehren mittels einer Ab-
senz dargestellt wird, so geht es beim ,textuellen Begehren‘ darum, einen
Mangel zu erzeugen.
Das Märe Des Mönchs Not erzeugt diesen ‚Mangel‘ auf eine historisch
spezifische Art und Weise, indem es sich sowohl auf andere Mären als auch
auf ‚höfische Literatur‘ bezieht und deren Erzählmuster verschiebt. Das
‚textuelle Begehren‘ entsteht parallel zum Handlungsverlauf, in dem Dis-
kursfragmente immer wieder verschoben und neu rekontextualisiert wer-
den. Insofern führt die Erzählung nicht nur das Scheitern, sondern zu-
gleich auch das Gelingen der schriftlichen Stimulierung von Begehren
vor.
61 Dies wird z.B. daran deutlich, dass GALLAS (Anm. 4), S. 96, dann doch am Ende auch wieder
auf den Autor Kleist verweist.
62 BLOCH (Anm. 2), S. 83: „To what degree is the doubleness of the text a function of the
poet’s desire? Desire a function of the duplicity of the text? [...] For if dismemberment of
the body [...] is linked to the dismemberment of meaning, then the dismemberment of
meaning becomes the source of sexual desire [...].“
63 Vgl. GALLAS (Anm. 4), S. 96, die ihre Form des Textbegehrens (als Mangel des nicht-auto-
nomen Subjekts) am Ende – ohne genauer auf Differenzen hinzuweisen – mit dem Begeh-
ren der Interpretin nach Sinn gleichsetzt.
ANDREAS KRAß
1 Zitierte Ausgabe: Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587. Kritische Aus-
gabe. Mit den Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Dru-
cke. Hrsg. von Stephan STEPHAN FÜSSEL/HANS JOACHIM KREUTZER, Stuttgart 1999 (Reclam
UB 1516). – Zur Komposition der Historia vgl. ANDREAS KRAß: Schwarze Galle, schwarze
Kunst. Poetik der Melancholie in der Historia von D. Johann Fausten. In: Zeitsprünge 7
(2003), S. 537-559.
2 Historia (Anm. 1), Kap. 10, S. 29, Z. 15 f.
3 Historia (Anm. 1), Kap. 26, S. 69, Z. 29.
244 Andreas Kraß
zur ersten Begegnung mit der schönen Helena[ ] auß Graecia4; Faust be-
schwört ihren Geist und führt ihn seinen Studenten bei einem nächtlichen
Gelage vor Augen (Kap. 49). Im 17. Jahr, unmittelbar nach der Erneuerung
des Teufelspaktes, betätigt sich Faust als Kuppler, der unter Anwendung
eines Liebeszaubers einem liebeskranken Adeligen ein vberauß schoen Weibs-
bildt 5 zuführt. Im 19. und 20. Jahr beginnt Faustus ein Saeuwisch vnnd Epicu-
risch leben,6 um sich vom nahenden Fristende abzulenken, und treibt es mit
siben Teuffelische[n] Succubas,7 die ihm in Gestalt zweier Niederländerinnen,
einer Ungarin, einer Engländerin, zweier Schwäbinnen und einer Fränkin
erscheinen (Kap. 57). Im letzten Lebensjahr, bevor ihn der Teufel holt,
besinnt er sich noch einmal auf die schöne Helena und gebietet Mephosto-
philes, ihre Gestalt anzunehmen und ihm als Concubina beizuwohnen; mit
ihr führt er fortan ein eheähnliches Leben, und sie gebiert ihm sogar einen
Sohn, den er Iustum Faustum nennt (Kap. 59).
Fasst man die sechs Liebesabenteuer zusammen, von denen die Historia
erzählt, so lassen sich drei Episodenpaare unterscheiden. In den ersten und
letzten beiden Episoden ist es Faust selbst, der mit dämonischen und leib-
haftigen Frauen Unzucht treibt, während er in den mittleren Episoden als
Kuppler und Geisterbeschwörer auftritt, der die erotischen Wünsche lie-
bestoller Männer erfüllt. Die Liebesgeschichte des Protagonisten ist zu-
gleich eine Geistergeschichte, denn in jedem Falle sind teuflische Künste
im Spiel, die die Grenze zwischen Schein und Sein, Realität und Imagina-
tion überspielen. Drei Typen sind zu unterscheiden, je nach dem Verhältnis,
das Faustus mit den Geistern eingeht. In drei Fällen schläft er mit Teufels-
geistern, wie es im Text heißt;8 einmal gibt er sich selbst als Geist aus, wenn
er den Haremsdamen als Mohammed erscheint, und einmal lässt er einen
Geist erscheinen, den Geist der Helena. Im Falle der Kuppelei ist von
Geistern nicht die Rede, doch gelingt es Faust mit Hilfe eines Liebeszau-
bers, der Waschung mit destilliertem Wasser, das Angesicht des Verliebten
so zu verschönern, dass die Umworbene, die sich zuvor nicht für ihn inte-
ressierte, plötzlich mit Cupidinis Pfeilen durchschossen9 ist; somit wird auch hier,
wie im Falle der erregten Studenten und befriedigten Haremsdamen, eine
erfolgreiche erotische Verblendung initiiert.
Dass Helena in dieser erotischen Vita die zentrale Rolle einnimmt, er-
hellt schon daraus, dass sie zweimal auftritt. Doch unterscheiden sich diese
17 Homer: Ilias. Griechisch und deutsch. Übertragen von HANS RUPÉ. Mit Urtext, Anhang und
Registern, Düsseldorf, Zürich 2001 (Sammlung Tusculum).
248 Andreas Kraß
per kommt nicht mehr in den näheren Blick; die Historia betont nur den
aufrechten Wuchs, geht damit aber wiederum über Homer hinaus. Die drit-
te Veränderung betrifft die Rhetorik der Beschreibung. Bereits der Sachver-
halt, dass die Teile (Haar, Wangen, Augen, Mund, Lippen) auf das Ganze
(Gesicht, Kopf) bezogen werden, ist ein relevantes rhetorisches Merkmal.
Bedeutender noch ist der Befund, dass die Historia die Schönheit der körper-
lichen Details mit Farbattributen, die durch metaphorische Vergleiche ge-
stützt werden, illuminiert. Die Wangen sind nicht nur schön, sondern rot wie
Rosen (rote Baecklin wie ein Roeßlin), die Lippen rot wie Kirschen (jre Lefftzen rot
wie Kirschen), die Augen schwarz wie Kohle (mit schoenen Kollschwartzen Augen),
der Hals weiß wie ein Schwan (einen Halß wie ein weisser Schwan). Die Haare
sind blond wie Gold (herrlich als Goldfarb); außerdem betonen sie Helenas
hohen Wuchs, denn sie trägt es lang herabfallend bis zu den Knien (jr Haar
hatt sie herab hangen [...] / auch so lang / daß es jr biß in die Kniebiegen hinab gienge).
Das ästhetische Ensemble erweist sich somit als mustergültig im Sinne poe-
tischer Schönheitsbeschreibungen, es umfasst zum einen die aus Rot, Weiß
und Schwarz bestehende Trikolore des Gesichts sowie den Glanz des golde-
nen Haares, das Kopf und Körper umrahmt. Zieht man die Quersumme der
Vergleiche, so ergibt sich ein schwellendes Naturbild aus Rosen, Kirschen
und Schwänen, ein sekundäres Bild, das die körperliche Erscheinung meta-
phorisch überblendet. Was die Kleidung betrifft, so weiß die Historia von
einem koestlichen schwartzen Purpurkleid zu erzählen. Homer erwähnt, dass He-
lena ein wallendes, nektarduftendes Gewand und einen silbern glänzenden
Schleier getragen habe. Wieder greift die Historia modifizierend ein, indem
sie einerseits Material und Farbe des Kleides spezifiziert und andererseits
den Schleier fallen lässt, vielleicht weil er das Gesicht, das sie im Einzelnen
beschreibt, verhüllt hätte.18
Wie bereits angedeutet, kommt neben den Vorgaben Homers und dem
Muster poetischer Schönheitsbeschreibungen noch eine dritte, textinterne
Referenz hinzu. Helena ist nicht die erste Frau, der die Historia eine Be-
schreibung widmet. Im Rahmen der ersten Geisterbeschwörung, die Faus-
tus im Laufe seiner Schwankreise unternimmt (Kap. 33), wird bereits eine
andere Griechin porträtiert, nämlich die Gattin Alexanders des Großen.
Dieser paradigmatische Bezug wird im Text ausdrücklich markiert, wenn
es heißt, dass Faust den Geist der schönen Helena beschwört habe wie
zuvor schon die Geister Alexanders und seiner Frau am kaiserlichen Hofe
Karls V.19 Alexanders namenlose Gemahlin wird wie folgt beschrieben:
Bald darauff / nach dem sich Alexander wider neiget / vnd zu der Thuer hinauß gieng /
gehet gleich sein Gemahl gegen im herein / die thet dem Keyser auch Reuerentz / sie gieng
in einem gantzen blawen Sammat / mit guelden Stuecken vnd Perlen gezieret / sie war auch
vberauß schoen vnnd rohtbacket / wie Milch vnnd Blut / lenglicht / vnd eines runden
Angesichts.20
Dieses Portrait, bestehend aus einer Beschreibung der Kleidung und des
Körpers und szenisch gerahmt durch das Hereintreten und Fortgehen der
beschriebenen Frau, bereitet den späteren Auftritt Helenas vor. Wie Ale-
xanders Gattin wird auch Helena durch eine Tür hereintreten, umhergehen
und den Raum wieder verlassen. Wie jene wird auch Helena zunächst hin-
sichtlich ihrer Kleidung, dann ihres Körpers beschrieben. Wie jene trägt
auch Helena ein kostbares Gewand und zeichnet sich durch ihre rote Wan-
gen (rote Baecklin), ihre weiße Haut (einen Halß wie ein weisser Schwan), ihren
hohen Wuchs (ein laenglichte auffgerichte gerade Person) und ihr rundes Gesicht
(mit einem runden Koepfflein) aus. Doch ist dies eben nicht eine individuelle,
sondern eine typologische Auszeichnung: Wer so beschrieben wird, ist die
Schönste aller Frauen, und die Steigerung der Schönheit Helenas gegen-
über der Gattin Alexanders wird rhetorisch als quantitative Steigerung
inszeniert: Mehr Körperteile werden beschrieben, mehr Farben aufgelegt,
mehr bildhafte Vergleiche eingesetzt. Die überbietende Schönheit Helenas
ist die überbietende Nutzung eines rhetorischen Beschreibungsmusters.
Wenn es sich bei der Beschreibung der Helena immer schon um eine
Abschrift handelt, so vermag dieser Befund eine These zu bestätigen, die
JUDITH BUTLER in ihrer geschlechtertheoretischen Studie Gender Trouble
aufgestellt hat.21 BUTLER argumentiert, „dass das ‚Sein‘ der Geschlechts-
identität ein Effekt“ (S. 60) sei, und dass das heterosexuelle Begehren nie-
mals für sich beanspruchen könne, ein Original zu sein, das vom homose-
xuellen Begehren kopiert werde, sondern selbst immer schon eine „Kopie“
sei. Mit Bezug auf die Parodie weiblicher Schönheit durch männliche Dar-
steller kommt sie daher zu folgendem Schluss: „Die parodistische Wieder-
holung des ‚Originals‘ [...] offenbart, dass das Original nichts anderes als
eine Parodie der Idee des Natürlichen und Ursprünglichen ist“ (S. 58). Mir
scheint, dass die Historia von D. Johann Fausten diese Erkenntnisse im Rah-
men ihrer literaturgeschichtlichen Bedingungen und Möglichkeiten vor-
wegnimmt. Die weibliche Schönheit Helenas ist letztlich nichts anderes als
ein rhetorischer Effekt, der eben durch die Anwendung eingeübter Tech-
niken der Beschreibung erzeugt wird. Die Ästhetik von Glanz und Farbe
22 RENÉ GIRARD: Mensonge romantique et vérité romanesque, Paris 1961; deutsche Ausgabe:
Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität, München 1999
(Beiträge zur mimetischen Theorie, Bd. 8).
23 Vgl. ANDREAS KRAß: Queer lesen. Literaturgeschichte und Queer Theory. In: CAROLINE
ROSENTHAL/THERESE FREY STEFFEN/ANKE VÄTH (Hgg.): Gender Studies. Wissenschafts-
theorien und Gesellschaftskritik, Würzburg 2004, S. 233-248, hier S. 239-242.
24 Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 97, Z. 7-13.
Ein sehr herrlich Gestalt eins Weibsbilds 251
Was hier vorgestellt wird, ist zunächst eine Männerrunde, die dem Alkohol
zuspricht und in Abwesenheit von Frauen über Frauen spricht. Wie der
Alkohol scheint auch das Reden über schöne Frauen eine gemeinschafts-
stiftende Wirkung zu entfalten. Die schöne Frau wird hier zum Schauplatz
einer Verbrüderung zwischen Männern.25 Entscheidend ist nun die Be-
gründung, die dafür gegeben wird, dass Helena die schönste aller Frauen
und somit für jeden Mann begehrenswert sei. Der Grund besteht darin,
dass sie geraubt worden sei und dieser Raub einen verheerenden Krieg
ausgelöst habe. Als Objekt des Begehrens wird Helena also in der Weise
konstituiert, dass zwei Männer, Paris und Menelaos, um sie rivalisieren und
dass diese Rivalität in eine kriegerische Auseinandersetzung und schließlich
in die Zerstörung Trojas mündet. Geht man nun konsequenterweise davon
aus, dass jener Mittler, dessen Vorbild das Begehren des Subjekts induziert,
seinerseits das Begehren einem Mittler verdankt, so ergibt sich wiederum
eine unabschließbare Reihe der Nachahmung – so wird wiederum deutlich,
in welchem Maße Begehren nicht auf ein letztes Original reduzibel, son-
dern immer schon Kopie einer Kopie ist.
Helenas Körper ist somit nicht das Muster, an dem sich alle schönen Frau-
en messen lassen müssen, sondern bereits eine Kopie, die als Original ge-
handelt wird.
Ein weiterer Aspekt des Zusammenhangs von Schrift und Liebe ist
noch anzuführen, ein medientheoretischer Aspekt, auf den Gotthold
Ephraim Lessing in seiner ästhetischen Schrift Laokoon oder über die Grenzen
der Malerei und Poesie (1766) hinweist.26 Lessing kommt im 20. und 21. Ka-
pitel seiner Abhandlung ausführlich auf das Fallbeispiel der schönen He-
lena und das Problem der Abbildbarkeit ihrer Schönheit in Dichtung und
Malerei zu sprechen. Er vertritt einerseits die These, dass das Bild der
Schrift überlegen sei, weil die Malerei „die Elemente der Schönheit“ neben-
einander, die Dichtung aber nur nacheinander darstellen könne. Das Nachei-
nander füge sich aber nicht zu jenem ästhetischen Gesamteindruck zusam-
men, den das Bild im Nebeneinander zu erzeugen vermöge. Daher sei
Homer klug genug gewesen, die Schönheit der Helena nicht in ihren Ein-
zelheiten zu beschreiben:
Und auch hier ist Homer das Muster aller Muster. Er sagt: Nireus war schön;
Achilles war noch schöner; Helena besaß eine göttliche Schönheit. Aber nir-
gends läßt er sich in die umständlichere Schilderung dieser Schönheiten ein.
Gleichwohl ist das ganze Gedicht auf die Schönheit der Helena gebauet. Wie
sehr würde ein neuerer Dichter darüber luxuriert haben!27
Wenn es einen Dichter gibt, der über die Schönheit der Helena luxuriert
hat, so ist es der hochmittelalterliche Dichter Konrad von Würzburg, der
sich in seiner Epoche, der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, durchaus
als „neuerer Dichter“ verstehen konnte. In seinem Trojanerkrieg liefert er
eine Descriptio, die über ein halbes Tausend Verse umfasst; in 137 Versen
beschreibt er Helenas Körper (19908-20054), in 427 Versen ihre Kleidung
(19855-20281) in allen Einzelheiten.28 Der Blick des Erzählers tastet ihren
Körper vom Scheitel bis zur Sohle ab; er weiß alles über Haar, Augenbrau-
en, Augen, Nase, Wangen, Mund, Zähne, Atem, Kinn, Hals, Hände, Finger,
Arme, Haut, Taille, Wuchs, Beine und Füße der Schönen. Dagegen nimmt
26 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Mit den beiläu-
figen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Mit einem Nachwort von INGRID
KREUZER. Stuttgart 2001 (Reclam UB 271).
27 Laokoon (Anm. 25), Kap. XX, S. 145 f.
28 Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg. Hrsg. von ADELBERT VON KELLER, Stuttgart
1858 (StLV, Bd. 44), Nachdruck Amsterdam 1965. – Die Schönheitsbeschreibung ist auch
separat als Minnerede überliefert (für diesen Hinweis danke ich LUDGER LIEB, Dresden); vgl.
TILO BRANDIS: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minne-
reden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke, München 1968 (MTU 25), Nr. 2: „Lob
der Geliebten“ (BSB München, cgm 714, fol. 182v-186v, entstanden um 1480 im Nürnber-
ger Raum). Die Minnerede entspricht Konrads Versen 19893-20054.
Ein sehr herrlich Gestalt eins Weibsbilds 253
sich die Historia bescheiden aus. Dies heißt aber nicht, dass Konrads Dar-
stellung von ermüdender Redundanz wäre; vielmehr gilt für ihn, was Les-
sing als eigentlichen Sinn einer ausführlichen Schönheitsbeschreibung ver-
anschlagt: dass sie nämlich, mehr noch als die Schönheit der Frau, die Dicht-
kunst selber preise. Konrads Beschreibung der schönen Helena lässt sich
durchaus als poetologische Allegorie lesen, als eine Poetik, die sich im Akt
ihrer Anwendung zugleich konstituiert und reflektiert. Hiervon ist die His-
toria weit entfernt. Wenn sie sich einer poetologischen Allegorie bedient, so
ist dies – ganz im Sinne Lessings – die Malerei, denn die Studenten bitten
ihren Lehrer darum, Helenas Geist am nächsten Tag noch einmal zu be-
schwören: so wolten sie einen Mahler mit sich bringen / der solte sie abconterfeyten.29
Faustus versagt ihnen diese Bitte, stellt aber eine Alternative in Aussicht:
Er wolte jhnen aber ein Conterfey darvon zu kommen lassen / welches sie die Studenten
abreissen moechten lassen / welches dann auch geschahe / vnd die Maler hernacher weit hin
vnd wider schickten / dann es war ein sehr herrlich gestalt eins Weibsbilds. Wer aber solches
Gemaeld dem Fausto abgerissen / hat man nicht erfahren koennen.30
Wenn also die Studenten am Ende ein Bild in der Hand halten, so ist dies
wiederum nur die Kopie einer Kopie, während das vermeintliche Original,
Helena selbst, ihnen als Phantom entzogen bleibt. Dies ist eine Aussage,
die sich wiederum doppelt lesen lässt: als Dekonstruktion eines essentialis-
tischen Konzepts von Geschlecht und Begehren, aber auch als Dekonst-
ruktion eines essentialistischen Konzepts von Dichtung, das sich an die
garantierende Instanz des Autors knüpft. Denn wie der Verfasser der His-
toria anonym bleibt, so bleibt auch der Name des Malers unbekannt, der
jenes von den Studenten kopierte Gemälde schuf.
Wenn Lessing argumentiert, dass die Schrift dem Bild unterlegen sei, so
gilt dies nur hinsichtlich der Darstellung der Schönheit als solcher. Wie er
weiter ausführt, gibt es durchaus zwei Hinsichten, in denen umgekehrt die
Schrift dem Bild überlegen sei. Weil der Dichtung ein prozessualer, der Ma-
lerei hingegen ein statischer Charakter eigne, könne die Dichtung Schönheit
als Reiz und Wirkung inszenieren. Wieder könne Homer als Muster gelten:
Eben der Homer, welcher sich aller stückweisen Schilderung körperlicher
Schönheiten so geflissentlich enthält, von dem wir kaum einmal im Vorbeige-
hen erfahren, daß Helena weiße Arme und schönes Haar gehabt; eben der
Dichter weiß demohngeachtet uns von ihrer Schönheit einen Begriff zu ma-
chen, der alles weit übersteiget, was die Kunst in dieser Absicht zu leisten
imstande ist. Man erinnere sich der Stelle, wo Helena in die Versammlung der
Ältesten des trojanischen Volkes tritt. Die ehrwürdigen Greise sehen sie, und
einer sprach zu den andern: [...]
Was kann eine lebhaftere Idee von Schönheit gewähren, als das kalte Alter sie
des Krieges wohl wert erkennen lassen, der so viel Blut und so viele Tränen
kostet?31
Den Reiz der Schönheit fängt Homer in der Weise ein, dass er Schönheit
in Bewegung präsentiert, dass er zeigt, wie Helena herannaht. Die Wirkung
der Schönheit fängt er in der Weise ein, dass selbst die Greise von ihrer
Wohlgestalt so überwältigt sind, dass sie Helena als kriegswert erachten.
Über diese Möglichkeiten verfüge die Malerei kaum, so Lessing. Wenn sie
Reiz und Wirkung im statischen Medium des Bildes zu zeigen versuche, so
müsse sie zum Mittel der Überzeichnung greifen; dabei laufe sie aber Ge-
fahr, die Geste zur Grimasse zu verzerren. Wie Homer, so weiß auch die
Historia Helenas Schönheit als Reiz und Wirkung zu präsentieren. Helena
bewegt sich im Raum: Sie wird zunächst von Faustus in die Stube geführt,32
geht dann in der Stube umher, wobei sie ihre Augen spielen lässt,33 und
wird schließlich von Faustus wieder hinausgeführt.34 Die Schönheitsbe-
schreibung ist genau zwischen dem Eintreten und Umhergehen Helenas
platziert, sie wird somit durch den Reiz der Bewegung bestätigt, aber auch
durch die Wirkung, die sie in den Betrachtern hervorruft: dass nämlich die
Studenten gegen jr in Liebe entzuendet waren,35 und als sie zu Betth kommen / haben
sie vor der Gestalt vnd Form / so sie sichtbarlich gesehen / nicht schlaffen koennen.36
Auch dies ist nicht ohne Relevanz für die Frage nach dem Status von Ge-
schlecht und Begehren. Helena ist nichts als ein Geist; das Begehren der
jungen Männer richtet sich letztlich auf ein Phantom, das auch dadurch
nicht greifbar wird, dass sie sich ein Bild von ihm machen, ein Bild, das
wiederum nur das Abbild eines Abbildes unbestimmter Provenienz ist.
Das 49. Kapitel schließt mit einer moralischen Sentenz, die andeutet,
dass es Mephostophiles selbst ist, der Helena vor den Studenten verkörpert
wie zuvor schon Alexander den Großen und dessen Gattin vor Karl V. Was
31 Laokoon (Anm. 25), Kap. XXI, S. 155 f.; die von Lessing zitierten griechischen Verse habe
ich durch die deutsche Übersetzung (vgl. Anm. 16) ersetzt.
32 Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 97, Z. 24-26: Als er wider hinein gehet / folgete jm die Koenigin Helena
auff dem Fuß nach.
33 Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 98, Z. 3 f.: sie sahe sich allenthalben in der Stuben vmb / mit gar frechem
und buebischem Gesicht.
34 Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 98, Z. 7 f.: vnd gienge also Helena mit D. Fausto widerumb zur Stuben
hinauß.
35 Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 98, Z. 4 f.
36 Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 98, Z. 19-21.
Ein sehr herrlich Gestalt eins Weibsbilds 255
die Studenten zu sehen bekommen, ist ein maskierter Teufel, eine sata-
nische Drag Queen, die sie ins Verderben zu ziehen sucht. Diesen Bezug
markiert der Text in der Weise, dass es von beiden, Frau und Teufel, wört-
lich übereinstimmend heißt, sie hätten die Studenten in Liebe entzuendet.37
Damit ist das 59. Kapitel vorbereitet, in dem Faustus der Illusion, die er in
der Schwankepisode wie ein Impresario veranstaltet, selbst zum Opfer fällt.
War dort die Vorstellung der Helena noch ein täuschendes Spiel, das vom
Herein- und Hinaustreten durch die Stubentür begrenzt wird wie ein Büh-
nenakt durch den sich öffnenden und schließenden Vorhang, so ist die
Darstellung der Helena in Fausts letztem Lebensjahr bitterer Ernst. Be-
grenzt wird die Verkörperung Helenas, zu der Faust seinen Teufel ver-
pflichtet, erst durch den eigenen Tod. Helena, das scheinbare Urbild einer
schönen Frau, ist nichts als ein Phantasma, das keine Existenz hat über die
Vorstellungskraft des Phantasten hinaus. Wenn es dennoch weiterlebt, so
nur deswegen, weil die Geschichte aufgeschrieben, abgeschrieben und fort-
geschrieben wird – wie auch vom Verfasser dieses Beitrags.
37 Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 98, Z. 5, vgl. Z. 22: in Lieb entzuendt.
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