Sie sind auf Seite 1von 748

PAUL FRIEDLÄNDER

STUDIEN ZUR ANTIKEN LITERATUR UND KUNST


PAUL F R I E D L Ä N D E R

STUDIEN
ZUR ANTIKEN LITERATUR
UND KUNST

WALTER D E GRUYTER & CO.


BERLIN 1969
A r d u Y - N r . 42 12 691
©
1969 by W a l t e r de Gruyter & C o . , vormals G . J . GÖsdien'sdie Verlagshandlung — J . Guttentag,
Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — K a r l J . Trübner — V e i t 8c C o m p . , Berlin 30
Alle Kedite des Nadidrucks, der photomedian ¡sehen Wiedergabe, der Obersetzung, der Herstellung
von Mikrofilmen und Photokopien, auch auszugsweise, vorbehalten.
S a t z und Drude: H . Heenemann K G , Berlin — Printed in Germany
Vorwort

Dieses Buch, das ich erst in hohem Alter erscheinen lasse, hat eine lange
und etwas mühselige Vorgeschichte.

Man kann sich kaum vorstellen, wie weit von echtem Austausch im
Felde der klassischen Studien ich in Kalifornien gelebt habe. Seit der
Emeritierung im Jahre 1949 (dies war damals ein absolutes Ende der
Lehrtätigkeit) war leider der Austausch mit Studenten und auch Kollegen
sehr erschwert, und es war trotz freundschaftlicher Beziehungen kein aus-
führliches Zusammenarbeiten mehr möglich. Briefwechsel mit den weni-
gen europäischen Freunden und Kollegen konnte das nicht ersetzen.

Nur Weniges ist zu sagen von dem, was ich an den einzelnen Auf-
sätzen geändert oder ihnen hinzugefügt habe, von der Rechtschreibung
und kleineren stilistischen Änderungen abgesehen.
Durchgreifende Änderungen waren ausgeschlossen; trotzdem schien es
mir in einigen Fällen richtig kurz auf spätere Forschung hinzuweisen,
meinen Standpunkt deutlicher zu machen oder auch zu korrigieren. So
ist in Nr. z, „Kritische Untersuchungen zur Geschichte der Heldensage",
der letzte Abschnitt neu wie auch in Nr. 3, „De fineOdysseae", der deutsch
geschriebene Teil und in Nr. 10, itolXä xä öeiva, der Abschnitt: „Zur
Musik". Zu Nr. 30, dem Aufsatz zu Pindar Pythien I und zu Nr. 39,
der Fauststudie, ist einiges im Text und in den Anmerkungen zur Inter-
pretation und zur Sachkenntnis hinzugefügt worden.
Der Teppich der Hestia Polyolbos, besprochen in Nr. 37, „Documents
of Dying Paganism", hat seit der ersten Auflage eine wichtige Änderung
erfahren: die Entfernung eines eingeflickten Stückes. Dies hat mir eine
bessere Deutung vorzuschlagen erlaubt, die ich schon im Hermes
L X X X V I I , Heft 4, 1959, S. 389 fr., dargelegt habe. Dieser Aufsatz ist
in den Text hineingearbeitet worden, und alles nicht mehr Angemessene
wurde gestrichen.

Zuletzt noch einige Worte von dem Antrieb zu diesen „Opuscula


varia humaniora", wie dieses Buch zuerst heißen sollte: Trotz mancher
Auslassungen scheint es mir dodi mehr zu enthalten als die bloße Summe
der verstreuten Aufsätze. Außer antiker Literatur bringt dieser Band
noch einiges von ihrem Nachleben in Deutschland und auch Archäo-
logisches, so meinen frühen Aufsatz zum altertümlichen Heraion und,
aus neueren Jahren, die Studie zum spät-antiken Gewebe der Hestia
VI Vorwort

Polyolbos in den „Documents of Dying Paganism". Auch habe ich mich


nicht gescheut, eine so wichtige Frage wie die Echtheit der Pindar-Melodie
wieder ins Rollen zu bringen und mich damit an mir ganz neue Probleme
zu wagen. So kam ich dazu, die umstrittene Persönlichkeit des Athanasius
Kircher etwas genauer zu studieren und in seiner riesigen Korrespondenz
herumzusuchen. Dabei geriet ich auf einen unpublizierten Brief von
Leibniz an Kircher, und, diese Korrespondenz verfolgend, konnte ich ein
noch unbekanntes Stück deutscher Geistesgeschichte erhellen, das in diesen
Band aufgenommen ist. Der Aristophanes-Aufsatz und die Goethe-Studie
haben dasselbe Bestreben. Diese zeigt, wie Elemente aus der Antike,
aus Dante und Shakespeare sich im Zweiten Teil des Faust verbinden.
Die Analyse der Rhythmen ergänzt die Interpretation des Wortgehalts
und macht dessen Fülle erst klar. Der Rahmen der Landschaft ergänzt
den Text in anderer Weise.

Ich bin dem Verlag Walter de Gruyter & Co. dafür dankbar, daß
er den Druck schnell und sorgfältig durchgeführt hat. Mein Dank gebührt
auch den gelehrten Gesellschaften, den Herausgebern und Verlegern, die
bereitwilligst den Neudruck meiner Schriften gestattet haben, ebenso den
Museen und Instituten, durch deren Entgegenkommen angemessene Re-
produktionen von Werken in ihrem Besitz in diesem Band erscheinen.

Los Angeles, California, den 24. September 1968 Paul Friedländer


Inhaltsverzeichnis

I
Mythologie und Heldensage
Lachende Götter 3
Kritische Untersuchungen zur Geschichte der Heldensage 19

II
Griechische Literatur
Homer und Homerisches
De fine Odysseae (Retractationes I i ) 57
Besprechung: Altionische Götterlieder, deutsch von Rudolf Borchardt 59
Hesiod
Prometheus - Pandora und die Weltalter bei Hesiod 65
Das Proömium der Theogonie 68
Besprechung: Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby. Pars I:
Theogonia 8x
De Homeri Hesiodique certamine (Retractationes I 2) 105
Tragödie
Die griechische Tragödie und das Tragische 107
öeiva (Sophokles, Antigone 332-375)
N O X X Ä TOI 183
Plato
Review: Plato's Earlier Dialectic by Richard Robinson 193
Review: Plato's Theology by Friedrich Solmsen 203
Aig xai TQ15 TO xaXov 206
PlatoPhaedrus245A 210
Akademische Randglossen 212
Epigramme
Geschichtswende im Gedicht. Interpretation historischer Epigramme 213
A new Epigram by Damagetus 237
Besprechung: Der Kranz des Meleagros von Gadara. Auswahl und
Übertragung von August Oehler 242
Vili Inhaltsverzeichnis

Nonnos
Besprechung: Die Dionysiaka des Nonnos, deutsch von Thassilo
von Scheffer 246
Die Chronologie des Nonnos von Panopolis 250
Maximen
YÜO0HKAI 264
Textkritik
Heracliti fragmentum 124 312
Retractationes I 3-8 313

III

Lateinische Sprache und Literatur

Sprachliches
Persona 321
Lucretius
Retractationes II 9 - 1 1 325
The Epicurean Theology in Lucretius' First Prooemium
(Lucr. I. 44-49) 328
Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius 337
Statins
An den Schlaf 354

IV
Musik und Metrik
Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 369
Die Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht . . . . 395
Pindar oder Kircher? 437
Noch einmal zur Echtheit der Pindar-Melodie 448
Besprechung: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Griechische
Verskunst 453
Zum Plautinischen Hiat 459

V
Archäologie

Zur Frühgeschichte des Argivischen Heraions 473


Zur N e w Y o r k e r N e k y i a 481
Inhaltsverzeichnis IX

Documents of Dying Paganism


Textiles of Late Antiquity in Washington, New York, and
Leningrad 488

VI
Deutsche Literatur
Aristophanes in Deutschland 531
Rhythmen und Landschaften im zweiten Teil des Faust 572

VII
Kircher und Leibniz
Athanasius Kircher und Leibniz
Ein Beitrag zur Geschichte der Polyhistorie im X V I I . Jahrhundert 6 j 5

VIII
Persönliches
Zu Hermann Useners ioostem Geburtstag 675
Erinnerung an Georg Loeschcke 677
Erinnerung an Wilamowitz 681
Epigrammata 682
Paul Friedländer: Publikationen 683

Register
Neuzeit: Autoren- und Sachregister 691
Antike: Autoren- und Sachregister 696
Metrische Analysen 702
Stellenregister 703
I

Mythologie und Heldensage


Lachende Götter

Laughter in the presence of an Egyptian


sphinx or an Assyrian bird-beast was in-
conceivable; but it was perfectly natural
in Olympus, and it made the gods com-
panionable.
Edith Hamilton, Greek Mythology

1934

Bei den homerischen Phäaken singt der Sänger Demodokos zum


Reigentanz der Jünglinge ein Lied, eine ballata, von der Liebe des Ares
und der schönbekränzten Aphrodite (VIII 266 ff.). Die Geschichte fängt
gar nicht leichtfertig an: Ares schändete das eheliche Bett des Fürsten
Hephaistos. Mit bewundernder Spannung folgen die Hörer den zaube-
rischen und listigen Vorbereitungen des göttlichen Schmiedes, sehen sie
den alles schauenden Helios auch dieses Geheimnis an den Tag bringen.
Mit einem Gefühl des Grauens vernehmen sie das schreckliche Klagen des
betrogenen Gottes: hätten ihn, den Lahmen, doch die Eltern nicht erzeugt!
Und sie werden sich die ernste Lehre aus Göttermunde gesagt sein lassen:
übles Tun gedeiht nicht, der Langsame holt den Schnellen ein, der Ehe-
brecher muß Sühnegeld geben! Aber über alles breitet sich die Heiterkeit,
wenn Hephäst die Götter zu Zeugen seiner eigenen Schande herbeiruft,
- wenn er als ein nicht nur kunstreicher sondern auch lebenserfahrener
Gott die Werbegeschenke von Zeus zurückhaben will, - wenn die Götter
sich an der Tür sammeln, das im Netz gefangene Paar besehen, ihr
„unauslöschliches Gelächter" lachen, — wenn sie den Fall ernst und ver-
gnüglich und mit Teilnahme besprechen und sich von neuem das Lachen
unter ihnen regt.
Man nennt diese Geschichte einen Götterschwank, und wirklich
könnte sie in einem altitalienischen Novellenbuche stehen, würde aus der
Welt der leicht lebenden Götter in die bürgerliche der leichtlebigen Floren-
tiner übertragen von ihrem Zauber vieles verlieren, aber wenig von dem
Gerüst des Geschehens: man müßte nur aus Hephäst einen kunstreichen,
ältlichen und in Liebesdingen plumpen Handwerksmeister in Florenz
oder Pistoja machen, aus Aphrodite sein junges leichtfertiges Weib, und
aus Ares einen frischen adligen Herrn. Ein ganz später Ableger also sei
das, pflegt man zu sagen, am Gewächs des griechischen Epos, Sproß einer |
[Die Antike X , 1934, 209-226.]
4 Mythologie und Heldensage [210¡211]

unfromm gewordenen Zeit, die ihre Götter nicht mehr ernst nahm. Hier
spreche jenes Ionien, das schon von der Aufklärung gekostet habe und
einige Generationen später die Philosophie erzeugen wird. So mag man
heute geneigt sein dieses Stück kostbarer Poesie geistesgeschichtlich einzu-
ordnen.
Aber liegen dem nicht sehr moderne Wertungen zu Grunde? Gewiß
ist diese echt phäakische Geschichte von urtümlicher Heroenzeit schon
weit entfernt, gewiß wird in ihr ein Wunschtraum ionischer Griechen
Gestalt wie in dem Phäakenvolk überhaupt. Gewiß, diese Götter beneh-
men sich recht menschlich, die Zuhörer werden heiter, sogar Odysseus,
der vorher beim Heldengesang dahinsdimolz in Tränen, hat seine Freude
an dem heiteren Lied. V o r allem aber lachen doch die Götter selbst. Heißt
das, daß die Menschen diese Götter nicht mehr ernst nehmen? W i r sehen
doch zu allererst, daß diese Götter sich nicht ganz ernst nehmen. Aber
wird ihnen dadurch von ihrer Timé, wie die Griechen sagen, etwas ge-
raubt: ihrem Amt, ihrem Herrschaftsbereich, ihrer einem jeden eigentüm-
lichen Wirkensmacht? Hephäst wird hintergangen. Ares und Aphrodite
hintergehen. Aber beide kommen ans Ziel, der Gott der ganz Krieg und
die Göttin die ganz Liebe ist. Hephäst, ganz Künstler, Erfinder, siegt mit
seiner List und Kunst, wenn er auch in der Liebe unterliegt, die ja nicht
seines Amtes ist. Die unbeteiligten Götter lachen ihr unauslöschliches
Gelächter und geben damit den Hörern das Zeichen, es ihnen nachzutun.
Poseidon als würdiger Oheim löst den Knoten. N u r Zeus läßt sich in diese
Familienirrungen nicht hineinziehen. Abbruch geschieht den Göttern doch
nur, wenn man sie moralisch nimmt. Aber wer erlaubt uns das? „Die
Götter sind an sich weder sittlich noch unsittlich, sondern losgesprochen
von diesem Verhältnis, absolut selig" 1 . Sie sind „die Kinder der Unend-
lichkeit und hinweg über den traurigen Ernst des Erkennens des Guten
und Bösen, aus welchem der Begriff der Schuld entspringt" 2 . Durch das
Gelächter wird keiner von ihnen in seiner Timé gemindert. Ares geht
am Schluß nach Thrakien, in das rauhe Nordland, das ganz „voll von
Ares" ist: er bleibt der wilde Kriegsgott. Aphrodite gewinnt nur noch
in dem was sie eigentlich ist, zumal wenn man auf das Gespräch zwischen
Apoll und Hermes hört: „Hermes, möchtest du in starken drückenden
Banden gefesselt im Bette liegen bei der goldenen Aphrodite?" „Möchte
ja dieses | geschehen, Apollon, möchten dreimal so viele Fesseln mich
umfangen, und mögt ihr Götter zuschauen und alle Göttinnen auch noch:
aber ich wollte liegen bei der goldenen Aphrodite!" Damit aber auch
jeder Fleck von ihr abgewaschen werde, sehen wir sie zuletzt nach Cypern
in ihr Heiligtum gehen, nicht mehr die „wohlbekränzte" oder die
„Tochter des Zeus" zubenannt, sondern die „Lächlerin". Dort in Paphos
baden sie die Anmutsgöttinnen, salben sie mit dem ö l der Unsterblichkeit

1 Schelling, Philosophie der Kunst, Werke V 396.


2
W . v . Humboldt, Gesammelte Schriften I I I 1 54.
[2111212] Lachende Götter 5

und ziehen ihr schöne Kleider an, „ein Wunder zu schauen". Damit
schließt die Geschichte ( V I I I 366). Aphrodite ist an ihrer heiligen Stätte,
zu neuem Wirken bereit. -
Aus vielen Zeugnissen, literarischen und bildlichen, kennen wir einen
alten Göttermythos, mit dem die eben nacherzählte Geschichte zusammen-
hängt. Hephäst, das lahme Götterkind, wird um seiner Häßlichkeit
willen von Hera aus dem Olymp geworfen. Er lernt die Schmiedekunst
und schickt der Götterkönigin einen Zauberthron mit unsichtbaren
Fesseln. Sie setzt sich darauf und kann sich nicht mehr erheben. Die Götter
beraten, wie man den Hephäst heraufholen und ihn zwingen könne, die
Fesseln zu lösen. Hera setzt Aphrodite zum Preise. Ares unternimmt das
Wagnis. Aber Hephäst treibt ihn mit Feuerbränden zurück, und Athene
lacht ihn aus. Was dem Krieger mißlang, gelingt dem Dionysos. Von
seinem Wein berauscht, von seinen Satyrn umschwärmt, auf seinem
Maultier sitzend wird der lahme Gott auf den Olymp zurückgeführt.
Dort löst er die Hera und empfängt Aphrodite zum Lohn.
Daß ein altionischer Götterhymnos homerischer Art so erzählte, ist
Vermutung, wenn auch sehr wahrscheinliche. Jedenfalls hat man in Dich-
tung und bildender Kunst der älteren Zeit diese Geschichte immer wieder
dargestellt. Ist sie unehrerbietig gegen die Götter, wie manches daran
scheinen mag? Aber es war ja Kultdichtung die sie formte, und Tempel-
schmuck der sie darstellte. Hera w i r f t den Hephäst aus dem Olymp?
Aber das gehört zu den Umgangsformen dieser gewalttätigen Götter-
aristokratie und bringt ihn auf den Weg seiner Bestimmung. Die Rache
an der Mutter ist sein gutes Recht und ist zugleich die Probe seiner
zauberischen Kunst. Und wenn er trunken gemacht werden muß, so tut
das seiner eigensten Timé keinen Eintrag, erhöht vielmehr die Kostbar-
keit dieses Fanges und ist noch ein Preis auf die Macht des Dionysos dazu.
Ares versucht Aphrodite zu gewinnen, Hephäst gewinnt sie: man
sieht, wie hier der Götterschwank der Odyssee anpaßt, mit dem wir be-
gannen, und wie er noch besser verständlich wird, wenn man ihm die
eben erzählte Geschichte vorausgehen läßt. Vielleicht erscheint uns das
Lied von Ares' und Aphrodites Heimlichkeiten, zum Tanz gesungen, um
eine Stufe »weltlicher' gegenüber dem Mythos von Hephästs Heimholung,
den wir doch als Götterhymnos kennen. Aber schwankhaft ist auch dieser,
und nichts könnte hindern auch jenen als Teil eines Hymnos zu denken,
am wenigsten das was wir als komisch daran empfinden. Denn beim
Götterfest zu lachen war keine Sünde sondern zuweilen sogar heiliges
Gesetz. -
In der Ilias ( X X 4 ff.), kurz vor dem Entscheidungskampf zwischen
Hektor und Achill, greifen die Götter ein in den Krieg. Zeus donnert
gewaltig, Poseidon erschüttert die Erde und die Berge, und der Fürst der
Unterwelt springt entsetzt von seinem Thron - Verse die die antike
Kunstkritik als Musterbeispiel des „Erhabenen" anführt. Als aber dann
6 Mythologie und Heldensage [212j213]

die Götter zu zweien gegeneinander in den Kampf gehn (32 ff.) - nach
Art homerischer Helden wird alsbald und nicht nur einmal der Schritt
vom Erhabenen zum Lächerlichen gemacht, und wieder sind es Ares und
Aphrodite, an die vor allem das Lachen sich heftet.
Da ist zuerst ( X X I 387) eine Begegnung zwischen dem rohen Kriegs-
gott und der starken Tochter des großen Vaters, Athene, die den Gegner
in den Sand streckt. Dort liegt er plump, riesenhaft. Athene aber lacht
und ruft ihm Hohnworte zu. Aphrodite kommt, führt den Stöhnenden
aus dem Kampf. Athene geht ihnen nach, und sie freut sich in ihrem Sinn.
Aphrodite wird von ihr mit einem Schlag auf die Brust getroffen, so daß
sie hinstürzt und den Ares mit sich reißt. Athene aber ruft wieder Worte
des Triumphes und des Hohnes über die Liegenden.
Was macht das Komische dieser Szene aus? Versuchen wir einige
Züge herauszuheben. „Eine Verfehlung oder Entstellung die ohne
Schmerz ist und nicht vernichtet", so hat Aristoteles das „Lächerliche"
definiert. Das Hinfallen ist ja schon an sich immer noch das einfachste
Beispiel des Lächerlichen - „es ist eine Art mechanischer Starrheit, dort
wo man aufmerksame Geschmeidigkeit und lebendige Biegsamkeit zu
finden wünschte" (Bergson, Le Rire). Riesenhaft ist der stürzende Gott,
sieben Hufen Landes bedeckend. Und wieder findet man das Komische
in der Nachbarschaft des Erhabenen, oder noch richtiger Erhabenes und
Komisches miteinander innerlich verschmolzen, wenn diesen Goliath die
Göttin hinstreckt, die er noch eben beschimpft hat, und wenn dabei seine
eigene Rede voll | ist von Erinnerungen an die frühere Niederlage, die
er derselben Göttin verdankt. Dazu nehme man das Grotesk-Wider-
sprüchliche im Wesen und Tun der Götter: der Kriegsgott als Verwunde-
ter, die Liebesgöttin als Krankenpflegerin. Das ungleiche Paar das mit-
einander stürzt. Der doppelte Sturz, da doch die Wiederholung („die
periodische Wiederholung eines Wortes oder eines Vorgangs") von je
zu den Mitteln der Komödie gehört. Man wird auch nicht gern an bloßen
Zufall denken, wenn hier dieselben beiden Götter nebeneinander liegen,
die wir im Liede des Demodokos auf einem lieblicheren Lager beieinander
fanden. Und jedenfalls wird dieser Gedanke die Heiterkeit noch ver-
mehren. Uber allem dies, daß es eben Götter sind, die sich so menschlich
aufführen. —
In dieser Götterschlacht gibt es noch eine andere scherzhafte Begeg-
nung: zwischen Hera und Artemis, die der Krieg der Menschen auf die
entgegengesetzte Seite getrieben hat ( X X I 479 ff.). Hera schilt die Jüngere
„Hündin ohne Scheu", daß sie ihr, der Mächtigeren, zu begegnen wage,
und verweist sie auf das was ihres Amtes ist. Wenn sie aber ihr, der Hera,
im Kampf begegne, werde sie sehen, wer stärker sei. Damit schlägt sie ihr
den Bogen um die Ohren, „lächelnd", und die Geschlagene flieht davon
zum Vater Zeus. Der zieht sie auf seine Kniee, fragt sie „süß lachend"
was ihr begegnet sei. Sie darf sich ausklagen auf seinen Knien.
[213j214] Lachende Götter 7

So wird der Götterkampf zur Familienszene. Aber man überhöre in


alledem nicht die Worte, mit denen Hera Artemis auf das verweist was
ihres Amtes ist: „Den Frauen hat dich Zeus zur Löwin bestellt und hat
dir gegeben zu töten welche du willst. Fürwahr besser ist es für dich in
den Bergen das Wild zu jagen . . . " Hera und Zeus mögen sie als Kind
behandeln, wenn sie die Rangordnung verkennt, „gegen Stärkere mit
Gewalt kämpft" und die Grenzen ihres Machtbereiches überschreitet.
Innerhalb dieses Bereiches ist sie mächtig und furchtbar, und keinem
Gott, geschweige einem Menschen, käme es in den Sinn, ihr als Todes-
göttin der Frauen und als Herrin des Wildes die Ehre zu versagen, weil
Hera sie lächelnd geschlagen und Zeus sie lachend getröstet hat.
Aber erinnern wir noch einmal an den größeren Zusammenhang, in
dem diese und die andern Einzelbegegnungen stehen. Am Anfang des
20. Gesanges der Ilias, kurz bevor der Entscheidungskampf zwischen
Achill und Hektor anheben wird, versammeln sich die Götter, feierlicher
als sonst von Themis, der Setzerin aller heiligen Ordnung, zusammen-
berufen. Zeus gibt ihnen die Teilnahme am Kampfe frei: das ist der Ini-
halt seines Beschlusses, und damit wird alles Folgende vorbereitet. Aber
wichtiger ist hier dieses: die Menschen, sagt er, kümmern ihn noch im
Untergang. Und dann: er selbst will auf dem Olymp bleiben und anschau-
end seinen Sinn erfreuen. Die Erde dröhnt, der Himmel drommetet.
Zeus hört es auf dem Olymp sitzend. Und auf lacht ihm das Herz vor
Lust, wie er die Götter zum Kampfe zusammenstoßen sieht.
Nicht gefühllos schaut der höchste Gott auf die Schicksale der Men-
schen, weder hier noch sonst. Kurz vorher war er von Mitleid gepackt
- „es jammerte ihn in seinem Herzen" - , als sein Sohn Sarpedon mit
Patroklos zum tödlichen Kampf zusammenprallte. Und erst Hera mußte
ihm diese menschliche Regung ausreden und ihn an das vorbestimmte
Schicksal erinnern, dem am wenigsten Er sich widersetzen dürfe. So be-
kümmert ihn jetzt der Tod der Helden, den er voraus weiß. Aber darein
mischt sich die Lust über das Schauspiel zu seinen Füßen. Die Kämpfe
der Menschen und der Götter werden ein Drama für den höchsten Gott.
Sein Gefühl ist aus Lust und Weh gemischt, wie Piaton es von dem
Betrachter der Tragödie und Komödie sagt und vollends von dem, der
des Lebens gesamter Tragödie und Komödie zuschaut. Ein beinahe unfaß-
bar hoher Aspekt des Daseins, den man mit dem Dichter wünschte teilen
zu können: die Kraft, zugleich innerlichst teilzunehmen an menschlichem
Tun und Leiden und doch anschauend und lachend darüber zu sein. —
Die Götterschlacht gilt vielleicht vielen noch als ein spätes Stück
homerischer Poesie. Aber man frage sich, wo denn dieses Lachen der
Götter n i c h t ist. Am Schluß des ersten Gesanges, dessen Alter kaum
bestritten wird, steht jene Götterszene, die an dem Namen des „home-
rischen Gelächters" vor allem schuld ist (I 493 ff.).
Der Kampf der Helden ist entbrannt, der viele kühne Lebensgeister
8 Mythologie und Heldensage [214/215]

dem Hades hinwerfen wird, der Kampf um ein Ehrengeschenk, um eine


Sklavin, um ein beinahe Nichts. Achill sitzt abseits in seinem Groll. Seine
göttliche Mutter bittet den Zeus um Rache für den Beleidigten. Zeus
nickt ihr sein J a zu mit jener Bewegung seiner Brauen, die den großen
Olymp erschüttert. Aber im Augenblick bevor er in der kleinsten Bewegung
seine Macht und Würde am stärksten offenbart, geschieht etwas ganz
anderes. Er hat auf die erste Ansprache der Thetis geschwiegen. Sie spricht
zum zweiten Mal, fordert Entscheidung. „Denn du brauchst didi ja nicht
zu fürditen." Da bricht er los in großem Mißmut: du willst mich mit
Hera auseinanderbringen. Immer zankt sie mit mir im Kreise | der Götter
und sagt, daß ich den Troern helfe. So schickt er die Bittende fort, „damit
Hera nichts merke". Er ist also doch nicht so ohne Furcht, wie Thetis
gemeint - oder gesagt - hatte. Wir tun einen Blick in die ehelichen
Häkeleien des Götterfürsten. Dann winkt er mit den Brauen, und im
Augenblick ist vor der Erhabenheit dieses Zeichens seine Schwäche ver-
gessen (I 528-30).
Zeus tritt in die Gesellschaft der Götter, die in seinem Hause ver-
sammelt sind (531 ff.). Alle stehen vor ihm von den Sitzen auf, keiner
wagt es, ihm die Ehrerbietung zu versagen. Er setzt sich, und sogleich
beginnt Hera ihn mit Stichelreden zu reizen. - „Noch niemals", so hatte
Agamemnon kurz vorher den Kalchas gescholten, hast du mir ein
tüchtiges Wort gesagt. „Immer" beliebt es dir mir Übles zu weissagen.
Rechtes hast du mir „noch nie" gesagt. - „Immer", sagt jetzt Hera zu
Zeus, ist es dir lieb hinter meinem Rüdken Geheimes zu entscheiden.
„Noch niemals" hast du mir freundwillig gesagt was du denkst. Zeus
antwortet ruhig und würdig. Alle seine Gedanken dürfe sie nicht erfah-
ren, wenn sie auch seine Gattin sei. Was er aber überhaupt mitteilen
könne, das würde niemand anders eher erfahren als sie. Sie aber zankt
weiter, frauenhaft keifend. Schon lange frage ich dich „überhaupt nichts".
(Eben hatte sie ihn gefragt.) Bedenke nur bei dir allein, was du willst!
(Eben hatte sie ihm das Geheimnis zu entwinden gesucht.) Dann mit
scheinbarem Wechsel des Tones, wie besorgt: jetzt fürchte ich ganz
schrecklich, es möchte dich bereden die silberfüßige Thetis. (Bereden den
Götterkönig, den Wissenden, den Erfüller des Schicksals!) Und dann zum
Zeichen daß sie weiß, wonach sie eben noch so listig gefragt hat: in Luft
gehüllt saß sie bei dir und faßte deine Knie. Ich meine, du hast ihr Ge-
währung zugesagt.
Dem Streit macht der Fürst mit scharfem Einspruch ein Ende. Be-
sessene, immer „meinst du" (so nimmt er mit Betonung ihr „ich meine"
auf) und nie entgeht dir was ich tue. (Das also hat ihn am meisten
gereizt, daß die Frau hinter sein Geheimnis gekommen ist.) Dann aber
setzt er seine Macht gegen ihre Klugheit: tun wirst du nichts können,
sondern wirst (wenn du etwas zu tun versuchst) dich mir nur mehr ent-
fremden. Und er schließt mit dem Befehl: sitze ruhig und gehorche mei-
[2151217] Lachende Götter 9

nem Wort! und mit dem drohenden Appell an die Kraft seiner Hände,
der darum nicht minder gewaltsam ist, weil diese Hände das feierlidie
Beiwort „die unnahbaren" erhalten.
Helden entzweiten sich über ein beinahe Nichts. Ihr Zwist, der vie|-
len Männern das Leben kostet, erfüllt das große Gedicht. Wenn Götter
sich über das Schicksal von Völkern entzweien, so gibt das einen ehe-
lichen Zank - der sich sogleich in Gelächter auflösen wird. Hephäst,
schon als hinkender Handwerker so etwas wie komische Person unter der
adligen Göttergesellschaft, redet zum Frieden: unerträglich daß ihr beide
um sterblicher Menschen willen hadert und Kampfeslärm unter Göttern
erregt. Und keine Freude wird mehr sein an edlem Mahl, da das Niedri-
gere die Oberhand gewinnt. „Das Niedrigere": will sagen der Bezirk der
menschlichen Dinge. Also im Munde des Gottes, dieses göttlichen Spaß-
machers, wird der große Gegenstand des Gedichts, der Kampf der Hel-
den, „niedrig", gemessen nicht einmal an der Existenz der Götter über-
haupt, sondern an der Freude ihres Mahles. So anders sehen sich die-
selben Dinge an, wenn der Dichter sie aus der Höhe der Götter betrachtet,
dieser adligen Herren, die sich von dem Zwist ihrer Hörigen unverstän-
digerweise haben berühren lassen.
Aber selbst das wäre noch zu ernst. Hephäst mahnt die Mutter, dem
Vater entgegenzukommen, damit er „uns nicht das Mahl verwirre". Sie
könne ihn mit schmeichelnden Worten uns gnädig stimmen. Und er reicht
ihr den Becher und redet ihr zu: ertrage! Er mag nicht sehen wie sie ge-
schlagen wird. Schon einmal hat er ihr beistehen wollen, und da hat Zeus
ihn am Fuß gepackt und auf die Erde hinabgeschleudert. Einen ganzen
Tag ist er durch die Luft geflogen, bis er bei Sonnenuntergang fast ohn-
mächtig auf Lemnos ankam. Dort haben die Sintier ihn gepflegt. So
spricht Hephäst. Hera lächelt, und lächelnd nimmt sie aus der Hand des
Sohnes den Becher. Der Dichter hätte nicht zweimal mit solchem Nach-
druck von ihrem Lächeln geredet, wenn es nicht etwas bedeuten sollte.
Lächeln ist vieldeutig. Aber wir vernehmen darin: Anteilnahme und
Eifersucht, Groll und Furcht haben sich gelegt, sie hat ihre Überlegen-
heit wiedergewonnen. Und vielleicht deutet es schon voraus. Jedenfalls
werden wir seiner zu gedenken haben. Wir werden sie noch ein paar-
mal lächeln sehen.
Dann geht Hephäst als Mundschenk bei den Göttern herum und
gießt ihnen Nektar ein, der hinkende Schmied spielt die Rolle der holden
Hebe, und das „unauslöschliche Gelächter" erhebt sich unter ihnen. Nach
dem Lächeln der Königin das Gelächter der seligen Götter. Im Lachen
über ein Nichts offenbart sich diese Seligkeit. „ S o " - in solcher selig
heiteren Laune - schmausen sie den ganzen Tag, und nun vollzieht sich |
das Mahl, die begleitende Musik, der Sonnenuntergang und der Gang
zum Schlafgemach mit jener homerischen Regelmäßigkeit, die das Zei-
chen leiblicher Gesundheit und guten Gewissens ist. Wir erfahren neben-
10 Mythologie und Heldensage [217j218]

her, daß Hephäst es war, der den Göttern ihre Häuser „mit wissendem
Sinn" gemacht hatte, derselbe den wir seine Mutter so klug beraten und
unter den Göttern mit so tiefer Absicht den Lustigmacher spielen sahen.
Ganz zuletzt sucht Zeus sein Lager auf, neben ihm schläft die golden
thronende Hera. So endet fürs erste in wiederhergestelltem Einklang der
Zwist der Götter über dem Streit der Menschen.
Ein bedeutender Indologe hat das olympische Gelächter homerischer
Götter an dem abgründigen Lachen des indischen Gottes messen wollen
und dabei die Heiterkeit über Hephäst, den Ungetümen Hinkebold, eine
flache Lache genannt (H. Zimmer). Aber zugegeben daß die Griechen
oberflächlich sind gemessen an den Tiefen des Orients, und daß sie ober-
flächlich sein wollen, so dringt doch eben jene Deutung der Hephästszene
selbst nicht tief genug. Und die Metaphysik dieses olympischen Geläch-
ters leuchtet erst auf, wenn man es über den zehntausend Schmerzen
der Achäer erklingen hört. -
Schon in diesem ersten Gesang der Ilias war das Lachen im Begriff
sich an Zeus selbst heranzumachen, als Hera ihn durchschaut mit der
überlegenen Klugheit des Weibes und nur der Appell an seine Armes-
kraft ihm den Sieg gibt. Aber daß der höchste Gott für einen Augenblick
nur dies einzusetzen hat, soll man darüber nicht lächeln? War es etwa
auch darum, daß Hera gelächelt hat? Und nun wird dieser Sieg weib-
licher Klugheit zu einer eigenen epischen Szene: „Trug an Zeus" heißt
ein Gesang der Ilias, und wieder ist diese Truggeschichte eine Episode
innerhalb des ernstesten Geschehens.
Hera sieht vom Olymp aus, wie Poseidon drunten den Griechen hilft,
und sie freut sich. Drüben auf dem Idagebirge sieht sie den Zeus sitzen,
verhaßt ist er ihr in der Seele. D a bedenkt sie, wie sie ihn täuschen könne,
und sie beschließt ihn mit Liebessehnsucht zu erfüllen. Sie geht zu Aphro-
dite, erzählt ihr eine erfundene Geschichte, bittet sie um ihre Hilfe. Aphro-
dite - „die das Lächeln liebende" - gibt ihr den Zauberriemen, den sie
selbst trägt, und versichert ihr: du wirst erreichen, was du in deinem Sinne
denkst. Hera lächelt. Sie denkt etwas ganz anderes als sie der Aphrodite
gesagt hat. Aber sie freut sich der guten Vorbedeutung, und sie nimmt j
ihren Sieg über Zeus schon vorweg. Lächelnd steckt sie den Liebesgürtel
an ihren Busen.
Heras Fahrt geht weiter. Sie trifft den Schlafgott. Ihm darf sie nichts
vorreden. Aber ihre Bitte und ihr Versprechen - sie verspricht ihm einen
Göttersessel - fruchtet dafür auch nicht sogleich. Hypnos hat schon ein-
mal den Zeus auf Heras Wunsch zur Unzeit eingeschläfert. Als Zeus dann
erwachte, war er ergrimmt und hatte die Göttin im Hause hin- und her-
geworfen. (Also wieder eine olympische Gewaltszene.) Und den Schlaf-
gott hätte er damals ins Meer geschleudert. Aber die Nacht hat ihn ge-
rettet, die Bändigerin der Götter und Menschen. Denn Zeus scheut sich
etwas zu tun, was gegen ihren Sinn wäre. (Vor der großen Ordnung der
[218j219] Lachende Götter 11

Natur, vor dem Dunkel, dem seine eigene lichte Dynastie entstammt,
hat der höchste Gott Ehrfurcht.) Hera macht ein zweites Angebot: sie
verspricht ihm eine der Anmutsgöttinnen mit feierlichem Eide. (So wie
sie vielleicht in jenem alten Hephäst-Hymnos die Aphrodite als Preis für
ihre eigene Lösung ausgesetzt hat.)
Hera kommt zu Zeus. So wie er sie sieht, umhüllt ihm Eros den
dicht gefügten Sinn. (Also der Zauber wirkt sofort.) Hera erzählt ihm
„listig sinnend" dasselbe Märchen, das sie der Aphrodite erzählt hat.
Zeus sdilägt ihr vor, sie sollten gelagert sich der Liebe erfreuen (mit fast
denselben Worten, wie Ares sie im Phäakenlied zu Aphrodite sprach).
Sie antwortet ihm „listig sinnend": einer der Götter könne sie sehen und
hingehen und es allen Göttern sagen. (Also sie sagt eigentlich J a und
denkt das Geschehen weiter aus, so wie es sich im Phäakenliede vollzieht.)
Zeus redet ihr zu: eine goldne Wolke wolle er um sie beide hüllen, durch
die nicht einmal Helios durchscheinen könne. (Man denkt an Helios den
Merker im Phäakenliede.) Dann die herrliche Schilderung: Zeus nimmt
Hera in seine Arme, und die Erde läßt ihnen Gras und Blumen hoch-
wachsen. Eine goldne Wolke entzieht sie der Welt. Aber die Listensin-
nende hat erreicht, daß zugleich die Welt dem Zeus entzogen ist. Sie hat
nicht umsonst gelächelt, als ihr bei Aphrodite der erste Schritt gelang.
Der Lenker der Geschicke ist für eine Weile aus der Lenkung ent-
fernt. Unter Poseidons Führung drängen die Achäer ihre Feinde über
den Graben zurück. Hektor wird von Aias schwer getroffen. D a er-
wacht Zeus auf dem Gipfel des Ida neben Hera, er fährt auf und umfaßt
mit einem Blick was geschehen ist. Furchtbarer Blick. Drohende Rede. Er
droht ihr Schläge und erinnert sie, wie er sie früher aufgehängt und ihr |
die Füße mit goldnen Ambossen beschwert, ihr um die Hände unzerreiß-
bare goldne Fesseln gebunden hat. Liebe und Lager wird ihr nichts helfen.
Hera erschauert und schwört einen feierlichen Eid bei Erde Himmel
und Styx, beim Haupte des Zeus und bei ihrer beider ehelichem Lager:
sie ist nicht schuld, daß Poseidon den Troern schadet und den Achäern
hilft. Jetzt ist das Lächeln an Zeus. Ihr Schwur, so vorsichtig gefaßt,
daß er hart am Meineid vorbeistreift, zeigt ihre Unterwerfung an. Die
„Täuschung des Zeus" war ein kurzes Zwischenspiel bei den Göttern.
Zwischen einem Lächeln der Hera und einem Lächeln des Zeus vollzog
sich das Ganze. Drunten bei den Menschen aber wechseln Sieg und Nie-
derlage die Partei. Dann sitzt Hera bei den Göttern. Sie lacht mit den
Lippen, aber die Stirn über ihren schwarzen Brauen erheitert sich nicht:
gegen die Ubermacht des höchsten Gottes vermögen die göttlichen Ein-
zelkräfte nichts auf die Dauer; sie müssen sich widerwillig fügen.
Man pflegt zu sagen: durch das Gewebe dieser Geschichte könne man
hindurchsehen auf eine ältere ernste Dichtung von der „heiligen Hoch-
zeit" des Zeus und der Hera. Ein späterer Dichter habe das umgesetzt in
burlesken Ton. Und die schönen Verse, in denen die Erde unter dem
12 Mythologie und Heldensage [219j220]

Götterpaar frisch sprießendes Gras und tauigen Lotos und Krokos und
Hyakinthos dicht und weit emportreibt, läßt man wohl aus jener ur-
sprünglich edleren Fassung übernommen sein. Aber was liegt solcher
Umdeutung wieder zu Grunde als ein moralisches Werturteil? Die Ge-
schichte ist wahrhaft urtümlich genug mit jenen riesenhaft maßlosen
Zügen, um derentwillen Giambattista Vico gerade im Homer die früheste
Menschheit wiederzufinden meinte: „Menschen, an Schwäche des Ver-
standes beinahe Kinder, an Stärke der Phantasie wie Frauen, an auf-
wallender Leidenschaft wie Jünglinge von großer Heftigkeit" 3 . Ange-
sichts solcher urtümlicher Gestaltung, in der wieder das Erhabene und
das Komische nahe beieinander sind, kann es nicht erlaubt sein, eine
angeblich edlere und reinere Geschichte jenseits der epischen zu erfinden
und die so erfundene für ursprünglicher zu halten. D a ß Zeus den großen
Mächten des natürlichen Lebens unterliegt, dem Eros, der „alle Men-
schen und alle Götter bändigt", oder dem Allbezwinger Schlaf, ist nichts
was ihn in seiner Würde herabsetzt. Im Gegenteil. In einem N u ist seine
Macht wiederhergestellt. Gerade dadurch daß sie einen Augenblick ein-
geschläfert war, ist sie nach dem Erwachen um so unwiderstehlicher. Sein
Lächeln aber ist der Genuß dieser erneuten Majestät. |
Wilamowitz hat in seinem großen letzten Werk immer wieder den
Satz vertreten, daß „Mythos" und „Glaube" auseinanderzuhalten sei.
Mythos sei Dichtung und also freies Spiel, Glaube sei innerste Angelegen-
heit. Die homerischen Gedichte, die wir betrachtet haben, könnten diese
Uberzeugung auf den ersten Blick nur stärken. Denn was hat für unsre
Begriffe das Abenteuer von Ares und Aphrodite mit Religion zu tun?
Dennoch ist fraglich, ob solche Trennung richtig ist. Gibt es einen „Glau-
ben" der Hellenen jenseits von Kult, Bild und Mythos überhaupt? Homer
und Hesiod haben den Griechen ihre Götter geschaffen, sagt Herodot.
Im Mythos sind sie lebendig gegenwärtig, anschaubar, den zuerst der
Dichter und dann der Bildner formt. U n d wenn in dieser mythischen
Schöpfung viel Spiel ist, so haben die Griechen längst vor Piaton, der
es formulierte, gewußt, daß Spiel und Ernst Geschwister sind und daß
von den höchsten Dingen der Mensch nicht anders reden könne als in
einer Mischung von Ernst und Scherz.
Der griechische Mythos, der im Homer seine erste große Gestalt ge-
winnt, diese Weltansicht, mehr als das: diese Weltschöpfung hat als not-
wendigen Klang, ohne den das Ganze nicht Zusammenklang wäre, ge-
rade inmitten des majestätischen Ernstes das göttliche Spiel, das gött-
liche Mitspielen und Dreinspielen, das göttliche Lächeln und Gelächter.
Die Ilias erzählt von den ernstesten und vernichtendsten Dingen, von
dem was den Menschen jener Zeit höchstes Anliegen und Muster mensch-
lichen Daseins war. Aber diese Welt wird erst ganz, wenn das Lachen der
Götter immer wieder f ü r Augenblicke hineinklingt.
1
La Scienza nuova III i.
[220/221] Lachende Götter 13

Der modernen Homerkritik und Religionswissenschaft gelten wohl


zu allermeist diese komischen Klänge als Verfall eines ursprünglichen
Ernstes. Schon Johann Georg Hamann hat es besser gewußt: „Wenn
Diderot", sagt er (5 Hirtenbriefe, 1763), „das Burleske und Wunderbare
als Schlacken verwirft, so verlieren göttliche und menschliche Dinge ihren
wesentlichsten Charakter. Brüste und Lenden der Dichtkunst verdorren.
Das |xo>eöv der homerischen Götter ist das Wunderbare seiner Muse, das
Salz ihrer Unsterblichkeit. Die Torheit der levcov öaifxovicov, die Paulus
den Atheniensern zu verkündigen schien, war das Geheimnis seiner fröh-
lichen Botschaft. Das aocpamQov des ganzen Newton ist ein kindisches
Possenspiel gegen den Päan einer Morgenstunde; und das Burleske ver-
hält sich zum Wunderbaren, das Gemeine zum Heiligen, wie oben und
mitten, hinten und vorn, die hohle zur gewölbten Hand." - |
Der schärfste Einschnitt in der Geschichte der griechischen Religion
fällt an die Grenze des 6. zum 5. Jahrhundert, da Xenophanes von der
Position des philosophischen Pantheismus den ersten folgereichen Stoß
gegen die homerische Götterwelt führt. Man weiß, wie in der Sophistik
sein Grundsatz: „Ganz sieht er, ganz denkt er, ganz hört er", - er, näm-
lich der Allgott - vergessen wird und von dem Kampf gegen das Par-
tikulär-Göttliche nur noch der Zweifel an allem Göttlichen überhaupt
oder die Verneinung übrig bleibt. Auch der Spott wirkt nach. Die Neger,
so hatte Xenophanes gespottet, bilden ihre Götter plattnäsig und
schwarz, die Thraker blauäugig und rotblond. In einer Komödie des
Aristophanes kommt ein Triballergott auf die Bühne, so ein recht wüster
Gott aus wildem Thrakerstamm, der sich in der guten Gesellschaft der
Griechengötter nicht zu benehmen weiß. Sicher war er ausstaffiert, wie
die Griechen diese Nordländer kannten. Man kann gar nicht anders als
sich an Xenophanes erinnern.
So ist gewiß die philosophische und sophistische Götterkritik ein
Bestandteil des aristophanischen Götterspottes. Aber ist das alles? Ist
das Komische dieser Götter im Ganzen als kritischer Hohn auch nur ent-
fernt begreifbar?
Wenn jene Götterkritik des philosophischen Pantheismus auf der
einen Seite die Skepsis der Sophisten nach sich zieht, so hat sich auf der
andern dasselbe fünfte Jahrhundert mit einer bis dahin unerhörten Lei-
denschaft auf die Gottsuche gemacht: in der Tragödie. Nun aber geschieht
etwas für die Griechen ungemein Bedeutsames. Indem der Lebensernst
sich unendlich vertieft, verstärkt sich wie zum Ausgleich die komische
Leidenschaft. Aus der Vorform der Tragödie, die Ernstes und Komisches
noch ungeschieden in sich enthielt, hat Aischylos die ernste Tragödie ge-
schaffen. Aber er hat das lustige Spiel der Satyrn von ihr abgetrennt
und neben sie gestellt. Schon daß die Heroen und Göttersöhne in die
Gesellschaft dieser Waldteufel gebracht wurden, war ein Spielen mit ihrer
Würde. Und wie wenig man sich vor den allerhöchsten Personen scheute,
14 Mythologie und Heldensage [221j222]

zeigt ein Abglanz dieses frühen Satyrspiels auf einer bemalten Trink-
schale des Brygos: Im innern Rund ein feierliches Bild aus dem heroischen
Kreise. Auf den Außenseiten tolle Begebnisse aus der Silenenwelt. Die
nackten, geilen Gesellen wollen mit gezückter Waffe der Götterbotin Iris
zu Leibe und gar der Himmelsherrin selber. Gewiß, Hera wird von Her-
mes und Herakles geschützt, und auch Iris wird im letzten Augenblick
durch | Dionysos gerettet werden. Aber schon das was geschieht ist derb
genug, und derb werden die Reden sein, die sich über die Göttinnen her-
machen.
Es ist als ob die wachsende Schroffheit der tragischen Situation, wie
Sophokles sie heraufführt, jene höchste Einsamkeit der einzelnen tragi-
schen Gestalt - es ist als ob sie einen noch stärkeren Ausgleich gefordert
hätte. Neben der Tragödie erwuchs im Dienste desselben Dionysos die
Komödie, und in ihren ekstatischen Wirbel werden auch die Götter hin-
eingerissen.
In den Vögeln des Aristophanes, der Utopie der Wolkenkukuksstadt,
die die Stadt- und staatsflüchtigen, gegenwartsflüchtigen Menschen grün-
den, verwirklicht sich als Spiel ein uralter Menschenwunsch, ein Wunsch
wie im Märchen vom Fischer und seiner Frau: Gott zu werden, Zeus zu
werden. Der griechische Mythos hatte an Salmoneus, an Keyx - sie
nennen sich Zeus und ihre Gattin Hera - diesen Wunsch und seine ver-
derblichen Folgen gestaltet. Die griediische Weisheit wußte wohl, war-
um sie immer wieder vor solchem Streben warnte: suche nicht Zeus zu
werden! Die Komödienutopie spielt mit seinem Gelingen. Ein kecker
Mensch im Bunde mit den Vögeln schneidet den Göttern Opferdampf
und Gebetshauch ab, zwingt die Belagerten zur Ubergabe, nimmt ihnen
die Herrschaft.
Wer wird hier verspottet? Die Menschen? Die Götter? In der Wol-
kenkomödie verkündet der Schüler der neumodischen Weisheit als sein
frisch gelerntes Wissen im Streit mit dem Vater:
(Sohn:) So gibts einen Zeus? (Vater:) Es gibt ihn! (S:) Nicht! Es gibt
ihn nidit,
So wahr Gott Wirbel herrscht und den Zeus vertrieben hat.
Hier geht der Hieb gegen die Nachzügler der ionischen Naturphilo-
sophie. Ähnlich trifft in den Vögeln, als mit feierlichen Worten die neue
Weltentstehungslehre verkündigt, das Geschlecht des Zeus entthront, das
Reich der Vögel gegründet wird, den Sophisten Prodikos ein Pritschen-
schlag (692). Und der Vergleich des Himmelsgewölbes mit einem Bade-
trog erinnert lustig an die modernsten naturphilosophischen Verstiegen-
heiten (1001). Das Phantasiespiel des Aristophanes ist durch die neu-
modische Weisheit angestachelt und ohne sie nicht denkbar. Aber dann
hören wir die großen Klänge religiöser Verkündigung - zum Spiel freilich
umgebildet - , die der entgötternden Physik grade entgegengesetzt sind. |
[223¡224] Lachende Götter 15

Die Götter also werden blockiert, und Prometheus der Götterfeind


kommt als Überläufer, um zu verraten, daß es „mit Zeus zu Ende ist".
Aber er hat eine fürchterliche Angst vor dem Auge eben dieses Zeus,
kommt bis über den Kopf verhüllt, für den Fall daß der Himmel unbe-
wölkt sein sollte, und läßt einen Sonnenschirm über sich halten, damit
die Götter ihn nicht sehen. Und wenn die Götter sich schließlich den
Vögeln unterwerfen, so tun das ihre fragwürdigen Abgesandten, der bar-
barische Triballergott, der Fresser und Schürzenjäger Herakles, und der
allzu demokratisch auf das Majoritätsprinzip eingeschworene Poseidon,
in überaus menschlicher Weise. Die mögen den Olymp so gut oder schlecht
vertreten, wie athenische Gesandte oftmals in Athen: solche Exemplare
hat gerade auch Aristophanes auf die Bühne gebracht.
Am Schluß kommt der Sieger mit der göttlichen Braut an der Hand
- Basileia heißt sie, „Herrscherin" oder die Person gewordene „Herr-
schaft" —, er führt den Blitz des Zeus, wird als der Götter höchster an-
gerufen. So schwer dieser Schluß uns Heutigen eingehen mag, selbst dies
wurde nicht als Asebie empfunden, sondern als Spiel. Ist das religiöse
Schlaffheit? Undenkbar! Denn jene Zeit war ja überempfindlich in Din-
gen der Götterverehrung. Mit Polizei und Gericht suchte man die väter-
liche Religion festzuhalten, die Prozesse häuften sich gegen alles was
nach „Gottlosigkeit" schmeckte. Man hatte das religionsgefährliche Buch
des Protagoras verbrannt. In ein paar Jahren wird man den Sokrates
wegen Unfrommheit den Schierling trinken lassen. Von einem Asebie-
prozeß gegen irgendeinen Komödiendichter ist nichts bekannt. Den Spott
über Menschen haben die Menschen sich meist gefallen lassen. N u r selten
haben die empfindlichsten, wenn sie die Macht hatten, das Vorrecht der
Komödie auf grenzenlose Narrenfreiheit anzutasten gesucht. Das Spiel mit
den Göttern haben die Athener niemals ernst genommen. Wie sie dar-
über etwa dachten, entnehme man einer Philosophenanekdote etwas
späterer Zeit 4 : Als den Stoiker Kleanthes von der Bühne herab ein Spott-
vers traf, habe er gesagt: dergleichen könne ihn nicht anfechten, wo doch
Dionysos und Herakles sich nicht kränken ließen von dem Spott und
Schwatz der Dichter. Man muß das nur aus der „Unerschütterlichkeit"
der Stoiker in das Gelächter der aristophanischen Zeit übersetzen, so ahnt
man deren Uberzeugung: auch die Götter würden mitladien über ihr
eigenes Komödienabbild.
Denn mindestens Dionysos ist Zuschauer der Tragödien, Satyrspiele, |
Komödien, die in seinem heiligen Bezirk an seinen Festen aufgeführt
werden. Sein Priester sitzt im Ehrensessel bei den Aufführungen, sein
altes Kultbild zieht jedes Jahr an den Großen Dionysien neu in den Tem-
pel dicht am Theater ein. Darauf daß er leidenschaftliche Freude an den
Tragödien hat und unstillbare Sehnsucht nach der nun abgelaufenen Zeit
4
Diogenes Laertius 7, 173.
16 Mythologie und Heldensage [224¡225]

der großen Tragödiendichter, beruht die Erfindung der aristophanischen


Frösche. Es ist gar nicht zu zweifeln, daß damit die Uberzeugung der
Athener ausgedrückt war.
In den Fröschen also tritt Dionysos selber auf. Zu seiner eigenen
üppigen Festtracht trägt der Weichling Löwenfell und Keule des Hera-
kles, und Herakles kann sich gar nicht fassen vor Lachen über die Maske-
rade des göttlichen Bruders. Der versteckt darin seine komische Feigheit,
die doch auf jeder Station seiner gefahrvollen Unterweltsreise wieder
ausbricht, um sich in ebenso komische Anmaßung zu verwandeln, sowie
die Gefahr vorüber ist. Wenn der Bühnengott in seiner Not den eigenen
Priester in der Ehrenreihe der Zuschauer anruft: „Beschütze midi, Prie-
ster, daß ich mit dir heut zechen kann!" oder wenn er im erbärmlichsten
Moment vor den gehäuften Scheit- und Drohreden des Höllentorwarts
die Herrschaft über sein Gedärm verliert, so kann man sich das Entzücken
des athenischen Theatervolkes denken. Dionysos selbst aber erkannte
das Komödienrecht an, nur entschiedener als jeder athenische Politiker
„Und gesetzt daß auch die Götter philosophieren, wozu mich mancher
Schluß schon gedrängt hat" — schreibt Nietzsche (Jenseits von Gut und
Böse 294) - „so zweifle ich nicht, daß sie dabei auf eine übermensch-
liche und neue Weise zu lachen wissen und auf Kosten aller ernsten Dinge!
Götter sind spottlustig: es scheint, sie können selbst bei heiligen Hand-
lungen das Lachen nicht lassen."
Im Demeterhymnos wird erzählt, wie die Göttin Mutter auf der
Suche nach ihrer Tochter ohne zu lachen und ohne Speise und Trank da-
sitzt, bis die Dienerin Iambe durch viele Späße die Trauernde dahin
bringt „zu lächeln und zu lachen". So beginnt der Wandel im Wesen
der Göttin und damit der Wandel im Wesen der Welt. Das ist eine ätio-
logische Geschichte, sagt man. Eine frühe Zeit habe den seltsamen Kult-
brauch erklären wollen, daß bei den eleusinischen Mysterien (wie in
manchem andern Kult) die Festordnung an bestimmter Stelle Spötte-
reien verlangte. Aber mit diesem wissenschaftlichen Begriff des Ätiologi-
schen wird man seltener eine wirklich zureichende Deutung solcher Dinge
erreichen, als | unser rationales Denken wahrhaben will. Auch hier wird
weniger ein dauernder Kultbrauch durch einen einmaligen mythischen
Vorgang erklärt. Vielmehr wird durch die Erzählung der heiligen Ge-
schichte wie andrerseits durch die Vollziehung der heiligen Riten eine
Kommunion gestiftet zwischen den Mysten und den Herrinnen der
Weihen. Der Geweihte erneuert jedes Jahr das göttliche Schicksal. In sei-
ner Trauer spiegelt sich die göttliche Trauer, in dieser die seine wechsel-
weise. Wie die Göttin fastet er, trinkt dann den Mischtrank, wird durch
Späße erheitert. Aber zugleich hört die Göttin selbst diese Späße, diese
Iamben, und erheitert sich an ihnen. Denn im alten Hymnos wird von
eben jener Iambe gesagt: „die der Göttin denn auch künftig den Sinn
erfreute". Und dieses Künftig kann nur auf die jedesmal sich wieder-
[225¡226] Lachende Götter 17

holende Festesfeier gehen. So also verstand das 7. Jahrhundert diese


Scherze im Mysterienkult, und man sollte vielleicht heut nicht klüger sein
wollen.
Für einen seltsamen Brauch in der Festfeier des rhodischen Herakles
gilt Ähnliches. Dem Herakles „Rindschmauser", so lautete das Kultgesetz,
wird jedes Jahr unter Scheltreden ein Stier geopfert. Denn Herakles
selbst, so erzählte die Kultlegende, hat einem Bauern den Stier aus dem
Pflug gespannt und verzehrt, und der Bauer hat auf einem Berg dabei-
gestanden und den Heros beschimpft. Auch hier genügt nicht die moderne
Deutung, daß die Legende eine Ätiologie des Kultbrauchs sei. Ein antiker
Bericht (bei Lactanz) sagt es uns richtiger: Herakles selbst hat diesen
Kult eingerichtet und hat angeordnet, daß der Priester immer dieselben
Schimpfreden beim Opfer verwenden solle. „Denn niemals habe er
lustiger gespeist." Also der Gott selbst hat seinen Spaß an diesen Schimpf-
reden — was sie auch ursprünglich einmal „bedeutet" haben mochten - ,
weil sie ihm nichts anhaben können und ihm grade darum den Genuß
des Mahles erhöhen, jedes Jahr von neuem.
Und wie es von Demeter und Herakles ausdrücklich gesagt wird,
so gilt es auch von Dionysos: man sieht ja auf den Vasen, wie er gern von
den äffischen Gebärden seiner Satyrn umgeben ist. Aus den Bocksprüngen
der wilden und lustigen Waldmenschen erwächst das Bühnenspiel, am
Fest des Dionysos zu seiner und des Volkes Lust aufgeführt. Wenn der
Bühnen-Dionysos sich possierlich benimmt, so lacht über dem Volk im
Theater der zuschauende Gott.
Weder bei Homer noch bei Aristophanes ist das Lachen über die
Götter ein Zeichen unfromm gewordenen Sinnes. Die homerischen Götterl-
szenen sind nicht „spät", sondern sie gehören zum festen Bestände der
homerischen Dichtung, das Lachen der Götter zum Bestände der home-
rischen Welt. Die aristophanischen Komödien mögen über einem ver-
fallenden Leben stehen und viel davon spiegeln: sie stehen doch d a r -
ü b e r und sind selbst das Gegenteil von Verfall. Denn wenn der
griechische Dichter oder seine Zuhörerschaft über die Götter lacht, dann
haben immer zuerst und zuletzt - und also am besten — die Götter über
sich selbst gelacht.
Man wird sich nun nicht mehr mit der flachen Selbstverständlichkeit
begnügen, daß die anthropomorphische Kunstreligion der Griechen sich
in dem Götterlachen ein anmutig gefährliches Ornament geschaffen habe.
Man muß versuchen dieses Lachen ernster zu nehmen und wird dabei
Schellings Spuren folgen dürfen 5 . Wie die platonische Idee „Grenze" und
„ewiges Sein" zugleich ist, so ist jeder Gott innerhalb seiner Timé, das
ist innerhalb seiner Begrenzung, unendlich wirksam. Endlich ist er durch
diese Begrenzung selbst, dadurch daß er eben dieser bestimmte Gott, diese

5
Philosophie der Kunst, Werke V 394.
18 Mythologie und Heldensage [226]

Gestalt gewordene Macht ist. So ist das was die Griechengötter aus-
zeichnet vor allen andern, ihre Form Gestalt Grenze Menschlichkeit, eben
dieses ist es, was unausweichlich in der Berührung von Endlich und Un-
endlich das Lachen aufklingen läßt. Denn „das Lachen" - sagt Jean Paul6 -
„bleibt ewig im Gefolge der geistigen Endlichkeit . . . sowohl der an-
schauenden als der angeschaueten Endlichkeit bleibt, eben als einer, die
Täuschung des komischen Stellen-Wechselns fort und anhängend, nur eine
andere auf höherer Stufe; und noch über einen Engel ist zu lachen, wenn
man der Erzengel ist".
Der wahre Dionysos lacht - und das Theater mit ihm - über sein
Bühnenzerrbild und damit unter anderm auch über das was dem attischen
Spießbürger Götter und Menschen sind. Die Olympier - und Homers
Hörer mit ihnen - lächeln und lachen über die göttlichen Sonderkräfte,
die die Grenze ihres Sonderseins vergessen. Selbst Zeus wird dem Dichter,
der sein Bild für Augenblicke allzusehr nach dem Bild irdischer Herrscher
geformt hat, nicht verwehren, über das so geformte wiederum zu lächeln.
In gestuftem Neben- und Übereinander nähert sich die Vielfalt helleni-
scher Göttergestalten dem was die Griechen „das Göttlidie" nennen. Und
vielleicht ist auch das Lachen ein Symbol dieser Transzendenz. |

6
Vorschule der Ästhetik § 30.
Kritische Untersuchungen zur Geschichte der Heldensage

1914

1. Argonautensage

Die Untersuchung hebt bei den Korinthiaka des Korinthers Eumelos


an*. In diesem Epos war Aietes Sohn des Helios und der Antiope, und
ihm gehörte Ephyra, das spätere Korinth. ,Das gab er dem Bunos (nach
dem die Hera ,vom Berge', Hera Bunaia ihren Namen tragen sollte) zur
Hut, bis er selbst oder ein Sohn von ihm oder ein Enkel wiederkehre.
Er aber ging nach Kolchis/ Es bedarf keiner Ausführung, daß Aietes nach
Aia-Kolchis, nicht nach Korinth gehört, daß er also künstlich dorthin
versetzt worden ist, von wo er durch ein seltsames Mittel wieder gelöst
werden muß. Ebenso klar ist, daß dieser Anfang ein Ende erfordert,
von dem er erst bedingt wird: Medea muß nach Korinth kommen in ihr
,angestammtes Reich'. Und wenn nun die Uebersiedlung von Kolchis nach
Korinth nicht aus dem korinthischen Epos, sondern aus der Prosaschrift
angeführt wird, die gleichfalls unter dem Namen Eumelos stand und sich
zu dem Epos verhielt etwa wie Akusilaos zu Hesiod, so ist doch für das
fragliche Motiv die Herkunft aus dem Epos unabweislich. Zwischen dem
Fortgang des Aietes und der Heimkehr der Medea liegt die Argonauten-
sage, die, bevor Eumelos sie am Anfang und am Ende erweiterte 1 , mit
der Ausreise des Phrixos begann und mit der Heimkehr Jasons nach
Iolkos endete. Dieser vorkorinthische Schluß wird ja noch in dem Anhang
der hesiodischen Theogonie (992 ff.) vorausgesetzt.
D a ß die vorkorinthische Schicht ionisch, genauer gesprochen | milesisch
ist2, wird den meisten heut eine selbstverständliche Wahrheit sein. Auch
haben wir in den kümmerlichen Resten, die uns von Eumelos geblieben
sind, deutliche Indizien für seine milesische Vorlage. Das erste ist allge-
meinerer Natur. 'O 5' (pxEto KoAy.iöa yaiav liest man in dem zu Anfang

[Rheinisdies Museum N . F. L X I X , 1914, S. 299-341.]

* Epic. Graec. Fragmenta ed. K i n k e l 187 ff. V g l . R - E V I 1080 f. (Bethe).


1 Unsere Erkenntnis ist notwendigerweise schematisch. Es ist natürlich denkbar, daß

der Sdiluß auf einer älteren Entwicklungsstufe hinzugefügt wurde als der A n f a n g .
A b e r wir können getrost und wir müssen sogar die korinthische Zeit unter dem
N a m e n „Eumelos" zusammenfassen.
2 Ein derartiger Ausdruck ist natürlich nur so gemeint, daß Milet als Zentrum gedacht

wird. Wenn man Milet sagt, schließt man Priene nicht aus. A b e r auch Samos ist nicht
sdiarf geschieden, und die Strahlen gehen noch weiter.
20 Mythologie und Heldensage [3001301]

erwähnten Fragment (Frg. z, 8). Nun betrachte ich es als so gut wie aus-
gemacht, daß die Heimat des Aietes ursprünglich Aia - „Land" — hieß
und im Märchenlande beim Aufgang der Sonne lag 3 ; so fühlt man es
noch bei Mimnermos (Fr. n ) . Der zweite Name - Aia fj KoX/i; pflegt
Herodot zu sagen — ist so in die Sage hereingekommen, daß man das
Märchenland Aia mit dem wirklichen Lande Kolchis am Ostrand des
Schwarzen Meeres glich 4 . Wieder zweifelt wohl niemand, daß die Milesier
es gewesen sind, die an dem östlichsten Ziel ihrer Pontusfahrten den
Herrschaftssitz des Sonnensohnes Aietes wiederfanden. Phasis ist j a
geradezu als milesische Gründung bezeugt (Steph. Byz.).
Die zweite Angabe, die darauf hinführt, daß der Korinther Eumelos
ein milesisches Epos benutzt hat, ist, so unscheinbar sie wirkt, vielleicht
noch beweisender. Bei ihm nämlich (und ihm folgte darin Aristoteles)
wurde Sinope eine Tochter des Asopos genannt 5 . Was das bedeutet, ist
klar, sowie man die Sagen von den Asopostöchtern überblickt 6 . Kerkyra
wird von Poseidon | geraubt, Aigina von Zeus, Salamis wieder von
Poseidon, Rhode von Helios. Jede wird nach der Insel gebracht, die von
ihr den Namen bekommt, und gebiert dem Gott einen Sohn, der auf der
Insel herrscht. Nun drücken diese Sagen in mythischer Form ersichtlich
die Beziehung der betreffenden Insel zur Nordostecke des Peloponnes aus.
Die Rhodier stammen j a aus der Argolis; Kerkyra ist korinthische
Kolonie; für Aegina fehlt die geschichtliche Ueberlieferung, und nur die
Sage belehrt uns; die salaminische steht unter dem Einfluß der äginetischen
wie Salamis unter dem von Aegina. Wenn nun Eumelos die Sinope unter
die Asopostöchter rechnete, so mußte er sie vom Flusse Asopos vermutlich
durch Apoll entführen und Mutter des Syros werden lassen 7 . D a ist das
Vorbild der eben genannten Sagen, für den korinthischen Dichter wohl

3
W i l a m o w i t z hat in seiner Einleitung zur Medea (wie ehedem H . D . Müller, M y t h o -
logie der griechischen Stämme I I 3 2 9 ) in A i a das Totenland gesehn und sich in dieser
Hinsicht auf Wackernagel berufen, der in den Vermischten Beiträgen zur griechischen
Sprachkunde (Basel 1 8 9 7 ) 4 ff. den N a m e n "AiÖt)5 versuchsweise mit a i a zusammen-
gebracht hatte. A b e r Wackernagel selbst spricht sich sehr vorsichtig aus, und mit der
Theorie v o n W i l a m o w i t z scheint es mir (trotz Malten, K y r e n e 1 2 0 ) nicht zu stimmen,
daß Aietes Sohn des Helios, des lichten Gottes, ist.
4
Maas, H e r m e s 1 8 8 9 , 699 fr. G ö t t . Gel. A n z . 1 8 9 0 , 3 5 2 , hat Kolchis vielmehr als ein
griechisches W o r t genommen ( = Chalkis) und kühne Sdilüsse auf diese Hypothese
gebaut. Dagegen spricht die Doppelheit A i a r| Ko).%i<; ebensosehr wie die Ober-
lieferung von dem realen V o l k der Koldier.
s F r g . 8 Kinkel im schol. A p . R h . I I 946.
6
Z . B. bei Diodor I V 7 2 . Die Vermischung der beiden Asoposflüsse in der Sage ist sehr
alt, so daß schon bei Pindar Isth. V I I I 1 7 Thebe und A i g i n a Schwestern heißen. F ü r
uns kommt der böotische Fluß nicht in Betracht. - V g l . v . Wilamowitz, Berl. Klassiker-
texte V 50, mit dem ich aber nicht ganz übereinstimme.
7
Diodor a. O . Wenn nach einer anderen Sage Zeus die Sinope entführt, aber v o n ihr
getäuscht w i r d ( A p . R h . I I 949, Ps.-Skymnos 9 4 1 ) , so zeigt die Abweichung v o m
Schema, daß hier eine Umbildung des Ursprünglichen vorliegt.
[3011302] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 21
insbesondere das Vorbild der Kerkyra, maßgebend gewesen. Nun ist ja
aber Sinope durchaus nicht von Peloponnesiern besiedelt worden, sondern
eine milesische Kolonie. Und dem entspricht es, wenn eine andere
Gründungssage den Namen Sinope vielmehr von einer Amazone herleitet.
Das schickt sich gut für eine kleinasiatische Stadt®, und für diese
Tradition tritt zudem das Zeugnis des Hekataios ein (Fr. 352, Mu = 34
Jac), der als Milesier die echte kennen mußte. Woher also die Neubildung,
woher überhaupt Sinope in dem korinthischen Epos? Soweit ich sehe,
bietet sich nur eine Annahme dar, daß die milesische Vorlage bereits eine
Landung der Argonauten in der wichtigsten milesischen Kolonie gab9,
und daß Eumelos nach einem Schema, welches ihm geläufig war, die
Gründungssage schuf, um auf diese Weise (so kann man etwa sagen) das
Interesse der korinthischen Handelsherren an Milets Kolonialpolitik in
mythischer Spiegelung zu geben.
Es ist des weiteren bekannt und von Kirchhoff 10 mit voll ¡kommener
Stringenz erwiesen, daß die Apologe der Odyssee, deutlicher gesprochen
die Bücher hii, eine ausgebildete Argonautensage nicht nur kennen, sondern
von ihr auf das stärkste beeinflußt sind, daß diese Argonautensage ionisch
ist — denn diese Odyssee ist ionisch — und daß man auch hier den mile-
sischen Ursprung greifen kann. Kirke ist Schwester des Aietes und Tochter
des Helios. Ihre Insel Aiaie hat den Namen nach der Aia und wird mit
dem ,Haus und Tanzplatz der Morgenröte und dem Ort, wo der Sonnen-
gott aufgeht', ganz ähnlich der Aia bei Mimnermos gemalt. Wie tief
aber dieses Motiv in jene ganze Odysseedichtung verflochten ist, wird
daraus klar, daß Helios, der Vater der Kirke und des Aietes, hier die
Geschicke des Odysseus lenkt 11 .
Kirke nun weist dem Odysseus seinen Weg durch die Plankten, und
dabei wird in berühmten Versen geradezu auf die Argo hingewiesen,
eine Angabe der ,Quelle' so deutlich wie man sie nur wünschen kann.
Die im Liede gefeierte Argo, die von Aietes kommt 12 , Jason durch Hera
8
Vgl. die kurze Kritik des Amazonenmythos Philol. Unters. X I X 169 ff. Auch Leon-
hard, Hettiter und Amazonen, sieht für die Amazonen das Zentrum der Sagenbildung
in Kleinasien.
' D i e Namen des Deimadios und seiner Söhne (Ap. Rh. II 955 f.) scheinen nach Milet
zu weisen; s. meine Argolica (Berl. Diss. 1905) 67.
10 Homerische Odyssee 288 ff.
11
Das Motiv vom Zorn des Helios und was damit zusammenhängt, wird man geradezu
als milesische Odysseedichtung ansprechen dürfen. Dann ist der Zorn des Poseidon
vermutlich nidit-milesisch. Vgl. v. Wilamowitz, Homer. Untersuch. 167.
12
Daß hier das Planktenabenteuer bei der Rückfahrt genannt wird, bietet wohl keine
Schwierigkeit. Denn das Motiv, das offenbar nicht rationalistisch aus den wechselnden
Uferblicken bei der Bosporusfahrt gedeutet werden darf, sondern ein altes Märchen-
motiv ist, gehört zur Hinreise ebenso wie zur Rückfahrt. Grimm, s. Märchen 9 7 : Die
zuschlagende Tür auf dem Rückweg. (Auch sonst wechselt ein Motiv zwischen Hin-
und Rückfahrt: Malten, Kyrene 155 f.) - Daß es ein mythisches Motiv ist, geht aus den
ethnographischen Parallelen hervor. Tylor, Anfänge der Kultur I 343, hat schon
22 Mythologie und Heldensage [302j303]

beschützt: das zeigt eine ausgebildete | epische Vorlage 13 . Und wie die Irr-
felsen sicher, so ist vielleicht auch das Sirenenabenteuer, das in der Nach-
barschaft steht, aus der Argonautensage herübergenommen. Denn bereits
Herodor (Fr. 39) kennt als Grund, warum Orpheus mitzog, Chirons
weissagenden Spruch: ohne das Spiel des Sängers würden sie bei den
Sirenen nicht vorbeikommen können. Orpheus als Teilnehmer gehört
gewiß schon dem Epos an, denn die Metope vom delphischen Sikyonier-
schatzhaus bezeugt ihn für das sechste Jahrhundert 14 , und es ist sehr mög-
lich, daß er eben mit dem Sirenenabenteuer gleichzeitig in die Sage ein-
geführt worden ist. Aber ob dies wirklich schon in so früher Zeit geschah,
daß die Odysseussage davon beeinflußt werden konnte, will mir doch
recht ungewiß erscheinen.
Sicher hingegen ist, daß die Laistrygonenstadt mit ihrem festen Hafen
und ihrer Quelle Artakie ein märchenhaftes Abbild von Kyzikos mit
seinem y/utög ?auf]v gibt, wo der Name Artake (und Artakie) an Berg,
Inselchen und einer berühmten Quelle haftete. Dann sind die Laistry-
gonen von Telepylos identisch mit den Gegeneis oder Encheirogastores
vom Bärenberg bei Kyzikos oder nach deren Vorbild geschaffen oder von
deren Vorbild beeinflußt15. Kyzikos aber ist eine milesische Kolonie, und
das Argonautenepos, das in der Odyssee benutzt wird, ist über die allge-
meine Wahrscheinlichkeit hinaus auch an diesem Einzelzuge als milesische
Schöpfung erkennbar.
Die Ilias nennt ferner an mehreren Stellen den Euneos als Sohn des
Jason und der Hypsipyle auf Lemnos. Das weist doch wohl auf eine
Geschichte, die dem, was man später von der Landung der Argonauten
erzählte, zum mindesten irgendwie ähnlich gewesen sein möchte. Und
diese Voraussetzungen waren | natürlich in ionischer Sage gegeben, wenn

mehreres gesammelt, w a s z. T . recht ähnlich ist. S o mußte nach aztekischem Glauben


die Seele auf ihrer Jenseitsfahrt zwischen z w e i Bergen hindurch, die aneinander-
schlagen. N o c h genauer paßt ein südslavisches Märchen (Kraus, Sagen und Märchen
der Südslaven I I 9 4 ) : D a trägt die Sturmstute den, Märchenhelden zur Tochter des
Vilenkönigs. „ U n d sie flog mit ihm wie ein V o g e l und rannte und rannte, bis sie zu
zwei Säulen gelangte. A l s sie in die N ä h e kam, traten die Säulen v o r ihrem Hauch
auseinander, schlössen aber im Augenblick wieder zusammen und rissen der Stute ein
Stück vom Schweif aus." A u f der Rückkehr w i r d der H e l d v o m Vilenkönig verfolgt.
D a öffnen sich die Säulen v o r ihm, aber v o r dem Verfolger blieben sie geschlossen.
In einem neugriechischen Märchen (v. H a h n I 2 3 8 ) ist das Wasser des Lebens in einem
Berg, der sich nur für einen Augenblick öffnet und dann gleich wieder zusammen-
schnappt.
13
M a n hat behauptet, diese F o r m müsse um der H e r a willen korinthisch sein (so
v . W i l a m o w i t z , Herakles I 2 30). A b e r es ist eine unbeweisbare Annahme, daß H e r a
erst in der korinthischen Fassung zugetreten sei. D a s samische Heraion ist von den
Argonauten gestiftet nach Pausanias V I I 4, 4 ; vgl. Philolog. Unters. X I X 88.
14
Fouilles de Delphes I V pl. 4.
15
Klausen, Die Abenteuer des Odysseus 94 ff. M . M a y e r , Giganten und Titanen 40. 1 2 6 .
Knaack in den Comment. philol. G r y p h i s w a l d . 1 8 8 7 , 3 3 ff.
[3041305] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 23

anders jene Iliasstellen kleinasiatischen Ursprungs sind: für Milet freilich


ist hier keinerlei Anzeichen zu finden16.
Schließlich gehört Phineus hierher. Sehr früh muß er in das Gefüge
der Argonautenfahrt eingegliedert worden sein, da er sich bei Hesiod
(Fr. 151) bereits künstlich auch mit deren Vorspiel, der Phrixosfabel,
verknüpft findet. Die mannigfachen Traditionen über ihn zu ordnen ist
eine schwierige Aufgabe und hier nicht am Platz 1 7 ; nur die Genealogie
muß uns beschäftigen. Wenn Phineus bei Hesiod (Fr. 31) Sohn des
Phoinix und der Kassiepeia heißt, so wird er damit Bruder des Atymnios,
also eines karischen Heros, der uns an die Südwestküste Kleinasiens führt.
Und wenn als Gemahlin des Phineus einerseits Eidothea, eine Schwester
des Kadmos auftritt (Sophokles Fr. 587), andrerseits Eurytia, so hat schon
v. Duhn die wichtige Entdeckung gemacht18, daß diese Namen milesischen
Ursprung verraten. Denn abgesehen davon, daß Kadmos nach Milet
weist, trägt die Gemahlin des Miletos, des Gründers von Milet, gleich-
falls den Namen Eidothee, und sie ist die Tochter eines Karerfürsten
Eurytos, also EiSofteri Eigütov oder EiöcMt) Eiipimr) (Ant. Lib. 30).

Wahrscheinlich ist ferner, daß bereits Apsyrtos als Sohn des Aietes der
milesischen Schicht angehört. Knaack 19 hat erwiesen, daß sich bei dieser
Sagengestalt ein barbarischer Name an eine griechische Person geheftet
habe, die ursprünglich ein ,Phaethon' war. Denn Phaethon ist ein bei
Apollonios nicht mehr verstandener ,Beiname' des Apsyrtos, und in die-
selbe Richtung weisen die Namen, die für seine Mutter genannt werden:
Asterodia (gleichfalls bei Apollonios), die das Gestirn im Namen führt
und auch Gattin des Endymion heißt; Eriauge ,die Leuchtende' in den
Naupaktien 20 ; Neaira bei Sophokles, die als Gattin des Helios und Mutter
der Lampetie und Phaethusa oder an an | derer Stelle als Mutter der
Auge auftritt. Für Neaira als Mutter des Phaethon(-Apsyrtos) wird wohl
nichts anderes gelten wie für Neaira, die Mutter der Phaethusa. Die
aber gehört der Heliosgenealogie des u, d. h. wie oben ausgesprochen,
milesischer Dichtung an. Schließlich darf wohl auch erwähnt werden, daß
Neaira in einer erotischen Novelle bei Parthenios 21 Gemahlin des Milesiers
Hypsikreon heißt.
16 Für samisdien Ursprung habe ich ein freilich höchst unsicheres Indizium beizubringen
versucht: Philol. Unters. X I X 87.
17 Vgl. den tüchtigen Artikel „Phineus" in Roschers Lex. d. M y t h .
18 Bemerkungen zur Würzburger Phineusschale, Festschr. zur 3 6. Philologenversamml.
122 ff.
19 Quaestiones Phaethonteae, Philol. Unters. V I I I , 14 ff.
20 Schol. Paris, z u A p . R h . III 242. Im schol. Laur. steht Eurylyte, die aber in Wahrheit
die zweite Gemahlin des Aietes ist (schol. I V 59. 86). Es ist wohl jedem Benutzer der
Apolloniosscholien klar, wie unzulänglich die allein auf den Laurentianus gebaute
Ausgabe von Keil ist. V g l . Deike, D e scholiis in A p . Rh. quaestiones, Göttingen 1901.
21 K a p . 18; auch bei Plutardi Mul. virt. 17. D a r f man bei Hypsikreon an 'Yueqlcuv
denken? V g l . noch m. Argolica 67.
24 Mythologie und Heldensage [3051306]

Wenn Eumelos die vollständige Argonautensage voraussetzt und sie


am Anfang wie am Ende erweitert, so kann man nicht anders als der
milesischen Schicht auch die Flucht des Phrixos zuzuschreiben. Denn die
Heimholung des goldenen Vliesses hängt viel zu eng mit jener Flucht
zusammen, als daß man diese entbehren könnte. Auch wurde schon darauf
hingewiesen, daß bereits ,Hesiod' die Fahrt des Phrixos künstlich mit
der Phineussage verflicht. Das ist eine Kombination, die das Vorhanden-
sein sowohl des Phrixos wie des Phineus in vorhesiodischer Argonauten-
epik beweist. Ebenso läßt sich zwar durch ausdrückliche Zeugnisse nicht
beweisen, ist aber nicht minder zweifellos, daß die kolchischen Kämpfe
des Jason der vorkorinthischen, d. h. der milesischen Schicht angehören.
Der Drachenkampf wird sich von der Gewinnung des Hortes ohnehin
nicht trennen lassen22. Das kann aber nicht die einzige Tat gewesen sein.
Schon aus dem Beiwort oXoocpQtov, das Aietes in der Odyssee bekommt,
geht zur Genüge hervor, daß jener Dichter die Aufgaben kannte, die der
grausame König nach Märdienart dem Helden stellt, bevor er ihm erlaubt,
den ersehnten Schatz zu erkämpfen. Und wem das nicht zum Beweise
genügt, dem wird nachher noch deutlicher werden, daß die Kämpfe der-
selben Schicht angehören und keinesfalls als jünger abgesondert werden
dürfen.
Die milesische Argonautendichtung schloß etwa mit der Heimkehr
des Jason, der die Regierung übernimmt. So will es die Logik der Sage.
Uns freilich ist nur die korinthische Umbildung erhalten, die den Jason
nicht in Jolkos bleiben, sondern | nach Korinth übersiedeln läßt. Diese
Lösung des Helden von seinem heimatlichen Boden forderte eine Erklä-
rung. So tritt als Anlaß, wie sehr oft in der griechischen Mythologie,
eine Mordtat ein, nur daß in diesem Falle Medea die Schuldige ist; mit
ihren Zauberkünsten hat sie den König getötet. Die schwere Tat muß
wiederum als Sühne für ein Verbrechen dastehn, und weil des Pelias
böser Wille, wie er sich in der Sendung Jasons nach dem goldnen Vließ
offenbart, kein hinreichend starkes Motiv ist, so muß er den Aison ums
Leben gebracht haben (Apollodor I 143). Diese ganz in sich zusammen-
hängende Reihe des Geschehens fällt mit der Uebersiedlung von Jolkos
nach Korinth fort, sobald wir uns an Stelle der korinthischen die milesische
Argonautendichtung vergegenwärtigen. Aber damit fällt auch jedes
Hindernis, ein durch die archaische Kunst und durch die chorische Lyrik
für das alte Epos gesichertes Motiv eben dieser milesischen Argonauten-
dichtung zuzuweisen: die aftla eiti IleMca23.,Schon weil es zu der Geschichte

22
Trotz Groeger, De Argon. Fab. (Diss. Breslau 1889) 13, der schol. Ap. Rh. I I I 87
mißdeutet. Daß es jemals eine Sagenform gegeben habe, in der Jason vom Drachen
getötet worden wäre, kann ich Robert (Hermes X L I V 387) nidit zugeben. Gegen ihn
auch Petersen, Rh. M. L X V I I I 594.
23
Stesichoros Fr. 1 - 4 . Simonides Fr. 53. Kypseloskasten: Pausan. V 17,9. Korinthischer
Krater: M011. d. Inst. X T. 4/5. Dazu und zum Folgenden vgl. v. Wilamowitz, Text-
[306/307J Kritische Untersuchungen zur Heldensage 25

von dem bösen Pelias und dem Frevel der Peliaden nicht stimmt, also
auch mit der Argonautensage nichts zu tun hat, muß dieses Leichenfest
älter sein, d. h. ein verschollenes Epos von ihm gehandelt haben/ Daß
dieser von Wilamowitz scharf und klar vollzogene Schluß einen Fehler
in den Prämissen enthält, wird durch das Vorhergehende deutlich gewor-
den sein. Ein Widerspruch der inneren Situation ist nur gegenüber der
korinthischen Umformung vorhanden, während in dem milesischen
Argonautenepos, das von dem bösen Pelias und dem Frevel der Peliaden
gar nichts wissen konnte, alles aufs beste zusammenklingt. Pelias hat dem
Jason versprochen, wenn er das Kleinod heimbringe, ihm den Thron zu
räumen. Der Held kehrt mit dem Vließe zurück. Was kann die Sage mit
dem überflüssig gewordenen Könige besseres tun als ihn im rechten Augen-
blick sterben zu lassen? Wollte man auch jetzt noch sagen, dem Manne,
der den Jason in Gefahren geschickt, gebühre kein feierliches Totenfest,
so wäre das | viel zu modern moralistisch geurteilt, um für alte Sage zu
gelten. Und ersichtlich ist es ein trefflicher Abschluß, wenn nun die
Männer, die so ernste Abenteuer Seite an Seite erlebt haben, noch einmal
in friedlichem, glänzendem Kampfspiel miteinander um die Ehre ringen.
Ein von aller Argonautendichtung gesondertes Epos über die Leichenspiele
des Pelias ist wohl an sich nicht undenkbar, aber seltsam wäre es gewiß,
und befriedigender wird man die hier vorgetragene Zusammenfügung
nennen müssen.
Ist somit das Wesentliche der Argonautensage von der Ausfahrt des
Phrixos bis zur Heimkehr Jasons nach Kolchis für das ionisch-milesische
Epos gewonnen, so darf die Aufgabe der Kritik erst zur Hälfte als gelöst
gelten. Und hier befinden wir uns eben an dem Punkt, an dem mein
Widerspruch gegen die allgemein geübte Methode einsetzt. Denn nun
gilt es vielen als selbstverständlich und keiner Erörterung mehr bedürftig,
daß die Hauptzüge der Sage — abgesehen von der pontischen Lokalisie-
rung und vielleicht diesen oder jenen Zusätzen — aus Thessalien hinüber-
gekommen seien, weil ja eben die Haupthelden in Thessalien sitzen, und
weil die Argo von Jolkos ihre Ausfahrt antritt 24 . Das ist der methodische
Fehler, gegen den ich mich wende, und erfordert wird vielmehr der
Versuch, in vorsichtiger Analyse die Herkunft der einzelnen Motive
innerhalb der milesischen Sage zu zeigen. Ein überall gleichmäßig sicheres
Ergebnis läßt sich nicht erwarten, und man muß die verschiedenen Grade
der Wahrscheinlichkeit abzuschätzen bemüht sein. Aber schon die

geschichte der Bukoliker 1 9 6 f. A n m . S. auch Philolog. Untersuch. X I X 62 ff. 1 7 8 .


Wenn die oben vorgetragene Kombination sich bewährt, so ist deutlich, daß Simonides
ein milesisches Argonautenepos unter dem N a m e n Homers kannte.
M
S o z. B. auch v . W i l a m o w i t z in seiner Einleitung zur Übersetzung von Euripides
Medea. - D i e troisdien Sagen sind, w i e fast jedermann zugibt, darum nicht mutter-
ländisch, weil die Helden im Mutterland wohnen, und weil Aulis der H a f e n der
A u s f a h r t ist.
26 Mythologie und Heldensage [3071308]

Negation gegenüber der ohne Bedenken geübten Methode scheint mir ein
methodischer Fortschritt.
Das Wichtigste hat Otfried Müller geleistet (Orchomenos 158 ff.),
indem er auf den bei Herodot (VII 197) überlieferten Kultbrauch von
Halos in der Phthiotis aufmerksam machte. Die Stadt galt als Gründung
des Athamas. Ein 'Aftaixavuov iteöiov kennt dort Apollonios25. Das Haupt-
heiligtum ist das des Zeus Laphystios. Und nun erfahren wir, daß der
älteste aus dem Geschlecht des Athamas oder, was dasselbe ist, aus der
Nachkommenschaft des Phrixossohnes Kytissoros das | Gemeindehaus
(Xr)itov) nicht betreten darf; sonst verfällt er dem Opfertode, offenbar
am Altar des Laphystios26. Viele sind schon außer Landes geflohen.
Kehren sie aber doch zurück und werden im Gemeindehaus ergriffen, so
werden sie einem Opfertiere gleich geschmückt und in feierlicher Prozes-
sion zum Tode geführt. - Wie dieser im einzelnen nicht mit wünschenswer-
ter Klarheit kenntliche Tatbestand aufzufassen sei, braucht uns hier nidit
zu kümmern. Aber Herodot fügt noch das Aition hinzu: Kytissoros sei
aus Kolchis zurückgekehrt und habe den Athamas gerettet, den man
gerade wegen Dürre und Mißwachs als v.aftapnós habe opfern wollen. Und
was Herodot nicht sagt, was aber nicht minder klar ist: auch das Schicksal
des Phrixos verläuft in einer ganz parallelen Linie: auch er soll aus Anlaß
einer Dürre geopfert werden, auch er wird gerettet und geht außer
Landes.
Nun ist ja klärlich der Bericht des Herodot durch die vom Epos aus-
gebildete Gemeinsage beeinflußt: die Erwähnung von Kolchis zeigt das
ganz fraglos, und im einzelnen kann gewiß nodi manches in gleicher
Weise unursprünglidi sein. Aber in der Hauptsache stimmt doch der uralte
Kultgebrauch - das Verfallensein des Opfers, die Flucht - so genau mit
den Sagen von Athamas und Phrixos, und Athamas gehört eben auch
sonst so deutlich nach Halos, daß hier ein ursprünglicher Zusammenhang
schwer bestritten werden kann. Also hat die Sage von Athamas, Nephele
und Phrixos wahrscheinlich hier ihren Ursprung 27 . In welcher Form
freilich, das kann man unmöglich noch scharf erfassen. Aber das Motiv
der Unfruchtbarkeit, das ja mit Nephele, der Wolke, zusammengehört28,
und das des Widders, der anfangs gewiß nicht golden gewesen ist, sondern
ein Opfertier, wird ursprünglich sein. Ganz unberechtigt hingegen wäre
es, nun auch die Geschichte von Jason und Medea in dieser selben Gegend
mit der von Phrixos verbunden zu glauben. Dafür spricht nichts und

« A p . R h . I I 5 1 3 mit Schol.; Steph. B y z .


26
Dies im sdiol. A p . R h . I I 6 5 3 ; bei Keil ganz unverständlich.
27
M a n könnte ja audi an die Gegend von Ordiomenos denken, w o Athamas gleichfalls
sitzt. A b e r dann müßte sich hier der Kultbrauch von Halos wiederholt haben, w o v o n
doch nichts bekannt ist.
28
V g l . besonders den Bericht im Schol. Arist. Necp. 2 5 7 , den idi f ü r ursprünglicher halte
als die gewöhnliche Tradition, und dazu meine Analyse in der R . - E . „ H e l l e " V I I I 161.
[308¡310] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 27

dagegen spricht, daß die an | diesen Ereignissen beteiligten Helden Pelias,


Aison, Jason in einer weit nördlicheren Gegend Thessaliens wohnen29.
Mit einem ähnlich hohen Grade von Wahrscheinlichkeit wie über die
Phrixosmotive läßt sich über die Abenteuer in Kolchis zum Ziel kommen.
Hier liegt nun eine längst bekannte Schwierigkeit. An letzter Stelle muß
notwendig die Erbeutung des Vließes, also der Kampf mit dem Drachen
stehn. Die andern Abenteuer, die demnach vorausgehn müssen, sind die
Bändigung der Stiere, das Pflügen des Bodens, das Säen der Drachen-
zähne, der Sieg über die gewappneten Männer. Es kennt die Sage also
ein Säen von Drachenzähnen und die Ueberwältigung (gewöhnlich
Tötung) eines Drachens. Was aber das Merkwürdige ist: jenes erfolgt
eher als diese. Pindar hat die Schwierigkeit gefühlt und beseitigt deshalb
(Pyth. IV) die Aussaat, aber nur um eine andere Schwierigkeit einzu-
tauschen; denn nun läßt er die Stiere bändigen und die Furchen ziehn,
ohne daß darauf gesät würde30. Kurz, wie man sich drehen und wenden
mag, man kann die Reihenfolge der Ereignisse nur auf eine Weise konsti-
tuieren, so wie die Gemeinsage sie gibt, und wie sie für uns zuerst bei
Euripides (Med. 480 ff.) aufeinander folgen. Dann aber ist jener innere
Widerspruch augenfällig, der schon den Pindar zu einer Aenderung ver-
mochte. Pherekydes (Fr. 44) führt ein Vermittlungsmotiv ein. Es seien
Zähne jenes Drachen, den Kadmos einst getötet habe. Es ist wohl heut
niemandem zweifelhaft, daß nicht die von Jason gesäten Zähne dem
thebanischen Ungetüm angehören, als daß vielmehr die Argonautensage
in diesem Teile aufs stärkste von der Kadmossage beeinflußt ist. Denn
alles, was dort Schwierigkeiten macht, ist hier bestens in Schick. Besonders
die Reihenfolge der Ereignisse zeigt das klar: erst tötet Kadmos den
quellhütenden Drachen, dann sät er die Zähne eben dieses Drachens. Und
auch die bewaffneten Männer | sind in der thebanischen Sage sinnvoller
als in der kolchischen: dort bleiben aus dem Gemetzel fünf am Leben,
und diese werden die Ahnen der Spartengeschlechter; auf sie kommt es
also recht eigentlich an und von ihnen, den ,Gesäten', möchte die Sage
überhaupt ausgegangen sein. In Kolchis aber töten sich alle, und wir
haben nur eine Aufgabe mehr neben den andern. Schließlich hängt das
goldne Vließ im Hain des Ares. Das ist ein isolierter Zug, während die
thebanische Sage nicht nur von der Aresquelle spricht, an der der Drache
haust, sondern diesen selbst zu einem Sprößling des Ares macht und den

29
Wenn die Athamas-Phrixos-Sage nach Milet gekommen ist, könnte man vielleicht
als Zwischenglied Teos einschieben. Denn diese Stadt heißt Gründung des Athamas
und muß doch wohl vom Geschlecht ihres Gründers erzählt haben. Aber beweisen
läßt sich diese Möglichkeit nitht.
30
Auf Servius Georg. II 140 zu bauen, wo die Drachentötung an den Anfang gesetzt
wird, geht nicht an. Das kann trotz H . D. Müller, Myth. d. griedi. Stämme II 340 ff.,
keine edite Oberlieferung sein. Wenn das schatzhütende Ungeheuer getötet ist, wozu
dann noch die anderen Proben?
28 Mythologie und Heldensage [3101311]

Kadmos nach der Tötung des Ungetüms dem Ares zur Buße ein ,ewiges
Jahr' dienen läßt.
Ohne diese aus der Kadmossage übernommenen Motive aber ist die
Argonautensage gar nicht oder nur mit Mühe denkbar. Man wird also
urteilen dürfen, daß diese Züge nicht in eine so gut wie fertige Argonauten-
sage nachträglich übernommen worden sind, sondern daß sie zum Aufbau
des Gesamtkomplexes notwendigen Stoff geliefert haben. Man setzt ein
böotisches Stadium der Argonautensage an, um die Aehnlichkeit zu
erklären 31 . Aber ich wüßte nicht, wie und wann man das statuieren
könnte, und wenn mein Bild von der Gesamtentwicklung richtig ist, so
müssen wir vielmehr fragen: wie ist es denkbar, daß milesische Dichtung
die Kadmosmotive zum Aufbau des Argonautenepos benutzt? Und die
Antwort lautet: nichts ist leichter erklärlich als dies; denn, daß man die
Sage von Kadmos in Milet aufs lebhafteste gepflegt hat, daran zweifelt doch
heut wohl niemand. Dabei ist es vollkommen gleichgültig, ob man diese
Sage geradezu für wesentlich ionisch-milesisch hält wie Wilamowitz und
Schwartz32, ob man gar mit mir noch darüber hinausgeht und so weit,
selbst den Namen Kadmos für kleinasiatisch zu halten 33 , — oder ob man |
den Milesiern (was ich allerdings für durchaus schief und inkonsequent
halte) nur ein lebendiges Interesse an diesen Sagen zuschreibt.
Man darf wohl noch einmal zusammenstellen, was für milesische
Kadmossage spricht. Kadmos heißt Sohn oder Bruder des Phoinix, und
von diesem Phoinix stammt Atymnios, ein karischer Heros. Kadmeer
sind nach Herodot an den ionischen Gründungen beteiligt; Priene führt
den alten Namen Kadme, die Bewohner werden Kadmeer genannt; in
der Nähe liegt das archaische Städtchen Thebai an der Mykale; das
milesische Geschlecht der Theliden führte sich auf Kadmos zurück.
Kadmos der Thebaner und Kadmos der Milesier heißen gleichermaßen
Erfinder der Buchstabenschrift; Kadmos von Milet ist ein mythischer
Schriftsteller, ,der zuerst in Prosa schrieb, wenig jünger als Orpheus*.
Kadmos heißt ein Berg und ein Fluß im oberen Mäandertal. Schließlich
lehrt nach dem Beweise von Schwartz die Form der Kadmossage wenig-
31
Jessen, Proleg. in catalogum Argonautarum (Diss. Berlin 1889) 31 ff. 38. Jessen nimmt
ein argivisches, ein böotisches und ein thessalisches Stadium der Argonautensage an.
Die Hypothese hat eine entfernte Verwandtschaft mit meinen Ergebnissen, aber sie
scheint sidi mit den literarischen Gegebenheiten nicht zu vertragen. Sagenforschung
ist zunächst Literaturgeschichte.
32
Wilamowitz, Homer, Unters. 139. Schwartz, Quaest. Herodoteae (Ind. Lect. Rost.
1 8 9 0 ) 1 0 ff.
33
Ich verweise auf das, was ich Philol. Unters. X I X 60 ausgeführt habe und was mir
noch heut wahrscheinlich ist, daß die Argonautensage nidit nur von der Kadmossage
beeinflußt sei, sondern diese ihrerseits wieder beeinflußt zu haben scheine, woraus
natürlich die Entwicklung beider Sagen an demselben Orte nur noch klarer würde.
Aber ich brauche das und anderes hier gar nicht und will nur sagen, daß der Wider-
spruch von Bethe, Gött. Gel. Anz. 1907, 706, mich trotz seiner Schärfe an der Sadie
nicht irre macht: das sprachliche Argument hat er nicht gewürdigt.
[311 ¡312] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 29

stens das Negative, daß sie nicht in Böotien entstanden sei; die Böoter
hätten ihren Stadtgründer nicht aus der Fremde kommen lassen.
Wir haben hier nicht über die Kadmossage zu handeln, wir braudien
nur das Resultat, wie stark innerhalb des Kulturkreises von Milet in sehr
alter Zeit das Interesse für die Sagengestalt des Kadmos gewesen sein
muß. Damit ist für mich bis zu der in solchen Dingen überhaupt erreich-
baren Wahrscheinlichkeit bewiesen, daß das milesische Argonautenepos
die in Rede stehenden Motive aus der milesischen (oder in Milet geläufi-
gen) Kadmossage übernommen hat.
Noch von einem dritten Abschnitt der milesischen Argonautensage
läßt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit die Herkunft bestimmen: von der
Landung bei Phineus und dem Harpyienabenteuer. Es ist klar, daß diese
Sage nur locker mit dem Ganzen verknüpft ist, und daß sie eine selb-
ständige Existenz nicht nur gehabt haben kann, sondern bei dem alter-
tümlichen Charakter, der ihr eigen ist, wahrscheinlich gehabt hat. Phineus
ist nicht immer an demselben Platze angesiedelt, son|dern einmal in
Thrakien, gewöhnlich in Paphlagonien, und hier wieder vor der Durch-
fahrt durch den Bosporus oder nach ihr, je nachdem man ihn die Hin-
fahrt durch die Plankten prophezeien ließ oder nicht. Daneben aber gibt
es, wie Hiller von Gaertringen bewiesen hat 34 , noch eine ganz andere
Lokalisierung, die ihn zum Arkader macht. Sie ist nur in schwachen
Spuren und spät überliefert 35 , so daß man wohl bedenklich werden könnte,
aber sie bestätigt sich durch gewisse Züge in der Sage selbst: die Harpyien
werden bis zu den Strophaden südlich von Zakynthos verfolgt, eine von
ihnen fällt in den peloponnesischen Fluß Harpys. Es versteht sich von
selbst, daß die arkadische Phineussage, wenn sie denn alt und ursprünglich
ist, mit der Argonautik noch nicht verbunden gewesen sein kann. Diese
Verbindung ist so erfolgt, daß man die Boreaden zu Teilnehmern der
Fahrt machte und den Phineus von Arkadien her dorthin versetzte, wo die
Argo vorüberkam, also irgendwo an das Meer zwischen Thessalien und
Aia. Besteht demnach die Phineussage in Arkadien für sich, und ist sie
in Milet dem großen Argonautenzyklus eingegliedert, so muß, falls die
Zeugnisse uns nicht täuschen, für diese Motivgruppe der Weg aus den?
Peloponnes nach Milet angesetzt werden.
Noch immer aber wissen wir nicht, woher Milet die wichtigsten
Gestalten, Jason und Medea, empfangen hat. Ganz unberechtigt ist es,
diesen Teil der Sage ohne weiteres Bedenken für urthessalisch zu halten
und mit dem wirklich thessalischen Element von Phrixos und dem Vließ
schon in Thessalien verbunden zu denken. Das ist zum mindesten un-
erweislich. Für Jason könnte man allenfalls seine Verwandtschaft mit
Pelias und Aison heranziehen, um ihn im Norden des pagasäischen Golfs

34 De Graecorum fabulis ad Thraces pertin. 67.


35 Bei diesem Zustand der Zeugnisse wird es gut sein, wenn ich ein neues beibringe. In
Cramers Anecdota III 413 steht 6 ^ivEtig 'Ajjxag f|V xai tuqpXog.
30 Mythologie und Heldensage [312¡314]

zu fixieren. Aber durchschlagend ist das nicht im geringsten; denn gleich-


berechtigt steht daneben die Möglichkeit, daß seine Anknüpfung an dieses
thessalische Stemma eben erst in Milet oder irgendwo sonst erfolgt sei36.
Und für Medea vollends gibt es meines Wissens auch nicht die Spur eines |
Beweises, daß man sie als thessalische Sagengestalt zu bezeichnen habe.
Will man über diese negativen Urteile hinaus und zu einer positiven
Lösung kommen, so geht man einen gefährlichen Weg. Aber gewagt muß
er werden. Es ist nämlich sehr wohl denkbar, daß es in Korinth eine
Medeasage gegeben habe, bevor aus Milet die Argonautensage dorthin
kam 37 , mit andern Worten, daß man die Argonautensage in Korinth
aufnahm, weil man schon vorher von Medea dort erzählte. Setzt man
das einmal als erwiesen, so würde wahrscheinlich sein, daß in viel älterer
Zeit die Medeamotive aus Korinth oder lieber allgemein gesprochen, aus
dem nordöstlichen Peloponnes nach Milet gelangt und dort mit den
anderen Stoffelementen, von denen die Rede war, zu dem großen und
reichen Gebilde der Argonautensage verschmolzen worden seien. Unter-
suchen wir, welcher Grad von Wahrscheinlichkeit sich für jene hypo-
thetische Voraussetzung gewinnen läßt.
Pausanias (II 3) berichtet nach Eumelos, Medea sei mit Jason aus
Jolkos nach Korinth übergesiedelt. Die Kinder, die sie geboren, habe sie
in dem Heiligtum der Hera niedergesetzt in der Hoffnung, sie würden
unsterblich werden. Schließlich aber habe sie dieses Erwarten getäuscht
gesehen, Jason sei hinter ihr Geheimnis gekommen, und vor seinem Zorn
sei sie davongegangen. - Da Pausanias die prosaische KoQivftia auYYe«fri,
nicht die epischen KoQivftiaxá benutzt, so ist es schon gleich nicht sicher,
ob der eben berührte Bericht in allen Einzelheiten jenem Epos etwa des
V I I . Jahrhunderts angehört. Aber möglich ist es durchaus38, wie denn die
stoffliche Uebereinstimmung des Epos und des Prosabuches offenbar sehr
weit ging, und die Rückkehr Medeas nach Korinth muß jedenfalls so alt
sein, da sie in dem früher zitierten Versfragment (Fr. 2 K.) als künftig
bevorstehend angedeutet wird.
Ein Scholion zu Pindar Ol. X I I I 74 erzählt, daß Medea | in Korinth
wohnte und die Korinther aus einer Hungersnot befreite. Es verliebte
sich Zeus in sie, sie aber erhörte ihn nicht aus Furcht vor dem Zorn der

36
Wenn Aison nach A p . Rh. I 45 ff. Alkimede, die Tochter des Phylakos und Schwester
des Iphiklos, zur Gemahlin hat, so weist diese Verknüpfung wohl nach Milet; s. meine
Argolica 67.
37
Daß Medea in Korinth ursprünglich ansässig sei, ist die Meinung z. B. von Otfr.
Müller, Ordiomenos 264; Wilisch, Über die Fragmente des Epikers Eumelos (Pro-
gramm Zittau 1 8 7 5 ) ; Jessen, Prol. in Argon, catal. 4 4 ; Odelberg, Sacra Corinthia
(Uppsala 1896) 1 8 1 . Die entgegengesetzte Ansicht vertreten etwa Groeger, De Argon,
fab. 22 ff.; Bethe, Theban. Heldenlieder 1 7 9 ; v. Wilamowitz, Einl. zur Übersetzung
der Medea 1 2 ff. (während er früher nach der anderen Seite neigte: Homer.
Unters. 122).
38 Dies nimmt auch Gruppe, Griech. Myth. und Reí. J 7 9 7 an.
[314j315] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 31

Hera, die ihr zum Lohn versprach, sie wolle ihre Kinder unsterblidi
machen. Nachdem diese nun gestorben sind, verehren die Korinther sie
unter dem Namen Halbbarbaren (uiloßaoßaQoi). Von dieser Benennung
abgesehen, die einen recht jungen Eindruck macht, wirkt die Sage alter-
tümlich und verlangt als Ergänzung irgend etwas der Art, wie Pausanias
es aus Eumelos berichtet. Genau passen die Motive nicht aneinander.
Denn wenn Hera jene Verheißung gibt, und wenn Medea ihre Kinder in
das Heiligtum bringt, müßte die Göttin ihr Versprechen einlösen. Da
das nicht geschieht, so fehlt hier ein verbindendes Motiv, etwa, daß Jason
den geheimnisvollen Vorgang stört, und daß den Kindern dadurch die
versprochene Wohltat entzogen wird. Dann möchte Medea ursprünglich
nicht als schuldbehaftet dem Jason gegenübergestanden haben, sondern
sie wird aus Zorn davongegangen sein, die Göttin von dem sterblichen
Manne, weil er eindringt in das was sie verbergen will. Es ist der Melusinen-
typus. Auf griechischem Boden enthält die Thetissage fast alle Züge wie
diese Medeasage auch, sogar die Werbung des Zeus, der dodi dem allge-
meinen Typus nicht angehört. So wird man denn leidit eine Beeinflussung
von hier aus annehmen wollen. In einem Zuge jedoch ähnelt die Medea-
sage einem andern Beispiel derselben Form stärker. Bei Thetis handelt es
sich nur um einen Sohn; Medea verbirgt tö det Yiyvonevov. Und die indische
Sage erzählt ganz ebenso, wie die Flußgöttin Ganga, die sich dem König
Santanu vermählt hat, ein Kind nach dem andern in den Strom wirft 39 .
Die Uebereinstimmung kann gewiß Zufall sein. Es ist aber mit der Mög-
lichkeit zu rechnen, daß die Medeasage hier einen ursprünglicheren Zug
bewahrt hat, also nicht schlechtweg eine Nachahmung der Thetissage ist.
Eine ganz andere Legende (Parmeniskos im schol. Eur. Med. 264) läßt
die sieben Söhne und sieben Töchter der Medea im Heiligtum der Hera
von den Korinthern getötet werden. Da tritt die Geschichte als Aition
für einen Sühnebrauch auf, und gewiß wird das eine spätere Umwand-
lung sein. Aber für jene ältere Erzählung ist die Frage berechtigt, ob diese
Medea wirklich den Korinthern erst bekannt wurde, als man das Epos
vom Argonautenzug nach Korinth übertrug. Mich macht der altertümliche
Charakter der korinthischen Medeasage bedenklich, und ich neige dazu,
umgekehrt anzunehmen, daß man schon vorher in Korinth von Medea
erzählt habe, und daß hierin die Erklärung zu suchen sei, wie man es
denn gewagt hat, den Aietes zu einem Korinther zu machen. Das ist frei-
lich ein subjektives Wahrscheinlichkeitsurteil, und nidit jeder wird geneigt
sein, sich dem anzuschließen. Aber noch ein anderes Zeichen weist, wie
es scheint, in dieselbe Richtung40. In Kerkyra zeigte man die Höhle der
39
E . H . M e y e r , Indogermanische Mythen II 578. Oldenberg, Veda 2 5 3 1 . Vgl. Real-
encycl. „Rhoikos 3 " .
40
Vgl. Jessen, Proleg. in Argon, catal. 40. Ob die Sage von Byzanz wirklich auf Megara
zurückgeht, bezweifle ich sehr. Der Bosporus liegt doch zu sehr an der Fahrtlinie des
ausgebildeten milesisdien Argonautenepos, um nicht nachträgliche Fixierung auf
Grund dieses Epos wahrscheinlicher zu machen.
32 Mythologie und Heldensage [3151316]

Makris, in der Jason und Medea ihre Ehe vollzogen hatten, xeivo xai
eiöeti viv ieqöv xXr][^ETai avtpov Mr|öeir|g, so berichtet Apollonios (A 1 1 5 3 f.),
der dem Timaios zu folgen scheint41. Das sieht recht altertümlich aus und
erschien dem Philitas schon so befremdend, daß er die Höhle durch den
Palast des Alkinoos ersetzte42. In den Naupaktia siedelten sich Jason und
Medea nach dem Tode des Pelias, d. h. jedenfalls unmittelbar oder bald
nach der Heimkehr aus Kolchis, in Kerkyra an, und man möchte ver-
muten, daß die Naupaktien jene altertümliche Sage von der Makrishöhle
kannten. Jedenfalls kamen in diesem Epos zwei Söhne des Paares,
Mermeros und Pheres, vor, und den Mermeros kennt in Ephyra an der
gegenüberliegenden epirotischen Küste bekanntlich der erste Gesang der
Odyssee43. Daß diese Erfindungen auf Eumelos basieren, ist nicht leicht
möglich, da sie ihm ja vollkommen widerstreiten. So scheint es auch von
dieser Seite her, daß man in Korinth eine alte Sage von der Vermählung
Medeas mit einem sterblichen Gatten (vielleicht hieß er schon Jason)
besaß, und daß man diese Sage in die Kolonie Kerkyra mitnahm, wo sie
neu lokalisiert wurde. Das Gedicht des Eumelos und die Naupaktien hätten
dann jenes die | korinthische, dieses die korfiotische Lokalsage mit dem
milesischen Argonautenepos verbunden44.
Wer dies alles bestreiten will, hat folgende Annahmen nötig: Weder
in Korinth noch in den korinthischen Kolonien habe man von Medea
irgend etwas gewußt. Dann sei die milesische Sage in Korinth übernom-
men und fortgebildet worden nur deswegen, weil das Herrschergeschlecht
von Kolchis auf den Ahnherrn Helios zurückging, und weil man in
Korinth den Sonnengott eifrig verehrte. Jetzt hätten sich in Korinth und
in den Kolonien anschließend an diese willkürliche Uebertragung ganz
selbständige Medeasagen entwickelt, und schließlich habe man in Kerkyra
die dort neugebildete Medeasage wiederum selbständig und ohne Rück-
sicht auf das korinthische Vorbild mit der milesischen Argonautensage
verbunden. Für unmöglich kann man das nicht erklären, aber schwere
Bedenken gegen diese Konstruktion drängen sich auf. Der Helioskult
allein will kaum als zureichender Anlaß für die Uebernahme der Sage
nach Korinth erscheinen. Die korinthische Medeasage zeigt eine so alter-
tümliche Prägung, daß man sie ungern nur auf Grund eines ganz fremden
und verhältnismäßig spät übertragenen Epos entstanden denken möchte.
Und die korkyräische Medeasage ist gegenüber der korinthischen wieder-
um zu selbständig, zu alt und zu altertümlich, um die Annahme leicht

41
A p . Rh. I V 1 1 2 8 ff.; Timaios im Schol. 1 2 1 7 (S. 1 3 2 Geffcken). Bestimmte O p f e r und
A l t ä r e galten zur Zeit des Timaios als Stiftungen der Medea.
42
Schol. A p . R h . I V 1 1 4 1 . 1 1 5 3 . 1 2 1 7 .
43
S. v . W i l a m o w i t z , Homerische Untersuchungen 26.
44
M a n muß darauf hinweisen, daß die N a u p a k t i a nicht nur einem naupaktisdien, son-
dern auch einem milesischen Dichter zugeschrieben wurden (Paus. X 38). M a n sieht,
wie wertvoll solche Herkunftsangaben sind.
[3161317] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 33

zu machen, in der Tochterstadt habe die schon künstliche und späte


Bildung der Mutterstadt den Anlaß für eine gleichfalls künstliche und
späte Bildung gegeben. Alle diese Bedenken wiegen schwer genug, und
wenn sie bei unserer mangelhaften Kenntnis auch nicht imstande sind,
jene Theorie schlankweg zu widerlegen, so muß doch betont werden, daß
der andere Weg gleichfalls denkbar ist und für manchen Tatbestand eine
weit bessere Erklärung abgibt. Hat es eine Medeasage in Korinth gegeben,
bevor die milesische Argonautensage dorthin übernommen wurde, so be-
greift man viel besser erstens den Grund dieser Uebernahme, zweitens
den altertümlichen Charakter der korinthischen Medeasage, drittens die
Selbständigkeit der korfiotischen Sage, die dann eben von den korinthi-
schen Siedlern in den Ansätzen schon mitgebracht, auf der Tochterinsel
selb ¡ständig umgebildet und zuletzt ebenso wie in Korinth, aber ohne
Rücksicht auf Korinth, mit der milesischen Argonautensage verschmolzen
worden wäre.
Dürfte die Lösung, der ich zuneige, für sicher gelten, so ließen sich
für das milesische Epos ohne weiteres folgende Schlüsse ziehn: Wir suchen,
woher das Motiv der Heimholung Medeas gekommen ist. Für Thessalien
sprach gar nichts. In Korinth haben wir selbständige Medeasage, und
zugleich genießen dort gerade die Gottheiten im Kult besondere Ver-
ehrung, die in der Jason-Medea-Sage eine hervorragende Rolle spielen:
Hera und Helios. Also ist wahrscheinlich aus dem Nordosten des
Peloponnes - man braucht nicht gerade an Korinth zu denken 45 - diese
Motivgruppe in irgendwelcher Urgestalt nach Kleinasien hinübergekom-
men und dort mit der thessalischen Phrixossage, der peloponnesischen
(arkadischen) Phineussage und Motiven der milesischen (oder, wenn man
das glauben will, böotischen) Kadmossage zu einem Ganzen verschmolzen
worden, das dann im Lauf der Entwicklung noch mannigfache andere
Elemente aufnahm. Es kommt nicht darauf an, Resultate zu erzwingen,
wo das Material sie nicht gutwillig hergibt, und es liegt mir fern, den
hypothetischen Charakter dieser Auseinandersetzung zu verschleiern.
Doch scheint die vorgelegte Konstruktion wenigstens einen methodischen
Fortschritt zu bedeuten.

Motive: Phrixos Medea Phineus Kämpfe in Kolchis


Herkunft: Thessalien N-o. Peloponnes. Peloponnes Kadmossage

Milesische Argonautensage
+ +
Korinthischer Anfang Korinthischer Schluß |
45
Wenn man die Erörterung Bethes, Theban. Heldenlieder 1 7 8 fï., billigt, so könnte
man vermuten, daß es der O r t E p h y r a uuxtö "Aqyeoç gewesen sei. E i n Versuch,
E p h y r a zu fixieren, steht Gazette archéologique X 1 8 8 5 , 402. (In meinen früheren
Andeutungen über E p h y r a , A r g o l i c a 94, ist viel Phantastisches.)
34 Mythologie und Heldensage [1171319]

Zum Schluß sollen die Ergebnisse in vorstehendem Schema dem Ge-


dächtnis zurückgerufen werden, ohne daß sich bei den einzelnen Positio-
nen der Grad ihrer Sicherheit oder Unsicherheit bemerken ließe.

2. Der Krieg um Theben

Die beiden wichtigsten Bearbeitungen, die der Sagenkreis vom the-


banischen Kriege bisher erfahren hat, zeigen einen entgegengesetzten
Ausgangspunkt. Welcker ergriff die Spuren der Sage im homerischen Epos
und arbeitete, soweit es ging, die späteren Zeugnisse damit zusammen in
der Meinung, so die beiden Epen, die es über diesen Stoff gegeben habe,
die Tbebais und die Epigonoi, im Umriß wiederzugewinnen. Bethe ging
von der jüngeren Uberlieferung aus, sonderte die verschiedenen Fassun-
gen und versuchte sie auf Epen aufzuteilen, deren er mit Recht eine größere
Anzahl annahm als Welcker. Aber er ließ den Homer ganz beiseite, und
als er die Rekonstruktion ohne ihn ausgeführt hatte, schienen ihm diese
frühesten Erwähnungen unpassend und unverwendbar. Ich glaube, daß
beide Methoden einen Fehler enthalten: die zweite, indem sie die ältesten
Zeugnisse behandelt, als wären sie nicht vorhanden; die erste, indem sie
für Homer ohne weiteres die Tbebais als Quelle voraussetzt und ohne
weiteres die späteren Nachrichten mit jenen Erwähnungen verbindet.
Von einer sorgsamen Prüfung der Homerstellen auszugehen ist allerdings
die eine Pflicht der Untersuchung. Man darf sich wohl audhi gestatten,
diese fragmentarischen Bilder mit aller Vorsicht aus der Gemeinsage zu
ergänzen, wo sich solche Ergänzung aufdrängt. Aber man wird nicht
glauben, damit den besonderen Stoff der Tbebais wiedergefunden zu
haben. Es könnte sehr wohl sein, daß dieses Epos jünger oder überhaupt
anders ist als die Form der Sage vom thebanischen Krieg, die sich aus
der Ilias als,vorhomerisch' ergibt. Selbst diese Sagenform wird man nicht
mit Gewißheit als einheitlich in Anspruch nehmen dürfen, da die ver-
schiedenen ,Iliasdichter' verschiedene Fassungen oder Entwicklungssta-
dien der thebanischen Sage voraussetzen können46.
In den Patroklosspielen tritt gegen Epeios, des Panopeus Sohn, im
Faustkampfe Euryalos auf, der von Diomedes gerüstet wird 0 ? 6 7 7 ff.).
E r ist der Sohn des Mekisteus, der Enkel des Talaos, und von seinem
Vater heißt es, daß er nach Theben zu den Leichenspielen des | Oidipus
kam und dort alle Kadmeer besiegte. Euryalos begegnet nur noch einmal
im Anfang des sechsten Gesanges unter vielen anderen Kämpfern und
tötet dort gleichgültige Männer aus der Troas. Auf der erstgenannten
Stelle hingegen beruht es im wesentlichen, wenn er neben Diomedes und
46
D . Müller, Die Ilias und ihre Quellen 5 7 ff., geht auf das Verhältnis v o n thebanisdier
zu troischer Sage ausführlich ein, scheint mir aber den Einfluß jener auf diese inj
Ungemessene zu überschätzen („Ilios ein neues Theben").
[319j320] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 35

Sthenelos im Schiffskatalog verzeichnet wird. Der Vers, der seinen Vater


nennt, ist geradezu aus dem übernommen (B 566 = 678).
Man könnte behaupten, daß die hier vorausgesetzte Sagenform noch
gar nichts von einer Verbindung der Oidipussage mit dem thebanischen
Krieg zu wissen brauche. Aber selbst in dem Falle, daß die beiden Kom-
plexe jemals getrennt voneinander bestanden hätten, wäre die Annahme
für das V gekünstelt und unwahrscheinlich, zumal das ja auch den
göttlichen Arion, das geschwinde Roß des Adrastos, kennt (346), und
zumal sich alles aufs beste mit der Gemeinsage zusammenfügt. Mekisteus
ist einer der sieben Argiverhelden. Da er während des Krieges natur-
gemäß nicht an einem thebanischen Fest teilnehmen konnte und im Kriege
selber fiel, so muß der Tod des Oidipus vor dem Ausbruch des Krieges
erfolgt sein, wie das z. B. die Antigone des Sophokles voraussetzt47. Und
nun ist hier offenbar die Sage schon so ins einzelne ausgebildet, daß sie
vor dem feindlichen Zug einen oder den andern der Argiver zu fried-
lichem Wettkampf nach Theben kommen läßt. Damit stimmt es ja, wenn
bei Hesiod (Fr. 35) Argeia, die Tochter Adrasts, mit anderen zum Lei-
chenbegängnis des Oidipus kommt. Wir wissen nicht, ob sie schon dem
Polyneikes vermählt ist, oder ob Polyneikes, was mir glaublicher scheint,
damals zuerst die künftige Gattin erblickt. Aber die Analogie zu dem,
was die Ilias voraussetzt, ist deutlich. Und vielleicht gehört auch das
Verhältnis des Tydeus zu Ismene in dieselbe Reihe48. |
Nun spielt Euryalos in der Ilias eine recht unbedeutende Rolle. Meki-
steus hingegen, sein Vater, ist einer von den ,Sieben', gewiß nicht der
Markanteste unter ihnen, aber doch eine bedeutende Sagenfigur. Und
daß er in den Wettspielen alle Kadmeer besiegt, hebt ihn auch über das
Gewöhnliche hinaus und hebt ihn über seinen Sohn, der dem Epeios im
Faustkampf etwas kläglich unterliegt. Es wird danach niemandem zwei-
felhaft sein, daß Euryalos überhaupt nur darum vor Troja auftritt, weil
sein Vater Theben belagert hatte, und daß er sich insbesondere an den
Leichenspielen des Patroklos beteiligt, weil sein Vater bei den Leichen-
spielen des Oidipus ein siegreicher Kämpfer gewesen war.
Die wichtigsten Nachrichten über den thebanischen Krieg erfahren
wir im A und E, und zwar sind die drei Partien, die für uns in Betracht
kommen, das Gespräch zwischen Agamemnon, Diomedes und Sthenelos
in der Epipolesis (A 365 ff.), die Szene, wie Sthenelos und Athene dem
47
Legras, Les legendes thebaines (Paris 1 9 0 5 ) 4 5 .
48
Tydeus stört Ismenes Stelldichein mit Periklymenos und tötet sie: Mimnermos in der
Sallusthypothesis zur Antigone; korinthisches Vasenbild Mon. d. Inst. V I T . 1 4 . D e r
V o r g a n g spielt in Theben und als Voraussetzung scheint erfordert, daß T y d e u s
irgendein Recht auf Ismene hat. Z u r Zeit des Krieges ist das kaum denkbar, und man
scheint die Sage so wiederherstellen zu müssen, daß Tydeus aus der Heimat vertrieben,
zunächst in Theben A u f n a h m e findet und erst später nach A r g o s geht. Erfunden w ä r e
das, um ihn, dessen Teilnahme an dem thebanischen Z u g ja im G r u n d e nicht ganz
gerechtfertigt ist, zu einem persönlichen Feind der Thebaner zu machen.
36 Mythologie und Heldensage [3201321]

verwundeten Diomedes helfen (E io6ff.), und schließlich Athenes mah-


nende Rede an Diomedes (E 793 ff.), offenbar von demselben Dichter
geschaffen, wie sie sich denn gegenseitig bestätigen und ergänzen. Da
erfahren wir zunächst, daß Tydeus und Polyneikes, als sie Bundesgenos-
sen zum Krieg gegen Theben warben, auch nach Mykene gekommen
seien. Man sei bereit gewesen, ihnen Hilfe zu gewähren, aber Zeus habe
es durch schlimme Vorzeichen gehindert. Damit soll offenbar die höchst
merkwürdige Tatsache erklärt werden, warum denn die Pelopiden von
Mykene an dem thebanischen Heereszuge nicht beteiligt sind. Es ist gar
nicht zu sagen, ob erst unser Iliasdichter dieses verbindende Motiv er-
funden hat, oder ob schon einem Dichter des thebanischen Krieges die
Schwierigkeit zum Bewußtsein kam und ihn zu einer Lösung führte,
wie sie uns an jener Stelle vorliegt. Um so sicherer aber scheint sidi über
alles übrige urteilen zu lassen.
Als die Argiver auf dem Feldzug gegen Theben zum Asopos gekom-
men waren (A 383), da schickten sie den Tydeus auf Botschaft. Der war
von kleiner Statur, aber ein mutiger Ritter. Athene hatte ihm geboten,
einen Kampf zu meiden und im Frieden bei den Thebanern zu schmau-
sen. Als er nun aber in das Haus des Eteokles, also des feindlichen Königs,
gekommen war, da konnte er seinen Mut nicht bezwingen, er forderte
die Kadmeer zum Kampfe heraus und besiegte sie alle mit Hilfe Athenes.
Wie er nun zurückkehrte, lauerten ihm die Erzürnten auf, eine Schar
von fünfzig Mann unter Führung | des Maion, des Haimonsohnes, und des
Polyphontes (oder - die Handschriften schwanken — Lykophontes), des-
sen Vater Autophones war. Er aber tötete sie insgesamt, nur den Maion
ließ er entkommen, auf ein Himmelszeichen der Götter hörend.
Bethe lehnt diese Sagenform kurz ab: ,Das sind Prahlereien'49. Ich
sehe nicht, wie man Agamemnon und die Göttin Lügen strafen will, zu-
mal wo ihre Aussagen sich bestätigen, und nichts kann mich von der
Ueberzeugung abbringen, daß ein altes Epos genau so erzählt hat. Aber
selbst wenn man Uebertreibungen zugeben wollte, so lägen doch dieselben
Verhältnisse zugrunde, die auch die spätere Gemeinsage als Voraus-
setzung nötig hat. Tydeus ist Aetoler, ist also nach Argos ausgewandert.
Athene steht ihm zur Seite. Kapaneus ist unter den Argivern. Sie ziehen
nach Theben, sie gehen zugrunde ,durch ihre Torheit'. Und mehr als das,
auch die Epigonensage gehört zu den Voraussetzungen. Sthenelos sagt
(404 ff.): Wir, die Söhne, haben Theben genommen, indem wir mit ge-
ringerer Macht unter die Mauern Thebens zogen, den Zeichen der Götter
und der Hilfe des Zeus vertrauend.
Wir wollen die anderen Stellen der Ilias, an denen auf die theba-
nische Sage Bezug genommen wird, mit dem A und E vorsiditigerweise
nicht vermengen. Aber das Gebet, das Diomedes im zehnten an Athene
richtet (K 283 ff.), deutet wieder ganz auf dieselbe Szenerie. In der Glau-
49
Thebanische Heldenlieder 1 7 5 .
[3211322] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 37

kosepisode (Z 222 ff.) erzählt Diomedes von seinem Vater Tydeus, und
wie der ihn als kleinen Jungen verlassen habe, um gegen Theben zu
ziehn, wo das Heer der Achäer zugrunde ging. Im vierzehnten Gesang
(3 109 ff.) spricht Diomedes wieder von seinem Vater Tydeus, der vor
Theben gefallen liegt, und gibt dessen Genealogie und Jugendgeschichte.
Portheus, König von Pleuron und Kalydon, hat drei Söhne, Agrios,
Melas und Oineus. Dessen Sohn Tydeus siedelt als irrender Recke nach
Argos über und heiratet eine Tochter des Adrast. Überall herrscht Über-
einstimmung mit der Gemeinsage.
Es ergibt sich also, daß den Iliasdichtern die Geschichten vom theba-
nischen Krieg durchaus lebendig waren. Im W schwebt ein Gedicht vor,
das den Oedipus mit dem thebanischen Kriege verband; an den anderen
Stellen klingt ausgebildete Dichtung vom Kriege selber durch, und sie
ist, wenn wir uns nur in genügende Entfernung vom Detail stellen, die
Sage so wie wir sie kennen. Aber was noch wichtiger ist: es handelt sich
hier nicht um Episoden, die man beseitigen könnte. Es muß jedem ein-
leuchten, daß die thebanische Sage den tiefsten Einfluß auf die troische
ausgeübt hat. Euryalos ist ja nur als Sohn des Mekisteus vor Troja und
insbesondere an den Wettkämpfen beteiligt. Aber auch Sthenelos spielt
eine unerhebliche Rolle, während sein Vater Kapaneus als die am schärf-
sten umrissene Gestalt unter den Helden von Theben gelten darf. Zwei-
felt jemand, daß Sthenelos gleichfalls nur als Sohn des Kapaneus ins
troische Epos eingedrungen ist oder, wenn man will, als ,Epigone'? Ja
vielleicht könnte sogar Diomedes auf dieselbe Weise in die trojanische
Sage erst nachträglich verflochten worden sein. Gewiß ist er einer der
besten Helden, die vor Troja kämpfen. Aber tut er eigentlich etwas ganz
Entscheidendes? Auch er scheint vielmehr weniger notwendig in der tro-
janischen Sage zu sein als sein Vater Tydeus in der thebanischen. Und
zum mindesten die Frage ist erlaubt, ob das Urteil über ihn nicht eben-
so zu lauten habe wie über Euryalos und Sthenelos. Ueber diese aber fühle
ich mich ganz sicher50.
Als Ergebnis darf ich dieses in Anspruch nehmen, daß die Dichter
unserer Ilias den thebanischen Sagenkreis in ausgebildeter Form kennen,
ja daß sie für das Zustandekommen des Trojaepos, sowohl für den Per-
sonenbestand wie für die Motive, der Dichtung vom thebanischen Kriege
aufs stärkste verschuldet sind. Das kann nach meiner Auffassung gar
nicht anders gedacht werden, als daß schon im neunten und achten Jahr-
hundert, wenn nicht früher, die Sage vom Kampf der Argiver gegen
Theben im Heldensange Kleinasiens ausgebildet worden ist. Ich meine
damit niemandem etwas erheblich Neues zu sagen51.
50
Ich lese bei Robert, Studien zur Ilias 3 7 j : „ D a ß Diomedes ursprünglich nicht in den
troischen, sondern in den thebanischen Sagenkreis gehört, brauche ich hoffentlich nicht
erst zu beweisen."
51
V g l . E d . M e y e r , Gesch. d. Altert. I I § 1 2 3 .
38 Mythologie und Heldensage [322¡324]

Eine andere Erörterung f ü h r t einen Schritt v o r a n . W i l a m o w i t z hat


in überzeugender Erörterung gezeigt, daß das Theben der ,mykenischen'
Zeit, die S t a d t also, die f ü r die Sagenbildung allein in Betracht kommt,
niemals sieben T o r e , sondern höchstens drei (allerhöchstens vier, w i r d man
vorsichtshalber korrigieren dürfen) gehabt haben könne. D i e Befesti-
gung hat wahrscheinlich | nur die spätere K a d m e i a u m f a ß t , und w i r
kennen genug .mykenische' Stadtanlagen, um sagen zu dürfen, daß eine
solche Schwächung des Festungsgürtels, w i e die Sage v o n den sieben
T o r e n sie voraussetzt, f ü r jene Z e i t unerhört w ä r e 5 2 . D i e ,siebentorige c
S t a d t , die das ionische E p o s kennt, ist also eine poetische Erfindung.
W i l a m o w i t z hat auch weiter das Problem scharf formuliert. , W a r e n es
sieben T o r e , weil es sieben Helden | w a r e n oder umgekehrt?' 5 3 und er hat
sich f ü r den zweiten W e g entschieden. E s sei ein poetischer K u n s t g r i f f ,
um das Nebeneinander in ein Nacheinander zu v e r w a n d e l n , w e n n der
Dichter je einen seiner sieben H e l d e n an eines der sieben T o r e stelle.

52
Hermes X X V I 224. - Die schwierigen Fragen nach der Geschichte der thebanisdien
Befestigung brauchen jener einfachen Erwägung gegenüber zum Glück nicht ent-
schieden zu werden. Die letzte Behandlung der Frage durch Gomme im Annual of
the British School at Athens X V I I 29 ff. Taf. X I X ignoriert die Fundtatsachen und
die Überlieferung, so daß diese Hypothese, die die archaische Stadt in den Norden
der Kadmeia legt, wie Wilamowitz die hellenistische, ausscheiden muß. Der Mauerzug,
wie ihn, den Plan von Fabricius (Theben. 1890) berichtigend, die Karten in Baedekers
Griechenland (1908, nach S. 174) und im Guide Ioanne 223 geben, ist nach F. Böltes
Urteil, das er mir freundlichst zur Verfügung stellt, nicht archaisch, sondern aus der
Zeit des Epaminondas. In archaischer Zeit sei nur die Kadmeia befestigt gewesen. -
Für die Siebenzahl der Tore in archaischer Zeit bietet Pindar schlechterdings nicht
das Zeugnis, das Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. II § 123 Anm., ihm entnehmen will. Denn
gesetzt, die Stadt hätte damals nur drei Tore gehabt, und dem Dichter wäre der
Widerspruch mit der Wirklichkeit fühlbar geworden, so fand er wohl noch einige
Mauerpförtdien oder irgendein anderes Mittel, um das epische Beiwort vor seinem
Verstände zu rechtfertigen. - Um die mykenische Stadt einzugrenzen, kommen bisher
vier Gräberstätten in Frage: südlich der Kadmeia bei H . A n n a , südlich der Vor-
stadt H. Theodori, nördlich von H. Lukas (dem Ismenion) und am linken Ufer der
Dirke (vgl. Keramopoullos, 'Ecpri^. aQ%. 1910, 209 ff.). Danach wäre es an sich
möglich, daß der „mykenische" Mauerring nicht nur den Hügel der heutigen Stadt
umfaßt, sondern sich bis an den Ismenos ausgedehnt hätte. Aber das ist wegen des
Umfangs so gut wie ausgeschlossen. - Ob die Beobachtung von Keramopoullos ('EcpT)[i.
uqx- 1909, 107), daß die Kadmeia in „mykenischer" Zeit kein einheitlicher Hügel
gewesen sei, sondern aus vier getrennten Kuppen bestanden habe, für die Frage nach
dem Mauerzug etwas austrägt, kann ich nicht übersehen. - Die Hypothesen von
Robert, der zunächst für das „mykenische" Theben ein einziges Tor, ein Heptapylon
annahm (Hermes X L I I 93), dann mit der Möglichkeit rechnete, es seien drei Tore
gewesen und eins davon ein Tetrapylon (mußte heißen Pentapylon; Pausanias als
Schriftsteller 174), sind unbeweisbar. Aber wenn sie richtig wären, so würde die
poetische Willkür (Robert spricht von einem Mißverständnis) des ionischen Epos um
nichts weniger klar sein, da es sich doch in diesem um sieben selbständige und gleich-
wertige Tore handelt.

53 Hermes X X I 1061 und besonders X X V I 228.


[324j325] Kritisdie Untersuchungen zur Heldensage 39

Aber ein so von innen her die Sage gestaltender Zug kann kaum rein
technisch formaler Absicht sein Dasein verdanken. Es ist auch sdiwer
einzusehen, warum das Nacheinander sich leichter ergibt, wenn die Hel-
den verschiedene Tore berennen, als wenn sie etwa in einer Heeressäule
anrücken. Ich glaube vielmehr, daß der Ausdruck ,siebentorige Stadt',
der ja von dem ,hunderttorigen Theben' ins Wunderbare überboten wird,
zunächst nur die mächtige Stadt mit dem großen Mauerring in symbo-
lisch-anschaulichem Ausdruck bezeichne, und daß die ,Siebentorigkeit'
dann die Anzahl der Helden fixiert habe. Aber auf alle Fälle ist der
Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Dichtung unüberbrückbar. Daß
die dichterische Vorstellung in Böotien entstanden wäre, ist mithin eine
fast unmögliche Annahme. Argos ist gewiß als Ursprungsland nicht völ-
lig ausgeschlossen. Aber davon wissen wir nichts, und wir sehen uns
diesem Tatbestand gegenüber, daß das Bild des siebentorigen Thebens
im kleinasiatischen Epos lebt und zeugt, demselben Epos, welches die
ausgebildete Gestalt der thebanischen Sage kennt, und daß diese sieben
Tore eine Schöpfung der Phantasie sind, die man in einem weiten Ab-
stand des Ortes und der Zeit von der historischen Wirklichkeit denken
möchte.
Muß man also festhalten, daß wir die Dichtung vom thebanischen
Krieg zuerst in ,homerischer' Zeit auf ionischem Boden finden, und daß
die sieben Tore, die für das fertige Gebilde unentbehrlich sind, nicht mit
irgendwelcher Gewähr einer hypothetischen, älteren, mutterländischen
Stufe der Sage zugewiesen werden können, so verstärkt, wie es scheint,
eine Betrachtung der Heldennamen die bisher gewonnenen Eindrücke.
Die sieben Tore erfordern sieben Heroen, und da die Namen im wesent-
lichen feststehen, so müssen wir dieselben bereits für das alte ionische
Epos fordern. Da macht man nun die bemerkenswerte Erfahrung, daß
deren Formen - wenn wir, wie billig, gleich von vornherein dem Aetoler
Tydeus sowie dem Adrast und Amphiaraos eine Sonderstellung ein-
räumen - vollkommen durchsichtig sind, also verhältnismäßig jung er-
scheinen, und daß sie fast alle deutlich daktylisch-anapästischen Silbenfall
haben. Man stelle nur die Helden der Ilias, 'AxiAXsiig, 'Oö^oaeug, Aiag,
"E-xxtop, Aivsiag, 'AxQEijg, Nr)Xei>g, Negtcüq neben noXweucrig, 'EteoxXijg,
'Iitjtouiöcuv TaXa'ioviörig, napftevojiaiog, MsXävijutog, vielleicht auch Kouta-
vEiiig54, um den Unterschied zu spüren: in der Ilias Gebilde, die teils sdiwer
deutbar, teils ganz undeutbar sind und dem Hexameter zwar nicht wider-

54 Von Wilamowitz gleich *2xajtav£t>g gesetzt, also als redender Name gedeutet. Von
den thebanischen Gegnern wurde abgesehen (außer Eteokles und dem berühmten
Melanippos), weil sie jünger sein können: IIoXuqp6vTT]5, Mevageiig, Yjtepßiog
Oivojio; stammen bei Aischylos natürlich aus dem Epos, während er in Aaaft£vr]g
(worauf Wilamowitz mich einmal hinwies) dem Amphiaraos ersichtlich aus eigner
Macht einen Gegner geschaffen hat, den die Sage nicht kannte, da ja Amphiaraos von
niemandem getötet wurde.
40 Mythologie und Heldensage [325¡326]

streben, aber doch ebensowenig entgegenkommen; in der thebanischen


Sage fast durchweg geläufige Bildungen der archaischen Namensschicht
und für den epischen Vers erfunden oder ausgewählt. So können wir
nicht umhin, diese Namen - und es sind die der feindlichen Brüder da-
bei! - als vergleichsweise junge Dichtererfindung zu betrachten, und zwar
als die Erfindung eines kleinasiatischen Dichters, wenn uns denn mit
Recht der Hexameter als äolisch-ionisches Gewächs gilt. Es liegt nicht
der mindeste Anlaß vor, außer Tydeus, Adrast und Amphiaraos auch
nur einen der Helden von Asien fort in das Mutterland zurückzuver-
setzen.
Von dem Sagenbilde also, das wir im kleinasiatischen Epos .home-
rischer' Zeit in deutlichem Umriß fassen, können wir weder das wich-
tigste formgebende Motiv, die sieben Tore, noch die Haupthelden mit
irgendwelcher Wahrscheinlichkeit aus dem Mutterlande herleiten. Am-
phiaraos und Adrast sind selbständige Gestalten des mutterländischen
Kultes. Und einen geschichtlichen Vorgang, der sich im Mutterlande ab-
gespielt hat, muß die Sage vom thebanischen Kriege als Kern in sidi
bergen. Freilich schon über die genaueren Umstände und selbst über den
Ausgang des Kampfes kann man nichts Sicheres erschließen, ebensowenig
wie wir aus der Nibelungensage oder der Rabenschlacht die historischen
Grundlagen würden zurückgewinnen können, wenn die historische
Uberlieferung | fehlte. Nur daß ein Kampf stattgefunden hat, darf man
und muß man glauben. Hingegen die Ausgestaltung der Sage vom Bru-
derzwist, das Phantasiebild des siebentorigen Thebens, die Personen der
Helden, das Widerspiel der beiden Generationen — das alles wird man
nur der schöpferischen Kraft kleinasiatischer Poesie zuschreiben können55.
Noch einen Schritt aber dürfen wir weitergehen. Es läßt sidi die
Gegend, oder, wie man vorsichtiger sagen wird, eine Gegend Kleinasiens
aufweisen, wo die thebanischen Sagen besonders lebendig gewesen sein
müssen, vielleicht ausgebildet worden sind: das ist die Kaikosebene.
In den Kyprien stand jenes berühmte Abenteuer, wie die Griechen-
flotte an das Ufer der Landschaft Teuthrania treibt und wie König Tele-
phos im nächtlichen Kampf den Thersandros, des Polyneikes Sohn, er-
schlägt. Dieser Thersandros hatte, so erzählt uns Pausanias I X 5, 14,
mitten auf dem Markt von Elaia sein Grabmal, an dem er Heroenopfer
empfing. Das sieht altertümlich aus, und man möchte lieber annehmen,
daß das Grab den Anlaß zur Sage gegeben habe als das Umgekehre.
Jedenfalls aber beweisen die beiden Tatsachen, die Sage und der Kult,

55
Im Sinne der obengegebenen Darlegung ist es unberechtigt, wenn z. B. Legras, Les
legendes thebaines 4 5 , zwei Schichten, eine ursprünglich thebenfreundlidie, also wohl
böotische, und eine thebenfeindliche, argivische, unterscheiden will. Die Namenbildung
' E t e o x M i s gegenüber IloXuveixiig d a f ü r als Beweis anzurufen, beruht auf modernem
und unrichtig geleitetem Sprachgefühl. IIoAtiV£bir|g der Streitfrohe (nicht le
querelleur\) ist kein Schimpfname.
[326/327] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 41

daß diese Heldenfigur in jener Gegend lebendig war 5 6 . Thersandros ist


der Zerstörer Thebens, | ist der Sohn des Polyneikes. Es ist schon danach
unglaublich, daß von den thebanischen Dingen in jener Gegend n i c h t
erzählt worden sei. Das Gegenteil läßt sich zum Glück über die allge-
meine Erwägung hinaus noch wahrscheinlich machen. In der Kleinen
Ilias kam die Sage vor, wie Priamos seine Schwester Astyoche, die G e -
mahlin des Telephos, mit dem goldenen Weinstock besticht, damit sie
ihren Sohn Eurypylos in den Krieg nach Troja sende. Niemand zweifelt,
daß diese Sage ihr Vorbild in der Bestechung Eriphyles hat. U n d nun
erklärt sich, wie man zu der Nachahmung kam: die thebanischen Sagen
müssen eben in und um Elaia gelebt haben, dort w o man den Thersandros,
den Zerstörer Thebens, verehrte. - Darauf, daß Aristagoras von Tenedos
(Pind. N e m . X I 37), den Melanippos unter seinen Ahnen zählt, ferner
daß die Kleine Ilias als das Werk des Lesches von Pyrrha bezeichnet wird,
also nach Lesbos weist, der Kaikosmündung gegenüber, und daß die
'Aucpiagdou e|e>.aaia, will sagen die Thebais57, nach der Homervita des
Pseudo-Herodot in Neonteichos entstanden sein soll, also eine kleine
Tagereise südlich von Elaia, darf vielleicht auch verwiesen werden, so
wenig man diesen Tatsachen entscheidendes Gewicht zuzuschreiben
braucht. |

56
Als ältester Mittelpunkt der Kaikoslandsdiaft gilt heute Teuthrania, jene Siedlung
am rechten Kaikosufer zwischen Pergamon und Elaia. Vgl. Thrämer Pergamos 207 ff.,
Conze Ath. Mitt. X I I 149 ff. Diese Annahme scheint irrtümlich zu sein. Denn die
literarische Überlieferung fordert den Ansatz einer a l t e n Stadt Teuthrania über-
haupt nicht, und die Namensform ist (worauf mich Wilamowitz einmal aufmerksam
machte) zunächst die einer Landschaft, nicht die einer Stadt. Nun hat die Grabung
bisher für ein uraltes Teuthrania nicht das Mindeste ergeben. Was wir dort gefunden
haben (vgl. Ardi. Jahrb. X X I I I Anz. 114) ist, wie ich im Widerspruch zu den falschen
Angaben von Schudiardt (Pergamon I, Topographie der Landschaft 115) bemerke,
ein Kastell frühattalischer Zeit. Eine Stützmauer schien älter zu sein, läßt sich aber
gut mit der Ansiedlung des Damaratos (Xen. Anab. II 1, 3. VII 8, 17) kombinieren,
so daß man die „Stadt" Teuthrania nicht über das fünfte Jahrhundert hinaufzudatie-
ren braucht. Man muß betonen, daß die Grabung bisher keine einzige archaische
Sdierbe dort geliefert hat. Daß wirklich nichts Archaisches vorhanden sei, kann man
freilich noch nicht ganz fest behaupten, und notwendig muß oben auf dem Gipfel an
einigen Stellen bis zum gewachsenen Boden durchgegraben werden, was leider 1907
von mir versäumt worden ist, weil mir das Problem erst während und nach der
Grabung deutlich wurde. Das Ergebnis der kleinen Arbeit (zwei Tage dürften
genügen) wird sehr wahrscheinlich für die archaische Siedlung negativ sein. Aber ich
möchte schon jetzt den von Schudiardt gewiesenen Ausweg, daß in Teuthrania wie in
Pergamon der Herrschersitz in alter Zeit offen am Fuße der Burg gelegen habe, als
eine bedenkliche Hypothese bezeichnen. Die archaischen Städte Ioniens, die wir
wirklich kennen, liegen auf dem Berg. - Das geistige Zentrum der Kaikosebene wird
eben in alter Zeit nicht jene Stadt Teuthrania gewesen sein, die nur moderne Hypo-
these so hoch erhoben hat, sondern Elaia. Mein Versuch (Philol. Unters. X I X 161),
die Herakles-Telephos-Geschidite an die Stadt Teuthrania zu knüpfen, war verfehlt,
w S. unten S. 45.
42 Mythologie und Heldensage [328¡329]

Zum Schluß muß man noch eine prinzipielle Frage aufwerfen, die
nämlich, ob die Epigonensage als Imitation der Sage von den ,Sieben'
entstanden ist. So nimmt man meist an58, und manches spricht dafür. Ge-
wiß sind die Väter viel schärfer herausgearbeitete Helden, und der Be-
richt von ihrem Untergang spricht viel lebhafter zu unserer Phantasie.
Gewiß ist es eine künstliche Symmetrie, daß in der älteren Generation
alle bis auf Adrast ihren Tod finden, während von den Epigonen alle
bis auf den Sohn des Adrast am Leben bleiben, und daß Eriphyle von
Polyneikes mit dem Halsband wie von seinem Sohne Thersandros mit
dem Peplos bestochen wird. Und beide Male liegt die Nachbildung, wie
es scheint, auf Seiten der Epigonensage. Aber an einer Stelle muß doch
wohl das Urteil anders lauten. Es ist ein offenbar altertümlicher Zug der
Sage, und wir kennen ihn sogar in zwei Brechungen59, wie Athene dem
schwer verwundeten Tydeus die Unsterblichkeit bringen will, dann aber,
als er in seiner tierischen Wut das Hirn des toten Melanippos schlürft,
sich schaudernd abwendet und ihm die Gabe versagt. Wenn man nun bei
Pindar (Nem. X 7) liest, daß einst die Glaukopis den Diomedes zu einem
Gott gemacht habe, so läßt sich darin jener selbe Parallelismus nicht ver-
kennen. Hier wird es äußerst schwer, in der Epigonensage die sekundäre
Umbildung zu sehen, und man möchte glauben, daß Athenes Beginnen
bei Tydeus nur darum mißlingt, weil es nachher bei seinem Sohne ge-
lingen wird 60 . Damit zeigt sich aber, wie die Sage von den Vätern und
die von den Söhnen sich g e g e n s e i t i g beeinflußt haben, und das
scheinbar so klare Ergebnis wird sehr in Zweifel gerückt. Es ist recht wohl
zu fragen, ob nicht die Eroberung Thebens gleich anfänglich oder doch
sehr früh von der Sage konzipiert wurde (möglich sogar, daß der Krieg
wirklich mit dem Untergang Thebens endete), und ob nicht der mißj-
lungene Zug der Väter nur eine ursprünglichere und lebendigere Ausbil-
dung erhielt, darum weil es der erste, jener der zweite war, und weil der
Untergang eines Heeres die Phantasie stärker erregt, zumal wenn im
Hintergrund ein endlicher Sieg die helle Folie bildet.

Anhang: Zur Alkmaionis

Die grundsätzlichen Erörterungen über die ältesten Entwicklungs-


stadien der Sage sind damit abgeschlossen, und die eingehendere Ana-

58
Z. B. v. Wilamowitz Hermes X X V I 239; entgegengesetzt Gruppe Griech. Myth. u.
Rel. 512, von dem ich freilich sonst vollkommen abweiche.
59 Bethe, Theb. Held. 76.
60
Selbstverständlich kann es nicht innerhalb des Epigonenepos erzählt, sondern nur
prophezeit worden sein, wofür man an Menelaos bei Proteus denke. Aber diese Pro-
phezeiung wird man für die Epigonoi mit einiger Wahrscheinlichkeit voraussetzen
dürfen.
[3291330] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 43

lyse der Ueberlieferung oder die Frage nach der Rekonstruktion einzelner
Epen, deren Titel uns überliefert sind, gehört nicht notwendig hieher.
Dennoch möchte ich den Versuch machen, auch diese Spezialuntersuchung
an einem Punkte zu fördern. Das Ergebnis w i r d ein Widerspruch gegen
Bethes ,Thebanische Heldenlieder' sein. Darum ist es nur billig, im vor-
aus zu betonen, daß jede Forschung von diesem grundlegenden Buche
auszugehen hat. Im besonderen ist die Scheidung der verschiedenen T r a -
ditionen und auch die Zusammenfügung, die ich im folgenden vortra-
gen werde, zum großen Teil Bethes Werk.
Wie es dem Motivparallelismus zwischen der Sage von den ,Sieben'
und der von den ,Epigonen' entspricht, kehrt Eriphyles Bestechung durch
Polyneikes in der zweiten Generation wieder als Eriphyles Bestechung
durch Thersandros. Daneben aber haben w i r die Nachricht, daß Adrast
es gewesen sei, der sie durch das Geschenk des Halsbandes seinem Willen
geneigt gemacht habe 61 . Diese zweite Sagenversion kannte die Bestechung
durch Thersandros schwerlich, da in der ersten Vater und Sohn einander
entsprechen. Wenigstens könnte eine so unsymmetrische Gegenüber-
stellung wie die zwischen Adrast und Thersandros, wenn sie irgendwo
vorgekommen sein sollte, nur einer mißratenen | und sekundären Sagen-
bildung angehören. U n d jedenfalls ist zu suchen, ob in irgend einer
Sagenform die Bestechung durch Thersandros n i c h t vorkommt. Das ist
nun in der T a t der Fall nach dem schol. X 326 6 2 , in dem Amphiaraos bei
der A u s f a h r t seinem Sohne Alkmaion den Befehl gibt, nicht früher gegen
Theben zu ziehen, als bis er die Mutter bestraft habe. Denkt man sich
den Befehl so ausgeführt, wie er gegeben w a r d — und es heißt ausdrück-
lich, daß Alkmaion ,dieses alles ausgeführt habe' dann ist die Be-
stechung durch Thersandros überflüssig und störend, weil ja der Rache-
zug dem Sohne schon vom Vater befohlen wird, die Mutter also nicht
erst einzugreifen braucht. U n d andererseits erzählt im Gegensatz zu
jener Sagenform des Odysseescholions Apollodor, der die zweite Be-
stechung kennt, daß Alkmaion die S t r a f e an der Mutter erst nach der
Heimkehr von Theben vollzogen habe. Mit der Wendung aber, daß
Muttermord und Entsühnung v o r den Epigonenkrieg fällt, gehört jener
Bericht des Ephoros zusammen, der den Alkmaion nach dem Krieg gegen

61
Bethe 52 f. Das Urteil über Apollodor scheint mir nicht ganz zutreffend zu sein. Denn
mit den Worten töv öquov Xaßoöoa ist im Sinne des Mythographen zweifellos „von
Polyneikes" gemeint und die Rückbeziehung auf das was vorhergeht: Ei Xaßoi töv
öp|j.ov und IToÄuvEL"/.r|q 6011g aijxfi töv opjiov ist ganz klar. Aber dieser Einwand
trifft das Wesentliche nicht, und die Scheidung der Traditionen scheint unanfechtbar.
62
Bethe 128. - Die Szene, wie Alkmaion vor seinem Auszuge die Mutter tötet, findet
Loeschcke (wie er Ath. Mitt. X X I I 263 angedeutet und mir mündlich näher aus-
geführt hat) auf dem Bilde der „tyrrhenischen" Amphora Arch. Jahrb. V I I I T. 1 dar-
gestellt (vgl. Thiersch, Tyrrhenische Amphoren 56 ff.). Die Symmetrie der beiden
Auszugsszenen von Vater und Sohn ist sowohl in der poetischen Konzeption wie in
der bildlichen Ausgestaltung augenfällig.
44 Mythologie und Heldensage [3301331]

Theben als Begleiter des Diomedes Aetolien und Akarnanien erobern


läßt63, während sich an die Erzählung, die den Vollzug des Muttermordes
nach der Heimkehr vom thebanischen Krieg setzt, ebenso ungezwungen
der Bericht des Thukydides anschließt64, Alkmaion habe von seinem
Wahnsinn, der Strafe für den Muttermord, an der Mündung des Adieloos
Ruhe gefunden. Eine dritte Version, die sich als Umbildung der thuky-
dideischen erweist, habe ich versuchsweise der Melampodie zugewiesen65,
alles andre hat, wie mir scheint, Bethe, wenn nicht mit Sicherheit, die hier
natürlich niemals zu erreichen ist, doch mit Wahrscheinlichkeit so ver-
einigt und verteilt, daß auf die Seite der Alkmaionis folgende Motiv-
reihe tritt: Muttermord, Entsühnung, Zug gegen Theben, Eroberung
Arkarnaniens und Aetoliens; auf die Seite des anderen Epos, das in Frage
kommt, also ] der Epigonoi: Bestechung durch Polyneikes, Zug gegen
Theben, Heimkehr, Muttermord, Wahnsinn und Heilung am Acheloos.
Dann scheint es aber nach dem, was zu Anfang ausgeführt worden ist,
wahrscheinlich, daß zu der Motivreihe der Alkmaionis die Bestechung
durch Adrast gehört, ganz wie zu der Motivreihe der Epigonoi oder -
so müssen wir jetzt beim ersten Teile sagen - der Thebais die Bestechung
durch Polyneikes. Daß die Alkmaionis so weit zurückging, ist fast sicher,
mag sie nun ihren Anfang so hoch genommen oder mag sie, was minder
wahrscheinlich, jene Ereignisse durch eingerahmte Erzählung nachgeholt
haben. Sie mußte doch von dem Auftrag erzählen, den der ausziehende
Amphiaraos dem jungen Sohne hinterließ, und ein Fragment zeigt, daß
sie sogar auf die Flucht des Tydeus mit eingehender und selbständiger
Motivierung zurückgriff.
Nun hat ferner Bethe aus Herodot V 67, aus Pindars neuntem neme-
schen Gedicht und aus einer Erzählung des Menaichmos von Sikyon
einen zusammenhängenden epischen Bericht rekonstruiert66, die die fol-
genden für uns wesentlichen Punkte enthält: Adrast und Pronax sind
Söhne des Talaos und durch ihre Mutter Lysimache Enkel des Polybos
von Sikyon. Amphiaraos tötet den Pronax und vertreibt den Adrast,
der nach Sikyon flüchtet. Später kehrt er zurück, und Amphiaraos emp-
fängt von ihm zur Besiegelung des Friedens die Eriphyle als Gattin,
die also hier offenbar Tochter des Talaos und Schwester des Adrast, nicht
wie in einer anderen Ueberlieferung Tochter des Iphis sein muß. Soweit
ist alles sicher. Es ist nur eine Vermutung Bethes, aber wie mich dünkt,
eine sehr wahrscheinliche Vermutung, daß von den beiden Formen der
Bestechungssage diejenige, wonach Eriphyle von ihrem Bruder Adrast,
nicht von dem Fremdling Polyneikes, den Halsschmuck empfängt, in den
Zusammenhang des aus Herodot, Pindar und Menaichmos gewonnenen

Strabo V I I 325, X 462; vgl. Bethe 130.


64
Thuk. II 102; vgl. sdiol. Luc. deor. conc. 12 (p. 212 Rabe).
65
Argolica 50 ff.; vgl. Hiller v. Gaertringen in den IG V 2, S. 99.
«« AaO. 43 ff.
[331 ¡333] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 45

Epos gehört. Es kann ja nicht gleichgültig sein, wer der Bestechende ist.
Ist es Polyneikes, so kommt das Motiv ganz von außen, ist es Adrast, so
schließt sich dieser Sagenzug mit dem Ganzen der hier von uns verfolgten
Sage aufs beste und schärfste zusammen. Denn Adrast rächt sich, wie
der Scholiast zu Pindar Nem. I X 3 5 sagt, schließlich an seinem alten Feinde
Amphiaraos, indem er durch Eriphylens Mittlerschaft den im stillen
immer noch Gehaßten ins Verderben treibt. |
Wir waren vorhin zu dem Wahrscheinlichkeitsschluß geführt wor-
den, daß die Bestechung Eriphyles durch Adrast zur Vorgeschichte der
Alkmaionis gehören müsse. War das richtig, und war es weiter richtig,
dieses Eingreifen des Adrast dem aus Herodot, Pindar und Menaichmos
rekonstruierten epischen Bericht einzufügen, so ist die Folgerung un-
vermeidlich: dieser epische Bericht gehört in die Alkmaionis.
Bethe hat bekanntlich anstatt dessen die 'Ajxcpiaeaov e|eXaaia ge-
nannt 67 . Das ist leicht zu widerlegen, da es, wie ich ehedem von Wilamo-
witz gelernt habe, ein solches Epos überhaupt nicht gibt. Ich darf seinen
Beweis hier in Kürze mitteilen. Nach der unter Herodots Namen gehen-
den Homerbiographie 48 dichtet Homer in Neonteichos 'Ancpidpeco E^sXaoi-nv
triv Eg 0r)ßag. Das ist wohl die einzige Bezeugung des Titels. Denn wenn
Suidas unter den Werken Homers 'Aiicpiagaou E§EXaaig nennt, so kann und
wird das aus Pseudo-Herodot stammen, den ja Suidas reichlich ausge-
schrieben hat. Die Thebais fehlt hingegen in dieser Homerlegende völlig,
und das muß gleich sehr bedenklich machen, wenn man an den alten
Ruhm der Diditung denkt, für die man ja bereits bei Kallinos den Homer
als Verfasser zitiert fand. Aber es kommt noch etwas Entscheidendes
hinzu. Nachdem der Dichter Neonteichos verlassen hat, erhält er von den
Söhnen des Königs Midas den Auftrag, die Grabschrift für ihren ver-
storbenen Vater zu verfassen, und dichtet die berühmten Verse XaXxrj
jtagMvog eijxi. Dieselbe Erzählung von dem Auftrag hat auch die Homer-
vita, die in dem Florentiner Traktat liegt '0|xt)qou xai 'Hoio5ov xal toü
Yevovg xai dycovog aintöv unmittelbar an die alte Dichtung vom Wett-
kampf angefügt worden ist69. Und auch hier geht dem Epigramm die
Abfassung der Thebais und der Epigonoi voraus. Es leuchtet ein, daß die
herodotische Vita und der Florentiner Traktat in dieser Partie auf die-
selbe Quelle zurückgehen, und daß diese im Traktat genau wiedergegeben
wird, während Pseudo-Herodot willkürlich änderte: er ließ die Epigonoi
fort, weil deren Echtheit von dem | wirklichen Herodot (IV 32) bestritten
war, wie sie auch im Traktat angezweifelt wird, und ersetzte den Titel

67
E r hat aber selbst gesagt, er lege „weniger Wert auf die Belehnung des aufgezeigten
Epos mit dem Titel 'Anquapdov sliXaaii;, als vielmehr auf den Nadiweis, daß es
zwei Epen über den Zug der Sieben gab" (S. 60 Anm.). Und dieser Nadiweis ist
zweifellos gelungen.
68
Westermann Bioyedcpoi J § I i . Homeri Op. ed Allen V p. 198.
69
Zeile 243 ff. in Rzachs Hesiodausgaben. Z. 2$ j ff. bei Allen.
46 Mythologie und Heldensage [333j334]

Thebais durch jenen anderen Titel, der eigentlich keiner ist. Mit dieser
Beweisführung, die ich im Sinne ihres Urhebers vorgetragen zu haben
glaube, scheint das Epos von des ,Amphiaraos Ausfahrt' ein für allemal
beseitigt70.
Was nun die inhaltliche Rekonstruktion anlangt, so ist Bethe - das
hat die Kritik meines Erachtens mit Recht betont71 - durch überscharfe
Schlüsse zu willkürlichen Hypothesen gelangt. Erstens habe ,des Amphi-
araos Ausfahrt' von der Bestrafung Eriphyles nichts wissen können, weil
sie Schiedsrichterin gewesen sei und nur ihr Amt nach freiem Ermessen
ausgeübt habe. Und zweitens seien in diesem Epos alle Helden - alle
sieben Helden - vor Theben umgekommen, keiner, auch Adrast nicht,
sei zurückgekehrt. Dagegen hat man mit Recht eingewandt, daß Eriphyle
jedenfalls ein Verbrechen beging, wenn sie sich bestechen ließ, ob sie
Schiedsrichterin war oder nicht. J a , man kann behaupten, daß ihr Ver-
brechen im ersten Fall noch viel schwerer war. So ist wohl kein Zweifel
möglich, daß die Bestechung immer auch die Rache als Ergänzung forderte.
Und dafür, daß alle umkamen, Adrastos mit, ist schlechterdings kein
Beweis zu finden. Von ,allen' Helden spricht weder Homer (A 409) noch
Hesiod (ExH 162), deren Worte sehr wohl auf die Gemeinsage passen.
Daraus ferner, daß einmal bei Homer (B 828 ff.) ein Adrestos und ein
Amphios, Söhne des Merops von Perkote, fallen, folgt doch - ganz
gleich, ob hier echte Sage vorliegt oder, wie ich glauben möchte, eine
willkürliche Dichtererfindung, - nicht im mindesten, daß auch Adrast
in irgendeiner Fassung der thebanischen Sage umgekommen sei72, mag
jener Perkosier immerhin nach ihm den Namen tragen. Pindar aber
bezeugt für unseren Zusammenhang geradezu das Gegenteil. Denn man
wird schwerlich behaupten können, daß die Sagenform des neunten
nemeischen Gedichts nicht in sich zusammenhänge, und daß sie | etwa
irgendwie willkürlich umgestaltet worden sei. Gewiß ändert Pindar bis-
weilen an dem ehrwürdigen Mythos, aber dann sagt er ausdrücklich, daß
er ändert, oder man erkennt doch deutlich den Grund. Hier jedoch erzählt
er schlicht und offenbar der Ueberlieferung folgend, daß sieben Scheiter-
haufen die Helden verzehrt hätten, während den Amphiaraos die Erde
verschlang. Da muß es freilich dahingestellt bleiben, ob ihn die Erinne-
rung täuschte, ob es bei genauem Nachredinen nur sechs Helden sein
konnten, deren Leichname dort verbrannten, oder ob wirklich die Gesamt-
zahl neun betrug, wie das sehr wohl möglich ist, und wie es z. B. Apollodor
(III 63) für ,einige' Autoren angibt. Aber jedenfalls muß einer dage-

70
Schon Welcker hatte „Thebais" und „Amphiaraos Ausfahrt" gleichgesetzt.
71
Gruppe in Bursians Jahresberichten L X X X I 93 ff., Legras, Les legendes Thebaines
63 2 , 802. Legras 47 teilt übrigens Bethes Irrtum, daß ursprünglich alle Helden unter-
gegangen seien. Vgl. auch Rohde, Psyche I 2 1 1 4 A. 2.
72
Wie Usener kombinierte bei Bethe 65 und im „Stoff des griech. Epos" K l . Sehr. IV
234 ff.
[334j335] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 47

wesen sein, der den Scheiterhaufen für die Helden schichten ließ, und
das kann keiner von der feindlichen Seite getan haben. So bleibt nur
Adrastos übrig, wie ihn denn Pindar wirklich einführt. Es hat sich mit-
hin jenes Epos, das im neunten Nemeengedicht vorausgesetzt wird, weder
bei der Bestrafung der Eriphyle noch beim Untergang der Helden von
der Gemeinsage unterschieden, und so steht von dieser Seite nicht das
mindeste im Weg, der vorhin aufgestellten Wahrscheinlichkeitsrechnung
zu folgen und die aus Pindar, Herodot und Menaichmos zusammen-
gefügte Sagenversion der Alkmaionis zuzuweisen.
Bethe hat freilich an dieser Tradition ein besonders hohes Alter er-
kennen wollen. Das beruht wohl auf unrichtigen Schlüssen73. Mir scheint
im Gegenteil die höchst komplizierte Vorgeschichte für den verhältnis-
mäßig jungen Ursprung des Ganzen zu sprechen. Denn wenn ich nicht
irre, so ist die Sage von der Vertreibung des Adrast, von seiner Flucht
nach Sikyon und seiner Rückkehr entstanden, um die durch das Epos
festgestellte Tradition von dem Argiverkönig Adrast mit der nicht minder
feststehenden Tatsache des Kultes zu versöhnen, daß Adrast gerade in
Sikyon besonders hohe religiöse Verehrung genoß74. Sie wäre dann also
am ehesten im Nordosten des Peloponnes entstanden und naturgemäß
erst dann, als das ausgebildete Epos vom Thebanischen Krieg aus Ionien
herübergekommen war. Man sieht, wie trefflich das für die Alkmaionis
passen würde. Denn sie ist im korinthischen Kulturkreis nicht vor 600
entstanden75.
Eine gewisse Bestätigung dieser Schlüsse kann man noch daraus ge-
winnen, daß Pindar auch sonst die Alkmaionis zu berücksichtigen
scheint. Wir meinen die merkwürdige Szene der achten pythischen Ode,
wie Amphiaraos dem Angriff der Epigonen auf Theben zuschaut, offen-
bar von seinem Heiligtum zwischen Theben und Potniai aus76, und wie
er spricht: ,Ich erblicke den Alkmaion, der als erster an den Toren Thebens
die schillernde Schlange auf dem blanken Schilde führt' 77 . Die Szene
kann kaum von Pindar erfunden worden sein. Es ist ja gerade seine
Art, irgendeine Situation aus dem Epos herauszugreifen und als isoliertes
Bild zu rahmen. Auf jeden Fall aber stammt die Vorstellung, daß

73
Zum Teil erledigt sich die Meinung dadurch, daß die Hypothese vom Untergang aller
sieben Helden schwindet.
74
Eine andere Aussöhnung dieser beiden widersprechenden Tatsachen scheint im Schiffs-
katalog vorzuliegen, wo es ( B 572) von Sikyon heißt: olq "AÖQriaxog jtQÖjx'
¿HßaaUeVE. Oder ist doch dieselbe Sage gemeint?
7
5 Bethe 156.
76 Pausanias I X 8, 3. Vgl. Dittenberger, De sacris Amphiarai (Ind. schol. Hai. 1888/9).
77
Die Angabe über das Schildzeichen scheint mir die Frage, die ich ehedem (Johannes
von Gaza und Paulus Silentiarius 23) gestellt habe, ob nämlich die Schildbeschreibun-
gen in Aeschylus Sieben vom Epos angeregt seien oder ganz auf Erfindung des Dra-
matikers beruhen, im ersten Sinne zu entscheiden. - Schwartz, Quaest. Herod. 16,
sucht zu sehr in der Ferne.
48 Mythologie und Heldensage [3351336]

Alkmaion der erste ist, aus der Alkmaionis. Denn sie war es, die den
Epigonenzug von Alkmaion führen ließ, während die Epigonoi den
Aigialeus an diesen Platz stellten78.

3. OixaXias aXcoaig

Hier kann und will ich nichts Neues sagen, nur wiederholen, was ich
früher, zu unklar offenbar, auseinandergesetzt habe79. Aber die Erörte-
rung paßt hierher, weil die Methode die gleiche ist wie in den beiden
ersten Kapiteln.
Von der Oixa/iag aXwoig des Kreophylos wissen wir durch ausdrück-
liche Ueberlieferung sehr wenig80. Doch sehen wir aus | den kümmerlichen
Resten: Eurytos und Jole kamen vor, und Herakles eroberte die Stadt
und die Königstochter. Es ist audi gegen alle Wahrscheinlichkeit, daß
Herakles in diesem Epos n i c h t der Gatte Deianeiras gewesen sei, und
daß die Gewinnung der Jole n i c h t den Flammentod des Helden auf
der Oeta verschuldet habe, wozu das Nessosabenteuer als notwendige
Voraussetzung tritt. In Wahrheit ist dann auch die Werbung um
Deianeira, der Abschied aus Aetolien und mancherlei anderes nicht fortzu-
denken. Wer sich überlegt, wie einheitlich hier die antike Ueberlieferung
in allen wesentlichen Punkten ist, und wie fest die Motive ineinander-
greifen, der wird schwer ein anderes Urteil für möglich halten. Nun
kommt hinzu, daß Sophokles in den Trachinierinnen und Bakchylides im
fünfzehnten Gedicht den Zusammenhang so geben, wie jeder ihn kennt 81 .
Damit ist ein Epos, und zwar ein altes, als Quelle notwendig. Denn an
das Gedicht des Panyassis kann schon um der Zeit willen kaum jemand
denken und hier ist entscheidend, daß Panyassis als Plagiator des Kreo-
phylos galt, also in den Teilen seiner Herakleia, die den uns angehenden
Sagen gewidmet waren, mit dem älteren Epos mindestens stofflich genau
übereingestimmt haben muß.
Kreophylos, der Verfasser der Oixodiag aXcoaig, ist ein Samier. Die
Legende läßt den Homer nach Samos kommen und seinem Gastfreund
Kreophylos jenes Epos schenken. Ist es an sich schon unberechtigt, die
Angaben über die Herkunft der alten Epen gering zu schätzen, so ist das

78 Bethe 110.
79 Herakles, Philologisdie Untersuchungen X I X (1907), Kap. III. Dazu vgl. die Kritik
von Bethe, Göttingische gelehrte Anzeigen 1907, 697 ff. Die Kritik nimmt ausgespro-
chenermaßen dieses dritte Kapitel vor, um daran die Verwerflichkeit der ganzen
Arbeit zu zeigen.
80 Epicorum Graec. Fragm. ed. Kinkel pp. 60 sqq.; Homeri Opera rec. Allen vol. V,

pp. 144 sqq.


Der erste Teil der Sage bis zum Tode des Nessos ist durch Ardiilodios Fr. 147, der
zweite durch den korinthischen Krater Mon. d. Inst. VI/VII T. 33 für das alte Epos
bezeugt.
[336j338] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 49

in unserem Falle gar nicht erlaubt. Denn hier gibt es nicht wie etwa bei
der Kleinen Ilias unvereinbare Widersprüche über die Autorschaft, es
streitet nicht ein Phokaeer mit einem Dichter aus Erythrai und einem aus
Sparta, sondern die Ueberlieferung ist eindeutig: Kreophylos von Samos
hat das Gedicht gemacht oder Homer hat es ihm in Samos geschenkt. Und
die Kreophyliden sind ein samisches Geschlecht, so daß es eine Geschlechts-
tradition gegeben haben muß. Bei dieser Uebereinstimmung der Tatsachen
und Zeugnisse muß es als unerheblich betrachtet werden, wenn in der
Vita des Suidas Kreophylos Xiog f| 2ä(nog heißt, so wenig wir sagen
können, wie die erste, ganz singulare Heimatbezeichnung entstand82. Nur
dies weiß man: Chios und Samos sind ja benachbarte Inseln. |
Die Ol/aXtag aXtocng also ist ein kleinasiatisch-ionisches, ein samisches
Gedicht. Das sagt die Ueberlieferung. Man findet aber auch, wenn nicht
alles täuscht, in der Sagenanalyse selbst Spuren, die in die gleiche Richtung
weisen. Ich will nicht davon sprechen, daß die Odyssee <p) den Bogen-
schützen Eurytos einführt und von ihm eine Sage kennt, welche älter ist
als die des Kreophylosepos, daß man also in Ionien auch von Eurytos |
erzählt haben muß. Es gibt deutlichere Zeichen. Wenn man dem Herakles

82 Mein früherer Versuch (Philol. Unters. X I X 71), den Irrtum des Suidas zu verstehen,
ist unhaltbar. Die Homervita des Proklos (Westermann 25, 27) will mit den Worten
Xeyovaiv avxo\ £¡,5 "Iov nXeucavta Öiatpiipai jtapa KpecjcfiXo) diesen Aufenthalt
„auf seiner Reise nach los" entsprechend der Gemeintradition in Samos fixieren, da
ja auch bei Ps.-Herodot Homer von Samos nach Jos geht. - Daß Kreophylos „Va-
gant" war, d. h. außerhalb von Samos seine Gedichte vortrug, ist gewiß möglich.
Aber die Vorstellung, die Bethe 702 andeutet, ignoriert die Tradition von dem sami-
schen Kreophylidengeschlecht. - Bethe behauptet anderwärts noch seltsamer von
offenbaren Uberlieferungen, sie seien nicht vorhanden. S. 705: „Rhodos hat damals
[in alter Zeit] nicht das Meer beherrscht... Ersteres behaupte ich, weil es kein
Zeugnis dafür g i b t . . . " Es gibt nicht nur ein Zeugnis, es gibt mehrere. In der bekann-
ten Liste der Thalassocratorum, qui maria tenebant (Euseb. Chron. I 225 aus Diodor
V I I 11) stehen nadi den Lidi, Pelasgi, Thrakii an vierter Stelle die Rhodii (vgl. Aly,
Rhein. Mus L X V I 594). Von den Seefahrten bis nach Iberien berichtet Strabo 654.
Dazu stimmt, daß nach Apld. V I 15 ( = Tzetzes Lyk. 911) Tlepolemos mit seiner
Begleitung: jteqI t&? 'IßriQixä; vt]Ood; sich ansiedelt. Und von dem spanischen Rhode
heißt es: xai)TT]v öi n@tv vecöv x g a T o i v x e g exxioav 'P6Ö101 (Skymnos 204 aus
Timaios). Zeugnisse für rhodische Kolonisation in Lykien und Kilikien brauche ich
wohl niemandem beizubringen. Aber ich wiederhole, daß Aianteion am Hellespont
a Rhodiis conditum (Plin. V 125) und Apollonia am Pontos ajtoixta MiXt]<juüv xai
"Poöuüv (St. B.) heißt. Also Kolonien von Spanien bis Kilikien und bis in den Pontos,
daneben die ausdrückliche Nachricht von der Thalassokratie: und Bethe sagt, es gibt
kein Zeugnis. - Da Bethe ferner erklärt: „Ich finde auch keinen Herakleskult auf
Rhodos bezeugt", so muß ich ihm die berühmte duaia tjv AWöioi ¡¿et' äfjäg diiovaiv
aiiTÖ aufweisen (Zeugnisse bei Knaack, Hermes X X I I I 139), mit der man nicht ohne
Wahrscheinlichkeit die Bow6jtia-0£u5auHa-Inschriften von der lindischen Akropolis
kombiniert hat (IG X I I 1 , 7 9 1 - 8 0 4 ; Hiller v. Gaertringen R - E I I I 1017). Zu diesem
Kult gehört die ätiologische Sage, wie Herakles in Thermydrai landet und den Stier
des pflügenden Bauern aufißt. Damit erledigt sich wieder eine Behauptung Bethes:
„Rhodos hat gar keine Heraklessage."
50 Mythologie und Heldensage [3381339]
Deianeira, die Tochter des Oineus, die Schwester des Meleager, zur Frau
gab, so konnte das nur an einem Orte geschehen, wo die ätolischen Sagen,
die von Oineus, Meleager, der kalydonischen Jagd, lebendig waren. Das
muß natürlich nicht Aetolien gewesen sein; eine Sage, die in Aetolien
spielt, ist darum dort noch nicht gewachsen oder ausgebildet worden.
Nun finden wir den ätolischen Sagenkreis im neunten Gesang der Ilias
lebendig; die Geschichte Meleagers wird, wie bekannt, in der Gesand-
schaftsrede des Phoinix willkürlich zweckvoll umgebildet. D a Oineus,
Meleager, die kalydonische Jagd und was damit zusammenhängt im
ionischen Epos vorkommt - oder will jemand die ,Gesandtschaft an
Achill' für mutterländisch halten? - so sind diese Sagen in Kleinasien
wenn nicht entstanden, so doch lebendig gewesen und gewiß zunächst
nicht in ganz Kleinasien, sondern an einem bestimmten Ort, in einem
bestimmten Kulturkreis Kleinasiens oder etwa in mehreren. Ob man
diese Gegend oder eine dieser Gegenden fixieren kann, ist eine weitere
Frage. Ich glaube, daß erhebliche Wahrscheinlichkeit für Samos spricht.
Zwei Figuren des ätolisdien Sagenkomplexes nämlich haben auf Samos
gewissermaßen ihre Gegenbilder: einmal Oineus und zweitens Ankaios,
die bei Asios von Samos (Fr. 7) in derselben alten samischen Königsliste
stehn. Von Oineus ist nur der Name da, an Ankaios aber haftet eine
berühmte Sage: er ist der alte König, den „zwischen Lipp" und „Kelches-
rand" ein Eber im Weinberg tötet83. Unter den Hauern des kalydonischen
Ebers fällt nun aber gleichfalls ein Ankaios (er heißt Arkader") nach
einer Ueberlieferung, die durch archaische Bildwerke für das sechste Jahr-
hundert gesichert wird. Die beiden Figuren sind ursprünglich identisch; bei
dem samischen König erscheint das Motiv einerseits ursprünglicher, da die
Gestalt f ü r sich steht und noch nidit in den größeren Komplex einge-
gliedert ist, andrerseits künstlicher in der Durchbildung. Wenn wir nun
für die ätolischen Sagen um der Ilias willen ein kleinasiatisches Zentrum
suchen müssen, und wenn uns Oineus und | Ankaios in derselben Genea-
logie auf Samos begegnen, so spricht eine nicht geringe Wahrscheinlich-
keit dafür, daß eben Samos das gesuchte Zentrum ist85.

83
D i e Mutter des Pythagoras, Pythais, stammte von diesem Ankaios (Porphyr. V i t a
P y t h . 2 aus Apollonios itepi IIuOotYogoi)); er muß also in der samischen Geschlechter-
tradition bedeutend gewesen sein.
84
Bakchylides V 1 1 7 ff. ist er nur durdi die falsche E r g ä n z u n g [0C5 teJxey zum Sohn
der Althaia geworden. D a s Richtige gibt W i l a m o w i t z mit [8v t e j x e v .
85
D a ß Oineus dem Samier Ankaios nur deswegen beigegeben wäre, weil dieser Wein
baut (Bethe 700 A n m . ) , ist ganz unwahrscheinlich. Dann w ä r e er eben nicht durdi drei
Generationen v o n ihm getrennt, sondern es hieße dodi w o h l ' A ^ x a l o g O'ivecog. -
Bethes Behauptung, daß der samische Ankaios und der Ankaios der kalydonischen
J a g d einander ausschließen, kann ich nidit begreifen. Falsch ist es, den Ankaios, der
einen gut griechischen N a m e n führt (wie ' Y X a i o ; ' A x t a i o g ) in Samos wie in Arkadien
einer lelegisdien Urbevölkerung deshalb zuzuschreiben, weil die antike Sagenkonstruk-
tion in dem alten Samierkönig einen Leleger gesehen hat. - Wenn ich (in einer A n -
[339j340] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 51

Der Sagenkomplex, den wir für die OixaMasfiXosoigin Anspruch neh-


men müssen, ist durch die Gestalt Deianeiras fest mit dem ätolischen
Kreise verkettet. Jenes Epos gilt in aller Ueberlieferung als samisch,
eine Tatsache, an der so wenig zu rütteln ist, daß sie uns vielmehr zu
fragen zwingt, ob nicht die Sage selbst Beziehungen zu Samos aufweist.
Solche Beziehungen schienen sich in der Tat f ü r den ätolischen Kreis zu
ergeben. Ueberlieferung und Kombination also stützen sich gegenseitig,
und es erhellt, daß wohl kein gleichgültiger Zufall dem Samier Kreo-
phylos gerade jenen Gegenstand eingegeben hat, sondern daß in der
Phantasie der samischen Hörer die Voraussetzungen geboten, d. h. sehr
wahrscheinlich die Sagen von Oineus und seinem Hause lebendig waren.
Die Heraklestaten, die in Aetolien und am Oetagebirge spielen, sind
in samischer Epik dargestellt, mit anderen Worten doch wohl dort zur
Einheit geformt worden. Ob die Einzelsagen aus dem Mutterlande hin-
übergekommen sind, ob die Wurzeln wirklich in Mittelgriechenland liegen,
das fordert eine weitere Untersuchung, die methodischerweise erst von
diesem Standpunkte aus | unternommen werden dürfte, die ich aber jetzt
nicht noch einmal führen will. Ich habe die Frage ehedem geglaubt ver-
neinen zu müssen, ich wüßte heut nichts Neues darüber zu sagen, und
das wäre auch gar nicht möglich, ohne das Problem der Heraklessage
überhaupt von neuem aufzurollen. N u r die Methode der Forschung
mußte ich vor dem Angriff schützen, den Bethe gegen mein Buch über
Herakles gerichtet hat. Soweit seine Kritik Unarten der Form rügt, bin
ich ganz auf seiner Seite, und niemandem können Stil und Darstellungs-
weise jener Schrift peinlicher sein als dem, der sie vor sieben und acht
Jahren verfaßt hat. Aber die Gegenargumente sind teils so schwach,
teils so bedenklich, daß sie der Sache des Kritikers schwerer schaden
müssen als der des Kritisierten. Kreophylos ist „ein unfaßbarer Schatten,
ein von Kallimachos verhöhnter Obskurant" 86 - mit solcher fast in jedem
Worte schiefen Behauptung wird eine literarhistorische Tatsache, der
samische Ursprung jener Diditung, zur Seite geschoben. Die „ätolischen"
Sagen sind in Aetolien entstanden: dies ist Bethes These. Daß das Gegen-
teil von vornherein einleuchtet, wage ich zu behaupten. Ist denn in dem
Zeitraum, wo das Epos sich ausbildet, also in den Jahrhunderten X , I X ,
V I I I in Aetolien epische Dichtung auch nur denkbar? Nun soll aber nach
Bethe in dem ätolisch-ötäischen Herakleskreise Lokalkenntnis so deutlich

merkung, die Bethe irreführend mit dem Text zusammen abdruckt) den 'AYxatog
nXeiiQümog 635 als eine schwache Bestätigung meiner Ansichten bezeichnet habe,
so war damit - zu kurz, wie es scheint, um verständlich zu sein - folgendes gemeint:
Das ionische Epos fingiert hier (denn „Sage" wird das schwerlich sein) einen Gegner
des Nestor und bezieht das Namenmaterial für ihn (Ankaios und Pleuron) aus dem
Kreise der „ätolischen" Sagen von der Jagd. Mithin ist dies eine schwache Spur
dafür, daß die ätolischen Sagen irgendwo in Kleinasien lebendig gewesen sind, unter
der Voraussetzung natürlich, daß man das W als kleinasiatisch anerkennt.
86
Soll heißen: obskurer Mensch.
52 Mythologie und Heldensage [1401341 ]

sein, daß die Geschichten notwendig dort in Mittelgriedienland entstanden


sein müßten. Beweist das stinkende Flüßchen am Grabhügel des Nessos
wirklich etwas dafür? Niemand, weder Bethe noch ich, kann entscheiden,
ob dort die ursprüngliche Lokalsage erwachsen ist, oder ob man auf
Grund des fertigen Epos nachmals in der Gegend des ätolischen Chalkis
das Grab des Nessos suchte und fand. Die Dexamenos-Deianeirasage von
Olenos vermag nicht im mindesten die Behauptung zu stützen, daß die
Oineus-Deianeirasage an der gegenüberliegenden ätolischen Küste wurzel-
haft echt sei. Denn wenn ich jene verwickelten Traditionen richtig beur-
teilt habe87, so gehört Deianeira gar nicht ursprünglich nach Olenos, son-
dern ist erst nachträglich und künstlich — durch die Tragödie, wie zu ver-
muten | steht - aus der „ätolischen" Sage in die von Olenos übertragen
worden. Und vor allem wird heut jeder Bethes Schlußargument bedauern,
mit dem er den ötäischen Ursprung der ötäischen Heraklessage beweisen
wollte: „Und hier am lamischen Golf liegt die Stadt Heraklea". Heraklea
Trachinia ist im Jahre 426 gegründet worden88. Wie soll also dieser Name
die Streitfrage entscheiden können, ob man drei- oder vierhundert Jahre
früher bodenständige Heraklessagen in jener Gegend besaß89?
Zuletzt ist es Wilamowitz selber, der der hier gegen ihn vertretenen
These zu Hilfe kommt. Er hatte in seinem Herakles-Werk (Euripides
Herakles, I, 1889, 287; I 2 , 1895, 38) zu zeigen versucht, „was dem
dorischen Volk in den Schluchten des Pindos den Anstoß gegeben hat,
die Herakles-Sage zu dichten". Denn Herakles habe die dorisdien Ein-
wanderer bei ihrem Zuge von Nordgriechenland bis in die Argolis be-
gleitet. Diese Ansicht widerruft Wilamowitz in seinem letzten Werk
( D e r G l a u b e d e r H e l l e n e n II, 1932, 20): „Ich hatte den
Herakles, der sich durch seine Taten den Eintritt unter die Olympier
verdient, einen Dorer genannt und damit in die urgriechische Zeit ge-
schoben. Dies kann nicht richtig sein, denn daß die echten Dorer den
Herakles nicht mitgebracht haben, beweist sein Fehlen auf Kreta, . . .
und der Name Herakles, in dem die Hera steckt . . . Dann ist ihm der
Name in Argos gegeben, was ja auch die Sage voraussetzt." Als Wilamo-
witz dies schrieb, muß er nicht mehr daran gedacht haben, daß zwischen
dieser These seiner letzten Jahre und seinem früheren Herakles-Werk

87
S. ¿ 7 2 in einer Darlegung, die eine Seite lang ist. Bethe behauptet freilich (S. 7 0 1 ) , ich
habe die Sage v o n Olenos ignoriert.
bs P - W R - E V I I I 4 2 j .
89
Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, daß idi die Einführung des Herakles in Böotien
ehedem zu tief datiert habe (S. 56). D a s lehren jetzt die böotisdi-geometrisdien
Heraklesfibeln (Amer. Journ. of Archeol. 1 9 1 1 , 1 ff., es gibt aber mehr, als dort ver-
öffentlicht sind). Sie madien auch wahrsdieinlidi, daß meine Konstruktion irreging,
die den böotisdien Herakles ganz aus dem rhodischen Epos herleiten wollte. Direkter
Einfluß v o n der Argolis her ist wahrsdieinlidi. A b e r daß Herakles kein Böoter w a r ,
dürften gerade die Fibeln wieder beweisen, die eben schon im achten Jahrhundert
durchaus argivisdie Abenteuer schildern.
[341] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 53

mein Budi „ H e r a k 1 e s" steht. Wilamowitz selber hatte ihm in den


P h i l o l o g i s c h e n U n t e r s u c h u n g e n " (Heft X I X , 1907) einen
Platz gegeben, obgleich oder vielleicht weil es gegen ihn gerichtet war.
Ich suchte dort zu beweisen: Die Herakles-Sagen, deren Schauplatz Nord-
und Mittelgriechenland ist, sind spät, sind weithin in Kleinasien geformt
worden. Herakles ist ursprünglich ein Heros der Argolis, genauer der
Heros von Tiryns. Dorthin gehören mitsamt seiner Gestalt einige der
ersten Taten des Zyklus. Dann hat das rhodische Epos — Peisandros,
Peisinos - diesen tirynthischen Heros zu dem Welteroberer mit den zwölf
siegreichen Taten im Dienst des Eurystheus ausgestaltet. Und wahrschein-
lich war es das samische Epos - Kreophylos - , das an das rhodische Epos
anschließend die Tatenreihe im Dienst der Omphale und den Flammen-
tod auf dem Oite-Berge geformt hat.
II

Griechische Literatur
De fine Odysseae

(Retractationes I i )

1929

Finem Odysseae num in versu 296 posuerint Aristophanes


Aristarchusque ea animi intentione disceptare conati sunt viri docti, quae
rei sane gravissimae par est. Tarnen neque Wilamowitzius Schwartziusve
neque mehercle Bethius1 Hermae discrimen rei inde repetiverunt unde
certissime repeti potest: a grammatica. Neque enim usquam apud
Homerum verbis ot (at) piv ejieitci versus concluditur, quin contrarium
sequatur insignitum particulis Sé vel avxag. Sunt autem duodecim
exempla (A 531, H 1 2 1 , M 443, Y 458, $ 383, fì 719, a 106, a 144,
8448, V 1 1 3 , V439, v 160), quibus loci totidem fere addi possunt ita
morati, ut verba oi jièv ehe ita ad initium versus propius accedant. Ne his
quidem locis contrarium illud, quod particula |xév praeparatur, usquam
deest, quamquam in uno exemplo E 409 tam multa variaque sequuntur,
ut paulum obscuretur oppositio. Sermonis igitur Homerici ratione habita
omnino tenendum est conclamato ilio Odysseae loco verba ol |j.èv ejieitoi
eo animo posita esse a poeta, ut verba avzàg Tri?.É[xaxog sequerentur
necessario. Actum igitur est de Alexandrinis, qui - nisi forte artis quam
profitebantur piane ignari erant — ne potuerunt quidem Odysseae ulti-
mum versum ibi ponere ubi nihil finitur, sed aperte transitur.
Quae exposuimus iam alios perspexisse quis miretur? Satis est ad ea,
quae van Leeuwen versui U1 296 adscripsit, legentes relegare. Sed videamus
an argumentationem nostram subterfugere possis verbis ol ¡lèv «tei/ra
leviter mutatis, quamquam coniecturam coniectura fulcire vereor ut
omnibus placeat. At pericliteris cum Kirchhoffio 2 ot 8' cip1 eitEixa, pericli-
teris avtàp eiteua. Respondemus ne sic quidem sermonem vere Homericum
evadere, avzàg emitc» enim plerisque locis, id est fere quadragiens, ponitur
subiecto non mutato. Sin autem tam vehemens subiecti commutatio fit,
qualem hie haberemus, post verba coniciendo posita a-ùxàQ etcitci necessa-
rio expectandum erat ut mariti nominarentur, sicut in T 273 xriQweg, in
I 68 Xaoi nova subiecta diserte ponuntur. ag' ejieitoi vero semper, id est

[Hermes L X I V , 1929, S. 376.]

1
Hermae voi. 63 p. 81.
2
Die Homer. Odyssee $32.
58 Griediische Literatur [376]

viciens, metro secundo tertioque hexametri continetur, velutiftanßr|<jEv8'


ap' ejtEita, "AÖ()t|0tov 8 ' äp' ejieitoi, ev§cih.evos 8 ' äg' Ineita. Neque igitur
verbis oi 8' ag' enena versus Homericus ullus concluditur.

Die hier gemachte Beobachtung ist darum wichtig, weil nicht die
unvermeidliche Subjektivität des Unitariers oder des Analytikers J a oder
Nein sagt, sondern der feste Sprachgebrauch.
Die Analytiker suchen sich dem zu entziehn. Schadewaldt 3 läßt die
Odyssee mit dem Einschlafen des Odysseus enden, also mit ty 343. Die
noch radikalere Analytik Von der Mühlls 4 überläßt dem Uberarbeiter
das oi fiEV EJiEuct und schreibt nur die eine mit äanaaioi beginnende Zeile
dem ursprünglichen Gedicht zu.
Ob man Analytiker ist oder Unitarier, anerkennen muß man, daß
oi |xev ejieitoi . . . aijtaQ (oder 8e) eine feste, altepische Ubergangs- oder
Verbindungsformel ist (A 3 1 2 - 3 1 3 ; A 606-609; ^ 326-328). Ein Uber-
gang also geschieht hier von dem schlafengehendem Paare zu Telemach
und den beiden Hirten. Und dieser Ubergang ist nicht nur sprachlich not-
wendig, sondern auch sachlich.
Das Zubettgehen der beiden wiedervereinigten Gatten zum Schluß
einer alten Odyssee zu machen, oder hier mit den Alexandrinern das
jtEpag oder relog das „Ziel", der Dichtung zu sehen ist hellenistische (und
moderne) Sentimentalität. Romane wie etwa der des Longus oder der
des Apollonios von Tyros enden so. Ein altes Epos kann so nicht ge-
endet haben. Denn Odysseus kommt nicht zu Penelope allein, sondern
auch zu Vater und Sohn, zu seinem Besitz und seiner Herrschaft. Also
auch mit dem Einschlafen des Odysseus ("»f 343) kann keine Odyssee
geendet haben.
Der Vers 297 avräg Tt^.eucixos xai ßouxoXog t)8e außcürrig wird wieder
aufgenommen in 367 uqoe 8e Tr|Xg|iayvov xai ßouxoXov t|8e crußwrriv und
leitet in die Handlung des letzten Gesanges über, in dem dieselbe Dreiheit
wiederkehrt: co 359 und 363. Wie viel von dem letzten Gesang ursprüng-
lich und notwendig ist, soll hier nicht untersucht werden. Daß wenigstens
Strecken des co ein notwendiger Bestand der Odyssee sind, darüber sollten
sich Unitarier und Analytiker einigen, nachdem bewiesen worden ist,
daß ip 295/6 weder das Ende der Odyssee noch ihr itegag oder teXo? jemals
gewesen sind, sondern ein Übergang.

3
Von Homers Welt und Werk 3 4 1 2 . 488. - Neue Kriterien zur Odyssee-Analyse,
Sitz.-Ber. Heidelberger Akademie 1959.
•* P - W R - E »Odyssee* 763 f.
Besprediung:

Altionische Götterlieder
deutsch von Rudolf Borchardt

1926

In Rudolf Borchardts geistiger Stammtafel halten die großen


Humanisten viele Ahnenstellen besetzt. Humanist in dem alten, echten
Sinne des Wortes darf man ihn mit um so größerem Respekt nennen und
muß es mit um so größerem Nachdruck tun, je seltener die Vertreter dieser
Menschenart in dem heutigen Deutschland sind. Borchardt verbindet
weiten geistigen Umblick und ungewöhnliche Redegewalt mit einem
philologischen Können, das manchem Zünftigen anstehen würde. Sein
„Gespräch über Formen" ließ vor Jahren einen Stachel in jugendlichen
Lesern. Seine Schrift über die „Villa" macht uns den Raum lebendig, in
welchem viele virgilische und horazische Verse seitdem für uns klingen.
Sein Brief im „Eranos für HofFmannsthal" (1924) überblickt schicksal-
hafte Jahrzehnte deutscher Geistesgeschichte und nicht zuletzt klassischer
Philologie. Zu seiner Verdeutschung der Germania und einiger Pinda-
rischer Gedichte kommt jetzt die Übertragung der vier großen Home-
rischen Hymnen. Wer diese „Altionischen Götterlieder" in die Hand
nimmt, wird nicht erwarten, eine Durchschnittsübersetzung auf jenem
Wege zu finden, tig xolkovg 5>be xai WÖE tpepei.
Nichts freilich wäre leichter, als aus B.s neuer Übersetzung eine Fülle
von Proben so auszuwählen, daß in dem unvorbereiteten Leser dieser
Zeitschrift der Eindruck von etwas schlechthin Absurdem entstünde.
'EXXOYT) und oüvdeaig övo(.idxa>v, Lautbestand und Flexion sind so fremd-
artig, daß den Referenten gelegentlich Gefühl und Erfahrung dessen,
was in der eigenen Sprache möglich ist und war, verließ und er sich bei
einem Kenner des Altdeutschen und in deutschen Wörterbüchern Gewiß-
heit holen mußte über ruchlos all ihres Jammers (mhd. ruochen — be-
sorgt sein, „ruchlos = negligens . . . so noch vielfach mundartlich erhalten"
Grimm), die hochaujwölbige Schwaige (aiXiov, sweige mhd. = Rinder-
herde, Viehhof, Weideplatz; im Oberdeutschen nach Grimm noch vielfach
gebräuchlich), unserhalb einzustehn ohn ander Hövede forschen (Dem.
163. halb in der alten lokalen Bedeutung, die, im Mhd. verbreitet, im
Nhd. durch außerhalb u. ä. vertreten ist: einstehn = einkehren, seinen

[Gnomon II, 1926, S. 344-349.]


60 Griechische Literatur [344j3457

Dienst antreten; Hövede mit Abfall der Vorsilbe Ge- und mhd. Laut-
form, obwohl das Wort im Mhd. nicht vorkommt) - und manches andere.
Und gar nicht "Weniges gibt es, da boten auch Dialekte und Mittelhodi-
deutsch keinen Anhalt mehr, und man scheint sich zunächst damit ab-
finden zu müssen, daß B. wie als Dante-Ubersetzer so auch hier eine
Sprache sich zurecht geformt hat, oft vielleicht mehr tyrannisch als könig-
lich schaltend. |
Aber wenn man tiefer eindringt - und jedes tiefere Eindringen lohnt - ,
so wird man erkennen, daß der Wille des Übersetzers auf nichts Geringe-
res gerichtet ist als auf einen deutschen Homerstil fern von jener Kon-
vention, die durch Stolberg und Voß begründet in leichter Variation
bis heut gültig ist, ohne dabei die endgültige Form gefunden zu haben
(Stolberg versagte im Metrischen, Voß im eigentlich Dichterischen
durchaus, R. A. Schroeder und Th. von Scheffer spinnen mit mehr oder
weniger Geschick und Geschmack am alten Faden). Diese Konvention
aber, die wir als Knaben mit einem der deutschen Homere uns assimilie-
ren, verstellt später selbst den Lesern des Originals bis zu einem gewissen
Grade das Echte. „Wir lesen", sagt B. im Nachbericht, „keinen Homer,
wenn wir den Homer unserer Väter und den Homer unserer Großväter
lesen". Daß sie diese Konvention durchstößt, nicht kritisch sondern mit
positiver Leistung, darin liegt das große Verdienst der neuen Ubersetzung,
ganz gleichgültig an wieviel Stellen wir vor nicht Gelungenem, ja Un-
begreiflichem stehen.
Während die Stolberg-Vossische Tradition für die Homerische Kunst-
sprache nur eine erhöhte Umgangssprache mit Schmuckwörtern einzu-
setzen hat, will B. eine solche Kunstsprache neu schaffen. Der Augment-
losigkeit entspricht etwa das Fehlen der Vorsilbe ge- in [ge]schwinde,
[gejsessen, [ge]kommen, sogar [Ge]Stell. Dort metrische Dehnung oder
andere Anpassung daktylenfremder Wörter, hier Bildungen wie Silbere-
bogner, zuegenahet. Hier wie dort archaische Formen: solt ( = sollst),
wilt (— willst), Gelücke, unscbädelich; archaische Wörter: weder ( = als),
jehen, Notzog, Jochbaug. Das sind nur einige Kategorien aus vielen und
wenige Beispiele aus Hunderten. Artikel und Personalpronomen sind
eine dauernde Qual für jeden Ubersetzer aus den alten Sprachen. B. bildet
mit Enklisis des „sie": gelangtens, stobens, unterdrückt das „du": Roß
solt tummeln umher — daß heldische Kinder gebarest - der gänzlich Lobe-
sang bist — oder den Artikel: ob du gewahrtest Mann, der solcherlei Kühn
(ßouai) hintnach hie fahren des Weges — Kind trug unter dem Busen -
tider Pronomen und Artikel: waren bald an Hofe.
Dringen wir weiter in das Syntaktische vor, so bemerken wir vor
allem das Bestreben, jene leichtere Bewegung des Griechischen nach-
zubilden und insbesondere jene Freiheit der epischen Rede, die noch
keine rhetorische Schulung hinter sich hat. So sehr die eingeborenen
Kräfte unserer eigenen Sprache sich solchem Bestreben darbieten: hier
[345j346] Altionische Götterlieder 61

droht am stärksten die Gefahr, unverständlich zu werden, und B. ist


dieser Gefahr keineswegs ganz entgangen. Dennoch wird gerade hier der
Vossische Kanzleistil am energischsten überwunden. Wir erwähnen:
Trennung des Attributs vom Nomen (von der schon Hölderlin | reich-
lichen Gebrauch gemacht hatte): Alle dann angetan an den Leib die
schöne Gewandung (navta . . . einata) — Nimmer doch mehr lebendigen
hier Verderben den Menschen Dräust du; flektierte Prädikative: Selbst
nicht immer noch menschliches Bett verschwörende lebe - zum reichen
Gewese des Vaters kommene sagtens — mache dich Reichen —; Inversionen:
und meldet es alles, Wie es ihm Zeus auftrug, der gewaltige Bote Geleits-
mann (eIjtev steht am Anfang mit Wechsel des Subjekts) - Gräßlich und
ganz mühselig und hassen es selber die Götter (xo te (miyEovai öeoi jieq);
Umspringen aus dem Objekt ins Subjekt: Und mit Liebe durchfuhrs
Anchises, sprach und begann so; freien, unliterarischen Partikelgebrauda:
und, aber da, als.
Ein besonderes Kapitel sind die Schmuckepitheta. Auch hier greift B.
abseits von aller Vossischen Tradition zu neuen Bildungsnormen, die
zugleich sehr ursprüngliche sind: Pallas Erschüredenstreit und Artemis
Rühredenbogen — Here Weissarm — Artemis pfeilegemut, des Apollon
Ebengeschwister - die windfußhurtige Iris - der goldenzwieslige Hermes-
[jtaXujüöai; jedoch ist nicht fichtenrauschend, w o die Fichten ein leicht zu
verbessernder Irrtum sind, mit dem Rauschen aber ins Nordisch-Roman-
tische umgebogen wird]. Wir bemerken ferner die eindringliche Fülle,
mit der ßowcoÄiEaxev ßoüg in Viehut hielt über Vieh übertragen wird
[Kaemmerer 1815: führte die Rinder zur Trift, Schwenck 1825: derzeit
Rinder geweidet] oder cpEQEaßiov oiftap ago-up-ry; in sattträchtiges Euter der
Flurmark [statt Kaemmerers fruchttragenden Saaten, Schwencks geseg-
netem Schöße des Feldes], und die Energie, mit der Worte der kultlichen,
ländlichen, rechtlichen, handwerklichen Sphäre, um nur einige zu nennen,
neu erfaßt sind fern von aller Gebundenheit durch das Wörterbuch. Aus
der kultlichen: vr|6g Weih tum [statt des Fremdwortes Tempel, das mit
so vielen ungehörigen Vorstellungen belastet ist], te^evos Weihbann [statt
des so üblichen wie falschen „Haines"], ßco^og Herd [statt Altar], XäßUEg
die Liebreizgebinnen [die Götter werden manchmal mit Hölderlin zu
Heiligen], piva y&Q -uftEÜvaEßag laxavEi avörjv, denn ein Gottehrfürchtiges
bannet die Laute [Schwenck: denn es hemmet Scheu von den Göttern].
Aus der ländlidien Sphäre: Pferch, bärene Schuren, Allmend, Uechtland,
Matten, Schwaige, Brühl. Aus der rechtlichen Sphäre: die Stadtburg recht-
licher Männer (jtxöXig), der Götter Bann (ÖQy.05), die stadtrechtwaltenden
Fürsten, Weistümer (ftE|iiates) [aber der Unsterblichen Dorf erweckt
falsche Vorstellung, da man doch in or/opr] vor allem die Dingstätte hört].
Und diese neue Eindringlichkeit wird besonders in der Dynamik der
Bewegungswörter fühlbar, man bekommt ein neues Empfinden für all
dies Fahren, Schwirren, Sausen, Reißen, Stürmen, Schwingen: aevar' eiti
62 Griechische Literatur [346/348]

Tpoirig stob auf troischer \ Spur [Kaemmerer: strebt er nach Troja hin;
Schwenck: eilte sie fröhlich gen Troja]; aEvaxo ö' <bg oicovog schoß dahin
wie ein Vogel; Eaav|ieva)g f|iisv schwungs hinsauste. Es ist leicht, gerade
hier auch Übertreibungen aufzustechen: exitav^cog öe xata cppEvag ipiegos
eUev (Aphr. 57) reißend durch all ihr Blut übermannte der Drang sie;
HETä cpoEcu TEQjtEio ttmöv (7z) ihr jauchzte das Blut in der Ader; •daußriaaaa
(Dem. 15) sie aber grauste vor Wonne. A b e r der Rezensent wenigstens
muß gestehen, daß ihm erst jetzt die Heftigkeit vieler Bewegungen, die
auf archaischen Bildwerken wiederkehrt, eindringlich geworden ist.
Was hat nun B. im ganzen erreicht? Nicht weniger, scheint uns, als
daß man hier das Jugendliche und Anfängliche der homerischen Gedichte
in deutscher Sprache zu ahnen beginnt. M a n höre auch nur eine längere
Versreihe (Dem. 176 ff.):
Also sie, an Falten gehoben die reizenden Hemden,
Stoben ins hohle Wagengeleis; und um sie die Strähnen
Sausten hinter die Schultern ein Gold als blühte der Safran.
Trafen auch hart an der Straße die Gottheit, da sie noch eben
Blieben war; und also zum lieben Hofe des Vaters
Führeten sies, die aller zuletzt, herzinne bekümmert,
Stieg, vom Haupte hernieder verhüllt, und um ihre hehren
Götterfüße im Gehn erseufzten die finstern Gewände.
[ W o erinnert werden muß, d a ß etaXi^eto nur Bewegung, nicht T o n
ausdrückt]. Oder man vergleiche einmal gegen Ende des Aphrodite-
Hymnus (264 ff.), da w o von den Baumnymphen die Rede ist, B. und
Schwenck (den Schüler Welckers), um zu sehen, wie bei dem Heutigen
das Kanzleihafte, der Wust von Übersetzungswörtern und Flickpartikeln
rein weggewischt ist.
Schwenck:
Und es entsprießen zugleich hochwipflige Eichen und Tannen
Auf der nährenden Erde mit selbigen, wann sie enstehen,
Herrliche, üppig erblühend in ragenden Waldberghöhen.
Doch wann ihnen des Todes Geschick dann endlich gekommen,
Welken die herrlichen Bäume zuerst, absterbend im Boden.
Rings dann dorret die Rind', und herab nun fallen die Äste,
Und es verläßt mit denselben der Göttinnen Seele das Tagslicht.
Borchardt:
Diesen zugleich sind Fichten gekeimt und mächtige Eichen,
Gleich mit ihnen geboren auf all der treibenden Erde
Prachtvoll, strotzender Wuchs, auf Höhen und Halden der Berge. \
Kommt aber ihnen die Stunde Geschicks und endlichen Todes,
Dorren zuerst die irdischen Teil der herrlichen Bäume,
Ringsum schrumpfen die Borken zunicht, es brechen die Äste,
Und ingleichen verläßt ihre Seele das himmlische Leuchten.
[348j349] Altionische Götterlieder 63

In dieser Lust des Erweckens mag hier und da des Guten zu viel
getan sein an „ungewohnter und originaler Fremdheit, an neuer wilder
und harter Farbe" (um B.s Selbstcharakteristik im Nachwort zu zitieren):
erreicht ist doch oft jenes „unschuldig Regellose, geregelt durch keine
analogisierende Grammatik", und wenn auch vielleicht nicht eben dieses:
„die Noch-nicht-Sprache, die sich erst im Blitze der Poesie zur Sprache
bildet", so doch eine Neuheit und Gespanntheit, die diesen Versen für uns
abhanden gekommen war. Und nun frage man sich, was es demgegen-
über ausmacht, wenn nicht selten der Wille zum Ursprünglichen ins
Stammeln führt, das Ferne und Fremde unverständlich wird, beim
„Schollern und Strudeln" der Rhythmen das Gleichgewicht des Verses in
Gefahr kommt. Denn so sehr es zu rühmen ist, wie genau oft die Über-
setzung bis in die feinere Versgliederung, den Bau der v.wXa, das Enjambe-
ment hinein dem Original folgt: wir können es doch nicht für richtig
halten, daß zuweilen die Zäsur ignoriert wird, oder daß die Usenersche
Hexameter-Theorie dazu herhalten muß, häufige rhythmische Über-
ladungen an der Zäsurstelle zu rechtfertigen, da es sich doch in diesen
Hymnen nicht um irgendwelche Urformen handelt sondern um gebildete
Verse.
Aber wie gar nichts Ungewolltes hier ist bis in das hinein, was uns
als Übertreibung erscheint, lehrt, wenn man es sonst nicht merkte, das
rechtfertigende „Nachwort", aus dem wir schon mehrmals Sätze aus-
gehoben haben. Dieses Nachwort gibt nichts weniger als eine „Text-
geschichte" der Hymnen, mit dem Bewußtsein, daß jeder solcher Versuch
bestenfalls eine Näherung an das Wahrscheinliche ist, in der Absicht,
durch diese Betrachtung rückwärts zum Ursprung durchzudringen und
damit zu dem, was diese Dichtungen für die heutigen Menschen allenfalls
bedeuten können. Der Laie wird hier ein einziges Mal Textgeschichte als
geistiges Schicksal erfahren. Der Philologe wird dieses Bild mit Spannung
betrachten und für manche Formulierung auch im einzelnen dankbar sein:
die Orphik [deren Posten in der Gesamtrechnung freilich überschätzt ist]
„nicht eine Theologie, wie man es genannt hat, sondern eine endemische
Selbsttrübungssucht des hellenischen Klarheitsorgans"; der Dichter des
Apollon-Hymnus kein Chiot, weil er in Chios sich „wohnend" nennt
[aber ist wirklich die Blindheit Homers nur aus dieser Stelle heraus-
gesponnen?]; die byzantinische Hymnensammlung den Zauberer Homer
neben dem Zauberer ] Virgil repräsentierend [aber die byzantinische
Subskription öevqi jtepag Xd/e tö>v eij öainova; fiavcov "O(ir|g0D ist (S. 75)
mißverstanden, sie meint ein hic explicit]. Zenodot und Aristarch hatten
„die unvorstellbar ungeheure Aufgabe, die Grundgesetze des gewissen-
haften Lesens . . . zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit, und
für alle Ewigkeit, an einem Objekte ersten Ranges zu erschließen und
folgestreng darauf rückanzuwenden". Wilamowitz hat „mit glänzendem
Scharfsinn die Nebelbilder der homerischen Apokryphen-Atmosphäre in
64 Griechische Literatur [349]

Geschichte verwandelt". Man merkt, wer es ist, der in diesem Nachwort


die ganze Zeitenweite überblickt, seit diese Hymnen „am eleusinischen
Markt und auf peloponnesischen Festfreiungen oder auf dem delischen
Klippenrande, zwischen schweren bunten Tempeln, vor Urvölkern,
Ionern in langen Ärmelhemden, Ionerinnen mit steilen Korbhüten, die
Ohren voll Goldschnecken, glühend blaue Ketten eng um den Hals, ge-
sungen worden sind", bis zu unserer „wissensüberhäuften und wissens-
müden Zeit", für die „der Weg, auf dem es uns gelänge, des Wissens frei
zu werden, nicht um das Wissen herumführt, sondern mitten hindurch".
Mit alledem sichert der Verfasser sich die Bahn für seine Aufgabe, die er
als eine Aufgabe deutscher Bildung sieht.
Eine Übersetzung, je mehr sie wie diese die ausgetretene Mitte ver-
meidet, rührt in jedem Augenblick an ihre eigene Grenze, an der das
Problematische alles Ubersetzens immer von Neuem fühlbar wird.
Gewächs ihrer Zeit und Schöpfung zugleich ist die Homerische Kunst-
sprache, die Borchardtsche ist mit Notwendigkeit nur das eine. So be-
kommt sie einen Zug nicht nur von Fremdheit sondern oft von Gewalt-
samkeit, den das Original nicht hat. Aber vielleicht ist es in der Ordnung,
daß eine Übersetzung fremder klinge als das Original, da sie es doch in
eine fremde Welt hineinstellt? Aber vielleicht mußte Borchardt das Neue
zunächst einmal in überstarker Modellierung ausdrücken? Oder rühren
wir über das Allgemeine hinaus an die eigene Grenze einer hohen
Begabung, die der Charis mit immer strebendem Mute abzuringen sich
müht, was die Götter nicht freiwillig gewähren? Eine Antwort zu geben
erscheint uns vermessen, ebenso wie, mit einer Zensur zu schließen oder
die Blätter abzudrucken, auf denen wir uns mancherlei Irrtümer der
Übersetzung notiert hatten, Schulmeisterei wäre gegenüber einer außer-
ordentlichen Leistung. Wir können ihr nur durch eigene Arbeit ent-
sprechen, nachdem wir innerhalb unserer Wissenschaft diese Gedichte
uns fast aus den Augen haben kommen lassen.
Prometheus - Pandora und die Weltalter bei Hesiod

1912

Das Iapetidenstemma der Theogortie verarbeitet vier Prometheus-


geschichten: die Opferätiologie, die „Heilbringersage" des Feuerraubes,
die Strafe, die Sendung des Weibes. Alle diese Geschichten sind vor-
hesiodisch, was bei der vierten schon die kurze Einführung (513/4) ergibt.
Daß Hesiod an ihnen geändert hat, zeigt die tendenziöse Umgestaltung
bei dem Streit in Mekone. Dem systematisierenden Denker gehören auch
mindestens zum Teil die kausalen Verknüpfungen. Hesiod hat diese
Geschichten in den Erga (47 ff.) mit deutlichem Anschluß an die Theogonie
noch einmal verwendet, zu ganz anderem Zweck: um das Dasein von
Mühsal und Arbeit (itovog) auf Erden zu erklären. Neu ist insbesondere
der Name Pandora und das Motiv des Vorratsgefäßes, das sie öffnet.
Beides hat Hesiod nicht etwa in der Theogonie weggelassen, sondern in
den Erga hinzugesetzt. Das ergibt sich schon aus kleinen Rissen: 1. Das
Weib hat in den Erga eine Doppelstellung, einmal als „schönes Übel"
(57/8) das Prototyp der Weiber überhaupt zu sein wie in der Theogonie
(585 ff.), dann aber das Faß zu öffnen und die Übel herauszulassen.
2. Man erwartet, daß das Vorratsgefäß einheitlichen Inhalt habe, wie
die Fässer des Zeus bei Homer (xaxröv etego? öe eatov Q 527/8), während
hier die Übel, die sich dann unter den Menschen verbreiten, eingeschlossen
sind mit der Hoffnung, die den Menschen durch das Zuschlagen des
Deckels entzogen wird, also ein Gut sein muß. Entscheidender aber ist,
daß sowohl der Name Pandora als auch das Motiv des Pithos unab-
hängig vorkommen. Pandora, die All-gebende, ist ein Name der Erdgöttin
(Hipponax, Aristophanes, Grammatikerzeugnisse). Warum Hesiod das
„Weib" nachträglich so genannt hat, ist nicht sicher. M ö g l i c h wäre,
daß schon vorher Prometheus oder auch Epimetheus (der vorhesiodisch ist,
also allegorisierende Poesie vor Hesiod beweist) die Erdgöttin Pandora
zur Gemahlin gehabt hätte. Deukalion, der erste Mensch, heißt Sohn des
Prometheus und der Pandora (Hes. fr. 2), Pyrrha Tochter des Epimetheus
und der Pandora (Apollodor), und auf der Vase im Journ. of Hell.
Stud. X X I T. 1 steigt P. aus der Erde zu Epimetheus empor. Sicherer ist
über die Einfügung des Pithos-Motivs zu urteilen. Daß es ursprünglich
selbständig war, unverbunden mit dem „Weibe" oder mit „Pandora",
beweist besonders die Notiz bei Philodem (:t. Evosß. 130), | nach „einigen"

[Zeitschrift für das Gymnasialwesen L X V I , 1 9 1 2 , S. 802-803.]


66 Griechische Literatur [803]

habe Epimetheus das Faß geöffnet, und die Fabel j8 des Babrios. Hier
steht das Faß bei „dem Menschen", alle Güter enthaltend. Er öffnet es
aus Neugier, die Güter fliegen davon, die Hoffnung bleibt als einziges
Gut den Menschen erhalten (ähnliche Vorstellung Theognis 1 1 3 5 ff.).
Hesiod hat dies bewußt umgestaltet und mit den andern Geschichten ver-
knüpft. (Dieser Abschnitt präzisiert die Ausführungen in Herakles, Philol.
Untersuch. X I X 39 ff.)
Der Mythos von den Weltaltern soll gleichfalls das Dasein des novo5
„historisch" erklären. Die j Geschlechter bilden eine einheitlich ab-
steigende Entwicklung, auch das dritte ist gegenüber dem zweiten gerin-
ger (144). Nur das vierte ist ausdrücklich herausgehoben (158): die Heroen
von Theben und Troja. Ein Nebenzweck ist die Dämonologie. Sie geht
insofern der Zusammenhang des ganzen Gedichts nahe an, als diejenigen,
die bei Lebzeiten das goldene Geschlecht bilden, später die drei(ßig)-
tausend Dämonen sind, die über Recht und Unrecht auf Erden wachen
(123-5 ~ 253-5). Die Analyse lehrt, daß das vierte Geschlecht, weil es
die absteigende Reihe unterbricht und keinen Metallnamen hat, nicht der
ursprünglichen Konzeption angehören kann. Aber auch das dritte weist
über diese hinaus, da ersichtlich die Vorstellung von dem Bronzezeitalter,
das unserer Eisenzeit vorhergeht (150/1), hier maßgebend ist. Daraus
ergibt sich eine gewisse Wahrscheinlichkeit für einen vorhesiodischen
Zustand der Sage, der nur 3 Geschlechter gekannt hätte, Gold, Silber,
Eisen, und der entwickelt worden wäre aus dem noch ursprünglicheren
Gegensatz der goldenen Zeit und der schlimmen Gegenwart. Diese drei-
gliedrige Form läßt sich jetzt nachweisen, seitdem das Prooemium zu
Babrios, das in der bisher bekannten Fassung die 5 Geschlechter in
genauem Anschluß an Hesiod aufzählte, in ursprünglicherer Form ge-
funden worden ist (Papyrus Bouriant bei Croenert, Kolotes und
Menedemos 160:

YEver] öwatcov fjv tö jiqwtov avftgcojicov,


a> Bßdvx6 t&wov, i)v xaXofiai xt?vaeir|v.
lieft' fjv YEveaöai tpaaiv äQYUQrjv SAAiyv.
tqitt] 5'dit' atitcöv eqiEV f) oiöriQEir)).

Diese Dichtung von der fortschreitenden Verderbnis des Menschen-


geschlechts aus dem goldenen durch das silberne in unser eisernes Zeit-
alter hat Hesiod übernommen und erweitert, wobei ihn insbesondere
„historische" Erwägungen auf die Fünfzahl führten. (Dieser Abschnitt
richtet sich z. T. gegen die Ausführungen Eduard Meyers im Genethliakon
1910-)
Daß Babrios gleich zwei ursprüngliche, von Hesiod umgestaltete
Sagen bewahrt hat, festigt das Ergebnis. Dafür, daß solche Geschichten
vom Ursprung des Menschengeschlechts sich, auch ohne den Weg über
Hesiod zu nehmen, bis in späte Zeit erhalten haben können, gibt die
[803] Prometheus-Pandora und die Weltalter bei Hesiod 67

schöne Fabel vom Kräutlein Unsterblichkeit, das den Menschen verloren


geht, einen Beweis. Obgleich Hesiod sie nicht aufgenommen hat, ist sie
gewiß nicht jünger als die andern Geschichten, da sie bei Ibykos, Deino-
lochos und Sophokles vorkam. Uns ist sie nur bei Nikander Ther. 343 ff.
ni. Schol. und bei Älian Nat. An. V I j 1 überliefert.
Das Proömium der Theogonie

1914

Das Proömium der Theogonie gehört zu den umstrittensten Stücken


altertümlicher Dichtung. Die Widersprüche, die Unordnung, das zwei-
und dreifache Vorkommen derselben Motive scheinen es zu verbieten,
daß man hier die einheitliche Schöpfung eines Verfassers erkenne. Zwei-
mal erklingt der Aufruf Mouaacov dg/„(D^E-&a (1. 36), zuerst sind es die
helikonischen, das zweite Mal die olympischen Musen, an die er sidi
wendet; viermal singen die Musen (10. 43. 65. 70), und als ob das noch
nicht genug wäre, so werden sie ein fünftes Mal zum Singen aufgefordert
(104); jetzt tanzen sie auf dem Olymp, dann scheinen sie erst dorthin
zu ziehen (6z ff. 68); von der Gegenwart springt die Rede unvermittelt
in die Vergangenheit über (2. 7) - um nur einige Hauptanstöße zu nennen.
So wird denn heut kaum ein ernsthafter Versuch gemacht, das Ganze
als Einheit zu begreifen, und bis in die neueste Zeit hört man behaupten,
daß solche Auffassung schlechterdings unmöglich sei1. Wenn hier die ent-
gegengesetzte These vertreten wird, so liegen dem zwei allgemeine
Erwägungen zugrunde: erstens ist uns gerade bei Hesiod das Wider-
spruchsvolle seines Denkens und die Unvollkommenheit seiner Form,
besonders an den Erga, aber doch auch an der Theogonie so deutlidi
geworden, daß es sich hier noch unangebrachter als anderwärts erweist,
absolute Maßstäbe und moderne Forderungen von Einheit und Ordnung
an ein Kunstwerk ferner Zeiten heranzubringen. Und sind solcher Art
nicht | eben die Maßstäbe und Forderungen, mit deren Hilfe man auch
das Proömium der Theogonie zerrissen hat, ohne die methodisch not-
wendige Vorfrage zu stellen, ob man denn mit rechtem Maß messe? Das
zweite aber ist dies: niemand wird leugnen, daß der Bestand der Theogo-
nie seit, sagen wir, 500 im wesentlichen fest war und das Proömium von

[Hermes X L I X , 1 9 1 4 , S. 1 - 1 6 . ]

1
Z . B. Pasquali in den X ä g u e g , Fr. Leo dargebracht i i 4 s ; A l y , Rhein. Mus. L X V I I I ,
1 9 1 3 , 2 9 : „ E s ist völlig ausgeschlossen, daß ein Rhapsode jemals die ersten 1 1 j Verse
der Theogonie so vorgetragen habe, wie w i r sie heute lesen." Idi nehme aber auch
von. der Anmerkung N o t i z , in der zugestanden wird, daß die Anordnung „so ganz
confus nicht sei", und daß sich eine A r t „Scheinzusammenhang" auffinden lasse. Über
die zahllosen Hypothesen der Früheren gibt eine Übersicht Puntoni in der Rivista di
filologia X X , 1 8 9 2 , 369 fr. - W i l a m o w i t z , Die Ilias und H o m e r ( 1 9 1 6 ) , Beilage 4.
„Meine Absicht ist, das Proömium als echtes Werk Hesiods zu erweisen, indem ich
es e r k l ä r e . . . "
im D a s Proöroium der Theogonie 69

da ab durch das ganze Altertum als Einheit gelesen worden ist. Dann
kann es naturgemäß keine bloß willkürliche und zufällige Anhäufung
verschiedener Prologe und Prologstücke sein, sondern es muß sich selbst
in der Klitterung (wenn es denn eine wäre) noch der Plan aufdecken
lassen. Ich selbst meine, daß ich den Bauplan des Hesiod darlegen werde.
Sollte ich darin irren, so würde immerhin das Princip erwiesen sein,
nach dem jener hypothetische „Rhapsode" aus älteren Werkstücken das
große Proömium aufgebaut hätte2.
Wenn irgendwo eine Athetese erheblicheren Umfangs auf ihre Stich-
haltigkeit geprüft werden soll, so muß man die Stelle der neuen Naht
ganz genau untersuchen. Ergibt sich dann, daß die Verknüpfung, wie
der überlieferte Text sie bietet, schärfer, feiner, inniger ist als nach der
kritischen Operation, so ist die Athetese als falsch erwiesen. Nun steht
vor dem eigentlichen Anfang der Theogonie nach der Überlieferung eine
propositio thematis ( 1 0 5 - 1 1 5 ) in der Form, daß die Musen aufgefordert
werden, das und das zu singen, und diese propositio klingt in die Worte
aus: „Dies sagt mir und beginnt mit dem, was zuerst entstand!" Fast
echoartig hebt danach das Gedicht an (116): „Zuallererst entstand das
Chaos." Kann es ein fester verknüpftes Gefüge geben, und sollte man
hier nicht das echte Gefüge vor Augen haben? So hat denn Otfried
Müller 3 , der das ganze Proömium in 5 Stücke zerlegte und das erste, dritte
und fünfte verband, wohlweislich diese Ankündigung vor dem Beginn
des Gedichts stehen lassen. Ellger4 hingegen, dessen scharfe Schlüsse heut
noch die meiste Nachfolge finden, will den ganzen | zweiten Teil des
Proömiums von 3 6 - 1 1 5 athetiren, so daß dem Gedichtanfang unmittel-
bar vorausginge: „Die Musen hauchten mir die K r a f t der Poesie ein und
hießen mich die Götter besingen und sie selbst am Anfang und am Ende.
Aber was rede ich davon? - Zuerst entstand das Chaos . . . " Ein Pro-
ömium, welches nicht auf den Anfang des Werkes hinführt, sondern sich
so weit verirrt, daß der Verfasser ausdrücklich abbrechen und das Werk
unvermittelt beginnen muß, widerspricht dem Wesen des Proömiums.
Dies aber ist der Tatbestand in der Ellgersciien Construktion, während
die Überlieferung einen so vortrefflichen Übergang bietet, wie nur je
einer vom Proömium zum Gedicht gemacht wurde. Damit ist für jeden,
der den vorher aufgestellten Grundsatz billigt, entschieden, daß die
propositio thematis i o j - 1 1 5 vor dem Anfang des Gedichts stehen
bleiben muß.

2
D e r wichtige A u f s a t z von Robert in den Melanges N i c o l e 4 6 1 ff., w o der innere
Zusammenhang der Theogonie nachgewiesen wird, scheint nicht allgemein genug
bekannt zu sein, weshalb ich hier auf ihn hinweise. In nicht wenigen Einzelheiten
weiche ich freilich ab.
3
Kleine deutsche Schriften I 4 3 0 ff.
4
D e prooemio Theogoniae, Diss. Berlin 1 8 7 3 . D i e Zusätze zu dem Proömium der
Hesiodischen Theogonie, Wissensch. Beil. des Sophiengymn., Berlin 1 8 8 3 .
70 Griechische Literatur

Diese propositio wird eingeleitet durch den Vers (104):


XaiQETE texva A105, öote 8' i(xepÖ£oaav äoi8r|v.
Unmöglich kann das, wie behauptet worden ist, der Anfang eines selb-
ständigen Proömiums sein5. Denn -/.cuqste heißt, um es kurz zu sagen,
„lebt wohl!" 6 und jedermann weiß, daß in dieser typischen Form die
Dichter der homerischen Proömien und anderer religiöser Hymnen von
der angerufenen Gottheit Abschied nehmen. In der homerischen Samm-
lung gibt es fast kein Stück, welches von dieser Regel abwiche, so daß
man die Belege sparen kann. N u r der Helioshymnus ( X X X I ) sei her-
ausgegriffen, weil dort dem Abschiedsgruß noch eine ausdrückliche An-
gabe des Themas folgt, ebenso wie bei Hesiod xaipe, «va|, jigocppcav 8e ßiov
fti)fir|@E' oita'^E. ex <JE0 8' dgläuevog y.A.r)iaco ¡ieqojwdv yevo5 dv8gcöv fmidecov,
wv egya fteoi ftvTitoiaiv EÖEi|av.
Nur ein einziges Beispiel gab es, daß ein Götterhymnus mit /cuqe
anfing - eine Ausnahme in jedem Sinn: Sokrates soll „nach einigen" im
Gefängnis einen Päan gedichtet haben, so berichtet Diogenes Laertius
(II 5, 42) und citiert den Anfang: Ar)Xi' "AitoUov xa^e xai "Agtenig
ioxEaiQa. Sokrates nimmt Abschied von der Welt und auch von den
Göttern dieser Welt. Das ist der einzige Hymnus, der mit dem Abschieds-
gruß beginnt.
Der typischen Schlußform mit xalgt entspricht eine typische | Anfangs-
form, die entweder eine Aufforderung enthält: i5|ivei, EWEitE,deiaEo, ag/Eo,
oder eine Aussage: |j.vf]aou.ai, an/ofi' aEiSeiv, äsiaonai. So in den homeri-
schen Hymnen durchaus, so auch in dem Hestiahymnus des Aristonoos 7 .
Wir brauchen nicht lange zu suchen, um bei Hesiod ein dem xcüqe ent-
sprechendes otQxüVE^a zu finden; gleich zweimal drängt es sich uns ent-
gegen in V. 1 und V. 3 6. D a nun jene homerischen Hymnen unmöglich
alle von dem einen Hesiod abhängen können, mögen auch noch so viele
unter ihnen jünger sein als er, so ergibt sich, daß dem Proömium der
Theogonie eine überlieferte Form ihr Gesetz diktiert. Daraus entsteht
uns die Pflicht, zu prüfen, ob auch sonst die typischen Motive der Pro-
ömien in dem Prolog des Hesiod nachweisbar sind. Und zwar sei mit der
zweiten Anrufung (V. 36) begonnen, nicht als ob das sachlich mehr be-

5
S o A l y a. a. O . 28 nach dem V o r g a n g Anderer (Schömann, D i e hesiod. Theogonie
296 f.).
6
Ich ändere daran auch nichts nach den Darlegungen von Ziegler, Rhein. Mus. L X V I I I ,
1 9 1 3 , 3 4 6 ff., zumal hier auf die Begriffsfülle und -färbe nichts ankommt. Ich möchte
aber gegenüber der von Ziegler vorgetragenen Ableitung zwei Fragen stellen: erstens,
wie es kommt, daß dieses xoüö® immer am Schluß steht; zweitens, w a r u m nie ein
D a t i v oder ein ejti dabei begegnet, während in den von Ziegler beigebrachten Bei-
spielen, w o es sich um den Abschiedsgruß n i c h t handelt, solche Bestimmung nie-
mals fehlt.
7
Fouilles de Delphes I I I 2 nr. 1 9 2 . Berl. Philol. Wodienschr. X X X I I 1 3 9 4 . A n f a n g
¿'[xvTjaouev, Schluß xatge.
[415] D a s Proömium der Theogonie 71

rechtigt wäre, sondern allein darum, weil es für den Gang der Unter-
suchung zweckmäßiger scheint.
Dem Aufruf aexwnsfta folgt eine preisende Schilderung dessen, was
die Musen tun. Sie singen; davon erklingt der Palast des Zeus und der
ganze Olymp. Und was singen sie? Erstens die Entstehung der beiden
Göttergenerationen, zweitens den Zeus, drittens von den Menschen und
den Giganten. Das ist nicht etwa eine Inhaltsangabe des später folgen-
den Gedichts, die uns zu Schlüssen über dessen ursprünglichen Bestand
und Umfang berechtigte 8 . Sondern das ist eine kurz stilisierte Andeutung
der Stoffe, über welche die Musen oder auch die Dichter verfügen: Theo-
gonie, Hymnen, heroisches Epos. So ergibt sich von V. 36 bis 51 eine
unantastbare Einheit. Man muß sich nur nicht daran stoßen, daß der
Dichter zwar einer allgemeinen Ordnung folgt, aber doch keineswegs
straff disponiert und dieselben Dinge, wenn sie sich ihm neu aufdrängen,
oder wenn sie etwa zum Fortspinnen des Gedankens von neuem zweck-
mäßig erscheinen, mehr als einmal vorbringt: von der Wirkung des Ge-
sanges hört man dreimal in teilweise wörtlicher Ubereinstimmung (37.
40. 51), der Inhalt wird zweimal angegeben, zuerst allgemein (38), dann
in genauerer Gliederung (44 ff.). Der scheinbare, teils auch wirkliche
Mangel an klar geordnetem Aufbau, der im großen fühlbar ist und
dort so viel Anstoß erregt, läßt sich auch in diesem kleinen Teile nicht
verkennen. Das ist archaischer Stil, den man verstehen lernen muß. ]
Den eben besprochenen Absatz, der den allgemeinen Preis der Musen
enthält, hat der Dichter mit dem Aufruf dpx<i>|xsfra durch ein Relativpro-
nomen verknüpft. Das ist eine Bildung, wie sie fast in jedem homeri-
schen Hymnus, aber auch in zahllosen Gebeten wiederkehrt'. Zweierlei
kann mit dem Relativum angeschlossen werden, einerseits eine allge-
meine Schilderung von dem Sein der Gottheit, eine Beschreibung ihres
regelmäßigen Tuns, eine Hervorhebung dauernder Wesenszüge - ( I I I )
Mvr]oo[iai oviÖE Xce0<j}|j.ai 'AjtöXXwvog ev.octoio, ov te ftsoi v.atd 8cö|xa Aiög tqo-
liEouaiv iovxa — (Aristonoos 10 ) 'Eatiav ij|ivr|cro^£v, a . . . vaöv av Ieqöv $oißou
•/oqsiieic - andererseits ein epischer Bericht von Geburt, Epiphanie oder
irgendeinem Vorgang aus dem Leben des Angerufenen — (II) AruxriTQa
. . . äo-/.o(j,' deiÖEiv avxr\v f|8e iHiyaxga ... iyv 'AiöcovEiig i^Quaas — (XVI)
'Aay.Xr|itiov äp/ojj,' aeiöeiv . . . töv eveivato 5ia Koncovig. Hesiod hat zunächst
die Prädikation des Wesens, nicht den epischen Bericht. Und hier ist nun
der homerische Artemishymnus ( X X V I I ) so ähnlich bis in die Einzel-

8
Ellger, Programm j , A l y a. O . 27.
9
V g l . N o r d e n , Agnostos Theos 1 6 8 ff. Die Breslauer Dissertation von Stenzel D e
ratione quae inter carminum epicorum prooemia et hymnicam Graecorum poesin
intercedere videa,tur ( 1 9 0 8 ) geht auf die Frage der Gesamtcomposition und auf
Hesiod kaum ein.
10
W i l a m o w i t z , Griechische Verskunst 4 9 6 f .
72 Griechische Literatur [516]

heiten, daß es sich lohnt, einige Stellen zum Vergleich auszuschreiben.


(Hes.): y.at Ali naTQi üirvEÜaai teqjtoucr vöov — ( X X V I I ) : r| xaT5 öqt| oxioevto
. . . ayQrji teQjto(xEvri nayxgvaza to|a Tixaivei. Beide Male folgen noch ein
oder mehrere Participien zur genaueren Ausführung, Hes.: eigeioai (?)
toi t* sövxa ta x' eaoojXEva jiqo t ' eovra, cpamii öuriQgCaai — ( X X V I I ) : itE[i-
itouaa atovoEvta ßeXr], Dann hier wie dort die Wirkung auf die Umwelt,
(Hes.): yeXcu Ös te öoj|j.axa jiatgöq . . . t)xei he xa£>r| vicpösvxog 'OMfuiov —
( X X V I I ) : tqo^eei 5e xapr|va {)i[)r|Xäiv öqecüv, ür/si 6' eju öaaxiog i5Xrj. Bei
Hesiod singen sie dann: at b' außgoTov öoaav lEiaai öecöv yEvog xifWEvaiv. Im
Artemishymnus geht die Göttin zu ihrem Bruder Mouawv xai Xagitüjv
xaXöv yoQov doxiiveouaa, und von diesen nun heißt es: at 8' außQoairivon' lEioai
i)|xvECaiv Ar]tw xaUiacpuoov. Die Ähnlichkeit ist bisweilen so stark, daß
man an unmittelbare Beeinflussung und dann doch gewiß Beeinflussung
des homerischen Hymnus durch Hesiod denken könnte. Aber notwendig
ist das nicht, und die allgemeine T y p i k konnte auch in so genauer Durch-
bildung schon beiden vorausliegen. |
Bemerkenswert ist nun aber weiter, was die Musen und Chariten im
Artemishymnus singen: sie preisen die Leto, wg texe nai5ag ¿ftav&Tcov
ßoiAfji te xai EQYM-aai,v e|ox' äQiaxoug. Also die Geburtsgeschichte klingt
herein. Und ähnlich im Panhymnus ( X I X ) . Auch hier wird der Gott
eingeführt in den Bergen tanzend und singend mit der Nymphenschar.
Und was die Nymphen singen, das ist wieder die Geburtsgeschichte des
Gottes (27 ff.). Wir sahen vorher, daß in der typischen Relativverbindung
entweder allgemeiner Preis oder epische Erzählung gegeben werden kann,
und daß diese epische Erzählung mit Vorliebe die Geschichte von Erzeu-
gung und Geburt umfaßt: wie der Gott den Menschen geschenkt ward.
In den Hymnen auf Pan und auf Artemis sehen wir ein kunstvolleres
Gefüge: da wird Geburtsgeschichte und allgemeine Schilderung verbun-
den, aber nicht die eine der andern einfach angereiht, wie es an sich wohl
denkbar wäre, sondern die Geburtsgeschichte wird hineingenommen in
die allgemeine Schilderung, indem die Musen auftreten und nun singen
müssen, was in älterer Form der Dichter selbst zu berichten pflegte.
Bei Hesiod findet man der allgemeinen Prädikation gleichfalls die
Geburtsgeschichte angefügt, aber nicht eingefügt wie in jenen entwickelte-
ren Erzeugnissen, sondern erst die eine, dann die andere. Und jetzt wird
deutlich, was die seltsame Wiederholung 51/2 fyveiaai xegnouai Aiög voov
evTÖg 'OWtutou Moiaai 'OAufxjtiäöeg xoügai Aiög 01716x010 nach 36/7 bedeutet.
Die Verse dienen als Scharnier, das es ermöglichen soll, ein neues relati-
visch oder quasirelativisch eingeleitetes Stück, die Geburtsgeschichte, an-
zufügen: tag ev üiEQirii Knoviör|i texe itaTpi [iiYEiaa Mvti|j.ooijvt). Wenn mit-
hin die meisten Hymnen ausführlich entweder nur die Schilderung des
Wesens oder den epischen Bericht bieten, und wenn sich daneben in einigen
Fällen die Geburtsgeschichte kunstvoll mit der Schilderung des Wesens
verflochten fand, so steht Hesiod gleichsam in der Mitte. Er gibt sowohl
Das Proömium der Theogonie 73-

die Schilderung als auch die Geburtsgeschichte, aber er reiht die eine in
primitiver Weise an die andre (Mouadcov . . t a t Ali itaxpi v|xvevaai tegutouat,
voov — MoCaai. . tag EV üiegirii Kgoviör|i T E X E ) .
D i e Geburtsgeschichte selbst hat ihre genaueste Entsprechung im
Hermeshymnus, tag EV IIiEQir]i Kgoviör)i TEXE itaxoi niyEioa MvT||ioawr| ~ ov
TEXE Mala vi)|j.cpTi EtmX6xa[K>g Aiög ev cpiXöxrixi niYEiaa. || ewea yaQ oi v u x x a g

E^iavETO |xr|xiExa Zeug voaqpiv an' | Mav&xtov ~ K Q O V I C Ü V vviixcpr)I EUjiXoxanon


[AiaysaxETO vuxTÖg ä[xoX7(bi . . . Xr]frcov aftuvdxoug. || all' bxe 5r) Q eviauxog 11
ET|V, JtEQl 8' EXQCUtOV WQai ¡J,T|Vüjv CpÖLVOVXÜJV . . . f| 5' EXEX' EWECt XOUQdg
öjiocpQovag ~ Ä X X ' ÖTE ÖF| [XEYOCXOIO Aiög vöog E ^ E T E X E I T O , TRJI 8' rj8r| öexaxog neig
oilßavcöl E(7TT|QlXTO . . . XCU TOT' EYEIVOITO Jtaiöa JtC)XlJXQOJlOV.
Es begreift sich, d a ß in dem Augenblick, da die Geburt des Gottes
erzählt w o r d e n ist, das Wesen des jetzt der W e l t Geschenkten sich v o r
den Blick des Schaffenden drängt. Es gibt also z w e i Stellen, an denen v o n
diesem Gegenstand die R e d e sein kann, gleich im Beginn und dann im
Anschluß an die Geburtsgeschichte. D a nun kein G e d a n k e an strenge
Disposition den Dichter beengt, so setzt er an beiden Stellen, w a s ihm
eben einfällt. D a h e r nennt er z. B. im Hermeshymnus ( I V ) den G o t t z u
A n f a n g Aiög xai Maiaöog uiöv, KuXXr)vr|g [AEÖEOVTOI xai 'Agxaöirig JIOXU|XT)XOU,
aYY£Xov äftavaxü>v EQIOIIVIOV, nach der E r z ä h l u n g v o n der G e b u r t jioXüxpojtov,
at(j.uXo|xf|xriv, Xri'iaxriQ', tXaxfjpa ßotov, r)YT)X0Q' ÖVEIQCÜV, vuxxög öji(D;tT|TfjQa,
JXUXT|86XOV, og xay' EHEXXEV ajwpavEEiv xXuxa egya |I£x' äftavaxoiai öeoloiv. W e n n
sich hier die beiden Charakteristiken ergänzen, so ist in archaischer Poesie,
die nur dem Augenblicke mit aller K r a f t lebt, ohne das G a n z e v o n einem
P u n k t e aus überschauenden Blickes zu organisieren, sehr begreiflich, d a ß
an beiden Stellen g a n z ähnliches bis z u wörtlicher Übereinstimmung
gesagt w e r d e n kann. D a f ü r ist der P a n h y m n u s ( X I X ) besonders bezeich-
nend, dessen Dichter zu A n f a n g den G o t t schildert als alYiJt68r)v, öixeguxa,
(piXoxQotov, og T äva iucrr| 8ev8pr)evT' ä^vöig cpoixäi xopori^EOi vu|i.q>aig und
gleich nach der G e b u r t mit fast denselben W o r t e n TEXE 8' EV IXEYOIQOIOIV
'EpixEirii tpiXov mov acpap xEoaxconov LÖEadai, aiYUtoöriv, SixEpcoxa, jioXiixQoxov,
i)8uYEX(i>Ta. So w i r d es denn niemanden mehr v e r w u n d e r n , d a ß im H e s i o d -
proömium der Geburtsgeschichte eine Schilderung des Wesens nicht nur
vorangeht, sondern auch folgt, und d a ß sich die beiden Schilderungen,
in denen natürlich v o m Gesang der Musen die R e d e | sein m u ß , vielfach
berühren, ohne doch einander so nahe zu k o m m e n w i e im Panhymnus,
und ohne einander so z u ergänzen w i e im Hermeshymnus. Diese z w e i t e
Schilderung, die sich mithin gleichfalls als typisch ergibt, u m f a ß t die

11 Gruppe, Über die hesiodisdie Theogonie 31, und Ellger, Programm 8, athetiren V. 5 8/9,
weil die Nennung des vollen Jahres dem Naturgesetz widerspreche. Aber es ist kaum
zweifelhaft, daß die Stelle vielmehr als wichtiger Beleg den bekannten Beispielen
anzureihen ist, w o eviavxo5 noch nicht = exog ist, sondern allgemein einen bestimm-
ten Zeitraum bedeutet.
74 Griechische Literatur [819]

Verse 60-67 1 2 . Sie sind formal unentbehrlich. Denn die seltsame Ordnung
der Satzteile in 60-62, w o die Ortsbestimmung T U T Ö O V DJT' DXQOTATRIG
xoQuqpfjs vicpÓEVTog 5OXi)|iJioii von dem Verbum getrennt und an das Ende
gestellt ist, erklärt sich nur so, daß auf den Anschluß des folgenden
evda gerechnet war 1 3 . U n d wenn, um den Inhalt zu berühren, die Rede
erst auf den Wohnsitz, dann auf die Gefährten der Musenschar kommt,
so bieten sich hierfür Entsprechungen genug: für den Wohnsitz die
Hymnen auf Apollon (III) 141 ff., Hestia ( X X I X ) 9, Pan ( X I X ) 6 ff.,
für die Gefährten Pan 19: avv 8é acpiv T Ò T E vujiepai O P E C M Ä Ö E G . . . ¡jiXjtovxai..
Nachdem die Geburt des Hermes berichtet und eine Charakteristik
seiner Vielgewandtheit angeschlossen worden ist, wird erzählt, was er
weiter tat (20): og xaì ÈJTEÌ ÖR| U.R]xnòg À N ' àdavàxcov T)ÓQE yuioov O Ù X É T I 8T)QÒV
E X E I T O fiévcov ÌEQOH EVI H X V C D I ài.}.' O Y ' dvai|ag ^T]TEI ßoag 'AjióXAajvog. Er findet

die Schildkröte und macht sich ein Instrument aus ihrer Schale, fteòg 8' wtò
xaXòv « E I Ò E V . . . à|itpi Aia K D O V Ì & T ) V xaì MaiàSa xaXXuié8iXov, w o denn der
Dichter noch einmal anklingen läßt, was er zu A n f a n g erzählt hat: wie
die Eltern des Gottes sich zusammenfanden. Bei Hesiod ist es ähnlich
bis in die Einzelform hinein; so gleich am A n f a n g (68) ai TÒT' iaav itpòg
" O X D L W O V 1 4 ayaX XüiaEvcu Ò M xaXfji, und auch sie besingen ihren Vater. N u r
der Einzug der neugeborenen Göttinnen in den O l y m p kann im Hermes-
hymnus keine genaue Parallele haben, weil durch den Z w a n g der Fabel
Hermes erst später emporsteigt. Aber gerade dieses Motiv, die Ein-
führung in den Götterhimmel, haben die Hymnen gar nicht selten, und es
schließt sich dann ganz naturgemäß der Geburtsgeschichte an. Im Pan-
hymnus ( X I X ) trägt Hermes den Neugeborenen in den Kreis der Unsterb-
lichen, die freuen sich alle, und davon bekommt das Kind den Namen:
Ilàva 8é |xiv xaXéeaxov O T I (ppéva jtäaiv ETEQ^E. Und im kleinen Aphrodite-
hymnus (VI) vernimmt man, wie die Göttin aus dem Schaum geboren

12 6 5 und 67 vertragen sich f ü r unser Empfinden sehr schlecht. T r o t z d e m w ü r d e ich auf 67


ungern verzichten, w e i l 68 an ihn besser anschließt als an 66, u n d idi möchte glauben,
d a ß um des scharfen Anpassens w i l l e n der V . 67 v o m Dichter als n o t w e n d i g e m p f u n -
den w u r d e . Meist w e r d e n 6 3 - 6 7 mit W o l f athetirt; v g l . Ellger, P r o g r a m m 8. M a n
streitet, ob Evfta sich auf Pierien oder auf den O l y m p beziehe. A l s ob das ein U n t e r -
schied w ä r e . G e b o r e n sind sie in Pierien nahe dem G i p f e l des O l y m p s . D o r t nämlich
in Pierien oder auf dem O l y m p (nur - streng genommen - nicht auf der Spitze)
haben sie ihre W o h n u n g u n d ihre G e f ä h r t i n n e n . jiQÒg "OXu^Ttov, d. h. in den Kreis
der Götter, ziehen sie erst dann ein.
13 V g l . Schömann, D i e hesiod. Theogonie 304.
14 M a n hat d a r a n A n s t o ß genommen, d a ß dieser Z u g z u m O l y m p dem A u f e n t h a l t auf
dem O l y m p , w i e er in 37 ff. vorausgesetzt w i r d , widerspreche. D a s ist implicite schon
widerlegt, u n d nur der Deutlichkeit halber weise idi n o d i einmal darauf hin, d a ß am
A n f a n g die allgemeine Schilderung steht, die die Musen auf dem O l y m p singen läßt,
nachher ebenso typisch die Geburtsgeschichte und der E i n z u g in den O l y m p . - TÒTE in
V . 68 nimmt den Faden der E r z ä h l u n g w i e d e r auf und weist a u f die Z e i t nach der
G e b u r t (ubi primum natae erant W o l f a. h. 1.). D a s ist n o t w e n d i g , w e i l die im Prae-
sens gehaltene Schilderung 6 3 - 6 7 dazwischengetreten ist.
[9110] Das Proömium der Theogonie 75

wird, wie die Hören sie empfangen und schmücken und sie schließlich in
den Chor der Götter und den Palast ihres Vaters geleiten. So ist denn
auch dieser Teil des hesiodischen Proömiums typisch, und daß die Musen
abermals singen, entspricht nur ihrer Natur und darf niemanden be-
fremden. Man frage sich doch, ob der Dichter sie etwa stumm in den
Olymp einziehen lassen konnte.
„Dies also sangen die Musen15, die neun Töchter des Zeus," | und
darauf werden ihre Namen genannt. Für die Namensnennung an dieser
Stelle ließe sich der Panhymnus nur von fern vergleichen, und man wird
vielleicht zugeben müssen, daß hier ein individueller Zug vorliegt, ganz
im Geiste des alles benennenden Hesiod. Wie man denn längst darauf
aufmerksam gemacht hat, daß die Namen dort fehlen, wo man sie im
Gedicht erwarten müßte (915 ff.), eben weil sie im Proömium schon
genannt waren.
An die Aufzählung schließt sich eng verbunden ein Preis der göttlichen
Kraft, die in den Musen waltet, der äQerai und ti|iai. Kalliope wird durch
den füllenden Versschluß rj 6e jtQocpEQEa-cciTTi ecmv ditaasiov herausgehoben
und an sie ist alles Folgende angeschlossen mit dem verbindenden Vers 16 :
f| yäg xai ßaaikevaiv äfx' aiöoioioiv öjtr]5ei. Der „König", den die Göttinnen
bei der Geburt gnädig anschaun, der besitzt die Macht der Sprache und
wirkt dadurch beim Streit auf dem Markt. Das ist die Gabe der Musen.
Denn wenn auch die Sänger von Apoll und den Musen stammen und die
„Könige" (nicht von ihnen, sondern) von Zeus, so verleihen doch die
Musen (allen, also auch den von Zeus stammenden „Königen") die Macht
der Rede. (Und so mächtig sind die Musen:) Wenn einer in Kummer ist,
dann tröstet ihn der Sänger 17 . - Daß nun ein solcher Teil, der von den

15
TCtix' äga Moioat asiSov (7$) scheint nicht scharf anzupassen, nachdem das letzte,
was vorhergeht, gar nicht klar als Inhalt des Musensanges bezeichnet war. Aber die
angeführten Worte in ihrem Bezug auf das vorhergehende ¿nvEvaai? (70) machen
eben die dazwischenstehenden Sätze deutlich als das, was sie sein sollen. (Richtig
hierin Ellger, Programm 1 1 , dem ich freilich sonst nicht folge.) Dies befremdet; aber
doch nur, wenn man den aus homerischer Technik gewonnenen Maßstab an Hesiod
legt. Ganz ähnlich unhomerisch ist das ojg eqpato nach indirekter Rede Erga 69. Ich
nehme bei dieser Gelegenheit ausdrücklich die in den Philol. Unters. X I X 42 f. aus-
gesprochene Athetese von Erga 60-69 zurück und glaube sagen zu dürfen, daß wieder
nur unsere willkürlichen, an homerischer Technik erwachsenen Forderungen schuld
sind, wenn wir es nicht ertragen, daß Befehl (60-68) und Ausführung (69-82) ungenau
zusammen stimmen. Freilich würde Homer das anders machen. Die Inconcinnität bei
Hesiod könnte sogar als Fortschrittssymptom gelten. [Vgl. Aly, Rhein. Mus. L X V I I I ,
1 9 1 3 , $52, mit dem ich hier zusammentreffe, so sehr wir sonst in der Gesamtauffas-
sung und den Einzelheiten auseinandergehen. Correcturzusatz.]
16
Das nennt man besser Bindeglied oder Gelenk oder Scharnier als gerade „Flickvers".
17
Die Struktur der Verse 93-100 glaube ich zu verstehen, so wenig dem Dichter eine
völlig klare Construktion der complicirten Gedankenreihe gelungen, ist. Vier Gedan-
ken sind es, die man sich schematisch so vergegenwärtigen kann:
1 a. Die Könige stammen von Zeus.
1 b. Wenn sie von den Musen begnadet werden, sind sie beredt.
76 Griechische Literatur [10111]

K r ä f t e n (äpejxai) der Gottheit redet, gleichfalls typisch ist, kann leicht


gezeigt werden. Im Hermeshymnus ist er redit ausgedehnt und steht am
Ende ( 5 2 5 ff.) des Ganzen wie bei Hesiod. N u r ist eine Weiterbildung
darin eingetreten, daß nicht der Dichter, sondern A p o l l dem neuen Gotte
Hermes den Umkreis seines künftigen Wirkens bezeichnet. D a s Ursprüng-
liche haben wohl die kurzen H y m n e n auf die Dioskuren ( X X X I I I ) und
auf Hestia ( X X I X ) bewahrt, von denen der erste A n r u f u n g , appositionelle
Prädikation, Geburtsgeschichte, alles ganz kurz, dann etwas ausführ-
licher die Wirksamkeit gibt, während der zweite yeQaq xai xi|xr]v unmittel-
bar der A n r u f u n g hinzufügt. Schließlich ist ganz allein von diesem M o t i v
der Hekatehymnus unserer Tbeogonie ( 4 1 1 ff.) erfüllt, der freilich not-
gedrungen in wichtigen Punkten v o m homerischen T y p u s abweicht. U n d
wesentlich ist es, zuletzt auf die Stelle der Tbeogonie zu verweisen, w o
die Entmannung des Uranos und die Entstehung der Aphrodite erzählt
wird. Das ist kein H y m n u s , sondern ein epischer Bericht. A b e r er ist gewiß
nicht ohne Beziehung zur Hymnentradition, und er vereinigt Geburts-
geschichte ( 1 8 8 - 1 9 5 ) , N a m e n ( 1 9 5 - 2 0 0 ) " , Z u g in den O l y m p ( 2 0 1 - 2 0 2 )

2 a. Die Dichter stammen von Apoll und den Musen.


1 b. Sie sind von den Musen begnadet und haben die Gabe des Gesanges.
In der Übereinstimmung von 1 b und 2 b liegt das Verbindende der Gedanken-
gruppen, die Zusammengehörigkeit von „König" und Sänger, die zwar verschiedenen
Ursprung haben, denen aber die Musen ähnliche Gaben verleihen. Hesiod bringt die
Reihenfolge 1 b, 2 a, 1 a, 2 b. Der Gedanke an die Dichter drängt sich ihm vor; man
begreift, daß er da mit seinem Gefühl am stärksten beteiligt ist. HEtdxQOJia £QY<*
teXeSch 89 (1 b) ~ jtaQerpa.iE 103 (2 b). Die Athetese von 94-97 erledigt sich von
selbst, wenn man das Gefüge verstanden hat. Der „homerische Hymnus X X V " stammt
offensichtlich aus Hesiod.
18
Die Athetese von 199 f. ist so allgemein angenommen, daß man sie, wie es scheint,
ausdrücklich als unbegründet zurückweisen muß. Gründe, auf die sie sich stützen
könnte, gibt es in Wahrheit nicht. Denn daß der Moment, wo Aphrodite aus dem
Meere emporsteigt (ex 6' eßr) 194) als ihre Geburt bezeichnet wird (199), ist uns
wohl auch heute noch geläufig. Und die falsche Etymologie von <pdonnEiÖf|g wird
man wahrhaftig dem Dichter zutrauen, der den Namen Aphrodite von dtppö? und den
Namen Pandora daraus ableitet, 8x1 Jidvxeg 'OXtifima Öcüuat' exovxes öüpov
£öa>pr]aav. Positiv aber muß man darauf hinweisen, daß sich aus der Geburtsgeschichte
folgende Stichworte herausheben lassen: |AT|ÖEa, dcppog, Kijör^pa, Kiutpog, und daß
eben diese Stichworte in den vier Beinamen der Göttin wiederkehren, wenn man der
Uberlieferung folgt. Wie sollte auch die Annäherung an Kythera ausdrücklich einen
Beinamen ergeben, die Landung bei Kypros keinen? - Des Dichters Vorliebe für
Etymologien und seine archaische Weise des Ausdrucks wird auch bei der nicht minder
allgemein angenommenen Athetese von 144/j vergessen. Zuerst werden die Kyklopen
beschrieben: „sie waren in allem den Göttern ähnlich, bis auf das eine Auge, welches
sie auf der Stirn trugen»" Dann kommt die Etymologie: „Kyklopen hießen sie, weil
sie ein rundes Auge auf der Stirn trugen." So undiszipliniert, wiederholungsreich,
ganz dem Eindruck der jeweiligen Vorstellung hingegeben sprechen wir nicht, und so
hätte schon das fünfte Jahrhundert nicht gesprochen. Aber so sprach Hesiod. Auch
V. 141 ist echt und weist auf eine Hauptangelegenheit des ganzen Gedichts; vgl.
504 ff. und Robert, Melanges Nicole 472 ff.
[11113] D a s Proömium der Theogonie 77

und Wirksamkeit (tifxri, 203-206), also mit einer unerheblichen Änderung


in der Abfolge dieselben Motive, die das Proömium bietet19.
Und nun sind wir wieder zu dem Abschiedsgruß /.cuqete gelangt, von
dem die Untersuchung ausging. Das Stück 3 6 - 1 1 5 hat sich als ein Hymnus
erwiesen, der alle typischen Teile eines solchen in der typischen Reihen-
folge enthält: Aufruf, relativische Prädikation des Wesens, Geburts-
geschichte, abermals Wesensschilderung, Einzug in den Olymp, Namen
und Wirksamkeit, Abschied. Also einen regelrechten und vollständigen
Hymnus an die Musen hat der Dichter seiner Theogonie vorangestellt,
wie die im homerischen Hymnenbuch überlieferten Proömien zum Teil
als Einleitung epischer Vorträge dienten. Daran ändert auch die Tatsache
nichts, daß kein einziges dieser Proömien a l l e Teile, die sich bei Hesiod
finden, auch wirklich enthält. Es genügt, daß in innerlich begründeter und
deshalb regelmäßiger Abfolge doch die Mehrzahl der Teile bald in dieser
bald in jener Auswahl begegnet. Hesiod benutzt entweder ein vollstän-
digeres Schema, oder er ergänzt die verschiedenen möglichen Schemata
zu einem einheitlichen Ganzen. Freilich wäre sein Proömium nicht für
jeden Vortrag passend wie jene andern. Sondern deutlich erkennt man,
wie er die überlieferte Typik, an die er sich genau hält, doch von innen
her individualisiert hat, so daß aus einem beliebigen Hymnus das Pro-
ömium der Theogonie wird. Besonders zeigt sich dies in den Gesängen
der Musen. Gleich zu Anfang ist ihr Gesang selbst eine Art Theogonie
(4 j ff.): sie singen das Göttergeschlecht, das von Gaia und Uranos stammt,
und die jüngere Göttergeneration; daran schließt sich die Macht des Zeus,
also ein Hauptthema, welches nachher das ganze Gedicht durchklingt.
Und dasselbe wird noch einmal deutlicher als der Inhalt des Liedes
bezeichnet, mit dem sie in den Olymp einziehn (71 ff.): wie Zeus im
Himmel herrscht und Blitz und Donner besitzt, nachdem er den Kronos
besiegt und den unsterblichen Göttern ihre Herrschaftsgebiete verteilt hat.
Das weist auf wesentliche Absichten der Theogonie. Den Kronos bezwingt
er 490 ff., den Blitz empfängt er von den Kyklopen 504 ff., die tiuai
verteilt | er 885. Individuell scheint dann ferner gestaltet, was von den
Wirkungen der Musen auf Könige und Sänger gesagt ist. Da wird ein
Motiv angeschlagen, wie es die Erga reicher und voller aufnehmen. Und
ganz individuell ist naturgemäß die Überleitung zum eigentlichen
Gedicht (105 ff.) 20 .

M a n darf nicht unerwähnt lassen, daß das Thema Y E p a ; x o i Ti(iai sich nicht immer
scharf von dem sondert, w a s vorher als „Prädikation des Wesens" bezeichnet wurde.
20
In diesem Abschnitte sind die Verse 1 1 1 und 1 1 5 durchaus unentbehrlich. 1 1 1 führt
wie der identische V . 4 6 die Götter der jüngeren Generation ein, die mit Bewußtsein
als fteoL von den älteren a d d v a r o i geschieden werden. 1 1 5 gibt den T o n , zu dem 1 1 6
als Echo erklingt. - Hingegen gelingt es mir nicht 1 0 5 - 1 0 7 und 1 0 8 - 1 1 0 neben-
einander zu verstehen, so daß ich 1 0 8 - 1 1 0 ausscheiden und mit der A n k n ü p f u n g von
78 Griechische Literatur [13/14]

Darf mithin als erwiesen betrachtet werden, daß das Proömium von
36 bis zum Schluß eine Einheit ist und unmittelbar vor unsere Theogonie
und zu ihr paßt, so bleibt das schwierige Urteil über den ersten Teil
(1-35) noch übrig. Die Musenreihe, in der Hesiod seinen Namen nennt,
- echter, sollte man meinen, und besser bezeugt kann überhaupt kein
Teil sein21. Also müssen wir zu begreifen suchen, wie denn der Dichter dem
geschlossenen Schema des Proömiums noch irgend etwas hat voransetzen
mögen. Ich glaube, daß die Frage, so gestellt, schon die Antwort in sich
trägt. Mit V . 36 beginnt ein in überlieferter, typischer Anordnung gehalte-
ner Musenhymnus. Der Dichter aber wollte ein ganz individuelles
Bekenntnis zu seinem Diciiterberuf vor den Zuhörern aussprechen. Das
konnte oder mochte er nicht einfügen in jenes traditionell ge| festigte
Proömienschema: so hat er es als abgesonderten Teil gestaltet und vorauf-
gehen lassen. Denn eine andere Deutung des überlieferten Tatbestandes
erscheint, wenn man bisher gefolgt ist, unmöglich, und es fruchtet audi
nichts, darüber nachzusinnen, ob etwa für jenen Bericht innerhalb der
geschlossenen Hymnenform irgendein Platz zu finden gewesen wäre.
Wenn sich aber der Dichter einmal entschloß, dem typisch aufgebauten
Hymnus noch etwas vorauszuschicken, so konnte er wieder nicht anders
anfangen, als man eben anzufangen gewohnt war, d. h. mit dem Aufruf
Mouffdcov 'EXixomdöcov aQ/tü|i£{F aeiöeiv. A n die helikonischen Musen
wendet er sich; denn von denen fühlt er sich berufen, während nachher
in dem viel stärker traditionellen Musenhymnus die Göttinnen auch ihre
typische und allgemein verbreitete Benennung als die „olympischen"
empfangen 22 . Dann wird mit der nun sattsam bekannten „relativischen

i n an 107 das tv. TWV verständlich machen möchte. (So auch Ellger, Programm 18).
Die beiden Dreizeiler sind seltsam ähnlich. Aber ich wäre zufrieden, wenn jemand
ohne die Athetese auszukommen lehrte.
2 1 Wenn man auf dem Standpunkt von A l y steht, daß Hesiod nur der Uberarbeiter,

nicht der Verfasser der Theogonie sei, so könnte man freilich sagen, der Verfasser
habe mit 36 angefangen und Hesiod habe dann die Verse 1-35 davorgestellt. A b e r
abgesehen davon, daß dies unbewiesen und unbeweisbar ist, soll erst einmal gezeigt
werden, w o jemals ein Proömium mit der Selbstanrede Tiiivri begonnen hätte. - Es ist
belustigend, wie die Kritiker sich ein Bild von Hesiod machen und dann auf Grund
dieses Bildes bestimmen, welche Teile man ihrem Hesiod zu belassen habe. Für den
einen hat er den Orakelstil des Ergaproömiums und des Hekatehymnus; was diesen
Stil nicht zeigt, ist unhesiodisdi. Für den andern wiederum ist er der Vertreter
„trockener und bedächtiger Helotenpoesie"; was also in gehobenerem Stil gehalten ist,
muß ihm abgesprochen werden. Man sieht, wie diese Urteile sich gegenseitig aufheben
und erkennt die petitio principii. Vgl. Hermes X L V I I I , 1913, j 6 o A . 1.
2 2 Wenn V . 25 echt ist (und die Unechtheit kann kein Mensch beweisen), so hat er schon

im ersten Teil des Proömiums seine Musen auch olympische genannt. Andererseits
heißt es im zweiten Teil (54), w o also nur von den olympischen die Rede ist, ihre
Mutter Mnemosyne Yovvoiaiv 'EXeiriHigog fieöeouaa. Das weist nach Böotien. - Wie
ich glauben möchte, hat man das Gewicht des scheinbaren Gegensatzes v o n helikoni-
schen und olympischen Musen stark übertrieben.
[14115] Das Proömium der Theogonie 79

P r ä d i k a t i o n " w i e so o f t der W o h n s i t z genannt 2 3 und zuerst gesagt, w a s


sie an ihrem O r t e tun. Ihr Dasein w i r d beschrieben (al . . . exouaiv . . . xai
. . . ögxEwtai . . . ) . D a n n jedoch springt es plötzlich in E r z ä h l u n g um,
nicht ungewöhnlich in dieser Schicht der Poesie, der das E r z ä h l e n viel
leichter als das Schildern v o n der H a n d geht 24 . H i e r w i r d der Strom der
R e d e w o h l v o r allem dadurch in die Vergangenheit abgelenkt, w e i l sich
dem Sinn schon jetzt das geschichtliche Erlebnis a u f z u d r ä n g e n beginnt,
das nach k u r z e r Z e i t berichtet w e r d e n soll (22 ff.). Zwischen 4 und 5 ist in
der T a t eine Fuge 2 5 . A b e r man verbreitert sie z u m k l a f f e n d e n R i ß , w e n n |
man an die allgemeine Schilderung 1 - 4 sofort die E r z ä h l u n g v o n dem
Besuch der Musen ansetzt (22 ff.). U n d man m u ß vielmehr erkennen,
d a ß dieses Zwischenstück 5 - 2 1 die V e r b i n d u n g herzustellen bestimmt ist.
M i t dem, w a s vorausgeht, teilt es den Inhalt: T a n z und Gesang der
Musen auf dem H e l i k o n ; mit dem, w a s f o l g t , teilt es die Form der
E r z ä h l u n g . U n d der Parallelismus z u einem späteren Teile des H y m n u s
bestätigt vollends, d a ß hier z u A n f a n g die O r d n u n g im wesentlichen
unbeschädigt ist. W i e nämlicii hier die Musen auf dem H e l i k o n geschildert
werden, so später (62 ff.) auf dem O l y m p . H i e r w i e dort haben sie auf
dem Berg ihre Behausung (2'EXixüvos exovaiv 0905 ~ 63 evfta acpiv . . .
Scbn-ata y.aXü), hier w i e dort tanzen und singen sie (4 öpxsivTai ~ 66
(leXjiovxai). N u n sahen w i r schon, w i e der Dichter sie an der z w e i t e n
Stelle nach fester, typischer Weise in B e w e g u n g setzt und ,zum O l y m p ' ,
d. h. auf die Spitze, in den Götterkreis ziehen läßt, w o b e i sie wieder
singen und tanzen, so d a ß die E r d e v o n dem K l a n g ihrer Stimme ertönt
und anmutiger Schall unter ihren Füßen vernehmbar w i r d (epatög öe
jtoöiöv i k o öoikos ÖQMpsv). G a n z ähnlich ziehen sie an der ersten Stelle auf
den , G i p f e l des H e l i k o n ' ; wieder schlingen sie den Reigen, wieder w i r d
der Tanzschritt ihrer F ü ß e vernehmbar (eneQQcbaavTo de jtoaaiv). U n d dann
darf naturgemäß ebensowenig w i e dort der G e s a n g fehlen 2 6 . D o r t singen
sie v o n Zeus, hier v o n Zeus und den andern unsterblichen Göttern 2 7 .

23 'EXixamdöcov . . . a l d' 'EXixcövo; . . . Dies ist eben so zu erklären, daß sowohl der
Beiname wie die Angabe des Wohnortes etwas Typisches ist. V g l . Norden, Agnostos
Theos 168.
24 Schümann, Die hesiod. Theog. 299 f., verwies auf den A n f a n g des homerischen
Apollonhymnus. Im Aphroditehymnus steht zuerst f) . . . 01506 y.ai r ' iba\i&aaaxo . . .
Dann springt es in das Präsens öiivatai über (7), nachdem freilich schon der Relativ-
satz das Präsens gebracht hatte.
25 Unecht ist hier gar nichts. Wollte jemand vor V . 5 eine Lücke ansetzen, so würde er
kaum angeben können, wie sie etwa zu füllen sei. U n d der Sprung vom Präsens zum
Aorist bliebe auf alle Fälle.
2Ä Ellgers Athetese von 1 1 - 2 1 hat bei M a a ß Aratea (Philol. Unters. X I I ) 273 Nachfolge
gefunden.
27 Die von Peppmüller ausgesprochene Athetese des Verses 17 scheint mir riditig. Dione
steht offenbar als Mutter Aphrodites hier. Bei Hesiod ist aber Aphrodite mutterlos
und Dione heißt vielmehr eine der Quellnymphen (353). A u d i Hebe p a ß t so wenig
in die A b f o l g e , daß Sdiömann S. 40 $oißr|V schreiben wollte.
80 Griechische Literatur 115116]

Jetzt aber biegt es hier zu der Musenweihe um (22): al vti jtoft' 'Hoioßov
xaXfiv Eöiöalav doiör)v. Das ist ein harter und unvermittelter Abschluß.
Aber wir sind eben an dem Punkt, wo der Dichter durchaus mit der
Tradition bricht und ein völlig neues Erleben verkündet. Nun ist Hesiod
alles andere als ein Meister der eleganten und klaren Form. So wird es
niemanden, der ihn wirklich kennt, verwundern dürfen, daß gerade hier,
wo Altes und Neues zusammentrifft, eine merkbare und gar nicht ge-
glättete Fuge entsteht. Und wie der Anfang dieses Bekenntnisteiles rauh
und ungefüge ist, ebenso bricht der Schluß kurz und | hart ab mit dem
berühmten aXkä TIT) ¡XOI ratha jisgi ÖQÜV f) J I S Q I J I E T Q T J V .
28

Damit scheint mir folgender Tatbestand ins Klare gerückt: Dem an


conventioneile Proömienform gewohnten Dichter lag daran, seine Musen-
weihe zu verkünden. Einfügen konnte oder mochte er sie nicht in das
Schema, und darum stellte er sie voran. Aber anheben konnte er nun
«loch wieder nur in der typischen Proömienweise, um dann durch eine
typische Gedankenbewegung zu jenem untypischen und hödist indivi-
duellen Gegenstand den Weg zu finden. Auf solche Art also erklärt sich
die Doppelung der Eingänge und die zwiefache Wiederkehr mancher
Motive, die jeweils auf den Eingang folgen. Doch soll natürlich nicht der
Wahn erweckt werden, als könnten wir ahnen, in welcher Weise und
Reihenfolge sich diese Ordnung im Geiste des Dichters vollzog. Und
durchaus sind wir in der Lage, auch von dem wirklichen Anfang aus-
gehend das Gefüge des Ganzen zu begreifen: Der Dichter beginnt sein
Werk mit dem Aufruf, dem dann in typischer Verknüpfung und Abfolge
die uns sattsam bekannten Teile sich anschließen. Die Musen tanzten
auf dem Helikon. Sie sangen ihr Lied. Sie kamen zu Hesiodos und lehrten
ihn ihre Kunst. Als aber der Dichter so weit gekommen war, da hatte
er sich völlig von der üblichen Bahn entfernt, und es gab keinen Ausweg,
um wieder in sie einzulenken. So hat er denn diesen Versuch gar nicht
gemacht, sondern er hat ein zweites Mal ganz von vorn begonnen. Und
die Berechtigung dazu hat er sich geschaffen, indem er seinen Musen diesen
Befehl in den Mund gab: „sie selbst zuerst und zuletzt immerdar zu
besingen".
Zwiespältig und vielspältig ist alles, was Hesiod gedichtet hat, und
das Proömium der Theogonie mehr als anderes. Hier wie sonst allerorten
bei ihm ureigenstes geistiges Erleben und überlieferte, ja abgebrauchte
Form im großen wie im kleinen; neuer Wein in alte Schläuche gefüllt.

28
Eine Einzelheit: M a n liest in V . 3 1 allgemein gegen die beste Überlieferung ÖQetpaoai,
läßt also die Musen den Stab abbrechen und dem Dichter reichen. Idi glaube, daß
man verstehen muß x a l [ioi axfjjtTpov E 5 O V . . . öoeipaadat, sie gaben mir den Stab
abzupflücken, hießen mich ihn abbrechen, wiesen mir ihn, damit ich ihn abbräche.
Besprechung:

Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby


Pars I: Theogonia

1931

Diese Ausgabe ist ein ungewöhnliches, man braucht als Philologe das
Wort nicht zu scheuen: ein aufregendes Werk, und es ist nicht ganz leicht,
sie anzuzeigen. Schon darum nicht, weil dieser Band nur Teil eines größe-
ren Ganzen ist. Nicht allein, daß die Erga noch ausstehen. Vor allem
müßte man den Kommentar studieren können, den der Herausgeber
als Stütze seiner Ausgabe mit Recht für unentbehrlich hält. (Er ist nie
erschienen.) Die umfängliche Praefatio und der kritische Apparat können
das Fehlende nicht ersetzen, und unsere Anzeige wird darum vor allem
darin bestehen müssen, Fragen an den Editor zu richten, auf die wir die
Antwort von dem Kommentator (nicht mehr) erwarten. Die eigentliche
Schwierigkeit dieser Anzeige aber liegt auf dem Felde der Methode. Der
Herausgeber übt an dem Text der Theogonie eine radikale Analyse, so
sehr seine Arbeit sich von der scharfsinnig durchgeführten Sektion unter-
scheiden will und unterscheidet, die einst — in der Blütezeit selbstgenüg-
samer Kritik — Arthur Meyer1 an dem Leichnam der Theogonie — wie
zugegeben sei, nicht ohne Nutzen für das Verständnis ihres Aufbaus —
vorgenommen hat. Der Rezensent ist zwar durchaus nicht, wie ihm vor-
geworfen wird, darauf erpicht, koste es was es wolle „die Ueberlieferung
zu halten" 2 . Aber er ist seiner Wesensart nach eher „Harmonist", und
es kann wohl sein, daß er Widersprüche unterschätzt, ebenso wie es dem
„Analytiker" begegnen kann, daß er einer kleinen Unebenheit zuliebe
echte Zusammenhänge sprengt. Es muß beiden menschlichen Anlagen
gestattet sein, den Hesiod zu interpretieren, aber es wäre unfruchtbar,
wollte der | „Harmonist" mit apodiktischer Schärfe Grundsatz gegen
Grundsatz stellen und dem Herausgeber sein [xrj ttivos euiv cpiXo? zurück-
geben. Vielmehr wird er auch noch in dieser Auseinandersetzung „Harmo-
nist" sein müssen, d. h. aber hier: versuchen, wie weit zwei gegnerisdie
cHai65oio <piXoi einen wirklichen Dialog mit einander führen können, ohne

[Göttingische gelehrte Anzeigen C X C I I I , 1 9 3 1 , S. 2 4 1 - 2 6 6 . ]

1
De compositione theogoniae, 1887.
2
v. Wilamowitz, Ilias 4 6 3 1 ) .
82 Griechische Literatur [2421243]

die Gegensätze unfruchtbar abzustumpfen. Er glaubt dafür eine gewisse


Eignung mitzubringen. Denn als er im Hermes 1914 das Proömium der
Theogonie interpretierte, schrieb er: „Ich bin der Ansicht, daß ich die
Kompositionsidee des Hesiod darlegen werde. Sollte ich darin irren, so
würde immerhin das Prinzip erwiesen sein, nach dem jener hypothetische
,Rhapsode' aus älteren Werkstücken sein großes Proömium aufgebaut
hätte". Das Gleiche galt und gilt ihm für die ganze Theogonie. Er glaubt
noch heut, daß in dem einen Hesiod sehr unterschiedliche Stoffe und
Formen Platz hatten, die Jacoby auf mehrere Dichter und Rhapsoden
aufteilt. Aber wir sind uns darin einig, daß schon zur Zeit des Aischylos
und Pindar das Werk keinen wesentlich anderen Bestand gehabt hat als
in den byzantinischen Handschriften. Dann aber müssen wir wenigstens
a u c h den Rhapsodentext des sechsten Jahrhunderts interpretieren. Ja,
wir müssen es tun, e h e wir die angeblich oder wirklich späteren Teile
abtragen. Man mache sich die Analogie einer methodischen Ausgrabung
oder Architekturanalyse klar.
Aber noch sind wir beim nächsten: bei dem überlieferten Text und
seiner Beschaffenheit. F. A. Wolf hat die Textgeschichte des alten Epos
und damit Textgeschichte überhaupt begründet; darin nämlich liegt das
Ziel und die Originalität seiner Prolegomena, nicht in einer neuen An-
schauung vom Wesen Homers. Seine Erkenntnisse hat Wilamowitz weiter-
geführt und insbesondere über die Geschichte des Hesiodtextes sdion im
Herakles und dann wieder in seiner Ausgabe der Erga das fraglos Richtige
kurz gesagt. Dem schließt sich Jacoby an, und nur die allgemeine These
wird man beanstanden müssen, daß Hesiod eine Tradition gehabt habe
mehr wie die Lyriker als wie Homer. Denn hierzu will die völlig zu-
treffende Ansicht nicht stimmen, „daß Hesiod alsbald in das Repertoire
der Rhapsoden übergegangen sei". Für Pindar ist Aehnliches nicht zu
erweisen und kaum wahrscheinlich, und die Festigkeit seines Textes resul-
tiert doch wohl nicht nur aus der Dürftigkeit unserer Ueberlieferung oder
der Autorität des Aristophanes von Byzanz - so hoch beides zu ver-
anschlagen ist - , sondern eben daraus, daß es keinen Stand gab, der diese
Gedichte immer wieder vortrug, und damit auch nicht jenes Fließende
des Textes, das der Harmonist wie der Analytiker beim Epos jederzeit
in Rechnung stellen wird. Daß die erste | Periode in der Geschichte des
Hesiodtextes durchaus unklar im Einzelnen bleibt, werden wir Jacoby
zugeben. Im Munde der Rhapsoden sind die Doppellesarten, Doppel-
fassungen, Erweiterungen entstanden, die niemand bezweifelt. Denn wenn
Jacoby als alter Artillerist schweres Geschütz auffährt gegen die plerique,
qui omnia pro sanis et genuinis et pulchris in Hesiodo accipiunt, so darf
man bezweifeln, ob es wenigstens in Deutschland viele von dieser Art gibt.
Vor allem aber muß der harmonistische Rezensent darauf hinweisen, daß
etwas „echt" sein kann, ohne doch völlig „heil" zu sein, und vor allem, daß
wenigstens ihm nichts ferner liegt als bei diesem altertümlichen Denker-
[243j244] Hesiodi C a r m i n a recensuit Felix J a c o b y 83

Diditer die Kategorien „Schönheit" und „Echtheit" zusammenzuwerfen.


Aber wir sind ja noch bei der Textgeschichte.
Praktisch kommt es wie bei Homer auf folgendes heraus: Wir rekon-
struieren im wesentlidien die byzantinische Ausgabe des neunten Jahr-
hunderts, springen aber sofort über die kaiserzeitliche der drei jtparcöfjiEva
auf die alexandrinische zurück. Die Papyri bringen wenigstens für die
Theogonie keine Ueberraschungen und nur hier und da eine Variante.
Ueber die Alexandriner rückwärts zu dringen ist günstigenfalls an
wenigen Stellen mit Hilfe der antiken Zitate möglich. Da unser Ueber-
lieferungsmaterial sehr viel magerer ist als bei Homer, da vor allen Dingen
die Scholien so spät und schlecht sind, müssen wir unheilbare Korruptelen
in Kauf nehmen wie in V. 22 •fteiriv iva xXeioi|xi und haben sehr viel
weniger alte Varianten als im Homer. Aber der Text, wie wir ihn lesen,
ist wenn nicht der, so doch ein Text von denen, die man in Alexandrien
gelesen und vervielfältigt hat, ein Durchschnittstext.
Die auf Hesiod konzentrierte Gelehrsamkeit und Bemühung von
Rzach hat die bisher maßgebende Ausgabe geschaffen (1902), die durch
die Fülle des eingearbeiteten Stoffes noch lange unentbehrlich bleiben
wird. Als Berichtigung und Vereinfachung eines wichtigen Teiles von ihr
stellt die Jacobysche Theogonie sich zunächst dar, was die Recensio be-
trifft. Wer sich über Rzachs Handschriften ein selbständiges Urteil zu
bilden suchte, wird sich freuen, bei Jacoby den Laurentianus X X X I I 16
(D in der Theogonie, J in den Erga, E in der Aspis - „tanta est gramma-
ticorum inconstantia"/) richtig bewertet zu finden: nicht pro gravissimo
carminis teste (Rzach), sondern als eine Gelehrtenausgabe, deren eigene
Lesarten zumeist oder durchweg Konjekturen sind. Es ist ja die unschätz-
bare Epikerhandschrift, die uns allein den Nonnos erhalten hat3. Die
Gruppe, die Rzach nannte, Jacoby y nennt, verliert jetzt vollends ihren
Anspruch, auch nur den byzantinischen Archetypus zu bezeugen.
Als ich (Hermes 1914, 16) in der Musenbegegnung des Proömiums \
V. 31 öpe^aaftai gegenüber 8ge\j)aaai bevorzugte als „besser bezeugt" und
sachlich treffender, widersprach Wilamowitz (Ilias 471) und nannte
ÖQE\|)aaftai „widersinnig". Jetzt setzt Jacoby den Infinitiv in den Text und
macht es sehr wahrscheinlich, daß Ögeipaoai überhaupt nicht als überliefert
zu gelten hat, sondern byzantinische Konjektur von y ist. Der eine Buch-
stabe ist wichtig genug, denn in diesem Bilde, in dem das dichterische
Ich zu allerfrühst sich selbst aussagt, ist jeder kleine Zug bedeutend. Dort
die Musen, da der Lorbeerbusdi, hier der Dichter. Die Musen gehen nicht
zum Busch, einen Zweig abzubrechen, sie weisen dem Diditer den Zweig,
daß er ihn abbreche. Sie ermächtigen ihn4.
3
Sie stammt aus dem Kreise des Planudes; vgl. über die Handschriften Maas, B y z a n -
tinisch-neugriechisches Jahrbuch, 4 , 1 9 2 3 , 1 9 2 4 , 2 6 7 .
* D e r hier bekämpfte Irrtum kehrt wieder bei F . Mehmel, Hermes und die Griechen,
in A n t i k e und Abendland I V , 1 9 5 4 , 1 8 : Die Musen „berufen ihn zum Sänger, indem
sie ihm einen Lorbeerzweig als Rhapsodenstab überreichen".
84 Griechische Literatur [244,¡245]

Ein Hesiodtext kann heut, was die Wortgestalt anlangt, nur konser-
vativ sein - wobei gerade der „konservative" Kritiker sich über das grund-
sätzlich Flüssige dieses Textes und das einigermaßen Zufällige der erhalte-
nen Fixierung nicht täuschen wird. Im einzelnen wird man nicht immer
mit dem Herausgeber zu gehen brauchen. Zwar wird man ihm beistimmen,
wenn er das metrisch unmögliche fteíriv iva xtaíoiju in V. 32 stehen läßt
(Rez. hätte nur ein Zeidien der Korruptel dazu gesetzt). Warum jedoch
281 éiéftoQE Xquctócoq (auch dies ohne Warnungszeichen) gedruckt wird,
ist nicht ersichtlich, da doch ein zweisilbiges Xgvoácop außerhalb jeder
Wahrscheinlichkeit liegt (schon neben 287!) und éxftopE der deteriores
immer gleichberechtigt neben ¿Ié-Ooqe zur Verfügung des Dichters stand.
Dabei scheut der Editor selbst vor schweren Aenderungen nicht zurück,
so wenn er in V . 335 die Wilamowitzsche Konjektur crjtEÍpr|imv uEYáXaig
statt Jtsígaoiv év ¡lEyá/.oig in den Text setzt. Die Konjektur ist blendend,
aber ganz gewiß falsch. Denn aiteloa gibt es bei Homer und Hesiod über-
haupt nicht! Und wenn auch, so wäre doch mit den „großen Windungen"
der Schlange nur ein ausmalender Zug hinzugefügt. Hingegen die neigcrc«
yaití; sind bestimmend für das homerische Weltbild, um von der Theogonie
selbst zu schweigen, in der die jiEÍoata überall, wo sie vorkommen, von
Jacoby getilgt werden (518. 622. 738. 809, vgl. Erga 168). Dann wieder
ist der Begriff itégag, nEtgata bei den Philosophen von höchster syste-
matischer Bedeutung. Ueber itsgag also wird der Kommentar eine Unter-
suchung bringen müssen, ehe man an iteigaaiv rührt. Er wird die Möglich-
keit des allerdings befremdlichen neyáXoig zu prüfen haben. (Darf man
von fern ixaxiatoug oQovg in dem Epigramm Kaibel 843 vergleichen? Muß
man nicht an Parmenides 8, 26 [isyuXcov év jieíqokji ösa^äiv denken? Können
bei Hesiod mit M-eyá^oig die Grenzen der Erde gemeint sein? Ist das selt-
same Jieígaaiv év HEyáXoig aus einem Jieígaaiv év 7o.ír|g wie in 518 abge-
wandelt, weil hier yairig schon vorausging, sowie Homer ein einziges Mal
öTeeo|jrr|YEQETa Zeúg [II 298] sagt, weil vecpE^TiYEgéta wegen des vorher-
gehenden vEcpéXriv sich verbot?) Jedenfalls: ajiEiQT)iciv nEyá^aig gehört nicht
in den Text, und in den Apparat allenfalls, um im Kommentar bekämpft
zu werden. Die scheinbar geringfügige Einzelfrage ist methodisch ebenso
wichtig wie geistesgeschichtlich. Methodisch: selbst wenn itEÍgaaiv év
HEyáXoig korrupt wäre, dürfte es so wenig aus dem Text entfernt werden
wie in V. 23 das korrupte ftEÍryv. Geistesgeschichtlich: jieÍquoiv ist ein un-
schätzbarer Zug in dem Weltbild des Dichters.

Es ist grundsätzlich sehr dankenswert, daß Jacoby nach antikem


Vorbild Doppellesarten übereinander in den Text setzt, teils mit, teils
ohne Entscheidung, welches die ursprüngliche ist. Man sollte, wo nur
die typographische Möglichkeit gegeben ist, dieses Beispiel nachahmen.
Ich hoffe Anstoß zu erregen, wenn ich sage, daß ein Homerherausgeber
öaixa
oicovoíffí te Jtäai drucken müßte und sich jeder Entscheidung für oder
[2451246] Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby 85

gegen die eine Fassung zu enthalten hätte. Denn solche Parteinahme


könnte sich nur auf ein subjektives Geschmacksurteil stützen: man sehe
doch, was für und gegen ;iäai und Saita vorgebracht ist!
Aber das eigentlich Aufregende dieser Hesiodausgabe liegt in ihrer
Absicht, den echten alten Hesiod herauszuschälen. Denn nicht nur einzelne
Verse und Versgruppen werden athetiert, sondern Schicht um Schicht wird
abgetragen, die die Rhapsodentradition an den ursprünglichen Kern an-
gesetzt haben soll. Das Druckbild soll auf jeden befremdlich wirken, und
auch der geduldige Leser wird nicht immer die Absicht des Editors durch-
aus erfassen. Daß sein Ur-Hesiod von den Rhapsodenschichten durch
größere Lettern abgesondert wird, erinnert an KirchhofTsche Ausgaben.
Aber Jacoby fügt eine Anzahl antiker und moderner ar^ela hinzu. Eckige
Klammern schließen Verse ein, andere Verse werden von ößsXoi durch-
bohrt, ein avTtaiYna Jtepi£aTiY|X£vov bezeichnet „doppelte Rezension". (Hier
die Frage: verlangt nicht das Antisigma ein reziprokes Sigma?). Am
äußeren Rande des Textes läuft eine Punktreihe oder eine ein-, zwei-
und dreifache Linie herab mit Indexzahl am Kopf und am Fuß. Und
diese Mischung, sagen wir von Aristarch und Reichskursbuch, hat etwas
Verwirrendes. Völlig wird hier erst der Kommentar das oti zu den ar^eia
hinzufügen. Bis jetzt muß man es sich ergänzen, soweit nicht Praefatio
und Apparat Stücke des Kommentars vorwegnehmen. Man wird manch-
mal etwas ratlos sein, und Rückfragen an den Kommentator bleiben die
Fülle. Warum steht der Obelos vor 940 ff., aber nicht vor 1 1 5 , 1 1 9 ,
574 ff.? Warum steht das Antisigma vor dem kleingedruckten V. 32,
während V. 38, der | doch wohl einzig als Parallelrezension zu 32 in
Betracht kommt, gleichfalls klein gedruckt und in eckige Klammer einge-
schlossen ist? (Das Fehlen des Sigma macht sich hier bemerkbar.) Warum
ist in 573 ff., wo doch duplex recensio vorzuliegen scheint, vom Antisigma
kein Gebrauch gemacht? Warum ist 581-4 eingeklammert und gleichzeitig
mit einfachem Kursbuchstrich versehen; warum nicht ohne Klammer mit
doppeltem Kursbuchstrich? Mit anderen Worten: ist nicht hier eine Ueber-
fülle kritischer Zeichen verwandt, die sich gegenseitig ihren Geltungs-
bereich streitig machen? Und täuscht uns nicht diese Zeichenfülle ein
Wissen vor, das wir nun einmal nicht haben können? Aber gewiß wird
der Kommentar das allzu starre Entweder-Oder der Zeichen mildern.
Nun zur Hauptsache, zu den großen Fragen, die der „harmonistische"
Rezensent an den „kritischen" Herausgeber zu richten hat.
Ueber das Proömium habe ich mich früher eingehend ausgesprochen
(Hermes 1914). Doch liegt hier an dem Ergebnis - dem Wilamowitz,
Ilias 463 ff. nicht sehr fern steht - weniger als an dem Methodischen.
„Die Voraussetzungen, von denen aus wir zu unserm Urteil gelangten",
so rechtfertigte Kirchhoff (Die homerische Odysse 251 f.) seine Methode,
„sind keine anderen als diejenigen, welche die philologische Hermeneutik
und Kritik gegenüber den Literaturprodukten aller Völker und aller
86 Griechische Literatur [246j247]

Zeiten zu machen berechtigt ist". Was Kirchhof! bestritt, daß „die Beson-
derheiten der Entwicklungsstufe, der eine geistige Schöpfung entsprang, ein
Ausnahmeverfahren in der Beurteilung derselben begründen", gerade dies
wurde in dem Aufsatz über das Proömium behauptet. Es wurde - wie
noch radikaler in dem Aufsatz über die Erga (Hypothekai, Hermes 1 9 1 3 )
- zur Erörterung gestellt, ob nicht die Analysen Kirchhoffscher Richtung
„allgemeine Gesetze und Formen des menschlichen Denkens aller Zeiten
und Bildungsstufen" im Geist des achtzehnten Jahrhunderts ansetzten,
während doch das Denken und Dichten der archaischen Zeit eben gerade
erst verstanden werden sollte. Was Friedrich Schlegel (Pros. Jugend-
schriften I I 268) von Homer sagt - „nie wird jemand die homerische
Poesie verstehen und begreifen lernen, der sich von der allgemeinen
Voraussetzung der Menschen, was in ihrem nächsten Kreise gewöhnlich
ist, müsse gewiß auch natürlich und überall wahrscheinlich sein, noch
nicht ganz frei gemacht hat" — das galt auf dem sehr begrenzten Gebiet
hesiodischer Kompositionsform auch uns damals als Axiom. Es werden
auch andere um 1 9 1 0 „das Archaische" als eine besondere literarische
Kategorie beachtet und benannt haben. Aber in jenen Aufsätzen wurde
es doch wohl mit besonderer Eindringlichkeit in die Mitte der Forschung
gestellt. |
Jacoby lehnt diese „lockende Art der Friedländerschen Interpreta-
tion" ab (Hermes 1926, 159). Z w a r daß diese Interpretation „sich still-
schweigend das Uberspringen der Recensio erlaubt", wird er selbst nicht
mehr behaupten, da er mit vollkommenem Recht feststellt: „Die eigent-
lichen Probleme für den Hesiodeditor liegen in einer Zeit, die wir mit
äußeren Hilfsmitteln — also mit der Recensio — doch nicht erreichen"
(ebenda 157). Er wird die Frage nach dem „Archaischen" gewiß nicht
grundsätzlich ablehnen. Aber er meint wohl nicht, daß sie z. B. für das
Proömium grundsätzlich etwas bedeute. Der harmonistische Rezensent
glaubte es als einen seltsam altertümlich aber sehr bedachtsam angeleg-
ten Garten wohl zu kennen. Jetzt findet er die Wege zerschnitten und
muß Gräben überspringen. An dieser Stelle soll nun nicht der Versuch
gemacht werden, das, was der Editor geschieden hat, wieder zu ver-
einen. Man müßte den früheren Aufsatz wiederholen und würde damit
nichts fördern. Aber eine Reihe von Fragen sind auch hier an den künf-
tigen Kommentator zu stellen.
Das Proömium Hesiods endet nach Jacoby mit V . 104 /aieete, texva
Aiog, ö6t£ 5* ineQOEaaav äoiör)v, wie einer der homerischen Hymnen, die
als Vorspruch bei Rhapsodengesängen dienten. Also hätte die erste
Zeile des eigentlichen Gedichts nicht an ein Proömium angeschlossen,
sondern der Anschluß wäre erst von einem späteren Bearbeiter hergestellt
worden? Also hätte die Theogonie kein individuelles Proömium gehabt,
zu dessen Wesen doch das öslyna tov Xoyov gehört, und das überlieferte
8eiY(xa wäre erst die Zutat eines oder zweier Rhapsoden? Und Hesiod
[247j248] Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby 87

hätte eine Form des Proömienabschlusses gewählt, die von Homer über
Apollonios bis zu Nonnos, von Parmenides über Arat zu den Oppianen
und zu Paulus Silentiarius nirgends eine Parallele hat? Wechselt nicht,
wenn xaipete bei Hesiod den Beschluß macht, sein Proömium zu den Pro-
ömien des homerischen Hymnenbuches hinüber, unter denen es sich doch
wiederum - bei aller von mir früher aufgewiesenen Verwandtschaft -
ganz fremd ausnehmen müßte, da die Hymnen auswechselbare Vorsprüche
für Rhapsodenvorträge sind, das hesiodische Proömium hingegen unaus-
wechselbar und nur für dieses Gedicht bestimmt? Der Kommentar wird
starker Mittel bedürfen, um dieses Argument zu entkräften: daß Hesiod
durch das Verfahren des Editors herausgerissen wird aus der einheit-
lich konsequenten Linie, daß er hineingestellt wird in eine Gesellschaft,
in die er nicht gehört. Und man wird gespannt sein müssen auf die posi-
tiven Gründe. Jedenfalls müßten sie stärker sein als was gegenwärtig
der kritische Apparat beibringt, die Form xXeLete am Versanfang (wofür
W. Schulze x.Xeete als axecpcdog vorschlug) und die | Form r % (die Jacoby
selbst aus seinem Hesiodtext in 679 nicht zu vertreiben wagt, die man
doch in 106 leicht genug vertreiben könnte, die doch zumindest den er-
weiternden Theogonie-Rhapsoden geläufig war und schon den Sängern
der homerischen Gedichte - warum also nicht dem Hesiod?). Denn mag
man diese Formen für hesiodisch oder für unhesiodisch halten, dies sollte
doch wohl nicht bestritten sein, daß man sich in einem durch den beweg-
lichen Vortrag mancher Sänger gegangenen Texte auf einzelne Formen
überhaupt nicht verlassen kann, als müßte das „Original des Dichters"
bis auf den Buchstaben getreu erhalten sein. Gilt nicht f ü r die Hesiod-
tradition der ersten Jahrhunderte, was Herder in seinem Horenaufsatz
von 1795 über Homer sagt: ein steifes Rezitieren auswendig gelernter
Verse, die unter allen Völkern Griechenlands jahrhundertelang dieselben
geblieben wären, sei ganz undenkbar?
Auch an anderen Stellen des Proömiums, wo Jacoby große Stücke
herausschneidet, werden sich die Schnittflächen nicht für jeden Leser so
leicht zusammenschließen. Nachdem in 77—9 die Musen mit ihren hesio-
dischen, d. h. doch wohl von Hesiod erfundenen Namen aufgezählt sind,
bekommt Kalliope als letzte den Zusatz öf| jtQocpEgaTarri eativ äitaaetov.
Es ist ein Lieblingsgedanke von Jacoby (Hermes 1926, 170 ff.), daß
Hesiod am Schluß von Namensaufzählungen dem letzten Namen eine
solche Prädikation hinzufügt, eben als letztem, ohne daß eine weitere
Begründung dabeisteht. Mir scheint doch nicht sicher, ob die von Jacoby
aufgeführten Parallelen zutreffen. Daß in der Okeanidenreihe Styx als
die letzte prädiziert wird i) ör| aqpecov jtQocpeQEaxäTri eativ anaaecov, hat auch
nach Jacoby „noch einen sachlichen Sinn". Aber wenn der Nereidenkata-
log endet mit Nr|[i£(nr)g ft' f| jtatpög eysi vöov äftavaxoio (262), „so bedeutet
das eben nur, daß der Katalog zu Ende ist"? Nicht mehr? Wird nicht
mit ihrem Namen „Fehllos" eben noch einmal zurückgewiesen auf ihren
88 Griediisdie Literatur [248¡249]

Vater Nrigéa m|>etJ0éa xaì akr\Ma in 233, d.h. auf die Geschichten von
Nereus, so daß diese Schlußprädikation in der Tat keiner Ausweitung
fähig und bedürftig ist? Wenn Eurybie, die letzte Pontostochter, prädi-
ziert wird als à8a|xavtog évi cpgeaì ftu|xòv exovaa (239), so entspricht das
ihrem Namen und ihrer Funktion: als Gattin des Kreios wird sie später
die Mutter gewaltiger Söhne sein (375 ff.). So mag übrig bleiben der
letzte in der Reihe der Kreios- und Eurybie-Nachkommen: Perses, 05
xaì itäai jxETEjtQ£jiEv i&|j,ocnjvTii(Tiv, sei das nun ein Hinweis auf seine Tochter
Hekate 4 1 1 ff. oder auf irgend etwas was wir nicht wissen oder wirklich
nur der formale Abschluß einer Reihe, den Jacoby überall ansetzen
will. Aber reicht dieses einzige, selbst noch fragwürdige Beispiel, um
zu beweisen, Kalliope habe den Zusatz wie die Styx gehabt ii ör) jtQotpe- |
QEOTdtri èaxiv àjtaaécov, und sie sei - ganz anders als die Styx - keines-
wegs vor den anderen besonders ausgezeichnet gewesen als eben dadurch,
daß sie - die letzte war? Nun aber folgen in unserer Überlieferung
24 Verse, in denen mit yäg jenes Prädikat begründet wird. Jacoby gibt
zu, daß es sententiae pulcherrimae sind, aber er spricht (Hermes 1926,
172) von einer „ungewöhnlich törichten Begründung" und läßt also
die schönen Verse „aus anderen Proömien" hierher übertragen sein. Wer
sich viel mit Unechtheitsbeweisen zu befassen gehabt hat, lächelt allmäh-
lich über solche Scheltreden, deren Urheber sich nicht gern an ihre frühe-
ren Äußerungen erinnern lassen, — wenn nun z. B. der Menexenos wirk-
lich wieder platonisch ist. Also lassen wir das „ungewöhnlich töridit"
und fragen wir nach dem Zusammenhang, wie Hesiod oder der zusam-
menfügende Rhapsode ihn gemeint hat! Nach Ruhm, Freude, Gesang,
Tanz, Lied, Festeslust heißen die Musen. Nur eine heißt nach der Stimme,
der Sprache: Kalliope. Ist es irgendwie in ihrem Wesen gegeben, daß
sie von allen die vorzüglichste sein muß? Warum ist das nicht Kleio,
warum nicht Uranie? Hat nicht der Dichter (oder der Rhapsode) Kal-
liope darum an den Schluß gesetzt und sie zur vorzüglichsten gemacht,
weil die Schönheit des Wortes es ist, die zwei Menschenarten ihre Würde
gibt: den Königen und den Sängern? Kalliope ist es, die die Zusammen-
gehörigkeit von König und Sänger begründet. So heißt es in dem Text,
den das ganze Altertum, also gewiß schon die Zeit des Aischylos und
Pindar las. Jacobys Hesiod aber hätte diesen Zusammenhang nicht ge-
stiftet. Nicht einmal e i n erweiternder Rhapsode hätte das getan. Son-
dern der erste hätte die Könige hinzugefügt und bei Kalliope gar nicht
an seinen eigenen Gesang gedacht, und erst ein zweiter hätte diesen Scha-
den ausgebessert. Eine Fülle von Fragen drängt sich auf. Ist der Versuch,
der Hermes 49, 10 gemacht wurde, das schwierige Gefüge dieser Vers-
reihe als archaisch zu begreifen, nicht der Erwägung wert? (Das yàg in
V. 94 wäre nicht das erste griechische yàg, dessen Beziehung Schwierig-
keiten macht; ein yàQ hat ja geholfen, das Proömium des Thukydides
zu zertrümmern!) Und vernichtet nicht vielleicht die Absetzung durch
[249j250] Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby 89

Petitdruck und Reichskursbuchlinien eine echt archaische Einheit? So-


dann: ist das Verhältnis von Königen und Sängern vielleicht ein beson-
ders hesiodisches Problem? Besonders hesiodisch etwa noch der Hinweis
auf das „gerade Recht", nach dem die Könige walten, auf den „sicheren
Spruch", mit dem sie einen großen Zwist kundig schlichten? Vor allem:
eine Gemeinschaft zwischen Sänger und König, zwischen Macht und
Geist wird hier befestigt durch die kühne Konstruktion, daß beide den
Musen, der Kalliope vor allem, zugehörig sind. Von dort her empfangen
beide eine Sprach|kraft, mit der sie die Menschen bezwingen. Aber auch
durch eine Art Abstammung sind sie verbunden, da die Könige „von
Zeus" sind, die Sänger „von Apoll und den Musen". In anderer Weise
wird dasselbe gesucht bei Pindar etwa in Ol. I und Pyth. I: der ßaaiXEvg
und der jtQocpavxog aocpiai sind auf einander angewiesen, staatliche und
musische Ordnung gehören zu einander, mit dem su iiaftelv der Fürsten
muß das ei dxoiiEiv im Gesänge sich verbinden als „höchster Kranz". Und
wiederum, hat nicht Pindar Aehnliches im Auge, wenn er die ßacTiXfjec
dyauoi neben die aocpiai n-Eyiaxoi (Frg. 133 Sehr.), und Empedokles, wenn
er die ixavteig te xai iü|AvoJt6Xoi xal tr|TQoi neben die JtQÖ(xoi stellt (Frg. 146 D.)
auf dem Stufenweg der Seele? Und liegt nicht zu allerletzt das, was
Piaton in einer völlig veränderten Weltlage sucht, der Zusammenfall der
övvanig te jtoXitm'i xai cpiXoocKpia auf derselben Linie? Bei Hesiod aber soll
jener ursprunghafte Gedanke auf der zufälligen Ergänzung des „echten"
Textes durch einen ersten und zweiten Bearbeiter beruhen? Doch habe
selbst Jacoby recht, und sei der Text wider alle Wahrscheinlichkeit nicht
viel mehr als eine cn)HJiE(pt>QHEvn aumpopa, und bringe der Kommentar die
unwiderlegbaren Beweise dafür, bleibt nicht noch ein letztes und ernste-
stes Problem? Muß man dann nicht sagen: dichterisch und geistesge-
schichtlich wäre wenigstens hier der gereinigte Hesiod ziemlich unwichtig,
wichtig erst der erweiterte? So daß die Kategorien „echt" und „wich-
tig" hier ganz auseinanderfallen würden, - wenn nämlich die Jacobysche
Echtheitsanalyse sich bewährte?
Zwei Stellen aber von noch größerer Bedeutung trifft die Erweite-
rungshypothese des Editors in den Versen 32 und 38-52, wobei zu sagen
ist, daß innerhalb dieser größeren Reihe wieder einige Verse, darunter
ein höchst bedeutender, durch eckige Klammern ausgesondert werden.
Man wird durch die Jacobysche Schichtenzerlegung auf die Wichtigkeit
dessen, was hier zerlegt wird, erst recht aufmerksam gemacht. Man kann
also dem Analytiker, auch wenn man das Resultat bezweifelt, gar nicht
dankbar genug sein. , ,
EVEJtVETJOaV OE (XOl auÖT|v
•)• ftsiriv, iva xXeioihi xa t ' eaaö^Eva itQÖ x' eovtcx,
xai exeXovö' •u(xveiv ¡xaxdQcov 78V05 aiEv eovto,

So druckt Jacoby. Sie hauchten mir Stimme ein? Aber seinem Wesen ist ja
der Mensch atiÖT|eig (e 334, £ 125), exojv ev otti^eoiv at)8r)v (A 430). Zeus
90 Griechische Literatur [2501251]

befiehlt dem Hephaistos zur Erschaffung der Pandora Yoüav ijöei qpiiQEiv, ev
6' avögci)itou -9e(iev aii6r)v (Erga 6i), und vom Pferd des Achill heißt es
aii8r|EVTa 6' eftt^e ftEa (T 407). Haben also die Musen ihm Stimme einge-
haucht, die er doch als redendes Wesen wesenhaft besaß, und nicht viel-
mehr eine irgendwie geartete, | musische, dichterische Stimme? Ist also der
Vers überhaupt entbehrlich, der das erforderte Attribut bringt (wie es
nun auch geheißen haben mag)? Jacoby setzt ihm das Antisigma voran,
hält ihn also für eine duplex recensio — wovon eigentlich? Wir erwarten
Aufklärung darüber und überhaupt die Begründung der komplizierten
arineitoffig von dem Kommentar, und wir sagen hier nur, warum die Frage
uns von so großer Wichtigkeit geworden ist, ganz abgesehen von der
Textkritik und von der Frage, was Hesiod gedichtet hat und was etwa
die Späteren. Nehmen wir den Text so wie er vorliegt. Die, irgendwie
prädizierte, Stimme hauchen die Musen ihm ein, damit er rühme das
was sein wird und das was vorher war. Und nachher sagen die Musen
an: das was ist, was sein wird und was war. Also das Wissen, das durch
die Zeiten blickt, das ist der Besitz der Musen, und das haben sie dem
Dichter bei seiner Weihe verliehen. Aehnlich im Scherzspiel des 'Aycbv
"Ouf)Qou xai 'Haioöov 91 Rz. = 97 Allen = c. 8 1. 25 Wil. Mofta' aye [iot
T<x t' eovxa ta x' Eaao^Eva jiqö t' eovtoi . . . Das ist also im sechsten Jahr-
hundert5. (Man denke an Schiller, um zu erkennen, daß hier ein über-
zeitlicher Aspekt vorliegt: Er hat alles gesehn was auf Erden geschieht
und was uns die Zukunft versiegelt. Er saß in der Götter urältestem Rat
und behorchte der Dinge geheimste Saat.) Diese hesiodische Gesamtsicht
der dichterischen Existenz ist von einer ursprunghaften Größe und Ein-
fachheit, vielleicht darf man auch sagen Neuheit, wenn man bedenkt,
wie die Odyssee vom Dichter nur zu rühmen weiß, daß ihm die Muse
süßen Gesang gab (ft 64). Ist es Blindheit und glaublich, daß drei oder
vier verschiedene Geister an diesem Ganzen gewirkt haben, und daß es
doch in ausgezeichnetem Sinne ein Ganzes ist?
Wir verweilen hier noch einen Augenblick. Denn dieser Gesamtaspekt
ist wiederum die Besonderung eines noch umfassenderen, den wir in einer
kurzen Skizze darstellen müssen. Der törichte Agamemnon „weiß nicht
zugleich vorwärts und rückwärts zu denken (voTjacu)" (A 343). „Der Ver-
stand der jüngeren Menschen schwankt, der Greis aber blickt zugleich
nach vorwärts und rückwärts" (r 109). Dieser Blick durch die Zeit also
unterscheidet den Weisen vom Toren. Kalchas der Seher „wußte das
Seiende, das Künftige und das Vergangene" (A 70). Das also ist das
Wesen des Sehers, nicht etwa zufälliges Erahnen zufälliger Zukunfts-
dinge, so wie es gemeinhin auch bei den Alten gesehen wird (tt|v |iavTwr|v

5
Euripides Ion v. 7 von Apollon: t d x' övta x a i p i M o v r a Oeciju^cov det. Die Ver-
gangenheit ist nicht mehr ausdrücklich genannt. Ist sie schon dem Historiker anheim-
gegeben?
[251j253] Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby 91

elvai ¿jikjtt||xt]v Toi (xeXXovtog laeaöai Plat. Charm. 173 C). Neben den
Seher stelle man den Arzt, wie Homer (q 384) und Solon (i, 53 ff.) sie
neben einander stellen und wie Empedokles (Frg. 1 1 2 ) sich rühmt, beides
zu sein. Die antike Prognostik ist die Kunst des Arztes, am Bett des
Kranken „vorherzuerkennen | und vorherzusagen - d. h. ehe der Kranke
noch befragt worden ist - das Gegenwärtige, das was vorher geschehen
ist und das was künftig sein wird" (Hippokr. Progn. 1). (Diese antike
Prognostik hat uns L. Edelstein, Problemata IV Kap. 3, besser verstehen
gelehrt; die hier gegebene ideengeschichtliche Skizze kann dem dort Ge-
sagten einen breiteren Unterbau geben.) Zum Dicher, Seher, Arzt, die ja
alle ao<poi sind, stellen wir den platonischen aocpög oder (piXoaoqpo; (Charm.
174 A): er weiß das Zukünftige, das Gewesene und das jetzt Seiende
und zwar auf dem Gebiet von Gut und Schlecht. In diesen einheitlichen
Aspekt des griechischen Weisen also ordnet sich der frühste Weise, der
Dichter ein, wenn man den Hesiodtext so nimmt wie er überliefert ist.
Solches Wissen des Weisen aber ist zugleich musisches, d. h. göttliches
Wissen. Und noch einmal: dieser überlieferte Zusammenhang soll nicht
aus einer einheitlichen Konzeption entstanden sein, sondern durch all-
mähliches Ankristallisieren? Und wenn es dem künftigen Kommentator
gelänge, uns davon zu überzeugen, müßten wir dann nicht wieder
urteilen, daß der alte und echte Hesiod unwichtig sei und wichtig erst
der erste, zweite und dritte Bearbeiter?
Was den Stil betrifft, so ist die konzentrische Komposition, die V. 38
durch V. 51 und V. 37 durch V. 52 aufnimmt, echt archaisch. Aber es
wäre ja gewiß möglich, daß auch eine Erweiterung mit dem ursprüng-
lichen Text in solch archaisches Kompositionsschema zusammenginge. Für
den Klang der drei aufeinander folgenden Versanfänge 37-9 •uiivEÜaai...
eipeCaai . . . <pa)vf|i önr]Qevaai . ist hinzuweisen auf die Versschlüsse in
Erga 1 . 2 . . . idsiovaai . . . iiuveiouaai (um vom Hekatehymnus hier noch
zu schweigen). Jene drei aber teilt Jacoby unter drei verschiedene Ver-
fasser auf — mit Wahrscheinlichkeit? Und ist es wahrscheinlich, daß in
dem dreifachen Gesang der Musen der Parallelismus oaaav tslaai xXeioucriv
. . . äQx<Vevai tiuveCoi . . . mveiaoa TEpjtouoiv . . . nicht aus einem Gusse
wäre? Daß nämlich das mittlere Glied überhaupt kein Verbum gehabt
hätte und der V. 48 äp/ofisvai tyiveiiai. •öeai ?.t|yodol x' doiöife in die
Erweiterung seinerseits erst wieder wäre eingearbeitet worden? Auch dies
nämlich hat seine Bedeutung über die stilistisch-textkritische Frage hin-
aus. In V. 34 rufen die Musen den Dichter auf acpüg 8' ama<; jtpütov te xai
vtrtaxov atsv deiöeiv. Wenn dieser Vers von demselben Dichter wäre wie
48, so würde gesagt sein, daß der Dichter den Musen erweist, was sie
selbst dem Zeus, ebenso wie das Wissen um Vergangenheit und Zukunft
Musen und Dichter vereinen würde, wenn 32 und 38 von demselben
Dichter wären. Zerreißt man nicht die Kette der | magnetischen Eisen-
ringe, durch die Piaton im Ion den Strom der Inspiration sich fortpflanzen
92 Griechische Literatur [253¡254]

läßt? Und wenn man sieht, daß die Musen vor Zeus die Theogonie singen
wie Hesiod vor den Menschen, werden wir nicht auch dies für höchst
absichtsvoll halten: menschlicher Gesang Abbild des göttlichen? Und
wieder wäre das erst nachträglich hineingebracht worden? Auch Jacoby
deutet ja in der Anmerkung zu 36-52 an, daß er einen Grundstock
hesiodischer Verse innerhalb dieser großen Erweiterung vermute, was
die kritischen Zeichen nicht im Stande sind auszudrücken. Wir müssen
abwarten, ob es dem Kommentar gelingt, solche gewiß sehr mögliche
Erweiterung wahrscheinlich zu machen, Ursprüngliches und Angewachse-
nes sicher zu scheiden. Vorläufig will uns auch hier scheinen, als hätte
zuweilen erst Jacobys jüngster Bearbeiter oder gar Interpolator den
Zusammenhang vollkommen hergestellt, der uns wichtiger scheint als
vieles sonst in dieser Dichtung. Und wird nicht der künftige Kommentar
außerordentlich starke Gründe beibringen müssen, um uns davon zu über-
zeugen, daß dieser „Bearbeiter" ein anderer ist als eben - Hesiod selber?
Bevor wir das Proömium verlassen, noch eine Beobachtung. In V. 77
bis 79 stehen die berühmten neun Musennamen. Nichts unbegreiflicher,
als daß man auch diese Verse dem Hesiod hat nehmen wollen. Verrieten
nicht gerade solche Namenreihen antikem Kunsturteil den 'HoiöSstoc;
xaQcwnf|Q? (Vgl. Nr. 68 a in Jacobys höchst nützlicher Sammlung der
Testimonia de Hesiodi vita et poesi.) Jacoby hält sich von dieser Hyper-
kritik fern, wiewohl er einige Bedenken zu überwinden hat. Aber viel-
leicht läßt sich hier alles auf eine festere Basis stellen, wenn man folgende
Zusammenstellungen auswertet. Kleio: 44 ftecov 7EV05 aiöoiov jtqcotov
v. X e i 0 v a 1 v. 66 f.li'ftea xeSva adavaToav x X e i o v a 1 v. Euterpe: 37 ( = 51)
iifiVEiaai T E p n o v o i . Thaleia: 65 ev ö a X i t) 1 g. Melpomene: 66
H fiXjtovTai. Terpsichore: 4 öpxEÜVTai. 7 % 0 q o i> g Evejtoif|aavTo xaXoug
tfiEQOEVTag. Dazu t e q j i o u c j i in 37. Erato: 6 j e p a t r| v öe öiä atona
oaaav ieiaai. 67 E J i r i g a t o v oaaav tEiaai. 70 t o a t o ? öe jcoSwv tiitö
öoimog ögtoQEi. Polymnia: 37 « (i v b i o a 1. Uranie: 71 viooixevcov itateg'
Eig ov ' o ö'o v q a v (o 1 E|a.ßaai/iEij£L. Vgl. 37 Evtög 'OXij|iitoD usw.) Kalliope:
41 öeüv ö jt i XEißioea0r|i. 6 8 dyaXXonevai ö jt 1 % a X fj 1. Hesiod also hat,
scheint es, diese Namen nicht beliebig hingestreut, sondern sorgsam vor-
bereitet. Kein Name erscheint, ohne eine Funktion auszudrücken, die
nicht vorher in der Bewegung des musischen Geschehens selbst lebendig
geworden wäre. Aber freilich, diese Beobachtung trifft nur zu, wenn 38
bis j 2 und 62-67 v o n Hesiod sind. Was also muß weichen? Scheitert
unsere Beobachtung an Jacobys Analyse? Oder umgekehrt, wie wir
glauben möchten, diese an jener? Vielleicht | könnte sich eine dritte Ansicht
melden: richtig sei die Beobachtung und die Analyse; also gehöre die
Namenreihe gleichfalls dem Ueberarbeiter. Aber darauf dürfen wir uns
die Antwort versparen, bis künftig wieder ein Kritiker mit noch schärferen
Säuren als Jacoby an den Text herangeht.
Nun zur eigentlichen Theogonie!
[254j255] Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby 93

Jacoby hat eine Abneigung gegen Eros und Aphrodite. Eros wird
auf einen einzigen Vers (120) beschränkt, Aphrodite verschwindet aus
dem Gedicht Hesiods überhaupt. Hier ist man in der günstigen Lage, sich
mit Jacobys Abhandlung im Hermes 1926 auseinandersetzen zu können,
die den künftigen Kommentar vorläufig vertreten mag: Jacoby druckt
V. 120-2 so:
»s> ..17. 05 jiavTEOtn fiETaitpeitei äftctväTOiaiv.
' " ' ' [05 xäMaaxog ev äftavaxoiai dsolai,
A.i)aineA.rig jtävxcov te Oecov jtävxcov x' Avdjjdmcov
6apvaxai sv axfidecai vöov xal ejcupgova ßouXr|V.]
Warum begnügt er sidi nicht mit Petitdruck? Warum geht seine Feind-
schaft gegen diese Verse so weit, sie auch noch in eckige Klammern zu
setzen? Daß Aristoteles V. 121/2 nicht gelesen habe, ist unbeweisbar:
dieses Negative wenigstens kann man gegen Jacoby mit Zuversicht aus-
sprechen. Aristoteles exzerpiert ersichtlich, und so wenig man sidier sagen
kann, was er nach Tai' evgiiioTEQvog las, so wenig kann man beweisen, daß
seine Vorlage hinter der Prädikation 05 jiäai (¿ETajigEJiEi äftavätoiaiv nichts
mehr gebracht habe. Die entgegengesetzte These Jacobys beruht auf seiner
Vorliebe für jene angeblich hesiodische Schlußformel, die von irgend
jemandem nichts anderes als seinen Vorrang prädiziere, wenn er nämlich
nur den einen Vorrang habe, in einer Reihe an letzter Stelle zu stehen.
Darüber ist früher bei Kalliope gesprochen worden. Und wie dort scheint
es mir auch hier zum mindesten ganz unerweislich, daß Hesiod sich
begnügt habe, den Vorrang des Eros zu behaupten, ohne ihn zu
demonstrieren.
Die Alten haben diesen Eros als den „kosmogonischen" verstanden, von
den Orphikern an über Parmenides und Empedokles zu Piaton und
Aristoteles, den Stoikern und Neuplatonikern. Welcker (Hesiodische
Theogonie 1 1 2 ) hat diese Deutung nicht umstürzen, sondern ergänzen
wollen, als er an den Steinphallos von Thespiai erinnerte. Wenn er
freilich diesem Gott einer urtümlichen Bauernreligion kosmogonische
Bedeutung beilegte (Götterlehre I 350), so wird ihm darin kaum mehr
jemand folgen. J a , heut möchte man weiter gehen und auch dem Hesiod
nur noch die Huldigung für seinen heimischen Gott übrig lassen und die
„kosmogonische" oder hesiodisch zu sprechen | „theogonische" Bedeutung
seines Eros ganz leugnen (Kern, Rel. der Griechen 250). Auch Jacoby
ist dem geneigt; „höchstens darf man auch hier fragen, ob die überraschende
Einführung des heimischen Gottes der Zeugung in den Kreis der Urgötter
durch V. 120 gewissermaßen begründet und gleichzeitig stark gefühls-
betont werden sollte; und diese Frage läßt natürlich keine beweisbare
Antwort mehr zu, so gern man sie bejaht". Ich glaube, man kann hier
zuversichtlicher reden - wenn man nur die eine Voraussetzung macht, daß
Hesiod etwas Sinnvolles und Bedeutendes schuf. Erst Chaos, dann Gaia
und dann — ein böotisdier Götterfetisch, der „seine hervorragende Stellung
94 Griechische L i t e r a t u r [2551256]

ganz einfach der Tatsache verdankt, daß er für Hesiod ein heimischer
Gott war" (Jacoby, a . a . O . 166): ist das nicht eben zu - einfach? So
einfach, daß recht besehen gar kein Sinn und Zusammenhang mehr übrig
bleibt? Warum dann grade Eros, da es doch viele heimische Götter gab?
Heißt das nicht, sich das Religions- und Geistesgeschichtliche dieser Stelle
geradezu verschließen, indem man sich auf das Zufällige und heimatlich
Enge zurückzieht? In Wahrheit hätte der nichts-als-böotisdie Eros neben
Chaos und Gaia überhaupt keinen Sinn bei Hesiod, und Sinn hätten erst
die Späteren hineingebracht, und zwar einen Sinn, von dem alle Folgezeit
zehrt seit der Orphik bis auf Dante. Also wieder wäre Hesiod ganz
unwichtig und wichtig wäre erst sein unbekannter Bearbeiter? Aber um
es offen zu sagen: an diesen Hesiod glauben wir nicht, und daß Hesiod
selbst dem Eros eine Bedeutung geben wollte neben und mit den Ur-
mächten Chaos und Gaia, das ist keine Annahme, sondern das steht ein-
fach da, weil das Gegenteil hieße: acinteaftai eiti tivog dXoviag. Daß er den
Eros-Phallos von Thespiai kannte, oder vorsichtiger zu sprechen, einen
epichorischen Kult von dieser Art, ist gewiß. Dann aber kann man den
Vorgang im allgemeinen nur so denken, daß er diesem Steinfetisdi
theogonische Macht verlieh. Ob das geschehen konnte durch die für sich
allein kaum halb verständlichen Worte ognäai n.Eta;tQEjrEi äftavatoioi? Ob
nicht sowohl diese im besonderen wie die Nennung des Eros an dieser
Stelle im allgemeinen erst sinnvoll wurden durch 121/2? Jacoby hat an
den homerischen Wendungen Anstoß genommen, die sich in diesen Versen
häufen („ausgesprochener Centocharakter"). Aber ist das, was er übrig
läßt, og jcavTEaai |.i£TcuTQejtei ädavätoiai weniger homerisch? J a , man kann
weiter gehen. Wenn man sich vorzustellen sucht, wodurch sich denn
Hesiod ermächtigt fand, den thespischen Steindämon so hoch zu erheben,
so muß die Antwort lauten: durch Homer. Mit dem, was man in einem
böotischen Bauernkult Eros nannte, schloß sich ihm zusammen, was
Homer Eros nennt, die Macht, die dem Zeus wie dem Paris itwivag |
(PQEVAG D|I(PEXÄXIN|>EV oder EVI ATRJÖEAAI JIEQURPOXUFREIG eöaixaaaev (3 2 9 4 .
315. 1^442.). Notwendig sind 1 2 1 / 2 nicht nur darum, weil sie 120 erst
verständlich machen, nicht nur darum, weil sie die Erhebung des Eros
zum Range eines Urgottes erst rechtfertigen, sie sind auch notwendig
- und das ist gleichsam die Probe aufs Exempel - weil das <piA6rr|-u (iiyrivai
sofort in der Verbindung von Erebos und N y x zum allerersten Male
geschieht und gleichsam erst durch 121/2 seine Möglichkeit findet. Mehr
als das: ohne 121/2 gibt es überhaupt keine Zeugung, also keine Theo-
gonie. Und notwendig müssen die Verse 121/2 durch und durch homerisch
sein, weil nur Homer es war, der dem Böoter zu diesem Aspekt verhalf. So
stellt sich bei einfacher Interpretation dessen, was dasteht, der religions-
geschichtliche Zusammenhang dar. Und wieder soll man glauben, dieser
große und sinnvolle Zusammenhang sei erst später hineingetragen
worden?
[256¡257] Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby 95

Soll es glauben, weil Aristoteles diese Verse nidit gelesen habe? - w a s


unerweislich ist. Weil sie durch und durch homerisch sind? - was sie doch
sein mußten. Weil sie eine Triade stören, die Jacoby aus den Versen
i i 6. 117. 120 konstruiert? — während sie doch, wenn man schon nach
Triaden fragt, in sich eine Triade bilden und z w a r eine wirklich über-
lieferte: 120-2!
Nach Eros Aphrodite (188-206). Sie soll also erstens überhaupt nicht
vorkommen in der hesiodischen Theogonie, sondern erst von einem
Späteren satis ingeniöse eingefügt sein, und dann hätte auch dieses ein-
gefügte Stück wieder gewisse Erweiterungen erlitten. Nehmen w i r
zunächst das Stück für sich und sehen es auf die angeblichen Erweiterun-
gen an. Ich habe schon früher darauf hingewiesen (Hermes 1914, 11),
und verschärfe das hier noch, daß der überlieferte Text, von dem w i r
doch ausgehen müssen, einen sehr wohl durchdachten Bericht enthält. Es
wird nicht schlicht erzählt, sondern das Wesen der Göttin wird in ihren
Namen gedeutet, in den vier N a m e n 'AcppoSíxri ('AqpeovévEia), Kuflegeia,
KujtpoYÉvEia, cpiXo¡.i|a.ei8rig (cpiXonri8r]g). Fast jeder Zug des Berichtes hat
nachher seine Entsprechung in einem dieser Namen, und nun sollen wir
gutwillig auf zwei von ihnen verzichten, also die A n k u n f t bei K y p r o s
soll bloß ein Stück Erzählung sein ohne Namens-, d. h. Wesensdeutung?
Und die ^t)5eoi, die mit solchem Nachdruck am A n f a n g stehen, sollen
nicht aufgefangen werden durch die so erstaunliche Etymologie von
cpi>.o|j.r]ÖT}g? Und warum das alles? Weil Jacoby nicht zugeben will, daß
hier „der Moment, w o Aphrodite aus dem Meere emporsteigt (ex 6' eßri
194), als ihre Geburt bezeichnet wird (yevto 199)". Das sei Harmonistik.
Wie aber, wenn Harmonistik hier wie sonst etwas höchst Berechtigtes
wäre, nämlich das Bestreben des Interpreten, die amovía, das Gefüge
seines Textes zu begreifen? A n unserer Stelle muß man nur sehr physio-
logisch denken, | um zu sehen, was der alte Dichter gewollt hat. Die
nr)5sa fallen ins Meer, nicht der „ausgeblutete Fleischlappen", wie Jacoby
(Hermes 61, 181) fälschlich versteht, und w i r werden bald sehen, aus
welchem Selbsterhaltungstrieb er so mißverstehen mußte. Es ist nämlich
falsch, daß die nr)8ea den ácpoóg erregen (a. a. O . 177) - wie soll man das
verstehen? Vielmehr: „rings um das Glied erwuchs (erhob sich) der weiße
Schaum von dem göttlichen Fleische her" (ä|xqpl öe Xeuhó; acpQÖg out' áftavátov
XQoög üjqvuto). Man kann am Gegensatz zum Orpheustext (Frg. 125 K .
ajitpi öe tolai Xevxög ejujtXcüoucuv éXíaaEto jtavtófrEv ácpgóg) noch schärfer sehen,,
was im Hesiodtext auch so unwidersprechlich deutlich wäre: daß der
Schaum, der „vom Fleische her erwuchs", nur der Same sein kann, mag
man sich auch hinterdrein „ringsherum" Meeresschaum ansetzend denken.
„In diesem", offenbar: in diesem Schaume, wurde ein Mädchen ernährt,
wuchs heran. Der Schaum ist so etwas wie ein Mutterschoß, in dem sich
neues Leben bildet. Dann nähert sich er oder sie, der áqpeóg oder die v.ovQr\,
das ist nicht sicher zu sagen, „er", wenn man twi 5' éví xovgti áftpÉ<pfrri im
96 Griechische Literatur [257¡258]

Vortrag Öia ¡xeaou hören läßt, ,sie', wenn man nach dSpvuto Satzschluß
markiert. Vielleicht also soll man gar nicht zwischen beiden Möglichkeiten
entscheiden, sondern dieses Ganze, der dqpßö? mit der xovqt) darin - und
so s i e h t man es ja auch - treibt zuerst in die N ä h e von Kythere, und
dann kommt er nach K y p r o s ; heraus stieg die Göttin. Wie nennen w i r
dieses Ans-Land-steigen, wenn es auf dem ludovisischen Throne darge-
stellt ist oder auf dem Gemälde des Botticelli? Die Geburt der Aphrodite,
la nascita die Venere. U n d nur hier im Hesiod soll es Harmonistik sein,
also verwerflich, wenn w i r so verstehen? Wird aber nicht vielmehr das
physiologische Bild vollkommen deutlich durchgeführt? Die xovqti in jener
schützenden Hülle ist gleichsam der Embryo, und wenn die xotjqt) zur
Göttin herangewachsen ist und nun heraussteigt, so ist das die Geburt.
Will man einen Beleg aus der antiken Physiologie f ü r den Zusammen-
hang von £§Qecp-&r| und e|eßr| = ¿yeveto? Hippokrates üeqi cpiiaiog (tvöqcüjtou
V I I 5 32 Littre: ryv f) t q o qp rj ngooftEV W ^ i outö rrj; uritgög töh it a 1 8 i cd 1
xai oötü) jtgoafrEV 6 Toxog tfji ht)tqi nagayivExai xai ftäaoov dexa ^t]vcüv
e | e q x e i ; « ^ (wofür anderwärts x w e " 1 ^Ico gesagt wird).
So hängt die „Aphroditegeburt" fest und klar zusammen und man
staunt über die physiologische Eindeutigkeit des ganzen Vorgangs. N u n
aber der Zusammenhang dieses Geschehens mit dem, was im Texte vor-
ausgeht: mit der Entmannung des Uranos. Wir lassen zunächst alle Einzel-
heiten, um die Situation möglichst sinnfällig zu machen. Wir sehen den
Himmel, den großen Uranos, wie er „um die G a i a nach Liebesgenuß
begehrend sich ausstreckt". In diesem Augenblick | mäht Kronos das
Zeugungsglied ab und w i r f t es (die Einzelheiten nachher!) ins Meer.
„Nicht vergeblich flog es aus seiner Hand. Denn aus den Blutstropfen ent-
standen die und die Wesen" - und damit läßt Jacoby den hesiodischen
Text schließen. Ich frage: w a r es ein späterer Rhapsode, der da f a n d , das
ovx Ettbaia wäre so durchaus unerfüllt, und der darum die Aphrodite-
geburt anfügte? War es erst ein Späterer, der erkannte: das Zeugungs-
glied, in diesem Momente abgeschnitten, müsse zeugen, und z w a r nicht
nur durch die zufällig abtropfenden Blutstropfen, sondern durch den
notwendig in ihm enthaltenen Samen? Ist nicht vielmehr mit den Worten
ta fjiv ov ti etiboia gxcpiryE xsigög von vorn herein das Schicksal der (U|ÖEa
selbst gemeint, so wie bei Homer das Schicksal der W a f f e in Fällen wie
tov 8' ovx ähov ße/.og excpvye xBlQÖ?, aXX' eßaKs atf|'&og ( E 18) — ovd' aga (xiv
SXlov ßEXog gxqpuyE '/eiQÖg ... öia 8' a^jisQeg log ev yairii xatEnrixTO (A 376)?
Diesen wieder bis zur physiologischen Ueberdeutlichkeit sinnfälligen
Zusammenhang zerschneidet J a c o b y - womit? Mit dem zweischneidigen
Messer einer grammatisch-stilistischen und einer mythengeschichtlichen
Konstruktion. Zuerst die grammatische, xa |jiv oii ti Eteaaia . . . werde
begründend ausgeführt durch das was mit yag folgt: das Sdiicksal der
eaftd|uvYeg. „Das ist stilistisch rund und fertig". Niemand wird bestreiten,
daß rein formal mit 187 alles zu Ende sein könnte. Aber genau so gut
[258j259] Hesiodi C a r m i n a recensuit Felix J a c o b y 97

liegt es in der sprachlichen Möglichkeit des yaq, daß seine Wirkung sich
noch über 187 hinauserstreckt. Um zu paraphrasieren: xàg |ièv yàg
Qa3à\iiyyaq è6É|ato f) rfj, a i t a 8è t à aiöoTa, EJteiöri t a x i c r t a -/aTgßaXev. . . .
Ebensowenig zwingt Jacobys mythengeschichtliche Konstruktion. Zwei
„abergläubische Bräuche" ganz verschiedener Art seien in unserem Text
durcheinander gemengt, erstens der Ritus des Hinter-sich-werfens,
zweitens daß man /.tiuata ins Meer wirft. Für den ersten erinnert Jacoby
mit Recht an Deukalions Steinwürfe, für den zweiten mit Unrecht an
Leukotheas Schleier anstatt an A 314. Denn was hat der Schleier mit
Ivaaza zu tun? Und was haben die |_ir)ÖEa mit Wuata zu tun? Man schlage
nur einmal den Index zu Wuttkes Deutschem Volksaberglauben nach, um
sich zu überzeugen, wie vielfältiger Verwendung das „rückwärts, rück-
lings" im Volksbrauch fähig ist. Dann wird man nicht leicht nur zwei ver-
schiedene Riten sondern, wo es viele gibt. Auf der anderen Seite wird
die Deukalion- und die Leukothea- und die Uranosgeschichte trotz aller
Verschiedenheit darin übereinstimmen, daß rückwärts etwas Geheimnis-
volles geschieht, was dem Menschen zu sehen nicht erlaubt ist. So be-
zweifle ich, wenn auch nicht völlig den von Jacoby aufgestellten Gegen-
satz, so doch den Gebrauch, den er von ihm für die | Analyse macht, und
frage: ist es wirklich unerlaubte Harmonistik, wenn man den Wider-
spruch zwischen 181 itaXiv 8' £Qgu|JE qpéoEatìai é^oitiao) und 189 xaßßaX5 an'
6
f|jtEigoio jio/.-uy./.ijcFTCüi évi itóvTtoi nicht sehen kann ? Jacoby läßt den Kronos
an der zweiten Stelle „die |xr]&Ea vom Strand (!) ins Meer werfen" und
legt damit dem Worte rjjtEipog eine Bedeutung unter, die es nicht hat. Hier
wie dort steht Kronos auf dem Festland (wie weit von der Küste, wird
nicht gefragt) und wirft über das Land hin aufs Meer hinaus. D a kann
ich schlechterdings keinen Widerspruch erkennen.
Aber die Parallelen aus Mythos Märchen Volksbrauch, auf die wir
geraten sind, dürften noch wahrscheinlicher machen, was vorher aus dem
o{)/. ÈTwaiov geschlossen wurde: nicht die Blutstropfen können die Haupt-
sache sein, mit dem fortgeworfenen Dinge selbst muß das Wesentliche
geschehn. So ist es bei Deukalion und Leukothea, so in dem weit über die
Welt verbreiteten Märchen von den verfolgten Kindern, die etwa Kamm
und Spiegel hinter sich werfen, damit Gebirge und See daraus entsteht
(Grimm 79, dazu die Parallelen bei Bolte-Polivka); so meint es doch
wohl der Volksglaube, wenn ein Schuh oder ein Glas oder eine Apfel-
schale oder sonst etwas über Schulter oder Kopf rückwärts geworfen wird.
Immer geht es um die Sache selbst, nie um etwas was von ihr abbröckelt
oder abtropft. Und wo es sich um Verwandlungen handelt: gibt es irgend
ein Beispiel, daß nicht der Gegenstand selbst verwandelt wird, sondern
etwas was von ihm abfällt, während er selbst ins Wesenlose entschwin-
det? So darf man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit den ganzen

6
V g l . W i l a m o w i t z , D e r Glaube der Hellenen I ( 1 9 3 1 ) 96.
98 Griechische Literatur [2591260]

Zusammenhang, wie er in der Theogonie steht, genetisch so konstruieren:


Zunächst ( i ) dichtet der Mythos die Trennung von Himmel und Erde.
Sie kommt für sich vor bei den Aegyptern und den Maori und w a r es
gewiß ursprünglich bei den Griechen. Dann (2) w a r die erste Erweiterung,
so denke ich, diese: das Zeugungsglied zeugt; an den K a m p f des Kronos
mit Uranos fügt sich die Aphroditegeburt. Und die zweite Erweiterung
(3): aber auch aus den Blutstropfen entstehen Dämonen. Wäre diese
Konstruktion, die mir in sich einleuchtend erscheint, so erweislich, wie sie
es ihrem Wesen nach nicht sein kann, so wäre Jacobys Herstellung des
echten Hesiod auch von da aus widerlegt.
Schließlich noch ein Argument Jacobys gegen den hesiodisdien
Ursprung der Aphroditeepisode: Als sie geboren wurde, d. h. heraustrat
aus ihrer Hülle, schloß sich ihr Eros an (201). Hier sei ein Widerspruch
zwischen d e m „ U r g o t t " (120 ff.) und dem „Begleiter der Aphrodite". Worin
eigentlich liegt dieser Widerspruch? Vielleicht darin, daß man sich den
Urgott als steinernen Phallos und den Begleiter als geflügelten Putto
denkt? Aber der Steinfetisch ist eine modern gelehrte, religionsgeschicht-
liche Hindeutung in den Hesiod, und der Putto w a r noch nicht erfunden.
In unserem T e x t wird erzählt, daß jener anfängliche Gott sich in das
Gefolge der Aphrodite begab, da sie geboren wurde. Damit wird eine
Verbindung gestiftet, die es vorher, soweit wir wissen, nicht gab, die aber
seitdem gilt im Kult, in der bildenden Kunst, bei den Dichtern und
Philosophen. Und wieder fragen wir: diese schöpferische Verbindung soll
nicht Hesiod geschaffen haben, sondern ein späterer Rhapsode? Wenn w i r
das glauben müßten, wäre nicht wieder dieser Rhapsode wichtiger als
Hesiod? Besteht nicht auch dann die Aufgabe, sich klar zu machen - und
möglichst über Schoemann hinaus - was jene Verbindung von Eros und
Aphrodite bedeute? Und erzeugt nicht Jacobys Analyse die Gefahr, daß
man dieses Wichtigste vergesse, da doch Aphrodite „bei Hesiod" nun gar
nicht vorkommt und also Eros sich „bei Hesiod" nicht in ihr Gefolge
begibt?
In der Nachkommenschaft des Phorkys und der Keto häufen sich die
Schwierigkeiten - und bei Jacoby die Kursbuchstriche am Rande. M a g
man von den Schwierigkeiten, die die praefatio entwickelt, noch so viel
für zutreffend halten, die Lösung kann nicht richtig sein, aus einem ein-
fachen Grunde. Offenbar sind in dieser Genealogie die Ungeheuer der
Perseus-Herakles-Bellerophontes-Sagen gehäuft, und man sollte fragen,
was diese Häufung bedeutet. Das kann hier nicht geschehen, und nur
so viel sei gefragt, ob hier nicht eine ganz bestimmte Mythenschicht, die
Schicht der tierischen und halbtierischen und ungeschlachten Mythen-
wesen, als solche erkannt und abgehoben wird, erkannt eben in der selbst
noch mythischen Denkform des Genealogen. Gleichviel für jetzt. A m
A n f a n g dieser Reihe steht Keto, eine Gestalt, die — eher von dem
Genealogen geschaffen als ihm überkommen - in ihrem Namen auf ihre
[260j261] Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby 99

Nachkommenschaft hinweist. Keto stellt gleichsam die Möglichkeit dar,


daß es xt)tti gibt, wie Astraios die Möglichkeit, daß es Sterne gibt. Welche
xt|tt] aber bleiben ihr nach dem Reinigungsprozeß, den Jacoby hier voll-
zieht? Die Graien sind keine, die Gorgonen auch nicht, Pegasos vielleicht,
schwerlich Geryoneus. In Wahrheit hat Keto bei J . nur ein x^-tog zum
Kinde, die Hesperidenschlange. Hingegen Echidna Chimaira Orthos Phix
nemeischer Löwe, sie alle sollen erst von zweiter, dritter, vierter Hand
eingefügt sein? Und Keto hat ihren Namen von Hesiod empfangen, weil
sie ein xfjTog zum Kinde und allenfalls noch eins zum Enkel hat? Ich löse
die von J . aufgewiesenen Schwierigkeiten nicht. Ich zeige nur den Punkt
auf, an dem seine Lösung fragwürdig wird. Und wenn dieses Moment
in einem Namen liegt, muß man dann | nicht von dort die Absicht des
namengebenden Genealogen erfassen, und muß nicht selbst eine oder die
andere sprachliche Schwierigkeit in Kauf genommen oder irgendwie
anders erklärt werden, aber jedenfalls nicht so, daß man die Einheit
zerstört, auf die der Name Keto zielt?
Der Hekatehymnos ist eins der unschätzbarsten Stücke religiöser
Poesie überhaupt, und sollte er unhesiodisch sein, wie J . meint, so wäre
wieder die spätere Erweiterung von ungleich größerem Wert als das
,Echte', und die Athetese dürfte nicht von eingehendster Interpretation
entbinden. Daß Perses und Asterie ein Kind haben müsssen, sagt J . selbst.
Daß man schwanken könne, wer mit f) 8' tiitoxuaauevri in V . 4 1 1 gemeint
sei, nachdem in V. 409 f. Perses die Asterie heimgeführt hat, diese Behaup-
tung der Praefatio (p. 9) wird der Kommentar nicht aufrecht halten
können, nachdem schon die Adnotatio zu 4 1 1 sie nicht mehr aufrecht
hält. Ebendort werden Uebereinstimmungen mit sicher hesiodischen
Stücken als Imitation des erweiternden Rhapsoden gefaßt. Aber ist es
nicht viel zu äußerlich, wenn man sagt: im Hekatehymnos sind die
Hesiodverse über die Styx nachgeahmt? Vielmehr taucht doch wohl ein
Grundmotiv der Theogonie im Hymnos wie in der Styxepisode auf: die
tijicu und ihre Verteilung. Schon im Prooemium erklang es mit höchstem
Nachdruck (V. 74 und - wo J . es freilich angetastet hat - 1 1 2 ) und hält
sich bis zum Schluß durch (V. 882. 88 j und — wo J . es wieder entfernt -
904). An vielen Stellen und auch im Hekatehymnos verbindet es sich mit
dem Sieg über die Titanen, aus leicht verständlichem Grunde. Denn das
Erringen der Macht und die Verteilung der Machtbereiche gehört zusam-
men. Man müßte also schon sagen: nicht die Styxpartie ist nachgeahmt
im Hekatehymnus, sondern er ist durchaus im Geist der Theogonie ge-
dichtet. Und wieder: genügt es, auf einige Verse des Ergaproömiums
hinzuweisen, die angeblich im Hekatehymnus nachgeahmt seien? Viel-
mehr geht auch hier die Uebereinstimmung viel weiter. Es gibt überhaupt
keine anderen Stücke archaischer Poesie, die so stark mit „rhetorischen"
Mitteln wirkten wie das Ergaproömium und der Hekatehymnus: mit
Reim, Antithese, Anapher. Und diese sprachlichen Mittel stehen an beiden
100 Griechische L i t e r a t u r [2611262]

Stellen im Dienst einer ganz verwandten Aufgabe: einen Gott zu preisen


vor allen anderen Göttern. Sollte die Athetese des Hekatehymnus zu
recht bestehen, so gehörte er immer noch mit nichts enger zusammen als
mit dem Ergaproömium, nicht im Sinne einer einseitigen Imitation, son-
dern einer tiefen Gemeinsamkeit der Denk- und Sprechform.
Die Argumente für Jacobys Athetese wird der Kommentar bringen.
So sei hier nur im Voraus gesagt, daß das religionsgeschichtliche | Argu-
ment von Wilamowitz (Hesiods Erga 131) nicht durchschlägt: „da als
Hekate nur eine karische, mit dieser gleichgesetzte Göttin eine solche
Geltung gehabt hat, wie sie ihr in der Theogonie beigelegt wird, halte
ich die Bearbeitung für entstanden im asiatischen Kulturkreise. In Böotien
ist Hekate überhaupt nicht nachgewiesen". Denn welches ist denn diese
Geltung bei genauer Interpretation? Kern (Rel. d. Gr. I 246) sieht es so:
„es ist das erste Mal, daß eine Gottheit in der griechischen Literatur als
Herrin des ganzen Alls besungen wird". Und das scheint communis opinio.
(,Allgöttin' R-E VII 2 7 7 0 ; ,fast Universalgöttin' Schmid-Staehlin, Gesch.
d. gr. Lit. I 265.) Wenn es richtig wäre, so müßte man vielleicht wirklich
aus Böotien nach Asien hinüberwandern (obgleich Schmid an den Kult
von Aigina, Paus. II, 30, erinnert). Es ist aber nicht richtig, weil man
nicht genau gelesen hat. Nicht Herrin des Alls ist sie, sondern überall hat
sie „Anteil". Herrin der Erde ist Gaia, Herr des Meeres Poseidon. Hekate
hat Anteil (noigav 413) an Erde und Meer. Die Wirkensbereiche (xi^ai)
sind unter die Nachkommen von Uranos und Gaia aufgeteilt. Hekate
aber hat an allem Teil (aiaav 422). Wer schöne Opfer darbringt und
dadurch nach Brauch versöhnt, der ruft die Hekate ( 4 1 7 ) . Opfer dar-
bringt - wem? Und versöhnt - wen? Nicht Hekate kann gemeint sein;
denn die unsterblichen Götter sind vorher genannt, und Hekates ,Ehre'
bei ihnen soll durch den y«9-Satz begründet werden. Also: wenn irgend
einem Gotte geopfert wird, ruft man außer ihm selbst noch die Hekate.
Wer über das Meer fährt, betet - nicht zu Hekate, sondern zu Hekate
und Poseidon ( 4 4 1 ) . Die Herden mehrt und nährt sie „mit Hermes" (ov\
'Eouf|i444). Und so wird sie „mit allen Unsterblichen" (JTUAI LIET' aftava-coiai)
geehrt. Aehnlich im Homerischen Aphrodite-Hymnus (29 ff.) Hestia: sie
ist in allen Tempeln Teilhaberin an den Ehren der betreffenden Gottheit.
Hat man diesen „Anteil", dieses „mit" schon scharf genug gefaßt? Nirgends
verdrängt Hekate - oder Hestia - die anderen Götter. Von einer Allgott-
heit vollends ist in diesem Bezirk religiösen Denkens nicht die Rede. Doch
überall ist sie dabei. Das ist sehr viel und ist sehr seltsam. Aber das große
Kultheiligtum, das Kern (a. a. 0 . 2 4 5 ) für diese Hekate postuliert, braucht
es um des hesiodischen Hymnus willen nie gegeben zu haben. Hekataia
überall, bei jedem Haus, an jedem Tor, vor jedem Heiligtum: das er-
schließe ich für Böotien, so wie es in Attika solche kleinen Kapellen und
Bilder der Hekate JTAVTAXOÜ JIQÖ TMV ÖXJQÜJV gab (Aristophanes Wespen 8 0 4
mit Schol., Preller-Robert I 325), wovon die Funde (vgl. zuletzt
[2621263] Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby 101

Charisteria Alois Rzach dargebracht, 1930, 47 fF.) uns bisher aus alter
Zeit nichts gezeigt haben und vermutlich nie viel zeigen werden. (Ed.
Schmidt, Archaistische Kunst 47 ff., vermutet, daß die ältesten Hekate-
Idole aus Holz waren und daß deshalb nichts von ihnen erhalten ist.) Setzt
man jenen Zustand für das Böotien des | achten Jahrhunderts voraus, so
beginnt man vielleicht die geistige Leistung unseres Hymnendichters zu ver-
stehen. Ueberall sah er Hekataia, und so wurde ihm Hekate eine Macht
keineswegs über den andern, keineswegs alle umfassend, wohl aber alle be-
gleitend, so etwas wie ein Medium zwischen den getrennten und vielleicht
gar ein Medium zwischen ihnen und den Menschen. Wenn jetzt der „Stil"
dieses Hekatehymnus mit dem des Ergaproömiums zusammenzugehen
scheint wie sonst mit nichts anderem, wenn das ri|xr)-Motiv ihn so be-
herrscht, wie es die ganze Tbeogonie beherrscht, so wird man fragen
dürfen, ob jene geistige Leistung des Hymnendichters, die wir anzudeuten
suchten, nicht eben für den einen sich schickt: für Hesiod, der, um an
Einzelnes zu erinnern, den böotischen Eros so hoch erhob; der, um an das
Große zu erinnern, das Gebäude dieser Götterhierarchie mit den geson-
derten und sich ergänzenden tiuai schuf. [Korrekturzusatz: Wir können
Wilamowitz für seinen „Glauben der Hellenen", dessen ersten Band er
uns eben geschenkt hat, gar nicht dankbar genug sein. Aber man sieht aus
dem hier Angedeuteten, weshalb ich auch nach seinen Darlegungen I 172
nichts zurückzunehmen habe.]
Die Titanomachie und was damit zusammenhängt kann hier wie das
meiste nur eben berührt werden. Nicht weniger als acht oder neun Schich-
ten späterer Erweiterung meint Jacoby zu erkennen. Hier wird auch der
Harmonist, der Skeptiker, der Sucher archaischer Darstellungsformen sich
dem nicht verschließen dürfen, daß viel Späteres sich angesetzt hat. Und
mag der Harmonist manche Widersprüche als weniger erheblich betrach-
ten, der Skeptiker die Möglichkeit bezweifeln, daß wir in den kompli-
zierten Vorgang schichtenweiser Erweiterung mit solcher Genauigkeit
überhaupt sollten eindringen können, sie dürfen beide nicht den bedeuten-
den heuristischen Wert der Jacobyschen Analysen bestreiten. Sie werden
sich für das Dasein von Doppelfassungen und für den nachhesiodischen
Ursprung des Typhonkampfes wirklich einmal Jacobys Zuversicht an-
schließen können: „qua de re nemo dubitabit, nisi de industria quae ante
pedes sunt videre non vult." Dabei bleibt der Typhonkampf, nicht minder
als wenn er hesiodisch wäre, ein altes, merkwürdiges und der Erklärung
bedürftiges Gedicht. Werturteile aber über die dichterische Qualität
sollten ganz ausscheiden. Die philologischen Kunstrichter widersprechen
sich hier in zu grotesker Weise (vgl. Schoemann 239, Jacoby 20), als daß
nicht schon dadurch das Unangemessene solcher ästhetischen Fragestellung
einleuchten sollte.
Jacoby bestreitet mit seiner Analyse, daß Hesiod überhaupt so etwas
wie ein Unterweltsbild habe geben wollen. Wir deuteten schon bei der
102 Griechische Literatur [263j265]

Besprechung von neieaaiv ev neyäXoig 335 an (oben S. 84), | daß das W e l t -


bild neben und mit der Theogonie uns ein wichtiges Anliegen des Dichters
zu sein scheine. Verwiesen sei hier auf die Tal' süpijaTEQvog itavrcov löog
aacpaXEg aisi in V . 1 1 7 und den Uranos, auf die Ofipea |xaxpa 129 und den
Okeanos 133, damit die Untrennbarkeit von Theogonie und Kosmologie
einleuchte. So sind vielleicht die vielen Hinweise des Gedichtes auf das,
was iijtö XÖ0VÖ5 EIJQIIO6£LT|5 oder w o I;6cpou T ) E Q 6 E V T O 5 oder yai^S ev xev&nam
ist, nicht so zu deuten ( J a c o b y 23), als widerspräche hier eine simplex
rudis antiqua dicendi ratio der genaueren Jenseitsschilderung von 720 ff.
Vielmehr muß man fragen, ob nicht jene Andeutungen durch diese
genauere Schilderung erst erfüllt werden.
Folgende Einzelheiten sind wichtig. J . läßt die hesiodische Titano-
machie abbrechen mit V. 7 1 9 . Aber er setzt zugleich das Zeichen einer
Lücke und fordert mit Recht (p. 23), daß von den Hekatoncheiren hier
gesagt werden müsse, sie hätten unten einen Ehrenplatz als Wächter
der Titanen. Aber das steht ja da, nur etwas später, und z w a r in doppelter
Fassung: einfach 7 3 4 / 5 und erweitert 8 1 4 - 9 . Also Tovg piv in 7 1 7 läßt in
der T a t ein T O I J - ÖE erwarten. U n d dies ist in der T a t verdrängt durch die
Unterweltsbeschreibung, so daß es nachher in anderer F o r m gebracht
wird, als ursprünglich angelegt w a r . Aber es ist doch wohl die Frage
gestattet, ja notwendig, ob die ursprüngliche Linie, die hier verlassen
wird, um die Tartarosbeschreibung einzufügen, nicht eben verlassen
wurde von Hesiod. Es w ä r e nicht das einzige Mal, daß ein archaischer
Dichter so abbiegt.
Aber J . meint auch zu verspüren, daß die Tartarosbeschreibung 720 ff.
sprachlich nicht anpasse an die vorhergehenden Verse, mit denen der
Titanenkampf beschlossen wird. Soll man nicht, statt den Uebergang zu
leugnen, richtiger sagen, daß er hart ist? Aber seit wann wäre H ä r t e
des Uebergangs in archaischer Dichtung ein Argument gegen einheitlichen
Ursprung? U n d besonders dann, wenn m a n wie hier zeigen kann, daß
der Dichter mit älteren vorgeformten Versen arbeitet?
H i e r ist freilich der W e g verbaut durch die von W i l a m o w i t z auf-
gestellte, von J . gebilligte These, die Tartarosbeschreibung Hesiods, wie
W i l a m o w i t z meint, des ersten Fortsetzers, wie J . meint, sei das
Vorbild der eng verwandten Verse a m Anfang des 0 der Ilias.
Ich glaube, ein einziger Vers genügt, um diese These zu widerlegen.
Toaaov EVEGFT' iijtö oaov oügavög B O T ' dito yairig Theog. 7 2 0 . Toaaov
E V E Q Ö ' ' A I Ö E G O oaov O Ü Q A V O G E O T ' djtö Y A I R I G & 16. J . merkt mit Recht an:

offensione caret Homeri E V E Q # ' ' A I Ö E C O gegenüber dem sprachlich gezwun-


genen (wenn auch vielleicht als R a r i t ä t gern hingenommenen) xutö yng -
djiö yairig der Theogonie. D a n n aber ist der Schluß metho]disch geboten:
also übernimmt die Theogonie geformtes Gut, wahrscheinlich aus dem 0 ,
allenfalls aus einer hypothetischen Vorlage des 0 . N u n ist auch zu sehen,
wie der Verfasser dieser Theogoniestelle sein Vorbild umgeformt hat. Bei
[265¡266] Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby 103

Homer ist es vom Himmel bis zur Erde so weit wie vom Hades bis zum
Tartaros. Da ist doch wohl Hades unter der Erdoberfläche gedacht (wie
Y 6i ff.). Aber für ein genaues Nachrechnen blieb eine Ungewißheit, und
diese sehen wir in der Theogonie ausgemerzt auf Kosten der formalen
Schönheit. Also mit 720 setzt die Uebernahme vorgeformten Stoffes ein,
und man begreift die Härte des Uebergangs auch genetisch. Damit aber
fällt ein wichtiges Argument gegen einheitlich hesiodischen Ursprung. Wir
lesen hesiodisches Gut zunächst bis 725.
Wir postulierten nach dem toiig |xev von 717, daß die Rede auf irgend
einem Wege zu den Hekatoncheiren zurückkehren müsse. Das kann nun,
nachdem der Weg des toiig öe nicht eingeschlagen worden ist, weil das
Raumbild dazwischen trat, nur mit evfta geschehen. Also ist echt hesiodisch
entweder 729-735 oder die andere Version 811-9 (daß 807-819 eine
andere Version zu 736-741 sei, diese Anmerkung Jacobys t r i f f t nicht zu)
oder aber eine dritte verlorene Fassung, die etwa beiden genannten zu
Grunde gelegen hätte. Ein Moment wenigstens in 811 ff. weist auf hesio-
dischen Ursprung: der Vers evöa öe naQ^dgeat tero&Xai/aXxeog ovSög. Denn
er ist fast wörtlich aus derselben Stelle des 0 entlehnt wie die Verse 720/1,
deren hesiodischer Ursprung oben begründet wurde. -
Zum Schluß etwas Allgemeines. Der überlieferte Text der Theogonie
fügt in ein genealogisches Gerüst mannigfache Bestandteile ein: lange Er-
zählungsstücke, Momente eines Weltbildes (Himmel, Erde, Tartaros), die
Tifiai der Götter im neuen Staat, Hymnisches (Aphrodite, Hekate), Gno-
misches (über die Weiber 603 ff.). In Jacobys Rekonstruktionsversudi ist
von aller dieser Buntheit möglichst viel beseitigt und übrig geblieben im
wesentlichen ein genealogisches Gerüst mit den unvermeidlichsten epischen
Erweiterungen. Die structura simplex et antiqua, die pellucida totius
carminis designatio wiederzufinden ist ausgesprochenermaßen (p. 19. 88)
das Anliegen des Herausgebers. Ein ganz bestimmter „Vorgriff" wird
in dieser Gleichung von „alt" und „einfach" sichtbar. Demgegenüber
verweise ich darauf, daß sich die JtoixiXia als Grundcharakter des Archai-
schen immer deutlicher herausstellt 7 . Die Theogonie7, wie sie uns vorliegt
und im wesentlichen schon dem Aischylos und Pindar vorlag, ist ein
Gedicht mit jener Buntheit der | Stoffe, jener Mannigfaltigkeit der Stili-
sierung, jener Raschheit und Härte der Uebergänge, die wir aus den Erga
und anderer archaischer Dichtung kennen. Gewiß läßt gerade archaische
Dichtung weit leichter Erweiterungen zu als klassische. Aber die grund-
sätzliche Frage muß lauten: hat die Theogonie diesen Charakter des
archaisch Bunten wirklich erst durch solche Erweiterungen bekommen?
Der Verstand sagt: warum nicht? Und was kann der konstruierende

7
Vgl. Hermes 48, 558 ff., Hermann Frankel, N G G . 1924, m ff., und wieder meinen
Vortrag „Vorklassisch und Nachklassisdi" in dem Sammelband: „Das Problem des
Klassischen und die Antike".
104 Griechische Literatur [266]

Verstand nicht alles für möglich halten? Die Anschauung sagt: eine solche
knappe genealogische Konstruktion ist viel zu gradlinig, ermangelt viel
zu sehr der Verschlungenheit und Buntheit, als daß sie um 700 denkbar
wäre. So ist es letztlich mein Stilgefühl, aus dem heraus ich die Möglich-
keit der von J . rekonstruierten Theogonie bezweifle. Ist sie wirklich der
echte Hesiod und nicht vielleicht nur eben e i n e Bahn in seinem viel
verschlungenen Denken?
Vieles von dem, was in dieser neuen Hesiodausgabe steht, wird sich
vermutlich als Irrtum erweisen. Aber die Wissenschaft braucht so frucht-
bare Irrtümer. Und jede künftige ricerca del vero Esiodo wird mit dieser
wahrhaft belebenden Ausgabe rechnen müssen.
D e H o m e r i Hesiodique certamine

(Retractationes I 2)

1929

In certamine poetarum primum quaeritur t i cpégxaxóv êaxi Pqoxoïcfi et.


xi ôvrixoîç xàXXiaxov (si recte e p a p y r o edidit Rzachius, non recte t î
ûvtjxoîcuv cipiaxov cum codice F Wilamowitzius). Pertinent hae quaestiones
ad illam rationem inquirendi apud Graecos aetatis remotioris usitatis-
simam, de qua egerunt Herzogius in Hornefferi libro, cui Plato iuvenis
titulus est, et Wilamowitzius in Platonis vol. I I p. 4 2 9 . Sapphus quoque
carmen 5. editionis Lobel ( O x f . 1 9 2 5 ) 2 7 a nuper repertum ot (ièv bunf|Cûv
axçôxov, ot ôè jiéaôoov, ot ôè vàcov cpaîa' êjti yàv piXaivav 6|x¡levai xdXXiatov ex
hac demum cogitandi f o r m a recte aestimari potest.
Certamen deinde transit ad xr)v xûjv òjióqcov èqcóxtioiv, tertium ad xàc
à[xcpipôXovç vvœjiaç. In his scriptor praefatur ita egisse Hesiodum, ut
singulis ferme versibus respondere H o m e r u m cogeret, nonnumquam vero
binis versibus in imo|3oXfj uteretur. I a m primum contemplemur exemplum,.
quo non unus sed duo versus pronuntiantur ab Hesiodo:
ôeîjtvov ÔEutvr|aavTEç évi o.-toôw cnûaXoéacrr)
avfleyoy óoxéa Xeuxà Aiòg xaxaxeôvriojxoç
Respondet H o m e r u s :
jtaiôôç îijieqîKihou 2aQ;n]ôôvoç àvxi/dÉoio.
Statim oboritur quaestio, curnam non uno versu aiiXXeyov óoxéa c o n t e n t a s
fuerit Hesiodus, quoniam argutiae proponendi et respondendi ne omisso
quidem priore versu ôeûivov ÔEutvriaavTsç ullo m o d o infringuntur. T a m e n
huic versui, si ab insequenti segregaveris, ecce statim novas argutias
inesse senties, quae obscurantur in ea quam nos tenemus ludi f o r m a .
N a m q u e dum audis
ÔEÏJtvov ôeuivr)<javT£ç évi ojioôcô aiOaXoéaafl
aenigma proponitur solvendum. Solvitur parte priore versus insequentis
aûXXeyov ôaxéa Xtvxâ. Sed novum aenigma nectitur additis verbis Aiôç
xaxaxe^vriwxoç, quod tertio demum solvitur versu.
Similiter vide ne res se habeat, quamvis obscurior sit, in ea quae
statim sequitur versuum triade. Rursus miramur, cur non duobus versibus
res absolvatur:
Hes. : io[xev êx vrjajv óòòv à|xcp' œ(ioiaiv e/ovxeç

[Hermes LXIV, 1929, S. 377-378.]


106 Griechische Literatur [377/378]

Hom.: tpáayava xa);tr|SVTa xal aíyavéag 8oXixaí>Xovg.


Antecedit
TijiEig 6'à(x jieSíov 2i(xoovvtiov íí^evoi avtcog.
N o n pro certo confirmaverim hic quoque vjtof3oXr|v inesse, quae | solvatur
versu altero. Tamen hoc velim recogites, cum verbo quod est fjaflai
Homerum talia coniungere: àvà raQYáQw axpcp, naga aoí, ayx' aùtoi, èv
(MvOectoiv, è ti1 ÈCTxàen, .tnr/ù OùXi)|xnoio, numquam sequuntur talia quale est
à(i jteSIov. Igitur fortasse hic quoque, quamquam multo minus argute,
ú-tofW.r) ponitur. Sequitur i>JióXTii|>ig, cum in altero versu verbum ìo|iev illud
à(i toSìov segreget a participio quod est f¡¡xevoi afiroog. í)jró/.r|i|ii5 simul àvftuito-
PoXr) est, quae àv&wioWjipei suscipitur.
Utut vero de altera hac triade iudicas, de priore illa quidem haud
dubito quin recte iudicaverim. Sequitur ut pristinum quendam statum
introspiciamus, quo lusus wtoWiipEtog nondum ad Homeri et Hesiodi cer-
tamen pertinuerit. N o n lusu ilio sed carminibus olim decertasse summos
poetas verba evincunt ab Hesiodo tripodi inscripta: ìjjxvoj vixf|aag èv
Xataú8i ftsíov "0|xt]qov. Mos vero ille ambigue ludendi in vita cotidiana
videtur olim viguisse, unde etiam alia veluti aenigma pediculare vel
Iresione ad principem poetarum translata sunt.
Die griechische Tragödie und das Tragische

1925/26

Erster Teil

„Aber wenn wir", schrieb Niebuhr 1822 an Goethe, „unfähig sind,


griechische Tragödien und aristophanische Komödien zu schaffen, darf
man sich denn nicht freudig in das Volk und jenes Zeitalter hinein-
denken, wo sie freudig und kunstlos aufwuchsen?" Flucht aus der Gegen-
wart wird auch heut vielen verlockend scheinen. Aber bei der Gefähr-
dung unseres Daseins, bei der Uberfülle, die zu jeder Stunde uns ver-
wirrend bedrängt, genügt weniger als je rückgewandte Kontemplation,
in die sich Angst vor dem Jetzt verkleidet. Wenn jene seltsam fremden
Gebilde, die vor bald zwei und einem halben Jahrtausend an einem ein-
zigen Tage des Weltgeschehens in voller Lebendigkeit da waren und nun
aus ihrem Gefüge gerissen, ihres Atems und Pulses beraubt, zum Buch
erstarrt, doch in ihrem Köstlichsten, dem Wort, gerettet sind, - wenn
jene Tragödien des Äschylus, Sophokles und Euripides auch uns noch
etwas bedeuten sollen, so müssen sie uns beweisen, daß wir ohne sie
nicht leben können.
In unserem Leben sind Tragödien selten. Denn Tragödie vernichtet.
Aber überall stoßen wir an das Tragische. Und nach dem Phänomen
des Tragischen ist zu fragen, wenn man begreifen will, wo etwas in un-
serer Tiefe für die griechischen Tragiker oder für Shakespeare sich öffnet
und der großen Alten nicht entbehren kann. Was ist das Tragische?
Jedenfalls kann es nicht abgeleitet werden aus all dem, was sich im Ab-
lauf der Zeiten zu Recht oder zu Unrecht Tragödie genannt hat. Es
ist ja auch durchaus nicht auf die Dichtung beschränkt, sondern fehlt
in keinem groß gelebten Leben. Mehr: es ist eine metaphysische Kategorie,
gegründet in jenen Kampf zwischen Chaos und Kosmos, dessen Rhyth-
mus durch das Weltwesen geht. So hat sidi auch die kleine Welt, der
Mensch, unablässig | zu wehren gegen das Unheimliche, das Zerstörende,
das immer wieder gebändigt und zurückgedämmt immer wieder über
uns hereinzubrechen droht. Und dieser Kampfesraum ist gleichsam der
geometrische Ort für das, was man im menschlichen Leben Tragik nennt.
Unsere bürgerliche Zivilisation freilich haßt das Tragische, wo sie es

[Die A n t i k e I, 1 9 2 5 . Erster Teil, S . 5 - 3 5 . Zweiter Teil, S. 2 9 5 - 3 1 8 . ]


[Die Antike I I , 1 9 2 6 . Dritter Teil, S . 7 9 - 1 1 2 . ]
108 Griechische Literatur

antrifft, und bemüht sich das edle Wort durch Mißbrauch zu erniedrigen.
Wodurch unterscheidet sich das, was man heute zumeist tragisch nennt
und was man traurig, bedauerlich, jämmerlich nennen sollte, von ecliter
Tragik? Dadurch daß zu ihr spezifische Größe gehört. Größe muß der
tragische Mensch haben: wir sagen tragischer Held. Größe muß das
Geschehen haben, das (nach Hölderlins Anmerkungen zum ödipus)
„tragisch den Menschen seiner Lebenssphäre in eine andere Welt entrückt
und in die exzentrische Sphäre der Toten reißt": wir sagen tragische
Vernichtung. Der Mensch und das Geschehen, das ihn trifft, sind in diesen
Höhen nicht zufällig gegeneinander. Der tragische Held geht der Ver-
nichtung entgegen, will sie, reißt sie auf sich herab. Das ist seine tragische
„Schuld", wenn man das Wort Schuld nur nicht banal schulmeisterlich
im Sinne eines moralischen Vergehens nimmt, sondern die tiefe meta-
physische Verschuldung erkennt, die mit dem Dasein gesetzt ist. „Es ist
(nach Hegels Wort) die Ehre der großen Charaktere schuldig zu sein."
Und die tragische Vernichtung, der Einbruch göttlich-zerstörender Kräfte
in die menschliche Sphäre, kommt nicht als etwas Fremdes, sinnlos Zu-
fälliges über den Helden. Sie ist „auf ihn zugeschnitten", hat sein Maß
und eine geheime Verwandtschaft zu ihm. Dies ist e i n Geschehen, aber
dies ist m e i n Schicksal.
Das Tragische ist selten rein und vollendet, weil jene Größe, ohne
die es nicht wäre, selten ist und noch seltener freien Raum findet. Aber
es ist vielfach angelegt, ist als Keim, als Bruchstück zu erkennen, wenn
einer die Augen dafür hat. Und es ist notwendig. Denn ohne Größe,
ohne den Helden und seinen Untergang, seine Schuld und sein Schicksal,
versandet und verschlammt das Leben. Von hier aus aber ist zu sehen,
warum der Mensch für sein Menschentum die Tragödie nicht entbehren
kann. Wie es überhaupt wesenhafte Aufgabe der Kunst ist, Vollenderin
des Bruchstückhaften zu sein, so zeigt Tragödie das Tragische, das in uns
angelegt, aber verkümmert, unvollendet, unentfaltet ist, in Reinheit und
Ganzheit. So rettet Tragödie das Leben, daß es nicht gemein werde. |
Große Tragödie ist nicht zu allen Zeiten möglich. Goethes Bildner-
geist weicht tragischer Vernichtung aus. Schillers glühende und Kleists
brodelnde Seele reichen wohl an die Tragik heran, aber kaum in sie hinein.
Und das neunzehnte Jahrhundert hat das Tragische zumeist mit dem
Jammervollen oder auch dem Interessanten verwechselt und Seelen-
analysen Tragödien genannt. In dem großen spanischen Drama - das
bezeichnend genug Comedia heißt - füllt die Ehre des himmlischen und
des irdischen Königs so sehr den Raum, daß es scheint, als könne darum
das Tragische sich nicht zur Tragödie entfalten. Und die Dichtung des
Corneille und Racine mit ihren eigentümlich starren Stempelformen
passion, amour, honneur, patrie, zwischen denen die Dialektik einer
vollendeten höfischen Sprache spielt, bewegt sich viel zu sehr in den
Maßen einer festbegrenzten Gesellschaft, um tragisch sein zu können.
[718] Die griechische Tragödie und das Tragische 109

Denn das Tragische steigt aus tieferen als bloß gesellschaftlichen Schichten:
aus den Urgründen von Seele und Schicksal. Nur zwei Weltstunden haben
wahre Tragödie hervorgebracht, das elisabethanische England und das
Athen des fünften Jahrhunderts. Shakespeare kommt dem Unendlich-
keitsdrang unserer Zeit mehr entgegen als griechisches Peras. Schon
daran, wie hier eine Szene klar und fest abgeschlossen ist, dort oft mit
halbem Vers ins Weite verhallt, zeigt sich im Formsymbol der Gegensatz
von südlich-klassischem und nordischem Geist. Aber nicht nur eint sie
Größe, tragische Größe, über die Jahrhunderte hinweg - Baudelaire
nennt Lady Macbeth „reve d'Eschyle eclos au climat des autans" und glei-
chen Ranges mit dem Athener und dem Engländer ist ihm Michelangelo,
der Schöpfer der Nacht-, sondern Shakespeare ist so wie er wurde gewor-
den, weil ihm griechische Tragödie, die er durch das Medium des Römers
Seneca sah, einen bestimmten Begriff von tragischer Größe und Helden-
schicksal, tragischer Sprache und tragischer Würde gab.
Wie alles rein Entsprungene ein Rätsel ist, so bleibt die Geburt der
griechischen Tragödie Geheimnis. Wir blicken nur hinein in ein frucht-
bares Chaos, aus dem sie zur Gestalt emporgehoben wurde. Nicht „aus
dem Geist der Musik" ist sie geboren, vor allem nicht der Musik in irgend
einem heutigen Sinne, die es damals nicht gab. „Musische Kunst" ist sie in
ursprünglicher ungeschiedener Einheit von Wort, Ton und Ausdrucks-
bewegung, womit freilich nichts ausgesagt wäre, was sie etwa von einem
Gedichte Pindars unterschiede. Doch wenn jene Formel Nietzsches ge-
schicht|lich gesehen nicht gilt und selber nur als Zeitphänomen von
Wagnerkultus und Erzieherdrang gewertet werden darf: Nietzsche hat
— wie niemand vor ihm — in den dunkel gärenden Urgrund, die epide-
mischen und endemischen Zustände von Ekstase und Besessensein durch
den Gott hineingeblickt, die er das „Dionysische" nannte und ohne die
man das scheinbar lichte und gebändigte Phänomen des griechischen
Daseins nicht begreifen kann. In der Tat, wenn wir etwas ahnen von der
Geburt der Tragödie, so ist es dies: Eine dämonische Welt war da, von
vulkanischen Kräften und Stoffen erfüllt, wild-ekstatisch, tierisch oder
halbtierisch, woran der Name „Bocksgesang" (Trag-odia) die Erinne-
rung immer bewahrt hat. Und diese Welt ist zur göttlich-menschlichen
gebändigt worden, in der das Dämonische gleichsam nur am Rande seinen
Platz behielt: auf die ernste Trilogie, in der nur Götter und Menschen
erscheinen, folgt das Satyrspiel mit den wilden Bockssprüngen dämo-
nischer Gesellen. Von der Bändigung eines ekstatischen Seins spricht auch
- dem heutigen Menschen so fremdartig — die Maske des griechischen
Schauspielers. Maske und Verkleidung heben ihren Träger aus der Welt
des Alltags, sind in allen Weltteilen Mittel der Ekstasis, wirken den
Schauer des „ganz Anderen" bei Kindern und einfachen Menschen. Das
hat die Tragödie, als sie zum Kunstwerk wurde, bewahrt: die Maske
ist immer Mittel und Ausdruck jener strengen Form geblieben, die das
110 Griechische Literatur [8j9]

Drama ganz fern weg von allem „Leben" stellte. Und wiederum der
Chor: wie er früher seine ekstatischen Lieder dem Dionysos zu Ehren
gesungen und getanzt hatte, so hat die Tragödie niemals von ihm
gelassen. Aber er wurde nun Teil des Kunstwerks, Mittel zur Erhöhung
und Entfernung. Und noch bei Sophokles fühlt man ihn zuweilen als ein
Ding aus einer fremden Welt hineinragen, wenn ekstatisch-dionysische
Töne plötzlich an den Ursprung erinnern und daran, daß die Tragödie
stets Teil einer kultischen Feier geblieben ist: von dem Beamten des
Staates dem Gott Dionysos in seinem Heiligtum am Fuße der athenischen
Burg vor den Augen des zuschauenden Staatsvolkes ausgerichtet. So lebte
sie in jener eigentümlichen Luft gebundener Freiheit: staatlich, ohne daß
sie zu einer zweckhaften patriotisch-politischen Veranstaltung wurde,
und religiös, ohne daß sie einer Kirche gedient hätte, die es nicht gab.
Ihres Ursprungs aus dunklem Kräfteschoß sich bewußt und doch stehend
im göttlichen Lichte.
Das tragische Spiel wurde staatlich unter Peisistratos dem Tyrannen, |
damals als Athen wenige Jahrzehnte vor den Perserkriegen weit unhelle-
nischer, ionisch-bunter, orientalischer war als später die Stadt des The-
mistokles und Perikles. Wir können uns schwer ein Bild davon machen,
wie aus jenem Spiel, einem mehr „böckischen" als in unserem Sinne
„tragischen", die strenge Tragödie wurde. Aber was da geschah, hat
Aristoteles so ausgedrückt: die Tragödie sei „ernst geworden". Und nun
sehen wir auf einmal einen Vorgang, den wir auch in Kunst und Tracht
und allen Lebensformen erkennen. Lachende Lippen und Augen ziehen
sich gerade, überkünstlich gefälteltes Gewand wird einfach, geziertes
Gebaren weicht einem bewußten Ernst, der menschliche Wuchs, eben
noch fein, straff und von etwas starrer Eleganz, empfängt zugleich neue
Schwere und neuen Rhythmus. Das ist die Generation der Marathon-
kämpfer. Hier wenn irgendwo in der Geschichte sieht man, wie in kurzer
Zeit menschlicher Stoff sich umlagert, neues Gefüge gewinnt.
Solcher Wandel geschieht nicht von selbst. Wo er sich vollzieht, ist
er von Männern gewirkt. Am Bilde der Tyrannenmörder, die den Dolch
aus dem Myrtenzweige zogen und den Peisistratidenprinzen nieder-
stießen, gewinnt die athenische Jugend eine neue Gesinnung und Haltung,
und das hat sie den beiden nie vergessen. Wenige Jahre später stürzt
Kleisthenes die Tyrannis, gründet den neuen Staat, der den Demos, das
Staatsvolk, zum Herrscher macht, und schafft (so dürfen wir ahnen) aus
den unverbrauchten Kräften dieser Athener eine neue Männlichkeit zu-
gleich mit einer neuen Verantwortung. Und neben dem Staatsmann steht
der Dichter: Äschylus. Hätten wir die Werke seiner Vorgänger, die im
letzten Viertel des sechsten Jahrhunderts tragische Spiele am Dionysos-
fest aufführten, so würden wir vielleicht jene Wendung zum Ernst in
ihnen sich andeuten sehen. Aber die eigentliche Größe, Schwere, Erhaben-
heit empfing die Tragödie durch Äschylus, ihren wahren Gründer. Es ist
[9110] Die griechische Tragödie und das Tragische 111

gar nicht zu ermessen, wie stark die Generation der Marathon- und
Salamiskämpfer - unter denen er selbst mitfocht - durch seine Wort,
Musik und Bewegung gewordene Dichterkraft geformt worden ist.
Wir sehen noch eine Spur davon in seinem frühesten erhaltenen
Drama, dem einzigen, das in die Zeit vor Marathon hinaufreicht. Schutz-
suchende Mädchen haben sich an den Altar der Götter geflüchtet. Als
Repräsentant der Polis, um deren Schutz sie bitten, tritt der König auf.
Die Mädchen flehen ihn um Hilfe, um Aufnahme an: |
Du bist der Staat, du die Gemeine selbst,
Herrscher, den niemand richtet.
Aber er weiß es besser:
Ich kann nicht früher der Verheißung Bürge sein,
Eh ich nicht allem Volke Teil an diesem gab.
So „demokratisch" wird die alte Heldensage umgeformt. Das Volk
beschließt die Flüchtigen aufzunehmen, und als dann der Verfolger
kommt, tritt wieder im Namen der Gesamtgemeinde der König ihm ent-
gegen:
So volkgewirkt von allen ward ein einziger
Der Spruch vollendet, nie hinauszugeben der Gewalt
Die Schar der Frauen.
Der Fürst heißt Pelasgos, die Stadt Argos. Aber jeder Athener sieht im
Dionysostheater sitzend s e i n e Stadt, erfüllt sich mit i h r e m Stolz,
hört das Segenslied der Mädchen i h r gesungen: daß nicht Krankheit,
nicht innerer Zwist sie versehre, nicht Krieg die Blüte der Jugend knicke.
Und dann:
Mögen fromm an Altären
Sang anstimmen die Chöre
Und aus gottgefälligem Mund
Klänge tönen zur Leier!
Das ist das Lied des Dichters selbst, der diese Stadt seinen Mitbürgern
zeigt, wie sie gebunden im Göttlichen, das Recht des Schutzbegehrenden
ehrend, zum Widerstand bereit gegen die frechen Angreifer, sich keinem
Herrn zu eigen gibt und mit dem Königsnamen ihren Sprecher und Ver-
walter schmückt. Jahr um Jahr hat so der Dichter durch Wort und
Haltung, Rhythmus und Harmonie die attische Jugend gebildet und jenes
Athenervolk schaffen helfen, über das nach dem Sieg bei Salamis in den
„Persern" desselben Dichters dieses Zwiegespräch geht zwischen der
Perserkönigin und einem greisen Berater:

Königin: Welcher Männerhirt gebietend herrscht voran dem Feindes-


heer?
112 Griechische Literatur [10111]

Greis: Keinem Manne Knecht geheißen, keinem sind sie Untertan.


Königin:Wie bestünden dann sie fremder Kriegsheere feindlich Nahn?
Greis: Also daß sie schon Dareios' groß und schönes Heer vertilgt.
Man sieht diesen äschyleischen Dramen, auch dem Prometheus und
•den Sieben gegen Theben, die Frühzeit an, aus der sie stammen. Anders
als in der Orestie oder gar bei Sophokles ist es fast eine einzige große
Gebärde, die sie erfüllt. Wie überhaupt nach Hölderlins Kunstlehre |
das Gesetz der Tragödie „mehr Gleichgewicht als reine Aufeinanderfolge"
ist - so daß man innerlich genötigt ist, auch noch einen ganz reichen
dramatisch-tragischen Ablauf, etwa den Lear, rückschauend in e i n
großes, gleichsam zeitloses Bild zusammenzusehen - : so stellen sich die
Schutzflehenden, Prometheus, die Sieben ganz von selbst unter solchen
Aspekt.
Die Schutzflehenden: eine Mädchenschar mit ihrem Führer, aus
trotziger Selbstbewahrung fliehend an den Götteraltar ihrer alten
Heimat. Hier die Stadt Argos, vertreten durch ihren König, dessen
Widerstreben durch Bitte, Drohung und den Erweis alten Rechtes besiegt
wird. Auf der anderen Seite die Verfolger, für die als Gegenpart des
hellenischen Königs der äpyptische Herold gegenwärtig ist, um das Recht
seiner Partei mit Drohung und Gewalttat zu verfechten. Viel orientalisch
buntes Wesen und zuweilen Abgleiten ins Burleske, wo man noch die
allerälteste Art dieser Spiele ahnt. Das Tragische in der Energie des
Forderns, Drohens, Kämpfens deutlich gezeigt, aber noch nicht zur T r a -
gödie vollendet. Ein erster Akt mehr als ein volles Drama.
Die Sieben gegen Theben: der gepanzerte Herrscher in der belagerten
Stadt, gegen deren Tore die feindlichen Geschosse schlagen. Er weist
jedem Manne seinen Platz auf Türmen, Mauern, jedem Helden seinen
Platz gegen die feindlichen Führer, sich selbst den Platz gegenüber dem
Bruder. E r kennt den Schauer vor dem Bruderblut, er weiß, daß er ins
Verderben geht. Doch unerbittlich steht dort die Schande, wenn er aus-
wiche, das Wissen, als Labdakidensproß teilzuhaben an der Größe, aber
auch an dem Fluch des Geschlechts, das Wissen von der göttlichen Ver-
nichtung, der man sich nicht entziehen kann:

Weil das Geschehn gewaltig nun der Gott beeilt,


So fahre guten Windes auf Kokytos' Flut
Verhaßt dem Phoibos Laios 1 ganzer Stamm dahin.
Und zuletzt werden die toten Brüder hereingetragen. Handlung ist da
ganz wenig, Verwicklung gar nicht, eine einzige Haltung: unbeugsamer
Entschluß.
Prometheus: am höchsten Gebirgszacken ist der Titan angeschmiedet
auf Befehl des Zeus, des Herrschers der jungen Götterdynastie. Noch
weniger als sonst in der Tragödie gibt es hier eine reale Zeit. Äonenlang
hängt er dort oben, nur den Elementen gesellt: |
[12j13] Die griechische Tragödie und das Tragische 113

O Himmelsäther und ihr L ü f t e schnellbeschwingt


Und der Ströme Quellen und der Meereswellenflut
Unzählbar Lachen und Allmutter Erde du,
Auch den allschauenden Kreis des Helios ruf ich auf:
Seht mich was ich von Göttern leide, selbst ein Gott.

Nun kommen durch die Lüfte die Meermädchen, der alte Okeanos, der
Götterbote, um mitzuklagen, zu warnen, sein Zukunftswissen auszu-
forschen, zu drohen. Sie kommen und gehen wieder, er allein bleibt in
seiner unendlichen Einsamkeit, unerschüttert. Denn so klar er weiß, was
ihm bevorsteht, beugt er sich nicht. Er spricht zu Hermes:

Bist du nicht Kind, ja voller noch von Unverstand,


D a du von mir Verborgnes auszuforschen wähnst?
Denn keine Schändung gibt es, keinen Griff, dadurch
Mich dieses auszukünden Zeus hinkehren wird,
Bevor gelöst die Bande der Befleckung sind.
So mag die brandige Flamme er werfen, mag das All
Mit weißgefiedertem Schneegeflock und Donnerschlag
Aus Erdentiefen mischend durcheinanderwirrn.
Denn beugen wird mich nichts von diesem, kundzutun,
Durch wen ihm Zwang zu stürzen vom Tyrannenthron.

Wenn der Goethische Prometheus - als titanischer Schöpfer - gleichsam


das diamantene Gewölbe sprengt, um hinauszugreifen in den unendlichen
Raum, so weiß der tragische Held des Äschylus - als hellenischer Täter -
sich in einer festgefügten Welt, die von göttlichen Mächten, Ananke, den
Schicksalsgöttinnen, den Erinyen durchwaltet wird. Und wie er zu andern
Segnungen den Menschen auch die Götterdienste gebracht hat, so ist sein
K a m p f nicht der des All-Empörers, der keine Götterwelt über sich an-
erkennt, sondern kehrt sich nur gegen die stärkste, wie er meint illegitime,
Einzelmacht. Heroischer K a m p f gegen diese Macht, jenes maßvernichtende
Sich-aufrecken, das die Griechen Hybris nennen, und das recht eigentlich
die tragische Grundhaltung ist, füllt das Drama. Ist es eine Tragödie
des Leidens, wie man wohl gesagt hat? Doch nur dann, wenn man an
diesem Leiden das gewaltig Aktive nicht überhört. Mit demselben Titanen-
trotz, mit dem er das Feuer vom Himmel gerissen und den Menschen
gebracht hat gegen den Willen des Zeus, erträgt er nun — Er-tragen ist es
mehr als Leiden — und großer Täter, nämlich K ä m p f e r um sein Recht,
bleibt er, da er unbeweglich an den Felsen geschmiedet ist. [
In allen diesen Dramen ist es auf „das Tragische" abgesehen: die
Größe von Mensch und Schicksal, den Willen zu K a m p f und Untergang,
die Hybris als Zerstörung des Maßes. Aber „Tragödie" sind sie kaum,
wenn man deren Begriff gar nicht einmal von Sophokles oder gar
Shakespeare, sondern nur — was doch billig ist - von den reifsten Schöp-
114 Griechische Literatur [13114]

fungen des Äschylus selbst her bestimmt. Die Hiketiden lassen das Tra-
gische nur erst aufklingen inmitten pathetischer Gesänge und gehaltener
Rede, die epischen Bericht, Wortstreit, mahnenden Zuspruch eben zu
formen und mit tragischer Würde zu umkleiden lernt. In den Sieben
steht der Held schon kraftvoll im Räume, doch die tragischen Gegen-
kräfte sind noch kaum leibhaft ins Bild gebannt. Durchaus erfüllt von
tragischer Spannung ist der Prometheus, doch so, daß der Held am Ende
noch dort ist, wo er am Anfang war - wo er aber künftig nicht bleiben
wird. Denn der Befreite Prometheus brachte Fortsetzung und Beendigung.
Noch weniger eigentliche Tragödie sind die Perser, in denen der
Dichter einige Jahre nach Salamis seinem Volk die Siegesfeier ausrichtet.
Daß das Festlied zum tragischen Spiel wird, aufgeführt inmitten my-
thischer Dramen, zeigt mehr als alles andere, wie jedes Höchste in diesem
Geschlecht zum tragischen Klange strebte. Der Dichter verlegt das Ge-
schehen nach Persien zu dem geschlagenen Landesfeind - den er würdig
zu sehen die Geistesgröße hat - , gibt im ersten Akt die Botschaft der
Schlacht, im dritten die klagevolle Heimkehr des besiegten Königs. So
wären es Pathosszenen und Pathoslieder, aber, da tragischer Kampf
ebenso fehlt wie tragischer Held, selbst im Sinne des frühen Äschylus
kein tragisches Spiel. Das wird erst durch den zweiten Akt, den für die
eigentliche Handlung überflüssigen. In ihm erscheint der Schatten des
Dareios und zeigt den Sohn, den König Xerxes, in seiner Hybris,

Der den heiligen Hellespont als seinen Knecht in Bande schlug,


Der im Strom zu hemmen hoffte Bosporos des Gottes Flut
Und die Furt ins Feste kehrte und der Fesseln Schmiedewerk
Um sie werfend vielem Heere vielen Pfad bereitet hat.

Hybris ist die tragische Grundhaltung, und da in den Worten jenes


Schattenbildes der Zug gegen Hellas plötzlich unter diesen Aspekt tritt,
erweist sich der mittlere Akt gerade als das, was in dieses nur pathetische
Geschehen die eigentliche Spannung, tragische Spannung, zwischen Mensch
und Schicksal hineinträgt und, ohne die Perser zu einer wirklichen Tra-
gödie zu machen, sie doch als tragisches Spiel gleiciigeartet zwischen die
anderen reiht. |
Die Danaiden-Trilogie, in der die Schutz flehenden (modern ge-
sprochen) kaum mehr als ein erster Akt sind, führte das Schicksal my-
thischer Frauen in e i n e r Bewegung durch drei Dramen. Das zweite
brachte den Mord an den Aigyptossöhnen und steigerte mit der Ent-
scheidung der Tat das tragische Moment. Tragödie in dem oben bezeich-
neten Sinne würde es uns wohl nicht mehr erscheinen als das erhaltene
erste Stück. Die thebanische Trilogie baute das Schicksal des Labdakiden-
hauses auf in der Abfolge dreier Geschlechter, so daß die Sieben wohl
Abschluß und Ausgang aber doch durchaus mehr sind als ein letzter Akt:
Enderfüllung des ererbten Fluches. Im Laios, dem ersten, und im ödipus,
[14115] Die griediisdie Tragödie und das Tragische 115

dem zweiten Drama, stand jeweils der Held, der den Namen gibt, in der
Mitte. Ob sie in höherem Grade als die Sieben eigentliche Tragödie waren,
ist zu bezweifeln. Es sind eigentümliche Gebilde, diese Einzeldramen
einer Trilogie, in sich beschlossen und dann wieder Glieder eines Höheren,
wie die Natur Dreiblätter bildet, in denen jedes Einzelblatt zugleich fertig
und doch der andern bedürftig ist, oder wie es in der Kunst Triptycha
gibt aus selbständigen Tafeln, die gleichwohl erst in dem größern Zu-
sammenhang ganz sinnvoll werden.
Im Prometheus ist eine Szene, die vorher noch nicht betrachtet
wurde. Wir sahen Götter und Dämonen mit dem Titanen verkehren.
Nur einmal kommt in wildem, wahnsinnigem Tanze ein Menschenwesen
in diese Einsamkeit. In Io, die auch gequält wird durch die grausamen
Götter, tritt die leidende Menschheit zu Prometheus, ihrem Wohltäter:
Der allgemeinsam Hilfe du den Menschen kamst.
So wird das, was er getan hat für diese Menschen, dem Hörer erst wirk-
lich und ergreifend. Audi von seinem Wissen, das durch Vergangenheit
und Zukunft geht, - tragischem Wissen - gewinnen wir hier Erfahrung.
Und in los Irrfahrten, in den vielen Namen von Völkern, Ländern,
Flüssen - die dem Modernen zumeist nichts als „Geographie" sind, für
den frühen Menschen alle Magie der kaum entdeckten Weite in ihren
Silben trugen- breitet sich die Menschenerde tief unten. Und alles das,
Menschenleid und Erdenweite, gibt ein Maß für Prometheus' Qualen und
Einsamkeit.
So notwendig diese Szene für dieses Drama ist, so sehr weist sie doch
ausdrücklich darüber hinaus in den nächsten Teil der Trilogie Die Lösung
des Prometheus. Ein Schicksal geht hier an dem Zuschauer vorbei, welches
sich in seiner Beziehung zu dem Helden nicht erschöpft, sondern seine
eigene Schwere hat und das Drama um ein Etwas aus seinem Gleich-
gewicht drängt. Mit | Künstlerrecht. Denn hier ist eben nur die eine Tafel
des Triptychons, das als Ganzes uns verloren ist. Und so viel wissen wir,
daß im zweiten Teile Herakles erscheint, Nachfahr jener Io, der auch wie
sie über die weite Erde ziehen wird, wie sie durch den Osten, so er durch
den Westen, wie sie als Leidende, so er als Täter, und doch als leidender
Täter, leidend auch er durch die Schuld der Götter. Und wider den
Willen des Zeus wird er Befreier des Prometheus sein. So brachte dem,
was in dem erhaltenen Drama nicht völlig ausgewogen erscheint, das
zweite Stück der Trilogie ein Schwergewicht entgegen, und durch dieses
Gegeneinandergeneigtsein werden die Einzeldramen in die höhere Einheit
überführt. Aber das Beispiel zeigt zugleich, wieviel wir verlieren, wenn
statt der ganzen Trilogien jeweils nur ein Einzeldrama erhalten ist. Voll-
ständig besitzen wir (von dem verlorenen Satyrspiel abgesehen) allein
die Orestie, die Äschylus wenige Jahre vor seinem Tode gedichtet hat,
und in der er uns sein letztes Wort darüber sagt, was ihm Tragödie ist.
116 Griechische Literatur [15116]

Jeder Versuch freilich, dieses Wort zu deuten, ist fast schon Überhebung.
„Denn wenn man sich auch", schreibt Goethe an Humboldt nach Empfang
der ylgdwerrawow-Obersetzung, „mit allem Löblichen und Guten, was
uns die älteste und neueste Zeit reicht, freundlich teilnehmend beschäftigt,
so tritt doch eine solche uralte Riesengestalt, geformt wie Ungeheuer,
überraschend vor uns auf, und wir müssen alle unsere Sinne zusammen-
nehmen, um ihr einigermaßen würdig entgegenzustehen."
Zeigten die Perser ängstliche Erwartung und traurige Heimkehr, so
ist im Agamemnon verwandte Grundform zu einem viel kontrastreicheren
Gefüge geweitet: Erwartung, glänzende Heimkehr und Tod des Helden
von der Hand des Weibes sind in e i n e große Kurve zusammengebogen.
Und alles ist wiederum eingetaucht in den tragischen Schauer, der schon
den Glanz des Einzugs umwittert. Dieses Geheimnisvolle, diese gleichsam
atmosphärische Tragik, die noch an keiner bestimmten Person haftet,
sondern das Ganze einhüllt, ist hier so stark wie bisher noch nirgends und
wie vielleicht bis zu Macbeth und Lear nicht wieder. Sie zittert durch
Zeit und Raum und läßt beide zu Mitträgern des Geschehens werden: die
Nacht der Erwartung, in der von dem ewigen Sternenchor umkreist der
einsame Wächter liegt, in Spannung, Angst und versteckter Wehklage;
das Königsschloß, in dem es Unaussprechbares gibt und „das nicht aufs
beste wie vordem durchwaltet wird". Später wird Kassandra den Blut-
hauch um sein Gemäuer | wittern und sich vor den Schemen der Ermor-
deten entsetzen. Aber anfangs ist Träger dieses Schauers bloß der Wäch-
ter, in dem für uns zuerst auch die beiden Gegenkräfte, Agamemnon und
Klytämestra, zusammenstoßen: hier der Herr, dessen geliebte Hand er
in der seinen zu halten wünscht, dort die Königin, deren „männlich-
wollend Herz" ihn Nacht für Nacht vom Dach des Schlosses Ausschau
zu halten zwingt. Träger des tragischen Schauers ist vor allem der Greisen-
chor in seinen großen Gesängen. Aus dem Grunde taucht der troische
Krieg auf. Arge Taten sind geschehen. Paris hat gefrevelt und Troja muß
dafür mit Untergang büßen. Aber auch Agamemnon hat die Tochter
geopfert und „um eines fremden Weibes willen" sind von ihm viele
Krieger in den Tod geschickt worden. Nun droht der Fluch des Volks
den Herrschenden und gesungen wird von der Hybris, die wieder Hybris
zeugt, und schließlich Verderben; von Dike, die die Wage hält, und den
schwarzen Erinyen; von Zeus, der als höchste Macht über allem waltet.
Wir spüren die Angst vor dem, was unentrinnbar kommen muß, und in
hieratischen Klängen verbindet sich Weheruf mit Segensbitte.
Von den Gestalten, die Träger des tragischen Kampfes sind, wird
Klytämestra lange vor Agamemnon gezeigt als die Stärkere, die Siegerin
sein wird. Nachdem sie schon von Anfang an in den Worten der Anderen
Bild geworden ist, erscheint sie nun leibhaft. Sie ist vom Chor - dem
„Volke" - ersehnt, ja gerufen, Heilbringerin in der quälenden Sorge zu
sein. Ihre ersten Worte zeigen sie schon: s i e herrscht, s i e verkündet,
[16117] Die griechische Tragödie und das Tragische 117

s i e nimmt die Ungewißheit von dem Volk. Sie hat die Feuersignale
gestellt, die über das Meer von Berg zu Berg die Meldung bringen, sie
hat die Opfer angeordnet - sie hat noch anderes angeordnet, was wir aus
dunklem Geraune ahnen. Sie weiß ihr wahres Gesicht zu verbergen oder
zurechtzulegen. Sie versteht sich ebenso aufs Schweigen wie - gegen den
Gemahl - auf überlange Rede, die noch besser als Schweigen verhüllt.
Aber am geheimnisvollsten ist Äschylus dort, wo er sie nicht selbst
tragischer Wille sein, sondern gleichsam ohne ihr Wissen das tragische
Grauen durch sie hindurchgehen läßt. Man hat sich gewundert, daß sie,
die zu Hause ist, dem Chor Trojas Eroberung schildere, daß sie, die den
Mord plant, das ferne Heer vor der Befleckung fremder Heiligtümer
warne. Das ist unwahrscheinlich — vielleicht! Aber was soll die Berufung
auf irgendeine naturalistisch gesehene Wahrscheinlichkeit dort, wo |
die tiefste tragische Verflechtung sich anzeigt? Der Dichter wird den
Boten alsbald von dem Seesturm und dem Untergang vieler Schiffe be-
richten lassen. Er hätte ihn auch von Eroberung und Gewalttat reden
lassen können, die ja im Mythus Ursache jenes Untergangs waren. Aber
man denke sich beides in einem Munde und in einem Verlauf, so wird
die Spannung zwischen Schuld und Sühne schwächer, die doch bestimmt
ist, gleichsam als tragische Begleitung in tieferer Lage der großen Melodie
des Dramas mehr Raum und Fülle zu sichern. Und daß gerade Klytä-
mestra es ist, die das abwesende Heer seherisch warnt? Man spürt, wie
auf einen Augenblick das Ganze gleichsam transparent wird:

Verlangen aber falle nie dem Heere bei,


Von Gier besiegt zu trümmern was der Fug versagt!
Noch mangelt Rettung ihnen heimatlicher Kehr,
Zielwärts den Lauf zu biegen durch die Bahn zurück.
Und käme an Göttern unverbrechend auch das Heer,
Aufwachend könnte Leid der Hingemordeten
Lebendig werden, wenn gleich neu kein Arg geschieht.

Die ewige Verknüpfung von Verbrechen und Fall, der Glaube an den
Groll der Gemordeten klingt doppelt drohend aus dem Munde der Frau,
die sich selbst zur Tat rüstet und, ohne daß sie es zu ahnen scheint, das
Gesetz über sich aufrichtet. Ist nicht das, was „unnatürlich" schien, viel-
leicht eine Form jener vielberufenen „tragischen Ironie", deren Sinn doch
dieser ist: dunkel drohende Vernichtung bemächtigt sich der Worte dessen,
der ihr am nächsten ist, und spricht aus seinem Munde ohne sein Wissen
Dinge, die nur dem Hörer in ihrer grauenvollen Doppeldeutigkeit sichtbar
sind.
Und nun, lange vorbereitet durch die Erwartung des Volkes, durch
die Flammenzeichen der Heimkehr, zuletzt durch den Mund des voraus-
gesandten Herolds, zieht Agamemnon mit großem Gefolge auf seinem
Siegeswagen ein. In einer einzigen kurzen Szene muß der Dichter allen
118 Griechische Literatur [17118]

Glanz und zugleich allen tragischen Schauer auf den Helden sammeln.
Er gibt ihm eine einzige Rede — halb Ausdruck des Wesens, halb Regie-
rungshandlung - , zeigt ihn als Sieger, der ohne Überhebung den Göttern
dankt, als Herrscher, der von keiner Schmeichelei zu fangen ist und sein
Amt in feste Hand nimmt. In dem Bild von Trojas Sturz klingt tragisches
Düster herauf: das Recht, das die Götter gesprochen haben, die Vernich-
tung königlicher Herrlichkeit. Das Wort, das wir schon kennen, „um
eines Weibes willen", läßt wieder jene Unausgewogenheit von Vergehen |
und Sühne empfinden, die wie ein Stück Hybris dasteht und der im Schick-
sal Agamemnons irgendetwas zu antworten sdieint. Und soll der Zu-
hörer nicht schaudern, wenn aus dem Munde eben Agamemnons die Worte
kommen von dem „Löwen, der nach Lust geschlürft vom königlichen
Blut"? Zuletzt wenn der Herrscher verspricht, was der Heilung bedürfe
im Staat, dem wolle er ein strenger Arzt sein, so empfindet man sein
Ahnen dessen was droht, und zugleich seine Wehrlosigkeit gegen das
tragische Verderben.
Am schwersten und zugleich am wichtigsten war es, die Vernichtung
des Helden durch die stärkere Kraft für die Sinne faßbar zu machen. Der
Mord selbst mußte hinter der Bühne geschehen. Denn griechische Tra-
gödie gibt allein „das tragische tödtlich-factische Wort", nie die Bluttat
selbst. Bei Orests Muttermord wird der Dichter durch einen Redekampf
zwischen Sohn und Mutter die sogleich folgende Tat unmittelbar antizi-
pieren. Hier aber war das so geraden Weges nicht möglich, weil der Mord
nach dem Mythus und aller sinnvollen Wahrscheinlichkeit aus dem Hin-
terhalt geschieht, also keine offenen Worte ihn vorwegnehmen durften.
So schuf Äschylus jenen symbolischen Streit um ein Nichts: um den
Purpurteppich, den sie für ihn hinbreiten läßt, den er aus einem Wissen
um menschliches Maß zu betreten sich scheut. Es ist ein Kampf, dessen
Schärfe - Vers gegen Vers - um so mehr sich einbohrt, je weniger sie im
Verhältnis steht zu der Geringfügigkeit der Sache. Wir fühlen: es geht
hier um etwas anderes als das was ausgesprochen wird. Wir hören: es
wird hier um „Sieg" gekämpft. Und der Sieg wird dem Helden - im
Symbol - aus der Hand gewunden. So biegt die stolze Linie dieses Lebens
zum Untergang. Klytämestras steigt steil empor. Als sie hinter Agamem-
non in den Palast geht mit dem Ruf:

Zeus Zeus Vollender, gib Vollendung meinem Flehn!


Sei dir befohlen was du zu vollenden denkst!
ist sie dicht vor der Erfüllung. Nur ganz von fern sieht man schon hin-
ter der dreifach aufgerufenen Vollendung, die sie selber meint, eine
andere.
Nun konnte der Mord sogleich drinnen folgen, das heißt der Dichter
konnte etwa nach dem Chorlied die Schreie des Opfers aus dem Hause
hören lassen. Aber er hat mehr aus der Fülle geformt, und nach dem
[18120] Die griechische Tragödie und das Tragische 119

großen gemessenen Aufstieg durfte die Linie - wenn man etwas ahnt von
dem „kalkulablen Gesetz" des Kunstwerks - so steil nicht fallen. Die |
Kassandra-Szene, die zwischen Agamemnons Abgang und seinen Wehe-
rufen steht, verbreitert gleichsam das Geschehen dadurch, daß im Gefolge
des Stürzenden ein zweiter in den Sturz hineingezogen wird und daß
dieser zweite Sturz — den die Sage gab, den der Dramatiker nach Belieben
so oder anders behandeln konnte — vor unseren Augen geschieht. Aber
diese Szene ist sehr reich, und ersichtlich geht ihre Wirkung nicht bloß
nach einer Seite.
Goethe schreibt in jenem Brief an Humboldt: „Wundersam aber ist
mir jetzt mehr als je das Gewebe dieses Urteppichs: Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft sind so glücklich in eins geschlungen, daß man
selbst zum Seher, das heißt gottähnlich wird, und das ist doch am Ende
der Triumph aller Poesie im Größten und im Kleinsten". Diese Wirkung
geht gar nicht nur, aber doch zu einem großen Teile hervor aus dem, was
der Dichter durch Kassandra zeigt. Vor ihrem Seherblick werden die
Mauern des Palastes durchsichtig. Wir erleben was sich drinnen vorbereitet
unmittelbar, ja weit beängstigender, als wenn wir mit leiblichen Augen
Klytämestra am Werk sähen. Aber mehr: auch die Mauern fallen, die sich
vor Vergangenheit und Zukunft legen, und erst ekstatisch hinausgesungen,
dann in gefaßterer Rede ausgesprochen wird der ganze Fluch des
Geschlechts von jener grauenhaften Mahlzeit des Thyest bis zur künftigen
Rache als eine unzerbrechliche Kette sichtbar.
So schwingt in dieser reichen Szene die Schicksalslinie Agamemnons
aus, die des Orest beginnt sich zu erheben, und in Klytämestras ist es,
als ob ein erster Halt sich anzeige: da die Königin heraustritt, um die
Sklavin ins Haus zu rufen, stößt sie auf einen Widerstand - unheimlich
fühlbar nach jenem symbolischen Siege - , und diesen Widerstand des
Schweigens kann sie nicht brechen.
Aber die äschyleische Kassandra bedeutet nicht nur auf den Lebens-
linien der andern etwas. Sie hat eine eigene, und in ihr selbst ist ein
Stück tragischen Daseins. Wie sie früher Apollons Werbung widerstanden
hat, so trägt sie nun gar nicht gehorsam, sondern mit Haß „der Weis-
sagung furchtbare Mühsal", und sie zerbricht Stab und Binde, die Zeichen
ihres Dienstes. Sie als einzige wirft der Siegerin mit ihrem starren
Schweigen ein Hindernis in den Weg, das jene wohl umgehen, aber nicht
brechen kann. Vor allem ist etwas Tragisch-heldenhaftes in der Art wie
sie ihr Schicksal annimmt. Sie ist gar nicht wie bei Homer das Tier, das
mit Agamemnon zur Schlachtbank geführt wird. Sie geht ganz | wissend
- mit tragischem Wissen - in den Tod. Ihr Tag ist gekommen, wenig
gewönne sie durch die Flucht, die ihr frei stünde und die man ihr nahe-
legt. Das Schicksal anzunehmen, nicht ihm auszuweichen, das ist tragische
Art. Aber bevor sie das Tor durchschreitet, aus dem der Blutdunst des
Hauses ihr entgegenschlägt, ruft sie noch die künftigen Rächer auf,
120 Griechische Literatur [20/21]

Die Schuld den Mördern heimzuzahlen für den Herrn


Und für die Sklavin, die als leichtes Opfer fällt.
Sie weiß sich mit in der tragischen Verstrickung, und wie sie den Tod
will, will sie die Rache.
Noch eine gleichsam rhythmische Bedeutung hat die Kassandra-Szene:
Dadurch daß so oft und nachdrücklich auf Orest als den Rächer hin-
gedeutet wird, kommt ein Gewicht hinein, das erst in den nächsten Teilen
der Trilogie aufgewogen wird. So weist am meisten diese Szene über das
Einzeldrama hinaus auf die übergeordnete Einheit des Ganzen. Und sie
ist vielleicht jener Io-Szene des Prometheus nicht unverwandt. Auch dort
fanden wir Prophetie und Ekstase, auch dort ein Weib, das Qualen vom
Gott leidet und so die Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit aufregt,
auch dort schließlich jene eigentümliche künstlerische Fügung, die den
Schwerpunkt aus der Mitte des Einzeldramas verlegt und auf den Aus-
gleich in der höheren Einheit wartet.
Nach der Kassandra-Szene eilt das Drama zu seinem Ende. Kly-
tämestra nach der Tat: das ist nun noch das Thema, welches Wort und
Gestalt werden muß. Die Bewegung dieser Szene wird am Formsymbol
des rhythmisch-musikalischen Baues sinnfällig. Auf die Weherufe des
Königs, die aus dem Hause klingen, war der Chor recht eigentlich wieder
zum hohen Rat des Volkes von Argos geworden, ja hatte sich aufgelöst
in die einzelnen Ratsherrn, die teils wild gegen das Palasttor andringen,
teils vorsichtig abwarten wollen. Nun tritt die Königin heraus. Lange
Rede, die niemand zu unterbrechen wagt: Vor ihrem Herrscherwillen
schweigt aller Widerstand, der sich eben noch so heftig gebärdete. Im
zweiten Teil der Szene wechseln kurze Singstrophen des Chors mit lang-
gereihten Sprechversen der Königin: sie bleibt ganz Klarheit und Willens-
kraft und die Erregung bricht sich wie kleine Wellen an dieser Starre.
Im dritten Teil der Szene wechseln große Singstrophen des Chors jeweils
mit Singrhythmen der Königin: das Gegenüber ist vorbei, die|selbe dunkle
Erregung, deren Ausdruck der Gesang ist, scheint auch die Königin er-
griffen zu haben.
Und dieser Versbau ist ganz Ausdruck innerer Bewegung. Als die
Königin über den Leichen der Ermordeten sichtbar wird, bekennt sie sich
nicht nur stolz zu ihrer Tat - „Wo ich geschlagen, steh' ich ob voll-
brachtem Werk" —, mehr: sie jubelt über ihren Sieg und wie früher jener
Purpurteppich unvergeßbares Bild war, so jetzt auf ihrer Stirn der Bluts-
tropfen. Vom Morde spricht sie:
So seine eigne Seele bricht er stürzend aus
Und von sich röchelnd Blutes einen jähen Strahl
Trifft er mich mit dem dunklen Tropfen roten Taus,
Mich froh nicht minder als an gottgegebener
Feuchte das Saatfeld bei des Keims Entbindungen.
So ganz leibhaft erlebt sie das Glück dieser Tat.
[21 ¡22] Die griechische Tragödie und das Tragische 121

Dann dringen die Beschuldigungen und Drohungen des Chors gegen


sie an. Aber noch wehrt sie „mit unerschüttertem Herzen" alles ab. Sie
ist die Herrin. Und sie hat recht getan: denn er ist schuldig am Opfertode
Iphigeniens, der eigenen Tochter, und die Ehe hat er befleckt im Felde
und bei der Heimkehr. Dafür liegt nun er und die Kebse.
Aber dann im dritten Teil der Szene wird der Chor immer mehr
zum Sprecher der dunklen Mächte, aus deren Reich alles dieses Furchtbare
aufsteigt, und der göttlichen, die über diesem allen walten. Er nennt auch
jetzt wieder Helena als die Schuldige, das weist die Königin noch ab.
Aber dann sieht er den Dämon des Tantalosgeschlechts, sieht ihn wie
einen Raben an der Leiche sein Lied singen. Und das greift sie auf: J a
der Dämon ist es, von dem immer neues Blut kommt. Aber mehr: als
jetzt der Chor den Namen des höchsten Zeus ausspricht, der alles wirkt
- wirkt er nicht eben (fragt man) Sühne des Frevels, jeden Frevels?
und als er den König beweint und die Hand schilt, die ihn ermordet hat,
da zuerst wird sie schwach. Und die Tat, zu der sie sich vorher mit
solchem Stolz und Glück bekannt hatte, ist ihr jetzt nicht mehr die eigene,
sie selbst nicht mehr die sie war.

Du willst, dies sei mein eigen Werk?


Agamemnons Gemahl heiße mich nicht!
Mit dem Weibe des Toten gleichgestalt
Hat der alte bittere Fluchgeist
Von Atreus her, argem Schmausbereiter, |
Sich an diesem gerächt
Und den Mann zu den Knaben geschlachtet.
Konnte sie vorher nicht genug an sich reißen von dieser Tat, so verbirgt
sie sich jetzt hinter der dunklen Gewalt. Man spürt, wie hier dieser
Lebensbahn die tragische Wende kommt. Als der Chor ihr Ausweichen
nicht gelten läßt:
Daß du schuldlos seiest dieses Mordes, wer wird dir's bezeugen?
Doch von Vätern her Mithelfer mag sein der Rachegeist -
also ererbten Fluch u n d freie Tat hier (im Sinne des Dichters) zusammen-
gebunden sieht, da reckt sie sich noch einmal auf: mit dem Tod hat er
gebüßt, was er verbrochen hat. J a sie höhnt, wie sie selbst ihn bestatten
wolle, und sieht in verzerrtem Spottbilde die geopferte Iphigenie am
Unterweltsstrom ihm entgegenkommen. D a aber der Chor das ewige
Gleichgewicht verkündet:

Dies bleibt, so lang bleibt auf seinem Throne Zeus:


Wer tat, muß leiden! So die Satzung.
Wer könnte Fluches Samen aus dem Hause tun?
Geschweißt ist dies Geschlecht an Unheil!
122 Griechische Literatur [22¡23]

da beschließt sie, nun ganz erschüttert:


Idi will
Gern Pleisthenes' Stamms Rachdämon mit Schwur
Zusagen, nun dies zu erdulden, wie schwer
Zu ertragen es ist, wenn künftig er fern
Vom Palaste nur weicht, daß ein andres Geschlecht
Er vertilge mit selbsthinwürgendem Mord.
Wird wenig mir auch
Von der Habe zu Teil, reicht alles mir hin,
Nur des Wechselmords
Wahnsinn aus dem Hause zu bannen.
(Übersetzung von Humboldt.)

So hat sich die stolz aufsteigende Kurve dieses Lebens geneigt wie vorher
die des Agamemnon, wie später die des Orest.
Der griechische Dichter konnte hier nicht schließen. Von dem
„kalkulablen Gesetz" her gesehen: er durfte die Linie des Ganzen so
abrupt nicht stürzen lassen. Von der Gestalt Klytämestras her gesehen: er
mußte einen Ausgleich schaffen zwischen der Schwäche der letzten Worte
und der grausamen Großheit, die noch vor wenigen Augenblicken da ge-|
wesen war. Er wird die Schlußworte der letzten Szene wieder von ihr
sprechen lassen aber in sehr anderem Tone:

Achte nicht, Gemahl, die Ohnmacht ihres Belferns! Ich und du


Werden diesem Haus gebietend alles ordnen wie's geziemt.

Also am Schluß sollte sie Herrscherin sein und jenes innere Umbrechen
noch eingeschlossen bleiben in der bis zuletzt bewahrten tragisch-großen
Haltung. Dem Ausgleich dient die Ägisth-Szene.
Der Mythus hatte den Mord an Agamemnon in Ägisths Hand gelegt
und Klytämestra als seine Helferin nur Agamemnons Sklavin abschlach-
ten lassen. Es ist allein die Wirkung der äschyleischen Tragödie, daß wir
dies jetzt ganz anders sehen. Und durch nichts kann zuletzt Klytämestra
in ihrer furchtbaren Größe mehr gehoben werden, als wenn nun, da alles
getan ist, Ägisth kommt. An diesem Hinterdrein und der Prahlerei seines
Auftretens wird die Einsamkeit ihres Handelns um so stärker fühlbar, an
seiner kleinen Tyrannei mißt man noch einmal die tragisch-stolze
Haltung, mit der sie vorher denselben Männern entgegentrat. Und wie
sie am Ende Frieden stiftet zwischen den Kämpfenden, vereint sich in ihr
zuletzt beides: jene herrscherliche Größe, die ihr von Anfang an eigen
ist, und ohne die sie nicht Trägerin tragischer Schicksale sein könnte, und
jene Weichheit und gleichsam Müdigkeit, in der sich offenbart, daß ihr
Tag seine Mitte überschritten und die Erfüllung ihres tragischen Schicksals
begonnen hat:
[23124] Die griediisdie Tragödie und das Tragische 123

Nicht doch laß, o teurer Freund, uns andres noch des Argen tun!
Nein schon dieses auszuernten ist ein unglückseliger Herbst.
Leidens ward genug. Kein neuer Anfang! Wir sind ganz im Blut.
Geht, ehrwürdige Greise, heim zum Haus, das euch beschieden ist,
Eh ihr tut und leidet. Saget J a zu dem, was wir getan.
Doch wenn jetzt genug der Mühsal würde, nähmen wir es gern,
Die des Dämons schwere Klaue unheilvoll geschlagen hat.
Also klinget Weibes Rede, wenn's euch wert zu hören deucht.
So endet das erste Drama und neigt sich zum zweiten hinüber, in welchem
dieses Schicksal sich erfüllen wird.
Goethe nennt den Agamemnon, den er „abgöttisch verehrte", „das
Kunstwerk der Kunstwerke oder, wenn man gemäßigter sprechen will,
ein höchst musterhaftes". Also sah er ihn ohne die beiden andern Stücke
der Trilogie als abgeschlossene Einheit. Diese Einheit ist zunächst und
vor allem die des tragischen Vorgangs. Es wird in der Tat immer staunens-
wert | bleiben, wie der Dichter hier eine breite Fülle konzentriert und
allein das Geschehen selbst in seinem unmittelbaren Vorher, in seinem
Vollzug und in seiner nächsten Wirkung gezeigt hat. Alles Frühere und
Spätere verstärkt nur die Polyphonie dieser auf engsten Raum zusammen-
geschlossenen Handlung. Aber wer ist der Träger dieses Geschehens?
Goethe bekennt sich in jenem Brief an Humboldt davon „immer aufs
Neue ergriffen, daß jede Person außer Klytämestra, der Unheilsver-
ketterin, ihre abgeschlossene Aristeia hat, so daß jede ein ganzes Gedicht
spielt und nachher nicht wieder vorkommt, uns etwa aufs Neue mit
ihren Angelegenheiten beschwerlich zu fallen". Das scheint auf alles andre
eher als auf die Einheit der tragischen Gestalt zu weisen. In der Tat, wer
ist der tragische Held? Ist es Agamemnon? Aber der ist nur in einer,
wenn auch der zentralen Szene da und beherrscht keineswegs so sehr das
Ganze, wie Aias das sophokleische, Julius Caesar das shakespearische
Drama auch nach ihrem Tode noch, ja erst recht beherrschen. Kly-
tämestra? Aber dem widerspricht - von dem Namen des Stückes nicht
zu reden - ganz offenbar die Intention des Dichters. Äschylus sieht ja
keineswegs diese heroische Valantinne als Sondergestalt mit ihrem
Sonderschicksal, dem alles andre, auch Agamemnons Tod, als Teilschicksal
eingeordnet wäre, so wie etwa Sophokles seine Antigone oder Elektra.
Also Agamemnon und Klytämestra? Aber dann in sehr anderem Sinn
als etwa Macbeth und Lady Macbeth, da hier das Weib doch eher als
ein Teil jener unheimlichen Naturgewalt dem Helden gegenübersteht,
anders auch als Romeo und Julia, Antonius und Kleopatra, wo jeweils
ein Doppelstern tragisch vernichtet wird. Äschylus' Auge scheint vor
allem auf die Kette des Geschlechtsfluches gerichtet. Sind auch die
Menschen wechselnde Träger dieses tragischen Geschehens? Aber indem
wir diese Frage bejahen wollen und, was damit gesagt ist, genauer zu
deuten versuchen, wird uns klar, daß das „Kunstwerk der Kunstwerke"
124 Griechische Literatur [24125]

doch zuletzt Teil einer höheren Einheit ist. Und so muß erst das zweite
Drama der Trilogie, die Grabspenderinnen, betrachtet werden.
Von den Kräften, die das erste Drama erfüllten, ragt Klytämestra in
dieses zweite hinein, und wie sie dort am Schluß herrschte, so herrscht
sie noch hier. Ihr Wille wird sichtbar in den Mädchen des Chors und in
Elektra. Auf ihren Befehl, mit ihren Gaben kommen sie zum Grabe. Aber
doch hat sich alles verändert. Der Chor singt es selber: was früher Ehr-|
furcht war, ist jetzt Furcht geworden. Geschah es damals aus scheuer
Bewunderung, daß man ihrem überlegenen Willen gehorchte: jetzt ist es
nur ihre Macht die man fürchtet, und sie die Mörderin der man flucht.
Sobald es angeht, macht man sich frei und verbindet sich mit ihren
Feinden. In diesem großen Spiel und Widerspiel der Kräfte ist die ihre
nun sichtlich im Schwinden.
Auf der Bühne ist das Grab des Agamemnon, um das im ganzen ersten
Teil der Choephoren die Handlung kreist. Aber damit ist nicht genug
gesagt. Hatte der Mythos dieses Grab hingestellt, damit die Geschwister
sich dort begegnen und erkennen, so macht es Äschylus, der es nicht nur
dem Auge zeigt, sondern es durch das Wort immer wieder beschwört,
durchaus zu einem Mitspieler des Geschehens. Denn in ihm dauernd sicht-
bar verkörpert wirkt eine Kraft in dieses Drama hinein: Agamemnon, der
wohl tot ist, aber erst jetzt recht mächtig wird. Der Chor weiß, die Traum-
deuter haben's gesagt, niemand zweifelt, daß der Groll des Toten der Kö-
nigin jenen Traum geschickt hat, dem sie mit Opfern antworten will. So
lebt Agamemnon aus dem Grabe herauf, die Feinde verstörend, die Seinen
bestärkend. Um ihn wird geworben von der Königin mit Spenden, von
Sohn und Tochter wie von den Mädchen des Chors mit Haaropfer,
Tränen und Gebet.
Was geschieht am Grabe? Orest kommt, ruft den Vater, opfert die
Locke. Dann kommen die Frauen mit ihren Totenspenden. Dann folgt
die Erkennung. Es ist die früheste „Erkennung", die wir in der Tragödie
gestaltet sehen, Vorläuferin und Vorbild so vieler anderer. Aber das
Moment der Spannung, die Frage: wie wird dies zustande kommen?, die
Rührung, das also, was in Sophokles' Elektra und bei Euripides so
wichtig werden soll, ist bei Äschylus noch keineswegs die Hauptsache. Die
Erkennung am Grabe des Vaters ist nur eine Etappe in jenem Kampf
um die Macht des Toten. Hatte zuerst Orest allein ihn angerufen, dann
Elektra und die Mädchen unter der Wirkung dieser Kraft den Mut ge-
faßt, sich gegen die Herrschenden zu wenden, so vereinen sich nach der
Erkennung alle, Orest, Elektra und die Mädchen des Chores zu einer
gewaltigen Beschwörung: stärkste Leidenschaft in strengste Form gebun-
den. Und als in diesen beschwörenden Strophen alle furchtbaren Dinge
wieder lebendig werden, ringt sich Orests Entschluß los, die Mutter zu
töten:
Des Vaters Schändung also soll sie büßen! ]
[26)27] Die griechische Tragödie und das Tragisdie 125

So fühlbar nahe ist Agamemnon. Man darf sagen, daß er die stärkste
K r a f t dieses ersten Teiles ist.
Elektra hat durchaus noch nicht jenen tragisdien Raum, den erst
Sophokles ihr gegeben hat. Sie kommt zu Anfang unsicher und läßt sich
von den Mädchen treiben. Dann freilich bittet sie den Vater um Rache,
hilft dem Bruder zum Entschluß und weiß: sie hat von der Mutter
Wolfssinn geerbt und kann nicht wedeln vor den Herrschenden.
Orest war schon im früheren Drama von fern sichtbar geworden.
Jetzt im zweiten ist er gleich zu Anfang da. Schon die ersten Worte zeigen,
daß er weiß was ihm bevorsteht. Und wenn auch der letzte Entschluß,
mit dem er sich ganz in die Tat gleichsam hineinwirft, erst in jener
Beschwörungsszene aus ihm hervorbricht, so ist er doch von Anfang an
entschieden:
Muß man nicht glauben so getanem Götterspruch?
Und glaubt ich nimmer, wirken muß ich doch das Werk.
Denn vieles bestimmt ihn, Trauer um den Vater, das eigene Elend, der
Jammer, „zwei Weiber" über die Zerstörer Trojas gebieten zu sehen: zu-
letzt doch Gründe, in die vor dem eigenen Denken sein inneres Muß sich
auseinanderlegt. Es ist wesentlich, daß der Gott nicht von außen den
Unwilligen stößt. Wille des Gottes und eigener freier Täterwille stimmen
zusammen. So ist es nur eine letzte Bekräftigung, wenn auf der Höhe
jener Beschwörungsszene in Gesangrhythmen und -klängen, also in
höchster Steigerung des Gefühls, der Entschluß dasteht:

Des Vaters Schändung also soll sie büßen


Nach der Götter Willen, nach meiner Hände Willen.
Und tötet' ich, mag ich dann vergehen!

D a ist wieder Befehl des Gottes und eigener Wille gepaart. Und diese
Konvergenz und das Wissen darum und dazu die unbeirrbare Ent-
schlossenheit, die nach keinem Was dann? fragt, gibt die tragische Haltung.
Es bleibt auch nicht bei jenem in der Ekstase gefaßten, vielmehr bestätig-
ten Entschluß. Zur tragischen Haltung gehört es, daß sie auch in voller
Ruhe über die Tat verfügt. Orest beherrscht die Szene, bereitet den
Racheplan bis ins letzte vor. Jetzt ist er auf seiner Höhe. Und die tragische
Situation im Sinne des Äschylus fordert, daß, wie früher die Menschen
des ersten Dramas, so jetzt er die eigene Tat eingereiht sieht in die furcht-
bare Kette:
Erinys aber nicht entbehrend roten Mords
Trinkt ungemischten Blutes nun den dritten Trank. |
Und der Chor bestätigt:
Den Sohn führt ins Haus, um ältern Bluts Befleckung
Zu sühnen, sei's auch spät, Erinys, groß, abgrundsinnend.
126 Griechische Literatur [27128]

Zeigte der erste Teil des Dramas den Entschluß, so der zweite die Tat.
Grab und Königshaus sind auf der Bühne des Dionysos-Theaters gleich-
zeitig vorhanden. Auf der dichterischen, das heißt der gültigen Bühne
sah man in der ersten Hälfte das Grab, jetzt sieht man das Haus. Und
das Haus spielt mit wie vorher das Grab. Orest kommt als Wanderer
verkleidet mit der falschen Botschaft seines eigenen Todes. Klytämestra
als Herrin des Hauses nimmt ihm die Botschaft ab und läßt ihn ins Haus.
Durch kein Wort wird merkbar, ob er weiß, wen er sich gegenüber hat.
Und als die Königin auf die empfangene Trauerkunde sogleich mit der
Klage beginnt:

Weh mir, wie sind vom First herab wir ganz zerstört!
O nimmer ringt man nieder dieses Hauses Fluch!
verrät sich mit keinem Wort, ob ihre Trauer wenigstens für einen Moment
etwas Echtes hat. Freilich, wenn man bald darauf von der alten Amme
erzählen hört, wie die Königin das Lachen der Augen vor der Diener-
schaft verberge, so wird man seine Schlüsse ziehen. Aber hier so wenig
wie vorher leidet die Strenge dieser Kunst halbe Worte, und eben da-
durch, daß nichts gesagt wird von dem, was man gierig verlangt, und
daß sich auch alles Folgende bis zu Orests Eintritt in kühlen höfischen
Formen bewegt, gehört diese Szene zu den unheimlichsten.
Nach dem Mythus, den Äschylus vorfand, tötet Orest den Ägisth
sogleich drinnen im Palast auf dem Thron Agamemnons. Der Thron der
Väter: das war dort gewaltiges Symbol, aber für Äschylus so nicht ver-
wendbar. Und er konnte den Ägisth nicht sterben lassen, ohne ihn ein
einziges Mal zu zeigen. Sein Schauspiel wäre sonst an dieser Stelle schatten-
haft geblieben. So hat er zwei Szenen geformt: in der ersten erscheint
Orests alte Amme Kilissa, von Klytämestra als Botin an Ägisth abge-
schickt, um ihn herbeizuholen. Und der Chor rät ihr den Auftrag abzu-
ändern: Nicht mit seinen Leibwächtern solle er kommen, sondern allein
und unbewaffnet. Und in der zweiten kommt er selbst über die Bühne
und geht in das Haus, in sein Verderben.
Gegenwart also (in dem Sinne, den Goethe diesem Wort so gern gibt)
schafft der Dichter. Aber mehr: mochte sich das Epos damit begnügen,
daß erst Ägisth, der überall dort die Hauptperson zu sein scheint, und
hinterdrein die Königin erschlagen wurde: der Tragiker ersetzt das, was |
von den Unterliegenden her gesehen bloßer Ablauf eines Geschehens war,
durch ein Tun, das bloße Nacheinander durch eine ironisch-tragische Ver-
flechtung. Klytämestra selber ist es, die den Ägisth herbeibescheidet, also
in sein Verderben ruft. So wirkt die Verderberin Untergang auch dort
noch, wo sie nicht will, und sie behält bis zuletzt den ersten Rang, wäh-
rend der alte Mythus sie in den Schatten des Ägisth stellte. Noch für
anderes gewinnt der Dichter Raum. Die Tragik in der Form der tragischen
Ironie wirkt hinein in die letzten Worte Ägisths: Er rühmt die Augen
[28129] D i e griechische T r a g ö d i e und das Tragische 127

seines Geistes, die man nicht betrügen könne, in dem Augenblick, da er


blind in die Falle geht. Selbst der Chor nimmt an der tragischen Handlung
handelnd teil. Wie er schon anfangs die noch unsichere Elektra getrieben
hatte, dann in der Beschwörungsszene als besonderer Wille fühlbar ge-
worden war, so wirkt er hier zum Verderben Ägisths mit. Er hat weit
mehr tätige Kraft als später Sophokles ihm beläßt, ist selbst ein Stück
personaler tragischer Energie. Und Raum gewinnt der Dichter in der
Kilissa-Szene, um durch den Mund der alten Amme noch einmal die
wahre Stimme des Hauses Wort werden zu lassen, ähnlich wie zu Anfang
des Agamemnon die Sehnsucht nach dem vielgeliebten Herrn durch den
Mund des Wächters.
Das Epos reiht Ereignisse aneinander: Klytämestra folgt dem Ägisth
in den Tod. Die Tragödie baut tragisches Tun übereinander, indem alles
andere dem Letzten und Stärksten subordiniert wird: der Tat des Sohnes
an der Mutter. Wie schon früher Klytämestras Tat an Agamemnon, so
war hier der Muttermord zu zeigen nicht als eigentlich tatsächliche Hand-
lung (wie Shakespeare ihn gegeben hätte), sondern durch das Mittel des
„tödtlich-factischen Wortes". Darum die Regie des Dichters, die Räume
auseinander zu legen, so daß die Königin aus dem Frauengemach die
Bühne kreuzen muß, um in den Männersaal zu gehen.
Mutter und Sohn stehen einander gegenüber. Es durfte keine Greuel-
szene werden wie bei Seneca oder dem jungen Shakespeare. Aber auf der
andern Seite mußte jeder Absturz ins Gefühlvolle fern bleiben. Der
schmale und gewagte Weg des Tragikers läuft zwischen beiden Gefahren
mitten hindurch, und auf diesem Weg kreuzen sich die Linie Klytämestras
und die Linie Orests in genauer gegensätzlicher Entsprechung. Einsicht in
die tragische Verflechtung: das ist ihr erstes Wort, als man sie ruft:
Durch List, wie wir getötet, also fällt man uns -
und das ist sein letztes Wort, als er sie zum Tode führt: |
Nun leide Frevel, wie du frevelnd mordetest!
Dazwischen treffen die beiden Kräfte aufeinander. Die Mutter wird im
Verlauf nur weiche Töne kennen, die Bitte um Erbarmen, den Anruf
seines Mitleids, seiner Gerechtigkeit - so sehr hat diese Kraft sich abwärts
in die Schwäche geneigt. Aber zu Anfang ist noch e i n e Bewegung jener
Tätergeste, als sie nach der alten Mordaxt ruft:
Geschwind das männermörderische Beil herbei!
Laßt sehen, ob wir Sieger ob Besiegte sind!
Orest wird ihrem Flehen gegenüber unerbittlicher Vollzieher der Rache
sein. Aber zu Anfang zuckt es ein einziges Mal nach der anderen Seite,
und er hat einen Moment des Zauderns, als sie beschwörend die mütter-
liche Brust enthüllt.
Was tun? darf ich die Mutter töten, Pylades?
128 Griechische Literatur [29/30]

So kreuzen sich die Linien dieser beiden Leben: an Klytämestra erfüllt


sich das tragische Schicksal und reißt sie „in die exzentrische Sphäre der
Toten". Orest ist der tragische Erfüller, dessen Linie steil emporsteigt
zur tragischen Tat.
Die letzte Szene zeigt Orest über den Leichen der Mutter und des
Ägisth, und der Dichter hat alles getan, die Symmetrie mit der Szene des
Agamemnon zu erwecken, in der Klytämestra über den Leichen des Gatten
und der Kassandra stand. Um die Entsprechung noch zu verstärken, dient
ihm jenes Gewand, in dem der Vater gefangen und ermordet wurde. Bei
Shakespeare ist Cäsars durchbohrter blutiger Mantel in den Händen des
Marc Anton ein bewußt gehandhabtes Werkzeug der Demagogie. Bei
Äschylus bleibt das Gewand immerfort anschauliches Symbol, das alte
Geschehen mit dem gegenwärtigen verbindend. Erst heißt Orest es aus-
breiten, damit Helios es sehe und ihm Zeuge sei für sein gutes Recht:

Breitet es aus und tretet rings im Kreis heran


Und zeiget Mannes Fangnetz, daß der Vater sieht
- Nicht meiner, sondern welcher alles dieses schaut —
Gott Helios, meiner eigenen Mutter unrein Werk.
Sei er bei mir als Zeuge vor dem Richter einst,
Daß dies im Rechte, dieses Schicksal ich gewirkt
Der Mutter. Denn Aigisthos' Schicksal zähl ich nicht.
Da ist das Gewand Beweisstück, er selbst noch ganz aufrecht. Nur daß
der Gedanke der Verteidigung jetzt schon für ihn in die Mitte tritt, führt |
auf die Wende hin, die bald kommen wird. Der Mutter Tat, den Augen
versinnlicht durch das Gewand: daran tastet sein Gedanke sich weiter.
Einen ersten Zweifel: hat sie's getan oder nicht getan? kann der Blick auf
das Gewand niederschlagen. Aber in der Frage liegt, daß ihm zweifelhaft
geworden ist das unbedingte Gegenüber von ihrer Schuld und seiner
gerechten Rache. Und wirklich, er sieht nun auch jenes Furchtbare ein-
geordnet in die Kette des Fluchs und erkennt seine eigene Tat in ihrem
unseligen Zwang:
Und red' ich an dies väterliche Mordgewand,
So schmerzt mich Tat und Leiden und der ganze Stamm,
Der ich des Siegs Befleckung trage, nicht ersehnt.

Noch als Sieg und schon als Befleckung, in zerschneidender Koinzidenz


der Gegensätze, so wird ihm diese Tat jetzt zum ersten Mal sichtbar. Und
dann bricht als Letztes der Wahnsinn herein. Er spürt, wie die Pferde
den Wagen dahin reißen. Er wehrt sich, behauptet sein Recht, wälzt die
Schuld auf Apollon, der ihm die Tat geboten, ist nicht mehr bereit wie
früher als freier Täter die Verantwortung mit dem Gott zu teilen. Und
nun sieht sein gehetzter Geist die Gespenster der Blutgöttinnen. Und er
stürzt davon:
[30j31] Die griechische Tragödie und das Tragische 129

Ha!
Hier welche Weiber diese! Nach Gorgonenart
In grauen Kleidern und umflochten wirr das Haupt
Von dichten Schlangen! Bleiben kann ich nimmermehr.
So hat auch diese Linie sich abwärts gebogen. Und der Chor — nun ganz
Stimme der Moira — reiht die Tat ein, als dritte, in die Folge der Schick-
salstaten des Geschlechts.
Wir umfassen die Choephoren mit einem Blick. Wessen Tragik ist hier
gestaltet? Orests? So könnte es scheinen, wenn man das Stück als einzelnes
sieht. Aber es heißt nicht nach ihm, sondern nach dem Chor, schwerlich
aus Zufall. Und nimmt man es in dem Verbände, in dem es steht, als
zweiten Teil der Trilogie, so muß man es anders sehen. Orests Tat und
Schicksal herrscht garnicht über das Ganze. Des toten Agamemnons Tragik
reicht weit hinein mit jener erneuten aktiven Kraft, die sich in seinem
Grabmal symbolisiert. Klytämestras Tat und Schicksal, im ersten Drama
ausgebreitet, neigt sich gleichfalls weit hinein dem Untergang zu. Nicht
davon zu reden, daß auch in Elektra und selbst dem Chor ein Stück
tragischer Aktivität sichtbar wird. Also ist es Äschylus' Wille nicht ge-|
wesen, die Tragik des Orest als einer eben durch sein tragisches Sein ver-
einzelten und vereinsamten Gestalt hinzustellen, so etwa wie Sophokles
die Tragik Elektras hinstellt. Äschylus hat nichts getan um Orest zu
isolieren, alles um die tragischen Linien weiter schwingen zu lassen und
die Verbindung deutlich zu machen. Das Haus steht im Hintergrunde
und „spielt mit". Die Tragik des Hauses sollen wir erfahren. Die diesem
Hause angehören, handeln und leiden jeweils mit an dieser überpersön-
lichen Tragik, Agamemnon, Orest; aber auch die eintreten in das
Geschlecht, wie Klytämestra, oder es nur streifen, wie Kassandra. Woran
wir Heutigen, von Shakespeare oder auch von Sophokles her, denken:
Tragik des einzelnen Menschen - das hat sich noch nicht losgelöst aus der
umfassenderen Tragik des Geschlechts.
Das zweite Drama verklingt mit den Worten des Chors:
Wohin wird enden, wohin wird schwinden
Eingeschläfert die Kraft des Verderbens?
Das dritte Drama antwortet, führt das Ganze zu Ende. Zu welchem
Ende? Die Eumeniden sind dem heutigen Menschen am fremdesten unter
den drei Teilen der Trilogie, am stärksten verwurzelt in Glaube, Recht,
Institutionen einer vergangenen Zeit. Aber wie es bei Dante Stellen gibt,
die mehr Theologie oder Staatslehre zu sein scheinen als Dichtung, und
die am meisten auf die Kraft des deutenden Verstehens warten, um
gleiche Gegenwart mit gestaltetem Bilde und liebendem Aufschwung zu
gewinnen, so muß man bei diesem Teil der äschyleischen Trilogie mehr
als bei den andern sich denkend in eine unwiederholbar entschwundene
Vergangenheit zurückversetzen.
130 Griechische Literatur [31(32]

In diesem Stück gibt es fast keine Menschen, und die wenigen, die es
gibt, sind noch dazu namenlose Repräsentanten. Von den tragischen
Gestalten, die wir kennen, taucht Klytämestra als Schatten auf und geht
Orest durch das Drama. Aber er ist hier viel weniger der heldenhafte
Mann aus den Choephoren als der gleichsam zufällige personale Träger
einer Sache, um die eigentlich der Kampf ausgetragen wird. Die Handlung
ist von den Menschen auf dämonische und göttliche Mächte übergegangen.
Ja wir sehen diesen Übergang selbst fast im Symbol, wenn Klytämestras
Schatten die schlafenden Bluträcherinnen weckt, noch mehr, wenn vor
dem Gericht Apollon dem Orest die Verteidigung abnimmt und Orest
in dem eigentlichen Rechtskampf garnicht mehr selbst zu Worte kommt. |
Orest erscheint in Delphi verfolgt von den Erinyen, geschützt von
Apollon, und zwischen diesen göttlichen Wesen geht der Kampf, vor
dessen Mächtigkeit das Menschenschicksal, das ihn hervorgerufen, fast zu
verschwinden scheint. Die schauervollen Dämonen, das uralt Blut- und
Grauenhafte, erhebt sich gegen das Helle, Gestaltete, Menschlich-Gött-
liche. Der Dichter sieht diesen Gegensatz als einen des jüngeren und des
älteren Göttergeschlechts, wie er ihn angelegt fand im Mythus, und wie
er ihn selbst im Prometheus geformt hatte. Die Erinyen zu Apollon:

Uralte Mächte rittest du nieder, junger Gott.


Aber in dieser mythischen Form hat man einen Widerstreit von dauernder
Bedeutung zu erkennen:
Wider der Götter Fug ehret er menschlichen,
Zerbrechend uraltgeborene Satzung.
So wollen sie selbst Repräsentanten des göttlichen Rechts überhaupt sein.
Aber da Apollon erscheint, sie als Gespenster aus seinem Heiligtum weist,
da zeigt sich in diesem Wortkampf, daß sie ein begrenztes Recht ver-
körpern, dem ein höheres sich entgegenstellt:
Erinyen: Den Muttermörder jagen wir von Haus und Herd.
Apollon: Und wie, auch den des Weibes, das den Mann erschlug?
Erinyen: Das ist nicht gleichen Blutes selbstgewirkter Mord.
Apollon: So ganz ohne Ehre und wie ein Garnichts schätzest du
Bei Hera Ehvollenderin und Zeus den Schwur?
Kypris ohn' Ehre bleibt verschmäht in deinem Wort,
Von der dem Sterblichen zuteil das Liebste wird?
Das Bett, vom Schicksal Mann und Weibe zubestimmt,
Stärker als Eidschwur ist es durch das Recht bewahrt.
Eine uralte Religion läßt aus dem Blut des Sippengenosssen die dämo-
nischen Rächerinnen entstehen, weil kein menschlicher Rächer da sein
kann, wenn der Sohn den Vater oder die Mutter erschlagen hat. Aber
gegen diesen dämonischen Fug einer Urzeit steht der jüngere, hellere: auch
[32j33] D i e griechische Tragödie und das Tragische 131

Gattenmord heischt Sühne und nicht weniger, eher mehr. U n d wenn jenes
alte dämonische Recht dort mitleidlos und hier gleichgültig ist, so erweist
es sich schon durch diese Unterscheidung als stammend aus überwundener
Welt. D a Apollon die Mißgestalten aus dem Tempel jagt, ist er Sieger,
nicht weil er die schärfere W a f f e hat, sondern weil er die reinere und
höhere Ordnung vertritt. |
Der K a m p f ist abgebrochen, nicht geschlichtet. Die Szene wird nach
Athen verlegt, und vor dem Blutgerichtshof des Areopags plädieren nun
die göttlichen Mächte. Die Erinyen gebärden sich wohl, als wenn sie
Rächerinnen alles Mordes wären:

Die Menschenmörder jagen wir von Haus und Herd.

Aber im Angriff denken sie nur an die eine T a t und kämpfen weiter mit
ihrer alten Waffe: Muttermord ist Mord am eigenen Blut und also der,
den sie allein verfolgen. Apollon stellt sich als den weisen Seher dar, der
seine K r a f t von Zeus besitzt und nie etwas Falsches offenbart hat. Aber
als er in den Prozeßkampf eintritt, erweist er sich nicht minder als
Repräsentant eines durchaus teilhaften Rechtes, das durch den Wider-
spruch zur unvollkommenen Rechtsidee der Erinyen in jene wunderliche
Beschränktheit gedrängt zu werden scheint: der Mord an Agamemnon
sei das Ärgere, weil hier ein siegreicher Held getötet worden sei und noch
dazu von Weibeshand. Die Blutsverwandtschaft aber, auf die sich die
Gegnerinnen berufen, gehe nur vom Vater zum Sohne, nicht von der
Mutter, die nichts schaffe, sondern nur das Erzeugte bewahre bis zur
Geburt. Ähnlich seltsam klingt Athenes Begründung, als sie für Orest
den Stimmstein in die Urne legt: dem Manne gebe sie, die männliche
Göttin, durchaus den Vorrang vor dem Weibe. Höchst fremdartig muten
diese Argumente an und sind nur aus einer ganz männlich gesinnten
Gesellschaft überhaupt verständlich. Im Sinne des Dichters sind es, wenn
auch Göttern in den Mund gelegt, d. h. von überindividueller Geltung,
dennoch Plädoyers, beschränkte Erfassungsweisen. Wäre ihm bei den
Erinyen oder bei Apollon oder bei Athene die Wahrheit, so müßte das
Urteil der menschlichen Richter einstimmig sein. Die Stimmengleichheit
erweist das relative Recht jeder der beiden kämpfenden Parteien. Für
den Angeklagten bedeutet sie Befreiung. W o die Rechtsprinzipien unauf-
lösbar miteinander streiten, hilft nur ein A k t der Gnade, die freilich -
weil wir in einer antiken Welt sind - nicht als gleichsam positive K r a f t
von oben her gespendet wird, sondern die aus dem Non liquet des Urteils-
spruches von selber hervorgeht.
Der tragische Widerstreit also, der im Menschlichen nicht lösbar war,
mußte in die göttliche Ebene hineingetragen werden. Jetzt erweist sich -
wie könnte es anders sein? - , daß er in dieser ebenso unlöslich ist. Das
höchste Recht weiß weder Apollon noch die Erinyen noch Athene oder gar
irgend ein Mensch. D i k e - damit könnte der Dichter uns bescheiden -
132 Griechische Literatur [33p5]

ist Beisitzerin nur des Zeus. Aber mit diesem Bescheid, der für den Men-
schen | ein Verweisen ins Unendliche wäre, begnügt sich der griechische
Dichter nicht. Es gab eine Legende, die von dem Prozeß des Orest die
Stiftung des heiligen Blutgerichtes auf dem Ares-Hügel herleitete. Diese
Legende greift Äschylus auf und weitet sie zu der Größe seiner tragischen
Handlung. Denn was am Schluß der Eumenidert steht, ist, wenn man es
nur stark und einfach genug sieht, nichts anderes als: die Gründung der
Polis selbst. Die Polis beruht auf der Gerechtigkeit, so lehrt Plato. Wenn
hier der hochheilige Gerichtshof gestiftet wird, so wird das Recht hinein-
gegründet in den Staat, der ohne diesen Rechtskern kaum schon Staat zu
nennen wäre. Und jene Dämonen der Urzeit dürfen auch nicht mehr
bedrohlich ihr Wesen treiben und außerhalb der Sphäre des göttlich-
menschlichen Rechtes ihr eigenes Gesetz verfolgen: sie müssen hinein-
gezwungen werden in die menschliche Gemeinschaft, daß die Menschen
ihnen Verehrung, sie den Menschen Segen bringen. Darum kämpft
Athene, die göttliche Repräsentantin der Polis, am Schluß des Ganzen
mit ihnen, bis sie aus Erinyen zu Eumeniden werden. So wird das heilige
Recht und der heilige Kult einbezogen in den geheiligten Kreis.
Aus den tragischen Zerrüttungen der Heroenzeit wächst unsere Ord-
nung. So klang es im kleineren wohl schon im Schluß der Prometheus-
Trilogie, so gewiß in anderen Trilogien des Dichters, so klingt es vor
allem und für uns allein faßbar in seinem reifsten Werk. Das ist ganz
etwas anderes als die Fortinbras-Geste, mit der nach Hamlets Untergang
ein neuer Herr seine alten Rechte an das Reich geltend macht und Feld-
musik und Ehrensalut über den Gräbern der Toten anordnet. Bei Shake-
speare ein Aufatmen, daß trotz tragischer Vernichtung das Leben dennoch
weitergeht; bei Äschylus ein notwendiger Bezug des gegenwärtigen Da-
seins auf jene heroisch-tragische Vergangenheit, aus der es seinen Ur-
sprung hat. Ob hier jenes Allgemeine sich andeutet, von dem zu allem
Anfang die Rede war, daß ohne tragische Vernichtung kein menschliches
Leben möglich ist: die Frage lassen wir unbeantwortet. Aber wir hören
hier des Äschylus letztes Wort darüber, was ihm Tragödie ist.
Tragödie ist für ihn nicht, wie zuletzt für Sophokles und doch wohl
auch für Shakespeare, das Gefäß, in dem das tragische Einzelschicksal
des einsamen tragischen Menschen aufgefangen wird. Schon daß er die
weit gebaute Trilogie als adäquate Form sich geschaffen hat, beweist,
daß er anderes wollte. Er sah den Menschen nicht vereinzelt und groß in
den Raum gestellt, sondern sah ihn unlöslich verbunden durch Blut und |
Schicksal mit der Gemeinschaft seiner Stadt, seines Stammes, seines
Hauses. Von der Tragik des Atridengeschlechts waren die beiden ersten
Dramen der Orestie erfüllt. Nun zeigt das dritte, daß auch jene Gesamt-
tragik nicht als etwas rein Abgesondertes vor uns hingebreitet wird,
damit wir Größe erfahren und durch ihren Untergang erschüttert werden,
sondern daß auch diese umfassende Tragik ihren letzten Sinn erst gewinnt
[35j295] Die griechische Tragödie und das Tragische 133

durch den Übergang in eine andere Sphäre: in die heiligen Ordnungen


unseres eigenen Daseins.
Gemessen an der Orestie erscheinen die Sieben gegen Theben, dieses
kaum ein Jahrzehnt ältere Drama, als primitiv in der Enge des Raumes,
der Einfachheit des Bildes, der Unentwickeltheit des tragischen Moments.
Mit der Orestie tritt für uns der hohe Sechziger auf eine ganze neue Stufe
des Schaffens. Man hat, um dieses Besondere zu deuten, von jeher auf
die Nachricht hingewiesen, daß zehn Jahre vor Äschylus' letztem Werk
der junge Sophokles noch nicht dreißigjährig im tragischen Wettkampf
gesiegt habe. In der Tat wird man nicht bezweifeln dürfen, daß der Agon
auch hier die höchsten Kräfte entband. Aber damit ist das Wichtigste
noch nicht gesagt. Das Wichtigste ist erst, daß Äschylus nicht auf so-
phokleischem, sondern ganz auf eigenem Wege zur Vollendung kam.
Denn eine andere Form der Tragik ist es, mit der nun Sophokles seine
Zeit beherrschen wird. |

Zweiter Teil

Sophokles ist nur um ein Menschenalter jünger als Äschylus, und


die tragische Kraft dieses Schöpfers der Tragödie lebt ungemindert in
ihm weiter. Aber wie viel sind schon einige Jahrzehnte in dieser voll-
strömenden Zeit! Der Ältere kämpft bei Marathon mit, Sophokles führt
kaum erblüht bei der salaminischen Siegesfeier „nackt und gesalbt" den
Festreigen. Marathonstreiter aber, die erschienen schon nach einem halben
Jahrhundert den eigenen Landsleuten wie aus anderem Stoffe und von
unvergleichbarem Maß, und es bedeutet wirklich so gut wie alles, ob
man jene Zeit als Mitstreiter und Führer der Geister erlebt hat oder ob
man als Knabe in ihr aufgewachsen ist. Die Verschiedenheit der
Sophokleischen Antigone und der Orestie ist gewiß eine Verschiedenheit
der Individualitäten, die so gegensätzlich sind wie Michelangelo und
Raffael, aber nicht minder der Zeiten, die von ihren beiden Dichtern
ebenso bestimmt wie repräsentiert werden.
Man vergleiche eine Sophokleische und eine Äschyleische Tragödien-
rede als den kleinsten in sich geschlossenen Teil einer Szene. Bei Äschylus
ist es ein Bergstrom, der oft über die Grenzen der Verse scheinbar regellos
dahinfährt, prächtige und fremdartige Worte, mächtige Bilder und Me-
taphern mit sich führend. Hält man daneben ein ähnliches Stück aus
einem Sophokleischen Drama, so erschrickt man wohl im ersten Augen-
blick, wie dünn und gedacht vieles erscheint gegenüber jenem urtümlichen
Überschwang. Und man muß vielleicht erst eine Enttäuschung über-
wunden haben, um zu Sophokles durchzudringen. Dann aber sieht man,
daß ein hoher Kunstverstand die Kraft des Flusses ebenso kühn wie
genau in Stufen herabführt, und, während er immer das Ganze im Auge
134 Griechische Literatur [295/297]

hat, jedes einzelne Glied durch Symmetrie, durch Gegensatz, durch


Gliederung, überhaupt durch das Gesetz einer überlegenen geistigen |
Ordnung bestimmt. Und wenn man zuerst die Pracht und Großartigkeit
der Rede vermißt, so wird man allmählich inne, wie Sophokles seine
Worte zwar dem vornehmen Umgangston weit mehr annähert, aber
durch ihren vollkommenen Zusammenschluß im Verse, durch leises Biegen
und Vertiefen ihres gewöhnlichen Sinnes, man darf wohl sagen durch
eine letzte Vergeistigung etwas durchaus Ebenbürtiges schafft.
Der Unterschied, der hier an einem einfachsten Stück „Form" auf-
gewiesen wurde, zeigt sida überall, in den Chören, im Bau einer Szene,
in der Fügung des ganzen Dramas. Die Gestalten vor allem sind von
verschiedenem Maß. Einen Äschyleischen Prometheus kann man nicht
denken im Sophokleischen Werk, Klytämestra mit dem Blutstropfen auf
der Stirn ist aus anderem Geschlecht als eine Antigone oder Elektra des
jüngeren Meisters. Und könnte es scheinen, als würde ein ödipus oder
Aias neben manchen Personen der Orestie sich behaupten, so darf man
nie vergessen, daß in ihr die Menschen einzeln eben gar nicht existieren,
sondern als Teilkräfte innerhalb einer überindividuellen Tragik.
Und dazu nehme man, was alle Vergleichbarkeit vollends in Frage
stellt. Äschylus hat die weite Form der Trilogie - gleichviel aus welchen
Vorformen - geschaffen für die umfassende Verflechtung, in der er Tragik
sah. Drei Tragödien hat auch Sophokles an den Großen Dionysien jeweils
einstudiert nach der Regel des Festes. Und sicherlich hat er gewußt, die
Dramen zueinander zu stimmen. Aber um so deutlicher und wichtiger
wird nur, daß für ihn abgeschlossene künstlerische Einheit das Einzel-
drama war, in sich ausgewogen, keines anderen bedürftig und das tra-
gische Geschehen völlig umfassend.
Wir vergegenwärtigen den Kontrast, indem wir die Elektra des
Sophokles mit ihrem Vorbild, dem Mittelstück der Orestie vergleichen.
Beide Dramen haben dieselben Grenzen: hier die Heimkehr des Orest,
dort den Vollzug der Rache an den Vatermördern, dazwischen das
Wiederfinden der Geschwister. Bei Äschylus kommt Orest aus der Fremde
zum Grabe des Vaters. Er tritt beiseite, als er Elektra nahen sieht, und
nach kurzem geschieht eben dort die Erkennung. Danach entfaltet sich
breit die tragische Tat. Bei Sophokles kehrt Orest aus der Fremde in die
Heimat zurück. Er hört den Klageruf Elektras, und wir erwarten fast
auch hier die Begegnung. Doch er zieht sich zurück, und erst gegen Ende
des Dramas tritt er wieder auf und geschieht die Erkennung, an die sich
dann rasch und knapp der Vollzug der Rache anschließt. Inmitten aber \
öffnet sich weit der Raum zwischen jenem ersten Aneinandervorbeigehen
der Geschwister und ihrer endlichen Erkennung. In diesem Raum steht
Elektra. Auf sie konvergieren alle Linien. Und während sie bei Äschylus
nur eine kurze Weile Mitträgerin jener überpersönlichen Tragik war, hat
Sophokles sie zur Heldin dieser Tragödie gemacht.
[297j298] Die griechische Tragödie und das Tragische 135

Schon daran, wie sie bei beiden Dichtern auftritt, läßt sich der ganze
Gegensatz ablesen. Bei Äschylus ist sie im Gefolge des Chores, bei Sopho-
kles hat man sie schon gesehen und ihre einsame Klage gehört, als der Chor
zu ihr tritt. Das ist durchaus symbolisch. Denn dort läßt sie zaghaft ihr
Tun von den andern bestimmen, während sie hier den schüchtern mahnen-
den Frauen gegenüber sogleich die Herrschende ist. Und alle Warnungen
und Tröstungen dienen nur dazu, um ihr Leid und ihre Mißhandlung,
aber auch ihre K r a f t zu offenbaren und ihren Widerstand noch zu stärken.
Wenn sie alles gesagt hat und mit den Worten schließt:

In solchem nun, ihr Lieben, ist nicht tugendsam


Noch fromm zu sein gegeben. Wer im Argen ist,
Dem ist ein schweres Müssen, daß er Arges übt!

da ist offenbar, wie hier ein harter Mensch geworden ist. Nicht das Werden
zeigt der antike Dichter, sondern das Gewordensein und das Sein.
Klytämestra war bei Äschylus eine das D r a m a weithin beherrschende
K r a f t . Bei Sophokles ist nicht der Chor von ihr geleitet, schickt sie nicht
den Ägisth in den Tod, tritt sie nicht dem Orest gegenüber. Ihr Gesicht
ist sozusagen ganz allein der Elektra zugewandt. Sie läßt wohl durch die
jüngere Tochter Opfergaben zum Grabe Agamemnons bringen. So oder
ähnlich gebot es der Mythus. Sonst aber verkörpert sich in ihr das feind-
liche Schicksal für die Heldin in dem doppelten Sinne, daß diese von
ihm bestimmt wird und ihm zugleich widersteht, daß es sie hart macht,
aber hart gerade zum Widerstand. Das spricht sie selbst gegen die Mutter
aus:
So ruf mich in die Menge, wenn du magst, als schlecht,
Als mundgeschwätzig oder bar jedweder Scham.
Denn wenn ich solcher Werke kund geworden bin,
M a g ich wohl deinem Wüchse keine Schande tun.

Es ist ein weit geschwungener, zweigipfliger Akt, der Mittelakt des


Dramas, in dem allein Klytämestra gezeigt wird. Zuerst hat sie einen
Redekampf mit Elektra, viel weiter ausgebreitet, aber doch von fern
vergleichbar jenem Kampfgespräch mit Orest, das Äschylus ihr gibt. U n d
dann | empfängt sie die Botschaft vom Tode des Sohnes, wieder vergleich-
bar jener Szene, in der Orest selber ihr seinen T o d zu melden kommt. Die
Unterschiede können hier auf sich beruhen: daß Sophokles Mutter und
Tochter nicht wie Äsdiylus Mutter und Sohn in knappem Redegefecht,
sondern erst in langer, scharf kämpfender aber zugleich ausführlich argu-
mentierender Rede und Gegenrede gegeneinanderstellt; daß er dann den
Tod des Orest breit und mit erschütternder Anschaulichkeit berichten
läßt; daß schließlich seine Klytämestra den Gewinn, von drohender
Gefahr befreit zu sein, und den Schmerz über den Verlust des eigenen
Kindes als einen zuerst unausgeglichenen Widerstreit empfindet. Das
136 Griechische Literatur [298j299]

Wichtigste ist für uns, daß vor Elektras Ohren Klytämestra die Todes-
nachricht empfängt, nachdem eben noch Elektra ihr als drohende Gegen-
kraft gegenüber sich behauptet und zuletzt in siegreichem Schweigen
verharrt hatte. So bringt die weite Kurve dieses Mittelaktes eine Peripetie,
die das Schicksal der Heldin vollends ins Unglück zu beugen scheint,
also im Gegensinn zu der großen Peripetie des Dramas steht. Und das
Ganze ist auf Elektra hin geordnet. Zuletzt als Klytämestra mit dem
Boten abgegangen ist, bleibt sie zurück in jener Einsamkeit, die wie schon
im Prometheus des Äsdiylus so bei Sophokles überall die tragische Gestalt
umschließt.

Orestes, Liebster, wie zerstört dein Sterben mich!


Du gehst dahin und reißt von meiner Seele fort,
Was ganz allein noch übrig mir zu hoffen blieb,
Daß du dem Vater lebend kämst der Rächer einst
Und mir unseliger. Aber nun wo geh ich hin?
Denn ich bin einsam, da du mir entrissen bist
Und unser Vater

Sophokles hat im Gegensatz zu Äschylus Mutter und Sohn nicht zu-


sammengeführt. Wie Klytämestra, so ist Orest ganz wesentlich auf Elektra
hin gerichtet. Das weit hinausgezögerte Wiederfinden der Geschwister
wird geradezu das Ziel, auf das die Handlung hinstrebt. Die Spannung
auf das Zusammentreffen wird ins höchste gesteigert, die Erkennung noch
einmal von den gewaltsamsten Spannungen erfüllt. J a man hat den
Sophokles grausam genannt, weil sein Orest die Schwester mit der ver-
meintlichen Aschenurne im Arm noch eine ganze Weile über das Nötige
hinaus ihren verzweifelten Klagen überlasse, ehe er sich ihr offenbart.
Der antike Dichter also wollte den Gegenstand „Erkennung" möglichst
bildhaft zeigen, aber | doch durchaus im Sinne seiner Hauptabsicht. Denn
auch in der Erkennung stellt die tragische Heldin sich dar. Ihr Leid wird
noch einmal mit Orests Augen gesehen und weit hinaus über das, was der
Bruder sehen kann, aus ihren eigenen Worten deutlich, zugleich das große
Trotzdem, das ihre Haltung zur tragischen Haltung macht. Aus der
Leidenschaft, mit der sie sich dann in das Glück des Wiedersehens hinein-
wirft, fühlt man noch einmal den ungeheuren Druck, dem sie bis jetzt
widerstanden hat, aus der Unbekümmertheit, mit der sie entgegen allen
Warnungen ihren Triumph laut hinausruft, das Areshafte ihres Wesens,
das ihr der Bruder bezeugt. So wird man inne, welcher ganz menschlichen
Hingabe dieses Mädchen fähig ist, und man ermißt noch einmal den Weg,
den tragischen Weg, auf dem sie geworden ist, was sie ist.
Den Vollzug der Tat legte der Mythos in die Hand des Orest. Davon
durfte der Dichter keinesfalls abgehen. Aber gerade darum mußte er im
Gegensatz zu Äschylus alles, was auf die Erkennung folgt, auf das
Knappste beschränken. Und man versteht, warum er darauf verzichtet
[299/300] D i e griechische T r a g ö d i e und d a s Tragische 137

hat, die eigene Tragik des Orest zu gestalten und nur mit einem Worte
an sie rührt:
E L E K T R A . Seid ihr am Ziel, Orestes? Hier im Hause steht
Es recht, - sofern Apollon recht geweissagt hat.
Dann wird sogleich Ägisth sichtbar und es scheint, daß vor allem deshalb
Sophokles im Gegensatz zu dem älteren Mythos den Ägisth hinterdrein
erschlagen läßt, um so die andere Tat und ihre Folgen gleichsam aus dem
Blick zu bringen.
Aber es genügt nicht zu sehen, wie absichtsvoll knapp dies alles
gehalten ist; man muß hinzufügen, daß Sophokles auch dann noch, als
der Vollzug der Handlung auf einen andern übergeht, so viel er immer
kann, seiner Heldin gibt. Während Orest drinnen Klytämestra tötet
und ihre Schreie aus dem Hause tönen, steht Elektra draußen und leitet
ihn gleichsam mit dem Wort.

K L Y T . (drinnen) Weh mir, es traf!


E L E K T R A . Gib, wenn du kannst, den zweiten Stoß!
K L Y T . (drinnen) Weh abermals!
E L E K T R A . O gält es dem Ägisth zugleich!
Und nach der Tat, als Ägisth sich nähert, ist wiederum sie die Lenkende. |
O R E S T . Mut, wir vollendend.
E L E K T R A . Wo du denkst, dort eile hin!
O R E S T . So geh ich also.
E L E K T R A . Alles hier ich nehm's auf mich.
Und wirklich: sie liefert mit kalter List und unterdrücktem Hohne den
Ägisth in die Schlinge und befiehlt dem Bruder:
Nein, töte ihn denn zum schnellsten und den Leichnam laß
Den Totengräbern, denen er zu Recht gehört,
Fern unsern Blicken! Solches könnte mir allein
Des Argen Lösung werden, das ich lang erlitt.
Bis zuletzt also läßt Sophokles sie die treibende Energie sein. Und noch
durch ein Zweites hat er den Zwang des vorgeformten Mythos aufge-
wogen, der einem andern als der Heldin den Vollzug in die Hand legte.
Er gibt ihr selbst in dem Augenblick, als sie vom Tod des Bruders über-
zeugt ist und auf seine Hilfe nicht mehr hoffen kann, den verzweifelten
Entschluß:
So muß ich denn mit eigner Hand und ganz allein
Dies Werk vollführen; denn ins Leere laß ich's nicht.
Dies ist alles eher als ein auf Wirkung berechneter und schnell vorüber-
gehender Moment. J a man darf sagen, daß ohne solche unbedingte Tat-
138 Griechische Literatur [3001301]

Bereitschaft, die nach keinem Wie? und Was dann? fragt noch fragen darf,
Elektra gar nicht tragische Gestalt wäre. Erst hier wird gleichsam der
einsamste und steilste Gipfel dieses tragischen Daseins erreicht, und es hat
seinen tiefen Sinn, daß dorthin die Heldin noch einmal zuriickzielt eben
in dem Moment, da der Vollzug der Rache auf Orest übergeht:
D a du uns also solchen Weg zum Ziele kamst,
Füg alles denn nach deinem Sinn. Blieb ich allein,
Nicht beides hätt ich dann verfehlt: ich hätte groß
Mir selber Rettung oder groß den Tod gebracht.
Aber der Dichter hat noch etwas getan, um der Tat an eigenem
Schwergewicht zu nehmen und, was sie davon haben würde, vielmehr in
Elektras Schale zu legen. D a der Mythos ihm in dem Wesentlichen seines
Gefüges eine feste, ja heilige Größe war, so hat er den Rachevollzug,
der dem Orest verbleiben mußte, gleich von vornherein bestimmt gezeigt
durch den Willen Elektras. Gegen alle Überlieferung ist sie es bei ihm,
die das Kind Orest aus dem Hause tut. Sie ist durch Boten im Verkehr
mit ihm. Und daß sie bei alledem das Eine unablässig fixiert, daß sie
den Bruder „als Rächer nährt", weiß ihre Feindin Klytämestra genau.
Sie sieht die beiden verschworen, fühlt, daß sie durch den vermeint-
lichen Tod des Orest von beiden befreit ist, auch von Elektra,

die als ärgrer Schade mir


Mithausend lebte und mir sog ohn Unterlaß
Des Lebens starke Säfte.
So hat Sophokles wirklich alle Energien von Elektra ausgehen lassen,
den Orest aber, soweit der Mythos es irgend zuließ, von ihr her bestimmt.
Noch unmißdeutbarer konnte der Dichter bei den Gestalten verfahren,
die er ohne den Zwang der Sage und ohne den Vorgang des Äschylus
schuf. Seine baumeisterliche Hand hat dies alles, fast möchte man sagen
mit einem Griff organisiert: indem er den Raum für Elektras Tragik
weitete, legte er das Grab von der Bühne weg in irgendeine Ferne, doch
so, daß es dauernd in unserem Bewußtsein bleibt, dem geistigen Raum
also gleichsam eine Tiefendimension zuwächst. Und mit demselben Griff
stellte er neben Elektra die Schwester Chrysothemis, neben Orest den
Pädagogen. Bei Äschylus geht Elektra selbst zum Grabe und bringt Orest
selbst die Nachricht von seinem Tode. Sophokles schafft dieser gleichsam
zweidimensionalen Handlung Tiefe, indem er Chrysothemis zu dem nun
entfernten Grabe gehen und wieder von dort her kommen läßt, und
indem er von Seiten des Orest den Pädagogen mit der Todesmeldung an
Elektra abordnet.
Daß Sophokles neben Orest einmal den Pylades als stumme Figur und
dann den Pädagogen als redende stellt, ist höchst seltsam bei der Spar-
samkeit dieser Kunst gerade in der Personenzahl. Die falsche Todesnach-
[3011302] Die griechische Tragödie und das Tragische 139

rieht in der Mitte des Dramas hätte Pylades ebensogut bringen können,
da ja hier nur der „Bote" ohne alle besonderen Züge erfordert war. Aber
sdion der Prolog hätte sehr anders sein müssen, wenn Pylades neben Orest
der Sprecher wäre. Und so wird gleich zu Anfang deutlich, was eigentlich
mit der Person des Pädagogen gewollt ist. Er weist dem Orest den Weg
in die Heimat zurück, von wo er ihn gerettet hat, um ihn zum Bluträcher
groß zu ziehen. Und was das Wichtigste ist: er hat das getan nach Elektras
Willen, so daß sofort am Beginn des Ganzen Orest von ihr bestimmt wird.
Das hat Sophokles an dem überlieferten Mythos geneuert, und damit ist
klar, was die Person des Pädagogen ihm leisten soll: sie ist der anschau-
liche Ausdruck dafür, daß Orest, soweit die Gegebenheit des Mythos
es irgend zuließ, von Elektra geleitet wird, daß er das geringste Maß
eigener und von der Heldin unabhängiger Bewegungskraft behält.
Noch einmal tritt der Pädagoge auf, ganz gegen Ende, als die Ge- ]
schwister sich in ihr Wiedersehn verlieren. D a kommt er aus dem Hause,
um an die Gefahr zu erinnern, und nun geschieht die Erkennung zwischen
Elektra und ihm. Wäre es dem Dichter nur darauf angekommen, das
Gespräch der Geschwister zu beenden, so hätte er leicht ein einfacheres
Mittel gefunden. Auch auf die Erregung des Gefühls allein kann es ihm
nicht angekommen sein, so sehr ihm daran lag, an der fast töchterlichen
Liebe zu dem Alten wieder ermessen zu lassen, welchen Weg Elektra
zurückgelegt hat, um so „voll Ares" zu werden. Aber auch das ist noch
nicht das Entscheidende.
Man vergegenwärtige sich, daß dieses Wiedersehen stattfindet, un-
mittelbar bevor Orest die Rache vollziehen wird. Da wird der alte Diener
von Elektra jubelnd begrüßt:

O liebstes Licht, o einziger Retter du dem Haus


Agamemnons! Wie denn kamst du? Bist du's wirklich, der
Diesen und mich gerettet aus der großen Not?

Und eben jetzt hören wir es wieder aus Orests Munde, daß der so über-
schwänglich als Retter Gefeierte wohl in seinen Armen den Knaben davon-
getragen hat, aber doch (zu Elektra gewendet) „durch deine Fürsicht".
So ist gerade dort, wo die Tat aus Elektras Hand genommen zu werden
scheint, noch einmal alles von ihr bestimmt. Der Kreis erscheint geschlos-
sen, der Hüter, dem sie das Kind gegeben, hat ihr den Mann zurück-
gebracht, und ihr herrschender Wille steht über dem Ganzen. Das „be-
deutet" der Pädagog in dem Sophokleischen Drama. E r ist eine Aus-
strahlung der Kraft, die Elektra heißt, der tragischen Gestalt also zu-
gewandt und dazu bestimmt, auch den Orest ihr zuzuwenden.
Zuletzt Chrysothemis, die Schwester. Es kann sich nicht darum han-
deln, ihr „Charakterbild" nachzuzeichnen. Denn nicht als eine Zusam-
mengruppierung von „Charakteren" zu dem Ganzen einer „Handlung" -
wie die Zeit des Naturalismus es sah - stellt sich griechische Tragödie
140 Griechische Literatur [302j303]

uns dar, sondern als ein System gestalthafter Kräfte. Dreifach also scheint
uns die Wirkung, die von Chrysothemis ausgeht: sie ist von dem Dichter
geschaffen, um die Heldin zu zeigen, zu bewähren und zu vereinsamen.
Chrysothemis zeigt die Heldin in ihrer tragischen Unerbittlichkeit
eben dadurch, daß sie selbst ganz anders ist. Konziliant und weltklug,
ist man versucht zu sagen, wenn es nicht immer falsch wäre, Worte aus
einer gesellschaftlichen Sphäre in diese tragische Welt zu mischen. Chryso-|
themis sieht mit Schmerz das Geschehene und hält es dabei aus Furcht
und Liebe zum Leben mit den Mördern — wo die andere sich zum
tragischen Handeln aufgerufen fühlt. Sie nimmt für eine Geste leeren
Trotzes, was bei der Schwester bitterster Ernst des Entschlusses ist. Sie
weiß was recht wäre, Elektra tut was recht ist.
Chrysothemis bewährt die Heldin. Sie kommt mit der Mahnung: Sei
so wie ich, schmeichle den Herrschenden! Sie kommt mit der Warnung:
Man wird dich ins Verließ sperren. Mahnung und Warnung gleiten leicht
an Elektra ab. Und gleich bewährt sich Elektras Überlegenheit an ihr, als
sie mit den Opfergaben Klytämestras zum Grabe des Vaters zu gehen
gedenkt und der Wille der stärkeren Schwester sie mühelos von der
Mutter trennt.
Und Chrysothemis stellt die Heldin ganz in die Einsamkeit. Sie
kommt vom Grabe zurück, Elektra hat die falsche Todeskunde erfahren
und meint nun selber die Tat tun zu müssen an Orests Statt. D a macht
sie einen letzten Versuch, die Schwester zu gewinnen.
Jetzt aber, da er nicht mehr ist, blick ich auf dich,
Ob du den argen Täter väterlichen Mords
Mit mir der Schwester sonder Zögern töten wirst.
Sie sagt nachher selbst, daß sie nicht im Zweifel gewesen sei, eine Fehlbitte
zu tun. Wenn der Dichter sie dennoch fast leidenschaftlich bitten läßt, so
soll die Wirkung des Nein um so stärker sein. Und als die einzige, auf die
noch irgendeine Hoffnung war, sich von ihr abgekehrt hat, da weiß sie,
sie muß „mit eigner Hand und ganz allein" das Werk tun. Sie bleibt
zurück in jener Einsamkeit, die bei Sophokles der Ort des Tragischen ist,
und man sieht, um wieviel ergreifender so die Einsamkeit sich darstellt,
als wenn Elektra gleich von vornherein ganz ohne Schwester allein stünde.
So offenbart diese sophokleische Tragödie gerade an dem Gegenbild
des Äschyleischen Werkes, was dem Sophokles Tragödie ist. Er hebt aus
der Fülle eines heroisch-tragischen Geschehens eine einzelne Gestalt her-
aus, nicht als „Charakterfigur", wie der Moderne es leicht mißzuverstehen
geneigt ist, sondern als den Träger der Tragik. Alles was geschieht, ge-
schieht um ihretwillen, alle anderen Gestalten sind auf sie hin gerichtet.
Könnte man die Orestie als einen Fries sehen, in dem ein reiches Geschehen
mit immer wechselnden Figuren an uns vorüberzieht, so wäre die „Elek-
tra" einer Relief- oder einer Bildtafel zu vergleichen, die um eine Mittel-
[303/305] Die griechische Tragödie und das Tragische 141

gestalt wenige andere Gestalten mit ebenso zarter wie unauflösbarer


Notwendigkeit ordnet. |
Die blutigen Taten am Schlüsse des Dramas biegen nicht das Geschick
der Heldin in die Vernichtung um. Sie sorgen allerdings dafür, daß das
Drama bis zuletzt vom Schicksal beschwert bleibt. Aber eigentlich tragisch
sind sie nicht, und der Hauptgestalt fehlt die höchste Bewährung im
tragischen Untergang. So auch im Philoktet. Die anderen sophokleischen
Tragödien zeigen freilich, wie wenig der Dichter vor der letzten Erfüllung
tragischen Schicksals zurückweicht.
„Der ödipus ist gleichsam nur eine tragische Analysis. Alles ist schon
da und es wird nur ausgewickelt. Das kann in der einfachsten Handlung
und in einem sehr kleinen Zeitmoment geschehen, wenn die Begebenheiten
auch noch so kompliziert und von Umständen abhängig waren." In diesen
oft angeführten Worten hat Schiller ausgesprochen, was dem König ödi-
pus seine Gedrängtheit und damit ein Wesentliches seiner Wirkung gibt.
Ein Mißverständnis lassen sie freilich offen, als ob das eigentlich tragische
Moment, der Zusammenstoß zwischen Mensch und Schicksal, in der Ver-
gangenheit liege und jetzt nur die tötlichen Folgen sich zeigten. Aber daß
jemand seinen Vater erschlägt und seine Mutter heiratet, ist an sich noch
nicht tragisch, auch wenn er daran zugrunde geht. Das Tragische wird
sich vielmehr erweisen als innerhalb des Dramas beschlossen in der Art
wie Held und Schicksal sich begegnen: wie der Held gewaltig und gewalt-
sam gegen das unheimlich Drohende, schließlich Vernichtende vorstößt,
und wie das Schicksal nicht als ein Fremdes von außen hereinbricht, son-
dern, während der Held es noch als ein Äußeres sieht, schon seines Ichs
von innen her sich bemächtigt hat.
Der erste Akt, zweigipflig wie die meisten, zeigt zuerst das Leid des
Volkes, das pestgequält von dem König Rettung erhofft. Kleist im Robert
Guiskard hat die Pest zur tragischen Atmosphäre gemacht. Sophokles
scheint — anders als Äschylus — atmosphärische Tragik zu meiden, so sehr
ist er Plastiker. Das Leid des Volkes hüllt nicht das Geschehen ein, sondern
sein Sinn erschöpft sich darin, daß es den Helden zur Aktivität aufruft.
Und nun ist es nicht so, daß jetzt erst auf die Hilferufe des Volkes ödipus
nach Delphi schickt, um das Orakel zu befragen. Er hat es schon vorher
getan, und derselbe Akt bringt in unabgetrennter Bewegung die Antwort
durch den Mund Kreons, des Boten. So ist die Not und der erste Licht-
schein von Hilfe in eine große Kurve zusammengezogen. Dadurch ballt
sich die Handlung, die Zeit scheint zu eilen. Und diese Beschwingtheit,
die das | ödipusdrama überhaupt kennzeichnet, ist nicht Zufall oder bloße
„Technik". Sie ist zu Anfang und auch weiterhin Ausdruck jener rasch
und eigenwillig vordringenden Wesensart, die zu Segen und Verderben
gleichermaßen den Helden bestimmt. Man sieht den ödipus als Retter
und Helfer, den Mann des scharfen Blickes und des raschen Entschlusses.
Aber auch das, was ihn gefährdet, zeigt sich schon an: daß die Raschheit
142 Griechische Literatur [3051306]

in eine falsche Richtung vorstößt. Den Laios müsse ein gedungener Mörder
aus dem eigenen Lande getötet haben, und der könne auch gegen ihn
selbst die Hand kehren. Und ein anderes steigt in diesen letzten Worten
und auch sonst schon auf, was dann immer stärker werden wird bis zur
Katastrophe: die tragische Ironie, die aus diesem Drama den Leser von
je mit besonderer K r a f t angesprochen hat. Kein Wunder, da in ihr das
Ausgeliefertsein des Menschen an jene dunkle Macht sich symbolisiert,
als die das Schicksal in dieser Tragödie am stärksten erfaßt ist.
Der zweite Akt fügt aneinander die große Proklamation des Königs,
in der er dem unbekannten Täter flucht, und die Begegnung mit dem Seher
Tiresias. Jene Proklamation hätte noch am Ende des ersten Aktes stehen
können. So aber hat der Dichter in einem Raum zusammenprallen lassen:
das gegen den Unbekannten geschleuderte Verderben und die erste noch
ungeglaubte Nennung dieses Unbekannten. In Tiresias wird das Schicksal
Person und redet in deutlichen Rätseln von sich, ödipus aber steht gegen
den blinden Seher als der sehend Blinde. Mit der Raschheit, die man schon
kennt, dringt er tiefer und gefährlicher in jenen Irrtum vor, auf den er
früher schon zustieß. Und indem er eine Verschwörung helläugig zu er-
spähen meint, macht er das Dunkel, das vor der Wahrheit liegt, noch
dichter. Hybris, sagen die Alten, ist Mutter der Ate, der Sinnesverwirrung,
die „vor dem Falle kommt". Der Verblendete hört nur den einen Vorwurf
der Täterschaft, der ihm wahnwitzig vorkommen muß, horcht nur einmal
auf, als ein Wort des Tiresias ihm plötzlich von seinen Eltern etwas zu
verraten scheint, und die leicht rätselnde Verhüllung aller übrigen Seher-
sprüche ist ihm um so undurchdringbarer.
Der dritte Akt zeigt ödipus noch mehr „in zornigem Unmaß, das
zerstörungsfroh der reißenden Zeit nur folgt" (Hölderlin). Kreon ist ihm
gegenübergestellt, der maßvolle und „gerechte" Mann, als Gegenbild zu
ungezügelter Hybris und zugleich als Opfer für den Stoß dieser Hybris.
Der Stoß trifft den sinnlos Beargwöhnten fast zu Tode, und hier ist es,
wo der tragische Mensch am tiefsten in den Wahn hinein sich verrennt. |
Nachdem die Verblendung bis zum äußersten gekommen ist, folgt
sogleich die Wende. Sie zu bringen hat Sophokles der lokaste vor-
behalten. Audi lokaste ist ganz von dem Helden her bestimmt und
seinem vorwärtsdringenden, spürerischen Wesen gegenübergestellt, um
diesen Trieb dadurch, daß sie ihn abzustumpfen sucht, in eigentümlich
ironischer Umkehr gerade zu schärfen. Ging sein Suchen in die Irre,
solange es sich selbst überlassen blieb, so wird es gerade dadurch, daß
sie es zu mißleiten sucht, nun in die rechte Richtung gelenkt. Sein Wahn
war aufgeregt worden durch das Orakel. So will sie ihn von der Fehl-
barkeit aller Orakel überzeugen, während das Schicksal den Beweis der
Unfehlbarkeit erbringen will. Und der am Anfang des Aktes sich dem
Wahn von Kreons Schuld ohne Halt hingibt, ist am Schluß sich selbst als
Mörder des Laios fast schon deutlich. Der tragische Mensch, nachdem er
[306j307] Die griechische Tragödie und das Tragische 143

zuerst in die Irre getastet, hat jetzt den Damm, der ihn von tragischer
Vernichtung trennt, an der gefährlichsten Stelle beinahe durchstoßen.
Im vierten Akt beginnt die Vernichtung hereinzustürzen. Die Peripetie
wird dadurch noch heftiger fühlbar gemacht, daß dieser zweigipflige Akt
in seinem Anfang eine Wendung zum Glück zu nehmen scheint, „da
ödipus zum Leben wieder versucht wird". Durch die Nachricht vom
Tode des Polybos, den er trotz mancher Zweifel immer noch für seinen
Vater hält, scheint er von dem Drohen des Orakels befreit. Er stimmt
ein in die Hybris, mit der lokaste vorher zum Entsetzen des Chors die
göttlichen Weissagungen geschmäht hatte. Und damit verhüllt er sich
wieder für einen Augenblick die Wahrheit. Aber dann geschieht um so
gewaltsamer der Einbruch des Schicksals.
Wieder ist - im zweiten Teil dieses Aktes — lokaste die verhüllende
Kraft. Und wieder treibt sie dadurch, daß sie ihm alle Sorge wegreden
will, sein ruheloses Forschen von neuem auf. So weit hat er nun den
schützenden Damm des Geheimnisses durchstoßen, daß die Vernichtung
hereinbricht. Iokaste wird zuerst von ihr erfaßt. Nachdem sie das Ent-
setzliche klar begriffen hat, geht sie davon in den Tod. Ihm aber verdeckt
zum letzten Male für kurze Zeit seine Hybris die Wahrheit und macht ihn
taub gegen Iokastes nur leicht verhüllende Ansage. Vergessen ist der Mord
an Laios und daß er sich selbst schon fast als den Mörder erkannt hat. Er
starrt jetzt nur auf die eine Frage: Wer bin ich? Und da das Schicksal im
nächsten Moment über ihm selbst zusammenschlagen wird, gerade da reckt |
sich der tragische Held noch einmal in fast wahnwitzigem Stolz empor,
damit sein Sturz um so tiefer werde:

Was soll, das breche. Mein Geschlecht will ich,


Sei's auch gering, doch will ich es erfahren.
Mit Recht ist sie, denn Weiber denken groß,
Ob meiner niedrigen Geburt beschämt.
Ich aber will, als Sohn des Glücks mich haltend,
Des wohlbegabenden, nicht verunehrt werden;
Denn dies ist meine Mutter. Und klein und groß
Umfingen mich die mitgebornen Monde.
Und so erzeugt, will ich nicht ausgehn, so,
So daß ich nicht ganz, weß ich bin, ausforschte.
(Ubersetzung von Hölderlin)

Die Hybris jener Frage: Wer bin ich? schien sich noch einmal vor die
letzte Erkenntnis zu stellen, bis sich im nächsten Akt zeigt, daß diese
Frage in Wahrheit zur tragischen Erkenntnis und damit zur Vernichtung
durchdringt. Zwischen den beiden Männern, die zusammen um das
Schicksal wissen, steht ödipus. Der alte Diener setzt das Werk der
Iokaste fort (nur freilich sehr viel schwächer, da wir dicht vor dem Ziele
sind): er will die Entdeckung des Furchtbaren verhindern, und gerade
144 Griechische Literatur [3071308]

dadurch wird ödipus wieder in jene Gewaltsamkeit des Vordringens


hineingetrieben. Den Diener, der nicht reden will, läßt er auf der Stelle
binden, und das tragische Dennoch erklingt:
DIENER. O! O! Das Schreckliche selbst zu sagen, bin ich dran.
ÖDIPUS. Und ich zu hören. Dennoch hören muß ich.
(Hölderlin)
Das Ende ist da. Wir vernehmen nur noch den Bericht und sehen
ödipus in seinem Untergang. Aber noch in dem Untergang ist Größe. Es
klingt wie ein Stolz durch seine Worte, daß kein anderer als er selber das
Strafgericht an ihm vollzogen habe, ja noch darüber, daß sein Leid ärger
sei als jedes denkbare Leid:
So nämlich ist mein Übel,
Daß außer mir kein Mensch es tragen kann.
(Hölderlin)
Dieser Untergang also zeigt noch einmal, worin das eigentlich Tragische
besteht. Keineswegs darin, daß vor der göttlichen Macht, mag sie gleich als
unentrinnbar über ihm stehen, der Mensch ganz nichtig erschiene. Anders |
sagen es schon die deutenden Schlußworte, in denen der Dichter die Größe
des Mannes und sein Schicksal einander gegenüber zeigt:
Ihr im Lande Theben Bürger, sehet diesen ödipus,
Der berühmte Rätsel löste, der vor allen war ein Mann . . .
Wie ins Wetter eines großen Schicksals er gekommen ist.
(Hölderlin)
Nur darf man es wiederum nicht so sehen, wie wenn die Größe des
Mannes — als eine vergangene — und die Größe des gegenwärtigen
Schicksals einander fremd gegenüberstünden. Tragik wird erst dadurch,
daß der Held dieses Schicksal als seines will, es auf sich herabreißt und
bis in den Untergang seinen Stolz und seine Würde bewahrt.
Und das Besondere der sophokleischen Tragik ist wiederum dies, daß
ihr Träger der eine tragische Mensch ist, der in der Mitte des tragischen
Raumes steht. Äschylus hatte in seiner thebanischen Trilogie durch drei
Generationen den Fluch sich heraberben lassen, wie noch Euripides an
diesem Fluche weiter dichtet. Sophokles ergreift wie in seiner Elektra
den mythisdien Bezirk, der dem Mitteldrama der äschyleischen Trilogie
entspricht. Aber sein ödipus hat keinen Fluch ererbt und gibt keinen an
seine Söhne weiter. Er ganz allein ist Träger des tragischen Geschehens,
und alle Gestalten, die der Dichter um ihn versammelt, sind dazu da,
um seiner Tragik zu ihrer Vollendung zu helfen oder - wie lokaste — mit
in sie hineingerissen zu werden.

In der Antigone stoßen keineswegs zwei gleichberechtigte Prinzipien,


etwa Familiengefühl und Staatsräson, in tragischem Konflikt gegenein-
[3081309] D i e griechische T r a g ö d i e und das Tragische 145

ander, wie noch immer viele glauben, auch wenn sie nicht wissen, daß
sie damit in der Nachfolge Hegels stehen, und daß Hegel die „Antigone"
in solchem Sinne mißverstand, damit sie ihm als „das absolute Exempel
der Tragödie" seine Theorie des Tragischen bestätigte. Aber schon Goethe
hat gegen einen Hegel-Jünger zu Eckermann bemerkt, Kreons „Menschen
und Götter beleidigende Handlungsweise sei keineswegs eine Staats-
tugend, sondern vielmehr ein Staatsverbrechen". Daß Kreon, als er dem
Landesfeind die Bestattung versagt, und als er Antigone lebendig begräbt,
tyrannisch, nicht königlich handelt, hält ihm sein Sohn Haimon in dem
eigenen und des Volkes Namen vor. Und Tiresias der Seher kommt, um
ihm Strafe anzukündigen, weil er die heiligen Ordnungen verkehrt, |

Weil was den Obern eignet du der Tiefe gabst,


Ein Leben ruchlos in das Grab gesiedelt hast,
Und aber hier hältst was der Untern Götter ist,
Den Leichnam, wider Heil und Fug und Grabesbrauch.

Der Dichter konnte nicht deutlicher sagen, als er tut, daß allein Antigone
aus tragischem Pathos handelt, während sich in Kreon die Gegenkraft —
hier das Gewaltsame, Zerstörende, Böse — verkörpert, dessen das Tragische
bedarf, um wirklich zu werden.
Antigone ist auch nicht die „schwesterlichste der Seelen", wenigstens
in dem Ton nicht, den die Worte für uns zu haben pflegen. Daß sie das
Leben daran wagt, ihren Bruder gegen den Willen des Tyrannen zu be-
statten, geschieht nicht aus schwesterlicher Liebe gerade gegen diesen
Menschen Polyneikes. Und man versteht das Drama nicht im Sinne des
Dichters, wenn man noch immer mit Goethe an jener Stelle mäkelt, an
der die Heldin darlegt: was sie für ihren Bruder, das hätte sie für keinen
Gatten und für keine Kinder getan. Der tüchtige Philologe ist nicht aus-
geblieben, von dem Goethe die Unechtheit dieser Verse bewiesen zu sehen
wünschte. Aber wir meinen zu begreifen, daß sie so wenig die Erfindung
eines Späteren sind wie eine rhetorische Entgleisung des Dichters. Viel-
mehr, gerade sie gehen ganz auf das Wesen der Sache. Antigones Handeln
ist nicht zu deuten als der Uberschwang einer liebenden Seele, sondern
aus uralter Sippenreligion. Das Geschlecht ist Kultgemeinschaft der
Lebenden und der Toten. Stirbt dieser Kult, so zerfällt das Geschlecht.
Vom Labdakidenhause aber sind alle tot außer den beiden Schwestern.
Und da Ismene schwach ist, so ist Antigone die einzige Trägerin aller
heiligen Pflichten. Nicht dem geliebten Menschen, sondern dem Bruder
erweist sie die Ehre, und nicht aus der Fülle des Herzens, sondern aus
heiliger Pflicht, die ihr heroischer Wille auf sich nimmt.
Das Schwesternpaar ist dem in der Elektro, ähnlich. Beide Male steht
die schwächere und weiblichere Schwester, die an der tragischen Tat nicht
teilnimmt, neben der Heldin, damit diese deutlicher gezeigt und zugleich
in die Einsamkeit gestellt werde. Und doch hat der Dichter sich nicht
146 Griechische Literatur [3091310]

wiederholt. Chrysothemis in der Elektra, dem späteren Werk, ist nicht


nur stärker in die Handlung verflochten und darum weiter durch das
Werk wirkend. Vor allem erscheint Ismene von ihr in der menschlichen
Art verschieden. Nicht als hätte Sophokles um einer frei schwebenden
„Psychologie" willen jeweils anders getönt. Sondern hier wie dort hat er !
aus der Notwendigkeit des Mythos heraus gestaltet oder, anders gesagt,
die Schwester auf die Heldin hingerichtet. Elektra ist die viele Jahre
Gedrückte. So muß die Schwester im Gegenbilde zeigen, wie jene es
haben könnte, wenn sie sich fügen wollte. Neben Antigone hingegen, die
sich jetzt allererst zur T a t entschließt, konnte der Dichter alles Weiche
und hingebend Schwesterliche an Ismene herausbilden, und je mehr er ihr
davon gab, um so schärfer trat das Unerbittliche der Heldin hervor und
die Härte, mit der sie die Liebende abweist, um im Handeln und noch
im Sterben allein zu sein.
Das Geschehen geht in echt Sophokleischer Raschheit über klar sich
von einander abhebende Stufen. Der erste Akt bringt den Entschluß zur
Tat, der zugleich die Heldin von der Schwester trennt und in die Einsam-
keit stellt. Der zweite Akt läßt die Gegenmacht, die schon im ersten durch
die Worte der Schwester sichtbar geworden war, in Kreon Gestalt werden
und setzt seinem Verbot durch den Bericht des Boten sogleich die Über-
tretung entgegen: Antigones Tat ist gelungen. Der dritte Akt zeigt sie
selbst als Gefangene vor Kreon und läßt sie - „rauhes Geschlecht von
rauhem Vater" — sich bewähren, indem sie sich stolz zu ihrer Tat bekennt
als der gerechten, frommen, ruhmvollen. Hier ist es auch, wo sie gegen
sein K a m p f w o r t

N i e wird der Feind, wenn er auch tot ist, lieb -


in scharfer Abwehr und ganz ohne Weichheit jenes oft mißverstandene
Doch nicht mitfeinden, nein mitlieben ist mein Teil -
zurückwirft und ihres Todes längst gewiß noch einmal das Urteil von ihm
vernimmt:

Hinab denn geh und liebe, wenn du lieben mußt,


Die drunten; mein, solang ich lebe, herrscht kein Weib.

Wir lassen jetzt beiseite, was unmittelbar folgt: Ismenes und Haimons
Versuche, das Verhängnis zu wenden, und sehen dann zum letztenmal die
Heldin, wie sie stolz und aufrecht zum Tode geht. So schwer sie von der
Sonne und ihrem unerfüllten Leben Abschied nimmt - denn stoische
Haltung ist jener Zeit fremd und ist kein Nährboden, auf dem tragisches
Schicksal wächst - so ganz eines ist sie auch jetzt noch mit ihrer Tat,
deren Gegründetsein in unverrückbarer Religion der Sippe nun erst in
ihren Worten ganz deutlich wird. Ihr letztes Abschiedswort zeigt noch
einmal ihren Stolz und ihre Einsamkeit, ihre Gegnerschaft und ihren
Glauben an die Frommheit des eignen Werkes: |
[3111312] Die griechische Tragödie und das Tragische 147

Schaut mich, die aus Thebens fürstlichem Stamm noch übrig allein,
Was ich leiden muß, wer midi leiden macht,
Die ich frommes Werk gewirkt!

Und später empfangen wir Botschaft, daß sie auch den Tod nicht hinge-
nommen hat, qualvoll und gleichsam maskiert als ein langsames Ver-
hungern, wie er ihr zugedacht war, sondern daß sie mit eigener Hand
dem schleichenden zuvorkam.
Damit ist die tragische Schicksalslinie der Heldin selbst bis ans Ende
verfolgt. Aber in diesem Drama ist auch die Gegenkraft als Person sidht-
bar, und daß sie bei dem tragischen Zusammenstoß im Rückprall getroffen
werden muß, ist ein Gesetz, von welchem die sogenannte „poetische
Gerechtigkeit" doch wohl nur eine moralisierende Verengung ist. Wenn
der Held stürzt, wird er den Feind mit sich ziehen.
Der Rückprall kündigt sich an in der kleinen Ismene-Szene des dritten
Aktes, die für das Gefüge des Ganzen viel bedeutet. Wir wissen schon,
daß sie dazu da ist, die Heldin auch im Sterben noch zu vereinsamen.
Aber das ist nicht genug. Ismene wendet sich, von der Schwester zurück-
gewiesen, an Kreon, um für sie zu bitten als für die Braut seines eigenen
Sohnes. Hier erklingt der N a m e Haimon zum ersten Male, und damit
wird die Gegenbewegung fast unmerklich begonnen, die Haimon selbst im
nächsten A k t offen und stark aufnehmen, dann Tiresias zur Entsdieidung
weitertreiben wird, bis sie mit dem Sturz Kreons endet.
Damit Kreon verwundbar werde, hat der Dichter zwischen ihn und
Antigone den Haimon gestellt. Man denke, was Racine aus solcher Figur
gemacht hätte! Sophokles aber gibt ihm keine Szene mit Antigone. Ja
sie gedenkt seiner nie auch nur mit einem Worte. Denn der Vers

O liebster Haimon, wie entehrt dein Vater dich!

wird - man kann kaum zweifeln - von Ismene gesprochen. Die Einsam-
keit der tragischen Heldin mußte von dieser Liebe unberührt bleiben. Er
tritt für sie ein, während sie von ihm gar nichts zu wissen scheint. Und
während sie sich jede Bitte verbietet, bittet und fordert er für sie. So ist er
auf sie hingewendet und von ihr aus in Harmonie und Gegensatz geformt.
Aber nach der anderen Seite ist er gegen Kreon Sprecher aller guten
K r ä f t e und zugleich der ersten leisen Ansage des verderbenden Schicksals.
Kreon freilich kann in dem Wort

Sie also stirbt und Einem bringt sie sterbend Tod

nur plumpe Drohung erkennen. Aber schon blickt daraus die Vernichtung |
hervor. Und die wird dann durch Tiresias in noch größere N ä h e gerückt,
bis sie mit dem Tode des Sohnes und der Gattin vollends über Kreon
hereinbricht. Man muß, wenn man die Orestie vergleicht, wohl unter-
scheiden, wie Klytämestra als Mitträgerin der Gesamttragik eben auch
148 Griechische Literatur [312¡313]

tragisch fällt, während hier Kreon nur stumpfe Gegenmacht ohne


tragischen Gehalt ist und darum untragisch oder widertragisch endet und
der Heldin allein den Ruhm läßt, dessen sie sich echt griechisch getröstet.

Der Aias des Sophokles steht wahrscheinlich zu einer verlorenen


Trilogie des Äschylus und zwar wieder zu ihrem Mittelstück in demselben
Verhältnis, wie es bei der Elektra und dem Ödipus augenfällig ist. Auch
hier hat der jüngere Dichter aus einer umfassenderen Tragik die des einen
Mannes herausgerissen und um ihn alle Vorgänge und Personen geordnet.
Aias ist der heldenhafte Mann, der in Irrtum und Wahnsinn verfallen
ist und sich lächerlich gemacht hat. „Jetzt aber lieg ich hier ehrlos." Und
da es für ihn nur die Wahl gibt, „schön zu leben oder schön zu sterben",
so wählt er den Tod. Zwischen ihn und die tragische Vollendung will
sich die treue und liebende Tekmessa stellen, aber er drängt sie zurück
und findet das Ende, das er sucht. Wenn er in seiner letzten Rede -
Immermann sah in ihr „vielleicht das Schönste was je geschrieben worden
sei" — von dem was er vorhat mit täuschender Verhüllung redet, derart
daß seine Umgebung ihn mißverstehen muß, so soll man wissen, daß
die Maßstäbe einer wohlgemeinten Moral hier viel zu kurz sind. Nicht
ein offener ehrlicher Charakter nimmt seine Zuflucht zur Lüge, sondern
der tragische Mensch will das Äußerste. Und jene Töne einer erhabenen
Zweideutigkeit - der tragischen Ironie verwandt - stehen dem wohl an,
von dessen Seele das tragische Schicksal schon Besitz ergriffen hat.
Der Weg zur Tat erfüllt die erste Hälfte des Dramas, in der Mitte
steht der Selbstmord, von da ab wird bis zum Schlüsse um die Bestattung
des Toten gekämpft. Was bedeutet dieser seltsame Bau? Ist die Einheit
des Dramas wirklich nur Einheit des Stoffes und gehörte das, was auf
den Selbstmord folgt, nun eben einmal zur Geschichte? Aber Sophokles
dramatisiert nicht einen Mythos, sondern dichtet eine Tragödie, und in
der Tat läßt sich zeigen, warum das Werk mit dem Selbstmord schließend
unvollkommen geblieben wäre. „Die Befleckung abzuwaschen", geht Aias
nach seinem zweideutigen Wort zum Meeresstrande. Aber ganz ist I
das was er wollte nicht erfüllt, auch als er sich ins Schwert gestürzt hat.
Denn Ehre ist am wenigsten für den antiken Menschen unabhängig von
ihrer Anerkennung durch die anderen. Und der Kampf um diese An-
erkennung, das ist es, was die zweite Hälfte des Dramas durchführt. Aias
wird in diesem Kampfe durch den Bruder Teukros vertreten. Und der
Zwang des griechischen Theaters, der denselben Schauspieler nacheinander
in mehrere Masken steckte, ist hier (und gewiß nicht nur hier) ein Vorteil
gewesen. Denn wenn dieselbe Gestalt und Stimme, die vorher Aias
gewesen war, nun Teukros wurde, so war unmittelbar anschaulich, wie
die Kraft des Toten in dem Bruder fortdauert. Dieser Kraft stehen
gegenüber die Feinde: hier die Atriden, die den Feind auch im Tode ver-
folgen; dort Odysseus, den wir zu Beginn des Dramas allen seinen Spür-
[313j314] Die griechische Tragödie und das Tragische 149

sinn gegen den verhaßten Aias einsetzen sehen, und der dann am Schluß
den Adel und das Heldentum des Toten anerkennend den Agamemnon
zwingt, ihm die Grabesehren zuzugestehen. Die tragische Kraft hat ihre
Hybris mit Tod gebüßt. Aber am Ende hat sie auch über den Feind
gesiegt und jenes erhabene Gleichmaß, das die Griechen Sophrosyne
nennen und das Athene als Beschützerin des Odysseus zu Beginn des
Dramas verkündet, herrscht wieder nach den Stürmen tragischer Zer-
rüttung.

Wer heut an den Philoktet des Sophokles denkt, dem steht gewiß
jener menschliche Gegensatz zwischen Odysseus und Neoptolemos im
Sinn. Die psychologische Antithese und die Intrige, die darauf ruht - an-
gesponnen durch die List des Vielerfahrenen und wieder zerrissen durch
die jugendliche Gradheit des andern - scheint um so mehr die Hauptsache,
als Sophokles es gewesen ist, der gegen den überlieferten Mythos und
gegen seine beiden Vorgänger Äschylus und Euripides den Neoptolemos
in die Handlung einführte mit jener Charakteristik, die ihm nur hier
eigen ist. Aber Winckelmann, Lessing, Goethe sahen auf die Gestalt des
Philoktet und fragten nach der Art seines Leidens. Damit erkannten sie
an, daß hier noch von der zentralen Kraft des Tragischen alles Einzelne
gebunden ist. Erst wo diese Kraft nachläßt, können psychologische Ana-
lyse und spannende Intrige zu selbständigen Werten sich befreien. „In-
trige fängt an sobald das Weltgefühl fortgefallen ist", schrieb Graf York
an Dilthey. So war es längst schon bei Euripides geworden, als der fünf-
undachtzigjährige Sophokles noch von der tragischen Mitte her uner-
schütterlich alles andere organisierte. |
Die tragische Situation wird bestimmt durch die Einsamkeit des
Philoktet. Denn im Gegensatz zu den beiden andern Dichtern und im
Widerspruch gegen alle Wirklichkeit macht Sophokles Lemnos zu einer
menschenleeren Insel. Und die Einsamkeit wird gesteigert durch die Qual
der Krankheit, die den Leidenden zu dem Tode als Befreier rufen läßt.
Wenn der Chor an das mythische Bild des Ixion erinnert, der auf das Rad
geflochten durch den Weltenraum treibt, so ist damit gesagt, bis zu welcher
Höhe wir uns Einsamkeit und Qual gesteigert denken müssen.
Um aber zu erkennen, was in diesen tragischen Raum das eigentlich
tragische Geschehen hineinbringt, muß man sich klar machen: die Erobe-
rung Trojas steht in Frage, die Tat also, deren Gelingen das Ziel der
ganzen Nation nicht nur, sondern der Wille des Zeus und der Moira ist.
Und der Einzige, der diesem Schicksal widerstrebt, ist Philoktet. Er tut
es aus Ehrliebe und aus Haß gegen die Führer, die ihn ausgesetzt haben.
Aber darum ist sein Tun nicht minder Hybris, denn der Schicksalswille
wird so deutlich, daß niemand ihn mißverstehen kann. Jene seltsame
Szene, da der verkleidete Schiffsmann von Odysseus geschickt wird, ist
ganz wesentlich dazu da, damit Philoktet den Spruch des troischen Sehers
150 Griechische Literatur [314)315]

erfahre. Später klingt es in feierlichem Orakelton aus dem Munde des


Neoptolemos:
Denn sein wartet der Kranz, ihn hießen die Götter uns holen.
Und nachher eröffnet derselbe Neoptolemos noch einmal die Verkündung
des Sehers, die sogar die eigene Heilung Philoktets daran bindet, daß er
nach Troja gehe. Er aber widersteht, widersteht erst recht, als man ihm
den Bogen entwendet hat und er ohne Waffe, dem Tode preisgegeben,
scheint zurückbleiben zu müssen. Auf den verhaßten Odysseus legt er
den Bogen an, wie er mit dem Bogen in der Hand gegen die Griechen
zu kämpfen bereit ist. Er will sich von dem Felsen hinabstürzen, als
Odysseus Anstalt macht, ihn gewaltsam fortzuführen. Aber er wider-
setzt sich auch, als Neoptolemos, der Freund, ihn nun bittet und ihm
zeigt, was alles in seine Hand gelegt sei. Er verzichtet auf den Ruhm,
sogar auf die Heilung, und mit alledem kämpft er in tragischer Hybris
gegen das Schicksal. Als Odysseus ihm im Wortkampf entgegenwirft:
Zeus, daß du's wissest, Zeus, der dieses Land regiert,
Zeus ist's, der so beschlossen; Diener bin ich ihm -
da hat er in einem sehr tiefen Sinne völlig recht. Denn am Schluß erscheint
Herakles, um dem Philoktet die Fahrt nach Troja als Ratschluß des Zeus
zu verkünden. Wenn man sagt, daß hier der Deus ex machina | komme,
um die Handlung, die Sophokles mit dichterischer Freiheit gestaltet habe,
wieder in die Bahn des überlieferten Mythus hineinzubiegen, so genügt
das nicht. Sondern die Stimme des Schidksals, die von Philoktet bisher
mit solcher Kraft des hassenden Widerstandes überhört worden war,
ertönt ihm hier aus dem Munde des Heros-Gottes, sodaß er ihr nun
folgen muß.
Gewiß wird so die Tragödie ihrer letzten tragischen Erfüllung be-
raubt, und wenn man will, kann man darin den Preis sehen, den der
Mythus dafür fordert, daß er den Dichter trägt. Zudem ist die tragische
Linie umsponnen von jenem tief menschlichen Kampf zwischen Odysseus
und Neoptolemos. Aber das tragische Grundverhältnis bleibt trotz allem
auch hier unverkennbar und bestimmt die Struktur.

Von allen erhaltenen Tragödien des Sophokles heißen nur die


Trachinierinnen nach dem Chor. Bei Äschylus überrascht im Vergleich
damit die Fülle der so benannten Dramen, und die Betrachtung hat früher
gezeigt, wie bedeutend und jedesmal anders der Chor bei ihm mitwirkt
an den tragischen Geschehnissen selber. Alle solche Aktivität und Mannig-
faltigkeit hat Sophokles ihm genommen und hat ihn auf wenige typische
Rollen beschränkt. Er bildet ihn aus Gefolgsmannen des tragischen
Helden, aus Gefährtinnen der Heldin, aus den greisen Vertretern von
Volk und Stadt, und diese ohnehin nicht eben scharfe Prägung pflegt
[315¡316] Die griechische Tragödie und das Tragische 151

sich mit dem Fortgang des Dramas noch mehr zu einem allgemeinen
Chor-sein zu verschleifen. Nicht als könnte man dies „sinnlich-mächtige
Organ" aus den Tragödien irgendwie fortdenken, und Schiller behält für
immer recht damit, „daß ohne diesen beharrlichen Zeugen und Träger
(bei Sophokles nicht eigentlich mehr Träger!) der Handlung eine ganz
andere Dichtung aus der Tragödie der Griechen geworden wäre". Aber
seine Aufgabe ist nun ein für allemal: Begleitung der tragischen Melodie,
Aufquellenlassen des ekstatischen Urgrundes, Eintauchen des „apolli-
nischen" Logos in „dionysische" Musik. Diese Neugestaltung des über-
lieferten und geheiligten Elements durch Sophokles gehört zu den sinn-
fälligsten Eigentümlichkeiten seiner Kunst. Hat man einmal begriffen,
welches der zentrale Gedanke seiner tragischen Schöpfung war, so wird
der Platz, den er dem Chor bestimmt, von dort aus notwendig erscheinen.
Auch in den Trachinierinnen ist der Chor nicht etwa von anderem
Wesen wie sonst bei diesem Dichter. Der Titel ist offenbar nur gewählt, ]
weil kein Einzelname zutreffend gewesen wäre. Denn in der Tat ist dies
das einzige Sophokleische Drama, bei dem die Frage, wer die „Haupt-
person" sei, strittig scheinen kann. Daß man meist De'ianeira, des
Herakles Gattin, dafür nimmt, ist bezeichnend für jenes Mißverständnis
heutiger Betrachter, die bei dem antiken Dichter vor allem Seelendeutung
und menschlich rührende Situationen suchen. Auf den Zustand, das
Empfinden, die Existenz der De'ianeira blickte schon Schiller mit besonde-
rem Wohlgefallen; und wen ergriffe nicht das Bild der alternden Frau,
wie sie lange sorgenvoll auf den Gatten gewartet hat und nun durch die
junge Nebenbuhlerin ihre Ehe bedroht, ihr Haus entehrt sieht? Allerdings
kann dann der ganze zweite Teil, der Tod des Helden, leicht als An-
hängsel erscheinen und so pflegen die, die dort rühmen, hier zu tadeln
oder zu schweigen.
In der Tat sollte die Grundfrage weder nach dem Seelengemälde
gehen noch nach der Hauptperson, sondern nach dem tragischen
Geschehen und seinem Träger. Und hier kann nun kein Zweifel sein: in
den Trachinierinnen hat Herakles seine Tragik und De'ianeira die ihre.
Man braucht nicht zu erörtern, ob der Mythos erlaubt hätte, die Tragik
des Mannes allein zu zeigen und das Weib als Opfer (wie im König
Ödipus) oder die Tragik des liebenden Weibes allein (wie in der Euripi-
deischen Medea). Sophokles jedenfalls hat den Mann und das Weib in
tragischer Verstrickung und Untergang gezeigt und zwar beider Tragik
in notwendigem gegenseitigem Bezug.
De'ianeira offenbart nicht wie Antigone oder Medea gleich in ihren
ersten Worten tragische Aktivität. Sie schaut aus und wartet und muß
gemahnt werden, den Sohn auf die Suche nach dem Vater zu schicken.
Erst als sie erfährt, wen sie unwissend in ihr Haus aufgenommen hat, erst
da wird sie zum Handeln aufgeregt. Nun will sie mit eigenem Willen in
das Ungewisse vordringen. Sie tut es entschieden und doch mit einem
152 Griechische Literatur [316j317]

Bangen, das die Nähe des dunklen Schicksals anzeigt. Und wo sie her-
stellen will, vernichtet sie.
Aber diese Tragik füllt den Raum der Tragödie nicht. Eine andere
Schicksalslinie kreuzt die ihre. Es ist die männliche Tragik gegenüber
der weiblichen, die aktive gegenüber der reaktiven. Herakles handelt aus
der Spontaneität seines gewaltigen und gewalttätigen Wesens, den Feind
und die feindliche Stadt vernichtend, die Beute entführend, die Ehe zer-
störend, die Gattin zur tragischen Tat aufreizend, zuletzt sie und sich
selbst verderbend. |
Diese doppelte Tragik hat der Dichter so gestaltet, daß zuerst Herakles
von Deianeira gleichsam verdeckt wird, und daß seine tragische Energie
nur hineinwirkt durch die Botschaft, die von ihm kommt, und den Zug
seiner Gefangenen mit der schweigenden Fürstentochter. Erst im letzten
Teile wird er selbst gezeigt, und nun ist Deianeira schon in die Ver-
nichtung ihm vorangegangen. Zwei tragische Schicksale sind hier in strenger
Entsprechung aufeinander bezogen. Damit hat Sophokles, als dessen
eigentliche Form bisher die Tragik des Einzelnen erschien, nicht etwa
einfach auf die ältere Äschyleische Weise zurückgegriffen. Nicht eine
Kollektivtragik geht durch das Drama, die sich jeweils einen anderen
Träger schüfe. Was Sophokles gestaltet hat, ist gleichsam eine Individual-
tragik zu Zweien, und es wird erlaubt sein, außer an Euripides' Hippo-
lytos über alle Verschiedenheit hinweg an Shakespeares Antonius und
Cleopatra oder Romeo und Julia zu denken.
Fragt man zuletzt, was die Trachinierinnen aus einem blutigen
Familiendrama zur Tragödie macht, so ist der Bindung im Mythos zu
gedenken, und hier vor allem der schicksalhaften, der göttlichen Sphäre,
die sich über das Ganze breitet. Sie wird repräsentiert durch Aphrodite
und Eros, die sinnbetörenden Mächte, durch den großen Zeus, der von
dem nahen ötagebirge herabherrscht, am stärksten aber durch jene immer
wieder in den Blick genommene, geheimnisvoll-ironische Prophezeiung,
die dem Herakles verheißt, „wenn der Kreis der Jahre beschließend ans
Ziel trüge die zwölfte Saat, würde die Trage der Mühen enden Zeus
echtem Sohne".

In dem ödipus auf Kolonos gestaltete der fast neunzigjährige Dichter


die letzten Schicksale des uralten Königs, der als blinder Bettler in
Athen aufgenommen wird. Weit hinter ihm liegen seine tragischen
Kämpfe. Nahm er in der früheren Tragödie noch im Zusammenbrechen
stolz das Geschehene als seine eigenen Taten in Anspruch, jetzt sind sie
ihm „mehr gelitten als getan". Statt dessen hat er etwas anderes durch
ungeheure Schicksale und Leiden gewonnen:

Ich komme heilig, gottgeliebt, und diesen hier


Den Bürgern bring ich Segen.
[3171318] Die griechische Tragödie und das Tragische 153

Und dann findet er im Haine der Eumeniden die letzte Ruhe, im Tode
dem attischen Land ein Heiltum und ein Schutz vor den Feinden.
Gegen diese einfache Bewegung richtet sich ein Gegenstreben in der |
Mitte des Dramas. Auf ödipus als den Träger übermenschlicher Kräfte
macht Theben, das ihn vertrieben hat, jetzt Anspruch. König Kreon der
Feind und Polyneikes der Sohn bemühen sich mit gutem Wort und mit
Gewalt, ihn zurückzugewinnen. Aber er bleibt hart und wiederholt den
Fluch gegen die Söhne. Hier gibt es Kampf, und ohne diese Szenen wäre
das Drama fast zu sehr Heiligenlegende für ein altes griechisches Spiel.
Aber auch so ist es ganz etwas anderes, als was sonst Sophokles Tragödie
nannte. Und mag man an den Schluß der Äschyleischen Orestie denken,
weil dort wie hier der Athener den Ubergang aus der heroischen Welt in
die heiligen Ordnungen des eigenen Daseins gemacht sah, so wird doch
dadurch das Unvergleichbare des Sophokleischen Dramas nicht aufge-
hoben. Das tragische Grundverhältnis, das Gegenüber des großen
Menschen und des großen Schicksals, wird auch hier noch gesehen, aber
gesehen aus einer Höhe, die dies weit unter sich läßt, und in die fast nur
die letzten menschlichen Geheimnisse von Leid, Adel, Heiligung und
magischer K r a f t hinaufreichen.
Es ist beliebt, den Sophokles zu denken als den vollkommenen
Menschen, den harmonischen Dichter, den freundlich-milden, bequem-
geselligen Mann. Und diese Harmonie läßt man ruhen in einem fast
kindlichen Glauben an die Götter, vor denen wir Menschen leichte
Schattenbilder sind. Dies alles gilt nur dann zu Recht, wenn man zugleich
das andere sieht, daß Sophokles sein ganzes Leben als Tragiker gelebt hat.
Er sah die Welt tragisch, das heißt erfüllt von großen Menschen und
großen Schicksalen, von heldenhaftem Kampf und Untergang, und das
Menschendasein als den Schauplatz der tiefsten Zerrüttungen. Und er sah
die Tragik nur noch steiler und erschütternder als sein großer Vorgänger,
weil von ihr nicht mehr die den Einzelnen tragende Gemeinschaft sondern
eben dieser einzelne, einsame Mensch belastet wird. Wenn er eine Tragödie
beschließt: „Und alles dies ist Zeus", so sind freilich in dem höchsten
Gotte zugleich Leid und Kampf aufgehoben. Doch darf man gerade dieser
Leiden und Kämpfe nicht vergessen, die in ihm aufgehoben sind. Die
Statue des Lateran zeigt aus der Erinnerung dankbarer Enkel den Dichter
als das Musterbild des schönen Hellenen. Aber die Büste in London zeigt
den tragischen Seher, der am Ende seines Lebens weiß, daß das eine Wort
Nicht-geboren-sein alle anderen besiege. |
154 Griechische Literatur [79180]

Dritter Teil

Euripides, der dritte unter den großen Tragikern Athens, hat keinen
sicheren Platz in dem allgemeinen Bewußtsein. Nodi ist der Gegensatz
zwischen August Wilhelm Schlegels scharfer Kritik und Goethes bis in
die letzten Lebenstage immer sich erneuernder Bewunderung nicht aus-
geglichen. Schlegel nahm das Maß für den jüngeren, so ganz anders
gearteten Dichter von Sophokles als dem höchsten Muster. Goethe ver-
droß die Richtergeste des kritisierenden Epigonen, und desto stärkeren
Eindruck machte ihm das ungeheure Können seines Mitbürgers im Reiche
der Weltliteratur. Inzwischen hat die „Aristokratie der Philologen", über
die Goethe spottete, „ihre herkömmliche Vornehmheit" dem Euripides
gegenüber abgelegt und sich um sein Verständnis ernstlich bemüht. Dabei
konnte freilich vor einer Reihe von Jahren in Deutschland und noch vor
kurzem in England der Versuch gemacht werden, ihn von Ibsen her,
den Athener von dem Norweger, den Mythendichter von dem Gesell-
schaftskritiker her zu verstehen. So fehlt noch viel daran, daß es gelungen
wäre, die Widersprüche der Kritik in der Einheit einer höheren Ansicht
aufzuheben und die Widersprüche, die in dem Dichter selbst und seinem
Werk angelegt scheinen, zu sehen als die notwendigen Widersprüche einer
reichen Natur in einer großen aber erschütterten Zeit.
Überblickt man das erhaltene Werk des Euripides, so werden Medea
und Hippolytos die größten Beispiele dafür sein, daß wie seine beiden
Vorgänger so auch er fort und fort am tragischen Mythos weiter bildet,
sei es daß er die Geschichte aus wenigen Gegebenheiten völlig neu schafft,
sei es daß er irgend eine abseitige Uberlieferung für immer in die gültige
Form hebt. Auch die Art, wie Tragik hier gesehen ist, scheint sich von
der Sophokleischen nidit im Wesen zu unterscheiden. Medea | ist Heroine,
die den ganzen Raum erfüllt wie Elektra oder Antigone. Sie tötet die
Nebenbuhlerin und den feindlichen König, dann nach schwerem Entschluß
die eigenen Kinder, sie vernichtet den Gatten, und mit alledem geht sie
den einen Weg des Hasses und der Rache. Das verschlungenere Gefüge
der Hippolytos-Tragödie wird besonders deutlich am Gegensatz zu
Racines Phèdre. Racine hat die Figur seiner Heldin nach eigenem Ein-
geständnis dem Euripides nachgebildet: „Quand je ne lui devrais que la
seule idée du caractère de Phèdre, je pourrais dire que je lui dois ce que
j'ai peut-être mis de plus raisonnable sur le théâtre." Das heißt, er hat sie
nach seinem Menschenbilde umgeformt, und was der Hofdichter Lud-
wigs X I V ihr an leidenschaftlicher Naturhaftigkeit genommen, das hat er
ihr an Wirkungsbreite zugelegt. Fast vom ersten Verse an ist sie in den
Worten der andern gegenwärtig, und ganz am Ende gibt sie sich den Tod.
So wird Rückgrat des Dramas diese eine große Rolle, die den Ruhm der
gefeiertesten Tragödinnen gemacht hat. Bei Euripides hingegen wird zu
Anfang allein Hippolytos gezeigt, ohne daß von der Königin auch nur
[ 80181J Die griediisdie Tragödie und das Tragisdie 155

die Rede wäre. Erst später tritt sie als die andere Kraft in das Drama
ein, und sie stirbt genau in dessen Mitte, während danach Hippolytos'
Schicksal die ganze zweite Hälfte füllt. Schon dieser Gegensatz deutet
darauf hin, und jede Betrachtung des Euripideischen Stückes bestätigt es:
Euripides hat weder eine Phaidra- noch eine Hippolytos-Tragödie ge-
dichtet, sondern er sieht die Tragik dieser beiden Menschen in ihrem
notwendigen gegenseitigen Bezug. So scheint hier die Grundstruktur der
Trachinierinnen wiederholt, und in der Tat gibt es bis ins Einzelne ver-
wandtschaftliche Ähnlichkeiten zwischen den beiden Dramen.
Ordnet sich hier Euripides in die Grundformen Sophokleischer Tragik
ein, so wird innerhalb dieser Gleichförmigkeit sein Eigentümliches nur
um so sichtbarer. Wo bei Äschylus oder Sophokles ein Weib statt des
Mannes herrscht oder kämpft, vernichtet oder untergeht, da mag das
tragische Geschehen noch unerbittlicher, die tragische Einsamkeit noch
ergreifender sein, aber solche Schicksale sind doch im Tiefsten von männ-
lier Tragik nicht verschieden. Bei Euripides hingegen erscheint als das
Besondere dieses: Medea wird aus dem Pathos ihres gekränkten Weibtums
zu tragischem Tun getrieben. Als Gattin und Mutter verletzt, rächt sie
sich als Gattin und Mutter. Gewiß klingt in der Klytämestra des
Äschylus Ähnliches an, aber mehr als Vorwand denn als echtes Motiv.
In den Trachinierinnen wird der männlichen Tragik | die weibliche gegen-
übergestellt. Aber selbst wenn man davon absehen will, daß Sophokles
in diesem Drama auch sonst der Kunst des jüngeren Dichters in etwas
entgegenzukommen scheint: es ist doch noch ein großer Unterschied, ob
diese weibliche Tragik der männlichen nur gleichsam antwortet, oder
ob sie das Drama wie bei Euripides beherrscht. Mit aller Vorsicht im
Urteil, die bei soviel Verlorenem geboten ist, wird man sagen dürfen,
daß Euripides dem Raum des Tragischen mit der Medea einen neuen
Bezirk hinzugewonnen hat.
Der Hippolytos zeigt das Gleiche. Denn innerhalb der Strukturver-
wandtschaft zu den Trachinierinnen wird auch hier das seelengeschichtlidi
Neue dieses Euripideischen Werkes augenfällig. Sophokles gab mit der
Aktivität des Helden, der Gegenwirkung des Weibes gleichsam das norm-
hafte Verhältnis der beiden Geschlechter auf dem Felde des Tragischen,
so wie es einem männlichen Zeitalter erscheinen muß. Euripides hat das
umgekehrt und alle Angriffskraft der Frau zugeteilt. So hat er als Erster
die vernichtende Gewalt weiblicher Liebesleidenschaft in die Welt des
Tragischen gehoben und ähnlich wie in der Medea, nur noch mit unver-
gleichlich weiterer Wirkung, der Tragödie ein neues Gebiet erobert. Wir
sind umgeben von einer Literatur, die in ihren höchsten wie in ihren
tiefsten Schichten gesättigt, ja übersättigt ist vom Motiv der Geschlechts-
liebe. Erst wenn man sich aus dieser Situation befreit, kann man ahnen,
was es an sich wie für die geschichtliche Nachfolge bedeutet, daß hier
zum ersten Mal das Tragisch-Große und Vernichtende des Eros an einem
156 Griechische Literatur [81182]

Weibe gezeigt wurde, welches nicht wie der Mann außerdem und vor
allem noch Kämpfer oder Herrscher sondern eben nur dies eine: liebendes
Weib ist.
Man weiß, daß Euripides die erste Fassung des Themas mit jener
Szene, in der Phaidra sich selbst dem Stiefsohn anträgt und zurück-
gewiesen wird, dem Unwillen der Zeitgenossen hat opfern müssen, und
es ist allerdings bezeichnend, daß jenseits der uns allein erhaltenen zweiten
Fassung „der Vertraute Agrippinas und der Höfling Ludwigs X I V . jene
erste Phaidra wieder hervorgesucht haben" (v. Wilamowitz). Racine hat
aus dem Rohstoff, den Seneca ihm bot, eine der seelisch bewegtesten und
reichsten Szenen geschaffen. Aber wenn er hier zu der stärkeren und
gewagteren Form der ersten Euripideischen Fassung zurückkehrt, so darf
man darüber nicht vergessen, daß derselbe Racine im Bilde seiner Heldin
die tragische Unerbittlichkeit, die sie auch in der | uns vorliegenden
Bearbeitung des Euripides durchaus behalten hat, einer zivilisierten
Menschenauffassung opfert. Bei Euripides verfolgt ihr Haß den geliebten
Mann noch über ihren Tod hinaus, treibt ihre Verleumdung ihn ins Ver-
derben. Racine hat das nicht ertragen. „J'ai cru, que la calomnie avait
quelque chose de trop noir pour la mettre dans la bouche d'une princesse
qui a d'ailleurs des sentiments si nobles et si vertueux. Cette bassesse m'a
paru plus convenable à une nourrice, qui pouvait avoir des inclinations
plus serviles, et qui néanmoins n'entreprend cette fausse accusation que
pour sauver la vie et l'honneur de sa maîtresse." Man ermißt den Abstand
Zwischen Port-Royal und Versailles auf der einen, Athen und dem Diony-
sos-Theater auf der anderen Seite. Man ermißt zugleich, was für den
Athener des fünften Jahrhunderts tragisch war, und was die „tragédie"
des Racine bei allem Adel und aller seelischen Bewegtheit (um derent-
willen Anatole France im Namen seiner Nation den Dichter als „la vie
même et la nature même" hoch über Sophokles und Shakespeare stellt) -
was eine Phèdre für immer davor bewahren wird, echter, das heißt
radikaler Tragik zugerechnet zu werden.
Was für eine Gestalt hat Euripides jener Phaidra gegenübergestellt
als männlichen Partner? Auf den Gedanken des Racine konnte er freilich
nicht verfallen, der als Sohn des galanten Zeitalters die Sprödigkeit seines
Helden auf die Leidenschaft für eine andere, „la charmante Aricie", grün-
det. Aber es ist auch nicht das göttliche Gesetz wie in der Joseph-Geschichte,
nicht die Heiligkeit des väterlichen Bettes, was diesen Hippolytos bindet.
Euripides war nur mit der geradesten Antithese zufrieden: er sah der
Liebesleidenschaft des Weibes gegenüber die Liebesfeindschaft des Mannes.
Und die Unbedingtheit dieser Feindschaft ist es, die ihrem Träger
tragisches Pathos gibt. So steht dort freilich ein tragischer Held, der dem
Äschyleischen Orest oder dem Sophokleischen Aias sehr unähnlich ist,
und dem statt alles kämpferischen Vorwärtsdringens nur jene, man möchte
zunächst sagen: passive Starrheit eignet. Die Frage ist erlaubt, ob da
[82183] Die griechische Tragödie und das Tragische 157

nicht das tragische Format verkleinert sei, ob nicht das tragische Feld
erweitert werde auf Kosten der tragischen Größe. Aber die Antwort wird
doch wohl lauten müssen, daß vielmehr eine neue Weise tragischer
Existenz hier anzuerkennen ist, die minder sichtbar und ohne mächtige
Gebärde nur in der Unerschütterlichkeit des So-und-nicht-anders-Seins
beschlossen liegt.
Aber indem nun Euripides in dieser Tragödie scheinbar alle über-
lieferte Ordnung umkehrte, dem Weib das leidenschaftlich Zustoßende, |
dem Mann das bloße Beharren lieh, geriet er dicht an das heran, was man
nicht anders als Problematik des menschlichen Charakters nennen kann,
etwas also was der Tragödie an sich nicht inhäriert, ihr eher zu wider-
streben scheint. Aias und Antigone und die anderen Sophokleischen
Hauptgestalten leben nur aus ihrer tragischen Grundhaltung, und das
moderne Bestreben, durchgezeichnete Charakterbilder dort zu finden, geht
in die Irre. Euripides aber stellt wirklich in Hippolytos einen Menschen
hin, der auch ohne tragisches Schicksal oder etwa in anderen Verflechtun-
gen seine Existenz und unsere menschliche Teilnahme haben würde.
Das Grundwesen dieses Charakters ist Herbheit, strenge Haltung,
zuchtvolle Selbstbewahrung, unverbrüchlich bis zur Starre und bewußt
bis zum Anmaßenden. Von diesem „Semnon" und dieser „Sophrosyne"
sprechen nicht nur der treue Diener und der erzürnte Vater gleichermaßen,
wenn auch mit verschiedener Betonung, sondern ebenso ganz offen er
selber.
Nie wieder werdet einen Mann so voller Zucht
Ihr sehn, auch wenn dies anders meinem Vater dünkt,

das sind seine letzten Worte, bevor er in den Untergang geht. Und noch
der Sterbende beruft sich darauf:
Zeus, siehst du mich, Zeus? Ich bin es, der fromm
Die Götter geehrt, ich bin es, der rein
Und keusch wie keiner der Menschen gelebt.
(Übersetzung von Wilamowitz)
Es äußert sich im ethischen Bezirk als Sittenstrenge, Tugendstolz, Ab-
neigung gegen den Umgang mit jedem, der nicht in gleicher Weise „das
Unrecht" haßt. Es äußert sich im politischen Bezirk als oligarchische
Gesinnung, die sich nach eigenem Geständnis von der Masse zurückzieht,
nur unter den „Besten" sich wohlfühlt und jedes Streben nach der höchsten
Stelle sich verbietet. Es äußert sich im religiösen Bezirk als strenge und
sichtbar zur Schau getragene kultische Frömmigkeit, eine Frömmigkeit
aber, die ihre Wahl unter den Göttern trifft, der jungfräulichen Artemis
sich zukehrt, die im Dunkeln zuchtlos wirkende Aphrodite meidet. Und
irgend etwas muß schon daran sein, wenn der Vater über die Neigung des
Sohnes zur orphischen Lehre mit ihrem Sektierertum und ihrer Askese
158 Griechische Literatur [83/85]

spottet. Es äußert sich im Bereich des Vitalen als Schauder vor dem
Geschlechtlichen, als Hinneigung zum Reinen und Fleckenlosen in der
unberührten Natur, als Leidenschaft für männliches Tun, Jagd, Rossel-
zucht und alle Übung des Leibes. Ein ödipus, ein Aias, auch eine Medea
und vielleicht sogar eine Phaidra realisieren sich ganz innerhalb ihres
Mythos. Erst dieser Hippolytos scheint ein Dasein für sich zu haben, in
mannigfache Lebensbezirke hineinreichend und nur durch den Konflikt
aus seiner Welt hineingerissen in die der Tragödie.
Mit vollem Recht sieht also Wilhelm Dilthey, dort wo er das Werden
der Individualität im Schrifttum der Griechen verfolgt, bei Euripides
etwas Neues über alle Vorgänger hinaus. Freilich ist auch im Hippolytos
Analyse des Menschen längst nicht eigenherrlich, sondern noch eingeordnet
in das tragische Geschehen. Und Tragödie im griechischen Sinne wird
das Ganze vollends erst dadurch, daß es mythisches Geschehen ist. Phèdre
und Hippolyte sind isolierte und nur in einem gesellschaftlichen Kreis
gebundene Menschen, die innerhalb dieses Kreises zu tödlicher Begegnung
aufeinanderstoßen. Der Kampf zwischen Phaidra und Hippolytos wird
als Kampf zwischen Aphrodite und Artemis zugleich in der göttlichen
Sphäre gekämpft, die wohl von dem irdischen Geschehen getrübt wird,
ihm aber wiederum etwas von welthafter Bedeutung mitteilt.
Wie Euripides dort, wo er überhaupt Individualtragik im Sinne des
Sophokles gestaltet, sein ganz eigenes Lebensgefühl hineingibt, das möge
neben Medea und Hippolytos der Herakles, das Drama des Helden der
im Wahnsinn seine Kinder tötet, als drittes Beispiel verdeutlichen.
Sophokles hatte in den Trackinierinnen Herakles als den alles um sich
und damit zuletzt sich selbst Zerstörenden gezeigt, im Aias die Tragödie
des Mannes gedichtet, der aus viel weniger furchtbarer Geistesverwirrung
erwachend sein Heldentum im Tode bewährt. Es ist die Sophokleische
Weise, daß eben das, was sonst die Größe des Menschen ausmacht, nun
seinen Untergang bewirkt. Euripides hingegen zeigt die Tragik des
gestürzten, verzweifelnden Helden, der seine Hoffnungen selbst ver-
nichtet hat. Er findet sich in einer Pein, vor der alle Mühen seines taten-
reichen Lebens zu nichts verschwinden. Er verzweifelt an der Gottheit:
„Gott ist gewaltsam. Also bin ich's gegen Gott." Er ist entschlossen das
unerträgliche Dasein zu enden. Aber er kämpft sich durch die eigene Ver-
zweiflung hindurch zu dem Entschluß „wider den Tod auszudauern".
Und am Ende steht das unvergeßliche Bild: der große Held, den Arm um
den Nacken des helfenden Freundes legend, der ihn fortführt:

Doch ich muß, der in Schanden unser Haus verdarb,


Zerstört dem Theseus folgen, ein geschleppter Kahn. |
Dies ist wieder die neue, die Euripideische Weise der Tragik: der Held in
seiner Schwäche, der doch gerade darin eine neue Kraft des Ertragens
offenbart, vielleicht nicht weniger groß als seine Heldentaten.
[85¡86] Die griechische Tragödie und das Tragische 159

Ich aber trachte, wenn ich gleich im Argen bin,


Nicht feig zu heißen, so vom Licht ich scheiden will.
Denn wer des Schicksals Wechseln sich nicht stellen mag,
Wird auch des Feindes Waffen nimmermehr bestehn.
Dem Tode trotzend daure ich, will in deine Stadt
Nun gehn. Und hab für tausendfache Gabe Dank!
Allein auch Peinen hab ich tausendfach geschmeckt
Und ihrer keiner mich versagt, noch je vom Aug
Den Quell getropft, noch hätt ich je dorthin gemeint
Zu kommen, daß die Träne mir vom Auge fiel.
Jetzt aber, scheint es, muß ich Knecht der Schickung sein.
Weil es der stärkste und immer siegreiche Held war, der in dieser
Schwäche und dieser neuen Kraft sich offenbaren sollte, und weil gerade
in diesem Gegensatz die Energie des tragischen Momentes ruht, darum
war es notwendig auch die Höhe sichtbar zu machen, von der Herakles
stürzt. Mit Grund also wurde das Drama zweiteilig, und diesen Bau zu
tadeln ist ähnlich falsches Kunstrichtertum wie jenes, das etwa an der
Einheit von Raffaels Transfiguration mäkelt. Der zweite Teil allein: das
wäre eine Peripetie, bei der nicht fühlbar würde, was eigentlich stürzt.
Der erste Teil allein: das wäre vollends ein Vorgang ohne tragischen
Gehalt. Die beiden Hälften aber sind durch ein geisterhaftes Zwischen-
spiel zunächst noch schärfer voneinander getrennt und dann doch über
alle Trennung weg durch stärkste antithetische Symmetrie der Gestalten,
der Geschehnisse, der Worte unlösbar einander zugeordnet.
Dort rettet Herakles Gattin und Kinder aus der Not, indem er sehn-
süchtig erwartet von seiner letzten und schwersten Aufgabe siegreich heim-
kehrt und zu allen Siegen noch diesen fügt. Hier tötet er die, die er vorher
gerettet hat, und zieht nach dieser letzten Tat zerstört davon in die Fremde.
Dort sind Frau und Kinder mit Totenkleidern für den Hades feierlich an-
getan, und als Herakles kommt, heißt er sie die Trauerkränze abwerfen
und emporblicken zum Licht. Hier ist derselbe „schöngestaltige Chor"
zum Siegesfeste geschmückt, und der Retter ist es, der sie in das Dunkel
schickt. Dort erscheint in den Worten der Gattin Herakles als der
sorgsame Vater, der an die Zukunft seiner Söhne denkt und ihnen ihr I
Erbreich samt seinen Waffen verteilt. Hier hat er mit denselben Waffen
eben diese Söhne getötet und ist mit derselben, an dem gewaltigen Men-
schen besonders rührenden Sorgfalt um ihre Bestattung bemüht. Dort
steht dem Herakles und seinem Hause gegenüber der Usurpator, der
„Tyrann", als feindliche Gegenmacht, hier Theseus, das Musterbild des
„Königs" als rettender mahnender Freund. Bis in die Bildung plastischer
Gruppen geht diese selbe Formung. Dort umringen ihn die Kinder als
ihren Retter. Hier sitzt er von ihren Leichen umgeben. Und wenn sie
am Schluß des ersten Teils sich an ihn hängen wie Schleppkähne an das
große Schiff, so kehrt am Schluß des zweiten dasselbe Bild im Gegen-
160 Griechische Literatur [86187]

sinne wieder, da Herakles sich an Theseus klammert „wie geschleppter


Kahn."
In jenem Zwischenspiel, das die beiden Hälften des Dramas trennt,
erscheint die Götterbotin mit dem Wahnsinnsdämon, und die Greise des
Chors und mit ihnen die Zuschauer erfahren, welche Sinnesumnachtung
den Herakles befallen wird, vielmehr in diesem Augenblick befällt. Man-
ches läßt vielleicht ahnen, daß der Dichter an seinem Helden den Sieges-
rausch der Taten und den Blutrausch des eben bestandenen Kampfes in
Wahn hat wollen umschlagen lassen. Aber das wird weit übertönt durch
die dämonische Erscheinung. Also nicht innerseelische Wendung hat der
Dichter, der doch unter den griechischen Tragikern der eigentliche
Psychologe ist, wenigstens hier zuerst geben wollen, sondern ein tragisches
Schicksal, das „von außen" hereinbricht als „Feindschaft der Gottheit".
Wobei es dann wieder als ein unausgeglichener — nicht unausgleichbarer -
Widerspruch stehen bleibt, daß an einer anderen Stelle Herakles sich selbst
gegen „der Dichter unselige Reden" verwahrt, die den Göttern mensch-
liche Übel und menschliche Herrschaftsverhältnisse zuschreiben. Wie
unter diesem schwersten Schlag der Siegreiche zusammenbricht und doch
im Zusammenbrechen eine neue Kraft des Uberwindens erwirbt, das ist
hier die eigentliche Tragik, über die sich Euripides mit vollkommener
Deutlichkeit ausgesprochen hat.
Euripides läßt sich nicht auf eine Formel verpflichten. Seine Troe-
rinnen sind von ganz anderer Art als die bisher betrachteten Tragödien,
schon darin, daß sie sich in viel stärkerem Grade als Teilstück, Schluß-
stück einer Trilogie erweisen. Wir wissen von deren beiden ersten Teilen
genug, um die ganze wenigstens im Grundriß zu übersehen. Im ersten |
Drama wurde Paris unter den Hirten entdeckt und ging aus allen Kämp-
fen siegreich hervor, um am Schluß zum Raub der Helena gegen Grie-
chenland aufzubrechen. Also ist hier Gegenstand die Rettung des Unheil-
stifters, und in Kassandras Prophezeiung steigt drohend das Verderben
auf, das sich im dritten Drama schon erfüllt hat und nun seinen letzten
Jammer vor uns ausschüttet. Das Mittelstück aber, der Palamedes, führte
im Gegensatz zu den beiden andern auf die Seite der „Sieger", und was
von denen sichtbar wird, ist ihr ärgstes Verbrechen: der hinterlistige
Frevel an dem edelsten Griechen. Euripides also, soviel kann man er-
kennen, nimmt den mythischen Komplex als Ganzes in den Blick. Das
trilogische Gefüge muß sehr viel bedeutet haben, mehr als wir das irgend-
wo für Sophokles vermuten dürfen. Im Alexandras steigen die Linien
empor, in den „Troerinnen" fallen sie. Beide Dramen wirken aus der
Ferne weit mehr als Eingangs- und Schlußstück einer Trilogie denn als
abgeschlossene Tragödien im Sophokleischen Sinne. Aber die Annäherung
an Äschylus ist doch wohl höchst bedingt. Nicht Tragik des Geschlechtes
wie in der Orestie oder der Tbebaide wird hier entfaltet. Dem Euripides
gehören die hier handelnden, irrenden, frevelnden, untergehenden Men-
[87/88] Die griechische Tragödie und das Tragische 161

seilen einer weit größeren Familie an, welche „Hellenen und Barbaren",
man würde heut sagen: die ganze Menschheit, umfaßt.
Sehen wir, ob das was die Umrisse der Trilogie uns zu verraten schei-
nen, in dem erhaltenen Drama, den Troerinnen, sich bestätigt. Was ist
hier tragisches Handeln? Wer ist tragischer „Held"? Gehandelt w i r d
hier nicht, sondern gelitten, und das Schicksal trifft die Menschen wie
Wanderer der Blitz. Denn Träger des Geschehens ist nicht ein einzelner,
sondern sind viele: die Königin, die Königstöchter, das unschuldige könig-
liche Kind, die troischen Frauen die den Chor bilden. J a wenn zuletzt
die Brandfackel in die Stadt Troja fällt, so w a r das für die Sensations-
hungrigen ein Theatercoup, für den der den Dichter verstand ein Symbol,
daß über allen Einzelnen ein Allgemeineres vernichtet w i r d : Troja, den
Göttern „unter Städten sonderlich verhaßt".
Es entspricht dieser Vielheit des tragischen Subjekts und dieser Ab-
wesenheit einer tragischen Aktivität, daß das Drama nicht w i e Medea
oder Hippolytos eine einheitliche Linie hat. Einzelschicksale neigen sich
eines gleich dem andern abwärts zum bitteren Ende: die Fürstinnen
werden in die Gefangenschaft geführt, Polyxene w i r d geopfert, das Kind
Astyanax seiner Mutter weggerissen. Nur Hekabe trägt, wie sie denn |
als Einzige von Anfang bis zu Ende gegenwärtig ist, außer dem eigenen
Leid mitleidend noch das Leid aller übrigen.
Doch selbst in dieser allgemeinen Zerstörung fehlt nicht ganz die
Bewegung des tragischen Entgegen. J a wie jede der Leidbetroffenen
anders widersteht, darin liegt nicht nur die besondere Schönheit und der
Reichtum der Troerinnen beschlossen, sondern das, was sie zur Tragödie
macht.
Kassandra kommt fackelschwingend, mänadisdi singend und tanzend.
Ihr Hochzeitslied ist in schauerlichem Widerspruch mit der Situation.
Und dieser Widerspruch symbolisiert sich unnachahmlich in dem musi-
kalischen Bau, der ekstatische und hochzeitliche Klänge mit Klagerhyth-
men durchsetzt, ja geradezu Klagerhythmus und Hochzeitsruf in eins
verschmilzt. Diese Mania, die bei der Seherin nicht eine Vernichtung
sondern eine Steigerung ihrer K r a f t bedeutet, ist ihr Widerstand gegen
das was hereinbricht. Und ein Triumphgefühl geht dann durch ihre
Reden, als sie (ein wenig unvermittelt und zu bewußt) „heraustritt aus
der Gottbesessenheit", um mit scharfer Dialektik zu zeigen, daß in all
ihrem Unglück die Troer glücklicher sind als die Sieger; es steigert sich,
als sie prophetisch das Verderben sieht, das den Griechen bestimmt ist,
und es gipfelt in dem Blick auf jenes, das sie selbst stiften w i r d im Hause
der Atriden.

Sagt, wo ist das Schiff des Feldherrn! Sagt, wohin ich steigen soll!
Brauchst nicht mehr nach gutem Winde deinen Segeln auszuschaun.
Denn der drei Erinyen eine führst du mich aus diesem Land.
162 Griechische Literatur [88/89]

Lebe wohl, o Mutter, weine nicht! Du liebes Heimatland,


Ihr unter dem Boden Brüder, du der unser Vater war,
Bald empfangt ihr mich; ich komme totenwärts, Siegträgerin,
Wenn ich Atreus Haus gebrochen, das uns gibt dem Untergang.
Mit Kassandras Ekstasen kontrastiert aufs stärkste Andromaches
Haltung. Sie kommt zu Wagen, und ohne ihn zu verlassen fährt sie wieder
davon. Daß es der Wagen eines Fremden ist, wird besonders eingeschärft,
gerade weil sie wie eine Fürstin dort oben steht. Der Einzug zu Wagen,
wie Äschylus ihn liebte, Sophokles wenigstens in den erhaltenen Dramen
ihn gemieden hat, Euripides ihn wieder aufnimmt, ist hier mehr als nur
ein den Sinnen ermüdeter Zuschauer eindrucksvolles Bühnenbild. Die
Fürstin, die aufrecht über den Waffen Hektors steht, den Knaben an der
Brust, und die dann, als man ihr den Knaben genommen hat, noch immer
über den Waffen Hektors stehend davon fährt: das ist diese Frau in ihrer |
Gattentreue und Mutterliebe, ihrer Weiblichkeit und ihrem fürstlichen
Stolz. Von tragischem Heldentum im Sinne einer Antigone oder Medea
offenbart sie nichts. Als der Herold ihr den kleinen Astyanax abfordert,
rät er ihr:

Klammre dich nicht an diesen, adlig trage Leid,


Und da du kraftlos, meine nimmer stark zu sein.
Und wirklich läßt sie das Kind ohne Kampf sich nehmen. Nicht aus
Schwäche. Aber aktiver Widerstand, der so ganz vergeblich wäre und
alles nur ärger machen würde, paßt nicht zu diesem zuditvollen Wesen.
Gerade dieser Adel und diese Zucht: das ist es, was sie dem Schicksal
entgegenzusetzen hat. Damit ist sie den Feinden überlegen, die sich darin
gefallen, gegen ein Weib den Krieg fortzusetzen. Und stolz hält sie dem
Sieger Hektors Ruhm entgegen, der in den erbeuteten Waffen zu ihren
Füßen sein anschauliches Symbol hat, in ihren Worten lebendig gegen-
wärtig ist.
Wiederum hat gegenüber der jungen Mutter und der Jungfrau die
Greisin Hekabe ihre besondere Haltung. Als das Drama beginnt, liegt
sie am Boden vor dem Zelt „den Rücken auf hartem Lager gestreckt"
und richtet sich halb empor zum Sprechen. Später, da ein neuer Schlag
sie getroffen hat, „sinkt sie tonlos ausgestreckt dahin" und läßt sich von
den Troerfrauen nicht emporheben.
Laßt mich - nie wird das Ungeliebte lieb - ihr Fraun,
Hier liegen wie ich stürzte. Solcher Sturz gebührt
Dem, was ich litt und leide und künftig leiden muß.
Dann sieht man sie „die greisen Glieder auf dem Boden hingestreckt und
mit den Händen beiden die Erde schlagend", um die Verstorbenen zu
rufen. Am Schluß aber wankt sie mit zitternden Schritten davon dem
[89¡90] Die griechische Tragödie und das Tragische 163

Tage der Knechtschaft entgegen. Wer das Staccato dieser zerbrochenen


Rhythmen nachempfinden kann, wird der Bearbeitung Werfeis keinen
Dank dafür wissen, daß sie mit einer großen Theatergeste schließt.
Schlag um Schlag fällt das Unglück auf die Greisin nieder. So ist
ihre zusammengebrochene Haltung und sind ihre zitternden Schritte am
Schluß Ausdruck ihrer tragischen Situation. Dennoch ist auch in ihr etwas,
was allem Sturz sich entgegenstemmt. In dieser Kraft des Ertragens,
diesem immer erneuten Sichaufrichten, diesem königlichen Stolz auf
Geburt, Gemahl und Heldensöhne, dieser geistigen Überlegenheit auch
den Feinden gegenüber, sind Energien fern von aller Passivität. Und ein
paar | Verse gibt es, die erstaunlichsten des Dramas, in denen sie alles
nicht nur zu ertragen sondern zu wollen scheint:

Nichts also gab es bei den Göttern als mein Leid


Und Troja unter Städten sonderlich verhaßt!
Umsonst war unser Opfern! - Doch, so nicht ein Gott
Das Obere ganz umkehrend ab zur Tiefe warf,
Wir blieben ungesehn, nicht im Gedicht genannt,
Kein Lied dem Sange gebend späterer Sterblichen.
Hier fällt ein Blick mitten hinein in die Euripideische Idee des Tra-
gischen. Es ist ein tiefgegründeter Zusammenhang zwischen Leid und
Dichtung: ohne Leid wäre nicht Dichtung, und Dichtung wiederum ist
es, durch die allein das Leid sich rechtfertigt. Im Lied der Nachwelt
gefeiert zu werden, gibt dem Leidenden jene Gewähr dauernden Lebens,
für das noch dem Plato irdischer Nachruhm das mächtigste Symbol ist.
In der Gesamttrilogie steht der Palamedes, die Tragödie von grie-
chischer Heimtücke und Erbärmlichkeit, zwischen den beiden Dramen
von troischer Verblendung und Untergang. Die Troerinnen wiederholen
diese doppelte Stimmführung im kleineren Bezirk. Denn überall ver-
nimmt man durch das Unglück Trojas hindurch Härte und unedles
Wesen des Siegers, der in dem Herold um so nachdrücklicher repräsen-
tiert wird, als dessen milderer Sinn mißbilligt, was er doch anordnen und
vollziehen muß. Aber weit mehr noch wird das Schicksal der Griechen
in das Drama einbezogen durch das Vorspiel, in welchem sich zu ihrem
Untergang Poseidon und Athene verbinden. Man bedenke, daß dieses
Vorspiel nicht wie sonst bei Euripides in das Drama hinein, sondern
darüber hinaus weist. So klingt die Melodie vom Unheil der Sieger durch
das was im Bühnengeschehen sichtbar wird hindurch, und sie wird auf-
genommen und weitergetragen in Kassandras Prophetien. Aber ist nicht
das Wort „Sieger" sinnlos geworden und dies vielmehr ein Krieg, in dem
es einzig und allein Besiegte gibt? Tragik ist wie eine Erdkatastrophe,
die in ihrem Bereich niemanden verschont.
Wirklich niemanden? Doch eine Szene hat Euripides, die schrill
durch den fast gleichförmigen Jammer der übrigen tönt. Menelaos kommt
164 Griechische Literatur [90192]

und läßt Helena „an ihrem blutbefleckten H a a r " aus dem Zelt der Ge-
fangenen führen. Sie bittet sprechen zu dürfen, und nun gibt es eine
Art Gerichtsverhandlung, in der Helena mit langer scharfer Rede ihre
Verteidigung führt, Hekabe die Anklage vertritt und Menelaos den Rich-|
ter spielt. Es ist eine echt attische, zumal Euripideische Dialektik von
Gefühl und Leidenschaft, mehr noch von Witz und Geist, an der doch
auch der Schöpfer Portias seine Freude gehabt hätte, und der Zuhörer
verspürt, welche gefährliche Waffe solcher Intellekt im Bunde mit solcher
Schönheit ist. Zum Schluß wird Helena zu den Schiffen weggeführt,
damit sie drüben in Hellas sterbe.
Scheinbar ist so die Szene freilich ganz angeglichen den gleichmäßigen
Kurven der übrigen. Doch unter der Oberfläche dessen, was hier geredet
und getan wird, muß man des Ungesagten habhaft werden. Ist es erlaubt,
das Gespräch andeutend so zu geben, wie Balzac vielleicht es gegeben
hätte? „Ici pour bien saisir l'intérêt du duel des paroles, il est nécessaire
de dévoiler les pensées qu'ils cachèrent mutuellement sous des phrases en
apparence insignifiantes."
„Ich weiß, daß du mich hassest", sagt sie. (Aber du begehrst midi
noch. Weshalb wärest du sonst selber gekommen?) „Das ganze Heer hat
dich mir übergeben, daß ich dich töte", sagt er. (Was ich tun werde, steht
bei mir.) „Darf ich reden?" sagt sie. (Ich weiß, daß du mich sogar hören
willst.) „Ich will ihr das Wort geben", sagt er zu Hekabe, „damit ich
danach deine Gegenrede höre. Um ihretwillen würde ich's ihr nicht
erlauben." (Was kümmern mich deine Reden? Nur Helena will ich hören.)
„Geh nun deiner Strafe entgegen", sagt er, nachdem das Rededuell
vorüber ist. (Im Schiff sehen wir uns wieder.) „Töte mich nicht! verzeihe
mir!" sagt sie. (Wenn wir allein sind, wirst du mir verziehen haben.)
Hekabe wirft sich dazwischen. Menelaos: „Hör auf, Alte! ich kehre midi
nicht an diese hier." (Ich kehre midi an nichts als an sie.)
Dem Schluß des Aktes kommt vollends nichts gleich an Hintersinnig-
keit. Menelaos: „Diener, bringt sie zu den Schiffen!" (Ist sie erst dort,
so werde ich sie in mein Schiff nehmen.) Hekabe: „Laß sie nur nicht
dein Schiff besteigen!" Menelaos: „Wird es dadurch etwa stärker be-
schwert?" (Du glaubst mich zu durchschauen? Ich brauche dir nicht Rede
zu stehen.) Hekabe: „Kein Liebender, der nicht immer liebte." (So ist
mein Spiel verloren, die Unheilstifterin gerettet.) Menelaos: „Ich will
dir folgen, sie soll nicht auf dasselbe Schiff. Und in Hellas drüben will
ich sie töten." (Es gilt jetzt die Würde zu wahren.) Und er geht ab,
indem er mit einer tönenden Sentenz sich selbst als Erzieher des Frauen-
geschlechts zu Zucht und Ehre rühmt. Sollte noch irgend jemand im
Zweifel sein über die wahre Meinung dieses ganzen Auftrittes, so könnte |
ihn bald der Gesang der troischen Frauen belehren, die ganz in Hekabes
Sinne die Zukunft voraussehen und vor diesem Bilde wünschen: „Möge
Menelaos' Schiff mitten auf dem Meer der Blitz treffen, wenn es uns
[92j93] Die griechische Tragödie und das Tragische 165

als Sklavinnen davonführt, während Helena im goldenen Spiegel sich


ihrer Schönheit freut!"
Doch jeder Zuschauer weiß aus der bindenden Überlieferung des
Mythos, daß dieser Ruf nach dem rächenden Blitz nicht erfüllt wird. Zu
der umfassenden Tragik dieses Dramas, die Freund und Feind, Schuldige
und Unschuldige in dem einen allgemeinen Untergang vereint, gehört
als notwendiges Komplement die Rettung des Weiberhelden und der
schönen Unheilerregerin. Denn das Gelächter, das geheim aus der
Helenaszene aufsteigt, macht alle tragischen Schicksale noch zerreißender.
Abgeschlossen aber wird dieser verzweiflungsvolle Aspekt des Lebens,
wenn man auf die göttliche Sphäre blickt.
Poseidon verläßt die troische Burg, die er gebaut hat. Apollon hat
von Kassandra seine schützende Hand gezogen. Athene und die anderen
Götter, die den Griechen zum Sieg verholfen haben, wenden sich von
den Siegern. So beginnt das Drama. Die menschliche Zerrüttung reicht
in die göttliche Sphäre hinein, so weit es die noch gibt und nicht ein
göttlicher Name wie Aphrodite bloßer Ausdruck für sehr irdische Sinnes-
verwirrung ist. Herrscht aber nicht doch über alledem ein gerechter Gott,
ein höchstes Schicksal? Als Menelaos gekommen ist und eben Befehl
gegeben hat, Helena herbeizuschleppen, da vernimmt er plötzlich aus
Hekabes Munde, die er bisher nicht gesehen hat oder nicht hat sehen
wollen, ein seltsam unerhörtes Gebet:

O Erden Halt, und der du auf der Erden thronst,


Wer du auch seist, schwer dringt das Wissen hin zu dir,
Ob Zeus, ob höchstes Muß, ob Menschengeist,
Dich bet ich an, du führst, auf unhörbarem Pfad
Schreitend, gemäß dem Rechte jedes Menschending.
Diese Hekabe scheint bei den Sophisten und Naturphilosophen in die
Schule gegangen zu sein. Und wird das neumodische Gebet erhört?
Man weiß, wie sehr das Schicksal mit Helena gemäß dem Rechte ver-
fährt! Also versagt auch der höchste Weltenherr. Die alte göttliche
Ordnung ist zerstört, eine neue zu gründen bleibt ohnmächtiger Versuch,
bis Plato kommt und das Zersprengte wieder bindet. Die Tragik aber |
dieser entgötterten und verzweifelten Welt ist nirgends ergreifender als
in den Troerinnen gestaltet worden.
Der Erschütterung, die von den Troerinnen ausgeht, kann sich unsere
Zeit am wenigsten entziehen, seitdem sie selbst durch solche Leiden
gegangen ist. Diese Wirkung in die Jahrtausende rechtfertigt den Dichter,
der die Tragik über den Raum des einzelnen Menschen und den des
Geschlechts ausgeweitet hat zur Tragik „Aller". Aber es scheint doch
auf der andern Seite, daß, wenn die steile Strenge, in der Sophokles
tragisches Dasein erblickte, einmal aufgegeben wird, der Weg nicht nur
zu den Troerinnen führt sondern zu einer Erweichung des tragischen
166 Griechische Literatur [93/94]

Grundgefüges. An der Elektra des Euripides läßt sich eine Etappe dieses
Weges aufweisen, der schließlich in der Preisgabe der letzten tragischen
Ziele endet.
Euripides hat in seiner Elektra den Bauplan des Sophokleischen Vor-
bildes völlig verändert. Die Erkennung der Geschwister geschieht bei
ihm schon vor der Mitte des Dramas, nicht wie bei Sophokles gegen
den Schluß. Denn wenn Sophokles alles darauf anlegte, den Platz für
Elektras Tragik zu gewinnen und von der des Orest kaum etwas ahnen
zu lassen, so nimmt Euripides aus dem überlieferten Mythos und seiner
eigenen frei umgestaltenden Phantasie vieles was auf Elektra keinen engen
Bezug hat in die Grenzen seines Dramas hinein. Er gibt in breitem Vor-
gang Orests Rache an Ägisth. Dann erst wird die Mutter durch Elektra
ins Haus und in den Tod gelockt. Und nachher bleibt dem Dichter
Raum genug, um die Wirkung des Geschehens auf Elektra nicht nur son-
dern auch auf Orest sichtbar zu machen, ja um durch den Mund der Dios-
kuren die künftigen Schicksale aller beteiligten Personen zu verkünden.
Dazu stimmt, daß auch sonst der jüngere Dichter seiner Heldin manches
abnimmt, was der ältere mit bewußtem Nachdruck gerade ihr gab. Hatte
dort der getreue Diener den jungen Fürstensohn nach dem Willen der
schon erwachsenen Schwester ins Ausland gerettet, so hat er hier aus
eigenem Antrieb gehandelt, da beide Geschwister noch Kinder waren.
Dazu stimmt ganz, daß Orest hier nicht auf den Ruf der Schwester, son-
dern allein auf den Befehl des Gottes in die Heimat kommt, auch daß
nach geschehener Erkennung er mit dem Alten die Wege zur Rache be-
spricht, zunächst der Rache an Ägisth ganz ohne Elektras Anteil, wie sie
denn auch an dem breit dargestellten Vollzug keinen Anteil haben wird. |
Sie nimmt erst wieder das Wort, als man über die Rache an der Mutter
berät. Und hier teilt sie denn auch später mit dem Bruder das Vollbringen,
ja sie erscheint nun als die Wildere, die den Zögernden treibt.
Wenn Euripides Tun und Schicksal seiner Heldin nicht isoliert, son-
dern als Teilglied einer mythischen Geschehenskette einfügt, so liegt
darin keinesfalls, wie es scheinen könnte, eine Rückkehr zur weiten
tragischen Kurve des Äschylus, weit eher dies, daß die unerhörte Span-
nung sophokleischer Tragik hier zugunsten anderer Ziele gelockert ist.
Am größten ist das Staunen, Elektra vermählt zu finden. Sie hat
zum Gatten, wie man sogleich erfährt, einen Landmann aus eigentlich
vornehmem, aber jetzt verarmtem mykenischem Geschlecht. Das ist so
gewollt von Mutter und Stiefvater, damit sie nicht von irgend einem
Mächtigen einst den Rächer gebäre. Dabei kommt zur Sprache, daß
Klytämestra, so argen Sinnes sie auch ist, doch die Tochter vor der Ver-
folgung des Ägisth in diesen kümmerlichen Zustand gerettet hat. So weit
also ist jener äußerste Haß gemäßigt, den doch Sophokles als ein Stück
härtesten Schicksals gegen seine Heldin aufrichtet. Und was noch weiter
reicht: auch Elektras Einsamkeit ist hier gemildert, ja aufgehoben. Gewiß,
[94/95] Die griediische Tragödie und das Tragische 167

sie hat es schlecht genug. Aber da ist der freundliche Mann ihr zur Seite,
und andere einfache gute Menschen sind um sie.
Denn dies ist nun ferner etwas völlig Eigenes, daß es eine ganze
Schicht von Menschen geringen Standes in dem Drama gibt. Bei Äschylus
ragten einzelne Personen niederer Sphäre, der Wächter, die Amme, in
die hohe Tragödie hinein. Weit leisere Züge volksmäßiger Prägung hat
gelegentlich Sophokles einem „Boten" zugeteilt. Euripides aber hat die
Äschyleischen Möglichkeiten so erweitert, daß er zwei geschlossene
Stände einander gegenübergestellt: dort das Königsgeschlecht, hier die
kleinen Leute. Statt des Palastes, vor dem so oft die Tragödien spielen,
eine ärmliche Hütte als Hintergrund. Elektra beim Morgengrauen in
schlechter Kleidung mit dem Schöpfgefäß auf dem Kopf zum Brunnen
gehend. Ein kleiner ehelicher Streit: die Hausfrau erregt darüber, daß
er so vornehme Gäste aufgenommen habe, da doch die Vorräte fast zu
Ende sind; der Mann freundlich zuredend, eine Frau könne aus Wenigem
viel machen. Ein mykenischer Berghirt hat den Frauen, die den „Chor"
bilden, von dem Hera-Fest erzählt, und jetzt kommen sie, um Elektra
dazu abzuholen. An der Grenze des argivischen Landes wohnt der alte
Wärter Agamemnons als Hirt; zu dem schickt Elektra ihren Gatten |
nach Vorräten. Und nun schleppt sich das krumme und verhutzelte
Männlein her und bringt ein junges Lamm, Käse, einen besonders köst-
lichen alten Wein mit kräftiger Blume, den man einem schwächeren
zusetzen könne, und er wischt sich mit einem Zipfel seines zerschlissenen
Rockes Tränen der Rührung aus den Augen. Zum ersten Male wird diese
Welt der armen Leute und der petits faits ernst genommen und der
anderen, der Welt der Vornehmen und Reichen, gegenübergestellt.
Denn auf dieses Gegenüber kommt es an. Als die jungen Heroen-
gestalten des Orest und Pylades in die Hütte treten, klingt der Kontrast
auf, und alles ist auf ihn angelegt, als Klytämestra ihre Tochter besucht.
Schon der Vorwand, mit dem Elektra sie lockt, sie habe geboren, allein
und ohne Beistand, und nun bitte sie die Mutter zu kommen und das
pflichtmäßige Opfer für sie zu bringen, schon dieses stammt aus der
Kleinleute-Sphäre. Und wieder der Kontrast: die Königin fährt auf dem
Maultiergespann herbei, in orientalischem Prunk. Sie steigt vor der Hütte
ab, und als sie eintreten will, warnt Elektra sie, sich in dem rauch-
schwarzen Bauernhaus die Kleider zu beschmutzen.
Aber dieser ständische Gegensatz wird von einem ethischen über-
quert: Bei den kleinen Leuten ist Treue, Hilfsbereitschaft, Gastfreund-
lichkeit, menschlicher Zusammenhalt, bei den Herrschenden hingegen
die Brutalität des Usurpators, die Bosheit der Königin. Die ethische
Problematik erst schärft dem Dichter den Blick für die gesellschaftlichen
Gegensätze, und zeitweilig erscheint sie als der eigentliche Sinn des
dramatischen Geschehens. Gleich zu Anfang wird die schlichte Tüchtigkeit
des Landmannes, dem Elektra zum Weibe gegeben worden ist, sein
168 Griechische Literatur [95 ¡96]

sicheres Gefühl für das Angemessene, aus seinen eigenen Worten und aus
Elektras Munde immer wieder deutlich. Und dann gibt es eine Szene,
in der die Handlung gleichsam still steht und das „ethische Problem"
frei heraustritt. Als der Landmann seine Gäste ins Haus gebeten hat
und selbst vorangegangen ist, bleibt Orest zurück, nur deshalb, um wie
betroffen von einer ganz neuen Erfahrung jene Diskrepanz zwischen
bürgerlichem Stand und menschlichem Wert in ausführlicher Rede darzu-
legen. Wenn Äschylus und Sophokles in der Formung des tragischen
Mythos selbst, der immer zugleich dichterisch wie religiös und politisch
war, die große Erzieheraufgabe des Vaters erfüllten, so eröffnet Euri-
pides beiläufig mit seinen Zuhörern ein belehrendes Gespräch über soziale
und ethische Probleme. Man berechne, wie sehr die zentrale Kraft des |
Tragischen schon geschwächt sein muß, damit solche Teilkräfte sich zu
eigenem Leben befreien.
Eine andere Teilkraft ist die Psychologenleidenschaft des Dichters.
Sophokles stellt Grundformen des menschlichen Daseins hin und be-
stimmt von dem Hauptträger des tragischen Geschehens her das Kräfte-
system seiner Gestalten. Euripides entwickelt innerhalb der Schranken,
die auch ihm das Gefüge des Mythos setzt, größere Beweglichkeit und
Differenziertheit der menschlichen Individualität. In seiner Klytämestra
erscheint ein Weib mit allen Widersprüchen und Oscillationen, die dem
Kenner der Menschenseele als Zeichen des Lebens wert sind. Gleich die
ersten Worte erschließen ihr gar nicht unempfindliches und doch im
Grunde leeres Wesen, wie sie „mit einem nassen, einem trockenen Auge"
gleichzeitig der verlorenen Tochter gedenkt, die der Krieg ihr genommen,
und sich der erbeuteten Sklavinnen freut, die er ihr eingebracht hat:
Steigt von dem Wagen, Troerinnen! Diese Hand
Nehmt, daß ich aus dem Fahrzeug setze meinen Fuß!
Mit phrygischen Beutewaffen ist der Götter Haus
Geschmückt. Ich aber nahm die Frauen aus troischem Land
Zur Ehrengift — an Kindes Statt, das ich verlor! -
Geringes Eigen, doch willkommen unserm Haus.
Auch gegen Elektra ist sie schwankend, ein Mensch eben, „der nun
einmal so ist":
So ist mein Wesen; auch du selbst bist harten Sinns.
Sie gesteht der Tochter:
Nicht also gar so sehr
Freu ich mich, Kind, der Taten, die durch mich geschehn.
Als sie die vermeintliche Wöchnerin in ihrer Armseligkeit erblickt, da
wird es ihr leid, daß sie den Ägisth mehr als nötig zum Zorn getrieben
habe. Dennoch bleibt das alles Gekräusel der Oberfläche und sie selbst
ganz dem Manne hingegeben. War sie bei Äschylus gewaltige Mitträgerin
an der Gesamttragik des Geschlechts, bei Sophokles Person gewordenes
[96/98] Die griechische Tragödie und das Tragische 169

feindliches Schicksal (und nur als die Botschaft vom Tode des Sohnes
sie trifft durch einen Moment des Zögerns vermenschlicht), so läßt Euri-
pides sie sprechen und handeln als ein Weib mit mannigfachen Schwan-
kungen und Trieben. Erst bei ihm gibt es freie Bewegung einer verfei-
nerten Seelenkunde, für die in der älteren Tragödie, das heißt in | dem
strengen System tragischer Spannungen und Gegenspannungen, kein
Raum war.
Sophokles will das Heroinenschicksal Elektras zeigen. Darum schließt
er mit der Tat. Euripides lockert auch diese Strenge zugunsten eines
weiteren Umblicks über den Mythos, der für sein Psychologenauge gerade
nach der T a t so starke Anziehung hat. Damit nähert er sich dem Äschylus.
Aber wie so oft ist diese Annäherung mehr ein Schein, und Wirklichkeit
nur der gemeinsame Abstand von Sophokles. Das Umbrechen in der
Schicksalslinie des Helden, der sich erst stark zu seinem Werke bekennt,
dann in Zweifel, zuletzt in Elend und Wahnsinn verfällt, stellte Äschylus
vor Augen. Euripides zeigt, wie nun, nachdem Elektra den Bruder über
die letzten Bedenken fortgerissen hat und das Gewollte in einem großen
Anschwellen zum Ziele gekommen ist, beiden Tätern im Anblick der
Leichen alles, was bisher schwieg, zu reden beginnt: das Grauen der
Bluttat, die Selbstanklagen, die Einsicht, daß sie sich ausgeschlossen
haben aus allem menschlichen Verbände. Jetzt, da sie tot ist, beginnen
die Kinder in der Feindin wieder die Mutter zu sehen, und es ist sehr
ergreifend, wie sie zart die Hülle breiten über den Leichnam der „Lieben
Unlieben". Bei Äschylus neigt sich ein Heldenschicksal abwärts, ohne
selbst dann seine Größe zu verlieren. Bei Euripides endet eine unmensch-
liche Rachetat in dem Erwachen und Durcheinanderwogen aller mensch-
lichen Gefühle.
D a ß wirklich Euripides ganz etwas anderes meint als Äschylus, zeigt
vollends der Schluß. Die Elektra-Tragödie des Sophokles schloß mit der
Tat, Äschylus führte das Mittelstück seiner Trilogie bis zum Wahn-
sinnsausbruch, Euripides läßt sein Drama mit jener Szene, in der er das
schmerzliche Erwachen aus der Ekstase der T a t schildert, nicht enden.
Was aber soll die göttliche Erscheinung, die dann noch folgt? Kein unter
Menschen unlösbarer Widerstreit blieb zu entscheiden. Warum also müssen
die Dioskuren die Zukunft verkünden? Die Zukunft wird glücklich sein.
Elektra wird den Pylades heiraten, nur die Heimat muß sie verlassen,
aber sie hat Gemahl und Haus, „kein traurig Geschick". Sogar für den
Landmann, mit dem sie gelebt hatte, wird gesorgt werden. Und Orest
wird zwar noch viel zu leiden haben, aber dann wird es auch ihm gut
ergehen. Mit den Worten „du wirst glücklich sein" schließt die Verkün-
digung. „Happy end" also ist das Ziel. Soweit ist Euripides seinen
Athenern entgegengekommen. |
Doch für die Hellhörigeren unter den Zuschauern sprach die Dios-
kuren-Szene noch etwas anderes aus: seine Meinung über Gottheit und
170 Griechisch« Literatur [98j99]

Schicksal. Und hier zeigt sich noch einmal und zuletzt die Lockerung
der tragischen Strenge. Warum mußte das geschehen? fragt Orest. Die
Antwort spricht von unentrinnbarem Zwang des Schicksals. Warum
mußte ich Mörder an der Mutter werden? fragt Elektra. Wieder weist
die Antwort auf die Schicksalsverbundenheit und das von den Vätern
her über dem Hause drohende Verhängnis. Unter dieser Macht tun auch
die Götter Unbegreifliches und müssen aus dem Munde der Dioskuren
ihre Kritik hören:

Und Phoibos, Phoibos - aber still, er ist mein Herr!


Doch hat der Weise Weises hier nicht offenbart.
Und dann der troische Krieg, der Ursprung so vieler und auch noch der
gegenwärtigen Leiden, ist durch einen Zauber von Zeus angestiftet
worden, warum?
Doch Zeus, daß daher Streit entstünde und Menschenmord,
Helenas Scheinbild sandte er aus gen Ilion.
Menschliches Handeln aber vollends verliert in einer solchen Welt seinen
letzten Ernst und gleichsam seine eigentliche Substanz. Bei Äschylus
verkörpert sich der Geschlechtsfluch jeweils in dem einzelnen Träger,
ohne ihm Glück und Unglück und Verantwortung seiner Taten abzu-
nehmen. Bei Euripides geht das Schicksal über die Menschen hin. Der
einzelne Mensch, dieses seltsam aus Groß und Klein, Gut und Schlecht
zusammengesetzte Wesen, hat eine Weile daran teil, ohne daß er recht
weiß, wie und warum. Wohl ihm und den Zuschauern, wenn er dann
in einem glücklichen Ende all des Furchtbaren vergessen kann.
Aristoteles setzt in seiner berühmten Definition der Tragödie als ein
Merkmal der Gattung an, daß sie „Mitleid und Furcht" wirke. Man wird
angesichts des Äschylus und Sophokles nicht versucht sein, von dieser
Begriffsbestimmung Gebrauch zu machen. Mitleid und Furcht gehen
auf das Leidvolle in dem Gesamtphänomen des Tragischen, nicht aber
auf das dem Leiden wesenhaft verbundene aktiv-heroische Element, das
weit eher Bewunderung, Ehrfurcht, „Schaudern" (im Goetheschen Sinne)
fordert. Und dann: ich bemitleide (eben nach Aristoteles) jemanden,
der mir „an Alter, Charakter, Beschaffenheit, Würde, Geschlecht gleich"
ist. Eben darum würden ein Prometheus oder ein ö d i p u s sich mensch-|
liches Mitleid verbitten, und für Aias fürchten, das hieße seinen Todes-
willen nicht ernst genug nehmen. Auf Euripides aber, an dem der Philo-
soph seinen Begriff von Tragödie gewann, paßt das Wort von Mitleid
und Furcht durchaus. Gerade wenn sich die tragische Spannung mindert,
werden jene Affekte frei. Mit jeder einzelnen der troischen Frauen, mit
der ins Elend gestoßenen Elektra des Euripides muß der Zuschauer Mit-
leid haben; denn sie sind von seinem Geschlecht. Er wird fürchten für
Elektra und Orest, sogar für Klytämestra. Mitleid und Furcht gebührt
[99/100] Die griediisdie Tragödie und das Tragische 171

den unschuldigen Opfern, die es in so vielen Euripidischen Stücken, aber


in keinem der erhaltenen Sophokleischen gibt. An dem Ansteigen von
„Mitleid und Furcht" kann man das Nachlassen der heroischen Spannung
unmittelbar ablesen.
Noch mehr vielleicht als an der Elektra läßt sich das Gesagte an der
Andromache aufweisen. Freilich muß gerade dieses Drama, seitdem die
antike Kunstkritik ihm das Urteil angeheftet hat, daß es „zweiten
Ranges" sei, mehr als andere dazu herhalten, um die Mängel Euripi-
deischer Kunst zu demonstrieren. Wir glauben gerade aus dieser Gegner-
schaft das Vorurteil herleiten zu dürfen, der Dichter möchte sich hier
über sein Wollen besonders eindringlich ausgesprochen haben.
Den Tadlern ist zuzugeben, daß man allerdings den Gravitations-
punkt dieses Stückes nur schwer entdeckt. Dem ersten Blick verbirgt
sich eine einheitliche Linie des Geschehens ebenso, wie eine Gestalt die
das Ganze beherrschte. Drei Vorgänge sind scheinbar locker aneinander
geheftet, ohne in wirklich einheitlicher Handlung aufzugehen: erstens
der Kampf Hermiones, der jungen Fürstin, gegen die Nebenbuhlerin
Andromache, in dem Hermione von ihrem Vater Menelaos Hilfe emp-
fängt, Andromache schließlich von dem greisen Peleus befreit wird;
zweitens Hermiones Angst vor der Strafe ihres Gatten Neoptolemos
und ihre Entführung durch Orest; drittens die Botschaft vom Tode des
Neoptolemos und die Klage an seiner Leiche. Und diese Vorgänge werden
so wenig von einer Gestalt oder auch zweien beherrscht, daß Andromache
im zweiten Teil gar nicht, im dritten nur als stumme Figur vorkommt,
Hermione im dritten, Menelaos im zweiten und dritten, Peleus im mitt-
leren ganz fehlen. Es gibt überhaupt keine Person, die durch alle drei
Teile ginge.
Daß die drei Handlungskomplexe an ihren Berührungsstellen sich
zusammenfügen, daß Hermiones Angst am Anfang des zweiten Teiles |
aus dem mißlungenen Anschlag gegen Andromache fließt, Neoptolemos'
Tod von Orest, der ihn angezettelt hat, am Schluß des zweiten Teiles
deutlich vorausgesagt wird, ist das Wenigste, um völliges Auseinander-
fallen der Teile zu hindern. Aber man bemerkt bald etwas mehr in der
Tiefe, daß die Vorgänge des ersten und zweiten Teiles enger aufeinander
bezogen sind. Dort sehen wir Andromaches und ihres Kindes Not, die
sich dann durch den alten Peleus zum Glücke wendet, ein Akt in Bild
und Bewegung sehr verwandt dem ersten Teil des „Herakles", wo
Weib und Kinder in der Abwesenheit des Helden vor ihrem Bedroher
an den Altar geflüchtet sind, bis der Held kommt und sie rettet. Aber
wichtiger noch ist die Verschiedenheit. Im Herakles geschieht, was wir
erwarten: der Held straft das Verbrechen. In der Andromache denkt
Hermione in verzweifelter Angst an Heimkehr und Rache des Gemahls.
Aber die Dinge wenden sich ganz gegen alle Berechnung. Nicht der Rächer
kommt sondern der Retter, und wie der erste Teil so nimmt nun der
172 Griechisdie Literatur [100/101]

zweite dieselbe Wendung aus der Lebensgefahr zu glücklichem Ausgang,


mit dem entschiedenen Gegensatz freilich, daß dort die Unschuldige, hier
die Schuldige gerettet wird. Es ist als ob der Dichter den Zuschauer
narrte: er zeigt ihm, wie Schuld hart vor Sühne zu stehen scheint, und
wie statt dessen durch eine neue Schuld die alte überhöht wird.
Selbst wenn man sich hier die Einheit schaffende Kraft symmetrischer
und sogleich antithetischer Fügung aneignet, so bliebe immer noch der
letzte Teil des Dramas überschießend. Aber wäre das was ohne ihn übrig
bliebe überhaupt ein Drama? Vielmehr spürt man, noch ehe man sich
darüber genaue Rechenschaft geben kann, daß erst von dem Schlüsse her
die Einheit des Werkes verständlich werden wird. Dazu mag ein Blick
auf Racines Andromaque uns helfen. Der Franzose gruppiert seine
Figuren mit fast schematischer Regelmäßigkeit: Pyrrhus (so nennt er den
Euripideischen Neoptolemos) zwischen den beiden Frauen Andromaque
und Hermione, Hermione zwischen den beiden Männern Pyrrhus und
Oreste. Und aus dieser, man möchte sagen geometrisch klaren Grund-
stellung bewegen sie sich gegen- und umeinander wie zwischen den
Wasserbecken und Bosketts des Parkes von Versailles. Dabei hat Racine
mehr als er selber glaubte von den Voraussetzungen des Euripides über-
nommen, bei dem im Grunde jene Fügung schon vorhanden ist, nur
freilich ohne die letzte Symmetrie. Wodurch hat Racine die erreicht?
Dadurch daß er den Pyrrhus als Handelnden hinzugefügt hat. Bei
Euripi|des hingegen wird Neoptolemos erst zuletzt als Toter herein-
getragen. Vorher wurde er als Abwesender ersehnt und gefürchtet, freilich
auch vom Beginn des Stückes an immer wieder genannt. Denn als
Abwesender bestimmt er alles, was auf der Bühne geschieht. Damit aber
scheint plötzlich klar zu werden (so seltsam es noch klingen mag), daß
in dieser Person die Einheit des Euripideischen Dramas ruht.
Man rechne nach: Um Neoptolemos geht der Kampf Hermiones gegen
Andromache. Nur weil er abwesend ist, kann die Feindschaft so aus-
brechen, wie es geschieht. Nur darum darf Menelaos sich gebärden, als
sei er Herr im Hause. N u r darum muß der alte Peleus die Kämpfenden
trennen. Aber er kann es auch, weil er gleichsam den Abwesenden ver-
tritt und weil die Feigheit des Gegners keinen stärkeren Bekämpfer
braucht als diesen Greis. Ebenso im zweiten Teil: Vor Neoptolemos hat
Hermione Furcht und wir erwarten mit ihr seine Rückkehr. Statt dessen
aber kommt der hinterlistige Orest, nachdem er sich vorsichtig überzeugt
hat, daß „die Luft rein" ist, und er benutzt die Abwesenheit des Haus-
herrn und die Angst der jungen Gattin vor dessen Wiederkehr, um sie
mit den halben Worten des geschickten Verführers zur Flucht zu über-
reden. Dem Abwesenden hat er dort in Delphi hinterlistig Schlingen
gelegt, in die jener sich verfängt, während der Urheber seines Untergangs
ihm die Gattin aus dem Hause führt. Der letzte Teil ist nichts als der
Bericht vom Tode des Helden und die Totenklage an seiner Leiche, die
[101j102] Die griechische Tragödie und das Tragische 173

nur um dieses feierlichen Traueraktes willen aus Delphi hergebracht


worden ist und alsbald wieder dorthin zur Bestattung fortgetragen wird.
Die Kraft Neoptolemos also hält, mag sie auch selbst fast außerhalb
des Bühnengeschehens stehen, das Drama zusammen. Und Neoptolemos
ist der einzige, der darinnen so etwas wie tragische Haltung und so etwas
wie tragisches Schicksal hat. In seinem Zug nach Delphi, da er von dem
Gotte Rechenschaft forderte für den Tod seines Vaters Achill, lebt jenes
Aufbegehren gegen die höchsten Mächte, das Äschyleischen und Sopho-
kleischen Helden eignet, und diese gewaltsam starke Bewegung führt ihn
ja auch zuletzt in den Untergang. Aber um so erregender ist es, daß eben
dieser Neoptolemos niemals redend und handelnd die Bühne betritt. Die
Bewegungen, die sich vor unseren Augen abrollen, haben einen Gravita-
tionspunkt weit außerhalb ihrer.
Erst dadurch, daß Euripides die Schicksalslinie seines Helden ganz
am Rande oder jenseits des dramatischen Ereignisraumes entlang führt, |
wird dieser Raum frei für die Ereignisse und die Menschen des Dramas.
Hier kann sich nun die Fülle bewegten Lebens ausbreiten: Familien-
kämpfe und politische Feindschaft, Intrige und Befreiung, Hoheit und
Erbärmlichkeit - weit mehr Erbärmlichkeit! - „Mitleid und Furcht".
Man muß das Symbolische dieses Dramas zu fassen imstande sein. Dann
spricht es deutlich aus, wie allzu menschliches Geschehen sogleich den
Bereich füllt, den die heroische Gestalt und ihr Schicksal freigibt, wie
aber auch so noch das Heroische gleichsam drohend und Maße setzend
über den Grenzen aufsteigt.
Es ist durchaus nicht falsch, Euripides den Zerstörer der griechischen
Tragödie zu nennen. Aber wer so sagen will, muß sofort aller der Bereiche
gedenken, in denen derselbe Dichter schöpferisch gewesen ist. Indem jene
Spannung nachläßt, die bei Sophokles mit großartiger Einseitigkeit zuletzt
immer dasselbe tragische Grundgefüge erzwang, werden Einzelkräfte frei,
denen die eine von der Mitte her wirkende Kraft bisher keinen Raum
ließ. Die tragische Grundhaltung wird erst durchsetzt, dann ersetzt durch
eine verfeinerte Seelenkunde. Anstelle des großen Kampfes tritt die
Intrige, die im Sophokleischen Philoktet wohl schon die Mitte umspielt,
erst von Euripides aber in der Mitte selber gezogen wird, weil an ihr alle
menschlichen Kräfte und Schwächen lebendig werden. Während in der
hohen Tragödie Menschen fürstlichen Geschlechtes handeln, bei denen
Höhe der Geburt von vornherein Symbol ist für Größe des Seins, wird
jetzt der Gegensatz der Stände bedeutend. Und damit verbindet sich das
Nachdenken über ethische Probleme, während bisher „das Gerechte" eine
von niemandem angezweifelte Macht war, die auch dann, wenn der
Mensch sich gegen sie vergehen mußte, nach seinem Untergang in ihrer
Reinheit wieder da stand.
Noch eine Fülle anderer Teilkräfte nimmt man wahr. Von äußerer
Wirklichkeit hatte die tragische Grundspannung nur soviel an sich ge-
174 Griechische Literatur [1021103]

zogen, wie sie zur Realisierung bedurfte. Weit über dieses Notwendige
hinaus werden jetzt dem Dichter die Augen scharf für die Umwelt seiner
Menschen. Man versteht, daß vor allem am Anfang Raum für solche
Umblicke war. Im Ion hat der delphische Apoll die weiteste Wirkung.
In seinem Heiligtum spielt das Drama von der Wiedererkennung des
ausgesetzten Königsohnes. Da wird die Morgenfrühe, die der Reinheit
des Jünglings so ansteht, und zugleich das Haus des Gottes selbst ein-
bezogen | in das Drama: erst reinigt Ion den Vorraum mit Lorbeerzweigen,
besprengt ihn mit kastalischem Wasser, jagt die Vögel mit seinem Bogen
von den Weihgeschenken des heiligen Bezirks und den leicht verletzlichen
Baugliedern des Tempels, und alles das begleitet er mit Gesang. Der
Chor kommt, athenische Frauen, die zum erstenmal Delphi besuchen,
den Tempel des Gottes betrachten, einander die Figuren des plastischen
Schmuckes deuten und dann auf ihre Erkundigung von dem Tempel-
wärter freundliche Auskunft empfangen. Eine Fülle von Leben und von
Stimmung, fromme, heitere, naive, wird eingefangen, und die Verwandt-
schaft mit einer typischen Szene des Mimos - jener volkstümlichen, das
Alltagsleben nachbildenden Dichtungsart - ist erstaunlich, ob nun
Euripides dergleichen gekannt hat oder nicht, ja noch erstaunlicher wenn
er es nicht gekannt haben sollte. Denn dieses neue Verhältnis zu allem
Gegenständlichen der Umwelt überrascht in einer Tragödie und muß als
Symptom gelten für das veränderte Kräftespiel in ihrem Innern. Oder
man sehe die Szene, die etwa an derselben Stelle des Gesamtbaues in den
Phönizierinnen steht, dem Euripideischen Drama vom Untergang des
thebanischen Königshauses. Da hat der Dichter die homerische „Mauer-
schau", so daß alle die Variation des Themas bemerken sollten, ins
Dramatische übersetzt. Der alte sorgsame und etwas gebrechliche Diener
tritt mit der jungen Prinzessin, der die Mutter diesen Gang erlaubt hat,
aus dem Hause, spürt vorsichtig die Straße entlang, ob niemand den
Verstoß gegen die strenge Sitte bemerke, und hilft dann dem Mädchen
über die alte Treppe aus Zedernholz zum oberen Stockwerk hinauf. Von
dort oben kann man die Helden des feindlichen Heeres sehen, und über
sie geht nun das sehr bewegte Gespräch zwischen den beiden. Oder man
denke an die Szene des „Orestes", in der der Held schlafend auf dem
Krankenbett liegt mit den Spuren früherer Anfälle in Gesicht und
Gestalt, bewacht von der treuen Schwester, die den Krankenbesuch des
„Chors" mit Angst um den Schlummer des Bruders empfängt. Und dann
das Erwachen und der neue Anfall und Elektra immerfort als sorgsam
bemühte Pflegerin. Man muß bei Sophokles schon bis in das Werk seines
letzten Jahrzehnts hinabgehen, um irgend etwas von dieser Art zu
gewahren. Aber wie wenig ist selbst im „Philoktet" an Schilderungs-
momenten, die nicht unbedingt erfordert und von der tragischen Idee
her notwendig bestimmt würden. Euripides hat eine ganz andere Blick-
schärfe und den stärksten Willen, das was er sieht im Wort zu gestalten,
[103j105] Die griechische Tragödie und das Tragische 175

sei es das lauernde Schleichen eines der in die feindliche Stadt | vordringt,
sei es der müde Gang des Greises, sei es sonst Dürftigkeit, Verwahrlosung,
Krankheit. Bis zur Karikatur geht diese Genauigkeit, und besonders seine
Helden im Lumpenkleid hat sich die Parodie der Komödiendichter nicht
entgehen lassen.
Der Orestes hat eine Szene, die über mannigfache Tendenzen des
Euripides belehrt. Im Innern des Hauses kommt die Handlung auf ihren
erregendsten Punkt: Orest bedroht die Helena und ihre Tochter mit
blanker Waffe. Da stürzt ein phrygischer Sklave aus dem Tor und singt,
statt den erwarteten „Botenbericht" zu sprechen, in langer Arie was
drinnen geschieht. Hier ist es zunächst die Musik - die damals modernste
Musik, wie wir freilich eben nur ahnen - die ihr Machtgebiet überraschend
erweitert hat. Man glaubt sich für eine Weile aus dem Schauspiel in die
Oper versetzt, der Affekt wird weit mehr herausgetrieben, als Rede es
vermöchte, und daß der Hörer die bedrohlich gespannten Geschehnisse
durch diese Verhüllung hindurch zu sehen bekommt, verstärkt den Ein-
druck. Wichtig ist dann vor allem das orientalische Kostüm und Wesen
des Sängers. Bei Äschylus war das Unhellenische - der Ägypterherold in
den Schutzflehenden, die Perser - gleichsam Rest eines noch kaum über-
wundenen Zustandes, da Athen sich eben erst aus der Umarmung des
Orients befreite. Bei Sophokles fehlt das „barbarische" Element voll-
kommen — ganz ebenso wie am plastischen Schmuck des Parthenon.
Euripides hingegen hat sich gern der bunten Fremdheit bedient. Die
Phönizierinnen führen ihren Namen von den Frauen des Chors, der
durch eine künstliche Motivierung hier hereingezogen wird und in
Bühnenbild und Musik als Variation über ein Thema aus der Frühzeit
der Tragödie wirken sollte. In Helena und Andromache lebt die
Phantastik der fremden Küsten, an denen sie spielen. Orientalische Diener
begleiten Klytämestra, dieser Phryger unseres Dramas hat der Helena
mit seinem Federfächer Luft gefächelt wie einer Perserkönigin. Hier ist
nun im besondern das phrygische Kostüm charakteristische Hülle des
Feiglings. „Männer, nicht feige Phryger" hieß es kurz vorher. Und diese
scharfe Zeichnung typischer Sklavenfeigheit will jeden Augenblick in
Karikatur übergehen. Die komische Situation ist nahe und oft schon
erreicht, in der Arie selbst, dann als Orest mit dem gezückten Schwert
dem Sklaven ans Leben will und dieser durch glatte Schmeichelkunst den
Kopf rettet. Solcher Augenblick, in dem das komische Element die gefähr-
detste Lage durchdringt - an Calderon eher | als an Shakespeare er-
innernd — wäre bei Sophokles undenkbar. In den Äschyleischen Anfängen,
wo die Tragödie noch nicht völlig „ernst geworden" war, gibt es Ähn-
liches. Dorthin kehrt Euripides zurück, viel freigebiger allerdings und
bewußter in der Verwendung als Dissonanz. Und mag er damit dem
„Leben" näher kommen, das immer zugleich tragisch und komisch ist,
so bedeutet doch seine Vermischung der beiden Aspekte ein Nachlassen
176 Griechische Literatur [105j106]

der letzten tragischen Spannung. In der „Helena" hat vollends das


Komische, genauer das Phantastisch-Komische alles durchdrungen. Nicht
etwa an Parodie ist hier zu denken, wenn Euripides einer alten Dichtung
folgend die Helena verdoppelt und als Erregerin des troischen Unheil-
krieges ein Scheinbild nach Troja ziehen läßt, während die echte an die
Küste Ägyptens entrückt wird. Er sieht die komischen Möglichkeiten
dieses Stoffes. Die echte und die falsche Helena an e i n e m Ort, das
gibt beinahe eine Komödie der Irrungen, und die listige Intrige, mit der
dem Barbarenkönig die schöne Frau entführt wird, ist schon auf dem
Weg zur Burleske, nachdem in der Taurischen Iphigenie ein ganz ähnlicher
Vorgang ernsthaft behandelt worden war. Jetzt muß der König selbst
mithelfen an seinem eigenen Schaden, und vor seinen Ohren wird von
dem Entführungsplan in der Hülle doppelsinniger Worte geredet. Kecker
Doppelsinn an Stelle tragischer Ironie - an diesem Gegenüber ermißt
man den Wandel.
Wer das märchenhafte Element stärker auf sich wirken läßt, wird
vielleicht den Vergleich mit Shakespeares Sturm nicht ganz ablehnen. Hier
und dort ferne Küste, Schiffbruch, Gerettete. Dort der allwissende
Prospero, hier der Barbarenkönig, dessen Schwester ein ähnliches Wissen
von ihrem weissagenden Vater geerbt hat. Aber freilich - um von alledem
zu schweigen, was zuletzt doch jedem Vergleich die Kraft nimmt -
Shakespeare läßt in der „milden Herbstreife seines Sturmes" das Tragische
nur wie durch ein verklärendes Medium in der Tiefe gewahren. Bei
Euripides flackert es hier und da auf, in der Todesbereitschaft der
Handelnden, in der Gefahr des Wagnisses, und vor allem wird es jenseits
der Grenzen sichtbar als das schwere Unheil des großen Krieges; doppelt
bitter darum, weil er nicht einmal um die echte Helena sondern um ein
Scheinbild geführt worden ist; so bitter, daß von dorther das Komische
überall einen bösen und schneidenden Ton empfängt. Auf der Skala dieser
Euripideischen Komik aber hat die Helena den Höhepunkt inne, und
man kann, wenn man etwa die Andromache vergleicht, berechnen, wie
weit sich die tragische Kraft | zurückgezogen hat, um das Komische so tief
in den Organismus dringen zu lassen.
Lebensreichtum, Wirklichkeitsnähe, Abkehr von jener Absolutheit
Sophokleischer Tragik: das scheint der Dichter zu erstreben. Gehört hier-
her nicht auch jenes (mit Grillparzer zu sprechen) „Nationelle" an seiner
Dichtung, die Beziehung auf griechische Gegenwart, die seine Schutz-
flehenden zu einem „Lobpreis Athens" machen, alle jene Wirklichkeiten
des politischen oder religiösen Lebens, in die das mythische Geschehen
seiner Dramen zu münden pflegt: hier ein Heiligtum mit seltsam alter-
tümlichem Kultbrauch oder ein Heroengrab, dort eine staatliche Institu-
tion oder ein Fürstenhaus der eigenen Zeit? Diese Fülle lebendiger Bezüge
meint Goethe vor allem, wenn er „das so grenzenlose als kräftige
Element" rühmt, „worauf Euripides sich bewegt. Auf den griechischen
[106/1077 Die griechische Tragödie und das Tragische 177

Lokalitäten und auf deren uralten, mythologischen Legenden-Masse


schifft und schwimmt er wie eine Stückkugel auf einer Quecksilber-See
und kann nicht untertauchen, wenn er auch wollte". (An Zelter,
23. November 1 8 3 1 . ) Goethe spricht mit fast neidvoller Bewunderung
von dem, was einem heutigen Dichter fehlt und was dem Griechen tragen-
des Element war. Wir fragen, was dieser lebendige Vorzug für die
tragische Idee bedeutet, und sehen auf die Verschiedenheit der drei großen
Tragödiendichter. Sophokles hat (wenn man, wie billig, das letzte und
persönlichste Gedicht des Greises f ü r sich nimmt) die strenge Ab-
geschlossenheit durch solche Übergänge in „unser" Dasein nicht stören
mögen, so nahe es etwa im Aias gelegen hätte, den salaminischen Heros
und seinen Sohn als attische Ahnherren zu feiern. Äschylus wiederum hat
solche Ubergänge - in der Promethie, in der Orestie — gesucht. Aber er
und Euripides meinen etwas ganz Verschiedenes. Äschylus weiht die
großen staatlichen und kultischen Wirklichkeiten durch die tragischen
Taten, in denen ihr Ursprung gegründet ist. Euripides findet in etwas
Festem, Verehrtem, vertraut Vaterländischem ein willkommenes Aus-
ruhen von den Wirrnissen und Kämpfen. So werden wir auch diese
Euripideische Eigenheit deuten dürfen aus seinem neuen Verhältnis zur
tragischen Idee.
Beziehungen auf die lebendige Wirklichkeit seiner athenischen Mit-
bürger dringen auch sonst überall durch das Gefüge seines Dramas nach
außen. Abneigungen des Dichters - gegen die Herolde, gegen die Demago-
gen - sprechen durch den Mund seiner Personen. Über den Vorrang der
Fern- und Nahwaffen, der Vita activa oder contemplativa, über | Reich-
tum und Armut wird gestritten, oder es stoßen im Wortkampf die feind-
lichen Brüder zusammen, der eine, der sein Recht auf Herrschaft mit
Gewalt durchzusetzen kommt, der andere, dem Unrecht ein bloßes Wort
und Besitz der Macht höchstes Glück ist. Hier spürt man an der Heftig-
keit des Tones die Erörterung jener Jahre, aufgefangen und geadelt im
dichterischen Wort und doch nicht ganz gestalthaft geworden. Noch un-
mittelbarer vielleicht läßt Euripides die politischen Typen seiner Zeit
in dem Bilde einer Volksversammlung sichtbar werden oder bekämpft
das feindliche Sparta in dessen mythischen Repräsentanten.
Der griechische Dichter fühlt sich immer als Erzieher der Nation,
der athenische Tragiker insbesondere als politischer Erzieher in dem vollen
Sinne, den das „Politische" dort noch hat. So w a r Äschylus Mitschöpfer
seines Volkes geworden, und wenn er über seine und seiner Mitbürger
Politeia die Meinung sagt, so tut er es als Helden- und Göttergestalter
und in den Liedern des Chors, die alles Einzelne feierlich verhüllen.
Sophokles setzt die festen politischen und gesellschaftlichen Ordnungen
überall voraus, und das Handeln seiner Gestalten, mögen sie diese
Ordnungen verletzen oder sich ihnen beugen, ist der stärkste Beweis für
deren Bestand und Würde. So kämpft er sein Leben lang allein dadurch,
178 Griechische Literatur [107/108]

daß er unerbittlich die tragische Höhe hält, gegen den um ihn herein-
brechenden Verfall. Euripides ist selbst von allem diesem Chaos aufs
stärkste ergriffen. Leidenschaftlich ruft er seine Meinung zwischen die
Streitenden und wird anstatt Erzieher der Nation Mitkämpfer ihrer
Tageskämpfe. Wirken konnte er so nur auf Kosten der tragischen
Spannung. Die Folge aber war, daß seine Tragödie nicht mehr unberühr-
bar über den Zeiten stand.
Mit alledem haben wir uns längst dem höchsten Kreise genähert. Doch
gerade über die Religion des Euripides müssen wir uns mit Wenigem
bescheiden. Nichts freilich wäre bequemer als die „einschlägigen Stellen"
zu sammeln und ohne Rücksicht darauf, wer jeweils redende Person ist
und ob er etwa im Fortgang des Dramas widerlegt oder bestätigt wird,
den Glauben des Dichters durch Addition zu gewinnen. Die wahre Auf-
gabe ist sehr viel schwerer, und sie gehört nur so weit hierher, aber aller-
dings so weit, als die Idee des Tragischen von dort aus bestimmt wird.
Äschylus ist der große Schöpfer auch in diesen Bereichen. Doch sein
immer sich erneuendes Kämpfen um das reine Bild des Göttlichen ist nicht
zu verwechseln mit dem unruhigen Grübeln nach einer „Weltanschauung".
Er als einziger hat es gewagt, die Götter selbst werdend zu zeigen, j
werdend zum Sein. Und nur darum verharrt er im Suchen, weil das Bild
ewig verschleiert, der Name ewig unnennbar, der Weg unendlich ist.
Bei Sophokles ruht die Unerschütterlichkeit seiner tragischen Idee in der
Unerschütterlichkeit seines Wissens um die göttlichen Dinge. Euripides
scheint auch hier wieder dem Äschylus sich zu nähern. Denn wenige
haben so unaufhörlich nach Gott geforscht wie dieser „atheos". Er durch-
schaut das, was die Menge ihre Götter nennt, in seiner Unreinheit und
seinem Widerspruch. Er weiß, daß das Göttliche schwer zu erahnen und
seine Zeichen schwer zu erkennen sind. Und wenn er es unter mannig-
fachen Namen - Zeus, Äther, Dike, Ananke, Nus — gefunden zu haben
glaubt, so entschwindet es ihm wieder, weil ihm die Widersprüche des
Lebens diese Ordnung durchbrechen. Darum ist, was sich uns als Nach-
lassen der tragischen Spannung darstellte, in notwendigem Zusammen-
hang mit seinem Zergrübeln der göttlichen Welt, ja beides ist vielleicht
eines. Aber man begreift, was unser Zeitalter dem Euripides nähert. Sei
denn, nachdem wir den Kämpfen dieses Dichters durch viele Jahre gefolgt
sind, am Ende seiner fast letzten Schöpfung gedacht, in der dieser Kampf
die verwirrendste und ergreifendste Formulierung gefunden hat!
Aus dem Dionysos-Kult ist die Tragödie entstanden, und versucht
man sich klar zu machen, wie das zugegangen ist, so darf man gewiß nicht
(mit Nietzsche) an die Leiden des Gottes denken, die niemals dargestellt
worden sind noch - als heilig-geheimer Kultmythos - dargestellt werden
konnten; eher an die mannigfachen Sagen von heldenhaftem aber vergeb-
lichem Widerstand gegen den siegreich vordringenden Gott. Aber mag
über die Urtragödie wenig zu wissen sein, Äschylus jedenfalls hat jene
[108/109] Die griechische Tragödie und das Tragische 179

Sagen geliebt: Orpheus, der Thrakerkönig Lykurg, Pentheus erhoben


sich gegen den Stärkeren und gingen kämpfend zugrunde. Also greift
Euripides, als er am Ende seines fünfundsiebzigjährigen Lebens in den
Bacchantinnen das Geschick des Pentheus gestaltete, auf Ältestes zurück.
Fast scheint es, als hätte er auch das alte tragische Grundverhältnis, von
dem wir ihn mehr und mehr sich abwenden sahen, den heroischen Kampf
des Helden gegen übermächtiges Geschick, noch ein einziges Mal wieder-
hergestellt. Das Schicksal: das ist hier der neue Gott mit seiner alles über-
wältigenden Macht, und nirgends - bis zu dem späten Gräko-Ägypter
Nonnos — ist dionysischer Taumel in so bezwingenden Klängen von einem
Dichter geschildert worden. Der Kämpfer gegen alle die von diesem Tau]-
mel ergriffen sind und gegen den Gott selbst ist Pentheus. Er allein — so
einsam, scheint es, wie nur irgendein Sophokleischer Held:

Pentheus: Allein von ihnen bin ich Mann, der solches wagt.
Dionysos: Allein gibst du für diese Stadt die Kraft, allein!
Ja warten deiner Kämpfe, die du führen mußt.
Ganz geradlinig scheint er gegen sein Schicksal anzudringen. Er steht im
Wortkampf gegen Tiresias, dessen Prophetensitz er zerstören heißt. Den
„weibgestalten Fremdling", der des Gottes Verkünder zu sein bean-
sprucht, läßt er aufspüren und binden, um ihm den Tod zu geben. Nicht
die Drohung des Gefesselten, nicht das Wunder der Befreiung schreckt ihn.
Er will den Kampf hinaus in den Bergwald unter die Mänaden tragen.
Und indem er gewaltsam vordringt, rennt er in den Untergang, nicht
anders (scheint es) als Aias, als ödipus. Wie über die Sophokleisdien
Helden so kommt auch über diesen Kämpfer gegen das Geschick die
Geistesverblendung, die „Ate". Er läßt sich von der List des Dionysos,
den er eben noch hart behandelt hat, den Sinn umnebeln, dann läßt er
sich überreden, dann sich verkleiden. Welche „tragische Ironie", Wink
des hereinbrechenden Schicksals, schon als er einwilligt:

Hier schmücke du mich! Sieh, dir bin ich ganz geweiht.


Vollends am Schlüsse der Szene, als der Gott sein Opfer in der Gewalt
hat, weist jedes Wort mit schauerlicher Hintersinnigkeit auf das Ende:
wie er „erhöht" werden wird - auf der Spitze der Tanne; wie er „ge-
tragen" werden wird - sein Kopf auf dem Thyrsos der Mutter!
Dion: Denn wahrlich Kämpfe warten deiner — nach Gebühr.
Folg mir! Geleiter bin ich dir und Rettender.
Zurück führt dich ein andrer. Penth: Ja, die mich gebar.
Dion: Dich allen Augen kundbar. Penth: Danach zieh ich aus.
D'ton: Getragen kehrst du . . . Penth: Üppige Pracht ist was du sprichst.
Dion: In Mutter Händen. Penth: . . . und zu prunken zwingst du mich.
Dion: Ja, welcher Prunk! Penth: Mir wird was mir gebührt zu Teil!
180 Griechische Literatur [109j!10]

D I O N : Du Hoher, Hoher, hohem Schicksal ziehst du zu,


Ruhm findest du, der aufwärts an den Himmel rührt.

Und dann geht Pentheus in die Vernichtung.


Gewinnt wirklich Euripides in den Bacchantinnen das tragische
Grundgefüge wieder, das er seit so langem schon aufgelöst hatte? So
fragen heißt auf der Ebene unserer Betrachtung das Problem von neuem
stellen, das man von je als ein religiöses viel umstritten hat: ob Euripides I
der Skeptiker als alter Mann in den Schoß des Väterglaubens zurück-
gekehrt sei. Uns bleibt zu erforschen, ob jener tragische Aspekt, wie er
sich bisher darstellte, ungebrochen durch das Ganze geht.
Wie sind die Mächte gestaltet, gegen die Pentheus kämpft? Nachdem
zuerst in dem Gott Dionysos der Eroberer sichtbar geworden, dann in
dem Chor die fremdländische Ekstase und Besessenheit, die „aus phry-
gischen Bergen in die weiten Straßen von Hellas" sich ergießt, tritt ein
seltsames Paar daher: Tiresias, der alte blinde Seher, und der noch ältere
Kadmos. Sie tragen bacchisches Gewand, Epheu im Haar, schwingen
Thyrsosstäbe. Sie fassen sich an der Hand, üben sich im Tanzschritt des
neuen Gottes und wanken schließlich aufeinander gestützt lächerlich und
zuchtlos davon. Inzwischen aber haben sie ihr Wesen enthüllt, besonders
als Pentheus ihnen entgegentrat: der Seher, der alte und kalte Fanatiker,
der mit sehr bedenklicher theologischer Apologetik das Dogma von dem
neuen Gotte verkündet — wie fern jenem Tiresias der Sophokleischen
Tragödie, in dem das Schicksal menschliche Stimme gewann! — und dann
der gebrechliche Greis, der aus Hauspolitik sich der neuen Lehre ver-
schrieben hat und den Pentheus mahnt:

Denn ist auch dieser Gott nicht wirklich, wie du sagst,


So führ ihn doch im Munde, breite ertäuschend aus,
Er sei - daß Mutter Gottes Semele geglaubt,
Uns aber Ehre und unserm ganzen Hause wird.

Also ein Mummenschanz, der sehr bitteren Geschmack zurückläßt. Und


wie ist der Gott selbst geartet, der alles in echten oder auch erlogenen
Rausch hineinzieht? Gewiß, man glaubt seine Macht zu verspüren, und
es ist ein großer Zauber, der von dem schönen, fast noch knabenhaften
Jüngling ausgeht. Aber hat man nicht behaupten können, Euripides meine
mit dieser Gestalt gar nicht wirklich den Dionysos? Eine These, die doch
nur darum möglich war, weil es allerdings Augenblicke gibt, in denen man
fragen möchte, ob sich hier der Gott in seinen Diener verkappt, oder ob
ein kühner Betrüger den Gott agiert. Ist nicht die tragische Höhe schon
verlassen, da Pentheus gegen ein Blendwerk zu kämpfen hat? Schlägt
nicht das Wunder fast ins Komische um - eine groteske und grausame
Komik! - wenn wir aus dem Munde des Gottes hören, wie er den Pentheus
verblendet habe, einen Stier an die Krippe zu fesseln, da er den Gott zu
[1101112] Die griechische Tragödie und das Tragische 181

fesseln meinte? Ist nicht dieser Gott, statt erhabener Repräsentant des
Schicksals zu sein, bewegt von sehr irdischer Rachsucht? |
DIONYSOS: Dionysos, an dein Werk denn! Bist jetzt nicht mehr fern.
An ihm nimm Rache!
Er soll mir ein Gelächter den Thebanern sein,
Ihn weibgestaltet führ ich mitten durch die Stadt
O b seines Drohens, drin er jüngst ein Meister war.
Am Schluß vollends enthüllt sich der Unwert dieses Gottes, wenn er
gemessen wird an der sittlichen Forderung der Menschen. Er muß sich von
Kadmos vorrücken lassen:
An Grimm nicht Göttern ziemts zu gleichen Sterblichen -
und weiß nur eine matte Entgegnung, mit der er die Schuld auf den
höchsten Zeus hinüberwirft. So wenig Größe bleibt dem, was zuerst alles
zu erobern oder zu vernichten schien.
An dem K ä m p f e r gegen dieses Schicksal wird Ähnliches deutlich.
Gewiß war in Pentheus' Energie des unbedingten Wollens etwas, was
an Sophokleische Helden erinnert. Aber schon dieses trennt ihn, daß an
der Tragik andere neben ihm mittragen: wahrhaft ergreifend Agaue die
Mutter, dazu ihre Schwestern, am Schluß sogar Kadmos. Mehr noch, an
Pentheus selbst nimmt man Züge wahr, die tragischer Höhe widerstreben.
Bildende Kunst stellte ihn oft dar, wie er als kriegerischer Held gegen die
Mänaden kämpft, und so hatte wahrscheinlich schon Äschylus gedichtet.
Hier aber wird dieses Motiv gekreuzt durch ein anderes. Seine Neugier,
merkt man, ist gereizt und mit ihr seine Lüsternheit, und er läßt sich nach
einigem Sträuben nicht ungern das Wagnis aufreden, in Weiberkleidung
unter die Weiber zu schleichen. So tief entwürdigt der Dichter seinen
Helden. Wenn Sophokles den Aias in der Erniedrigung zeigt, so richtet
er alles darauf, ihn wiederherzustellen. Pentheus aber kommt erst als
zerstückelter Leichnam in den Kreis zurück, den er in der lächerlichen
Verkleidung verlassen hatte. In sein Heldentum hat der Dichter ein
Stück menschlicher Niedrigkeit gemischt, wie das große Schicksal in diesem
D r a m a an Erhabenheit einbüßt durch einen Zusatz von Absurdität und
einen Mangel an sittlicher Würde. So wird der tragische Aspekt des
Lebens, der in dieser Dionysostragödie sich noch einmal zu erheben
schien, um seine letzte Erfüllung gebracht. Der Dichter steht nicht ein
für seinen Helden, weil er unbedingte Menschengröße nicht mehr zu sehen
vermag und deshalb nicht mehr gestalten will. Die Schicksalsmächte aber
hat er zu sehr durchgrübelt, als daß ihre Majestät ihm noch unerschütter-
ter Glaube wäre. Pentheus ist königlicher Kämpfer, blinder Draufgänger
und lüsterner | Schwachkopf in Einem, Dionysos zugleich sieghafter Gott
und verblendender böser Dämon. Denn Euripides findet im Leben
immer das Tragische und Untragische und Widertragische zugleich. D a s
182 Griechische Literatur [112]

hohe und das niedere Bild der Dinge verschlingt sich ihm nidit wie
dem Shakespeare so, daß das eine das andere hebt und beide in unge-
heurer Spannung eine Welt erzeugen, vielmehr durchdringen sie sich, das
eine hebt immer das andere auf, und statt reinen Lichtes gibt es einen
sdiwankenden, wenn auch farbenvollen und bezaubernden Schein. Das
Jahrhundert der hohen Tragödie war abgelaufen, als dieses Spiel nach
dem Tode des Meisters an seinem zerrütteten Volke verwirrend, auf-
reizend und ergreifend vorüberzog.
IIoM.& xa öeivä

(Sophokles, Antigone 332-375)

1934

I. Zur Metrik

Die Beschreibung des Tatbestandes in seiner gleichsam äußerlich faß-


barsten Schicht ist einfach. Wilamowitz 1 und Schroeder2 stimmen weithin
überein. N u r in der zweiten H ä l f t e des zweiten Strophenpaars von jkxvto-
jiogog ab gehen sie auseinander. Schroeder mißt iambisch weiter, so daß
dann ganz zuletzt mit scharfem Umbruch eine trodiäische Klausel bleibt:
^ufwiEcpgaoTcn — og ta6' eq5ei. Wilamowitz mißt trochäisch durch und erklärt
die Umbiegung am Schluß für scheinbar. Aber auch nach seiner Analyse
ist das letzte Metron „scharf abgesetzt".
„Iambisch" und „trochäisch" sind in der Tat manchmal nur verschiedene
und unzulängliche Namen für dieselbe Sache (z. B. bei dem „Lekythion"
— v^— v , — ) . Aber in unserem Lied versuche man laut und rhythmisch
Trochäen zu lesen und achte darauf, wie oft dem natürlichen Wort- und
Sinneinschnitt Gewalt geschieht. So hatte man schon immer iambisch
gemessen, als noch andere metrische Theorien herrschten (z. B. Jebb, Aus-
gabe S. L X I ) . Man darf und muß sich entscheiden, und zwar gegen
Wilamowitz. Voraussetzung, daß Sprachkörper und metrische Form als
lebendige Einheit gewachsen sind.
Von dieser Grundüberzeugung aus gelingt es hier (was durchaus nicht
überall gelingt), noch eine tiefere Schicht metrisch-rhythmischen Seins auf-
zudecken, Tatbestände, die sich nicht mehr mit den mathematisierten
Zeichen der formalen Metrik beschreiben lassen3.
Erstes Strophenpaar. Unter den vier Glykoneen weicht der erste in
der Einzelbildung ab, wie auch sonst gelegentlich (Philokt. 1 0 8 1 . 1 1 2 3 ) :
er ist „choriambischer Dimeter". Das kann man nur beobachten und vor-
läufig nicht weiter deuten. Wichtiger, weil deutbar, ist die Beobachtung
von Wilamowitz: „Wortschluß sondert die Glieder außer den ersten

[Hermes L X I X , 1934, S. 56-63.]

1 Griechische Verskunst 516.


2 Soph. Cant. 11.
3 Vgl. W. Krauss, Strophengestaltung in der griedi. Tragödie, Sitz.-Ber. österr. Akad.
2 3'> 4 ('957)> " 4 f.
184 Griechische Literatur [56/57]

beiden Glykoneen". Das muß positiv gewandt werden. Das Wort


avflpoMtou in der Strophe (und öqviöcov in der Antistrophos) überbrückt die
Grenze. „Mensch" aber ist das Hauptwort des ganzen Gedichts (und die
„Vögel" beherrschen wenigstens einen kleinen Abschnitt). Man kann es beim
Lesen spürbar werden lassen, wie das zugleich sinnbeladene und rhyth-
misch schwere „molossische" Wort noch dadurch | sich heraushebt, daß es
auf der Brücke zwischen sonst getrennten Gliedern steht.
Nach vier Glykoneen „enhoplische Klausel" (Wil. Sehr.): w —

— w "/Moei j-t£Qißoir/ioiai. Aber der Enhoplier unterscheidet sich doch


nur durch den Zusatz einer Anfangssilbe von dem Pherekrateus, den man
nach Glykoneen erwartet. Andrerseits ist es gerade diese Vorsilbe, die ihn
den folgenden Iamben anähnelt. Also statt Klausel besser Verbindungs-
glied. Und daß Klausel falsch und Verbindungsglied richtig ist, zeigt die
Satzfügung: nicht Abschluß, sondern Übergang.
Ein iambischer Tetrameter folgt. In der T a t ist nicht abzusehen, wie
man sich dieser Deutung (Wil. Sehr.) entziehen soll. Und doch setzt sie
hinweg über den scharfen Einschnitt - äva> otiyht] in Strophe und Gegen-
strophe — jieqwv viji' oiö|j.aaiv = jispicpgaSTig avr]Q: einen Sinneseinschnitt,
der sich metrisch nicht fassen läßt, vielmehr das metrische Gebilde in zwei
Teile zerschneidet, von denen keiner eine metrisch sinnvolle Einheit ab-
gibt. Dieser Widerspruch ist nur festzustellen. Deuten läßt er sich (vor-
läufig) nicht.
Sinnvoll deutbar hingegen ist der metrische Umbruch aus dem äolischen
Teil in die Iamben, Umbruch, auch wenn der „Enhoplier" als eine A r t
Ubergang erscheint. Das Gradeaus des Hinüberdringens (jteQcov) inmitten
der brüllenden und sich um und über das Schiff wölbenden Wellen gibt
der neue Rhythmus wieder, und in demselben Rhythmus drückt sich aus
die Unerschütterlichkeit der Erde gegenüber der Bewegung, die sich an
ihr vollzieht: eine daktylische Reihe symbolisiert diese neue Bewegung.
So steht der iambische Tetrameter in einem rhythmischen Gegensatz so-
wohl nach vorn wie nach hinten. Diese Wendung nach zwei Seiten bedingt
den scharfen Einschnitt hinter oiöjxaaiv. Warum er freilich an diese
metrisch kaum erklärliche Stelle zu stehen kam, dafür wissen wir auch
jetzt keine Deutung.
Nach den Daktylen trimetrische „iambische" Klausel mit schweren
Synkopen, wobei der N a m e „iambisch" nur als vorläufiges Verständigungs-
mittel stehe. Nicht zufällig ist der Anklang an den Ithyphallicus. Boedkh4
wollte die beiden schweren Silben: Strophe [jutsi- Antistrophos ovqei-, an
die daktylische Reihe anhängen. Damit überhörte er den starken Ein-
schnitt nach ETog in der Strophe und nach ¡¡uyov in der Antistrophos, und
er ließ den schweren spondeischen Einsatz verloren gehen. Aber er hörte
den ithyphallischen Abschluß, den man bei der Benennung als Iamben zu

4 Des Sophokles Antigone, 1843, 30.


[57158] Ilo/.Xa ra 8eivd 185

überhören in Gefahr ist. Die Reihe als ganze gehört doch wohl zu der
Klausel tö rtüv 6r) xMovoiv äXyoi, die Wilamowitz, Verskunst 250 f. in nicht
redit treffendem Zusammenhang behandelt hat. Der spondeische Beginn
an unserer Stelle zeigt das Irrtümliche seiner Behauptung: die erste Silbe
sei immer kurz. Hier wirkt gerade der schwere spondeische Einsatz stark.
In ihm und dann | überhaupt in dem rhythmischen Gegensatz der Klausel
gegen die vorhergehenden Daktylen zeigt sich nach der unaufhörlichen
Bewegung der Pflüge die schwere Arbeit des Gespanns.
In der Gegenstrophe steht an derselben Stelle, wo in der Strophe der
Seefahrer seinen geraden Weg fuhr, „der umsichtige, einsichtige Mann", wo
in der Strophe die feste Erde stand, das Überlegene seiner Listen. Auch
hier die Festigkeit in Iamben gegeben. Auch hier ähnliche Wendung gegen
das, was vorhergeht, und das, was folgt. Die Jagd auf Vögel, Landtiere,
Fische vorher in Glykoneen, das wilde Getier der Berge und die Bändi-
gung des Rosses in Daktylen. Als schwerer Abschluß, dem pflügenden
Roß in der Strophe entsprechend: der ungebändigte Bergstier.
Zweites Strophenpaar. Drei Prosodiaka, das dritte um ein iambisches
Metron erweitert: so Wilamowitz und Schroeder. Keiner von ihnen wird
diese Erweiterung mechanisch genommen, den Anklang des dritten er-
weiterten Prosodiakon an den alkaischen Zehnsilber überhört haben.
Dieses erste Stück mit den vielen Doppelsenkungen drückt in der Strophe
die Wendigkeit der Sprache und des Denkens, in der Gegenstrophe den
Erfindungsreichtum aus. Freilich in der Gegenstrophe schon mehr als das:
auch die Entscheidung zwischen Übel und Gut.
Das folgende große iambische Stück gibt in der Strophe zunächst den
Häuserbau, also etwas weit Standfesteres als die geistige Bewegung vor-
her; in der Antistrophos die Festigkeit von Gesetz und Recht. Dann
weiter in Strophe und Antistrophos das rhythmisch unüberhörbare
Gegenüber jtavtoxcoeog-ajtoQog und xnjiL-To/.ig-a^oXig. Die Festigkeit der fort-
schreitenden Iamben entspricht in Strophe und Antistrophos dem Gedan-
ken, was keiner Ausführung mehr bedarf. Die starken Synkopen fallen
sehr ins Ohr. An diesen Synkopestellen scheinen mit Vorliebe besonders
bedeutende Wörter zu stehen: Strophe tpsiiyEiv Antistrophos bvoqxov,
Strophe "Aiöa Antistrophos T6?.|iag.
Scharf hebt sich zuletzt ab in der Strophe |un.JiE(peaaTai, in der Anti-
strophos og taö' eqöei, dort noch einmal die Fülle des erdenkenden Sinnes,
hier noch einmal das Entscheidungsvolle des Handelns in ein einziges
Metron zusammengefaßt.

2. Zur Musik

Uber die Musik eines griechischen Chorliedes oder Einzelgesanges


können wir nur von fern weniges ahnen. Pindars Pythien I ist eine
einzigartige Ausnahme, die gar nicht genug studiert werden kann, wenn
186 Griechische Literatur [58]

auch hier das „Echtheitsproblem" für viele den Weg versperrt. Aber
wenn man bedenkt, daß „Accent" eine Ubersetzung von JiQoatpöia ist, so
müssen die traditionellen Accente, wie mechanisiert auch immer, etwas
von der Sprachmelodie wiedergeben. Versuchen wir es mit IloXXd xa öeiva,
indem wir nur dort die Accente einsetzen, w o sie in Strophe und Gegen-
strophe auf derselben Silbe stehen.

Str. und Antistr. i

Str. Vers 1 . . . av&QtoJtov . . . neXei

Ant. 1 . .. OQvidcov . . . oyei

Str. 2 . . . JIEQOV JCOVTOV . . . Xei|A£ßitp VOXCp

Ant. 2 . . . edvr) j i ö v t o u . . . EivaXiav qruaiv

Str. 4 • . . jtEQCov i m ' o i ö j i a a i v ö e w v t e

Ant. 4 • .. jiEQiqpQaöf)s avriQ. xpaxEi 8e

Str. 5 • . . a x a ( x a t a v airotgiiETai

Ant. 5 . . ooecrcrißäxa Xacriaii/Eva

Str. 6 . . . exog eig Exog

Ant. 6 . . auxpiXocpov ¡¡vyov

Str. 7 . . IJlJtEtCp Y E V E l JtoXElJCDV

Ant. 7 .. o v q e i o v x' ax(ir)xa x a ü p o v

Str. und Antistr. 2

Str. Vers 1 . . . xal cpfteyna y.ai ave|xöev

Ant. 1 . . . aoqpov ti to ht)xov6ev

Str. 2 . . . qjQovrina v.ai affxirvöfioug

Ant. 2 . . . TEXva.5 unep eXiuö' e/cov


[58] IloXXa xa Öeiva 187

Str. 3 • . . OQYÜg eöiödlato xai öuaauküv

Ant. 3 •. . TOTE (XEV xaxov aXXox' en eaMov EQJIEI

Str. 4 • . . rcaycov . . . ßeXri

Ant. 4 • . . vo(.iot)g . . . öixav

Str. 5 • . . jtavtojtoQOc; • ajiopog EJI' OVÖEV egxeTai

Ant. 5 • . . mpuioXig • änoXig OT<J> TO |ii| y.aXov

Str. 6 .. TO HEXXOV • 'Aiöa |i6vov <pei|iv oux Ena|etai

Ant. 6 .. IrvEati ToX(xag %ä.Qiv |WIT' E^OI jiaQEtmog

Str. 7 . . voacov 8' afxrixävcov cpir/ag ovurtEqppaaTai

Ant. 7 .. "/EVOITO UTIT' iaov cpQovcov og T&Ö' EQÖEI

Man darf nie vergessen, wie mechanisiert die von den Grammatikern
festgesetzten Accente sind. Aber auch so wird man die Ton-Analogie
zwischen vielen Elementen von Strophe und Gegenstrophe nicht über-
hören oder übersehen können. Hier und da ist auch Wortklang zwischen
Strophe und Gegenstrophe sehr verwandt; aber die von den Gram-
matikern festgesetzten Accente stimmen dazu nicht. Dies und vieles
andere bedarf der Untersuchung. Vielleicht sollte man Betonungen ver-
schiedenen Ranges einführen. Man vergleiche

Str. i V. 8 ijMieitp
Ant. i V. 8 OVQEIOV.

Vielleicht hat die erste Silbe von ijt-jieL-tp einen Ton zweiten Ran-
ges, die zweite Silbe den Hauptton; in OV-QEI-OV ist es vielleicht umge-
kehrt. Oder man vergleiche
Str. 2 V. 4 itavToitoQog • ajiopog
Ant. 2 V. 4 wiiijioXig • äitoXag

Der Parallelismus ist so genau, daß man sich wundert, wenn JtavroJtopog
und w|>[jtoAig verschiedene Accente haben. In der Musik glich sich
dieser Gegensatz vielleicht aus. Vielleicht glauben wir zu fest an die
überlieferten Accente? Vielleicht - vielleicht -
188 Griechische Literatur [58/59]

j. Zur Interpretation

332 öeiviiv. „Vieles Gewaltige gibts, doch nichts / Ist gewaltiger als der
Mensch" - so Hölderlin in dem Entwurf von 1801 5 . Daß Solger (1808)
und Boeckh (1843), die diesen Entwurf nicht kennen konnten, fast buch-
stäblich auf dasselbe „verfielen", macht ihnen keine Ehre. In der gedruck-
ten Hölderlinübersetzung von 1804 hieß es weit treffender: „Ungeheuer
ist viel. Doch nichts/Ungeheuerer als der Mensch." Das Wort „ungeheuer"
wohl immer | in Gefahr, sich zum gewaltig Großen zu verflachen, vergißt
doch im älteren Deutsch kaum je seinen Ursprung. „Der ursprüngliche
Begriffskeim wird noch jetzt in nicht geheuer erhalten sein, wesentlich
gleich, unheimlich", Grimmsches Wörterbuch. „Alliu creatiure, gehiure und
ungehiure" mhd. Schlimm genug, daß noch Wilamowitz (Versk. 516) sich
gegen die „dumme Ubersetzung ,viel Gewaltiges"' wenden mußte. Das
Aischyleisdie Vorbild IloXXd (iev yä tgecpei öeiva ösi^atcov axri (Cho. 585 ff.)
lehrt in der Tat, daß Sophokles den Ursinn in öeivög nicht vergessen haben
kann. Noch gewisser lehrt es Sophokles selbst. Es gibt wenige Fälle bei
ihm, in denen ÖEivog, durch Infinitiv oder Dativ oder Nomen klar be-
stimmt, die bekannte Sonderbedeutung des „in einem bestimmten Bezirk
Fähigen" hat ( X e y e i v av öeivög, Y^wacrr|i ai> öeivög, öeivög fivioatgötpog). Aber
von dieser Sonderverwendung abgesehen, fehlt dem öeivög bei Sophokles
nie ein Zuschuß des Furchtbaren, des „Ungehiuren", am allerwenigsten
dem Neutrum: ÖEivd xoX|iäv, öeiva fteaiuaag, egya 8eiva, jteitovfta öeivä, xd
öeiva yä.Q toi jiQoatiftria' öv.vov jioXvv, xd öeiv' exeiv' EjuiJtEiXr|[ievoi und vieles.
334. Daß toüto nicht adverbial sein kann, sondern Subjekt ist, darüber
ist man sich jetzt wohl einig, xoüxo xai jtöXeig in 296 stützt diese Deutung
von außen. Daß aber xoüxo steht, nicht ouxog, ist bedeutsam: „dieses un-
geheure Wesen". Und nun wird sein Tun durchverfolgt durch die mannig-
fachen Bezirke menschlichen Tuns. Die Schiffahrt als Wagnis ist ein
Gemeinplatz geworden: illi robur et aes triplex . . . Aber daß auch das
Pflügen, dieses Aufreißen, Aufreiben der doch unvergänglichen, nimmer
zu ermüdenden Erde, der Göttin Erde, die den höchsten Rang unter den
Göttern hat, daß dieses Unternehmen etwas „Ungeheures" ist, das hat
außer Sophokles vielleicht niemand ausgesprochen. Das Fällen des Bau-
mes, das Schöpfen aus der Quelle muß in der Urzeit oft mit ähnlichem
Schauer umgeben gewesen sein, wie Sophokles ihn hier empfindet. Das
quellhütende Ungetüm des Mythos, die Opfergaben an den fließenden
Quell und der Baumkult zeigen das.
343-364. Auch in den beiden folgenden Strophen muß dieser Klang
des Gefährlichen gehört werden, wenngleich die ÖBivoxr^g im Sinn des ÖEivog
ayew, kqo.teiv, X e y e i v jetzt zu überwiegen scheint. Umfaßt das erste Stro-
phenpaar das, was man die Naturformen des menschlichen Daseins nen-

5
Werke V i, vH., vgl. ebendort S. 343.
[59j60] IloUa to öeiva 189

nen könnte, so f ü h r t Strophe 2 z u den Geistformen hinüber: Sprechen


und D e n k e n , Staat und H a u s . D a s H a u s , zugegeben, d a ß es auch den
N a t u r f o r m e n hätte zugeordnet w e r d e n können, gehört z u m Staate, näaa
yäg avyneitcu itoks ¿1 otxicöv: Aristoteles, Politik I, 2. A m E n d e dieser
Strophe erhebt sich m i t dem schweren "Ai5a die Macht des Todes als
einziges Hindernis. A b e r das ist nur die äußerste Grenze, auf die der
Blick gelenkt w i r d , ohne an ihr h a f t e n z u bleiben. So schließt denn die
Strophe nicht damit, sondern mit dem Ungeheuren der H e i l k u n s t - das,
auf verschiedener Höhenlage, im B l i t z t o d des Asklepios und im Märchen
v o m G e v a t t e r T o d anschaulich w i r d — und | mit dem menschlichen E r -
sinnen: li>HJtE(pQacn:ai. Es ist nicht dies, d a ß Sophokles den T o d nicht
unbedingt genug sieht, w e n n er ihn nicht ans E n d e stellt: ¡xovov zeigt das
Gegenteil. A b e r er konnte diese G r e n z e der Menschheit nicht E n d e der
Strophe sein lassen, ohne die Richtung des G a n z e n z u gefährden. W i l a m o -
w i t z : „ U n d w e n n nicht den T o d , so doch die K r a n k h e i t e n zu bezwingen
(so ist die P a r a t a x e gemeint)." D a s schwächt doch die ungeheure Wucht
eben dieser P a r a t a x e .
3 6 5 - 3 7 5 . A m A n f a n g der zweiten Antistrophos w i r d in z w e i Proso-
d i a k a alles Vorhergehende zusammengefaßt, im dritten erweiterten
Prosodiakon der neue Inhalt dieser Strophe hingestellt. D a ß diese drei
P r o s o d i a k a das wichtigste Bauglied in der Architektur des ganzen Liedes
sind, hat man immer gesehen. D i e Deutung 6 , die man gern nachspricht 7 :
alles Vorhergehende stehe z u diesen Versen in konzessivem Gegensatz,
und jetzt erst k o m m e der f ü r den Dichter wichtigste G e d a n k e , f ü h r t auch
v o n der grammatisch-logischen Formulierung abgesehen in die Irre.
M i t tote |xev vmv.ox uXXot' ejt' eaftXöv EQjTEi w i r d das Entweder—Oder
gesprochen. I m folgenden schwankt Lesung und Interpretation mannig-
fach. Jebb und Bruhn geben das Richtige (das Pearson mit dem unmög-
lichen jieqouvcov - k a n n man Aecdv 6ixr|v negaiveiv? - und mit dem K o m m a
hinter eqjiei, dem K o l o n hinter Öi/.av wieder verdirbt): K o l o n nach eq^ei,
K o m m a nach öiv.av, K o l o n nach v^bioXi; und yeqcuqcüv (Reiske) als das
Beste w a s f ü r das unverständliche itageigcov vorgeschlagen ist. D a s Ent-
w e d e r - O d e r v o n tote nEv-äXXoTE w i r d durchgeführt: w o r i n schlechtes,
w o r i n edles H a n d e l n besteht und w i e es w i r k t : d a ß man die Staatsge-
meinde entweder erhöht oder aber verneint, vernichtet; daneben e t w a
noch: d a ß man entweder z u hohem R a n g e k o m m t in der Staatsgemeinde
oder aber sich selbst v o n ihr löst. U n d gezeigt w i r d , w a r u m das so ist: das
Recht, das man ehrt (und also auch das man verletzt), ist göttliches Recht.
F ü r oder gegen dieses entscheidet sich der Mensch im E n t w e d e r - O d e r . U n d
d a r u m auch der Schlußsatz, in dem das Ich des Chores spricht, das Lied
also aus seiner Allgemeinheit hineingezogen w i r d in den Zusammenhang

6 Bruhn zu 365 ff.


7 Strobcl, Zur Kompos. d. soph. Ant., Diss. 192s, 18.
190 Griediisdie Literatur [60/6Í ]

des dramatischen Geschehens: weil göttliches Recht verletzt wird, darum


trenne ich mich von dem, der so im Handeln sich entscheidet.
D i e Frage der Kommentatoren, ob dieses Lied überhaupt mit dem
dramatischen Geschehen etwas zu tun habe, und wenn ja, ob es auf Anti-
gone gehe oder auf Kreon, all dies H i n und H e r zeigt nur, in welcher
Höhenlage sich die Tragikererklärung noch weithin bewegt. Ungeheures,
Gewaltig-Entsetzensvolles ist w a h r h a f t i g genug geschehen und gesagt
worden seit Antigones zweitem Verse: ö d i p u s ' Unheil, Befreiung der
Stadt und T o d ] so vieler Helden, Wechselmord der Brüder, Kreons
Befehl und die Übertretung dieses Befehls. Noch ist der Täter des einen
ÖEIVOV nicht entdeckt, noch ist die Frage: was ist xaxóv, was EaftXóv, nicht

geklärt. Eben hatte der verblendete Kreon das Geschehene gemeint aus
gemeiner Gewinnsucht verstehen zu können, mit den Worten, die an das
Chorlied anklingen (296 T O Í T O X A Í ~ 3 3 4 . TOÜTO xaí jtóXeig jtopfteí, TÓ8'
avöpag elavíatriaiv 8ó[icüv gibt vortrefflich die beiden Bedeutungskompo-
nenten von ajtoXig 370, die w i r vorher heraushoben). In dieser Schwebe-
lage und unmittelbar v o r der nächsten Stufe der Tragödie, auf der zu der
T a t der Täter gestellt wird, hört man das Lied von der menschlichen
ÖEivoTTi;: von der Grundverfassung des Menschen, der tragischen G r u n d -
verfassung.
Nicht daß der Mensch durch Geisteskraft in allen Lebensbereichen
K u l t u r schafft, allem gewachsen, nur dem Tode nicht, macht f ü r sich schon
das „Ungeheure" seiner Existenz aus, auch nicht allein, daß er sich als
Handelnder f ü r G u t oder Schlecht entscheidet. Wohl aber, daß eben dieser
mit so unheimlichen, mächtigen, schöpferischen Geisteskräften Begabte
sich f ü r Gut oder Schlecht entscheidet; daß er die Satzungen, die er durch
seine eigene Geisteskraft - seine áaxm-ó|xoi 09701 - geschaffen, mit der Ent-
scheidung seines Handelns entweder ehren oder aber gewaltsam ver-
letzten kann; daß er die Staatsgemeinde, die er selbst geschaffen, erhöhen
kann oder aber verneinen: erst in dieser Dialektik vollendet sich die
ÖEivotTig des Menschen, offenbart sich das menschliche Dasein als wesent-
lich tragisches Dasein.

4. Zur Ideengeschichte

1. Dichterisches Vorbild w a r das große Chorlied der Choephoren


(585 ff.) IloXXá ¡-lev yä teécpgi öeiva Ssiiiáxcov a/iq. Was sich bei Sophokles in
drei Worte zusammendrängt IIoAXá t a öeiva, breitet sich bei Aischylos
durch die ganze Strophe 1 aus: das Ungeheure in den Bereichen der Tiere
und der elementaren N a t u r . Diesem Vielen tritt gegenüber (á).lá) in
vielen Strophen ein Einziges: das Ungeheure im menschlichen Bereich -
auch dies ÖEIVOV und AXOG (634/5) - nämlich der über alles Maß wagende
Sinn des Mannes und die alles wagende Liebesleidenschaft des Weibes.
[61j62] IloXXä x a ÖEiva 191

Das führt ins Verderben. Dike Aisa Erinys walten, wie in den früheren
mythischen Geschehnissen, die als Exempla eingeflochten sind, so jetzt
im Schicksal des Atridenhauses. Im einzelnen braucht uns der weit
gedehnte und in sich gestufte Bau des Aischyleischen Liedes hier nicht zu
kümmern. Es genügt, daß bei Sophokles nur der große Gegensatz des
Beginns und dann wieder das Dike-Motiv der Schlußstrophe dem Vor-
bild entspricht. Das öeivöv als - wir sagten modern: tragische Grund-
verfassung des Menschen: das verdankt Sophokles seinem Meister.
Indessen der Gegensatz des Menschen zu aller Natur ist bei Sophokles
— mit oiiöev öeivöteqov — noch radikaler gefaßt als bei dem Vorgänger,
bei dem der Liebestrieb von Tier und Mensch (egcog ocvcoöaXuv xe xai ßeoxwv) |
trotz allem wieder auf eine Stufe tritt und so jener Gegensatz wieder ein-
geebnet wird. Und völlig neu ist bei Sophokles die Dialektik der mensch-
lichen öeivöxTi5, wie sie vorher in der Interpretation aufgewiesen wurde.
2. Daß der Mensch sich den Vorrang vor allen stärkeren Tieren allein
durdi seine Geisteskraft errungen habe, daß diese geistige Überlegenheit
sich in den einfachen Verrichtungen des Zeidelns und Melkens zeige, daß
diese selbe Überlegenheit sich in der Bildung von Staat und Gesetz offen-
bare: so lehrte die Kulturphilosophie des Anaxagoras und Arclielaos8.
Zwar die Frage, ob Sophokles eine philosophische Quelle benutzt habe,
zieht, ob man sie bejaht oder verneint, dichterisches Schaffen zur Arbeits-
weise des philologischen Betrachters herab. Daß Sophokles in eine gewisse
Nähe zu seinem großen philosophischen Zeitgenossen Anaxagoras rückt,
wird man nicht bestreiten, wird vielleicht sogar (mit Uxkull) sagen
dürfen, daß „in diese Dichterstelle ein Gedanke der Philosophie der Zeit
eingegangen sei". Man mache sich nur sogleich auch klar, wie wenig das
im Grunde ist und wie groß die Unterschiede. Der erkenntnisfrohe Geist
dieser Philosophie sieht überall seinesgleichen am Werk, ordnend, d. h.
scheidend9, im Kosmos wie im menschlichen Dasein. Mit Stolz stellt er
fest, welche geistigen Kräfte den Menschen „abgetrennt" haben (öisxgidriaav
Vorsokr. 47 A 4 § 6) von seinen tierischen Vorläufern. Aber so vieles
Licht des Geistes macht die Augen blind für den tiefen und düsteren Blick
in das öeivöv. Anaxagoras sieht die Weltentwicklung samt der Kultur-
entwicklung mit dem Stolz des Erkennenden, Sophokles sieht die Kultur
samt dem Stolz des Erkennenden tragisch.
3. Gegenüber der Einheit des epischen Menschentums, das nur
„Heroen" anerkannte - denn auch der Arzt, der Seher, der König ist vor
allem „Heros" hat sich die Wirklichkeit des vielfach gesonderten Lebens
durchgesetzt und Ausdruck gefunden in Solons Musenelegie. Die Fülle
der menschlichen Lebensberufe steht nebeneinander: Seefahrer, Ackers-
mann, Handwerker, Dichter, Seher, Arzt. In dieser Vielheit aber, die

8
Vgl. Graf Uxkull-Gyllenband, Griechische Kulturentstehungslehren 10 f.
* Joel, Gesch. d. ant. Philos. I 576.
192 Griechische Literatur [62163]

anscheinend von keiner Über- und Unterordnung weiß, erkennt Solon


das Gemeinsame: beherrscht sind alle diese Menschen von den „leiditen
Erwartungen", von dem Streben nach Gewinn (cpdoxEQÖEg), und allesamt
stehen sie unter der Ungewißheit (oiiöev ehectti -ceXog, ovöev Tepfia). Sie
haben zwar eine gemeinsame Absicht, aber sie kommen damit nicht zu
Ende. Sie haben Ziele, aber kein Ziel. Und der letzte Grund dieser Ziel-
losigkeit ist, daß eine Macht von außen, Moira, den Menschen das Gut
und das Übel sendet, und daß - so ergänzt die Eu.nom.ia desselben Solon —
in dieser Sendung eine auf das Ganze gesehen immer gerechte Dike waltet.|
Diese Weisheit Solons, des handelnden Mannes, der zugleich Men-
schen- und Staatsschicksal überschaut, wird bei Sophokles zur tragischen
Weisheit: nicht um verschiedene Berufe geht es bei ihm, sondern um diese
Berufe als Ausdruck menschlicher ÖEivörrig, und nicht darum, daß Moira
Gut oder Übel sendet, sondern daß der Mensch selber und ganz ausdrück-
lich vor die ungeheure Entscheidung zwischen Gut oder Übel gestellt ist.
Sophokles und Solon treffen sich darin, daß für sie der Zusammenhang
von aSucta ußgig «tr| Wirklichkeit ist. Aber das ist er schon für Homer,
und insofern ist eine Grundvoraussetzung aller tragischen Weltsicht schon
seit Homer gegeben. Sophokles und Solon stimmen weiter darin überein,
daß für sie die Rückwirkung des Einzelnen auf die Polis zum Heil oder
zum Verderben gewiß ist. Solon hatte die notwendige Rückwirkung
menschlichen Handelns auf die Staatsgemeinde als immanentes Gesetz
erfaßt 10 . Für Sophokles versteht das Solonische Wissen sich so sehr von
selbst, daß er sich an dem kurzen Gegensatz fapuioXig anoXig genügen läßt.
Zuletzt aber gehen Sophokles und Solon auseinander. Der Staatsmann
sieht Gottes Mühlen langsam mahlen. N u r eins ist ihm sicher, daß irgend-
wann die große Buße gezahlt wird, und sei es von den Kindeskindern.
Der Tragiker sieht den „ungeheuren" Mann, wie er vor das „ungeheure"
Entweder-Oder gestellt ist, und wenn er in seinem übergewaltigen Wage-
mut sich für das Schlechte entscheidet, zugleich die ganze Staatsgemeinde
zur Un-Gemeinde macht. Solon erfaßt das Gesamtgeschehen ethisch-
politisch, Sophokles umgreift auch diese ethisch-politische noch in seiner
tragischen Weltsicht.

10 Jaeger, Solons Eunomie, SBBerl. 1926, 79 ff.


Review

Plato's Earlier Dialectic


by Richard Robinson

1940

The present review is late. Apart from personal reasons, there are
those which lie in the book itself. It is full of painstaking logical analyses,
which one who is not a logician sometimes has difficulty in following;
and at the same time, it contains general views on Plato of such a nature
that it is not easy for me to enter into a discussion with their author.
When, time and again, on the first few pages the words "insincerity,"
"hypocrisy," and "lie" were alleged of Socrates, I had some difficulty
in believing that Mr. Robinson and I had common ground. Finding the
word eiQtoveia translated as "slyness" and the fact of irony used as a
reproach against Socrates, I felt convinced that the author neither had a
clear concept of what irony is nor had ever tried to learn it-for example,
from J. A. K . Thomson's "Irony" or from my treatment of the subject
(Platon, Vol. I, chap. vii). When I read (p. 14) that "to many persons
the Socratic elenchus would seem a most unsuitable instrument for moral
education" and that "Socrates was certainly a unique reformer if he
hoped to make men virtuous by logic," I doubted whether the author
had ever seen behind the eXsyxoc the Dly/av, the man whose paradoxical
"intellectualism" was a service to the god and who drew the consequence
of his intellectualism in 399. After the first twenty pages I had to stop
and take breath.
But now I hope to be able to do justice to the book-a contribution to
the interpretation of Plato and to the history of logic which is worth
studying thoroughly, since Robinson, as a logician, has studied his author
thoroughly. He also provides his own translations; I take pleasure in
referring to Notopoulos' praise of them (CW, X X X V I , 176).
Part I deals with elenchus and definition, which, Robinson insists,
are the characteristic features of Plato's first period. Y e t he himself
quotes from the Sophist the theory of the elenchus that proves the
primary importance attributed by Plato to this method through all of
his life. In order to show that he maintained not only the theory but also
the practice into his late period, it would have been useful to analyze

[Classical Philology X L , 1945, S. 253-259.]


194 Griechische Literatur [253(254]

the Theaetetus, "which in this respect is just like an early dialogue"


(p. j2)-and with all the irony of the early works. Consequently,
Robinson's emphasis (p. v) on the frequency of the appearance of the
elenchus is of little importance. The frequent view which considers
diaeresis a method of Plato's late period-whereas it "pervades all Plato's
thought" (Shorey, Unity, pp. 50 ff., and W h a t Plato Said, pp. 295 f.,
591; my Platon, II, pp. 508 f.)—shows a similar lack of perspective.
Robinson, in chapter iii, takes up the distinction between direct and
indirect syllogism. Plato, he states, was not aware of this or of other
logical distinctions, "had not even made all of the abstractions that they
presuppose" (p. 28). H e goes on to prove that "Plato held all elenchus
indirect" (chap, iii, sec. 4): "While there are many direct refutations
in the text, Plato regards these refutations as indirect reductions
to a contradiction" (p. 30). But does Socrates' statement {Rep. 343 A )
o tov 8ixaiou Xoyog Eig -cowavtiov jiEQi8iaTf)xei really mean that "the
thesis entailed its own contradictory"? This translation conveys the
misleading impression of a strictly defined logical process: yet
"entailed" is not in the text, and "contradictory" is too technical.
The fact is that Plato puts at the beginning of this discussion the thesis:
"Justice is the advantage of the stronger man"; at the end the opposite
thesis is reached: "Justice is the advantage of the weaker." H e might have
given this final thesis the form "Justice is not the advantage of the
stronger": he preferred the radical contrast, not because he believed in
it but in order to make the shock still more intense. This radical contrast
is expressed by slg toiivavxiov jtEQieiaTrixei, but how it is reached one cannot
read | in those words. In this and other instances one may venture to say
with Robinson that Plato had a certain "loose w a y " of expressing him-
self; but for this very reason it seems to me a misinterpretation to speak
of Plato's "misinterpretation of direct refutations as being indirect re-
ductions to selfcontradiction." "The strongest evidence of all," according
to Robinson, "is the passage in the Phaedo (101 D). . . . This passage
entails that Plato was consciously assuming, or making Socrates assume,
. . . that the consequences of a single thesis may contradict each other."
Robinson labels this assumption a "logical monstrosity"-but the same
Robinson, on page 137, states convincingly that "there is a good enough
sense in which an hypothesis can give rise to a consequence that con-
tradicts another of its consequences or the hypothesis itself." The impor-
tance of this point of view for the interpretation of the Parmenides is
obvious, but it falls outside the limits of the book.

Chapter iv deals with "Epagoge"; chapter v with "Socratic Defini-


tion." " I f w e look for . . . reasons w h y the question W h a t is X ? must
always be answered prior to any other question about X , w e do not
find them" (p. 53). " A twentieth-century philosopher would reply that
it is a matter of experience that we can and do make useful statements
[254] Plato's Earlier Dialectic 195

about X without being able to say what X is in the way Socrates desires"
(p. 54). One might write a little dialogue in which Socrates would accept
this reply only to force the twentieth-century philosopher to agree that,
without being able to answer that question, we can and perhaps do make
harmful statements.
Finally the "Critique of the What-Is-X? Question" (chap, v, sec. 2)
might give rise to an interesting discussion with the author. The question
is "dangerously vague," says Robinson (p. 61). Does this imply that
Plato had been led astray by this danger? Or would it perhaps be better
to assume that Plato did know the pitfalls and that, just because of this,
he made his Socrates ask these questions time and again in order to
discriminate, as it were, between the question "What is X ? " and "What
is X ? "
The second part of Robinson's book deals with dialectic, the general
features of which are thoroughly analyzed in chapters vi and vii. There
are such acute observations as, e. g.: Plato "possesses the idea of intuition
as well as that of method; . . . He regards them not as antagonistic but
as complementary" (p. 69). Also, " . . . the word 'dialectic' had a strong
tendency in Plato to mean 'the ideal method, whatever that may be'"
(p. 74). There are good remarks, even lexicographical ones, on the be-
ginnings of a philosophic terminology in Plato (pp. 71 f., 97 if.). I should
like to enter into a dialogue with the author on the question why in
Plato's conviction dialogue is necessary. "It is useless to look for sufficient
reasons for the Platonic doctrine that the supreme method entails
question-and-answer, because there are none. The presence of this doctrine
in Plato cannot be explained as a logical conclusion, but only as a
historical phenomenon" (p. 86)-as if these two possibilities were the only
existing ones! In short: " . . . it entered into the blood of Socrates' pupil
Plato." But Plato "never fully appreciated the distinctness of Socrates'
destructiveness from his own constructiveness" (p. 87). Don't you see,
Plato might ask Mr. Robinson, behind the destructiveness of my teacher's
elenchus the constructiveness of his person? And we may add, there could
never be such a radical philosophical contrast between the two, because
Socrates is a power working within Plato. (See the chapter "Sokrates bei
Platon" in my Platon, I, 146 fiF.) How Plato, even in his seventies, felt
about dialectic as the way to the ideas, one sees in his Seventh Letter,
where he speaks about the "long common endeavor [awovaia] about the
subject itself and community of life [oD^fjv]" (341 C, cf. 344 B). And
even if it were true that "all students of Plato remark how, in the Sophist
and the Statesman, the pretence of question-and-answer misfits the form,
which is really a continuous treatise; and how this pretence is practically
abandoned in the Timaeus and the Laws" (p. 88), I should still continue
to dissent (Platon, I, 178; II, 506 ff.) and refer to what I have called the
"silent dialogue" between the actual speakers and the listening Socrates,
196 Griechische Literatur [2541255]

and, concerning the Laws, to what I have said about the struggle between
the legislative and the dialogic force in Plato (ibid., II, 671, 680 f.).
Aristotle's contrary view | that "conversation is actually more liable to
error than solitary thought" and that "science does not proceed b y
question-and-answer" (p. 88) is, or seems to be, in opposition to Plato.
Y e t it is the experience at least of this reviewer that even the solitary
method is an internal dialogue, and that even his solitary review has its
raison d'être only as a step in a discourse with Mr. Robinson or with
somebody else. N o , it is not m y particular experience; it is the great
teaching of Plato, often forgotten or obscured, but nevertheless eternal.
Chapters viii, ix, and x deal with hypothesis in the Meno, the Phaedo,
and the Republic. The problem which the Meno offers is the following
(p. 120): "What, in all this, is the proposition hypothesized? Three
suggestions come to mind: (1) Virtue is good . . . . (2) Virtue is knowledge.
. . . (3) If virtue is knowledge it is teachable." Robinson goes on to
demonstrate that the third proposition is what Plato considered to be the
hypothesis. Y e t it must be emphasized that his translation has a small,
though decisive, defect: tmoTi'frsfi.Evoi aiizo a>cojt<ï>|XEv eïtë ov ôiôaxtôv êati
(87 B) does not mean "let us . . . inquire on an hypothesis whether it is
teachable or not teachable" (p. 119) but "hypothesizing it let us inquire
whether . . . . " The very act of hypothesizing, then, precedes the inquiry
whether virtue is teachable, and the object of hypothesizing is it, namely,
virtue or the nature of virtue. This, moreover, and only this, renders the
analogy with the mathematical example precise: the geometer makes a
hypothesis about the nature of his figure ("this figure is such") and then
he draws his conclusion ("whether it is possible or n o t . . . " ) .
Consequently, the hypothesis is not the third proposition; therefore
it must be either 1 or 2. N o w , since 1 "is explicitly and unmistakably
called an hypothesis (87 D 3)" and since it is the basis of all the rest,
one should not brush it aside, as Robinson does. But one will agree with
him that it cannot be the main hypothesis, since it is never referred to
again. Robinson's arguments in favor of 2 are good; his argument against
2 (and consequently in f a v o r of 3) "that an hypothesis to Plato is not
primarily a proposition to be verified but a proposition posited to prove
something else" has an unsatisfactory basis (pp. 116 f.). Although it is
true that "an hypothesis is always a proposition posited at the beginning
of a train of thought," it does not follow that "it is naturally and
normally . . . a premise and not a demonstrand" (p. 117).
Robinson finds in the Meno a "very unsatisfactory account" of the
hypothetical method. It is true that this account is incomplete. But that
Plato "practically destroys the essence of the hypothetical method"
(p. 126) one can only say if one has made a wrong choice as to w h a t
Plato considered to be the proposition hypothesized.
In the chapter on the Phaedo (chap, ix) Robinson begins with a dis-
[2551256] Plato's Earlier Dialectic 197

cussion (sec. 2) on "The Metaphor of Accord in xoo A , " i.e., on the


words "hypothesizing on each occasion the proposition [logos] that
I judge the strongest, I posit as true whatever seems to me to accord
therewith." What does the metaphor of av^tpcovEiv mean? Robinson con-
siders two logical alternatives: (1) consistent with, (2) implied by, but
both "run into grave paradox" (p. 132). His solution of the difficulty is
that "Plato chooses to be inaccurate . . . in order to preserve conversational
simplicity" (p. 134). Robinson's endeavor to fix the exact meaning of
the metaphor is praiseworthy. But "consonant," I submit, is exactly
rendered neither by "implied," which is too specific, nor by "consistent,"
which is too broad. Many propositions can be thought of which are
"consistent" but do not "accord" (e.g., "the bird sings" and „children
thrive on milk"); many "accord" without the one being "implied" by
the other.
Still more important is section 3, "The Metaphor of Accord in 1 0 1 D " :
"If anyone hung on to the hypothesis itself, you would dismiss him and
refuse to answer until you had considered its results [the results of the
hypothesis] to see if they accord [aunqpcovei] or disaccord [5ia<pcovei] with
each other." The beginning of Robinson's interpretation is in his best
style: here one finds the acute discussion to which I have referred: whether
"an hypothesis really can give rise to a consequence that contradicts
another of its consequences or the hypothesis itself." But at the end of
section 3 and, most of all, in | section 4 I find some difficulty in agreeing
with Robinson. "Socrates," he says, "introduces the notion of testing
only when he comes to imagine somebody objecting to the hypothesis"
(p. 140). Should one not rather think that Socrates imagines someone
objecting because he sees the necessity of testing? Again in the discussion
of the crucial words "until you came to something adequate" (101 DE)
Robinson stresses (p. 143) "it is not 'adequate to satisfy yourself'; for you
were already satisfied with the first hypothesis"; it is "adequate to satisfy
the objector." When Socrates says "you," he no doubt speaks of his own
method; he means " I " as well. The oddity would follow that Socrates
is more easily satisfied than a somebody. "Plato is thinking merely of
persuading the objector"-this would be Aristotelian, rather than Platonic,
dialectic.
There is another offense closely connected with the preceding. "Until
you came to something adequate," says Socrates. "This surely means,"
interprets Robinson, "'some adequate hypothesis.'" He does not give
any reason, and I cannot see any, to interpolate the word "hypothesis."
Is not the hikanon just opposed to the hypotheses, which as such are in-
sufficient, not adequate? There is hardly anyone, I venture to say, who
has not identified the hikanon of the Phaedo with the anhypotheton of
the Republic ( 5 1 1 B). But no connection between the two exists, claims
Robinson, who considers this as "the important consequence" of his
198 Griechische Literatur [256]

discussion. The concept of the Republic, he goes on, is an epistemological


one, whereas with the Ixavov of the Phaedo "epistemology does not enter
into the matter at all." I should say that both concepts are epistemological
and at the same time ontological: ei (ioxiXoio ti twv ovtcov eiiqeiv (Phaedo
1 0 1 E 3); toti ovtos re xcu vor)Toij {Rep. 5 1 1 C 5).
This misapprehension of the txavov seems to be connected with a
further problem, propounded in this chapter. "What is the relation,"
asks Robinson (p. 148), "between these two things: (1) abandoning the
search for the Good, (2) adopting the hypothetical method?" only in
order to state on the next page with resignation: "We remain without
adequate reason for adopting any particular answer to the
q u e s t i o n . . . . " Robinson, I am afraid, has wasted his strength on a sham-
problem. Socrates in his-highly ironical-report on his philosophic develop-
ment says that he himself could not find the Good, nor could he learn
it from anyone else. But he does not state, and could never state, that
he abandoned it. He abandoned the way, not the goal. On the contrary:
"This is the principle which I would fain learn if anyone would teach
me." The "flight into the Xoyoi" is the "second best voyage," but its aim
is "search for the cause" (99 D 1); in the Xoyoi he hopes "to find the
reality of being" (triv rcov ovtcov ¿W|freiav [99 E 6]). Plato has not "changed
his mind between the two dialogues" (Phaedo and Republic), just as there
is probably no radical change between the Meno and those later works.
The "unity of Plato's thought" is, on the whole, a thesis unshaken and,
as it seems, unshakable.
Chapter x, "Hypothesis in the Republic" is the longest and, in my
opinion, the most important of the book. This many-sided and unbiased
analysis of epistemological problems starts with "what the Divided Line
says about mathematics" (sec. 3). Robinson's "probable suggestion is that
Plato is connecting geometry's use of the senses not with its use of the
hypothetical method but with its failure to use the hypothetical method"
(p. 161). "In geometry the appeal to spatial intuition and the claim that
one's postulates are certainties go together. Plato's contemporaries ac-
cepted both. Plato and the twentieth century reject both" (p. 162).
Section 4, on "The Unhypothesized Beginning," is slightly weakened by
the alleged contrast between the hikanon of the Phaedo and the an-
hypotheton of the Republic. But felicitous is this section's central formula:
" I t [the Line] says in effect that mathematics is dogmatic from the start,
and unjustifiably; whereas dialectic is dogmatic only at the end, and is
then fully justified in being so. We greatly misrepresent Plato's account
of dialectic here if we leave out either the preliminary tentativeness or
the final certainty" (p. 164).
Then the discussion dwells on the significance of the "Upward Path"
(sees. 5 - 1 0 ) . Robinson is to be complimented for his excellent survey of
"the principal kinds of interpretation that have been suggested." Our
[256j257] Plato's Earlier Dialectic 199

main difference is that I should be rather inclined to | see what is good


in almost every one of these attempts, whereas Robinson singles out one,
or rather two, of them at the expense of the others.
The first theory, that this path is "the habit of the flexible disciplined
intelligence which is able and willing to revise, correlate, and unify its
opinions through a virtually infinite receding series of hypotheses"
(Shorey), is with good reason criticized by Robinson. "In the few words
of the Line he manages to convey not merely this, but also that the
philosopher, just because he leaves no assumption unquestioned, will
finally reach one that is unquestionable" (p. 168).
The second theory "is that it is the process of 'giving an account' of
your hypothesis described in the Phaedo." Robinson points out very well
what this process would mean in the light of the Republic. But he rejects
the theory because, as its result, "the 'something adequate' of the Phaedo
would be the 'unhypothesized beginning' of the Republic." We have
expressed approval of the general view that the two are identical.
The third interpretation of the upward path is "what may be called
the synthesis-theory" (sec. 6) or, as I should prefer, the synopsis-theory:
o (i£v yaoCTiivojtTixogSiaXextutog, o 6e ¡xt) ou {Rep. §jy C). Robinson objects
that "if the upward path were generalization, it would surely have to
be empirical." On the contrary, synopsis is just the way from lower or
more particular forms to higher ones, dispensing with the senses, "making
the inquiry by ideas themselves through themselves" (510 B 8). Leaving
aside any precise correspondence of synthesis and diaeresis with the
upward and the downward paths respectively, this third theory is valid
inasmuch as the Republic itself connects dialectic both with diaeresis
(454 A) and with synopsis (537 C) and also since there is nothing in the
other dialogues which conflicts and much which accords. Synopsis and
diaeresis do not exhaust the method of the upward path, but they con-
tribute importantly to it.
In section 7 Robinson discusses "Mathematical Theories of the Up-
ward Path." He quite convincingly considers it "the great fault of most
mathematicizing explanations.... that they ask us to believe that Plato
is here borrowing something from mathematics, although he quite
explicitly says that he is producing something which mathematics lacks."
Still the question must be allowed: Is not the point of the line where
episteme and dianoia meet just the point where the philosopher "makes
the hypotheses not beginnings but in reality hypo-theses, as it were steps
and sallies" ? In the procedure of the mathematician the hypotheses (un-
recognized as such by him) are starting-points for his downward path;
the philosopher makes them stepping-stones: here the mathematical forms
enter the upward path.
In section 8, "The Intuition-Theory of the Upward Path," Robinson
states with good reason that intuition is "half an answer to the problem
200 Griechische Literatur [2571258]

we are discussing" (p. 179). This intuition is not an irresponsible trance


or rapture, nor "does Plato expect illumination to descend on the man
who looks for short cuts" (p. 187). Yet these assertions: "Mathematics
is not knowledge. The upward path is not knowledge. We have our
first perfect knowledge when at last we apprehend the idea of the
good" (p. 177), may easily mislead. Of course, mathematics is knowl-
edge: it is dianoia, a stage of noesis, though not the highest one.
Of course, the upward path is the path along which one gains knowl-
edge, in this case over episteme, the object of which is being itself.
And again, the knowledge of the Good may be called, with Robin-
son, "our perfect knowledge"; yet one must remember that the Neo-
Platonists called it "beyond knowledge," ejtsxeiva voi, since its object is
"beyond being." Even Aristotle, in his book On Prayer (frag. 49 R.) is
said to have "clearly stated that God is either mind or something beyond
mind." One will not easily follow Robinson's distinction that "the up-
ward path is not knowledge," whereas "in the downward path we for
the first time possess categorical demonstrative knowledge" (p. 177). For
in the Seventh Letter (343 DE) "the way upward and downward often
repeated generates knowledge" (sjuctttiht)), and Republic 5 1 1 B C is con-
cordant.
"The Elenchus-Theory of the Upward Path" (sec. 9), finally, is in
Robinson's opinion "the true answer to our problem." With the re-
striction that it can at best be a partial answer, | since partial answers
are to be found in several of the other theories, one may accept Robin-
son's thesis, "this elenchus of hypotheses is what Plato had in mind in
the Line" (p. 180). Thus having begun with a purely negative character-
ization of the elenchus of the earlier dialogues, then having proceeded to
an erroneous discrimination of the ikovov and the dvujtofte-rov, Robinson
reluctantly concludes that "the hypothetical method is now even older
than it was in the Phaedo or Meno, for it has gone back to being practi-
cally the Socratic elenchus" (p. 184).
The elenchus, or, we may now say as well, the hypothetical method,
makes its reappearance "in much fuller form" (p. 185) in the Parmenides.
Plato's "emphasis here is on three things" (p. 186): (1) the hypothetical
method, (2) a laborious thoroughness, (3) the "prescription that we
should draw the consequences in every case not merely of the hypothesis
but also of its opposite. This is a new item"-though it has its forerunners
in the "Socratic" dialogues: the Lysis is a good example.
"In the Line and in the Parmenides hypotheses have come to be at
least preponderantly propositions to be proved or disproved, and not
propositions to serve as premises for the proof of something else" (p. 188).
In regard to the Parmenides, this is at best half-right. Indeed, the second
part of the dialogue sets forth propositions to be proved or rather to be
disproved. But what is meant by the dialectic of those hypotheses is
[2581259] Plato's Earlier Dialectic 201

something quite different-if the interpretation of the Parmenides as


provided by the Neoplatonists, though in their dogmatic manner, then
taken up by the Hegelians, and renewed contemporaneously by A . Dies,
J. Wahl, and the present writer, is on the right track.
Yet, even apart from this particular interpretation, what could be
stranger than the final remarks of this chapter: "Hypothesis is essentially
the theory of method of the middle dialogues; and even the practice of
the method tends to disappear with the increasing didacticism of the last
dialogues. Possibly Plato ceased to attach any importance to the method
. . . " (p. i9i)-this in spite of the fact that the Parmenides presents its
most gigantic elaboration!
Chapter xi, "The Line and the Cave," is part of a discussion which
extends from Plutarch and Proclus to Jackson, Ferguson, Murphy, and
recently Notopoulos. Robinson's thesis is that "the 'Cave' is not par-
allel to the 'Line'." This thesis is mistaken-at least to a high degree. The
symbol of the Line (509 D f f . ) is preceded by the image of the Sun
(508 ff.), followed by the simile of the Cavern (514 if.), and finally
reiterated in substance (533 E ff.). The image and the simile are parts of
an imaginative unity, interwoven with the Line. Plato would not be the
great writer he is if there were no definite relationship among these ele-
ments. I offer a diagram to show the homology between the two systems:

THE LINE
S6§a EJU0Tri|i.T)
elxaaia juatig 5iavoia v6ti<jis
images bodies mathematical objects ideas
OptXTOV YVOXTTOV
becoming being

THE C A V E
seeing in the cave seeing outside the cave
shadows on statues mirrored original
FIRE SUN
the wall carried objects objects

This is by no means all. One must ask whether at any point the relation
between the two systems becomes inexact. One must ask which motifs
of the Cave are not represented by the Line and why not, and whether
there are elements of the Line without correspondence in the Cave. But
the first step is the recognition of the homology.
"If there were a precise correlation, the state of the unreleased
prisoner would have | to be 'conjecture' [etxaaia], and the state im-
mediately succeeding his release would have to be . . . . Jticmg. But jtiatiq
. . . . bears no resemblance to the prisoner's condition immediately after
his release; for the latter is expressly described as bewilderment and as
202 Griechisdie Literatur [259]

the belief that his present objects are less real than his previous objects
(515 D)." Not immediately, indeed. And Plato in the simile of the Cave
stresses over and again the hardships and the states of blindness, and at
the beginning of the prisoner's upward path we do not hear much of his
achievement. But then he must see the statues when he is dragged past
the road over which they are carried. This Plato expects the reader to
supply.
It is clear that "the viewing of the sun and the stars and actual
animals is dialectic" (p. 195), since Plato says so. But it is an error to
suppose that "the viewing of shadows and reflections in the real world,
and of the puppets in the Cave, and everything down to the very moment
of unchaining, is 'the work of the sciences we have gone through' (which
is certainly mathematics . . . .)" (pp. 195 f.). Ilaaa crijrn f) JiQcr/fxatsia xaiv
te/vwv ag 5nf|M>o(A.Ev (532 C 3) is by no means mathematics alone. It is
first, and for many years, gymnastic and music, the stages of education
that form the soul and prepare it for the logos long before its coming
(402 A 3). The difficult and possibly corrupt passage 521 C j ff. does not
include "everything from the moment of conversion to some moment
outside the cave in the real world." The word jieqkxywyti may contain a
remembrance of the turning-about of the fettered prisoners (515 C), but
the main stress is on "the soul being led around from some nightly day
to the true ascent of being(?)." If Robinson were right that the image of
the Cave "regards the domain of opinion as an undivided unity, re-
presented by the original state of the prisoners" (p. 197), the first stages
of education would have no representation in the Cave, and the images
carried across the cave would have no epistemological, or, if I am allowed
to coin the word, paideiological, meaning. In brief, I submit: The
shadows on the wall symbolize the world of those who have never, or
not yet, been "converted" through Platonic "gymnastics and music"; |
the puppets stand for the same world after these steps of education have
been taken-but calling it the same world betrays a superficial view: the
world has changed with the bodies and souls that have thus been trans-
formed.
This review may be unusually long, but Plato's Earlier Dialectic is
an unusual book. It grasps its subject with intense energy. It cannot be
read summarily; it must be worked through. It leaves the reader with
the conviction that he has learned a valuable lesson both where he agrees
with the author and where he must refuse to follow.
Review

Plato's Theology
by Friedrich Solmsen

1942

It is astonishing that none of the outstanding historians of Greek


religion seems to have considered the 10th book of Plato's Laws as one
of the most important documents of this history. Such a thing can not
happen in the future since Solmsen's book is in the hands of the public.
Plato's theology-is it not strange that what Plato calls "theology"
is quite different from what the Neoplatonists call "Platonic theology"?
Solmsen is occupied almost entirely with the first, though he always sees
the other in the offing. The historical and philosophical problem here
involved is touched on in the last chapter ("Influence and Transfor-
mations").
The theology of Laws 1 o is prepared for in Plato's earlier work, and
accordingly chapters V I I I - X , dealing with the "Comprehensive Picture",
are preceded by chapters I V - V I I discussing " A Variety of Approaches"
("Expurgation", "Philosophy of Movement", "The Theological Ap-
proach", "Influence of the Mystery Religions"). S. does not consider
other topics of Platonic theology: the god and the daemonium in the
Apology and Alcibiades I; the Cratylus with its shower of theological
etymologies and its strange allusiveness to Protagoras' famous dictum
about the gods; the prayer to "Pan and the other gods of this place" at
the end of the Phaedrus.
The two systematic parts of the book ("Approaches" and "Com-
prehensive Picture") are placed between two historical studies. We have
already mentioned the last chapter. We have not yet mentioned the first
three chapters under the common title "The Background". In these
("Religion in the City State", "The Destruction of the Old Religion",
"The Defense and Reconstruction of Religion") the author makes the
successful attempt to understand Plato's theology against the background
of the "political religion" of the Greeks which is indeed "fundamental
to Plato's final approach to religion and so should be fundamental in
a modern attempt to understand that approach" (VIII). The reviewer
wonders whether the author would not have done better to make his

[The Philosophical Review LII, 1942, S. 507-509.]


204 Griechisdie Literatur [5071508]

own significant picture still more comprehensive by including other trends


of Greek religion which he mentions at the beginning (VIII and 4) only
to say that he may well disregard them as being common knowledge. The
civic religion is not quite unknown either, though one will read with
profit Solmsen's chapter I, and-common knowledge or not-Plato's new
cosmical religion would look somewhat different if it had been ap-
proached not only from the side of the civic religion but from the side
of the philosophic religion of the Presocratics as well. The author "knows
that a decision on this point involves a risk". I cannot see why it was |
necessary to decide for one or the other way instead of combining them.
Such an integration would have added to, not dectracted from, Solmsen's
treatment. And what he says in such expressive words about Plato's
Laws in general would not be less true, it would be still more true: "The
work is more than a legislative system, it is a reintegration of Greek life,
a restoration of its true form."
Solmsen is a clear and sagacious interpreter of Laws 10. What he
often fails to point out is the transparency in Plato's thought, a second
and third aspect shining through the first one. In the Republic "religion
is not recognized as a vital and integral part in the political structure".
One may meet this statement with the question: Is the expurgation of
the Homeric religion in Republic 2, 3, and 10 not a vital part of the
work, and was not "expurgation" just the first "approach" viewed by
Solmsen? "But", anticipates Solmsen, "to give it a place in education is
not the same as to give it a place in the actual structure of the state . . . " .
Not the same-in the Republic the actual structure of which is education?
On the whole, the Laws are not so much a new stage in the development
of Plato's philosophy as they are on a different level from that, say, of
the Republic.
"It would be infelicitous to look in book 10 of the Laws for evidence
of a principle higher than 'Soul' " (138). Do you not realize, the Athenian
might object, what the distinction between the good soul and the bad
soul involves? And do you not remember how in the Gorgias and the
Philebus Socrates destroys the claim of pleasure to be the highest prin-
ciple? There is a good beyond pleasure, since there is good pleasure and
bad pleasure. With these distinctions in mind, would it still seem in-
felicitous . . . ?
"The movements of the outermost Heaven", Solmsen himself com-
ments (139), "exhibit Sameness and Order in so eminent a degree that
they may be regarded as movements of Mind itself". Of Mind, not of
Soul. Good beyond Soul, and Mind beyond Soul-are the Neoplatonists,
despite their dogmatic rigidity, perhaps nearer to Plato than is Solmsen?
Every reader of Laws 10 must now consult Solmsen's exposition of
the three antireligious doctrines and Plato's struggle against them. He
will be well rewarded. But he will regret that the third doctrine (the
[5081509] Plato's Theology 205

gods may be bought off by bribes and sacrifices) with its refutation has
no adequate treatment; it is squeezed into the discussion of the second
in no more than twelve lines (152). Had it been given its proper place,
it would become clearer that Plato's last decision in the disposal of each
of the three doctrines is to give the human choice between good and bad
a "fundamental, nay even cosmic importance". I am glad to quote Solm-
sen's own words. He has by no means neglected Plato's basic position.
But in his presentation of the third argument | it must have seemed
negligible to him. And yet, what could be more radical than to view
human injustice as a cosmic disturbancy and, consequently, to make
human decision between good and bad responsible for the greater or
lesser perfection of the universe? The reviewer still thinks that in his
own book (Platon II 672 ff., "Die Theologie") he shows the cosmic issue
on each of the three ways, and consequently their convergence, whereas
in Solmsen's opinion "no attempt is discernible to coordinate the different
aspects of the theological problem".
There is much to learn from this book about the history of philosophy,
law, and religion. The reviewer confesses that he has learnt most from
chapter X , dealing with "The Philosophy of Natural Law." We are
accustomed to consider Stoicism as the Greek source of the great juridical
tradition of the 17/18th centuries (Bodin, Grotius, Montesquieu). Solmsen
claims for the work of the aged Plato the leading part in this tradition
of natural law. "It is evident that the Stoics are greatly in his debt" (167).
"While he was anxious to restore the original unity of religion and
political life, he became the founder of 'natural theology' " (170) as well
as of natural law. The reviewer, to be sure, profoundly convinced of
the "unity of Plato's thought", cannot but doubt that the Laws in this
regard are really "a new departure" (168). The same impulse had been
at work long since, in the cosmic myth of Republic 10 and in the trilogical
connection of Republic, Timaeus, Critias; whereas the Laws contain the
final juridical, philosophical, and theological systematization. But this
may be a mere verbal criticism. It is after all Solmsen himself who refers
to a famous passage in Gorgias 507 E ff.: "The passage shows how early
Plato realized that the issues involved in the interpretation of the Uni-
verse were fundamentally identical with those confronting the moralist,
the political thinker, the statesman."
We do hope that Solmsen will continue the work so successfully
begun. He indicates an approach promising much: "to analyze the laws
embodied in Plato's last work, for these laws, if any, must correspond
to Plato's conception of the ideal type. What is the difference between
these laws and those actually obtaining in Greek cities?"
Aig xai tQig to v.aXov

1938

I t is a w e l l - k n o w n f a c t that plurality as well as intensity is expressed


in the G r e e k - a s in L a t i n and, of course, in other l a n g u a g e s - b y means of
different f o r m s of the number " t h r e e " , often combined either w i t h " t w o "
or w i t h " f o u r " . H o m e r has TQiaoXßiog, xQiauaxagsg, TQiauctxaQsg xai xExgaxig,
TQix^a T£ xai T£TQax"9d and so on. L a t e r authors use 8ig, alkore rgig (Semon-
ides), (vöv yäg jidgeati) xai öig (aia^eiv e^oI) xai xgig (Sophocles Ajax 432—3),
bvo f| TQEig (Aristophanes), öxio xai xoeig, 615 f| xgig, 815 xai TQig1
(xgig oix aita£ fravEiv in Demosthenes being perhaps a personal variation
of a general pattern). In f a i r y tales there are generally three occurrences
of an action, the third one being decisive. Instead of this H o m e r uses the
f o r m u l a xgig piv . . . aXX' öte 8r) to TETagxov . . . which has its analogies e.g.
in Serbian epic folk-song 2 .
These remarks furnish the background f o r the appreciation | of t w o
different G r e e k sayings, the first one blaming repetition, the second one
praising it, p r o v i d e d that the repeated thing is good or beautiful or right.
T h e present survey is meant only to lead the w a y to one w e l l - k n o w n
passage of Plato's Phaedo which w e shall t r y to explain in a manner
somewhat more thorough than has been done hitherto.

[Transactions of the American Philological Association L X I X , 1938, S. 375-380.]

1 C f . Usener, "Dreiheit," Rhein. Mus. N.F. L V I I I (1903), 357 f. and L. Radermacher,


"Griechischer Sprachgebrauch," Philologus L X I I I N.F. X V I I (1904), 1 - 1 1 . Themison
has bvo xai xpEig; see R. Fuchs, "Aus Themisons Werke," Rhein. Mus. N.F. L V I I I
(1903), 6 6 - 1 1 4 (p-9 1 ! I do not think it necessary to change x a i to fj). 8ig
xpig is quoted from Plutarch. I only refer to the Latin analogues: bis terve, bis terque,
duo et tres, duo vel tres, duo aut tres, duo tresve, iterum et tertio, ter(que) quaterque;
for the analogous expressions elg xai (f|) 8vio, elg xai (fj) SeiixE^og, unus et (aut)
duo, unus et (aut) alter, see the collections of A. Brinkmann, "Lückenbüßer," Rhein.
Mus. N.F. L X X I (1916), 422-424.
2
C f . Odyssey 2.106-107: xgiETEg . . . aXk' ote xExpaxov f|Xftev sxog with Talvj, Volks-
lieder der Serben (Leipzig, 1853), I. 78: Schon drei Jahre baun dreihundert Meister . . .
aber als das vierte Jahr begonnte... Today a salute of 101 guns is fired, a plot of
ground is leased for 99 years: 100 plus 1 or 100 minus 1, the meaning is the same.
So the formulae, "two and (or) three," "twice and (or) thrice" appear to belong to
the same linguistic period as the Homeric combination of three and four, or even
to an earlier one.
[3761377] Alg xai tpig to xaXov 207

1. In Pindar's Nemean 7.104 (at the very end, a famous end, of the
poem) occurs xuvza 8e xpig Tstpaxi t ' «|j.koXeIv ajtogia teXe&ei (texvoicrv axe
[xaijnXaxag Aiog Kogivftog). To say the same thing again and again is
poverty. N o w , in the Philoctetes of Sophocles when Neoptolemus has
already told Odysseus that he is giving back the bow to Philoctetes,
Odysseus asks him again and again, thus testifying to his disbelief of
what seems incredible. Then Neoptolemus counters his inquiry with the
angry question: 815 tatita fJovXei xai Tpig avajtoXeiv Eitri;-which is not f a r
from Pindar. Whether Sophocles had this passage in mind-as I am in-
clined to believe-or whether both of them followed the same example,
is not very important. A similar dislike of tedious repetition (without
the very peculiar avajtoMv, to be sure) must often have been expressed.
As a topic of literary criticism we find it in the parabasis of the Clouds
(546): oi)5' iifiag tr|TO) '¡jajtatav 815 xai Tpig taiita Eiaaycov, <a).)' aei xaivag
iSsag elacpeQwv aocpi'Conai, and in the Platonic Phaedrus (235 A) where
Socrates censures the speech of Lysias: xai oiv |ioi e8o|ev 815 xai Tgig ta a w a
eiQrixEvai, wg ov itavu evnogmv Toi ito/.Xd Xeyeiv itegi toC avtov. Both passages
show the same dislike of repetition and preference for variety.
2. The other saying is entirely different and even in a w a y opposed
to the first. We meet it generally in the short form 815 xai tgig to xaXov.
But this wording, so far as I know, occurs only in the grammatical and
paroemiographic tradition, and inversely it is the only one which this
tradition knows 3 . So we cannot say whether it was alive in earlier times
or whether | we must consider it as a later abbreviation 4 . This uncer-
tainty remains when we turn to the earlier testimonies.
Empedocles justified one of the frequent repetitions in his poems5
by the statement xai 8ig yag, 0 8ei, xaXov eaxiv eviaiteiv (frag. 25). Plato
echoes this in the Gorgias (498 E): xai 8lg yao toi xai tgig cpaai xaXov Eivai
ta xaXa XeyEiv te xai eniay.oiteiaitai. The resemblance is striking. It cannot
be explained merely by the conjecture that both of them quote a com-
mon prototype. For if one should reconstruct this supposed prototype,
one would get xai 8ig yag . . . xaXov eoti . . . and then, after or before
xaXov effTi the infinitive of a verb of saying (evictjieiv ~ Xeyeiv) with the
accusative of a praiseworthy thing (0 8ei ~ to xaXov). It is quite unlikely
that both Empedocles and Plato should have followed this hypothetical
prototype almost verbatim. There can scarcely be any doubt that Plato
had in mind the famous verse of Empedocles 6 . But his word cpaoiv suggests
3
E . L. von Leutsch-F. W. Sdineidewin, Corpus paroemiographorum Graecorum (Goet-
tingae, Ruprecht, 1 8 3 9 - 5 1 ) : Zenobius 1.66; Gregorius 1.96; Diogenianus IV.20; A p o -
stolus VI.26. Also Sdiol. Plat. Gorg. 498 E and Suidas, s. v.
4
Entirely artificial they can hardly be, as Apostolius gives the nice enlargement 6ig
xai Tpig t o xaXov, t o 5e xaxov ovb' aita^.
5
C f . K . Reinhardt, Parmenides und die Gesdiichte der griedi. Philos. (Bonn, Cohen,
1916), j i f.
6
Sudi is also the opinion of the Scholiast on Plato 1. c.
208 Griechische Literatur [377)378]

that he was not the first to enlarge the Empedoclean xai 815, meant for
a special purpose, into an idiomatic 815 xai tpig meant for a more common
use. There must already have been a proverbial saying the exact wording
of which we cannot know.
A later passage of Plato is not far removed from this older one.
Instead of cpacriv he says efi 8' f| jtapoi^ia 5oxei e/eiv {Phil. 59E). The
"proverb" itself has the same elements that we found in the Gorgias: the
number 8ig xai tgig, the praiseworthy object to ys xaXdjg exov (instead of
t& xaXa), the recommendation Seiv (instead of xaXov eati). He has in mind
the same general form as before, he changes it slightly and introduces
into it a reminiscence from Pindar, EJiavaitoXEiv, thus demonstrating that
in recommending repetition he feels the antithesis to the Pindaric censure
of it. |
In the Laws (XII.956E) he uses a shorter wording: (euiohev |xev xai
itQoaflEv) xaXov 8e to ogftov xai 815 xai T(ng and (VI. 754C) 8ig yaq to ye
xaXov gr^Ev oijSev fW.ajtTEi-the latter being the only example in which he
omits the significant xai before 815 ("even twice"), which can be traced
back to Empedocles, though, on the other hand, this is the only example
in which he does not enlarge the simple (Empedoclean) 8ig through the
proverbial or idiomatic xai TQig.
From later times one may quote for example Galen's (Ilspi ijiD/fig
j t a M v , p . 16, 6M) apologetic parenthesis uiteg yag tcov dvay-xaioxaTcov ov8ev
xeiQov eoti x a i 5ig x a i TQig Xeyeiv TaviTa,—where even x a i 8ig shows that the
Empedoclean-Platonic line is kept.

II

To sum up: Plato once uses 8ig xai Tpig where he censures repetition,
he uses xai 8lg xai Tgig three times when he justifies it. Now we must take
the last step, a rather bold one, but one which would justify this whole
critical and somewhat pedantic survey-if our supposition can be sup-
ported by adequate evidence.
In Plato's Pbaedo a decisive point of the narrative is readied when
the man in charge of the poison7, not the jailer, asks the prisoner to debate
as little as possible, because otherwise it would be necessary to provide
the poison more than once. Socrates rejects this suggestion to abstain
from discussion, i.e. from being Socrates, and directly begins his first
disputation. Of course we need not deny the "historical" character of the
small incident, when we lay stress on the significance which Plato lends
to the mere fact 8 .

7
I stress this distinction because I must censure myself for having overlooked it.
» C f . P. Friedländer, Platon I I P , i960, 3 j.
[378/380J Aig xai tpl; xo xaXov 209

But until now we have neglected certain words which Plato ap-
parently emphasizes by repetition. The man in charge of the poison says
that sometimes those who grow hot with discussion are compelled to
drink even two or three times (xai | 8ig xai tgig juveiv). And Socrates
rebukes him by echoing the words: he shall prepare himself to give the
drink even twice, and, if it is necessary, even three times (xai 8ig 8(baa>v,
eav 8e 8exi, xai Tpig). That is not only the more idiomatic 815 xai TQig of
the Phaedrus; it is the emphatic xai 5ig xai rgig which we know from the
Gorgias, the Philebus, and the Laws. And this emphatic phrase Plato
emphasizes still more by putting it twice and perhaps, too, by separating
at the recurrence xai Tpig from xai 8ig, so that each of them gets its own
stress. This can hardly be mere chance. When Plato said xai 8ig xai tgig,
must he not have had in mind something like-to put it in the words of
the Laws-ncd 8ig xai tgig to ogfrov, or something like-to put it almost in
the words of the common proverb-xai 8lg xai tpig to xaXov? That trivial
man, if we catch Plato's intention, uses the words in a trivial sense; but
Socrates by repeating and stressing them makes us feel that the poison
is something oq^ov or xaXov.
That may at first sound fanciful. But those who are acquainted with
Plato's art well know that there is hardly any bare fact in his philoso-
phical dramas, that there is no fact which does not transcend mere
actuality to attain some kind of symbolic meaning. A whole series of
such "facts" occurs even in the Phaedo; I do not care to repeat what I
have said about them elsewhere9: the introductory story of Apollo as
the saviour of Theseus and the Athenians, the dream of Socrates and his
composing a hymn to Apollo, Socrates rubbing his leg and talking about
the connection of pleasure and pain, the command to bury not Socrates
but the corpse of Socrates, the veiling and the last unveiling of the dying
Socrates, his order to sacrifice a cock to the healer-god. I refer only to the
passage toward the end of the dialogue where the man with the poison
enters. Socrates asks him, as the expert in those matters (av yag tovtcov
EjuoTrifiwv), what he should do. After having received the exact instruc-
tions he takes the cup out of the hands of the man and then desires to
know whether | he is allowed to make a libation. To offer poison to the
gods must sound sacrilegious to everyone who is not aware that Socrates
with a paradoxical inversion takes the poison as a thing of bliss, a xaXov.
Thus those two small scenes between Socrates and the man in charge of
the poison-the only scenes of the dialogue which bring them into contact-
correspond with each other. The interpretation of the second one cor-
roborates our conjecture about the xai 8ig xai Tpig of the first.

9
Op. cit. (see note 8), 1.162; II.341-344.
Plato Phaedrus 245 A

1941

og d'fiv aveu |xaviag Mouacov EJU jioiTiuxag ftvQag acpixT)Tai. . . .


The underlined words so far have not been recognized as what they
are-a quotation from Pindar's Paean 7. 13 ff.: xucpXal yag avSptov (pgeveg,
ocmg avsuO' 'EXixamaScov Paftelav ¿Xfr [. . . ] TCOV tgevvq. aocpiaig 68ov. The
rhythmical formation of the two v.wXa is scarcely different, — w — w - v 7
x j — , the wording and the sound very similar, the direction of the verdict the
same. That Plato in a passage about poetry should use no poetical quo-
tation is per se unlikely. One even looks for more than this one. I feel,
though I cannot prove it, that (TUQICX TCOV jtaXaicov '¿gya xoanoiaa has a
Pindaric flavor, too (cf. Isthm. 6. 2 2 : (ivgiai 5'S'PYOOV xaXcov xeXeuftoi). I
should neither maintain nor deny that in writing ateXrig autog TE xal i)
jtoiriaig... ricpavia-Ori Plato alluded to the famous ¿TeXfj aocpiag xagnov SQETOIV
(Pindar Frag. 209 [Schr.]), which he, in the Republic 457 B, alters to
¿TEXT} TOO yeXOLOD SQEitwv xapitov, as he alters ocmg aveud' 'EXixamadoov to
oatig avsu fxavtag Mouacov. H e had in his mind an abundance of poetry
of other poets and put more of it into his own language than we may
ever discover. |
Besides, this little observation makes it certain (1) that in the Phaedrus
one must connect oxev ¡xaviag Movacbv, not Mouacov EJU itoir)Tixdg Mpag, 1 and
(2) that in the Paean igEvvq. aocpiaig 65ov is not to be changed to aocpiag.
Socpiaig means " b y his own merely human a r t " 2 and is echoed in Plato
b y cog ago. EX TEXvng ixavog ;noiT|TT|g SaonEvog.
It is a pity that Plato does not help us to reach certainty about the
word which in the paean followed |3a<teiav3; EM>[6V]TCOV is, indeed, hardly
intelligible.—
The quotation of the paean in Plato is perhaps not merely ornamen-
tal 4 . Homer and Hesiod consider themselves the attendants of the Muses,
[Classical Philology X X X V I , 1941, S. 51-52.]
1
Most of the interpreters understood it correctly. Proclus In Remp. i. 57. 25 [Kroll
og yd.Q av, cprjoiv, aveu Mouacov XaXiag . . . But cf. the proverb cicpOovoi Mouacov
ftupai.
2
Gildersleeve in his copy of the Oxyrhyndius Papyri, Vol. V, compared bibax.xa.iq
agexaig.
3
Gildersleeve (cf. n. 1) understood ¿Xdovtcov as tuiv ¿Xdovtcov.
4
I wish to express my gratitude to Felix Jacoby for a stimulating, though skeptical,
letter on the subject.
[52] Plato Phaedrus 245 A 211

while Homer (B $95 ff.) even knows of a singer who challenged them
and lost his eyesight and his art. Pindar's paean tells something quite
different and quite new. It establishes the contrast between the inspired
poet and the mere craftsmen-Pindar's adversaries, no doubt. This con-
trast, fitting into his general antithesis of qptia and SiSaxxov ( O l y m p . 9.
ioo) 5 , is all the more important, as Pindar himself not only is a great
artificer but is conscious of being one (Ne. 7. 78). Yet he owes even his
craftsmanship to the Muses, whereas the others rely upon their own
wisdom. Now it may easily be that the paean is not only for us the
earliest expression of this contrast of genuine and uninspired poetry but
that Plato kept the pro-oemium in mind as the locus classicus for that
idea.

5
Cf. H. Gundert, Pindar und sein Diditerberuf (Frankfurt a. M., 193$), pp. i j if.
Gundert seems to have overlooked the paean.
Akademische Randglossen

i960

Zwei hübsche anekdotische Äußerungen werden dem Piaton in der


Aristoteles-Vita des C o d e x Marcianus zugeschrieben. Er soll öfter gesagt
haben:
'Ajtia^iev E 1 5 TTJV TOC 'Avcr/vcbatoi) o l x i a v .
Gehen wir hinüber in die Wohnung des Bücherlesers!
Damit w a r für jeden in der Akademie Aristoteles gemeint. U n d wenn
Aristoteles an, wir würden sagen, Piatons „Seminar" nicht teilnahm oder
eine von Piatons „Vorlesungen" schwänzte, so habe Piaton ausgerufen:
cO
Nötig äjteaxi- xmcpöv xdxQoaxriQiov.
Der Geist fehlt; Stumpfheit herrscht im Hörsaal.
Die erste Äußerung gilt als Prosa, obgleich sie „beinah" ein Trimeter
ist. Die zweite wird als Vers gedruckt, obgleich der „Trimeter" dann
einen üblen metrischen Fehler hätte: die Schlußsilbe von xtutpöv wäre
positionslang 1 . Also wollen wir künftig beide Aussprüche als witzige
Prosa im Gedächtnis behalten und nicht als fehlerhafte Verse. Mögen sie
wirklich von Piaton stammen, oder mag akademischer Klatsch sie ihm in
den Mund gelegt haben: sie sagen etwas über ihn und über Aristoteles aus
und über das Verhältnis beider zu einander. |

[In: D i e G e g e n w a r t der Griechen im neueren Denken (Festschrift für H . - G . G a d a m e r


zum 60. Geburtstag), Tübingen i960, S. 317.]

1 Siehe Aristotelis Fragmenta ed. Rose (1886) p. 428. - Rose druckt TaxgcotTioiov, gibt
aber im A p p a r a t T[ ]i)TF|Qiov, das heißt doch w o h l T [ a x g o ] T)TT|piov oder besser
x[à)tpo]atrieiov. àx{>A>TT|Qiov und àxgoaTTigiov sind z w e i ganz verschiedene Wörter,
die man nicht vermengen darf. - Z u den Ä u ß e r u n g e n Piatons, mögen sie echt sein
oder anekdotisch, siehe W . K r a n z , Platónica, Philologus 102, 1958, 80 ff. ( = Studien
zur antiken Literatur, 1967, 320 ff.). U m den zweiten „ V e r s " als Vers z u retten,
verweist ihn P. Maas (ebendort S. 83 A n m . 1) in die Kaiserzeit - höchst u n w a h r -
scheinlich. W e n n wir keine authentischen Ä u ß e r u n g e n Piatons vor uns haben, so sind
die W o r t e doch wahrscheinlich gleichzeitig oder w e n i g später.
Geschichtswende im Gedicht

Interpretation historischer Epigramme

Eduardo Norden
septuagenario

i. Die Tyrannenmörder

A (Hephaestio cap. 4 pag. 15 Consbr. = Simonides 76


Diehl = Preger 152):

*H [liv' 'Aftrivaioiai (pocog vevefl' f|vix' 'Apiaxo-


YEITCOV "Iroiag/ov xai 'AQp.66105.

„Das ist", sagte Wilamowitz (Sappho und Simonides, 2 1 1 ) , „keine


Inschrift, aber es ist in sich abgeschlossen; wir haben offenbar einen Trink-
spruch in elegischer Form". Von diesen drei Thesen ist die erste und die
dritte falsch, die zweite vielleicht richtig. Aber aus den Irrtümern großer
Männer soll man bekanntlich lernen.
Daß das Distichon zu einem Monument und dann also der Tyrannen-
mördergruppe gehöre, war wegen des Citats 2ifi(oviöris ei EJUYQa|x[xaxa)v -
„citiert von Hephästion aus sehr alter Quelle" (Wilamowitz) - immer
schon wahrscheinlich1 und ist jetzt wohl allem ernsten Zweifel entrückt
durch die Basisecke von der Agora 2 mit den beiden Pentameterschlüssen:
J'Aßixoöiog.
JjraxQiÖa y^v e-&exr|v. |
Dabei gibt das zweite Distidion wieder ein neues Problem auf, das uns
nachher beschäftigen muß.
Die Tyrannenmördergruppe gehört keinem vorher bestehenden Genos
der Plastik an: Das sind keine Götter oder Heroen, keine Grabfiguren,
keine Anatheme, keine Kuroi. Sondern Auftraggeber und Künstler haben
hier gemeinsam ein neues Genos begründet, „das erste volkstümlich-poli-

[Studi italiani di Filologia Classica X V , 1 9 3 8 , S. 8 9 - 1 2 0 . ]

1
Warum Stobaeus, Ecl., I, 8, 2 2 : 2t(i,ümör|; EJTIYQAJI^OITCOV • 8 TOI xpovo? ö86vxa?
nat ndvxa tprixsi x a l x a ö w a i o x a x a „sicherlich nicht aus einemEpigramm genommen"
sein könne (Wilamowitz a. O.), leuchtet nicht ein. Die Zeit hat, wie sich weiterhin
zeigen wird, eine große Bedeutung in den echten Aufschriften.
2
Amer. Journ. Ardi., 1 9 3 6 , 190; Hesperia, 5, 1 9 3 6 , 3 5 5 ff.
214 Griechische Literatur [90/91J

tische Monument der Weltgeschichte" (nach der Formel Julius Langes3)


geschaffen. Ebenso unerhört die Aufschrift, unser Distichon: Das ist keine
Grabinschrift, keine Weihinschrift, überhaupt kein gegebenes Genos
griechischer Epigrammatik. Emphatisches anstelle eines schlicht fest-
stellende evOüSe oder oiöe, keine Gottheit der das Denkmal geweiht wird,
kein Stifter. Aber die neue dichterische Form drückt in eigenster Weise den
Sinn des ganz neuen politischen Ehrenmales aus.
Daß es „Licht wurde", steht genau an derselben Versstelle wie im
Homer O 699 |xaXa öe aqpi «powg yevet1 äncpoTegcoftEv. Aus Homer stammt
auch die den Griechen so vertraute Vergeistigung des Lichtes zur Rettung
A 797 ai xev Ti cpocog Aavaoloi vevr^ai. Und an dem wesentlich homerischen
Klang ändert es kaum etwas, daß die Steigerung „großes Licht" - hier
noch eindringlicher gemacht durch die Trennung der beiden zusammen-
gehörigen Worte - uns sonst erst in der Tragödie begegnet4. Mit diesem
homerischen Klang ist in Harmonie der heroische Charakter des Monu-
ments: die Größe und die Nacktheit der Gestalten. Episch ist auch der
Aufruf r| verstärkt durch (xaXa oder nsya (z. B. $ 54-5 u jconoi, r\ azya
•ftaina x68' öcpdaXuoicriv ÖQÜ^ai- | n&Xa 5r) TgtÖEg |j.£*/aXr]TO<)Ec;....)) freilich
nicht der epischen Erzählung zugehörig, sondern der aifektvollen Rede
epischer Personen. So macht auch hier das fj den Aorist nicht ruhig erzäh-
lend, sondern eher „perfektiv" - „ist geworden" - und läßt das Licht,
fast wie wenn yeyovz dastünde, als ein noch gegenwärtiges erscheinen. I
(Aehnlich etwa wie 2 12 f| fiäXct 6t) te^vtixe....) Allem epischen Erzählen
vollends fremd ist es, daß die Handlung xteivs mit iivbta untergeordnet
wird der Aussage: Licht ist geworden. Diese syntaktische Erscheinung ist
Symbol für einen tiefer liegenden Tatbestand.
Julius Lange hat festgestellt, daß die „Tyrannenmörder" unter allen
Freistatuen die ersten gewesen sind, bei denen die Frontalität durch-
brochen wird und die aktuelle, lebendige Handlung sich als eigentliche
Aufgabe der Freiplastik durchsetzt. Aber man muß noch einen Schritt
weiter gehn. Denn eben dieses wird durch die Inschrift eindringlich, daß
die Handlung für sich noch nicht das erste und letzte ist, sondern daß sie
einem Sinn untergeordnet wird. Dieser Sinn heißt Befreiung, q p w g . Und
so ist auch, was die Bildhauer gegeben haben, nicht der Vorgang selbst,
zu dem doch allermindestens Hipparch gehören müßte. Den Vorgang stellt
der rotfigurige Stamnos in Würzburg dar 5 , die Gruppe hingegen gibt das
verklärte Bild der Befreier im gesammelten Augenblick ihres befreienden
Stoßes.
Ist das Distichon ein vollständiges Gedicht oder ist es ein Bruchstück?
Man hat verschieden geurteilt. Wilamowitz findet, es sei „in sich ab-

3
Darstellung des Menschen in der älteren griechischen Kunst. Straßburg 1899.
4
Aisch., Pers., 300; Eur., Hek., 8 4 1 ; Bakch., 608.
5
O f t abgebildet, z. B. von M. Hirsch, Klio, X X , T a f . 1 - 4 ; Langlotz, Martin-Wagner-
Museum Würzburg, Griechische Vasen, N r . j i j , T a f . 1 8 2 - 8 3 .
[91/93] Gesdiiditswende im G e d i A t 215

geschlossen". Nun ist freilich auch das in sich Abgeschlossene der Erwei-
terung fähig, zumal in vorklassischer Zeit, die noch nicht größere Bezirke
einheitlich durchorganisiert und den Teil selbständiger ausbildet, als es der
klassischen Zeit recht ist6. So erscheint jetzt nach dem neuen Fund auf
dem Staatsmarkt das literarisch überlieferte Distichon als die erste Hälfte
eines Gedichtes, dessen zweiter Teil die Gewinnung der Freiheit feierte.
Denn irgend etwas wie [.... ev eAeuOequii] jtaTQiöa yrjv eöetriv muß da-
gestanden haben. Ueberblickt man das Ganze, so fällt die Ähnlichkeit
mit dem Harmodios-Skolion in die Augen: cke töv -njQotvvov xTavernv ent-
spricht dem ersten Distichon, iaovo | not)? 6' 'Aftrjvag Ejtoirjaärriv dem zwei-
ten. Und man könnte in dieser Ähnlichkeit einen Beweis sehen dafür, daß
die Aufschrift von vorn herein vierzeilig gewesen ist. Aber ebenso möglich
ist eine andere Deutung. Die Basis, von der das Fragment stammt, hat
(nach der überzeugenden Begründung des Herausgebers B. D. Meritt,
Hesperia, 5, 1936, 355 ff.) die Gruppe des Kritios von 477 getragen,
nicht die des Antenor von 510. Nun ist man sich wohl einig darüber7,
daß nach dem Abzug der Perser dem Kritios der Auftrag wurde, nicht
das geraubte Monument durch ein ganz neues zu ersetzen, sondern es
wiederherzustellen - wobei es sich versteht, daß er diesen Auftrag nur
mit den künstlerischen Mitteln seiner Generation ausführen konnte. Was
für die Gruppe gilt, wird auch für die Inschrift zu gelten haben; denn
erst beide zusammen bilden das Monument. So hat der Herausgeber des
neuen Basisfragments (a. O. 358) es für die wahrscheinlichste Annahme
erklärt, die Inschrift habe ganz so schon auf der älteren Basis gestanden.
Aber besteht nicht neben dieser Möglichkeit noch eine zweite: daß dem
älteren Denkmal nur das erste Distichon angehört habe, und daß 477 die
Aufschrift nicht nur erneuert, sondern auch erweitert worden sei? Er-
weitert vielleicht darum, weil qpöcog yivEto für die Männer von 510 ein-
deutig war, für die Generation von 480 nicht mehr? Am wenigsten hätte
es gewiß für sich, wenn man der Antenor-Basis eine völlig andere In-
schrift zuschreiben wollte. Auf alle Fälle drückt das erste Distichon, über
das wir allein urteilen können, als ein „in sich abgeschlossenes" Ganzes
die Gesinnung schon der Männer von 510 aus.
Das Epigramm ist also kein „Trinkspruch in elegischer Form". Es
ist Teil eines Monuments und selber Monument. Denn so deutlich die
Verwandtschaft mit den Skolien, so klar auch der Abstand. „Ich will im
Myrtenzweig das Schwert tragen". „Liebster Harmodios, du bist nicht
gestorben". „Immer wird euer Ruhm dauern". „Wehe, Leipsydrion, was
für Männern hast du das Leben gekostet!". „Schenke du auch dem Kedon
ein!". „Geld und Leben dem Kleitagoras und | mir!". Dieser verbindende
Klang des Ich und Du herrscht in den politischen und den meisten andern

6
Vgl. z. B. meine Bemerkungen, Gött. Gel. Anz., 1 9 3 1 , 265 f.
7
Vgl. vor allem Studniczka, N . J . Kl. Alt., 9, 1906, $46 ff.
216 Griechische Literatur [93 ¡94]

Skolien. Davon hebt sich der großartige, unpersönliche Ton des TH ¡xey'
'Adrivaioiai deutlich ab. Das ist für die Öffentlichkeit des Staatsmarktes
instrumentiert, nicht für den engeren Kreis eines Symposions oder einer
Hetairie.
Die Gesinnung freilich, d. h. die Deutung die dem Attentat gegeben
wird, ist in den Skolien die gleiche wie in dem Monument und seiner
Aufschrift. Diese Deutung, man kann fast sagen: produktive Geschichts-
fälschung, war - wie Herodot, Thukydides, Aristoteles erkennen lassen -
in höherem Grade politische Tat als das Geschehen selbst. Wem ist sie
zuzuschreiben? Gewiß nicht dem Kreise des Isagoras, des „Tyrannen-
freundes" 8 . Dann also aller Wahrscheinlichkeit nach dem Manne, der im
Sinne der so gedeuteten Tat wirkte: Von dem Geist des Kleisthenes wird
in unserer Aufschrift etwas kenntlich sein.

2. Die frühe Perser zeit

Die kanonische Form des Epigramms auf den Polyandria von 480
ist das Monodistichon. Dieser Satz gilt nicht für Athen, außerhalb
Athens aber streng. Das kann nur bewußter Wille sein. Denn man war
sonst auf Inschriften längst beim elegischen Vierzeiler angelangt (Hiller,
7, 9). Für das Einzelgrab des Sehers Megistias hat ihn Simonides sogar
an den Thermopylen verwendet (Hiller, 17). Die Athener haben ihn
auch auf den öffentlichen Monumenten dieser Jahre nicht vermieden 9 .
Aber die Spartaner und ihre Bundesgenossen an | den Thermopylen (Hiller,
15 ff.), die Korinther auf Salamis und am Isthmos (Hiller, 20, 22) haben
sich auf die knappe Form des einen Distichons beschränkt. Vielleicht darf
man sagen: das war spartanischer Stil, Awpio; a ueXetoi, am Thermopylen-

8
Aristoteles, A t h . Pol., 20, 1.
9
Hiller, 1 1 = Geffcken, 65, jetzt ergänzt durch den Fund auf der A g o r a : Hesperia, 2,
1 9 3 3 , 4 8 0 ; 5, 1 9 3 6 , 2 3 2 . D a z u Hiller v . Gaertringen und Peek, Hermes, 69, 1 9 3 4 , 204,
3 3 9 . P . M a a s , Hermes, 70, 1 9 3 5 , 2 3 5 . Arvanitopulos, 'EM.r|Vixr) ' E m y e a q J i x f i , 1 9 3 7 ,
1 1 8 (mir durch die Freundlichkeit des Verfassers bekannt). - Hier sei nur Folgendes
bemerkt: 1 ) A n dem Urteil A d o l f Wilhelms, daß das erste der beiden Epigramme v o n
der H a n d desselben Steinmetzen sei wie die Hekatompedon-Inschrift v o n 485/4 ( A M
2 3 , 489 ff., A n z . Wiener A k a d . , 7 1 , 1 9 3 4 , 108 ff.), läßt sich nicht rütteln. A b e r darum
ist noch nicht einzusehen, weshalb es nicht auch einige J a h r e früher oder später hätte
eingemeisselt sein können. 2) Die E r g ä n z u n g Jte^oi te[v ist wegen des bestimmten
Artikels stilistisch sehr unbefriedigend. Hingegen Jiei^oi te mit folgendem y.ai oder te
ist seit H o m e r geläufig. D a s spricht also für die Richtung, in der Hiller v . Gaertringen
und M a a s die Ergänzung versucht haben. 3) Die beiden Epigramme sind keine K o n -
kurrenzgedidhte. Denn das zweite ist v o n anderer H a n d nachträglich auf den Stein
gesetzt. A l s o brauchen sie sich nicht auf dasselbe Ereignis und nicht einmal auf das-
selbe Kriegsjahr zu beziehen. Selbst das ist nicht ganz undenkbar, daß das zweite
Epigramm auf ein älteres Ereignis gehen könnte als das erste. - D a s Problem ist alsc
durchaus in der Schwebe.
[94)95] Geschithtswende im Gedicht 217

grab noch insbesondere Amphiktyonen-Wille 1 0 . Einige dieser Verse


werden immer zu den Mustern schlichter Größe zählen. Mit gutem
G r u n d hat das Gedicht der Spartaner fast gleichen R u h m wie ihre T a t .
Welches Recht aber haben w i r Heutigen zu fordern, jedes dieser
Epigramme habe die Pflicht von untadliger Vollkommenheit zu sein?
M a g man vielleicht den alten Thespiern vorrücken, daß sie ihren G e f a l l e -
nen ungeschickte Verse auf den Stein gesetzt haben (wo dann doch zu
fragen wäre, ob „Geschicklichkeit" das L o b ist, nach dem diese Menschen
zuerst trachteten):

B (Hiller, 19 — Preger, 23):

"Avögeg, toi Jtot' evaiov vtco "¿Qoxaqpoig 'EXixwvog,


Xr)|xau tcüv oar/ei ©Eaitiäg evQv/ögoc;.

Will man aber annehmen, diesem Distichon sei ein anderes, jetzt fehlendes,
vorausgegangen, so verletzt man den K a n o n , den w i r am A n f a n g
formuliert haben. Freilich ist das evft&ÖE xeivtai überhaupt nicht ausge-
drückt. Es verstand sich — mit Unrecht, w i r d mancher kritteln - von
selbst oder mochte von dem benachbarten Stein der Spartaner abgelesen
werden. | Toi not' Evaiov wie auf dem Stein der Korinther in Salamis noy.'
Evaio[i£g (C). D i e Ortsangabe, Thespiai am Helikon, ist zerlegt auf die
beiden Sätze. Das ist vielleicht in dieser dorischen Schlichtheit eine kleine
Künstelei, f ü r die man aus gleichzeitiger Chorlyrik Entsprechungen bei-
bringen kann. (Statt „Bringe dem Vater Kleodamos die Botschaft" sagt
Pindar, Ol. 1 4 , 2 1 : „ G e h und bringe dem Vater die Botschaft, auf daß
du dem Kleodamos, wenn du ihn siehst, ansagest . . . " ) . Toi relativisch,
twv demonstrativisch, auf einander bezogen, ävbgeg statt avöowv nach toi
gerichtet mit „umgekehrter Assimilation" 1 1 , wodurch das Richtwort des
Ganzen im Nominativ an den A n f a n g des Ganzen kommt. Mit M||«m,
dem kühnen Willen dieser Männer, beginnt der Nachsatz und zugleich
der zweite Vers. W o Acogia ¿o^oya herrscht, kann H ä r t e des Stils kein
Einwand sein.
Aber freilich, jeder w i r d dem doch recht verwandten Gedicht auf
die bei Salamis gefallenen Korinther den Vorzug geben:

C (Hiller, 20 = Geffcken, 96 = Preger, 6):


T
Q |eIve, ETJuögov itox' evchohe; äaru Kopivfrou •
vOv 8' ä|i8 Aiavtog väaog e/Ei 2aXa|alg.

D e r Gegensatz des Einst und Jetzt, des D o r t und Hier, des aktiven
Evaio[iEg und des passiven Ä|xe exei, der Heimat und der Fremde ist scharf
ausgeprägt und auf die beiden Verse verteilt. Klarer also und dabei doch

10 Herodot VII, 228, 4.


11
Krueger, Sprachlehre, 51, io, 9.
218 Griechische Literatur [95j97]

schweigsamer als das thespische Gedicht. In dem einen Wort ewôqov lebt
Korinths Stolz auf die Peirene-Quellen. Mit Salamis mythischem Ruhm
verbindet sich (unausdrücklich) der der jetzigen Toten 12 .
U n d nun das Gedicht auf die Opuntischen Lokrer:
D (Hiller, 18 = Preger, 22):
ToviaÔE jtotè cpih|xÊvouç weg 'EXXâôoç àvxia Mt|Ôcdv
Hr)TçôitoXiç Aoxoùv exiôdvôhcdv 'Ojiôeiç. |
So, ohne Verbum, ist das Gedicht überliefert. Unvollständig kann es
nicht sein. Denn den Kanon des Monodistichons zu überschreiten hätte
die Sitte oder hätten die Amphiktyonen verwehrt. Im Pentameter kann
kein Fehler sein: so wohl abgewogen füllen ihn die vier schweren Worte,
in denen Opus den Ruhm für sich beansprucht, Mutterstadt aller Lokrer.
auch der durch Zaleukos' Gesetzgebung berühmten epizephyrischen, zu
sein. So pflegt man (mit Meineke) das anscheinend wehrlose noté in
jioôeï zu ändern. Aber man vergleiche die folgenden Epigrammanfänge:
Anth. Pal. V I I 270 Toûaôe jtot' êx Snaerryg, 25 6 Oïôe rare' Aîyaioio, 443
TrâvÔé j i o T E axépvoiai, 564 Tfjiôé not' à x T E Q É i a t o v , Hiller 26 Tôvôe Jtoft'
"EXXr|V£ç. Dann wird man an dem formelhaften Tovoôe jtote kaum noch
zu rütteln wagen. Aber auch sonst hält Jtoôeï bei genauerem Nachdenken
nicht stand. In dem attischen Gedicht auf Poteidaia (Hiller, 53, III) steht
freilich jioûeî. Hier hingegen, w o wir im Kreise des strengen spartanischen
Ethos sind, wird mancher mit mir das Wort als zu gefühlvoll empfinden.
avxeï ja, Jtoftei nein! U n d auch formal widerspräche die Trennung des so
weit vorausgenommenen Verbums von dem erst im Pentameter folgenden
Subjekt der schlichten Wortfolge dieser Monodisticha. Man vergleiche
wiederum B und sehe, an welcher Stelle crâ/EÎ steht 13 . Wenn demnach
J t o t è richtig ist, so gehört der Hexameter ganz den Gefallenen, der Penta-
meter ganz der Stadt. Das gibt ein gutes klares Gegenüber ohne Über-
schneidungen. Sollte also von A n f a n g an kein Verbum dagewesen sein?
Das Fehlen des Verbums, in Weihinschriften geläufig, ist auch in Ehren-
inschriften nicht selten: 'H jiôXiç oder 'H ßouXr| oder 'O ôfj^oç tôv ôsïva.
Freilich reichen diese Ehreninschriften nicht in so frühe Zeit hinauf. Aber
sie zeigen doch, wie leicht es für griechisches Sprachdenken war, ein
àvéftîixe und àvéaTT)<j£ und Exi^r|a£ im Monument selbst vergegenwärtigt
zu sehen, so daß es der besonderen Aussprache nicht bedurfte. Die A n -
näherung der Grabschrift (zumal einer, wie wir sehen werden, erst später
gesetzten) an die Ehreninschrift würde | man leicht verstehen. U n d über
alle Analogie hinaus muß man vielleicht mit einem ganz individuellen
Knappheitsstreben redinen.

12 R . Heinzes schöner A u f s a t z , V o n altgriechischen Kriegergräbern, in den N . J. f. d. kl.


Alt., 18, 1915, 1 ff., gab hier und sonst Bestätigung und Ergänzungen.
13 Schon Bergk, der Meinekes Konjektur zweifelnd aufnahm, empfand: hoôeï müsse
eigentlich an den Schluß gehören.
[97/98J Geschiditswende im Gedicht 219

Bleiben wir also wenigstens hypothetisch bei Toiiaôe noté, so haben


wir allen Anlaß (zumal seit uns Wade-Gery, JHS 53, 1933, 71 ff., auf-
geweckt hat) dieses jioté ernst zu nehmen. Es kehrt wieder auf der Stele,
die der peloponnesische Bund auf das Polyandrion von Thermopylai hat
stellen lassen, der Ruhmes-Stele, die keine Grabstele war, und deren
Inschrift mit und trotz ihren Zahlen leerer wirkt als alle andern: Hiller,
15. Es fehlt auf den Inschriften der Spartaner und der Thespier (denn
das noté in not' Ivaiov ist von andrer Art). Das wird kein Zufall sein.
Spartaner und Thespier sind bis zuletzt geblieben, ihnen fiel die ent-
scheidende Tat zu und der eigentliche Ruhm. Erst später sind die Stelen
der Lokrer und des peloponnesischen Bundes hinzugefügt worden, als
man noté von den Geschehnissen sagen konnte. Ob daraus, daß D
- ebenso freilich wie B - bei Herodot fehlt, für die Chronologie etwas
zu entnehmen ist, muß ungewiß bleiben. Es wird schwer sein zu leugnen,
daß man auch noch später dem Typus der Monodisticha im Sinne der
alten Zeit hätte genügen können.
Ein Distichon dieser Gruppe droht in Vergessenheit zu geraten. Bei
Plutarch ist das Gedicht auf die bei Salamis gefallenen Korinther (C)
4-zeilig. Nachdem man das erste Elegeion auf dem alten Stein aufge-
funden hat, gilt das zweite für einen späteren Zusatz:
E (Preger, 6 b):
'Evfrâôe $oiviaaaç vîjaç zai négaaç âXôvxeç
xaî Mf]8ouç îeqùv 'EXXàôa Qi)ô|X£fta.
Aber dieses Elegeion ist keine Erweiterung des ersten, wie man jetzt
sagt. Wie Erweiterungen aussehen, wissen wir: 'Axuâç éataxvîav (Hiller,
22) ist bekanntlich erweitert worden. Da gleitet es glatt ins zweite
Distichon hinüber. 'EvMôe aber ist ein Anfang. 45 Epigramme bei Kaibel
fangen so an und ein Dutzend von den Grabepigrammen in Anthol.
Palat. | V I I . Also ist E ein selbständiges Gedicht (und erst wer èvddôe
in ôé verwandelte, machte es zu einer Fortsetzung: Ps.-Dion 37, 18).
Die Gründe aber, die für Unechtheit zu sprechen schienen, sind einge-
bildet. Der dorische Accusativ néoaâç paßt grade gut für ein frühes korin-
thisches Gedicht. Perser und Meder nebeneinander, das paßt in eine
spätere Zeit eher schlechter als für einen Zeitgenossen14. Also standen auf
dem Polyandrion von Salamis 2 Gedichte15. Diese beiden Elegeia sind
selbständig und ergänzen sich dabei gegenseitig. Das erste spricht von den
Gefallenen, einst und jetzt, das zweite von den Besiegten und der sieg-
reichen Tat. Man mag, wenn man es nicht lassen kann, das Neben-
einander von Medern und Persern als Weitschweifigkeit bekritteln. Aber

14
A u f Herodot, V I I I , 89, hat schon Bergk verwiesen, man kann V I I , 61 f., hinzufügen.
15
S o schon Preger. Das ist keine „ A u s r e d e " , wie Wilamowitz, Sappho und Simonides,
1 9 4 , schilt, sondern die richtige Deutung des sprachlichen Tatbestandes.
220 Griechische Literatur [98j99]

großartig bleibt der Schluß mit jenem unvergleichlich starken Praesens


(das man später nicht mehr verstand und in iÖQuoä^EÖa änderte - von
der modernen Konjektur (e)QwäjiEfta lieber zu schweigen): Hier liegen
wir, die Retter von Hellas, und sind noch immer die, die es bewahren.
So wird das xei^E^a gwanevoi der schönen Isthmos-Inschrift (Hiller, 22)
in e i n Wort zusammengedrängt.
Das athenische Epigramm
F (Hiller, 12 = Geffcken, 107 = Preger, 199):
'E\).r)va>v jtQo^axoiivTEg 'A0r|vaioi Mapadc&vi
XQvaotpoQcov Mr)öo)v EaxoQEaav 8vva|xiv.

hat nicht auf dem Polyandrion in Marathon gestanden: ein „hier" könnte
sonst nicht fehlen. 'EXXrjvcav jtgo^axoövTEg zu sagen war wohl erst aus
der Perspektive von 480/79 möglich. Und man möchte mit diesem starken
und stolzen Gedicht, das doch gegenüber dem spartanischen ruhmredig
ist, gern noch ein Stück tiefer hinabgehen. Stand es wirklich | - was nicht
sicher ist — in der Stoa Poikile, so ist es ohnehin später als 460 (vgl.
v. Hiller) 16 .
Es fehlen in diesem Gedicht alle jene Splitterwörter, die sonst das
Griechische so beweglich madien. Die schweren Worte in schönstem
Gleichgewicht, je 2 in jeder der 2 mal 2 Vershälften: das ist bewußte
Kunst, man darf wohl sagen: echt attische Form. Die Beschränkung auf
das eine Elegeion aber ist, wenn wir den Ausgangspunkt richtig genom-
men haben, Rückgriff auf den durch Sparta bestimmten Stil von 480.
Und nun stelle man neben F das Gedicht
G (Preger, 274):
riaiöeg 'Aftr)vaiü>v IlEpacüv a t g a t o v k'E,o/.£aavxeg
f|Qv.Eaav äQyaliv\v jiatgiöi 5o\jXoawryv.

Das Epigramm steht in der Anthologie und in den Aristides-Scholien


neben echten Inschriften. Und es hat mit F die engste Verwandtschaft
des Stils, der darum hier nicht noch einmal beschrieben zu werden braucht.
Also stammt es am ehesten von einem öffentlichen Monument Athens
aus derselben Zeit wie F. Wäre es eine rein literarische Nachbildung, so
würde man das wohl irgendwo merken.
Ueber das Gedicht auf die Spartiaten von Thermopylai entschließt
man sich nicht leicht etwas zu sagen:
H (Hiller, 16 = Geffcken, ioj = Preger, 21):
TQ äyyeXktiv AotxEÖainovioig oti tt)iöe
XEi|AEda T0I5 HELVCOV Qr)|XaOl JtElOofXEVOl.

14
So ist die Weihung für Marathon in Delphi frühestens aus den 60er Jahren des
V . Jahrhunderts. Vgl. E . Loewy. S. B. Wiener Akad., 1937, 14 ff.
[991101] Geschichtswende im Gedidit 221

Und doch mögen einige Beobachtungen und Fragen nicht überflüssig sein:
i) Die vollkommen schlichte Wortstellung, die sich von Prosa nicht unter-
scheidet, hat dieses Monodistichon mit den übrigen gemeinsam. 2) Dabei
zeichnet es der harte Einschnitt tt)iöe || xsinefta vor allen aus. Er läßt dem
tt}iöe | nachsinnen, dem Worte des Gedichtes, das am meisten Unaus-
gesprochenes zu tragen hat. tfjiÖE gewinnt noch an Stärke durch den
Gegensatz des knappen xeivcov: wir hier draußen - die dort in der Heimat.
3) Die Anrede « ^eive, die unser Gedicht mit C verbindet, hat es vielleicht
früher nicht gegeben. Man ruft vom Grabe den Vorübergehenden avÖQWJtE
zu (Geffcken, 41) oder nagobmxa (Geffcken, 90) oder eite ötaxög xig avr)o
eite Ievog äXXo^Ev eXMv (Kaibel, 1 = Geffcken, 47) oder xoupete toi
TcagiovTEg (IG X I I , 9, 28 5) 17 . Hingegen die Korinther auf Salamis, die
Spartaner an den Thermopylen liegen Eni leviag, können also immer nur
einen isvog anrufen. Man empfindet: in u Ieive liegt Stolz und Klage
zugleich. 4) Was aber die Anrede der spartanischen Aufschrift einzig
macht, ist dies: Sonst wird der Vorübergehende angerufen, um eine Kunde
zu vernehmen. Höchstens wird er aufgefordert, das zu tun, was er ohnehin
täte: oixTiQE. Hier aber wird etwas nie vorher Erhörtes von ihm gefordert:
er soll in Sparta eine Meldung erstatten, die Leonidas selbst nicht mehr
erstatten kann. Es versteht sich, daß das erst zu allerletzt ein „künstlerisches
Motiv" ist. Die Meldung (sie hieße heut: „Befehl ausgeführt!") gehört
zum soldatischen Dasein 18 . Aber von den Dreihundert kann sie nicht
einer erstatten. So rufen die Toten den vorübergehenden Fremden dazu
auf. Was sonst Ungebühr wäre, das haben diese Männer ein Recht von
jedem zu verlangen, j) Daran schließt sich die Frage: Gehört vielleicht
der scharf befehlende Infinitiv (den die Späteren nicht mehr verstanden,
daher die Aenderung ayyEÜMv, än&yyeO.ov) zur Befehlssprache des Militärs?
In der Gesetzessprache sind solche Infinitive geläufig: TditoUom fhjeiv.
TävxEQCt e|cü xXv^eiv. Töv öixaa-rav ¿¡iviivxa xqiveiv. "Aq/eiv ¡xev ßouXfjg öeo-
Ti|ir|TODg ßaaiXfjag. Ebenso in der damit verwandten ethi'schen Mahnung:
|iri v.av.ä xEQÖaivEiv (Hesiod) 19 . Ebenso im befehlenden Ausruf des Herolds:
'Axovete /.eck . xaxa xa jtaxQia toxi; Xoag jiiveiv tinö xf)g aähmyyoq, (Aristo-
phanes, Ach. 1000). 'Axovete Xecdi . Tovig jioXixag . . . ämEvai... axojtEiv öe . . .
(Arist., Vögel, 448). Und Thukydides läßt den Brasidas in einer Rede, da
wo er einen militärischen Befehl gibt, sagen (V 9, 7): av de KXeagiöa . . .
al(pvi8i(og Tag iniXag avoilag ejiex&eiv xai EJtEiYEC&ai (bg Taxicrca au[iu,£i|ai.
Der präsentische Infinitiv scheint dabei zu überwiegen, und so hebt sich
unser u> |eive äyyeXXeiv deutlich ab von dem anders gearteten ßaax' I-fh . . .

17 Ob i=8ive in Kaibel, 4 = Geffcken, 44, richtig ergänzt ist, wird nun noch zweifelhafter.
Aber auch in JG I 2 985 ist |etve ganz ungewiß. (Man muß auf die Veröffentlichung
von U.Köhler, AM 10, 1885, 403, zurückgehen.) Man könnte z . B . ergänzen [ 2 o i
t68e afjfi' 'AqxiJve [jta]xr|p KaX(X)aiaxP°S £d[r)xev] oder Xaglve oder Eu^eive.
w Zutreffend R. Heinze, N. J. f. d. kl. Alt., 18, 1915, 6.
19 Vgl. E. Ahrens, Gnomen in griediisdier Diditung, Diss. Halle. 1937, 107.
222 Griechische Literatur [1011102]

jtavxa xä8' ayytikai in der Ilias O 159. 6) Und eine andere Frage: Gehört
dann auch jenes Tfjiöe zur militärischen Sprache („Hier!")? Aus Kultver-
sammlungen kennen wir es: ti? xrjiöe; jioUoi xävaftoi. 7) „ihren Worten
gehorchend", d. h. dem militärischen Befehl. „Das V o l k " , sagt R. Heinze,
a. O . 7, „hat die 300 Spartaner ausgesandt mit dem Befehl, um jeden
Preis den P a ß zu halten. Diesem Befehl hat Leonidas gehorcht". N u n
ist aber dieser Gehorsam keineswegs mit hier neu geprägten Worten
benannt. pruiaai raiftonevog (mit vorher gehendem genet. plur. otvfrQcbjtcov)
und x e V a a i JtEtftonevog ist geläufiger Pentametersdiluß bei Theognis (194.
1152. 1238 b. 1262). xc^U-iaca iteifronsvoi schon bei Solon 3, 6 (vgl. eQY^a<Jl
jisiftö^Evoi Solon 3, 11). Es ist also wahrscheinlich, daß auch prinaai
jiEift6(i.Evoi der frühen Elegie angehört, und sehr denkbar, daß die Formel
so oder ganz ähnlich schon im Tyrtaios vorkam 20 . Wenn der Dichter des
Grabelegeions auf die alte, wohl altspartanische Elegie zurückgreift, so
heißt das nicht, daß er sich die Sache leicht gemacht habe (die Frage nach
der sogenannten Originalität ist dem inschriftlichen Epigramm überhaupt
und nun gar diesem Gedicht gegenüber falsch gestellt), sondern dies:
die Mahnung des alten Gedichts, vielleicht also geradezu des spartanischen
Mahners Tyrtaios, hat | ins Leben gewirkt und klingt von da auf den
Grabstein zurück - um, ganz mit geschichtlicher Wirklichkeit gefüllt,
wieder ins Leben weiter zu wirken.

j. Ende der Perserkriege

I (Hiller, 49 = Preger, 269):

' E | ov y' EiiQci)jtr|v 'Aairjg bi%a jiovtog evei[ie


xai iiöXiag •ftvriTÜv froipog "AQT|g EcpEJtEi,
ovbev jtco xaXXiov Eiti^ovicav yevex' ¿vöqwv
EQyov ev f)3tEig(Di stai xaxa jiovtov a|i,a.
oiöe yäq ev Kujiqoh Mr|6(ov jtoXXoiig öTiffavtEg
$oivixcov sy.atov vaCg eäov ev mXäyzi
dvÖQÜv jiXir&oijaag • [liya 5' ectxevev 'Aaig vut' cmxwv
jtXrivEia' d^qpotEQaig /Egal xpaxEi jtoXe(xo,u.
Varia lectio. - Text bezeugt durch Di(odor)21, Ar(isteides), An(thologia Palatina).
Grundsatz für die Auswahl der Lesarten: solche, in denen 2 Zeugen übereinstimmen,
werden vorzuziehen sein.
1. y' Di An: x' Ar (und Kaibel 768) Eüqüwit]v 'Aairig Di Ar: Etigcbjiav 'Acririg An
(Ei>QWJtr|V 'Aaiag Kaibel 768) evetne(v) Di An (Kaibel 768): expive Ar

20 Vgl. zur allgemeinen Form des Pentametersdilusses Edveaiv Elö6[ievoi Tyrt. 1,8;
XEQaiv dvacxonevoi 1, 13; äxftsoi xei()6|ievoi 5, 1; itaxpiöi napvd(j.Evov 6, 2; dvöpaai
napvoinevoi 7, 18; und zum Inhalt 1, 15: (iovir|i jtEia6(ied' fiyenovcov.
21 Auskunft über die Diodor-Oberlieferung verdanke ich R. Laqueur.
[1021103] Gesdiiditswende im Gedicht 223

2. noXia; Ar JiöXeag Di: Ji6?.£[iov An dvr]Twv Di Ar: Xaüv An e<pertsi Ar An:


£jiE%ei Di
3. ovbe(v) Di: ouöevi Ar oüöaud An xdMaov Ar An: toioirov Di
4. ä|j.a Di An: o^ioC Ar
j. Kvjiqcoi Di An: youtii Ar öleaavtEg An Ar Di v. 1.: ¿XaaavTEg Di
7. atitcöv Ar: aizw Di (An fehlt).

Kritische Erörterung. - „So viel steht fest, daß es auf einem öffent-
lichen Monument kein vergleichbares Gedicht gibt", sagt Wilamowitz,
Hellenist. Dicht. I 128, mit Recht. Aber daß darum das Epigramm „auf
einem attischen Weihgeschenk des V. Jahrhunderts nicht hat stehen
können" - so Ed. Schwartz, Hermes 35, 1900, 118 - ist kein bündiger
Schluß (wobei die Gattung des Monuments vorläufig noch ganz auf sich
beruht). Könnte man zeigen, daß das Denkmal | in einem „unvergleich-
baren" geschichtlichen Augenblick errichtet worden ist, so wäre vielleicht
die Unvergleichbarkeit des Epigramms gerechtfertigt.
Domaszewski22 und Wade-Gery 23 verteilen die vier Distidia auf zwei
durch einen Zeitabstand von fast zwei Jahrzehnten getrennte Denkmäler:
vv. 1-4 sollen auf die Doppelschlacht am Eurymedon (etwa 466), vv. 5-8
auf die Doppelschlacht bei Kypros (449/48) gehen. Die Schwierigkeiten
dieser These sind folgende: 1) vv. 1 - 4 geben überhaupt kein vollständiges
Epigramm des V. Jahrh. ab. Nimmt man sie als ein solches, so würde
diesen allgemeinen Sätzen jede sachliche Bestimmtheit fehlen. Das Epi-
gramm würde also eine Ergänzung durch eine prosaische Inschrift oder
durch ein zweites Epigramm fordern 24 . Was tut man also? Man beseitigt
die zweite Hälfte und muß dann das unvollständig gewordene Gedicht
durch einen nicht überlieferten Zusatz ergänzen. Ein bedenkliches Ver-
fahren! 2) vv. j - 8 sind so lange kein vollständiges Epigramm, als es
nicht gelingt, den Anfang als Anfang herzustellen. Weder oi8e xai noch
oiöe niv ist überzeugend. Wade-Gery hat selbst diese Schwierigkeit deutlich
erkannt. Loewys erstaunliche Hypothese 25 , daß das yäg am Anfang die
Erläuterung eines benachbarten Gemäldes übernehme, müßte sich auf
irgend eine Analogie stützen, um glaublich zu sein, yäg begründet die
vorhergehenden Worte. Es ist bisher nicht gelungen, dieses Scharnier, das
die zweite Hälfte des Gedichts an die erste fügt, zu beseitigen - ebenso
wenig wie es gelungen ist, vv. 1 - 4 als vollständiges Gedicht zu recht-
fertigen. 3) Für die Einheit des 8-zeiligen Gedichts spricht Ephoros; denn
wenn er es auch falsch interpretiert, so interpretiert er es doch als ganzes.
Aber schon im V. Jahrhundert ist das ganze - und nicht nur die erste
Hälfte — nachgeahmt worden in der bekannten Inschrift des lykischen
Dynasten, Kaibel 768. Denn da schließt sich an den ersten Vierzeiler eine

22
SB Heidelberg, 1914, Abh. 10.
23
JHS, 53, 1933, 82 ff.
24
So richtig Ed. Schwartz, a. O. 121.
» SB Wien, 1937, 27.
224 Griechische Literatur [103)105]

Fortsetzung, die der zweiten | Hälfte unseres Epigramms entspricht: man


vergleiche ööe . . . dgiaxEiiaag . . . jiegaag . . . Öäiy.e mit oi8e yag . . . ¿Xeaavxeg
. . . elov.
So kann die Zerlegung nicht als geglückt gelten. Dann aber muß das
Gedicht als Einheit aus der geschichtlichen Situation von 449/48 ver-
ständlich sein. Welche Schwierigkeiten stehen dem entgegen? Es sind nach
Wade-Gery zwei:
i.iijteiQog (v. 4) könne im V. Jahrh. nur Kontinent heißen, nicht Insel.
Das ist im allgemeinen richtig. Aber hier in dichterischer Sprache heißt
ev f|jt£igoji gegenüber dem xatd jiovxov weder „auf dem Kontinent Asien"
noch „auf der Insel Cypern", sondern ganz einfach „zu Lande". Wenn
ich xatd yt|v y.ai y.aib. öaXatroav höre - und das ist die prosaische Ent-
sprechung — oder wenn ich höre sju xpacpspriv xe xai vyQr\y oder ev itövtcoi,
ev xeqocdi, so brauche ich nicht zu fragen und frage oft nicht, ob dieses
Land Insel oder Kontinent ist. Die Worte können auf Eurymedon und
auf Kypros genau in gleicher Weise passen. Ich denke, Wade-Gery hat
diese sprachliche Schwierigkeit überschätzt, weil er das Lexikon mehr
als billig befragte. Oder vielmehr weil er es nicht genug befragte und
allzu einseitig s. v. rineipog.
2. (und darauf legt W-G den stärksten Nachdruck) oüöev neu toioütov
könne nur auf den großen Doppelsieg vom Eurymedon, nicht auf die
vergleichsweise unbedeutende Doppelschlacht bei Kypros gehen. A b e r :
a) Unser kritischer Apparat zeigt, daß die Lesart xaXXtov vor toioötov
den Vorzug verdient, weil jene von zwei (anscheinend unabhängigen)
Zeugen, diese nur von einem garantiert wird. Daß die Lesarten des
Ephoros-Diodor als des ältesten Zeugen vorzuziehen seien, wird mit
Unrecht behauptet26. Denn Ephoros kann, wie er das Gedicht falsch
interpretiert hat, auch einen willkürlich zurecht gemachten Text bieten.
Und vielleicht ist der Ersatz von xa/.Xiov durch toioütov in der Tat eine
tendenziöse Änderung27. Keinesfalls darf | die historische Interpretation
des Ganzen sich grade auf das zweifelhafte Wort toioütov stützen, am
allerwenigsten es darum für ursprünglich halten, weil es das stolzere und
stärkere sei (L. Weber). stdXXiov scheint besser bezeugt und ist sachlich
vielleicht grade darum vorzuziehen, weil es einen minder hohen Anspruch
macht. „Keine schönere Tat als der Doppelsieg von Kypros" — dieses

26
L. Weber, Philologus, 74, 1917, 49 f.
27
Die Nachahmungen geben hier nichts Sicheres aus. Man hat sogar den Eindruck, als
seien beide Versionen schon frühzeitig umgelaufen. Die lykische Stele Kaibel 768 hat
zwar oööe'i; jico Auy.torv aTr)Xr)v TOiävöe äv£{h)>cEv, aber in der anderen Nach-
ahmung Kaibel 844 steht otiöei? . . . (xei^ovafrvriTcöv.Und wenn Diodor XI, 61,7,
schreibt: veviutixote? öiio xaXXiatat; vlxag, xfjv |xev xaxä yfjv, xf|v öe xaxa MXax-
xav- otiÖEJtc0 yäq (ivruxovEiiovxai xoiaöxai y.ai xriXwcaüxai jtpä§sis YEVEcrdai, so
hat er - oder Ephoros - zwar toioütov im Text des Epigramms gehabt, aber es sieht
fast so aus, als habe er audi xdXXiov gekannt.
[105j106] Gesdiiditswende im Gedidit 225

Urteil braucht der heutige Historiker nicht zu teilen. Aber er darf es den
Zeitgenossen nicht bestreiten, daß sie so urteilen konnten. W i r werden
sogar dieses Urteil selbst als historisches Faktum zu buchen haben. Keine
schönere T a t als die Doppelschlacht bei Cypern, selbst die 20 Jahre zurück-
liegende Doppelschlacht am Eurymedon eingeschlossen: so wollte man es
alsbald nach dem Ereignis.
b) Diese letzte Darlegung a) behält, scheint mir, auch für den unwahr-
scheinlicheren Fall ihre Geltung, daß nicht xaXXiov sondern toiovtov die
ursprüngliche Lesart ist. Selbst toioötov würde meines Erachtens nicht zu
dem Urteil Wade-Gerys berechtigen, „that if these two lines do not refer
to the Eurymedon battles, I think w e must resign ourselves to attaching
no meaning to the metrical inscriptions of fifth-century Athens". Denn
in diesem emphatischen Satz ist eins übersehen: es geht hier nicht um ein
objektives geschichtliches Urteil sondern um ein zugleich poetisches und
politisches, gesprochen aus bestimmter geschichtlicher Situation, der
von 449/48.
Interpretation. - Läßt sich also das Epigramm nicht in zwei Vier-
zeiler zerlegen, so ist doch in dieser unrichtigen These etwas Richtiges
gesehen: zu Grunde nämlich liegt die Form des Doppeldistichons: Oiöe
nag5 EÜQD|iEÖovTa (Hiller, 42), | Oiöe küq' 'EXM|0jh)vtov (Hiller, 52
= Geffcken, 86 = Hicks-Hill, 46). In A t t i k a hatte man sich dem Gesetz
des Monodistichons auf seinen öffentlichen Grabmonumenten niemals
durchaus gefügt. Der Vierzeiler überwog, und diese herrschende Form
hat der Dichter des Kypros-Epigramms ins Außerordentliche erweitert,
nämlich indem er in zwei vorausgeschickten Distichen eben dies eine
ausspricht: das Außerordentliche; noch nie (1-2) ist etwas Schöneres
geschehen (3-4).
Mit einer Ausweitung der Zeitdimension bis in die fernste Vergangen-
heit setzt das Gedicht ein. Das Epigramm auf König Midas' Grab, das
dem Homer oder dem Kleobulos zugeschrieben ward, "Eox' av üöcop te
ger)i xai ösvögea nor/.pä TEÖr)Xr)i, gibt eine ähnliche Ausweitung in die
Zukunft. Die Zeit freilich ist in jenem unhistorischen, noch halb
mythischen Gedicht nur als Naturdimension erfaßt 28 . In dem geschicht-
lichen Epigramm herrscht die geschichtliche Zeit. Schon die N a t u r in v. 1
enthält einen Hinweis auf die geschichtliche Welt: die Trennung Europas
und Asiens durch den Hellespont steht am Anfang, weil der Perserkrieg,
der jetzt zum Ziel gekommen ist, sich aus dieser Urbestimmtheit der Natur
erhebt. Und eben um dieses Krieges willen sieht v. 2 die ganze Mensch-
heitsgeschichte an als vom Kriege bestimmt: König Krieg oder Gott Ares
waltet über den Städten der Menschen. Der geschichtliche Aspekt dieses
Distichons ist ähnlich wie im A n f a n g von Herodots Werk (I, 4): Aus der
ursprünglichen Trennung (xExoopiaftai) von 'Aciri und Euqcojiti erwächst der

x Wasser, Bäume, Sonne, Mond.


226 Griechische Literatur [1061108]

kriegerische Gegensatz seit dem troischen Kriege (dotò totjtou <ki). Und
etwa in dieselbe Zeit gehört Choirilos von Samos, dessen Gedicht damit
beginnt, oitcog 'Aairig aitò ya^l? t)M)ev è; Evig6jtr)v noXe^o? fxÉyag.
Auf die starke doppelte Spannung von v. i und 2, bereichert durch
die kontrastreiche Fügung der Worte innerhalb dieser Verse
ov y* | EviQ(!)Jtr|v || 'Aoirig öixa | jiovto; evei^e —
Kai jtóXiag i}vT]xcöv || ftoigog "Aqt|5 ècpéjtei —, |
folgt die Lösung im zweiten Distichon. Da aber hier mit höchstem Nach-
druck (oiiöev jto) xdUiov) wieder nur etwas Allgemeines und in sich Unver-
ständliches ausgesprochen wird, so tragen 1 - 4 als Ganzes eine Spannung,
die sich erst in j - 8 lösen wird: Das Wörtchen yàg ist das Symbolwort
für diese Lösung oder Erfüllung.
Mit oiöe gleitet das Gedicht in den Typus der vierzeiligen Polyandria-
Gedichte hinüber (s. o.). Daß es wirklich im Kerameikos stand (Pausan.,
I 29, 13), ist überwiegend wahrscheinlich29. Künstlerisch bleibt die straffe,
an die Versgliederung sich bindende Antithetik: v. 5 èv rosigem - v. 6
xaxà jtóvTov, Das Besondere dieser Seeschlacht, daß die gesamte Schiffs-
bemannung mit in Gefangenschaft geriet (crìiv crà-colg toig dvögaai Diodor),
ließ sich nicht mehr in dieses Distichon fassen und greift also nachdrücklich
in die erste Hälfte von v. 7 hinüber.
7 b-8 ist ein machtvoller Abschluß, der Weiträumigkeit des Gedichtes
und der Größe des historischen Moments ganz entsprechend. Das Ende
zieht sich mit dem Anfang in eins zusammen ( 7 ~ i , 8~2). Asien wird in
der feierlichen und mehr personellen Form 'Aaig30 Subjekt. Sie stöhnt
wie bei Aischylos nach Salamis (axévei yàg 'Aaiàg Perser 549). Aber hier
wird Salamis fast übertroffen. Dem Schlag zur See (idayalai jtovuaioi
Pers. 906) steht hier der Doppelschlag gegenüber. Wer hat ihn geführt?
Der Sieg. Denn für den Sieg ist xpàxog jioXéixou mit oder ohne Kai vixri die
feierliche Form des Gebets und des Orakels 31 . So steht am Ende des
Gedichtes, das den Abschluß jahrzehntelangen Ringens bezeichnet, das
feierliche Wort für die siegreiche Entscheidung32. |
So begreift man das Denkmal - das Eduard Meyer 33 durchaus richtig
beurteilt und geschichtlich eingeordnet hat. Die Schlacht bei Cypern war
oder sollte erscheinen als das Ende des jahrzehntelangen Ringens zwischen
Griechen und Persern. Nun ist auf einmal angemessen, was vorher be-
fremdet: die Ausweitung des überlieferten Gedichttypus ums Doppelte
29
S o K . W . Krüger, Kaibel, E d . Meyer, L . Weber, Hiller v . Gaertringen. O b man, um
den notorisch unzuverlässigen Ephoros wenigstens in etwas zu entlasten, noch ein
delphisches Monument mit demselben Epigramm ansetzen will, ist Geschmackssache.
30
Wie Jtaar)g ' A a i ó o g Aischylos Perser 7 6 3 , vgl. auch Hiller, 2 5 .
31
Weil zu Demosthenes 19, 1 3 0 , Kaibel zu Elektra, 85.
32
O b man in v . 7 vorziehen soll vn a ü t ü v - Asien stöhnt auf unter ihnen - oder in.'
aütcöi — Asien, stöhnt auf getroffen von dem Endsiege selber - läßt sich aus der
Interpretation nicht mit Sicherheit entscheiden.
33
Forschungen I I , 9 ff., Gesch. d. Altert. § 3 4 2 .
[108/109] Geschichtswende im Gedicht 227

- der Geschichtsblick in die Urzeit - die mächtigen Worte und Bilder -


und nicht zuletzt jenes hochgegrifiene ovöev jtw xdXXiov (oder allenfalls auch
toioütov).

4. Sturz Athens

J (Hiller, j8 = Geffcken, 97):

Eixova edv dve^r)xev ejt' egyaii tüh8e, ote vixwv


vauai frocug xigazv KexoojuÖüv öiivauiv,
AiiaavÖQog Aay.eöai|xova o^oq-Otitov axEcpavdxrag,
'EXXaöog dxpojtoXiv, xaXXi/OQOfi jiaxQiöa.
'E|d(iov d|xq)iQVTO\) tev|e eXeyeiov "Itov.

Ebcöva tt|v8' dvEflrjx.E ist ein geläufiger Epigrammanfang (vgl. den


Index bei Kaibel), £av dvEftrixE für xavö dveftrixs eine äußerlich winzige,
der Sache nach radikale Abwandlung. Das Subjekt dieses unerhörten
Stolzes bleibt für den, der das Epigramm von der Statuenbasis abliest,
noch aufgespart zu gunsten der Tat. Erwägt man, auf wie viele Weisen
sich die Worte vixwv vaual ftoaig jxeqoev hätten in den Vers bringen lassen,
so ist der „Sieg", einsam ans Versende gestellt, wenngleich durch die
„ T a t " vorbereitet, eine Fanfare, deren K l a n g sich dann durch den Penta-
meter ausbreitet: der Flottensieg hat die Athenermacht gebrochen. Der
stolze Kekropiden-Name gehörte in den Mund der Athener und war dort
gewiß nur mit athenischen Siegen verknüpft: Euripides Phoin. 855 ou
xaXXivbioug KEXßOJuöag E<hr|x' ¿ycb, Ion 296 xai)xt|v ejieqoe Kexpojuöaig xoivwi
öoqL Mehr als einmal mag negoav Kexqojiiöcii oder Ähnliches in attischen
Grabaufschriften gestanden haben. Jetzt sind die Kekropssöhne Objekt
geworden. |
Das zweite Distichon ist ganz vom Ruhme Lysanders und Spartas er-
füllt, aber so, daß Lysander, auf dessen Namen man durch das ganze erste
Distichon gespannt worden war, nun vom A n f a n g des zweiten an als
Subjekt auch dieses ganze zweite beherrscht.
Das stolze homerische Beiwort dütoQÖrixog haben sich die Athener
gerade nach der Zerstörung von 480 gewiß mit besondrer Vorliebe zuge-
eignet, seitdem die Pythia von dem teiyog |x>Xivov ¿jtoqütitov geweissagt
hatte (Herod. V I I , 142). 'Aftryvwv djtögihiTog nöXig Aisch. Pers. 348, tegäg
XWQag djroQftr)tou te Eurip. Med. 826. Im I V . Jahrh. ist der Ehrentitel
auf Sparta übergegangen: novoi oixoüvxEg djtoQfhjxoi Lysias 34, 7, bis die
Thebaner Big xtjv djtögih)Tov slvai votntojxEvnv AaxEÖaifiovicov xcbpav, Deinarch
1, 73, einfielen und der Komiker Antiphilos (bei Athen. X V 681 b)
spotten konnte: o w scpiiacov ol Ady.üjveg cbg djto(y&r]Toi töte; vöv 6' öur|<5ei)ou(j'
ExovTeg jtoQtpvQoög xEXQuqjdXovg. Jetzt versteht man das Epigramm des
Lysander und seinen historischen O r t genauer: Sparta reißt den Ehrentitel
Athens an sich. Und nicht diesen allein. Der Pentameter fügt in seinen
228 Griechische Literatur [1091110]

zwei Gliedern zwei andere Titel hinzu. Mit 'EXXaöog äxQoitoXiv klingt
Pindars 'EXXdöog epsiana deutlich an. Es ist ein hübscher Zufall, daß wir
einen spartanischen Spott über dieses pindarische Preiswort auf Athen
noch nachweisen können: üivödgoi) 8e ygd^avtog ,'EXXdöog £QEia|xa 'AfKjvai'
Aäxwv ecpr| xatanEOEiv av tt)v 'EXXdÖa 6xod^ievt|v EQ£ia(j.axi toiccutcoi34. Lysan-
der setzt an die Stelle solchen Spottes einen politischen Anspruch. Zuletzt
xaXXixopov itaTQiöa: Gewiß hat man das Schmuckwort seit Homer von
jeder Stadt in gehobener Rede gebraucht. Aber es könnte wohl sein,
daß nach dem Abwelken der Chorlyrik Athen mit seinen tragischen und
komischen Chören einen besonderen Anspruch auf diesen Titel machte.
ev toüg (XEYOtAaimv oikco xai xaXXixÖQOig 'Attr|vaig Euripides Herakliden 359,
xaXXixÖQcm ;taTQi5og Hiller 47, emvÖQov 7äv KExgoitog . . . ov . . . rjoi t '
EnEgxoHEVcoi ßpojna x^Q1? £W£Xd8a>v te xoqojv EQEÖia(j.aTa Aristophanes
Wolken 300 ff. Wäre xaXXixopog als vereinzeltes Schmuckwort \ gebraucht,
so dürfte man die hier versuchte Ausdeutung nicht wagen. Aber 'EXXdöog
dy.gonoXiv, xaXXixogon, jiatQiöa geht ersichtlich in scharfer Gegenüberstellung
auf den Vorrang in den Werken des Krieges und des Friedens. Wie wenig
Spartas Anspruch gegründet war, lehrt die Geschichte.
Unter dem Vierzeiler folgt in einem besonderen Pentameter die
Dichtersignatur. Es ist die älteste auf einer Inschrift. Was es sonst der-
gleichen gibt, ist viel später35. Was bedeutet also das Ungewöhnliche, daß
Ion von der Insel Samos sich hier nennt? Doch wohl dieses: Geist und
Tat sind geschieden. Lysander kann Athen niederwerfen und den
Anspruch auf seine Nachfolge erheben. Aber formulieren muß ihm diesen
Anspruch eine ionische Feder, die er sich kauft. So hat ihm seinen Plan
zu einem Verfassungsumsturz ein gewisser Kleon von Halikarnass,
wieder ein Ostgrieche, in die Form einer Denkschrift bringen müssen.

j. Untergang der griechischen Freiheit

K (Hiller, 73 = Preger, 271):


OiÖE jiätQag evExa acpetegag elg 8f)Qiv eöevto
öitXa xai avtutdXcov Cßpiv ajiecrxEÖaaav •
|xaßvä|j.£voi 8" ägErfjg xai ögifiaxog ovv. Eaacoaav
ijru/dg, aXX* 5Ai8t]v xoivöv e'Öevto ßpaßf],
owexev 'EXXt|vcdv, wg [i/r) tvyöv avyzvi MvxEg
öouXoaxivTig anyeQav ajupig Excoaiv üßQiv.
yaia öe itatgig exei xoXjioig rcöv nXelaxa xajxovxcov
aci)[i,ax°, Eitsi "9vr|Toig ex Aiög t^öe xgiaig-
|xt)8ev ¿(iagTEiv eoti -ö-ecov xai jtavta xaxoQ-Ooiv
EV ßlOTTjl, ¡xolpav 8' oi)Tl CpuyElV EJIOQEV.
** Plutardi, Apophth. Lacon. inc., p. 232 E .
»5 Wilhelm, Oesterr. Jahresh. II, 239.
[1101112] Geschieh tswende im Gedicht 229

Daß der Text des Gedichtes schwer entstellt sei, scheint fast allgemeine
Annahme 36 . Möglich, daß an dieser Annahme etwas Richtiges ist, - ob-
gleich uns grade die Kritik an einigen |Änderungsversuchen zum besseren
Verständnis des Gedichtes führen soll. Wir gehen dabei aus von einer
offenbar treffenden Beobachtung von Wilamowitz, der den Stimmungs-
ausdruck des Gedichtes rühmt und dann hinzufügt: „Die Form steht
nicht auf gleicher Höhe". Wenn das aber so ist, dann wird vielleicht
mandies, was einem am Wortlaut befremdlich vorkommt, lieber zu ver-
stehen und nach seinem Stimmungsgehalt zu befragen als abzuändern sein.
Die beiden ersten Disticha entsprechen dem Typus der vierzeiligen
Polyandria-Aufschriften wie O I Ö E nap' EvQuniöovTa Hiller, 42, Oiöe nag'
'EM.r|(jjiovTOv Hiller, 52, Oiöe itargav jioXiiöaxQOT Anth. Pal., V I I 242 (vgl.
oben S. 225).
V . 1-2. Sie gingen in den Kampf für ihr Vaterland und warfen die
feindliche Uebermacht zurück, ndtgag evexa acpstEgag, so ist es überliefert,
und so ist es richtig. Denn so heißt es in dem homerischen Vorbild
P 157/58 01 JIEQI jtaTQris | avögaai öva|ieve£ffai . . . öfjQiv E-ÖEVTO. So heißt
es auch immer wieder im Epigramm: itegLrorcpiöogwAeaaft' fißrjv Hiller, 47,
yäg W I E Q Hiller, 68, OIÖE itatgav . . . G V Ö ^ E V O I Anth. Pal., VII, 242, Jtaxgiöa
Quonivoug Anth. Pal., VII, 255, 'Aßöiqgcov jtgoftavovta Anth. Pal., V I I , 226.
So sagt auch Demosthenes: W I E Q TOÜ 8F|[xov öe(xevog zä onXa ( X X I , 145) und
Lykurg (§43) ojtAci {TEIIEVOV IIUEQ tfjg natpifiog. (Formal klingt TOIJOÖE ITÄTGRIG
EVExa otpETEgag an xotjaö' dQExfjg Evexa atEqpavoig Hiller, 61 an.) „Sie gingen
für ihre Vaterstadt in den Kampf" ist stärker, einfacher und richtiger als
„sie gingen fern von ihrer Vaterstadt in den K a m p f " , Jidtpag HEV Ixag
aqpetEQag, nach H . Weils Konjektur, die Wilamowitz rühmt, Hiller über-
nimmt. s'ig örjgiv E Ö E V T O öjiXa aber ist eine für den Stil dieses Gedichts
vielleicht charakteristische Verschmelzung eines Homerismus öfjgiv E Ö E V T O
(P 158, siehe oben) mit einem militärischen Fachausdruck sig td£iv M E V T O
TÄ ojtla37.
V . 2. Der Angriff der Feinde ist als Sßgig, gewaltsame Störung des
Rechtszustandes, empfunden. cuiEaxeöaaav, sie wiesen ihn ab (ajto-), indem
sie die einheitliche K r a f t des | Stoßes zerstreuten. Von ndtpag Ivsxa bleibt
genug im Bewußtsein, um Jid-cgag zu äjto- hinzuzuhören. Durch die Än-
derung exdg bekäme dieser Satz keine größere Deutlichkeit, als er ohne-
hin hat. H . Weil (a. O . 29) ist „erstaunt die Niederlage in einen Sieg
umgedeutet zu finden". Aber gerade das hat Lykurg getan: EI 6E öei
jtagaöotÖTatov ^ E V E I T O I V , dXri^eg Ö E , E X E I V O I vixamsg ajtEÜavov (in Leoer.,
§ 49). „Das Gefühl der Niederlage ist beschwichtigt", Wilamowitz, a. O.
215. Indem sie dem Feinde entgegentraten, haben sie (trotz ihrer Nieder-
lage) die K r a f t seines Stoßes zersplittert und abgewandt.

3<> Vgl. die Unzahl der älteren Änderungsversudie bei Preger, Inscr. Gr. metr. zu Nr. 271.
Ferner U. v. Wilamowitz, Sappho und Simonides, 214.
37 Xenophon, Anab., II, 2, 8; vgl. audi die Stellen aus den Rednern.
230 Griechische Literatur [1121113]

V . 3-4. Sie fielen im K a m p f e . Dies der allgemeine Sinn des Distichons.


¡.ictQvdnEvoi steht unerschütterlich am Anfang. Es stammt aus dem Typus
Hiller 42, 52 (s. o.), den man sich hier erweitern sieht. Die Anschauung
„ K a m p f " scheint in ihre scharf gegensätzlichen Komponenten ausein-
ander zu treten: age-cri Mannheit, Bewährung, und 6sl|j.a Schrecknis,
Schrecken, Furcht. Alle vorgeschlagenen Änderungsversuche - 01961% xai
8eiy(xaTog, öicc ÖEiyna-rog, xaid &Eiy|j.aTog, öi/a 8ei|xaTog, ageco; xai. Xrinatog,
agecag te xai ai|iaxog, pivriaa^evoi 6' dg£Tf|g xai Xf]uaiog, [xaiofiEvoi 5' dgETfjg
iaoöai|xovog, dpvu|X£vot 8' apexriv b'v/a öaL|iovog — werden nur die scharfe
Polarität der überlieferten Worte deutlicher hervortreten lassen38. Der
grammatische Bezug der beiden Genetive ist freilich nicht sofort eindeutig
klar 39 . Gehören sie zu otix eadcocrav? Aber dann könnte ex kaum fehlen 40 .
Andere wollten sie von ßgaßrj abhängig machen, so daß oux eaämaav
apuxag, ä ) l ä als öid iieoou stünden 41 . Vielleicht muß man sich herbeilassen,
mit einer gewissen gleitenden Unbestimmtheit der grammatischen Bezie-
hungen zu rechnen, die man tadeln mag, aber | verstehen kann und etwa
zu den Eigentümlichkeiten grade dieses Gedichtes wird zählen dürfen.
|xaQva(i£voi gibt die allgemeine Situation, dann folgen in einem Genetiv,
der seine Bestimmung noch erwartet, die beiden Komponenten dieses
Kampfes. Mit eadoaav bekommen diese beiden Genetive zunächst eine
halbe und noch unbestimmte Beziehung, w o das ex nur darum fehlen
kann (freilich auch fehlen muß), weil erst das letzte Wort ßpaßfj die
Genetive eindeutig festlegt. Eine solche Vagheit des Ausdrucks ist dem
Verfasser dieses Epigramms vielleicht zuzutrauen. Gewiß ist Präzision
eine dichterische Tugend, aber nicht die einzige, und sicher nicht die seine.
Jedenfalls heben die Änderungsversuche, durch die man größere gram-
matische Klarheit hat erzielen wollen, eben schon durch ihre Mannig-
faltigkeit einander auf und verweisen auf den überlieferten Text. Die
älteren von ihnen sollen hier nicht erörtert werden. Aber daß der Wila-
mowitzsche äoETr] 5' ex ÖEinatog oiix Eadmas i|>ir/.dc nicht nur gewaltsam
sondern falsch ist, das lehrt die Besinnung auf die ursprüngliche Form die
hier umgestaltet wird: wteoav rjßryv (iaQvd|xsvoi (Hiller, 47, 52). Daraus
folgt a) daß uaQva|i£voi nicht zu aneay.eöaaav gehört, b) daß o w ¿adcooav
im Plural erhalten bleiben muß, w o f ü r auch die sprachliche Symmetrie
oiix Ecracoaav u).}J eOevto spricht.

38
t^t' ä X x % t)8e cpoßoio Ilias P 42 verglich Spengel. D a ist die Polarität nicht ganz
dieselbe, aber Polarität ist es auch.
39
Man hat sogar in der Verzweiflung versucht, sie zu ¡aaQvdiiEvoi zu ziehen: „kämpfend
um Tapferkeit und Furcht"!
40
i x jioXe|ioi> koawoe A 7 5 2 , aacbaetov £x ito^£|j.oio P 3 0 9 ; es ist ja nicht „befreien
v o n " wie Soph. Antig. 1 1 6 2 ao'jaa; E/ftotüV x ^ o v a .
41
„ K ä m p f e n d haben sie über Tapferkeit und Furcht nicht die Lebenden als xpitai, sie
haben ihr Leben nicht gerettet, sondern den xoivög " A i 5 t i s als Schiedsrichter auf-
gestellt", so Spengel.
[1131114] Geschichtswende im Gedicht 231

Im zweiten Distichon also w i r d das einfache „sie fielen im K a m p f e "


ausgestaltet z u starkem, b i l d h a f t e m und gefühlsbeladenem Ausdruck.
D e r K a m p f ist ein Gegenüber v o n dg£tr| und öeina. In diesem K a m p f
sind sie gefallen und hinabgestiegen in den H a d e s , der als K a m p f r i c h t e r
z u entscheiden w e i ß , ob sie auf der Seite v o n &qett| oder v o n ÖEi|xa gestan-
den haben, xoivog, weil omnes eodem cogimur (Hör., c. II, 2, 25) in com-
munen locum (Plaut., Cas., 21), Tryv xow|v dxaQrciTOV (Kaibel, 534, 2),
xoivog ;iäai Xijxrjv 'Aiörig (Leonidas, A . Pal., V I I , 452), xoivog dveiXciTO
öai|uov (Kaibel, 404), eig xoivöv "Aiörjv jidvxeg filoucriv ßporoi ( A . Pal., V I I ,
335). A l s o etwas Weites und Tröstliches scheint dem B e i w o r t xoivog inne-
zuwohnen.
V . 5 - 6 . D e n T o d erlitten sie f ü r die Freiheit v o n g a n z Hellas, ouvexev
'EXXrjvcuv steht parallel dem A n f a n g itdxgag | evExa aqpEXEgag, und gerade
diese Ähnlichkeit hat z u Ä n d e r u n g e n in v . 1 geführt. A b e r es ist ja ein
klarer Unterschied (auf dem schon Spengel hinwies): sie gingen f ü r ihr
V a t e r l a n d in den K a m p f - sie starben f ü r die Hellenen. D a ß diese Stu-
f u n g nicht noch ausdrücklich sichtbar gemacht w i r d („ne f u t ce que p a r
une simple c o n j o n c t i o n " , H . Weil), m a g man bedauern, aber h a t man
anzuerkennen. Übrigens t r i f f t es sich gut, d a ß w i r sie ähnlich aus der
späteren Epitaphienliteratur belegen können: Lysias Epit., § 68 etoVriaav
yaq (x£ydXr)v jtoioivxEg xr)v 'EXXaöa ov |xövov voteq xrjg avtcäv atoxriQiag xivöv-
veijeiv, aXXd xai vxeq xrjg xwv jtoXsiiiwv (das ist hier etwas anders pointiert)
EXEtr&Epiag djtofrvriiaxEiv. V e r b i n d e man damit aus dem demosthenischen
Epitaphios § 23 öti f) n&aa xrjg 'EXXaöog aga sXEufkgi« ev xaig twvöe xcöv
avÖQtüv ^ir/aig öieooh'Cexo oder aus dem Epitaphios des H y p e r e i d e s § 16
01 Tag eciutcüv ipu/ug EÖcoxav xoteq xrjg xcöv 'EXXr)va)v EXsuOegiag. Für die
Freiheit: das ist wieder mit einer Fülle starker W o r t e gesagt. A n tvyov
avyevi MvxEg ist mannigfach gerüttelt w o r d e n (SiivxEg, Oevxwv, ösiaav,
£uyuh axy.Eva öövxeg). A b e r es ist eine alte Formel 4 2 , die hier e t w a s variiert
und vielleicht auch w i e d e r nach der Weise dieses Dichters in einem eigen-
willigen Sinn v e r w e n d e t w i r d . D i e Hellenen standen in G e f a h r , sich das
Joch auf den N a c k e n legen z u lassen, oder eigentlich: z u legen. E r sagt
nicht gradezu ftqxEvoi, aber man soll w o h l hören: durch ihre eigene P o l i t i k
waren sie daran, das Joch aufgelegt z u bekommen. D a n n hätten sie um
die Schultern (d(xcpig nach homerischem V o r b i l d Y 468, das Bild des Joches
klingt also noch weiter) die traurige Knechtschaft. öouXomjvr}g k a n n z u
t,vyov und m u ß z u vßgiv gezogen werden. Knechtschaft ist üßeig, w i e der
abgewiesene A n g r i f f , der auf K n e c h t s d i a f t zielte, vßpig w a r , v . 2, und
w i e es ttjv 'EXXdöa ecoqoov iißgi^ouivrjv im demosthenischen Epitaphios § 28
v o n den Gefallenen heißt. In dem ganzen Verse aber klingt stark die
ältere Elegie an, und damit nicht nur ein literarisches V o r b i l d , sondern
eine ganze Gefühlssphäre: öouXocruvT|v axuYEQav dixcpißaXoiaa xdgoa singt
Andromache bei Euripides (Andr. 110). |
42 Hesiod ExH 815 {uro t^ir/öv atr/cva oder av%tvi deivai ßouaiv.
232 Griediische Literatur [115j116]

V. 7-8. Hatte sich der Blick von Athen auf Hellas geweitet, so kehrt
er nun zum Vaterlande zurück. Die Mutter Erde, die Heimaterde hat
in ihren Schoß die Leiber der Gefallenen wieder aufgenommen43, tüv
jdeioxa xaixovTcov derer, die am meisten gelitten haben (ovö' et (xaXa itoXXa
X A N O I T E 0 2 2 ) . Man denkt an Y)(XSTEQCDV naftecov in dem anderen Chairo-

neia-Epigramm L. Aber unvermeidlich hört man zugleich in xanov-tcov


die Toten aus dem formelhaften Hexameterschluß Homers siSoiXa
y.a|i6vTCüv. Es sind die, die das größte Leid nicht nur erlitten, sondern aus-
gelitten haben.
V. 8-10. Die allgemeine Gnome „denn alle müssen sterben" würde
das vierte Distichon schließen und das Ganze abrunden, etwa wie Kaibel
1 0 7 9 ngog ÖE fiitov Moigtig ofrug E X E I öwaaiv. Man setze das ein und sehe,

wie das Gedicht abfällt, und wie recht der Dichter getan hat, den Schluß
mächtig ins allgemeine zu weiten. Und wieder ist der genaue Sinn unter
den gefühlsbeladenen Worten schwer festzulegen, wie die Mannigfaltig-
keit der Interpretationsversuche zeigt (von den mannigfaltigen Ände-
rungsversuchen nicht zu reden). Hier einige Fragen, um diese Mannig-
faltigkeit anzudeuten: Gehört rjöe otpiaig zum Vorigen oder zu dem All-
gemeinen was folgt? Ist zu Gcuagteiv hinzuzudenken ßpotoiig, oder sind es
die Götter selbst, zu deren Wesen es gehört keinen Fehl zu begehen? Wo
dann im zweiten Falle ev ßioxrji „im Menschenleben" bedeuten und zum
Folgenden gehören müßte44.
Beginnen wir mit dem Schluß. Das Vorbild ist Homer 2 488 noipav
ö' cnkiva <pr)[H jtEcpt)Y|X£vov eniievai dvögtov. Also wird mit [xoipav öe auch
hier der letzte Satz anfangen. Dazu stimmt, daß ßiotr) nicht schlechtweg
„Menschenleben" heißt im Gegensatz zum Leben der Götter, und daß
die Wortstellung ev ßioxfji (xoioav öe nur im letzten Notfalle annehmbar
wäre. Wenn uolgav öe hinter ev ßio-n}i steht, so wird Tod | dem Leben ent-
gegengestellt. Daraus folgt weiter: „daß die Menschen im Leben nichts
versehen und alles recht machen (oder: daß man nichts versieht), ist Sache
der Götter, hängt von den Göttern ab 45 ". Man behaupte doch nicht (mit
Weil a. O. 32), kein griechischer Dichter könne so gesagt haben; sie seien
alle überzeugt, daß ungemischtes Glück niemandem zuteil werde, - und
deshalb sei der Text verdorben. Denn erstens zeigt die Kroisos-Solon-
Geschichte bei Herodot, daß die Götter den Menschen wohl auch ein
reines Glück schenken können (so wie der Gott „Glück" versteht). Und
zweitens und vor allem ist ja gerade hier gemeint, daß das sehr selten ist
und daß es den Gefallenen von Chaironeia gerade n i c h t beschieden

43
E s sind die in die Heimat gebrachten irdisdien Reste: T h u k y d . II, 3 4 , 3 . 0a>|Mrra
darum anzutasten, w a r ein seltsam rationalistischer Mißgriff Bergks. D a s Epigramm
nadi Chaironeia statt nach Athen zu verlegen, ist ein Irrtum Hillers.
44
Es w i r d sich zeigen, das Spengel a. O . 3 0 2 richtig interpretiert hat.
45
Hieße der S a t z : „alles recht machen ist den Göttern vorbehalten", so w ä r e £v ßiotiji
ziemlich absurd.
[1161117] Geschiditswende im Gedicht 233

war. Ist aber so der Zusammenhang des letzten Distichons gesichert, dann
gehört schließlich •fhoitoig ex Aiog fjÖE xgiaig zu beiden folgenden Sätzen
und zu beiden gleichermaßen. Konnte man vorher noch schwanken, ob
es nicht das Vorhergehende abschließe, so zieht sjtoqev unweigerlich den
Zeus als Subjekt an. Dann heißt also der gnomische Schluß: „So hat Zeus
über die Sterblichen entschieden: O b es ihnen gelingt, hängt von den
Göttern und deren wechselnder Neigung ab. Und so ist - muß man
denken - diesen Gefallenen das eine gelungen (iißgiv äjisaxEÖaaav) und
das andere nicht. (Derselbe unbestimmte Hinweis also wie in JtXeiaTa
xajiövTcov). D a darf niemand sich beklagen, noch viel weniger über das
Todesgeschick, dem nach dem Entscheid des Zeus ganz und gar niemand
entgeht" 4 6 . Wie wir, hat Demosthenes verstanden, Kranzrede § 290: ttjv
tot) xorroQ'&o'Ov -coCg aycovi^onivoug dvE{tr|xs 81jvau.1v toig fleoig, und § 208:
f| jtöXig Eftaipevoiixi toiig xaTogfrcoaavTag atÜTüjv oC>5e -covg xgcrtriaavTag ixovoug.
8ixai(og • o |xev yao r)v avSgcov ayadcov EQyov äitaai jtEjtQaxtai • Tfji ruxT' 8',
t^v 0 8ai[i(ov eveiuev Exatnoig, Tai)Tr|i yiy.QTivTcn. D a ist das Eingeständnis des
Mißlingens in deutlichem Hinblick auf das Grabepigramm ausgesprochen.)
D a ß es so vieler Worte und so sehr eines experimentierenden Deutens
bedarf, bis man das Verständnis erreicht, ist kein Zufall. Der Untergang
von Chaironeia hat in diesem Grabgedicht einen mehr gefühlsstarken als
gedankenklaren Ausdruck gefunden.

L (Hiller, 74 = Kaibel, 27 = Geffcken, 151):


T ß Xqove, jtavtoicüv {lvr|Toig jtavEJtiax0Jie 8at|xov,
äyyEXog rpExegtov näai yEvoi itaftecov,
<5)g Ieq&v acbi^Eiv neigcb^evoL 'EXXaSa xwgav
Boiortcöv xAeivoigftvr)iaxo|A£vev öajiEÖoig.
Seitdem Kaibel auf einem Inschriftbruchstück aus der zweiten H ä l f t e
des I V . Jahrhunderts das Epigramm Anth. Pal., V I I , 245 erkannt und
auf Chaironeia bezogen hat, ist es bei diesem Ansatz geblieben und ein
anderer geschichtlicher Moment ist nicht wohl auszudenken. „Es waren
also entweder mehrere Gedichte für alle oder für verschiedene Truppen-
teile 4 7 ".
Das Gedicht ist eine Umgestaltung von TQ ?eive, ayysXXEiv. Das hat
man längst gesehen 48 , und das hieß zunächst: hier ist nur Paraphrase.
„Stil rhetorisch" ist ziemlich alles was Geffcken anmerkt. Wilamowitz
hingegen hat es mit wenigen anderen Epigrammen in sein Lesebuch auf-
genommen.
Man muß nicht nur sehen, daß hier ein großes altertümliches Gedicht
umgestaltet ist. Man muß auch erkennen, in welch hohem Sinne das

Warum Wilamowitz das betonende xi bei oü für bloßes Versfüllsel erklärt, weiß idi
nicht.
47
Wilamowitz, Griedi. Lesebuch, Erläuterungen, 103.
48
Spengel, SB Mündien, 1875, 296.
234 Griechische L i t e r a t u r [1171119]

geschieht, ganz anders als wenn Nossis (A. Pal., V I I , 178) aus der do-
rischen Härte eine weibliche Zierlichkeit macht.
Die Zeit der Monodisticha ist vorbei, das versteht sich. Aus der A n -
rede m |eive wird ein Hexameter. Der Angeredete ist nicht mehr ein vor-
übergehender Mensch, sondern die vorüberrinnende Zeit, eine Macht,
öai|icüv. Sie ist Jiavioicov jtavEiuaxojiog, und das „all-" erklingt in V . 2 jtäai
zum dritten Male - wie auch sonst die Worte „Zeit" und „all" sich zu |
suchen scheinen. Man lese daraufhin das Stobaeus-Kapitel über die Zeit
(Ecl., I 8). Mit dem Verse Jtavx' exy.aXijjtxcDV 6 XQÖvog jtpög cpajg ayei
(Sophokles, Frg. 832 N 2 ) setzt es ein. Dann führt es über Zitate aus
Tragödie und Komödie zu den Apophthegmen der Sieben Weisen (40 a):
©aXfig eocDTTyüeic; • Ti aocpcoxaxov; ecpri • Xgovog • avEugiaxEt yäg xd jtdvxa. riegi-
avÖQog EgcoTTi^eig • Ti Jtdvxwv alxtov; £(pT] • Xpovog. ©aWjg e<pr]aEV, oxi
aaqpeaxaxog el.eyxog ^oay|-iaxtüv djiavxarv eaxiv o XQÖvog. Und fast am Ende
steht jenes merkwürdige in Prosa umgesetzte Gedichtbruchstück aus
Skythinos: X(>6vog eaxiv wxaxov xai ngwxov jtdvxtov xai. e'xei ev eawwi itavxa
(Vorsokr. 5 , 22 C 3). Diese Verwandtschaft von „Zeit" und „all" hat
wohl im V I . Jahrhundert den Chronos zur kosmogonischen Gestalt
werden lassen, bei den Orphikern und bei Pherekydes. Ähnlich, nur reiner
naturphilosophisch, ist er noch bei Kritias (Vorsokr. 5 , 88 B 25, 33 und
B 18) „ewige Weltzeit", in der Kreisbewegung der Gestirne sichtbar. In
der Chorlyrik geht das aus dem Spekulativen, Lehrhaften, in die un-
mittelbare Lebendigkeit des dichterisch gehobenen Daseins über: ö
jtavSafxaxcop /oövog Simonides, Bakchylides, xpövog 0 itavxcov jtaxr|Q Pindar:
das sind Beiworte, die sonst dem Zeus oder dem Hypnos (vielleicht also
auch dem Thanatos) zukamen. Und Sophokles: „Die große, zahllose Zeit
bringt alles aus sich hervor, was bis dahin unkenntlich war, und nimmt
das Erschienene wieder in sich zurück" (Aias 646) und ö jtavfr' öqwv xai
jtavx' ay.oixüv jtavx' dvanxiiaasi Xgovog (Frg. 280 N 2 ), jenes von der A l l -
mutter Erde, dieses von Helios ursprünglich gesagt. Und so hier
jtavEJtiaxojiog mit einer klingenden Wortbildung, die im Epos, Hymnos,
Epigramm des Hellenismus und der Kaiserzeit beliebt ist (itavEitötpiog
Jtavexcbcaog jtavexr)xu(iog jxavejioQcpviog). Aber die Zeit ist hier weniger die
Weltzeit, sie ist erfaßt im Hinblick auf die Menschen - : ftvrixoig im
„dativus ethicus" nimmt die Mitte des Verses ein. So steht auf dem Relief
des Archelaos Chronos neben Oikumene hinter dem Thron des Homer,
neben dem Uberall das Immerdar, beides in der menschlich-geschicht-
lichen Dimension. Und weil eben diese geschichtliche Zeit hier im Blick
ist, darum navxoicüv und nicht Jtdvxwv. Es gibt in diesem Zeitverlauf für
die Men| sehen (nicht für die Sterne) Unterschiede des Wie. Man muß
schon hier den Unheilklang hineinhören. Nicht zufällig wird die geschicht-
liche Zeit als Macht erfaßt in einem Moment, da sich das Gefühl „wir
sterben" und zugleich „wir wollen nicht sterben" der Seele von Hellas
bemächtigt.
[119j120] Geschichtswende im Gedicht 235

V. 2. Man kann zu Chronos nicht in dem befehlenden Infinitiv reden.


Man ordnet ihn auch nicht wie den „Fremdling" an eine (s. v. v.) vor-
gesetzte Dienststelle ab. Athen ist gar nicht mehr da. Die Botschaft ergeht
„an alle". Unvermeidlich hört man bei diesem mittelsten Wort des Verses
das mittelste aus v. i wieder: an alle Sterblichen. In nafrecov wird endlich
der Gegenstand deutlich: das letzte Wort des ersten Distichons ist das
einzige, das geradezu das Geschehen ausspricht, wie es dann im zweiten
Distichon entfaltet wird. 1
V. 3. Die „heilige Hellas" wie in dem einen Korinther-Epigramm der
Perserzeit E. Notwendig erklingt das hier mit schmerzlicherem Ton.
Denn hieß es dort ew|XE$a, so steht hier in der Mitte des Verses der Ver-
such des Rettens, des Heilbewahrens, der nicht geglückte.
V. 4. Wir sterben auf böotischer Erde. Nicht: wir liegen hier tot. Die
Zeit ist in dem Moment des Sterbens gegenwärtig, des Sterbens bei dem
vergeblichen Versuch. Auf dem ruhmvollen Boden Böotiens: ungern läßt
man, wo jedes Wort bedeutsam ist, xXeivoig als bloßes Schmuckwort
stehen. Gewiß ist Böotien berühmt seit der Heroenzeit und durch Plataiai.
Aber dieser letzte vergebliche Versuch hat es erst recht berühmt gemacht.
xAeivol; bekommt durch jieiQcb^isvoi und neben dvfjiaxoixev eine besonders
schmerzliche Spannung.
Die Toten des Leonidas lassen den Vorübergehenden nach Sparta
melden, daß sie den Befehl ausgeführt haben. Die sterbenden Athener
rufen die Zeit, die Geschichte an, den Ruhm des Untergangs nicht mehr
an Hellas - denn Hellas stirbt ja selbst - sondern an alle künftige
Menschheit weiterzugeben. Aber mit Chaironeia leben noch einmal die
Thermopylen auf: das ist der geschichtliche Sinn der dichterischen Um-
gestaltung von T ß IeIve oiyyeAAelv.
In die zweite Hälfte des IV. Jahrhunderts paßt nach Stil und Gehalt:|

M (Hiller, 31 = Geffcken, 1 1 3 = Preger, 8):


Ei tö "/aXcög "Ovriioxeiv apsTTjg ¡AEßog eati liEyiaxov,
T||üv ex jtavTcov toCt' ajiEVEi|xe tu/t] •
'EXXäöi yäg anEvöovtEg eAevOepiciv itEgiftEivai
KEi^Ei)' ¿YT|g(XTa)i xpwjievoi Etj/.oviai.

Die Nachbildung IG II, 2724 macht es wahrscheinlich, daß das Gedicht


auf einem öffentlichen Monument Athens stand (Preger). Hiller hat es,
wenn auch fragend, auf 479/78 datiert. Aber Geffcken hatte schon an-
gemerkt: alle jene mit el beginnenden Epigramme gehören erst ins
IV. Jahrh. und in die Folgezeit. Das ist eine unwiderlegliche Beobachtung,
aus der sich ein sicheres Stilurteil ablesen läßt.
Und nun lese man genau! Ein schöner Tod ist der wesentliche Teil der
Arete, und das wird durch jenes e'i als ein schon von anderen, vielleicht
vielen, ausgesprochener Satz bezeichnet. So denkt eine Zeit, die ihre Arete
236 Griechische Literatur [120]

nidit mehr im Sieg, sondern nur noch in heldenhaftem Untergang


erweist.
So wird auch in ajtevöovTec; e/xu-ftepiavTOpifteivainidit der gelungene
Versuch zu vernehmen sein wie in dem megarischen Epigramm aus der
oder auf die Perserzeit (Hiller, 30) 4 ': eXeviftEeov S^ap aeleiv Eeixevoi, sondern
das Umsonst wie in L: auitfiiv jtEigcouEvoi.
In die Zeit des Untergangs hellenischer Freiheit mödite M am aller-
ehesten gehören.

49
Das Urteil Ad. Wilhelms, Hiller, 30 sei ein echtes Monodistichon der frühen Perser-
zeit, ist vielleidit nicht ganz so unwidersprechlich, wie meist angenommen wird.
Riditig bleibt die Diagnose, daß in dem ersten Distichon dieses iozeiligen Epigramms
die Monodisticha der frühen Perserzeit nachklingen. Aber etwas anderes ist es, ob
gerade dieses megarische Epigramm je als solches Monodistichon wirklich gelebt hat. Es
ist doch wohl ebenso möglich, daß nur der allgemeine Typus dieser Monodisticha
vorschwebte, als Megara in späterer Zeit - etwa im I V . Jahrh. v. Chr. - das Bedürfnis
empfand, die Grabstätte seiner Perserkämpfer durch ein großes Gedidit zu ehren.
Durchaus richtig urteilt Wade-Gery, J H S , $ 3 , 1 9 3 3 , 95 ff.
A new Epigram by Damagetus

1942

A new collection of the Greek inscriptions in verse is long overdue.


The present writer hopes to publish the first part of such a collection in
a reasonably short time. One of his main aims will be to fix the place
of each epigram in the history or-one may say-in the system of the
genre. Consequently there will usually be no reason to bring out separate
studies of individual pieces, however beautiful, in advance of the
complete edition. But the following inscription from Thyrreum in Acar-
nania is an exception in every sense.

Ton. Mowaig, a> Shelve, TETI|XEVOV EvftaSe xptijrai


Ti|x6xpnoY xoXjtcoi xuöiävEiga xövig.
AITCOXWV yap jiaiai xaxgaq IIJIEP eig EQIV ¿Aftcbv
d)Y a f t 0 5 f j vwäv I ^ E X e r) T E Ö v a v a i .
JIUTTEI 8' EJJ. JTQO|XAXOIAI XIJKO|X JIATQI ^IIQIOV aXyog •

aXXa ta naiÖEiag ovv. ajtEXQimtE r.aXa,


Tuptatov ÖE Aaxaivav evi axEgvoiai cpuXaaacov
gfjcriv tav OCQETAV EIXETO JIPOADE ßiov.

This inscription has been published by the Berlin epigraphist Günther


Klaffenbach in his "Bericht über eine epigraphische Reise durch Mittel-
griechenland und die ionischen Inseln" (Sitzungsb. der Preuß. Akad. der
Wiss., Phil.-hist. Klasse, 1935, p. 719) with a few important remarks.
The stone, a cubical block, is lost so that, for the text, we depend on
the copy of the local schoolmaster. Exact as this apparently is, one would
be glad to get at the original, if only to inspect the shape of the letters.
The editor cautiously proposes a dating in the third century B. C .
In particular he points to the attack of the Aetolians on Thyrreum in 220
reported by Polybius (IV, 6, 2; 25, 3). This conjecture will become
almost certain in the course of our investigation.
The editor stresses one bold expression in the middle of the plain
style of the poem: r.uöiavEiQa xövig. In Homer this epithet qualifies iidy/n
or DYOGRI in the sense of Ö O L & ^ O V A A TOXI; avSpag1. But here it means rather

[American Journal of Philology LXIII, 1942, S. 78-82.]

1 So the Periphrasis of the Iliad in Scholia in Homeri Iliadem ex recensione Immanue-


lis Bekkeri (Berlin, 182J). Hesychius: xuöi&VEipa- |X8yciXou; xal EV86|OUS TOXI; ävöga?
jtoioüaa.
238 Griechische Literatur [ 7 8 / 8 0 ]

8ola'Copivr| tut5 avSgcov "glorified by men" | though, of course, the two


meanings are not strictly separated. For the second use Liddell and Scott
give a single citation which will set us on the right track: xvSidveipa itatgis
is used of Sparta by the epigrammatist Damagetus, Anthologia Planudea,
I, i. The similarity of the two expressions and the identity of their metrical
position-both in the second half of the first pentameter-are striking.
Furthermore, examination of the other nine or ten epigrams which in the
Anthologia Palatina and the Planudea bear the name of Damagetus will
show definite relations both linguistic and historical to the new
inscription.
The time of Damagetus has long since been fixed at 220 B. C. and the
following years 2 . Anth. Pal., V I I , 438 memorializes the death of an
Achaean Machatas killed in a battle against the Aetolians:
8gi(i,i)v ETC AhwAoIg avticpeQcov reoXefiov.
The battle has been located in the War of the Allies, 220-217 B. C 3 .
It is a part of the events related by Polybius, IV, 6, 1 6 - 1 9 . The defense
of Ambracia mentioned in another epigram of Damagetus, Anth. Pal.,
VII, 2 3 1 , cannot by itself be dated with the same certainty. But the
report of Polybius, IV, 61 makes it easy to connect it with the events
just mentioned. Philip V of Macedonia in 219 led an expeditionary force
into the territory of Ambracia (eig tt)v twv 'Ajipgaxioncov xwgav) of which
the Aetolians had taken possession and which the Epirotes claimed as
their own. In Anth. Pal., V I I , 541 Damagetus celebrates one Chaeronides
of Elis killed in a battle at the Achaean Trench (jieqI -tacpQov 'Ay.aitSa),
which battle, though unknown, may easily fit into the same group of
events. Anth. Pal., V I I , 432 is written in honor of a Spartan killed in a
battle over Thyrea against the Argives. The epigram alone leaves the
time uncertain; the sympathies of the poet are decidedly in favor of
Sparta.
In the political struggles and troubles about 220 B. C. Damage|tus
seems to hold a definite position: he is hostile to the Aetolian League,
his sympathies are with the Achaean League, Sparta, and Ambracia. The
author of the new epigram is anti-Aetolian, his sympathies are with the
Acarnanian League and with Sparta.
Now let us proceed with the stylistic comparison. Damagetus, V I I ,
541 begins:
"E<rrr]5 ev jtgofiay.oig, Xaioumfir], a>8' ayopewaq •
f| |ioqov f| vfocav, ZEV, jio?.e|.ioio 5i5oi>

2
Fr. Jacobs, "Catalogus poetarum epigrammaticorum," Anthologia Graeca, X I I I ,
p. 880. G. Knaack in F. Susemihl, Gesdhichte der griechisdien Literatur in der Alexan-
drinerzeit, II, p. 547. R. Reitzenstein in R.-E., IV, col. 2027. C f . the pertinent anno-
tations in Anthologia Graeca, ed. H . Stadtmueller.
3 C f . J . Belodi, Griediisdie Geschichte, III, 2, § 140; C . A . H., V I I , pp. 763 ff. (W. W. Tarn).
[80(81] A new Epigram by Damagetus 239

where the pentameter marked by the sharp antithesis recalls the second
pentameter of the new epigram, the beginning of the hexameter resembles
jiwiTEi 8' e(x itQO(iay.oi0i v. j , and Ieivtiv . . . xoviv (instead of yrjv) in v. 6
matches xi)8idvEiga xovig ( = vfj), xovig coming both here and there at the
end of a pentameter. C f . also oftveiriv . . . xoviv in Damagetus, V I I , 497.
Damagetus, V I I , 231 has in the first distidi more than one resemblance.
The first hexameter:
w5' vkeq 'A^Ppaxtag . . . daiti6' aeipag
agrees with the second hexameter of the new poem:
. . . Jidtpag wtsp elg egiv eMJcov,

and the first pentameter:


TfiftvanEV f| (pEtiyEiv eiAex' 'AQiaxayogag
with „
. . . t] vixav i^eXe rj xeflvavai

of the second pentameter, while eiXexo occurs in the same metrical place
of the last pentameter.
One may finally compare the beginning of Damagetus, V I I , 432
<b AaxE8ai|xovioi, tov dgr|iov vn(xtv o Ti)|i[3og
Tvllw iijieq ©vgeag oixog e/ei qriK|XEVov.

The new epigram starts with a parallel structure: the direct address w
ijEive, the attributive tov Moiioaig . . . xexi^evov, and the name Tiuoxpixov
at the beginning of the pentameter. The second distich contains in both
cases the occasion when Timocratus or Gyllis fell and, in the pentameter,
the maxim by which they lived: here
TsOvairiv S n a g x a g a l i a ixriaaixEvog,
there
(b-yafrog r\ vixav i^eXe f| xfidvavai. |

This last parallel leads to a third trait which, besides the identity of
the historical situation and the stylistic similarities, links the poems of
Damagetus with the new epigram. Its most striking feature is the fervor
for Tyrtaeus; but, even before this enthusiasm is expressed, the poetry
shows a Tyrtaean cast. Verses 3 and 4 mirror a verse like Tyrtaeus, 6, 2:
avdg' ayaftov jtepi f| jtaxgiSi na(?vd|XEvov, and v. j recalls still more definitely
the famous evl jigoixd/oioi jieaovxa of Tyrtaeus, 6, 1 which recurs a second
and a third time in what is left of the Spartan poet (7, 30; 9, 23: ev
jtpo[idxoiai jtECTcbv). N o w a similar eaxrig ev jipoixayoig, Xaigam8ri, occurring
in Damagetus, V I I , 541 has a still greater resemblance to the command
of Tyrtaeus, 8, 4 Iftiig 8' ev jigo^axoig aajii8' avr)p exexw. In other words:
You stood in front, Chaeronides, following the advice of Tyrtaeus. The
240 Griediische Literatur [81/82]

strong Doric character prevailing in the epitymbia of Damagetus has


been emphasized by Reitzenstein. But Doric is not enough. Such devices
as (VII, 2 3 1 )
Acoqixoc; dvrjQ
jtaxofSog, oiix ii(3as oXXufievag aXiyei
and (VII, 432),
tedvairiv SitaQrag oi|ia [rr|aau.£vog
have a Tyrtaean character and may have had verbal prototypes in lost
Tyrtaean poems4. Even among those preserved the jubilant
SitaQTct |ioi SjiaQta xuSiaveiga jtatQic;
which Damagetus (Anth. Plan., I, 1) puts into the mouth of a Spartan
wrestler has a parallel in the Eunomia:
oicn [xe^si Ejt&QTT|s i(j,EQO£aaa jtoXig.
The history of the Tyrtaean tradition and its educational force has
been traced by W. Jaeger 5 down to the fourth century and to Athens.
The new epigram from Thyrreum and the poems by Damagetus which
we could connect with it allow us to extend this line of influence in time
and space. The historical importance of this poetry is that it shows the
spiritual nourishment by which the people of the Greek Leagues in the
last | decades of Hellenic freedom lived. The words ton Moviaaig, <0 leivs,
T£xi[i£vov do not necessarily imply that the man in question had been a
poet himself any more than do the words f|v 8' (bvr)Q Mouawv ixavf| neoig
in V I I , 355. The words ta nai8eiag otix aitexQUjcxE v.aka have a similar
implication. And it may be permitted to think of Damagetus as a man
who not only praised the fallen as having obeyed Tyrtaeus but was eager
to implant Tyrtaean poetry and spirit in the youth of Sparta, Achaea,
and Acarnania. As a poet he had a tone of his own; for Meleager he was
the "black violet" in the wreath of epigrammatists (Anth. Pal., I V , 1, 22).
This may be the first time-it will not be the last-that the author
of an epigram on stone can be identified6. It might seem more prudent

4
Herbert B. Hoffleit reminds me that Tf0vair|v has the same metrical position in
Mimnermus, I, 2, and Theognis, 3 4 3 . It is likely that it once had its place also at the
beginning of a lost T y r t a e a n pentameter.
5 " T y r t a i o s iiber die wahre A r e t e " in Sitzungsb. der Preuss. A k a d . der Wiss., 1 9 3 2 ,
pp. J 3 7 ff. C f . idem, Paideia, I, pp. 1 1 6 if. Jaeger, of course, saw the importance of
the new epigram for his problem, cf. Anthologia L y r i c a , ed. E . Diehl, 2nd ed., I, 1 ,
P'22\
6
G . Kaibel, Epigrammata G r a e c a ex lapidibus collecta, tentatively assigned his number
7 9 0 to Alcaeus of Messene ("haud circa probabilitatem conicias"). T h e epigram from
Thermus, I. G . , I X , i 2 , $ 1 , and the t w o Delphian epigrams in honor of Xanthippus
of Elatea, S. I. G . 3 , 3 6 1 , have been attributed by A . Wilhelm to the well known
[82] A new Epigram by Damagetus 241

to assign the new poem to "the circle of Damagetus" rather than to the
master himself, and nobody can be prevented from doing so. May it be
remembered, though, that the history of art once invented an anonymous
Amico di Sandro, attributing to him a number of paintings from the
work of Sandro Botticelli. Now the Amico has disappeared, and the
Maestro holds the field.

epigrammatist Poseidippus on the sole argument that the Aetolians conferred the
proxeny noaeiöiratcoi tibi EraygannatEi IleXXaiiOi in the decree I. G., IX, i 2 , i , 17,
line 24. I should be eager to know a fragment which Klaffenbach, loc. cit., p. 717
describes as follows: "aus (dem antiken) Agrinion das Fragment offenbar einer Grab-
stelle mit den Resten eines Gedichtes, das sich auf einen IlavTaXeoov und Kämpfe um
Oiniadai zu beziehen scheint, die der Schrift nach die des ausgehenden 3. Jahrh. v. Chr.
sein müssen (Sommer 219 oder Spätherbst 212)." Several Hellenistic epigrams of
four distidis from Thyrreum have been published: I. G., IX, 1, 489; Ath. Mitt., X X V
(1900), p. 113 (and X X V I I [1902], p. 349); X X V I I (1902), p. 339, No. 21 = Peek
750. The last one attributed to the second century B. C. has a few traits in common
with the new poem. It begins:
K a i Xoyov aii|r)oavta x a i ev XiyuaxEai Moiiaai?
X£X(H|XeVOV JtQlJJlTEl 2cbjtoXw ä&£ xovig.
The style of Damagetus must have maintained itself in the local sepulchral poetry.
Besprechung

Der Kranz des Meleagros von Gadara


Auswahl und Übertragung von August Oehler

1922

„August Oehler ist der Dichtername von D r . August Mayer, Privat-


dozent der klassischen Philologie an der Universität Wien, der nach
schwerem Leiden in seinem 39. Lebensjahr am 7. Januar 1920 in Leysin
in der Schweiz gestorben ist." A n seinem letzten Werk hat philologische
und dichterische Begabung gleichermaßen geschaffen. Man wird es nicht
zu denen rechnen, die die Forschung fördern, es faßt sie vielmehr zusam-
men und erweckt mit ungewöhnlicher K r a f t der Vergegenwärtigung eine
ganze poetische Gattung: das hellenistische Epigramm. Mit vollem Recht
wird aus der Fülle des Vorhandenen der Kranz des Meleagros heraus-
gegriffen, und wenn uns auch der eigentliche Reiz dieser Sammlung selbst,
jenes „Netz von Fäden, das die einzelnen Stücke zu einem kunstvollen
Gewebe verband", nur noch von fern spürbar ist und statt der motivischen
Verschlingung die Abfolge nach Dichtern gewählt werden mußte, so trägt
noch diese Auswahl des Schönsten — Urtext und Ubersetzung neben-
einander - sehr viel von dem D u f t und Farbenreichtum, den der Kranz
süßer Worte einst verbreitet hat.
Von den vorangeschickten Kapiteln gibt das erste eine Geschichte der
Epigrammsammlungen, in der man nicht erwarten darf eigentlich Neues
zu finden, nachdem viel philologischer Eifer auf diesen Gegenstand ver-
wandt worden ist. Die dann folgende Historia critica der hellenistischen
Epigrammdichter wird der Leser der Gedichte gern nachschlagen, wenn
sie auch zeigt, daß sich aus allen Zusammenhängen, Einflüssen und
Beziehungen keine lebendige Geschichte der Epigrammatik gewinnen läßt.
Aber es fallen feine und lehrreiche Bemerkungen über den Gegensatz der
„klassischen (traditionell einheitlichen) und hellenistischen (kosmopolitisch
werbenden) Kultur" und die diesen Kulturen zugehörigen Dichtertypen.
A m wichtigsten ist, was zuletzt Grundsätzliches über das Wesen der
epigrammatischen Gattung dargelegt wird, weil es zugleich die gewählte
Ubersetzungsform rechtfertigt. Während Lessings scharfe Fragestellung
auch hier belehren aber nicht genügen kann, führen Herders tiefe Ein-
sichten, die der Verf. aus Eigenem deutet und erweitert, bis an die

[Deutsche Literaturzeitung N r . 29, 1922, Sp. 623-627.]


[624j626] D e r K r a n z des Meleagros von G a d a r a 243

Ursprünge des griechischen Epigramms. Hier hätten die frühesten inschrift-


lichen Epigramme, die w i r besitzen, noch besser zeigen können, wie | man
zuerst K r a f t und Fülle des geliebten homerischen Verses in die Aufschrift
überträgt, dann auch die abgeschlossenere Form des „elegischen Distichons"
ihr dienstbar macht. Die weitere Entwicklung des hellenistischen E p i -
gramms w i r d nach üblicher A r t aus dem „Zusammenfließen" zweier
„Gattungen", des Buchepigramms und der Kurzelegie gedeutet. M a g
darin auch eine richtige Einsicht liegen, solche A r t die Dinge zu sehn
behält etwas Konstruiertes, und die unbefangenere Auffassung, die auch
bei Oe. anklingt, verdiente verstärkt zu werden: daß das Elegeion die
Form f ü r mannigfache Inhalte ist; daß die Kurzelegie schon in der Früh-
zeit sowohl beim Gelage rezitiert wie auf den Stein geschrieben und von
ihm abgelesen w i r d ; daß dann im Hellenismus alle diese Formen: kurzes
Grabgedicht, kurzes Geselligkeitsgedicht, kurzes Liebesgedicht, abgelöst
von ihren äußeren Gegebenheiten als gemeinsame Gattung in die Höhe
einer reichen und individuellen Kunst gehoben werden. - Wichtige und
f ü r die Ubersetzungsarbeit grundlegende Erörterungen sind es zuletzt, in
denen Oe. - ausgehend von W i l a m o w i t z ' A u f s a t z : „Was ist übersetzen?" -
die deutsche Entsprechung f ü r die antike Form des elegischen Distichons
sucht: er findet sie in der vierzeiligen Reimstrophe. Welchen Meistern er
dabei folgt, das möge man bei ihm selbst nachlesen. D a ß aber die eine
Form mit Strenge durch die ganze Übertragung festgehalten wird, gibt
ihr jenes Gepräge von Einheit und Notwendigkeit, das sie als Ganzes hat
- und als Ganzes darf sie beanspruchen gesehen zu werden.
Ubersetzung als eine Form des Verstehens ist niemals am Ziel, und
eine jede lockt, falls nicht der große Dichter f ü r sein Zeitalter das M ö g -
liche geleistet hat, zu eigenem Versuch. Einem E i n w a n d v o r allem w i r d
man sich nicht verschließen können, den Oe. selbst sich gemacht: „daß der
Ersatz des griechischen Zweizeilers durch einen Vierzeiler die charakteri-
stische Knappheit des Originals vernichte." Oe. wehrt sich dagegen. Aber
seine Theorie überzeugt hier nicht, und v o r allem zeigt kritische P r ü f u n g
des Ergebnisses, daß o f t Beiwörter, Doppelungen, Verbreiterungen un-
vermeidlich w a r e n , um die vorgezeichnete Form zu füllen. Es spricht
f ü r die Qualität der Ubersetzung, daß selbst solche Füllungen erst dem
schärfer Prüfenjden erkennbar werden. Aber ich bitte doch, an einigen
Beispielen neben Oe.sche Vierzeiler eigene (durch ihn angeregte) Uber-
setzungsproben in Dreizeilern stellen zu dürfen, und beide vergleiche man
mit dem Urbild.

Asklepiades V 164.

Oe. O Nacht, didi rufe idi als Zeugin an,


D i d i ganz allein, du sollst mir dran gedenken,
W a s heute Pythias mir angetan,
D e r N i k o Tochter reich an schlimmen Ränken.
244 Griechische Literatur [626]

Nicht ungerufen wollt ich sie besuchen,


Sie rief mich selbst! So soll's auch ihr ergehn:
Vor meiner Tür soll sie vergebens stehn
Und warten, hehre Nacht, und dich verfluchen!
Fr. Dich Nacht allein ruf ich als Zeugin an,
Wie Arges Pythias, von Ränken voll,
Der Niko Tochter jetzt an mir getan.
Sie rief, ich kam geladner Gast. Ergehn
Mag es ihr ebenso: dir fluchend soll
Sie noch einmal vor meiner Türe stehn!

Asklepiades V 169.
Oe. Süß ist in Sommersglut ein Trank von Schnee,
Den ausgedörrten Gaumen zu erquicken,
Süß ist's dem Schiffer, nach des Sturmes Weh
Das Blühn der Heimatküste zu erblicken.
Doch süßer noch als alles dieses scheint
Es mir zu sein, wenn zu vertrautem Bunde
Zwei Liebende die Decke heimlich eint
Und Kypris' Lob erklingt aus beider Munde.
Fr. Süß ist dem Dürstenden ein Trank von Schnee
In Sommersglut. Süß ist der Sterne Scheinen
Aus Sturmgewölk dem Schiffer auf der See.
Doch süßer noch, wenn eine Decke hüllt
Verbergend jene, die sich liebend einen,
Und beide Aphrodites Preis erfüllt.

Kallimachos X I I 148.
Oe. Kein Gold ist mein, Menipp, nicht Hof noch Land;
Ich weiß es wohl - doch sollst du mir nicht sagen,
Was mir bekannter als die eigne Hand;
Bei allem was dir lieb - ich kann's nicht tragen.
Hör ich dies Wort so voller Bitternis,
So fühlt mein ganzes Innere die Wunde.
Ach, niemals war so liebeleer wie dies
Ein Wort, o Teuerster, aus deinem Munde.
Fr. Ich weiß, daß mir von Schätzen leer die Hand.
Doch sprich, den ich bei aller Huld beschwöre,
Nicht das, was mir wie eigner Traum bekannt.
Denn dies, Menippos schmerzt mich bis zum Grund,
Wenn ich so bittres Wort dich sagen höre,
Das liebeleerste, Freund, aus deinem Mund.

Anyte IX 144.
Oe. Der Ort hier ist für Kypris abgegrenzt,
Denn dieser ist es lieb vom Festland aus
Zu blicken fort und fort aufs Meer hinaus
Und anzuschauen wie es strahlt und glänzt. |
[627] Der Kranz des Meleagros von Gadara 245

Denn für den Schiffer sorgt sie hilfsbereit,


Dem allzulange schon die Seefahrt dauert,
Und ringsumher der Ozean erschauert
Vor ihres Götterbildes Herrlichkeit.

Fr. Der Kypris ist zu eigen dieser Ort;


Denn ihr ist lieb, vom festen Lande her
Zu schauen immer auf das blanke Meer,

D a ß sie die Schiffe leite hin zum Port.


Und in der Rund' umher die See erschrickt,
D a sie ihr schimmernd Götterbild erblickt.

Oder:
Fr. Kypris eignet der O r t ; denn lieb ist's immer der Göttin,
Von dem Gestade zu schaun über das glänzende Meer,
Daß sie die Fahrt vollende den Schiffenden. U n d in der Runde
Schrickt die unendliche See blickend das sdiimmernde Bild.

Der letzte Versuch, an Stelle der Reimverse das „Versmaß der Ur-
schrift" wiederzugeben, führt auf die Frage, ob nicht doch viel stärker,
als Oe. es wahrhaben will, unsere großen Dichter die „elegische" Form
auch für das Epigramm unserem Schrifttum hinzugewonnen haben. Die
venezianischen Epigramme und die Xenien, dann Hölderlin, Platen,
Mörike, sollen sie alle dem Distichon kein Heimatrecht bei uns verschafft
haben? Vielleicht wird man sagen dürfen, daß je näher ein Epigramm
einerseits der Bestimmtheit einer Aufschrift kommt, andererseits der
Schärfe des in unserem Sinne „Epigrammatischen", desto angemessener
die antike Form sein möchte, je „lyrischer" das Original, um so ange-
messener die gereimte. Denkt man sich dann freilich die verschiedenen
Formen in einer Abfolge mit einander wechselnd, so erkennt man, wie
bedenklich solche Mischung wäre, und man dankt es dem Übersetzer, daß
er die eine Weise fast ohne Ausnahmen durchgeführt hat. So ist ein Buch
entstanden, dem der gelehrte Kenner, aber auch jeder Freund der
klassischen Literatur dankbar sein muß.
Besprechung:

Die Dionysiaka des Nonnos


deutsch von Thassilo von Scheffer

1934

Außerhalb der engsten philologischen Zunft hat es immer nur sehr


wenige gegeben, denen dieses Riesenepos der griechischen Spätantike als
Dichtung wichtig war. Im zweiten Jahrzehnt des 19. Jh.s las es in Peters-
burg der russische Graf UwarofF, Präsident der Petersburger Akademie,
mit dem deutschen Philologieprofessor Graefe. Eine Schrift Uwaroffs über
Nonnos (1818) - mit Übersetzungsproben Graefes in deutschen Hexa-
metern - trägt die Widmung „ A n Goethe". In den folgenden Jahrzehnten
war für den französischen Grafen de Marcellus - den Diplomaten, Schrift-
steller und Humanisten, Freund Chateaubriands und Eroberer der Venus
von Milo - der griechische Dichter Nonnos Bundesgenosse „contre les
ennuis ou les illusions du pèlerinage": eine große Ausgabe (bei Didot 18 j6)
mit französischer Prosaübersetzung und manchen schönen begleitenden
Worten hat der Graf hinterlassen - Dilettantenarbeit im guten Sinne des
Wortes. Jetzt legt Thassilo von Scheffer die erste deutsche Gesamtüber-
setzung vor, „hergestellt unter philologischer Beratung und Nachprüfung
des Herrn Dr. Hans Bogner, dessen handschriftliche Version zugrunde
liegt". Der Buchliebhaber wird seine Freude haben, wenn er die zwei
Kleinfoliobände durchblättert, die der Verlag in einer guten Ehmcke-
Rustica gedruckt und prächtig ausgestattet hat. Kaufen werden das
Prachtwerk nur wenige können. Noch seltener werden die sein, die die
K r a f t aufbringen, es vom 1. bis zum 48. Gesänge durchzulesen. Aber |
wem das goethische Wort „Weltliteratur" noch irgendeinen Klang hat,
oder wer vom Geist des ausgehenden Altertums etwas zu begreifen sucht,
oder wer sich — etwa nach Walter F. Ottos Dionysos-Buch — unmittelbar
der Gestalt und Gewalt nähern will, die die Griechen Dionysos nannten,
wird an diesem erstaunlichsten Dichtwerk der Spätantike und also auch
- wenn er kein Fachgelehrter ist — an dieser Übersetzung nicht vorbei-
gehen können.
Wie weit freilich die Dionysiaka übersetzbar sind und wie weit
Th. v. Scheffer sie übersetzt hat, das ist eine andere Frage. Aber ehe man
an die Antwort geht, muß man gestehen, daß einer schon rein an Umfang

[Deutsche Literaturzeitung 1934, Sp. 683-687.]


[68416X3] Die Dionysiaka des Nonnos 247

so gewaltigen A r b e i t gegenüber alle E i n z e l k r i t i k , m a g sie noch so berech-


tigt sein, sich doch a u f s g a n z e gesehen immer w i e Ungerechtigkeit v o r -
k o m m e n w i r d . Ungerecht nun w ä r e es entschieden, w o l l t e m a n Stellen
aus den früheren Büchern herausgreifen, in denen die Ubersetzer des
Gegenstandes noch nicht H e r r w a r e n . ( M a n p r ü f e z . B . 8, 24 ff., — w o
u. a. xegoEig mit cereus verwechselt ist!) U b e r h a u p t w i r d es sich hier nicht
um einzelne Irrtümer handeln, sondern u m Grundsätzliches.
N o n n o s m a g o f t ins A b s u r d e v e r f a l l e n , oder w a s uns so scheint. A b e r
ihn b e w a h r t schon der feste Stil, den er sich geschaffen hat, v o r dem
A b g l e i t e n ins v ö l l i g Prosaische. N i c h t so die U b e r s e t z u n g : „auch M e t h e
ihrerseits t a n z t e " (Meftri b'exÖQeve xai wurri 18, 145) - „hemmungslos
strömten ihre T r ä n e n h e r a b " (atko/tiToig 8e Öäxguaiv 47, 216) - „ u n d v e r -
ständnisvoll lächelnd sprach er z u D i o n y s o s also" (ycdtivaicp öe jigoocbncp
Heiöiocov äyÖQEvEv 6|xo<pqoveü>v Aiovwco 48, 6 1 5 ) — „schnürte das W e i b den
Busen an üblicher Stelle" (xai r|frü8og t/via |xa^oü jtagftsvicp ^coaxriQi h&ttiv
¿acpivYETO 8eo|xw 48, 659) - „ b e i m pausenlosen G e l a g e " (a?.tt)<pr]Tü) x a g a
6eijivc^) 20, 6) — „ a u f seinem Rücken b e f a n d sich ein grimmiger Tiger, D e r
t r o t z seiner W i l d h e i t nur s a n f t den T r ä g e r berührte" (tivgi outeiXriTriga
-/ca<hf||iEvov wpöfti vcotov, ävQiov exovta xai 011 tyaiiovta cpoQfiog 45, 316).
N o n n o s ' W o r t e sind mit Spannungen geladen u n d überladen; g e w o l l t e
Widersprüche blitzen h a l b verborgen überall; w a s sich als Schmuck aus-
gab, erweist sich gleich d a r a u f als bedeutsam. Z u beobachten ist der-
gleichen o f t nicht g a n z leicht, nachzubilden ist es schwer. A n g a n z w e n i g e n
Stellen sei gezeigt, w i e die U b e r s e t z u n g vieles Besondere abschleift, sagen
w i r : einem deutschen Durchschnittshomer anähnelt. D i e Gegenbeispiele
w o l l e n nur versuchen, w i e | auch ohne g a n z g r o ß e n A u f w a n d dem T e x t
näherzukommen wäre.

20, 101 den purpurnen Leibrock,


. . . er glänzte vom. Strahl des sidonischen Meeres.
Statt dessen etwa:
das Gewand,
Das Sidonermeeres Purpurstrahlen Pfeilen gleich entsandte.
20, 118 Wieder ein andrer bestieg den Rücken zottiger Löwen
U n d gebrauchte die Mähne am Nacken an Stelle der Zügel.
Statt dessen e t w a :
Zottenbrüst'ger Löwen einem schwang sich jener auf den Rücken,
Griff, als wär's in einen Zügel, in des Nackens Mähnenhaare.
39, 12 Lykos führte und fuhr den Wagen über das Wasser,
Ohne daß mit den H u f e n die Rosse die Fluten berührten.
Statt dessen etwa:
L y k o s w a r der Flottenführer, trieb durchs Wasser seinen Wagen,
Mit der Rosse H u f e n furchend ungeprägte Flut des Meeres.
45,320 und wie aus Kehlen von Rindern
Brüllten mit dumpfem Laut die starren Pforten der Häuser;
Ja, der feste Palast erbrauste in lautem Getümmel,
U n d sein steinerner Bau ertönte wie eine Drommete.
248 Griediisdie Literatur [6851686]

Statt dessen e t w a :
w i e aus Stiereshälsen
Brüllten, ungeregt im Riegel, laut hinaus Palastes Pforten,
U n d das Königshaus erdröhnte unerschüttert im Getöse,
A u s der Steindrommete schüttend T o n , der eignem Sturze folgte.

Diese letzten Beispiele werden zugleich auf die metrische Form auf-
merksam gemacht haben. Der Hexameter des Nonnos ist in seiner gleich-
förmig strengen Bewegtheit eine staunenswerte Kunstform, fast rätselhaft,
wenn man sich vergegenwärtigt, wie in der lebendigen Sprache die alten
Quantitäten verfallen waren, und wie gleichzeitig ein völlig anderes
metrisches System weithin die Kirche erobert hatte. Nun ist freilich das
Gefühl für den Bau des deutschen Hexameters in den letzten Jahrzehnten
so sehr verlorengegangen, daß eine hexametrische Nonnosübersetzung
schon darum ein höchst fragwürdiges Unternehmen wäre. Das wird
deutlich, wenn man neben Verse der neuen Ubersetzung die 120 Jahre
älteren des Philologen Graefe stellt („Des Nonnos Hymnos und Nikea",
St. Petersburg 1813).
15,197

v . Sdi.: U n d das schmeichelnde Untier mit ruhigglänzenden Augen


G r . : U n d das freundliche Tier mit den ruhigglänzenden Augen

15,236
v . Sdi.: Schaute er auf die rosigen Finger der reizenden J u n g f r a u
G r . : Sdiaut' er die rosigen Finger der reizumblüheten J u n g f r a u

I5.M7
v . Sch.: W i e sie mit der H a n d den H a l s der L ö w i n umschnürte
G r . : W i e mit den Händen sie fest den Löwenrachen umschnürte.

Aber wir wollen keine Beispiele häufen, wie oft die Zäsuren verfehlt,
die Senkungen entweder zu leer oder aber überfüllt sind. Die paar eigenen
Versuche, die wir oben um des Wortlauts willen gegeben haben, sollten
nebenher noch etwas ganz anderes deutlich machen: daß der deutsche
Hexameter (soweit es noch so etwas gibt) durch die Achilleis oder durch
den Archipelagos oder etwa auch durch das Märchen vom sichern Mann
geprägt und damit für Nonnos vermutlich unbrauchbar geworden ist.
„Den Nonnos in dieselben deutschen Hexameter wie den Homer über-
setzen, kann nur, wer von ihrem Bau und ihrem Klange gar nichts fühlt.
Es ist ein Gegensatz wie zwischen den Mosaiken von S. Apollinare und
dem Parthenonfriese", bemerkte schon U. v. Wilamowitz (SBB. 1928, 25).
Für den gleichmäßigen Fluß des nonnianisdien Hexameters wären viel-
leicht fallende Langzeilen mit immer gleichen einfachen Senkungen
(„trochäische Tetrameter") ein Äquivalent. Der Ref. hat vor Jahren und
auch jetzt wieder dergleichen Versuche gemacht.
Aber nun liegt das riesenhafte Ubersetzungswerk vor, und keinesfalls
darf der Eindruck erweckt werden, als ob die Leistung gering zu schätzen
[686/6877 Die Dionysiaka des N o n n o s 249

wäre. Schon darum nicht, weil es die erste (und vermutlich f ü r alle Zeiten
die einzige) vollständige deutsche Übertragung ist, die sich jetzt neben
die lateinische des Eilhart Lubinus ( 1 6 0 5 ) und die französische des G r a f e n
Marcellus stellt. Auch in den Anmerkungen Bogners stecken Hilfsmittel
zum Verständnis, die man nicht leicht entbehren kann. Z u m 26. Buch
sind sogar ungedruckte Untersuchungen Sieglins verwertet, die nachprüfen
muß, wer die griechische K u n d e von Indien erforschen will. Greifen w i r
zuletzt beliebig eine Stelle heraus, um zu zeigen, wie viel die Ubersetzung
von der Schönheit des ursprünglichen Gedichts - trotz allem - vermittelt.

4 7 , 1 6 f f . Pflanzen schössen empor; es wuchsen v o m Boden der Erde


In die Höhe von selbst die süßen reifenden Trauben,
U n d das Olivengefilde von M a r a t h o n färbte sidi rötlidi.
Säuselnd rauschten die Eichen, es brachten die H ö r e n der A u e n |
Weit sich öffnende Blüten von doppelfarbigen Rosen.
Lilien sproßten w i l d empor aus dem Schöße der Hügel,
U n d die Flöte Athens erklang mit den phrygischen Flöten.
Die Chronologie des Nonnos von Panopolis

1912

Der Dichter Nonnos von Panopolis ist, wenn man seine persönliche
und seine geschichtliche Bedeutung abwägt, ganz unzureichend bekannt.
Über die handschriftlichen Grundlagen seines Textes unterrichtet jetzt die
Ausgabe Ludwichs. Uber seine Verskunst gibt es zahlreiche Untersuchun-
gen, die nur fast durchweg unter dem Mangel leiden, Wichtiges und
Unwichtiges in der gleichen Fläche breit zu entwickeln. Über seine Sprach-
mittel hat man manches zusammengestellt. Über den Inhalt seines Riesen-
gedichtes und über seine Vorlagen orientiert einigermaßen das doch immer
nützliche Büchlein von Reinhold Köhler (1853). Sonst wird er meist
benutzt, um hellenistische Poesie aus ihm zu gewinnen, oder zu mytho-
graphischen Zwecken. Wie starkes eigenes Leben seinem Werk einwohnt,
spricht die meisterhafte Charakteristik in Wilamowitzens Literatur-
geschichte aus. Aber alles zu sagen, was über ihn zu sagen ist, erfordert
ein Buch, das dann freilich nicht nur Composition und Vorlagen seiner
Dichtung zu untersuchen, nicht nur Stil und Kunst zu analysieren und in
Wirkung und Wirkungsmitteln darzustellen hätte, sondern das - nach
idealer Forderung — auch zeigen müßte, wie er in der Literaturentwick-
lung und zu der Gesamtkultur seiner Zeit steht, und wie seine Kunst sich
zu anderen Barockperioden der Poesie wesenhaft und geschichtlich ver-
hält. Von alledem wird hier kaum mit einem Wort die Rede sein, sondern
nur die bescheidene Aufgabe soll gelöst werden: ihn chronologisch, soweit
das möglich ist, zu fixieren.
Wenn diese Aufgabe gestellt wird, so ist damit gesagt, daß der ver-
breitete Ansatz „um 400" nicht bestehen kann 1 . Zu seiner | Begründung
dient die Annahme, Nonnos benutze den Gregor von Nazianz (f 390)
und werde andererseits von Kyros zitiert2. Kyros dichtete unter Theodo-

[Hermes X L V I I , 1 9 1 2 , S. 4 3 - 5 9 . ]

1
P. Maas, Deutsche Literaturzeitung 1 9 1 0 , Sp. 2 5 8 8 , hat gesagt, daß man bisher mit
dem A n s a t z zwischen A p o l l i n a r i s , dessen Psalmenmetaphrase von der Evangelien-
metaphrase des N o n n o s vorausgesetzt w i r d , u n d A g a t h i a s , der die D i o n y s i a k a zitiert,
schwanken dürfe.
2
Begründet hat den A n s a t z Ludwich, Rhein. Mus. X L I I ( 1 8 8 7 ) 2 3 3 ff., und zuletzt in
seiner Ausgabe: N o n n i Dionysiaca (1909) I p. V I I I . - K y r o s hat eine V i t a beim
Suidas, wonach er yeyove eju ©eoöoaiou toiS veou ßacriAeoog . . . Etiöoxia 701g f)
©eoöoaiou Yauetr] ßcioiXtg oucra fegriYdadTi t ö v K i p o v cpii.0£jtT)£ o i a a .
[44/45] Die Chronologie des Nonnos von Panopolis 251

sios II (408-450), unter dem er hohe Staatsämter bekleidete, und von


dessen in Poesie dilettierender Gemahlin Eudokia er bewundert und prote-
giert wurde; er erlebte noch die Regierung Kaiser Leos (457-474). Das
angebliche Nonnoscitat bei Kyros gilt es zunächst zu prüfen. In der Anth.
Pal. I X 136 ist ein kleines sechszeiliges Gelegenheitsgedicht überliefert mit
der Oberschrift Kvqou toü iXEyäXoi) jioititoü, f)vixa e^eXXev Elopi^ecrftai ex
tTjg jtoXgüig,ftpfjvogov eins npog avTrji Tfji jt-uXr|i tf|- av.pojioXECog. Wir können
dieses Gedicht in die Lebensgeschichte des Kyros einordnen. Wir wissen,
daß seine kaiserliche Gönnerin sich unter Umständen, die von roman-
hafter Historie bunt und lebendig ausgeschmückt werden, vom Hofe
zurückzog und nach Jerusalem ging3. Wir erfahren aus der Suidasvita,
daß Kyros im Zusammenhang mit diesen Ereignissen Konstantinopel
verließ und als Bischof von Kotyaeion in Phrygien ein ehrenvolles Exil
fand. Fraglos ist es die genannte Katastrophe, auf die sich die Verse des
Dichters beziehen; „die Stadt" in der Randnotiz und in V.4 ist Konstan-
tinopel, und das Gedicht wird mithin auf die zweite Hälfte des Jahres 441
oder die erste von 442 datiert, da der Sturz des Kyros sich in den Grenzen
eines Jahres etwa bestimmen läßt4. Es enthält einen Abschied an die
Stadt, eine Klage über das Unrecht, das dem Dichter geschieht, und es
beginnt mit dem aus weltflüchtig-bukolischer Stimmung geborenen
Wunsche: hätte mich doch mein Vater Schafe hüten gelehrt; dann könnte
ich jetzt unter einem Baume sitzend auf der Rohrpfeife mein Leid lindern.
Auf diesen Anfang kommt es an: |

Aifte JiaxriQ |j.' EÖiöa|s öcKrutpixa nfjXa vo^eiieiv,


wg xev foiö rtTEXeTiiai xadr)[i£vog . . . Ejiag TSQitEaxov äviag.

Längst hat man zwei Stellen der D i o n y s i a k a damit verglichen, die erste
eine Rede des Pan, in der er, der Schafhirt, sich wünscht (16, 321):
aide jiatriQ |j.e öiöa^E TEXsaaivanou öoXov oivou . . . 5
xai xev euqjv ixeXeaaa jtoMmXavov oIotqov 'Eqcotoov.

3
Seeck in Pauly-Wissowas Realencyklopädie V I 907 ff.
4
Seeck a. O. 908. K y r o s ist 4 4 1 Consul und praefectus praetorio Orientis nach den
Novellae ad Theodosianum pert. V 3 und dem Codex Iustinianus I 55, 10. Die Abreise
der Kaiserin nach Jerusalem wird von der Überlieferung ins J a h r 440 gesetzt, was
Seeck mit dem Hinweis auf Kyros für falsch erklärt. - Zur Biographie des K y r o s vgl.
auch Delahaye, Revue des fit. G r . I X (1896) 2 1 9 .
5
Bei Nonnos, der die Pronomina nicht elidiert (Ludwich, Beiträge zur Kritik des
Nonnos 16), muß man [iE ölöaqE schreiben, nicht |_i' ¿öiöaS;E. Doch muß andererseits
(iE nidit als Enklitikon zu jtaxr|0 gezogen werden, sondern proklitisdi zu SiSa^E,
damit der Verseinschnitt nicht falsch wird. Unsere traditionelle Accentuation führt
da irre. Bei Kyros kann man natürlich schreiben wie bei Nonnos. In dem Verse
Dionysiaka 16, 320 aide vooaqpaXeo? cxa<pv}.r\<; axs B a x / o ; äväoaci) leidet die Syntax
unter dem Verszwang, wie nicht selten bei Nonnos.
252 Griechische Literatur [45146]

Das klingt an die Situation bei Kyros im umgekehrten Sinne an: da


wünscht sich der Dichter die Schafe zu hüten; bei Nonnos wünscht sich
der Schafhirt einen anderen Beruf. Das zweitemal spricht Lykurgos
(20, 372):

alüe jtatT)Q (ie öi8a|s (iexd 'x/.ovov zgya ttaXötaaric,


cog xev äe'&XEijaaiixi . . .

Meineke hat den Anklang als Abhängigkeit des Nonnos von Kyros ge-
deutet, heut herrscht die entgegengesetzte Ansicht 6 . Mit Unrecht! Bei
Nonnos sticht der zweimal vorkommende Versanfang durch nichts beson-
ders hervor. Weder ist er inhaltlich bedeutsam, noch steht er an irgend-
einem auffälligen Platze, so daß man ihn ohne weiteres im Gedächtnis
behalten müßte. Bei Kyros handelt es sich um ein Gedicht, das f ü r
eine entscheidende Wendung in dem Leben des viel bedeutenden
Dichters biographisches Dokument war, und es handelt sich um die
Anfangsworte dieses Gedichts. Daß Nonnos von Panopolis die berühmten
Verse des Kyros von Panopolis im Sinn hatte, kann man verstehn.
Der umgekehrte Vorgang, daß Kyros einen zweimal vorkommenden
und an sich durchaus gleichgültigen Versanfang des Nonnos im Gedächt-
nis behalten habe, wäre nur dann wahrscheinlich, wenn er auch sonst
voll wäre von nonnianischen Reminiscenzen, etwa wie Musaios oder
Johannes von Gaza. Davon aber ist so wenig die | Rede, daß man in seinen
erhaltenen Versen schwerlich irgendwo einen bezeichnenden Anklang an
den Stil des Nonnos möchte aufzeigen können; von seiner Verskunst ganz
abgesehen, über die noch zu reden sein wird. Als Möglichkeit läßt sich
erwägen, ob nicht f ü r beide Dichter eine gemeinsame Vorlage anzusetzen
sei7. Wenn man aber überlegt, daß Kyros ebenso wie Nonnos aus Pano-
polis stammt, daß also ein Zusammenhang irgendwelcher Art zwischen
den beiden viel wahrscheinlicher ist, als das Gegenteil, so gewinnt die
Annahme einer unmittelbaren Abhängigkeit des einen von dem andern
außerordentlich, und die Annahme einer gemeinsamen Quelle verliert in
gleichem Maße. Mithin hätte Nonnos, als er an seinem 16. Buche arbeitete,
ein ums J a h r 440 verfaßtes Gedicht zitiert.
Das Fundament, auf dem die neue Datierung ruht, ist so schmal, daß
sich wohl mancher hüten wird, den traditionellen Ansatz aufzugeben,
so wenig dieser in Wahrheit selbst begründet ist. Darum scheint es not-
wendig, den Bau durch andere Mittel zu stützen.
Ein Punkt sollte eigentlich längst schon Zweifel erregt haben, ob
man nicht den Nonnos irrtümlich um 400 ansetzt. Keiner nämlich, den
man zu seiner Schule rechnet und nach Stil und Verskunst rechnen muß,

6
Meineke zum Theokrit 3 p. 4 5 3 . Dagegen Bernhardy, Grundriß der griech. L i t . 2 I I 1,
3 9 4 ; N o n n i Dionysiaca ed. Ludwich I p. X .
7
P . Maas, D L Z 1 9 1 0 , 2 5 8 8 , vermutet „ f ü r alle drei Stellen eine bukolische Quelle".
[46/47] Die Chronologie des Nonnos von Panopolis 253

lebt v o r Kaiser Anastasios ( 4 9 1 - 5 1 8 ) 8 . D a n n | aber am E n d e des 5. und


im 6. J a h r h u n d e r t häufen sich die Imitatoren, d. h. es ist in W a h r h e i t alle
Dichtung dieser Zeit, die auf V o l l e n d u n g Anspruch macht, stärker oder
schwächer v o n N o n n o s abhängig. U n t e r Anastasios werden Christodor
und K o l u t h v o n Suidas angesetzt und aus derselben Z e i t stammt die
Versinschrift A n t h . P a l I X 6 5 6 und die Buchaufschrift I X 2 1 0 9 . U n t e r
Justinian gehören Johannes v o n G a z a , Paulus Silentiarius und das
Gedicht auf die Kirche des P o l y e u k t und ihre Stifterin A n i c i a J u l i a n a
v o m J a h r e 5 2 7 / 8 ( A n t h . P a l I i o 1 0 ) . D i e justinianische E p i g r a m m a t i k
des Paulus, A g a t h i a s , Makedonios zeigt bei größerer Selbständigkeit die-
selben Einflüsse 1 1 . Welchen Schein hat es da, den Meister v o n seiner Schule
um drei Generationen zu trennen, anzunehmen also, seine K u n s t habe
irgendwie im Verborgenen gelebt und sei nach langem Zwischenraum
hervorgezogen w o r d e n mit einem alles bezwingenden E r f o l g e ? W ä h r e n d
doch an Schulzusammenhang und persönliche V e r b i n d u n g dieser spät-
griechischen Poeten Ä g y p t e n s nicht gezweifelt werden kann.

8
Dies ist eine Tatsache, mit der man zu redinen hat. Mithin wird das in der Anth.
Pal. I X 362 erhaltene Gedicht E i ; 'A/.cpeiöv jtoxanóv, das einen Nonnianer zum
Verfasser hat, von Holland (Commentationes Ribbeckianae 381 ff.) ganz irrtümlich
in den Anfang des 5. Jahrhunderts gesetzt und auf Alarichs Eroberungszug gedeutet.
Vor Anastasios ist das Gedicht formal nicht denkbar. Nun ist auf den Trümmern von
Olympia in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts ein byzantinisches Dorf erbaut
worden. Ihm voraus ging ein spätrömisches oder byzantinisches Kastell, zu einer Zeit
errichtet, als der Zeustempel noch stand. Vgl. Curtius-Adler, Olympia, Ergebnisse der
Ausgrabungen I 91 f. (Dörpfeld) 9$ f. (Adler). Mit dem kümmerlichen Dorf wird
unser Gedicht nichts zu tun haben, wie man denn auch an sich die Zeit nicht so weit
herabdrücken möchte. In die Zeit des Kastells hingegen könnte es sehr wohl gehören,
und es würde anschaulich machen, wie notwendig solche Befestigung war. Adler setzt
die Erbauung des Kastells in die Zeit um 465-470 und hält es für eine Wehr gegen
die Seeräuberzüge der Vandalen. Das scheint allerdings etwas willkürlich gegriffen,
aber unser Gedicht würde gut dazu stimmen.
9
Auch Dracontius, dessen Zusammenhang mit der Nonnosschule v. Wilamowitz, Grie-
chische Literatur 200 mit Recht hervorhebt, wird durch die Satisfactio ad Gutha-
mundum regem Guandalorum etwa in den Regierungsanfang des Anastasios datiert.
10 Uber die Chronologie der Juliana vgl. A. v. Premerstein, Jahrbuch der kunsthistori-
schen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses X X I V (1903) 108. Die Datierung
der Kirche beruht auf Gregor von Tours, In Gloria martyrum c. 102 (Mon. Germ,
hist., Script, rer. Merov. I p. 155). Da der Kaiser in dieser Geschichte Justinian heißt,
so muß die Vollendung der Kirche zwischen den Regierungsantritt dieses Kaisers
(1. August 527) und den Tod der Juliana (spätestens 1 1 . Januar 529; irrtümlich Seeck
in Pauly-Wissowas Realencyklopädie I 2208 Nr. 53) fallen. Für völlig sicher kann ich
diesen Schluß darum nicht halten, weil die Anekdote bei Gregor sichtlich fabulös ist,
so daß man sich auf den Namen des Kaisers nicht ganz verlassen kann. Aber Premer-
stein, a. O. 123 f., hat gezeigt, daß sich die Datierung der Polyeuktkirdie in die letzten
Jahre der Juliana gut zu dem fügt, was wir sonst von ihr wissen.
11
Stümpereien wie die panegyrischen Gedichte aus Ägypten, Berliner Klassikertexte V 1,
S. 1 1 7 ff., Byzantin. Zeitschr. X I X 1 ff., täte man unrecht zur Literatur zu zählen.
Und doch ist bei aller Unfähigkeit, korrekte Verse zu bauen, gerade hier die Nonnos-
schule unverkennbar.
254 Griechische Literatur [47¡49]

Als Complement muß nun gezeigt werden, daß alles, was wir aus
der Zeit um 400 und aus der ersten H ä l f t e des 5. Jahrhunderts kennen,
seiner Technik nach auf einer vornonnianischen Entwicklungsstufe steht. |
Mit Kyros sei begonnen. Z w a r die sechs Zeilen des von uns schon
betrachteten Gedichtchens könnten - sowenig der Stil irgendwie an
Nonnos erinnert — ihrer Verstechnik nach durchaus von diesem stammen.
Nirgends ist in Elision oder Doppelkonsonanz, in den Cäsuren und der
Verteilung der Daktylen etwas, das ernstlich widerspräche. J a die Vers-
schlüsse gehen, da alle auf der Vorletzten betont sind, scheinbar noch über
die Forderungen des Nonnos hinaus, der doch nur die Proparoxytona
aus dem Versende verbannt. Allein es braucht nicht erst gesagt zu werden,
daß dies alles gewiß f ü r eine sorgsam geübte Kunst, doch keineswegs un-
bedingt für die Abhängigkeit von Nonnos beweist. Sechs Verse reichen
nicht von fern, um alle Möglichkeiten zu erschöpfen. Und die andern
Gedichte des Kyros, so wenig wir haben, zeigen sogleich, welche Vorsicht
hier dem Urteil geboten ist 12 .
1. In dem Gedicht Anth. Pal. X V 9 schließt einer von acht Versen
mit YEQovTog, in dem Gedicht Anth. Pal I X 808 einer von elf Versen mit
TEtotwaxai. Dem Gesetz des Nonnos, das keine Proparoxytona im Vers-
schluß zuläßt, haben sich freilich unter seinen Nachahmern nicht alle
gefügt; Triphiodor und Koluth halten an der älteren Weise fest.
2. Die Elision itavtt' öpöoa I X 808 ist gegen den Gebrauch der gesam-
ten Nonnosschule 13 .
3. Vorschriftswidrig sind die homerischen Hiate aylaä 'egya I X 808,
deiSeixeta 897a X V 9, itäv as eiaxco X V 9 (wo man mit itavtci o' Eiaxw eine
gleichfalls unnonnianische Elision einführen würde).
4. Für die Vokalverkürzung im zweiten und dritten Fuße, die Nonnos
(außer bei xai, rj, ia.1'1) nicht gestattet 14 , begegnen folgende Beispiele: ejtei
eutiöev aXXcr&EV äXXa I X 808, voaqpi \o%aiov EQCDtog I X 136.
5. Der zuletzt angeführte Versanfang enthält außerdem trochäischen
Einschnitt im | zweiten Fuß nach einem Worte, das schon im ersten be-
ginnt, - ein f ü r geschärfte Ohren höchst unschöner Bau des Hexameters,
den Kallimachos geächtet hat, und der bei Nonnos und seinen Nach-
ahmern nicht ganz unmöglich, aber äußerst selten ist 15 . Als undenkbar
muß es bezeichnet werden, daß ein Nonnosschüler, der nicht ein Stümper

12
Man könnte auf die Annahme verfallen, daß Kyros selbst eine Entwicklung zum
Strengeren durchgemacht habe. Aber das Material reicht zu solchen Schlüssen nicht
hin. Das unten S. 49 Anm. 2 zu erwähnende Epigramm Anth. Pal. I 99 würde sogar
Einspruch erheben, da es aus dem Jahre 462 stammt.
13
Ludwich, Beiträge zur Kritik des Nonnos 29 ff.
14
Lehrs, Quaestiones epicae 264 ff.
15 Ludwich, Fleckeisens Jahrb. 109, 454 ff. W. Meyer, Zur Geschichte des griedi. und lat.
Hexameters (Münchener Sitzungsber. 1884) 1004 ff.
[49/50] Die Chronologie des N o n n o s von Panopolis 255

war, gleichzeitig jene Verseinschnitte und die Vokalverkürzung sich


gestattet hätte 16 .
Erwägt man, daß diese Abweichungen von den Regeln des Nonnos
sich in wenig mehr als 30 Versen zusammenfinden, so muß das Urteil
lauten: die Verstechnik des Kyros ist zwar im allgemeinen sorgfältig,
weiß aber von den strengen Forderungen des Nonnos nichts. Damit geht
Hand in Hand, daß auch der Stil des Kyros nichts spezifisch Nonnia-
nisches zeigt. Es fehlen die charakteristischen Beiwörter und Umschrei-
bungen, es fehlt z. B. der Ersatz von Adjektiven durch prägnante Sub-
stantiva (yeítcdv, iiápTug u. dergl.). Und nicht minder paßt zu diesen Er-
gebnissen, was vorher über das Verhältnis des Nonnos zu dem Kyros-
gedicht aifts jtuttiq ausgeführt worden ist.
Um aber all das richtig einzuschätzen, muß man sich klarmachen, daß
Kyros kein obskurer Dichterling ist, dem man auch eine zurückgeblie-
bene Verskunst zutrauen dürfte: er ist der „große Dichter" 17 , in gewissem
Sinne offenbar d e r Dichter seiner Zeit. Als er aus Panopolis nach der
Hauptstadt übersiedelt, bringt er die modernste Kunst mit. Kaum denk-
bar, daß es damals in demselben Panopolis schon einen Nonnos gegeben
habe mit seinen sehr erhöhten Ansprüchen an die metrische Form und
seinem viel größeren Reichtum ornamentaler Durchbildung des Stils. -
Der Schluß, den wir aus dem Vergleich zwischen Kyros und Nonnos
gezogen haben, wird durch ein ganz kleines, aber zum | Glück genau
datiertes Stück Poesie aufs beste bestätigt18. Unter dem 16. Konsulat des
jüngeren Theodosios, d. i. 438, las unter großem Beifall ein gewisser
A m m o n i o s in Konstantinopel ein Epos Gainia vor, das einen in
Thrakien über den gotischen Rebellen Gai'nas errungenen Sieg verherr-
lichte. Aus diesem Epos hat das Etymologicum genuinum durch Vermitt-
lung des Oros zwei Verse bewahrt:
iiör) 5 ' tn|>iT£VÍ]5 t e Míjxag í o t e X e í j i e t ' öitiaaco,
tabtETO 8 ' wJny.aQrivov eöog IIi.(iitXrií8og axQT)g.

Die Verse sind glatt und sorgfältig, soweit man nach zweien urteilen
darf; Daktylenreichtum ist offenbar gesucht. Den Stil zeichnen die tönen-
den Adjektive aus, von denen m|HTEvr|g sonst aus Proklos und Nonnos
samt seiner Schule bezeugt ist, úi|nxáQT|vos zwar schon im Aphrodite-
hymnus (264), dann aber gleichfalls oft bei Nonnos vorkommt. So läßt

16
D a s E p i g r a m m A n t h . Pal. I 99, das Delahaye, R e v . des É t . G r . I X ( 1 8 9 6 ) 2 1 6 ff., aus
der V i t a des Daniel Stylites ergänzt und als Dichtung des K y r o s nachweist, beginnt
mit dem Vers UEoarWii? Y a t T l ? T E x a l oipavoO laxaron, ävr|g. D a ist z w a r das N e b e n -
einander zweier Spondeen und auch jede der 3 Vokalkürzungen an sich für einen
Nonnosschüler denkbar, schwerlich aber die H ä u f u n g aller dieser Eigentümlichkeiten,
w Überschrift zu A n t h . Pal. I X 1 3 6 .
18
Z u m Folgenden vgl. Reitzenstein, Geschichte der griech. Etymologica 2 8 7 ff. D a s
Wesentliche w a r schon erkannt von N i c o l a i , Griech. Literaturg. I I I 3 5 , später ganz
verdunkelt.
256 Griechische Literatur [50151]

denn bereits der kleine Brocken erkennen, daß Ammonios durchaus auf
der Höhe der zeitgenössischen Epik steht. D a ß er aber kein Schüler des
Nonnos sein kann, beweist die verräterische Elision íoteXeíjiet' öitiaaco, die
nicht nur bei Nonnos undenkbar ist, sondern in der gesamten Epik unter
Anastasios und Justinian. Es bedarf keines Wortes, wie tollkühn es wäre,
das Ammoniosfragment für sich allein als chronologischen Beweis zu
verwenden. Im Verein mit dem, was die Betrachtung des Kyros ergeben
hat, liefert es eine vortreffliche Stütze für unsern Ansatz, der den Nonnos
nach 440 herabrückt. —
Schließlich P r o k 1 o s , der Hymnendichter. Gewiß dürfte man ihn
nicht ohne weiteres an der epischen Technik seiner Zeit messen, wenn er
nicht selbst diesen Maßstab herausforderte und einerseits durch den Vers-
bau - seine Vorliebe für weibliche Hauptcäsur und für daktylischen
Fluß 19 - andrerseits durch die Wortwahl, besonders durch die Vorliebe
für jene üppig schwellenden Beiwörter wie áslívoog, ágasvofrunog, eqcútóto-
y.og, lebhaft an Nonnos erinnerte. Es gibt da in der Tat gar nicht wenig,
was für uns | lediglich aus den beiden nachweisbar ist, und so hat man den
Proklos zum Nonnosschüler stempeln wollen 20 . Aber gerade weil die
Übereinstimmung so stark ist, beweist die Metrik als sicherster Grad-
messer, daß Proklos nicht nach Nonnos gekommen sein kann, von dessen
technischen Feinheiten er nichts weiß. N u r das Sinnfälligste braucht man
hervorzuheben.
1. Dem Verse Movaáoov Egaai:nXoxá|ia>v öcoQoun ¡j.£Xoí|rr|v (I 44) fehlt
die Hauptcäsur im dritten Fuß, er ist für Nonnos und seine Schule über-
haupt cäsurlos und unmöglich.
2. Correptio Attica im Wortinnern, von Nonnos und seiner Schule
auf ganz wenige Fälle (áXXojtQÓaaXXog, áXXotgíooi, 'AjxcpiTQÍicov, 'Hpcr/.XÉT|g,
'AcpQoöitri) beschränkt 21 , ist bei Proklos durchaus nicht selten: |at) xqotqtís

19 Schneider, Philologus L I 593 ff. 129 Fälle weiblicher Hauptcäsur stehen gegen 55
männliche. 69 Verse sind rein daktylisch, 89 haben e i n e n Spondeus, nur 28 haben
2 Spondeen, die sich immer auf die beiden Vershälften verteilen. Mehr als 2 kommen
nicht vor.
20 G . Hermann, Orphica 690; Schneider a. O . v. Wilamowitz, Berl. Sitzungsber. 1907
272, sagt, daß Proklos „die Technik der zeitgenössischen Epik teilt". - Nachahmung
des Musaios bei Proklos w i l l Ludwich, Fleckeisens Jahrb. 1886, 246 ff., nachweisen.
A b e r direkte Abhängigkeit ist nach keiner Seite erweisbar und so, wie Ludwich sie
ansetzt, nach unsern Feststellungen unmöglich. Musaios kann wie alle datierten
Nonnianer nur unter Anastasios, Justin, Justinian angesetzt werden. Die Konsequenz
scheint dann allerdings zu verlangen, daß man den Achilles Tatius zum Zeitgenossen
dieser Epik macht. Denn der Zusammenhang zwischen ihm und Musaios (Rohde,
Griech. Roman 472 1 ) ist nicht z u bestreiten, Musaios kann nicht der Nehmende sein,
gemeinsame Quelle ist unwahrscheinlich, v. Wilamowitz (Griech. Literaturg. 183)
setzt den Achill in die erste H ä l f t e des vierten Jahrhunderts; „aber das ist auch nur
geraten". Bedenklich gegen die späte Datierung macht mich wiederum, daß von akzen-
tuierendem Satzschluß keine Spur ist.
21 Lehrs, Quaestiones epicae 264.
[51152] Die Chronologie des Nonnos von Panopolis 257

YEVE0ÄT15 evi *{>|iaai jtEJttwxmav ( I V 1 0 ) , eg veve^Xtiiov «y.Tr)v ( I I I 8 ) , <paog


8 ' EQlTLJiOV aÖgr|00) ( V I 9 ) .
3. Unerlaubt bei Nonnos wäre die homerische Verlängerung kurz-
vokalischer schließender Endsilbe: oxi ftsö; EÖxo|xai elvai (VII 42).
4. Die Elision behandelt Proklos durchaus frei: xexXirfh xExXud' a v a a o a
(VII 51), aiiußo?.' excov (V 5), eXxet' ¿5 dfravatoug (IV 3), vEvaax' E|xol cpao?
ä y v o v (IV 6), xaiQ' ' E x a t r | . . . / a l g ' " I a v E . . . '/alg' ojtaxE Zev (VI 2. 3).
Das Urteil ergibt sich von selbst: Proklos wendet eine im Vergleich
zu Nonnos archaische Verstechnik an. Die Ubereinstimmungen zwischen
den beiden lassen sich mithin nicht so deuten, | daß Nonnos Vorbild
wäre; sondern entweder hat Nonnos von Proklos gelernt, oder Proklos
dichtet in dem epischen Stil seiner Zeit, den dann Nonnos aufnimmt und
weiterbildet. Niemand wird zögern sich für die zweite Möglichkeit zu
entscheiden, womit ja keineswegs ausgeschlossen werden soll, daß Nonnos
etwa auch den Proklos gekannt haben könne 22 .
Proklos lebte 410—48523. Wann er seine Hymnen zu dichten anfing,
wissen wir nicht. Sein Biograph Marinos (Kap. 26) sagt uns nur, daß er
diese Tätigkeit noch nach seinem siebzigsten Jahre fortsetzte, und teilt uns
außerdem Verse von ihm mit, die er mit 40 und 42 Jahren im Schlafe
gemacht habe (Kap. 28). Gelernt hat Proklos die poetische Tedinik
sicherlich als junger Mensch, und da er in Alexandrien studierte, so war
er ja in dem Lande, das damals als die eigentliche Heimat der Poesie
galt 24 . Mithin darf er uns Vertreter dessen sein, was etwa in den dreißiger
Jahren modern war, und wieder zeigt sich, daß Nonnos damals noch nicht
gewirkt haben kann. — ]

22 Wenn Nonnos ( X X X V I I 4 - 6 ) die Seelenwanderungslehre der Inder so darstellt


ola ßiou ßgOTEOU yair|ia öeona tpuYovxEg
ipuxfis itEUito^evr)?, ödev i^ude, x w X ä ö i OEigfji
vvaaay ig apxalriv,
so erinnert die aeipä allerdings an das neuplatonische Bild der Kette, aber nidit
ausschließlich an Proklos und nicht ausschließlich an seine Hymnenpoesie. Hingegen
ist es mir nicht unwahrscheinlich, daß der Nonnosschüler Johannes von G a z a den
Halbvers delivocav ajiö ai^ßXtov (I 15), der bei Nonnos nidit vorkommt, von Proklos
(III 16) entlehnt habe. Nicht nur die Übertragung auf die Gaben der Musen ist an
beiden Stellen gleichartig, auch die ganze Anlage stimmt überein. Bei Proklos ist es
eine Aufforderung an die Musen aXXci -Seat . . . eqcotjv i t a i a a t s , bei Johannes eine
Aufforderung an die alten Dichter ccXXa jtEjnaaovöcov EyxijuovEq EiiEitiäajv . . . jte|i-
noi . . . ar|Tr|v. - Christodor schrieb unter Anastasios in Versen ein Buch jieqI
xojv ¿ x p o a x ü v t o i neydA.o'u npöy.Xou (Lydus de magistrat. I I I 26).
23
Zeller, Philosophie d. Griechen I I I 2 * 8 3 5 ; Freudenthal, Rhein. Mus. X L I I I (1888)
486.
24
Wenn Eunapios (um 400) in einer oft zitierten Stelle ( V . S. p. 92) von den Ägyptern
sagt tö 6e sftvog eju noiT|Tixf|i [xev crqpoÖQa naivovtat, 6 öe cjtouöalog 'Ep[ifjs a v x w v
<xjioxexü)£>titcu, so ist die Beziehung auf Nonnos (Rohde, Griedi. Roman 4 7 3 2 =
25042, Nonni Dionysiaca ed. Ludwich I p. I X ) nun nicht mehr möglich; die Stelle
geht die ägyptische Poesie vor Nonnos an und wird deshalb um so wichtiger.
258 Griediisdie Literatur [53154]

Zuletzt bleibt über den griechischen Claudian einiges hinzuzufügen,


obgleich es das chronologische Problem nicht erheblich fördert. Abgesehen
von ein paar Epigrammen der Anthologie, die mindestens teilweise einem
späteren Namensvetter gehören, haben wir einzig im Matritensis L X I
von der Hand des Lascaris 1465 geschrieben zwei epische Bruchstücke
einer Gigantomachie, die den Namen Claudians tragen25. Nehmen wir
diese Autorenbezeichnung als zuverlässig an26, fügen wir uns auch der
Identifikation des Verfassers mit dem berühmten Römer, dem Zeit-
genossen Stilichos, so scheint Birts Datierung des griechischen Gedichtes
auf 395, d. h. auf die Zeit vor Claudians Ubersiedlung nach Italien (bevor
„Latiae accessit Graia Thalia togae") wohl möglich, aber nicht vollkom-
men sicher begründet27. Könnte nicht auch der Dichter nach dem Tode
seines Gönners Stilicho in die alte Heimat zurückgekehrt und dort von
neuem mit griechischer Epik aufgetreten sein28? So läßt sich das Bruch-
stück in das letzte Jahrzehnt des vierten oder auch in das erste und selbst
in das zweite Jahrzehnt des fünften Jahrhunderts datieren. Nun hat man
längst gesagt, daß Claudians metrische Technik vor-nonnianisch ist: er
verwendet schwache Position, Correptio attica, von keiner Regel
gehemmte Elision, um nur das Hauptsächlichste hervorzuheben. Und
dazu, was wichtiger ist, läßt sich jetzt der griechische Claudian auch im
Stil als Vorgänger des Nonnos erweisen29. |
Besonders charakteristisch ist die Scene, da Aphrodite sich zum
Gigantenkampfe rüstet, nicht mit den Waffen des Krieges, sondern mit
den Reizen ihres Leibes und ihrer Gewandung. Alle Buntheit seines Stils,
allen Reichtum spitziger Kontraste, auch einen Schimmer Lüsternheit
hätte Nonnos darüber gebreitet. Und ähnlich empfindet schon Claudian,
nur ist alles noch in der Knospe. Was den Umfang anbelangt, so hätte
sich Nonnos nicht mit zwölf Versen begnügt, sondern das Doppelte und
Dreifache an solche Szene gewendet. So ein Wortspiel in Gegensätzen,
von dem u n g e f l o c h t e n e n Haar und dem g e f l o c h t e n e n Band

25 Zuletzt herausgegeben in: Eudociae, P r o d i , Claudiani reliquiae ed. Ludwich. S. auch


Claudiani carmina ed. Birt (Mon. Germ, hist., Auct. ant. X ) .
26 A n sich könnte man meinen, daß der N a m e nur auf Renaissancekonjektur beruhe.
Man wußte ja von der Zweisprachigkeit Claudians und kannte das lateinische Gigan-
tomachiefragment. A b e r solche Skepsis wird unwahrscheinlich, wenn man sieht, daß
außer Laskaris auch Kardinal Bembo das griechische Bruchstück einfach Claudian
nennt (Birt p. L X X I ) .
27 D a ß auf das Zeugnis des Euagrios (hist. eccl. I 19), der Claudian und K y r o s synchro-
nistisch zusammenkoppelt und beide auf den Vandalensturm von 429 datiert, nichts z u
geben sei, hat Buecheler, Rhein. Mus. X X X I X (1884) 282, ausgeführt.
28 Man könnte V . 13 heranziehen ¿7(0 6' ETI ö e i v ö ; 0101865, was gegen einen jugend-
lichen Verfasser sprechen würde. A b e r gerade 8' ETI ist K o n j e k t u r f ü r 8 i TOI.
29 Birt a. O . p. L X X V : ceterum non potest solum, sed debet Nonnus et novisse et appro-
basse Gigantomacbiam Claudiani. Einige Analogien haben bereits Birt und Ludwich
in ihren Ausgaben beigebracht. Man muß nur deutlicher hervorheben, daß hier eine
Stilentwiddung kenntlich ist.
[54155] Die Chronologie des Nonnos von Panopolis 259

um die Haarflechte (45/6), hätte Nonnos knapper und geschickter heraus-


gebracht. A m stärksten erinnern an ihn die Verse (50 fi.), in denen die
Kontraste paarweis gehäuft sind. Die Göttin wird geschildert

ö[X|xaTog Eig aypriv ¿)jt/.ia|iér| • st^e yaQ at>tr|


jtXÉYna kòqvv, Sogt) (xa^óv, òcpgìrv ßsXog, aajtiöa xàX/.og,
o i t X a |xéXri, ÖEXYTITQOV ÈV C&YE<TIV 30 .

Ähnliche Stellen aus Nonnos finden sich leicht. Immer handelt es sich um
Situationen, deren bizarre Eigenart lebhaft hervorgehoben wird. So ruft
der Schiffer, der den Zeusstier über das Meer wandeln sieht (1, 110 ff.):
TUÌÌQS, jtapejiA.aYXfrTlS HEtavaatiog • o{i jiéì.e NriQEiig
ßoimo/.og, oij npaiTeìig àQÓTT]g, où rXaùxog àXcoeijg,
ov% ifXog, ov XeinwvEg ev oiönaaiv . . .

und dann folgt nach ein paar Versen, was formal genau an Claudian
erinnert:

àìj.à cputòv jtóvtoio hD.ei ßpiia xaì ajtógog iiöcop,


vaimAog à7Qovóuog, jiXóog aiiXaxsg, óXxàg E/.ETXT|.

A n einer andern Stelle (13, 480 ff.) tritt ein Zeuspriester dem Typhon
mit einer Beschwörungsformel entgegen:

àQT]TT)Q àaiSr|Qog È(iÓQvato xévxogi ¡xiidwi,


HÌiftaa àxovTiaTT)Qi xaì ov T[ir|tr|oi oiòrjQtói,
Y^CUAARII ¿QT)TIJCÜV jt£i/IHR|viov vìòv ÀGOIIPRIG. |

Und das wird nun ausgeführt, einseitiger als bei Claudian, aber dies eine
mehr detailliert:

Évxog Excov móna tìoùgov, eitog §icpog, «aitiöa <paw|v

(hier ist der formelle Zusammenhang wieder ganz deutlich). Und dann
von Typhon, der durch das Zauberwort gefesselt wird (489 ff.):
ov8s TÓaov TQO|iéeay.Ev oiaTEUTfjoa x E p a w o ü
aìvoYÌvag itoXiijtrixvg, oaov pil^rivopa |xt>aTr|v
Y X a> a a TJ 1 ò u t E Ì o v t a X à A o v ß é X 0 g , elxs 5e xà|xvo)v
EÀxea <pcovr|EVTa j i E n a e ^ é v o g ò £ é 1 n, i>ftco 1.

Und später noch einmal (497) :

otitTiftEÌg àxctgaxTov àvai(i.axTo>i 0é|xag aìxM.rji.

So kann er sich gar nicht genug tun an dem Gegensatz und zugleich der
Verbindung von Wort und Waffe. Weiter ausgeführt, weniger zusammen-

30 D i e letzten Worte gehören formell noch halb, inhaltlich aber nicht mehr dazu und
bilden den Ubergang zum Folgenden Qékyei xai 10x15 àXYofivtag- EÌ òé tig V-.T.X.
260 Griechische Literatur [55156]

gepreßt in den Kontrasten und doch auch wieder ähnlich heißt es dann
in einer Hohnrede Typhons (2, 291 ff.):

&<jt£qojich5 Kooviörig x e x o q v & h e v o 5 • aXXa öaXaacnig


xii|xata XuaafjEVTa, Xöcpoi yßoxog, äyxea vt|oüjv
« p d a y a v a (j.oi yeyäaai x a i dajuÖEg e'ioi xoXojvch
v.ai oxoiceXoi M)QT|XEg aaye£<;,ey%ta. jietqcii,
y . a i jroxa|xoi aßsoTTjoEg a x i S v o x a t o i o XEQauvoü 3 1 .

U n d in der ganzen Empfindungsweise, aber auch in der Einzelform außer-


ordentlich nahe ist die Schilderung bei Nonnos (35, 2 1 ff.), wie eine ster-
bende Mänade von einem Inder betrachtet w i r d und ihr Anblick ihn
entflammt 3 2 . Auch da ist ihr Leib die W a f f e , der Schimmer ihres Gesichts
das Wurfgeschoß, ihre Brüste sind die Pfeile. U n d das w i r d nicht nur in
der Erzählung gegeben (outckjev | oin:r|i)£icra, ßeXog ös ol ejiXeto ¡xoQqrr]), son-
dern reicher ausgestaltet in seiner Rede:

xai <n> teöv ßXecpdgoiaiv öicrrciiEig 6XETf|oa •


6YX°S eviy.r|{>T| aeo y.dXXe'i • crelo ngoaumov
p.aQßaQvyai xkoveovoiv oaov ykcoxlveg dxovTcov •
atrj'ftog I/Eig ate to|ov, eitei aeo ixäXXov öiatwv
ixa^oi agiatEviouaiv, öioTEVTrjQeg eqcötcüv.

Und später klingt in Worten, die Aphrodite an Ares richtet, dasselbe


Motiv noch einmal durch ( 1 7 1 ) :

gyxog E(iov jieXe xaXXog, e|aöv |i<pog ejiXeto ¡xopcpr)


xai ßXEcpaQCOv d x t i v E g E|a.oi ysyäuaiv öiatoi,
|.ia^ög dxovti^ei jiXeov ey/.eog

und ( 1 7 8 ) :

ou toaov alx|xa^Eig oaov öcpgiJEg • ov tooov alxixai


avEQag owatovaiv oaov ßdXXouaiv öjtcojtai.

D e r Zusammenhang zwischen Claudian und Nonnos springt ebenso in


die Augen wie die Weiterbildung des Stils bei dem letzteren. Darum ist
Claudians griechisches Fragment so äußerst wichtig, weil es zeigt, daß

31
In V . 2 9 1 habe idi KpoviSrig für öX'iych; geschrieben; ich sehe nicht, wie man selbst
mit der Annahme einer Lücke der „wenigen Blitze" H e r r werden will. In V . 2 9 3
steht [ioi statt e[ioi als Gegensatz zu Kooviörig. M a n orthotoniere also, q j a a y a v ' E|j.oi
konnte Nonnos ja nicht sagen. (Falsch ist, wie ich bei dieser Gelegenheit aussprechen
möchte, meine von Ludwich genannte Vermutung zu 2, 1 7 4 . Ich verstand den Vers
damals nicht, gemeint ist der erste und letzte Planet, Kgovtqg also ganz richtig.)
32
Ludwich hat diese Partie teilweise beigeschrieben. - Der Dichter erinnert in V . 2 7 nach
seiner Weise an die Geschichte, die ihn angeregt hat: an Adiill und Penthesilea. Aber
mit der ledernen Darstellung des Quintus, die Ouwaroff, Nonnos von Panopolis der
Dichter (Petersburg 1 8 1 7 ) 83, als Vorlage nennt, hat die raffinirte Scene der D i o n y -
siaka nichts gemein.
[56¡57] Die Chronologie des N o n n o s v o n Panopolis 261

Nonnos nicht als vereinzelte Erscheinung zu gelten hat, sondern daß sein
Stil auf dem Höhepunkt einer Entwicklung steht, die Jahrzehnte zurück-
reicht. Für diese Erkenntnis, die zum Verständnis des Nonnos Entschei-
dendes beiträgt, gibt Claudian mehr aus als für unser chronologisches
Problem, dem er nicht wesentlich weiterhilft. -
Ein Einwand könnte sich gegen unsre Methode der Zeitbestimmung
erheben und muß darum vorweg zurückgewiesen werden. Hat wirklich,
so ließe sich fragen, die griechisch-epische Technik in allen Teilen des
ungeheuren Imperiums eine einheitliche und gleichmäßige Entwicklung?
Die Frage verliert an Bedenklichkeit, wenn man ihr schärfer ins Auge
sieht. In Wahrheit gibt es nur zwei Brennpunkte, Ägypten und die Reichs-
hauptstadt; alles andre, was noch in Betracht kommt, Syrien und Athen,
ist Ausstrahlung von dort. Ägypten und Konstantinopel aber sind in
beständigem Austausch; oder genauer genommen: der fruchtbare Boden,
auf dem sich der Fortschritt eigentlich vollzieht, ist Ägypten, und von
dort findet ein fortwährendes Abströmen in das Reich, besonders nach
Konstantinopel statt. Claudian ist Alexandriner (als er nach Rom geht,
fällt sein Wirken für die griechische Dichtung aus). Kyros ist Panopolit,
und bei ihm zeigt sich die Anziehung, die die Hauptjstadt des Ostens
auf emporstrebende Talente übt, ganz deutlich: er wird Hofpoet und
hoher Würdenträger in Byzanz. Von Ammonios wissen wir nur, daß er
ebendort sein Epos vorlas. Proklos stammt aus Lykien und geht über
Alexandrien und Byzanz nach Athen; seine dichterische Ausbildung hat
er, wie zu vermuten, wesentlich in Alexandrien empfangen. Und mit der
zweiten Dichtergruppe dürfte es ähnlich stehen. Christodor wenigstens
stammt zwar aus dem ägyptischen Koptos; aber unter den Stadt-
geschichten (náxQia), die er versifiziert, ist die von Konstantinopel; so-
dann verfaßt er auch ein Gedicht über den isaurischen Krieg des Ana-
stasios und eine Beschreibung der Statuen im Zeuxippos 33 ; also ist er in
der Hauptstadt gewesen und vermutlich auch mit dem Hof in Beziehung
gekommen. Unter Justinian scheint dann Ägypten mehr zurück- und
Konstantinopel mehr hervorzutreten. - Die Konsequenzen, die diese
Betrachtung für Nonnos hat, sind deutlich: wir dürfen in der Tat mit

33
Suidas s. v . XptOTÓSopog. Eine dritte Landschaft, für die er gedichtet, in der er sich
also aller Wahrscheinlichkeit nach länger aufgehalten hat, ist die Mäandergegend.
Denn er dichtete auch ITaxpia MiAr|TOU, i t á t ^ i a TpáXXecov, j i á r p i a 'Aeppoöiaiaöo;.
Angefangen w i r d er mit diesem Literaturzweig in seiner eigenen Gegend haben
( j i á t p i a NáxXT)5. £<jtí öe jcóXis Jtegi 'HXioúnoXiv). G a n z ähnlich kann man beobachten,
daß der jüngere Claudian, der Nonnianer, von dem A n t h . Pal. I 1 9 stammt, für
Kilikien und Syrien (Tarsos, A n a z a r b a , Berytos), andrerseits für die Nordwestecke
Kleinasiens (Nikaia) als Dichter von itáxgia tätig ist. Offenbar hat man damals
überall solche Dichtungen verlangt, und natürlich dichteten zunächst die Dichter für
ihre eigene Vaterstadt oder Gegend, so Hermeios von Hermupolis KÚxgia 'Eg|iovjtö-
Xeo>s, Horapollon von A l e x a n d r i a xeqí twv xaxgicov ' A X E l a v ö p e i a g (Photios Bibl.
cod. 2 7 9 ) .
262 Griechische Literatur [57158]

einer einheitlichen Entwicklung rechnen, zumal neben dem persönlichen


Austausch eine Verbreitung literarischer Neuigkeiten durch den Buch-
handel sicherlich lebhaft gewesen ist.
Wenn wir nunmehr das Ergebnis unserer Erörterungen zusammen-
fassen, so muß, da oft wiederholte Meinungen zäh zu haften pflegen, mit
allem Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß Nonnos durchaus un-
datiert ist. Eine Nachricht über seine Lebenszeit gibt es nicht, wie denn
seltsamerweise jede biographische Überlieferung von ihm fehlt. Daß
Agathias ihn den „Modernen" (oi veoi jioit)tcu) beizählt, bezeichnet natür-
lich nur den Gegensatz zu den Klassikern und läßt sich chronologisch nicht
verwenden. So sind wir der Hauptsache nach auf Kriterien der Verskunst
und des | Stils angewiesen. Im Stil zeigte sich Claudian als älterer Vor-
gänger, bei Ammonius und Proklos fanden wir dieselbe Lust an rauschen-
den Beiwörtern. Sicherer Einfluß des Nonnosstils hingegen wird erst
unter Anastasios, da aber gleich aufs stärkste fühlbar und hält sich
unter Justinian. Noch deutlicher spricht die Metrik. Claudian, Kyros,
Ammonios, Proklos, d. h. die Dichter bis rund 440, zeigen die
metrischen und prosodischen Gesetze, die wir nach Nonnos benennen,
noch nicht34. Für unsere Kenntnis der poetischen Literatur des 5. Jahr-
hunderts klafft dann eine Lücke von 50 Jahren, da wir die Hymnen des
Proklos nicht als Vertreter der in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts
modernen Technik gelten lassen. Dann haben wir Dichtungen erst wieder
aus der Zeit des Anastasios, und hier wirkt nun der Einfluß des Nonnos
in Versform und Metrik auf das allerdeutlichste. Verschieden stark frei-
lich; denn Christodor und der Verfasser des Gedichts Anth. Pal. I X 656
sind orthodoxe Nonnianer, während Koluth und der Verfasser von Anth.
Pal. I X 2 1 0 freier dastehen. Aber auch sie sind besonders in prosodischen
Dingen erheblich strenger als die genannten Dichter aus der ersten Hälfte
des 5. Jahrhunderts. Sollen wir mithin den Platz des von sich aus un-
datierten Nonnos bestimmen, so gebietet die Wahrscheinlichkeit, ihn
zwischen beide Gruppen zu setzen: nach Claudian, Kyros, Ammonios
und den jungen Proklos einerseits und vor die Dichter unter Anastasios
andrerseits. Ob näher an 440 oder an 490 heran, das zu entscheiden
wird es wohl an einem festen Anhaltspunkt vorläufig fehlen. Eine gewisse
Wahrscheinlichkeit möchte dafür sprechen, ihn seiner soviel wir wissen
ersten Schülergeneration möglichst nahe zu rücken. Aber das bleibt sub-
jektiv, und man tritt über die Schwelle wissenschaftlicher Hypothese in
das Reich der Phantasie, wenn man sich seine Vita nach dem Vorbild der
des Pamprepios rekonstruieren wollte: riavojtoXm^ eitwv jtoiT]Tr|;, dx^aaag
xatüt Zf|vcova töv ßaai/xa.
In dem halben Jahrhundert zwischen 440 und 490 also haben wir die
Tätigkeit des Nonnos anzusetzen auf Grund formaler Indizien, die uns
34 Die schlimmen Verse der kaiserlichen Dilettantin E u d o k i a bleiben natürlich außer
Betracht.
[58159] Die Chronologie des Nonnos von Panopolis 263

zeigen, daß der entscheidende Fortschritt des Verses und Stils in jenen
Zeitraum fällt. Dazu stimmt das vorhin gewonnene Resultat, wonach
Nonnos höchstwahrscheinlich ein 440 verfaßtes | Gedicht des Kyros zitiert.
Und nur eins ließe sich fragen, ob denn Nonnos wirklich die für jenen
Fortschritt maßgebende und schöpferische Persönlichkeit war 35 . Nun ist
ja so viel deutlich, daß von den uns erhaltenen Nonnianern unmöglich
einer als der schöpferische bezeichnet werden kann. Dafür sind sie - mit
Ausnahme des Paulus Silentiarius, der hier natürlich nicht in Frage
kommt, - viel zu schwächliche Figuren. Man müßte denn also irgendeinem
ganz Unbekannten die Ehre erweisen, die wir jetzt unter dem Eindruck
seiner großen und großartigen Schöpfung dem Nonnos zu geben fast für
selbstverständlich halten. Die Folge wäre, daß seine Lebenszeit noch
weiter herabgerückt werden müßte; ja dann würde an sich nidits hindern,
ihn unter Anastasios und selbst unter Justinian wirken zu lassen. Ob
dieser Schluß oder seine Voraussetzungen für andere irgend etwas Wahr-
scheinliches enthalten, weiß ich nicht. Mir würde solche Konstruktion
wider alle Natur zu gehn scheinen.

35
Z . B. läßt Wilhelm Meyer, Z u r Gesch. d. griechischen und lateinischen Hexameters,
„die Möglichkeit offen, daß ein andrer es w a r , der die neue Schule disciplinirt h a t " .
YI1O0HKAI

I
9I3

i. H e sio d

Hesiods " E p y a sind in allem Wesentlichen die als Einheit gemeinte


Dichtung eines Verfassers. Dieser S a t z muß in strengstem V e r s t ä n d e
genommen werden. D i e überscharfe A r t freilich, w i e Kirchhoff eine m o d i -
fizierte Kleinliedertheorie auf das überlieferte G a n z e a n g e w a n d t hat, w i r d
heute schwerlich noch G l ä u b i g e finden. W o h l aber lebt sein V e r f a h r e n
nach in der Anschauung, die einzelnen Teile des Dichtwerks seien selb-
ständig und zu verschiedenen Zeiten entstanden, und erst viel später habe
der V e r f a s s e r gleichsam seine „ K l e i n e n S c h r i f t e n " zu einem Buche
gesammelt 1 . N u n ist es ja gewiß möglich, daß ein und das andere Stück
jenseits des Zusammenhanges, in dem es jetzt steht, eine | Sonderexistenz
geführt haben könne. A b e r das Verständnis des G a n z e n h ä n g t an der
Voraussetzung: jedes W o r t , das nicht allgemeine E r f a h r u n g ausspricht,
sondern sich auf ein bestimmtes und einmaliges Geschehen bezieht, ist
„ a k t u e l l " , d. h. die tatsächlichen Verhältnisse gelten f ü r den Z e i t p u n k t ,
zu dem das G e s a m t w e r k „erschien" oder vorgetragen wurde. Dies liegt in

[Hermes X L V I I I , 1913, S. 558-616.]

1
Ed. Meyer in Genethliakon ( 1 9 1 1 ) 1 6 1 : „Die Grundlage des Werkes bilden wie bei
Hesiods Zeitgenossen, den israelitischen Propheten, einzelne Dichtungen, die aus der
momentanen Situation erwachsen sind. . . . Und diese Agitation hat gewirkt. Wie der
Fortgang des Gedichts zeigt, ist Hesiod später ein wohlhabender Mann im Besitz
von Haus und H o f . . . Perses ist verarmt.. . Das hat Hesiod den Anlaß gegeben,
seine früheren Gedichte mit den Gedanken, zu denen er in langem Grübeln über
Menschenleben und Menschenschicksal gelangt war, in einem großen Gedicht über
das Menschenleben zusammenzufassen." - Im Zusammenhang mit der Kirchhoffschen
Sammeltheorie hat Fick den Ursprung der " E p ^ a nach Lokris verlegt, und dieser
Irrtum steht noch in der Vita Hesiods, die O. Hoffmann, Gesch. d. griedi. Sprache
I, 79, skizziert. Hesiod kann die " E g y a wirklich nur in der Gegend von Thespiä und
Askra verfaßt haben, wenn sie auf den Bruder und die Richter Einfluß auszuüben
bestimmt waren. Er ist auch nicht in der Äolis geboren, da er ja nach seiner Ver-
sicherung niemals über das Meer gefahren ist. - Beloch, Grieth. Gesch. I i 2 312, trägt
über Hesiod Unbegreifliches vor. Aber auch für Aly, Rhein. Mus. L X V I I I (1913) 30,
sind die „Werke und Tage" wieder „echte Flickpoesie". Auf der anderen Seite steht
W. Fuß, Versuch einer Analyse von Hesiods E x i l , Diss. Gießen 1910. (Ich bemerke
übrigens, daß im Text nur von den " E ß v a , nicht auch von den 'HuEpai die Rede ist.
Darüber später noch ein Wort!)
[5591560] YIIO0HKAI 265

der Natur der Sache solange, als nicht das Gegenteil erwiesen ist. In
Wahrheit aber gibt es keine Gründe, jene Sammeltheorie zu stützen. Es
ist Kirchhoffs falsche Interpretation, die aus dem Rechtsstreit mit Perse?
zwei verschiedene Konflicte machen wollte 2 und abermals völlig anders
geartete Beziehungen der beiden Brüder für den sogenannten „Bauern-
kalender" erschloß3.
Das einheitliche Gebilde, das wir überblicken, ist nun freilich so eigen-
artiges und fremdes Gewächs, wie nicht eben viel anderes. Kaum vor-
stellbar scheinen uns die Bedingungen, unter denen es entstand. An den-
selben Bruder werden die Streitreden - zum Teil leidenschaftlichen
Charakters, wie uns scheint - und in einem Atem auch der ruhig beleh-
rende „Bauernkalender" gerichtet. Abwechselnd wird der Bruder und
werden die Richter apostrophiert: waren sie anwesend, und wo war Zeit
und Gelegenheit für den Vortrag solches Gedichts4? Empfand man über
der Zwiespältigkeit der Teile auch Zusammenhalt und Einheit, die der
Dichter doch gewiß seinem Werk zu geben gesucht hat? Und wie hat sich
dieses Konglomerat von mythologischer Erzählung, Streitrede, Fabel,
Spruchdichtung und Lehrvortrag im Geist des Mannes zu einer dichte-
rischen Ganzheit fügen können? Es ist gut, sich einzugestehen, wie wenig
wir in Wahrheit wissen und begreifen. Um so mehr wächst die Ver-
pflichtung, klar zu werden über das, was wir wissen können.
Am Anfang steht das Proömium, streng gebaut (2 + 2. 4. 2) und kurz
gehalten. Hesiod wählt die feierliche Hymnenform der Parallelismen und
schmückt sie zugleich mit einem Reichtum von Antithesen und Assonan-
zen, die uns spezifisch „modern" erscheinen, weil sie in der Geschichte der
griechischen Kunstprosa ihre Rolle zu spielen bestimmt waren. Beides
gehört zum hesiodischen Sakralstil, den wir vor allen Dingen aus dem

2
Mahnlieder $7 f. Kirdihoff wollte aus V . 278 herauslesen, daß Hesiod hier nicht
Partei, sondern Zeuge sei. D a s ist falsch. V g l . Lisco, Quaestiones Hesiodeae 5 5;
v . W i l a m o w i t z , Sappho und Simonides 1 7 0 .
3
Mahnlieder 66. Perses ist nicht bei Nachbarn betteln gegangen, sondern der Dichter
stellt ihm das für die Z u k u n f t in Aussicht (399 f.). U n d er hat sich demnach nicht
„mit der Bitte um H i l f e auch an den Dichter gewendet", sondern dieser ist der
einzige, den er bisher angegangen hat (396). M a n kann auch nicht sagen, daß die
W o r t e ¿ 5 x a i vüv i n ejj. r^-frEg einen Rechtsstreit der beiden ausschlössen. Ein
Zivilprozeß oder noch besser ein Streitverfahren v o r den Schiedsmännern macht
doch wohl Familienbeziehungen nicht allemal unmöglich.
* A l y hat im Rhein. Mus. L X V I I I 4 1 einen Gedanken geäußert, den ich auch im
Kolleg vorgetragen habe: der äußere Anlaß zum öffentlichen Angriff gegen den
Bruder und die Richter möge in irgendeiner volkstümlichen Institution gelegen
haben, die solche Rügegedichte forderte. Darüber bin ich jetzt nodi zweifelhafter als
früher. D e r Bauernkalender paßt so gar nicht zu einer solchen Gelegenheit. N u r um
irgendwie eine Denkmöglichkeit zu gewinnen, ließe sich fingieren, daß der Dichter
angekündigt hätte, er wolle seine Lehre über die Arbeit des Landmanns im Liede
vortragen, und daß er dann gleichsam wider E r w a r t e n den ganzen polemischen Teil
vorausschickte. A b e r besser ist es, das Nichtwissen einzugestehen.
266 Griechische Literatur [5601561]

H e k a t e h y m n u s der Theogonie kennen. D a ß aber dieser Zeushymnus


gerade f ü r das folgende Gedicht bestimmt ist und f ü r kein andres, lehrt
die A u s w a h l der K r ä f t e , die unter den vielen möglichen an Zeus gepriesen
w e r d e n : „ E r macht den Kleinen groß und den G r o ß e n k l e i n " , und lehrt
die Schlußbitte: „ G e r a d e s Recht laß herrschen im S t r e i t ! " D a s ist es ja
genau, w a s H e s i o d v o n Gottes H i l f e erhofft 5 . |
N a c h dem P r o ö m i u m folgt der M y t h u s v o n der zwiefachen Eris, und
hier sind w i r an dem R i n g , der die zum G a n z e n gefügten T e i l e des
Gedichts z u m G a n z e n auch wirklich zusammenhält. M a n weiß, daß der
Dichter-Denker an einem Stück seiner eigenen theologischen Lehre K r i t i k
übt. „ E s w a r nicht richtig, w e n n ich (in der Theogonie 2 2 5 ff.) v o n einer
Eris sprach, in W a h r h e i t gibt es ihrer zwei. D a s eine ist die schlimme (die
ich früher allein gekannt habe). Sie hat aber eine gute Schwester, die ist
in der E r d e verborgen (wie ein Schatz, nach dem man wühlen und hacken
soll) 6 und treibt die Menschen zur Arbeit. D e n n w e n n ein Fauler auf
seinen reichen N a c h b a r sieht, gleich strengt er sich an 7 , zu ackern und zu

5
Leo, Hesiodea 1$. Die Beziehung des UKivei crxoXiöv (V. 7) auf die oxoXiai und
IfrEiai öhtai des Gedichts drängt sidi immer wieder auf in dem Sinne, wie Leo es
ausspricht. Und doch erhebt sich die Betrachtung der Antithese und der parallelen
Wendungen in V. 5 und 6 dagegen. - Auf Zieglers Ausführungen einzugehen, ist
mir durch Norden, Agnostos Theos 259 A. 3, erspart; Aly a . a . O . 30 A. 1 spricht
zu unentschieden. Auf die Analogie des Hekatehymnus ist vielleicht noch nicht
nachdrücklich verwiesen worden. Er wird ja freilich entweder als unhesiodisch aus
der Theogonie entfernt (Arth. Meyer, De compos. Theog. 25) oder neuerdings gar
als hesiodisch aus unhesiodischer Umgebung gelöst (Aly a. a. O. 34), während sich
zeigen läßt, daß er von dem Dichter der Theogonie, d. h. von Hesiod, für diese
Stelle gearbeitet ist. Hingewiesen sei nur auf die Versschlüsse KaQayiyvexai f|5'
6vivr]CTiv 429 und 4 3 6 , j i a Q a y i y v e x a i o l ; y.' EdE^riioi 432,öv(und oi;) •/.' EdEXr|ioi 430
und 439, xööo; öjta^si 433 und 438, efleXouad ye <h>[icüi und duuän y' ¿deXouaa 443
und 446. Dann auf die Versanfänge ectM.t| in 435, 439, 444, yeia und ¿T]iöi(og in
438, 442, 443. Aber das ist bloß von der Oberflädie abgeschöpft. Von hier aus ist
auch Empedokles zu verstehen, für dessen Stil Hesiod (und etwa andre Kultpoesie)
von entscheidenderer Bedeutung gewesen ist als Heraklit, auf den Norden, Kunst-
prosa 18, verweist. Gorgias hat die axtinata XeIeco; nur systematisiert, nicht erfun-
den. Die Poesie besaß sie längst. - Hesiod verfügt über sehr verschiedene Stile, je
nach dem Gegenstand, der ihn beschäftigt.
6
Ich halte V. 19 nicht (wie u. a. Leo, Hesiodea 16) für korrupt, sondern für archaisch
formlos, y.ai «vöodai jtoXXdv &|xeW(o gehört nicht zu dfjy.e yairjq iv pi^riun, sondern
zu jtQOTEpryv EYEivato und allenfalls zu dfjxe oder zu einem allgemeinen „machte",
das man aus eyeWoito und ftfjxE im Sinne behält. Es ist nicht unmöglich, daß äueivco
gleich mit JtQoxEQryv conzipiert wurde, wenn man an die Verbindung ä[xa jiqöteqo;
xat aQsicov B 707, \P 588 u. ö. denkt.
7
Auch dies ist intakt überliefert, freilich in den Ausgaben unverständlich.
ist egere und carere, hier lehrt die Betrachtung des parallelen Satzes und Gedankens
312/3, daß carere gemeint ist, und Epyoio xati^cov ist soviel wie dort aEQyot;. Mit 05
(oder wenn man durchaus will 8) beginnt der Nachsatz. Richtig druckt Lehrs, Quaest.
ep. 222. Vor allem, aber steht die richtige Interpretation im Moschopulosscholion:
EQYOU x<Jt!£o>v f|70Dv evÖET)g (ov eqyou, Xeiäo^ievo;, TOUTsemv oiö£v Ep7at,6u2vo;.
[561j562] YÜO0HKAI 267

pflügen und sein Hauswesen gut zu bestellen: dann gibt es den rechten
Wettstreit um den Wohlstand 8 ." |
Wir sind nicht in einer Zeit, die Allegorien leichthin ausschüttet. Diese
neue Eris, die der nachdenkende Dichter als erster in seinem V o l k ersdiaut
hat, diese frische Konception, deren Wirken vielleicht noch in den
Systemen des Heraklit, Parmenides und Empedokles erkennbar ist, kann
nichts Geringes f ü r das Gesamtwerk bedeuten. „Merke dir dies (was ich
zuletzt von der guten Eris gelehrt habe) und laß dich nicht durch die
schlimme Schwester zu Z a n k , Streit und Prozeß verführen und von der
A r b e i t abziehn!" Z w i s t und Arbeit, das sind die Gegensätze, und wie
die Arbeit vorher der guten Schwester zugesellt worden w a r , so ist der
Zwist, den der Dichter verpönt, ein Werk der schlechten. Blickt man
weiter über den Zusammenhang des Ganzen hin, so setzen jetzt die
Abschnitte ein, in denen das Dasein der Mühsal (des jtövog) auf Erden
erklärt wird, einmal durch die besonders gewendete Sage von Pandora,
zweitens durch die neu überdachte und geformte Sage von den fünf
Weltaltern 9 . U n d dann folgen abwechselnd, an die „ K ö n i g e " und an
Perses gerichtet, des Dichters Mahnungen. Man weiß, welches ihr Thema
ist. Sie handeln nur von dem Reich, in dem die böse Eris herrscht. Die
gute ist hier nicht einmal so weit beteiligt, daß sie Komplement wäre;
das ist vielmehr Dike. Was also soll diese ganze Erfindung, die der Dichter
so nachdrücklich an den A n f a n g stellt? Wir warten durch alle jene Partien
hindurch, in denen von Zwist und Recht die Rede ist, daß sich das Reich
der guten Eris auftue mit der „ A r b e i t " , die, wie w i r wissen, zu ihr
gehört. U n d schließlich tut es sich a u f , als der Dichter seine Gedanken
nach einer anderen Richtung wendet als bisher und mit neuem Nachdruck
einsetzt (298/9): „Folge mir, arbeite!" Wohin diese Worte zielen, ist klar;
sie werden aufgenommen durch die Mahnung: „ S o sollst du tun und

8
Die Verse 2 5 / 6 muß man nicht nur nicht absondern, geschweige denn athetieren, son-
dern, wie mir der Parallelismus mit yeiTova YEtTüJv-TexTOvi textcdv usw. an die
H a n d zu geben scheint, aufs engste mit dem Vorhergehenden verbinden. Ith glaube,
daß man ¿ v a ö i ) 8 ' " E p i g r^äe ßgorotoiv nicht als Abschluß betrachten muß, sondern
als Parenthese. A l s o
^rjXoi 6e t e yeiTOva ysittov
eis ö<pevo; cjcevöovt' - ayadr] 6' "Eqi? iiöe ßpotoiaiv -
x a l 5t8Qa[xeii; x e g a n e i xoteei x a i textovi textcov
x a l jtTtoxö? itxcoxwi qpftovEei x a i doiöög üoiöüi.

D a ß das Grollen und Neiden zur guten Eris gestellt wird, zeigt nur, wie sehr wir
uns hüten müssen, unsere Moral (ganz wie unsere Poetik oder selbst Logik) in alte
Zeit hineinzutragen. D a s Richtige über diese Verse lehrt im wesentlichen Nietzsche,
Homers W e t t k a m p f , W e r k e I 2 5 7 (Taschenausgabe).
9
Meine Ansicht über diese M y t h e n habe ich (nach der früheren Behandlung: Philolog.
Untersuchungen X I X 39 ff.) in einem Vortragsreferat skizziert; s. das Dezemberheft
der Zeitschr. f. d. Gymnasialwesen L X V I ( 1 9 1 2 ) . Idi hoffe, das noch einmal aus-
führlicher darzulegen.
268 Griediisdie Literatur [562/564J

Werk auf | Werk wirken" (382). Damit aber wird der große Abschnitt
angekündet, den man den „Bauernkalender" zu nennen pflegt. Der ist
an Perses gerichtet, ihm „gewidmet", er lehrt, wie Perses arbeiten soll,
er bringt recht eigentlich die Erfüllung dessen, was wir erwarteten. So
ist es denn klar, daß jenes Stück am Anfang (ri ff.), in dem der Dichter
seine neu gefundene Eris neben die alte stellt, die beiden Teile der Dich-
tung, die „Mahnreden" und den „Bauernkalender" zu einem Ganzen
zusammenfaßt10.
Von diesem allgemeinen Überblick richtet sich das Auge auf einen
kleinen Abschnitt, der uns beschäftigen wird: es ist die Reihe von Gnomen,
die unmittelbar vor dem „Bauernkalender" steht (303-382). Selbst Leo
athetiert diese Partie 11 . Da ich sie für hesiodisch halte, muß ich meine
Ansicht begründen. Zunächst sei rückschauend an das erinnert, was vor-
hergeht. Auf die Mythen von Pandora und den Weltaltern folgt, für
die „Könige" bestimmt, jene anzügliche Fabel vom Habicht und der
Nachtigall (202-212), und daran schließen sich zwei parallele Abschnitte
(213-47, 2 48-67), die nun in einer mehr begrifflichen Erörterung zuerst
dem Perses, dann den Königen das Wesen und die Folgen von Recht und
Unrecht einprägen sollen. Dann ein neuer Einsatz, ein leidenschaftlicher
Ausbruch des Dichters (270): „Nun will ich selbst nicht mehr gerecht
sein unter den Menschen und nicht mein Sohn, da es vom Übel ist, ein
gerechter Mann zu sein, wenn ja der Ungerechte größeres Recht haben
soll." Und als hätte diese Entladung ihn befreit, fährt er ruhiger fort
(273): „Aber noch, hoffe ich, wird Zeus es nicht dahin kommen lassen",
und bahnt sich so den Weg zu allem Folgenden12. Der Bruder wird noch
einmal zu Recht und Gerechtigkeit gemahnt (274-8 5); man kann vielleicht
nicht sicher sagen, warum, da der Abschnitt 217-47 ganz ähnlichen
Zuspruch an dieselbe Adresse richtete13. Aber dann geht der Dichter mit
starken | Schritten auf sein Ziel los (286-92): „Ich meine es gut mit dir
und will dir etwas Gutes sagen: das Schlechte (xaxotr|Ta) kann man haufen-
weise kriegen, das aber, was Macht und Glanz gibt und dem Manne die
Arbeit lohnt (dgetriv), das muß man im Schweiße des Angesichts er-

10
W a s hier steht, ist nichts Neues. Ich formuliere nur etwas anders, was Lisco, Quaest.
Hesiodeae j o gut dargelegt hat. Bloße Berufung auf den Vorgänger ohne eigene
Darlegung hätte bei dieser schwierigen und umstrittenen Materie schwerlidi genügt. -
P . W a l t z , Hesiode et son poeme moral (Bordeaux 1906) 4 4 , der die Einheit be-
hauptet, geht nicht hinreichend auf das Einzelne ein.
11
Leo p. 1 7 ; ihm folgt Lisco p. 57.
12
W e r den Vers 2 7 3 streicht, hat den Zusammenhang des Ganzen nicht klar erfaßt.
Richtig E d . Meyer im Genethliakon.
13
M a n könnte etwa daran denken, der Dichter habe von den Mahnungen an die
„ K ö n i g e " „Seid gerecht!" zu den Mahnungen an den Bruder „Sei arbeitsam!" den
Sprung allzuweit gefunden und habe darum noch einmal auch den Bruder zur
Gerechtigkeit ermahnt. A b e r das überzeugt nicht unbedingt.
[564¡565] YÜO0HKAI 269

werben 14 ." (293-7): „ A m besten, man rät sich selbst, am zweitbesten,


man läßt sich von einem andern raten. Wer aber keins von beiden tut,
das ist ein ganz untauglicher Mann. Du höre auf meine Weisung: arbeite!"
Die Verse 293-7 bilden einen trefflich aufgebauten Spruchkomplex.
Formell sind sie weder nach vorwärts noch nach rückwärts verklammert.
Aber man braucht sie nur aus ihrer sprichwörtlich-allgemeinen Fassung
zu lösen und für den vorliegenden Fall lebendig zu machen, damit man
den Dichter sagen höre: „Zwei Wege also gibt es, einen mußt du wählen.
D a du dir selbst nicht zu raten verstehst, so laß dir meine Mahnung zu
Herzen gehn!" Dann folgt die eigentliche Mahnung in 298-302, die
Vorbereitung für den „Bauernkalender".
Aber eben jetzt, bevor noch der „Bauernkalender" beginnt, wird |
jene lange Reihe von Gnomen eingefügt. Sind sie wirklich unecht, wird
man sich, durch manche Erfahrung belehrt, zu fragen haben, oder beruht
vielleicht auch hier die Athetese auf einer Fremdartigkeit archaischer
Formgebung, die wir verstehen, nicht verlöschen müssen? Und eine Beob-
achtung muß alsbald stutzig machen. Von dem Ende des Abschnitts 298-302
ist der Übergang zum Lehrvortrag ganz hart und unvermittelt. „Arbeite,
damit dich der Hunger fliehe und Erntesegen deine Scheuern fülle; denn
der Hunger begleitet den Trägen. - Wenn die Plejaden aufgehen, so fange
mit dem Mähen an . . . " Niemand konnte fühlen, daß der allgemeinen
Mahnung zur Arbeit besondere Vorschriften über deren Art und Weise
angefügt werden sollten, und man empfindet an dieser Stelle den
„Kalender" als ganz unpassend. Vortrefflich hingegen passen vor ihn die
Verse, die ihm wirklich nach der Überlieferung vorausgehen: „Wenn du
Reichtum ersehnst, dann mußt du also tun und Werk auf Werk wirken."
Das Wörtchen d>8e enthält geradezu den Hinweis, den wir in dem A b -
schnitt 298-302 vermißten. Mithin gehören die Verse 381/2 dem Dichter,

14 Leos Darlegung, nach der die gesamte Komposition des Gedichts an der Variante yag
in 287 hängen soll, so daß mit der Aufnahme von TOI das Ganze in seine Teile aus-
einanderfiele, hat midi früher überzeugt und mich jahrelang festgehalten. Ich kann
sie jetzt nidit mehr vertreten und halte es für gefährlich, den Zusammenhalt des
Gesamtwerks an ein so schwaches Wörtchen zu hängen. Ich vermag nicht einzusehen,
warum 286 nicht auf die unmittelbar folgenden Verse hinweisen soll, warum es
durchaus erst auf 299 hinweisen muß. - Über das, was ÄOETR| im Gegensatz z u
xaxöxr); hier ist, vgl. v. Wilamowitz, Skolion des Simonides (Nachr. d. Gött. Ges.
1898) 214 = Sappho und Simonides 169. Man kann darüber streiten, ob „Gedeihen"
gerade in der Nuance glücklich gewählt ist; wir haben natürlich im Deutschen nichts
genau Entsprechendes. Über die Bedeutungsgeschichte des Wortes hat Joh. Ludwig,
Quae fuerit vocis «OETT) vis ac natura (Diss. Leipzig 1906) 21, manches Richtige
gesagt. Wie er es aber bei Hesiod moralisch auffassen will, ist mir unverständlich.
Er hätte wenigstens seine Ansicht durch eine Darstellung des hesiodischen Gedanken-
gangs begründen müssen. Der Hinweis darauf, wie Piaton und Xenophon (und das
Altertum überhaupt) diese Stelle a u f g e f a ß t haben, hat kein Gewicht, da sie ja den
Dichter nicht nachlasen, sondern das Zitat im K o p f hatten. Auch ist klar, daß man
damals in unserm Sinne interpretieren weder konnte nodi wollte.
270 Griechische Literatur [5651566]

sind nicht Kitt eines Redaktors, der die Gnomenreihe mit dem „Bauern-
kalender" hätte verbinden wollen. Läßt sich aber 381 unmittelbar an 302
fügen? Die Möglichkeit wird man nicht bestreiten dürfen und wäre so
überliefert, dann würde vielleicht kein Anstoß genommen werden. Aber
es beruht doch wohl auf mehr als bloß subjektivem Empfinden, wenn man
behauptet, 381/2 schließe sich dem unmittelbar Vorhergehenden besser
an als dem Komplex 298—302. „2ol b' et nXomov 0u|iòg èekòexai... So aber
du Reichtum wünschest . . . " wird am geeignetsten da stehen, wo vorher
von andern die Rede war, die Reichtum haben oder haben wollen. Nun
wird in der Tat von der Weise, wie ein Haus sich Wohlstand verschafft
und erhält, in den vorhergehenden Versen 376-380 gesprochen. Ein
Gegensatz zu aol öe ist demnach in den unbestimmten Personen deutlich
gegeben15. In 298-301 hingegen handelt es sich um das Wirken des Perses,
so daß man ein gegensätzliches aoì 5é ungern anschließen möchte16. V . 302
spricht von dem Hunger, | der dem Faulen folgt, wo denn zwar eine
andere Person als Gegensatz zu dem folgenden aoì 5é gefunden werden
könnte, aber nun wieder keine Person, die itXoij-tou eeXöexcii. Mithin wird
der Anschluß von 381 an 302 auf alle Fälle härter als an 380, d. h. die
Athetese der Gnomenreihe findet an der Prüfung der Bindeglieder durch-
aus keine Stütze.
Weist also weder am Anfang noch am Ende etwas auf die Unechtheit
dieser Partie, so müssen nunmehr für diese selbst folgende Fragen gestellt
werden: 1. Wie verhält sich der Inhalt zu anderen Teilen des hesiodischen
Werkes? 2. Ist die Form des Abschnitts denkbar und sinnvoll?
Die erste Frage, ob sich die Gnomen der Gedanken- und Empfindungs-
welt des Dichters einpassen, darf man ganz zuversichtlich bejahen. Da
steht zu Beginn der Vergleich träger Menschen mit den Drohnen: dasselbe
Bild, das ja der Erfahrung des Landwirts entstammt, kehrt in ganz ähn-
licher Verwendung und mit wörtlichen Anklängen in der Theogonie
(594 ff.) wieder. Der Satz et 8é vx. egyatrii, xä/a ae ^riXcoaei aegyo5 | jtXouxEfivxa
(312) hat seine genaue Entsprechung am Anfang (21 ff.): eie; eteqov 7Ó.Q
tig te Ì6ùv eqyoio xati^cov | jtXotiaiov, og ojìeiiSei |ièv agófisvai t|8è cputEiJEiv |
oixóv x' ev fréatìai, wo ja jiXouxeivxa dem JiXoixnov, aEpyog dem eqyoio /axi^cov

15
Das unmittelbar vorhergehende Subjekt sind ja die jiXeove?. Aber auch die in tìàvoiq
378 angeredete zweite Person ist nicht Perses, sondern die Form ist allgemein,
dóvoi?, nicht dóvoi ist das Richtige, „eteqov, nämlidi Jialöa." So richtig Kaibel
i. d. Z. X V (1880) 463.
16
Ich weiß wohl, daß man den Ausweg wählen könnte, auf einen persönlichen Ge-
gensatz für aoì ÒÉ zu verzichten und das aot für unbetont zu halten. Dafür könnte
man sich auf Fälle wie Erga 402 xe^M-01 (lèv oü jipt|5Eig, oii ò' ètcóffia jióXX' àyo-
geiaeis und A 190 berufen, wo mit 8 8' 'AtqeÌStiv èvaoii^oi nicht eine neue Person
in Gegensatz zu einer früheren gebracht wird, sondern 'AtqeìSitv 8' Èvaoi^oi ge-
meint ist. Aber das wäre eben nur ein Ausweg, der vor allen Dingen die Unechtheit
von 303-380 als bewiesen voraussetzte. - Kirchhoff, Mahnlieder 62, meint, 381/2
habe ursprünglidi an 326 angeschlossen. Das ist ganz willkürlich.
[566j567] YÜO0HKAI 271

in Versstelle, Begriff und Ausdruck scharf entspricht 17 . V o r allem aber


ist hier ein in die Gnomenreihe eingelegtes Stück zusammenhängender
Gedankenentwicklung wichtig, das an den Satz xe^lM-ata ô' otr/ àçutouaà,
deôaôoTa noKkov ä|xeivcü anknüpft (320). Schon dieser Spruch, dem nachher
noch in den Einzelsentenzen manches Verwandte über „schlimmen
E r w e r b " , über „Geben und Nehmen" (352. 356) folgt, bekommt erst
seine rechte Fülle, wenn man ihn auf das Verhältnis des Bruders zum
Bruder anwendet und in der allgemeinen Mahnung den besonderen Sinn
erkennt 1 8 . Sodann aber ist die Durchführung ganz der Weise entsprechend,
wie Hesiod früher dem Bruder und den „ K ö n i g e n " in eindrucksvollen
Bildern Unsegen und S t r a f e der Götter als Folge unrechten Tuns gezeigt
hatte ( 2 1 4 f f . 260 f f . 280 fi.). Auch im einzelnen sind die Berührungen
mannigfach; hier sei nur auf den sachlichen und stilistischen Bezug des
Verses gela ôé |xiv ixaugoCcTi •fteoi, |j.ivt)douai ôè oîv.ov (325) zu dem Proömium
des Ganzen hingewiesen 19 .
Wie der Inhalt, so hat auch die Form dieses gnomischen Abschnitts
in den anerkannten Teilen des Gedichts ihre Analogien. Z u r Sentenz
streben j a die „Mahnreden" und der „Bauernkalender" immerfort. Frei-
lich fügen sich die einzelnen Sprüche dort nicht in lange Reihen zusammen.
Aber auch bei ihnen kehrt jene sprunghafte Gedankenfügung wieder,
die f ü r diese Stücke so charakteristisch ist, weil sie sich aus dem Wesen
der Form ergibt. So folgen die berühmten Verse 4 0 / 1 : „Toren sind die,
die nicht wissen 20 , um wieviel mehr die H ä l f t e ist als das Ganze, und wie
gut einem sein Gemüse aus wilden Kräutern schmecken k a n n " scheinbar
unvermittelt auf das, was vorhergeht: „ W i r haben unser Erbe geteilt,
und dabei hast du durch Bestechung der Schiedsrichter die Sache zu
deinen Gunsten gewendet." Aber die beiden Gedanken gehen leicht
zusammen, sowie man die Gnome ihrer allgemeinen Form | entkleidet

S. oben S. 266 Anm. 7.


18 Ebenso spürt man in 3 1 5 an' àXXoxouuv xteavcov àea'wpQova fru^ôv . . . xpéi|)aç die
ganz persönliche Beziehung; vgl. 34 (xtrinao' ix' àXXoxQkuç).
19
307 &Ç YÂ TOI (bpaioi) ßioxou JIXT|ÖÜJCTI xa/AAI ~ 31 ANTM |xr| ßiog evôov èmiexavo;
xaràxEixou wgaïoç. 3 1 7 a l ô ù ç ovk âyaûr] XEX£>T)UÉVOV ävöga XO|.ÛÇEI (es ist die
schlechte aiôcbç, die dem Bedürftigen folgt, wie es denn eine doppelte alôtbç gibt -
die Umstellung von 3 1 8 und 3 1 9 ist falsch) ~ 500 ÊXJÙÇ ô' oùx ayaOr) XE-/OT||J.ÉVOV
a v ô ç a xo|xtÇei. 3 1 5 ait' àXXoxpicov xxeâviov àeatqjoova di)|xàv eiç Epyov Tgétpaç
~ 4 7 7 / 8 oûÔè jipôç ocXXouç avyâaear aio ô' ciXXoç àvr\Q y.E%Qr\\xÉvoç ECTTCU 394
Hr| jtcoç . . . jtTioaariiç àXXoxçioiiç oïxouç). 3 1 4 ff. xè ÊEVÂ^EODAI «[IEIVOV, EÎ XEV . . .
J I E X E X S I ? ßiou, â ç ÔÈ xe\ev(o.
20 Da es immer wieder verkannt wird (auch Waltz in seiner Ausgabe, Paris 1909,
übersetzt: Les insensés! ils ne savent pas . . . ) , so muß immer wieder gesagt werden,
daß VT|JUOI natürlich nicht auf die Richter gehen kann, sondern dem Sinn nach sich
auf Perses beziehen, also in allgemeiner Form ausgesprochen sein muß. VT|raoi oûôà
ï a a a i koordiniert in archaischer Weise, was später heißen würde: vfyuoi oî (if) ï a a a i .
So steht 456 vrjjtioç oùôè xô oiôe, ebenso E 406. Vgl. noch $ 4 1 0 vriJtvru' oùôé vis
NÜ> JIEQ ÈNECPQÂOŒ, A p h r o d i t e h y m n . 2 2 3 VR)3IIR) o ù ô ' ÊVÔT]CTE . . . iißrjv aix-fjoai.
272 Griechische L i t e r a t u r [568f569]

und auf den lebendigen Fall bezieht. Ebenso dürfte es sich z. B. mit 265/6
verhalten, und für den Spruchcomplex 2 9 3 - 7 wurde schon vorhin sowohl
seine formale Isolierung wie sein innerer Zusammenhang mit der
Umgebung betont. Wie sehr schließlich diese Spruchdichtung in ihrem
sprachlichen Stil, den scharfen Antithesen, Parallelismen und „rheto-
rischen" Gleichklängen, mit dem Proömium und anderen sicher hesio-
dischen Teilen übereinstimmt, soll nur mit einem Wort erwähnt werden 21 .
Diese Gnomen, die sowohl nach Stoff als auch nach Form zu Hesiod
durchaus passen, sind nun so aneinandergefügt, daß eine niemals eigent-
lich unterbrochene Reihe von der Mahnung „Arbeite!" (299) zu der
Mahnung „Arbeite so!" (382) hinüberführt auf einem Wege, der zwar
durchaus nicht geradlinig ist, aber doch, in allerlei Windungen wohl ange-
legt, zuletzt ganz scharf und sicher sein Ziel trifft. Ich versuche mit Hilfe
einiger Schlagworte den Zusammenhang aufzuweisen oder in Erinnerung
zu rufen.
Arbeit bringt Wohlstand und Ehre, Trägheit das Gegenteil. ( - 3 1 3 )
Arbeiten ist auch förderlicher, als nach fremdem Eigentum trachten.
(-31«)
Der Wohlstand (den man durch die Arbeit gewinnt) gibt Selbst-
vertrauen. ( - 3 1 8 )
Aber das Streben nach Erwerb darf nicht des Rechtes vergessen, nicht
zu Gewalt und Hinterlist führen, sonst kommt die Strafe der
Götter. ( - 3 3 4 )
Also handle du anders! (335)
Vor allem ehre die Götter durch Opfer! ( - 3 4 1 )
Zum (Opfer-)Mahl 22 rufe die Freunde, insbesondere die Nachbarn!
(-34$) I
Segen eines guten Nachbarn. ( - 3 4 8 )
Sei ehrlich gegen den Nachbar beim Zurückgeben des Geborgten;
hüte dich überhaupt vor unehrlichem Gewinn; liebe den, der dich
liebt, gib dem, der dir gibt! ( - 3 5 5 )

21 N u r ein p a a r Beispiele f ü r die a x i i u a t a Xelecog. 3 7 2 m a x i e s &Q xoi ö [ u ö ; xai


ajuatiai ioXeoav ävößa;. 355 &C)TT)I |XEV xig E8COXEV, dSwxrii 8 ' o i m ? ESÜJXEV.
3 6 6 Ecr&Xdv [A£v j i a p E o v x o s EXsaftai, jtfina 8E fru^an | x6' r )^ E l 'v djiEovxog.
D a m i t vergleiche man aus anderen P a r t i e n : 5 qeo. (J.EV yäQ ßPIAEI, p £ a SE ß p i ä o v x a
Xa^EjtxEi. 4 0 2 "/.gf||ia n&v oti jtQrileiq, ai> 6 ' ¿ x w c i a noXX' ¿YopeijOEig. 4 7 1 / 2 Evfb)-
fiocuvT) yag äptaxT] | ftvrixoi; dvOodutoi;, xaxoOriuoaivri 8e x a x i a x t ) . 3 1 7 - 9 sind
drei Verse, die mit anaphorischem alöcb; beginnen; d a entsprechen 5 - 7 mit drei-
maligem £E<X (QEIO) u n d $ 7 8 - 8 0 mit dreimaligem F|Ä>G a n derselben Versstelle. ( V g l .
noch N o r d e n , A g n o s t o s T h e o s 2 5 9 A . 3 ) .
22
D i e s ist ersichtlich der Z u s a m m e n h a n g , w i e das denn z. B . die K o m m e n t a r e von
Sittl u n d W a l t z richtig gesagt haben. M a n m u ß sidi nur g e g e n w ä r t i g halten, daß
jedes M a h l ein O p f e r voraussetzt, und d a ß es kein Opfer gibt ohne Mahlzeit
(natürlich mit gewissen A u s n a h m e n ) .
[569j570] YÜO0HKAI 273

Geben ist gut, rauben ist schlimm. Eine freiwillige Gabe, auch wenn
sie groß ist, freut den Geber. Nimmt man aber jemandem etwas,
so macht es ihm Verdruß, wenn es auch wenig ist 23 . (-360)
Denn wenig zu wenig gelegt gibt zuletzt viel und Sparen bringt
Wohlstand. ( - 3 6 7 )
Doch muß man vernünftig zu sparen verstehen. (369)
Man muß auch nicht (durch falsche Sparsamkeit verleitet) den ver-
abredeten Lohn einbehalten 24 . (370)
(Bei einer Verabredung) sei vorsichtig auch gegen den Bruder und
übe M a ß in Vertrauen und Mißtrauen! (372)
Vertraue deinem Weibe nicht und laß sie nicht deine Vorratskammer
durchstöbern 25 ! (—375) (Von Y^vri-xaXiri zu itaig-olxog:)
Einen Sohn soll man haben, das fördert den Reichtum; doch können
auch mehrere Söhne für den Wohlstand nützlich sein. (-380) |
Wenn du also Wohlstand haben willst, so richte dich nach den folgen-
den Regeln - und damit beginnt der „Bauernkalender".

Kann demnach kein Zweifel bestehen bleiben, daß hier ein vom
Dichter gewollter Zusammenhang vorliegt, so müssen wir das Ergebnis
unserer Erörterungen folgendermaßen formulieren: Der Dichter hat
mittels einer eigentümlichen Form, die er entweder übernahm oder selber
schuf, zwei in sich zusammenhängende, voneinander aber gesonderte
Partien seines Werkes durch eine lange Reihe von Sprüchen verbunden.
Wie bei einer Kette ist der gleichsam starre und einheitliche Zusammenhalt
fortlaufender Erörterung in eine Vielzahl von Einzelgliedern aufgelöst, so
daß locker und doch zugleich unlösbar ein Glied an dem andern hängt.
Die Gedankenverbindung von Spruch zu Spruch ist assoziativ, fast
nirgends schwer zu finden, hier loser, dort fester. D i e formale Verknüp-
fung kann fehlen, kann aber audi durch eine Partikel herbeigeführt

23
D i e schwierigen Verse 3 5 7 - 3 6 0 (ganz falsch z. B . Steitz, W e r k e und T a g e 1 0 8 f., und
die Interpunktion und Schreibung bei R z a d i ) sind nur dann zu verstehen, w e n n
man die innere Inkonzinnität und den äußeren Parallelismus der F o r m (d. h. die
archaische Gestaltung des Gedankens) erkennt. " O 5 äv £§EXCOV ÖÄ>, XALPEI TÖII
b w g w i . I m folgenden aber muß man w i e so häufig statt des 0 5 6E xev einsetzen
eciv 5 e Tic;. D e n n das H e r z gehört natürlich nicht dem N e h m e r , sondern dem andern,
dem genommen w i r d . A l s o zu A n f a n g 0 5 |IEV yag XEV &vr\g edeXcov . . . 8cor|i. Bleibt
noch 0 7 E x a l |x£ya. D e r Gegensatz ist in 3 6 0 r.ai TE OJIIHQÖV EOV, der Sinn also
ganz deutlich: w e n n er auch etwas G r o ß e s gibt. S o w i r d man x a l |XEYU unmittelbar
zu ö(i>r|i ziehen. D a n n ist 8ye überschüssig. A b e r ein solches S a t z und V e r s a u f -
füllendes 8VE ist im E p o s gar nicht selten, z . B . T 4 0 9 , Z 1 6 8 . S o hier EMXCDV OYE
et volens quidem.
24
W a r u m in 3 7 0 durch dvÖjjl tpiXcoi der Geltungsbereich eingeschränkt w i r d , weiß
ich nicht. D e r Ü b e r g a n g nach 3 7 1 f ü h r t w o h l v o n EipriHEVog zu EJU (idp-njpa O s a d a i .
25
U m die E h e f r a u handelt es sich, nicht um eine buhlerische D i r n e , w i e Steitz a. a. O .
in erklärt. N u r so ist der Z u s a m m e n h a n g mit dem Folgenden gewahrt. Daher
denn auch ytivcuxi, nicht "yuvai£i, in 3 7 5 .
274 Griechische Literatur [570j571]

werden. Der Gedanke ist oft in einer einzigen Zeile knapp zusammen-
geschlossen, hier und da verlangt er einen zweiten Vers, um sich auszu-
breiten. Auch eine genauere Durchführung, zumal eine Angabe des
Grundes oder ein Hinweis auf die Folgen, tritt bisweilen hinzu, und einige
Male erweitern sich die Einzelsentenzen wieder zu etwas längerer Dar-
legung, so daß dann größere Stücke zusammenhängenden Nachdenkens
in die Spruchreihe eingesprengt erscheinen (320—335, 356-360).
In dem Ganzen, das den Titel "Egya xai 'H^eßon führt, findet sich,
wie hier anhangsweise erinnert werden muß, noch eine zweite gnomische
Partie sehr verwandter Struktur: sie verbindet bekanntlich den an den
„Bauernkalender" angehängten „Schifferkalender" mit den „Tages-
regeln" (762 ff.). Der „Schifferkalender" ist das letzte, was man mit
Gewißheit dem Hesiod zuschreiben darf. Enthält er doch eins der wich-
tigsten Selbstzeugnisse des Dichters. Von dem, was nun noch folgt,
wüßte ich nicht, wie man den Beweis des hesiodischen Ursprungs erbrin-
gen wollte. Auf alle Fälle scheint es so, als wenn eine Fortsetzung über
die "Egya hinaus in dem ursprünglichen Plan, den wir aufgezeigt haben,
nicht vorgesehen war 26 . Dann ergibt sich aber, daß der Fortsetzer des
Grundbestandes, mag es schon Hesiod selbst oder ein anderer alter Dichter
gewesen sein, | den Übergang zu dem neu anzufügenden Teil, den cH(XEQai,
geradeso gemacht hat, wie der Übergang von der zusammenhängenden
Paränese zu dem „Bauernkalender" durch Hesiod bewirkt worden war.
Als ,Yjtoürjxai' habe ich in der Uberschrift das hesiodische Gedicht
bezeichnet im Hinblick auf die jetzt verlorenen Xipcovog 'Yjtoftfjxai, die
ja auch unter Hesiods Namen standen, bis Aristophanes von Byzanz sie
athetierte27. Wir wissen durch Pindar (Pyth. V I 19 ff.), daß Chirons Mah-
nungen an seinen Zögling Achill gerichtet waren, und Pindar zitiert aus
ihnen den Satz: vor allem müsse man den Zeus ehren, nächst ihm die
Eltern. Die Scholien geben den „ A n f a n g " des Gedichts, vor dem man
freilich noch eine Einleitung vermuten möchte: „Merk dir nun alles wohl!
Das erste, wenn du ins Haus kommst, sei ein Opfer an die Götter."
Pindar zitiert nicht gerade diese Stelle, aber in der gleichen Gegend des
Gedichts werden die Sprüche gestanden haben, auf die er sich bezieht.
Und die Analogie mit den "Epya leitet ebenso wie die Betrachtung des
Überlieferten (jiqojtov (xev) auf die Vermutung, daß auch in Chirons
Mahnreden ein inneres Band die Sprüche verknüpft haben werde 28 . Dar-
26
Schon das könnte zweifelhaft sein, ob nicht der „Schifferkalender" eine spätere
Erweiterung, dann freilich eine sicher hesiodische Erweiterung ist.
27
Die Erga werden (apellativisdi) wcodfjiuii genannt in dem Epigramm I G V I I 4 2 4 0
(Hoffmann, Epigrammata 349) jtei/frojiEvouH ßpoxoig Ojiodrixai? 'Hai65oio evvonia
•/.o'ioa x' K<jtcu xciojtolcn ßgiovaa.
28
Frg. 1 7 1 Rz. gehört gewiß nicht in dieses Gedicht. Denn da die Bestimmung der
Lebensdauer vom Dichter ev twi xfjg Natöo? jtQOOCfljtaJi vorgetragen worden ist,
ein Wechsel des Sprechenden aber in solchem Gedicht durchaus nicht glaublidi er-
scheint, so ist Bergks hypothetische Zuweisung aufzugeben.
[571j572] YÜO0HKAI 275

auf führt auch noch etwas anderes. Das Gedicht war in Athen bekannt
und diente offenbar dem Knabenunterricht. So parodierte esAristophanes,
als er in seinem Jugendstück, den Aouxodijg, frische Schulerinnerungen auf
die Komödienbühne brachte. Mehr aber lernen wir aus der Komödie
XiQtov, „die mit Recht von der alten Kritik dem Pherekrates abgesprochen
ward" 2 '. D a werden Regeln über die Behandlung der Gäste aufgestellt,
wie man es machen müsse, und, im Gegensatz dazu, wie man es gewöhn-
lich mache. Athenaeus (VIII 364) sagt uns, das alles sei Parodie ex tüv slg
'Hoioöov DVACPEPO[IEV(DV MEYÄACOV 'Hoicov xod MEYOIXCOV "EQVCOV. Sdion die
Nennung zweier Titel zeigt30, daß hier wohl kein Bezug auf | bestimmte
Stellen gegeben werden sollte; nur die allgemeine Richtung wird gewiesen,
wo man die Vorbilder suchen müsse. D a ß aber der Dichter des Xipcov an
die XiQCüvog 'Yjrodfjxai gerade n i c h t gedacht habe, ist unwahrscheinlich.
Auch zu den Regeln über das Gastmahl bieten die "Egya xal 'Huepai ihre
Parallelen (342 f., 722 f.), so daß man sieht, wie alle diese gnomischen
Dichtungen inhaltlich und formal zueinander gehörten. Und noch in der
Parodie erkennt man, daß in solchen 'Yjtoftfjxai ein Zusammenhang
zwischen den einzelnen Mahnungen und Erfahrungssätzen gewahrt
wurde.

2. Theognis

Über „Theognis" gibt es heut noch viel weniger eine feste Meinung
als über Hesiod, und was man so sagen hört, schwankt zwischen den
äußersten Extremen 31 . Die einen sehen nur ein wüstes Trümmerfeld, in
dem auch nicht ein Stein mehr an der alten Stelle liegt, andere nehmen
wieder unbesehen das Ganze als Einheit, ohne daß man sie doch allzu
scharf nach dem Wesen dieser Einheit fragen dürfte. Für die einen ist
es ein „Kommersbuch", für andere eine Sammlung von paränetischen,

2 ' v . W i l a m o w i t z , T i m o t h e o s 74 A . 4.
3 0 K a i b e l streicht x a l M e y ä t a o v "EQY<ÜV. M i t welchem Recht, bleibt z u f r a g e n .

3 1 E i n R e f e r a t über die A u f s t e l l u n g e n der früheren Gelehrten bietet das nützliche


Buch T h e Elegies o f T h e o g n i s b y T . H u d s o n - W i l l i a m s , L o n d o n 1910. D i e Ansicht
des Herausgebers (S. 72) „The first portion 1-252 is a well arranged compilation
complete in itself, berührt sich v o n f e r n mit der meinen, unterscheidet sich aber in
f o l g e n d e n H a u p t p u n k t e n v o n i h r : 1. erkenne ich keine K o m p i l a t i o n , sondern ein
einheitliches Gedicht in dem Sinne, w i e oben angedeutet, und w i e im V e r l a u f noch
k l a r e r heraustreten soll. 2. (was d a m i t zusammenhängt) übe ich an dem genannten
Abschnitt schärfere K r i t i k u n d ein T i t e l w i e „ 2 0 9 - 3 6 eight elegies on miscellaneous
topics" k a n n nicht zufriedenstellen, sondern nur z u r Untersuchung a u f f o r d e r n .
3. 2 3 7 - 5 2 ist unrichtig als closing elegy gedeutet. Ich w e r d e es im allgemeinen
unterlassen mitzuteilen, w o ich mich m i t den einen berühre oder mich v o n den
a n d r e n trenne. A u c h v o n dem, w a s v . W i l a m o w i t z , T e x t g e s d i . d . L y r i k e r $ 8 a n -
deutet, weiche ich in wesentlichen P u n k t e n ab.
276 Griechische Literatur [572(574]

erotischen, sympotischen Excerpten. Ich wage für das Ganze keine ein-
heitliche Formel, wie ich denn glaube, daß nur eine Vereinigung der
verschiedenen Auffassungen, getragen von sorgfältigster Interpretation
des Einzelnen und der Zusammenhänge, Erfolg verspricht. Nur für
einen kleinen Teil möchte ich meine Meinung (die natürlich nicht [ etwas
schlechthin Neues zu sein beansprucht) kurz im voraus formulieren. Zu-
grunde liegt am Anfang des Buches eine einheitliche Dichtung, die sich
auf eine ganze Strecke hin im wesentlichen intakt erhalten hat. Es ist ein
Mahngedicht - 'Yjtoftfjxai - ganz ähnlich wie der erste Teil der hesiodischen
"Eqy«. Wie diese ist es keine Sammlung oder Anthologie, sondern es
besteht aus zwar relativ selbständigen, aber doch deutlich aneinander-
hängenden und aufeinander bezogenen Teilen, nur daß der formale Zu-
sammenhalt bei Hesiod vielleicht etwas enger ist. Es ist an Kyrnos gerich-
tet wie die "Egya an Perses (und die „Könige"), und man kann sich das
Ganze schwerlich anders denn als Vortragspoesie denken. Ob der Vortrag
beim Gelage stattfand oder nicht, trägt für das literarische Problem
nichts aus.
1 - 1 8 . Den Anfang des überlieferten Kontextes machen Gebete an
mehrere Gottheiten. Es soll erwiesen werden, daß es sich nicht um eine
Auswahl von Proömien, etwa zum Vortrag beim Mahle, handelt, son-
dern um das unversehrte Proömium einer Dichtung. Drei Gebete folgen
einander, an Apoll, Artemis, die Musen. Die Dreizahl wird schwerlich
auf Zufall beruhen. Man kennt ihre Verbreitung in dem religiösen Leben,
und neben der Kultdreiheit hat auch die reine Gebetsdreiheit ihren unum-
strittenen Platz: Aer, Aither und die Wolken, die in dem rituellen Gebet
bei Aristophanes32 aufgerufen werden, entsprechen in ihrer Zusammen-
stellung am genauesten; aber audi das Gebet in den Thesmophoriazusen
(1163 ff.) an Pallas und dieftecb©eanocpogco darf man erwähnen und die
Lieder, die in den Fröschen (371 ff.) an Soteira (d. i. Athene), Demeter
und Iakchos gerichtet werden. Sowenig also die Anzahl der Gottheiten
zufällig ist, sowenig ist es ihre Auswahl. Apoll ist der Gründer von
Megara33 und ist der Dichtergott: so ruft der megarische Dichter ihn an
erster Stelle. Mit ihm ist die Schwester Artemis wie so oft auch im Kulte
Megaras verbunden: "Aqte^h? 'Ayqoteqoi und 'AjioXXgjv 'Avpaiog | haben
dort (nach Paus. I 41) einen gemeinsamen Tempel, wenngleich das
megarische Heiligtum, auf dessen Gründungssage Theognis anspielt, der
Artemis allein geweiht war (Paus. I 41). Der Chor der Musen und

32
Wolken 263 ff.; vgl. A. Dieterich, Kl. Sehr. 123. In den beiden Strophen der Wolken-
parabase sind es jedesmal 4 Gottheiten, 563 ff., 595 ff. Ich lasse absichtlich die Fälle
weg, wo ein Kultverein dreier Götter angerufen wird. In weiterem Sinne läßt sich
an die Dreiheit der Schwurgötter und an vieles andere erinnern, was Usener, Drei-
heit (Rhein. Mus. LVIII), zusammengetragen hat. Vgl. W. Kranz, De forma stasimi,
Diss. Berl. 1910, 32 ff.
33
Theognis 773, Dittenberger, Sylloge 2 291, 22.
[574j575] YÜO0HKAI 277

Chariten gehört zu A p o l l , und ihn anzurufen ist für den Dichter fast
Nötigung.
Wie Zahl und A u s w a h l der angerufenen Götter, so zeigt auch die
Form einen einheitlichen Plan, wenn man nur ihre Eigenheiten versteht.
D a ist am klarsten das Gebet an Artemis ( 1 1 - 1 4 ) . Nach der feierlichen
A n r u f u n g folgt, ganz dem Gebetsstil entsprechend, eine „relativische
Prädikation" 3 4 , hier die Gründungslegende. D a n n die eigentliche Bitte,
die einfachste und ursprünglichste: „ H ö r e mich!" hier noch genauer aus-
geführt: „und wehre das Unheil von mir ab!" Z u m Schluß der Hinweis
auf die Macht der Göttin. D e r k a n n dadurch gegeben werden, daß an
bestimmte frühere Betätigungen dieser Macht erinnert w i r d : al jtöxa
x a t e g c o t a . . . «dusg 35 und sehr häufig mit sicut im katholischen Ritual 3 6 .
A b e r auch die allgemeine Form ist geläufig: biivaaai 8e au jtavxoa' anoveiv
steht in dem Gebet II J15 3 7 , und die Worte oti aoü ecmv f) ßaaiXsia y.ai f|
8iivauig hat man früh an das Vaterunser angefügt. Hier w i r d ctol xoiixo,
fted, ofir/gov durch den Satz und Vers füllenden Schluß £|ioi öe ^eya ergänzt
in jener polaren Ausdrucksweise, die von dem Griechen als besonders
gerundet und harmonisch | empfunden w a r d . Dies also ist ein vollständiges
Gebet aus vier verschiedenen Teilen bestehend, und es w ü r d e kaum eine
Erweiterung vertragen.
V o n gleichem U m f a n g ist das Gebet an die Musen ( 1 5 - 1 8 ) . A b e r da
stellt man mit Befremden fest, daß auf die A n r u f u n g und die relativische
Prädikation eine eigentliche Bitte gar nicht folgt. Erwarten möchte man
etwa ein öeüte, wie im Prolog der "Egya oder mehrmals bei Sappho
(Fr. 60, 65, 84). Dies oder etwas Ähnliches ist also entweder durch die
Schuld der Uberlieferung ausgefallen, oder aber man müßte annehmen,
die Musenanrufung sei so konventionell geworden, daß man auf das

34 D a f ü r ist jetzt auf Norden, Agnostos Theos 168 ff., zu verweisen. Fragen möchte
man, ob sich wirklich dartun läßt, daß diese Form anfänglich auf die Umschreibung
des Kultorts beschränkt war. M u ß 05 Jtdvx' ÈcpoQài; jünger sein? Mir scheint solche
Chronologie bedenklich.
35 81 jtoTÉ |xoi y.ai itaxgi cpiXa qpQovéouaa jiagéoxrig E 116. eì jiot' è|xàv, ài Zeù
itaxEQ, forcai tìéXcov à p à v axoucrag, vöv ae Xiaao|j,ai Pind. Isth. V I 42. eI x a i
7tpóx£Q0v . . . Aristoph. Thesm. 1157.
36 Ich greife beliebig aus dem Rituale Romanum (von dem mir eine Ausgabe „Bassani
1773" zur H a n d ist) eine „benedictio novae navis" heraus: . . . benedic navem istam
dextera tua sancta et omnes qui in ea vehentur, sicut dignatus es benedicere arcam
Noe ambulantem in diluvio! porrige eis, Domine, dexteram tuam, sicut porrexisti
beato Petra ambulanti supra mare ... Dieselbe Berufung (der offenbar eine A r t
zwingende K r a f t beiwohnen soll) kann auch in der relativen Form auftreten, so in
der „benedictio peregrinorum" : Deus, qui filios Israel per maris medium sicco vestigio
ire fecisti, quique tribus Magis iter ad te stella duce pandisti: tribue eis, quaesumus,
iter prosperum ...
37 D a z u stellt Norden (zu Vergil V I 117) Proklos hymn. 1 , 4 6 ò i v a a a i 8' èà j i à v x a
TEXÉooai ßifiötco;.
278 Griediisdie Literatur [575¡576]

eigentliche Gebet verzichten konnte38. Und nun sieht man in der Tat, wie
die übliche „relativische Prädikation" dem Dichter dazu dient, den
berühmten Musensang otti vmXóv, cpílov sari zu zitieren, und wie er dann
mit Nachdruck abschließt: „Dies Wort ist durch Göttermund gegangen."
Wer das als Abschluß, so wie es gemeint ist, eindringlich empfindet, der
wird nicht imstande sein, hier noch irgend etwas anzufügen 39 . Dann muß
man sich also des seltsamen Tatbestandes bewußt werden, daß das letzte
der drei Gebete nur noch am Anfang die Gebetsform wahrt, dann aber
von dem üblichen Wege ablenkt und in etwas ausläuft, was man als
Grundsatz bezeichnen könnte. Und man darf darauf hinweisen, daß der
erste allgemeine Gedanke, der nachher erklingt (29), das alaxpóv ebenso
ablehnt, wie hier das r.a/.óv als das Erstrebenswerte an den Schluß des
Proömiums gestellt wird.
Das Gebet an Apoll (1-4) besteht aus der feierlichen Anrede, aus dem
Versprechen, immer des Gottes zu gedenken, und aus der Bitte um Er-
hörung. Versprechen und Bitte finden wir, wenn auch in umgekehrter
Reihenfolge, häufig verknüpft in den homerischen Hymnen: ücrfh . . .
oaiTciQ eyá) v.ai aeio xai. äXAr|g n/vrjcron.' äoiöfjg oder Ö05 8' ev äyüyvi viv.r|v rwiös
cpégeafrai . . . avxag iy<0 xal aeio usw. Hier ist insbesondere noch die An-
regung vom Proömium der Theogonie deutlich: das JtQcoxóv te xaí wtoitov
stammt ja dorther. Das Gebet scheint vollständig, die „relativische Prä-
dikation" ist kein notwendiger Bestandteil. Nun folgt aber eine neue An-|
rufung an Apoll, und dann wird kurz seine Geburtsgeschichte erzählt
zum Preis des Gottes. Ein Gebet ist das nicht. Wenn man aber bedenkt,
daß die „relativische Prädikation", die hier fehlt, häufig gerade die
Geburtslegende gibt, oder mit anderen Worten, daß die Geburtslegende
zwischen Anrufung und Schlußgebet erzählt zu werden pflegte40, so wird
klar, daß dieser Teil in unserem Falle einigermaßen verselbständigt und
hinter dem eigentlichen Gebet angefügt worden ist41.
Mithin ergibt sich, daß wir nicht eine Auswahl kurzer Proömien vor
uns haben, sondern ein einheitliches Gebilde, aus mehreren locker ver-
bundenen, aber doch untrennbaren Stücken zusammengefügt. Die vier-
zeiligen Gebete an Apoll und Artemis könnten wohl für sich existieren,
aber das an Apoll gerichtete Zwischenstück (5-10) gibt weder eine Ein-
heit noch einen Schluß des Hymnus (1-4) ab, wird also nur als Teil eines
größeren Zusammenhanges möglich. Und das Gebet an die Musen ist,
38 Man vergleiche, wie in der großen Elegie Solons die A n r u f u n g an die Musen kon-
ventionell geworden ist: v . Wilamowitz, Sappho und Simonides 263.
39 Unrichtig ist, was Crusius, Anthol. Lyrica p. X X V anmerkt.
40 V g l . die homerischen H y m n e n an Hermes, Hera, Herakles, Asklepios, die Dioskuren,
ferner Alkaios Frg. 5. - Die Geburtsgeschichte bei Theognis stammt ja ganz aus
dem delischen Hymnus. N u r der letzte Vers vti^tioev öe ßctdug jióvto; á X o ; itoAirj;
ist ein Zusatz des Elegikers z u dem überlieferten íyíXaooe öe yaia neXcogr): da
forderte die elegische Form wie so o f t größere Fülle.
41 Auch hier will Crusius a. a. O . eine Lücke statuieren.
[576j577] YÜO0HKAI 279

w i e gezeigt w u r d e , z u m Abschluß des Gesamtproömiums umgebogen


worden.
1 9 - 2 6 . A u f den P r o l o g f o l g t die „ S p h r a g i s " . D a ß sie ein einheitliches
und in sich vollständiges Stück sei, ist niemals mit ernsthaften G r ü n d e n
angezweifelt w o r d e n und braucht nach Reitzenstein 4 2 nicht mehr bewiesen
zu werden. W i e aber steht es um den P l a t z , den sie einnimmt? D i e K i t h a r -
odie setzt das „ S i e g e l " zwischen den O m p h a l o s , d. h. den K e r n , die eigent-
liche E r z ä h l u n g , und den E p i l o g , die Schlußrede an den G o t t ; ebenso der
H y m n u s an den delischen A p o l l 4 3 . A b e r w e n n die Selbstvorstellung des |
Dichters zwischen H a u p t t e i l und E p i l o g stehen kann, so paßt sie um
keine S p u r weniger gut zwischen Prolog und H a u p t t e i l . D a w i r d sie im
Spruchgedicht des Epicharm 4 4 gestanden haben, falls w i r berechtigt sind,
auch f ü r dieses ein G e b e t als E i n g a n g zu vermuten. U n d d a steht sie in
unserem Buch. Ist mithin das P r o ö m i u m vollständig und die Sphragis
vollständig, und entspricht die A n o r d n u n g einem deutlich erkennbaren
Prinzip, dann haben w i r bis hierher die unversehrte Dichtung des
Theognis gelesen 45 . D a m i t ist ein Vorurteil auch f ü r das Folgende gegeben
und unter gleichem Gesichtspunkt die P r ü f u n g gefordert.
2 7 / 8 . D a s nächste Distichon sagt: „Ich w i l l dir Lebensregeln geben."
N a t ü r l i c h konnte das W o r t iiJtoftr)ao(icu v o n irgendeiner einzelnen P a r ä -

42
Epigramm und Skolion 264 ff. Nicht in allem freilich kann ich folgen. Das nèv in
V. 19 hat seine Entsprechung nicht in den Worten n a v t a ? 8É . . . (V. 23), die viel-
mehr an Höbe ... MevajjÉcog anschließen, das Sé ist hier anreihend, nicht gegensätz-
lich. Will man das [lèv durch seinen Gegensatz ergänzen, so wird man am ehesten
denken dürfen: iyò N-èv èjuflf|oco, xà 6' £JRR] ov W|CFEI. Richtig Hudson-Williams
S. 51 A. 1.
43
Crönert, d. Z. X L VII, 1912, 408 scheint das übersehen zu haben, als er für die
„besondere Ausbildung des Schlusses" rhetorischen Ursprung behauptete.
44
Hibeh Papyri I 1 ; Diels Vorsokratiker II, 1 2 668 = 1 3 1 1 6 ; Crönert a. O. 402 ff.
45
Man sieht, auf wie irriger Voraussetzung es beruht, wenn Reitzenstein 268 sagt:
„Der gnomische Schluß . . . ist es, welcher die Aufnahme des Gedichts in unsere
Sammlung veranlaßt hat." Als Sphragis steht es da, nicht als sentenziose Elegie, und
für diese Stelle ist es verfaßt, nicht nachträglich in eine Sammlung aufgenommen. -
Faßt man das „Siegel" als technischen Ausdruck und vergleicht die Analogien, z. B.
Timotheos, so wird man nicht bezweifeln können, daß der Name des Dichters, nicht
etwa die Anrede an Kyrnos, „siegelte". Die Frage ist, ob sich die acpocr/ig wirklich
nur auf die Buchausgabe bezieht. Reitzenstein und (wenn ich nicht irre) v. Wilamo-
witz halten ja um diese Stückes willen den Theognis für das älteste edierte Buch.
Ich kann das nicht strikt widerlegen, es ist aber auch nicht strikt beweisbar, und ein
so scharfer Gegensatz zwischen ediertem Buch und Verbreitung durch den Vortrag
braucht für diese Zeit nicht notwendig angenommen zu werden. Es scheint mir
möglich, daß der Dichter beim Vortrag dieses Stück als integrierenden Teil seiner
Dichtung brachte und sagen wollte: Wenn jemand ein Stüde aus ihr aufgreift und
für sein Eigentum erklären will, so wird, da ich die Kenntnis des Ganzen voraus-
setzen darf, bald jeder wissen, daß das gestohlen ist. Macht man auf die Schwierig-
keit aufmerksam, daß ja niemand das Werk davor schütze, um die Sphragis gekürzt
zu werden, so läßt sich dieses Argument ersichtlich bei Buchpoesie ebenso wie bei
Vortragspoesie anwenden.
280 Griechische Literatur [577j579]

nese stehen. Aber es ist doch sehr bemerkenswert, daß ähnliches auf tau-
send Verse hin nicht vorkommt und überhaupt an keiner Stelle sonst, die
notwendig dem Theognis gehören müßte46. Mithin ist es am natürlichsten
anzunehmen, daß der Dichter nachdrücklich wtoflriaou.ai sagt, weil hier
seine •ujioftrjxai | beginnen, daß sich also diese Verkündigung auf das Ganze
bezieht, nicht nur auf das, was unmittelbar folgt 47 .
29-38. N u n also die erste eigentliche Lebensregel, die allgemeinste
Forderung, die nach dem Vorklang otti xakov, cpiXov toxi erhoben werden
konnte: „:te;tvuo, sei ein avr|Q jtejtvvnivog", was denn bei der intellektua-
listischen Denkhaltung griechischer Ethik alsbald in die Bedeutung des
atotpQcov und ayaftog übergeht. Worin dieser „verständige Sinn" bestehen
soll, sagt das Folgende: „ A n unanständigem und unehrlichem Werk
gewinne dir weder Ehre noch Ruhm noch Reichtum!" - Die Verse 3 1 - 3 8
geben, von dem ersten Halbvers abgesehen, ein geschlossenes Stück. „Mit
,Schlechten' habe keine Gemeinschaft, sondern mit ,Guten'! Denn von
den Guten wirst du Gutes lernen, von den Schlechten aber Schlechtes.
Darum habe Gemeinschaft mit den Guten! Dies ist mein R a t . " Die letzten
Worte schließen ab; was vorhergeht, ist eine altertümlich umständlidie,
abgerundete Beweisführung. Diese Gedankenreihe nun wird durch den
Ubergang toito fiev oiitcog ia-fh und durch ein öe an das Vorhergehende
gekettet, mit dem sie durch Verwandtschaft des Gedankens zusammen-
hängt. Dort w a r vor der Berührung mit schlechtem Tun gewarnt, hier
handelt sich's um Personen. Die Verbindung ist locker, aber sie ist doch
sogar in der Form zum Ausdruck gekommen. Im Fortgang der Dichtung
pflegt einem inneren Gedankenzusammenhang nicht mehr die äußere Satz-
verbindung zu entsprechen.
39-42. „Kyrnos, die Stadt ist schwanger." Der aufreizende Vergleich
bezeichnet einen neuen Einsatz. „Ich f ü r c h t e . . . . , denn die Bürger sind
zwar . . . . , die Führer aber . . . . " Das ist ein abgeschlossener Inhalt, hat
mithin nicht als A n f a n g einer Elegie 48 , | sondern als ein Ganzes zu gelten,
sobald sich Vierzeiler mit verwandter Struktur des Gedankens und Satzes
aufweisen lassen. Im zweiten Buch der Theognidea steht ein Vierzeiler
1 3 5 3 - 6 , in dem es heißt: „Eros ist bitter und süß zugleich. Denn wenn . . . ,
aber wenn . . . " Das erste Distichon enthält die These, das zweite gibt die

46 Als Analogien notiere ich 1007, 1049, 1235.


47 Zum Vergleich darf man anführen, daß in der Rede an Demonikos, einem pro-
saischen {mode-uxog >.0705, der in die Reihe der fotoftfjjtai gehört (Wendland,
Anaximenes 81 ff.), am Ende der Einleitung, bevor die eigentlichen Mahnungen
beginnen, folgendes steht (§ 12): ölöjtEp iycb 001 . t E i o d ( J O [ i a L owtoncog u j t o t i -
•frEodai, öl' ojv av [101 öoxsig EjurnÖeuuaTtov. . . . Als Analogie und zugleich
um den Unterschied zu zeigen, sei noch auf die Sprüche Salomonis verwiesen, wo
häufig am Beginn eines neuen Abschnitts solche Mahnungen stehn: vis, ejiüW
vo(xi|xcov |xr| EjuXavddvou, t<x öe xp^naTä ¡xou xrigsiTto arj y.aoöia oder ay.ovaaxe,
jtalöec;, itou&Eiav itaxoög xal jiqooexete -yvcovai Mvvoiav oder äv.oue, nie, y.ai 6£|ai
£1x0115 Xoyovq usw.
[579j580] YÜO0HKAI 281

doppelseitig geformte Begründung. So weit geht die Ähnlichkeit, daß


der durch öe eingeführte zweite Teil der Begründung mit der bukolischen
Diärese des zweiten Hexameters einsetzt. Vierzeilige Gediditchen, deren
zweites Distichon eine Aussage des ersten begründet, gibt es auch sonst,
z. B . J 3 5 ff., 1 2 5 9 ff., 1 2 7 9 f f . Das sind nicht Bruchstücke, sondern Kurze-
legien, „ E p i g r a m m e " würde man später sagen, würde sie dann freilich
minder geradlinig gestalten, sondern sie umbiegen oder ihnen eine „epi-
grammatische" Spitze geben.
4 3 - 5 2 . Das ist nicht etwa der Schluß einer Elegie 49 , sondern wiederum
ein vollständiges Stück. D e r Anruf an K y r n o s und die fehlende Ver-
knüpfung mit dem, was vorhergeht, macht ein neues Einsetzen deutlich.
Ein knapper Satz steht am A n f a n g , dann w i r d das Gegenteil ergriffen
und durchgeführt in echt archaischer Stilisierung, derart daß sich der vor-
angehende Nebensatz (otav toioi xaxoiaiv a5rji) nach dem Hauptsatz noch
einmal ganz ähnlich wiederholt (eit 1 av xolai xaxolai cpiX' avSpaai xaCxa
Y£vr)Tai)S0. D a s letzte Distichon bestimmt positiv und ausführlich, was der
vorhergehende Satz negativ und allgemein gesagt hatte: „ A u f r u h r , Bür-
gerkampf und Tyrannis werden eintreten." U n d zum Abschluß steht der
Wunsch: „ M ö g e solches unserer Stadt fernbleiben!" Das ist wirklich ein
Abschluß.
53-68. Diese Versreihe f a ß t man am besten als einheitliches Stück.
Will man nach V . 60 absetzen, so muß man doch anerkennen, daß der
Zusammenhang der beiden Teile ganz eng ist, enger etwa als mit dem
Vorhergehenden und dem Folgenden, und sich auch in der Form aus-
spricht, v o r allen Dingen, daß nicht die Rede davon sein kann, hier den
A n f a n g und das Ende einer ehedem umfangreicheren Elegie zu sehen 51 .
Die vier ersten Disticha sdiil|dern in höchst eigenartigen und wertvollen
Sätzen die soziale Revolution und die Sorte von Menschen, die jetzt oben-
auf ist. Die vier folgenden Disticha warnen v o r jeder Gemeinschaft mit
diesen Parvenüs und kommen - in gut archaischer Stilisierung - noch
einmal auf die Charakteristik derselben zurück. -
Es ist an der Zeit, die zuletzt besprochenen Teile noch einmal zu-
sammenfassend zu überschauen. Wenn die allgemeine Ankündigung 27/8

48
Dies die Ansicht von Bergk. Gegen dessen A u f f a s s u n g von dem fragmentarischen
Charakter der meisten Theognisstücke hat Harrison, Studies in Theognis, mit Recht
polemisiert.
« S o Bergk.
so pür dieses Schema a b a vgl. z. B. Hesiod Theog. 6 3 9 ff., Aristophanes Frösche 494 ff.
1 1 8 4 f.
r51 S o Bergk. Bei Hiller-Crusius ist das G a n z e ohne Unterbrechung gedruckt, bei
Hudson-Williams wieder in zwei Teilen, w a s ich f ü r keine Verbesserung halte. M a n
soll nur dort absetzen, w o die Form das nötig madit, d. h. w o die formale V e r -
k n ü p f u n g fehlt, die hier durch xwvöe gegeben ist. - D a ß die Überlieferung für
Bergks These keinen A n h a l t bietet, braucht kaum gesagt zu werden. 1 1 0 9 ff. sind
weiter nichts als ein Pasticcio.
282 Griechische Literatur [580/581]

beiseitebleibt, so ergeben sich vier selbständige Stücke, selbständig von


der Form her gesehen, die das einzige scharfe und objektive Kriterium
abgibt. N u n wurde vorhin gesagt, was sich von selbst versteht, daß das
einheitliche Proömium ein Werk verlange, zu dem es Proömium ist, das
„Siegel" ein Ganzes, welches gesiegelt wird, die Ankündigung einen Z u -
sammenhang, den sie vorbereitet. Liegt uns der A n f a n g dieses Werkes,
das w i r erwarten, in den bisher einzeln betrachteten 4 Elegien vor? Unter-
suchen w i r ihren Zusammenhang! Falls sich trotz ihrer Abgeschlossenheit
ein bewußter Gedankenfortschritt ergibt, so würde sich das Phänomen
wiederholen, das uns bereits im Proömium begegnet ist. Schon das Pro-
ömium hat in seinen Gebeten kleine Dichtungen gebracht, die z w a r der
Form nach ein eigenes Leben zu führen scheinen, die aber doch schließlich
nur in der Zusammenfassung zu einem größeren Ganzen vollen Sinn und
Wert empfangen. Ähnlich würden in dem K e r n des Dichtwerks die selb-
ständig erscheinenden Teile zur Einheit zusammengehen. U n d das gar
nicht etwa in dem Sinn, als hätte der Dichter alte Stücke gesammelt und
ihnen Proömium, Sphragis und Ankündigung nachträglich vorgesetzt.
Sondern wie die hesiodischen " E g y a eine poetische Einheit sind, gleich-
gültig, ob etwa das eine oder andere Stück vorher schon einmal selbständig
oder in einem anderen Zusammenhange vorgetragen worden ist (worüber
w i r nichts wissen und wissen können), annähernd ebenso müßte das
Mahngedicht an K y r n o s als eine poetische Einheit aufgefaßt werden, die
in der Stunde des Vortrages „aktuell" w a r . Dieser Zusammenhang ist
denn auch nicht schwer aufzuspüren, wie er natürlich längst nachgewiesen
worden | ist, ohne daß man ihn doch zur Genüge in seine Konsequenzen
verfolgt hätte.
Zu A n f a n g steht die Mahnung: „ H ü t e dich v o r schlechtem T u n ! " und
damit verbunden die zweite: „ H ü t e dich v o r schlechten Menschen!" W a r
dies ganz allgemein, so w i r d nun der Hörer zur Gegenwart geführt, und
w i r erfahren, warum v o r schlimmer Gemeinschaft gewarnt werden muß:
„Unserer Stadt steht Revolution und Tyrannis bevor, denn der herr-
schende Stand ist verdorben." Wie die Wandlung der Führer und die
drohende Tyrannis zusammenhängt, lehrt der Abschnitt OtiÖEjnav jico
Klieve (43), der wieder in allgemeiner Form, aber mit deutlicher Beziehung
auf unsere Stadt den notwendigen Entwicklungsgang von der Herrschaft
der „Schlechten" zur Rechtsbeugung aus Eigennutz, von da zu A u f r u h r
und Bürgerkrieg und schließlich zur Tyrannis schildert. H a t t e also der
Dichter, ausgehend von der allgemeinen Warnung v o r jedem Verkehr
mit dem Pöbel, die Folgen der Pöbelherrschaft betrachtet, so w i r d nun
jene Warnung aus ihrer Allgemeinheit in die lebendigste Gegenwart hin-
übergezogen, und es folgt das von H a ß und Verachtung erfüllte Bild
dieser Gesellschaft, um den R a t zu begründen und vorzubereiten, auf den
es abgesehen ist: Keine Freundschaft mit diesen, wenn du auch deine A b -
neigung nicht laut auszusprechen brauchst.
[5811582] YÜO0HKAI 283

69—78. D e r Vierzeiler 6 9 - 7 2 enthält den S a t z : „ G e h nicht mit dem


Schlechten z u R a t e , sondern mit dem G u t e n ! " D a s erste Distichon w a r n t
mit uriJtoTE, das z w e i t e bringt die ergänzende M a h n u n g mit ä ) l a 5 2 ; damit
ist dieses abgeschlossen. W i r finden gelegentlich M a h n u n g und W a r n u n g
m i t noch elementarerer K ü r z e in einem einzigen Distichon vereinigt, so
d a ß (ujitoTE den H e x a m e t e r , aU.u den Pentameter beginnt (113/4). A b e r
auch die vierzeilige F o r m hat in unserer Sammlung ihre A n a l o g i e : 7 8 9 - 9 2 ,
7 9 3 - 6 . U n d besonders ist auf ein vierzeiliges Elegeion A n a k r e o n s z u
verweisen (94 B.) 53 , das mit seinem ov> cpiXeco, 05 . . . Ikysi im | ersten und
seinem all' ö t m g . . . ¡j.vr)crx£Tcu E{i<p£>oa-uvr|g ebenso abgeschlossen ist w i e
das betrachtete Theognisstück. M i t dem Vorhergehenden hängt dies so
zusammen, d a ß die W a r n u n g v o r dem neu emporgekommenen H e r r e n -
pöbel nun wieder auf das allgemeine Gebiet hinweggespielt w i r d , auf dem
sich denn auch die folgenden G n o m e n halten.
D r e i Z w e i z e i l e r nämlich reihen sich an. D e r erste gibt eine W a r n u n g
und begründet sie, der z w e i t e mahnt und f ü g t im Pentameter ein „ d a m i t
du nicht" hinzu, der dritte belehrt in der F o r m einer einfachen Aussage,
die doch durch die A n r e d e dem K y r n o s zur Beachtung empfohlen w i r d .
M a n könnte bei dieser verschiedengestaltigen Bildung fast an absichtliche
F o r m v a r i a t i o n glauben. D e m Sinne nach gehören die drei Disticha und
das vorhergehende Doppeldistichon durchaus zusammen, eng v e r w a n d t e
G e d a n k e n gehen durch sie hindurch, und die wiederkehrenden W o r t e
naipoi, racTtog, i t g f i l i g - TCQfjYiia verbinden sie 54 . A b e r es ist bemerkenswert,
d a ß kein Spruch dasselbe sagt w i e der vorhergehende, d a ß sich vielmehr
ein leichter Gedankenfortschritt feststellen l ä ß t : 1) Berate dich mit keinem
schlechten Manne, sondern mit einem guten! 2) A b e r selbst mit allen
Freunden besprich dich nicht; treu sind nur wenige! 3) ( V o m R a t z u r T a t : )
N u r auf wenige vertraue bei wichtigem W e r k ! 4) (Mit stärkerer Bezie-
hung auf die gegenwärtige Situation:) Ein Getreuer ist G o l d e s w e r t im
Bürgerzwist.
7 9 - 9 2 . Zunächst z w e i parallele Vierzeiler 5 5 . D e r erste: „ D u wirst bei
schwerem W e r k wenige Getreue finden, die auch an Schlimmem 5 6 teilzu-

52
Die Textgestaltung bei H u d s o n - W i l l i a m s ßovXeu x a i jioXXä |.ioYijcrai x a i . . . 6ööv
IxxEÄiaai k a n n idi nicht billigen. D e n n der Mutinensis h a t z w a r ßoii^eu x a l , aber
doch mit fast allen H a n d s c h r i f t e n die Participia noyriaag u n d ev.TEXeaag. A u d i dem
Sinne nach p a ß t die A u f f o r d e r u n g nicht: „Wolle viel erdulden u n d einen großen
W e g machen!" Dies k a n n doch immer n u r Mittel, nicht Zweck sein. Also ßouXEUEO
t r o t z des Mutinensis u n d t r o t z des Wechsels von A k t i v in 69 z u m M e d i u m .
53
„ A n Theognis e r i n n e r n d " f a n d es schon Welcker, Kl. Sehr. I 260.
54
D a m i t soll nicht die äußerliche „Stichworttheorie" a u f g e n o m m e n w e r d e n , wie sie
besonders Nietzsche v e r t r e t e n h a t , sondern n u r das, was an ihr berechtigt ist: der
sachliche Z u s a m m e n h a n g w i r d vielfach im A n k l a n g der W o r t e deutlich.
55
Die besten H a n d s c h r i f t e n geben in 83 keine verbindende K o n j u n k t i o n , so d a ß m a n
lieber z w e i P e r i k o p e n als einen Achtzeiler a n n i m m t . D e n A n f a n g w e i ß ich nicht
sicher zu gestalten. Doch scheint der Mutinensis die unmetrische Ü b e r l i e f e r u n g des
284 Griechische Literatur [5821584]

nehmen den Mut haben." D e r zweite: „ D u | wirst nicht eine Schiffsladung


voll Menschen finden, die Scham und Scheu haben, und die nicht Gewinn-
sucht zu etwas Schändlichem treibt." D e r erste k n ü p f t ganz an die vor-
hergehenden Gnomen an und leitet den Gedanken weiter auf gemeinsam
zu tragendes Leid. D e r zweite, der absichtsvoll durch symmetrische For-
mung mit dem ersten zusammengeschlossen ist, führt einen stärkeren
Schritt voran, indem er zeigt, worin der Mangel der meisten besteht,
warum sie keine Treue zu halten vermögen: „Sie haben keine aißwg auf
der Zunge und im Auge." Das zielt schon auf das Folgende. Denn beson-
ders an das Wort ylmaaa und an den Begriff Aufrichtigkeit, der damit
zusammenhängt, schließen die nächsten Gnomen an (Ijiecuv 87, YÄa>aar|i 91),
während das Wort maräg in dem unmittelbar vorhergehenden Vierzeiler
gleichsam nur verhüllt enthalten ist und rein in den Versen 74, 77, 80
zutage tritt. D i e Gnome 87/8 macht also aus dem, was hervorgeht, eine
Mahnung: „Liebe mich nicht mit Worten, während du im Innern anders
gesinnt bist!" U n d der Vierzeiler 89-92 verstärkt das noch: „Entweder
liebe mich oder sei mein erklärter Feind 5 7 !" M a n sieht, daß es sich nicht
um eine wenn auch geschickte Sammlung fertiger Sprüche handelt, son-
dern daß die Gedankenbewegung sich schrittweise von Spruch zu Spruch
vollzieht.
93—100. Das achtzeilige Elegeion nimmt mit seinen beiden ersten
Distichen den vorhergehenden Gedanken auf: „Wer vor deinen Augen
anders redet als hinter deinem Rücken, der ist kein wahrer Freund." Die
zweite H ä l f t e des Gedichts bringt den Gegensatz, wendet ihn aber nach
einer anderen Richtung: „Sondern der soll mir Freund sein, der den
Gefährten zu ertragen weiß, wenn er auch einmal beschwerlich wird 5 8 ."
N u n ist sehr lehrreich zu beobachten, wie hier die Form dem Dichter einen
Rahmen gibt, den er ausfüllen muß. Das achtzeilige Schema fordert die
Teilung | in der Mitte (mit a U a ) ganz analog dem vorhergehenden Vier-
zeiler, der mit öe das zweite Distichon in Gegensatz zum ersten bringt,
oder den vorher besprochenen Z w e i - und Vierzeilern, die nach dem

Vaticanus O metrisch zurechtzumachen. M a n w i r d also von dem eüooi- absehen


müssen, wie sich denn etipr|<TEig auch durch die Parallele in 7 9 zu empfehlen scheint.
O b nicht T0115 ovx £vgr)0£iq riditig ist? D a n n müßte xoijg geradezu für töooou;
stehen, w a s freilich arg ungeschickt und ohne Beleg wäre.
56
l a o v xöov a-yafrwv twv te xaxcöv. D a die Situation durch ev xaXsjtoi; nQr)VM.aai
vorgezeichnet ist, so kann natürlich das Gute und Schlimme nidit wirklich auf der
gleichen Stufe stehen. Ausgebildete Sprache würde also subjungieren Ü5 tö>v ayaftibv
oBtco x a l tcöv x a x w v .
67
Wieder geben Hiller-Crusius die bessere Gliederung in 2 Stücke von 2 und 4 Zeilen,
während bei Bergk und Hudson-Williams ein einheitlicher Sediszeiler erscheint.
58
E s ist mir zweifelhaft, ob die Ausgaben richtig interpretieren, indem sie das dvxl
xaaiyvriTOU zu q>£pei ziehen. O b es nicht eher zu cpü.o; in 97 gehört, „er soll ein
Freund sein, der mir einen Bruder ersetzt, soviel gilt wie ein Bruder?" D a f ü r spricht
auch die Parallele fr 546 ä v t i xaar/VT)Tou S;eivo$ fr' Ixettj? te tetuxtcu.
[5841585] YIIO0HKAI 285

Schema ju|jiot£ . . . äX/.a . . . gebaut sind59. Da nun aber der Gedanke


in seiner einfachsten Form nicht ausreichte, um den gegebenen Raum zu
füllen, so mußten beide Teile etwas gestreckt werden. Das geschieht beim
ersten Male, indem nach archaischer Satzstruktur der vorangeschickte
Nebensatz auf den Hauptsatz noch einmal in leichter formaler Variante
folgt (r)v ti; . . . , Hauptsatz, 05 v.z . . ,)60, und es geschieht das zweitemal
durch die breit ausgesponnene Mahnung: „Merk dir das!" So ist klar,
daß hier ein einheitliches und in sich abgeschlossenes Stück vorliegt.
1 0 1 - 1 2 8 . Gedanken über die Wahl des Freundes gehen weiter. Freilich
scheint ein kleiner Abstand von dem letzten Achtzeiler zu den beiden
nun folgenden Stücken zu sein, in denen der Gedanke: „Schließ keine
Freundschaft mit einem Schlechten'!" durchvariiert wird. Zuerst spricht
ein Vierzeiler diese Mahnung aus und begründet sie. Daran schließt sich
ein Achtzeiler, in dem gezeigt wird, wie töricht es sei, „Schlechten" Gutes
zu tun. Nun wissen wir ja, daß der Dichter von der Warnung vor den
„Schlechten" ausgegangen war. Dann war er auf die Forderungen ge-
kommen, die er an den echten Freund stelle. Jetzt lenkt er wieder zurück,
und man könnte den Ubergang etwa so ergänzen: „Falsche Freunde dieser
Art findest du eben unter den ,Schlechten'." Hinter allen diesen Mahnun-
gen steckt ja gewiß mehr „aktuelles" Interesse, als wir zu ahnen imstande
sind, und so kann leicht auch irgendeine Beziehung, die minder allgemein
war als die angegebene, den kleinen Abstand überbrückt haben.
Von diesem Achtzeiler führen drei Einzeldisticha zu einem Zehn-
zeiler hinüber. Die erste dieser drei Gnomen faßt noch einmal zusammen,
was das Vorhergehende ergab: „Mache keinen Schlechten' zu deinem
Freund und Gefährten!" Das war notwendig, weil zuletzt von den
„Guten" die Rede war, jetzt aber mit den „Schlechten" fortgefahren
werden sollte. Es folgt nun die kurz formulirte Erfahrung: „Bei Speise
und Trank sind viele deine Gefährten, im Ernst nur wenige" - wobei
etaipoi formal an Etatgov anhakt. Aber wenn man nun entschlossen ist, alle
diese Mahnungen zu ] beherzigen, so bleibt noch die Frage, ob man es
kann. „Nichts ist schwerer zu erkennen als ein unechter Freund", sagt
die dritte Gnome und schlägt ganz vortrefflich mit dem Worte xißör|Xog
einen Ton an, der dann in dem Gedicht "/quooC uißöri^oio zur Melodie
wird 61 .
Bis V. 128 ist ein deutlich nachweisbarer Zusammenhang. Der Umgang
mit den „Schlechten" wird widerraten. Dann wird die politische Wand-
lung geschildert, die diese „Schlechten" emporgebracht hat. Vor diesen
Menschen soll man sich hüten. Mit wenigen, guten und treuen soll man
umgehen. Doppelzüngigkeit ist verwerflich. Mit den Schlechten soll man
keine Freundschaft knüpfen. Freilich ist es schwer, echt und unecht heraus-

S9 Vgl. s. j8i.
«0 Vgl. S. 579.
6 1 Derselbe Ton klingt audi in dem Stück 963-970.
286 Griechische Literatur [585¡586]

zuerkennen. - Das geht nicht in straffer Disposition vorwärts, aber es ist


ein unterbrochenes Sichbewegen des Gedankens, und niemals sagt eine
Gnome oder ein Gedicht sei es etwas völlig Disparates, sei es dasselbe
oder gar weniger als das, was vorausgeht.
1 2 9 - 1 3 2 . Zwei Einzelgnomen folgen, die weder untereinander noch
mit dem bisher Erörterten etwas gemeinsam zu haben scheinen. Die erste
ist auch in sich schwierig: „Wünsche dir nicht apetr), d. h. Ruhm, Glanz
und alles, was zu einer standesgemäßen Existenz gehört, und nicht Reich-
tum (in dem Sinne von ,Mammon', wie ihn auch der Plebejer haben
kann): nur tú/t] möge dem Manne zuteil werden 62 ." Die rir/r], die wohl
tö to'/elv, den Segen der Götter, meint, kann freilich auch agEtr| und
Reichtum einbeziehen. Aber die sollen nicht als einzelne Güter erstrebt
werden, sondern man soll warten, bis der Segen von oben auch diese
Gaben spendet. Daß man so etwas verstehen muß, lehrt manches in dem
anschließenden Abschnitt. 133/4: „Niemand ist an Gewinn und Verlust
schuld, nur die Götter." 139: „Dem Menschen wird nicht, was er
wünscht", sondern (142) „die Götter vollenden alles nach ihrem Willen."
Der Zusammenhang mit dem Folgenden ist mithin so deutlich, daß der
kurz vorangestellte, gleichsam thematische Spruch dann erst recht eigent-
lich klar wird. Hingegen nach rück|wärts kann ich keine Verbindung
erkennen, die von den Erörterungen über echte und unechte Freunde zu
Glanz, Reichtum und Glück hinüberführte. Also ist hier eine Pause im
Fortgang und ein vollkommenes Neueinsetzen oder aber eine Lücke in
der Uberlieferung zu constatieren. D a weiß ich keine sichere Entscheidung.
Und zweifelhaft bleibt auch das Urteil über die Gnome 1 3 1 / 2 . Denn
wenn die vorhergehende, wie wir sahen, durch das Gedicht 13 3 ff. aufge-
hellt wird, so scheint diese fühlbare Verbindung vielmehr der Satz zu
unterbrechen: „Nichts ist besser als Vater und Mutter, denen Recht und
Gerechtigkeit wert ist", was doch wohl bedeutet: es ist segensreich, wenn
einem das Elternhaus die Grundsätze der Rechtlichkeit einprägt. Ganz
isoliert steht freilich auch dieser Gedanke nicht, da in 145 der Wert der
„Frömmigkeit" hervorgehoben, in 146 vor der „Ungerechtigkeit" ge-
warnt, späterhin in die Betrachtung die fißpi? einbezogen wird ( 1 5 1 . 15 3),
die ja den Gegensatz zur 5ixr) bildet 63 . Man kann auch darauf hinweisen,
wie die Begriffe „Rechtlichkeit" und „Segen" in der hesiodischen Ethik
verknüpft sind (ExH 225 ff., 280 ff.). Was aber Schwierigkeiten macht,
ist die Beobachtung, daß ein unmittelbarer und klar ausgesprochener
Zusammenhang die Gnome 1 3 1 / 2 durchaus nicht an dieser Stelle fest-
bindet. Die ursprüngliche Ordnung möge hier durch Auslassungen irgend-
wie gestört sein, ist die Annahme, auf die man zuerst verfällt, und die

62
S o sind %QT)uaTa und äqett| in 1 4 9 / 5 0 gegenübergestellt, eü^EO als „rühme dich" zu
fassen, empfiehlt sich nicht. Schon der O p t a t i v vévoixo spricht dagegen, ebenso 1 4 $
ßoiUeo, auch das Distichon 6 5 3 f. Ich habe eine Zeitlang gedacht, das Distichon bittei
höhnisch aufzufassen. A b e r das läßt sich nicht halten.
[586j587] YÜO0HKAI 287

vielleicht manchem zusagen wird. Man darf aber fragen, ob nicht hier
vorklingend zwei Motive, der Wert der Tii/rj und der Wert der öixr|,
angeschlagen werden, die dann das Folgende ausführt und durchspielt.
Darüber gleich noch ein Wort.
133-148. Bleibt also dort einiges ungewiß, so ist nun auf eine längere
Strecke hin die Ubersicht um so ungehinderter. Die Elegie Oxiöeig Kiiqv'
äxr)5 haben wir schon in ihrer Beziehung zu der Gnome 129/30 betrachtet.
„Niemand ist selbst schuld an Verderb oder Gewinn, sondern die Götter."
Das wird nun ausgeführt und rundet sich zum Ganzen, indem der Schluß
wieder auf den Anfang zurückweist: „Die Götter vollenden alles nach
ihrem Sinne64." | Davon scheint freilich der Vierzeiler, der nun folgt
(143-146) 65 , im Gedanken recht entfernt zu sein: „Niemand kann, ohne
daß die Götter es sehen (und strafen, fügt man hinzu), die Heiligkeit
des Gastes und des Schutzflehenden verletzen. Lieber fromm und arm sein,
als ungerechten Reichtum haben." Die Brücke, die zu dem vorhergehenden
Achtzeiler hinüberführt, sieht etwa so aus: Die Götter vollenden alles
nach ihrem Sinn, gewiß, aber doch nicht nach Willkür, sondern sie machen
einen Unterschied zwischen dem Frommen und dem Ungerechten. Man
denke nur wieder an Hesiod, der ausdrücklich sagt: wer sich gegen den
Schutzflehenden und den Gast vergehe, dem zürne Zeus selber und gebe
ihm zuletzt für sein „ungerechtes" Tun schlimmen Entgelt (ExH 327 ff.).
Man darf aber wohl noch einen Schritt weiter zurückgehen. Von der
öixri war ja schon in dem vorher erörterten Distichon 131/2 die Rede.
Da klingt aöixtog 7QT]|xaTa jtaad[xevog in 146 wörtlich an. Und es sieht nun
wirklich so aus, als wären in 129/30 und 131/2 die beiden Begriffe der
•n>xri und der öixr] in knapper Prägung hingestellt worden, um dann in
den beiden größeren Gedichten, die tuxti in 133—142, die öixr| in 143-146,
eingehender behandelt zu werden.
Dieser letzte Vierzeiler enthält aber noch einen anderen Hinweis, dem
wir folgen müssen. Das zweite Distichon soll offenbar positiv den Rat

63 Das gegensätzliche Begriffspaar SixTi-üßgig ist aus Hesiod bekannt: ExH 213. 214-
225-238.
Zum Gedanken (auch für 161 ff.) vgl. man das Stobaeusexzerpt ex tüjv 'Aoioto^evou
IIudaYopixcciv äxQoda£ü)v bei Diels, Vorsokratiker 45 D 11.
65 147/8 sind wohl unecht. Usener hatte das Distichon beanstandet (Jahrb. f. kl. Phil.
C X V I I 69 = Kl. Sehr. I 248), weil der Hexameter von Aristoteles als Sprichwort
bezeichnet, von Theophrast bald dem Theognis, bald dem Phokylides zugeschrieben
wird, und weil der Pentameter inhaltslos sei. Vgl. Reitzenstein, Epigramm und
Skolion 66 f. Mir wäre das noch nicht entscheidend; denn wir werden sehen, daß
Theognis älteres und schon geformtes Gut übernimmt, und daß er gelegentlidi einen
inhaltslosen Pentameter macht, ist auch nicht zu bezweifeln. Wohl aber ist der
Gebrauch von üoett) und ¿70^05 in rein moralischem Sinne dem Theognis fremd.
ocgETr) hat bei ihm so viel vom aristokratischen Standesideal, daß er schwerlich die
ganze &qett] in die „Gerechtigkeit" setzen konnte. Und gewiß war nicht jeder Recht-
liche für ihn ¿Yadög, wenn er auch wohl umgekehrt der Meinung war, daß nur ein
oivriQ ä v a d o ; „gerecht" sein könne.
288 Griechische Literatur [587j589]

geben, der aus dem negativ geformten Erfahrungssatz des ersten


Distichons folgt. Nun kann man wohl aus diesem Erfahrungssatz den
Schluß ziehen: „Also sei lieber fromm!" Aber ein Übergang auf fremdes
Gebiet geschieht schon mit den Worten „auch bei geringem Vermögen"
und vollends mit der gegensätzlichen Ausführung „als reich zu sein und
sich ein Hab und Gut durch Ungerechtigkeit gewonnen zu haben". Die
«creßeia wird also nach einer andern Seite hin entwickelt als am Anfang
geschah66. Das muß man scharf erfassen, zu erklären ist es nicht schwer.
Denn im folgenden wird auf weite Strecken von Reichtum und Armut
geredet. Zu diesem Folgenden also vollzieht sich die Wendung innerhalb
des Vierzeilers. Das ist von höchstem Wert für das Verständnis des ganzen
Werkes, dessen Komposition wir verfolgen. Denn es zeigt uns, daß auch
scheinbar in sich abgeschlossene Elegien nur durch die Beziehung auf einen
größeren Zusammenhang verständlich werden, also nur im Hinblick auf
diesen verfaßt sein können. Mithin wird noch gewisser, was uns schon
wahrscheinlich war, daß hier an eine Anthologie, auch an eine Anthologie
des Dichters Theognis nicht gedacht werden darf, sondern nur an eine
einheitliche Dichtung.
1 4 9 - 1 5 4 . Mit xpiinata schließt 146 und beginnt die Gnome 149/jo,
der erste von drei Zweizeilern. Daß Gewinn und Verlust Göttergabe sei,
war in dem Gedicht Ovöeig Ruqv5 ¿irrig ausgeführt worden. So heißt es
jetzt, indem der Dichter auf die ihn beherrschenden Vorstellungen von
den Edlen und den Geringen zurückkommt: „Geld gibt die Gottheit
auch dem ganz ,Schlechten1, dgetri hingegen haben nur wenige", nämlich
die &Y<r&oi. Die nächste Gnome scheint nur durch den Parallelismus der
Form an die vorhergehende geschlossen. Wer aber den Zusammenhang
der Begriffe ö/.ßog (oder idoitog), xoQog und üßpig im archaischen Denken
- etwa bei Pindar und Solon - kennt, dem wird fühlbar, was der Dichter
sagen will: Aus solchem Reichtum, besonders wenn er dem „Schlechten"
zuteil wird, entsteht die Hybris. Und wirklich drückt diesen verbindenden
Gedanken hinterdrein die dritte der zweizeiligen Gnomen aus, so daß
sie nicht entbehrt werden kann 67 .
Wir wissen durch Aristoteles, 'Aftr|v. IIoX. 12, jetzt noch deutlicher als
ehedem, daß dieses letzte Distichon mit geringen Abweichungen auch
bei Solon stand, und wir kennen die bei ihm | vorausgehenden Worte.
Sind nun aber, wie es scheint, die beiden Verse auch in unserm Zusammen-
hang unentbehrlich, so haben wir einen sicheren Beleg dafür, daß schon
Theognis selbst geformtes Gut übernahm. Das wird niemanden befrem-

66
Hudson-Williams zerreißt deshalb das Tetrastichon und zieht das zweite Distichon
mit dem folgenden unechten zu einer Einheit zusammen. D e m widerspricht schon
das verknüpfende 5e in 1 4 7 .
« 7 M a n könnte vielleicht f ü r vorteilhaft halten, das Distichon 1 5 3 f. v o r 1 5 1 f. zu
stellen. A b e r mir scheint, daß 1 5 5 ff. jetzt besser anpassen, als wenn man die U m -
stellung vornehmen wollte.
[598¡590] YÜO0HKAI 289

den, der nicht mit dem modernen Begriff v o n „ P l a g i a t " und „geistigem
E i g e n t u m " an solche Fragen herantritt 6 8 . Doch neben der allgemeinen
Beobachtung verdienen auch die Unterschiede im einzelnen A u f m e r k s a m -
keit. D e r Ersatz v o n 7«Q durch TOI zeigt nur, d a ß Theognis auf formale
Isolierung der Sprüche aus ist; denn die Form der Begründung hätte er
durchaus beibehalten können. Eingreifender ist die Ä n d e r u n g v o n otav
jtoXijg öXßog env)xai in öxav xaxwi öXßog Ejtrixai, die den allgemeinen E r f a h -
rungssatz in aristokratisch-exklusiver Weise umbiegt und damit erst f ü r
den neuen Z u s a m m e n h a n g brauchbar macht.
1 5 5 - 1 7 2 . A n das letzte G l i e d der Begriffskette xP*)M-aTa-,c°(?0S-üß!?lS
schließen gut z w e i Sprüche v e r w a n d t e n Inhalts an, v o n denen der erste
m a h n t : „ W i r f niemandem seine A r m u t v o r ! " , w ä h r e n d der z w e i t e noch
allgemeiner „ g r o ß e W o r t e " überhaupt widerrät. M a n braucht k a u m zu
sagen, d a ß es Ä u ß e r u n g e n der vßQtg sind, v o r denen hier g e w a r n t w i r d .
A b e r man m u ß schon im voraus d a r a u f hinweisen, d a ß das M o t i v der
A r m u t deshalb hier erklingt, w e i l der Dichter im folgenden gerade
darauf hinauswill. Begründet w e r d e n die W a r n u n g e n v o r hochmütigen
W o r t e n beidemal mit dem H i n w e i s auf den Wechsel des Geschickes. U n d
daran a n k n ü p f e n d sagt der nächste Vierzeiler ( 1 6 1 - 4 ) , w i e unberechenbar
E r f o l g und M i ß e r f o l g sei, und in w i e so gar keinem Verhältnis sie z u
Verstand und U n v e r s t a n d des einzelnen stehen. D a n n folgen mehrere
einzelne Disticha. D a s erste formulirt noch einmal, d a ß niemand glück-
gesegnet oder arm, gut oder schlecht sei ohne den Willen der Götter.
D a s z w e i t e w i r k t w i e eine Selbstcorrectur: „ I n W a h r h e i t ist überhaupt
niemand ,glückgesegnet'". D a s dritte erjweckt schwere Bedenken, ob man
der Uberlieferung trauen dürfe. D e n n es w i r d mit öe eingeführt, w a s dem
Princip der Isolierung z u w i d e r ist, und k a n n doch nicht z u einer Einheit
mit dem Vorhergehenden verbunden werden, da an dieses der G e d a n k e
„ W e n die G ö t t e r fördern, der g e w i n n t R u h m ; Menschenstreben aber ist
vergeblich" keineswegs eng anschließt w e d e r als F o r t f ü h r u n g noch im
Kontrast 6 9 . D a n n aber w i r d der Inhalt der letzten Versreihen noch einmal

68 Immerhin besteht der Begriff des „literarischen Diebstahls" schon, wie die acppayti
zeigt, die dafür überhaupt das früheste Zeugnis abgeben mödite. Wenn Theognis
selbst „piagierte", so wird man fragen dürfen, ob er anderen verwehren wollte, was
ihm für sich erlaubt schien. Entweder war er sich der Entlehnung in diesem Falle
nicht klar bewußt oder das Plagiat fing für ihn erst bei einem größeren Komplex an.
Jedenfalls also dürfte der Umfang eine gewisse Rolle dabei spielen. So wird schon
von hier aus ein Präjudiz gegen die Übernahme größerer solonisdier Stücke ge-
schaffen, was für später zu merken gut ist.
69 Harrison verbindet 167-170, aber den Zusammenhang hat er auf S. 215 nicht recht
deutlich gemacht. 6 x a i |IO)|J.£UU,EVO; alvst erklärt er doch wohl etwas zu künstlich
so, daß auch der Tadel ihm zum Lobe ausschlagen müsse. Mag man es zugeben oder
verschleiern, schließlich kommen doch alle darauf hinaus, x a i 6 nwneiinevot; z u i n t e r ~
pretieren. Dies aber ist nur Umschreibung für „jeder", wie denn die von Bakdiylides
V 191 ff. zitierte hesiodische Vorlage des Theognisverses einfach xai ßgOTUV tpfinav
290 Griechische Literatur [5901591]

kurz zusammengefaßt und ihm die Mahnung entnommen: „Bete zu den


Göttern! Sie haben die Macht, ohne sie wird den Menschen nichts, weder
Gutes noch Arges." Daß das „Arge" den Ausklang bildet, möchte nicht
zufällig sein (in 166 stand das Wort „gut" am Schluß); denn nun lenkt
der Gedanke auf die schlimme Armut hinüber.
173-196. Auf die Armut war schon längst hingezielt worden. Man
solle lieber unbemittelt und „fromm" sein als reich und „ungerecht",
hieß es in 145/6. Dann war besonders gewarnt worden, jemandem seine
Armut und Mittellosigkeit vorzuwerfen (155/6), und bald folgte auch
der Spruch, Armut sei ebenso wie Reichtum eine Gabe der Götter. So
sieht man, wie die nun folgenden Auseinandersetzungen von langer Hand
vorbereitet sind, und man verzichtet bei den schneidenden Tönen, die
alsbald erklingen, ungern auf die Annahme, daß der Dichter ganz persön-
liches Geschick hier in allgemeingültige Form geprägt habe. Zunächst ein
in sich geschlossener Sechszeiler. „Armut ist der schwerste Druck. Darum
muß man sich selbst durch Aufgabe des Lebens von ihr befreien. Denn der
durch Armut Gebändigte kann nichts reden noch tun70." | Dann wird
ein Distichon angefügt, das infolge des einleitenden yaQ nach den bisher
gemachten Erfahrungen nicht selbständig sein kann, andererseits aber
einer Verknüpfung mit dem Vorhergehenden widerstrebt. Denn es drückt
denselben Gedanken, vor der Armut müsse man fliehen, in schwächlicherer
Weise aus und kann den abgeschlossenen Sechszeiler um so weniger ergän-
zen, als dieser selbst schon mit einer Begründung abschließt. Demnach ist
zu vermuten, daß die beiden Zeilen nur als Rest eines Gedichts stehen-
geblieben oder daß sie überhaupt an dieser Stelle fremd seien71. Wohl
aber paßt das nächste Distichon als starker, zusammengeraffter
Stimmungsausdruck trefflich hieher: „Lieber sterben als in zermürbender
Armut leben."
Scheinbar hart ist von da der Übergang zu dem folgenden zehn-
zeiligen Elegeion, einem der merkwürdigsten unseres Buches, jener
zornigen Invektive gegen die Geldheiraten, die das adlige Blut verdürben:
jtXoüxog euei^e vevog. Aber die Verbindung ist ungemein leicht zu ziehen.
Mehr als einmal werden Standesgenossen des Dichters, denen sein Wort
über den Unsegen der Armut aus dem Herzen gesprochen war, die

£jteaftcti gibt. Unrichtig erklärt wohl Harrison auch 167 akX' äXXau xaxov eoti „to
each man his own fault". Vielmehr ist gemeint: irgendein Leid hat jeder. Unmöglich
wäre es nicht, die Disticha 165/6 und 169/70 zu einer Einheit zu verbinden. Aber ich
glaube nicht, daß man das wird beweisen können.
70 Über die Verselbständigung, die 175 in den zahlreichen Zitaten erfährt (xqt| jtev'i.t|v
cpeiJYOVxa), urteilt Hudson-Williams 82 gegen Bergk durchaus richtig. Analogien in
der eigenen Literatur sind jedem z u r H a n d .
71 Bei Stobaeus ist das Distichon mit einer kleinen Änderung zu A n f a n g ( x q t ] 8' ctei
y.uxd ytjv statt xqtj yaQ 6(iwg Eni vfjv) an 155-8 angesetzt. D a paßt es noch weit
weniger hin, und das Zitat darf w o h l nicht benutzt werden, u m die Unsicherheit
der Uberlieferung wahrscheinlich z u machen.
[591j592] YÜO0HKAI 291

Folgerung daraus gezogen und die Tochter eines reichen Emporkömmlings


geheiratet haben. Ja man kann getrost versichern, daß ein ganz bestimm-
ter Fall ihn treibt, jener verächtlichen und höchst gefährlichen Folgerung
entgegenzutreten. Gewiß, wenn jemand den Gedankensprung durchaus
zu groß finden will, so mag man ihn nicht leicht widerlegen können.
Aber einen Beweis für sein Gefühlsurteil wird er nicht zu führen imstande
sein. Er würde auch zugeben müssen, daß im schlimmsten Falle nur sehr
wenig fehlt, und daß bei Hesiod ganz ähnliche und noch stärkere
Gedankensprünge nicht selten sind 72 . - Der Zehnzeiler selbst ist in sich
fertig, ein Vierzeiler schließt sich daran, der dasselbe Motiv aufnimmt
und nun gleichsam | zur Erklärung die Schuld auf die Armut schiebt, die
den Sinn des Mannes erbärmlich mache73.
So hat sich denn der Abschnitt 129-196 als im wesentlichen einheitlich
erwiesen. N u r ein Distichon (147/8) ergab sich als späterer Zusatz, an
zwei Stellen (169 und 179) wiesen formale mehr als inhaltliche Anstöße
darauf hin, daß der Zusammenhang leicht gestört sei, vielleicht durch
kleine Lücken. N u n aber wäre noch einmal auf den A n f a n g des Abschnittes
zurückzugreifen, und es wäre zu fragen, wie er mit dem vorhergehenden
Stück 29-128 zusammenhängt. Dieser erste Hauptteil ließe sich etwa
„ V o n Freunden und Feinden" betiteln, der zweite „ V o n Reichtum und
Armut", und da scheint denn zunächst kaum ein Bindeglied hinüber-
zuführen, wie ja vor 129 in der T a t eine Lücke innerhalb der Gedanken-
reihe klafft. Aber ganz beziehungslos sind die beiden Kapitel dennoch
nicht. Man erinnert sich, daß die erste und allgemeinste Mahnung (29/30)
lautete: „Suche in schmählichem, ungerechtem Tun nicht Ehre, G l a n z
und Reichtum!" Der zweite Abschnitt erfüllt recht eigentlich diese Forde-
rung und die Begriffe <xq£tt| und äqpevog stehen in seinen einleitenden
Versen genau so beisammen wie in jener Mahnung am A n f a n g des
Ganzen. Und nun erkennt man aus einiger Entfernung, die wie so o f t
bessere Ubersicht gestattet, gewisse Zusammenhänge zwischen den beiden
scheinbar auseinanderbrechenden Teilen. Dort handelt es sich vor allen
Dingen darum, dem Hörer den rechten Umgang mit den „Guten" zu
lehren. Hier lief die Gedankenreihe darauf hinaus, daß die Verbindung
mit den „Schlechten" verpönt wurde. So kann man die Einheit der Grund-
begriffe nicht verkennen und wird nur noch einmal fragen dürfen, ob
die K l u f t zwischen dem ersten und dem zweiten Hauptteil Schuld der
Uberlieferung ist, oder ob der Dichter mit 129 einen ganz neuen Einsatz
macht. Eine entschiedene Antwort wage ich nicht, doch sei darauf hin-

72D a ß sich aus dem vielumstrittenen Stobaeusfragment EEVocpcüVTog iv. TOC JIEPI
©Eövviöoq nichts über die ursprüngliche Komposition der Dichtung folgern läßt, hat
Hudson-Williams 86 ff. richtig dargelegt.
73 O b der A n f a n g von 193 aixög TOI xaixr\v unversehrt erhalten ist, darf man be-
zweifeln.
292 Griechische Literatur [592¡594]

gewiesen, daß ja auch bei Hesiod starke Gedankensprünge zwischen in sich


geschlossenen Teilen keineswegs mangeln.
1 9 7 - 2 1 2 . Die große Elegie Xgfiua 5' 6 (xev Aioftev ist bekanntlich in
engem Anschluß des Gedankens und der Form nach einem solonischen
Vorbild, einem Teil der großen Elegie Eig eautöv, | gearbeitet 74 . Das
braucht an sich nicht gegen die Verfasserschaft des Theognis zu sprechen;
denn daß dieser sich solonisches G u t angeeignet hat, schien aus dem
Distichon 154/5 hervorzugehen. Dennoch habe ich Bedenken, unsere
Partie dem megarischen Dichter zuzuschreiben oder sie wenigstens f ü r
den Zusammenhang, in dem sie jetzt steht, gedichtet zu glauben. Sehr
mißtrauisch macht gleich das Se zu A n f a n g . Denn an den beiden Stellen,
w o bisher inhaltlich getrennte Stücke durch Partikeln angereiht waren,
wurden Bedenken laut. U n d hier trifft nun der formale Anstoß mit einem
inhaltlichen zusammen. Nachdem eben von den Geldheiraten des Adels
die Rede gewesen ist, scheint eine Auseinandersetzung darüber, wie die
Götter Ungerechtigkeiten strafen, keinesfalls am Platze 7 5 .
Noch sicherer lassen sich die beiden nächsten Distichen als fremdartig
aussondern. Das eine (209/10) handelt von den Leiden der Verbannung,
das zweite ( 2 1 1 / 2 ) v o m Weintrinken. Man w i r d zwischen beiden selbst
mit größter Mühe keine Beziehung entdecken und auch zu dem, was in
weiterem Abstand vorhergeht und folgt, will sich nicht leicht ein Band
hinüberschlingen. N u n stellt aber unsere Sammlung diese beiden Gnomen
noch einmal an ganz andere Stelle. Die erste kehrt nach 332 wieder, und
da schließt ein Zweizeiler an, der mit dem unsern durch das Schlagwort
<pex>Yetv v e r k n ü p f t ist. Allerdings scheinen die beiden auch an diesem
Orte fremd zu sein. Aber wenigstens treten sie da zu zweien auf und
stammen vielleicht aus einer größeren Reihe, die nach der A r t des
Tyrtaios 7 6 das Unsal der Heimatlosigkeit ausmalte. U n d der andere
Spruch paßt gleichfalls besser dorthin, w o er zum zweiten Male auftritt
(509/10); denn da w a r vorher vom Wein die Rede 7 7 . So | weisen schon
die Tatsachen der Überlieferung darauf, daß fremdartige Stücke ein-
gedrungen sind 78 .
74
v . Wilamowitz, Sappho und Simonides 268.
75
E s ist nicht richtig, wenn Geyso, Studia Theognidea 49 behauptet, alle Stücke, die
aus Solon eingelegt sind, hingen aufs beste mit den benachbarten Sentenzen zu-
sammen. M a n vergleiche auch, w a s oben S. $89 A . 1 gesagt worden ist.
76
Te{>vd|iEvai y ä o xakov am A n f a n g .
77
4 9 7 - 5 0 8 . Freilich sieht man, daß der Sechszeiler 5 0 3 - 8 mit seiner stark persönlichen
und momentanen Färbung unter die drei allgemein gehaltenen Gnomen schlecht
paßt. M a n könnte also Verdacht äußern, ob die anderen von Ursprung an zu-
sammenstehen oder erst nachträglich zusammengestellt sind. A b e r das ändert an
dem Urteil nichts, daß der Zusammenhang hier besser ist als an der ersten Stelle,
genauer, daß nur hier ein Zusammenhang besteht, dort überhaupt nicht.
78
D i e neueren Ausgaben erheben hier nirgends Z w e i f e l an der Uberlieferung. A b e r
Brunck und in den früheren A u f l a g e n auch Bergk haben 2 1 1 / 2 an dieser Stelle
beseitigt.
[594j595] YÜO0HKAI 293

2 1 3 - 2 3 6 . Nachdem wir 1 9 7 - 2 1 2 ausgeschaltet haben, setzt wieder


ein deutlicher Zusammenhang ein. Die Stichworte Jioixi/.ov fjfrog, jcouMmov
opyr) jtoXtmXöy.ou, itoixiXa 8f|vea, jtoixiXa EJtiataaftai lassen den Zweizeiler
213/4, den Vierzeiler 2 1 5 - 8 und den Sechszeiler 2 2 1 - 6 als zueinander
gehörig erkennen, d. h. nicht als Reste eines größeren Gedichts79, sondern
wieder als relativ selbständige, aber doch zu einer Gedankenreihe sich
fügende Einheiten. Die Gnome 219/20 scheint mit ihrer Warnung vor
politischem Radikalismus besser zu späteren Stellen der Dichtung zu
passen, wo in 3 3 1 - 3 3 5 dieselbe Empfehlung des Mittelweges sogar mit
wörtlichen Anklängen wiederkehrt. Aber es läßt sich doch nicht leugnen,
daß von der Lehre: „Kluges Anpassungsvermögen ist besser als starre
Unverständlichkeit" eine deutliche Verbindung hinüberführt zu dem
Gebot: „Laß dich im Bürgerkampf nicht zum Zorn hinreißen, sondern
geh den Mittelweg wie ich!" Immerhin würde diese Gnome hier gut zu
entbehren sein, und der folgende Sechszeiler setzt jedenfalls nicht sie,
sondern die vorhergehenden Gedanken nach einer anderen Seite fort:
„Wenn du, wie ich empfehle und gutheiße, ,bunten Sinn', Gewandtheit
und die Fähigkeit dich anzuschmiegen besitzest, so glaube sie doch nicht
allein zu haben. Wir andern können auch, wir wollen nur nicht." Diese
Wendung muß scharf im Auge behalten werden.
Denn was nun folgt, gehört ersichtlich nicht hierher. Die nächsten
6 Zeilen sind der Schluß von Solons Elegie st? ecuhöv. Schon die An-
knüpfung mit 8e und noch mehr der vollkommen unpassende Inhalt
zwingen dazu, das Stück hier auszuschalten, wie denn schon die dem
Solon nachgedichteten Verse 197-208 ausgeschaltet wurden. Die beiden
Gnomen, die sich anschließen, gehören untereinander zusammen mit ihrem
stark politischen Inhalt. Aber in dieser Gegend des Gedichts sind weder
die „Guten" als „Burg und | Turm" der Stadt zu rühmen, noch ist der
Untergang des Gemeinwesens zu prophezeien.
237-254. Und nun zu der Elegie 2oi ^ev sya> irreq' EÖwxa, die höchst
persönlich von dem Ruhme spricht, der den Namen des Kyrnos im Liede
des Dichters über Räume und Zeiten tragen werde 80 . Das will sich zunächst
gar nicht mit dem, was vorhergeht, zusammenfügen, nicht mit den von
uns ausgesonderten Versen und nicht mit den Gedanken über die Wandel-
barkeit des Betragens. Aber dann hat man noch nicht beachtet, daß all
der Ruhm, den der Dichter seinem Kyrnos verheißt, ja erst die eine
Seite der Sache ist. Die andere kommt nur in dem letzten Distichon
zutage, ganz knapp und herb gegenüber dem klingenden Reichtum der

79 Aus den beiden ersten ist in 1 0 7 1 - 4 eine einzeilige Gnome gemacht worden. Da w i r d
das schöne, alte Polypenbild ausgelöscht, das bekanntlich einer epischen Vorlage
(wie ich, Argolica 54 A . 32, vermutet habe, der Melampoeie) entstammt.
80 Hudson-Williams hat das schöne Gedicht sehr mißhandelt. Seine Umstellungen sind
ganz willkürlich, und der V o r w u r f des „Unkünstlerischen" ist ein gefährlicher Pfeil.
Die Athetese v o n 253/4 mußte oben im Text zurückgewiesen werden.
294 Griechische Literatur [5951596]

vorausgesandten Töne, aber vielleicht um so wirksamer: „Ich aber be-


komme von dir nicht die geringste Rücksicht und Ehrerbietung (aE66g),
sondern wie einen kleinen Jungen täuschest du midi mit Redensarten."
Wenn man sich diese Anklage einprägt, und alles andere nur als den
vorangestellten Kontrast nimmt (avxao in 253 entspricht dem nev in 237),
dann findet man fast ohne Suchen den Zusammenhang mit jenen Sprüchen
von der Versatilität des Geistes und besonders mit deren Abschluß, den
ich vorhin im Auge zu behalten riet. „Klug sein können wir auch,"
hieß es da, „aber mancher (d. h. ich) will eben nicht in unanständiger
Weise vorwärtskommen, während anderen Hinterlist und Treulosigkeit
eher gefällt." Mit den „anderen" wird er aus Kyrnos zielen, und niemand
darf bestreiten, daß sich die Elegie 2ol (xev syd) jueq' eöcoxa trefflich dazu
schickt, nämlich wenn man den Nachdruck, wie sich gebührt, auf das
letzte Distichon legt. J a man mag ohne Scheu 237 an 226 anfügen, wenn
sich auch die Möglichkeit nicht völlig ablehnen läßt, daß etwa mit dem
Eindringen der fremden Stücke 227-236 ein ursprüngliches Bindeglied
verdrängt worden sei.
Diese große Elegie kann offenbar nicht, wie man gemeint hat, ein
Schlußgedicht sein. Man müßte denn - und das hat man auch getan -
das letzte Distichon abtrennen oder athetieren81. N u n | liegt dazu auch nicht
der mindeste positive Grund vor, und der Zusammenhang ist ausge-
zeichnet. Wer diese ganz persönliche Anklage „interpoliert" haben solle
und zu welchem Zweck, das fragt man ebenso vergebens wie bei den
Anfechtungen, die in Hesiods "Epva gar manche der individuellsten und
an persönlichem Erlebnis reichsten Stellen erlitten hat. Und vor allen
Dingen ergab sich uns, daß erst der angefochtene Schluß die Elegie mit
den vorausgehenden Gedanken in Verbindung setzt und so ihren Platz
rechtfertigt.
Daß der harte, kurze und unmotivierte Vorwurf gegen den Freund
nicht das Ende des Gedichtes sein kann, versteht sich von selbst; not-
wendig mußte sehr Persönliches als Erklärung folgen. Aber nun reißt
für eine weite Strecke die einheitliche Gedankenkette ab. Das berühmte
„delische Epigramm" xdXXiotov tö öiv.aiötatov gehört weder dem Theognis,
noch paßt es, was wichtiger ist, an diese Stelle. Dann folgt ein Mädchen-
lied und dann die Reste eines Liebesgedichtes, dann eine Gnome über
die Armut und so fort: die Ordnung ist völlig, aber auch völlig
gelöst. Nicht daß in diesem Wirrsal theognideisches Gut durchaus fehlte.
Ein paar Sprüche an Kyrnos sind da, ein Bruchstück wie 289 ff. vüv öe
xa Tüjv ayaUchv xaxa yiyvtxax, ecft^a xaxoiaiv weist durch Gedanken
und Stimmung auf den Aristokraten von Megara. Doch sei dieses

81
S o Welcker, Theognidis reliquiae 46 f. und Hudson-Williams, der S. 192 von einer
clumsy interpolation spricht!
[596j597] YÜO0HKAI 295

Trümmerfeld hier nicht durchforscht, sondern erst dort wollen wir die
Untersuchung aufnehmen, wo mit 329 eine neue Ordnung beginnt82.
329—366. Zunächst eine zweizeilige Gnome: „Der Kluge, der das
gerade Recht zur Seite hat, holt, auch wenn er langsam ist, den Schnellen
ein." Dann ein anderes Distichon: „Geh ruhig den Mittelweg 83 !" Das
hat scheinbar zu dem Vorhergehenden geringe Beziehung; aber das
„ruhig" weist auf das „langsam" zurück, und in dem Zweizeiler 335/6
werden die beiden Gedanken hinterdrein verschmolzen, wie wir das
schon einmal (bei 153) in solcher ) Spruchfolge sahen: „Eile nicht zu sehr
(knüpft an 329 an), der Mittelweg der sicherste (knüpft an 331 an), und
so wirst du das Gut erreichen, das so schwer zu gewinnen ist." Dann muß
man freilich den beiden dazwischenstehenden Zweizeilern ihren Platz
streitig machen. Sie sprechen in verschiedenem Sinne über das cpeiryeiv und
könnten somit eine Art Komplement zu dem öicdxelv in 329 geben. Aber
darüber hinaus sehe ich nicht, was sie an dieser Stelle sollen. Von 337
an ist dann der Zusammenhang ohne große Mühe in seiner Einheit nach-
zuweisen. Wenn bisher etwas rätselhaft von dem Verfolgen, vom klugen
Benutzen des Mittelweges, vom geraden Recht die Rede war, so ver-
nehmen wir jetzt eine deutlichere Sprache. Ein Vierzeiler zuvörderst
(337-40): „Zeus, gib mir, daß ich Freund und Feind entgelten lasse, was
sie an mir getan84!" Diesen Gedanken führt der folgende Abschnitt
(341-50) fort. Das glühende Begehren nach Rache kehrt hier wieder,
am Schluß bis zum Blutdurst gesteigert, und jetzt erfährt man die Ursache
solches Hasses: Schlimmes hat er erduldet, Feinde haben ihm Hab und
Gut geraubt; wie dem Hund, der einen reißenden Fluß durchschwömmen
hat, so ist ihm alles entfahren, was er besaß. Ganz ungezwungen fügt
sich dazu der Wunsch an Frau Armut (3 51-4), sie möge ihn verlassen und
nicht immer sein elendes Leben teilen. Dann (355-60) eine Aufmunte-
rung, in der Form an Kyrnos, in der Sache an sich selbst gerichtet: „Habe
Mut im Unglück, es wird auch wieder anders kommen. Und laß deine
Schwäche nicht zu sehr merken!" Nun 3 zweizeilige Gnomen: „Leid
bedrückt, Rache erhebt." Wie soll man das Ersehnte erreichen? „Fange
den Feind durch schöne Reden; dann räche dich!" Und noch genauer:
„Halt dich im Zaum, sprich immer freundlich! Nur das Temperament
der Schlechten' ist allzu hitzig (das der ,Guten' ist, wie ich gefordert
habe)."

82
3 2 3 - 8 „Laß dich nicht durch irgendwelche Verleumdung dazu bringen, einen Freund
aufzugeben!" Die öiaißoXiri könnte irgendwie mit dem a-iataig in 254 zusammen-
gebracht werden. Aber das bleibt natürlich durchaus zweifelhaft, und es ist fest-
zuhalten, daß wir über den Zusammenhang des bis 254 reichenden Teiles mit dem,
der 329 beginnt, vorläufig gar nichts wissen.
83
„Und gib suum cuique!" Das ist jetzt in seinem Zusammenhang nicht zu verstehen
und beweist damit auch, wenn es noch nötig wäre, daß vorher das Echte fehlt.
84
Verwandt ist Solon elg eauxov 516.
296 Griechische Literatur [5971599]

3 6 7 - 3 9 8 . Damit endet wieder ein bestimmt nachweisbarer Zusammen-


hang. D e r nächste Vierzeiler ( 3 6 7 - 7 0 ) könnte freilich durch das Stichwort
voüg noch f ü r angeschlossen gelten, so weit er inhaltlich abliegt. Allein
dann folgt eine Kyrnosgnome ( 3 7 1 / 2 ) , die hier ganz fremdartig wirkt,
wenngleich sie an sich echt sein mag. U n d nun w i r d in einer großen
Elegie das Problem der Theodicee aufgerollt. Die vorwurfsvolle Frage
ergeht an Zeus, w a r u m er | denn mit Gerechten und Ungerechten auf
gleiche A r t verfahre, und weiter w i r d geschildert, wie den Gerechten
Armut trifft, und wie ein Leben in Armut das Wesen des Menschen ver-
wüsten kann 8 5 . D a fehlen gewiß die Berührungen zu dem nicht, was w i r
als theognideisch erkannt haben. Aber einmal sind diese Gedankengänge
längst abgeschlossen, und sowenig wir an eine systematische Anordnung
denken dürfen, sowenig liegt irgendein Anzeichen d a f ü r vor, daß an
dieser Stelle von neuem zu solchen Betrachtungen zurückgelenkt werden
sollte. U n d auch von der ursprünglichen Ordnung abgesehen darf man
mit voller Zuversicht sagen, daß dieses Stüde nicht dem Theognis von
Megara angehört. D e r hätte schwerlich den Gegensatz auf den Gerechten
und Ungerechten hingewendet, viel eher auf den „ G u t e n " und den
„Schlechten", und hätte schwerlich den Gedanken entwickelt, daß A r m u t
den Sinn auch der „ G u t e n " zur Sünde führe und sie Lug und Trug lehre.
Sondern viel eher ist in seinem Geiste das Stück 3 9 3 - 8 : „ I n der Armut
zeigt sich erst der ,Gute' und der Niedrige. D e r eine denkt immer gerecht,
der andere hat ebensowenig Verstand im Unglück wie im Glück." Mit
jener großen Elegie wiederum sind die beiden Stücke 7 3 1 - 4 2 und 7 4 3 - 5 2
eng verwandt in Gedanken und Stimmung. Bergk hat f ü r diese Partien
den N a m e n Solon vorgeschlagen. Die Attribution w i r d man schwerlich
vertreten können 84 . Solon tröstet sich mit der Gewißheit, daß auf Sünde
S t r a f e folgt, und nimmt es als Schickung hin, wenn bald der Sünder
selbst, bald seine schuldlosen Kinder und Kindeskinder die Sünde büßen
müssen. Dieser Unbekannte hingegen empfindet das schon als ungerecht
und hadert deshalb mit Zeus. E r hat die ruhige Sicherheit des solonischen
Glaubens verloren und quält sich wie Hiob mit den Fragen nach Gottes
Gerechtigkeit und nach dem Verhältnis von Verdienst und Glück. D a ß
hier eine eigenartige, von Solon ebenso wie von Theognis durchaus ver-
schiedene Persönlichkeit spricht, ist unverkennbar.
Mit 367 also setzt wieder nicht-theognideische Dichtung ein, das
betrachte ich als erwiesen. N u n aber müssen w i r das zuletzt | heraus-
gehobene Bruchstück der „Mahnrede an K y r n o s " (329-66) noch einmal
überschauen. „ V o n Rache", so könnte der Titel lauten. Natürlich läßt

85
3 7 3 - 3 9 2 mit Ausschluß von 3 8 1 / 2 . Dies sah schon Emperius (nach Bergks Angabe),
von den Neueren ist erst Hudson-Williams gefolgt.
86
Vielleicht ist derjenige, dem die Umarbeitung einer solonischen Elegie in den Versen
I 9 7 f f . gehört, identisch mit dem Verfasser der in Rede stehenden Partien. A b e r das
ist unerweislich.
[599¡600] YÜO0HKAI 297

sich dieses Kapitel nicht etwa dort ansetzen, wo der Faden des Gedichts
zuletzt für uns abriß, bei jenem Vorwurf an Kyrnos „du täuschest mich"
(254). Wohl aber erkennt man ohne Mühe, daß der Dichter auch hier an
den allgemeinen Regeln, die er gibt, durch höchst persönliches Schicksal
beteiligt ist, zumal er ja geradezu von dem Verlust seiner Habe berichtet.
Nun entsinnen wir uns, wie der zweite Hauptabschnitt das Thema der
Armut sehr eindringlich behandelte. So wird jetzt noch deutlicher, daß
es seine Armut gewesen ist, von der der Dichter sprach, und jedes Wort
bekommt damit eine viel lebendigere Kraft. Ja, vielleicht ist es nicht zu
kühn, in den „Schlechten", der in die Höhe gekommenen Masse, die-
jenigen zu sehen, die an seinem Unglück schuld sind. Erkennen wir so
einen inneren Zusammenhang der auseinandergerissenen Teile, so ist es
freilich nicht möglich, zu bestimmen, auf welchen Wegen der Dichter sie
verbunden hat, oder auch nur annähernd abzuschätzen, ob die Verbindung
mit 50 oder 100 oder mehr Versen hergestellt war.
629-654. Dies ist noch eine Kette zusammengehöriger Gnomen, die
sich aufzeigen läßt. Es genüge, die Schlagworte anzugeben, damit der
Zusammenhang deutlich werde. Auf der einen Seite stehen die Begriffe
V0C5, 7vd)|xr), ßouXr), dazu tritt aiötog und etwa noch eXrcig. Auf der anderen
Seite erkennt man dnjtXaxiri, cm], djirixaviri, avaiÖEui, jteviri. Schließlich
eiSvoog, exaigog und erögog. Sehr wohl kann diese Spruchreihe im großen
und ganzen intakt sein, und eine Ursache, an der Autorschaft des Theognis
zu zweifeln, sehe ich nicht, während z. B. in dem durch das Stichwort
oivo; gekennzeichneten Abschnitte 496-510 zum mindesten die Verse
503-8 schon durch die Anrede an Onomakritos andern Ursprung ver-
raten. Aber das erhaltene Stück ist doch zu klein, als daß man imstande
wäre, zu sehen, wo das Ganze hinaus soll und wie es etwa mit den
übrigen Stücken der Theognisdichtung zusammenhängen könnte.
753-756. Man hat vermutet87, daß das „Schlußgedicht des | Florilegs"
oder, wie es nach unserer Anschauung vielmehr heißen müßte, die Schluß-
verse der theognideischen „Mahnrede an Kyrnos" in dem Vierzeiler
Taita jiorfh&v, cpiX' exaios erhalten sei. Dieser ist ohne Zusammenhang mit
dem, was vorausgeht. Denn das müßte nach seinen Anfangsworten Lehre
und Mahnung sein. Es sind aber tatsächlich jene leidenschaftlich zweifeln-
den Ergüsse an Zeus, von denen vorher die Rede war. Wir haben sie dort
dem Theognis abgesprochen. Um so eher kann ihm der fragliche Vierzeiler
gehören, der hinter ihnen keine passende Stelle hat. Und daß es ein
Schlußgedicht ist, ergibt sich nicht nur aus dem Rat „diese Worte stets

47
Geyso, Studia Theognidea, Diss. Straßb. 1892. Der Verfasser vertritt die Florileg-
theorie, und die Zusammenhänge, denen er unter diesem Gesichtspunkte nachgeht,
sind vielfach mehr herbeigezwungen als ohne Vorurteil gefunden. Aber damit soll
nicht geleugnet werden, daß die Arbeit manche gute Beobachtungen enthält, und der
Versuch, den Zusammenhang des Ganzen nachzuweisen, ist trotz des falschen Prin-
zips und der Übertreibungen anzuerkennen.
298 Griechische Literatur [600/601]

zu bedenken" und aus der daran geknüpften Verheißung; es spricht dafür


auch, daß dann mit den Gebeten an Zeus und Apoll ein neues, völlig
selbständiges Gedichtbuch zu beginnen scheint88. So wäre es denn in der
Tat sehr verlockend, diese vermutlich theognideischen Schlußzeilen dem
„Mahngedicht an Kyrnos" zuzuweisen. Eine Schwierigkeit freilich, die
nicht verhüllt werden darf, enthalten die Worte: „Dies lerne und erwirb
dir auf redliche Weise Geld!" Wir wissen nicht, ob Gelderwerb ein so
wichtiger Punkt in der Dichtung war, um einen Abschluß dieser Art
zu rechtfertigen. Es muß also bei der Möglichkeit bewenden.
Wir stehen am Ende einer langwierigen Untersuchung, deren Ergebnis
noch einmal kurz zu überblicken wäre. In der Theognissammlung ist uns,
zu Anfang unvermischt, später in immer wachsendem Maße mit fremd-
artigem Gut durchsetzt, ein Buch des Theognis von Megara erhalten. Es
beginnt mit einem Prolog, nennt dann als „Siegel" den Namen des
Dichters und führt mit einer Verkün|digung „ich will euch raten" zum
eigentlichen Thema. Wir erfahren von der socialen Umwälzung, die sich
in der Stadt vollzogen hat, und vernehmen Ratschläge über den Verkehr
mit Menschen und über die Wahl des Gefährten und Freundes. Dann
springt die Erörterung zum Thema „Reichtum und Armut" über, bezeich-
net beides als Gottesgabe und warnt vor den schlimmen Folgen, besonders
vor der Verbindung adligen Blutes mit der neuen Geldsackaristokratie.
Nach einer Lücke stehen Mahnungen zu List und Schlauheit, dann die
große Rede an Kyrnos von dem Ruhm, den der Gefeierte durch den
Dichter haben werde, und von dem schlechten Lohn, den er ihm mit
seiner „Täuschung" zahle. Hier bricht es ab. Noch ein größeres Stück ist
weiterhin erhalten, von der Armut, in die der Dichter durch seine Feinde
gekommen sei, und wie man sich rächen könne. Sonst gibt es nur kleinere
Brocken und vielleicht das Schlußgedicht.
Das Buch setzt einzelne Stücke, vom Zweizeiler bis zur umfänglichen
Elegie, meist ohne jede Verbindung aneinander. Ist es darum ein
„Florileg" oder eine „Ausgabe der gesammelten Gedichte", vom Ver-
fasser selbst hergestellt und eingeleitet? Vieles spricht dagegen. Wir
erkennen einen deutlichen Gedankenfortschritt durch die einzelnen Teile,
einen deutlichen Zusammenhang der Teile untereinander. Wir können
dem großen abgesprengten Brodken seine notwendige Beziehung zu dem
erhaltenen Anfang des Werkes nachweisen. Kaum jemals sagen zwei
88
E s stammt von einem megarisdien Dichter, und die einleitenden Elegien weisen
auf das J a h r 480. O b man es dem Theognis von Megara zuschreiben will, hängt
davon ab, wie man den A n s a t z der Chronographen auf ungefähr Ol. 58 beurteilt.
Beloch, Jahrb. f. Phil. 1 8 8 8 , 7 3 1 , und v . W i l a m o w i t z in der Literaturgeschichte v e r -
lassen dieses D a t u m zugunsten der Datirung auf den Persersturm, während z. B .
E d . M e y e r , Gesch. d. A l t . I I I § 2 1 2 , daran festhält und daher die betreffenden Elegien
des Jahres 4 8 0 einem anonymen megarisdien Dichter gibt. G a n z unerlaubt scheint
es mir, wenn Bergk P L G I I 4 1 9 7 , Rohde K l . Sehr. I 1 24, Hudson-Williams 10 f.,
die in 7 6 4 und 7 7 5 erwähnte Persergefahr in die Mitte des V I . Jahrhunderts setzen.
[6011602] YÜO0HKAI 299

Gedichte ganz dasselbe, nirgends finden wir einen Sprung auf fremdes
Gedankengebiet, wenigstens in den Teilen, die uns als unversehrt gelten
dürfen. Wohl aber haben wir wiederholt beobachtet, daß zwei Gnomen
scheinbar ohne Zusammenhang nebeneinandergestellt wurden, und daß
dann erst eine dritte die Beziehung der beiden und die Bedeutung für das
Ganze aufklären mußte. Und an ein kurzes Gedicht erinnern wir uns,
das zwar formal in sich geschlossen war, aber überhaupt nur dadurch
seinen Sinn erhielt, daß in ihm der fortschreitende Gedanke des Ganzen
nach einer anderen Seite umbog. Dies alles schließt ein „Florileg" völlig
aus, macht aber auch die Annahme, hier lägen „Gesammelte Gedichte"
vor, so gut wie unmöglich. Man sehe nur zum Vergleich Goethes Reim-
sprüche durch. Gewiß hat sich da nah Verwandtes vielfach zusammen-
gefunden. Aber wo eine größere Reihe in Form und Inhalt zusammen-
hängt, wie etwa die Farbensprüche in dem Abschnitt „Gott, Gemüt und
Welt", da | kann an einheitlicher Entstehung auch gar kein Zweifel sein.
Doch bleiben wir in der antiken Literaturentwicklung, um zu fragen:
gibt es überhaupt solches Werk, das durch Proömium, „Siegel" und An-
kündigung als einheitlich bezeichnet wird, auch in seinem Gedanken-
zusammenhang einheitlich ist, und das doch eine Sammlung darstellt?
Ich wüßte keins zu nennen 89 . Wohl aber weiß jeder, welches die nächste
Analogie für das Theognisbuch ist: das sind Hesiods "Egya. D a haben
wir dieselbe Verbindung in sich geschlossener Einzelteile zu einem Gan-
zen, haben dieselbe Mischung allgemeiner Lehre und höchst persönlicher
Aussprache 90 , haben auch neben längeren Abschnitten zusammenhän-
gender Erörterung jenes Fortspinnen des Gedankens durch aneinander-
gereihte Sprüche, wobei nur dem Stichos bei Hesiod naturgemäß das
theognideische Distichon entspricht 91 . Gewiß sind auch Unterschiede vor-
handen. Bei Theognis ist die formale Isolierung der Teile noch etwas
stärker. Sodann fehlt das Mythische, und die Didaktik des „Bauern-
kalenders" hat bei ihm auch nichts Entsprechendes. Was aber wollen diese
Abweichungen gegenüber der großen Ähnlichkeit besagen?
N u n hat ja für Hesiods Werk Kirchhoff den Gedanken durchzu-
führen versucht, es sei eine vom Dichter selbst nachträglich veranstaltete
89 Den Stephanos des Meleager als Kontrast heranzuziehen, ist lehrreich.
90 Man darf als wahrscheinlich annehmen, daß uns bei Theognis gerade von dem Per-
sönlichen mancherlei verloren gegangen ist. So etwas wie 805 ff. geht natürlich auf
ein bestimmtes Ereignis.
91 Fälle, wo solche Entsprechung wirklich nachzuweisen ist, sind bekanntlich vor-
handen. Man vgl. Theogn. 831/2 mit Erga 372. Und der Vierzeiler 425-8 II&VTCOV
Hev nf| «püvai ist so gut wie sicher aus den zwei Hexametern erweitert, die im
'Ay<s>y '0|J.r|(jou xal 'Haiööou stehen. Es ist bedauerlich, daß Hudson-Williams 2587
noch immer den Alkidamas für den 'Aydiv verantwortlich macht nach dem, was
Ed. Meyer i. d. Z. X X V I I , 1892, 377, bewiesen hat. Vgl. auch Busse, Rhein. Mus.
L X I V 113, und Allen, Journ. Hell. Stud. X X X I 1254, dem ich aber nicht zustimme.
Bakchyl. V 160 scheint aber auf Theognis zurückzugehen, da er den Pentameter
paraphrasiert.
300 Griechische Literatur [6021604]

Sammlung eigener älterer Poesien. Die These ist, wenn auch keineswegs
allgemein aufgegeben, doch in Wahrheit widerlegt und unhaltbar. Unsere
Darlegung in Kapitel I hat selbst für jene lange, verbindende Gnomen-
reihe die Zugehörigkeit zum Plan des Dichters erwiesen. Daß die Erga
(bis zum „ Schifferkalender" oder | mindestens bis zum „Bauernkalender"
einschließlich) von vornherein als einheitliche Dichtung konzipiert sind,
daran kann heute nicht mehr gezweifelt werden. Des Theognis „Mahn-
reden an Kyrnos" stehen literarisch in der Reihe, die von Hesiods „Mahn-
reden an Perses" eröffnet wird. Die inneren Schwierigkeiten, die sich auf-
tun, sobald man das Buch des Theognis als Sammlung auffaßt, sind vorher
dargelegt worden. Jetzt zeigt sich, daß die literargeschichtliche Einord-
nung zu demselben Ergebnis führt. Mag immer dieses oder jenes einzelne
Stück selbständig entstanden sein: einmal ist doch im Geist des Dichters
der Plan des Ganzen aufgetaucht, und dann sind in der Beziehung auf
diesen Plan des Ganzen die Einzelteile vom kurzen Spruch bis zur aus-
geführten Elegie geformt und aneinandergefügt worden. Es sind eigen-
artige Gebilde, diese 'Yjtoftrjxai, und die Antinomie, daß wir hier einerseits
eine Reihe selbständiger, abgeschlossener Gedichte vor uns haben, und
daß solche Einheiten wiederum Teile eines umfangreicheren Ganzen sind,
bleibt bestehen. Aber dies gerade freut, neue Gestalten zu begreifen, und
niemand darf glauben, daß unsere Kenntnis den Reichtum antiker Lite-
raturformen ganz umfasse oder alle Möglichkeiten erschöpft habe: JtoXXod
l-iopqpai tcüv öainovicov.

j. Demokrit

Daß sich die poetische Form der 'Yjiodijxai, wie wir sie, schärfer als in
der Regel geschieht, bei Hesiod und Theognis herausgearbeitet haben, in
der Prosaliteratur fortsetzt, in den Paränesen an Demonikos und N i -
kokles und noch in den ú-tottetixoí Xóyoi der späteren Zeit, ist bekannt
genug92. Hier soll nur über eine der ältesten unter diesen prosaischen
wtoflfjxai einiges gesagt werden, nicht als ob sich viel Neues darüber er-
mitteln ließe, aber weil wir meines Erachtens zuversichtlicher urteilen
können, als es gegenwärtig den Anschein hat.
Euseb gibt im XIV. Buch der Praeparatio ein großes Stück kluger
und scharfer Polemik wieder, die Dionysios „der Große", Bischof von
Alexandrien, gegen Epikurs Lehre richtete93. Dort wird in einem | Zu-
sammenhang, der hier nichts austrägt, der Vorrang geistiger Betätigung
dadurch dargetan, daß selbst Demokrit ihn anerkenne mit dem Satz
ßovXeadai ¡lä^Aov [úav evqeiv amoXoyíav r| tr^v ITeqocóv oí ßaaiXeiav •yEvÉafrat.
92
J . Bernays, Ges. A b h . I 266 ff. Wendland, Anaximenes von Lampsakos 81 fT.
«3 Über Dionysios s. Harnack, Chronologie der altchristl. Literatur I I $ 7 ff. Die für
Demokrit in Betracht kommenden Stücke bei Diels-Kranz, Fragmente der V o r -
sokratiker 68 [ j j ] B 1 1 8 . 1 1 9 .
[604¡605] YÜO0HKAI 301

Und diese Erwähnung des verfehmten Namens benutzt der heilige Mann,
um einen Angriff gegen den Philosophen einzufügen, der sonst so ver-
kehrte Ansichten aufgestellt und den „ Z u f a l l " zum beherrschenden Prin-
zip der Weltentstehung gemacht habe. Freilich habe er ihn vom Menschen-
leben ausgeschlossen, wie den Anfangsworten seiner „iijtoflfjxai" zu ent-
nehmen sei. Dionysios zitiert nur einen Satz und fährt dann mit eigener
Polemik fort, während uns das Demokritfragment in vollständigerer
Form bei Stobaeus erhalten ist 94 . Ob i)jtoftf|y.ou als Schriftentitel gemeint
sei oder rein appellativ „Mahnungen" bedeute, darüber läßt sich nichts
Gewisses ausmachen, und das Urteil schwankt, ob die Schrift zu einem
der durch Thrasyll erhaltenen Titel gehöre oder ob wir in ihr eine aus
Demokrits Werken ausgezogene Spruchsammlung zu erkennen hätten 95 .
Genaueres Betrachten des erhaltenen Bruchstücks möchte jedoch eine
Entscheidung möglich machen. Sei es also zunächst vorgelegt: avftgcojioi
TÚJCT1S eiöcdXov éjtXáaavTO ngcxpaaiv I8ír|g äßou/.ir|c;. ßaia yág <poovf|oei tú/t)
( i á x e t a i , t a 6é i d E i a t a ev ßicoi eüIíiveto; 0§u0eqxeít] xaTtfrvvEi. Dionysios teilt
uns mit, daß diese Sätze „am A n f a n g " der Schrift gestanden haben. Dabei
könnte es sich noch immer um eine willkürliche Sammlung exzerpierter
Sprüche handeln, wobei dieser Spruch etwa zufällig an die erste Stelle
geraten wäre. Demgegenüber lehrt in Wahrheit die Interpretation, | daß
die Worte einen Anfang bilden oder wenigstens sehr gut bilden können.
Der erste Satz freilich erweckt diesen Eindruck zunächst noch nicht. Aber
der Aczent liegt auf seinem Schluß: U m ihre eigene Torheit zu beschö-
nigen, haben die Menschen sich das Idol des Zufalls gebildet. Denn mit
der Klugheit, der wirklichen Klugheit, kommt der Zufall nur selten in
Konflict. Gewiß soll sein Vorhandensein nicht geleugnet werden. Aber im
allgemeinen vermag menschlicher Verstand ihn zu benutzen und zu zwin-
gen. „ D a s meiste im Leben weiß ein wohlverständiger Scharfblick ins
Gerade zu richten." Der Schriftsteller beginnt an einem Punkt, der dem
Ziel entgegengesetzt ist, und geht dann mit festen Schritten dorthin, wo
sein Thema beginnen soll. Achtet man auf die Begriffe aßouXiri96, (ppcwiaig

94
D a s Richtige gibt Diels. Lortzing hatte in seiner sehr umsichtigen und, wie sich
zeigen, wird, im wesentlichen das Richtige treffenden Abhandlung Über die ethischen
Fragmente des Demokrit S. 1 5 die demokriteischen Worte falsch abgegrenzt. Nicht
Demokrit sagt, die Menschen hätten die V e r n u n f t gänzlich beseitigt und den Z u f a l l
an, ihre Stelle gesetzt und für das Vernünftigste erklärt. D a s sagt Dionysios und
schließt damit den Demokrit selbst unter die Angegriffenen ein, der in seiner W e l t -
erklärung ja die T y d i e zum Prinzip gemacht hat. Richtiger als Lortzing, aber doch
nicht ganz, urteilte N a t o r p , Die Ethika des Demokritos 97.
95
D a s erste ist die Meinung von Lortzing a. a. O . (vgl. auch Freudenthal, Rhein. Mus.
X X X V 408 A . 1). Die zweite Ansicht w i r d vertreten von Hirzel i. d. Z . X I V , 1 8 7 9 ,
3 8 3 ff.; Zeller, Phil d. G r . I 5 846 A n m . ; N a t o r p a. a. O . 56. Diels in der Anmerkung
der Vorsokratiker entscheidet sich nicht.
96
Nicht eigentlich „Ratlosigkeit", sondern „Übelberatenheit"; cpQÓVT|Oiq ist der Gegen-
satz. Crönert im Wörterbuch hat die Stelle nicht richtig eingeordnet. Ebenso falsch
(„indecisión") L i d d e l l - S c o t t - J o n e s .
302 Griechische Literatur [605¡606]

und 0|v6eqxeít|, und übersieht man die Gedankenbewegung vom Anfang


bis zum Schluß, so wird deutlich, wie gut diese Sätze an die Spitze einer
praktischen Morallehre passen. Auf welche Weise „verständiger Scharf-
blick die Dinge ins Gerade richtet", das sollen eben die „Mahnungen"
lehren, die nunmehr als folgend zu denken sind.
Aber es zeigt sich nicht nur, daß dies ein Eingang sein kann, es läßt
sich weiter beweisen, daß es ein archaischer Eingang ist97. Demokrit
beginnt mit der Torheit „der Menschen", um bei seiner eigenen Weisheit
zu enden. Ganz ähnlich setzt Heraklit ein98. Auch für ihn sind „die Men-
schen" stets unverständig; alúvetoi sagt er, wie Demokrit von der eíilúvEtog
oiuöepxeiri spricht. Und im Gegensatz zu ihrer Stumpfheit steht „dieser
Xóyog", den er hier vortragen will. Ganz gleichartig sind allerdings die
beiden Eingänge nicht. Demokrit hat das gute Zutrauen, daß seine
ethischen Sätze die Menschheit zu „wohlverständigem Scharfblick" er-
ziehen werden, wenn sie auch törichte Anschauungen hat. Heraklit glaubt
im Grunde an keine klärende und bessernde Wirkung. Ihm sind die
Menschen nicht nur unverständig, sondern sie sind ohne Verständnis für
„diesen Xóyog", für das in allem waltende Gesetz, und nicht nur jetzt,
sondern immer, auch wenn sie es von ihm vernommen haben werden. So
liegt denn der Unterschied zwischen den beiden Proömien nidit sowohl
im Gegenständlichen als in der Färbung, die die gegensätzliche Sinnesart
der beiden Denker darüber breitet.
Der Kontrast zwischen dem, was die andern glauben oder sagen, und
dem, was der Schriftsteller lehren will, beherrscht auch das berühmte
Proömium des Hekataios von Milet 99 . „Dieses schreibe ich, wie es mir zu
sein dünkt. Denn die Reden der Griechen sind so zahlreich als lächerlich,
wie es mir scheint." Die Struktur ist von der demokriteischen ebenso ver-
schieden, wie das historische Werk von der moralischen Belehrung. Aber
die Pole, um die das Ganze schwingt, Torheit der andern und Richtigkeit
des eigenen Wissens, sind hier und dort dieselben. So ist denn der Ver-
gleich mit Heraklit und Hekataios beweisend dafür, daß unser Demokrit-
fragment wirklich am Eingang einer archaischen Schrift gestanden hat100.
97 D a ß Epikur diese Worte benutzt hat, ist evident. Die i6te seiner Kújjiai S ó i a i zeigt
die Umbildung in allen Einzelheiten.
98 Frg. i D . Bekanntlich hat B y w a t e r in seiner Ausgabe Frg. 50 D . an den A n f a n g
gesetzt und Patin, Heraklits Einheitslehre (Prog. des Ludwigsgymn., München 1885)
52 ff., hat scharfsinnig und ausführlich denselben Gedanken begründet. Ich darf die
Frage hier um so mehr auf sich beruhen lassen, als es für meine Erörterung nichts
ausmacht, ob noch die Worte oijx Euoi, áXha toí XÓ70U á x o i i a a v T a ; óno^oyeív
oocpóv éffxiv ev jtávTa elvai vor toü be. Xóyov tovSe EÓvxog áeí vorausgingen. Es
scheint aber in der T a t Patins Beweisführung die Stringenz nicht zu haben, die ihr
Boll (Blätter f. d. Gymnasialschulw. X X X 583) nachrühmt. Diels wenigstens hat den
unabhängigen Zeugnissen des Aristoteles und Sextus, wonach Frg. 1 „am A n f a n g "
gestanden habe, mit Recht den Glauben nicht versagt.
99 F H G I 25 Frg. 332 aus Demetrios Jt. ÉO|X. 12.
100 A l s eine Umkehrung dieses Typus kann der A n f a n g von Archytas' Harmonik (Diels-
[606¡607] YÜO0HKAI 303

D a nun unmöglich der christliche Bischof ein echtes Werk des Demokrit
lesen konnte, ohne daß es in den Katalogen der alexandrinischen Biblio-
thek oder, was auf dasselbe herauskommt, in dem uns erhaltenen V e r -
zeichnis des Thrasyllos stand, so müssen w i r fragen, mit welchem der
überlieferten Titel die 'Yjtotfjxai identificirt werden können. Dabei ist es
unwesentlich, ob diese Bezeichnung geradezu als Titel gelten oder nur den
Inhalt des Buches angeben sollte, ob das Buch nur Mahnungen enthielt
oder auch „Mahnungen" hieß. |
Soviel erscheint gewiß, daß mit der zur Erörterung stehenden Schrift
das berühmteste ethische Werk Demokrits IIEQI eMi^íris nicht identisch
sein kann 1 0 1 . Denn dessen A n f a n g w a r , wie Seneca (De tranquillitate 1 3 )
lehrt, das wohlbekannte Wort TÖV EMV|xeíafrai IIEXXOVTOC /QT) |iri jtoXXá
jtQT)aaEiv... (Frg. 3), stimmt also nicht mit den Einleitungsworten der
imoftfjxai. U n d zu dieser äußeren Diskrepanz, der man sich vielleicht noch
entziehen könnte 1 0 2 , treten sachliche Erwägungen mitentscheidend hinzu.
Z w a r ist es ganz unmöglich, sich aus Senecas Schrift D e tranquillitate und
aus Plutarchs Schrift I I E Q Í EÜFTUNÍAG ein Bild von Demokrit zu machen 103 .
Nicht nur, daß Plutarch erwiesenermaßen dem Panaitios folgt; er und
Seneca zeigen einen so eminent fortgeschrittenen Typus des Philosophie-
rens, Schilderungen, wie sie Seneca von dem Charakter des rastlos U n -
befriedigten entwirft, sind vor Theophrast so undenkbar, daß hier f ü r
archaisches Denken - und Demokrits Ethik ist im wesentlichen archaisch
- nichts zu gewinnen sein kann. Wohl aber läßt die Betrachtung des Titels
und der Fragmente einiges über das verlorene Werk wissen. Nicht ohne
Grund findet es sich auch unter dem N a m e n JIEQI xilow; citirt 104 . Eí>^t)|xír|
ist der Zentralbegriff der demokriteischen Ethik, der einzige generelle

Kranz, Vorsokr. 4 7 [ 3 5 ] B 1) betrachtet werden. D a geht der Sdiriftsteller nicht


vom Tadel der andern aus, sondern von ihrem, Lobe: xaXräg |xoi Sov.oivti TOI JTE¡H
TA (XAÖR||A,ATA 8iayvró(xevai.. . qpQovéeiv.
1 0 1 Hirzel i. d. Z. X I V , 1879, 386, trug die Vermutung vor, die vjtodfjxoi seien dieselbe

Schrift wie jieqI Eufrufúrig, nur ohne die polemische Einleitung. Das steht ganz in
der Luft.
102 B e ¡ Seneca steht Democritum ita cepisse, was man im allgemeinen als coepisse deutet.
Koch hingegen und mit ihm N a t o r p schreibt (prae)cepisse. Der Rhythmus scheint
nach keiner Weise zu entscheiden; doch ist das eine wesentliche Änderung, während
die Schreibung coepisse nur die Uberlieferung deutet. Es kommt hinzu, daß dieses
Fragment mit 4 Zitaten (Stobaeus, Plutarch, zweimal Seneca) und 2 Umbildungen
(Marc Aurel und Sextussprüdie) am häufigsten von allen Demokritgnomen angeführt
und benutzt wird, besonders auch, daß Plutarch im zweiten Kapitel seiner Schrift
jtEQi EÜdun'iag ohne Namensnennung den Demokrit bezeichnet mit dem W o r t ó uév
oív e'ijtwv 8TI 8eí TÖV £Ú0uu£Íadcn (lÉXXovTa . . . Dies alles weist darauf hin, daß
coepisse richtig ist.
103 So Hirzel i. d. Z. X I V , 1879, 354 ff. Dyroff, Demokritstudien 1 3 1 , macht sich ein
Bild von x. EÜdi>[úr|g, das aus Stob. Ecl. 7, 3 (Wachsm. II p. 53) zu stammen scheint.
Aber an dieser Stelle werden nur in bestimmter Absicht einige Demokritsätze zu-
sammengestellt, wie Dyroff 1 3 7 selbst zugibt.
104 F r g . 4 D. aus Clemens. Auch von Epikur gab es ja eine Schrift nsgl zéXovg.
304 Griediisdie Literatur [607¡609]

und systemjbildende B e g r i f f , mithin der einzige Punkt, w o diese Ethik


aus dem Stadium praktischen Moralisierens heraustritt und Wissenschafts-
charakter gewinnt. So erwarten w i r diesen Begriff in der verlorenen
Schrift entwickelt und in seine praktischen Konsequenzen verfolgt. Es ist
demnach unzweifelhaft, daß ihr einige der ausführlichsten ethischen Frag-
mente zuzuschreiben sind, die den Begriff der „Wohlgemutheit" erörtern:
außer Frg. 3, das den A n f a n g gebildet hat und das Wesen des „Wohl-
gemuten" zunächst einmal praktisch entwickelt, v o r allem Frg. 1 9 1 und
2 3 5 , aber auch 1 7 4 , 297 und andere 105 . Hingegen spricht nichts dafür,
auch die kurzen Gnomen allesamt jener Schrift zu geben. Gewiß ist es bei
keiner einzigen völlig ausgeschlossen, da wir U m f a n g und Anlage des
Werkes nicht kennen. Aber man greife nur einige Beispiele heraus:
Frg. 193 „Klugheit verrät es, sich v o r einer drohenden Beleidigung zu
hüten, empfindungslosen Stumpfsinn dagegen, eine erlittene nicht zu
rächen." Frg. 196 „Vergessen der eigenen Mängel 1 0 6 erzeugt Frechheit."
Frg. 239 über Eide, die in der N o t geschworen sind, Frg. 270 über die
Verwendung der Diener. Welche Wahrscheinlichkeit hätte es, auch diese
Sätze in irgendeine Beziehung zu jenem Zentralbegriff zu bringen und
dem Buch, das ihn entwickelte, zuzuschreiben 107 ? G a n z vortrefflich hin-
gegen fügen sie und viele andere sich der Bezeichnung iuw&fjxai. M a n w i r d
ja gar nicht selten durch Form und Inhalt geradezu an Hesiod und
Theognis, also an die poetischen iitoftfixai erinnert 108 . M a n denkt bei
Demokrits Wort (Frg. 220) xaxá xegöea ?r](xtr]v ápEtrjg «pégsi unwillkürlich
an Hesoid 352 |iri y.axá xeqóclíveiv, y.ay.á nigöea la' atr|iaiv, der Satz cpaScó ¡
xoi xat Xi|xög xgt|atr), év xaipwi 8e xai öaitavn, yivwaxeiv 8e ayadoij (Frg. 229)
sagt nur mehr ins Allgemeine und Begriffliche übertragen dasselbe wie
Hesiods berühmte Verse 368 f f . aQ/o|iévov öe júftov xaí XriyovTog xogéaaaftou,
[xsaacrfti qjsiÖEO'&ai' 8eilr| 8' éví jrufyiévi (peiöü).
Dieser Vergleich aber mit den dichterischen „Mahnreden" geht über
den Wert einer Analogie hinaus. Es zweifelt ja niemand, daß die pro-
saische Spruchweisheit des V . Jahrhunderts zu der prosaischen des V I I .
und V I . in demselben Verhältnis steht, wie es uns zwischen Poesie und
Prosa etwa auf dem Gebiet epischer Erzählung und naturphilosophischer
Systembildung entgegentritt. Wenn w i r uns aber dieses Zusammenhangs

105 Diels zu Frg. 4.


106 So scheint mir xaxwv richtiger wiedergegeben als mit „Leiden".
1 0 7 Ähnlich urteilen Natorp 55 ff. und DyrofT 138: „Offenbar hat sich Demokrit damit

begnügt, sein allgemeines sittliches Ideal in der Schrift über die Euthymie zu ent-
wickeln und bei diesem Begriff stehenzubleiben, indessen er in seiner Tritogeneia
oder wo er sonst seine Lebensregeln aufstellte, ohne engen Zusammenhang damit
seine Erfahrungen und Ansichten wiedergab."
108 Natorp 63 ff. Ed. Meyer, Papyrusfund von Elephantine 124, weist auf Berührungen
der Demokritgnomen mit dem Orient hin in Stoff und Form. Eine für die Hypo-
thekai wichtige Aufgabe ist damit in Angriff genommen und verdient weitere
Forschung.
[6091610] YIIO0HKAI 305

bewußt werden, so lassen sich vielleicht einige Schlüsse ziehen. Man


braucht durchaus nicht nur ganz kurze Sentenzen aneinandergereiht zu
denken, die Analogie läßt auch für längere, mehr erörternde Stücke Platz.
Und vor allen Dingen verbietet sie, ein Buch wie die demokriteischen
„Mahnungen" als ein Chaos durcheinander geworfener Sprüche zu den-
ken. Sondern notwendig müssen leitende Gedanken von einem Spruch
zum andern geführt und das Ganze oder wenigstens Teile mehr oder
minder fest zusammengehalten haben. Was uns unter den Schriften des
Isokrates an verwandten Schöpfungen erhalten ist, die Reden an Demoni-
kos und an Nikokles, bestätigen das einigermaßen, wenn auch das ord-
nende Prinzip sich in ihnen viel schwächer bemerkbar macht als bei
Theognis und Hesiod 1 0 9 . O b Demokrit hierin den Dichtern enger ver-
wandt war, läßt sich von vornherein nicht sagen, wenngleich es naheliegt,
dem Philosophen einen stärkeren Willen zur Einheit zuzutrauen als den
Sophisten und Rhetoren. Wohl aber dürfen wir mit den demokriteischen
Gnomen die aphoristisch geprägten Kernsätze des Heraklit formell auf
dieselbe Stufe stellen, und so sei zu Vergleich und Bestätigung schließlich
angeführt, was U. v. Wilamowitz über die Schrift Heraklits urteilt:
„Natürlich bestand sein Buch nicht aus Apophthegmen; Späne liefert nur,
wer nicht aus ganzem Holze zu schnitzen vermag. Es wird sich schon ein
Gedankenfortschritt haben verfolgen lassen. Aber künstlerisch ge|formt
war nur der Ausdruck des einzelnen Gedankens 1 1 0 ". Ganz Ähnliches läßt
die Analogie für Demokrits wofrfjxai voraussetzen.
Ist man diesen Erörterungen gefolgt, so wird man fragen müssen, ob
nicht noch trotz unserer auflösenden Uberlieferung Reste der alten Ab-
folge zu finden seien. Möglich wäre das natürlich nur dort, wo uns ganze
Reihen von Sprüchen mitgeteilt werden, also in der „Demokrates"-
Sammlung und bei Stobaeus. Der sogenannte Demokrates gibt einen
kümmerlichen Auszug, der sichtlich nur die kürzesten Gnomen aufnimmt,
während Stobaeus sehr viel größeren Reichtum bietet. Aber man weiß,
daß die beiden Uberlieferungen sich nicht selten berühren und wahr-
scheinlich auf dieselbe Vorlage zurückgehn 111 . Das war dann entweder
109 Dabei sdieint doch für die Rede an Nikokles Erweiterung durch Einschub von Gno-
men wahrscheinlich; vgl. Drerups Praefatio in seiner Ausgabe p. C X L I V sq.
110 Ich weiß nicht, ob Diels in der Einleitung zu seinem Herakleitos von Ephesos nicht
zu modern denkt, wenn er sich Heraklits Sätze „als Kinder augenblicklicher Stim-
mungen und Beobachtungen" vorstellt und von „Notizen, Tagebuchblättern, iijtO|rvr|-
ixata" spricht. Der Vergleich mit Nietzsches Zarathustra trifft insofern nicht zu, als
dort der Einzelabschnitt durchaus künstlerische Einheit ist, ja in einigen Fällen sogar
erst die Mehrheit von Abschnitten zu einer künstlerischen Einheit zusammengeht.
111 Gemäß dem Nachweis von Lortzing a. a. O. 11. Übrigens kommt noch ein Faktor
der Unsicherheit dadurch in unsere Rechnung, daß so gut wie sicher i Schriften
Demokrits, IIegI eiiduuiri; und die 'Yitodfjxou, bei Stobaeus benutzt sind. Ja, wer
die Zahl der Quellenschriften noch erhöhen will, läßt sich nicht strikt widerlegen.
Ein zweites Moment der Unsicherheit kommt dadurch hinein, daß Frg. 41 auch bei
Stobaeus das Lemma AtinoxgdTou; trägt.
306 Griechische Literatur [6101611]

der echte Demokrit oder auch schon ein Auszug. Wäre der erste Fall
gegeben, so dürften wir sicher sein, die ursprüngliche Reihenfolge wenig-
stens in Resten bewahrt zu finden. Da es jedoch durchaus ungewiß ist, so
liegt von vornherein nur die Möglichkeit vor. Diese Möglichkeit läßt sich
aber für einige Stüdke zu hoher Wahrscheinlichkeit erheben.
Bei Stobaeus stehen in dem Kapitel jieqi dcppocriivTig (III 4) hinterein-
ander 10 Demokritgnomen (197-206 D.), von denen 8 das Wort dvorinove?
an der Spitze tragen und auch sonst gleichartig geformt sind. Nun ist es
schon an sich wenig glaublich, daß solche Sprüche über das ganze Werk
oder über mehrere zerstreut gewesen und dann allesamt von dem Ver-
fertiger des Florilegs zusammengesucht worden wären 112 . Ich erinnere an
die Seligpreisungen | der Bergpredigt mit ihrem ständig wiederkehrenden
Haxagioi ol jita>xoi, oti . . . . [¿axagioi oi jtevfroivxEg, öti . . . . oder an den
Faust „Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern, Was ihr nicht f a ß t . . . .
Was ihr nicht rechnet...." oder an eine Rede Nietzsche-Zarathustras mit
dem oft wiederholten: „Ich liebe die, welche.... Ich liebe den, welcher
. . . . " — um zu zeigen, daß auch Demokrits Torensprüche von ihrem Ver-
fasser als Kette gedacht sind113. Das wird durch inhaltliche Beziehungen
der einzelnen Sentenzen zueinander vollends außer Zweifel gerückt.
199: „Toren sind die, die das Leben hassen und trotzdem aus Todes-
furcht leben wollen." 200: „Toren sind (aber überhaupt) die, welche
leben, ohne sich des Lebens zu freuen." Das konnte natürlich auch vor 199
stehn. Aber 201 schließt gut nur an 200 an: „Toren sind die, welche
Dauer ersehnen, ohne sich an Dauer zu freun." Schon SrivaioTT); ist viel-
leicht im prägnanten Sinn für „Lebensdauer" denkbar114, aber das ganz
singuläre Wort wird doch wohl verständlicher, wenn ßiotr| vorausging
und der „Dauer" ihren Bezug gab. Audi die formale Verbindung durch
ov TEgjio|XEvoi wird man nicht verkennen. Eine andere formale Verbindung
führt nach vorwärts, dadurch daß öpeyovTai auch in 202 regierendes Ver-
bum ist. Wie die Toren langes Leben begehren, so „begehren sie (über-
haupt), was sie nicht haben". Die nächste Gnome gehört freilich schon
um ihres abweichenden Eingangs willen nicht hierher115. Und 204 ist so
wenig sicher zu deuten, daß man auch über ihre inhaltliche Beziehung zu

112
Allesamt; denn das Wort dvorniove? begegnet bei Demokrit sonst überhaupt nicht,
wie idi aus W . Kranzens Wortindex zu den Vorsokratikern, dem ebenso häufig
benutzten wie selten zitierten, entnehme.
113
„(xvofmoveg refrainartig wiederholt", Hirzel i. d. Z. X I V , 1879, 396.
114
Srivaioxrig nach Büchelers glänzender Deutung des überlieferten br\ veoTT]?. Für den
prägnanten Gebrauch könnte man Ilias E 407 anführen: otti (iAX' ov örjvaiög o ;
ädavaxotai ndxtjtai.
115
Es liegt nahe, avofinoveg für av&gamoi in 202 einzusetzen. Aber man überzeuge sich,
daß das eine Verschlechterung ist. Man beachte, daß jeder Satz irgendeine Handlung
fixiert und dann von ihr sagt: so handeln Toren; deutsch also: „Toren sind es, die..
Man sieht, daß so hier nicht übersetzt werden könnte. Es ist nur ein allgemeiner
Erfahrungssatz, der zu besonderem Tadel keinen Anlaß gibt. Ähnliches würde
[6111613] YIIO0HKAI 307

der Reihe 1 9 9 - 2 0 2 im unklaren bleibt und dann natürlich nicht sagen


kann, wie gut oder schlecht 205 an dieser | Stelle paßte. Man muß bemer-
ken, daß der Gedanke nun wieder mit 199 eng verwandt ist, aber durch
eine Nuance von jener Gnome geschieden w i r d und keineswegs dasselbe
sagt. L a g dort die Torheit darin, daß Lebensüberdruß von Todesfurcht
übertönt wird, so tadelt der Philosoph jetzt den, der den T o d fürchtet
anstatt des Alters, das man doch viel eher fürchten müsse 116 . Einigermaßen
unsicher bleibt auch, was der geschlossenen Gruppe 1 9 9 - 2 0 2 vorausgeht.
Denn 198 ist ohne den typischen A n f a n g und entweder vorn beschädigt
oder nur in anderem Zusammenhang verständlich. Damit w i r d auch das
Urteil über 197 unsicher, und nur so viel läßt sich sagen, daß diese Sentenz
mit ihrem allgemeinen Gedanken die Torensprüche sehr wohl eingeleitet
haben kann (nicht muß), daß aber schwerlich 199 unvermittelt an 1 9 7
stieß 1 1 7 .
Wird hier durch Form und Inhalt gleichermaßen die Ursprünglichkeit
des Spruchkomplexes bewiesen, so kann man nun versuchen, auch andere
Reihen auf Demokrit selbst zurückzuführen. Die Sicherheit w i r d geringer
sein, weil formaler Zusammenhalt nur in diesem einen Falle vorhanden
ist. Aber wenn sich ein klarer Gedankenfortschritt ergibt, werden wir ihn
nicht auf die Zufallsarbeit des Florilegverfassers schieben, zumal Hesiod
und Theognis unser Empfinden in Dingen der A r t geübt haben. U n d
einige Fälle w i r d es geben, w o w i r sogar ausdrückliche Beziehungen von
Spruch zu Spruch deutlich werden feststellen können. Eine solche Gruppe
ist 2 5 6 - 2 6 0 1 1 8 . D e r erste Spruch definiert den Begriff Gerechtigkeit und
sein Gegenteil. D e r nächste sagt, „unrechttuende" Tiere solle man töten,
und wer sie töte, solle straflos sein. D a ist der Begriff aöweiv auf Tiere
sehr seltsam angewendet. Aber im vorhergehenden Satz w a r er definiert
und z w a r durch die Worte „nicht tun, was man muß" allgemein genug
definiert, um auch auf Tiere | den Bezug zu gestatten. D a ß 257 an 256 un-
mittelbar anschloß, ist nicht sicher 119 , daß es folgte, höchstwahrscheinlich,
und auf keinen Fall kann viel dazwischen gestanden haben. D i e Gnome

aber, wie mir scheint, von Frg. 204 gelten, wenn die Weise, in der Diels die Ü b e r -
lieferung zu deuten versucht hat, richtig wäre. A u d i hier würde es sich mehr um
eine E r f a h r u n g handeln, die man v o m Subjekt aussagt, als um eine typische H a n d -
lung, deren Subjekt man „töricht" nennt.
116 206 mit Bücheler als unechte Variante von 205 anzusehen, möchte sich empfehlen.
Diels meint, daß dann ?cof|g in 205 gestrichen werden müßte. A b e r kann nicht die
Variation ungenau sein? Jedenfalls w i r d ¡¡(üfj? ÖQeyovxai durch Stivaiotritog ögeYOV-
tou und tcöv ooteovtiov ÖQEyovTai in 2 0 1 und 202 geschützt.
117 W a s den Sinn von 1 9 7 anlangt, so möchte ich folgender Interpretation v o r der von
Diels den V o r z u g geben: „Toren formen sich durch den Gewinn, den ihnen der
Z u f a l l in den Schoß geworfen hat, werden z. B. dadurch hochmütig . . M a n denkt
bei ¿ua(i.o0vTCH an $uc|i.og als atomistischen Kunstausdrudc.
118 F r g . 7 j ) das vorausgeht, scheint vorn nidit unmittelbar anzupassen.
119 D a s beginnende öe möchte sogar dagegen sprechen.
308 Griechische Literatur [613/614J

258 verallgemeinert die vorhergehende, indem sie an Stelle der „Tiere"


„alles widerrechtlich Schaden bringende" setzt, und biegt den Gedanken
audi dadurch um, daß sie auf die Folgen für den Täter eingeht, statt auf
die Folgen für die Allgemeinheit. 259 bezieht sich mit seinen Anfangs-
worten „wie Gesetze erlassen sind gegen feindliches Getier und Gewürm"
geradezu auf 257 und 258 zurück, und auch sonst fallen Ubereinstimmun-
gen im Ausdruck auf 1 2 0 . 260 zuletzt geht von der allgemeinen Notwendig-
keit, gegen Schädlinge einzuschreiten, über zu einem besonderen Fall:
„Wer Räuber tötet, soll straflos sein", und man wird annehmen dürfen,
daß noch mehr Einzelgesetze folgten 121 . Der Abschnitt 256-260 also hat
Zusammenhang und Abfolge im wesentlichen so erhalten, wie Demokrit
es gewollt hat, nur daß vielleicht vor 257 eine kleine Lücke anzusetzen ist.
Noch 2 Gruppen seien betrachtet, bei denen sich ähnliche Schlüsse
ergeben. Zunächst 261-266. 261 sagt: „Wenn jemandem Unrecht ge-
schieht, muß man strafend und helfend einschreiten." 262: „Wenn jemand
unrecht tut, muß man ihn strafen, und wer das unterläßt, begeht selber
Unrecht." Die beiden Satzungen sind von inhaltlicher Symmetrie und
ergänzen einander. Aber auch in der Form ähneln sie sich: tijxcüqelv xpt]
xai |xr) jtapievai und xaxaij)r|<pi.axEOV xal nr) aitoXimv. Vielleicht die | erste
und sicher die zweite bezieht sich auf den richterlichen Beamten. Man
erinnert sich, daß Androhungen gegen die verordnete Behörde, falls sie
nicht einschreite, einen typischen Abschluß griechischer Gesetze bilden 122 .
Auf Beamte scheint sich nun auch die Gnome 263 zu beziehen, die nicht
heil überliefert ist. Aber die Worte unag Tag [xeyiaTag möchte der Zusam-
menhang mit dem Vorhergehenden garantiren. Hieß es dort, der (Beamte),
der seiner strafenden Pflicht nicht nachkomme, tue unrecht, so scheint

120
Besonders ev navxi xoo^coi 258 und 2 5 9 . Der Schluß von 2 5 9 muß vielleicht so ver-
standen werden: „Solcher Brauch aber, der die Tötung verbietet, ist der Aufenthalt
in Heiligtümern und das Bestehen von beschworenen Verträgen." Jedenfalls ist
vonog öe unantastbar nach v6(*og dutsievEi. - Übrigens ist es bemerkenswert, daß
N a t o r p bei seiner sachlichen Anordnung der Bruchstücke diese Gruppe beieinander
gelassen hat. N u r 258 und 2 5 9 (bei ihm 1 6 0 und I J 9 ) hat er umgestellt. Aber xd
jrnnaivovxa scheint mir gut den Übergang von den Tieren zum Menschen zu machen,
und vor allem ist es gut, wenn das xxe'iveiv XQT) von 258 vorausgeht den Worten
öxokjjieq . . . vö(ioi 787901 cpaxai und dann xxeiveiv.
121
Die Übereinstimmung dieser Gnomen mit der Gesetzessprache liegt zutage. Schon
N a t o r p S. 63 wies für xi|a>.?iT)v x a l Ä.T]i<Txr|v auf die Dirae Tei'ae (Solmsen, Inscr. ad
inlustr. dial. selectae 4 2 ) : xi^a/./.EÜoi rj xi!;u?.Xag ijjio&e'xolto r| Xti'i^oixo
f| X.r|iaxdg ujtoÖEXoixo. Aber auch ddüiog 6 xxeivcdv in 2 5 7 und 260 gehört hierher;
vgl. Dittenberger, Sylloge 2 9 3 3 , 1 4 , u. Ziehen, Leges Sacrae II 1 1 0 , töv öoOXov
(iaaxiYcbaavxa adcüiov elvai.
122 Ein paar Beispiele: Solmsen 4 1 A . . . 3tQT]§dvxcov ö ' öpocpu/.axEs- f)v &e (U) ngr|§oiaiv,
a i x o i öcpEiXövxcov, 42 B oixivEg xiuouxEovxEg xf|v ¿jtagr|v (AT) jioif|aEav ejiI öuvd-
jiei . . . ev xf|jta£>f|i E / E a d a i . Inschr. v . Olympia 2 a i £e (ir)jiidEiav x d ^ixaia, oq
(XE710XOV xEXog ey.oi x a l xoi ßaaiXäEg, ^ ¿ x a jivaig x a d n o x i v o i F i x a a x o g . I. v . O. 7
ai 6 e xig n a p xö vgaqpog 8 i x d 6 6 o i . . .
[6141615] YÜO0HKAI 309

jetzt der Gegensatz zu folgen: „Den größten Anteil an Gerechtigkeit und


Tüchtigkeit hat der, der die größten Ehrenstellen würdig ausfüllt 123 ."
264 schließt nicht unmittelbar an. Ich lasse dahingestellt, ob Demokrit
hier einen Gedankensprung gemacht hat, oder ob etwas fehlt, und be-
zeichne, wie sich ein Übergang finden läßt: (Liegt nicht die Gefahr nahe,
daß jemand sein Amt nur äußerlich „würdig" verwaltet und in Wahrheit
der Gewinnsucht oder Begier, y.EQÖEi f| t|öovfii, nachgibt? Für ihn gilt die
Mahnung:) „Man soll sich vor den andern nicht mehr schämen als vor
sich und soll zur Maxime seines Handelns machen124, nichts ,Ungeschicktes'
zu tun." Mit diesem Schlußwort dvEitixriÖEiov paßt vortrefflich das Anfangs-
wort von 265 rwv rpaoTriiiEvwv zusammen. „Des Verfehlten gedenken die
Menschen mehr als des Gelungenen. Mit Recht. Denn wie die Rüdsgabe
eines Depositums kein besonderes Lob verdient, wohl aber das Gegenteil
Strafe, so steht es auch mit dem Beamten. Denn er ist nicht gewählt, um
es schlecht zu machen, sondern gut." Dieser Spruch ist von entscheidender
Wichtigkeit. Denn in ihm vollzieht sich eine Gedankenbewegung von
dem allgemeinen Begriff des Handelnden auf den besonderen des Beamten,
eine Bewegung, die erst gerechtfertigt wird durch den Bezug auf etwas
außerhalb dieser Gnome Liegendes. Dies ist sicher der Spruch, der nun
folgt: toiig agxovTag schließt an töv ap/ovxa, wie ä ö i x E i v an xaxwg jtoif|acov.
A m besten erklärt sich | aber jene Gedankenbewegung dann, wenn schon
vorher von Beamten die Rede war, so daß dieser Begriff eigentlich vor-
schwebt, d. h. also, wenn 262/3 vorherging, so ist 261 bis 266 im wesent-
lichen als Einheit erwiesen mit starker Korruptel in 263 und vielleicht
einer Lücke nach diesem Spruch.

Zuletzt 275-278. Der sachliche Zusammenhalt ist so eng, daß Natorp


die Sprüche beieinanderlassen mußte und nur die Ordnung geändert hat.
Mir scheint mindestens bei den ersten dreien durch Stobaeus auch die
echte Abfolge gewahrt. 2yy. Kindererziehung ist eine heikle Sache. 276:
(Darum) soll man keine Kinder zeugen 125 . 277: Will man (aber) durchaus
einen Sohn haben, so mag man einen adoptiren. Hängt dies vortrefflich
aneinander, so scheint nicht ganz so scharf der Anschluß an 278. „Die
Menschen halten es für eine Naturnotwendigkeit, eigene Kinder zu haben.
Daß es in der Tat xcrta cpvaiv geschieht, beweist die Verbreitung des
Triebes über alle Lebewesen, zumal bei dem Fehlen jedes Nützlichkeits-
grundes. Im Gegenteil bereiten die Kinder viele Mühsal, und nur bei
dem Menschen kommt die Hoffnung auf einen gewissen Vorteil hinzu 126 ."
123 D e r Zusammenhang führt so auf die Herstellung von G o m p e r z ö Tina? dijiü); xäq
nev'nJtag Tameucov.
124 D e r Ausdruck schien mir treffend (vofiov xr\i \puxrji x a O e a T ä v a i sagt Demokrit), und
ich freue mich nun zu lesen, d a ß N a t o r p S. 102 gerade hier auf K a n t verweist.
125 Jtalöag xxäaOcn ist im Gegensatz zu dem allgemeinen Jiaiöa itoir|aaaöai (277) auf
leibliche Nachkommenschaft zu beziehen. D a s ergibt sich aus 278 ex^ova xxäzai.
126 Sollte das voni^ov jtEJtoir)Tai nicht in einem Gegensatz zur «pvimg stehen, so daß man
den ^6(10; darin hört?
310 Griechische L i t e r a t u r [6151616]

Allerdings ist der Anschluß dieser Gnome etwas lockerer als die Verbin-
dung unter den ersten dreien. Aber sie würde als Gegensatz zu 277 vor-
trefflich passen, und mit einem „hingegen" wäre der Bezug hinreichend
gekennzeichnet. Demokrit empfiehlt Adoption. Die Menschen hingegen
ziehen leibliche Nachkommenschaft vor, und diese menschliche Eigenart
hat ihren Grund in der Natur. So ist es denn am wahrscheinlichsten, daß
auch hier 4 Gnomen in ursprünglichem Zusammenhange vorliegen, so wie
Demokrit sie angeordnet hat, um seine Gedanken in altüberlieferter Form
schrittweise vorzutragen.
Noch für andere kürzere Partien ließe sidi ein ähnlicher Nachweis
erbringen127. Davon soll hier abgesehen werden, und der Blick wendet
sich nun noch einmal auf den zurückgelegten Weg. Wir | haben Klarheit
darüber gewonnen, daß ein echtes Werk des Demokrit entweder xmodijy.ai
geradezu hieß oder doch unter diese Schriftengattung gehörte, und daß
es praktische Spruchweisheit in sinnvoller Anordnung enthielt, vermutlich
einen großen Teil der unter Demokrits Namen erhaltenen Sprüdie. Audi
hat sich herausgestellt, daß wir noch streckenweis den ursprünglichen
Zusammenhang fassen. Diesen Ergebnissen gegenüber ist es vielleicht von
geringerer Bedeutung, zu wissen, mit welchem der von Thrasyll aufge-
zählten Titeln diese Hypothekai zu identifizieren sind. IIuftaYÖQTig und
Ilegi tü)v ev "Aiöou kommen natürlich nicht in Betracht, ebensowenig die
'Y1ton.vrij.1aTa r)iHxa (was immer das gewesen sein mag); denn wion.vrnj.aTa
und tijtoöfpcai unterscheiden sich begrifflich und grundsätzlich. I T e q I Tfj;
t o ü aoqpoü ö i a f r e a i o g und wohl auch jieqi d v S p a y a f t i a c ; f| iteoi aQETfjg lassen
an eine stärker theoretische Absicht denken, als sie einer Spruchsammlung
innewohnt. So bleibt 'A[xaM>eiT|g xgQag, das Lortzing ehedem, ohne Nach-
folge zu finden, mit den wToftijxai identifiziert hat, und T q i t o y e v e i o , der
Natorp die Mehrzahl der Gnomen zuteilen wollte. Entscheiden läßt sich
nicht, ein klein wenig mehr Gewicht hätte vielleicht die Gleichung
'Yjiaüfjxai = T p i T o v e v e i a 1 2 8 . Denn mögen die Titel von Demokrit selbst
stammen oder von Späteren, jedenfalls war „Füllhorn" zur Zeit des
Plinius und Gellius poetischer Name für Sammlungen von Lesefrüchten,
wie man sie damals liebte. Das weist also nach etwas verschiedener
Richtung. Andrerseits wurde in der T q i t o y e v e i ö dieser Göttername allego-
risch auf die cppovriaig gedeutet, und es hieß von der: -/ivETai ö e e x t o ö
< P q o v e i v x g i a xavxa • xö s i Ä.oYi^ecr&ai, t o e i X e y e i v v.ai t ö j i g a t T E i v a S e i . Nun
ist es ja gerade die cppovriaig, deren siegreiche Herrschaft über den Zufall
wir in den Eingangsworten der 'Yno^fjxat gepriesen fanden. So nimmt
denn das negative Moment aus der Wagschale des „Füllhorns" etwas

127
Z . B. 1 7 8 - 8 0 , 2 2 7 - 9 . A u c h in der D e m o k r a t e s s a m m l u n g sind ja Zusammenhänge
kenntlich. A b e r man k a n n bei dem C h a r a k t e r dieser A u s w a h l nicht d a f ü r einstehen,
d a ß auch nur 2 S p r ü d i e ursprünglich so a u f e i n a n d e r g e f o l g t seien, w i e sie jetzt folgen.
128 N a t o r p hat sie nicht v o l l z o g e n , aber er hat im übrigen w o h l das Richtige gesehen.
[616] YTI09HKAI 311

fort, und das positive bringt der Tritogeneia ein schwaches Mehrgewicht.
Gewiß, eine endgültige Entscheidung läßt uns die Dürftigkeit des
Materials nicht fällen. Vielleicht aber wird dieser Mangel dadurch einiger-
maßen ausgeglichen, daß wir eine Seite der demokriteischen Schriftstellerei
und die historische Entwicklungsreihe der 'YiwiHixai schärfer erfaßt haben.
Heracliti fragmentum 1 2 4

1942

Heracliti fragmentum 124 J . B. McDiarmid primus recte interpretatus


est in A J P vol. L X I I , pp. 492 sqq. Sed neque O A E L XEXU^EVCOV Graece dici
neque 0 xcdXia-tog nomine carere posse mihi videtur. Via recta ostenditur
figuris illis Heracliteis nidf)xcov o xa)haxog (frag. 82) et avftptbjKov o
aoqximiTog (frag. 83). Sic igitur emendandum:

oagt; Ewfj(i) xexv|xev(ti avdg(i)ji)a)v o xaAAiaxog.

Si ponis scriptum olim fuisse avtov compendio trito, librarius etiam facilius
ab altero v ad alterum transilire poterat haplographia vulgata, ut tres
tantummodo litterae <r| av) perierint. Pensitavimus alia supplementa
velut ^VT)TWV, jiaiöcov, 'EMr|v(ov. In vero quod supra posuimus ex omni
parte praestat.
Das Fragment ist so zu emendieren - aber vielleicht ist es besser, den
ganzen, etwas locker gebauten - dabei streng gedachten - Satz aus
Theophrasts Metaphysik, IV 15, p. 7 a 10 ff. herzusetzen: „Es wäre wider
alle Vernunft, wenn das Universum und jeder seiner Teile in Ordnung
und Form wäre, in den Prinzipien aber nichts dergleichen, sondern wenn
die Welt so wäre wie Herakleitos es sagt: ,Fleisch aufs geratewohl hinge-
worfen: das ist selbst der schönste Mensch.' . . . " ev öe taig aexai? nrjftev
TOIOÜXOV, akV maneg „ A A P L eixfji X E - / D ^ E V ( T | avftpü)JI>cov 6 xiMiatog", <pt|aiv
'HgaxAEitog, ö xöaixog1.

[American Journal of Philology L X I I I , 1942, S. 336.]


1
Der deutsch geschriebene Absatz ist jetzt hinzugefügt worden.
Retractationes I 3-8

3. In Archilochi frg. 6j a

1929

Versus praeclarissimos ab omni quidem mendo nequimus purgare.


Nam quod Buedielerus in initio versus 2 posuit àvàòv abhorret sive ab usu
linguae (5ti) sive a lege versus (8y), ava òé vero dubitatione minime exemptum
est. Sed in versu tertio verba poetae haud scio an paulo accuratius solito inter-
pretari possimus. Quid enim signifìcet èv òóxoiaiv, ambigitur 1 . Parum recte
cogitaverit aliquis de usu translato verbi quod est Soxóg, ut quasi trabes
ponantur pro hastis. Potius has Hesychi glossas conferas, quarum partem
iam contulerunt editores: èv8óxoig ' èvk&Qq.. èv 80v.fi ' èv ÈJu{3ou>.f|. èvSoxog '
èvèÒQa . èg Sóxovsìg èvé8pav. Quibus addas verba Iliadis A 107 8e8ey(iévo5
èv :i(>o8oxfjiaiv cum scholiastae interpretatione oi 8è ralg èvéSpaig 8ià tò
jtpoa8Éxeafrai. Quoniam vero non de occultis insidiis apud Archilodium res
est sed de aperta pugna, quid accurate signifìcet Sóxog (8oxóg) vel 8oxr)
inquiramus. 8óxog pertinet ad verbum SéxEaftai (sicut TÓvog, jiópog ad v.
teìvo), iteigco, axojtóg ad v. axéjrroixai), 8éxovtcu autem in pugna viri, in
venatione ferae adversarium (E 238, M 147). Nomen Andocidis, quod
Atticos e poesi epica accepisse et praepositionis apocope et forma metrica
— v^v^— demonstrant, eodem videtur pertinere. èv 8óxoicji igitur nisi fallor
de eo proelii sive tempore sive loco adhibetur, | ubi hostis hostem 8Éxetai.
In mentem venit illius Homerici àvà jitoAé^oio yetpiiQag, quod apud Hesy-
chium vertitur tù (xéaa -trig (paXcr/yog. èv toig (xéaoig trig cpaXayyog: sic verba
Ardiilochi haud scio an recte interpreter2.

4. In Archilochi frg. 74

Immerito interpretes, Immisdiium aio (Philol. 49) et Hauvettium, in


hoc fragmento opinantur Lycambam induci, ut poetam defendat ab ad-
versaras. Aristoteles vero in Rhetorices III c. 17 his praemissis èjteiSri
evia jteQÌ avxov léyeiv t\ èjùqptìovov f| (xaxQoXoyiav r\ àvTiXoyiav exei xai iiìeqì
aXXov f) XoiSopiav f| àyeoixiav, eteqov XP*) Xáyovxa jioieìv inter exempla

[Hermes L X I V , 1929, S. 378-384.]

1 Cf. Liddeli Scottique lexicon s. v. Soxóg.


2 Assentit Wilamowitz. Glaube der Hellenen II 113, qui tarnen praefert: èv òoxfjioiv.
314 Griechische Literatur [3791380J

affert Archilochi iambum, in quo patrem de filia verba facere apertis


verbis enuntiat. Jiepì akkov igitur, non Jtepl atixoC loquitur poeta personatus.
Sequitur ut rj Xoiöogiov ri avpoudav evitare studeat, cui obnoxius fuisset, si
locutus esset ex suo ore. Iam omnia plana sunt. D i f f a m a t u r fìlia, sed ita ut
ipse pater obiurgationes effundens fingatur. H o c iam Hermannus Fraenkel
in egregia ilia dissertatione Notitiis Societatis Gottingensis insertae, cui
titulus est Eine Stileigentümlichkeit der frühgriechischen Literatur ( N G G
1924, 81), tam breviter quam recte pronuntiavit. Sed ne hic quidem
argutias plane videtur explicavisse. N a m cum filia per genitorem d i f f a -
matur, diffamatur genitor una cum filia. Ingeniosissime et acerbissime
amborum diffamationem coniunxit poeta. H i c ut alias autem videntur
errare qui putent de L y c a m b a Neaeraque — nam de his sine dubio res est -
in Archilochi versibus mentionem fieri ante simultatem exortam. Fecit
indignatio ob fractum foedus versus 3 .

y In Sapphus c. 2, 9

Digamma litterae „Aeolicae" olim exemplum insigne invenire sibi


videbantur grammatici in his Sapphus verbis

àXkà xà|i |xèv yXùaaa eaye.

Hodie formam Fé(F)aye constat adiumento carere, quoniam quam arctis


finibus usus litterae F apud Aeoles circumscriptus sit demonstraverunt
Maasius in Socratis vol. V i l i p. 20 et Lobelius in Sapphus editionis (Ox.
1 9 2 5 ) p. X X V I I I sqq. C u m Lobelio igitur hiatum notante redeundum ad
priorum rationem, ut qui vario modo mutaverint litteras traditas. Atque
Catullus quidem quidnam verbis „lingua sed torpet" expresserit, parum
elucet, Cobeti coniectura nénayt debilitari sententiam in propatulo est,
graviores mutationes | oblivione transgredi praestat. A t desiderabat olim
pronomen personale Isaac Vossius (xà^i |x£Ù). Horatius quoque (c. I V 1) in
versu „cur facunda parum decoro inter verba cadit lingua silentio" haud
scio an potius „linguam" pronomine instruxisset, nisi iam versu antece-
denti „cur manat rara meas lacrima per genas" pronomen contineretur.
Quaerendum igitur, an tali vocula hiatus possit evitari. Iam quam late
pateat elisio dativorum n(oi) a(oi) F(oi) apud Aeoles exposuitpostMaasium
Lobelius p. L X I . Itaque haud spernenda fortasse quam proponimus con-
iectura
àXXà xà[i |xèv yi.&aaa (jì') eaye.

3
C f . Lasserre, Mus. Helv. I V 1947, 1 sqq.
[380¡38 í J Retractationes I 3-8 315

6. De Tyrtaei Eunomia

Tradit Aristoteles 4 Tyrtaeum Eunomiam condidisse wtò tòv Meooti-


viaxòv jioXejxov. A d d i t occasionem:ftXiß0|A£voiyág TivEg 8ià tòv hóXe|iov t||ìodv
àvàftaaxov jtoieìv tt|v -/mpav. Aristoteli, qui elegiam totam manibus tenebat,
utique fides habenda, non huius aetatis doctis, qui suis argumentis confisi
ad sextum saeculum carmen revocare studuerunt 5 . De vetusta Lacedae-
moniorum re publica testimonium gravissimum non ad nostram opini-
onem redigendum est, immo opinio ad testimonium conformanda.
Rem publicam longinquo bello vehementer turbatam in pristinum
ordinem reducere poeta animo proposuit. Proposito quo modo steterit, e
fragmentis servatis elucet. In frg. 2 admonet populum de rebus antiquitus
gestis, de Iovis tutela, de sorte Heraclidarum regum consociata cum D o -
riensium gente. In frg. 3 a (Diehl) constituta rei publicae versibus expri-
mit, ut de iure regis senatus populi ánimos audientium moneat, deumque
legem sanxisse et in initio et in fine profitetur. Imperium regibus datur,
quos non aQ'/ayixag sed ßaaiMjac; nominari Kahrstedtius 6 minus esset mira-
tus, si non solum iuris publici sed etiam rei metricae rationem habuisset.
Regibus additur senatus (v. 5), senatui populus (v. 5. 6). In fine verbis
8r|(j.oi> 6è jtXriftEi vìxt]v xaì xaQTog sjiEcr&ai ultima verba rhetrae vetustae
öajxto 8è xvQÍav f|p.Ev xaì xqótos exprimi consentaneum est. Versu 6 num
recentior illa Polydori et Theopompi rhetra (ai 8è oxoXiàv ò Sànos eXoito,
Plut. Lyc. 6) exprimatur - id quod Toepffero visum est7. - | in medio
relinquamus. Restat distichon v. 7/8, cui nihil respondet in textu rhetrae,
haud facile quicquam respondere poterat in lege ulla constituta: iubetur
populus honeste loqui, iuste agere, nunquam insidiari rei publicae. Deleri
possunt v. 7 et 8. Sed delendo nihil proficimus, proficimus interpretando.
His enim versibus id ipsum confirmatur, quod apud Aristotelem de turbato
statu rei publicae traditum legimus. Videmus poetam rhetrae sua mónita
inculcantem, ut ánimos illorum mitiget, qui t||[ow àvàSacrrov toieìv ttiv
xwpav. Aristoteles interpretationem, interpretatio Aristotelem confirmat.
Postremo in breviorem horum versuum formam inquirendum est,
quae apud Plutarchum traditur (3 b). Inter hanc et ampliorem illam Dio-
dori quae ratio intercedat, varie disceptaverunt viri docti. Breviorem
formam vetustiorem esse post Busoltium (Gr. Staatsk. I 46 sqq.) Bervius
(Gnom. I 309) statuit, Diehlius in contrariam sententiam videtur transisse,
Ehrenbergius (p. 126) rem in ambiguo relinquit. Mihi certissimum videtur
formam breviorem ex ampliore eaque genuina decurtatam esse ad usum,
ut ita dicamus, puerorum rei publicae moribus institutisque studentium.

4 Poli:. V 6 = Tyrt. frg. 1 Bergk.


s C f . Ehrenbergi librum Neugründer des Staates et quae oblocutus est Bervius in
Gnomonis vol. I C f . etiam Wilamowitzium in Actis Acad. Berol. 1918, 734.
6 Griech. Staatsrecht I 127.

7 Beitr. zu gr. Altert. 351.


316 Griediisdie Literatur [381¡382]

Diodori formam e maiore quodam contextu resolutam esse iam particula


yag evincitur. In breviore forma non solum finis rhetrae (v. 9) resectus
est, sed etiam ea quae ad turbam civitatis pertinere supra evincebamus.
Relinquitur quasi nuda constitutio potestatum duobus distidiis inclusa,
antecedit unum distidhum sanctionem Apollinis continens. Tenemus car-
men memoriale tarn perfectum quam ieiunum.

7. In Solonis c. 1

De universo carmine denuo disputare ne post Wilamowitzi (S. u. S.


257) Reinhardtique (Rh. M. 1916) quidem egregias curas supervacaneum
esse e Perottae conamine elucet, qui etiamnunc elegiam antiqua stili seve-
ritate insignem pro centone e diversis pannis consarcinato habet (Atene
e Roma 1925). Hodie de una quaestiuncula critica verba faciemus, sitne
genuinum distichon 39/40 necne. Delevit illud quidem Bergkius. Athetesin
argumentis fulsit Wilamowitzius, quem primum extruso illo dilucidam
reddidisse duarum eXjuScdv (37/38. 41/42) symmetriam Reinhardtus ait.
Fraenkelius8 acute inquisivit de illius elegiae contextu, e quo in Solonis
carmen invasisse distichon 39/40 arbitratur. Haec omnia corruerunt, ubi
primum tradita rectissime se habere et ab ipso Solone prodisse tibi per-
suaseris. |
Argumentis e sermone petitis ne ipse quidem Wilamowitzius videtur
nimium tribuisse (p. 260). Solo bis utitur forma Attica eIvcxi (i, 5. 19, 9),
adhibet x«Xa tQya ( 1 , 2 1 ) ita, utabrevis in thesi quam hodie vocant exstet,
simulque xaXov ¿Tap (1, 24) ita, ut a longe in arsi9. Eundem in fine versus
ponere potuisse e^nevai a^lP (1, 39), eundem xai -zaXog (1, 40) ita ut a
longa thesin expleat, nemo negabit, qui deliberaverit poesin elegiacam
prodisse ab epica et imbutam esse colore Homerico, apud Homerum vero
e|x|xevai alhov similiaque multa in usu esse nec minus xc&ov ita positum, ut
nullo discrimine sive arsin sive thesin expleat. Quot et quas formas epicas
Solo sibi indulserit, discere quam decernere malo. (Rem tractavit Riedy
duobus programmatis Monacensibus, quibus de Solonis elocutione quate-
nus pendeat ab exemplo Homeri fuse egit.)
Formae verborum igitur quoniam nihil valent ad quaestionem diiudi-
candam, ad ipsam interpretationem nos convertamus. Iam mihi videntur
ii qui Soloneam distichi 39/40 originem impugnaverunt parum reputa-
visse, quod eAiug non solum spes est rei futurae vel gerendae, sed saepe
pertinet ad praesens tempus, ita ut verbum SoxeI tam in v. 39 quam in v. 42
facile explicari possit verbo ¿tau^ei. Somniantes vero fingit poeta mortales
et de futuris rebus, valetudinem dico divitiasque, et de praesentibus, forti-

8
Hermae vol. 62 p. 256.
9
C f . Pelissier, De Sol. verb, copia.
[382j383] Retractationes I 3 - 8 317

tudine atque corporis forma. Si paulum declinare distidium 39/40 a


directa via perhibebis, haud obloquar. Sed cave ne ad amussim redigas
contortum vetusti carminis cursum.
Extrinsecus postremo argumentum repetendum est, ut comprobetur
non modo non offendere versus 39/40, sed ne posse quidem abesse. N a m -
que in sex versibus a 37 ad 42 res est de valetudine [ 1 ] , de fortitudine [2],
de puldiritudine [ 3 ] , de divitiis [4]. Convertas mentem ad clarissimum
scolion (Bergk P L G I I I p. 645, 8), in quo bona hominis enumerantur:
sunt valetudo (iiyiaiveiv) [ 1 ] , pulchritudo (cpuàv xaXòv vevéaftai) [2], divi-
tiae ( J I X O U T E Ì V ) [ 3 ] iuventus cum amicis (f)ßctv ( X E X A tcùv cpiXaiv) [4]. Con-
vertas ad bonorum tabulam, quae est in Piatonis Legibus (6 31 C): sunt
xe
valetudo (ir/ieia) [ 1 ] , pulchritudo (xàXXog) [ 3 ] , robur (i«x*>g àgó^wv
xaì et? tàg aXXag xivr)OEig xà> acófiati) [2], divitiae (itAoitog) [4]. (Tria bona
sunt in Menexeno 246 E, in Rep. 491 C , in Philebo 26 B.) Hanc seriem
ne apud Solonem quidem delere licet. Immo Solo antiquissimus testis
exstat illius qui postea viget bonorum popularium catalogi.
Quoniam ad Platonem res rediit, fac memineris munerum inde | a
mercatore usque ad medicum seriem, quae Solonis versibus 43 ad 62 con-
tinetur, eandem quamvis inverso ordine redire in Phaedro dialogo (p.
248|DE), quam rem in libro de Platone I 225 = I 2 207 = I 3 208 paucis
attigimus.

8. In Callimachum Ox. 2079

Callimacheis nuper repertis post Pfeifferum (in Hermae voi. 63) sub-
venire paucissimis locis contigit. — In v. 5 supplementum éX[icraco nequeo
redarguere. Tarnen unice verum esse non concedo. Haud scio an praestet
ÈX[aiivco. Ludum puerilem respicit poeta non alium fonasse atque in
epigr. 1 : xr)v -/.ara oavròv IXa, ita ut suam artem cum turbinum ludo
comparantes adversarios fingat. - In v. 8 [ocpoitEpov] vix convenit. N a m
quamquam alibi ó qpfróvog dicitur ipsorum TrjxEiv TCOV qyftovegùv o ^ a t a xaì
xQaòir)v (APal. X I 193), tamen „scire" Teichines suum iecus liquare vereor
ut aptum sit. Liquare sciunt iecus eorum quos visu vitant. xaì yàg TÒ
ßXE[i|xa xaì T T ) V àvanvor)v xaì xr|v S L Ó A E X T O V aiiiùv (seil, T Ù V ßaaxavov È X Ó V T O O V
o<p{>a>.|ióv) J T P O O 0 E X O | J . É V O D G x r| X E a FT a 1 xaì voaelv ait Plutarchus Quaest.
conv. V 7 , 1. Temptabam igitur [àXXóxQiov] vel [àvTiitàXcov]. Quamquam
[¡loùvov éóv] minus displicere quam [acpwitEoov] non negaverim. -
Maximi momenti est removere cruces a Pfeiffero versui 33 adpictas,
id quod non mutando fit sed interpretando.

32 èyò ò' eìtiv ovlaxvs, ó jtTEQÓEig,


33 a jidvTtog iva yrjeag, iva öpooov . . . f)v ¡xèv àstòcu
34 jtQcbxiov èx öirig f]ÉQog Etöap löcov,
35 audi TÒ 8' èxòiioijH XTX.
318 Griechische Literatur [383¡384]

„In cicadarum numero esse mihi placet, ah omnino ut senectutem, ut


rorem . . . hunc quidem ex aere pro cibo hauriens cantem, illam vero
rursus exuam." Grammatici antiqui illud 5 sic accipiunt, ut ipsum per se
(vel rectius cum vocula iva coniunctum) significet elfte vel qi<pe>.ov. Dubito
quam adcurate. Nobis a potius eadem quae in Homerico ilio a ösiloi et
apud Romanos et in nostra lingua interiectio est, iva simpliciter coniunctio
finalis. Qui vero antiquum interpretem - nam ab uno ceteri pendent -
quam nos sequi mavult, post v. 32 gravius interpungat. Discrimen haud
ita magnum, quamquam vereor ne a poetae Consilio sic paulo longius
recedas. In papyro certe post v. 32 punctum non est.

Quae exposui conveniunt fere cum iis quae Huntius (Class. | Rev.
X L I I 6) et Rostagnius (Riv. di filol. V I 22) protulerunt, neque post illos
rem rursus tetigissem, nisi Pfeifferus tam enixo studio contra dixisset.
Cuius auctoritatem ne videar parvi aestimare, pauca adnotare e re erit.
1) cmy^r) quae est in papyro post bgóaov cum mea explicatione optime
quadrat. - 2) senectutem et rorem artissime cohaerere cum cicadis constat
et a Pfeiffero ipso bene exponitur (p. 324). ögoaov igitur addubitare non
ausim. - 3) pronomen f|v |iév, quod a participio pendet ex usu notissimo,
ne quis cum verbo aeiöco coniungat pronuntiando cavebis haud difficulter.
C f . ut unum exemplum forte praesto factum adferam Plat. Phileb. 2 j D
crunnETga zaì av|xcpa)va evftelaa àpifr^òv aitEgyatetai, ubi in proclivi est diri-
mere aij|icp(Dvu a participio, àgiftuóv a verbo finito. - 4) in eo quod
Pfeifferus quamvis dubitanter commendai (iva yr\Qa<;, f|v jièv aeiöco, aitòi
tò 6' éx8i)oiui) non minus displicet coniunctio quam particulae név -
8é. - 5) Quod in enuntiato finali coniunctivum optativus subsequitur, id
multis exemplis fulciri potest. C f . Krueger § 54, 8, 2. Kuehner-Gerth
2,387. Si vero èx8i>oi|xi non pro enuntiati finalis altera parte sed pro enun-
tiato vere optativo habere tibi placet, re vera nihil mutatur. - 6) aiftì
grammaticus antiquus (cf. Callim. fr. 286 Schn.) positum opinatur àvxì
t o i (j,Età t a i r a . Adcuratius dixisset àvxì -coi nàXiv, nisi forte (cum Rosta-
gnio) credas eumpost rorem haustum iuventute se potiturum esse sperasse.
Sed ad hoc discrimen tunc mentem non attendit, quippe qui id ageret, ut
planum redderet aiftì non esse adverbium locale, sed adhiberi pro tem-
porali afr&ig, cuius interpretatio apud Ammonium est JtàXiv fj ^etò taira,
apud Hesychium JtàXiv, è | àp/ris . . . fj (xsxà taira. - 7) Emphasis in opta-
tivis òyxrjaaiTo et eir|v eifervescit, in interiectione 5 jtavxwg quasi ad fasti-
gium pervenit. Ruptus sermo animo ita commoto convenit.

[Inter plagulas corrigendas licet relegare legentes ad curas Idae K a p p


(Philol. 84, 176) et Pohlenzi ( N G G 1929, 151). Nobis quidem neuter
persuasit. A p u d Pohlenzium autem reperimus scholion Wifstrandi acu-
mine restitutum: ucpeXov iva tò y^Q01? T, v
n Spóaov • jtQÓtegov 11905 tò
öetiTegov, f|v [lèv e'òcov, tò 8' è«8i)oi[ii. Antiquum igitur interpretem nostrae
interpretationis habemus auctorem.]
III

Lateinische Sprache und Literatur


Persona

1909

Das lateinische Wort persona leitete man früher ziemlich allgemein


vom griechischen jtQÓacojtov her, nachdem der Glaube an die antike Deu-
tung a personando aufgegeben worden war. Genauer, man stellte sich mit
Bréal, Havet, Keller (Latein. Volksetymologie 126) vor, daß das Volk
etwas wie per-sonare „durchtönen" in das griechische Etymon hinein-
gehört hätte. Dann verurteilte Stowasser in einem kurzen Aufsatz (Wie-
ner Studien X I I 156) diese Erklärung, indem er aus einer Festusstelle
schloß, die Ausdrücke personatus, personata fabula seien schon vor Ein-
führung der Maske vorhanden gewesen; also sei persona nicht Grund-
wort sondern Rückbildung und könne mithin nicht von jtQÓacojtov her-
kommen. Er selbst konstruiert zu gr. ^CÜVT) ein Verbum *zönare *sönare,
woraus apersonare „verkleiden", und hat mit diesem Vorschlag bei
Walde, Lat. etym. Wb. 463, Beifall gefunden. Dort steht auch ein Versuch
Wiedemanns (BB X X V I I I 19) verzeichnet, der dem Worte persona durch
Herleitung von einem lateinischen Stamme ''perces: *peres „umhüllen,
einschließen" beizukommen sucht.
Abseits davon hat Deecke (Etr. Forsch, u. Stud. VII47) etr. yersu, das
sich zweimal einer maskierten Gestalt auf einem Cornetaner Wand-
gemälde beigeschrieben findet, zu lat. persona gestellt, und unabhängig
hat Skutsch (Arch. f. lat. Lex. X V 145, Pauly-Wissowa V I 775) dieselbe
Gleichung gefunden und ausführlicher begründet. Damit schien vollends
die Herleitung aus dem Griechischen erledigt.
Wir müssen uns klar sein, wie sehr wir mit Wahrscheinlichkeiten
rechnen. Dies heißt einerseits, daß die Sicherheit im besten Falle nur be-
dingt sein kann, andrerseits, daß wir ganz Unwahrscheinliches nicht be-
rücksichtigen dürfen. Dazu aber gehört für mich die Herleitung aus £Ü>VT],
die mit viel zu viel unbelegten Bildungen (*zönare apersonare) und kom-
plizierten Bedeutungswand|lungen (Gürtel, Verkleidung) rechnet, um ein-
zuleuchten. Und daß auch die Herleitung aus rein lateinischem Stamme
weder formal noch semasiologisch irgendwie befriedigt, scheint mir nicht
minder klar.
Für wahrscheinlich muß der Zusammenhang mit dem Etruskisdien
gelten. Wenn bei zwei maskierten Personen das Wort yersu steht, das
genau einem lateinischen *perso entspricht, so kann man schwer an bloßen

[Glotta II, 1909, S. 164-168.]


322 Lateinische Sprache und Literatur [165¡166]

Zufall glauben. Sehr unsicher freilich muß es bleiben, ob die Verbindungs-


linie von Skutsch richtig gezogen worden ist: yersu ) lat. * per so — *per-
sonare - persönatus. Wir können ja gar nicht wissen, ob cpersu die einzige
etruskische Form war, ob es nicht etwa längere Bildungen mit einem
- « - S u f f i x gab 1 . Und wenn persona eine retrograde Ableitung von aper-
sonare sein soll, so scheint diesem Ansatz die unrichtige Deutung jener
Festus-Stelle zugrunde zu liegen. Doch dieser Zweifel am Einzelnen
berührt die Hauptsache nicht.
Ganz ebenso einleuchtend ist nun aber für mich der Zusammenhang
zwischen persona und jíqóocújiov. Man erwäge, daß die Theatermaske der
Römer doch gewiß im letzten Grunde von der griechischen herstammt,
und weiter, daß die beiden Namen für die identische Sache nicht nur in
den 3 ersten Konsonanten sondern auch in dem Vokal der Mittelsilbe nach
Qualität und Quantität und schließlich, nicht zu vergessen, in der Silben-
zahl übereinstimmen. Die Abweichungen entziehen sich als bei einem
Lehnwort rationeller Erklärung 2 . Wem die Spannung zwischen Vorbild
und Nachbild zu groß scheint, der denke an andre ebenso starke und
stärkere Änderungen, wie volkstümliche Übernahme von fremden Wor-
ten sie herbeiführt. - Aber die Festus-Stelle soll ja diese Herleitung aus-
schließen? Nur dann, wenn man sie falsch deutet.
Festus (p. 2 1 7 M.) spricht von einem Stück des Naevius (jabula quae-
dam Naevi schreibt Mueller, jabula quaedamne ut die ¡ Handschrift), das
den Namen „personata jabula" getragen habe. Es ist also nicht richtig zu
sagen, daß dieser Ausdruck damals in Gebrauch gewesen wäre; wir wissen
nur, daß dieses Stück so hieß. Festus versucht eine Erklärung des Titels,
der darum verwunderlich sei, weil in Komödie und Tragödie erst viele
Jahre später der Gebrauch der Maske begonnen habe. Deshalb schließt er,
das Stück des Naevius sei von Atellanenspielern gegeben worden. Es steht
demnach mit der ganzen Beweisführung in direktem Widerspruch, wenn
man den Namen personata jabula vor die Einführung der Maske zurück-
reichen läßt. Festus leitet den Namen eben von der Maske her, indem
seiner Meinung nach die Atellanenspieler sich schon viel früher maskiert
hätten. Daran zu zweifeln haben wir nicht den Schatten eines Grundes,
und die Argumentation ist durchaus unanfechtbar: Die Atellanenspieler
führen auch später noch im engeren Sinne die Bezeichnung personata, weil

1
M a n könnte mit allem Vorbehalt die Proportion aufstellen <persu : persona = aplu :
apluni, aplunai (Wilh. Schulze, Z u r Gesdi. lat. Eigennamen 1 5 2 ) = a%u : axuni
(Schulze 3 0 2 ) = vipi venu : vipine venunia ( 3 1 6 ) = trepu : trepunia ( 3 1 8 ) = velsu :
velsunia (259) usw. [Ich komme auf meine A u f f a s s u n g demnächst in der G l o t t a
zurück. Skutsch.]
2
Ich habe einen Augenblick daran gedacht, für die Metathese der ersten Silbe die V o r -
stufe im Griechischen zu suchen, nach Analogie von Jtógaco u. ä. A b e r semitisch
parsópá (Dittenberger, Orientis Inscr. sel. I 644), das man scheinbar d a f ü r heran-
ziehen könnte, findet, wie mir H e r r Professor Nödelke mit gütiger Bereitwilligkeit
mitteilt, seine Erklärung darin, daß anlautendes pr sich semitisch nicht sprechen ließ.
[1661167] Persona 323

(die Masken bei ihnen seit viel längerer Zeit gewöhnlich waren als bei
den Acteurs der anderen Gattungen, und weil) sie im Gegensatz zu den
andern nicht gezwungen waren sich auf der Bühne zu demaskieren. (So
etwa muß man den sichtlich gekürzten Bericht ergänzt denken.) Es ist
also ein Mißverständnis, wenn man mit dem Festus in der Hand den
Ausdruck personata fabula in eine Zeit hinaufführt, in der es noch keine
persona gegeben habe. Gerade das Gegenteil sagt der Autor.
Damit kommen wir zu der alten Ansicht zurück. Persona ist inhaltlich
= jiqöctcdjiov. Das Wort persona hat mit dem Worte JtQoaoMtov die stärkste
formale Ähnlichkeit. N u n wäre es absurd zu bezweifeln, daß die römische
Theatermaske im letzten Grunde griechische Theatermaske ist. Dann aber
hat es alle Wahrscheinlichkeit für sich, daß auch das lateinische Wort im
letzten Grunde das griechische Wort ist.
Wenn sich jetzt anderseits etr. cpersu von lat. persona nicht trennen
läßt, so ergibt sich mit ganz demselben Grade von Wahrscheinlichkeit,
daß auch das etruskische Wort dem griechischen entstammt 3 . Und not-
wendige Folgerung ist weiter, daß etr. cp ersu \ und lat. persona, die gegen-
über der Urform gleiche Abweichung in der ersten Silbe zeigen, nicht un-
abhängig von einander dem griechischen jiqockdjiov entlehnt worden sind.
Jeder weitere Schritt führt notwendig ins Unsichere hinein. Die ein-
fachste Lösung wäre ja die, daß das Wort den Weg vom Griechischen über
das Etruskische ins Lateinische zurückgelegt habe, wie gruma <yvcb[i.ova,
sporta ( cmjpiöa, Catamitus < Catmite < ravunr|ÖT)5 (vgl. W. Schulze, Sit-
zungsb. d. Berl. A k . 1905, 709). Ich bin audi gar nicht abgeneigt, mich bei
dieser einfachsten und durch Analogien gestützten Erklärung zu beruhi-
gen. Aber es gibt da Bedenken, die nicht verschwiegen werden dürfen.
Man wird es von vorn herein f ü r wahrscheinlich halten, daß der N a m e
zugleich mit der Sache eingewandert ist. N u n läßt römische Literaturfor-
schung (Livius V I I 2) das Theaterwesen in Rom sich so entwickeln, daß
zunächst histriones aus Etrurien kommen, erst später (so scheint es) Atella-
nen aus Campanien. Die Masken aber werden bei Verrius nicht jenen son-
dern diesen zugeschrieben. Wir würden also eine oskische Benennung
erwarten, und wenn man sich dem fügte, ließe sich etwa eine oskische
Form ansetzen, die aus dem Griechischen stammte und gleicherweise ins
Lateinische wie ins Etruskisdie weitergegeben worden wäre.
Demgegenüber hätte ich geltend zu machen, daß die tomba degli
auguri in Corneto, die uns das Wort <persu überliefert, nach dem altertüm-
3
Ober das Lautliche in dem etr. W o r t läßt sich natürlich nichts Sicheres sagen. Vielleicht
darf man für die Metathese das Nebeneinander von rpurse&na und pru'sa&na (Schulze
a. a. O . 90) heranziehen. Oder man könnte auch S y n k o p e und folgende A n a p t y x e
annehmen, etwa *q>rsw < jiQÖacojtov wie a&rpa < " A t p o i t o s , dann tpersu < *cprsu.
V g l . Skutsch bei P a u l y - W i s s o w a V I 7 8 7 / 8 . Die Änderung im Wortausgang könnte
man durch Angleichung des griechischen Wortes an etr. -««¿-Bildungen erklären, falls
man nämlich solche Form schon fürs Etruskische und nicht erst fürs Lateinische ansetzt,
w a s idi allerdings für angemessen halte.
324 Lateinische Sprache und Literatur [167¡168]

liehen Stil ihrer Wandmalerei (Mon. d. Inst. X I tav. 25) kaum später als
500 gerückt werden darf. Das spricht im Verein mit dem Fundort durch-
aus für unmittelbare Entlehnung des etruskischen Wortes aus dem Grie-
chischen. Zweitens muß man darauf hinweisen, daß die Frühgeschichte des
römischen Bühnenwesens mit einem an sich dürftigen Tatsachenmaterial
arbeitet und nicht einmal auf unbefangener Auffassung dieses Materials
beruht, sondern es durch bewußte Parallelisierung mit dem griechischen
Entwicklungsgang in trügerisches Licht setzt. Niemand also darf mit Ent-
schiedenheit bestreiten, daß etwa vor den oskischen Atellani schon die
tuskischen histriones Masken nach Rom gebracht hätten. Aber selbst wer
dies für unerlaubte Willkür gegen die Uberlieferung hält, kann bei der
Übernahme des etruskischen Wortes ins Lateinische bleiben, wenn er sich
vergegenwärtigt, wie lebhaft in Camjpanien etruskischer Einfluß, wie
stark die Sprachmischung war (W. Schulze, Zur Gesch. lat. Eigennamen
62 u. sonst), und wie spät das etruskische Idiom dort erloschen ist (Nissen,
Ital. Landesk. II 682). Demnach wäre es schließlich auch nicht unmöglich,
etruskischen Namen und oskische Sache mit einander zu verbinden. Der
dossennus in der Atellane trägt eine Bezeichnung, deren „latinischer"
Ursprung recht zweifelhaft ist4, deren Endung mindestens - trotz Bueche-
ler5 - stark ans Etruskische erinnert.
Aber mag hier auch der Weg im einzelnen gewesen sein, welcher er
wolle, einiges ist sicher oder doch sehr wahrscheinlich. Dazu gehört, daß
die Maske auf dem römischen Theater zuletzt die griechische Maske ist, ob
nun Etrusker oder Osker als Vermittler zu betrachten sind. Die oskische
Posse bezieht ihre Maske von den Griechen. Denn sie stammt entweder
überhaupt vom Phlyax ab oder ist zum mindesten aufs stärkste von die-
sem beeinflußt (vgl. Bethe, Proleg, zur Gesch. d. Theaters 293 ff.). Nicht
minder fest steht es, daß die Bühnenmaske der Etrusker mit deren
gesamter höheren Kultur und Kunst nur von den Griechen stammen kann.
Ob also Osker oder Etrusker oder beide die Maske nach Rom gebracht
haben, jedenfalls ist es die griechische Maske. Dazu paßt aufs beste das
Ergebnis der Sprachbetrachtung, die in dem Worte persona eine Entleh-
nung aus dem Griechischen erkennt. Und wenn nun die Römer nachweis-
lich ihre Theatermaske zunächst nicht unmittelbar von den Griechen über-
nahmen, sondern auf Umwegen, so stimmt dazu nicht minder gut die Be-
obachtung, daß auch das sprachliche Zeichen für den Gegenstand nur als
indirekte, vermutlich durch die Etrusker vermittelte Entlehnung aus dem
Griechischen aufzufassen ist.
4
Bekanntlich deutet man dossennus in der Regel als dors-ennus, während im Gegensatz
dazu W. Schulze a. a. O. 283 das Wort als „etymologisch dunkel" bezeichnet.
5
Rh. Mus X X X I X 420. - TT]ßEwa ist doch wohl etr. Lehnwort im Griechischen. Dafür
spricht auch die Notiz im Et. M. und bei Phot. s. v. rrißEwa, wo das Wort nicht wie
in den Glossen gewöhnlich als 'Pcofiaixf) eaör|; erklärt wird, sondern die Erklärung
lautet: lnáxiov x^-öl^g o cpoooíai Ti>qqt)voí (so Buecheler statt des überlieferten
•njpavvoi).
Retractationes I I 9 - 1 1

1932

9. De Lucre ti vv. I 44-49

De versibus conclamatis, quos inde a Manilio ad Dielesium usque


omnes fere editores deleverunt, nondum diiudicatum esse apparet, quo-
ndam nuper oblocuti sunt Bignonius Italus (RivFil. 1919 - in volumine
insania bellica dehonestato) et O. Regenbogen (HumGymn. 1930, 100;
Lukrez [1932] 69). Qui quamquam poetam ipsum, non interpretem, hanc
versuum seriem addidisse merito pronuntiaverunt, a vera ratione eo mihi
videntur aberrare, quod ille in lacuna post v. 49 supponenda intercidisse
poetae allegoricam Veneris explicationem autumat, hie Lucretium suos
versus margini adscripsisse, quos cum reliquo prooemio nondum ad finem
peracto postea concinnaret. Consentiunt igitur hi quoque cum ceteris eo,
quod vv. 44-49 cum antecedentibus insequentibusve concinere negant. Ego
contra omnes meam opinionem defendam simplicem et propter ipsam
simplicitatem haud scio an veram: vv. 44-49 suo loco et uno tenore cum
ceteris a Lucretio positos esse, ita ut neque ante neque post eos ullum la-
cunae indicium iure deprehendatur.
Errant autem in eo interpretes omnes, quod horum versuum indolem,
quibus Epicuri xvgia 8ó|a prima a Lucretio concipitur, e secundo libro
(vv. 646 sqq.) explanare conantur. Illic enim vanae hominum religioni
quamvis eximie allegoriae ope elucidatae Epicuri vera ratio (v. 645) ex-
pressis verbis opponitur. Quodcontra in libro I nulla significatur oppo-
sitio. Vix ultimus versus (49) huius seriei ita intellegi potest, haudquaquam
debet, ut contradicere videatur hymno in Veneris honorem concepto.Nam
plane aliud vel,ut clarius loquamur, plane contrarium inter hunc hymnum
versusque omnis enim per se . . . interest atque inter eosdem in libro II
versus illumque de Magna Matre locum. In libro I enim verbum princi-
pale, quo cum antecedentibus coniunguntur, pax est (id quod iam Big-
nonius sensit, non ad finem persecutus est): tu sola potes tranquilla pace |
iuvare mortales 31 — petens pacem 40 - summa cum pace 45. (Neque casu
fit, quod verba talibus in rebus v. 43 similitudinem habent cum verbis
semota ab nostris rebus v. 46.) Rogatur Venus a poeta, ut pacem donet,
quippe quae sola pacem donare possit. Exponitur a philosopho deorum
naturam in ipsa pace constare. Hoc unum vix Epicurus ipse asseclas vetare

[Hermes LXVII, 1932, S. 43-46.]


326 Lateinische Sprache und Literatur [44 ¡45]

poterai ne deos rogarent: pacem. taCt' ovv öeXe naì aìtoi tòv $eòv a $éXei
xaì EOTiv axnóg, ut Porphyrii verbis utar (ad Marcellam 13). Nihil igitur
contrarii Lucretius — ut taceamus de fabuloso ilio interprete! - versus
44—49 habere voluit cum antecedentibus, immo his illos fulcimento esse.
Tribus versibus (44-46) praedicatur deorum naturam in pace constare.
Quod alteris tribus (47-49) probatur: removentur enim a dis non modo
dolor metusque (47) sed etiam ii affectus, quos deorum proprios iudicare
solet falsa religio, gratam voluntatem dico, quae hominum bene factis
paratur, et iram. Sed ne in ultimo quidem versu quicquam invenies, quo
preces Lucreti impugnari potius quam fulciri iure perhibeas.
Iam demonstrabimus versus addubitatos etiam cum insequentibus
coire in unum contextum. Atque primum hic quoque repetitione quadam
verborum ad conexum recte aestimandum perducimur. Semota ab nostris
rebus est natura deorum (v. 46), semotum a curis ut animum praebeat,
Lucreti verbis paulo post (v. 51) Memmius rogatur. Eadem igitur pace
vel vel àraga^ig., qua cum antecedentibus coniungi vidimus versus
addubitatos, nunc cum insequentibus eos coniungi videmus. Rogatur
Venus, ut pacem condonet Romanis. Rogationi fulcimento est xuQÌa òó|a
prima. Tunc ad Memmium se convertii Lucretius, quem tali securitate
fruiturum sperat, ut sapientiae vacet aures praebere.

10. De prooemio Lucretiano

De prooemio universo indefessis doctissimorum curis pauca addere


liceat, ut solito facilius dispiciatur sententiarum nexus et partium neces-
saria concinnitas. Neque casu fit, quod tam laboriose et diverse interpre-
tum sententiae distrahuntur. Quod nequaquam fieret, si de Augusteae
aetatis poemate ageremus. Lucretius contra nondum dereliquit vetustioris
artis duritiem et semitas contortas.
Prooemiorum propria haec sunt, ut cum Aristotele loquamur: ejtcuvog,
öelyna -toi Xóyou, tà jtpòg tòv àxgoatr)v. Lucretius tres laudationes esse
voluit: Veneris [ 1 ] Epicuri [2] Enni [3]. Ter | Memmium appellai opus-
que ei offert vel commendai: vv. 26 sq. [a] 50 sq. [b] 136 sqq. [c]. In tres
partes argumenti propositionem discerpsit, ita ut primo [a] argumentum
generale quam brevissimum poneret v. 25, deinde singulare iterum bi-
partito distribueret v v . 54 sqq. [ß] et 127 [7]. Haec autem cur tam miri-
fice digesserit, intellegi nequit nisi ex universa prooemii ratione.
Universa prooemii ratio repetenda est ex Epicuri Sententiarum decima
prima: eì (rr|dèv rjiiag al xwv iìetewqojv vjco\|hou f|vó>xXouv xaì al jieqì flavàtov,
UT) note jiQÒg r|(iàg fi ti, . . . ofix av jtgocreÖEOHEfta (pvaioXoyiag. Qua sententia
cum indoles totius quodammodo carminis signifìcatur, tum prooemii
piane continetur: agitur enim de rerum natura [A], impugnatur religio
[B] ; agitur de illa, ut haec impugnetur.
[45¡46] Retractationes I I 9 - 1 1 327

Tres partes prooemii dignoscuntur, si modo semitam paulo rigidiorem


reddere licet simulque cognitu faciliorem. Pars I (vv. 1—61) est de natura
[A], pars II (vv. 62-126) de falsa religione [B], in parte III (vv. 1 2 7 -
145) revertitur poeta ad naturam [A]. In parte I ineunte secundum legem
prooemiorum illud de natura argumentum formam hymni [ 1 ] induit.
Depingitur autem Venus primum (vv. 1-27) sub imagine deae íúaecog,
deinde (vv. 28-49) praedicantur de ea quae Epicurus in Sententia prima
Ttp naxapícp ácpftáptcp tribuit. Harum particularum utrique inculcantur
et singulae Memmi appellationes et singulae argumenti propositiones
([a a] vv. 25—27, [b ß] vv. 50-61), adeo ut in fine totius partis I oculis
subiciatur Natura creans eiusque materies.
Postquam in parte I illud de natura argumentum [A] ad culmen
elatum est — simulque novam quandam religionis formam progenuit - ,
derepente in parte II ad religionem veterem impugnandam [B] transitur.
Parti II inseruntur (vv. 66-79) laudes Epicuri [2], qui religionem im-
pugnare docuit,et (vv. 1 1 7 - 1 2 6 ) Enni [3],qui,quamvis falsa protulerit de
animarum natura, tamen ut princeps poeseos Latinae honoribus ornatur.
In fine autem haec altera prooemii pars revertitur ad rerum naturam
(v. 126), cui pars III tota incumbit, ita ut tertiam argumenti proposi-
tionem [y] et tertiam Memmi allocutionem [c] adsciscat.
Iungitur prooemium cum ipso poemate quattuor versibus (146-149).
In his argumentum duplex, quod antea in tres partes principales prooemii
evolutum dispeximus, rursus in unum | enuntiatum coartatur sicut in
Epicuri Sententia X I : religionem diruit naturae ratio.

11. Lucr. I yj8

Quorum utrumque quid, a vero iarrt distet habes. Versum truncum sic
praebent Oblongus, Quadratus, Schedae Vindobonenses unanimiter.
Temptabat corrector Oblongi habe(bi)s. At displicet tempus futurum,
quoniam in priore libri I parte „utrumque" demonstratum est, scilicet
nihil de nihilo gigni nihilque ad nihilum interire. Rectum videtur
habe(mu)s, qui exitus hexametri commendatur versu V I 7 1 1 item in
multis hoc rebus dicere habemus.
The Epicurean Theology in Lucretius' First
Prooemium (Lucr. I. 44-49)

1939

In the History of the Prooemium — an important history which has


still to be written - the first hundred and fifty lines of Lucretius will
always claim a place as one of the outstanding examples of this genre.
The material of the building and the ground-plan, the construction of
the parts and the ornaments: all are extraordinary. The history of its
interpretation is a less glorious chapter.
The address to Venus-Nature after the first "predications" usual in
hymns1 unfolds into an Hellenistic parenthesis: the description of her
triumphant entry at spring-time. The address slides into a short first pro-
positio thematis de rerum natura (25) and a short first dedication Mem-
miadae nostro (26). The request necessary to such a hymn reads: aeter-
num da dictis diva leporem (28).
The address takes a second start. In the midst of the unrest of the
present times - belli fera moenera (32), patriai tempore iniquo (41) -
Venus is invoked as the sublime mistress of Mavors armipotens. This
second request unfolds into the Hellenistic picture of Mars lying in the
lap of Venus, embracing and embraced2. The request itself is: grant us
peace! (40) |
Then the invocational hymn gives place to six (twice three) verses
(44-49), containing the Epicurean theology. The famous first xupia 5o§a
of Epicurus: To [xay.&giov y.ai äqyüapxov oike aiito jtoaYiicrta e'xei otke a)J.a>

[Transactions of the American Philological Association L X X , 1939, S. 368-379.]

1
Cf. Ed. Norden, Agnostos Theos (Leipzig, Teubner, 1913), 150, 350.
2
C f . the pictures of Aphrodite and Adonis: E. Pfuhl, Malerei und Zeichnung der
Griechen (München, Bruckmann, 1923), § 642, Fig. 594 (Meidias-Painter); Fig. 669
(Pompeii). Dionysos and Ariadne: L. Curtius, Die Wandmalerei Pompejis (Leipzig,
Seemann, 1929), Fig. 193 (Villa Item). Cista Praenestina, No. 54.135 Walters Art
Gallery, Baltimore (shown to me by Miss Dorothy K. Hill). Ares and Aphrodite:
Curtius, op. cit., /rontispiece; Pfuhl, op. cit., Fig. 668 (Pompeii). These and other
kindred pictures and the passage of Lucretius must be added to the collections of
Eduard Schwyzer, "Der Götter Knie - Abrahams Schoss," in 'Avtiöiopov, Festschrift
Jacob Wackernagel gewidmet (Göttingen, Vandenhoeck, 1924), 292 f. They may
modify his judgement: " U m den Geliebten im Schosse der Geliebten und den um-
gekehrten Fall zu finden, muß man im Abendlande im allgemeinen in tiefere Kreise
des Lebens und der Literatur hinabsteigen."
[3691370] The Epicurean Theology in Lucretius' First Prooemium 329

jtapEXEi... is rendered as closely as possible in Latin verses; the peaceful


existence of the Epicurean gods is formulated in such a solemn manner
that the sorrowless life of those dethroned potentates becomes a thing of
envy.
This theology is followed by an address to the human addressee. The
poet asks his attention, free from cares, for the true knowledge of Nature
(50-53). A second and more detailed propositio thematis culminates in
the fundamental conception of the atom and deals with its different
names — res in nominibus — (54-57, 58-61). The first main part of the
prooemium has reached its goal.
As early as the Juntina of 1 5 1 2 the six verses dealing with the Epi-
curean theology (44-49) were simply omitted on the advice either of
Jovianus Pontanus, the Academician of Naples, or of his pupil Michael
Marullus, the Italianized Byzantine, both of them poets, humanists, and
enthusiastic students of Lucretius3. Philologists of such high rank as
Isaac Vossius and Carl Lachmann have stabilized this judgment and given
sufficient reason for it: a "lector frustra curiosus" had written the lines
in the margin of his copy in order to show that the invocation to Venus
clashes with the Epicurean doctrine of the gods inaccessible to all human
influence. Only in recent years has it been seen that the verses may not
be athetized.
I will not repeat the arguments of Bignone and Regenbogen4. | They
held that the six verses had been put into the margin by Lucretius himself
at a later period of his career when he intended either to change or even
to destroy the conception of his own prooemium.
I once tried to demonstrate5 that these verses are in their right place,
connected with what precedes and with what follows as strictly as one
can expect in this art which is not classical art but, rather, Hellenistic and
archaic at once6. But I must now go much further: Thesse six verses are the

3
C f . the edition of Munro, Introduction to Notes, I, 3rd edition, 5 ff. An attractive
picture of Marullus is given by Ivo Bruns, Vortrage und Aujsatze (Miindien, Beck,
1905), 380 ff. See, also, G. D. Hadzsits, Lucretius and His Influence (cf. note 14)
258 ff.
4
E. Bignone, "Nuove ricerche sul proemio del poema di Lucrezio," Rivista di Filologia
X L V I I (1919), 423 ff.; O. Regenbogen, Lukrez (Leipzig, Teubner, 1932), 65 ff.
Bignone conjectures that Lucretius intended to bridge the contradiction by an alle-
gorical explanation of his myths of Venus. Regenbogen's dramatization of the struggle
between poet and philosopher results in the hypothesis that the philosopher was about
to destroy the loftiest piece of his poetry when his death or suicide saved it. In line
with Bignone and Regenbogen is the "restoration" by N . H. Romanes, Further Notes
on Lucretius (Oxford, Blackwell, 1935), 7.
s
"Retractationes II," Hermes L X V I I (1932), 43 ff. I wish to enforce what I have said
in that article.
6
On the archaic character of the composition I agree with F. Jacoby, "Das Proomium
des Lucretius," Hermes L V I (1921), 17 ff.: "Wir miissen die Arbeitsweise anerkennen,
die innerhalb des als Ganzes entworfenen Planes die einzelnen Gedanken und Glie-
330 Lateinische Sprache und Literatur [370/371]

systematic culmination of the whole prooemium, which without them


would miss not alone its poetic unity but also its purpose as a piece of
Epicurean doctrine.
To be sure, the almost unanimous verdict of critics must have some
reason. There is a discrepancy: on the one hand, the poet's prayers to Venus
and his pictures of her; on the other, the philosopher's dogma of the
serene and inaccessible goddess. Y e t this is the fundamental discrepancy
in the philosopher-poet himself, a feature so well known to every sensitive
reader that no further word about it is necessary7.
But, this granted, one must at once face the other side: | Lucretius has
done all he could to unite the hymn and the theology. The whole hymn
is so laid out that peace becomes more and more its ruling idea. Even in
the first picture, Venus at spring-time, features occur which the pro-
oemium of the third book will introduce again in the vision of the
peaceful Epicurean Olympus. Here (i,6 ff.):

te, dea, te fugiunt venti, te nubila caeli

tibi rident aequora ponti


placatumque nitet diffuso lumine caelum.

There (III. i 8 f f . ) :

divum numen sedesque quietae,


quas neque concutiunt venti nec nubila nimbis
aspergunt
innubilus aether
large diffuso lumine ridet.

The second picture of Venus, in the prooemium, glorifies her victory:


Mars is painted as devictus volnere amoris; he hangs on her lips: eque tuo
pendet ... ore; she enfolds him: circumfusa super71. This picture is
encircled by the twice repeated word pax. The ritual formula 8 of hymn

der in sich zu Perioden abrundet, diese einzelnen Perioden von meist sehr beträcht-
lichem U m f a n g aber unverbunden" - I would say: unconnected or loosely connected -
"nebeneinanderstellt und es dem Leser überläßt, sich den logischen Zusammenhang,
die verbindende Partikel oder den Zwisdiengedanken zu ergänzen. . . . "
7 It is remarkable that Regenbogen (op. cit., see note 4), w h o deals so extensively with

the duality of poet-philosopher, misapplies this principle in dealing with the problem
of Omnis enim. ... M a y I add that the book of Regenbogen spares me the trouble
of quoting the long bibliography.
7 a C f . M . de Montaigne, Les essays, I I I . j , "Sur des vers de V i r g i l e " : C e que Virgile

dit de Venus et de Vulcan, Lucrece l'auoit dit plus sortablement de la iouissance


desrobee d'elle et de Mars. . . . Quand ie rumine ce, reiicit, pascit, inhians, molli,
fovet, medullas, labefacta, pendet, percurrit, et ceste noble, circumfusa. ... i'ay des-
dain de ces menues pointes et allusions verbales qui nasquirent depuis etc.
8 C f . Norden, op. cit. (see note 1), 153, 350.
[371j373] The Epicurean Theology in Lucretius' First Prooemium 331

and prayer heralding the invoked goddess, justifying the invocation, is


here: nam tu sola potes tranquilla pace iuvare / mortales. The ritual re-
quest in which the hymn culminates is here: suavis ... loquellas / funde
petens placidam Romanis, incluta, pacem. In the theology the words
summa cum pace are strongly emphasized, which is the more important
as in Epicurus' first Kvgia 8o£a they have no verbal equivalent at all.
So it is evident that Lucretius has done all he could to harmonize the
mythology and the theology®. The word enim (44)®" is the symbol of his
conviction that this harmonizing of what after all is discrepant had
succeeded xard TO Suvcrtov JROIRIXFI.
The philosopher in Lucretius would never have conceded to the poet
the text of the prooemium printed in almost all modern editions. Leaving
the last word to the beautiful but dangerous mythology would have
seemed impiety to the follower of Epicurus. The six verses labelled in our
manuscripts and - who knows? — perhaps already in Lucretius' manus-
cript TO MAKAPION KAI A$0APTON are his endeavor to interpret his
myth in the light of his philosophy.
The theology is also bound to the following part of the prooemium.
If the six verses are dropped, the sense of the address to the addressee
becomes very superficial. Animum ... semotum a curis adhibe veram ad
rationem: that would mean "Turn your mind free from the cares of the
present political situation to the true reason of the Epicurean system."
But this interpretation would be against very real convictions of Lucretius.
In a beautiful passage of his second prooemium he points out that real
fears and sorrows of men

nec metuunt sonitus armorum nec fera tela


audacterque inter reges rerumque potentes
versantur.

So it is obvious that the curae from which he wishes to withdraw his


Memmius are not personal and political cares. That he cannot do, nor
can Memmius, since he is a Roman official. But in the very midst of
these occupations he can really be semotus a curis, i. e. from the real
sorrows. Curae in the daily | sense is not in opposition to vera ratio.

9
M y statement, loc. cit. (see note j), 43, has been followed by J . Martin in his edition
of Lucretius (Leipzig, Teubner, 1934) but opposed by Friedrich Klingner in the book
of K . Büchner, Beobachtungen über Vers und Gedankengang bei Lukrez (Berlin,
Weidmann, 1936), 105. His argument is that peace in the Roman empire and peace
in the realm of the gods are entirely different. The obvious reply is that the peace of
God, though entirely different, is and must be the example of all human peace or
there would be no use in talking about divine peace at all.
91
It is understood that enim refers not to the immediately preceding lines 4 1 - 4 3 but
to 38-40 and ultimately even to 29-32.
332 Lateinische Sprache und Literatur [373]

T h e question is h o w the real Tagaxr) can be changed into real ycdrivianog.

quid dubitas quin omnis sit haec rationis potestas?

( 1 1 . 5 3 ; cf- 59 ff-)- S o this address t o Memmius, which forms the end of


the first great p a r t of the prooemium, receives its light f r o m the preceding
theology.
This connection is not only a personal one established b y Lucretius.
W e find almost the same trend of thought in E p i c u r u s ' letter to H e r o -
dotus ( 8 0 - 8 2 ) : T h e main trouble in the human soul, says the Master,
is the belief that these celestial bodies are divine: ev tw xavxa aay.apia xe
6o|ateiv xai cicpOapta; a n d - b u t that is missing in this passage of Lucretius
- t h a t death is f e a r f u l . S o the right insight into the nature of physics
and of TO ¡xaxoiQiov xai acpdaptov w i l l help us to reach our aim: TO ¿Tagaxov
xai naxapiov rpcov. These v e r y expressions of E p i c u r u s show b y their
verbal similarity that his theology is not meant to put the G r e e k gods
into retirement as exservice rulers, but to establish them as the images
and prototypes of the Epicurean sage. Y o u must f o l l o w this model o f
the naxapiov " a t aqpOaptov-so w e must read between the lines or in the
g a p which Lucretius purposely left between 4 4 - 4 9 and 50 f f . - y o u must
f o l l o w it in order to reach TO druQay.ov xal naxagiov in y o u r o w n soul -ut
nihil impediat dignam dis degere vitam, as Lucretius says in a later verse
ni.332)-^r|aEis be cog fteog ev dvftgcbjtoig, in the w o r d s of Epicurus to his
Menoeceus ( E p i s t . 111, end) 1 0 .
B u t the radiation of the six verses is still more extensive: their
theology is bound even to a later passage of the great prooemium. W i t h
a sharp, fresh s t a r t - a n astonishing a s y n d e t o n - I feel it a v e r y beautiful
harshness, though other critics h a v e censured it as " i n t o l e r a b l e ' ^ - t h e

1° C f . also Epicurus, Frag. 602, Usener; Diogenes Oenoand., Frag. L X I I I , William. C f .


Heinze's Commentary to Lucretius III.322; Diels, "Ein epikureisdies Fragment iiber
Gotterverehrung," Sitzungsb. PreujS. Ak. Wiss., Phil.-hist. Klasse (1916), 893 ff.
11
Regenbogen, op. cit. (see note 4), 77; Biidiner, op. cit. (see note 9), 1 1 5 . A similar
harshness, though not so sharp (and, I feel, not so beautiful), occurs in 102: Tutemet.
. . . I stress the judgment of R . and B., as it shows how carefully one must distinguish
between what is an observation ("harsh") and what is a judgment of personal taste
("unsupportably harsh"). Philology is full of this confusion. Incidentally, the thesis
of Biichner, 166 if., that the praise of Epicurus, 62-79, is a later piece of poetry than
the other prooemium, is refuted by the fact that ilia reltgio in 8 2 - 8 3 ' s understandable
only as a clear reference to the fight against religio in 62-79 (cf. especially 63 and
78). Biidiner has seen this weak point in his thesis and tries to overcome it - in vain.
metus ille in III.37 is quite different, ille being in close relation to the relative clause
qui vitam turbat ab imo. The observation of Biidiner that the enjambement has in the
praise of Epicurus a treatment different from the other parts of the prooemium is
right, but proves only that the difference of style means also difference in the tech-
nique of enjambement. Against the arguments of Regenbogen (op. cit. [see note 4],
68), designed to prove that I.1-43 and 50-61 represent the first (though unfinished)
plan of the first prooemium, I have strong objections (cf. also Biidiner, op. cit. [see
[373)375] The Epicurean Theology in Lucretius' First Prooemium 333

second part of the \ prooemium opens: Humana ante oculos foede cum
vita iaceret . . . One does not know whither the thought will turn, until
one is aware that the nightmare of the all-oppressing Religio is overcome
by the savior Epicurus. Well, this struggle against the wrong theology
which emphasizes the praise of Epicurus derives its right to appear in the
whole of this prooemium from the statement of the right theology.
Lucretius could not struggle against the one before having stated the
other.
Humanity crushed down under the weight of Religio, Religio lower-
ing from heaven upon mortals-this aspect is exactly the contrast to the
peaceful eternity of the |J.ay.aQiov xal acpOagtov, far removed from our
concerns, wanting nothing from us, not | moved by anger. And this
view is precisely one of the trophies which triumphant Epicurus had
brought back from his victorious campaign: finita potestas denique cuique
(to everyone and most of all to the gods) / quanam sit ratione atque
alte terminus haerens. And the last words of this triumphal hymn nos
exaequat victoria caelo are not merely the emphatic expression of a
feeling: they gain their systematic sense in the Epicurean system, if we
think again of the Master's words i;r|a£lS 8e ¿5 ftsog ev dv^Qcbitoig-which one
can neither understand nor fulfil without the right knowledge about
t o naxdQiov xai acpftaQtov.
Epicurus has overcome the wrong Religio, but it always remains.
So the praise of the Master is followed by the struggle against this
ever-menacing power. And again-the philosophical intensity of this
struggle is invalidated (though the personal and poetical intensity may
persist), if its systematic foundation, the right theology, is broken off.
Observe the philosophical direction of the beautiful example of falsa
Religio, the sacrifice of Iphigenia. The leaders of Greece-ductores
Danaum delecti, prima vivorum (one hears bitter criticism in these words
and the implied contrast with the genuine Greek leader, Epicurus)-have
stained the altar of the goddess, turparunt sanguine foede. Before the
altar in sadness stood the father and the citizens, in fear and despair

note 9], 1 1 5 ) : (1) " V e r s 55 disserere incipiam läßt bei unbefangener Interpretation
keinen Z w e i f e l daran zu, daß die Sadibehandlung nun beginnen soll." Whether
incipiam means after seven verses or after ninety-five verses, unbiased interpretation
cannot decide. The small word " n u n " is a dangerous addition of the interpreter;
(2) " . . . d i e Verse 58-61, deren terminologische Feststellungen vernünftigerweise nur
den Zweck haben können, nicht zu einem Elogium auf Epikur überzuleiten, sondern
der Sadibehandlung die Grundlage zu geben." I do not see w h y these verses must
reasonably have one of these two purposes. I think they have a third, to bring the
first main part of the prooemium to its goal, i. e. to the statement of what reality
is. For the sake of method I stress the f a c t : in both cases emphatic words make up
for the shortcoming of argument: "bei unbefangener Interpretation," "vernünftiger-
weise." - I still think that I have demonstrated, although in a somewhat schematical
w a y , the plan of the whole prooemium {loc. cit. [see note 5], 44 f.).
334 Lateinische Sprache und Literatur (375¡376]

the daughter. She was sacrificed at the altar casta, inceste. The indignation
of the poet receives its strength from the theology: summa cum pace ...
semota ab nostris rebus ... nil indiga nostri, nec bene promeritis (like
a sacrifice) capitur neque tangitur ira (such as these Greeks imputed to
Trivia virgo).
The right theology as the foundation of the philosopher's struggle
against superstition-impiety not on the part of those who fight against
the popular beliefs, but on the part of the believers-this trend of thought,
of course, is not established by Lucretius, but by Epicurus himself. The
beginning of his letter to Menoeceus (123) proves it and therefore proves
the indispensability of the six verses: |

Epicurus 123 Lucretius I


tòv deòv £(¿>ov «cptìuQTOv xal TO MAKAPION KAI A3>OAPTON
(iaxÓQiov vojú^aw, [itjftèv |XT)TE omnis enim per se . . . 44-49
rfjg àtpdaoaiag ódXÓTgiov |rr|T£
xfj; uaxaQióxrixog òvoìheiov as did the ductores Danaum 84 if.
aùtà) jtQÓaajtxe . . . and the vates 102 fi.
fteol uèv yàg elaiv . . . oiou; oppressa . . . sub Religione 63
8' aùtovi; oi noi.Xoì vo|it- Religio pedibus subiecta 78
£ouaiv ow eiaiv . . .
daeßrig 5è ov% ó toùc; ne forte rearis/ impia te
tùW jioì.Xùtv Sóija; rationis inire elementa 80-81
àvaigcòv, àXV ò t à ; quod contra saepius illa/
Ttòv jioXXwv 5ó|a; Religio peperit scelerosa
öeotg nQoaá.Txcov atque impia facta 82-83

Finally I feel-I stress the subjectivity-I feel the radiation of the six
theological verses in a very beautiful word near the end of theprooemium:
noctes vigilare serenas. Severas coniecit Bentley-one of his sacrileges
against beauty. "Serenas seems merely a poetical epithet," says Munro.
On the contrary! As a mere poetical epithet (if such a thing exists in
genuine poetry) it would be senseless. Did Lucretius work only in good
weather? Serenas becomes ingenious and beautiful at the same time
when it is understood of the poets' spiritual landscape. Serenitas is not
the clearness of star and moonlight; its light is the same as in the follow-
ing words: clara tuae possim praepandere lumina menti. Serenus in
Lucretius is linked with tranquillus and placidus:

II.8 : sapientum tempia serena;


II.1093 f.: prò sancta deum tranquilla pectora pace
quae placidum degunt aevom vitamque serenam;
III.292 f.: pacati status aeris ille,
pectore tranquillo fit qui voltuque sereno.

O f course, noctes vigilare serenas understood as I have explained it


would be understandable without the six verses. But the beautiful ex-
[376j378] The Epicurean Theology in Lucretius' First Prooemium 335

pression gains philosophical value when one hears in it that serenity of


the sage of which the overtone is the serenity of the gods. |
For the theology of Epicurus has not only the aim of calming the
human mind and freeing it from fear. A t the same time it provides the
adept with the highest example of life to be followed. Thus it is a
definite purpose of Lucretius to give in every one of his prooemia 12 a
positive statement about the existence either of the gods or of the phi-
losopher or of both. In Prooemium n he praises

édita doctrina sapientum templa serena (II.8)

and the view thence of the unrest of human life. This serenity and
aloofness recall the divine existence, and when nature desires

utqui
corpore seiunctus dolor absit, mente fruatur
iucundo sensu cura semota metuque (II.17 fT.),

these very words recall the theology of the first prooemium. Prooemium 111
presents the Epicurean Olympus and the nature of its inhabitants:

apparet divum numen sedesque quietae

semperque innubilus aether


integit, et large diffuso lumine ridet
neque ulla
res animi pacem delibat tempore in ullo.

Prooemium v praises the Master, who

fluctibus e tantis vitam tantisque tenebris


in tarn tranquillo et tarn clara luce locavit.

This serenity and bright light of the philosopher's life reflect the "far
diffused light" of the Epicurean Olympus. The Master is worthy of
ranking with the gods whose nature he | himself has declared with a
divine tongue (v.j2ff.). Prooemium vi combines the praise of Epicurus,
who has demonstrated

. . . bonum summum quo tendimus omnes (26),

with the statement that the tranquil peace of man depends upon right
insight into the calm peace of the gods (68-79). So the theology of the

12 Except the prooemium of book I V . But it is known (cf. J. Mewaldt, "Eine Dublette
in Budi I V des Lucrez," Hermes X L I I I [1908], 286 ff.) that the poet himself trans-
posed this prooemium from its place into the first book. So the beginning of book I V
is in no definite state at all.
336 Lateinische Spradie und Literatur [3781379]

first prooemium is linked not only with the other parts of the same
prooemium but also with all the other prooemia of the same poem.
George Santayana in his penetrating essay on Lucretius 13 deals in
a sympathetic manner with the religion of the Epicureans, who "ad-
mitted the existence of gods in the quiet space between those celestial
whirlpools which form the various worlds," living "the serene life to
which Epicurus aspired." He imagines a poet who "should have found
an inexhaustible fund of poetry in this conception of the immortals
leading a human life, without its sordid contrarieties and limitations,
eternally young, and frank, and different!" But then he ends by stating
that Lucretius was not this poet and why he was not. "Lucretius was too
literal, positivistic, and insistent for such a delicate task. He was a
Roman. Moral mythology and ideal piety, though his philosophy had
room for them, formed no part of his poetry." The deficiency, however,
is not in the poem but in the interpretation of Santayana. It was the fault
of the modern editors that he did not find the Epicurean theology in the
heart of the first prooemium. Otherwise he would not have overlooked
this thread in the tissue of the whole poem (1.1015; 11.646fF.; m . i 8 f f ;
v.82ff.; 146fF.; 165fF.; 309fF.; vi.58fF.; 68fF.) 14 . He would not have
failed to hear such grandiose and ardent invocations as: |

II.434 ff.: tactus enim, tactus, pro divum numina sancta,


corporis est sensus . . .
II. 1093 ff.: nam pro sancta deum tranquilla pectora pace,
quae placidum degunt aevom vitamque serenam.

Nor would he have forgotten that Lucretius intended to discuss fully


the "nature of the gods" and that only death prevented him from
fulfilling his promise (v.i 5 5):

quae tibi posterius largo sermone probabo.

13
George Santayana, Three Philosophical Poets, Lucretius, Dante, and Goethe (Cam-
bridge, Mass., Harvard University Press, 1910), 62 ff.
14
Cf. George D . Hadzsits, Lucretius and His Influence ( N e w York, Longmans, 1935),
chapter V I I : Lucretius and Religion; E. E. Sikes, Lucretius, Poet and Philosopher
(Cambridge, University Press, 1936), chapter VI: Epicurean T h e o l o g y .
Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius

1941

Rosamund E. Deutsch in her Bryn Mawr dissertation "The Pattern


of Sound in Lucretius" (1939) has pointed an excellent lesson for the
reader of the poet: Read aloud, accustom your ear to the music of this
language, hear the alliterations, assonances, rhymes, the similarities and
the contrasts of sounds, the repetition of words, be it in a single verse
or in two or spread over five or fifteen or fifty, and you will have an
experience to be equalled with few other poems at least in European
literature. This lesson I want to pursue. My suggestion is not meant
to "explain" the music of the vowels and consonants. The whole of it
can be explained as little as can the lilies of the field; but many of the
facts which Miss Deutsch has collected and sifted with care and love
admit of an explanation and require it,-as Lucretius himself has stated.
The explanation is to be found in an important point of his theory
of language (which is after all the theory of Epicurus and the old
Atomists). It is well known that he considers "nature" and "utility"
as the factors at work in the genesis of speech, nature producing the
sounds, utility moulding the names of things (Lucretius, V, 1028 f.) 1 .
This origin, he states, is quite natural and not at all mysterious, as
experience shows the first step even in dogs, horses, and birds. His
passage dealing with the "language" of animals (1056 ff.) is a master-
piece of his art of expressive sounds. At the beginning one feels the
dogs' lips move in canuM cuM priMuM Magna MolossuM Mollia ricta
freMunt, their teeth uncovering in Duros N»D«NTi<z DeNTes, hears
their growling in Rabie ResiRzcta minantuR2, later on their barking in
cum iam latrant et vocibus omnia complent. It is quite obvious that the
poet does not merely enjoy adorning a vivid description with a multitude
of assonances. He rather presents the natural operation of lips, teeth, and
pharynx and then shows the sounds of the animals in such onomatopoeic
words as adulant, baubantur, hinnitus (1070 ff.) and onomatopoeic names

[American Journal of Philology L X I I , 1 9 4 1 , S. 1 6 - 3 4 . ]

1 C f . C . Giussani, T. Lucreti Cari De Rerum Natura, I (Torino, 1896), pp. 267 ff. For
other aspects of this problem cf. Phillip DeLacy, " T h e Epicurean Analysis of Lan-
guage," A . J . P., L X (1939), p. 85. Concerning the background in Democritus cf.
E. Frank, Plato u. d. sog. Pythagoreer, pp. 167 fi.
2
(re)stricta is Ladiman's conjectural restoration which is almost certain.
338 Lateinische Sprache und Literatur

as comix and corvus (1084). Thus one directly experiences the natural
process by which the Jtuftri and cpavtda|iaxa of men produced and produce
appropriate movements, sounds, and words.
This is the foundation of an important thought which Lucretius
cherishes and utters again and again 3 . The "letters"-this name covering
at the same time what we call letters and sounds-are the elements of
language, a limited number producing the abundance of words and
verses. Thus they are an image of the atoms producing the world. T o be
sure, the variety of the atoms is inconceivably greater, and so many
causes as concursus motus ordo positura figurae (I, 68 5 = II, 1021) are
required to combine them into the nature of things, while language
comes into being merely by the order, ordine solo (I, 827), of its few
elementa (= figurae), the letters.
The poet gives an example of this scheme (I, 907 ff.). Change neighbor-
hood, position, motion, and the same atoms may produce both fire and
wood, ignes et lignum, just as the words ligna et ignis have the same
elements, small changes producing the distinction. The basis for this
(sit venia verbo) atomology was laid early in the poem. In his polemic
against Anaxagoras Lucretius had stated that one should find small
particles of fire in wood, in lignis ... ignis (891-2), if the theory of the
homoeomeriae were right. And again (901): non est lignis tamen insitus
ignis. The similarity of sound failing to support the wrong doctrine of
Anaxagoras does support the orthodoxy of Democritus and Epicurus.
It is understood that the poet bears in mind this significant similarity
when in the second book (II, 386 f.) he contrasts the delicate and there-
fore more penetrating fire of the lightning with the coarser fire originat-
ing in wood: ignis noster hie e lignis ortus.
In his merciless physiology of love Lucretius compares the stroke of
love to the stroke of arms (IV, 1049 If a m a n i s struck in battle the
red fluid (umor) spurts out in the direction opposite to the stroke. If a
man is struck by love he wants to throw the fluid (umorem) from his
body into the body which has darted love (amorem) on him:

namque voluptatem praesagit muta cupido.


Then the description of the process is discontinued for a moment:

Haec Venus est nobis, hinc autemst nomen Amoris,


hinc illaec primum Veneris dulcedinis in cor
stillavit gutta . . . (1058 ff.)

3 Lucretius, I, 196 ff., 823 ff., 907 fF., II, 686 ff., 1013 ff. are the main instances. The
texts are collected and the question is discussed by Diels, Elementum, pp. 5 ff. Diels
bars for himself the w a y to the problem with which this paper is concerned by
labelling Lucretius' combination of ignes et lignum a pun (Wortwitz). The poet
never was more serious.
Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius 339

and the process goes on. Interpreters usually refer haec to voluptatem,
hinc to cupido of the preceding verse4. But haec . . . hinc .. . hinc .. .
refer to the whole preceding process and nomen Amoris is not Cupido
but just "the name Amor". By hinc est nomen Amoris the poet points
to the twice-repeated umor ( 1 0 5 1 , 1056), as a few lines later he will
again put side by side umorem—amore (1065-6).
The invisible must be interpreted from the visible. The wind, for
example, is a kind of stream (I, 277 ff.). The winds fluunt, the water
moves flumine ahundanti and overthrows quidquid fluctibus obstat. This
exposition culminates in the outspoken parallelism flamen-flumen, sym-
bolizing the parallelism of the subjects (291 f.):
sic igitur debent venti quoque flamina ferri;
quae veluti validum cum flumen procubuere . . .
Among the different origins of lightning there is one (VI, 295 ff.),
cum vis extrinsecus incita venti
incidit in validam maturo culmine nubem;
quam cum perscidit extemplo cadit igneus ille
vertex quem patrio vocitamus nomine fulmen.
The reference to the native tongue5 stresses the etymological value of
the juxtaposition of culmen and fulmen.
The peculiarity of the corporeal is resistance, àvntimia (I, 336 ff.):
... officium quod corporis exstat
officere atque o¿stare . . .6
One may imagine that Lucretius would have liked to find the notion
of resistance in the very word corpus but that he succeeded in discovering
it only in the paraphrase officium corporis, these two words being as
nearly connected as e. g. animi natura, umor aquae, taedai corpore, etc.7
While the Romans sharply distinguish between religio and superstitio,
Lucretius never has the second word. Both notions being one to him
he has made Religio the bearer of all his hatred. Yet in his grandiose

* So Munro and Ernout. Giussani is on the right track : "Venus, cioè l'amore di fatto
cioè die c'è di vero e reale nell'amore, non è che lacere umorem in corpus de corpore
ductum e la voluptas che ci và unita." Yet he does not follow up the clue but changes
nomen into momen, failing to understand the significance of nomen amoris.
5
Giussani at least saw that here something is to be explained: "Anche l'espressione
quem patrio .. . dopo tanto parlare di fulmini ha qui dello strano e del posticcio."
His reference to the unfinished state, to be sure, is wrong.
6
"One of his favorite plays on words," Munro. " N o t a il giuoco di parole," Guissani.
Munro ad I, 875 gives examples of what he thinks are repetitions of words "without
any point whatever and therefore to our taste faulty."
7
Cf. A . Ernout, Lucrèce, De Rerum Natura, Commentaire (Paris, 1925), p. xxxix.
340 Lateinische Sprache und Literatur

image of this all-oppressing daemon he has purposely fixed an etymology


of superstitio, thus stressing the identity of both of them (I, 64 if.):
gravi sub R E L I G I O N E
quae caput a caeLI REGIONIbus ostendebat
horribili super espectu mortalibus instans.
The hint was understood in antiquity. Servius (in Aen. V I I I , 187) quotes
Lucretius as supporting his etymology: S U P E R S T I T I O eji S U P E R S T A N -
T I U M rerum, i. e. caelestium et divinarum quae SUPER nos S T A N T ,
inanis et SUPER/7«*« timors. But the same verses seem to contain an etymo-
logy of religio too. The similarity of sounds between R E L I G I O N E and
caeLI REGIONI^«5 haunts the ear once one becomes aware of it. It can
hardly be a mere affair of sounds. The sounds express a reality, the fact
that religion derives from the heavenly region. The inference is that
Lucretius has combined the etymology of religio and of superstitio in
one pattern9.
Lucretius "again and again" (V, 821) uses the expression maternum
nomen in such a way that one cannot fail to hear in it both mater
and terra.
linquitur ut merito maiernum nomen adepta
terra sit, e ierra quoniam sunt cuncta creata (V, 79 j f.)
quare etiam atque etiam: maiernum nomen adepta
terra, tenet merito, quoniam genus ipsa creavit (V, 821 f.)
Consequently the famous passage about the matrimony of Heaven and
Earth (II, 991 ff.) must be read in the same manner:
umoris guttas MAter cum Terra recepit (II, 99 3) 10
quapropter merito MAiernum nomen adepta est (998)
The poet feels or hears the motherhood of earth guaranteed since language
has formed the word ma-ternus or even the word ma-ter.

8
C f . J . Bernays, Gesammelte Abhandlungen, II, p. 6. The intention of Lucretius
cannot be doubted. I, 932 very probably contains a hint at the etymology religio a
religando, but only an indirect one in the words nodis exsolvere. (A similar hint I find
in V , 1 1 4 , religione refrenatus.) VI, 382 has nothing to do with indigitamenta.
9
It is a truism that an ancient etymologist does not see why one etymology should
exclude the other; on the contrary, two are better than one. Plato Cratylus gives an
abundance of examples. Lucretius combined the traditional etymology of religio a
religando with a new (?) one a caeli regionibus.
10
The editors of Lucretius have a queer dislike of capitals in what we call personifica-
tions, thus supporting the philosopher against the poet. N o editor of any other poem
would hesitate to print Amoris in V, 1075, or Discordia in V , 440. (Since Discordia
is the Neixog of Empedocles, quorum depends upon intervalla vias, etc., not upon
Discordia.)
Pattern of Sound and Atomistic T h e o r y in Lucretius 341

It cannot be fortuitous either that in each case (II, 998. V, 795. 822)
merito appears in the vicinity of maternum and terra. Memo Maternum
twice accentuates the suggestive consonants m and t, i. e., the initial
letters of Mater Terra, and the er inherent in Mater, maternus, and Terra.
Perhaps it is not fortuitous either that in the passage about the Phrygian
Mother (II, 698 if.) Lucretius says only mater . .. dicta est and banc
vocitant matrem, since there was no terra inducing maternum nomen11.
The etymological fury does not stop short even of proper names:

Ennius ut noster cecinit, qui primus amoeno


detulit ex Helicone perenni fronde coronam (I, 1 1 7 f.)
and
spatium praemonstra, callida Musa
Calliope (VI, 93)
The consonance is so obvious that one is astonished to find the commen-
tators almost silent. I should suppose that they failed to hear it because
such "puns" if heard would have been unworthy of their author. For
Lucretius they were not puns but a reality of language and nature. The
invocations of his beloved Empedocles (Frag. 1 3 1 ) 1 2 which he cherished
in his memory:
äjißpoTE MoCaa
and:
Ei7,o|xEV(p vCv aire Jiagiotaoo KaXXiojteia
he fused into
currenti spatium praemonstra callida Musa/Calliope.
In the name Calliope he heard the Latin word expressing her skill.
Calliope is clever: callidus occurs only once in the whole poem in order
to express this very truth. Ennius is an eternal poet. A similar diance
joined the atoms into the shape of this poet and the atoms of language
into his name expressing his eternity and into the verses of his poem.
In the episode De Matre Magna (II, 600 ff.) Lucretius emphasizes the
fact that her servants, the Curetes, have a Greek name (629 f.). Later
on he interprets their armed appearance as the will of the goddess that
one should defend one's country:
praesidioque parent decorique parentibus esse.

11
One m a y restrict the name "alliteration" to the beginnings of words. But there is not
the slightest reason to confine one's attention to these alliterations in the restricted
sense.
12
F . Jobst, Uber das Verhältnis zwischen Lucrez und Empedokles, Dissertation E r l a n -
gen, 1 9 0 7 , p. 1 4 : " A u d i die A n r u f u n g der Kalliope darf man nicht auf eine N a c h -
ahmung des Empedokles zurückführen." I think just the opposite is evident.
342 Lateinische Spradie und Literatur

The assonance parent parentibus is strange, the average opinion labelling


it as a pun is insufficient, and the stress on the parents needs an ex-
planation too. Why not wife and children? One can and must explain
the two riddles at the same time: the poet wants to etymologize the
KoiiQr|tEç as xoûqoi13; being sons or youngsters they must defend just their
parents. The reader would not understand this meaning (as nobody
seems to have understood it) if attention had not been called to parentes
by the preceding parent. "Preparedness for the parents" is the essence
of the Curetes. That may be mannered or not; in any case it illuminates
the etymological aim of the poet.
Lucretius in his general use of etymology is not very different from
his contemporary Varro 14 or from any other ancient etymologist. What
is his own-besides his furor arduus-is the connection of this etymology
with his atomism. We may expect to find more evidence in the chapter
De figura atomorum (II, 333 ff.).
In the principal opposition between sweet and bitter there is on the
one hand milk and honey:
Hue accedit uti me//is /actisque /iquores
I U C U N D O sensu /inguae tractentur in ore (II, 398 f.)
ut facile agnoscas e /evibus atque R U T U N D I S
esse ea quae sensus I U C U N D E tangere possint (402 f).
On the other hand we have wormwood and centaury:
ai con ira taeira absinthi natura feRIque
centauRI foedo perior^uent ora sapore (II, 400 f.)
at contra quae A M A R A atque aspera. cumque videntur
haec magis A M A T I S inter se nexa teneri (404 f.).
Round atoms are pleasant to the taste, hooked atoms are bitter. The
linguistic similarity of iûcundus—rutundus and amarus—àmatus empha-
sizes the fact.
But of course the similarity of words is only the most obvious mark
in this province. Hardly less important is the abundance of smaller
congruities. meLLis Lactisque Liquores ... Linguae: the poet enjoys the
sound of the liquids melting with the labial nasal 15 . Yet here it is not
the mere pattern of sound which appeals to his ear. The mel and lac

is Cf. e. g. Strabo, X , 468.


14
C f . H. Dahlmann, Varro und die hellenistische Sprachtheorie (Problemata, Heft 5),
pp. 1 if.
15
Everyone who has a tongue and an ear must combine the double I of mellis with the
beginning I's of the following words. Therefore I entirely disagree with the tendency
to restrict the phenomenon under discussion to the repetitions "de phonèmes initiaux,
à l'exclusion de toute assonance intérieure ou finale" (A. Cordier, L'Allitération
Latine, 1939, p. 9). This tendency has its main foothold in the rich collections of
Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius 343

and liquor and lingua seek one another in sounds as they do in nature.
The elements of the words appeal to the tongue and the ears as the
atoms of the corresponding things appeal to the taste of the tongue.
"Instead"-aT ConTRa: already in this twice repeated formula the
ear feels a kind of offense. The harsh tc and tr are at once echoed in
taeTRa and later continued in the rt and rq of the rare peRToRQ«e«i 1 6 ,
and perhaps in the r's of natuRa feRique centauRi. The double con-
sonants in aBSinthi may fit into the sharp melody of sound. A little
later (410 ff.) we have the same contrast of sharp s's and r's and their
combination in SeRRae STRidentis aceRBum hoRRoRem contrasting
with the gliding I's and m's of eheMentis Levibus aeque ac Musaea MeLe.
And again (415) we have the sharp sounds of TaeTRa cadaveRa
ToRRewi though this time the contrast is not so impressive in croco
Cilici. The vowel a per se has no definite cachet; but since it is in At and
Amara Atque Aspera, etc. it may turn into an expressive sound (the
short a more than the long). The assonances liquORES-in O R E (398-9)
and O R A sapORE (401) are no mere play of sounds either; they seem
to be expressive too, symbolizing the necessary connection of mouth,
taste, and fluid.
In 422 ff. we follow the same trend again. The parallel connection
of atoms and sensation is expressed by the parallel construction and the
similarity of the endings: quae mulcet cumque , . . levore creatast; quae
cumque .. . constat .. . squalore repertast. The opposite qualities of the
two kinds of atoms are made sensible here by the liquids: muLcet, prin-
cipiaLi dLiquo Levore, there by the sharp double consonants: moleSTa
aSPera conSTat SQualore repeRTaST. The third kind of atoms which the
poet introduces in this passage is neither smooth nor sharp but tickling the
senses: angellis, titillare, fecula, inulae are the most impressive words both
in content and in sound. It is quite possible that this third kind is not so
easy to discriminate from the first as the first from the second; but then
you must sharpen your ears as you may cultivate your taste.

Ed. WolfFlin, "Ober die allitterierenden Verbindungen der lateinischen Sprache,"


Sitzungsb. d. bay. Akad. d. Wiss., 1881, Bd. 2, pp. 1 fi. Take at haphazard a few
examples: acer atque acerbus, acute argute que, amens amans, actor auctor, faciendum
fugiendum, fides fiducia, forte fortuna, etc. It is obvious that these pairs are united
not merely by the coincidence of the initial sounds. The analogy of the German
"Stabreim," Teutonic alliteration, important as it is, must not bias the whole of the
observation. - For the effect of the I, cf. Dionys. Hal., De Comp. Verb., 14 (p. 54,
1 1 U - R ) : The labial nasal m in mellis joins with the liquids. C f . M. Grammont,
Traité de Phonétique (Paris, 1933), p. 408: "Les consonnes nasales, grâce à la mollesse
de leur articulation, sont propres à exprimer . . . la douceur, la mollesse." - I wish
here to express m.y gratitude to Leo Spitzer for his criticisms and suggestions.
16
Pertorquet is used a second time in all that is left of Roman literature in Afranius*
Abducta, Frag. I Ribbeck: quam senticosa verba pertorquet turba. Though the meter
is obscure and the sense not very clear either, the very sound might be in favor of
turba.
344 Lateinische Sprache und Literatur

We stressed and tried to explain the assonances liquores-in ore at the


end of two consecutive verses (398 f.) and ora-sapora in one verse (401).
It is not likely either that when Lucretius moulded the ends of two
successive verses into the rhyme odores-colores he merely yielded to a
sensory propensity. Of course he liked such sounds as much as Vergil
disliked them. But they are meant to express a reality too: the parallelism
of the opposite smells and the opposite colors, the contrasts in both fields
originating in the respective contrasts of atoms. The passage 730-864
excels in the same pattern of sound which is at the same time a pattern of
thought or of reality-reality being the atoms. In those 135 verses one
counts thirty-five words of the form colore(m-s) nitore(m) odorem (-s)
liquorem vaporem, taking into account only the ends of the verses. Of
course one can say that Lucretius yields where Vergil resists. But when he
yielded he followed the nature of things (I, 907 ff.) : quo pacto verba
quoque ipsa inter se paulo mutatis sunt elementis.
A wide prospect opens. It is a matter of fact that not all the material
labelled by Miss Deutsch as "pattern of sound" is to be interpreted in
the new sense. Yet much of it can. To be sure, between the one sphere
where the phenomenon is restricted to a mere acoustic or musical pleasure
and the other where it becomes the expression of a fact in nature, a
broad boundary zone stretches, which it would be unwise to assign to
either of the two sides. Our interpretation may and perhaps must over-
emphasize the facts. But it is better to run this risk than to close ears
and eyes to reality. Only a few remarks will be made before leaving
the task to the future readers of the poet.
To return to callida—Calliope (VI, 93 f.): no doubt Lucretius felt
and wanted us to feel the kinship of the two words and of the two facts
which they represent. Neither can there be any doubt that he gives the
tone with ad CAndida CAlCis Currenti and that he echoes it with
CApiam Cum laude Coronam. The accord of the c's is unmistakable. It
is hard to fancy that he did not connect a meaning with the pattern.
Candida calcis means the end of the poem, ad Candida calcis currere
is the way of the poet, capiam cum laude coronam aims at tKe poet's
reward. It goes without saying that the c has no more natural affinity
with the idea of poetry than has any other letter of the alphabet. But
since the poet puts Calliope in the middle strengthened by callida, the
surrounding court of c's becomes expressive chrough the very force of
the center17.

17
C f . M. Grammont, op. cit. (see note 15 supra), p. 404: " . . . i l est reconnu que les
poètes dignes de ce nom possèdent un sentiment délicat et pénétrant de la valeur
impressive des mots et des sons qui les composent; pour communiquer cette valeur
à ceux qui les lisent, il leur arrive souvent de répercuter autour du mot principal les
phonèmes qui le caractérisent, en sorte que ce mot devient en somme le générateur
du vers tout entier dans lequel il figure . . . "
Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius 345

We remember the passage of the second book dealing with the con-
trast of honey and wormwood. The same contrast occurs in the
prooemium of the fourth book (which Lucretius later transferred to the
first) as a simile illustrating the severity of the doctrine and the sweetness
of the poetical form:
Zucida pango
Carmina musaeo Contingens Cuncta lepore.
The Z of the first word joins with the Z of the last, three c's surrounding
the central musaeo, which so. far remains without resonance. In the
simile the similarity is stressed by the repetition of contingunt, which
is followed by a comet's tail of Z's18:
contingunt meZ/is duZci fZavoque Ziquore continued a little later
with Ludificetur Labrorum tenus.
The m of mellis remains without correspondence, as did musaeo before;
but some verses later both are united in one verse circulating again
around continere:
et quasi musaeo dulci contingere mette.
The opposite side dealing with the bitterness is much less elaborated than
in the second book. Yet the sounds are the same: aBSinthia TaeTKa
(IV, i i — I, 93 6) which not only means ugly but also has that sound,
and Amarum Absintbi lAticem with its sharp a's (IV, 15 = I, 94o)-sharp
not so much by their own nature as because of the significance of the
words in question. There can be no doubt that these different sounds had
very specific cachets— not always the same, to be sure-in the poet's mind
or sense. One cannot fail to hear the similar double consonants and a's
(rising out of series of o's) in a passage combining sharp odors (IV, 12 3 if.) :

suo de corpore odorem


expirAnt Acrem, pAnAces, AfointhiA taetrA,
hA^rotonique grAves et iristiA centaureA
or the terrible sound of
in baratrum nec Tartara deditur atra (III, 966)
where the terribleness is guaranteed, if that be necessary, by the famous
line of Ennius (Ann. 140):
at tuba terribili sonitu taratantara dixit.

u
Concerning flavoque cf. Grammont, op. cit. (see note 15 supra), p. 4 1 1 : "La com-
binaison de / avec l réunit le souffle à la liquidité, ce qui donne l'impression de la
fluidité."
346 Lateinische Sprache und Literatur

Or observe both the meanings and the sounds of words with which
taeter is combined: inTartara taetra (V, 1126); stercore de taetro (II, 874);
taetro quasi conspurcare sapore (VI, 22); taetro conscrescere odore (VI,
807); at contra nobis caenum taeterrima cum sit spurcities (VI, 976). Or
hear the wind in verses like
validi vis incita venti (VI, 137)
principio venti vis verberat incita pontum (I, 271)
vis violenti per mare venti (V, 1226)
The v's give a blowing sound, the i's whistle, and the rhyme violenti—venti
stresses the natural relationship between violence and wind (giving,
moreover, if I can trust my feeling, a swinging movement suited to wind
and waves). Let us not do injustice to the poet. It is understood that no
one should imagine him eagerly seeking and toilsomely combining sounds
of words in order to imitate sounds in nature. He probably did that just
as much and as little as Shakespeare:
When the sweet wind did gently kiss the trees,
or Sainte-Beuve 19 :
Dans les buissons séchés la bise va sifflant,
or Homer:
iotía ôé ocpiv,
TQixftá te y.ai. TEtyaxfrà ôiéaxiaE (F)iç <xvéju>io

or Goethe:
Du liebes Kind, komm geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel ich mit dir
(where the poet himself states his intention: In dürren Blättern säuselt
der Wind). The music of the wind blew through the mind of these poets
similar melodies with different keys20. It is evident too that Lucretius
did not aim merely at the external sound. He uses a similar pattern des-
cribing the storm of the lover:
vel violenta viri vis atque impensa libido (V, 964)

19
Quotes by Grammont, op. cit. (see note 15 supra), p. 391.
20
For this creative act onomatopoeia is a modern and bad expression, the Greek
rhetoricians using the world in a much more appropriate manner. C f . e. g. Quintilian,
VIII, 6, 31 : Onomatopoeia, id est fictio nominis, Graecis inter maximas habita vir-
tutes nobis vix permittitur, etc. and I, J, 7 2 ; Rhetores Graeci, edd. Spengel-Hammer,
I, p. 368; Rhet. Gr., ed. Spengel, III, p. 196. The nation of "making words" is
present everywhere. Grammont, op. cit. (see note 15 supra), pp. 377 fî. ("Phonétique
impressive") rightly distiguishes between onomatopée and mot impressif.
Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius 347

or the energy of the discoverer:


ergo vivida vis animi pervicit (I, 72)
For it is the same force moving as wind in nature and as ventus vitalis
in ipso corpore (III, 128) and appearing as sound in the work of the poet.
Lucretius has a queer inclination for the old-fashioned phrase multis
modis or multimodis. It gains expressive strength when he combines it
first with multa, secondly with mutata or mixta or minuta, thirdly with
semina or primordia. So one sees what drives him to use such verses
again and again, e. g.
semina multimodis in rebus mixta teneri (IV, 644)
sed quia multa modis multis mutata per omne . . . (I, 1024)
propterea quia multa modis primordia multis
mixta... (IV, 1220 f.)
multa modis multis multarum semina rerum
quod permixta gerit tellus . . . (VI, 789 f.)
Not through the nature of the sound but through the associative force
of alliteration do the m's become for Lucretius a badge of the atoms. To
this scheme by other artistic measures he gives such an astonishing ex-
tension as
adiutamur enim dubio procul atque alimur nos
certis ab rebus, certis aliae atque aliae res.
nimirum, quia multa modis communia multis
multarum rerum in rebus primordia mixta
sunt, ideo variis variae res rebus aluntur (I, 812 ff.)
He interlaces the m-words (multa-communia—primordia, modis—multis),
combines them with the doubling of different forms of res which he
varies three times and accompanies with doublings of certus, alius, varius,
establishing an image of the world of atoms through the sounds and the
order of words 21 .
A remarkable variation of the same scheme we hear finally in the
description of the sun motes used as a simile of the moving atoms (II,
r i 6 ff.): first the chain of m's
multa minuta modis multis per inane videtis
corpora misceri;

21
Munro: "Assonances and alliterations of all kinds seem to possess for Lucretius an
irresistible attraction." Giussani: " N o t a la ripetizione e l'intreccio di res multus
varius a far più viva l'immagine della cosa descritta."
348 Lateinische Sprache und Literatur

then a pattern of words meaning struggle and impressing upon the senses
sounds like ter, cer, tur, and i's and p's
et velut aeierno ceriamine proelia pugnas
edere ixrmafim cerfantia;
at last the unique and beautiful
conciliis et discidiis exercita crebris,
the opposite prefixes con- and dis- joining with almost the identical root
words -ciliis, -cidiis which by their very sound and rhythm tickle the
ear as the motes glitter in the eye.
A Venere finis. It is understood that Lucretius felt the significance or
significances of her name, the main province of ancient etymology being
the names of the gods22. Varro (De Lingua Latina, V, 61) etymologizes
Venus as the force of tying together fire and water, man and woman:
horum vinctionis vis Venus. He contents himself with the twofold v and
the assonance vin-ven (cf. Plautus, Trin., 658: vi Veneris vinctus),
whereas the much more banal etymology in Cicero's De Natura Deorum
(III, 662) Venus quia venit utilizes the whole root. Lucretius could
not stop his etymological vein just short of Venus. When he writes (1,227)

unde animale genus geweratim in lumina vitae


redducit Venus,
he feels her name blending almost the whole of genus (stressed by the
repetition of gen-) with the alliterative beginning of vita. Again he
connects vita, voluptas, and genus with Venus (II, 172):
ipsaque deducit dux vitae dia Voluptas
et res per Veneris blanditur saecla propagent,
ne germs occidat humanum
or he seems to replace voluptas by iuvare in II, 437:
aut iuvat egrediens gemtales per Veneris res.
The Homeric formula tgya AqpQo&irrig has in its Latin translation R E S
per VeweRIS and still more per VeneRIS R E S a very expressive sound-
expressive only in general or expressing something?
There is a strong presumption that the first prooemium, too, must
contain such lumina ingenii etymologici; but I refrain from attempts
to dissect them. Nor do I follow up the traces of other more or less
significant sounds spread over the prooemium. This is only a secondary
melody in the orchestra and modern readers may fail to perceive it or

22
Plato, Cratylus 400 D-408 D. Cf. M. Warburg, Zwei Fragen zum Kratylos (Neue
Philologische Untersudiungen, Heft $), pp. 63 if.
Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius 349

may sometimes dislike it. There may be a danger too of hearing the grass
grow, and I am not quite sure whether this danger has been avoided
throughout. But the danger of seeing and hearing too little is much
greater, as this paper will have demonstrated. One may minimize each
single case, but on the whole one should not fail to become aware of what
Lucretius has expressly stated to be the very nature of language.
And perhaps it is the nature of language. He may express it in the
wrong way because he expresses it in the terms of his atomistic theory.
But the poet in him is wiser than the philosopher. And one may look
upon his pattern of sound as a symbol of the fact that poetry is very
likely to repeat the creative work of language on a different level. Let
Friedrich Rückert, the most skillful artificer in German poetry, plead
the case of the poet23:

Das Wortspiel schelten sie, doch scheint es angemessen


Der Sprache, welche ganz hat ihre Bahn gemessen.
Daß sie vom Anbeginn, eh'es ihr war bewußt,
Ein dunkles Wortspiel war, wird ihr nun klar bewußt.
Womit unwissentlich sie allerorten spielen,
Komm und geflissentlich laß uns mit Worten spielen!
This the fundamental aspect which one must bear in mind lest one
misjudge the pattern of sound as a mannerism in Lucretius. The second
point is the well known peculiarity of Latin, or more correctly of the
Italic languages, that they, much more than Greek, yielded to the magic
of sounds. The prayers and spells, the legal formulas and the instructions
of the priests with their ornaments of assonances, rhymes, alliterations,
figurae sermonis set for the poets and writers of Rome a cast of solemn
speech never to be forgotten24. The third aspect is the atomistic doctrine
of language providing Lucretius with a rational bond by which to connect

23
Friedrich Rückert, Die Weisheit des Brahmanen, Erste Stufe, 55. Rückert, being a
Mainfranke, rhymed angemessen with Bahn gemessen. See the end of my Rhythmen
und Landschaften im zweiten Teil des Faust, see below p. 652.
24
Cf. C. Thulin, Italische sakrale Poesie und Prosa (1906); Fr. Leo, Geschichte der
römischen Literatur, I, pp. 34 ff.; Ed. Fraenkel, Plautinisches im Plautus, pp. 359 ff.;
Ed. Norden, Aus altrömisdien Priesterbüchern (Acta Reg. Societatis Humaniorum
Litterarum Lundensis, X X I X ) , passim. It may not be useless to add a few words
from a rather remote text, The Johns Hopkins Tabellae Defixionum, Supplement to
A . J . P., X X X I I I (1912), by W. S. Fox: .. . eripias salutem, corpus colorem, vires
virtutes . .. tradas illunc jebri quartanae tertianae cottidianae, quas cum illo luctent
deluctent, ilium devincant vincant. .. (deluctent is a probable restoration of the
editor. I think the original form must have run vincant devincant). A trace in Lucre-
tius: H . Haffter, Untersuchungen zur altlateinisdien Dichtersprache (Problemata,
Heft 10), p. 81. Lucretius, I, 1105, neve ruant suggests neve lue rue in the Carmen
arvale; but the resemblance may be fortuitous.
350 Lateinische Sprache und Literatur

his most personal pattern of sound with the philosophy he professed 25 .


The fourth aspect is the inexplicable individuality of his tone.
Another Tennyson could imagine the Roman poet haunted by the
crowd of sounds, smooth or harsh, struggling and craving for each other,
cajoling or wounding the ear, deceiving and telling the truth, forming
words, and words into verses, and verses into the most extraordinary
poem of Rome.

A P P E N D I X I.

ORTHOGRAPHICA.

. . . in cunctas undique partis


plura modo dis/wgit . . . (II, 1 1 3 4 f.)
et dispergitur ad partis . . . (IV, 875)
Dispargit(ur) is the tradition of the MSS in both places. The relationship
in sound and significance between pars and dispargere is obvious. It is
very unlikely, therefore, that Lucretius did not write or at least pronounce
in parvas partes dispergitur (I, 309)
where the MSS have dispergitur. In other places the tradition agrees
either in dispergitur or, much more seldom, in dispargitur without evi-
dence in either direction.
. . . corpora posse
vorti... (II, 744 f.)
. . . vortitur orbis (V, 510)
So the MSS, which in other places agree in vertice. The editor will
generally respect such an agreement. But II, 744 f. makes it unlikely that
in II, 879 f. Lucretius did not intend
. . . cibos in corpora viva
vortit . . .
where the MSS agree in vertit. Then 875 must follow:
. . . vortunt pecudes in corpora nostra,
and the whole passage from 874 on must run in the darker tone. In V ,
277 the MSS have
. . . vortex versatur in alto (arto ci. Ladimann)

25
T h e lost book of Democritus, ITepi eucpcbvcov x a i Svoqxbvcov yqu|j.|x&tcov (Vorsokra-
tiker, 68 [ 5 5 ] B 18 b) m a y have contained the theory of w h a t is practice and art in
Lucretius. In the same line seems to be Philodemus, IIeqL jcotr)|J.aTajv col. 2 4 ,
Hausrath.
Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius 351

which probably was vortex vorsatur or less probably vertex versatur. In


I, 293 f-
. . . interdum vortice torto
corripiunt rapideque rotanti turbine portant
I have changed the reading vertice of the MSS. One must think of Aeneid,
I, 1 1 6 f.
. . . illam ter fluctus ibidem
torquet agens circum et rapidus vor at a equore vortex.
Here the MSS agree in vortex, a few lines before they offer in I, 1 1 4
. . . ingens a vertice pontus,
no assonances asking for vortice7*. In Lucretius, IV, 899 f.
. . . tantum corpus corpuscula possunt
cowtorquere et onus totum coravertere nostrum
it is not unlikely either that conVOTLtere was intended by the poet. On
the other hand, in V I , 1 1 4 f.
aut ubi suspensam western chartasque volantis
•uerberibus venti versant
both tradition and sound guarantee the e in versant. In Aeneid, V I I , 5 66 f.
urget utrimque latus nemoris medioque fragosus
dat sonitum saxis et torto mortice iorrens
and Catullus, 68, 107 f.
tanto te absorbens vortice amoris
aestus in abruptum detulerat baratrum
Forcellini in the Lexicon prints vortice against the MSS, but following
the trace of sound. To be sure, the attitude of Vergil differs from that of
Lucretius; but Aeneid, I, 116 {. quoted above supports the orthography
vortice in V I I , j 67.
Incidentally, this appendix will have made it clear that it is wrong to
state: "vorto is in all probability a mere matter of spelling; the Present
was always pronounced with e" (Lindsay, Latin Language, p. 467). The
grammariam should listen to the sound of poetry.

26
The statement of Caper, Grammatici Latini, ed. Keil, VII, 99, 1 1 : vortex fluminis
est, vertex capitis is likely to be an artificial distinction. C f . Felix Solmsen, Studien
zur latein. Lautgeschidite, p. 2 1 ; E. Kieckers, Historische lateinische Grammatik, I,
p. $3. Solmsen's own statement: "Der Grund, weshalb der Dichter zu der altertüm-
lichen Form griff, liegt in dem Gleichklang von vortex mit vorat" is right but not
sufficient. The assonances in torquet and aequore are not less important. The same
inadequate limitation in A . Cordier, L'Allitération Latine (1939), pp. 38,70. C f .
notes 11 and 15.
352 Lateinisdie Sprache und Literatur

APPENDIX 11.

L U C R E T I U S 1 , 9 4 2 - IV, 17.

sed potius tali S T A C T O recreata valescat.


The manuscripts have F A C T O in Book I, A T A C T O in IV. P A C T O
is a conjecture of Heinsius accepted by almost all editors. As a matter of
fact, no one — I am sorry to say - would be offended by tali facto, if it
were the reading of the manuscripts. But no one has tried to explain how
such a trivial word should have been corrupted in both passages, in both
in a different way, and at least in the second one in such a strange manner.
facto makes no real sense27, and the deviation into atacto would remain
inexplicable. Method demands a word much more difficult for the
average reader. My stacto would answer this demand. It would imply
that stactum was used in the general sense of "drops, medicine". That
remains a supposition which so far cannot be proved; but the facts are not
unfavorable.
stactum, stacton occurs upon pharmaceutical labels28 and in the recipe-
books of Scribonius and Marcellus: stactum opobalsamatum, stactum ad
caliginem, stactum opobalsamatum ad claritatem, collyrium stacton, etc.
are eye-drops or eye-salves. But before becoming specialized o t o x t o v must
have had a general meaning, which indeed is indicated in the gloss of
Hesychius: otcmtov- t o SixXionivov. A final verification of the supposed
meaning, to be sure, is not available. To appeal to the pattern of sound
would be a much too subjective argument. Finally, the fact that Lucre-
tius uses stacte for myrrh (II, 847) does by no means prove that he has
used stactum but implies that he might have used it.

A P P E N D I X III.

L U C R E T I U S , V I , 857 f.

quis queat hie supter tam crasso corpore terram


percoquere humorem et calido S U F F I R E vapore?
S O C L A R E MSS. S A T I A R E and S O C I A R E are humanists' conjectures,
elegant but not pertinent29. (Bernays' D O N A R E is neither.) I think it
very likely that the senseless letters mean the same verb which occurs in
II, 1098
ignibus aetheriis terras suffire feraces.
27
The edition of Martin (Teubner, 1934) gives facto.
28
H . Dessau, Inscriptiones Latinae Selectae, 8734 ff.
29
Lucretius uses sociare in a different way. Sufflare, suggested by a friend instead of
suffire, would not do either.
Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius 353

Lucretius uses suffire, which means " t o fumigate, to perfume," in order


to express his atomistic view of the atoms of fire penetrating the earth
or the water, as the particles of perfume penetrate the air. This strange
use ("unexampled", Merrill) may probably be explained from the Greek.
ávaíh)|uácrftai, avaftuniaaig is used by Aristotle and the Doxographers
mostly when dealing with Presocratic doctrines, and the Liddell-Scott-
Jones Lexicon even quotes the active ávaftu¡j.iav from Theophrastus I I E Q I
IRUQÓG Frag. I l l , 4 , 3 8 : av|x|3aivei T?)V TOC R|Xíou -Í)EG(J.ÓTR|TTT XEJITT^V oíaav xaí

(laXaxriv eiaáysa^ai xará fiixgóv eig rovg nógovg xai &OJÍEQ ávadii^uav xaí ém-
xaÍEiv t a éjtiJtoXríg. Here the metaphor is felt and, as it were, excused. The
sense is not quite the same as in Lucretius, but is very similar, the whole
sphere (heat - penetration) identical.
The main objection to suffire would be palaeographical. But uncial
or semiuncial su is very near to soc, so that only ffi has to be restored
from la, the ending re remaining unchanged. In general one should not
forget the old rule that the facility of accommodating characters to a
conjecture is not always the best guarantee for its being right 30 .

*> C f . e. g. Wilhelm Schulze, Kleine Schriften (Göttingen, 1933), p. 679.


Statius: An den Schlaf
Friedrich Gundolf
1932 Friedrich Wolters
zum Gedächtnis

Der römische Dichter Statius aus der Zeit des Titus und Domitian
liegt mitsamt seinen Werken auf dem Friedhof der Literaturgeschichte
begraben. Vermutlich gehörte selbst sein Name zu den allerunbekann-
testen, wenn nicht der X X I . Gesang des Purgatoriums ihn mit Dante
selbst und mit Vergil in einer unvergeßlichen Begegnung zusammen-
führte. Man erinnert sich: wie Statius seine Selbstdarstellung gipfeln
läßt in dem Bekenntnis zu Vergil als seinem Meister und der Aeneis als
seiner Nährmutter — wie Dante lächelt und der Schatten nach dem Grund
seines Lächelns forscht — wie Dante ihm offenbart, daß der neben ihnen
stehende Dritte eben Vergil sei — wie dann der Schatten das Knie beugt,
um den Schatten zu umarmen, und, als Vergil ihn an ihre Schattenhaftig-
keit mahnt, sich erhebt mit Worten, die den Sinn des Ganzen aussprechen:
an diesem Irrtum möge der andere die ganze Glut seiner Liebe ermessen,
die ihn Schatten nehmen lasse für Festes.
Notwendig mußte im Gedächtnisjahre Vergils wenigstens der Name
des Statius genannt werden und die Frage sich regen nach dem Sinn dieser
Gestalt im Raum der Commedia. Mit Recht ist gesagt worden, daß in
dieser Begegnung der beiden römischen Dichter Dante seine eigene Gefolg-
schaft zu Vergil noch einmal abgespiegelt habe. Aber man muß weiter
gehen. Nachahmer Vergils gab es viele. Kein römischer Epiker nach ihm
hat sich seiner Wirkung entzogen. Warum wurde für Dante gerade
Statius zu Vergils liebendem Jünger? Weil Statius selbst sich als solchen
bekannt hat in den Schlußversen seiner Thebais:

Wird man dereinst dich lesen und wirst du den Herrn überdauern,
Du, die ein voll Jahrzwölft meine große Sorge umwachte, |
Thebaide? Gewiß hat schon das wache Gerüchte
Günstigen Weg dir gebahnt und dich neu den Künftgen gewiesen.
Schon geruht dich der Kaiser voll hohen Geistes zu kennen,
Und schon lernt und bewahrt dich italische Jugend mit Eifer.
LEBE LANG! ZWAR DEN KAMPF MIT DER GOTTESVOLLEN
AENEIS
MEIDE. DOCH FOLG IHR FERN UND VEREHRE DIE SPUR
IHRES FUSSES.

[Die Antike VIII, 1932, S. 2 1 J - 2 2 8 . ]


[216j217] Statius: An den Schlaf 355

Will dich auch Schelsucht hüllen mit mancher Wolke, in kurzem


Stirbt sie, und nach mir reicht dir Zukunft schuldige Ehren.
Daß Dante mit diesem Bekenntnis vertraut war, als er die Statius-
episode schrieb, zeigen die Worte „divina fiammadie auf „divinam
Aeneida" genau zurückweisen. Aber das wäre noch eine Einzelheit, und
man kann diese Verse in ihrer Bedeutung für ihn nicht hoch genug ein-
schätzen. Gewiß ist seine ehrfürchtige Liebe zu Vergil nicht erst durch sie
erweckt worden. Wohl aber fand er das eigene Gefühl in ihnen schon
einmal vorweg gelebt, mit römischer Größe und Prägnanz ausgesprochen
und so für sich selbst und für alle Nachkommenden legitimiert. Bedenkt
man, daß er das Schicksal seines Statius in Diesseits und Jenseits von
zwei Vergilstellen bestimmt werden läßt, so ist es kaum zu kühn, jenen
Schlußversen der Thebais für ihn selbst eine ähnlich schicksalhafte Be-
deutung zuzuschreiben.
Aber nicht von der Nachwirkung des Statius wird hier die Rede sein,
auch nicht von seinem großen Epos, das heut lebendig zu machen kaum
gelänge. N u r ein kleines Gedicht soll in einer Ubersetzung vorgelegt
werden, das kleinste aus seiner Gedichtsammlung Silvae, aber das
empfundenste: das Gedicht an den Schlaf.
Der Dichter liegt schlaflos schon die siebente Nacht. Grübelnde Ge-
danken, wechselnde Bilder gehen durch seinen Geist: die Frage nach dem
eigenen Verschulden, der Schlummer der Natur, die unabänderlichen
Gestirne, eine Liebesnacht. Es wäre zu verwundern, wenn einem Künstler,
der so vertraut mit griechischer Mythologie umgeht, nicht auch ein mythi-
sches Bild begegnete: Argus, der tausendäugige Wächter, das ist keine
fernher geholte Gelehrsamkeit, wie denn das Ganze mit der üblichen
Rede von „rhetorischer Poesie" in seinem Wesen ganz und gar nicht ge-
troffen wird. Viel zu stark ist Qual und Sehnsucht: der Ruf an den Schlaf
klingt gleich im ersten Verse auf und erneuert sich verstärkt am Schluß,
so daß die wechselnden Bilder einen festen und leidenschaftlichen Zu- |
sammenhang bekommen. Wo gäbe es überhaupt in antiker Poesie, grie-
chischer wie römischer, irgend etwas, was sich diesem Ruf aus tiefer
schlafloser Einsamkeit zu allerletzt vergleichen ließe?

SOMNUS (Silvae V, 4)

Crimine quo merui, iuvenis placidissime divum,


quove errore miser donis ut solus egerem
Somne tuis? tacet omne pecus volucresque feraeque,
et simulant fessos curvata cacumina somnos,
nec trucibus fluviis idem sonus, occidit horror
aequoris, et terris maria adclinata quiescunt.
septima iam rediens Phoebe mihi respicit aegras
356 Lateinische Sprache und Literatur [217j218]

Stare genas, totidem Oetaeae Paphiaeque revisunt


lampades, et totiens nostros Tithonia questus
praeterit et gelido spargit miserata flagello,
unde ego sufficiam? non si mihi lumina mille,
quae sacer alterna tantum statione tenebat
Argus et haud umquam vigilabat corpore toto.
at nunc, heu, si aliquis longa sub nocte puellae
bracchia nexa tenens ultro te somne repellit,
inde veni! nec te totas infundere pennas
luminibus compello meis - hoc turba precetur
laetior - extremo me tange cacumine virgae -
sufficit - aut leviter suspenso poplite transi.

AN DEN SCHLAF

Welches Vergehn ist schuld, du sanftester Knabe der Götter,


Welches Irrn, daß ich Armer allein der Gaben entbehre,
Schlaf, die du schenkst? Es schweigt Vieh, Vögel und Wild in der Weite,
Müde neigt wie von Schlummer gebeugt der Wald seine Wipfel,
Wilden Flüssen schweigt das Getön, der Schauer auf Wassers
Flächen erstirbt, und es ruht das Meer gelehnt an die Küsten.
Schon zum siebenten Mal kehrt Luna und sieht meine Lider
Starren, zum siebenten Mal glänzt früh und abends der Venus
Fackel, zum siebenten fährt an meinen Klagen vorüber
Eos, sprengt mir erbarmend den kalten Tau von der Geißel. |
Nicht mehr trag ich die Qual, und hätt' ich Augen wie Argus
Tausend, deren er mehr nie als die Hälfte geöffnet
Hielt und niemals wacht' er mit ganzem Leibe auf einmal.
Doch jetzt, ach, wenn einer in langer Nacht seines Mädchens
Arme umschlingt, die ihn halten, und gern dich Schlummer zurück-
scheucht,
Dorther komm! Ich rufe dich nicht, mir ganz deine Flügel
Auf die Augen zu gießen - so mag die Menge der Frohen
Beten! - rühre mich nur mit der Spitze des Zweigs, oder schreite -
Schon genügt's - mir leise vorbei sacht schwebenden Fußes!

Man muß die letzte Unvergleichbarkeit des Gedichtes empfunden


haben, um zu gleicher Zeit das richtig einzuschätzen, was jetzt zu zeigen
ist: daß dieses einzigartige Gedicht nur zustande kommen konnte als
spätester Sproß einer Jahrhunderte alten griechisdi-römischen Dichtung.
Statius ist vor allem epischer Dichter. Nicht umsonst läßt er sein
Epos beginnen mit der Nacht der Blindheit, in die ödipus versenkt ist,
und malt bald danach die schwarze Nacht, in der zwei heimatlose Recken
[218/219] Statius: A n den Sdilaf 357

sich vor dem Palast des Königs von Argos in erbittertem Kampf treffen.
Mehr als einmal im Verlauf dieser düsteren Geschichte ist der Schlaf
handelnde Person. Er senkt sich vom Himmel herab, er überschüttet
ermüdete Helden aus seinem Horn, oder er flieht davon, nachdem er sein
Horn geleert hat. Und dann gibt es eine große mythische Szene (Thebais
X 140 ff.), wie Juno die Iris an den Wohnort des Schlafgottes entsendet,
damit er ihre thebanischen Feinde in Schlaf versenke. Sie findet ihn in
seiner Höhle, von den Dämonen der Nacht umlagert schläft er auf seinem
Lager. Sie weckt ihn und bringt dem mildesten der Götter Junos Befehl.
Er macht sich auf, überfliegt die Lande. Sein Anhauch lagert Vieh, Vögel
und Wild auf den Boden. Matt legt sich die Meeresflut an die Felsen. Die
Wolken hangen träge herab, und es senkt der Wald die Wipfel der Bäume.
Mit seinen feuchten Schwingen breitet er sich über das Heerlager, und wir
sehen die Krieger in den Schlummer sinken. - Man erkennt, wie dem
schlaflos liegenden Dichter vieles von dem lebendig wird, was er früher
als Epiker gedichtet hat. Der Epiker aber hatte sich zu Vergil bekannt
und sich damit eingeordnet in die Ahnenreihe, die mit Homer beginnt.
Nehmen wir also unsern Ausgangspunkt bei Homer. In Ilias und
Odyssee gliedert Nacht und Schlaf als eine „Naturform des Menschen- |
lebens" (mit Victor Hehn zu reden) die epische Handlung. Bei der Dunkel-
heit gehen die Helden und die Götter zu Bette, und sie schlafen, wie es
natürlichen Menschen zukommt. Schlaflosigkeit ist etwas Ungewöhnliches.
Darum wird sie an Stelle des gewohnten Schlafes eingesetzt, wo etwas
Außerordentliches erzählt wird. Die anderen Götter schlafen, heißt es
am Anfang des zweiten Gesangs der Ilias, Zeus aber schläft nicht, sondern
er denkt nach, wie er den Achill ehren und die andern Achäer verderben
könne. Und dann findet er einen Rat und sendet den Traum zu Agamem-
non. - Am Anfang des letzten Ilias-Gesanges zerstreuen sich die Griechen
in ihre Zelte. Achill aber weint um den Freund und ihn ergreift nicht
der Bändiger Schlaf, sondern er wirft sich hin und her und gedenkt voller
Sehnsucht des Patroklos und ihrer gemeinsamen Taten. Und in Gedanken
daran liegt er bald auf der Seite, bald auf dem Rücken und bald mit dem
Gesicht nach unten, und dann steht er auf und irrt am Strand umher, bis
der Morgen kommt. Jetzt spannt er an und schleift den Leichnam des
Hektor um die Mauern. - Im vorletzten Gesang der Odyssee bereitet sich
Odysseus das Bett im Vorraum des eigenen Hauses. Dort liegt er wach
und sinnt den Freiern Böses. Er hört das Gelächter der schamlosen Mägde,
und der Groll wächst, den er mit Mühe beschwichtigt. Aber auch dann
noch wälzt er sich hin und her, wie wenn ein Mann an starkem Feuer
eine Blutwurst hin und her wendet. So wälzt er sich und sinnt nach, wie
er Hand an die Freier legen könne. Da erscheint ihm Athene, spricht ihm
Mut zu und gießt ihm Schlaf in die Augen.
Homer also ersetzt in seltenen Fällen den gewohnten Einschnitt des
epischen Geschehens, den Schlaf, durch sein Gegenteil. Die Unsicherheit
358 Lateinische Sprache und Literatur [219f220]

über das was zu geschehen hat, der Schmerz über das was geschehen ist,
halten den Schlaf fern. Der Schlaflose faßt den Entschluß, gewinnt seine
Sicherheit wieder und wendet sich dann zum Handeln.
Im hellenistischen Argonauten-Epos des Apollonios wird mit anderen
homerischen Motiven auch die Schlaflosigkeit übernommen und ab-
gewandelt (III 744). Die Nacht führt das Dunkel über die Erde hin. Und
nun wird diese Nacht in mannigfaltigen Einzelzügen geschildert. Die
Schiifer auf dem Meere blicken nach dem Bären und dem Orion aus.
Wanderer und Türhüter sehnen sich nach Schlaf. Eine Mutter, der die
Kinder gestorben sind, entschlummert tief. Kein Hundegebell mehr in
der Stadt, kein tosender Lärm. Schweigen umfängt das schwarze Dunkel.
- Solcher Aufbau der umgebenden Wirklichkeit aus vielen kleinen schar-
fen | Zügen lag dem Homer ganz fern: das ist hellenistisch, hat vielleicht
eine Art Vorbild in der frühen Lyrik. Damals hatte Alkman die Nacht
geschildert: „Es schlafen die Gipfel der Berge und die Schluchten, die
Klippen und die Bergbäche, was auf der Erde kriecht, die wilden Tiere im
Walde und das Geschlecht der Bienen und das Meergetier in den Tiefen
der See; es schlafen die Geschlechter der Vögel." Doch wenn dem helle-
nistischen Dichter dieses oder Ähnliches vorschwebte, so hat er das Welt-
gefühl des alten Lyrikers in menschliche Dimensionen und in das städtisch
Nahe verengt.
Nun fährt Apollonios fort mit dem echt homerischen Aber: aber
Medea schlief nicht; denn sie sorgte sich sehnsuchtsvoll um das Schicksal
des Iason. Dann ein Gleichnis wie in der Odyssee, nur daß an Stelle jenes
altertümlich derben Vergleichs ein eigenartig moderner steht: das Herz
springt ihr in der Brust, wie ein Widerschein der Sonne aus einem wasser-
gefüllten Gefäß an Wänden und Decke des Zimmers hin und her zittert.
Die Qual der Ruhelosen wird ganz körperhaft geschildert: wie schwelende
Flamme dringt ihr der Schmerz durch den Leib, zieht ihr durch die zarten
Halsmuskeln und in den Nacken. Dann setzt sie sich im Bette auf zum
Selbstgespräch mit einem Hin und Her leidenschaftlicher Gedanken.
Dann geht sie zu dem Kasten, in dem sie die guten und die bösen Gifte
aufbewahrt, und berät weiter mit sich, was zu tun sei. Und schließlich
kommt die Morgenröte und die Stadt gerät wieder in Bewegung.
Auch hier ist die hellenistische Abwandlung der homerischen Form
deutlich. Die Qual der liebenden Frau, nicht des männlichen Helden ist
der Gegenstand des späten Dichters. Beweglicher, vielfältiger, nervöser
ist sowohl das neue Gleichnis wie das Hin und Her der Gedanken, wie
das Empfinden des Schmerzes.
Als Vergil im Vierten Gesang der Aeneis die Liebesgeschichte der
Dido dichtete, gab er der Heldin nach dem Muster des Apollonios, durch
das ihm Homer hindurchschien, eine schlaflose Nacht vor der letzten
Entscheidung. Anders als Homer und auf den ersten Blick ähnlich wie
Apollonios malt auch Vergil zuerst ein Bild der schlafenden Welt. Und
[220/222] Statius: An den Sdilaf 359

doch unterscheidet sein Bild sich wieder sehr von dem des hellenistischen
Vorläufers. Vergil schränkt sich nicht ein auf die kleine und städtisch
begrenzte Menschenwelt: „Die ermüdeten Leiber über die Erde hin
pflücken den stillen Schlaf." Und dann weitet er sich zu dem Weltge|fühl
des alten Lyrikers Alkman. Auch bei ihm „ruhen die Wälder und das
wütende Meer, es schweigt alles Feld, Vieh und Vögel und die Tiere des
Wassers und des wilden Busches liegen im Schlaf unter schweigender
Nacht". Dieser ganzen ruhenden Welt ist jetzt mit jenem Aber, das wir
aus Homer und Apollonios kennen, die Eine Wachende entgegengesetzt:
Dido. Freilich wälzt sie sich nicht hin und her wie Achill oder Odysseus.
Es wird auch nicht ihr Liebesschmerz bis in seine körperlichen Ausstrah-
lungen analytisch beschrieben wie an der Medea des Apollonios. Beides
wäre nach verschiedenen Seiten dem Vergil als ein Abweichen von jener
Linie bedeutender Allgemeinheit und richtiger Mitte erschienen, die er
überall erstrebt. „Keinen Augenblick", sagt er, „löst sich die unselige Dido
in den Schlaf noch empfängt sie in Auge und Brust die Nacht. (Man hebe
diese letzten Worte — oculisve aut pectore noctem accipit - um ihrer groß-
artigen Eigenart inne zu werden, vergleichend ab von dem Abendgedicht
des späten Goethe: Und durchs Auge schleicht die Kühle sänftigend ins
Herz hinein.) Ihre sorgende Qual verdoppelt sich, und von neuem schäumt
ihre Liebe auf, und es wogt in ihr die Flut des Zornes." So ist alles gegen-
über dem griechischen Vorgänger verdichtet und gesteigert. Nicht zu
vergessen die Magie, die der Klang der Laute bewirkt: die Fülle der u
und der r und s in curae rursusque resurgens, der Fluß der Vokale von
a und o zu u und die den Vers einrahmden ae und mitten darin das schrille
i in saevit amor magnoque irarum fluctuat aestus.
Bei Vergil folgt dann ganz wie bei Apollonios ein leidenschaftlicher
Erguß der einsamen Frau. Sehr ähnlich stellt Dido wie Medea die Wege
des Handelns in höchster Erregung vor sich hin. Keiner erweist sich als
gangbar, der Tod ist der einzige Ausweg. Und doch sind auch hier beide
Dichter völlig verschieden. Bei Apollonios wird viel stärker der Eindruck
wirklicher Überlegung erweckt. Zwei Wege sieht Medea. Beide sind arg.
Aber dem geliebten Manne auch gegen die Eltern zu helfen, ist ein Ge-
danke, den sie für einen Augenblick sogar mit Jubel begrüßt, bis ihr dann
hinter allem der Tod als letzte Rettung auftaucht. Bei Vergil steht der
Dido sogleich die Unmöglichkeit jedes Tuns fest, und in einer einzigen
Kette pathetischer Fragen (soll ich etwa . . . oder soll ich . . . oder soll
ich . . ?) entfaltet sich diese Unmöglichkeit bis zu dem Gipfel: „stirb denn,
wie du es verdient hast und mit dem Schwert wende den Schmerz von
dir ab!" Dies ist der Schluß, dem nur noch die Erfüllung folgt, während
Medea nun inmitten ihrer heilsamen und schädlichen Gifte zu Ende über- |
legt: „Plötzlich überkam sie die Angst vor dem schauerlichen Tode. Lange
blieb sie sprachlos, und rings umher erschienen vor ihr alle Bemühungen
des Lebens, die das Herz erfreuen. Sie gedachte all des Süßen was im
360 Lateinische Sprache und Literatur [222¡223]

Leben ist, und die Sonne schien ihr wieder lieblicher anzuschauen." So
kehrt sie ins Dasein zurück, während Dido sterben wird. Dort der lebens-
kundige und am farbigen Wechsel haftende Grieche des Hellenismus,
hier der Dichter des augusteischen Rom, unerbittlich im Entweder-Oder.
Nachdem wir verfolgt haben, wie in der epischen Tradition von
Homer bis Statius die schlaflos durchwachte Nacht ein sich durchhaltendes
und sich wandelndes Formmotiv ist, kehren wir noch einmal zu Homer
zurück und erinnern uns, daß er auch den Schlaf selbst, den „Allbändiger",
als handelnden Dämon ins dichterische Geschehen hineingestaltet hat.
Nicht ein im Kult verehrter Gott ist Hypnos gewesen, aber er ist noch
weniger eine frostige Allegorie oder Personifikation. Sondern das eben ist
das Wesen Homers, daß er lebendig wirkende K r ä f t e zu Gestalten aus-
prägt, die dann durch ihn in der griechischen Kunst dauern. Man kennt
die beiden Gelegenheiten, bei denen Hypnos in der Ilias begegnet. Hera
will am hellen Tage gegen alle Ordnung der Dinge den Zeus einschläfern,
um das Schicksal ihrer Griechen zum Bessern zu wenden. Dazu braucht
sie den Zauber der Liebe und des Schlafes. Von Aphrodite erbittet sie
den einen. Dann sucht sie den Hypnos auf. Mit der feierlichen Anrede
„Schlummer, du aller Götter und aller Menschen Gebieter" beschwört
sie seine Macht, die er an dem „Vater der Götter und Menschen" be-
währen soll, und sie gewinnt ihn. Wurde schon bei dieser Begegnung seine
dunkle Gewalt dadurch gesteigert, daß er „Bruder des Todes" genannt
wird, so tragen an einer späteren Stelle aus den blutigen Kämpfen die
Brüder Schlaf und Tod den Leichnam des gefallenen Sarpedon in seine
lykische Heimat. Audi dies ist keine ausdeutbare Allegorie, sondern ein
empfundenes dichterisches Geschehen. Wir sagen: der Tote liegt wie schla-
fend oder auch: jemand schläft wie ein Toter. Homer macht Tod und
Schlaf zu Brüdern und beschließt das blutige Kampfeswerk mit dem erha-
ben friedlichen Bilde.
Vergil hat den Gott des Schlafes in einer sehr schönen und ganz ihm
eigenen Szene handelnd eingeführt: Der Steuermann Palinurus sitzt nachts
auf dem Schiff des Aeneas am Steuerruder. D a gleitet Somnus vom Him-
mel herab, setzt sich neben ihn, will ihn mit Worten einschläfern. Er wehrt
sich. Aber da schlägt ihm der Gott den Zweig, der vom Tau der Lethe |
trieft, um die Schläfen, schließt ihm die schwimmenden Augen, stößt
ihn vom Heck ins Meer. Der Gott Schlaf stammt aus Homer. Dabei ist
der Vorgang selbst gar nicht von dorther bestimmt, sondern ein originales
Beispiel jener klassischen, durch Homer ins Leben gerufenen Mythen-
dichtung. Und das Wesen dieses vergilischen Dämons hat viel mehr von
der besonderen Magie des Schlummers als Homer irgend geben modite
oder, wenn man will, zu geben vermochte.
Die augusteische Dichtung kennt noch eine andere Variation über
das homerische Thema vom König Schlaf, den die Göttin in seinem Reich
aufsucht, um ihn zum Bundesgenossen zu gewinnen. Ovid hat in der
B r o n z e s t a t u e t t e des H y p n o s ,
Wien, Kunsthistorisches M u s e u m
[2231224] Statius: An den Sdilaf 361

Verwandlungsgeschichte von Keyx und Alkyone - die um ihres Unglücks


und ihrer Liebe willen in Eisvögel verwandelt werden - in diese Ge-
schichte hat er ein Bild hinein verwebt: die Götterbotin Iris kommt zur
Höhle des Schlafs mit dem Auftrag ihrer Königin, er solle der Alkyone
den Wahrtraum vom Tod ihres Gatten senden. Sein Reich liegt am
dunklen Nordrand der Welt, und eine reiche Phantasie, an hellenistischer
Kunst genährt, wird aufgeboten, um seine Behausung zu malen. In der
Mitte der Höhle schläft er selbst auf einem Bett aus dunklem Ebenholz,
die Glieder in Müdigkeit gelöst. Der Glanz der Iris dringt ihm in die
Augen, so daß er erwacht, und sie richtet ihren Auftrag aus mit einer
feierlichen Anrede, die das Wesen des Angeredeten umschreibt:
Schlummer, du Ruhe des Seins, du der Götter sanftester, Schlummer,
Friede des Geists, der die Sorge verscheucht, der die Leiber, von harten
Diensten müde, erfrischt und für künftige Mühen bereitet.
Jetzt entsinnen wir uns, daß Statius in seiner Thebais die Iris in die
Höhle des Schlafgottes fliegen läßt. Homer, Vergil und vor allem Ovid
sind seine Muster. Aber er hat das Phantastische noch über Ovid hinaus
gesteigert, vor allem den Schlaf des Schlafdämons so lastend gemacht
wie er konnte. Betäubende Blüten, auf den Teppichen des Lagers gehäuft,
dampfende Kleider, dumpfer Leib in warmen Decken; dunkler Hauch
atmet aus dem Mund des Schlafenden, die eine Hand faßt das
Haar, das von der linken Schläfe herabfließt, die andere hat selbstver-
gessen sich das Horn entgleiten lassen. Man verspürt, wie durch ein Zu-
viel die Wirkung eher geschwächt ist.
Aber nun sieht man, wie viel auch aus dieser zweiten epischen Motiv-
gruppe in das kleine Gedicht des Statius hineingeflossen ist. Sei hier nur I
der Anruf an den Schlaf noch einmal durch die ganze Reihe verfolgt.
Homer: Schlummer, du aller Götter und aller Menschen Gebieter ("Yjive
äva| iravTCüv te öewv jtävtüjv t' ävfrpcbjtcov). Ovid: Schlummer, du Ruhe des
Seins, du der Götter sanftester, Schlummer (Somne, quies rerum, placi-
dissime Somne deorum). Thebais: du der Götter mildester, Schlummer
(mitissime divum, Somne). Zuletzt unser Statiusgedicht: du sanftester
Knabe der Götter (oder: du der Götter sanftester Jüngling, iuvenis placi-
dissime divum). Da ist innerhalb der gemeinsamen Form auch der Wandel
fühlbar. Die griechische Heroenzeit empfand das Herrische am Schlaf
und gab ihm den Titel menschlicher und göttlicher Fürsten. Später wird
das Milde gefühlt, und ganz zuletzt hat Statius das Jugendliche der Er-
scheinung in die Anrede aufgenommen.
Der Schlaf als Knabe oder Jüngling - wahrscheinlich hat nicht frühere
Dichtung dem Statius diese Anschauung eingegeben, sondern bildende
Kunst, der dieser Dichter wie allem Sichtbaren der Erscheinung, allem
Kunstvollen und Künstlichen sehr zugetan war. Als ernsten, bärtigen
Mann bilden den Hypnos römische Sarkophage in mythologischen Szenen:
das ist wie ein später Nachklang des homerischen „Fürsten aller Götter
362 Lateinische Sprache und Literatur [224j225]

und Menschen". Den starken Epheben mit großen Schulterflügeln schuf


die attisdie Vasenmalerei der frühklassischen Zeit, als sie den von Sdilaf
und Tod getragenen Sarpedon darstellte und dann dieses epische Bild
hohen Sinnes auf tote Helden der eigenen Zeit, zuweilen gar auf Frauen
übertrug. Mit keiner dieser Bildungen hat Statius etwas gemein, um so
mehr mit jener Bronzestatue des Hypnos, die ein griechischer Künstler -
man meint Leochares - gegen Ende des vierten Jahrhunderts geschaffen
hat. Aus Kopien, Umbildungen, Nachklängen kennen wir das erstaun-
liche Werk. Der Allbändiger ist hier ein knabenhafter Jüngling. Wie muß
die Zeit den bezwingenden Zauber jugendlichster Schönheit empfunden
haben! Gegensätzlichster und zugleich sanftester Rhythmus, fließendste
Bewegung, man fühlt: leisester Schritt, soll man ihn Laufen, Huschen,
Schleichen, Schweben nennen? Die Arme lebhaft ausgebreitet und in
zartester Rundung gebogen. Der linke hält den Mohnstengel, die andere
Hand gießt aus dem Horn den Schlaf herab. Der Kopf mit dem Ausdruck
eines schlafenden Kindes um den leicht hauchenden Mund, mit dem ab-
wärts gerichteten (man hat gemeint: bannenden) Blick, dem fließenden
Haar (der Schlaf selbst „fließt" vom Gezweige im Gedicht der Sappho),
zuletzt mit den schweren Traumesflügeln an den Schläfen. | Nirgendwo
als an diesem Werk der bildenden Kunst fand Statius vorgebildet sowohl
jenes „sanftester Knabe" am Anfang wie vor allem die schwebende Be-
wegung am Schluß: „du berühre mich nur mit der äußersten Spitze deines
Zweiges, oder schreite vorbei und leicht in der Schwebe bleibe für einen
Augenblick dein Knie".
Aber wohl noch einen letzten Weg müssen wir verfolgen. Nicht nur
das Bild des Schlaflosen, nicht nur die Gestalt des Schlafgottes, auch der
Ruf an ihn, jenes „Komm!", auf das die ganze Bewegung unseres Statius-
Gedichtes abzielt, und das in ihm besonders eindringlich und rührend
erklingt, hat seine lange Vorgeschichte. Es ist vor allem die chorische Lyrik
der Griechen und ihre Nachfolgerin die Tragödie, die gelehrt haben,
Götter und göttergleich wirkende Mächte im Dichtwerk auf- und anzu-
rufen, daß sie kommen, hören, schauen, kurz daß sie gegenwärtig sind.
Das können gar Wesen sein wie das Gerücht, der Strahl der Sonne, der
schwarze Fluch des Geschlechts, der göttliche Äther und die beschwingten
Lüfte und die Quellen der Ströme und der Meereswellen unzählbar Lachen
- Mächte also, die nicht durch Gebet, Kultbild und Opfer in das religiöse
Bewußtsein der Menschen hineingegründet waren. Diese lyrische Kraft
des Rufens hat Sophokles im Philoktet an der homerischen Gestalt des
Hypnos bewährt, wobei es gar nichts ausmacht, ob dieser Hypnos damals
schon irgendwo Altar und Bild besaß, die er später mancher Orten be-
sessen hat. Der kranke Philoktet sinkt in einem Anfall zu Boden. In
seinen Worten und mehr noch in denen seiner Umgebung wird die Nähe
des beruhigenden Schlafes fühlbar. D a stimmt der Chor der Schiffsmannen
einen „Rufehymnos" an:
[2251226] Statius: An den Schlaf 363

Schlaf, der von Qualen nicht, Schlaf, der von Schmerz nicht weiß,
Komm mit günstigem Hauch zu uns,
Seligen Daseins Herr.
Diesen Schimmer, der jetzt auf seine Lider gebreitet ist,
Halte ihn fest,
Komm, komme du Heilender!

Hier geht alles aus der Seelenlage des Augenblicks hervor, und so
bedarf kaum etwas der Erklärung, am wenigsten, daß der Schlaf mit dem
Beiwort des Heilgottes, Paion, gerufen wird. Schon vorher hatte bei
Aischylos der leidende Philoktet mit der Paradoxie des Schmerzes gar an
den Tod denselben Kultruf gerichtet: O Heiland Tod! |
Zu den allbekannten und doch so schwer verständlichen Eigenheiten
der antiken Kunst gehört ihre Kontinuität, besser gesagt jene Dankbar-
keit, die nichts was einmal schön geschaffen worden ist verloren gehen
läßt, sondern es fort- und umbildet. Die hier gesammelten Beobachtungen
sind auf einem ganz engen Felde ein neuer Beleg für die alte Erfahrung.
Auch der sophokleische Ruf an den Schlaf klingt weiter im Rasenden
Hercules des Römers Seneca, als der Held nach dem Paroxysmus des
Wahnsinns ermattet zusammensinkt. Denn auch hier betet der Chor zum
Schlafgott (1065 ff.):

Schlaf du Bändiger aller Leiden


Rast des Geistes Menschendaseins schönere Hälfte
Flüchtiger Sproß der Sternenmutter
Harten Todes sanfter Bruder
Wahr und Falsches mengend zukunftssicher - ohn Verlaß
Vater alles Wesens Hafen alles Lebens
Rast des Lichts der Nacht Geleiter
Kommst zum König kommst zum Bettler
Zwingst die todesfürchtige Menschheit
Langer Nacht sich zu gewöhnen -
Leise lächle sanft dem Müden, feßle Schlaf unbändige Glieder,
Laß die grimmige Brust nicht, eh sein Geist den alten Kurs genommen.

Bei Sophokles bringt das Lied nur dies: das Schmerzlose, das Hauch-
hafte - und noch homerisch-heroisch - das Herrscherhafte des Schlafes.
Das ist nicht mehr als eben der gefüllte Augenblick aus sich hervortreibt,
zart und stark. Bei dem Römer wird die Macht, die der Grieche mit
wenigen Worten aufgerufen hatte, zur Allmacht, die für eine Weile den
Raum ganz ausfüllt, und die der Denker-Dichter in starken Kontrasten,
mit weit geschwungenem Ausdruck, mit durchdringender Vernunft aus-
zusagen bemüht ist, ehe er zu dem zurückkehrt, um dessentwillen wir mit
ihm diesen weiten Umblick auf Welt und Mensch, Leben und Tod tun
mußten.
364 Lateinische Sprache und Literatur [226)227]

Diese Stücke betrachtender Lyrik, die Seneca zwischen die gespannte


und dialektische Pathetik der Redeszenen legt, sind nicht eben seine
Stärke. Aber man begegnet doch auch hier manchem ungewöhnlichen Mo-
ment. Beim Chor der Medea von den „künftigen Zeitaltern, in denen der
Ozean vor neuen Welten die Hülle wegziehen und Thüle nidit mehr das
fernste | Land sein werde", hat Columbus aufgehorcht. Der Ruf an den
Schlaf klingt in Shakespeares König Heinrich IV. auf (II, III i), als der
Titelheld in einem Monolog von seiner Schlaflosigkeit spricht und von
der Ungerechtigkeit des Schlafes, der das königliche Lager meidet und
das der Niederen teilt:
O blöder Gott, was schläfst du bei den Niedren
Auf eklem Bett und läßt des Königs Lager
Ein Schilderhaus und Sturmesglocke sein?
Auch im Macbeth kann man den Anklang an Seneca nicht überhören:
Macbeth erwürgt den Schlaf, den frommen Schlaf,
Schlaf, der den wirren Knäuel der Sorge löst,
Tod jedes Lebenstags, Bad schlimmer Müh,
Balsam für Leid, der großen Mutter zweiten Weg.
Hier wird das klare weite Wissen Senecas, das den gegenwärtigen Moment
fast vergißt, wieder hineingenommen in eine düstere einsame Seele und
aus ihrer Sehnsucht und ihrem leidendsten Augenblick neu erzeugt.
Vielleicht ist auch in Goethes Egmont, fast am Ende, ein Weiter-
klingen des Seneca-Motivs vernehmbar, wenngleich in der Tonart sehr
geändert:
Süßer Schlaf, du kommst wie ein reines Glück, ungebeten, un-
erfleht, am willigsten — und eingehüllt in gefälligen Wahnsinn,
versinken wir und hören auf zu sein.
Man kann kaum zweifeln, daß dieser lyrische Strom, der von Sophokles
herkommt, sich in Seneca erweitert und die Kraft hat, von dort bis zu
Shakespeare und zu Goethe zu dringen, daß vor allem die Bitte an den
Schlaf, er möge kommen, auch den Statius, den Verehrer des Seneca,
berührt hat in diesem lyrischsten und empfundensten von allen seinen
Gedichten.
Man kann, vielmehr man muß dieses Gedicht auf zwei ganz ver-
schiedene Weisen lesen: einmal indem man den reichen Traditionsstrom
mit betrachtet, von dem es genährt ist und den es keinen Augenblick
verleugnet; ein zweites Mal, indem man dieses alles wieder vergißt über
dem einen Werk. Und hier hat man dazu ein volles Recht. Denn je mehr
man vergleicht, um so klarer erkennt man zugleich: dieses Gedicht hat
in der ganzen tausendjährigen Geschichte der griechisch-römischen Dich-
tung nicht seinesgleichen.
[227/228] Statius: An den Schlaf 365

Wenn im Epos ein Held oder eine liebende Frau schlaflos liegt, so
ist die Schlaflosigkeit klar begründet aus dem was vorhergeht, und not-
wendig für das was folgt. In einem kleinen lyrischen Gedicht wartet das
schlaflose Mädchen nächtlicher Weile - sie braucht nicht zu sagen auf wen.
In der Tragödie wird der Schlaf zu dem kranken Helden herangerufen
von anderen: so ist gleichsam die Sehnsucht nach Schlaf objektiviert. In
der Statue steht „der Schlaf" in höchster plastischer Allgemeinheit da.
Bei Statius spricht ein einziges Mal in der Antike das vom Ungewissen
gequälte Ich. Warum bleibt ihm der Schlaf aus? E r sucht selbstquälerisch
nach eigener Schuld, ohne sie zu finden: die Qual ist grundlos und ziellos.
Durch sieben Nächte geht die Qual. Die ewig wiederkehrenden Gestirne
werden zur fühllosen Gegenwelt, und kommt von dort ein Schimmer des
Mitleids, so ist es fast nur, damit die Mitleidlosigkeit um so stärker
empfunden werde. Der überlieferte Gegensatz des einen Schlaflosen zu |
den schlafenden Menschen wird zum Gegensatz der Glücklichen und des
einsam Leidenden. Die Bitte wird mit einer so tiefen Hoffnungslosigkeit
ausgesprochen, daß dem Bittenden ein beinahe Nichts zu genügen scheint.
Wie Hebbel an das Glück sein Gebet richtet: Sieh ein einziger Tropfen
hängt noch verloren am Rande, und der einzige Tropfen genügt . . . laß
ihn fallen den Tropfen! - so wird überhaupt solcher Einsamkeit voller
Qual ohne Ursprung und Ziel weit eher aus der modernen Welt ein
Widerhall antworten als aus der antiken. Das Gedicht des Statius, das so
viele Ströme antiken Geistes auffängt, und das doch ganz allein steht
in der klassischen Dichtung, war so erst in der Spätantike möglich, und
Dantes Glaube an das geheime Christentum des Statius ist vielleicht
weniger seltsam, als er zuerst scheinen mag.
IV

Musik und Metrik


Z u r Entwicklungsgeschichte griechischer Metren

1909

I. Daktylepitrite

Daß die metrischen Gebilde, die wir Modernen als Daktylepitrite


bezeichnen, in sechszeitige, der Regel nach viersilbige Metra oder in Ioniker
aufzuteilen sind, hat Bakchylides mit seinen antistrophischen Entspre-
chungen verschiedener solcher sechszeitigen Formen außer Zweifel gesetzt.
Blass hatte dasselbe schon früher gelehrt und führte es nun an den neu
gefundenen Gediditen durch, O. Schroeder hat die pindarischen Strophen
dieser Gattung in seiner großen Ausgabe ionisch schematisiert. Beispiele
für die antistrophische Entsprechung gibt z. B. Blass in der Vorrede zum
Bakchylides und Schroeder in seinen „Vorarbeiten zur griechischen Vers-
geschichte'' (1908) S. 81 ff., so daß ich das Material hier nicht wieder aus-
zubreiten brauche. Der Schluß auf die ionische Natur der Daktylepitriten
gehört zu den sichersten Tatsachen griechischer Metrik.
Damit, daß die Daktylepitriten Ioniker sind, soll aber nicht gesagt
werden, daß sie nichts als Ioniker seien. Kaum hatten Blass und Schroeder
das System in aller Schärfe durchgeführt, so wurden gerade infolge dieser
scharfen Durchführung Bedenken wach, denen, so viel ich weiß, Leo
zuerst Ausdruck gegeben hat (Zur neuesten Bewegung in der griechischen
Metrik, Ilbergs Jahrbücher 1902). Diese Bedenken, die zur Besinnung und
Einschränkung führten, will ich zuerst darlegen, ohne mich an Leos Er-
örterungen in den Einzelheiten zu binden.
Man tut wohl, in metrischen Dingen seinem Ohr nicht ganz zu miß-
trauen. Was das Ohr hört, drückt der Name aus: sollte es n u r Irrtum
sein, wenn man von „Daktylen" spricht? Oder liegt nicht darin das Ge-
fühl, daß die Doppelkürzen in dem Gliede (—) — — ww—(—) allem
Anschein nach gleicher Natur sind? Dem | gegenüber muß es als unbefrie-
digend empfunden werden, wenn nun durch ionische Aufteilung
— — und — diese Doppelkürzen in eine ganz verschie-
dene Relation zu den Hebungen (oder festen Längen) kommen. Mit an-
deren Worten: daktylischer (oder anapästischer) Gang ist diesen Rhyth-
men zu natürlich, als daß mit ionisch-choriambischer Messung die Frage
für erledigt gelten dürfte. Das Mißbehagen gegen die Herleitung aus
sechszeitigen Metren muß aber noch steigen, sowie die „daktylischen"

[Hermes XLIV, 1909, S. 321-351.]


370 Musik und Metrik [322J323]

Glieder über das Maß des „Trimeters" hinausgehen. Eine Form — w w —


( - ) , also etwa (Pind. Pyth. IV) f|(ufteoioiv 'Iaaovog aiy^axäo
vaijxaig oder (Isth. III) airv Oewi dvaröv öiegxovtai ßiötou teXo?, « X X o t e ö'
äM.oiog oigog, muß man zerlegen d. h. man muß
entweder eine Pause annehmen oder, was auf dasselbe herauskommt, eine
zweizeitige Länge zur vierzeitigen dehnen. A u f jeden Fall wird die gleich-
mäßig und schön „dahinrollende" Reihe in ihrem Lauf unterbrochen
und, möchte man sagen, gegen ihre Natur behandelt. Ebenso bedenklich
macht der beständige Wechsel „steigender" und „fallender" Ioniker.
Denn nirgends finden wir ein solches Hin und Her in Versen, die wirklich
durch Wiederholung eines einzigen Metrons gebildet sind. Das Schlimmste
aber kommt noch: ionische Messung trotz allem zugegeben, so gehen die
daktylepitritischen Strophen in diese Messung gar nicht durchweg auf.
Die Schemen des „ A u f t a k t s " oder der „Hyperkatalexe" necken den
Wandrer, der im schwebenden sechszeitigen Gleichtakt Gebilde durch-
mißt wie diese: o tag fteoü ov ^PanaftEia tinx' Eni qtiyixivi jiovtou
w w — w —w w (Pind. Nem. V ep. i ; vgl Schroeders metrische
Anmerkung zu diesem Gedicht in der großen Pindar-Ausgabe p. 298).
Also Ioniker sind diese Verse, und doch gibt es gegen ionische Mes-
sung so viele Gründe, daß wir nach der Synthese suchen müssen, die sol-
che Widersprüche versöhnt. Hier nun setzt Leos Theorie ein, und wenn
seine Lösung nicht bestehen kann, so hat er doch das Verdienst, die Rich-
tung gewiesen zu haben: er hat die Deutung mit Hilfe des Entwicklungs-
gedankens versucht. Die daktylepitritischen Gedichte des Pindar und Bak-
chylides seien nicht aus Ionikern unmittelbar entstanden, sondern aus
sekundären Gebilden, deren Herkunft wieder aus Ionikern abgeleitet
werden müsse. Ursprünglich ionische Reihen | seien umgeformt worden,
indem sie teils den Einfluß der ihnen ähnlichen Daktylen, teils den von
Trochäen erfahren hätten.
Gegen diese Konstruktion ist einzuwenden, daß der vorausgesetzte
Vorgang sich weder auf irgendeine Analogie stützt, was man zur N o t
verschmerzen möchte, noch die geringste innere Wahrscheinlichkeit für
sich hat. D a ß zwei ionische Metra unter daktylischen, ein drittes unter
trochäischen, dann wieder zwei unter daktylischen und zwei oder drei
oder vier unter trochäischen Einfluß kommen, ist weder glaublich noch
auch nur vorstellbar. Denn nicht bloß, daß jeder zureichende Grund für
diese verschiedene Behandlung gleichartiger Metren fehlt, man muß sich
fragen: wie können sie unter daktylischen und trochäischen Einfluß kom-
men, ohne doch Daktylen und Trodiäen wirklich zu werden? Denn auch
nach Leo sollen sie ja, wenigstens bei Pindar und Bakchylides, Ioniker
bleiben. Nein, wenn es feststeht, daß die Daktylepitriten Ioniker sind,
und wenn sie sich andrerseits gegen diese Messung sträuben, so wird nur
eine Deutung dem Tatbestande gerecht: daß hier ein fremdes M a ß
ionischem Gange angepaßt worden ist.
[323¡324] Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 371

Diese Anschauung stand mir fest, als idi v o r J a h r e n Leos A u f s a t z las.


Mittlerweile hat O t t o Schröder (Vorarbeiten 8 1 ff.) dasselbe vorgetragen,
und so w e i t geht zu meiner Freude unsre Ubereinstimmung, daß seine F o r -
mulierung des geschichtlichen V o r g a n g s bis auf den Buchstaben mit meiner
eigenen stimmt: D a k t y l e p i t r i t e n sind „ionisirte E n h o p l i e r " .
D i e anscheinend daktylischen Glieder lösen sich als selbständige E i n -
heiten ab, d. h. sie sind nicht aus noch kleineren Einheiten zusammen-
gesetzt, sondern sind ihrerseits Elemente 1 .
— v^w—wv^ — w steht neben
w — — x j u n d neben
— und neben
— — kj^j—, so daß eine Zerlegung in „ M e t r a " , |
die allen Formen genügte, nicht möglich ist. Dieses G l i e d aber ist identisch
mit dem uralten, volkstümlichen V e r s e 'Eoao^cmöri XagiXae, dem E n h o -
plier oder P a r o i m i a k o n oder Prosodiakon. A l s dessen Eigenheit kennen
w i r die Freiheit der Senkungen. Nichts anders als diese Freiheit ist es
nun, w e n n die anlautende oder die schließende Senkung g a n z fehlt; mit
Ausdrücken germanischer M e t r i k zu reden, w e n n der V e r s fallend (un-
vorsilbig) statt steigend (vorsilbig) gebildet ist 2 oder stumpf (männlich)
statt klingend (weiblich) endet. U n d mit N o t w e n d i g k e i t folgt, daß auch
ein V e r s dieser A r t , der sowohl fallenden Beginn als stumpfen A u s g a n g
besitzt, nicht durch einen besonderen N a m e n v o n seinen vollkommener
ausgebildeten Brüdern getrennt werden d a r f 3 .
Euripides schließt das daktylepitritische L i e d Medeia 4 1 0 ff. mit der
Zeile owexi öwxe^aöos cpa|xa Yuvaixag elei w —w ,

1
Vgl. Spiro, Hermes X X I I I , 1888, 237 f. Auf diesen Aufsatz, der wichtige allgemeine
Erkenntnisse ausspricht, mödite idi überhaupt aufmerksam madien. Man kann das
freilich erst schätzen, wenn man die Dinge selbständig durchgedacht hat. Was ebendort
S. 609 über „Katalexe" gesagt ist, entspricht ganz meiner eigenen Auffassung; nirgends
sonst hab idi das ausgesprochen gefunden. - Daß die „daktylischen" Glieder Enhoplier
(Paroimiaka) sind, steht natürlich auch in Useners „Altgriechischem Versbau".
2
Sdiroeder, Vorarbeiten 34, setzt unvorsilbige Verse steigenden Ganges an. Idi will
die Frage nicht eingehend erörtern. Nur wie subjectiv das alles ist, muß ich betonen.
Den Vers u» Jto/iUxX.cn)TE tpUoioi davtbv empfindet Schroeder als „steigend", idi als
fallend, vielleicht nodi genauer als fallend zu Anfang und wieder steigend etwa von
der Mitte an. Aber ich vermeine nidit damit der Structur des Verses oder antikem
Versempfinden nahe gekommen zu sein. Idi will also „fallend" die unvorsilbigen Verse
nennen, rein descriptiv.
3
Um so verwunderlicher scheint es mir, wenn Herkenrath in seinem Buche über den
„Enhoplios", während er doch diesen Begriff weit über alle Gebühr ausdehnt, die
„daktylische Penthemimeres" als „Dodimios" absondert. - Von Schroeder a. O. 84
entferne ich midi in Einzelheiten. Idi muß grundsätzlidi daran festhalten, daß ein
Vers, der äußerlich drei Hebungen (d. h. drei constante Längen) hat, auch in Wirklich-
keit ein Dreiheber, nicht ein verkappter Vierheber ist. Ohne damit natürlich be-
haupten zu wollen, daß es solche verkappte Vierheber gar nicht gebe, will sagen,
daß ein u r s p r ü n g l i c h e r Dreiheber nicht audi als Vierheber verwendet sein
könne.
372 Musik und Metrik [3241325]

unvorsilbiger (fallender) Enhoplier begleitet von dem gewöhnlichen Ithy-


phallikon. Noch deutlicher spricht das gleichartige Lied Oid. T y r . 1086,
dessen Schluß ich hersetze: xat xoQEtiecr&cu jtgög f)|iä>v <bg ejut}q<x (pegovra xoig
Ejjioig tugawoig. lr|i£ $oiße, ooi öe renk' ägiax' eir|.
—w —w —WW — WW — W —W — W
— WW — W — W —W
Das Letzte ist der Enhoplier mit dem (synkopirten) Ithyphallikon". |
Was vorhergeht, läßt sich davon nicht trennen. - Das daktylepitritische
Lied Arist. Eir. 774 beginnt: Moiaa, ai> ¡xev noXeiioug outcoaafiEvri |xet' e|xov
tov cpiXot) xoqbvoov und schließt elxe tö ÖQä^a vaXrjv Trjg eaitepag aiiaylai. Der
Anfang ist —ww—ww—w — ww—ww— — w—w , der Schluß5 ist
—ww—ww —w—w . Das Lied setzt ersichtlich — oder unüberhör-
bar — mit zwei Enhopliern ein, denen die ithyphallische Klausel folgt. Ob
man die beiden Enhoplier so trennt, wie ich angenommen habe, oder lieber
— ww— die Wortteilung an die Hand geben
würde, ist gleidigültig. Jedenfalls steht eine stumpf endende Form unsrer
Reihe vor dem Ithyphallikon. Die Strophe Hepta 750 ff. stellt die Bil-
dungen

"ww— w
als offenbar gleichwertig zusammen. Ähnlich Aristophanes Wespen
1 5 1 8 - 2 7 . Und wenn im Oid. Kol. 1080 ff. fünf Epitrite abgeschlossen
werden durch die Klänge aidEpiag vscpeAag xiigaoufx' ävarft' ävamov deiogr]aaaa
tovixöv 0|i|xa — ww—ww — w —w
w —^— ^ w
so kann auch der Strophensdiluß 1 3 0 - 2 in den Persern nicht anders ge-
deutet werden als ^ —w— w
— WW — UU— —W — W ,
d. h. ein konventionell als iambischer Trimeter bezeichneter Vers geht
voran (wie er bei Sophokles folgt), ihn nimmt der unvorsilbige und
stumpf endende Enhoplier mit seiner Klausel auf 6 . Alle die Formen, die
4
Nicht eigentlich 2 Trochäen, wie v . W i l a m o w i t z , Herakles I I ! 1 9 2 will und mit ihm
Leo, Plaut. C a n t . 20 2 . Richtig Kaibel zur Elektra S. 1 4 6 ; Schroeder, Sophoclis C a n t i c a
28. Daß - v j von — w — ^ — nicht getrennt werden d a r f , lehrt z. B. die Strophe
Perser 8 j 2 ff., w o die erste H ä l f t e v o n der kürzeren, die zweite H ä l f t e von der
längeren F o r m abgeschlossen w i r d . — « — d a s ist w a s übrigens be-
weisen würde, daß das Ithyphallikon nicht (wie Leo a. O . 63 will) ein äolisches
K o l o n ist. E s ist sicher viel älter als die selbständige Ausbildung der äolischen G a t -
tung.
5
Wenn man nämlidi die vorhergehenden D a k t y l e n abtrennen darf.
6
Die Skolien der 7 Weisen (Hiller-Crusius, A n t h . L y r . 3 3 3 f . Diehl, A n t h . L y r . I I 1 9 0 f.)
haben als Abschluß in deutlicher Identität die Formen:
ävÖQWv ävaftwv TE x.ax.cjv TE voCg M8wx' 'iXtyxov.
XoXei, 6ix6[«)dov e/ouaa xaQÖiai vor)[ia.
jtoXAaxi ßXaßegav £^EXa(ii))£v äaz-i\Q.
[325j327] Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 373

hier sowohl den Daktylepitriten benachbart wie auch | außerhalb solcher


Gesellschaft als Enhoplier vor Ithyphallikern auftreten, finden wir als
die „daktylische" Silbengruppe („d") mit den Epitriten („e") gepaart in
den daktylepitritischen Gedichten wieder7. Sie zu trennen ist unmöglich.
Damit sind die „¿"-Glieder der Daktylepitriten in ihrer Natur erkannt
und eingeordnet.
Soweit kann ich in allem Wesentlichen (sdieint mir) mit Schroeder
gehen8, und ich hätte bewiesene Dinge nicht von neuem vorgetragen,
wenn mir nicht daran läge, für die nun folgenden Untersuchungen eine
sichere Operationsbasis zu gewinnen. Nach zwei Seiten nämlich will ich
mich von hier aus wenden: einmal soll nachgewiesen werden, daß „Ioni-
sirung" nicht nur in Daktylepitriten wirksam gewesen ist, sondern als
wichtiges Motiv für die Entwicklungsgeschichte griechischer Metrik auch
sonst betrachtet werden muß. Und zweitens will ich zeigen, worin sich
meine Ansicht über die Daktylepitriten von der Schroederschen sondert.
Es handelt sich um die Auffassung des „Epitrits", und damit sei be-
gonnen.

II. Die Epitrite

Schroeder stellt sich die Entwicklung, wenn ich ihn recht verstehe, so
vor: Ursprüngliche Enhoplier werden ionischer Messung unterworfen.
Sie entwickeln danach von sich aus ionische Metra, die zu den enhoplischen
Gebilden hinzutreten und allmählich anstatt der anlautenden Kürze eine
(irrationale) Länge bekommen, also zu Epitriten werden: <
WW .
Erste Stufe (—^ww-ww--
Zweite Stufe — ww— ww
Dritte Stufe — ww— ww ww
Vierte Stufe —
Der Versuch, so die Entwicklung zu zeichnen, läßt sich als falsch dartun.
Falsch ist zunächst die Beurteilung des sog. „Epitrits", den um seinerschweren
Endsilbe willen Schroeder wie übrigens auch Leo und andre als verkappten
ionicus a minore ansehn. Dafür könnten Fälle sprechen, wenn — w mit

7
Und wenn ein derartiges Gedidit anfängt Aavaov jioXiv «yXoioflgovaiv te itevxriy.ovTa
xoQäv XotgiTE?
w — ww — w — w | — w j — VJ — w —
Nem. X (womit Prometh. j 4 $ ff zu vergleichen ist), so wird man das von der Form,
die vorhin im Oid. Tyr. 1096 (und noch näher Hippol. 755 ¿itöpeucag e|j.civ ä v a a a a v
¿Xßicov an' olxcov) als Enhoplier bezeichnet wurde, nicht trennen wollen. Daß gerade
ein daktylepitr. Gedicht so beginnt, ist vielleicht nicht Zufall.
8
N u r kann ich ihm nicht folgen, wenn er (Aesch Cant. 43) das Ithyphallikon in daktyl-
epitritischen Liedern als ein stammfremdes Element bezeichnet.
374 Musik und Metrik [327j328]

^w antistrophisch geglichen wird, oder wenn der Ioniker an einem Platz


steht, den nach normalem Gebrauch ein Epitrit füllen sollte. D a aber alle
sechszeitigen Maße einander entsprechen, da auch— w ur-
sprüngliches - u u - u u ersetzt, so liegt kein Anlaß vor, die Ent-
sprechung — w :w w anders zu beurteilen und für das eigentliche
Wesen des Epitrits zu verwerten. Vielmehr ist dessen Ableitung aus dem
steigenden Ioniker darum unrichtig, weil der Epitrit wohl die Auflösung
w u u - U aber nicht w w —wv/ kennt. Mit andern Worten: es gibt keinen
sicheren Fall, in dem man die vierte Silbe des „zweiten Epitrits" (des
„Kaoixög") aufgelöst fände, während es Beispiele genug dafür gibt, daß
die angeblich irrationale erste Länge eben diese Auflösung gestattet. Die
Tatsachen scheinen mir so eindeutig, daß Schröders Versuch, seine Hypo-
these durch die darunter gebaute vom jaixvcona zu stützen, Ablehnung
verdient.
Die Epitrite sind keine Trochäen, so viel ist richtig. Sonst würde sich
die konsequente Längung der vierten Silbe nicht erklären. Aber sie haben
„trochäischen" Gang, d. h. ihre wirklich auflösbaren Längen, das was
man mit dem Ausdruck unsrer „Affektrhythmik" 9 ihre Hebungen nennen
kann, sind die erste und dritte Silbe. Was also ist der Epitrit? Kein
Ioniker, der auf der jüngeren, ionischen Entwicklungsstufe der Enhoplier
zu diesen hinzugetreten wäre durch innere Krystallisation. Ein Vers,
dessen Wesen trotz seines Vorkommens unter Ionikern ionischem Rhyth-
mus widerspricht, muß aus einer vorionischen Periode heruntergeerbt
sein: das ist, wie vorhin bei den „Daktylen", so auch hier wieder bei den
Epitriten der methodische Leitsatz, dem ich folge 10 . |
Bleiben zwei Möglichkeiten: entweder sind die Epitrite, welches nun
auch ihre Natur sei, von außen an die Enhoplier herangetreten, um mit
diesen durch den Proceß der „Ionisirung" zu den Daktylepitriten ver-
schmolzen zu werden. Oder aber die Verknüpfung von Enhoplier und
Epitrit ist etwas Ursprüngliches, was längst vor dem Ionisirungsproceß
statt hatte. Daß allein diese zweite Möglichkeit das Richtige trifft, läßt
sich mit leichter Mühe nachweisen. Denn das „daktylische" und das
„epitritische" Element der nach ihnen beiden benannten Strophen findet
sich auch außerhalb ihrer verbunden: — — tj— ^ .Das ist das
Enkomiologikon, das Hephaistion (c. x j , io) ein „berühmtes" Maß nennt
und aus Alkaios und Anakreon belegt. Die metrische Analyse der daktyl-
epitritischen Strophen, die in den Pindar-Scholien vorliegt, rechnet mit
dieser Größe durchaus11. D a nun niemand auf den Gedanken kommen

9
D e r N a m e stammt v o n Nietzsche und w i r d v o n ihm als Gegensatz zur antiken Zeit-
rhythmik verwendet: Gesammelte Briefe I 3 7 5 f.
10
E s liegt mir fern zu leugnen, daß man mit Sdiroeders „Triolen" (Vorarbeiten 1 0 2 )
erklären kann, wie denn die sdieinbar 7-zeitigen Metra dem ionischen G a n g der Verst
angepaßt sind. A b e r das geht eben den nachträglichen Proceß der Anpassung an und
ergibt nichts für die Entstehung die uns hier beschäftigt.
[328/329] Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 375

kann, dieses Maß sei aus den Daktylepitriten entlehnt, so ist bewiesen,
daß die Verbindung des „daktylischen" und des „epitritischen" Elements
vor die Entstehung der daktylepitritischen Strophen hinaufreicht.
Was ist nun das Enkomiologikon? Daß die Reihe ionischen Ursprungs
sei, - u u - j u u - ü - u , wird man nicht behaupten wollen angesichts
der Gründe, mit denen vorhin ionischer Ursprung der eng verwandten
Daktylepitriten abgelehnt worden war. Also ist das Enkomiologikon
vielleicht eine Einheit, verwandt dem alkaisdien Zehner —ww—ww—
w ?Ich glaube das nicht12, erstens weil die syllaba anceps auf eine Fuge
deutet, und noch mehr, weil ja in daktylepitritisdien Gedichten neben
der bisher von uns betrachteten Form gleichberechtigt die andre steht, in
der die epitritische Einheit vorangeht, nicht folgt. (—)—w w
w —(—). Hephaistion (XV n ) nennt diese Reihe, wenn sie vorsilbig ist
und stumpf endet, Iambelegos und belegt sie aus Pindar mit dem aus-
drücklichen Vermerk, in stichischem Gebrauch habe er sie nicht gefunden. |
Daß sie aber nicht erst aus Daktylepitriten isolirt ist, beweist einmal das
Vorkommen solcher Gebilde im Drama:
fAT)Jt(o OTEva|r]ig : aKKä jtüpaai yooi. Ion 768.
jigiv av ixdOco^Ev : ayyEkiax tiva |xoi;
tig ä ßa/.oCaa jtgcoTa; : Efiöv xö yeQag. Bakchen 1179.
Haxaig' 'Ayaiir) : xXr|i^oixE'&' ev {kdaoic;.
(Vgl. Ion 1483/4 — xi $oißov aiiöaig; : xqvjct6(X£vov Xexog f|vvdadriv). Und
sodann die anscheinend engste Verwandtschaft dieser Reihe w ^
w —ww— mit dem alkaischen Elfer w ww —w—.
Das Enkomiologikon also, um zurückzukehren, ist keine Einheit,
sondern zusammengesetzt aus dem „daktylischen" Teil (d) und dem
„epitritischen" (e). Daß d identisch ist mit dem Enhoplier, darf ich wohl
nun als ausgemacht rechnen. Was aber ist der Epitrit? Einen einfachen
Trochäus in ihm zu sehen, verwehrt die mit ziemlich weitgehender Con-
sequenz durchgeführte Beschwerung der letzten Silbe. So glaube ich denn
nicht fehl zu gehen, wenn ich die Deutung ausspreche:

Enh. + Epitr. (—)—ww —ww —w gehört zu


Enh + Ithyph. (—)— — ww — w —w als

kürzere Nebenform.
Man muß diese Reihen in eine umfänglichere Gruppe hineinstellen.
Pind. Pyth. III gibt als Strophenende ww — ww — w — w—w—<->——, Enh.
11
Das scheint Hanssen unbekannt zu sein, der nach Bergk (Griech. Literaturg. II 1 3 7 )
die Daktylepitrite aus dem Enkomiologikon herleitet, nidit ohne entschieden un-
richtige Auffassungen besonders auch über Ioniker (Philologus LI).
12
Eher ließe sich die Ähnlichkeit zwischen beiden Zeilen so erklären, daß der alkaische
Zehner eine Ausgestaltung des ursprünglich freien (enhoplisdien) Vierhebers sei, die
unter dem Einfluß des Enkomiologikons zustande kam.
376 Musik und Metrik [329/330]

+ Ith.; Pind. N e m . I I I gibt gleichfalls als S t r o p h e n e n d e ^ w — w — w — w


— w — E n h . mit männlich schließendem I t h y p h a l l i k o n ; dieselbe F o r m
Soph. Trach. 880 (— ayzxXiüixaxa jtgög ye JTQÄ|IV : eijte TIBI (IÖQWI.) Auch das
synkopirte I t h y p h a l l i k o n nach voraufgehendem Enhoplier, das oben be-
legt wurde, könnte man heranziehen — w Andrerseits gehört hier-
her die Klausel, die l ä n g e r ist als das Ithyphallikon, genannt „ L e k y -
thion", an sich ebenso w e n i g iambisch oder trochäisch zu messen w i e das
Ithyphallikon 1 3 :
— — w — A n t h . Pal. X I I I 11 („Sincoviöov"). |
tig eixova tävä' ävefh|xev; AajQieug ö ©ouQiog.
ov Toöiog ysvog rjv; val, jtgiv cpuyeiv yz itatpiSa.
Bakch. Io 3/4 05 av jtanä IIiEgiöcov Xaxr|ai 5üjga Mouaäv.
13/4 öööv jiaga KaXXiöjtag Xaxoiaav e^oyov yegag.
W o z u sich als V a r i a n t e f ü g t : — — — w — ^ — w—
Aisch. H i k . 75/6 dEQiag anö yäg, ei tig « m XT|5E[A6V.
Ein paar Beispiele mögen die Überzeugung v o n der V e r w a n d t s c h a f t
aller dieser Klauseln noch stärken. Hephaistion stellt in dem K a p i t e l
„ A s y n a r t e t e n " ( X V 16/7) nebeneinander
Ar|(i,r]Tßog ayvrig x a i KÖQrjg | xr|v jtavr]Y\jQiv aeßcov ( A r c h i l . )
und 'Etüiog f|vi/.' ijuiotag | e|EXa[iA|)EV äcrnriQ (Eurip.),
d. h. ein iambisches Dimetron einmal mit dem L e k y t h i o n , das z w e i t e M a l
mit dem I t h y p h a l l i k o n als Klausel; w o man etwas Wesentliches verwisdit,
w e n n man die Verse als iambische Tetrameter mit unterdrückter Senkung
bezeichnen wollte. Entsprechend steht der Vers Anakreons
TÖV XUQOJIOIÖV T)Q0JJ,R|V STQOITTIV e i XO|RR|0EI

neben dem Kratineion


Eike xiaao'/aix' äva%, y.aip' ecpacrx' 'Excpavuörig
(Heph. X V 20/1), und g a n z ähnlich zeigen die Strophen Perser 864 f f .
und 879 ff. je einmal das L e k y t h i o n und je einmal das Ithyphallikon als
Abschluß längerer Reihen 1 4 . W i e nahe sich L e k y t h i o n und stumpfes oder
„katalektisches" Ithyphallikon (oder „ H y p o d o c h m i o s " ) stehen, lehrt
e t w a ein Lied w i e Pindars N e m . V I I , in dem nebeneinander v o r k o m m e n
("H)pag yeveteiQa texvcov ävev aeftev
ov cpäog ov fielaivav ÖQaxevteg etiqpgovav
— — w — —<w<—
— v^i w — ^ — —<^1 — w — w —

13 Bei Herkenrath, Enhoplier 9, sieht man das Ithyph. zerlegt in „troch. + spond".
[und ?], anstatt daß es als Einheit anerkannt wäre. Es spricht sich über-
haupt ein Grundfehler des Buches gleidi in den ersten Zeilen des Vorworts aus. „Es
handelt sich darum, den Vers (den Enh.) in seine Metren zu zerlegen". Als ob er aus
„Metren" bestünde und nicht eine ursprüngliche Einheit wäre. - Vortrefflich Schroeder,
Aesch. Cant. 114.
14 Soph. Phil. 686 = 701 scheinen sogar Lekythion und Ithyphallikon zu respondieren
(Schroeder Soph. Cant. 55).
[330/332] Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 377

und weiterhin
eiqyei 8e jiÖTfiCDi tir/evO' eteqov eteqcx triiv öe tiv
x a i jialg o ©Eapicovo? oiqetcu xgiftsig,
das ist —— wVJ w >—w—
UU — — — \J — .|

Sind also diese Klauseln — ^ — w — ^ —

— w — ^ — eng verwandt, so kann


man den Epitrit — w nicht von ihnen abtrennen. Und nun sehe man,
wie oft in daktylepitritischen Liedern das Glied „d" statt der gewöhn-
lichen epitritischen Klausel die ithyphallische hat. Bei Pindar freilich nicht
und auch bei Bakchylides nicht in den streng gebauten Strophen dieser
Gattung, von denen die Io sich gesondert hält. Aber bei Simonides z. B.
und in der Tragödie ist das Ithyphallikon an Stelle des Epitrits keine
Seltenheit, und ich muß es nadi meinen Erörterungen über den Wechsel
der verschiedenen Klauseln als unwahrscheinlich bezeichnen, daß das
Ithyphallikon in die daktylepitritischen Gedichte als etwas Fremdes von
außen her hereingebracht worden sei, wie Schroeder (Aesch. Cant. 43)
will 15 .
Mir scheint, über die Qualität des Epitrits sind wir im klaren. Es ist
ein „fallender Zweiheber", der aber vermöge seiner schließenden Länge
auch als „Dreiheber" auftreten konnte — — wie das Ithyphallikon als
Drei- und als Vierheber. Schon darum dürfen wir ihn nicht als Trodiäus
bezeichnen, und wenn man sagen wollte, daß auf den Namen nichts an-
kommt, so reißt ihn eben diese Bezeichnung von dem nächstverwandten
Ithyphallikon los, das ja wohl niemandem mehr als „trochäischeTripodie"
gelten wird. Man darf den Tatbestand auch so formuliren, daß der
Epitrit sich zum Ithyphallikon und zum Lekythion verhält wie das Rei-
zianum \ y - \ y - — zum normalen Enhoplier — — ^(y—— und
zum ausgebildeten enhoplischen Vierheber ^-(y—^iy — ^-iy—^y—, der
z. B. bei Pindar (und nicht erst bei Mesomedes) in der Form —
ww — auftritt.
Noch bleiben eine Reihe Einzelfragen. Die eine trifft die Verviel-
fältigung der Glieder innerhalb der Strophen, zunächst der Glieder „e".
Um mit der häufigen Form (—)—ww— —w w — (d e e) zu
beginnen: ich glaube, die darf man unbedenklich aus der früher belegten
Langzeile Enh. + Lekythion herleiten16 und die durchgeführte Beschwe-
rung der mittleren Leky]thionsilbe auf den Einfluß des Epitrits zurück-
führen. Findet man nun dieselbe Form „akatalektisch", also ( - ) - u u -
15
Liegt das „Katal. Ithyph." vor in Pind, Nem. V I I I ep. 4:
— — VJ |— \J — \_J — J

Über den ersten Versteil s. weiter unten!


16
Andeutung (aber abgelehnt) bei Sdiroeder, Vorarb. 9 1 .
378 Musik und Metrik [332]

WW —W vj — — , so sind verschiedene Erklärungen möglich und


könnten wirklich verschiedene Momente zusammengewirkt haben. Denk-
bar wäre zunächst, daß es von Anfang her ein „Lekythion mit klingen-
dem Ausgang" gegeben habe, in demselben Verhältnis zu dem stumpf
schließenden, wie das gewöhnliche Ithyphallikon zu — w — . Wenn
man das aber nicht will, so sind folgende Erwägungen anzustellen: Einer-
seits mußte das Lekythion, wie wir sahen, zum doppelten Epitrit mit
Katalexe werden. Was lag also näher, als diesem einen akatalektischen
Doppelepitrit an die Seite zu stellen? Man kann aber daneben geltend
machen, daß überhaupt eine Verdoppelung der Klauseln gar nichts ganz
Seltenes gewesen zu sein scheint, wie ein paar Beispiele belegen mögen.
Die äolische Strophe Pind. Nem. II wird abgeschlossen durdi die Zeile
ev jtoXw(ivr|T(oi A105 äXaei oder
Tijiovöou jtaiö'. eati b' eowog oder
ak\a KoQivfricov vno (pcotorv, also durch zwei Adoneen.
Ja der zweite pindarische Paian schließt sogar lr)ie itaiäv, Irjue naiav öe
(xr]jtot8 Xsijtoi und diesem dreifachen Reizianum geht Glykoneion + Rei-
zianum voran (noxftog fiau/iav «pegei v-aiocoi «araßaivcov), so daß wir hier,
die Klausel mit x bezeichnet, ein Gebilde a x (x x x) bekommen. Und da-
mit hätten wir nicht nur Analogien für d e e, sondern auch für d e e e e:
man sieht, wie die Vervielfältigung der epitritischen Glieder an sich keine
Schranken hat.
Auch für die Folge d d e in daktylepitritischen Reihen finden sich
anderwärts Entsprechungen. Strophen von 2 oder 3 Glykoneia mit ab-
schließendem Pherekrateion, wie Anakreon sie bildet, liegen nodi etwas
entfernt. Aber verdoppelten Enhoplier mit einfachem Ithyphalliker als
Endung zeigt uns Bakchylides' / O (ioßXecpapoi TE xat cpEQEatscpavoi Xdoixeg
ßäXcoaiv ä^qpi xi^iav) neben der üblichen Form mit einmal gesetztem Enho-
plier. Schließlich gehört die sapphische Strophe in diesen Zusammenhang:
a a a b17. \
17 V g l . Schroeder Vorarb. 46. - G a r nicht einverstanden bin ich mit Schroeders A u f -
fassung der alkai'sdien Strophe, die er in dasselbe Schema aaab preßt (3 Fünfheber
+ 1 fallender Vierheber). Vielmehr scheint mir klar, wenn man nicht künstelt x x ab,
also sozusagen 2 Stollen mit Abgesang. Jeder Stollen ist zweiteilig, ein A u f und ein A b
u —u —u (a) — w — o — (ß) [über a wird später gehandelt werden]. D e r Abgesang
ist auch zweiteilig, a entspricht der Halbzeile a mit ihren einfachen Senkungen, b der
Halbzeile ß mit ihrem Wechsel von einfachen und doppelten Senkungen. Wenn
Zeile a beginnt, so glaubt man zunächst a zu hören, aber es schließt nicht nach v_> - w - >_.
sondern unerwartet folgt noch - w — , und wenn dann endlich scheinbar b einsetzt mit
- w ^ - , s o schließt es nicht mit ^ - sondern geht noch weiter — . Das
Schema ist also
\J — KJ — —
W — KJ — W —W W — —
w — w — ^ — w — >_/ — — w v^ — w
oder a ß a $ ab. Dabei mache ich aufmerksam auf die später z u behandelnde Drei-
fußaufschrift der Akamantis (Anth. Pal. X I I I 28), die mit ihrem Vers — ^ — - ^
w-vyw-w — gleichsam die Zusammenstellung a b belegt.
[333¡334] Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 379

Unsicher zu beurteilen bleibt der Einschub von e zwischen d und d.


Sehr merkwürdig, wie der Komiker Piaton in der Parabase der „Xan-
triai" den Vers stichisch verwendet: xcüqe, JtodaioYEvcöv dvögiiv deatiov
%v\loye jtavToaoqptov (Heph. X V 12 „Platonikon"). Daß diese Bildung erst
aus Daktylepitriten vereinzelt und nachträglich fest geworden wäre, ist
schwer zu glauben. So hätte man hier also auch eine Verbindung, die für
die Entstehung der daktylepitritischen Lieder in Betracht käme? Schließ-
lich, ganz ohne Analogie wäre solcher Einschub eines kürzeren Gliedes
nicht, und wenigstens fragweise möchte ich Bildungen hierherziehen wie
Sapphos „große asklepiadei'sche" Zeile. — — — | — | — ^ —
oder die Form — — |— | — w— Aisch. Hepta 783 f.
jtatgocpövüji xeqi xüv xQeiaooTexvcov ö[i|j.aT(ov EnXaYXÖri), wo zwischen Enho-
plier und Ithyphallikon ein kleines Glied retardierend eingeschoben
scheint.
Nun aber zu der verbreiteten Gruppierung, die den Epitrit dem
„daktylischen" Gliede vorausschickt. Da muß zunächst gesagt sein, daß
—w ww—ww—(—) und — (—) ohne Unter-
schied vorkommt, und es ist zu fragen, wie analysirt werden soll, ob
(—)—v^ — — ) oder
—— — wv^l — WV^—(—)
Die Frage ließ sich schon bei der Umkehrung auf werfen: hat man zu
gliedern (—)— —^ oder
(—)—^ ^ — ^ ^ — ^ ? Wir mit unserer Ge|wöhnung
an dipodische Messung werden ja zunächst solche Form wie v^
perhorresciren18, weil wir sie mit unserm System, nach dem „jeder Vers
entweder ein iambicus oder trochaicus ist", nicht zu reimein wissen. Dem
gegenüber ist darauf aufmerksam zu machen, daß die antike Theorie
durchaus mit diesem „iambischen Penthemimeres" rechnet. Das Enkomio-
logikon zerlegt Hephaistion in ein daktylisches und ein iambisches jiev^t)-
|u[xeqec, das Platonikon in zwei daktylische mit einem iambischen in der
Mitte. Und merkwürdig genug, die Wortabteilung innerhalb der Verse
unterstützt oft genug solche Analyse. Die Beispiele für das Enkomiologi-
kon, die Hephaistion aus Alkaios und Anakreon beibringt, teilen sich
wirklich — w«^ — — — ('OpooXonog (¿sv "Aqti? cpdEEi fievaixuav);
das Platonikon — —ww—| w ¡ - l i u - u w - ; die Iambelega,
die wiederholt in der Tragödie vorkommen, trennen mit Vorliebe durch
Personenwechsel die beiden Silbengruppen — — w :—Ky^j—uu—, wie
man sich aus den vorhin angeführten Beispielen überzeugen kann. Die
Dreifußinschrift des Antigenes (Anth. Pal. X I I I 28) läßt archilochische
Asynarteten von der Form
jioÄXdv.i 8f) (pvXfjg 'AxaaavTiSo; ev /opoimv TQpat

18
Anerkannt finde ich sie bei Spiro, Hermes X X I I I , 1888, 247.
380 Musik und Metrik [334/335]

wechseln mit solchen Gebilden


avcoX6Xv§av xiaoocpogoig £ju Siftugaußoig,
d. i., wie die fünfmal 1 9 wiederholte Fuge noch verdeutlicht, ^ 1
—w w — w :das fragliche „Penthemimeres" mit dem alkaischen
Zehner zu einer Langzeile verbunden. Vielleicht ist nicht unähnlich Perser
9 7 4 / 5 = 988/9^
leb icb (101 tag 0)7117101)5 xatiSovceg
ivyyd. |xoi örjT' ayaü&v EtaQarv . . . |
was man entweder w ztxj— w
oder —v^,— — w w — w analysieren muß.
Und ganz sicher ist die Form w an einigen Stellen daktyl-
epitritischer Gedichte. Denn könnte man bei einer Zeile wie Isthm. I ep. 4
fj KaaxoQEuoi f| 'IoXaöu evagnö|ai viv i5[xva>i allenfalls noch zweifelhaft sein,
ob ein ursprüngliches w oder ^ anzusetzen ist, so zwingen
zur Annahme des Penthemimeres Zeilen wie Nem. V str. 6 w w
—w —w (cpÖQuiYY' AJIÖXXCÜV EJttavXcoaaov xpvaEa>i JIX&XTQCDI
öwoxcov), Soph. Trach. 102 ein' & xQaxioxevwv v.ax o(i.(xa. (Stellensammlung in
Schroeders großer Pindarausgabe S. 298.)
So lange man in dem Epitrit ein trochäisches (oder iambisches) Metron
sieht, muß das „Penthemimeres" ein Ärgernis oder eine Torheit scheinen.
Wir haben jene Erklärung über Bord geworfen, und wirklich, ordnet sich
denn das fünfsilbige Maß nirgends ein? Nun, nach dem, was wir heut
wissen, wird uns doch die Verwandtschaft von w zum Reizianum
w oder ZJ—k^^i nicht absurd erscheinen. Zugleich geht aus
dem Nebeneinander von ^ und — hervor, wie notwendig
es war, den Epitrit streng vom Trochäus zu sondern.
Doch unser Penthemimeres läßt sich noch in einen weiteren Zusammen-
hang rücken, der sein Wesen deutlicher macht. Hephaistion (XV 2) be-
merkt zu der uralten archilochischen Langzeile 'Egaa^oviSri..., daß die
„Späteren" nicht streng an dem Einschnitt zwischen Enhoplier und Ithy-
phallikon festhielten. In der Tat, wenn er aus Kratin citirt:
Xalg' d> |iey' äxQEioyeXcog 0(uXe taig eiußSaig,
T?is f|n.ETE£>ag aoepiag xQiTT|g, ixQiaxe jtdvxcov •
EtiSaiiiov' exv/.xe ae (irjtrig txgicDV tpocpriaig,

so gestattet nur der letzte Vers die Teilung —ww 1 ——w——.


während die andern männlichen Einschnitt haben w — w
19
Wo man die Zeile zum sechsten Mal erwartet, steht nach der Überlieferung dfjxav
ioaTEcpävoJv öeäv exem Moiaäv, also Enh. + Ith. Ich kann es nicht mit v. Wilamo-
witz, Hermes X X , als „unmöglich" bezeichnen, daß der Dichter in der letzten Zeile
vom Schema bewußt abgewichen sei. Auch das deäv neben dem Adjectiv scheint mir
nicht unerträglich, wenngleich Pindar Moioai iojtX6xa(xoi und dergleichen zu sagen
pflegt. Natürlich k o n n t e der Verfasser des Epigramms so dichten, wie Wilamowitz
ihn dichten läßt (obgleich Dionysos nicht eigentlich hierher gehört und mit deög
undeutlich genug bezeichnet wäre); warum er so dichten m u ß t e , leuchtet nicht ein.
[335j337] Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 381

—^ . Es erscheint mir müßig zu fragen, welche Form die ältere sei.


Vielmehr muß festgestellt werden: wenn der erste Kurzvers klingend
endet, so beginnt der zweite fallend; endet der erste stumpf, so beginnt
der zweite steigend. Dies als Regel, womit nicht gesagt sein soll, daß es
keine Ausnahmen gegeben habe. Für männlichen Ausgang mit fallender
zweiter Halbzeile haben wir Beispiele angeführt (S. 376 f.), und das Um-
gekehrte: weiblicher Ausgang und steigende zweite Halbzeile, ist zum
mindesten denkbar 2 0 . N u n wird es niemandem in den Sinn kommen, das
Glied w — — jener Kratinverse von — M zu trennen, also
zu meinen, das eine Mal hätten wir ein katalektisches iambisches Dime-
tron, das andre Mal ein Ithyphallikon, das weder iambisch noch trochäisch
sein kann. Sondern ersichtlich ist auch w — w — w — ^ nicht dipodisch auf-
zufassen, sondern ist seiner Structur nach dem Ithyphallikon unbedingt
gleich. Jetzt ist aber klar, wenn richtig vorhin der Epitrit zum Ithyphalli-
kon in Beziehung gesetzt wurde (—w : — w—w ), daß dasselbe
Verhältnis zwischen dem „Penthemimeres" und dem „vorsilbigen Ithy-
phallikon" obwaltet ( w — w ). Wir müssen also auch
urteilen, daß es gleichgültig ist, ob man teilt ( — ) — w w —^
oder ( — ) — v ^ v ^ — w . Besser ausgedrückt: in dem ursprüng-
lichen Langvers waren beide Möglichkeiten vorhanden (und daneben noch
die dritte (—)— w Kai jioXuxaQjraxaxag {HjxE öeanoivav
X^ovog Pyth. I X str. 7, und vielleicht sogar die vierte (—) — w w —
xj tj—KJ ). 21 . Aber für die Stufe der Daktylepitriten hat die Frage
nach einer Fuge ihren Sinn verloren, weil beide Kurzzeilen eng ver-
wachsen sind.
Wie ist nunmehr das Vorangehen der epitritischen Glieder aufzufas-
sen? Neben ww—w——w—w muß nach der aus Kratin be-
legten Fugenverschiebung stehen . Versetzt
man diese beiden Kurzzeilen, so ergibt sich das aristophanisch-volkstüm-
liche Verspaar: ävoiSjov D O J T D ^ O U ¡XE, Ö I Ä toi ae jtovovg Ix® (Ekkl. 971). Es
handelt sich wie so o f t um Langverse, die aus zwei Halbzeilen bestehen:
Uns ist in alten maeren wonders vil geseit. Die beiden Kurzzeilen können
gleidigeformt sein. Häufiger findet man sie in der Weise differenziert,
daß der Charakter der einen durch einfache, der der | andern durch dop-
pelt gesetzte Senkungen bestimmt wird. Steht die Form mit den einfachen

20 Ich meine, y X w e t a (¿STSQ, O Ö T O I Buvajioti X P E X T ] v TÖV iax6v gehört hierher; darüber


später Cap. III 3 S. 348.
21 Das Praxilleion sieht in den beiden Beispielen, die Heph. V I I 8 citirt, so aus
<L 8id TOJV dvQidüiv y.aXöv EußXejioiaa,
itapfteve r ä v xecpaXäv r a 8' Eveode vüjiqpa.
Das möchte nach der Wortteilung erscheinen als — — — oder - u ^ -
— — — . Sicher ist das nicht, die Form kann auch als Umgestaltung des
fertigen Enkomiologikon nach Analogie des alkaischen Elfers betrachtet werden. Aber
schließlich, unmöglich wäre auch die folgende Annahme nicht: - u u - u u - u .
382 Musik und Metrik [3371338]

Senkungen an zweiter Stelle und ist sie unvorsilbig gebildet mit 3 (4) He-
bungen, so nennen wir sie Ithyphallikon. Bei der Umkehrung meidet man
unvorsilbige Bildung zwar sicher nicht durchgängig, aber doch im all-
gemeinen. Darum tritt an die Stelle des Ithyphallikons dessen steigende
Form, die man dann als katalektisches iambisches Dimetron bezeichnen
kann, aber besser nicht bezeichnet. Und ebenso entspricht dem Lekythion
als zweitem Halbvers das vollständige „iambische Dimetron" als erster.
Wir teilen
ww —ww — w — w —w—, daneben steht
— ww—ww— w—w—w— ;so analysiert Hephaistion
( X V 9) das archilochische aXXa 0 Xuoi|X£Ä,r|g anaipE öd^vatai jtöfrog (vgl.
Bakch. Io: oööv nagä KaXkiönag Xay.oiaav eloxov yegat; neben 05 av nagä
IIieQiScov Xa/rjoi öwoa Movaäv und (peQEatecpavoi XaQitsg ßdXaxnv &|x<pl xi|idv);
und die dritte Form: 'Aegiag äjiö yäg ei tig eau xriÖEHibv (Aisdi. Hik. 75/6)
— WW—WW - —W — W—W — .
Als Umkehrung kennzeichnet sich Horazens nivesque deducunt Iovem,
nunc mare nunc siluae, ganz nach griechischem Vorbild, gemäß Schroeders
Nachweis, in seinen „Vorarbeiten" S. 74, w o auch andre Verwandte
hinzugesellt sind:
W—W—W—W— —WW—WW—
w—w—w —w— w w —ww— (hiermit zu vergleichen
iamb. dim. + Reizianum, eine volkstümliche aus Aristophanes und Plau-
tus bekannte Verbindung). Ja Bakchylides Io könnte sogar den (unbeweis-
baren) Gedanken eingeben, zu teilen
w—W—W—W — W —WW—WW—
str. Jidgetm iMjgia xeXeu&og äußgoaicov (aeXecov
ant. ot' "Agyov ö[i.|xaaiv ßXEjtovxa jtdvxoftsv axaixatog.
Wie sehr diese aus 2 Kurzversen bestehenden Langzeilen noch in den
größeren Versgefügen kenntlich sind, mag die Analyse einer Strophe aus
den Hepta des Aisdiylos (750 ff.) zeigen, einer statt vieler:
xgatTifrEig ex (piXayv aßouXiäv EyEivato ¡iev ^logov aiitwi
jiaxQoxxövov Olöijto6av, oaxe ¡laxQÖg dyvdv
ajtEiQag agovgav, iv' ¿XQuepr), pi^av atfxaxÖEaaav
ex'ka' jiagdvoia awä^ev vu|icpio\)g cpgevatleig. I
— w — W — W— W — WW — w w "
w — WW—WW— —W—W
- w—WW — w
' WW-WW"
Interessant ist die Differenzierung der beiden jedesmal verbundenen Halb-
zeilen, da immer eine von „iambisch-trochäischem" Charakter mit einer
[338(339] Z u r Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 383

solchen gepaart ist, die die Senkungen reicher ausgestaltet. Andrerseits


zeigt sich doch wieder die Verwandtschaft der beiden Arten, wenn man
Ithyphallikon und Pherekrateion, nahe zusammengehörige Formen, bei
einander findet.
Ferner: die eine der beiden Halbzeilen kann kürzer sein, „zweihebig".
Ist es die mit reicheren Senkungen, so nennen wir das Gebilde „Reizi-
anum" ^ j j — ^rL,——. Das Reizianum vorsilbig beginnend, stumpf
endend, mit anschließendem Ithyphallikon 2 2 :
iy<h 6' excov axi>jt<pov 'Eq^igovi
•tau XeuxoXöcpcoi [xeatov e^ejuvov. (Anakr. 78 H.-Cr.)
aTEcpüvoug 8' dvT)Q xpslg Exaaxog ei/ev,
xotic; |xev ßoöivovg, töv Öe NawQaxixr)v (Anakr. 79).
——\j\->— 1
_ l _ _

Dasselbe Reizianum unvorsilbig, dafür mit weiblicher Endung, begegnet,


wie mir scheint, in der Inschrift vom Güseltsche-Köprü (Ath. M. 1904
S. 297)
• 1
-w — J *
co Ieve, Müarig jtaiöa xr|v acupov
Boiv qpuXdaaoj, jtüXov 'AqpQo8ixT]g.
Das kann man dann je nachdem „Adoneus" oder „Epitrit" nennen 23 . -
Dasselbe Reizianum vorsilbig u n d mit weiblichem Ausgang steht Oid.
T y r . 463 ff. im Strophenschluß: |
ÖEtvai 8' EJtovtai xfjQEg dvoutXdxr]Toi
ant. [iavxEla xa 8' aEi ^cävxa jtEQutoxäxai
und, wie es scheint24, Pind. Ol. I V im Strophenschluß:
'OXujxjuovixav öeijai Xaptxwv ö'exaxi tov8e xcü|iov.
ant: 011 i|)ei>8eI tev?(o Xöyov' SidjtEigd toi ßgoxcov e'Xeyxoc;.

22
Wenn man das einen u r s p r ü n g l i c h e n iambischen Trimeter nennt, so zertritt
man alle feinen Besonderheiten, die Fuge sowohl wie die Verschiedenheit der beiden
Versteile. Hingegen halte ich es für überaus wahrscheinlich, daß hier die A n r e g u n g
zu solchen synkopirten Iamben liegt: — .
23
V o n hier aus versteht man vielleicht das Vorkommen des „Adoneus" in Daktylepitri-
ten, Ol. V I ep. 3 d|icp6xEQOv (idvTiv x' ayaftdv x a t öoupl [idpvaadai xö x a i . . .
- w — - u u — ^ - Ol. X ep. 8 eiupue? oox' a l d w v dXdwrii; —
—u .
24
M a n könnte ja zur N o t statt Reiz. + Reiz. + Ithyph. so abteilen: Reiz. + Enh. +
Epitr., doch sehr wahrscheinlich ist das nidit. - Hier will idi anfügen, daß man con-
384 Musik und Metrik [339/340]

Eine genaue Umkehrung dieser Form, Reiz. + Ith., weiß ich nidit
aufzuzeigen. Aber man kann neben ihr die Langzeile Reiz. + Lekythion
construiren, kann sie sogar aufweisen in Bakchylides V I 45: öi' oaaa
jidpoiftev | dixiteXotgocpov Keov, und ich möchte glauben, daß der iambisdie
Trimeter mit der -to[i-fi jisvihijH[iEgr)s aus eben dieser Reihe entstanden ist 25 :
tauft' EYavcoftriv xai cpiXcö toiig tititeag
61a toCto toüqyov ' ä§iov jag 'EXXaöi (Aristoph. Ach. 7 f.)
Dann läge eine ungefähre Umkehrung vor in der häufigen Verbindung
dim. iamb. + Reiz 26 . w—
Acharner 840 f| owocpavtrig aXXog oi — ixcb^tov ocaÖEÖeitai27.
846 xoi) Iwtdxcov a' 'YicsQßoXog öixcüv dvaitXrjaei.
842 o^tov xaxöv tojy [xaaxaXäv .-ratQog TgaYaoaioi)
858 nXeiv T] TQiaxovft'r)|X8Qag toü (J.r|v6g kxaoxov
und mit jener Verschiebung der Kompositionsfuge um eine Stelle 28
Aias 408 Jtäg 5e atgatog ÖbiaXtog av |xe /eiqi qpovEiioi
426 'EXXaviöog t a vOv 8' ati(xog <L5e jtp6>t£ip.ai.
In diesen Fällen w a r die Halbzeile mit den Doppelsenkungen kürzer
als die iambisch-trochäisch einherschreitende. Nehmen wir das umgekehrte
Verhältnis: die Halbzeile mit den Doppelsenkungen in normaler Länge,
die mit den einfachen Senkungen gekürzt, so haben wir die Formen, von

sequenterweise die gar nicht seltene Form

Eur H i k . 619 = 627 KodXiy.oeov ô e â ç iiÔwç Xutoûoai


àXkà tpößcov n U m ç äÖE jiqüjtoi
(andre Beispiele 1126 = 1134, 1131 = 1138, 1145 = 1152, Soph. Tradi. 525) als
fallendes, stumpfes Reizianum mit ithyph. Clausel deuten könnte. A b e r das will ich
nicht vertreten.
25 Durch Einführung des dipodischen Princips. Daneben wäre natürlich die Herleitung
des Trimeters mit ècp{h"||j.i|j,£QTiç aus dem Enhoplier mit stumpfem Ithyph. gegeben
vj _ w _ w _ _
uu w
Soph. Trach. 880 axeiXicoraTa jiqôç ye ngä^iv: eine Ttöi [xopcoi.
Pind. P y t h . X Strophenschluß àyayzïv èjti-x.cu^iav àvÔQœv x/.utàv Sita.
antistr. t ô ôè avyyEvkç, ä[ißeßaxEV ïxveoiv jkxtqôç.
Wenn hier das erste und dritte Beispiel „komische" d. h. primitive Trimeter untadliger
Bildung sind, so müßte man mir den zwingenden Beweis erbringen, d a ß Z u f a l l im
Spiel ist. Bis das geschieht, werde ich weiter z u Usener stehen.
26 Die Reihe trim. iamb. + Reiz. (Arist. NEQp. 1345-50 = 1391-96, Theokr. ep. 17)
halte idi für eine Weiterbildung, ebenso wie ich mir die archilochische Epodenform
trim. iamb. + penthem. dact. entstanden denke aus dim. iamb. + penth. dact., und
ebenso wie ich die längeren daktylischen Reihen v o r schließendem Ithyph. oder
Lekythion erkläre aus der Erweiterung eines oder der Verschmelzung mehrerer en-
hoplischer Glieder.
27 Die Fuge ist w i t z i g in das W o r t ot - jic&Çcov hineingelegt.
28 Vgl. den oben ausgeschriebenen A n f a n g von Bakchylides' Io, S. 382.
[340/341 ] Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 385

denen wir ausgingen und zu denen wir nun wieder zurückgelangt sind.
Und auch hier wieder denselben Wechsel der Halbzeilen:

(—)—WW — WW —W
(—)—WW — WW— W
(—)—W —WW — WW—(—)
w— WW — WW—(—)

Damit ist dieser Teil unsrer Darlegung beendet. Es zeigte sich, daß
die sogen, daktylepitritischen Strophen als Elemente Langzeilen ver-
arbeiten, die ihrerseits zusammengewachsen sind aus einem enhoplischen
Gliede und einem Epitrit, Ithyphallikon, Lekythion, „iambischen D i -
metron", in dieser Abfolge oder in der umgekehrten. Solche Langverse
waren von alters her geläufig, in den daktylepitritischen Strophen sind
sie zu größeren Gebilden vereinigt und, das ist das Wichtigste, der ihnen
ursprünglich fremden ionischen Messung unterworfen worden. Dieser
Ionisierungsprozeß hat zunächst die Auswahl des Gliedes bestimmt, un-
geeignete ausgeschieden, minder geeignete (wie das Ithyphallikon) zurück-
gedrängt. E r hat ferner die übernommenen Glieder verändert, indem nun-
mehr in ziemlich weitem Umfang ein 6-zeitiges Metron mit einem andern
6-zeitigen tauschen konnte. Er hat sodann die Syntax der Glieder ver-
ändert, indem die Vervielfältigung nicht mehr an den früheren Schranken
halt machte. Und er hat schließlich, wenn auch in beschränktem Maße,
Metren eingefügt, die mit den ursprünglichen Langzeilen nichts mehr zu
tun haben. I

III. Ionisierung

In diesem Kapitel soll gezeigt werden, daß für den angenommenen


Vorgang, die nachträgliche Ionisirung ursprünglich nicht-ionischer Glieder
oder die Anpassung solcher Glieder an das ionische Maß, auch sonst
Analogien vorhanden sind. Mir scheint hier ein Motiv zu liegen, bestimmt,
in der Entwicklungsgeschichte griechischer Metrik eine bedeutsame Rolle
zu spielen.
i . Unter Philadelphos hat Sotades seine S o t a d e e n „erfunden",
unzweifelhaft ionische Tetrameter mit zweisilbiger Katalexis:
xiva töv itaXaicüv iatoQicöv öeXet' eaowoiaai;
aeicov ¡i£?ar|v ITr|).ia8a 6e|iov xat' (üfiov.
eig oix 6oir)v TQU(iaXir|v tö xevtqov <MeI.

WW — —
— W — W I——
D a ß in dem zweiten Beispiel statt als „Katalexis" auftritt,
könnte bedenklich machen. D a ß in allen drei Versen und in sehr vielen
386 Musik und Metrik [341 ¡342]

andern dieser Gattung ithyphallischer Ausgang bemerklich wird 29 , scheint


auch beachtenswert. Aber Konsequenzen hätte das an sich noch nicht. Nun
aber nehme man die Verse, die uns Athenaeus (p. 6 2 1 ) erhalten hat:
o 6' äjiocrcEYaaag tö TQfj(i,a Tri; öitiafts Xai>Qr|s
ex öevÖQoqjoQou cpagayvos e^ecöce ßgovrr|v
f)?iE|j.aTov, öxoiryv agotrip ye,Q(o\ %aXäi ßoüg.
Die dritte Zeile ist ein ionischer Tetrameter, wie die vorher analy-
sierten:— .Die beiden andern kann man auch
so lesen und m u ß sie so lesen in ihrem Zusammenhang:
— — w—w| . Aber es springt in die Ohren, daß sie andrerseits Silbe
für Silbe übereinstimmen mit dem Verse 'EgaaiioviSr] BorihrotE xwv okdqo-
XeLcov (oder tov etiä^ißsov "AgtE^ug xe xai dgaasi' 'Aftava), d. h. der zufällig
aus Kratin (und Pindar) bekannten Form jener uralten Langzeile, die
Archilochos so gern anwandte, und als deren Musterbeispiel sein 'Egaa-
(xoviöri XagiXaE x i W « t o i yelolov gilt. D i e Identität der | beiden Sotadeen
mit dieser archilochischen Langzeile erstreckt sich nicht nur auf Zahl und
Anordnung der Längen und Kürzen, auch die charakteristische Fuge zwi-
schen Enhoplier (oder Prosodiakon oder Paroimiakon) und Ithyphalliker
ist vorhanden. Diesen höchst merkwürdigen Zusammenhang hat vor mir
bereits Leo (Plautinische Cantica 44) angemerkt. Auch eine Erklärung
hat er angedeutet, indem er jenen urtümlichen Langvers mit Ionikern
wenigstens fragweise „verwandt" glaubte. Solche ionische Herkunft ist
nun nicht denkbar, aus denselben Gründen nicht, die wir gegen die Ab-
leitung der Daktylepitriten von Ionikern ins Feld führten. Der Vers
'Epaa|i.ovi8r| XagiXae geht ionisch nur auf, wenn man vorn oder hinten eine
Silbe überstehen läßt, oder wenn man die letzte Silbe zum Ithyphallikon
ziehen wollte, d.h. er geht in Ioniker eben n i c h t auf. Und ich brauche ja
wohl heut keine vielen Worte mehr darüber zu machen, daß jene Bildung
etwas sehr Urtümliches ist und in der Entwicklungsgeschichte griechischer
Metrik vermutlich an eine weit frühere Stelle gerückt werden muß als die
„Ioniker", aus denen sie entstanden sein soll. Dann ist aber der Schluß
unabweisbar, daß in jenen beiden Sotadeen die ursprüngliche Silbenfolge
gewahrt, in den übrigen verwischt ist. Oder mit anderen Worten: Sotades
(denn er selbst wird es doch wohl gewesen sein) hat den uralten Langvers
interpretiert als ionische Tetrapodie mit zweisilbiger Katalexe und hat
nun zum Teil Verse gebaut, die dem alten Schema noch entsprechen, andre,
die nur noch ionisch gemessen werden können.
Jetzt wird klar, warum der Ausgang dieser Sotadeen so oft ithyphal-
lisch klingt: es ist die zweite Kurzzeile des archilochischen Langverses, die

29
G. Hermann, Elementa doctr. metr. p. 4J0, zählt in seiner Sammlung sotadeischer
Verse unter 88 Beispielen 51 mal treochäisches Metron an dritter Stelle, also den Aus-
gang ^ ^ w - v j - 1 7 . Vgl. jetzt auch Podhorski, de versu Sot., Diss. Vindob. V, 1895,
107 sqq. mit den Statistiken p. 162, 167, 1 7 1 u. s. f. P. W. I I I A 1207 f.
[342)343] Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 387

sich hier erhalten hat. K l a r wird auch der Ursprung der „zweisilbigen
Katalexe", insbesondere, wie der Halbtrochäus — w als Katalexe des
ionischen Maßes auftreten kann: die ithyphallische Klausel geht eben auf
eine indifferente Silbe aus.
P r ü f t man danach eine längere Reihe sotadeischer Verse durch, etwa
die an einen König gerichteten bei Stobaeus, Flor. 22, 26, so ordnet sich
manches besser ein, als bisher:
1. ei xai ßaadevs itecpw.ag dbgftvr|TÖgaxowov.
2 . a v [ l a x g a jciüriig tpXE7(xaTL0)i xQatf|i negiaacöi.
4. av xpwocpopTjig, toöto tv>xi15 eotiv ejiaQ|xa.
8. r|CTcocpQocruvr)JtägEcruv, a v ixEtQrjig a e a u t o v . |

8 ist ein untadliger Enh. + Ith 30 ; 1 hat den Enhoplier erhalten, das
Ithyphallikon ionisch aufgelöst ( statt — w — w — — ) ; 3 1 ; um-
gekehrt ist es bei 2, w o das Ithyphallikon deutlich wird, während zwei
reine Ioniker an Stelle des Enhopliers getreten sind; 4 endlich ist ganz
ionisirt, und nur das Schwänzchen — w erinnert an die ithyphallische
Natur des Ausgangs.
Dieses deutliche Beispiel von Ionisierung oder ionischer Umdeutung
nicht-ionischer Glieder über die hellenistische Zeit hinaufzudatieren haben
wir an sich kein Recht, und gewiß wird es am wahrscheinlichsten sein, daß
Sotades hier selbständig gewesen ist. Dennoch ließe sich fragen, ob nicht
eine ganz ähnliche Entwicklung bei demselben Maße schon für ältere Zeit
angenommen werden muß. Aus Hephaistion ( X I I 4) wissen wir, daß
Anakreon tön ßgaxwaTaXr)5tTixMi (nämlich xETQa(iETQCDi lamxwi) oXa aia[iata
awE-Orjv.EV'
¡ievdXüH ÖT]i>Te |j,' eptog exm|>ev wate xaXxeiig
ji£?kExei, xein^pfol1 eAovaev Iv xapä8(3r|i.

Das ist ' — —kj—w] . Leider können wir nicht sagen,


ob das Schema Varianten hatte oder starr durch die „ganzen Lieder"
durchgeführt war. Aber deutlich klingt das Ithyphallikon heraus (genauer
noch: das vorsilbige Ithyphallikon, s. o.), und es muß die Möglichkeit
offen gehalten werden, daß Anakreon nicht in freier Erfindung 2 reine
ionici a minore mit dieser Schlußklausel zu einem ionischen Tetrameter
verband, sondern daß seine Form die Umbildung eines Prosodiakon war,

etwa: v^w— kj < u u - u u - u — -

Zu einem Beweise ist das Material nicht hinreichend, aber die Möglichkeit
mußte als solche herausgestellt werden.

30 Audi Ennius im „Sota" hat diese Form: ibant malaci viere Veneriam corollam.
31 Man könnte auf den Gedanken kommen, neben Enh. + Ith. als alte Form Enh. +
Reiz, anzusetzen, wenn man die Verwandtschaft dieser beiden Clausein bedenkt.
Aber das sdiwebt in der Luft.
388 Musik und Metrik [3431345]

2. In frühhellenistischer Zeit, vor Theokrit, hat P h a l a i k o s den nach


ihm benannten Vers stidiisch verwendet und aus diesem einen Gebilde
durch achtmalige Wiederholung (scheint es) Strophen gewonnen (Anth.
Pal. X I I I 6, Theokr. ep. 22). Varro in Cynodidascalo phalaecion metrum
ionicum trimetrum appellat, quidam | ionicum minorem (dieses im Ge-
gensatz zum Sotadeus). So berichtet Caesius Bassus (p. 261 Keil), und mit
dem Theoretiker stimmt die späte Praxis. Denn Synesios stellt als gleich-
wertig zusammen

—W —W WW
—w
und ähnlich das Epigramm des Euhodos ( J G I X , 1, 883) aus dem zweiten
nachchristlichen Jahrhundert, v. Wilamowitz, der diese Tatsachen ins
Licht gerückt hat (Melanges Weil), entnimmt ihnen die Folgerung, daß
das Phalaikeion ein solcher ionischer Trimeter von Ursprung gewesen sei.
Dem gegenüber muß betont werden, daß sich der Beweis weder für die
hellenistische Periode noch gar für Sappho und Alkaios erbringen läßt. J a
für deren Zeit wird die Annahme geradezu unwahrscheinlich. Unter
Anakreons ionischen Trimetern, die ähnliche Form haben wie des Synesios
Gedicht, z. B.
äyav<b<; ola xe veßpov veo^rjXsa
yaXa'ftrivov, öat' ev «Ar|i, xeqoeootis
dnoXEicp'&eig vno [xtitqöj £jtTor]i}r| (fr. j 2 H-Cr)
kommt das Phalaikeion nicht vor, schwerlich aus Zufall. Und wenn
Sappho solche ionischen Trimeter baut, d. h. zwölfsilbige Zeilen, so hat
sie den Elfsilbler äolischem Grundsatz gemäß sicher nicht eingemischt. Da
sie ferner (nach Caesius) dem Eingang des Elfsilblers die Freiheiten gab,
die wir später bei Catull finden, also
w W
—w

so bedürfte es wirklicher Beweise, um diesen Vers mit der „äolischen


Basis" als geborenen ionischen Trimeter anzusehen.
Mithin scheint mir auch hier die Annahme berechtigt, daß ein ur-
sprünglich andersartiger Vers vielleicht von hellenistischer, sicher von
späterer Theorie und Praxis zum Ioniker umgeformt worden sei.
Unabhängig davon ist die Frage, wie sich nun der ursprüngliche Vers
erklärt und einordnet. Darauf wage ich mit unbedingter Zuversicht keine
Antwort. Vielleicht aber führt die folgende Erörterung zu einem in sich
wahrscheinlichen Bilde.
Das Berliner Sapphofragment vüv 8e Auöaiaiv . . . (Berl. Klass. Texte
V 2, S. 15 ff.) zeigt zierliche Strophen des Baues |
— — — — ww — —
— w— — ^— \
—w — w— w
[3451346] Zur Entwicklungsgeschichte griediisdier Metren 389

Die letzte Zeile läßt sich natürlich als Phalaikeion bezeichnen, und man
könnte sich veranlaßt fühlen, den Ursprung des fraglichen Maßes in einer
Verbindung des Glykoneion mit der geläufigen, kurzen bakcheischen
Klausel zu finden. Ich möchte diesen Weg nicht gehen, zumal ich meine,
daß man die Sapphostrophe natürlicher als 3 Glykoneen auffaßt, die von
einem Kretiker geführt und von einem Bakcheios beschlossen werden.
Man könnte von der „äolischen Basis" Gebrauch machen und den Vers
OO— w w — —
zu dem alkaischen Zehner und seinen Verwandten stellen
— — — ^

— — KJ

Dann wäre er eine ursprüngliche Einheit und nicht weiter analysierbar.


Ich ziehe einen andern Weg vor, indem ich glaube, daß das
Phalaikeion —w—ww—^ —w (a) mit dem
Enkomiologikon — —v^ (b) zusammengehört.
Uber das Enkomiologikon ist schon gesprochen, es wurde mit seinen
Brüdern, die in den daktylepitritischen Gedichten erhalten sind, als näch-
ster Verwandter des Enhopliers + Ithyphallikon erkannt. Nun hat das
Skolion des Simonides auf Skopas als Strophenschluß
TOUJll JTXEiaTOV UQICTTOI TOl>£ X£ §EOl «piÄicOVTl

—w — | — — (c), alle drei Male mit derselben Fuge. Diese


Langzeile ist aber wiederum nicht zu trennen von derjenigen, die das
daktylepitritische System Eur. Med. 410 ff. schließt:
oweti övcraeXaöog tpä|j.a ywalxag e|ei

— Kjyj—^j^, —w—^ (d). Vielmehr wird deutlich, daß das Phalai-


keion (a) sich zum Enkomiologikon (b) genau so verhält, wie Reihe c
zu Reihe d. a und c zeigen den Wechsel von einfacher und doppelter
Senkung, die wir aus den äolischen glykoneischen Formen kennen, b und
d haben an beiden Stellen Doppelsenkung. Das kann unsere gegenwärtige
Auffassung dieser Dinge nur so deuten, daß a c sowohl wie b d besondere
Fixierungen enhoplienartiger Glieder mit ursprünglich freien Senkungen
sind.
Dieser Deutung kommen noch folgende Erwägungen zu Hilfe. Dem
Enkomiologikon wurde im Kapitel II als Umkehrung seiner Bestandteile
der Iambelegos zugeordnet: |
w—w —xj — (?) oder
— w-^w-uu-, dazu aus Daktylepitriten:
\J— — UW — (/)

-UWUU (&)
— — WW WW — (b)
390 Musik und Metrik [346/347]

Daneben rücke man


^7—w—w' — ww—w— (t) den alk. Elfer
w—w—tj — ww—w (k) den alk. Zwölfer
—w—w — ww—w (/) den sapph. Elfer
—w —ww—w— (m) Simon. Danae io.
So ergeben sich die Proportionen e : i = / : k — g : l = h : m, und das
Verhältnis der Gruppen e f g h und i k l m ist genau so aufzufassen wie
das von a c zu b d. Dann kommen aber Phalaikeion auf der einen und
sapphisch-alkaische Reihen auf der andern Seite in dieselben Beziehungen
zueinander wie Enkomiologikon zu Iambelegos, d. h. sie bestehen aus den
identischen Elementen, die nur im Gegensinn aneinander gefügt sind. Und
nun scheint es in der Tat vortrefflich zu passen, wenn wir dem Phalaikeion
mit seinen aiolischen Anfangsfreiheiten den gleichen Ursprung wie den
echt aiolischen Reihen zusprechen dürfen.
Daß eine Einzelheit in der Technik unsrer Zeile gegen die vorgetra-
gene Ansicht sprechen könnte, darf nicht verschwiegen werden. Wir
würden in dem Vers ——— ww—£ —w an der bezeichneten Stelle
syllaba anceps erwarten, während tatsächlich in den stichisch gebrauchten
Elfsilblern Kürze die Regel ist. Doch glaube ich nicht, daß diesem Ein-
wand besondres Gewicht zukommt. Denn wenn schon die Parallele des
Glykoneion ——— w w — a u f die Kürze hinführen konnte, so mußte
vollends mit dem Durchdringen der ionischen Deutung —w
—w eine solche Freiheit des Baues beseitigt werden, falls sie ur-
außerhalb seiner stichischen Fixierung und Verwendung, die ja so leicht
ein Schematisieren und einen Verlust ursprünglicher Freiheit bedeuten
konnte: wenn Pindar sein VIII. nemeisches Gedicht daktylepitritischen
Maßes beginnt tQqci notvia y.äßui; 'AqpQoöiTag (v. 40 cujSjsxai 5' agstd xXwQals
segaai?) und wenn Ähnliches sich in Bakchylides' gleichfalls daktylepitri-
tischem Liede auf Pytheas (XII [ X I I I ] str. 3) findet, so scheint die Gleich-
heit mit dem Phalaikeion kaum zufällig, und hier haben wir ja in der Tat
die 1 gesuchte Form, — —w bei Pindar, und bei Bakchy-
lides .
Auf folgende Weise etwa wird sich demnach die Geschichte der jetzt
betrachteten Reihe skizzieren lassen: eine zweiteilige Langzeile, die aus
einem enhoplienartigen Gliede und dem „Epitrit", d. h. der zwei- (oder
drei-)hebigen Klausel, besteht, wird in ihrer ursprünglichen Freiheit der
Senkungen dadurch beschränkt, daß einerseits die Doppelsenkungen
durchgeführt werden: dann ergibt sich das Enkomiologikon und das
daktylepitritische Urgebilde. Andrerseits tritt die in aiolischen Versen
übliche konsequente Differenzierung der beiden Senkungsstellen ein:
dann ergibt sich das Phalaikeion. Später wird dieser Vers als ionischer
Trimeter gedeutet und mit anders gearteten ionischen Trimetern zusam-
mengestellt, eine Entwicklung, die für uns erst spät nachweisbar ist, die
aber viel älter sein könnte, als unser Material erkennen läßt.
[347/348] Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 391

3. Das bekannte i o n i s c h e D i m e t r o n * n t a x ö v ava-


xXwuevov xapaxtTiQa wechselt im Gebrauch mit dem reinen
Dimetron, entspricht ihm sogar antistrophisch, und aus dem reinen Dime-
tron denkt man es sich entstanden durch Verkürzung des einen und ent-
sprechende Verlängerung des andern Metrons um eine More:
— . Ich will keine prinzipielle Kritik an diese bei Alten wie bei Modernen
unbestritten herrschende Erklärung heranbringen, weil es schwierig ist,
sich über Grundsätze zu verständigen, zumal auf metrischem Gebiet.
Meine Erörterung, die die herrschende Meinung anzufechten bestimmt
ist, soll von Einzelbeobachtungen hergeleitet werden.
V o r allem will festgestellt sein, ob in rein ionischen Liedern außer der
Form w w — w — w ähnliche Gebilde vorkommen. Viel Sicheres ergibt
sich nicht. Zunächst begegnet die „katalektische" Form jtöXeojv T' ävaaräaeig
als Abschluß einer ionischen Strophe: Aisch. Perser 102 ff. (vgl. Schroeder,
Aeschyli Cantica 22). Wichtiger wäre die Form w ,über die sich
aber leider nicht mit völliger Sicherheit urteilen läßt 32 . Soph. Aias 629 ff:
ww ww
630 ww w yj — w
ww
ww
ww — w — w .{
Ionische Analyse liegt nahe. Sie ergäbe zum Schluß das Anaklomenon, in
v. 630 das fragliche Kolon. Das wäre von fundamentaler Bedeutung, nur
leider ist die ionische Analyse keineswegs die einzig mögliche. Denn sehr
wohl können asklepiadeische und glykoneische Reihen vorliegen, für die
ionischer Ursprung nicht zu beweisen ist. Dann wäre 630 zu deuten
WW— —WW — w
und verlöre für unsern Zusammenhang seine Beweiskraft. Ähnlich steht
es mit anderen Fällen, in denen das Glied w w — w ionischen Liedern
beigemischt scheint. Eur. Bakch. 519 ff., eine Strophe, die aus reinen
Ionikern und aus anaklastischen Dimetern besteht, hat diesen Ausgang:
eti vai tav ßoxQiKüÖT] Aiovvaov "/ägw oivag eti aoi toi Bqojuov |X£Xr)aEi. (ant.:
[ioXe xewöjjia Tivaaacov avä üvqöov y.at' '0/ai|j.jto\j cpoviot) 8' dvÖQÖg fißgiv
KatdaxEg.) Das läßt sich bis zu Ende ionisch auflösen, und es bleibt die
Klausel Bgonum heWioei w . Aber wer bürgt dafür, daß nicht
vielmehr toC Bgo|iiov heAtioei als systemfremder Abschluß angefügt ist, so
daß das vorhergehende, letzte ionische Metron die geläufige katalektische
F o r m w w — bekäme? — Bakchen 370 ff. hat ionisch durchscandiert wieder
die Clausel w w — w . Aber wenn man der Wortabteilung folgt, so
springt mit xiaoocpogoig das M a ß in Choriamben um und das Lied schließt
• •• — w w — — w w — w . So lieb es mir wäre, das Kolon w
in dieser Darlegung hier verwenden zu dürfen, die Unsicherheit ist zu

32 Über sie zuletzt O . Schroeder, Vorarbeiten 97.


392 Musik und Metrik [348¡349]

groß, ob man es und in welcher Art man es anerkennen darf; so scheint


es zunächst aus der Erörterung fortbleiben zu müssen.
Halten wir nun Umschau, wo das Glied — ^ — ^ — — außerhalb
ionischer Reihen sich findet. Wenn Sappho singt
yXuy.Eia |xäi£Q ofrcoi öwa|Acu xqext|v töv iatöv
jto-öoji öa|XEiaa jtaiöö? ßga5iväv Öi' 'AqpQOÖitav.
eine Verbindung, die ganz gleichlautend am Anfang von Bakchyl. V I
wiederkehrt, so muß nach der Ionikertheorie geschrieben werden
KJ——

(v. Wilamowitz, Isyllos 129). Man könnte zur Not die Seltsamkeit hin-
nehmen, daß hier der sogenannte „katalektische" Vers vorangeht und der
akatalektische folgt. Aber ich appelliere vom Schema an die natürliche
Empfindung, und die gebietet zu lesen33 |
—w
ww—^—w
Die um eine Silbe am Schluß gekürzte Form w — w— kann ich in
Verbindung mit Ionikern nur einmal, außerhalb dieser Verbindung gar
nicht nachweisen. Hingegen muß die um eine Silbe verlängerte Zeile
w — h i e r h e r gezogen werden, die Anakreon (87 HCr) sti-
chisch verwendet
öia öriCtE KaQixovQYEog
6'/.avoLO XEiga TI^E^EVOI.
Wer sich also 5i)va|iai xqev.t|v töv Iotov immer noch als „anaklastisches
Dimetron" entstanden denkt, den müßten diese Anakreonverse eines
bessern belehren. Denn bei ihnen versagt ionische Erklärung, die ja eine
Silbe übrig lassen würde. Keine Deutung aber kann genügen, die nur für
—^ — w ,
nicht aber auch für
v^W W—W—
paßt. Nun werden viele bereit sein, hier von iambischen Dimetern zu
reden und in der Doppelsenkung am Anfang dieselbe Freiheit zu sehen,
die uns aus dem Trimeter geläufig ist. Dagegen habe ich Folgendes zu
erinnern: die Reihe öia 8t]Ct6 . . . ^ ^ — ^ — w — ^—
führt über 8viva(i.ai...
uu-w—w und über dessen katalektische F o r m ^ ^ - u - u - z u der
nodi kürzeren w w . Von dieser mußte vorhin ungewiß bleiben,
ob sie echt ionischen, d. h. aus ionicis a minore gebildeten Liedern zuzu-
sprechen sei. Beinahe sicher aber ist sie in dem Beispiel Eur. Herakliden
376 ff.:
33
S o z. B. auch Schroeder, Vorarbeiten $3 f.
[349(350] Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 393

akV ov, jtoXe(i<ov Egdcreag,


(xr| |xoi öogi awiapdleig
xqv ei /apitcov Ixovoav
jiöXiv, dXX1 dvdaxou
d. i. w —ww Enhoplier 3 X
w w—w Reizianum,
(nicht unähnlich wie Oid. Tyr. 467 ff.
&ga viv deX.Xa8(ov w—
irtjHov axevagwTEQov ww—w—
(pvYäircoöavco|x5v w — ). Die Clausel
ww — w läßt sich nun einerseits von Siiva^ai xqextiv . . . nicht sondern,
andrerseits aber weder ionisch noch iambisch messen. Sie ist eine Einheit.
Erkennt man das an, so spricht man | über öiiva^ai... und 81a ötiüte . . .
das Urteil. Sie sind gleichfalls als Einheiten zu fassen, die wohl nach-
träglich zerlegt werden konnten, aber nicht aus ursprünglichen, noch klei-
neren Einheiten zusammengewachsen sind. Auch in der Metrik gilt der
aristotelische Satz, oder sollte doch gelten, daß das Ganze früher ist als
seine Teile. Und dieses Urteil bleibt bestehen unabhängig davon, ob man
etwa die Richtigkeit unsrer Analyse von Herakliden 376 ff. bestritte, um
(ziemlich gewaltsam) Glykoneen mit schließendem Pherekrateion daraus
zu machen. Avva^ai xpsxriv... ist eine Form des Enhopliers, eine not-
wendige Form, die man auf Grund seiner Senkungsfreiheit apriorisch
construiren kann. —w —w läßt sich von w w —ww —w nicht
trennen.
Die Langzeile
Y^w.ELa fiäiEQ oitoi öiivanai xqextjv töv iatov
KJ — w — w—• ww—w w
steht nicht allein. Sehr deutlich wird ihre Natur durch einen Vergleich mit
dem verwandten, doch wohl volkstümlichen Vers
ävoilov dana^oD |xe' 81a toi ae jtovouc; exoj

w—w—w—w uu — —
34
(Arist. Ekkl. 971) . Dessen zweites Glied ist die „katalektische", besser
die männlich endende Form eines solchen Enhopliers, der Doppelsenkung
nicht nur an einer sondern an zwei Stellen hat und dadurch wohl für
jeden unzweifelhaft kenntlich wird. Anderes, wie die Reizische Langzeile
w w
W W w ww ,
gehört im weiteren Sinne auch in diese Gruppe.
Vielleicht hätte ich mich kürzer fassen können. Denn was ich hier über
die Natur der Zeile öwanai xqextiv . . . ausführe, das wird wohl jetzt schon

v. Wilamowitz, Isyllos 138, findet keine befriedigende Erklärung, weil er ionisdi


durchscandiren will.
394 Musik und Metrik [3501351]

von manchen anerkannt. Wenigstens Schroeder finde ich auf diesem Wege
(Vorarbeiten 98). Aber freilich, gleich biegen wir auseinander. Er nämlich
weist ausdrücklich auf die grundsätzliche Verschiedenheit des „Paroi-
miakos" und des Anaklomenos hin.
Ich hingegen könnte mich nur dann dazu verstehen, dieselbe Reihe bei
verschiedener Verwendung aus verschiedenem Ursprung herzuleiten, falls
triftige Gründe dazu zwängen. Da solche jedoch fehlen, ziehe ich die (Kon-
sequenz: wenn öüva^oa xQ£y.r)v töv | iotov bei Sappho nicht durch Anaklasis
entstanden ist, dann ist die Reihe überhaupt nicht so entstanden, auch
nicht wo sie unter Ionikern steht. Die Anaklasis als formbildenden Vor-
gang zu betrachten, vorauszusetzen also, die Dichter hätten sich ohne Not
eine Schwierigkeit geschaffen, wie sie die Vermehrung eines Metrons und
die entsprechende Verminderung des andern ist, scheint mir unwahr-
scheinlich. Aber das ist subjectiv. Viel schwerer wiegt, daß eine solche
„Anaklasis" zwischen zwei Metren meines Wissens keine stützenden
Analogieen hat, deren sie, um glaubhaft zu sein, doch sehr bedürfte.
Man sage auch nicht, die Form
jtEQivaiovxai jtaXaiov —w

stehe auf der Entwicklungslinie von dem reinen Ionikerpaar zum Anaklo-
menos und sei also beweisend für dessen übliche Herleitung. Vielmehr
kann man sich leicht denken, daß zunächst nur —W—VJ neben
trat, wobei der Enhoplier zerlegt wurde
—, und daß sich dann als Zwischenform —w einstellte.
Meine Annahme, um zum Schluß zu kommen, ist wiederum diese: der
ursprünglich selbständige V e r s ^ ^ — ^ ,ein Enhoplios oder Paroi-
miakos, ist, weil er genau den gleichen Umfang hatte wie 2 Ioniker und
in den 3 ersten und 3 letzten Silben ebenso klang, den ionischen Versen
zugesellt worden, um in deren eintönigen Verlauf Abwechslung hineinzu-
bringen, und er ist bald dermaßen mit ihnen verwachsen, daß sein Ur-
sprung in Vergessenheit kam. Diese Entwicklung hat an der Geschichte
des Phalaikeions und der Sotadesreihe ihre Parallelen, reicht aber wohl
in erheblich ältere Zeit hinauf.
Die Echtheit der Melodie
zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht

1934

§ 1. Das Problem

S o ist denn, eh' man sidi's versah,


Der Pater Kircher wieder da.
Will midi jedoch des Worts nicht schämen:
W i r tasten ewig an Problemen.
Goethe, Z a h m e Xenien.

Haben wir eine antike Melodie zu Xqweol tpogniy?? Haben wir gar
Pindars eigene Melodie? Man sollte meinen, das wäre ein Problem ersten
Ranges. Aber seltsamerweise hat man es in der klassischen Philologie fast
aus den Augen verloren. Die Melodie ist nur durch die Editio princeps in
Kirchers Musurgia von 1650 bezeugt. Eine Handschrift ist bisher nicht
gefunden worden. Kircher hat heute keinen guten Ruf. Dazu kommt,
daß es wirkliche Kenner auf dem Gebiet der griechischen Musik immer
nur sehr wenige gegeben hat. So begnügt sich U. v. Wilamowitz in seinem
Pindarbuch (1922) mit einer Anmerkung (92 1 ), die das Problem immer-
hin in seiner Ungelöstheit, wenn auch nicht in seiner Wichtigkeit an-
erkennt. Seltsamer, daß O. Schroeder es weder in seinem Pythienkom-
mentar noch in seinen metrischen Schriften irgendwo berührt zu haben
scheint. Ganz anders vor 150 Jahren August Boeckh: Der große Pindar-
forscher, der zugleich einer der wenigen Erforscher antiker Musik war,
hat 67 Quartseiten seiner Pindarausgabe auf die Frage verwandt. Denn
seine allgemeine Grundlegung der griechischen Noten- und Harmonie-
lehre ( 1 2 , 203 ff.) dient nach seinen eigenen Worten vor allem dem Zweck,
die Melodie von Pythien I als echt zu erweisen und verständlich zu machen
(cuius causa pleraque hucusque disputavimus I 2, 266) 1 .
In der Forschung des fortschreitenden 19. Jahrhunderts ist wie so oft
der kritische Zweifel stärker gewesen als die kritische Prüfung. Ernstlich
geprüft hat nur R. Westphal 2 : ihm schienen erhebliche innere Gründe für
[Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen A k a d e m i e der Wissenschaften zu L e i p -
zig, Philologisch-historische Klasse, L X X X V I , 4. H e f t , 1 9 3 4 , S. 1 - 5 3 . ]
1
Wie Boeckh urteilte G o t t f r i e d Hermann im Handbuch der Metrik, 1 7 9 7 , X I I , freilich
ohne weitere Begründung.
2
Griechische Metrik, 2. Aufl. 1868, 6 2 2 ff. Griechische Harmonik und Melopoeie,
3. Aufl. 1 8 8 6 , X L V I .
396 Musik und Metrik

die Echtheit zu sprechen, und einzig die Verbindung von Gesang- und
Instrumentalnoten machte ihm Bedenken. Die Wirkung seiner Analyse
hat freilich den Zusammenbruch seines Systems nicht überlebt, und er
selbst hat sich später gegen die Echtheit entschieden. Auf der andern Seite
ließ Fr. Bellermann zwar in Messina — vergeblich - nach der verlornen
Handschrift suchen, ersparte sich aber eignes Weiterforschen mit der we-
nig treffenden | Bemerkung, daß „einesteils bis zur Auffindung eines
Manuskripts der pindarischen Melodie die Echtheit derselben zweifelhaft
bleibe, andernteils eine kritische Bearbeitung derselben eben aus Mangel
an andern, von der Kircherschen Uberlieferung unabhängigen Quellen
nicht möglich sei" 3 . C . Jan nahm sie in die Musici scriptores überhaupt
nicht auf, gestützt auf das Westphalsche Verdachtsmoment, das er doch
selbst als unkräftig hatte erkennen müssen4. Ebenso fehlt sie bei D. B.
Monro und Th. Reinach s .
Dem Zweifel der Musikphilologen haben sidi die Musikhistoriker
nicht durchaus gefügt. Ambros fand sich durch die pindarische Melodie
„auf das entschiedenste an den feierlichen Schwung gewisser uralter gre-
gorianischer Kirdienmelodien gemahnt. Gegen die eindringliche K r a f t
dieser Gesänge habe die pindarische Melodie etwas Weicheres, Milderes;
der unschätzbare Rest zeige, daß an der „edlen Einfalt und stillen Größe"
der griechischen Kunst auch die Musik teilgehabt habe" 6 . Gevaert äußerte
im ersten Bande seiner Histoire et théorie (1875) noch „un doute grave sur
l'authenticité du fragment", änderte aber im zweiten Bande (1881) seine
Ansicht dahin, daß wir „selon toute probabilité" eine Melodie Pindars be-
säßen7. Ebenso traten H . Riemann u. C . Sachs für die Echtheit ein8. Aber
sie alle hatten die kritische Vorfrage nicht scharf gestellt, und darum
fehlte ihnen letztlich die Kraft, dem als pindarisch Behaupteten nun auch
den Platz zu geben, der seinem Range entsprochen hätte9. Denn wenn wir
hier wirklich eine Melodie Pindars vor uns hätten, so würde sie damit
nicht nur zum ältesten, sondern zugleich zum schlechthin wichtigsten
Denkmal antiker Musik überhaupt. Hinter ihr müßten die Hymnen des

3 Die Hymnen des Dionysios und Mesomedes, 1840, 1 ff.


4 Musici Scriptores Graeci, 1895, 426. Supplementum, 1899, 3.
5 The modes of ancient Greek music, 1894. L a musique grecque, 1926.

6 Geschichte der Musik I, 1862, 276. In der neuen Bearbeitung von B. v . Sokolowski,

1887, ist der Standpunkt völlig geändert.


7 Histoire et théorie de la musique de l'antiquité I 6 ff., II 470 ff.

»Riemann, Handbuch der Musikgeschichte I, 1904, 131. Musiklexikon, 5. A u f l . , 427.


Sadis, Musik des Altertums, 1924, 66, 79.
9 Die ganze Unsicherheit der Stellung spricht sich in dem Satz von Sachs a. O . 70 aus :

der Chargesang aus dem Orestes „würde der interessanteste und bestbekannte unter
den Resten griechischer Tonkunst sein, wäre er nicht ein Bruchstück, ja, ein völlig
verstümmeltes Bruchstück". So darf man nicht sagen, wenn man wenige Seiten v o r -
her von der „Goldenen Leier" gehandelt hat. A b e r freilich fehlen ja dort nicht die
„ Z w e i f e l an der Editheit".
[415] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht 397

Mesomedes - niclit zu reden von dem Seikilos-Liedchen - schon als Kom-


positionen der Kaiserzeit weit zurückbleiben. Audi die delphischen Hymnen
sind ja nur Durchschnittswerke beliebiger Dichtermusiker des Hellenismus.
Und selbst die Melodie zum Chorlied des Euripideischen Orestes könnte
es - auch wenn sie weniger bruchstückhaft erhalten wäre - nicht entfernt
mit Pindar aufnehmen: Pindar und Euripides sind denn doch als lyrische
Dichter gar zu verschiedenen Ranges und so insbesondere das kleine Tra-
gödienintermezzo und das mächtige Odengebäude.
N u r einer hat in jüngster Zeit der Pindarmelodie ihr volles Recht
gegeben, wenn auch ohne Einzelforschung und ohne wissenschaftlichen
Apparat, so doch mit desto stärkerem Nachdruck: E. WolfF in dem ge-
meinsam mit C. Petersen veröffentlichten Buch Das Schicksal der Musik
von der Antike bis zur Gegenwart ( 1 9 2 3 ) : „Die einzige Weise, die uns die
große Zeit wenigstens zu einem Teil hinterlassen hat: die Melodie von
sechs Reihen der Strophe aus Pindars erster pythischer Ode, genügt, um
die wesentlichen Züge einer ethischen Melodie allerhöchsten Ranges ahnen
zu lassen . . A b e r das war eine vereinzelte Stimme und außerhalb der
gelehrten Forschung. Im stillen mag sie manchem einen Anstoß gegeben
haben, wie man denn hier und da versucht hat den Pindar zu singen. Ein
Zeichen, daß sie auf die wissenschaftliche Arbeit gewirkt hätte, finde ich
nicht.
So ist denn schließlich, weil das Problem nicht scharf durchgedacht
war, die Musikgeschichte wieder im Zweifel gestrandet. Für H . Abert ist
„die Melodie Pindars trotz des neuerlichen Eintretens H . Riemanns f ü r
ihre Echtheit nach wie vor verdächtig" 10 , und so bleibt ihm der erste
delphische Hymnus „nach wie vor das Glanzstück unseres erhaltenen
Melodienschatzes". In seiner Darstellung der antiken Musik hat W. Vetter
jedes Mißtrauen gegen die Melodie für berechtigt erklärt: wenn sie
überhaupt aus vorchristlicher Zeit stammen sollte, so habe sie sicherlich
nicht Pindar selbst zum Autor, sie sage also in keinem Falle etwas über
seinen musikalischen Stil 11 . Etwa gleichzeitig (1932) hat A. Rome es unter-
nommen, die Unechtheit streng philologisch-kritisch zu beweisen 12 . Th.
Gerolds Histoire de la Musique ( 1 9 3 6 ) enthält die kurze Notiz, daß die
Echtheit zweifelhaft sei, nicht mehr. In der N e w O x f o r d History of
Music (I, 19J7) habe ich das Kapitel IX, Ancient Greek Music, ver-
gebens auch nur nach einer Erwähnung der Pindarmelodie durchsucht.
Hingegen gibt Das Atlantisbuch der Musik von F. Hamel—M. Hürlimann
( 1 9 3 4 , 1 0 7 f.) die Pindarmelodie als einziges Beispiel griechischer Musik.

So steht das Problem. Keine Frage, daß es zunächst ein philologisch-


kritisches Problem ist. N u r als solches soll es hier, muß es aber endlich

10
Gesammelte Schriften, und Vorträge, 1929, 38.
11 Pauly-Wissowa-Kroll R.-E. X V I s. v. Musik 864 f.
12
L'origine de la prétendue mélodie de Pindare, in: Les Etudes Classiques I, 1932, 3 ff-
398 Musik und Metrik [5I7J

wieder einmal scharf gestellt werden. Wenn es ins Musiktheoretische und


Musikgeschichtliche mündet, werden wir es nur noch wenige Schritte ver-
folgen können, um es dann den Sachkennern auf diesem Gebiet zu über-
lassen, — deren es freilich heut wie immer anscheinend sehr wenige gibt 13 . |

§ 2. Athanasius Kircher

Die Melodie ist nur durch die Musurgia universalis des Athanasius
Kircher (1650) überliefert. Kircher aber, so sagt man, sei ein unzuverläs-
siger Zeuge. Haben die Zweifler sich ernstlich um diesen Mann geküm-
mert? Wie viele haben in der Musurgia — nicht zu reden von seinen ande-
ren großen Büchern — auch nur geblättert?
Wer einmal Wesen und Geschichte der Polyhistorie erforschen wird
- die bei ihren größten Vertretern etwas ganz anderes ist als bloße
Stoffhäufung - , wird in dem Fuldaer Jesuiten Athanasius Kircher
(1602-1680) einen der erstaunlichsten Vertreter dieser Geistesform
finden: einen Ordensmann, der in seiner Gesellschaft die Professur der
Mathematik und der orientalischen Sprachen in Würzburg, Avignon und
Rom bekleidete, | der zugleich Forscher, Experimentator, Erfinder, Samm-
ler, Denker, Schriftsteller war und alles dies in einem riesenhaften Aus-
maß und in einer heute unfaßbaren Vielseitigkeit. Man braucht ein brei-
tes Regal, um seine gedruckten Werke, meist Quart- und Foliobände,
nebeneinanderzustellen. Man liest mit wachsendem Erstaunen in der
Bibliothèque de la Compagnie de Jésus die Titel seiner gedruckten und
vielleicht noch ungedruckten Schriften 14 . Man meint sie in ein paar Grup-
pen einordnen zu können: allgemeine Denk-, Sprech- und Schreiblehre
{Ars magna sciendi 1669. Polygraphia nova et universalis 1680), zusam-
mengehend etwa mit Leibnizens Bemühungen um eine characteristica
universalis1S; Mathematik und Physik; Orientalia; Archäologie; zuletzt
die erbaulichen Schriften, wozu auch die Selbstbiographie gehören würde.
Aber man sieht sehr bald, daß solche Gruppierung zu allermeist irreführt.
Das große Werk Latium (1671) z. B. will schon nach dem Titel geogra-
phico-historico-physico ratiocinio verfahren, bringt Landkarten, zeit-
genössische Ansichten und Pläne, Aufnahmen antiker Monumente, bildet
Inschriften und Münzen ab. Aber es ist vielleicht ein halber Zufall, daß

13
Für Teilnahme und Hilfe habe ich vielen zu danken: den Musikhistorikern Max
Schneider und Serauky in Halle, Handsdiin in Basel, Herrn Konzertsänger Widi-
mann in Halle; ferner den Fachgenossen H . Koch und W. Kranz in Halle, R . Herbig
und A. v. Blumenthal in Jena. Für Literaturnachweise danke ich O. Kern, W.Schade-
waldt, stud. phil. Ettlinger und den Herren von der Hallisdien Universitätsbibliothek
C. Wendel und W. Printz.
1 4 Bibliographie, Tome I V , 1893, 1046-1077.
is Vgl. Windelband, Geschichte der Philosophie, 5. Aufl., 333.
[7¡8] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythisdien Gedidit 399

Kirchers Plan zur Trockenlegung der pontinischen Sümpfe 16 nicht mit in


dieses Werk eingegangen ist. Bücher wie die Area Noë (1675) und die
Turris Babel (1679) enthalten nicht nur phantasievolle und etwas absurde
Rekonstruktionen der Arche und des Turmes, sondern zugleich Stücke
alttestamentlicher Exegese, Ansätze zu einer menschlichen Urgeschichte,
einer allgemeinen Sprachwissenschaft, einer Rassenkunde, einer Erd-
geschichte oder geographia coniecturalis de orbis terrestris post diluvium
transformatione. Das Budi China .. . illustrata (1667) geht von einer
syrischen Inschrift aus, die im Jahre 1625 in China gefunden wurde und
auf das Jahr 782 zu datieren sei. Sie ist das älteste Dokument christlicher
Mission in Ostasien, und christliche Mission ist das vereinende Ziel, um
dessentwillen alle diese höchst bemerkenswerten Gegenstände von Kircher
gesammelt und illustriert werden. Der christlichen Religion und der
Respublica literaria will er mit seinem China-Werk dienen. Selbst der
Ägyptologie Kirchers tut man Unrecht, wenn man ihr immer nur vor-
wirft, daß sie Champollions Entdeckung nicht vorweggenommen hat,
sondern tief in den spätantiken Vorstellungen von der hieroglyphica
sapientia befangen blieb 17 . Kircher hat einerseits in seinen großen Obelis-
kenwerken „die ersten zusammenhängenden Studien für eine ägyptische
Archäologie gemacht"18, er hat andrerseits eine koptische Grammatik ver-
faßt und damit zugleich eine Vorarbeit geleistet, um seine eigne phan-
tastische Deutung des Altägyptischen umzustürzen. Und er ist in seinem
Oedipus Aegyptiacus (1652) nicht nur Sprachforscher, Religionsforscher,
Amerikanist (ein Abschnitt handelt de literatura Mexicanorum et an
proprie hieroglyphica dici possit), sondern zujgleich auch Mechaniker, der
Berechnungen anstellt über die technischen Mittel, mit denen die Ägypter
ihre Riesenbauten errichtet haben. Man sieht: die Polyhistorie des Mannes
bestimmt nicht nur das Gesamtbild seiner wissenschaftlichen Arbeit, son-
dern gibt zugleich jedem einzelnen dieser Werke das Gesicht.
Aber man ahnt auch, daß es bei dieser Polyhistorie noch um ganz
etwas anderes als eine rein zahlenmäßige Vielfalt geht. Das Werk Magnes
sive de arte magnética opus tripartitum (1641) behandelt nach der Physik
des Magnetismus unter anderm folgende Gegenstände: geometría mag-
nética, astronomía m., magia m., geographia m., nautica m., magnetismus
elementorum, plantarum, animalium . .. medicinalium, musicae, amoris
und gipfelt in dem einen Magneten, der das Gefüge des Alls durch ma-
gnetische Kräfte zusammenhält und unsre Seelen durch dieselbe K r a f t an
14
Manuskript, aufgeführt Bibliothèque a. O . 1 0 7 3 C .
17
Es w a r ein arger Mißgriff, mit dem Artikel über Kirdier in der Allgemeinen D e u t -
schen Biographie den großen Ägyptologen A . E r m a n zu betrauen - wie wenn Kircher
als Ä g y p t o l o g e zu verstehen w ä r e ! Wenn E r m a n v o n „Fälschungen" und „ L ü g e n "
Kirchers spricht, so zweifle ich nicht, daß Kircher gegen die wissenschaftliche Genauig-
keit gesündigt hat, w o h l aber, ob Ermans Urteil historisch angemessen und damit in
höherem Sinne gerecht ist.
18
Stark, Archäologie der Kunst 109.
400 Musik und Metrik [8j9]

sich zieht: ipse enim sola et unica animae nostrae quies, centrum,
MAGNES.
Die Ars magna Iuris et umbrae (1646) - die Goethe Anlaß gab, sich in
der Farbenlehre mit Kirchers Person zu befassen - ist ein Folioband von
über 900 Seiten, voll von mathematischen Konstruktionen und Berech-
nungen. Aber auch von Horoskopen. Und wiederum von halb spieleri-
schen, halb nützlichen (und sehr zukunftsreichen!) Erfindungen wie der
camera obscura und der laterna magica, oder von Experimenten wie dem
mit der Henne, die hypnotisiert liegen bleibt, wenn man von dem Kopf
der liegenden aus einen graden Strich auf dem Boden zieht. Und wie-
derum:
Vernahmst du nichts von Nebelstreifen,
Die auf Siziliens Küsten schweifen? . . .
Da schwanken Städte hin und wieder,
Da steigen Gärten auf und nieder,
Wie Bild um Bild den Äther bricht.

Was Faust so im Vierten Akt des Zweiten Teils dem Kaiser als „seltsames
Gesicht" ausmalt, fand Goethe in Kirchers Ars Magna. Dies alles ist in
ihr nicht gehäuft, sondern aufgebaut in 10 Büchern, die nach dem Willen
des Verfassers eine harmonia decachordi darstellen, beginnend mit der
pbysiologia Iuris des ersten Buches, schließend mit der magia Iuris des
zehnten, über der sich als Epilog noch die metaphysica Iuris et umbrae
erhebt, ein christlich-platonischer Aufstieg aus dieser Welt des Dunkels
zum höchsten Ziel: Schau der lux luminum.
Die Musurgia universalis sive Ars magna consoni et dissoni erschien
1650 zu Rom in zwei Kleinfoliobänden von zusammen über 1100 Seiten.
Entsprechend dem zuletzt genannten Werke umfaßt sie in ihren 10 Bü-
chern tanquam in decachordo quodam eutactico das ganze Wissen vom
Klang. In einem Jahr hat er dieses Buch geschrieben, eine fast unvorstell-
bare Summe von Wissen und Denkkraft. Man blättre nur, lese hier und
da einen | Abschnitt und betrachte die Kupfer! Man ahnt, was bei genau-
erem Durchforschen deutlicher zu begreifen und in seinem Sinne tiefer
aufzuklären bliebe: das Gesetz des Ganzen. Aus der Fülle der Gegenstände
häufen wir rasch einiges nebeneinander, was dort gesammelt und geord-
net ist: Vergleichende Darstellung der Gehörknöchel bei Mensch und
Tieren. Tonwerkzeuge von Mensch, Frosch und Insekten. Notenaufnah-
men von Tierstimmen. Instrumente der Hebräer mit Auszügen aus nach-
biblischen jüdischen Texten. Liturgische Musik der Ostkirche mit ihren
Notenzeichen, dargestellt aus byzantinischen Quellen. Lehre von den
harmonischen Zahlen und der geometrischen Teilung des Monochords.
Kontrapunktik. Instrumentenkunde. Was im achten Buch abgehandelt
wird unter dem Titel Musurgia mirifica, eine seltsame Verbindung von
Arithmetik, Sprachwissenschaft, Metrik, Kontrapunktik, geht in keinem
[9110] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythisdien Gedicht 401

heutigen Wissenschaftsbegriff auf und vereinigt zugleich aufs seltsamste


Theorie und Praxis: denn wenn diese ars nova musarithmetica den all-
gemeinen Zweck hat, qua quivis etiam quantumvis musicae imperitus ad
perfectam componendi notitiam brevi tempore pertingere potest - das
liegt in der Richtung der Ars magna sciendi so soll im besonderen den
Vätern der Gesellschaft Jesu in fernen Ländern die Möglichkeit gegeben
werden, in den fremdesten Landessprachen Gott zu lobsingen. Das neunte
Buch heißt Magia consoni et dissoni und handelt unter vielem andern
vom Tarantelbiß und seiner Heilung, von den Gesetzen der Schall-
reflexion, von der Konstruktion künstlicher Echoanlagen und figürlicher
Musikautomaten. Dies alles macht nun in dem Werke Kirchers selbst zwar
o f t einen höchst fremdartigen Eindruck, aber scheint doch etwas völlig
anderes als krude Gelehrsamkeit zu sein. Ein Ordnungsgesetz deutet sich
an: Wiederum sind es 10 Bücher. Das zehnte, Uber analogicus, weist das
decachordon naturae auf: Gott hat die Welt nach musikalischer Propor-
tion geschaffen in i o Stufen oder Registern, vom Symphonismus elemen-
torum bis hinauf zur Musica archetypa sive Dei cum universa natura
concentus. So gipfelt das Ganze, das am A n f a n g des ersten Buches mit
der Definition des Tones und der Bildung der einfachsten Töne begann,
am Ende des zehnten in dem symphonischen Zusammenklang, den die
heilige Dreieinigkeit mit den Engelschören ertönen läßt. Man spürt einen
Bau, der den deutschen Römer, den Jesuiten, | als einen nicht ganz un-
würdigen Nachfahren des Pythagoras und Piaton und ihrer spätantiken
und mittelalterlichen Schüler erscheinen läßt.
„Kircher hat bei dem vielen, was er unternommen und geliefert, in
der Geschichte der Wissenschaften doch einen sehr zweideutigen R u f . "
So Goethe in den Materialien zur Farbenlehre. Auch hier ist nicht der Ort,
in der Kürze „seine Apologie zu übernehmen". Vir immensae quidem,
sed indigestae admodum eruditionis — dies Urteil und das meiste, was man
sonst über ihn gesagt hat, ist doch gesagt aus einem Wissenschaftsbegriff,
der nicht der seine war. Auch Kircher hätte einmal den Anspruch, nach
seinem Weltbild und dessen innerer Folgerichtigkeit beurteilt zu werden 19 .
Darf man darüber ohne genauere Durchforschung und ohne die Kom-
petenz zu einer solchen etwas ahnen und andeuten, so wäre es dies: Der
creator omnium, zu dessen Ruhme alle Werke Kirchers geschrieben sein
wollen, hat das Weltgebäude nach ewigen Gesetzen gefügt. J e mehr man
davon erfaßt, Großes und Kleines, um so mehr erkennt das Geschöpf den
Schöpfer. Alles was der Mensch hervorbringt, folgt der einen großen

19
Ansätze zu einem Verständnis Kirchers gehen bisher immer, wie das kaum anders sein
kann, von dem Standpunkt der Einzelwissenschaften aus. V g l . die A u f s ä t z e : Kircher
als Geograph von K . Sapper und Kircher als Musikgelehrter von O . K a u l in der Fest-
schrift „ A u s der Vergangenheit der Universität W ü r z b u r g " ( 1 9 3 2 ) . M i r kam zustatten,
daß ich in Halle mit den Herren Ernst Benz und Dmitrij Tschizewskij über Kircher
sprechen konnte.
402 Musik und Metrik [10111]

Ordnung und hilft sie bestätigen. Selbst wenn er sich ein künstliches Spiel-
werk erfindet, folgt er dem Vorbild des großen Automatenmachers. |

§ 3. Herkunft der Melodie

Einen sehr unbedeutenden Raum nimmt in der Musurgia der Gegen-


stand ein, um dessentwillen wir das Ganze hier angesehen haben. Das
siebente Buch nämlich — Uber diacriticus oder Musurgia antiquo-mo-
derna - greift in das Streitgespräch über den Vorrang antiker oder mo-
derner Musik ein, das Vincenzo Galilei im Dialogo della musica antica e
della moderna (Florenz 1 5 8 1 ) begonnen hatte. Kircher entscheidet sich als
echter Secentist fast bedingungslos für die moderne. Unter anderm habe
sie vor der antiken die Vielstimmigkeit, den Gebrauch der Dissonanzen,
die Kontrapunktik voraus (I 547). Diese reife und reiche Kunst eines
Orlando, Josquin, Palestrina sei nur ermöglicht durch das neue Noten-
system des Guido von Arezzo. Hingegen die antike Notierung mit ihren
(so rechnet er aus) 1240 Notenzeichen sei zu schwer zu lernen und zu un-
anschaulich, als daß mit diesem Werkzeug irgend etwas der modernen
Musik Vergleichbares sich hätte gestalten lassen. Wie denn auch die er-
haltene griechische Melodie non nisi simplicissimi contrapuncti rationem
aufweise.
Dies der Zusammenhang, in dem Kircher zunächst das antike Noten-
system nach dem Alypius auf einer großen Kupfertafel (hinter I 540) zum
erstenmal20 systematisch darstellt. Der ebenso fromme wie gelehrte Jesuit
dankt den Fund seiner beiden Alypiushandschriften, einer vatikanischen
und einer des Collegio Romano 2 1 , „singulari Dei beneficio". Seine Darstel-
lung des griechischen Notensystems ist in ihrer wortlosen Knappheit eine
bewundernswerte musikgeschichtliche Leistung. Denn Galilei hatte mit
den griechischen Noten nichts anzufangen gewußt, und Meursius hatte
(1616) den Alypius ohne die Notenzeichen gedruckt22! In dem heftigen
Angriff aber, den zwei Jahre nach dem Erscheinen der Musurgia der Hol-
länder Meybaum (Meibomius) in seiner Ausgabe der Antiquae musicae
auctores septem (1652) gegen Kircher richtet, entlädt sich - von Richtig
oder Falsch noch ganz abgesehen — der natürliche Gegensatz des Spezia-

20
V g l . Musici scriptores ed. J a n . 3 59. In der T a t w a r sich Kirdier bewußt, keinen V o r -
gänger zu haben.
21
Mindestens die des Collegio Romano, über deren Inhalt Kircher auf p. 545 weitere
Angaben macht, ist heute verschollen: Musici ed. J a n . p. L X X X I . Vielleicht taucht
sie mit dem handschriftlichen Nachlaß Kirchers nodi einmal auf. Die der V a t i c a n a
könnte dieselbe sein, die sdion Galilei benutzt hatte: di che à mesi passati n'ebbi
copia con non molta difficoltà (a. O . p. 9 1 ) . Welche der bei J a n p. L X I X verzeich-
neten Handschriften die von Kirdier benutzte ist, weiß idi nicht.
22
Aristoxenus Nicomachus A l y p i u s , Joannes Meursius nunc primum vulgavit, Lugduni
Batav. 1616.
[12] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythisdien Gedicht 403

listen gegen den Polyhistor | und verrät sich sehr naiv die Abneigung des
um seinen Prioritätsanspruch bangenden Gelehrten gegen den Vorgänger,
dem er einen Teil seines Riihmchens abtreten zu müssen fürchtet23.
Galilei hatte (auf p. 97) die Hymnen des Mesomedes mit den griechi-
schen Notenzeichen veröffentlicht. Aber er hatte keine Umschrift ver-
sucht. So ist der Stolz Kirchers berechtigt, mit dem er (I 541) ein Beispiel
antiker Melodik geben will, „praesertim cum nullus quod sciam hucusque
id praestiterit resque uti incognita ita et desideratissima sit." Er sagt, wo
er die Noten gefunden habe, die er gleidi darauf abdrucken wird: „Inveni
autem hoc musicae specimen, ut alias memini, in celeberrima illa totius
Siciliae Bibliotheca monasterij S. Salvatoris iuxta Portum Messanensem
in fragmento Pindari antiquissimo notis musicis Veterum Graecorum
insignito". Ich finde nur eine Stelle, auf die sich das ut alias memini zurück-
beziehen könnte (wobei eine kleine Ungenauigkeit des Ausdrucks durch
die riesenmäßige Schriftstellern des Mannes entschuldigt würde): Auf
p. 213 nämlich spricht er von einem mittelalterlichen Notensystem, das
älter sei als das gewöhnlich dem Guido zugeschriebene der 5 Notenlinien:
Jenes ältere - die Noten auf 8 Linien und zwar nur auf den Linien, nicht
auch in den Zwischenräumen-habe er gefunden, „cum antiquiorum Biblio-
thecarum latebras diligentius excussissem." Dann berichtet er: „Nam in
itinere meo Melitensi Messanensem S. Salvatoris Bibliothecam Graecis
manuscriptis instructissimam dum lustrarem, Manuscriptus hymnorum
Uber ab Ulis monachis mihi exhibitus fuit ante 700 circiter annos scriptus,
in quo multi hymni notis expressi cernebantur." Und nun veröffentlicht
er daraus 1V2 Hexameter des Gregor von Nazianz mit Noten in dem
genannten mittelalterlichen System: IlapWviri ¡leya x&qe ^okjöote öütoq eawv
|.it|teq aito(xoai)vri5 d. i. IlaQ{>£v[r| niya xalge •öeöctöote öwtoq e&cdv / (xfiTEQ
ajir)|xoav)vr|524. Dem Kircher war an diesem Text nur das Notensystem
wichtig. Wir werden uns für das Pindarfragment die Fehlerhaftigkeit des
griechischen Druckes merken, mag sie nun dem Verfasser oder dem Druk-
ker zur Last fallen. Nebenher: auch um die Korrektheit des lateinischen
Textes ist es übel bestellt, und der Tadel des Meybaum ist in diesem
Punkte wenigstens mehr als berechtigt25. Der auf philologische Genauig-

23 Fateor, cum primum hoc opus in has terras pervenisset, magnopere me perculsum (!),
quod audirem omnes illas notas Alypii iam accurate a Kirchero restitutas in eo in-
veniri. .. Dolebam me praeventum et restitutarum antiquae Musicae notarum gloriam
adeo mirando ut iactabant opere esse praereptam. .. . Vero ubi illud opus tandem
inspicere licuit, cum stupore tabulam illam tot mendis scatentem oculis pererravi et
meum £ugr|xa EÜQTixa laetius repetivi.
24 Die Identifikation verdanke ich Paul Maas: Gregor, Poem. mor. 1, 11 f. (Migne Patr.
G r . 37, 523). Es ist natürlich keine Frage, daß es sich hier nidit um, eine spätantike, son-
dern um eine mittelalterliche Komposition handelt, wie ja auch das Notensystem erweist.
(Ähnliche Notensysteme bei Galilei a. O . 36 f.) Die Beschäftigung mit Gregor paßt zu
dem Basilianerkloster.
25 nec sphalmata typographica et stupendam correctoris oscitantiam in eo opere admira-
bar.
404 Musik und Metrik [12113]

keit bedachte Kritiker begriff freilich nicht, was sich doch von selbst ver-
steht, daß man bei einer so riesen|mäßigen Schriftstellerei Schreib- und
Gedächtnisfehler begehen mußte und den Druck nicht sorgsam über-
wachen konnte.
Jene Reise nach Sizilien und Malta ist ein wichtiges Ereignis in Kir-
chers Leben (1637/8). Er selbst berichtet in seiner Lebensbeschreibung
ausführlich, wie er als Beichtvater den Kardinal Friedrich Landgrafen von
Hessen auf der weiten Seefahrt begleitet, und wie sie auf Sizilien anlegen.
Daß er dort nur seiner Ätnabesteigung und seiner naturwissenschaft-
lichen Beobachtungen, nicht seiner Bibliothekstudien gedenkt, entspricht
der volkstümlichen und erbaulichen Art dieser Selbstbiographie. Wohl
aber versichert er selbst an einer früheren Stelle der Musurgia (I 71), er
habe keine Mühe gescheut, um hinter das Geheimnis der antiken Noten-
schrift zu kommen: „excussis itaque tum Vaticana tum aliis Biblio-
thecis..."
Das Kloster San Salvatore dei Greci oder di Faro (Monasterium S.
Salvatoris de Acroterio) wurde im X I . Jahrhundert vom Grafen Roger
gegründet und mit Basilianermönchen besetzt, im X I I . wurde es von
König Roger erneuert und vergrößert. In dem erhaltenen Typikon des
Klosters (cod. 1 1 j) 26 berichtet der zweite Abt Lukas, er habe eine große
Zahl sehr schöner Bücher zusammengebracht, vor allem die Werke der
griechischen Väter, aber auch Historisches und anderes Heidnisches, was
zum Verständnis der heiligen Schriften hilft: ioxoQiy.a xe xal sxeoa xcöv xijg
•(Kigaftev xai ä X / . O T ( u a g aijXijg öitoaa jtgög xr|v •ftsiav y v c o c u v awxeivovaiv. Das
Kloster besaß eine Schreibschule: YQauiiaxr/otig xe xai xaAAiYeacpoug v.ai
öiöaaxäAovg xcövfreicDvßißAcov xai xr)v e|co jiaiösiav Ixavcög r|crxr|u.evoug. Wichtig
für uns, daß Lukas besonders die Musikpflege hervorhebt. Man habe vor
allem Männer herangezogen xoiig x f j v [XEAcpör][t&xcDV sxxAriaiacrxixcöv exjiaiöe'u-
devxag dxQißsiav.
Von dieser ehedem reichen Bibliothek ist nur ein dürftiger Bestand
durchweg griechischer und fast durchweg kirchlicher Handschriften übrig.
Die großen Verluste sind nach dem Ausweis der Numerierung vor dem
18. Jahrhundert eingetreten27. So gut wie alles Nichtkirchliche hat das
Kloster in den Zeiten seines Verfalls verschleudert. Bemerkenswert, daß
unter den vorhandenen Handschriften eine ganze Anzahl mit Musik-

26
O b e r die Schicksale der Bibliothek u n d den B e s t a n d der aus dem K l o s t e r stammenden
H a n d s c h r i f t e n in der Universitätsbibliothek z u Messina berichten F r a c c a r o l i , Dei
codici greci dei monastero dei S . S a l v a t o r e , in den S t u d i Italiani di filol. class. V , 1 8 9 7 ,
4 8 7 ff. u n d M a n c i n i , C o d i c e s G r a e c i monasterii S . S a l v a t o r i s , in den A t t i della R.
A c c a d e m i a Peloritana V o l . X X I I , 1 9 0 7 , F a s e . I I (Messina 1907). Die griechischen
C i t a t e bei F r a c c a r o l i 4 8 8 u n d bei M a n c i n i p. V I I , V I I I . - Italienische Sonderzeit-
schriften hat stud. phil. H . D ö r r i e f ü r mich eingesehen und einschlägige Stellen ausge-
schrieben. Ich d a n k e hier d a f ü r , auch w e n n das E r g e b n i s n e g a t i v w a r .
27 M a n c i n i a. O . p . I X .
[13114] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythisdien Gedicht 405

noten ausgestattet sind28. Cod. 154 ist sogar eine theoretische Anweisung
für die Sänger|schule des Klosters29. Eine Schrift über antike Musik etwa,
in der sich die Noten zu Pythien I am besten denken lassen, kann das
Kloster sehr wohl besessen haben30.
Die Frage, ob man sich auf Kirchers Angaben verlassen dürfe, hat
schon den französischen Musikhistoriker Burette 31 am Anfang des 18.
Jahrhunderts beschäftigt. Schon er fand weder in dem gedruckten Biblio-
thekskatalog des Possevin32 noch in dem handschriftlichen des Montfau-
con33 eine sichere Spur der Kircherschen Handschrift, aber er fand bei
Montfaucon am Schluß des Verzeichnisses den Vermerk JtoXJ.à ôè à l l à
ßißXia jtËQiÉxouai tà jtâvta jîeqI toî /ôqou (sic), deutete ihn mit Recht auf
Kirchenmusik und meinte, unter derartigen Handschriften habe Kircher
das Bruchstück gefunden; das sei sein natürlicher Platz.
Man wird die reichlich unklare und in zweifelhaftem Griechisch ab-
gefaßte Bemerkung bei Montfaucon weniger hoch einschätzen dürfen, als
Burette und nach ihm Boeckh34 taten. Aber auch ohne sie ist das Bild, das
wir von der Klosterbibliothek S. Salvatore gewinnen, dem was Kircher
erzählt durchaus günstig. Daß er, der Entdecker des griechischen Noten-
systems, zu einer gegebenen Melodie die griechischen Noten hätte fälschen
können, ist gewiß35. Ob irgend jemand in der Musikwelt des italienischen
Barock diese Melodie selbst fälschen konnte, ist eine Frage, die den Musik-
historikern überlassen bleibe34. Daß man aber überhaupt einem Manne wie

28
Ob die Handschrift darunter ist, aus der der Hymnus des Gregor (oben S. 12) stammt,
ist nach den Katalogen von Fraccaroli und Mancini nicht zu ermitteln.
29
cod. 154 saec. X V : àpxiï aiiv flscp dyicp tôW ar)[iaôicov xfjç novawfjç téxvtiç tcûv te
àviôvTcov xai xcmôvtcuv acoixâtcov xaî jtvEuuâxœv xai jtâariç xaQo\'0|j.iaç xat
àxoXoudiaç auvTEdEi[iévr|Ç e'iç aî)tr]v jcapà tcôv xaxà xaipoùç JMHT)TÜV.
30
Über die fabulöse Geschichte von einem Sappho-Codex mit Musiknoten vgl. Mancini
a. O. p. X . Sie konnte auf dem Grund der Kircherschen Nachricht gewuchert sein, etwa
infolge der Anfragen, die deshalb nach Messina kamen.
31
Dissertation sur la mélopée de l'ancienne musique 203 f. in den Mémoires de l'Acadé-
mie des Inscriptions 1 7 1 8 - 1 7 2 j, 203 ff., beigefügt der Histoire de l'Académie, Tome V,
Paris 1729.
32 Possevinus, Apparatus sacer, Venetiis 1606, gibt das Verzeichnis, das 1563 auf Befehl
des Papstes Pius IV. angefertigt worden ist. Es sind aber nur die „codices ad sacra et
ecclesiastica spectantes" verzeichnet. Also ist es durchaus möglich, daß damals noch
mehr Handschriften vorhanden waren.
«„Serait-ce le Paris. Suppl. Gr. 798, X V I I e s. provenant de Saint-Germain et dont
le n° 3 (fol. 23 à 454) est intitulé: Catalogue de la Bibliothèque des Basiliens de Mes-
sine?" fragt A. Rome a. O. S. 5 Anm. 3. Der gedruckte Katalog in Montfaucons Biblio-
theca biliothecarum I, 1739, 198 sq bringt die genannte Notiz nicht.
^ P i n d a r i Opera I 2, 266.
35
Meybaum hat in seinen Musici scriptores das Te deum laudamus in griechischen Noten-
zeichen wiedergegeben.
36
Eine entsprechende Frage an den Kunsthistoriker würde gewiß nicht einer gleichen Un-
sicherheit begegnen. Man vergleiche zwei Äußerungen. Gevaert, Histoire et théorie II,
1881, 471 : „on doit reconnaître que le jésuite Kircher s'il était l'auteur de la cantilène
406 Musik und Metrik [14115]

Kircher gegenüber die Frage der Fälschung leichthin stellt, zeigt nur, daß
man seine Werke nie angesehen hat und ihn nicht kennt als das was er
w a r : gewiß ein Mann seiner Zeit mit ihrem Pomp und ihrer Ruhmredig-
keit 37 , und nicht zu messen an dem Genauigkeitsmaßstab einer kritischen
Philologie, aber vor allem doch ein Forscher von unfaßbarer Weite und
Energie, ein Sammler von unstillbarem Wissensdurst 38 , ein Denker, der
die weitesten Räume durchdrang, ein Mann, der Päpsten und Kaisern
seine Bände widmen durfte und mit vielen bedeutenden Männern seiner
Zeit in Briefwechsel stand, mit Herzog August von Braunschweig, dem
Gründer der Wolffenbüttler Bibliothek, mit dem Archäologen Peiresc,
mit Gassendi und Leibniz. Die griechische Melodie w a r für ihn gewiß
ein Fund, auf den er stolz war. Aber im Zusammenhang seines großen
Werkes bedeutet sie fast nichts, und selbst für die Erörterung in der sie
steht, für die Frage | nach dem Vorrang der antiken oder der modernen
Musik, bedeutet sie sehr wenig. In der T a t wird denn die Erörterung weit
mehr auf die Nachrichten der Alten als auf die neu entdeckte Melodie
gestützt.
Bleibt noch die Möglichkeit, daß Kircher sich in seiner Erinnerung
getäuscht hat - wie natürlich in seinen großen Werken genug Gedächtnis-
fehler vorkommen mögen 39 - oder daß er betrogen worden ist. Das zweite
en question aurait fait preuve en composant son postiche d'un véritable génie
philologique et musical". Maurice Emmanuel in: Lavignac, Encyclopédie de la Mu-
sique, Antiquité, 1911, 447: „s'il n'y a pas de raisons musicales absolues qui permettent
d'accuser le père Kircher de supercherie, cette Hypodoristi a un parfum moderne
quelquefois troublant." - Ganz zuletzt A.Rome in Les Etudes classiques I 8: „(Kircher)
a écrit une phrase de plaint-diant du X V I I e siècle - le plain-chant des messes de
Dumont. 11 : c'est de l'art de formules, du plain-chant de messe de Dumont, mais cette
mélodie a su charmer un Gevaert, et comme elle est galvanisée par Saint-Saëns dans
son Antigone, il faut bien reconnaître qu'elle a de l'allure."
37
Die Histörchen, die in der Schrift Jo. Burch. Menkenii De Charlatanería eruditorum
declamationes duo, Amstelodami 1727, - der Titel ist das Kurzweiligste an ihr - über
Kircher berichtet werden, sind nicht sehr charakteristisch.
38
Daraus, daß es unter den Antiken des Museo Kircheriano Fälschungen gab, kann man
doch ihrem Sammler keinen Strick drehen. Über die Sammlung spricht durchaus mit
Hochachtung Stark, Archäologie der Kunst 109, 117. Es könnte sogar sein, daß sie in
der Geschichte des Museumswesens wichtig wäre. Vgl. die vorläufigen Bemerkungen
von J. v. Schlosser, Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance, 1908, 104. -
Daß Kircher auch Handschriftenkenner und -Sammler war, ersieht man aus dem Brief,
mit dem er dem Herzog von Braunschweig eine syrische Evangelienhandschrift nach
Wolffenbüttel schickt. Er beschreibt sie sachkundig und sagt von ihr: quo nihil mihi
fuit carius, nihil pretiosius. (J. Burckhard, Historia Bibliothecae Augustae quae
Wolffenbutteli est, Lipsiae 1744, 236 sq.)
39 Über die Fundgeschichte der chinesisch-syrischen bilinguen Inschrift hat Kircher im
Abstand weniger Seiten widersprechende Angaben gemacht: Henri Havret S. J., La
Stèle chrétienne de Si-ngan-fou (Variétés sinologiques No. 12, Chang-Hai 1897) II,
47. Es verdient bei dieser Gelegenheit vermerkt zu werden, daß Kircher in einen Streit
über die Echtheit der Stele verwickelt wurde und zum Erweis der Echtheit sein Werk
China (1667) schrieb: Havret a. O. z6i ff. Die Echtheit des Monuments scheint heute
anerkannt.
[15118] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythisdien Gedidit 407

ist undenkbar; denn es gab damals außer Kircher und Meybaum wohl
überhaupt niemanden, der über die Kenntnis der griechischen Noten ver-
fügte. Das erste ist möglich; aber man mag hin und her denken und wird
doch nichts ausdenken können, was so wahrscheinlich wäre wie die Ge-
schichte, die Kircher erzählt. |

§ 4. Recensio

Kircher hat seinen Fund zweimal abgedruckt, zuerst auf p. 541 nur
die griechischen Noten über dem griechischen Text („Abdruck A " ) , dann
auf p. 542 dieselben griechischen Noten über demselben grie|chischen Text,
aber dazu über jeder Zeile die Ubersetzung in moderne Notenzeichen
(„Abdruck B").

Muße* Ptteris fpec'men,


Chorus Vocalis.
i r u r e i i r r e i i r r e i M i
XS» « « t'tfl'S A W< MI t' • TV X« IWf
e i M i e r e r i r r e i r e i e r M i M
Zvtti in H'ira^ wi'«» iVt d m'u /ii'r ß*' ett a y\*!at ätX*-
Chorus Inftrumcntalis.
W V c / s / 3 N ^ c / ^ j N ^ c ^ n l ü l H / c q
vii'tuTd.1 i a«JV ei ci>V A y» et X' t" i'** r*' T°~'
>CN J H/C/CVjVj/i q f . U N c H N j
T»i/ i M xl £0 r«j JUBI1 TiV gj^ta ^

N n / c n
Xtf ftlt ti, c $lt ,vut.
Interpretatio.
Oaurea Cythara<^fpollinh, g)<violaceitm capillttium balentium totmenltns M*-
farumpojjeßio, quam audit yuidem incejfus fallanttum IdtitU apex ckorus. Oittmpe-
rattt •vero.Qj toncentoresftgnis intotiationis tu* choros ducentium,quando hymnorum
prdludiajacis lerntet pereußa, cuffidaiumfilme» txtingmt,

MuGca
Abdruck A . Musurgia p. 541.

Die griechischen Noten sind beide Male nicht mit einzelnen Typen
gesetzt, sondern mit Holzstöcken gedruckt, die jeweils eine ganze Zeile
umfaßten. Es ist entweder beide Male mit denselben j Holzstöcken ge-
druckt worden, oder, wenn für B andere Holzstöcke verwendet wurden
408 Musik und Metrik [18]

wie für A , so wurden sie doch rein mechanisch verdoppelt 40 . Also sind für
die griechischen Noten A und B nur eine einzige Überlieferung.
Über Zeile 3 steht in A : Chorus Instrumentalis, in B: 70Q0541 eig
xuftaQav Chorus ad Cytharam. Es kann kaum ein Zweifel sein, daß die

5 41 Artis Magna Confont, Di flotti

Mufica veterum noftris notis muflcis tono


Lydio exprefla.
Monopbonia jfiut vox pr<euia.

ir irre i i r r e i i r r e i M i
Xlu et * fóiplf!- A vo\ Ka tot Kot i' « tm ¡WH

e i M i e r er u r ei re i e r m im
Svi St xot ¡ua*» >n'>w Tct'i d *»ltt ni» ß*' mt tt j-jus/oi afôo»
X't'i e " ¡tu Chains id C/tharam .

gÜSSi^iiil
T%i'-9an"At f actf'f ci m.ff»VA yn « X' f ¿'v* T«c rot ffojgut'ar

;fc
^If^liisiiipl 3 H/C/cVjVj/i q U \ z H N 3
AftßiK Xat Til/ ¿«f 2 AC M f« pi1 K> (um' ToV ttlJüH* tat

E R = f t :
Ï
N N c ^ 1/= q
fl«l> *oV ißo- tn/us.
Abdruck B. Musurgia p. 542.

Diese Beobachtung bestätigt mir ein erfahrener Drucker, Herr Post von der Kunst-
schule Halle-Giebichenstein.
41 Das schließende 5 ähnelt der Ligatur von ei. Vielleicht hat der Setzer sich vergriffen.
[ 18/20] Editheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythisdien Gedidit 409

griechischen Worte nur versehentlich in A fehlen, und daß in der Hand-


schrift vor dem Beginn der Instrumentalnoten die Notiz stand: /opög
Eig xiöäpav.
Die griechischen Textworte sind elend gedruckt. Akzente und Spiritus
sind verwahrlost. Außerdem erwähne ich folgende Fehler:
<pÓpHlT|| A CpÓQ[i.l,v| B
JTEÍ00VTCU A B

aá[j.a cruv A B
Ay^AI/ópov A B T O V 4 2 <PQCÜI[XÉOV A B. |
Kircher hat diesen griechischen Text nur flüchtig oder überhaupt nicht
korrigiert - über diese Flüchtigkeit ist oben das Nötige gesagt (S. 403) -
man sieht auch, er hat den Pindar gar nicht verstanden, soweit ihm nicht
die lateinische Übersetzung des Erasmus Schmid, die er mit abdruckt, zu
einem oberflächlichen Verständnis verhalf.
Nun eine Bemerkung, die wichtig werden könnte. Der griechische
Wortlaut bei Kircher stammt aus keiner Handschrift, sondern eben aus
derselben Ausgabe des Er. Schmid von 1616. N u r in ihr fand Kircher die
Lesung TCÜV cpgoi|iiwv, die bei ihm noch ins Unsinnige verdruckt ist. Sie
beruht auf einer Konjektur Schmids, die Handschriften geben jtQooi(j.icav.
Auch die lateinische Übersetzung O aurea Cythara stammt, wie gesagt,
wörtlich aus derselben Ausgabe. Und vielleicht ein drittes: Kirchers
Pindartext bricht mitsamt den Noten kurz vor dem Ende der Strophe
ab. Genau an derselben Stelle aber ist die p. 18 bei Schmid zu Ende, der
Rest der Strophe folgt auf p. 20. Ebenso schließt mit dem Wort der
Übersetzung extinguís die p. 19 bei Schmid.
Es liegt auf dem ersten Blick sehr nahe, aus dieser Benutzung der
Schmidschen Ausgabe einen neuen Beweisgrund gegen die Echtheit der
griechischen Melodie zu ziehen43. Aber doch nur auf den ersten Blick.
Wenn Kircher den Text recht und schlecht aus einer Ausgabe nimmt, so
folgt daraus noch lange nicht, daß die Noten gefälscht sind. Mit seinen
griechischen Kenntnissen war es nicht so weit her, daß er den Pindar wirk-
lich hätte verstehen können. Es ist schon deshalb nicht verwunderlich, daß
er die griechischen Worte nicht genau nach der Handschrift gab, so wie sie
günstigenfalls in seinen Notizen stehen mochten, sondern daß er statt
dessen, als er sein Buch schrieb, nach einer Pindarausgabe griff, die ihm
auch wegen der beigefügten lateinischen Ubersetzung bequem war. D a ß
er eine Ausgabe heranzog, war nur in der Ordnung. Jeder von uns würde
es ebenso machen. N u r würden wir es ausdrücklich vermerken, was Kir-
cher, der kein Philologe war, unterließ.

42 Die jiQoacoiöia über TOV ist nicht ganz eindeutig. Sie gleicht am ehesten einem Spiritus
lenis mit Gravis.
43 Ich finde die Beobachtung gemacht und in der T a t gegen die Editheit ausgenutzt von
A . Rome a. O . (vgl. oben S. j f.) 3 ff.
410 Musik und Metrik [20/21 ]

O b er bei aßevvtiei? abbricht, w e i l d o r t auch die N o t e n h a n d s c h r i f t a b -


brach, o d e r w e i l bei E r . S c h m i d die Seite zu E n d e w a r , läßt sich nicht
entscheiden. I m ersten F a l l e ist die U b e r e i n s t i m m u n g mit dem Seiten-
ende bei S c h m i d z u f ä l l i g . I m z w e i t e n F a l l e h ä t t e der Anschluß an die
gedruckte A u s g a b e den sehr bedauerlichen V e r l u s t der letzten N o t e n v e r -
schuldet, der uns hindert, auch n u r S t r o p h e | u n d G e g e n s t r o p h e in einem
A t e m zu singen. M a n sieht, w i e w i c h t i g es auch u m dieser E i n z e l f r a g e
w i l l e n w ä r e , den auf M u s i k bezüglichen T e i l v o n Kirchers h a n d s c h r i f t -
lichem N a c h l a ß a u f z u s p ü r e n 4 4 .
N u n der N o t e n t e x t selbst. D a z u z w e i V o r b e m e r k u n g e n : i . Ich v e r -
w e n d e statt der k u r s i v e n F o r m e n , die K i r c h e r nachgezeichnet hat, die
m e h r epigraphischen, deren m a n sich heut allgemein bedient. 2 . Ich t r a n -
skribiere in das heutige N o t e n s y s t e m anders als K i r c h e r getan hat, u n d

41
Nachdem midi schon Monsignore J . P. Kirsch durch Auskünfe verpflichtet, auch den
Historiker des Ordens P. Tacchi-Venturi befragt hatte, hat auf meine Bitte Dr. Lud-
wig Edelstein aufgesucht, was sich von Kirchers handschriftlichem Nachlaß in Rom
findet. Leider ist nichts dabei, was den Pindar oder überhaupt was die Musik angeht.
Ich benutze aber die Gelegenheit, die Mitteilungen Herrn Edelsteins hier zu veröffent-
lichen.
Es liegen
1. in der Biblioteca Vittorio Emanuele
a) im Fondo Gesuitico
546 Mundi subterranei über - das vollständige Druckmanuskript
1235 Oedipus Aegyptiacus - das nicht vollständige Druckmanuskript mit einem
Anhang verstreuter Blätter
1 3 3 1 Mira Kircheri in suo Itinerario exstatico
b) in den Fondi minori
F P 4 (1841) Mathematica curiosa
A V 30 (1661) Rituale ecclesiae Aegyptiacae - vollständiges, nicht mehr gut erhal-
tenes Druckmanuskript
2. in der Università Gregoriana
14 Konvolute von Briefen an und von Kircher, darunter Entwürfe und Notizen
Kirchers. (Vielleicht sind darunter die Epistolarum 12 Tomi in Folio, die Georgius de
Sepibus in dem ältesten Katalog des Museum Kircherianum, 1678, p. 64 aufführt.)
3. in der Vaticana
Chigi S. V I 225 ein Konvolut kleiner Schriften verschiedenen Inhalts, meist an Papst
Alexander V I I . gerichtet.
Im Archivio di Stato ist nichts, in der Casanatense auch nichts, in der Angelica nur
eine Abschrift. Die Corsiniana war Herrn Edelstein nicht zugänglich. Man darf aber
die Hoffnung auf weitere Funde nicht aufgeben. Wo ist z. B. die Alypios-Handschrift
des Collegio Romano, die Kircher auf p. 540 der Musurgia erwähnt, und wo seine
ebendort erwähnte lateinische Alypios-Übersetzung, die er bei Gelegenheit zu ver-
öffentlichen gedachte, aber wohl nicht veröffentlicht hat? Dabei ist nicht zu vergessen,
was von Kirchers Sammlungen 30 Jahre nach seinem Tode Philippus Bonnani im
Prooemium des Musaeum Kircherianum (Romae 1709) schreibt: . . . quae tanto studio
et labore ad divini Numinis gloriam et Reipublicae litterariae emolumentum ille
congesserat, post obitum eius paene omnia interierunt .. . ita ut ob non modicam
rerum jacturam, quae in Musaeo antea juerant, nomine tantum retento Musaeum
ipsum desideraretur.
[21/22] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht 411

zwar folge ich, was die Tonhöhe anlangt, der Transposition von Gevaert
(und Sachs) als der bequemsten: sie setzt den Anfangston " | J " in das
hohe e' um und kommt dann ohne Vorzeichen aus. Kircher setzte " J J "
= d', Bürette und Boeckh setzten " J J " = h. Welches Problem hier liegt,
muß den Musikhistorikern überlassen bleiben. Mir genügt für die Praxis
die Bemerkung heutiger Kenner, daß „die Tonhöhe in der gefühlsmäßigen
Bewertung griechischer Melodien keine ähnliche Rolle gespielt haben kann
wie innerhalb der neueren Musik". „Einen fixierten Kammerton hatten
die Griechen nicht" 45 .
Die griechischen und die modernen Noten stimmen genau bis ein-
schließlich t6i>xtii$ und wiederum von xspawov bis zum Schluß. Aber zu
den Worten £AeAi^o[XEva xai tov alxnatav ist zwischen beiden Notenschriften
ein bemerkenswerter Unterschied. Die griechischen Noten von teijxtii-? bis
aix^atdv sind die folgenden:

n < < v v < n < u v t n z


teil -/r|i5 E-Xe-Xi-to-fji-va xai töv aix - |ia - täv
das ist: a h h c c h a h g c' a d' e'
(Umschrift I).
Aber Kircher gibt statt dessen die Umschrift (wir transponieren, wie
gesagt):
a h c' c h a h g c' h a d' e'
(Umschrift II).
Ein Irrtum muß hier vorliegen, aber bemerken wir sogleich: ein mecha-
nischer. Kircher hatte die Noten im Alypius verstehen gelernt und sah sie
auf seiner Kupfertafel vor sich. Er transkribiert vorher und nachher
fehlerlos. Also konnte ihm nicht plötzlich auf einem kleinen Raum alles
durcheinandergehn. In der Tat hat der Widerspruch zwischen I und I I
eine bestimmte Ratio. Ändert man | I so, daß der dritte Ton h zum zehn-
ten wird, also vor den drittletzten Ton a zu stehen kommt, so erhält man
die Umschrift II.
Dann aber sind zwei Möglikeiten denkbar. Entweder Kirchers
Abfolge der antiken Noten und also die Umschrift I ist richtig. Dann ist
das moderne Notenzeichen für den dritten Ton, also das zweite h, ver-
sehentlich an die zehnte Stelle gerückt. Oder Kirchers Umschrift in die
modernen Noten ist richtig, also II. Dann ist der Irrtum vielmehr in den
griechischen Notenzeichen entstanden, sei es, daß Kircher selbst in seiner
Vorlage für den Holzschneider das dritte Zeichen aus Unachtsamkeit um
7 Stellen zu weit nach vorn versetzte, sei es (wahrscheinlicher) daß der
Holzschneider diesen Fehler beging und Kircher, dessen Nachlässigkeit im
Korrekturlesen wir kennen, ihm nicht auf die Finger sah.
45
W. Vetter, R.-E. von Pauly-Wissowa-Kroll s. v. Musik, S. io des Sonderdruckes. H .
Abert, Gesammelte Schriften und Vorträge 1 9 .
412 Musik und Metrik [22/24]

Ich stelle der Deutlichkeit halber die beiden möglichen Abfolgen der
griechischen Noten untereinander und zwar a) wie sie bei Kircher ge-
druckt sind, also der Umschrift I entsprechen, b) wie sie bei der Rück-
übersetzung der modernen Noten in die antiken aussehen müßten, also
der Umschrift II entsprechen.

T < < V V < T < U V 1 N Z

Im ersten Augenblick wird man der Fassung a) den Vorzug geben.


b)
Es scheint natürlich, Tdaß
< Kircher
V V <seineT VAbschrift
U V < genau H N Z
genommen und
genau veröffentlicht hat, und daß der Irrtum in seiner Übertragung liegt.
So hat als erster Burette geurteilt (a. a. O. 206): „il (Kircher) en a mal
rendu la suite ou la modulation en trois endroits44 où il prend une note
pour une autre: ce que j'ai eu soin de corriger conformément à la tablature
grecque" - und hat danach die Umschrift auf einer Kupfertafel hinter
p. 206 gemacht ( = unserer Umschrift II). Diese Fassung hat seitdem
kanonische Geltung erlangt. Ihr ist nach anderen Boeckh gefolgt47 und
dann alle Neueren.
Aber genau so möglich ist es, daß die Fassung b) den Vorzug verdient,
daß also Kircher den griechischen Text falsch abdruckt, den er richtig
transkribiert hatte. Man könnte das sogar wahrscheinlicher finden, da
ihm denn doch das moderne Notenbild geläufiger gewesen ist als das
antike, er sich also die Melodie doch | wohl nach jenem vorsang oder ver-
gegenwärtigte. Aber das bleibt ungewiß. Da die Quantität, die er den
griechischen Silben in seinen Notenzeichen gibt, ganz willkürlich ist4®,
so kann man auch von dort aus nicht sicher entscheiden, weldie Klänge
welchen griechischen Silben zugeordnet werden müssen.
Die Entscheidung läßt sich, wenn überhaupt, nur aus einer Prüfung
der ganzen Melodie gewinnen. |

§ Examinatio

Die Analyse der Melodie macht keinen Anspruch auf selbständige


Bedeutung, zumal ich mich in keiner Weise als Sachverständigen fühle.

46 w i e Burette auf „ 3 Stellen" kommt, weiß ich nicht. E r hat nicht bemerkt, daß bei
Kircher ein einheitlicher Irrtum vorliegt, und hat sich das Problem nicht gestellt, das
w i r oben gestellt haben. N a c h ihm ist anscheinend niemand auf die Editio princeps als
alleiniges Zeugnis ernsthaft zurückgegangen - außer A . Rome, der falsche Folgerungen
gezogen hat.
47
Idem Burettus Burneius Marpurgius Forkelius rectius explicatam melodiam dederunt:
Boeckh a. O . 266.
48
U n d dies, obwohl er die Wichtigkeit richtiger Quantitäten ganz deutlich erfaßte
tempus non notae sed quantités syllabarum dabant.
[24125] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht 413

Vielmehr sollen nur einige Beobachtungen gemacht werden, die vielleicht


das eben gestellte Problem entscheiden helfen. Implicit werden damit
zugleich Argumente f ü r die Echtheit von der Sache her gewonnen. |

Zeile i.
e' e' d' c h e d' c' h e' d' c' h a h
XQV-ai-a cpÖQ-ixiyl 'A-JtoX-Xco-vog xai i - ojt-Xo-xcc-uuv
äg-'/og oi - a> - vwv xE-Xai-vw-mv ö'ü-iu oi ve-cpg-Xav

Das Kolon besteht metrisch aus 2 Epitriten und einer daktylischen Reihe
|— w 1— w 1— . Auch musikalisch sind es 3 Kommata.
Aber diese musikalische Gliederung folgt nicht den Metren, sondern den
Worten. Und diese Worte sind so gesetzt, daß sie jeweils mit einer Silbe
in das folgende Metrum übergreifen, also — ^ / / ^ ^—w ^ —
Die melodische Linie enthält dreimal das absteigende Tetrachord e' d' c' h,
das dritte Komma greift mit a in das nächst tiefere Tetrachord hinunter,
um mit dem schließenden h gleich wieder zurückzukehren.

c h a h c' d' c' d'


ouv-öi-xov Moi-aäv x-tE-a-vov
äy-wJ-AoH xpa-ti, yXe-qpa-Qcov

2 Metra — w |—ww—, 3 Worte: das mittlere überschneidet nach vorn


und nach hinten die Metrengrenze. Jedes der 3 Worte hat seine besondere
melodische Figur. Der Einsatz liegt einen halben Ton höher als der Schluß
der Zeile 1 . auvöixov umfaßt den dritten und vierten Ton des oberen
Tetrachords und greift in den unteren hinab. Es wiederholt also die Be-
wegung von -oidoxa-, und wie dort die letzte Silbe -¡xcov zur unteren
Grenze des oberen Tetrachords zurückkehrt, so hier die erste von Moiaäv.
Aber nun kommt das Neue. Während bisher die Bewegung wesentlich
absteigend war und zur Höhe nur hinaufsprang, um wieder absteigen zu
können, ist in Moiaäv der erste starke Anstieg, sehr fühlbar, wenn es auch
nur Sekundenanstieg ist, um so fühlbarer, als er mit der letzten Silbe des
vorhergehenden und der ersten des folgenden Wortes sich zu einem A u f -
stieg von 3 Sekundenschritten vereint. Es wird kein Zufall sein, daß grade
mit dem Wort Moiaäv der Aufstieg geschieht. Wir werden darauf zu

49
W i r begnügen uns mit der Wortgliederung des ersten Strophenpaares. In den folgen-
den Strophen weicht die Gliederung z u m Teil ab. D a r ü b e r nachher nodi einige Worte.
50
Zeile 2 a und 2 b bilden bei Boeckh eine einzige Zeile, weil sie mehrmals in Synaphie
stehen. W i r trennen 2 a und 2 b aus praktischen G r ü n d e n . A b e r es ist unverkennbar,
daß wenigstens in Str. 1 auch W o r t l a u t und melodische Linie solche T r e n n u n g be-
günstigen. Vielleicht liegt hier ein Problem. A b e r Grundsätzliches soll hier, wie sich
versteht, gegen die Boeckhsche Zeilengliederung nicht ausgesagt werden, höchstens
dies, daß man sie nicht dogmatisieren darf.
414 Musik und Metrik [25j26]

achten haben, bei welchen Wörtern ähnlicher Aufstieg sich zeigt. Das
dritte Wort XTEOIVOV wiederholt um eine Terz höher die Schlußbewegung
von Zeile i . Beide Stellen sind ja auch metrisch verwandt: . Das
zweite und dritte Komma der zweiten Zeile setzt jeweils höher ein als
der Schluß des je vorhergehenden Gliedes. | Vielleicht ist daran zu er-
innern, daß dieselbe Regel auch für die größeren Kola (Zeichen) gilt.
Z e i l e 2 b.
e' d' c' h d' c h c <d'} d' a h a
Tag a-xoi>-ei |XEV ßa-aig dv-Xa-t-ag oq - %h
a - 5i> xXä-ia-TQov xa-te - xEu-ag" ö öe xvcoa-acov

Das Kolon besteht metrisch aus Epitrit, daktylischem Hemiepes, Spondeus


(d. h. wohl synkopiertem Epitrit) — w . Die Wort-
einschnitte liegen in den andern Strophen so verschieden, daß sich zu-
nächst keine Regel erkennen läßt. Nur der Schluß-Spondeus sondert sich
zu allermeist ab: 8 JCVÜXTCKDV 22 XOOTVOÖ 28 X E V T E I 42 X E I V O V 48 ti[idv. Von der
vierten Strophe ab greifen starke dreisilbige Wörter aus dem daktylischen
Glied in das spondeische über: 62 ria|iqjijXou 68 ävftpcüjicov 82 dußXvvei. Aber
die letzte Gegenstrophe hat wieder den Spondeus ma-toi. Dieser schlie-
ßende Spondeus - mag es nun spondeisches oder molossisches Wort sein —
prägt sich beim Lesen sehr stark ein. Wahrscheinlich war er ein anovÖEiog
UEitcnv. .. , 5 1 .
Der melodische Einsatz liegt wieder einen Ton höher als der Schluß der
vorhergehenden Zeile, T A G verhält sich zu dem vorhergehenden X T E O V O V
genau wie vorher am- zu -nXoxd^tov. Die melodische Linie wiederholt
zuerst das absteigende Tetrachord von Zeile 1 , dann noch einmal die 3
unteren Töne desselben Tetrachords. Paßt das nur aus Zufall zum Inhalt?
Oder spricht sich das Gehorchen des Schritts in dem Gehorsam der melo-
dischen Linie aus? Mit äyXatag52, dem „Festglanz", wird die melodische
Kurve sehr selbständig. Wäre sie c d' d' c', so würde sie wie eine Art Um-
kehrung des Schlusses von Zeile 2 ( X T E O I V O V ) wirken. Aber sie greift mit
einem starken Quartensprung abwärts unter die Grenze des oberen Te-
trachords. Dann vollzieht der Spondeus diesen Ubergang aus dem oberen
in den unteren Tetrachord noch einmal im Sekundenschritt h a.

si S o maß Boeckh. G . H e r m a n n maß — 1 . V g l . Westphal, Griechische Metrik,


2. Aufl., 6 4 7 . D a r ü b e r entscheiden zu wollen, w ä r e vorläufig Spielerei.
52
D a ß ayXatac, viersilbig sein muß, w ä h r e n d K i r d i e r d-yXcdag druckt, daß also v o n
den überlieferten 3 T ö n e n c ' d' a der mittlere verdoppelt werden muß, hat Boeckh
a. O . 2 6 7 ausgesprochen: saepius enim utraque syllaba theseos dactylicae eadem nota

z N v v < nnu V v
signabatur u t v . 4 ¿yriai/öpcov 6jtoxav. V g l . auch noch EXE- nach unserer Herstel-
lung. - E s muß freilich zugegeben werden, daß die Phrasierung c ' ( d ' ) d ' a f ü r
ayXatag nicht die einzig mögliche ist. M a n könnte etwa auch an c ' (c') d a denken.
[26/27] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedidit 415

Zeile 3.
c c h c d' e' d' c' h
jiei-Oov-xai ö'a-oi-öoi aa-[ia-aiv
vy- qov vco - tov al-a> - qeí, te - alg |
Das Kolon besteht metrisch aus 3 Epitriten: der erste tritt als Spondeus
auf (wie der Schluß der vorhergehenden Zeile, vielleicht also ajtovÖEiog
HEitcDv), der zweite ist vollständig, der dritte katalektisch: 1—^ 1
— . Die Wortgliederung ist nicht überall gleichartig. Das Anfangs-
wort entweder 3- oder 2-silbig, das Schlußwort 2- oder 3-silbig, so daß
folgende Einschnitte sich herausheben: entweder /—oder
— /-w l y ~ .
Der melodische Einsatz wieder höher als der Schluß der vorher-
gehenden Zeile, diesmal eine kleine Terz höher. Die melodische Linie setzt
mit dem schweren doppelten c' ein, steigt dann zur unteren Grenze des
oberen Tetrachords hinab und dann das Tetrachord in Sekundenschritten
hinauf. Also die entgegengesetzte Bewegung zu der am Anfang herr-
schenden. Das tragende Wort ist in der Strophe aoiöoi: man erinnert sich,
daß in Kolon 2 a das Wort Moiaäv den ersten starken Anstieg trug. Dann
schrittweise Rückkehr zur unteren Grenze des oberen Tetrachords.
Z e i l e 4 a.
e' d' c' c h a a g a a h a
á - yt|- ai-zó-gcov ó-jtó-Tav jipo-oi-(ií-cov
gi-jtaí-ai xa-Taa-xó-n-E-vog' xai 7019 ß i - a -
Z e i l e 4 b.
Fassung I 1 , , a hí ^ ° C h a h
Fassung I I J { c' c h a h g
djx-ßo-Xa; tev - x^i? e-Xe-Xi - ^o-|J,É-va
-tag "A-qt}S xga - /eí- ava-vEu-ÖE Ai-jráv
Die Zeile besteht metrisch aus einer daktylischen Reihe am Anfang, 2
Epitriten, und einer daktylischen Reihe am Schluß:
WW— W— W | I

Der melodische Einsatz liegt diesmal eine Quarte höher als der Schluß des
Kolon 3, so daß das ganze erste daktylische Glied als einheitliches melo-
disches Komma in Sekundenschritten von der oberen Grenze des oberen
Tetrachords bis tief in das untere zum g hinabsinken kann. Bemerkens-
wert, daß bei den beiden Doppelkürzen -av/ó- und ojió- die Melodie auf
derselben Stufe bleibt 53 . Das Wort jtQooi(xúov legt in leichtem Auf und

53
Vgl. dazu Anm. 52.
416 Musik und Metrik [27/29]

A b die Melodie als Ganzes etwas höher. Die Bewegung a h a hat ihre
Analogie in dem Schluß des Kolon 3. Wie das Wort ngooinicov | eine Se-
kunde über dem Schluß von öjtötciv einsetzt, so das Wort «nßo/.ag eine Terz
über dem Schluß von jtgooinicov. Dann aber schreitet ot|ißoXäg mit 3 großen
Sekundenschritten empor bis zur oberen Grenze des oberen Tetrachords:
einer jener Aufstiege, die innerhalb der so durchaus absteigenden Linien
besonders stark empfunden werden. Auch jetzt gehört das Wort dem-
selben Bezirk an wie vorher Moiaäv und aoiöoi. Dazu kommt hier, daß
man in dem musikalischen Terminus avaßoXr)54 die K r a f t des „Werfens"
und die Richtung des „Empor" immer hat durchhören können, te-u/tiic;
springt eine reine Quinte hinab, um dann eine neue Aufwärtsbewegung
zu beginnen. Aber hier setzt nun in ¿XeXi,to|ieva die Doppelüberlieferung
ein. Fassung I wiederholt noch einmal den Schlußton h von tevxtiis, steigt,
fällt, steigt, so daß derselbe Abschluß h a h entsteht, den wir schon aus
dem Ende von Zeile I und von Zeile 2 a kennen. Fassung I I drückt die
Doppelkürze ¿ X e - durch ein doppeltes c aus, wie auch vorher in unserem
Kolon die Doppelkürzen der ersten daktylischen Reihe auf denselben
Tonhöhen lagen. Der Abstieg c ' h a g wird an vorletzter Stelle unter-
brochen durch die Emporbewegung von a nach h mit dem Ergebnis, daß
die große Terz h g einen sehr unerwarteten Abschluß bringt 55 . Die Ent-
scheidung für eine der beiden Fassungen läßt sich hier noch nicht geben,
sondern wenn überhaupt erst aus Kolon j gewinnen.

Zeile j.

Fassung I g c'
d' c h a h a
Fassung I I c' h
-/ai tov aix-M-a-Tav xE-nau-vov oßfiv-vu-Eig
&Y - Xe - <üv dy.-u.av i-ai-vEi xaQ-öi-av

Metrisch sind das 3 Epitrite —^ 1 —w |— . Der Wortschluß


greift aus dem ersten in den zweiten Epitrit über, so daß dann ein bak-
cheisches und ein kretisches Wort bleiben: — ^ j^, / — .
Die melodische Linie der beiden Fassungen ist höchst verschieden.
Fassung I steigt von g, also bisher der unteren Grenze, mit 2 sehr auf-
fälligen Quartensprüngen und dann noch einem Sekundenschritt bis e',
also der oberen Grenze des oberen Tetrachords. Fassung II fällt von c' in
2 Sekundenschritten abwärts auf a, um dann | mit einer Quarte und dem
Sekundenschritt wie vorher die obere Grenze zu erreichen. Von da ab
gibt es keine Verschiedenheit mehr: der Abstieg durch das obere Tetrachord

54
Vgl. v. Wilamowitz, Verskunst 1 1 1 .
55
Beim Vorsingen wehrten sich die heutigen Musiker aus ihrem Gefühl gegen diesen Ab-
schluß a h g. Er ist allerdings in der Pindarmelodie singulär. Ein ähnlicher Abschluß
aber ist im Seikilos-Lied bei eaxi tö £rjv as b ges.
[29130] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht 417

vollzieht sich schrittweise in v.eoauvov, während oßevviieig die Abschluß-


bewegung a h a hat, die (von den Quantitäten abgesehen) am Schluß des
Kolon 3 und im umgekehrten Sinne h a h am Schluß des Kolon i hörbar
wurde.
Gegen Fassung I, für II, sprechen folgende Gründe: i. Bisher began-
nen alle Kola fallend. I beginnt mit starkem Anstieg, II fällt, und zwar
einschließlich der Quantitäten genau entsprechend dem Einsatz von Kolon
2 (awöixov). 2. Bisher setzten alle Kola höher ein als das je vorhergehende
schloß. I setzt tiefer ein, II höher. 3. 2 Quartensprünge hintereinander
gibt es sonst nicht. 4. Die melodische Linie ist als ganze überall abstei-
gend. Wo stärkerer Aufstieg ist, schien jedesmal der Grund deutlich
(Moiaäv, äoiöoi, dußoXag). Hier läge der Aufstieg in dem gänzlich un-
betonten Artikel, der auf einen unbegreiflich hohen Gipfel zwischen der
tiefen Quarte und der tiefen Terz gestellt wäre. In Fassung II gleitet
dieser Artikel zwischen den starken Silben xcü und aix- mit herab. Auch in
den anderen Strophen entsprechen dem TOV sehr unbedeutsame Silben.
Gut versteht man dann den starken Aufstieg a d' e' in dem kühnen Worte
alxnatav: der „Speerwerfer" Blitz. In der Gegenstrophe entspricht: der
Lanzen Schärfe. Die zweite Zeilenhälfte gibt in dem Absinken der melo-
dischen Linie das Verlöschen des Blitzes, das Besänftigen des Herzens.
Konnte man am Ende von Kolon 4 zweifeln, für welche Fassung man
sich zu entscheiden habe, so ist solcher Zweifel am Anfang von Kolon 5
nicht mehr möglich: Fassung II ist die richtige. Damit ist auch die Ent-
scheidung über den Schluß von Kolon 4 gefallen. |

§ 6. Umschrift der Melodie

Eine richtige Umschrift gibt es nicht. Wir haben eben erkannt, daß
man für die melodische Linie über alle Umschriften seit Bürette auf die
Editio princeps zurückgehen muß.
Daß man auf Taktstriche zu verzichten hat, ist heute wohl von allen
anerkannt. Am wenigsten gewaltsam wäre noch jene Weise der Takt-
einteilung, wie Bürette sie gibt: beständiger Wechsel zwischen 3/4 und
i
U Takt 56 . Aber selbst das setzt voraus - was gar nicht wahrscheinlich ist - ,
daß eine beschwerte Anceps einer echten Longa gleich wäre. Und auch
dann wären die Taktstriche Krücken, die man lieber wegwirft 57 .
Die Quantitäten sind seltsamerweise noch nie genau genommen wor-
den, am ehesten noch bei Bürette. Bei Kircher herrscht tastende Willkür.

56
Vgl. auch G . Hermann, Handbuch der Metrik X X I I I .
s? Vgl. Abert, Die Stellung der Musik in der antiken Kultur, Die Antike II, 1926, 1 3 7 :
„Unser rhythmisches Gefühl ist durch die dreihundertjährige Tyrannis des Taktstrichs
abgestumpft worden."
418 Musik und Metrik [30j31]

Boeckh, der Kenner griechischer Metrik, | zerstörte alle metrischen Ge-


gebenheiten durch die systematische Willkür, mit der er einen modernen
% Takt einheitlich durchzuführen suchte. Sachs gab zwar die Taktstriche
mit Recht auf, fiel aber mit den Quantitäten fast auf die Kirchersche Un-
sicherheit zurück.

Chor in Str. i ohne Begleitung

i Xpu-ci£ - ol (pöp-(i.iy5, 'A-7t6X-Xw-vo? xal l - ore - Xo-xa- [i.wv


i p - x^S ol - Co - vfiiv. xe - Xai - vw-uiv S'l - 7tl ot vs-<p£ - Xav

2a
i oiv
¿y -
- 8i -
x6 -
xov
Xoh
Mot - oäv
xpa - ilf
xxi - a -
yXe - tpi -
vov,
pcov

2b
iSu; & - xoti - ei fiiv ß« - ai? dcy - Xa - t - a<; dp - yßc
& - 86 xXdc - la - Tpov xaT- £ - ^eu - a?" 6 xvwa-awv

Chor zur Kithara


/r» /»\

£
rot - &ov - Tai 8'ä - oi - 8ol ade - jxa - oiv,
uy - p6v v « - tov al - to - psi tc - alq

4a
i a - Y?) - oi - ^6-ptov 6 - « 6 - xav upo - oi - (ii - o>v
jbi - Ttai - oi x a - T a o - %(> - (jle - vo?. xal yap ßi - a-

4b
i ¿(1 - ßo - Xi?
T<kc " A - p7]?,
Teü - x w
rpa -
4 - Xs - Xi - Co -
- av & - vsu - Öe
- va*
Xi - mov

xal t6v a l x - jxoe - Tav x s - pau - viv oßev - vü - eu;


¿Y - X ' " ¿ t " F&v, l - ai - vei xap - 8i - av
[31133] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht 419

Es bleibt keine andere Möglichkeit, als jede echte Brevis mit einer
Viertelnote, jede echte Longa mit einer Halben zu notieren. (Natürlich
bliebe es unbenommen, statt dessen Viertel und Achtel zu setzen.) Denn
gewiß gehört Pindar nicht zu den Späteren, auf die man des Dionys von
Halikarnaß Tadel beziehen muß, daß sie nicht nach den Silbenwerten die
Dauer der Töne bemessen, sondern umgekehrt: oü yäg taig ouXXaßcng
öuieuiKivovai toi>s XQ°vovs, aXXa 1015 xeövoig Tag cruXXaßäg (De comp. verb.
c. i r , p. 43 U-R). Hingegen ist, wie gesagt, nicht sicher, ob der Zeitwert
einer beschwerten Anceps dem einer echten Longa gleich ist, ob also z. B.
der Epitrit J J J J oder nicht vielmehr etwa J J J J , gemessen werden
muß58. Wir haben uns hier für das zweite, weniger einfache entschieden,
weil so das Gefüge deutlicher herauskommt. Wer will, mag aber J. durch
J ersetzen.
Hier und da möchte man die Längen über den Umfang von 2 XQÖvoi
dehnen: am Ende der Zeilen und in den Spondeen die anscheinend für
einen Epitrit stehen, also vermutlich den Umfang eines ajiovöeiog m-ei^cov
haben. Ob man diese länger ausgehaltenen Töne mit '/* oder V1 Noten
wiedergeben oder mit Fermatenzeichen versehen soll, ist vielleicht nicht
sehr wichtig und jedenfalls nicht sicher zu entscheiden. Der Diditer-
Didaskalos lehrte seinen Chor einen bestimmten Vortrag auch in solchen
Dingen. Aber spätere Aufführungen waren darin und gewiß in manchen
andern Dingen frei. |

§ 7. Wortsinn und Melodie

Die Prüfung der Melodie hat gewisse Zusammenhänge mit dem Wort-
sinn ahnen lassen, dergleichen wir fordern müssen besonders auf Grund
der antiken Ethoslehre59. Rhythmen und Melodien, sagt Aristoteles in
der Politik (1340 a 18), enthalten Abbildungen | von Zorn und Sanft-
mut, von Mannheit und Maß und dem Entgegengesetzten (d. i. Feigheit
und Zuchtlosigkeit) und weiter von den übrigen ethischen Tatbeständen
(twv aXXwv fi^wcav). Das ist eine Lehre, die letztlich auf Dämon zurück-
geht, also noch in Pindars eigene Zeit. Wenn nun nach den aristotelischen
Problemen (919 b 26 ff.) schon das Melos für sich allein, ohne die Ver-
bindung mit dem Wort, Ethos hat, ein Ethos das sich in den Rhythmen
und in der Ordnung der hohen und tiefen Töne ausdrückt, so müssen sich
in einem pindarischen Werk das Ethos des dichterischen Worts und das
Ethos der Melodie entsprochen haben, vielmehr sie müssen zuletzt eins
gewesen sein. Denn sie sind — griechisch gedacht - beide gemeinsam

58 Vgl. zuletzt P. Maas, Griechische Metrik (Einl. in die Altertumswissenschaft, Bd. I,


Heft 7) § 51.
59 Vgl. H. Abert, Lehre vom Ethos (1899), E. Frank, Plato und die sog. Pythagoreer 338.
420 Musik und Metrik [33134]

Mimesis, oder nachbildende Darstellung, derselben ethischen Wirklich-


keit.
Wenn man etwas sucht, wovon man schon von vornherein weiß, daß
es gefunden werden muß, so ist die Gefahr willkürlichen Hineindeutens
nicht klein. Ob Höhe und Tiefe, Aufstieg und Abstieg, Intervalle und
Kadenzen von uns in demselben Sinne gehört werden wie von den Grie-
chen, ist mehr als zweifelhaft. Aber wenn man sich danach hüten wird,
dem einzelnen melodischen Element sogleich ein eindeutiges Ethos zuzu-
sprechen, so muß man um so mehr das Verhältnis der Elemente zuein-
ander betrachten und es vergleichen mit dem Sinngehalt der Worte und
ihren gegenseitigen Beziehungen. Um an eine frühere Beobachtung zu
erinnern, die im folgenden wird nachzuprüfen sein: Die griechische Musik
hat melodisch den Zug von oben nach unten60. Die Pindarmelodie hat
diesen Zug stärker als irgendeine der anderen erhaltenen griechischen Me-
lodien, so daß man sie schon darum für die älteste halten möchte. Um so
auffälliger und also, wie wir annehmen dürfen, ethisch besonders bedeut-
sam, wenn dem allgemeinen Abstieg sich die aufsteigende Bewegung ent-
gegensetzt. Wir fanden solchen Aufstieg am entschiedensten in den
Wörtern Moicräv, doiöoi, d|xßo\dg, aixfiatdv der ersten Strophe. Von ihnen
gehören die drei ersten dem Bezirk der Musik an; d|ißoXdg im besondern
enthält in seiner immer vernehmbaren Urbedeutung einen „Wurf" und ein
„Empor", ist also besonders kraftgeladen, und von verwandter Art ist
aixuatdv „Speerwerfer" als Bildwort für den Blitz.
Aber was man in der ersten Strophe zu beobachten meint, wird sich
erst in den neun anderen zu bewähren haben. Denn wenn man | dem
Pindar auch nicht zutrauen wird, daß er seine Melodie unverändert starr
zehnmal wiederholt hätte, im wesentlichen muß sie doch durch alle
metrisch gleichen Systeme die gleiche geblieben sein. Dabei ist es von
vornherein undenkbar, daß melodische Linie und Wortsinn sich in allen
Strophen überall gleich dicht ineinanderfügen werden. Es ist sehr möglich,
daß die erste Strophe einen Vorrang vor den übrigen hat, aber es ist auch
möglich, daß gewisse Züge der Melodie erst in späteren Strophen die ge-
mäßesten Worte gleichsam wecken. Denn irgend so etwas wie ein Eidos
von Strophe steht vor dem Dichter, das zehnmal in Melodie, Wort und
Tanzbewegung zu verwirklichen war.
Z e i l e i. Dreimal das absteigende obere Tetrachord, das erstemal
mit Verdoppelung des Anfangstones, das drittemal mit Erweiterung am
Schluß, in der Mitte der schlichte Vierklang. Mit dieser melodischen Glie-
derung geht zusammen die Dreigliederung der Worte in fast allen zehn
Strophen.
Str. i XQvaea (popiiiyi 'AjiöXXcuvog xai io^Xoxd|xüJv
Ant. i dqxo? olcovcöv, xe/.cavojitiv ö'em oi vecpeÄav

so V g l . z. B. Riemann, Musiklexikon ( j . Aufl.) 421. Abert, Sdiriften 7.


[34135] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht 421

Str. 2 Tag EQEir/ovTai (.lèv àjtXà-rov jtugòg ayvotatai


Ant. 2 olov Aitvag èv61 HEXAJWPIJXXOIG òiòexai xoQucpaig
Str. 4 TOH nóXiv v.EÌvav öf,o8|iatff>i aiiv ¿Xsudepiai
Ant. 4 Zev TEXEI' atei 8È toiatixav 'Afiiva naq' vöcop
Ant. 5 EI TI xai cpXaigov jtaQaiftiiaaEi ueya TOI cpÉQETai
In Str. 3 (v. 4 1 ) überbrückt das schwere Wort ¡iay,avai die sonst ein-
gehaltene Grenze zwischen den beiden ersten Kommata. Abweichend,
aber unter sich gleichartig, sind Ant. 3 (v. 4 7 ) und Str. 5 (v. 81):
f| XEV d|xvotaeiEv oiaig EV jioA£p.oiai H.&xal?
xaiQov E I ( P Ö E Y L A I O iroXXwv jieiQaxa ouvtawaaig
Das absteigende dorische Tetrachord — in Str. 1 nur gesungen, nicht
auch gespielt - drückt aus, vielmehr i s t einfachste melodische Gesetzlich-
keit, dreimal wiederholt, d. h. eingeprägt, so wie sie sich auf dem Instru-
ment in der Abfolge seiner Saiten unmittelbar darstellte. Dieser melodi-
schen Dreiheit entspricht in den Worten der Str. 1 die Dreiheit: goldnes
Saitenspiel (a), Apollon (b), veilchenlockige (Musen) (c). |
In Ant. 1 senkt sich mit derselben Gesetzmäßigkeit auf den König der
Vögel (a) die dunkelgesichtige (b) Wolke herab (c).
In Str. 2 ergießen sich (a) des unnahhbaren (b) Feuers allerreinste (c)
Quellen unwiderstehlich herab.
In Ant. 2 steht der Aetna (a) mit seinem schwarzwaldigen (b) Gipfel
(c) unerschütterlich da, und fest ist unter ihm das Untier gebunden, der
Feind aller Weltordnung und also auch der Musik 62 .
In Str. 3 das allgemeine Gesetz: von den Göttern (a) kommen alle
Mittel und Wege (b) den Menschenkräften (c) 63 .
In Str. 4 steht die Stadt (a) da mit ihrer gottgegründeten (b) Freiheit
(c), und man denkt daran, daß Pindar wie später Plato - beide von der
griechischen Sprache geführt 64 - das Gesetz des Staates und das Gesätze
der Musik ineinander abbilden.
In Ant. 4 der Anruf an Zeus, den Gründer und Bewahrer alles Ge-
setzes: Zeus Vollender soll immer (a) ein solches (b) - nämlich gesetzes-
strenges Dasein - an ihrem Strome (c) der Stadt verleihen.
In Str. 5 steht am Anfang der xaigög des Redens (a), in welchem viele
(b) Ziele zusammengespannt (c) sind.
In Ant. 5 die Notwendigkeit, mit der ein geringes Wort (a), das wie
ein Funke versprüht (b), zum großen Worte (c) wird, wenn es Fürsten-
wort ist.
61
Diese Gliederung ist gewiß nicht sicher, und man wird geneigt sein das EV als prokli-
tisch zum Folgenden zu ziehen. Aber vielleicht ist die Selbständigkeit des noch nicht
ganz „Präposition" gewordenen EV gerade pindarisch.
« V g l . p . Friedländer, Piaton I I I 2 3 3 .
63
Gekünstelt wäre es, wollte man das „ H e r a b " betonen, das nicht ausgedrückt ist.
64
S. A n m . 4.
422 Musik und Metrik [35j36]

Z e i l e 2 a. In Str. i hebt Moiaäv sich zwischen den beiden umgeben-


den Worten heraus, indem es - zumal mit der letzten Silbe von awöixov
und der ersten von xtecivov verbunden — Träger jener ersten einpräg-
samen Aufwärtsbewegung wird. Dementsprechend ist das führende Wort
in
Ant. i xgaxi, das Haupt des Adlers
Str. i nayax, die Quellen der Feuerströme
Ant. 2 oTQto(.iva, das Lager des Riesen
Ant. 3 i|n)xäi, Die Seele des Königs
Str. 4 crtaftnag, das Gesetz der Stadt
Str. 5 neicov, der den Sinn bestimmende Komparativ
Ant. j JtoUüv, die Machtfülle bezeichnend.
Nur Str. 3 und Ant. 4 weichen in der Wortgliederung ab. Immerhin ist
in Str. 3 mit xat /spai der Ubergang von dem Wissenden zu den Arm-
gewaltigen gemacht, in Ant. 4 steigt es von den Bürgern zu den Königen
auf. |
Z e i l e 2 b. Wenn melodisch zuerst das absteigende Tetrachord von
Zeile 1, dann noch einmal dessen drei untere Töne sich wiederholen, so
sprechen die Worte von Str. 1 genau dieses aus: es gehorcht der Schritt
den Klängen der Leier.
Ant. 1: der Augen süßer Verschluß, das Herabgießen des Schlafes - die
Unwiderstehlichkeit des Herab wie in Zeile 1.
Str. 2: an den Tagen gießen sie hervor - wieder die Unwiderstehlichkeit
des Herabströmens. vMxb/mac, steht an derselben Stelle wie kqo-/eovti in
Ant. 1.
Ant. 2: den ganzen Rücken entlang, ohne irgend etwas auszulassen, geht
die Peinigung.
Str. 3: die Sprachgewalt der Menschen, daß sie jtEQiyXajoaoi x' ecpw, kommt
exftewvund wird deshalb in dieselben Töne gefaßt.
Str. 4: ev •vo^oig extiooe drückt eben jene Gesetzlichkeit aus wie Zeile 1
derselben Strophe.
Ant. 4: öiaxpivEiv und eto(xos sind Worte desselben Bezirks von Wahrheit
und Richtigkeit.
Str. 5: War der M-wM-og ävfrpwjtcov durch das vorhergehende [xeicov so sehr
ins Gegenteil verwandelt, daß er darum an derselben Stelle steht, wo in
Str. 4 die Wahrheit stand?
Ant. 5: Die vielen Zeugen, die für das Sein (¿oai) des Fürsten eintreten,
passen zu den entsprechenden Worten in Ant. 4 und Str. 5.
Der Schluß von Zeile 2 b gibt in den beiden Worten aylatag ägya von
Str. 1 die bewegliche Phrasierung von „Festglanz" und die einfache
Schwere von „Anfang". Dem entspricht in
Ant 1: das „Gießen" und der
„Schlummer" •narixzvag 6 öe xvtoaacov
[36137] Echtheit der Melodie z u P i n d a r s Erstem Pythischen Gedicht 423

Str. z: das „Gießen" des Stromes


und der „Rauch" K Q o x e o v t l QOOV XCtJlVOl)
Ant. 2: das „Gegenlehnen" und
das „Stacheln" JtOTlXExXl(XÉVOV XEVTEÌ
Ant. 3: die „Hände der Götter"
und die „Ehre" fteajv jtaXanaig Ti|iäv
Ant. 4 die „Rede" und die
„Menschen" ETDfXOV Àóyov CtVÜQCÜJtCÜV |
Str. j : der „Überdruß", welcher
„stumpft" àitò yàg xÓQog ä|xßXi)V£i
Ant. 5: „beide" „treu" dfiqpoTÉgoig jtiatoi

Z e i l e 3. Melodisch dreigegliedert: die Festigkeit in der Wieder-


holung der beiden ersten Töne - der starke Aufstieg - der Abstieg durch
das obere Tetrachord.

Str. 1 :t£t'dovTai ö'aoiöoi aàjxaaiv


Ant. 1 XIYQÒV VWTOV aicoQei TEalg
Str. 2 aldcov' ä k \ ' EY ö g c p v a i a i v jiéipag
Ant. 2 8LT| ZEÜ TÌV EIT| avöavEiv
Str. 3 aivriaai (j.Evoivùv i/.jraucu
Ant. 3 oiav oütig 'EXXavcov ÖQEJtEl
Str. 4 x a ì [xàv ,H(jaxXEiÖäv Exyovoi
Ant. 4 OVV TOI65 x i v y.Ev a v a r i e àvr)Q
Str. 5 alavr)5 tor/EÌag ¿Xjuöag
Ant. 5 EvavdEi 5'Èv ògyài jtaQfiévcuv

Die Festigkeit des Anfangs empfindet man besonders in Str. x (der Ge-
horsam), Ant. 2 (so soll es sein), Ant. 3 (so und nicht anders), Str. 4 (und
fürwahr) und wohl auch in den beiden schweren dreisilbigen Adjektiven
des fünften Strophenpaares. Der K r a f t des Emporstiegs in der Zeilen-
mitte scheinen außer dem Musikwort der Str. 1 besonders zu entsprechen
das Erheben des Rückens in Ant. 1 und der lebhaft wiederholte Wunsch in
Ant. 2. Ferner die Wörter des Strebens in Str. 3 und Ant. 5, aber auch
der Führer in Ant. 4. Stark betont sind oürig 'EXW|vcov in Ant. 3 und
'Hpcodfiiöäv in Str. 4. Den Abstieg des Schlusses nach solchem Emporstieg
meint man besonders zu empfinden in Ant. 2 (das fügsame d v S a v E i v ) , Str. 3
(IXitonai), Str. 5 (EXjuöag). Wohl auch in Ant. 5 (itagnivcov) und vielleicht in
Str. 4 (exvovos).
Z e i l e 4 a wird zum größten Teil eingenommen von dem langen
daktylischen Glied, das in ununterbrochenen Stufenschritten von e' bis g
hinabsinkt. Dieser musikalischen Figur entsprechen auf besonders große
Art
Ant. 1: putaiai xatacrxonEvog vom Sturm der Töne erfaßt
65 S. A n m . 3.
424 Musik und Metrik [37/39]

Str. 2: qpoiviaaa xuXivöo(j.Eva das rote herab sich wälzende Feuer


Ant. 2: og TOÜT' EcpgjtELg ÖQ05 der den Berg (von der Höhe) beherrschende
Zeus |
Str. 3: m-t) xodxojiäQcuov äxovt(a) der erzwangige Speer wird geschleudert
Str. 4 : öxfraig i5reo TaüyeTOv das dauernde Wohnen am Fuß des Gebirgs
Ant. 4: v t ü i T ' EJCITEXX6(J.EVO5 der Vater, der seinem Sohn befiehlt, so wie
Zeus (in Ant. 2) herrscht. Danach versteht man vielleicht die entsprechende
Figur in Str. 1, die schwieriger nachzuempfinden ist: das Vorspiel der
Leier führt den Chor in einer Gesetzlichkeit, die sich nie vom Wege ent-
fernt. Größeren Zwang würde es wohl kosten, wenn man in den ent-
sprechenden Worten von Ant. 3, Str. 5 und Ant. 4 etwas Verwandtes
vernehmen wollte.
Z e i l e 4 b wird bestimmt durch die Heftigkeit des ersten aufsteigen-
den Wortes und durch die bewegte Linie des schließenden daktylischen
Langgliedes. In Str. 1 ist aixßoXäg und im Gegensatz dazu eXgXi^o^iva
schon ausgedeutet worden.
Ant. 1: die Gewalt des Kriegsgottes am Anfang
Str. 2: die Heftigkeit in (ßaftEi)av cpEQsi und besonders prachtvoll, auch
durch die Lautmalerei, in itövxou nXaxa am itaTayMi das Getöse des
Lavastromes, der die Meeresfläche erreicht
Ant. 2 : die Mächtigkeit und Höhe des Berghauptes in (yai)ag HETCO(JIOV)
Str. 3: die Heftigkeit des Wurfes in (aym)\oc, ßaXsiv (vgl. d^ßoXr) und
(pEQEi), dann die schwingende Bewegung des speerschleudernden Armes
i n E|CO jtodd|ICH ÖOVECOV
Str. 5: der Superlativ (ßagti)vei ¡xdXiax(a).
Anderes ist weniger nachzuempfinden oder gar nicht. Man wird sich hüten
in Ant. 3 Täv $iXoxxr]xao Öixav EcpEitcov auf den unsicheren Tritt des kranken
Helden zu deuten, wenn Str. 4 mit TE-ÖHOIOIV EV Aiyin-ioC vielmehr auf die
Festigkeit der Gesetze gedeutet werden müßte.
Z e i l e j wird vor allem bestimmt durch den starken Aufstieg nach
anfänglichem Abstieg. Die Ähnlichkeit mit dem Anfang von Zeile 2 a
ist groß, nur ist in 5 die Dynamik durch den Quartensprung so viel
stärker. Zumeist ist Worteinschnitt nach der ersten Länge des zweiten
Epitrits, ebenda gipfelt die melodische Bewegung in e . Die zweite Zeilen-
hälfte sinkt ab. |

Str. 1 x a l TÖV AIX^OITCIV xEQawöv oßevwEig


Ant. 1 EYXECÖVäx|xav iaivEi x a g ö i a v
Ant. 2 XXEIVÖS oixiatr)9 EXtlÖaVEV JTOXLV

Str. 3 [XAXQA ÖE QUPAIG a\ievaaoft' ävxioug


Str. 4 ACOQIEI;, ECTXOV ö' 'AfnixXag öXßioi
Ant. 4 Xiaao|xai VEÜCTOV Koovküv a|XEQov
Str. 5 ä X X ' 0|IA>5' XQEOOCOV YAq oixxiQUoC qpdovog
Ant. 5 E | I E I Ö' waneQ xußEQvaxag AVR)Q
[39j40] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht 425

In Str. 2 verschiebt sich der Einschnitt um eine Silbe unter dem Zwang
des Eigennamens xeïvo ô' 'Aqpaiatoio xqouvoùç eqxexôv. Abweichend folgen
in Ant. 3 die Einschnitte den Metren.
Den starken Aufstieg legt Str. i in das bildhaft mächtige Wort aixfia-
xav, in der zweiten Zeilenhälfte erlischt der Blitz. Ant. i : im Aufstieg „der
Lanzen Schärfe", im Abstieg „erfreut (erweicht, erwärmt) das Herz". Die
Stelle des stärksten Aufstiegs nimmt ferner ein in Str. 2 Hephaistos, in
Ant. 2 der Gründer, in Str. 3 die weite Wurfbewegung, in Str. 4 die Dorer
und ihr Erobern, in Ant. 4 die Bitte an Zeus „nicke, gewähre" (wobei
man an das mächtige Nicken des Zeus in der Ilias A 528 denken muß). In
Str. 5 ist der Komparativ "/QÉaacov so bestimmend wie in Zeile 2 a der-
selben Strophe (xeîcov. —
Wie oft mit diesem Versuch, im Melos den Gehalt der Worte auf-
zufinden, die Grenze des noch Erkennbaren berührt wurde, vielleicht auch
überschritten wurde, braucht nicht erst gesagt zu werden. An der Not-
wendigkeit des Versuchs wird man darum nicht zweifeln. Und nun läßt
sich das, was sich hier im einzelnen zeigte, auch im großen zeigen.
Daß der Anfang des Hymnus in Gesangnoten, der spätere Teil in
Instrumentalnoten notiert ist, hat Anstoß erregt66. Inzwischen sind die
delphischen Hymnen gefunden worden, von denen der eine mit Vokal-
noten, der andere mit Instrumentalnoten gesetzt ist. Der Euripides-
papyrus ist gefunden worden, der über dem Text Vokalnoten, zwischen
den einzelnen Kommata des Textes anscheinend Instrumentalnoten hat67.
Zuletzt hat der Berliner Notenpapyrus über den Texten Vokalnoten, am
Schlüsse der Texte Instrumentalnoten gebracht68. Das sind in drei Funden
drei verschiedene Verwendungen der beiden Notensysteme. Bei Kircher
steht die vierte69. Vielleicht werden noch andere Verbindungen zutage
kommen. |
Das angebliche Unechtheitsargument fällt aber nicht nur als beweis-
unkräftig hin, es verwandelt sich ins Gegenteil, sobald man erkennt, daß
Kircher die Uberlieferung, die er gibt, gar nicht verstanden hat.
66
F ü r Westphal, Griechische Metrik, 2. Aufl. 1 8 6 8 , 624 das einzige Argument, das ihm
gegen die Echtheit zu sprechen schien. J a n , Musici Graeci, 1 8 9 5 , 4 2 6 hat das übernom-
men, hat es dann mit dem Hinweis auf die delphischen H y m n e n selbst widerlegt - um
es im Supplementum ( 1 8 9 9 ) wieder aufzuführen. D a ß in dieser zugänglichsten S a m m -
lung der Melodiarum Reliquiae Pindar fehlt, hat vielleicht mehr als vieles andere die
herrschende Meinung bestimmt. In einer künftigen Sammlung (die sehr anders aus-
sehen müßte!) w i r d Pindar als frühstes und wichtigstes Monument der griechischen
Musik an der Spitze stehen.
67
V g l . O . Crusius, Die delphischen H y m n e n , 1 8 9 4 , 1 4 7 f ï . H . Weil, Etudes de littérature
et de rhythmique grecques ( 1 9 0 2 ) 1 6 0 ff.
68
Schubart, E i n griechischer Papyrus mit Musiknoten S B Berl. 1 9 1 8 , 7 6 3 ff. Abert, Ges.
Sdir. 59 ff. Wagner, D e r Berliner Notenpapyrus, Philologus N . F . 3 1 , 1 9 2 1 , 2 5 6 ff.
69
Eine ganz absonderliche Deutung des von Kircher mitgeteilten Tatbestandes gibt
Vincent in Notices et Extraits des Manuscrits de la Bibliothèque du R o y X V I 2, 1 8 4 7 ,
1 5 3 ® . : er läßt Instrumental- und Gesangsmelodie gleichzeitig erklingen.
426 Musik und Metrik [40]

Der Einsatz der Instrumentalnoten, auf den die griechische Bemer-


kung xopög eig xitiapav aufmerksam macht, ist nicht beliebig. Er stimmt
zu den Worten des Dichters. Als der Chor 70 die Phorminx ansingt, geht
der Gesang unbegleitet. Als es heißt: „es gehorchen die Sänger den Zei-
chen", setzt die Phorminx ein. Ihren Zeichen gehorchen nun ganz wirklich
die gesungenen Worte. Jedem, dem der Dichtertext lebendig ist, ist der
musikalische Tatbestand durchsichtig. Dem Kircher war der Text nicht
lebendig, und so hat er den Tatbestand mißdeutet: Vides in hoc specimine
duos cboros, unum vocalem, quo vox praecedens canonem recitat iuxta
notas verbis singulis superscriptas; hunc sequitur Chorus alter, qui non
erat aliud quam Cytharoedus vel Auloedus priori dvtiaTQotpog, qui secundü
stropham instrumenta exhibebat (gemeint war wohl secundam stropham).
Kircher hält also i . den Chor für eine Einzelperson - man denke an den
Chorus bei Shakespeare - , denn er setzt den „zweiten Chor" mit dem
Kitharoden oder Auloden gleich, z. Er setzt zwei „Chöre" an. 3. Er setzt
eine Antistrophik zwischen diesen beiden Chören an 71 . Kircher hat also
den eigentlichen Sinn des Notenwechsels und der Bemerkung xopog eis
xiMpav nicht verstanden, weil er zu einer Interpretation der Pindarworte
nicht befähigt war 72 . Und er hat sich aus dieser mißverstandenen Uber-
lieferung ein phantastisches Bild der musikalischen Vorgänge zurecht-
gemacht. Eine Uberlieferung aber, die man so mißversteht, kann man nicht
erfunden haben 73 .
Für uns aber verbindet sich die Interpretation des pindarischen Wortes
mit der musikalischen Uberlieferung, die wir (vorläufig) allein dem
Kircher verdanken, zu einer Einheit. Und diese Einheit ist doch wohl
nichts anderes als die ursprüngliche Einheit des pindarischen Gesamt-
kunstwerks 74 . |
70
oder der Chorführer: so meint Boeckh a. O- 267.
71
A . Rome hat in dem oben zitierten Aufsatz in Les Etudes Classiques I, 1932, 9 darauf
aufmerksam gemacht, daß Kircher zwischen dem, was er die Strophe und was er die
Antistrophe nennt, eine Gleichheit der %QÖv01 jtqcütoi herstellt (je 108). Kircher er-
reicht das durch eine vollkommen willkürliche Behandlung der Quantitäten.
72
Vgl. E . G r a f , De Graecorum veterum re musica, Marburg 1 8 8 9 , 4 9 : atque omnino
illud totus locus ostendere mihi videtur ab ipso Kirchero neque modos ipsos neque
miram istam utroque notarum genere alternis utendi rationem profectam esse; etenim
ambigua et quasi fluctuante oratione utitur, ut qui difficultatem nequeat expedire,
nolit autem hoc confiteri. (Das letzte ist nicht ganz treffend.)
73
Boeckh a. O. 258, 267 hat in dem Einsatz mit unbegleiteter Musik, dem späteren Ein-
satz des Instruments einen antiquus usus gesehen und sich auf das Hyporchem des
Pratinas berufen: xav doiöüv xatEOTacev IIiEgl? ßaoiXEiav. 6 ö'aüXög uatEgov
XOQEuexcü- y.ai yäg taö' vjir\Q£xa^. Man könnte auch fragen, ob nicht Pindar Nem. 4
mit unbegleitetem Gesang einsetzte (Molcüv dij^aTOE; äoiöai) und ob nicht erst bei
EvXov'ia <p6op.iYYi oruvdogog die Begleitung dazu trat. Ähnlich wäre es bei Isthm. 2
denkbar. Doch lassen sich solche Möglichkeiten nicht zur Wahrscheinlichkeit erheben.
Gewiß aber wird Bakchylides Frg. 20 B T Q ßäpßixE unbegleitet eingesetzt haben. Be-
gleitung begann etwa mit ögnaivco.
74
N u r in der Anmerkung mache ich auf ein Echtheitsargument aufmerksam, das hierher
[42j43] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht 427

§ 8. Metrum und Melodie

Durch alle Auflagen der Christ-Schmidschen Literaturgeschichte bis


in den Schmid-Stählin hinein zieht sich die Behauptung: die Melodie sei
darum unecht, weil die Melodienschlüsse mit der alten, falschen Vers-
abteilung, nicht mit der echten, von Boeckh wiederhergestellten, in Ein-
klang stünden 75 . Gemeint ist mit diesem Argument wohl Folgendes: Die
Boeckhsche Versabteilung unterscheidet sich von der älteren nur dadurch,
daß sie die früheren Verse 2 und 3 zu dem einen Vers 2, und die früheren
Verse 5 und 6 zu dem einen Vers 4 zusammengezogen hat. Nach xtéavov
in der Mitte von Boeckhs Vers 2 und nach jtoooiuitov in der Mitte von
Boeckhs Vers 4 war vor Boeckhs Ausgabe Versschluß. N u n klingt xtéavov
mit d' c d' ähnlich wie -itXoxâ|.iwv mit h a h, und -oiniœv mit a h a ganz
wie oßevviiEig. Also die Versmitte klingt musikalisch ähnlich oder ebenso
wie der Versschluß. Und da die Versmitte seit Aristophanes von Byzanz
bis auf Boeckh als Versschluß galt, so könne die Melodie nur in dieser Zeit
entstanden sein. Aber dieser Schluß ist falsch. Es ist gar nicht einzusehen,
warum nicht dieselbe Tonbewegung auch außerhalb der Zeilenschlüsse
vorkommen soll. J a , es ist falsch, aus den Boeckhschen Versgliederungen
ein Dogma zu machen. Vielmehr gliedern sich | die Boeckhschen Langzeilen
2 und 4 doch als metrische Gebilde so, daß gerade nach xtéavov und
jipooiiucov ein Metrum sehr fühlbar schließt („Choriambus" und „Cre-
ticus"), und gerade in der ersten Strophe ist an den bezeichneten Stellen
auch in den Worten ein starker Einschnitt, der sich nur nicht in allen
Strophen gleichmäßig durchsetzt. Es ist also daraus, daß diese Stellen
melodisch ebenso geführt sind wie die vollen Kolaschlüsse, irgendein Argu-
ment weder für noch gegen die Echtheit herzuleiten.
Wohl aber führt diese Erörterung auf die Frage nach dem Verhältnis
von Metrik und Melodie überhaupt. So schwierig das Problem ist - schwie-
rig, weil das Musikstück nur so kurz ist und wir bisher gar nichts völlig
Vergleichbares haben - , so kann man doch daran nicht vorbeigehen. Es
scheinen zwischen Metrik und Melodik bestimmte Beziehungen erkenn-
bar. Diese Beziehungen aber mußten f ü r Kircher ganz unfaßbar sein, da
er - das zeigen seine willkürlichen Quantitäten 76 - von der pindarischen
Metrik nichts ahnte.

gehören würde, wenn die Voraussetzung sich v o r dem Urteil der Musiktheoretiker be-
währen sollte. Westphal hat behauptet (a. O . 6 3 2 f.), daß die Tonlage der Melodie un-
gewöhnlich hodi sei. E r hat aber zugleich gesehen, daß dieser Tatbestand vorzüglich
zur Interpretation des Textes stimmt: Pythien I muß nach den Worten xoivavtav
HaXdaxàv icaiôœv ô a g o a i ôéxovxai ( V 97 f.) allerdings für einen Knabenchor be-
stimmt gewesen sein. S o auch O . Schroeder, A p p e n d i x zur Editio maior, 1 9 2 3 , 5 1 4 .
75
Christ berief sich dabei auf die Wahrnehmungen seines Schülers Röckl : z. B. 4. A u f -
lage 1 8 2 A n m . 7. Hoffentlich verschwindet diese Anmerkung endlich aus einer künfti-
gen A u f l a g e des Schmid-Stählin.
76
A . Rome sagt von diesen: „il a distribué les longuel et les brèves dans une mesure en
428 Musik und Metrik [43/44]

In den „daktylischen" Langgliedern - nenne man sie daktylischen


Trimeter, Hemiepes, Enhoplier - werden die Doppelkürzen melodisch so
behandelt, daß man spürt: diese melodische Linie paßt vollständig zu
dieser Metrik 77 . Es gibt in dem erhaltenen Stück die folgenden vier Bei-
spiele, bei denen wir die Doppelkürzen je durch einen Bogen verbinden.
i. -vog xai l-ojt-Xo-xa-jxcov
h e' d' c' h a h

2. jiev ßü-aig ay-Xa-t-ag


d' c h c d' d' a

3. d-vri-ai-xo-gcov o-jto-xav
e d c c h a a g

4- -XT11'5 E-Xs-Xi-^o-ni-va
h c c h a h g

1. und 3. sind darin verwandt, daß die melodische Bewegung von e' bis a
oder g in Sekundenschritten abwärts geht. Innerhalb dieser Gleichartig-
keit sind in der Behandlung der Doppelkürzen 1. und 3. deutlich Gegen-
sätze: In 1. wird in den beiden Doppelkürzen je ein (großer) Sekunden-
schritt abwärts gemacht (e' d' h a). In 3. wird in | beiden Doppel-
kürzen je derselbe Ton wiederholt (c' c a a). Diese beiden grund-
sätzlichen Arten, die Doppelkürzen zu behandeln, sind in Beispiel 2.
gleichsam gekreuzt: das erste Doppelkürzenpaar steigt in einem (kleinen)
Sekundenschritt abwärts (c' h), das zweite bleibt auf dem gleichen

Ton (d' d'). In Beispiel 4. ist wieder ein anderes und doch im Grunde
sehr verwandtes Verfahren: das erste Kürzenpaar bleibt auf dem glei-
chen Ton, während das zweite einen Ganzton nun nicht hinab- sondern
hinaufsteigt. Gemeinsam ist in allen Fällen dies: Den metrischen Doppel-
kürzen entsprechen in der Melodie entweder Sekundenschritte abwärts,
seltener aufwärts (abwärts: aufwärts = 3 : 1 entsprechend dem all-
gemeinen Zug der Melodie). Oder aber es liegt auf ihnen derselbe zwei-
mal wiederholte Ton. Unverkennbar also spiegelt sich die Zusammen-
gehörigkeit der metrischen Doppelkürzen in ihrer melodischen Bindung,
die ersichtlich nicht zustande käme, wenn innerhalb des Kürzenpaares ein
größerer Sprung abwärts oder aufwärts geschähe.

C barré, suivant une loi qui m'échappe." A b e r es ist anscheinend kein Gesetz darin,
und Kircher hat mit seiner Willkür erreicht, was er wollte: er hat die scheinbare
Gleichheit dessen hergestellt, w a s er Strophe und Gegenstrophe nennt. V g l . oben S. 40.
77
H i e r ist Boeckh mit einer Beobachtung vorangegangen. S. oben S. 4 1 4 A n m . 52.
[44 ¡45] Echtheit der M e l o d i e zu P i n d a r s E r s t e m Pythischen G e d i c h t 429

Aber darüber hinaus hat man den Eindruck, als ob das „daktylische"
Langglied als solches melodisch zusammengehalten wird, besonders deut-
lich in Zeile 4 a, w o ayr\aiyoQ(S)v önbrav in ungebrochener Linie, nur mit den
Doppelkürzen auf demselben T o n verweilend, v o n e' zu g hinabsteigt.
Ferner ist über die Cäsuren, besonders in den epitritischen Gliedern,
einiges Wichtige zu beobachten. Schon früher (S. 413) wurde gezeigt, daß
Zeile 1 melodisch aus drei Figuren besteht; daß diese Figuren sich der
Wortgliederung anpassen, die in den meisten Strophen die gleiche ist
(S. 420 f.); daß diese zugleich sprachliche und melodische Gliederung von
der metrischen abweicht; daß aber diese Abweichung eine Regel erkennen
läßt: gegenüber den metrischen Gliederungsstellen sind die sprachlich-
melodischen je um eine Silbe verschoben. Es scheinen also „Diäresen" ver-
mieden und „Cäsuren" erstrebt zu sein.

metrisch —^ |—^
sprachlich-melodisch —^ /w w w —
Ähnliches ist nodi an anderen Stellen zu beobachten.
Zeile 2 a gliedert sich metrisch —w 1— —
sprachlich-melodisch — / /ww —

(vgl. S. 413 und 421). N u r in zwei Strophen unter zehn weicht die sprach-
liche Gliederung etwas ab: Str. 3 V . 42 xai aocpoi xai /egal ßia(xai) hat den
zweiten Einschnitt hinter der sechsten statt hinter der fünften Silbe.
Str. 4 V . 68 alaav datoig xal ßaailEÜ(aiv) hat die sonst vermiedene Diärese.

Zeile 3 (vgl. S. 26 und 37) gliedert sich


metrisch 1—^ | — —
sprachlich-melodisch / — w — fünfmal,
daneben
(melodisch weniger ansprechend /—w viermal 78 .
N u r einmal sind beide Diäresen zugelassen xai ¡xdv 'Hgax?,£iöäv exyovoi,
und das rechtfertigt der Eigenname.

Zeile 4 b:
metrisch —w [—
sprachlich-melodisch —w — / viermal
oder
(melodisch weniger ansprechend) — / ^ / w — w w fünfmal.
Einmal ( V . 50) beim Eigennamen — ^ w/w — w w —
78 V . 29 ist zu gliedern u n d z u i n t e r p u n g i e r e n
Eir) Zev, t i v eir) &v5öiveiv,
eher als eir], Zeü t i v eir) avödvEiv,
auch g e m ä ß d e m , w a s nach W a c k e r n a g e l , I d g . Forsch. I, 1892, 424 H . F r a n k e l , D e r
K a l l i m a c h i s c h e u n d der H o m e r i s c h e H e x a m e t e r , N G G 1926, 19 über die E n k l i s e des
Vokativs gesagt hat.
430 Musik und Metrik (45¡46]

Zeile 5 (vgl. S. 413 und 422):


metrisch —^ 1—w ] —w—
sprachlich-melodisch —^

Die erste Hälfte ist sechsmal sprachlich untergegliedert — / ,


wozu die melodische Linie gut paßt. Die zweite Hälfte ist fünfmal in der
Diärese untergegliedert. Man sieht, daß eine Diärese in einem Kolon zu-
gelassen wird, zwei Diäresen nicht. In V . 25 überbrückt der Name
'Hopaicrtoio die Cäsur sowohl nach der dritten wie nach der fünften Silbe.
Diese Beobachtungen lassen sich auf die Regel bringen: Die melodisch-
sprachliche Gliederung verschiebt sidi gegenüber der metrischen um eine
Stelle - seltener um zwei Stellen — nach vorn oder hinten oder nach vorn
und hinten, so daß die Diärese vermieden wird. Hat das Kolon drei
metrische Glieder, so wird wenigstens eine von beiden Diäresen ver-
mieden.
Damit auch die Abweichung von der Regel nicht ganz fehle: in Zeile
2 b würde man die melodische Linie am ungezwungensten in drei Figuren
sich gliedern lassen, entsprechend der metrischen | Gliederung —w—
-|-uu-uu-| . Sieht man aufs Sprachliche, so liegt Wortdiärese
fünfmal hinter — w (Beispiel: aöi) xXaioxgov in Ant. 1). Dazu kommt
zweimal ein Epitrit mit folgendem jxev wie in Str. 1 tag äxofai ¡XEV, w o
man nach den bisher gesammelten Erfahrungen die Cäsur nach |jiv legen
möchte, wenn nicht die melodische Linie — man darf nicht sagen wider-
spräche, aber doch widerriete. Zweimal (in Ant. 3 und Str. 4) liegt die
Diärese nach — w w also noch eine Silbe später als gewöhnlich.
Ant. 5 bringt endlich ein sicheres Beispiel für die Gliederung durch beide
Diäresen eaai' JioW.oi ixagrugec; d|xcpoTEpoig juatoi.
Man wird nicht behaupten können, daß der eine unklare Fall die
mehreren klaren aufwiege, zumal ja dem Leser längst aufgefallen sein
wird, wie die beliebte sprachlich-melodische Gliederung sich eng berührt
mit der „Maasschen Brücke" - die freilich Maas im Bakchylides be-
obachtet und dem Pindar gerade abgesprochen hat: — w — 7 9 . Man
merkt, daß das ganze Problem neu durchgedacht werden muß, und daß
es auf die verlorene Musik ein wenn auch schwaches Licht wirft und
wieder von dort eins empfängt.
Auch die Horazische Gliederung Jam satis terris / nivis atque dirae
bekommt damit vielleicht ein neues Gesicht. Wie, wenn auch sie aus der

Maas, Kolometrie in den Daktyloepitriten des Bakchylides, Philologus 63, 1904,


217 ff. Griechische Metrik (in der Einleitung in die Altertumswissenschaft) § 48. D a z u
B. Snell, Bacchylidis Carmina, ed. 5 p. 25. Ich brauche Kennern nicht zu sagen, d a ß
die metrische Gliederung der Epitrite, wie ich sie oben im Text gegeben habe, eigent-
lich unwissenschaftlich ist, weil sie die Zugehörigkeit des „anceps interpositum" ein-
seitig entscheidet. Aber ich brauche ihnen auch nicht zu sagen, daß diese Verein-
fachung für die vorliegende Frage ganz unschädlich ist.
[46148] Echtheit der Melodie z u Pindars Erstem Pythischen Gedicht 431

lebendigen Musikübung zu verstehen wäre 80 ? G e w i ß , die K l u f t zwischen


XQuasa tpoQuiyi und Horazens schmächtigem Lied an seinen barbitus (I 32)
überbrückt man nicht leicht. Aber man höre mit immer gleichem Einschnitt

O decus Phoebi / ....


grata testudo / . . . .
dulce lenimen / ... .
und dann nodi einmal
XQVOZa QPÖQJUVL / . . . .

und man stelle die pindarischen Langzeilen


Xgvaea cpÖQfiiY^/'AjtoXXwvog/Kai iojtXoxd|xcov
aiivöixov M o i a ä v / xxsavov

neben den sapphischen Elfsilbler des H o r a z


grata testudo / Jovis, o laborum.

Sollte nicht dieser Vergleich einen wenn auch noch so schwachen


Schimmer auf die horazische Musik werfen und sei es auch nur genug, um
klarzumachen, daß es sie gegeben hat? |

§ 9. Wortakzent und Melodie

Die Frage ist nicht zu umgehen, in welchem Verhältnis die melodische


Linie zu den Wortakzenten, anders gesprochen die gesungene Melodie zu
der Wort- und Satzmelodie steht. Wie weit eine Antwort möglich ist,
wird sich zeigen. Bei durchkomponierten Gedichten, wie den delphischen
Hymnen, den Liedern des Mesomedes und Seikilos, liegen die Dinge ein-
facher. Hier trifft bekanntlich der übliche A k z e n t weithin mit einem A u f -
stieg der melodischen Linie zusammen 81 , wenn auch keineswegs so durch-
aus, | daß die gesungene Melodie eine bloße Funktion der Wort- und Satz-
melodie wäre. Eine knappe Ubersicht ist notwendig. Sie wird ausgerichtet
sein auf das Verständnis der Pindarmelodie.
D e l p h i s c h e H y m n e n . In 1,25 trägt die Wortreihe
c d es d es f g as f f g as g
Ae-eX-qji-ai-iv Kacr-xa-Xi-öo? E-OU-ÜÖ-QOU

80 D i e Erörterung über die normalisierten Verseinsdinitte bei H o r a z ist durch P . Maas,


Berl. phil. Woch. 1 9 1 1 , 7 1 0 fi. und R . H e i n z e , Ber. Sachs. Ges. 70, 1918, H e f t 4 auf
die richtige Bahn gebracht worden.
81 V g l . Crusius, Die delphischen H y m n e n 113 ff. Zitiert w i r d im folgenden nach dem
Supplementum der Musici Scriptores ed. Jan. Ein Z i t a t w i e 2, 32 meint: H y m n u s 2
T a k t 32. - D a s v o n J. F. M o u n t f o r d im Journal of Hell. Stud. L I , 1931, 91 ff. v e r -
öffenlichte N e w Fragment of Greek Music in C a i r o ist z u klein, um Aufschlüsse z u
geben
432 Musik und Metrik [48/49]

auf ihren drei akuierten Silben zugleich die melodischen Gipfel, so daß je
vor- und nachher ein tieferer Ton steht. Das ist ein typisches Beispiel für
viele (Typus i). Was die zirkumflektierten Silben anlangt, so ist o f t zwi-
schen ihnen und einer akuierten kein merkbarer Unterschied. Beispiele wie
f f a g b £ b
xlv-xov xai-öct 1,68 und ev-M-gav <J>oi-ßov 2,24 unterscheiden sich anschei-
c c e c e' b e' f' e'
nend nicht von t|-öe Bax-xou 2,94 oder "/.Qv-as-o-xai-xav 2,22. Wir redinen
sie also zu Typus 1. In anderen Fällen drückt sich in der Melodie die
Zweigipfligkeit einer Zirkumflexsilbe derart aus, daß sie höher liegt als
die vorhergehende, und daß innerhalb ihrer sich der Abstieg vollzieht
c d c d es f es
(Typus 2): |xav-Tei-ei-ov <05 El-ei-Xeg 1,80.
Noch nicht weit ab von diesen Typen sind Beispiele, in denen die
Akzentsilbe höher als die vorhergehende liegt, dann aber die Linie auf
f as as g f as as g g g
gleicher Höhe bleibt (Typus 3): 'Aft-fti-öa la-yüv 1,65 at-o-Xov e-Xw-toiv
b cT d' d
1,86 a-^a 5"-a-XE^ 2,76.
Es gibt ferner eine Fülle von Beispielen dafür, daß die akuierte Silbe
nur höher ist als die ihr folgende, während sie sich mit der (oder den)
es es d c
vorhergehenden auf der gleichen Höhe hält (Typus 4): au-vo-nai-n-ov 1,13
g g as as es g g g es f f f des des
XQv-0E-o-x6-|iav 1,18 IlaQ-vaa-ai-öog 1.20 e-ju-vio as-Toa 1,28. Entsprechend
d'd' d' c] as
bei den zirkumflektierten Silben (Typus 5): iva $oi-oi-ßov 1,14. [
Es gibt sogar einige, wenn auch wenige Beispiele dafür, daß die
Akzentsilbe tiefer liegt als die vorhergehende und höher als die folgende
des' c' h h d' des c' h as
(Typus 6): (pE-Q6-jtA.oi-o 1,37 xi-fta-Qig üpi-voi-atv 1,61.
Nicht selten liegt die Akzentsilbe auf derselben Höhe wie beide sie
umgebenden (Typus 7). Dabei scheint es keinen Unterschied zu machen,
ob wir (nach der byzantinischen Regel) einen A k u t oder einen Gravis auf
g

die Silbe setzen. A u d i zirkumflektierte Silben dieser A r t gibt es. ¿qp-E-itcov


g g f f fasas d d d e f e d c c c
jta-yov 1,32 Ea-nög 'A{MK-Öa 1,65 Xi-jkov Ru-vv-iK-av 2,56 ve-ü>v uri-pa 1,47.
N u r dafür scheint es kein sicheres Beispiel zu geben, daß die Akzent-
silbe tiefer liegt als die beiden sie umgebenden: ein solcher Widerspruch
von Gesang- und Sprechmelodie ist in den delphischen Hymnen ver-
mieden.
[49j50] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythisdien Gedicht 433

M e s o m e d e s . Wie stark die Gesangmelodie von der Sprachmelodie


a a a a d' a
bestimmt ist, zeigt etwa der A n f a n g des Helioshymnus xi-o-vo-ßta-cpa-gou
b a g a
jtd-xEg 'A-oüg: die Akzentsilben -cpa- und -na- stehen als Gipfel über den
jeweils umgebenden Silben, die Schlußsilbe -ofig- steigt über die voran-
g c' c' c'
gehende hinauf (Typus i). Aber schon die zweite Zeile po-56-ea-aav
c' a g c' £ c'
05 av-Tv-ya Jtw-Xwv bringt mit fiv- ein Beispiel für den in den delphischen
Hymnen seltenen Fall, daß die Akzentsilbe tiefer liegt als die vorher-
gehende, wenn auch höher als die folgende Silbe (Typus 6). Zeile 3 ent-
spricht mit drei Akzentgipfeln ganz dem Typus 1. Aber Zeile 4 läßt
zwischen drei regelmäßigen Aufwärtsbewegungen die Akzentsilbe von
e' d' £ d' c'
ä-yaX-Xö-fis-vog mit c' zwischen d' und d' herabsinken - ein Widerspruch,
den die delphischen Hymnen nicht kennen. Ähnliche Widersprüche in den
a h h a c h a
beiden Versschlüssen ov-ou-pa-voi und ita-a-yciv (Typus 8). |
Liegt also schon bei durchkomponierten Liedern die Sache durchaus
nicht einfach, so ist bei antistrophischer Dichtung eine durchgängige Bin-
dung der Gesang- an die Sprechmelodie gar nicht möglich, am wenigsten
wenn sich, wie meist bei Pindar, dasselbe Strophenschema sechsmal oder
öfter wiederholt; einem solchen Z w a n g hätte sich kein Dichter gefügt.
Folgt also bei Pindar die melodische Linie durchaus ihrem eigenen Gesetz,
so kann man nur fragen, ob die Wortmelodie überhaupt nichts bedeutet,
oder ob in irgendeiner Weise auf sie Rücksicht genommen wird, und sei
es auch nur derart, daß sehr harte oder sehr zahlreiche Widersprüche ver-
mieden sind, oder schließlich ob es eine (nur zu ahnende) jtaAivxovog aQ|xoviri
zwischen Sprechmelodie und Gesangmelodie gab.
Eine Beobachtung voraus. Die vier Wörter, in denen die melodische
Linie, entgegen dem herrschenden Zug, besonders auffällig in die Höhe
steigt (oben S. 420), haben allesamt den Akzent auf der letzten Silbe, sie
entsprechen also durchaus dem, was die Melodie fordert: V . 2 Moicäv82,
V . 3 aoiöoi, V . 4 dußoXag, V . j alxnaxav. Das ist auffallend. Aber freilich
wird der Wert dieser Beobachtung doch wohl dadurch eingeschränkt, daß
an den entsprechenden Stellen der andern Strophen die Wortakzente
durchaus nicht überall gleichartig sind. A m besten steht es noch mit den
Entsprechungen für Moiaäv: Ant. 1 xeati, Str. 2 Jtayai, Ant. 2 oTQronvd,
Ant. 3 tyuxäi, Ant. 5 vm)Jmv. Bei den drei anderen Wörtern sind die ab-
weichenden Akzente häufiger als die gleichartigen.
82 D a ß zirkumflektierte Silben o f t ganz ebenso behandelt werden wie akuierte, ist oben
S. 48 f. gezeigt worden.
434 Musik und Metrik [50151]

Aber gehen w i r die Akzente der ersten Strophe durch, um sie mit den
delphischen Hymnen und (aushilfsweise) mit Mesomedes zu vergleichen.
Z e i l e i : xgvaèa ist Typus 4, also häufig, cpógniv^ und 'AjtôXXœvoç
sind T y p u s 6, also in Delph. selten, häufiger bei Mes. Bei Pindar muß der
T y p u s wegen der grundsätzlich absteigenden Linie häufig sein, xoà83
ìojtÀoxà^atv ist Typus 8, kommt also in Delph. überhaupt nicht vor, wohl
bei Mes.: erster starker Widerspruch.
Z e i l e 2 a entspricht melodisch an allen drei Akzentstellen dem,
was nach dem Wortakzent zu erwarten ist. am- und v.xé- gehören dem
reinen T y p u s 1 an. Sogar dies, daß die Akutsilbe um eine Sekunde höher
steht als die unmittelbar vorhergehende Zirkumflexsilbe (-aäv xté-), hat
eine Entsprechung in Delph. 1 , 7 2 . |

Z e i l e 2 b: râç T y p u s 1 , àuoûei und ßaoig T y p u s 6, àyXaîaç T y p u s 4,


àçxâ T y p u s 8, also zweiter starker Widerspruch. Vielleicht darf erwähnt
werden, daß Mesomedes in Jiayäv, also gleichfalls einem spondeischen
Wort, einen ganz ähnlichen Widerspruch und gleichfalls am Zeilenschluß
hat.
Z e i l e 3: JtEifrovTai ist Typus 3, wenn man die erste Silbe als A u f -
stieg über der Schlußsilbe von Zeile 2 b gelten läßt, jedenfalls der höchste
Punkt dieser melodischen Figur, àoiôoi reiner T y p u s 1 , aâ^aaiv T y p u s 6.
Zeile 4 a: àyricnxópùjv óitótav zweimal Typus 4, jijjooiixicov Typus 1 .
Z e i l e 4 b: aiißoXdg und êXeXiÇonéva T y p u s 1 , teîixtiiç Typus 8 : dritter
starker Widerspruch.
Zeile y. xai tòv aixi^atav und crßEvvuEig T y p u s 1, xEpauvóv Typus 6M.

Typus 1 ist stärkste Übereinstimmung, Typus 8 stärkster Widerspruch.


Typus 4 ist in Delph. häufig, kommt also dem T y p u s 1 nahe. T y p u s 6
83
Ich habe x a i (hier und später in xoi t ò v à l x n a x ó v ) ebenso wie |xév in [lèv ßamg als
„ P r o k l i t i k a " nicht berücksichtigt. E s ist aber keineswegs sicher, daß sie für Pindar
reine Proklitika gewesen sind. M i r scheint vielmehr ihre Stellung in der melodischen
Linie das Gegenteil anzuzeigen. U n d mindestens dem x a i v o r t ò v a i x n a x à v w i r d
man auch in der Rezitation geneigt sein ein eigenes G e w i d i t zu geben.
84
In dieser A n a l y s e sind die nach byzantinischer Gewohnheit barytonierten Wörter
àoifiol und a t x u a x â v als o x y t o n behandelt worden. D a ß sie das sein müssen, läßt sich
von vornherein beweisen. D a ß sie nicht baryton sein müssen, ergibt die Überlegung,
w a s Barytonese eigentlich ist, nämlich Tiefton, der aus dem Hochton durch T o n -
anschluß entsteht, àoiôoi aber braucht gewiß nicht seinen Hochton an odfiaaiv, und
a l x f i a t a v an xepauvóv verloren zu haben. Beispiele dafür, daß O x y t o n a , die w i r im
Satzzusammenhang nach byzantinischer Weise barytonieren, in den delphischen H y m -
nen als edite O x y t o n a behandelt werden :
as h h h h c' des' c' d d e f d e e a
Xi-yù ôè 1,53 rài-Ôa-àv jcqé-xei i,j6 at-dï]-r]0 à-eX-Xràv 2,42 x X u - t à v 'At-diô' 2 , 6 1 .
c a e e e f d f e
Ebenso bei Mesomedes, Helios V . 15 jtoxa-nol fi è und jhj-çôç äfi-ßpo-tou.
[51152] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythisdien Gedidit 435

ist selten. Wir drucken hier die erste Strophe ab und unterstreichen die
Beispiele des Typus i (zu dem wir jetzt ohne Zögern auch die Fälle
rechnen, wenn die Hochtonsilbe die erste einer Zeile ist) dreimal, die des
Typus 3 und 4 zweimal, die des Typus 6 einmal. Typus 8 wird durch ein
Kreuz markiert. Strophe 1 hat also drei Fälle stärksten Widerspruchs,
acht85 Fälle stärkster Ubereinstimmung, sechs Fälle mit Doppelstrich,
sechs Fälle mit einfachem Strich. (Es kommt wenig darauf an, daß man
über die Zuordnung einzelner Fälle streiten kann.)
XQuaéa tpÓQjuvI 'AitóXXoovog xaì lojiXoxà|xoov
aiivöixov Moiaàv xxéavov ' xàc; àxoiiei [lèv ßaoig
àykatag ùqxó,

iieiftovxai 8'àoiòoì aà(xaaiv,


«YTiaixopcov ójtótav jt£>ooi[xicov
a|xßoAag TEÌiXTiis ÈXeXi£o|xÉva.
xaì tòv aìx(xatàv xEgauvòv aßEWÜEig. |

In den anderen Strophen werden die Widersprüche stärker, in Ant. 1 sind


es sechs, in Ant. 3 sind es sieben, in Ant. 4 sind es acht. Aber eine genaue
Statistik aufzustellen hat kaum einen Zweck.
Denn zu objektiver Gewißheit ist hier nicht zu kommen. Auf der
einen Seite kann man sagen: Es spricht für eine gewisse Rücksicht auf die
Sprechmelodie, daß grade in der ersten Strophe die Übereinstimmungen
so sehr viel zahlreicher sind als die Widersprüche. Denn die erste Strophe
wird allemal die Muster- und Meisterstrophe sein. Aber man kann auch
sagen: Der Widerspruch der andern Strophen beweist, daß die Uberein-
stimmungen in der ersten Strophe Zufall sind. Und wer so denkt, wird
sich auch nicht widerlegt fühlen durch den Hinweis darauf, daß es bei
einem Künstler wie Pindar eigentlich keinen Zufall gibt.
Bleibt die dritte unter den vorhin aufgestellten Möglichkeiten: daß
eben in dem Gegeneinander und Miteinander von Sprechmelodie und
Gesangmelodie das musikalische Gesetz beschlossen gewesen sei. Aber über
Allgemeinheiten ist hier wohl vorläufig nicht hinauszukommen und man
wird abwarten müssen, ob der von E. Wolff ausgesprochene Satz sich zu
irgendeiner Gewißheit erheben läßt86: „Die ethische Wirkung muß nun
darin bestanden haben, daß in jeder Strophe die gleiche tongeschlechtliche
Melodie eine verschiedene Wortmelodie durchdrang . . . " |

85
Rechnet man die melodischen Gipfel auf xaì, piv und xaì dazu - wozu man nach
Anm. 3 wohl ein Recht hätte - , so werden es 1 1 Fälle statt 8.
84
Wolff-Petersen, Das Schicksal der Musik 33.
436 Musik und Metrik [53]

§ 10. Abschluß

Bleibt also das letzte unsicher, so ist doch mit Nachdruck zu sagen,
daß diese Unsicherheit den vorher gewonnenen Ergebnissen keinen Scha-
den tut. Bedenke man jetzt noch einmal alle Zusammenhänge, die sich
zwischen Wort, Melos und Metrum haben aufweisen lassen, so wird hier
ein einziges Mal bei Pindar etwas von jener Einheit, die man immer ge-
fordert hat, wirklich faßbar: der Einheit von gesungenem Wort, In-
strumentalbegleitung und Reigenbewegung - so viel uns auch jetzt noch
zu voller Verwirklichung fehlt. Aber man wird nun an dem antiken
Ursprung der Melodie nicht mehr zweifeln. Mehr als das: man wird auch
an dem pindarischen Ursprung kaum noch zweifeln können. Denn nur
dem Dichter selbst war jene Einheit so sehr als ursprüngliche Konzeption
gegeben, daß sie noch uns vielfach fühlbar und hier und da faßbar wird.
Hätte ein späterer Grieche die Melodie zu Pindars Text gemacht, so
würde sie weder mit den Worten noch mit dem Metrum dermaßen zur
Einheit zusammengehen. Selbst wir — das ist wohl nicht zu viel gesagt -
müßten die Brüche spüren.
Pindar oder Kircher?

1935

Näqpe xat ni(ivaao öutiaxeiv

„Weil" - nach einem Worte Boeckhs (Philolaos 4) - „nur die Unecht-


heit, niemals aber die Echtheit einer Sdirift überzeugend erwiesen werden
kann", ist der Angreifer allemal in gesicherterer Stellung als der Ver-
teidiger. Auch wird sich der Philologe, wenn er zwischen zwei Vorwürfen
wählen muß, lieber hyperkritisch als unkritisch nennen lassen. Aber es
handelt sich schließlich nicht um uns Philologen, sondern darum, ob es
in dem Bezirk, den unsere Wissenschaft zu verwalten hat, eine Pindar-
melodie gibt oder nicht. Kann man - unter dem methodischen Vorbehalt
Boeckhs — die Echtheit „beweisen", d. h. sie von außen und innen her
wahrscheinlich machen, indem man zugleich die Gegenargumente wider-
legt, so ist der Gewinn noch größer, als wenn ein neuer Tragödienpapyrus
gefunden oder ein neuer Tempel ausgegraben würde. Denn Tragödien
und Tempel gibt es viele, Pindarmelodien günstigenfalls eine. Deshalb,
nicht aus Rechthaberei, muß hier auf die Kritik von Maas und Müller-
Blattau (Hermes 70 S. 1 0 1 ff.) geantwortet werden 1 . Es sei | gleich gesagt,
daß Maas nicht in den Kern der Frage vordringt, weil er sie schon vorher
durch äußere Gründe in verneinendem Sinne entschieden zu haben meint.
An das Wesentliche würde die Argumentation von Müller-Blattau rühren,
wenn seine musikalischen Vergleiche so unanfechtbar wären, wie sie uns
anfechtbar erscheinen2.

Zum Text und zur Überlieferung

1. Daß Kircher den Pindartext aus der Ausgabe des Er. Schmid (1616)
nimmt, hat A . Rome zuerst ausgesprochen und damit das alte Urteil
„Fälschung" neu zu begründen gesucht. Da ich dieselbe Beobachtung ge-

[Hermes L X X , 1935, S. 463-472.]


1
Die Abhandlung Die Melodie zu Pindars Erstem Pythisdien Gedicht, BerSädisAk.
1934, 4. Heft, wird vorausgesetzt und nur soweit nötig mit „Ber." zitiert. Außer
Maas und Müller-Blattau haben sich bisher geäußert: im wesentlichen zustimmend
Vetter, ZtsdirMusikwiss. 17, 1935, 1 2 1 ff., und W. Fisdier, PhW. 193$, 965 ff.; ab-
lehnend Mountford, CIRev. 1935,62, und Kaiinka, PhW. 1935, 961 ff. A. Rome hat
seinen früheren Aufsatz aus Les Etudes Classiques 1, 1932, verteidigt und den meinen
ritterlich bekämpft ebenda 4, 1935, 337 ff.
1
H . Birtners Bemerkungen „Zur Melodie" (Hermes 70, S. 472 ff.) werden hier nicht
wiederholt.
438 Musik und Metrik [464)465]

macht, aber mich gehütet hatte dieselbe Folgerung zu ziehen, so muß


doch wohl Romes Schluß weniger bündig sein, als er manchen erscheint.
In der Tat, ist es nicht ein seltsamer Schluß: weil Kircher den Text aus
einer gedruckten Ausgabe („S") nimmt, kann er die Noten nicht aus
jenem fraglichen Kodex („M") genommen, er muß sie gefälscht haben?
Versuchen wir immerhin, die echten Bedenken, die der Tatbestand erregen
kann, darzustellen und zu prüfen, a) Wer den Text einem Druck ent-
nimmt, ohne das zu sagen, handelt unehrlich. Also sind ihm auch die
Noten nicht zu glauben. - Aber unehrlich wäre so etwas doch nur bei
einem Philologen. Kircher, der ein sehr mittelmäßiger Hellenist und gar
kein Philologe war, tat das für ihn einzig Natürliche, wenn er auf irgend-
einer Stufe seiner Arbeit S zur Hand nahm. Den Text schrieb er aus S
ab - vielleicht richtiger: änderte er nach S (denn es ist keineswegs un-
möglich, daß die schauderhaften Textfehler seine Abschrift von M
spiegeln) weil es seine Kräfte überstieg, den griechischen Schriftzeichen,
die er sich aus M notiert hatte, ohne S einen Sinn abzugewinnen. Es ist
ja gewiß, daß er ihnen auch mit S keinen abgewann, da er nicht ein- son-
dern zweimal druckt jteiöovTai 8' aoiöol oa^a airv Ayriaixopov. Die Über-
setzung schrieb er aus S ab, weil er den Text weder in der Handschrift
noch im Druck ohne Eselsbrücke verstehen konnte. J a wer weiß, ob er
ihn selbst mit der Übersetzung verstand, wenn er druckt Obtemperans
vero, et concentores ... statt Obtemperant vero et concentores . . . b) Die
Noten schneiden mit dem Seitenende von S ab, also dort, wo sie in M
- wenn M existiert hat - nur durch den allerseltsamsten Zufall aufgehört
haben könnten. Nun darf man freilich solche Möglichkeit nicht unbedingt
verneinen, aber man soll doch wohl auch nicht ohne Zwang mit ihr
rechnen. Man müßte also als wahrscheinlicher ansetzen3, daß die Noten
weiter gegangen wären, entweder bis zum Satzende rivgog oder am ehesten
bis zum Ende der Strophe. Wie soll jemand, der einen so kapitalen Fund
macht, einen Teil davon umkommen lassen? Das ist unglaublich. Also
hat Kircher, der, durch das Seitenende in S getäuscht, die Strophe bei
aßEvviJEig zu Ende glaubte, die Musik bis eben dahin gefälscht. - Zur
Antwort könnte man auf den Hymnus des Gregor von Nazianz ver-
weisen, von dem Kircher aus einer Handschrift desselben Klosters
i Vs Zeilen mit mittelalterlichen Noten veröffentlicht hat und nicht mehr
(Ber. 12). Denn nur Proben wollte er - leider! - geben, nicht Publikatio-
nen. Freilich muß die Gregor-Probe in ihrer Echtheit erst verteidigt
werden (s. u. Abs. 6). Und wichtiger als diese Analogie ist der Nachweis,
wie | störend es für Kircher war, wenn - immer die Wirklichkeit von M
vorausgesetzt - die Notenzeichen noch über oßsvvijEig hinausgingen. Nach-

3
Ber. 20 habe ich, wie das wissenschaftliche Pflicht schien, beide Möglichkeiten gleich-
mäßig erwogen. Z u welcher ich mehr neige, kann nicht fraglich sein und sage ich jetzt
ausdrücklich. Wenn Kaiinka mich an die erste „glauben" läßt, so widerlegt ihn der
Satz, den er aus meiner Abhandlung ausschreibt.
[465] Pindar oder Kirdier? 439

dem er auf den unglücklichen Gedanken verfallen war, daß die Vokal-
und die Instrumentalnoten sich antistrophisch entsprächen, war seine
„Gegenstrophe" schon bei aßewtieig um 7 Silben oder Noten zu lang, und
er mußte durch mühsame Arithmetik die Gleichheit herstellen. Bis JtvQog
kamen noch 6, bis zum Ende der Strophe gar 30 Silben hinzu, d. h. das
ausgetüftelte Responsionssystem wäre völlig in die Brüche gegangen. Der
Selbsterhaltungstrieb des Systems also hielt ihn bei der willkommenen
Täuschung fest, daß mit oßEvvwi; die „Gegenstrophe" zu Ende sei, und
ermächtigte ihn zu dem, was uns heute so arg scheint: zur Preisgabe der
Noten hinter aßsvviiEig.
Gesetzt also, Kircher hat in S. Salvatore M vor Augen gehabt, so
schrieb er die Noten mit darunterstehendem Text ab - den Text vielleicht
unvollständig und gewiß sehr fehlerhaft - , zog in seiner römischen
Studierstube S heran und entnahm daraus, als er sein Druckmanuskript
herstellte, den Text (oder Teile des Textes) und die Ubersetzung4. Die
überschüssigen Noten ließ er unter den Tisch fallen5. Daß er so verfuhr,
ist, wenn auch schändlich, so doch rationell. Aber haben die, die ihn zum
Erfinder der Noten stempeln, sich klargemacht, welche Unbegreiflichkeit
sie ihm zumuten? Wenn er Noten und Text in M fand, so brauchte es für
seinen Zweck nicht mehr, als daß er den Text in S oberflächlich identi-
fizierte und soweit nötig ausschrieb. Wenn er die Noten erfand, so mußte
er den Text, den er sich dazu aussuchte, doch erst einmal genau ansehen.
Daß er nicht umblätterte, wenn die Seite mit oßgvvijeig ohne Punkt - und
mit dem Kustos devotem! - abschloß, ist im ersten Fall für unsereinen schwer
begreiflich, im zweiten ist es zehnmal unbegreiflicher. So beweist die Art,
wie S benutzt ist, in der Echtheitsfrage entweder nichts, oder sie sagt aus,
daß die Noten nicht auf Grund von S gefälscht sind.
2. Es ist längst gesagt, daß der Wechsel von Instrumental- und Vokal-
noten sonst so nicht vorkommt. Aber auch daß es ganz unerlaubt ist,
daraus auf Unechtheit zu schließen. Wenn man in unserem mehr als
dürftigen Vorrat antiker Notenbeispiele Einzigartiges für unecht erklären
will, so athetiere man den Orestes-Papyrus und den Berliner Noten-
papyrus (Ber. 39). Daß die Pindarnoten „offenbar" von demselben
stammen, der die unsinnige Teilung in Strophe und Gegenstrophe erfun-
den hat, ist eine Behauptung ohne Beweis. „Offenbar" kann sich Kircher
die unsinnige Responsion gerade darum ausgedacht haben, weil er in M
die beiden Notensysteme hintereinander angewendet fand. Er machte sich
ganz ohne Not Gedanken darüber: wie verhält sich das Vokal- zu dem

4 In der Biblioteca Vittorio Emmanuele ist, wie W. Kranz für mich feststellte, ein
Exemplar von S, das aus dem Collegio Romano stammt. Eintragungen hat es nicht.
5 Will man glauben, daß er die Möglichkeit gehabt hätte, M und S unmittelbar neben-
einander zu legen - sei es, daß er in Messina ein Exemplar von S auftrieb, oder daß
er M in seinem Gepäck mit nach Rom nahm - , so wird die Sadie noch einfacher. Er
hätte dann die Noten überhaupt nur bis aßEWÜei; abgeschrieben.
440 Musik und Metrik [4651466]

Instrumentalstück? und gab auf die falsch gestellte Frage die einfachste
aber verkehrteste Antwort: sie sind einander gleich, d. h. sie sind anti-
strophisch. Zu dieser Illusion verhalf ihm, in ihr erhielt ihn das flüchtig
betrachtete Seitenbild von S mit dem Schluß bei aßevvveig.
3. In der Bemerkung xöpog eig xuftagav beruht der falsche Akzent auf
das falsche u auf Kirchers lateinischer Aussprache und Schreibart. Den
auffälligen Gebrauch von elg, also ein Syntaktikum, mit diesen Ortho-
graphicis auf dieselbe Stufe zu stellen, liegt keine methodische Nötigung
vor. Warum soll man eigentlich eig als Kirchers Ubersetzungswort für das
lateinische ad ansehen, wo ihm doch, grade weil er wenig Griechisch
konnte, itgög näher gelegen haben wird, so wie es heutigen Schülern näher
liegt? Nicht aus einem Übersetzungsfehler des 17. Jahrhunderts, sondern
aus echtem, spätantikem Sprachgebrauch ist elg für itgög zu begreifen.
XOQ05 eis xift&eav hat eine genaue Parallele in dem eg netag öe xoücpa ßaivcov
des epidaurischen Pan-Hymnus, den Maas etwa ins vierte vorchristliche
Jahrhundert setzt6. Latte aber hat gerade in diesem eg für Jigog ein Zeichen
spätantiken Ursprungs aufgewiesen neben anderen sprachlichen und sach-
lichen Indizien7. So wird xogog elg xifragav spätes, echtes Griechisch weit
eher als modernes Übersetzergriediisch sein. Aber angenommen selbst,
die drei Worte seien von Kircher, so wäre die Unechtheit der Musik
immer noch nicht bewiesen. Denn sie stehen nur in Abdruck B, nicht auch
in A (Ber. 18 f.). Es wäre also gar nichts Erstaunliches, wenn sie Zusatz
des Herausgebers wären. Sie wirklich dafür zu erklären hindert vor allem
eins: der Gebrauch von £ig. So muß der Verteidiger der Echtheit für diesen
Hinweis von Maas besonders dankbar sein.
4. ayXaiag schreibt und mißt Kircher dreisilbig. Daß dieser Fehler auf
der lateinischen Aussprache Aglaja beruhe, ist allenfalls möglich. Selbst
damit wäre die Unechtheit des Ganzen nicht bewiesen. Denn gesetzt,
Kircher fand in M cr/Xaiag mit 4 Noten, so lag ihm, dem lateinisch Reden-
den, vielleicht die dreisilbige Aussprache nahe, und er ließ eine Note von
den vieren unter den Tisch fallen. Freilich notwendig oder auch nur
wahrscheinlich ist das nicht. Wenn das poetische Wort gelegentlich in
Prosa vorkommt, bei Xenophon, Aelian, Julian, Themistios, so drucken
unsre Ausgaben fast immer ein viersilbiges äylata. Ebenso druckt man bei
den Mythographen den Charitennamen. Selbst dem attischen Kriegsschiff
ATAAIA gab Boeckh und gibt jetzt Kircher (JG. II III ed. min. 2, 1
Nr. 1622 1. 597) die beiden Pünktchen über dem Iota. Aber im Ernst:
hat das 4. Jahrhundert, hat die Kaiserzeit das poetische Wort in der Prosa
6
P. Maas, Epidaurische H y m n e n (SchrGesKönigsbg. 1 9 3 3 , 1 3 0 ) .
7
G G A . 1 9 3 4 , 408. Nebenher: im M e t e r - H y m n u s scheint mir richtig
keqavvdv '¿ßalle x a l x a tunjtav' £Xä|ißave,
nexgag ÖLegriaae y.ai tu. tiiujtov' ¿Xd^ßavE.
D a steht das orgiastische Paukenschlagen für den wiederholten Donner - bezeichnend
f ü r diesen Stil, der Glätte mit Bombast vereint. M a a s 1 4 1 verkennt ihn seltsam, wenn
er archaische Prosa vergleicht. Antoninische Plastik heranzuziehen wäre richtiger.
[4661467] Pindar oder Kirdier? 441

drei- oder viersilbig gesprochen? Niemand weiß das. Meist wird man dodi
wohl àyXata gesagt haben ûç ôixaia, 'Arrivata. Die Schrift jedenfalls unter-
schied das nie. Und so konnte irgendein Abschreiber 500 oder auch
1500 Jahre vor Kircher auf die natürlichste Weise eine Note weglassen,
weil er die vier Zeichen über dem scheinbar dreisilbigen Wort für ein
Versehen hielt8. Haplographie mochte hinzukommen: Boeckh hat ja
©r<r)M ergänzt.
„Fälschung" aber wird gerade die unwahrscheinlichste Hypothese sein.
Denn wenn Kircher die Noten zu dem Text von S fälschen wollte, so fand
er dort ay^ata und darüber das metrische Schema, das die Viersilbigkeit
garantierte. Er hätte also vier Noten erfinden müssen9. Wenn ihm dabei |
(was angesichts der ^Etäßaaig elç äXXo yixoç wenig glaublich ist) der
lateinische Name Aglaja die Dreisilbigkeit aufdrängen wollte, so mußte
der Blick auf S ihn hindern, sich diesem Einfall zu beugen. Mithin ist
sehr wahrscheinlich, daß die Dreisilbigkeit ihm gegeben war, als er S
aufschlug. Dann aber hat M existiert und spricht gerade das dreisilbige
âyXaia für die Echtheit der Melodie.
j . Daß „ein Pindartext mit alten Noten sich bis in die Mitte des
17. Jahrhunderts im Westen erhalten habe, um dann spurlos zu ver-
schwinden", ist allerdings nicht nur unwahrscheinlich: es ist unmöglich
- wenn man nämlich an eine Pindarhandschrift denkt. Als Musikprobe
aber in einem antiken Musiktraktat kann die Pindarstrophe gestanden
haben - etwa wie die Mesomedes-Noten hinter dem Traktat des Bakcheios
erhalten sind. Wer will behaupten, daß es so etwas nicht gegeben haben
könne, in einem Kloster, das sich um Musikpflege und Musikhandschriften
besonders eifrig bemühte10?
6. Wenn Kircher aus einer Handschrift desselben Klosters 1V2 Hexa-
meter des Gregor von Nazianz mit einem Notensystem von acht Linien
veröffentlicht, so gibt weder der Text noch das Notensystem noch die
Verbindung beider Anlaß, von Fälschung zu reden. Kircher hat die
griechischen Worte nicht verstanden (denn im Druck sind sie unsinnig
verstümmelt) und von ihrer Herkunft vermutlich nichts geahnt (er sagt
mit keinem Wort, daß sie von Gregor sind). Es ist also durchaus un-
glaublich, daß er sich gerade diese Worte ausgesucht hätte, um die Noten

8
Also keineswegs rufe ich den Zufall zu Hilfe, wie Kaiinka 962 rügt.
9
Rome 346 sieht sich zu der Folgerung genötigt, Kircher habe vor sich gehabt „non
pas le texte imprimé de Schmid (où la scansion se trouve juste au-dessus) mais une
copie exécutée à la hâte par un aide." Darin liegt das Eingeständnis: aus S + Kirchers
Fälschertrieb ist der Tatbestand nicht zu erklären. Wohl aber erklärt er sich, wenn
dem Kircher außer S noch etwas anderes gegeben war, nämlich M.
10
Zu dem Ber. 13 Gesagten füge ich hinzu, daß der cod. Gr. 154 von S. Salvatore eben
die Papadike ist, aus der O. Fleischer, Die spätgriech. Tonschrift, 1904, das byzanti-
nische Notensystem wiederhergestellt hat. Für Fleischer ist übrigens Kircher trotz
aller Einwände „der erste abendländische Gelehrte, der sich etwas eingehender mit
diesem verwickelten Zeichensystem beschäftigt hat".
442 Musik und Metrik [467/468]

dazu zu erfinden. Wohl aber ist Gregor einer der großen Kirchenheiligen
der Basilianer. Also der Text paßt für S. Salvatore so gut, wie er für
Kircher schlecht paßt. Und die Melodie? Gewiß ist der Hymnus des
Gregor „nie komponiert gewesen" - nämlich als Ganzes. Aber daß gerade
der Anruf üae^Eviri ¡isva -/enge in der Liturgie der Basilianer vorkam,
ist doch wohl nicht unmöglich 11 . Oder wenn sich das bei einer genaueren
Kenntnis des Basilianerritus, die ich mir nicht verschaffen konnte, doch
als unmöglich herausstellen sollte, so bleibt die Möglichkeit, daß der
„Manuscriptus hymnorum Über" ein nichtliturgischer Musiktraktat jenes
Klosters war.
Und nun die Noten. „Ein achtzeiliges Notensystem aus einer der
Reform Guidos von Arezzo lange vorhergehenden Zeit!" ruft Müller-
Blattau entsetzt aus. Ich muß ihn auf die Spezialliteratur seines Faches ver-
weisen: auf das was H. Riemann, Studien zur Geschichte der Notenschrift,
1878, 151 ff., Hans Müller, Hucbalds echte und unechte Schriften über
Musik, 1884, 61 ff. und Joh. Wolf, Handbuch der Notationskunde I 1913,
52 ff., II 1919, 51 ff., 248 f. über Notensysteme gerade „vor Guido", aber
auch neben und nach Guido, darlegen, wo nur die Linien als Abbilder
der Saiten etwas bedeuten (oder, was auf dasselbe herauskommt, die
Räume über den Linien), nicht aber wie | in dem abstrakteren sog. Guido-
nischen System die Linien und die Zwischenräume. Es gibt da eine ganze
Reihe unter sich wieder sehr verschiedener Systeme, die vielleicht alle
keine weite Verbreitung hatten, die aber die Echtheit der Noten zu
IlaQfreviii durchaus möglich erscheinen lassen. H.Müller a. O. 74: „ . . . des-
gleichen werden die von P. Athanasius Kircher . . . mitgeteilten Beispiele12
verständlich und glaubwürdig." So ist gegen die Echtheit dieses Noten-
systems mit einem Ausrufungszeichen denn doch nicht anzukommen 13 .
7. Uber Kircher selbst wurde Ber. §§ 2 und 3 einiges mitgeteilt, was
immerhin Berücksichtigung verdient. Maas begnügt sich, die alten Vor-
würfe gegen den Mann zu wiederholen. Aber vielleicht könnte er sich
darauf berufen, alles was man zum Verständnis Kirchers sage sei wertlos,
solange Ermans Vorwürfe in der Allgemeinen Deutschen Biographie nicht
entkräftet sind. Es sind ihrer zwei - und so müssen wir nach der
Notationskunde auch die Koptologie berühren14.

11 In der Liturgie der Römischen Kirche gibt es solche Stücke aus hexametrischen und
distichischen Gedichten.
12 Es ist in Wahrheit nur e i n Beispiel. Müller spricht von mehreren, weil Kircher im
Anschluß an IlaßdE«ir| die verwandten Notenproben aus Galileos „ D i a l o g o " wieder-
holt.
13 „ . . . da überhaupt der Ursprung des Linien-Systems ganz im, Dunkel, läßt sidi daraus
kein Argument gegen Kircher ziehen", schreibt mir J. Handschin (Basel).
14 Ich habe den Ägyptologen und Koptologen Crum, Kees, C . Schmidt, H . Sdiaefer für
ihre Mitteilungen zu danken, v o r allem aber Georg Steindorff, der auf meine Fragen
und Einwände in ausführlichen Briefen einging. Aus ihnen werde ich einige Sätze
wörtlich anführen.
f4681469] Pindar oder Kirdier? 443

Erster Vorwurf: „Um den Lesern der Lingua Aegyptiaca doch etwas
bieten zu können, was seinen Versprechungen entspricht, greift er (Kircher)
zu Fälschungen. So schiebt er zwischen die koptischen Tiernamen ein
selbsterfundenes Wort mends ,Bock' ein, um daraus den Namen der
Stadt Mendes zu erklären." Man braudit nicht Aegyptologe zu sein, um
zu erkennen und mit aller Ehrerbietung, die dem Meister der Aegyptologie
gebührt, auch auszusprechen, daß hier das meiste unrichtig oder halb-
richtig ist. Kircher bot seinen Lesern nicht nur etwas, sondern sehr viel,
nämlich eine koptische Grammatik und zwei koptisch-arabische Glossare
mit seiner lateinischen Übersetzung, zusammen fast 500 Seiten unver-
öffentlichten Materials, dazu 100 Seiten eigener Abhandlungen. Und er
wurde damit immerhin „der Begründer der koptischen Sprachwissenschaft
in Europa" (L. Stern, Kopt. Gramm., 1880, 3). Das Wort mends hat er
nicht erfunden, um den Städtenamen zu erklären. Wort und Erklärung
stehen bei Herodot 2, 46 und dann in den antiken Lexicis. Was hat es
also mit jener „Fälschung" auf sich? Kircher fand in seinem koptisch-
arabischen Glossar unter den Tiernamen pisosoy „hircus" und fügte da-
hinter pimends „hircus, caper" ein, d. h. das altägyptische Wort in
koptischen Buchstaben mit dem koptischen Artikel pi. Ein doppelter
Frevel heute, wo sich die Pflicht, das Material rein vorzulegen, von selbst
versteht und die Vermengung von Koptisch und Ägyptisch schon einem
ersten Semester horribel vorkommt. Kirdier war kein philologischer Edi-
tor im heutigen Sinne. Und die Identität von Koptisch und Ägyptisch
meinte er gerade im 5. Kapitel seines Prodromus Coptus (1636) bewiesen
zu haben. Das Buch, von dem wir reden, nennt er ausdrücklich „Lingua
Aegyptiaca restituta", die koptische Kolumne seiner Glossare überschreibt
er „Aegyptia". So hat er sich in den Abhandlungen seines Supplementum
nirgends gescheut, altägyptische Wörter, die er bei Griechen und Römern
fand, mit koptischen Buchstaben zu transkribieren. Wenn er also einige
Glossen einfügte von der Art, die | Partheys Vocabularium coptico-lati-
num (1844) i n besonderen Anhängen sammelt, so war ihm das keine
Fälschung, sondern die rechtmäßigste Vervollständigung des „ägypti-
schen" Wortbestandes15.

Zweiter Vorwurf: „So gibt er sogar eine ausführliche Liste von kop-
tischen Werken, die sich in Kairo befinden sollen, und die wunderbarer-
weise alle die Religion, die Geschichte und die Astronomie des alten
Ägypten behandeln. Stirnlos lügt er, dieses Verzeichnis sei ihm von dem
inzwischen verstorbenen Peirescius mitgeteilt worden. Übrigens ist diese
letzte Fälschung so plump, daß sie auch Kirchers Zeitgenossen schwerlich
getäuscht haben wird." Darin ist zunächst falsch, was Erman über den
Inhalt der Kircherschen „Synopsis librorum" (p. 511) berichtet. Von den
15
L. Stern, Koptische Grammatik 3, drückt sich objektiver aus als Erman: „Mit Unrecht
hat Kircher einige angeblich ägyptische Wörter aus griechischen oder lateinischen
Quellen in sein Buch aufgenommen, z. B. bari pisothis pisiöthi pimends."
444 Musik und Metrik [469j470]

14 Titeln beziehen sidi überhaupt nur zwei ausdrücklich auf das alte
Ägypten: I I I De Religione Veterum Aegyptiorum und X Historia
Aegypti et Regum eius et Sapientum eius16. Für die andern trifft das
durchaus nicht zu oder höchstens ganz nebenher. Man überlege nur die
Titel: I De Mundo superiori et ejus ordine - I I De Deo et Angelis eorum-
que Natura - I V De Daemonibus eorumque officio et de ordine in mundo
- V De Natura Fluminis Nili 1 7 - V I De Nomis Aegypti 1 8 - V I I De 1 2
signis Zodiaci et de Influentiis eorum 19 — V I I I De mansionibus lunae —
I X De ponderibus et mensuris tarn novis quam antiquis20 usw.; also alles
Gegenstände, die für christliche Kopten wichtig waren. Und hier kann
man leicht eine Beobachtung machen, wenn man das erste der von Kir-
cher edierten Glossare, die „Scala magna" des Samannüdi, durchblättert,
die nach Sachen geordnet und in „portae" und „capita" gegliedert ist. D a
kehren 8 von den 14 angeblichen Büchertiteln genau oder sehr ähnlich als
Abschnittüberschriften, eine als Lemma wieder 21 . So trifft mindestens für
den größeren Teil dieser Titel wahrscheinlich zu, was schon der Didymus
Taurinensis in dem Literaturae Copticae Rudimentum (Parma 1783)
19 - ohne jede Anschuldigung gegen Kircher übrigens — vorbringt:
„Etenim quam Kircherus exhibet Synopsin librorum, . . eam equidem cre-
diderim recensionem potius capitum libri unius, quo notitia quaedam
rerum omnium atque nomenclatura brevissime traditur; cuiusmodi librum
alium Coptice atque Arabice scriptum recenset Hottingerus Biblioth.
Orient, pag. 3 1 4 . " Schlägt man in dieser Bibliotheca (1658) nach, so findet
man im Grunde schon dasselbe Urteil.
Wie steht es nun mit den fünf Titeln, die in der „Scala magna" nicht
vorkommen? Hat Kircher sie hinzugeschwindelt oder aber hat er die 14
Titel als einheitliche Liste bekommen, wie er behauptet? Georg Steindorff
kommt | nach eingehender Erwägung zu folgendem Urteil (brieflidi) : „ 1.
der koptische Text ist von dem Exzerptor oder Abschreiber übel zugerich-
tet w o r d e n . . , 2. die lateinische Ubersetzung Kirchers ist teilweise sehr
bedenklich; er hat wohl seine (stark verderbte) koptische Vorlage an vielen

16
In der Scala bei Hottinger a. a. O. 314 heißt Kap. 34 „Nomina dignitatum", Kap. 37
„Nomina sapientum".
17
Das Wort pikeön ist nach Kees und Steindorff unverständlich. Doch finde ich in der
Scala p. 214 pikeön Gheon, et is Nilus est.
18
Das koptische Wort tabir erklärt Parthey durch praefectura, praetorium.
19
In der Scala (p. 49) übersetzt Kircher das entsprechende Lemma richtiger: De firma-
mento et signis eius et impressionibus eius. Wie er in der Synopsis auf die Zeichen des
Tierkreises verfiel, ist nicht einzusehen.
20
Dieselben koptischen Worte tpalea nem tgenne übersetzt Kircher in der Scala (p. 142)
„ex veteri et novo Testamento". Dazu bemerkt mir Steindorff: „Wenn die Synopsis
,tam novis quam antiquis' übersetzt, und dies auf .ponderibus et mensuris' bezieht, so
ist das ein grober Fehler."
21
Hier die Nachweise: zu Titel I: p. 47, zu II: p. 41, zu V I I : p. 49, zu I X : p. 142,
zu X I : p. 163, zu X I I : p. 63, zu X I I I : p. 174, zu X I V : p. 180, zu V I I I : p. jo.
[470] Pindar oder Kirdier 445

Stellen nicht verstanden oder verstehen können und hat sich dann den
Titel zurechtphantasiert." „Solche Tollheiten", fährt Steindorff fort, „ha-
ben mich auf den von mir jetzt aufgegebenen Gedanken gebracht, daß
das Lateinische das Primäre und die koptische Version auf Grund der
lateinischen zurecht gestümpert ist." Aber das läßt sich für neun Titel
bündig widerlegen und für die übrigen fünf nicht beweisen. So kommt
Steindorff zu dem Ergebnis, daß in der Tat „die Synopsis in koptischer
Sprache von Peiresc Kircher übergeben und von diesem ins Lateinische
übersetzt worden ist".
Wie es mit dieser angeblichen Bücherliste im einzelnen steht, daran
wird noch manches unsicher bleiben. Möglich, daß der Gewährsmann des
Peiresc in Kairo an dem Wortlaut herumfrisiert hat. Ungewiß, wie genau
Kircher den koptischen Text abdruckt; denkbar, daß er manches darin las,
was er zu lesen wünschte; sicher, daß „die Willkürlichkeit, mit der er die
Titel lateinisch wiedergegeben hat, sehr groß ist" (Steindorff). Aber dies
müssen die Koptologen unter sich ausmachen. Uns geht nur das Ergebnis
an: der Vorwurf der Lüge und Fälschung, den Erman gegen Kircher
erhoben hat, ist unbegründet. Kircher ist von unserem Genauigkeitsideal
sehr weit entfernt. Aber es soll erst noch erwiesen werden, daß er lügt,
wenn er sagt: diese koptische Liste hat mir Peiresc vor sieben Jahren 22
zugeschickt; oder: ich habe im Jahre 1637/8 die und die griechische Hand-
schrift des Klosters S. Salvatore benutzt.
8. Zum Schluß eine methodologische Bemerkung, die sich gegen Mount-
ford und Rome richtet; aber beide haben nur formuliert, was halb be-
wußt bei vielen wirksam ist. Mountford wirft mir vor: „He does not
seem quite to appreciate the fact, that the strength of the case against
Kircher lies not only in the individual suspicions but in their combi-
nation." Rome gibt nach einer Prüfung der äußeren Beweise zu: „Chacun
des faits ¿numerus ci-dessus, pris a part, ne prouve pas que la melodie est
un faux." Aber die Koinzidenz so vieler Verdachtsgründe (von denen zu-
gestandenermaßen keiner ein Beweis ist) müsse zu dem Urteil führen: „Ii
n'est pas m£taphysiquement impossible que le manuscrit se retrouve. Mais
il n'y faut plus trop compter." Nicht ob die Handschrift sich je wieder-
finden wird, ist die Frage, sondern ob sie existiert hat. Da soll man den
Zweifel als Sporn des Forschens allerdings lebendig erhalten. Aber es ist
unmethodisch, so und so viele Verdachtsgründe, deren keiner durchschlägt,
zu einem Unechtheitsbeweise zu summieren.
Vergesse man doch den Ausgangspunkt nicht: Kircher sagt auf p. 540,
welche Handschriften er zur Rekonstruktion des alypianischen Noten-
systems benutzt hat: „Has notas .. in duobus manuscriptis, quorum unum
in Bibliotheca Vaticana, alterum in Collegij Romani asservatur, depre-
22
A l s o etwa 1 6 3 6 / 7 . Peiresc stirbt 1 6 3 7 . Die einzige wissenschaftliche Anordnung seines
Testaments, am T a g v o r seinem Tode, gilt seinen koptisch-äthiopischen Manuskripten:
Pierre Humbert, U n amateur: Peiresc (Paris 1 9 3 3 ) 2 7 3 f.
446 Musik und Metrik [4701471]

hendi. Autbor Alypius est." A u f p. 5 4 1 sagt er genau entsprechend: „In-


veni autem hoc musicae specimen .. in celeberrima illa totius Siciliae
Bibliotheca monasterij S. Salvatoris . . in fragmento Pindari antiquis-
simo." D a s erste ist offenbar richtig, und w a s Kircher auf der K u p f e r t a f e l
zu p. 5 4 0 bietet, ist als der frühste Versuch einer Rekonstruktion des
altgriechischen Notensystems fraglos eine bedeutende | wissenschaftliche
Leistung. D a s zweite aber soll erlogen sein 23 ? W i e d e r w i r d also der B e -
streiter der Echtheit zu einer durchaus unwahrscheinlichen H y p o t h e s e ge-
drängt 2 4 . Sie anzunehmen, dahin kann keine coincidence halber Ver-
dachtsgründe mich bringen. D a aber, nach dem W o r t e Boeckhs, Unechtheit
überzeugend erwiesen werden kann, so w i l l ich mich durch einen einzigen
klaren G r u n d gern überzeugen lassen 25 .

23
Was Kircher hier sagt, ist entweder gelogen oder es ist wahr. Rome 337 verlangt, daß
man zu seiner Beurteilung den sense of humour haben müsse. Gern! Aber hier hört
denn doch der Humor gründlich auf. Hier handelt es sich um Wahrheit oder Betrug.
0 . was ist die deutsch Sprak für ein arm Sprak, für ein plump Sprak! - Die Ge-
schichte, die Kaiinka 964 sich ausdenkt, um den Kircher „nicht geradezu als Fälscher
brandmarken" zu müssen, ist hübsch. Aber man wird in ihr die beste Bestätigung
finden für das, was idi Ber. 1 $ sagte, als ich erwog, ob Kircher sich in seiner Erinne-
rung getäuscht haben könnte.
24
Fehlt nur der Ausweg: Kircher habe hinterlistig die Pindarmelodie neben die Be-
handlung des Alypios gestellt, um mit der Wahrheit den Sdiwindel zu bemänteln.
25
Idi antworte in Kürze auf anderes, was ich in den Kritiken vorgebracht finde. -
1. Kaiinka 962: Die Melodie berücksichtigt den Wortakzent nicht. Also ist sie gefälscht.
Antwort: Eine durchgängige Berücksichtigung des Wortakzents kann es nur in durch-
komponierten Gedichten geben. In respondierenden, vor allem in vielfach respondie-
renden, ist sie wesenhaft unmöglich. Ob der Akzent trotzdem in verborgener Weise
mitspricht, ist bisher nicht sicher festzustellen. Vgl. über die ganze Frage Ber. § 9. -
2. Idi hatte gefolgert: Kircher hat den Sinn des Wechsels von Gesang- und Instru-
mentalnoten nicht begriffen, weil er zu einer Interpretation des Textes nicht befähigt
war. Dagegen Kaiinka 963: Kirdier kann, da er zweifellos griediisdi konnte, aus den
Worten Jteiftovxai ö' aoiöoi die Anregung geschöpft haben, diese und die folgenden
Worte einem Chor mit Instrumentalbegleitung zuzuweisen. Antwort: Was oben S. .
über die Unsinnigkeiten in Kirchers griechischem und lateinischem Pindartext dar-
gelegt wurde, macht es unwahrscheinlich, daß sich. Kirdier auch nur ein oberflächliches
Verständnis des Textes erarbeitet habe. Und wie soll er einen Tatbestand gefälscht
haben, den er selbst so mißversteht (Ber. 40)? - Rome 341 wendet ein: Warum mußte
der Komponist mit der Saitenbegleitung bis Jieidovtai warten? Antwort: Daß das
geschehen mußte, wird nicht behauptet (die künstlerische Freiheit hinterdrein auf ein
Muß zurückzuführen, ist immer ebenso billig wie mißlich), aber daß der Wechsel
gerade an dieser Stelle seinen sehr guten Sinn hat. - 3. Ber. 43 wurde versucht, eine
Berücksichtigung des Metrums in der Melodie u. a. an der musikalischen Behandlung
der Doppelkürzen aufzuweisen. Rome 341 wendet ein: die Pindarmetrik sei so wenig
sicher bekannt, daß man daraus nichts folgern dürfe. Antwort: Die Daktylo-Epitriten
wenig bekannt? Was würde Wilamowitz, was werden Schröder, Maas, Snell dazu
sagen? - Kaiinka 963 wendet ein: Die Tonfolge e' d' c' h deckt in dem kurzen Stück
ganz verschiedene metrische Formen. Antwort: Allerdings, eben weil dies das be-
herrschende obere Tetradiord ist. Aber darum braucht doch auf der anderen Seite
nicht falsch zu sein, daß eine bestimmte metrische Stelle eine bestimmte melodische
Behandlung bevorzugt. Warum schließt das eine das andere aus? (Auf das musikali-
[471] Pindar oder Kirdier 447

sehe Gebiet und bis zum Vergleich der Pindarmelodie mit einer Polka kann ich
Kaiinka nicht folgen.) - 4. Rome 345 ff.: Kircher hat eine Theorie darüber, wie die
melodische Linie an die metrischen „Füße", die 2-, 3- und 4-silbigen, anzupassen sei.
Diese Theorie scheine in der Pindarmelodie berücksichtigt zu sein. Antwort: in 2-, 3-
und 4-silbige „Füße" kann man jeden Vers ganz verschieden zerschneiden. Rome selbst
kritisiert freimütig seinen eigenen Versuch auf S. 348 so, daß mir eigentlich nichts hin-
zuzufügen bleibt. - 5. Ich gliederte, wie wohl jeder bisher, V. 1 melodisch in 3 Figuren
und wies dieselbe Gliederung im Pindartexte auf, so daß Wort und Melos überein-
kommen (Ber. 25. 34.). Nebenher: damit wäre, selbst wenn die Melodie unecht sein
sollte, der Pindarforschung eine Aufgabe gezeigt. Rome 343 f. löst diese Beobachtun-
gen skeptisch auf: 1 . die Gliederung des Textes sei nicht in allen Strophen durchge-
führt; 2. die Gliederung der Melodie könne täuschen, was mit Griegs Tanz der Anitra
belegt wird. - Antwort: 1. exceptio non tollit regulam, starre Durchführung durch
alle io Systeme kann niemand erwarten; 2. die Wortgebundenheit dieser Musik zu
verkennen, ist - noch ganz diesseits der Entscheidung über Echt oder Unecht - ein
modernes Mißverständnis.
Noch einmal zur Echtheit der Pindar-Melodie

1959

Um das Echtheitsproblem so gründlich zu durchforschen, wie es sidi


gebührt, müßten sich verbinden: 1. ein Kenner antiker Musik, wie es
deren immer nur wenige gegeben hat; 2. ein Kenner Pindars; 3. ein
Kenner italienischer Handschriftenbibliotheken, um über das Schicksal
der Handschriften des Klosters San Salvatore dei Greci bei Messina alles
Feststellbare feststellen und von jenen Handschriften alles Findbare auf-
zufinden; 4. ein Kenner der Geistesgeschichte des X V I I . Jahrhunderts, im
besonderen der Polyhistorie jener Zeit; j. ein Kenner des Jesuitenordens
jener Zeit; 6. ein Kenner des Athanasius Kircher. Seine Biographie zu
schreiben und dazu seine weltweite Korrespondenz zu durchforschen,
von der 14 Bände in der Gregoriana in Rom aufbewahrt liegen1,
habe ich mündlich mehr als einmal angeregt. Es würde sich lohnen. Was
unser Problem betrifft: muß man nicht einen Mann, dem man den Vor-
wurf zur Fälschung macht, wenigstens kennen2? Wer unter den Kritikern
hat das auch nur versucht?
Ich will hier nur kurz auf zwei Aufsätze eingehen, deren Verfasser
neuerdings geglaubt haben, die Unechtheit beweisen oder höchst wahr-
scheinlich machen zu können: 1. J. F. Mountford in Classical Philology
31, 1936; 2. Otto Gombosi in The Musical Quarterly 26, 1940. Gombosi
spricht als Musikhistoriker; Mountford verbindet musikhistorische Kennt-
nisse mit einer erheblichen Kenntnis Pindars.
Gombosi meinte beweisen zu können, daß die Pindar-Melodie eine
Fälschung ist. Die Tonart sei entweder hyperlydisch oder hypophrygisch
(Tonarten, die im Oktaven Verhältnis zueinander stehen). Die hypophry-
gische Tonart „scheint" erst hundert Jahre nach Pindar aufgekommen zu
sein. Auch der Umfang der Melodie gehe über den der siebensaitigen Leier
hinaus.
Selbst wenn alles dies richtig wäre — ich kann es nicht beurteilen - , so
würde daraus längst noch nicht folgen, daß Kircher die Melodie gefälscht
hat. Es könnte ebenso gut noch eine antike, wenn auch nachpindarische,

[Hermes L X X X V I I , 1959, Adnotatiunculae I, S. 385-389.]

1 Siehe R e n d i c o n t i . . . a. O . 234 f.
2 Einen interessanten Seitenweg zur Kenntnis Kirchers findet man bei D . C y z e v s k y j ,
Literarische Lesefrüchte § 30, Zeitschrift für Slavische Philologie 13, 1936, 56 ff. (mir
ehedem von dem Verfasser übersandt): Kirdier in Rußland.
[3861387] N o c h einmal zur Echtheit der Pindar-Melodie 449

Komposition von XQvaia «pognivl sein. Das ist nicht eine „kleine Hinter-
tür" (Gombosi), sondern was wie eine einzige Frage aussieht, zerlegt sich
von selbst in zwei Fragen: i. ist die Melodie antik, oder ist sie eine Fäl-
schung des X V I I . Jahrhunderts? i . wenn antik, ist sie pindarisch oder
nachpindarisch? Und beide Fragen müssen voneinander geschieden wer-
den.
Gombosi stellt fest: In Kirchers Melodie fehlen gewisse Töne, die in
allen übrigen antiken Melodien vorkommen. Selbst wenn das richtig
wäre, wie viele antike Melodien besitzen wir überhaupt? Gombosi selbst
zählt 15 und zieht von diesen gleich 2 ab, weil sie nicht für die Lyra be-
stimmt sind. Auch so | kommt er selber nur zu dem Ergebnis: der antike
Ursprung sei „sehr unwahrscheinlich". Aber eins ist bei dieser Folgerung
vergessen: daß Kircher nicht einmal die Musik einer ganzen Strophe voll-
ständig gibt. Die lange letzte Zeile von xal TÖV aixuatav... an fehlt in
seiner Wiedergabe völlig, also etwa ein Viertel der ganzen Strophe. Ist
das nidit, als ob man das Marmorfragment einer Sphinx oder eines
Kentauren auf seine Echtheit prüft und den antiken Ursprung für sehr
unwahrscheinlich erklärt, weil der Sphinx etwa die Flügel fehlen oder
dem Kentauren Hinterhufe oder Schwanz? Wenn es also wirklich
richtig ist, daß die Mese oder die Lichanos meson in einer echten Melodie
vorkommen müssen, warum könnten sie nicht in der fehlenden letzten
Zeile der Strophe (von der Epodos gar nicht zu reden) vorgekommen
sein?
Aber mehr als das: Die New Oxford History of Music (I 348) erhebt
grundsätzlichen Einspruch gegen Gombosis Theorie der „absolute pitch
values", auf der seine Argumentation wesentlich beruht. In so scharfem
Gegensatz stehen die Kenner altgriechischer Musik einander gegenüber,
wo es um die grundsätzlichsten Fragen geht, und Gombosis Kritik an der
Pindar-Melodie beruht - wenigstens mit - auf einem System, das von
anderen Kennern scharf bestritten wird.
Gombosi beschließt seine Demonstration: „The ancient derivation of
the melody, therefore, seems to be very unlikely." Mit gutem Grunde
hütet er sich „unmöglich" statt „unwahrscheinlich" zu sagen - um dann
auf den nächsten Seiten die Untersuchung über „the forger's identity"
aufzunehmen.
Viel eingehender, umfassender und vorsichtiger ist Mountford. Ich
folge hier für eine Weile seiner Erörterung:
I. In Kirchers Bericht über seine Entdeckung des Manuskripts ist nichts
beweisbar Unmögliches.
II. Daß Kircher, dessen Kenntnis des Griechischen mehr als mangel-
haft war, den Text von Pytbien I aus der Ausgabe des Erasmus Schmid
abdruckte, ist „kein schlüssiger Beweis für Unehrlichkeit". Ich würde sagen:
es ist das Allernatürlichste. Denn aus einer Handschrift allein hätte er
den griechischen Text wahrscheinlich nie entziffern können.
450 Musik und Metrik [387¡388]

III. Kircher gibt die Musiknoten nicht bis zum Strophenende, sondern
er bricht schon eine Zeile vorher ab bei dem Wort aßevviieig. Mountford
sieht erst zwei Möglichkeiten, die es erlauben, diesen Tatbestand mit
Kirchers Ehrlichkeit zu vereinen, neigt aber dann zu der Ansicht: Kircher
„intent upon a forgery" habe den Text von Schmids Ausgabe bis zum
Seitenende kopiert und sich nicht die Mühe gegeben die Seite umzudrehen.
Ich habe schon 1934 auf eine Möglichkeit hingewiesen, warum Kircher
bei aßevviiieis abbrach und die Noten nicht weiter kopierte oder, wenn
er sie kopiert haben sollte, sie in seiner Ausgabe unter den Tisch fallen
ließ. Er war nämlich auf den absurden Gedanken verfallen, daß die
Gesangsnoten, die von zQvaea bis &Q%á reichen, und die Instrumental-
noten, die mit jteiftovTcu anfangen und | (bei ihm) mit aßsvviiEig schließen,
einander antistrophisch entsprechen. Er brachte es fertig, in seiner Um-
schrift beide Abschnitte auf 108 Viertelnoten oder 27 ganze Noten zurück-
zuführen 3 und mit solchem Gewaltmittel eine unsinnige Antistrophik
herzustellen. Das viel längere zweite Stück erhält eine ganze Anzahl von
Viertel- und sogar Achtelnoten; aber hätte er noch die lange Zeile, die
auf oßevvvEig folgt, in sein antistrophisches Pseudo-Responsionssystem mit
einbezogen, so wäre es noch absurder geworden, als es so schon ist, viel-
mehr es wäre völlig in die Brüche gegangen. Also der Selbsterhaltungs-
trieb seines Pseudosystems zwang ihn nach aßtwiieig abzubrechen.
IV. In keinem der erhaltenen Stücke antiker Musik haben wir eine
Analogie für solche Verbindung von Gesangsnoten und Instrumental-
noten. Das sei sehr verdächtig; die Entdeckung sei „zu gut, um echt
zu sein".
In Wahrheit ist sie noch besser, als Mountford sah, ja noch viel besser,
als Kircher selber sah4. Kircher hat nicht nur die unsinnige Korrespondenz
zwischen Gesangs- und Instrumentalnoten überkünstlich hergestellt; er
hat gar nicht begriffen, warum die Musik mit Gesangsnoten beginnt und
dann in Instrumentalnoten übergeht. Auf diese Frage gibt es eine Ant-
wort, aber dazu muß man den griechischen Text verstehen. In den ersten
Gedichtzeilen nämlich wird die „goldne Leier" angeredet. Dann heißt es:
„Es gehorchen aber die Sänger den Zeichen der Musik." So lange die
Leier angeredet wird, darf man kein Leierspiel hören. Instrumental-
musik setzt ein, sowie es heißt: „Es gehorchen aber . . . " Dieser Wechsel
von Acapella-Gesang zu Gesang mit Instrumentalbegleitung ist also
höchst sinnvoll: er ist symbolischer Ausdruck dessen, was in den Worten
des Textes ausgesprochen ist. Kircher hatte davon keine Ahnung. Daß
dieser musikalische Sinn sich ohne Kirchers Zutun ergibt, ist vielleicht das
stärkste Argument für den antiken Ursprung der Melodie.
V. Das Wort or/Xatag hat nur 3 Notenzeichen, es müßte aber 4 haben,
da die Metrik ein zweisilbiges ai fordert. Diese Tatsache, sagt Mountford,
3 Von der Überlänge der letzten Note abgesehen.
4
Siehe Berichte der Sächsischen Akademie a. O. S. 40.
[388/389] N o d i einmal zur Echtheit der Pindar-Melodie 451

spreche gegen Kirdier. Kann man nicht ebensogut argumentieren: die


Tatsache spricht gegen Kirchers Genauigkeit oder gegen die Genauigkeit
des Manuskripts? Besteht nicht sogar die Möglichkeit, daß die ursprüng-
liche Melodie-Aufzeichnung nur eine Note hatte, die für beide aufein-
anderfolgenden Vokale gelten sollte?
Mountfords Argumente V I . bis X I I . sollen hier unberücksichtigt
bleiben, da keins, wie er selber sagt, entscheidende oder verstärkende
Argumente f ü r oder gegen die Echtheit liefert. D a er aber mit dem Angriff
des großen Ägyptologen Erman gegen Kirdier schließt - „Kircher ein
Charlatan" — muß ich darauf verweisen, was ich zum Teil mit Hilfe des
Ägyptologen Steindorff früher gegen Erman dargelegt habe 5 . Erman ver-
langt von dem Polyhistor des |XVII. Jahrhunderts eine wissenschaftliche
Exaktheit, wie sie sich die Spezialforscher des X I X . Jahrhunderts müh-
sam erworben haben. Aber erinnert sei daran, daß Kircher von einem
Koptologen der Neuzeit (L. Stern, 1880) „der Begründer der Koptologie"
genannt wird. Wieder sieht man, wie die Verbindung sehr verschiedener
Wissensgebiete notwendig ist, um ein gerechtes Urteil über Kircher zu
erreichen. Jedenfalls konnte nichts verkehrter sein, als was die Allgemeine
Deutsche Biographie getan hat: mit der Biographie des Polyhistors
Kircher den Ägyptologen Erman zu betrauen.
Auf viele Einzelheiten in Mountfords sehr beachtenswertem Aufsatz
kann hier nicht eingegangen werden. N u r auf seine letzten Sätze
muß ich die Aufmerksamkeit lenken, weil hier plötzlich der objektive
Forscher sich in den Anwalt verwandelt, der vor den Richtern plädiert.
„In this article I have set forth, as fairly as I can, the facts of the case
and the arguments which can be advanced on either side." - Richtig. -
„Readers have the material on which to form their own opinions"; -
Richtig, wenigstens einen großen Teil des Materials. Aber nun schlägt es
plötzlich um, und der Ton objektiver Forschung wird zu dem des
Plaidoyers: „and unless I entirely misjudge the balance of the evidence,
their verdict will be that the case of the defence is hopeless and that
Kircher stands convicted . . . " Aber wir wollen hier der Advokatenrede
nicht weiter folgen. Was eine nach Kräften objektive Wissenschaft zu
sagen verlangt, wäre dies: die Unechtheit kann bisher ebensowenig wie
die Echtheit mit völliger Strenge erwiesen werden 6 . So lange aber dieser
Zustand dauert, muß die Melodie immer wieder geprüft werden. Denn
wenn sie antik ist, so ist sie ein höchst wichtiges, wenn sie Pindarisch ist,

s
Hermes 7 0 , 1 9 3 5 , 468 fi.
6
A . Rome, Pindare ou Kirdier, Les Etudes Classiques 4, 1 9 3 5 , 3 3 7 ff., beschließt seine
bemerkenswerten Darlegungen mit dem S a t z : „il serait imprudent de considérer ce
document comme authentique." D a s ist richtig. A b e r daneben muß man sofort die
These stellen: es w ä r e ebenso unvorsichtig, dieses Dokument für eine Fälschung zu
halten und es damit von weiterer Forschung abzuschneiden - wie das fast allgemein
geschieht.
452 Musik und Metrik [389]

das wichtigste Stück griechischer Musik. Soweit scheint mir in jedem Satz
die Objektivität gewahrt. Damit aber auch hier die Subjektivität nicht
ganz fehle: schön klingt die Melodie von XpuaEa cpöeniyl nicht mir allein,
ob antik oder modern, ob Pindarisch oder Nach-Pindarisch.
Besprechung

Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff


Griechische Verskunst

1921

Es täte der Wissenschaft und ihren Dienern gut, wenn sie öfter, als zur
Zeit geschieht, nach dem Sinn ihrer Arbeit fragten und was denn eigent-
lich die Menschen davon haben. Nicht so, als hätte sich diese Arbeit durch
ihre Brauchbarkeit für den Tag zu legitimieren. Wohl aber sollte jedes
wissenschaftliche Bemühen es vertragen, irgendwie an seinem Werte „für
die Menschen" gemessen zu werden. Was bedeutet unter diesem Blick-
punkt griechische Metrik? Sie ist einmal für den kleinen Teil der heutigen
Menschheit, der noch griechische Verse liest, ein Wissen von diesen Versen
mit der letzten Absicht, sie unserem Ohre wieder erklingen zu machen.
Darüber hinaus besteht die Hoffnung, das Wesen jenes Volkes, | welches
die Namen Rhythmus, Musik und Poesie geschaffen und auf eine heut
fast unbegreifliche Weise in alle Lebensäußerungen hineingeflochten hat,
in seiner metrischen Kunst zu erspähen, wie man es etwa in seiner archi-
tektonischen oder seiner ornamentalen Kunstübung erfaßt. Aber noch
eins: Unsere moderne Verskunst ist der antiken unendlich verpflichtet.
Und solche Beziehung ist damit doch wohl nicht abgetan, daß man mit
Wilamowitz in dieser ganzen Nachfolge wenig mehr als einen einzigen
großen Irrtum sieht, der allerdings hier und da ein paar schöne Blüten
getrieben habe. Vielmehr muß gesagt werden, daß seit Jahrhunderten
besonders für uns Deutsche die griechische Metrik (sei es in eigener |
Gestalt oder in den römischen Nachformungen) ein Maß der Strenge und
liebevollen Genauigkeit, des Reichtums und der Durchbildung hinstellt,
das uns auf das Tiefste bestimmt und auch die Zukunft vor dem Versinken
in Barbarei zu bewahren vermag.
Aber wir setzen uns mit Wilamowitz auseinander, bevor nodi gesagt
worden ist, daß er uns soeben eine umfassende „Griechische Verskunst"
schenkt und daß wir allen Anlaß haben, für dieses Geschenk sehr dankbar
zu sein, um so dankbarer, als der Verfasser sein Buch eine Pflichtarbeit
nennt und ungewöhnlich o f t darauf hinweist, wie mühsam es geworden
sei, wie wenig ihn selbst die Darstellung zuletzt befriedige. Das ist kein
Zufall. Denn eine Metrik kann man nicht schreiben. „Das richtige Ver-

[Deutsdie Literaturzeitung, Berlin 1921, Sp. 409-417.]


454 Musik und Metrik [411j412]

ständnis rhythmischer Kunstwerke läßt sidi nur mündlich vermitteln."


Freilich nicht auf Jeden und nicht jeder Zeit kann mündliche Vermittlung
wirken, und so ist dieses Budi vielleicht ein Notbehelf, aber dann ein
unentbehrlicher, und für uns ein großes Geschenk.
Wir Jüngeren können uns schwer einen Begriff madien von der Wirr-
nis, die vor Wilamowitz' Auftreten in der griechischen Metrik herrschte.
Wir können es zur Not, wenn wir Jemanden von diesen Dingen reden
hören, der noch in der alten Schultradition erzogen ist, oder wenn wir an
metrischen Texten merken, daß sie nach den alten Rezepten hergerichtet
sind. Seit der Mitte des 19. Jh.s herrschte Westphals in seiner Weise
bewunderungswürdiges System, gestützt auf die Kenntnis der sdiwer
verständlichen antiken Theorie des Rhythmus und der modernen Musik,
aber gewaltsam konstruiert und mit Fremdartigem durchsetzt. Unsere
Begriffe von Takt und Taktteil wurden hereingezogen, unheimliche
Kunstausdrücke gingen um, die Logaöden, die Hypermetra, der kyklische
Daktylus, der hesychastisch-systaltische Tropos, und die Nachfolger ließen
das Unkraut immer stärker wuchern, so daß Metrik ein von vielen ängst-
lich gemiedener Bezirk wurde. Das ist sie für manche noch heut, und doch
kann Jeder hier lernen, der gegen Rhythmus nicht | völlig taub ist. Dann
sollte er freilich nicht zu den Griechen gerade sich wenden.
Die Umkehr hat Wilamowitz geschaffen, zunächst durch äußerste
Beschränkung. Nicht nur die moderne Musik, auch die Reste der antiken
und die Theorie der griechischen Rhythmiker blieben bei Seite. Anerkannt
wurde nur die Beobachtung an den metrischen Texten selbst und dazu
die Lehre der antiken Metriker, soweit sie sich an den Texten bewährte.
Mit den einfachsten Formen wurde begonnen. Die Commentariola metrica
(1895) lehrten die Jamben verstehen, und dann folgten die anderen un-
vergeßlichen Abhandlungen, von denen wir alle als Studenten gelernt
haben. Die wichtigsten sind hier wieder abgedruckt, keine freilich so, wie
sie ursprünglich geschrieben war. Für den Anfänger, dem das Buch als
Ganzes viel zu sdiwer ist, werden die den Tragikerkommentaren ein-
gestreuten metrischen Analysen immer noch die beste Einführung bleiben.
Wilamowitz geht aus von der Empirie, und wie umfassend ist diese
Empirie! Daß die Texte der großen Dichter ihm gegenwärtig sind, ver-
steht sich, aber auch das Entlegenste entgeht ihm nicht, mag es ein Hymnus
bei einem Kirchenvater, eine laszive Wandkritzelei oder irgendein
Papyrusfetzen sein. Niemand von den Lebenden besitzt diesen Umblick,
und schwerlich hat ihn je ein anderer besessen. Aber gleich stark ist die
Energie, mit der jedem dieser Texte das letzte Geheimnis des Versbaus
abzulauschen gesucht wird. Metrisdie Beobachtung und Textkritik gehen
in bewundernswertem Grade Hand in Hand. Mit der Erforschung des
Sinnes beginnt Wilamowitz, die Erkenntnis der Metrik hilft ihm die
Form des unsicheren oder entstellten Textes festlegen, und so im Zirkel
gewinnt die metrische Lehre neue Stützen. Das Buch ist voll von Besserun-
[412j414] Wilamowitz-Moellendorff, Griechische Verskunst 455

gen und Besserungsvorschlägen, an denen keine Dichterinterpretation


künftig vorbeigehen wird.
Aus der Empirie also gewinnt Wilamowitz die eigentliche Kraft seiner
metrischen Arbeit. Aber er bleibt dort nicht stehen. Er wäre nicht der
Historiker, der er ist, und der Sohn des historischen Jahrhunderts, wenn
nicht die Lust zur historischen Konstruktion und der Trieb ihn erfaßte,
die Entwicklung der Metren zu begreifen, die sich doch irgendwie "ent-
wickelt" haben müssen. Wilamowitz hat den „choriam|bischen Dimeter"
in der so benannten Abhandlung man kann wohl sagen entdeckt. Sie
enthält eingestandenermaßen „den eigentlichen Inhalt dessen, was das
Buch an Theorie bringt". Und von hier aus hat er den „Dimeter" weit
hinein in die Gebilde der griechischen Verskunst verfolgt. Wirklich sind
in ihr Dimeter und Verse vom Umfang eines solchen verbreitet, Analogien
in anderen Metriken bis zu volkstümlichen Formen unserer eigenen Zeit
fehlen nicht. Was Wunder, wenn Wilamowitz diese Dimeter überaus hoch
schätzt und als „den Urvers" der griechischen Metrik einen ganz freien
Vierheber oder Achtsilbler bezeichnet, aus dem sich die einzelnen Erschei-
nungsformen erst differenziert hätten. Neben ihn wird als gleichwertige
Urform der Sprichwortvers oder das Enhoplion gestellt. Doch findet
sich gelegentlich die Andeutung, daß seine stumpfe Form ( ^ ^ )
sich auf jenen „choriambischen Dimeter" zurückführen lasse, so daß man
nicht recht begreift, warum die Konstruktion - offenbar ungern — vor
der letzten Vereinheitlichung Halt gemacht hat. Außerdem gibt es dann
einige Kurzverse, feste Glieder, die häufig aber durchaus nicht immer
im Systemschluß gebraucht werden. Und aus diesen wenigen Möglich-
keiten hat sich das ganze vielgestaltige Gewächs der griechischen Metrik
„entwickelt".
Wir haben alle viel, zu viel konstruiert in der Metrik. Eine Zeit lang
deuteten wir den Ioniker in alle Verse hinein, bis wir einsahen, daß auch
jede Prosa sich „ionisch-iambisch" durchskandieren lasse. Dann nahm
der Enhoplier manchen gefangen, und es gab Theorien, die so ziemlich
alle Verse auf diesen einen Urvers zurückführen wollten. Es braucht
nicht gesagt zu werden, daß Wilamowitz so einfach nicht schematisiert
und vor allem seine Beobachtung durch diese Konstruktion nirgends
grundsätzlich bestimmen läßt. Aber er konstruiert und vereinfacht doch
auch, und sein metrischer Bau steht unter der Wirkung dieser verein-
fachenden Konstruktion.
Es wird sich je länger je mehr zeigen, daß wir überhaupt keinen
geschichtlichen Ablauf griechischer Verskunst von der Urzeit her kon-
struieren dürfen, da solches Werden viel zu leise und zu reich ist, um
von unseren Schemata aufgefangen zu werden. Wir können gewiß
sagen, daß die Strenge des Maßes, unter der die Metrik der klassischen |
Zeit steht, erst mit echt griechischem Mühen um das Vollkommene allmäh-
lich erworben worden ist, können ahnen und an manchen Punkten sehen,
456 Musik und Metrik [414j415]

daß Anapäste und Jamben, Daktylen und Trochäen nicht von Ursprung
an so scharf geschieden und so genau durchgeführt waren, können einzelne
Formen, die sich späterer normalisierter Kunst nur ungern bequemen,
als besonders altertümlich ansprechen, gleichsam als Überreste einer
freieren Bildungsweise: dazu gehören die Enhoplier, die choriambischen
Dimeter, gewisse Kurzzeilen. Aber die Frage muß gestattet sein, was uns
denn nun eigentlich zwinge, aus den Dimetern und vielleicht daneben
aus Enhopliern alle übrigen Maße und Reihen herzuleiten. Schon daß
die Trimeter immer aus Dimetern „erweitert" seien, wird sich nicht
beweisen lassen. Ferner: wenn der Chor in der ältesten Tragödie mit
langen anapästischen Reihen einzieht, wenn lange iambische Reihen in
den Chören der Tragödie begegnen, wenn Anakreon aus reinen Jonikern
endlose Reihen bildet, wenn die Komödie eine besondere Wirkung darin
sucht, ihren Chorführer in einem Metrum fortreden zu lassen „bis zum
Ersticken", so erscheint es doch weit richtiger, hier ein ganz anderes und
gleich berechtigtes Prinzip rhythmischer Gestaltung anzuerkennen.
Eine Geschichte der antiken Metrik von den Urzeiten herab werden
wir niemals schreiben können. Wir werden es auch nicht wollen, da wir
nicht mehr glauben, das Erkennen des Werdens sei die eigentliche Form,
die uns zu dem Ergreifen des Seins hinführe. Was wir erreichen wollen,
ist einmal eine immer feinere Empirie, die die Formen sich aneignet zur
Reinigung und Sicherung der Texte und vor allem, damit die Verse in
ihrer sinnlichen Fülle und ihrem künstlerischen Bau uns wieder erklingen.
Darüber hinaus steht vor uns als Aufgabe ein umgreifender Blick auf das,
was man das Formensystem der griechischen Metrik nennen könnte. Dabei
werden wir die Zeiten, Orte, Gattungen von einander scheiden; es mag
auch hier und da eine geschichtliche Einsicht leiten, indem man gewisse
Formen wie Überbleibsel aus einer früheren Welt sehen lernt, auch in
manchen Bezirken Fort- und Umbildungen wahrnimmt und als Symbol
für die Umbildung der Gesamtform betrachtet. Aber sonst ist solch
umfassender Blick viel eher „systematisch" als historisch. Für jene Empirie
und diesen | Einblick in das Gesamtgefüge enthält das Wilamowitzsche
Werk die reichste Vorarbeit und die bedeutendsten Hinweise.
Wir können von keinem alten Verse sagen, wie er entstanden ist, wir
können ihn nur inmitten ähnlicher Formen hören, die wir irgendwie als
„verwandt" erkennen. Jedes Einzelgebilde gleichsam in den Schnittpunkt
möglichst vieler Verwandtschaftsreihen zu stellen, das scheint uns die
gewiesene Aufgabe. Streitigkeiten über die Entstehung des Hexameters,
ob er geworden sei aus zwei Halbversen oder aus einem daktylischen
Vierfüßler mit adonischer Klausel oder aus einem daktylischen Singvers
der Äoler, werden künftig ihren Sinn verlieren, wenn man das Unmög-
liche der Lösung und damit das Verkehrte der Problemstellung erkannt
hat. Dem Einzelnen mag es weiter unbenommen sein, sich eine Beziehung
herauszugreifen und vor den anderen gleich berechtigten die Augen zu
[415f416] Wilamowitz-Moellendorff, Griechische Verskunst 457

schließen. Uns gilt als Pflicht, die „Verwandtschaft" mit allen jenen
Formen in der Vorstellung festzuhalten. Ob Daktylo-Epitrite aus Daktylo-
Jamben und Daktylo-Trochäen „entstanden" seien, werden wir künftig
nicht mehr fragen. Wir werden diese Verwandtschaft anerkennen, werden
andererseits darüber nicht vergessen: die gewiß sehr altertümliche archi-
lochische Langzeile, die nur statt des Epitrits die ithyphallisdie Klausel
Klausel setzt — — ^JI^I — —w — w — > die Schlußreihe der alcä-
ischen Strophe, die das Übergehen der Daktylen in den trochäischen Fall
nur in verkürzter Weise zeigt - ^ w - u u - u - u 5 das Praxilleion — w
w — v^hier, den sapphischen und den alkäischen Elfsilbler
dort — w—w—ww—w | w — w—ww—w— > die sich alle nur durch
andere Regelung der Doppelsenkungen von den bekanntesten Grund-
formen der Daktyloepitrite unterscheiden; den Jambelegos w — w — w —
und das Enkomiologikon — — w — d i e jenen
Grundformen geradezu gleich lauten; schließlich Choriamben — —
und Joniker ww— I > die doch nicht zufällig jenen Liedern bei Pindar
beigemischt sind und nicht zufällig in ihrer Zusammensetzung die häufigste
daktylische Reihe — — jener Lieder ergeben. Nicht einen recht
einfachen „Ursprung" zu konstruieren, sondern den Reichtum möglichst
vieler Beziehungen sprechen zu lassen, scheint uns gefordert.
Noch eine andere Aufgabe wartet auf | die Erfüllung. Wilamowitz
hat, wie schon gesagt, mit bewußter und berechtigter Beschränkung sowohl
die Musik wie die gesamte rhythmische Theorie bei Seite gelassen. Wir
haben von der antiken Musik wenig, und es gehören zu dem Verständnis
des Wenigen Kenntnisse, die so selten sind, daß die Berliner Akademie
neuerdings einen Papyrus mit Musiknoten veröffentlicht hat, ohne daß
sie anscheinend einen Deuter dieses Rätsels finden konnte. Aber wir
besitzen doch immerhin die Gedichte des Mesomedes und Seikilos und die
delphischen Hymnen mit ihren Tönen, besitzen, wenn auch sehr trümmer-
haft, eine Komposition aus dem euripideischen Orestes und vor allem
besitzen wir die Noten zu dem Eingang von Pindars erhabenstem Chor-
lied, eine Komposition, die nicht nur den Musikhistorikern Ambros,
Riemann, Gevaert durchaus für echt gilt, sondern die auch Boeckh und
Westphal für echt hielten. Wie sollten diese Kompositionen, durch einen
Metriker gedeutet, der Musik versteht und, von Bach und Beethoven
bewußt sich befreiend, in jene alte Tonwelt eintaucht, nicht auch für die
Auffassung der Metrik wichtig sein, da doch Wort, Rhythmus und
Melodie hier nur verschiedene Äußerung einer einheitlichen Bewegung
sind?
Und dann die rhythmische Theorie: Wilamowitz gesteht selbst, daß
er sie für die Metrik nicht nutzen könne, und gibt nur einige Textver-
besserungen, zum Zeichen daß er den Aristoxenos nicht vernachlässigt
habe. Aber das genügt nicht. Die antike metrische Theorie ist in dem
Gesamt der musikalisch-rhythmischen Theorie erwachsen. Wilamowitz
458 Musik und Metrik [416)417]

hat uns ihre Anfänge - in dem Einleitungskapitel über die metrischen


Theorien der Hellenen - bei Dämon, dem „Gefährten" des Sokrates,
aufgewiesen, dessen bedeutende Lehre von dem Zusammenhang zwischen
Musik und Politik noch bei Piaton deutlich nachwirkt. Von Aristoxenos
haben wir direkt und indirekt faßbare Doktrin, die noch ganz unmittelbar
in die Zeit der lebendigen Kunstübung hineingehört. Sie scheint in ihrer
Lehre von Arsis und Thesis, äußerlich in der Bezeichnung der Thesen,
auf das genaueste mit den erhaltenen Resten antiker Musik zu stimmen.
Ein tiefer Einblick in den verborgenen Bau des griechischen Verses muß
hier noch zu finden sein. Wer das Zauberwort einmal zu sprechen weiß,
wird uns vielleicht über das, was | Metrik leisten kann, und über das
Bedeutende, was Wilamowitz in seinem Werke geleistet hat, noch weit
hinausführen.
Aber das sind Blicke in die Zukunft. Und gerade wer eine Erweite-
rung und Vertiefung für möglich und für geboten hält, wird warnen
müssen, daß der feste Boden der Erfahrung und das innige Zusammen-
leben mit den Texten je verlassen werde, wie es in einzigartiger Weise
die neue „Griechische Verskunst" zeigt. Wir können sie nicht kritisieren.
Das verlangte ein Buch, und wir würden uns dieser Aufgabe gar nicht
gewachsen fühlen. Wir können nur dankbar und bewundernd bekennen,
was Wilamowitz uns für das lebendige Verständnis griechischer Vers-
kunst und damit griechischer Kunst überhaupt gelehrt hat und durch
dieses Buch auch spätere Generationen lehren wird, die niemals das Glück
hatten, aus seinem Munde den Zauber griechischer Verse klingen zu hören.
Zum Plautinischen Hiat

1907

Diese Darlegung macht den Versuch, eine zusammenhängende Ansicht


über den plautinischen Hiat zu entwickeln. Freilich alle Hiate umfaßt sie
nicht: sie ist auf diejenigen beschränkt, die an bestimmten V e r s s t e 11 e n
haften, und sieht von denen ab, die an gewisse W o r t f o r m e n ge-
bunden sind. Darum bleibt naturgemäß auch das Problem der Verschlei-
fung ganz außer Acht; wie ich denn überzeugt bin, daß unserer Haupt-
frage in weiter Ausdehnung anders beizukommen ist.
Wir kennen jetzt, glaube ich, abgesehen von dem wohl allgemein an-
erkannten Hiat in der Diärese plautinischer Langverse auch im Senar
einen Hiat: nämlich nach der vierten Hebung. Er wird gesichert durch die
syllaba anceps, die an gleicher Stelle legal ist, und durch charakteristische
Wortformen, wie sie sonst nur am Versende vorkommen 1 . Er wird ferner
gesichert durch die parallele Erscheinung im trochäischen Septenar, der
ebenfalls vor schließendem Hiat, syllaba anceps und besondere
Wortformen zuläßt. Er wird schließlich gesichert durch die parallele Er-
scheinung im Saturnier, dessen zweite Kola: „insece vorsutum" und „aut
ibi ommentans" zu den Senarschlüssen „fingere fallaciam" und „im-
probi edentuli" die vollkommenste Analogie abgeben2.
Diese Entsprechung des Saturniers bestätigt nun aber, wie mir scheint,
nicht nur, sondern erklärt auch jene Eigenart des Dialogverses, die in
griechischer Technik ohne jede Entsprechung ist. Wenn man in dem be-
zeichneten Einschnitt eine Nachwirkung | der dipodischen Bildung sieht3,
so hat man mit einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten zu kämpfen: Ein-
mal paßt die Erklärung tatsächlich nur für den Senar. Man müßte dem-
nach annehmen, daß der trochäische Langvers die Bildung vom Senar
übernommen habe, daß also Trochäen ganz anders als Jamben von ihrer
ursprünglich dipodischen Bildung jede Spur verloren hätten. Und was
schwerer wiegt: Die Eigenheit des römischen Verses ist es ja grade, daß er
die dipodische Bildung verwischt; wie kann er sie da in e i n e m Stück

[Rheinisdies Museum L X I I , 1 9 0 7 , S . 7 3 - 8 5 . ]

1
Luchs, Studemunds Studia I 2 2 f . ; Leo, Plaut. Forsch. 3 0 9 ; zuletzt mit eindringender
P r ü f u n g des gesamten Materials: Jacobsohn, Quaest. Plautinae (Goettingen 1904).
Diese Arbeit ist mein Ausgangspunkt.
1
Leo, D e r Saturnische Vers S. 2 1 .
3
Leo, Saturn. 2 1 3 .
460 Musik und Metrik [74175]

über die griechische Kunstübung hinaus zu so unerhörter Stärke steigern?


Zudem wäre man genötigt, für den Saturnier einen Einfluß vom Dialog-
verse her anzunehmen. Nun ist ja solcher Einfluß an sich natürlich nicht
ausgeschlossen4. Aber hier liegt es doch klar, wie Hiat und syllaba anceps
im zweiten Saturnierkolon nur als Spezialfälle innerhalb einer weiter
greifenden Erscheinung gelten können. An jener Stelle ist in der Mehrzahl
kunstgerechter Saturnier Verseinschnitt vorhanden, der an dem gesetz-
mäßigen Einschnitt im ersten Kolon seine Entsprechung findet5; und sol-
cher Diärese kommt eben syllaba anceps und Hiatus zu. Im lateinischen
Dialogvers kann ebensowenig wie natürlich im griechischen6 davon die
Rede sein, daß Wortschluß an der in Betracht kommenden Versstelle auch
nur bevorzugt würde. Ich halte es mithin für evident, daß der Hiat vor
schließendem in Senar und Septenar aus der Saturniertechnik
stammt.
Wer diesen Hiat anerkennt, gesteht damit zu, daß es an bestimmten
Stellen der Dialogverse, auch abgesehen von den Diäresen in Langzeilen,
legitime Hiate giebt. Man scheint sich nicht recht klar gemacht zu haben,
was diese Erkenntnis für das gesamte Problem bedeutet. Es i s t aber
klar, daß der allgemeine (der einzige!) Einwand 7 gegen den Hiat, „er ver-
trage sich nicht mit der sonst herrschenden Synalöphe", tatsächlich ge-
fallen ist, wenn die Schauspieler an derselben Versstelle einerseits imper-
tire honoribüs, rus uxorem abdüxerö - andrerseits fingere fallaciam nicht
nur, sondern auch improbi edentuli sprechen konnten.
Wir sehen, wie die Verstechnik der römischen Dramatiker den trochä-
ischen Septenar als einen Senar mit vorgesetztem creticus betrachtet, ganz
wie das die spätere Theorie auch tut8. Ich möchte nun bitten, folgende
Schemata zu vergleichen (in denen der Doppelstrich die Hiatstelle an-
giebt):
Septenar — w ||— w — —w —
Saturnier ^ —^ — w— II«*;—w
Senar ^ — — — ^ Jj^——
Die Uebereinstimmung von Septenar und Saturnier beruht nicht nur auf
dem entsprechenden und entsprechend behandelten Einschnitt vor
schließendem ^ — w ( - ) , sondern auch in dem Zusammenfallen und der
gleichmäßigen Behandlung des Haupteinschnittes. Es bestätigt sich also die

4
Leo PI. F . 78 2 deutet nach dieser Richtung.
5
Leo, Saturn. - Einen neuen Erklärungsversuch madit Thulin, Italische sakrale Poesie
und Prosa (Berlin 1906) 36 ff. Dagegen Leo D L Z 1906 Sp. 1 9 5 1 , vielleicht zu scharf.
Aber das läßt sich nicht im Vorbeigehn erledigen.
6
Die Versspielerei des Kastorion (Athen. X 4 5 5 ) wird man mir wohl nicht als Gegen-
beweis bringen.
7
Dagegen z. B. auch Maurenbrecher, H i a t und Verschleifung 149.
8
Ritsehl, Einl. z. Trinummus p. C C X X X I I sqq., ders. Rhein. Mus. I 285.
[75176] Zum Plautinischen H i a t 461

längst geäußerte Vermutung 9 , daß die Zulassung des Hiats in der Diärese
des Septenars an der Beeinflussung durch den Saturnier die Erklärung
findet, die sich aus griechischer Technik nicht gewinnen läßt. Nun zeigen
aber die drei Schemata, wenn man die Einschnitte vor schließendem
) zusammenfallen läßt, daß den übereinstimmenden Hauptein-
schnitten im Septenar und im Saturnier die semiquinaria des Senars ent-
spricht, dh. die Hauptcäsur, in der notorisch viel mehr Hiate vorkommen,
als an irgend einer anderen Versstelle 10 . Wer | den Hiat leugnet, weil er
sich mit der Synalöphe nicht vertrage, der irrt: die beiden vertragen sich.
Wer den Hiat leugnet, weil er dem Wesen der Cäsur widerspreche, sieht
sich zwar nicht vor die ganz schwierige Frage gestellt, welches das Wesen
der Cäsur ursprünglich, dh. im Griechischen sei; wohl aber vor die andere,
wie denn die Metrik der römischen Szeniker die Cäsur aufgefaßt habe.
Ich bestreite rundweg, daß wir a priori darüber irgend etwas aussagen
können. Durch syllaba anceps ist der Hiat in der semiquinaria leider nicht
zu rechtfertigen, wohl aber wird er gestützt durch die Analogie des Sep-
tenars, der seine Diärese und den heut von niemandem (glaub ich) be-
strittenen Hiat in der Diärese an derselben Stelle hat, wo der Senar seine
semiquinaria und den heut von fast allen bestrittenen Hiat in der semi-
quinaria. A n derselben Stelle, sag ich, nämlich wenn man von hinten
rechnet, wozu die gleichmäßige Formung jenes Einschnittes vor schließen-
den yj— oder, wenn man will, die Auffassung des Septenars als eines
creticus mit folgendem Senar uns ein volles Recht giebt. Eine weitere
Stütze, und zugleich den zureichenden Grund für diese Erscheinung giebt
dann die Analogie des Saturniers mit dem Hiat zwischen Camena und
insece. Saturnier, Senar und Septenar schließen

- w - H w - w ( - )

' K l o t z , Grundzüge römischer Metrik 142. 146. Derselbe K l o t z , der „die Hiate in den
Senarzäsuren prinzipiell mit Entschiedenheit" v e r w i r f t (S. 166). - Ich möchte bei
dieser Gelegenheit bemerken, daß ich mein in diesem A u f s a t z entwickeltes Prinzip
- freilich ohne jede Schärfe und ohne eigentliche Einsicht in das Wesen - angedeutet
finde bei Below D e H i a t u Plautino ( i 8 8 j , Berliner Diss., auf die ich durch Mauren-
brediers Resume [a. O . ] aufmerksam wurde). Below notiert einige (wirkliche und
vermeintliche) Übereinstimmung zwischen Dialogversen und Saturniern und schließt
dann: „haec autem omnia Plauto cum Saturniis consociata sunt. In his autem versibus
multa hiatus exempla ante oculos habuit: num mirum est ipsum quoque quibusdam
licentiis in hiatu admittendo usum esse?" Dann folgen Verkehrtheiten.
1 0 Für die in A und P gemeinsam überlieferten Partien des Poenulus hat Leo PI. F. 4 die

Rechnung aufgemacht. Ich selbst zählte z. B.


semiqu. semis. nach sonst
Stich. 9 (6 in AP) 4 (3 in A P ) 4 (3 in A P ) je 1 - 2
Pseud. 8 (7 in AP) 3 (i in AP) je 1 - 2
Persa 6 1 1 je 1 - 2
Merc. 4 (oder j ) 6 (oder 5) 2 je 1 - 3
462 Musik und Metrik [76)77]

sie haben alle drei an der (durch Doppelstrich) bezeichneten Stelle einen
Einschnitt mit den besprochenen Eigentümlichkeiten, und haben alle drei
vor diesem schließenden Kolon ihre Hauptfuge mit legitimem Hiat.
Mit anderen Worten: Der Senar ist von Andronicus und Naevius
nach der Analogie ihrer Saturnier, die Senarcäsur nach Analogie der Sa-
turnierdiärese interpretiert und behandelt worden.
Es ist selbstverständlich, daß der semiquinaria die semiseptenaria folgen
muß. Mich dünkt, auch das Wie ist nun nicht mehr schwer zu finden. Denn
wenn man schon im Senar einen Verwandten des Saturniers sah und also
die Cäsur in dem neu übernommenen Verse so behandelte, als wäre sie die
Hauptfuge ] des Saturniers, dann war ein Unterschied zwischen jrevdrini-
|xeqt]5 und scpi)ri|xi|X£Q^5 nicht wohl möglich, um so weniger, als
blande hominem compellabo || hospes hospitem (salutat...)
ja tatsächlich mit virum mihi Camena die engste äußere Aehnlidikeit hat 11 .
Für den trochäischen Septenar folgt aus der Zusammenordnung
W———"-»II- W — W —
— w—; w — — w — w|| — w — w —
die Legalität des Hiats vor s c h l i e ß e n d e m u n d es gehört in
der Tat schon etwas wie Verzweiflung zu einem Verfahren, das selbst in
Fällen wie
venibunt servi supellex fundi || aedes omnia;
venibunt quiqui licebunt praesenti pecunia (Men. 1158) oder
quarta invidia, quinta ambitio, sexta || obtrectatio,
septimum periurium, (Euge!) octava indiligentia
nona iniuria . . . . (Persa j 57)
die vermeintliche Lücke verkleistert13.
Auch die nächsten Schritte auf dem gleichen Wege sind nodi ohne er-
hebliche Schwierigkeit. Für den Hiat nach der zweiten Senkung im Senar

findet man eine lange Reihe von Beispielen14, Bestätigung giebt wieder der
Septenar
— v^l— ; ' — * ' | ] — W — W—W—W —
wobei man sich in Erinnerung rufe, daß die Form
— W— —^ — <w<—— —W —

11
Ich denke, die feinen Unterschiede, die Leo Sat 24 heraushebt, wird man nidit als
Gegeninstanz gebraudien wollen.
12
Müller, Plautin. Prosodie 602 f.
13
Zu der Stelle der Menaechmi notieren Vahlen und Leo Müllers (et) aedes, glücklicher-
weise ihrem Prinzipe nach unter dem Text; halten sie denn so etwas für möglich?
Etwa wegen Stellen wie Truc. 186? Zum Persa schreibt Leo resignirt: hiatus probabilis
medela non facile inveniatur.
14
Müller a. O. J I I .
[77178] Z u m Plautinischen H i a t 463

(mit Hiat, syll. anc. und charakteristischen Wortformen an der markierten


Stelle) ja etwas Bewiesenes ist 15 . Nun:
in Pylum devenies | aut ibi ommentans (Liv. 9)
tumque remos iussit | religare struppis (Liv. 10) |
postquam avem (!) aspexit | in templo Anchisa (Naev. 3)
septimum decimum annum || ilico sedent (Naev. 40)
sind anerkannte Formen des literarischen Saturniers16.
In bakcheischen Tetrametern 17 finden wir an zwei Stellen Hiat

vollkommen gesichert durdi syllaba anceps und bestätigt dadurch, daß


Worte wie satis magis enim vor den bezeichneten Einschnitten gegen die
Gewohnheit 18 scheinbar mit dem metrischen Wert — w auftreten:
Poen. 214 1 9 neque umquam satis hae duae res ornantur
Most. 125 nec sumptus ibi sumptui esse ducunt
Pers. 817 20 malum magnum dem. Utere, te condono.
Poen. 21 j neque eis ulla ornandi satis satietas est.
Nicht nur eine, sondern 2 syllabas ancipites scheint Truc. $55 zu ent-
halten:
domist qui facit improba facta amator.
Ich glaube nicht, daß sich an der Tatsache rütteln läßt. Zunächst aber
muß sie einer anderen Beobachtung untergeordnet werden: Im Gegensatz
zu seinen Kretikern baut nämlich Plautus seine bakcheischen Tetrameter
im Allgemeinen so, daß die beiden ersten Metra von dem dritten und vier-
ten weder durch syllaba anceps noch durch Hiat getrennt sind21. Damit
stimmt das Ergebnis, das mir eine Untersuchung der Einschnitte im bakch.
Tetr. geliefert hat: Von 157 Versen (die in 1 1 größeren Gruppen beisam-
men stehn) hatten 99 den Einschnitt nach w : 101 den Einschnitt
vor schließendem — w ; 133 den einen oder den anderen oder beide.
Demgegenüber gab es nur 46, in denen eine Fuge hinter dem vollendeten
15
Jacobsohn, Quaest. Plaut.
16
Leo Sat. 40. - Thulin a. O . 38 ändert Naevius 40 durch Umstellen. Der G r u n d ist
nichtig.
17
Jacobsohn a. O . 21 ff.
18 Leo PI. F. 267 ff., 303 f.
19
Von Leo mit Ritsehl getilgt. Der Vers ist so echt wie möglich. Das ist ja gerade die
(meist so unerträgliche) A r t plautinischer cantica, d a ß sie in die Breite schwellen. Die
Kritiker verkennen das o f t . So hat Vahlen einmal f ü r das erste canticum der Mostel-
laria den Nachweis geführt, d a ß die Athetesen, die bis in die neuesten Ausgaben
dauern, lediglich modernem Geschmacksurteil entspringen.
20 ich bezweifle nicht, d a ß utere f ü r PI. eigentlich daktylisch lief.
21
Spengel Reformvorschläge 205. Spengel sagt natürlich „niemals". D a ß ich etwas anders
urteile, zeigt die A n m . 2 S. 79. - Vgl. übrigens Klotz a. 0 . 1 8 1 f.
464 Musik und Metrik [78/80]

z w e i t e n M e t r o n liegen konnte, | unter diesen 4 6 n u r e t w a 1 0 , in denen v o n


den beiden andern C ä s u r e n keine v o r h a n d e n w a r 2 2 . A l s o zerfielen f ü r
P l a u t u s z w a r seine K r e t i k e r in ihre D i m e t e r u n d sogar ihre M e t r a
— —| — — 1 | — | — —
aber seine Bakcheen teilte er im A l l g e m e i n e n 2 3 nicht e t w a

sondern
V_/ w — | — KJ — | —
mit einem oder m i t beiden Einschnitten. U n d an diesen Stellen, w o die
Einschnitte zu liegen pflegen, tritt d a n n z u w e i l e n gleichsam m i t v e r s t ä r k -
ter T r e n n u n g syll. anc. u n d H i a t a u f .
W i r brauchen, scheint m i r , nicht lange zu suchen, u m auch jetzt w i e d e r
die W i r k s a m k e i t des Saturniers z u spüren:
Cornelius Lucius Scipio Barbatus
u n d w a s dem ähnlich ist 24 stimmen ziemlich g e n a u : |
saturn. w — ^ — | — ^ —1| — w — ^ — w

bakch. w w — | — | — w
u n d , u m auch dieses gleich zu erledigen, der kretische T e t r a m e t e r
— W—| — W—I — W— —W —
m i t H i a t u n d syll. anc. an den bezeichneten Stellen 2 5 , w i r d denselben W e g
der E r k l ä r u n g gehn.
22
In 14 Versen war keine von den drei untersuchten Versstellen durch Wortende mar-
kiert. - In dieser Rechnung sind die meisten Verschleifungen (außer etwa bei atque
und neque) als cäsur-hindernd angesehn. - Man beachte auch die Stelle des Personen-
wechsels, z. B. Pseud. 247 ff.
23
Ein paar Ausnahmen: Die Verse Aulul. 1 2 0 - 1 3 0 scheinen durchaus die Teilung
xarot ölfiexpov, ja sogar y.axa. uetpov, anzustreben. Ähnlich ist Trucul. 453 ff. gebaut,
und wenn nun in diesem Liede zweimal die Dimeter durch syll. anc. gesondert sind
459 lucri causa avara probrum sum exsecuta
463 vosmet iam videtis ut ornata incedo
so ist es sehr wahrscheinlich, daß wir das als seltenere Nebenform einfach zu lernen
haben. Damit würde dann Rudens 191 ff. stimmen; denn 191 und 193 haben die
Teilung nach dem zweiten Metron und V. 194 hat nun auch einen Hiat
tum hoc mi indecore | inique immodeste.
Ich würde also die Teilung xarrj. Öi|i£TOOV als rare Nebenform für Plautus bezeich-
nen und demgemäß Hiat und syll. anc., wenn sie in der Diärese nach dem zweiten
Metron vorkommen, keineswegs beanstanden. Um so mehr, als die Trennung der
Metra bekanntlich griechischer Übung entspricht:
Aisch. Prom. 15 t i ; dxw, xig 6&[xü jtgoaejtxa p.' ätpEyv'n?-
Timotheos 1 1 3 vorixai ftgrjvcoÖEi xatelxovT' ööupfup.
Und als die Analogien im Saturnier nicht fehlen: Leo Sat. Vers 39.
24
Leo Sat. Vers 44 ff. Es trifft sich hübsch, daß Naev. 5 3 quod bruti nec satis | sardare
queunt (Leo s. 46) in dem etwas anders gebauten aber doch kretisch schließenden
ersten Saturnierkolon satis den Beschluß macht. (So jetzt Leo mit Recht gegen seine
frühere, PI. F. 268 vertretene Ansicht.) Das tritt also ganz zu Fällen, wie die vorhin
bezeichneten (z. B. der oben ausgeschriebene Vers Poen. 215).
[80/81] Zum Plautinisdien Hiat 465

Der Boden wird unsicherer. Noch bleibt ein wichtiges Paar von Sen-
kungshiaten im Senar und Septenar übrig, vor schließendem creticus:
W W — W — W —W — —
— — — — w —
egomet mihi comes calator equos agaso || armiger;
egomet sum mihi imperator, idem egomet mihi oboedio
(Merc. 852)
nam isti quidem hercle orationi ¡j Oedipo
opust coniectore. (Poen. 443)
huic argumento antelogium || hoc fuit. (Men. 13)
Die Anzahl der Beispiele ist so groß, daß wir hier nicht nein sagen können,
wenn wir vorher ja gesagt haben. Das bedeutet: wir haben den Hiat auch
hier anzuerkennen, ganz gleich, ob es uns gelingt, ihn zu erklären. Ich
halte es garnicht für ausgeschlossen, daß wir so argumentieren dürfen: In
die dritte, vierte, zweite Senkung des Senars ist der Hiat durch die Paral-
lelisierung mit dem Saturnier eingedrungen. V o r dieser Uebermacht hat
auch die einzig noch in Betracht kommende fünfte Senkung kapitulieren
müssen. Oder man kann sich vorstellen, daß für die Empfindung des rö-
mischen Verskünstlers der Senar, anstatt sich in seine Dimeter zu gliedern,
nach der Analogie des Saturniers in eine Anzahl von K o l a zerfiel, und daß
das K o l o n — am Schluß des Senars und Septenars (wie ja auch am
A n f a n g des Septenars) sich als selbständig loslöste und nach vorn (und
nach hinten) diese Selbständigkeit durch Hiat (und syll. anc.) bewährte;
ganz wie insece. W o f ü r auch die eben hervorgehobene Selbständigkeit
desselben Kolons in Kretikern und | Bakcheen spricht. Mir scheint diese
Erklärung recht probabel, vielleicht darf man sie auch mit der ersten Er-
wägung kombiniren. - Oder man mag sich denken, daß der Senar gele-
gentlich als ein vorn um verlängerter Saturnier erschien, (wie ja bei
der Einführung des Semiquinaria-Hiats der Senar als ein um ver-
kürzter Saturnier vorgeschwebt haben muß); sodaß dann naturgemäß
die Hauptfuge vor schließendes w fiel, ganz wie im Saturnier vor
insece.
Im Einzelnen wäre noch manches nachzutragen. So ist im trochäisclien
Septenar ein paar Mal syll. anc. und Hiat nach der vierten Hebung be-
obachtet worden 26 , also

25 Jacobsohn a. O . 21.
Aul. 142 da mihi operam. amabo. T u a s t . . .
Epid. 57 Epidice, perdidit me.
Men. 576 res magis quaeritur
Asin. 13 j nam in mari repperi [ hic elavi bonis.
K l o t z , Grundzüge 160. Ich füge hinzu, daß nach Leos (PL F. 272) Beobachtung potis
in dem Wert nur Miles 781 und 788 vorkommt. 781 beginnt: quam potis tam
verba confer; 78 S lautet: quam lepidissimam potis quamque adulescentem maxume.
Also zwei Versstellen, die gelegentlich auch Hiat und syll. anc. haben.
466 Musik und Metrik [81/82]

Man sieht leicht, wie


quia tibi aurum reddidi et quia non te fraudaverim (Bacc. 736)
quidquid est iam ex Naucrate cognato id cognoscam meo
(Amph. 860)
ganz so beginnen, wie ein Saturnier beginnen kann neque tarnen te oblitus
sum oder immolabat aureamP. - Ein Senaranfang w —1| läßt sich bequem
mit dem Einschnitt in der semiquinaria zusammennehmen und aus der
Musterform des Saturniers ableiten.
Aber ich mag nicht weiter Einzelheiten herausheben. Es kommt mir
vor allem auf das Prinzip an. Die überwiegende Menge der Fälle habe
ich behandelt. Was etwa noch übrig bleibt, wäre in der gleichen Weise
oder, wenn das nicht angeht, durch fortwuchernde Analogie zu erklären.
Von meinem Weg vertraue ich, daß er dem Ziel entgegen führt, weil ich
am Ausgangspunkt, täusche ich mich nicht, die rechte Richtung eingeschla-
gen habe und dann nicht rechts oder links abgebogen bin.
Als Resultat stellen wir also fest: Die Hiate im altlateinischen dra-
matischen Vers sind von den Dichtern selbst zugelassen worden und be-
ruhen auf der Einwirkung der Saturniertechnik28. Damit ist schon aus-
gesprochen, daß ich Spengels | „Hiate in Sinnespausen" und „Hiate bei
Eigennamen", Klotzens „logische Hiate", Lindsays „Hiate bei empha-
tischer Wiederholung, bei asyndetischer Anknüpfung, beim Vorlesen eines
Briefes, zwischen antithetischen Gliedern" - daß ich alle diese Prinzipien,
mit denen man einen Teil der kerngesunden Hiatusverse vor Infektion
hat schützen wollen, für ganz unzureichende Mittel halte. Und zwar vor
allem darum, weil die griechische Technik dergleichen nicht kennt29, und
weil sich diesen Prinzipien, die man dem Sprachinhalt entnimmt, nie der
ganze Reichtum der vorhandenen Fälle unterordnet, sondern ein Teil
immer herausfällt trotz gleicher formaler Bedingungen. So kann also nur
eine formale Erklärung als Grundlegung in Betradit kommen30.

" Leo Sat. 4 1 f.


28
Idi brauche nidit zu sagen, daß es danach in der Sache völlig gleichgültig ist, ob ein
kurzer oder ein langer V o k a l im H i a t steht. Wenn Plautus den kurzen V o k a l seltener
setzt als den langen, so ist das verständlich, aber kein Grund, die kurzvokaligen H i a t e
als unplautinisdi zu verwerfen. Woraus natürlich folgt, daß es verkehrt ist, eine K ü r -
zung des langen V o k a l s im Senkungshiat anzunehmen. Dies in aller Knappheit gegen
Maurenbrechers A u f f a s s u n g der Dinge.
29
M i r sind sogar Bedenken gekommen, ob selbst der Personenwechsel als primärer
G r u n d f ü r die Einführung des Hiats betrachtet werden kann. Die Griechen kennen
so etwas im Sprechvers nicht (denn wer, wie K l o t z , G r u n d z . 1 1 1 , etwas anderes be-
hauptet, ignoriert die Grenzen der Gattungen), und daß die Römer sich der griechi-
schen Technik im G r u n d fügten, zeigt das Überwiegen der Verschleifung. W i e kam
man also dazu, Hiate bei Personenwechsel gelegentlich zuzulassen? Idi glaube, sie
werden von Stellen ausgegangen sein, die auch sonst unter dem Einfluß des Saturniers
den H i a t zuließen. - Ärgerlich Verkehrtes über diese Frage steht bei Maurenbrecher
a. O . 1 7 1 .
30 D a m i t soll natürlich nicht bestritten werden, daß sich, wenn man auf dem Boden
[82/84] Zum Plautinischen Hiat 467

D a m i t w ä r e meine Auseinandersetzung am Ziel, und nur noch einige


Bemerkungen möcht ich nachbringen.
M a n hat neuerdings 3 1 die plautinischen V e r s e untersucht, die in der
einen Ueberlieferung mit, in der andern ohne H i a t | stehn. E s sollte ge-
zeigt werden, daß w o unser T e x t bessere Beglaubigung hat, die bösen
H i a t e verschwinden, w i e die N e b e l v o r der Sonne. D e r Beweis ist in seiner
letzten Absicht mißlungen. N i c h t nur daß m a n in manchen Fällen durch-
aus z w e i f e l h a f t sein kann, ob wirklich die hiatlose F o r m den V o r z u g v e r -
dient 3 2 . S o vergißt eine solche Betrachtung als K o m p l e m e n t hinzuzufügen,
w i e viele H i a t e durch die Uebereinstimmung v o n A und P bestätigt w e r -
den. U n d m a n kann weiter ruhig zugeben, daß auch v o n diesen gemein-
sam überlieferten H i a t e n eine ganze A n z a h l schwinden w ü r d e , wenn
die T r a d i t i o n noch besser und reicher flösse. A b e r damit sind die H i a t e
weder aus der W e l t geschafft, noch erklärt.
Beides versucht die Theorie 3 3 , die den plautinischen H i a t der Ar-
chaistenzeit zuschreibt. M i t Unrecht, schon gleich darum, weil den be-
kannten W o r t e n Ciceros, der den H i a t bei den A l t e n kennt und z B . den
in der semiseptenaria aus N a e v i u s 3 4 belegt, jene | Theorie geradezu w i d e r -

meiner formalen Erklärung steht, manche von jenen dem Sprachinhalt entnommenen
Motivierungen gelegentlich mit Nutzen verwenden lassen. Dafür sind die Beispiele
Lindsays (in der Einleitung zu den Captivi) teilweise recht belehrend. Nur muß
man sich dann sagen: Plautus hatte den Hiat frei; warum er ihn in diesem konkreten
Falle verwendet, dafür läßt sich der Grund etwa in der antithetischen Gegenüber-
stellung sehn, die sonst minder sdiarf herauskäme - u. dgl.
31
Krawczynski, De hiatu Plautino. Breslauer Diss. 1906. Man sehe auch Skutsdi, Berl.
phil. Woch. 1901 S. 910 ff. Dort wird den „Verfechtern sämtlicher überlieferten
Hiate, deren wir gewiß nach Maurenbrecher und Birt bald noch manche begrüßen
werden", die Statistik anempfohlen, die jetzt Skutschens Schüler vorlegt. - Übrigens,
ich glaube weder an die hiattilgende K r a f t des h noch gar des spir. lenis.
32
Nur ein Beispiel (idi könnte aber mehre vorführen): Trin. 18 schreiben die Heraus-
geber mit A :
huic Graece nomen est Thensauro fabulae;
Philemo scripsit, Plautus vortit barbare,
während P mit Hiat
huic nomen Graece est Thensauro fabulae
giebt. Nun könnte man ja für A anführen:
Alazon Graece huic nomen est comoediae (Mil. 86),
aber für P spricht anderseits Asin. 10:
dicam.. huic nomen Graece Onagost fabulae,
und das steht der Trinummusstelle näher, weil einmal huic vorangeht und der grie-
chische Name folgt; zweitens aber weil der nächste Vers
Demophilus scripsit, Maccus vortit barbare
die genaueste Ähnlichkeit mit Trin. 19 aufweist. Ich halt es für Willkür, wenn man A
bevorzugt. (Vielleicht ist der Eindruck nur subjektiv, aber für mich ist die Lesart
von A um eine winzige Spur minder natürlich.)
33
Klotz, Leo.
34 pür Naevius ein paar Verse mit schlichtem Hiat bei Maurenbredier H. u. V. 216; nach
schließendem m ebenda 23; nach o-Ablativen (wo man an -od denkt) ebenda 1 1 5 .
468 Musik und Metrik [84185]

spricht35. Wäre also wirklich der Hiat nachplautinisch, so müßte er doch


vorciceronisch sein. Und die Erklärung jenes angeblichen Prozesses, das
Eindringen des Cäsurhiats gehe Hand in Hand mit dem Vermeiden der
Synalöphe in der Cäsur, sei also eine Folge von dieser, ist darum so ver-
kehrt, weil wahrhaftig nicht das eine aus dem andern folgt, und weil
Seneca und Phaedrus die Cäsur markiren, ohne den Hiat anzuwenden 36 .
Ganz abgesehen davon, daß es sich ja keineswegs nur um den Hiat in der
Cäsur handelt.
Für die Beurteilung unseres Plautustextes aber folgt, daß über die
Hiatusverse weder eine größere Unsicherheit noch eine größere Sicherheit
herrscht, als in irgend einer anderen Hinsicht. Gewiß lesen wir falsche
Hiate, aber eben so viele fehlerhafte Verse ohne Hiat. Natürlich ist die
fides unseres Textes geringer, wenn wir allein auf P bauen müssen, aber
in Beziehung auf die Hiate nicht mehr, als in irgend einer anderen. Oft
werden wir Fehler gar nicht spüren, aber in hiatfreien Versen nicht sel-
tener als in klaffenden. Kein Vers ist um seines Hiats willen allein mit
willkürlichen Aenderungen zu bedenken; solches Verfahren unterscheidet
sich nicht um eine Handbreite von einer gewissen Methode, die aus den
Wolken ihrer „adversaria" über jeden griechischen Komiker- und Tra-
gikervers einen Variantenregen „ex ingenii opere" ausschüttet, weil ja das
Autogramm des Dichters in der langen Zeit handschriftlicher Ueberlie-
ferung möglicherweise gelitten haben könne.
Im Grunde sollte das nach allem selbstverständlich sein. Aber eine
Schwierigkeit sei zum Schlüsse noch hervorgehoben, grade weil ich für sie
keine völlig bewiesene Lösung bieten kann. Leo hat nachdrücklich darauf
aufmerksam gemacht37, daß sich | die einzelnen Stücke verschieden zum
Hiat verhalten, und hat mit Recht betont, daß diese Tatsache ihre Er-
klärung in der Ueberlieferungsgeschichte, nicht etwa in einer Entwicklung
der plautinischen Technik finden müsse. Natürlich hat Leo gemeint, daß
in die einen Stücke mehr Hiate als in die anderen eingedrungen seien. Wir
werden vielmehr, wenn wir nicht reinen Zufall annehmen, dh. vor dem Pro-

Die Verweisungen der Kürze halber, nicht als ob ich Maurenbrediers metrischer Auf-
fassung oder Textkonstitution allemal zustimmte. - Die dürftigen Reste des Andro-
nicus bieten naturgemäß wenig. Aber ein sicheres Beispiel von Cäsur-Hiat steht
trag. 4 1 : quinquertiones praeco in medium vocat (wo Buechelers Versuch den Hiat
zu beseitigen, geistreich aber unrichtig, Ribbecks Versuch nicht geistreich, aber auch
unrichtig ist). Der legitime Hiat im Septenar nach beginnendem Creticus trag. 18,
wenn die Form conflugae echt wäre (s. aber Solmsen, Stud. z. lat. Lautg. 127). Auch
trag. 26 enthält einen Hiat, wenn der Vers vollständig ist.
35
Die geistreichen Sophismen, mit denen Ritsehl das Zeugnis eludierte, mag man in der
Vorrede zum Trinummus nachlesen. (Seine spätere Ansicht ist ausgeführt in den Neuen
plaut. Exkursen 113.)
36 Wenn Seneca an 4 Stellen den Hiat angeblich geduldet haben soll, so würde man
wahrscheinlich aus 4 Korruptelen das Gleiche für Euripides deduzieren können.
37
Plaut. Forsch. 5 f.
[85] Zum Plautinischen Hiat 469

blem überhaupt kapitulieren wollen, zu dem entgegengesetzten Schlüsse


gedrängt, daß die verschiedenen Dramen verschiedene Festigkeit in der
Konservierung des Hiats bewiesen haben. Daran muß sich aber weiter die
Frage schließen, wann und wie man dazu kommen konnte, die scheinbar
kranken Verse in die Kur zu nehmen. Einzeln war das natürlich zu allen
Zeiten möglich und ist gewiß einzeln zu allen Zeiten vorgekommen38.
Gelegentlich mag auch rein mechanische Korruptel einen echten Hiat ver-
trieben haben39. Indessen für die Hauptsache kommen wir damit nicht
aus. Mir scheint, ein Interesse, die Verse zu glätten, mußte oder konnte die
Bühnenpraxis herbeiführen. Ambivius Turpio und seinen Gesellen, die
an Terenzens Kunst geschult waren, mochten in der Tat die klaffenden
Verse schwer von der Zunge gehn. Wir haben wenigstens mit der Mög-
lichkeit zu rechnen, daß bei Neuaufführungen — wie ja der Casina-Prolog
die Wiederholung der Sortientes als do/aicx bezeugt - Ueberarbeitungen
im Sinne der Terenzischen Verstechnik stattgefunden haben. Das wären
Geschicke des Textes, die wieder an den homerischen Gedichten ihre
Parallele fänden. Wie leicht im Allgemeinen das Verfahren ist, zeigen ja
die Versuche der Modernen; nur daß wir ihren antiken Vorgängern noch
größere Geschicklichkeit zutrauen dürfen. So wird denn ein wirklich
zwingender Nachweis in bestimmten Einzelfällen sehr schwer zu erbrin-
gen sein, und wenigstens meine Kenntnis der Sprache reicht dazu nicht
hin.

38
Scheinbaren Hiat vertreibt A gegen P: Poen. 746; vgl. Baier, de PI. fab. rec. 58. Be-
wußte Änderung (A = P) vermutet Leo (PI. F. 315) für Stich. 202.
39
Das nimmt Leo (PI. F. 318) für Most. 173 an. - Mit Absicht geb ich hier nichts Eignes.
V
Archäologie
Zur Frühgeschichte des Argivischen Heraions

190 9

Seitdem Christian Belger in seinen verdienstvollen „Beiträgen zur


Kenntnis der griechischen Kuppelgräber" eine erste Zusammenfassung
dieser Monumente gab, hat man ihnen als Bauwerken und als Bewahrern
mykenischer Schätze fortdauernde Aufmerksamkeit gewidmet. So ist
zwar mittlerweile unsre Kenntnis von ihnen nicht unerheblich erweitert
worden, aber man scheint nie in zusammenhängender Überlegung an die
topographisch-historische Frage herangetreten zu sein, wie sich diese Grab-
stätten der „achäischen" Herren in ihrer Lage zu den Burgen derselben
Herren verhalten. Das hat die Praxis nicht gehindert in der Beurteilung
des einzelnen Falles zumeist das Richtige zu treffen. N u r gelegentlich
zeigt sich, wie die Sicherheit zusammenfassender Begründung fehlt, und
an einer Stelle ist das Richtige verkannt worden, weil man den Zusammen-
hang nicht im Auge hatte.
Der Stadtberg von Orchomenos steigt aus der Niederung empor bis
zu dem senkrecht aufgetürmten Felsen, der heut das schöne hellenistische
Castell trägt. Die obere H ä l f t e jenes Abhangs ist nackter zerrissener
Kalkstein, und wenn man sie auch aus fortificatorischen Gründen in die
polygonale Befestigungsmauer einschloß, kann sie doch niemals dauernder
Bewohnung gedient haben. Diese mußte sich auf den unteren Teil des
Abhangs beschränken, w o noch jetzt die Vlachen ihre Hütten bauen, und
w o Furtwängler und Bulle die Schichten menschlicher Siedelung von
neolithischer bis zu „achäischer" Zeit bloßgelegt haben. Hier stand auch
der „achäische" Palast, unzweifelhaft der Herrensitz desselben Fürsten,
dessen Familiengruft wir als „Schatzhaus des | Minyas" heut noch be-
wundern. Dieses prachtvolle Kuppelgrab, das sich über einem Kreis von
14 m Durchmesser wölbte, ist eingeschnitten in den Fuß desselben Berges,
auf dessen höherer Terrasse das achäische Fürstenschloß stand.
Die Burg von Mykenai ist ein dreiseitiger Fels, der aus der Talschlucht
zwischen Szara und H . Elias in die Ebene herausdrängt. Vor ihm zieht
sich in nord-südlicher Richtung ein langgestreckter Hügel hin, mit der
Nordwestspitze des Burgdreiecks durch einen schmalen Grat verbunden.
An dieser Verbindungsstelle lagen ein mittelgroßes Kuppelgrab beschei-

[Deutsches Archäologisches Institut, Athenische Mitteilungen X X X I V , Berlin, 1909,


S. ¿9-79-]
474 Archäologie [70171J

denerer Bauart (Perrot-Chipiez V I 305, N r . 3. 365) und das große und


prächtige „Grab der Klytaimnestra", wenige Schritte vom Löwentor ent-
fernt, hineingetrieben in den Hügelrücken, der von der Burg abzweigt.
Und in demselben Hügelrücken, keine j o o m südlich, liegt, dem Minyas-
thesauros an Durchmesser genau gleichend, das „ G r a b des Agamemnon"
oder „Schatzhaus des Atreus", der Breitseite der Burg gegenüber, von
ihrer Mauer aus als schmaler Einschnitt deutlich sichtbar. Das sind die
drei stattlichsten Gräber, diejenigen, die am ehesten beanspruchen dürfen,
den Herren der Burg die letzte Ruhestätte geboten zu haben, seitdem
man ihre Leichen nicht mehr in die Schächte des Burghügels selbst senkte.
Weit hinter diesen zurück an Größe und Technik stehen die anderen
Kuppel- und Felsgräber achäischer Bauart, die in die Abhänge des
Stadtberges und in die gegenüberliegenden Höhen eingebettet sind. Man
wird sie in der Mehrzahl mit Zuversicht den untertänigen Geschlechtern
zuweisen dürfen, die auf der Burg, dem Stadtberg und in der Umgegend
ihre Häuser bauten.
Unendlich viel kümmerlicher sind die Verhältnisse, wenn wir uns
nach Attika wenden, zu der kleinen Burg Thorikos an der Ostküste. Der
Herrensitz dort oben auf dem spitzen Kegel des Velaturi unterhalb der
höchsten Felskuppe ist staunenswert winzig und eng, entspricht aber der
geringen Ausdehnung des knapp umschriebenen Gebietes, das man von
der Burghöhe übersieht. Von ihr fällt der Berg ziemlich stark ab, um sich
nach Nordwesten noch einmal wenn auch niedriger zu erheben. In der
Einsattelung liegen zwei Kup|pelgräber, diesmal ovalen Grundrisses. Ein
größeres, etwa 8,65 m lang, 3,15 m breit, mit Dromos und Stomion
in der Längsachse, und ein kleineres, etwa 4,75 m lang, 1,85 m breit,
durch einen aus der Mittelachse verschobenen Gang an der Langseite
zugänglich. Ein drittes rundes Kuppelgrab, etwa 9 m im Durchmesser,
findet sich von der Gruppe der ovalen entfernt in dem Ostabhang des
Burgberges.
Kürzlich hat Dörpfelds Verdienst und Glück die drei Kuppelgräber
von Kakovatos-Pylos entdeckt. Der Weg führt aus der Strandebene empor
zu den ansehnlichen Kreisen, in denen uns freilich nur die Größe des
Durchmessers - 12 m bei dem stattlichsten - und die geringen Reste der
prächtigen Ausstattung von der Macht ihrer einstigen Besitzer reden.
Dann wendet man sich und steigt in wenigen Minuten zu der Hügelspitze
hinauf mit ihren dürftigen Uberbleibsein des alten Palastes. Von dort
sieht man hinab zu den Gräbern und auf die Ebene weiter unten (AM.
X X X I I 1907, S. V I I I . X X X I I I 1908, 295 T a f . 1 5 - 1 7 ) .
A m rechten U f e r des Eurotas, etwa 9 km südlich von Sparta, liegt ein
zweigipfeliger Hügel, der in seiner nördlichen Erhebung das „Kuppel-
grab von Vaphio" enthält. Der südliche Gipfel ist ein schmaler Kamm,
kann aber hinreichend Platz f ü r eine Burg geboten haben, während die
Hügelabhänge nach Süd und West einer städtischen oder dörflichen Siede-
[71 ¡72] Zur Frühgeschichte des Argivischen Heraions 475

lung Raum gewähren würden. Man hat denn auch früher unbedenklich
an dieser Stelle das alte Pharis gesucht (Conze und Michaelis, Annali
X X X I I I 49, mit guter Ortsbeschreibung, richtiger Beurteilung der Frage
und nützlicher Kartenskizze auf Tav. F). Neuerdings jedoch hat
H. v. Prott Pharis in den Süden der lakonischen Ebene legen wollen und
hat behauptet, daß das Kuppelgrab sehr wohl zu Amyklai gehören
könnte (AM. X X I X 1904, 5). Wer die bisher angestellten Erwägungen
beherzigt und damit den weit mehr als halbstündigen Weg von
H. Kyriaki, der Stätte des alten Amyklaion, nach Vaphio zurücklegt,
dem wird die Unmöglichkeit klar, das Kuppelgrab für Amyklai zu be-
anspruchen, wenn das alte Amyklai, wie wir doch glauben müssen, an
der Stelle des späteren Amyklaion gelegen hat. Zwei Hüjgel südlich von
Sparta fallen in die Augen: der von H. Kyriaki und der von Vaphio.
Auf dem ersten lag Amyklai, auf dem zweiten irgend eine Herrenburg
adiäischer Zeit, mag es nun Pharis gewesen sein, das man jetzt ohne
Gewähr im Süden der Ebene sucht, oder ein anderer Ort, einer von denen
vielleicht, die der Schiffskatalog sonst noch zur Auswahl stellt. Von der
alten Burg ist natürlich über der Oberfläche nichts erhalten. Aber ein
Stück jungen Mauerwerkes zeigt doch, daß die Lage auch einer späteren
Zeit für Siedelung oder Befestigung günstig schien, und Versuchsgrabun-
gen haben in der Tat „mykenische" Reste zu Tage gefördert (Tsuntas,
'Ecprin. agx- 1889, 1 3 1 ) . Wäre nicht die Frage in neuester Zeit wieder
verwirrt worden, so hätte es genügt, diesen Beweis des Spatens in aller
Kürze den überzeugenden Erwägungen von Conze und Michaelis zur
Seite zu rücken.
Zu dem „Laminospito" von Dimini gehört nach Lollings Plan und
Bereich (AM. I X 1884,99) die Ansiedlung auf der „Tumba", einem
flachen Hügel, der mit dem Höhenzug von Dimini durch einen Sattel
verbunden ist. Auf diesem Sattel unten am Dimini-Berg liegt das genannte
Kuppelgrab. Bemerkt sei, daß die Tumba nach Lollings Ansicht keine
feste Burg, sondern eine offene, dorfartige Siedelung getragen hätte. Die
abschließende Erforschung von Grab und Hügel durch Sta'is ( I l p a x T i x a
1901, 37) und Tsuntas (Ai|ir)viov y.ai SeaxXo 65, Taf. 2) führt zu dem-
selben Schlüsse.
Das Kuppelgrab von Kampos (am Westabhang des Taygetos) steckt
im Fuße des Berges, von dem das fränkische Castell Zarnata herunter-
blickt. Zarnata pflegt man mit Gerenia (oder Alagonia) gleichzusetzen,
und es scheint den Beschreibungen zufolge nicht zweifelhaft, daß Grab
und Burg zusammengehören (vgl. 'Ecprm. uqx. 1891, 189).
Die Gräber von Masarakata auf Kephallenia (Wolter, AM. X I X
1894, 487; Partsch, Kephallenia und Ithaka 79) - drei in den Felsen
geschnittene und ein jetzt zerstörtes, das aufgemauert war - würde man
nach der Karte (bei Partsch) nicht zur Küstenstadt Krane beziehen,
sondern zu dem steilen isolierten Kalkberg des H. Georgios, auf dem
476 Archäologie [72j74]

heut die Ruinen einer fränkischen Burg stehen. Über Kavvadias' wichtige |
neue Ausgrabung einer ganzen jungmykenischen Nekropole an diesem
Orte wird uns bald seine Publication belehren.
Das Kuppelgrab bei Menidi liegt in dem östlichen Abhang einer
schwachen Bodenschwellung, die in geringer Entfernung vom Kephisos
ansteigt. Steht man auf dieser Erhebung, so ist ringsum Ebene. N u r an
einer Stelle, nach Westen, sieht man durch eine Senkung getrennt den
höheren Hügel Gerovuni, den man in wenigen Minuten vom Kuppelgrab
her erreicht. Die Existenz der Fürstengruft verlangt die Existenz einer
Herrenburg und zwar in unmittelbarer Nähe, so daß an Athen z. B. gar
nicht gedacht werden darf. Dann aber gibt es eigentlich nur zwei Mög-
lichkeiten: entweder auf der Bodenschwellung selbst, die das Grab ent-
hält, hat auch die Burg gelegen, oder auf dem Hügel westlich davon.
Viel wahrscheinlicher ist das zweite, da die stattliche Grabanlage auch
eine stattliche Burg fordert. H a t man das Plateau des Gerovuni erreicht,
so findet man den Boden mit Scherben durchsetzt, und es fallen die gar
nicht geringen Reste einer spätantiken oder byzantinischen Umfassungs-
mauer in die Augen, von der vor Jahren, als das betreffende Blatt der
„Karten von Attika" aufgenommen wurde, noch mehr als heut über dem
Boden gewesen zu sein scheint. Das strategisch Bedeutsame der Lage hat
Milchhöfer im Text zu den „Karten" dargelegt, und wer auf dem Hügel
steht, kann nicht verkennen, daß der Standpunkt insbesondere die Straße
nach Eleusis beherrscht. Man blickt in die weite Lücke zwischen Aigaleos
und Parnes hinein und weiter rechts in den einzigen Einlaß, den die
schroff abweisende Wand des Parnes vor Dekeleia-Tatoi anbietet. Der
isolierte Hügel mit seiner wichtigen Position mußte zur Besetzung auf-
fordern. Daß er in später Zeit befestigt war, lehrt der Augenschein. Daß
die Besiedelung in alte Zeit hinaufgeht, zeigen die Scherben, unter denen
ich bei flüditigem Suchen schwarzgefirnißte Ware etwa des vierten Jahr-
hunderts auflas. Ich halte es f ü r überaus wahrscheinlich, daß an dieser
Stelle schon die mykenische Siedelung gelegen hat. Und diese Ansicht hat
denn auch Lolling sofort bei der ersten Publication ausgesprochen
(Kuppelgrab bei Menidi z, 3). | Der achäische Burgherr auf dem Gerovuni
stand gleichberechtigt neben dem Fürsten des Akropolishügels, er gehörte
zu denen, die Athen überwinden mußte, um mit der Einigung der
Kephisosebene die ersten Schritte zur Einigung Attikas zu tun. Es lockt
sehr zu Vermutungen über die politische Stellung der kleinen achäisdien
Macht, und so sei wenigstens angedeutet, daß gewiß die Grundlage ihrer
Existenz auf ihrem Landbesitz in der Kephisosebene beruhte, daß aber
andrerseits ihre rückwärtigen Verbindungen offenbar in die eleusinische
Ebene und dort ans Meer gingen, nicht unähnlich (um Kleines mit Größe-
rem zu vergleichen) wie Mykenai sein Doppelgesicht einerseits der Argo-
lis, andrerseits den nördlichen Landschaften zukehrte. Aber dies ließe
sich ausführlicher nur in anderem Zusammenhange behandeln.
[74)75] Z u r Frühgeschichte des Argivischen Heraions All

Wir haben die Kuppelgräber des griechischen Mutterlandes in Ver-


bindung mit den zugehörigen Siedelungen überschaut. Die geringeren
Felsgräber derselben Epoche auch noch heranzuziehen wäre ein Abweg,
und so sei nur flüchtig bemerkt, daß die am Fuße der argivischen Aspis
gelegenen Kammern sich doch wohl von Vollgraffs „prähistorischer"
Stadt auf dem Gipfel nicht trennen lassen, und daß unsere Vorstellung,
bisher freilich ohne Beweis, oben auf dem Dorfhügel von Spata das
Herrengeschlecht ansiedeln wird, dessen Gräber wir weiter unten in den
Abhang hineingetrieben finden. Dies mag zur Bestätigung dienen; für
die Kuppelgräber jedenfalls lautet unser Gesamtergebnis so, daß sie ent-
weder im Burghügel selbst liegen oder ganz in der Nähe, etwa in einer
benachbarten Bodenschwellung. Kennt man nur die Burg, so wird es
immer Glückssache sein, ob man das Grab findet oder ob es überhaupt
erhalten ist. Wenn man aber an einem Kuppelgrabe steht, so muß, sollte
man meinen, ein Umblick in der Gegend auf die Stätte des Herren-
sitzes leiten.
Diese Erwägungen gilt es nun auf das Grab vom Heraion anzuwenden.
Daß die stattliche Herrengruft etwa der Priesterschaft des Tempels
gehört habe, ist undenkbar; ebenso wenig aber | läßt sie sich beispiels-
weise zu Mykenai beziehen. Denn angenommen selbst, was doch erst zu
beweisen wäre, das Heraion habe als Centralheiligtum der Landschaft
schon in mykenischer Zeit bestanden, so ist es nach allem, was wir bisher
gefunden haben, rein unmöglich, daß 1V2 Stunden von seinem Sitz ein
achäischer Fürst sein Grab anlegt, da wir ja gerade in Mykenai die Ruhe-
stätten der verstorbenen Herren unmittelbar bei der Behausung der
Lebenden finden.
Daß große Kuppelgrab und zwei kleinere Felsgräber des verwandten
Typus (Waldstein, Heraeum I 41 f. I I 91 ff.) beweisen vielmehr einen
Fürstensitz ganz in der Nähe. Eine stattliche Burg muß das schon gewesen
sein, nach Maassen und Art der großen Tholos zu urteilen, die sich über
einem Durchmesser von fast 10 m erhebt. Und wenn man die Gegend
übersieht, so kann wohl überhaupt keine andere Stelle in Frage kommen,
als der Hügel, auf dem das Heraion liegt. Die Entfernung bis zur Tholos
beträgt 500 m, also gerade so viel wie vom Atreus-thesauros zum Löwen-
tor, und die Felsgräber, die man doch vom Kuppelgrab nicht trennen
darf, helfen die Zugehörigkeit beweisen. Sie liegen dem Heraionhügel
ganz nahe, das erste mit 100, das zweite mit 120 m Abstand jenseits des
nördlich vorüberziehenden Rhevmas.
In dem alten Plan von Mure (Heraeum I 64 Fig. 42) tritt klarer als
in der neuen Aufnahme (ebenda Taf. IV) die Form des Hügels hervor.
Sie wiederholt, um es kurz zu sagen, im wesentlichen die der Burg von
Mykenai. Auch der Heraionhügel ist ein Dreieck, das sich mit einer Breit-
seite der Ebene entgegenkehrt, mit der gegenüberliegenden Ecke auf die
Bergkette zustößt, an dieser Stelle „steil und unzugänglich, wenngleich
478 Archäologie [75177]

nicht sehr hoch", um die alte, gute Beschreibung Finlays zu citieren. Der
Platz ist f ü r eine Ansiedlung achäisdier Zeit vorzüglich geeignet: zwei
Seiten des Dreiecks fallen steil gegen die R h e v m a t a ab, nach der Ebene zu
steigt der Hügel sanfter und in Terrassen hinunter. Die photographische
Ansicht Heraeum I 14, Fig. 6 kann einen ungefähren Eindruck geben.
Das ältere Heraion mit seiner Stützmauer aus colossalen flachen
Blöcken nimmt erst die zweite Terrassenstufe ein; | die erste und höchste
liegt jetzt ganz eingeebnet. Meines Wissens ist hier nicht gegraben worden,
und doch müssen hier, wenn nicht alles täuscht, und wenn man nicht im
Altertum allzu gründlich abgeräumt hat, die Häuser, vermutlich der
Palast, der mykenischen Niederlassung unter der Erddecke zu finden sein,
wie über ihr mykenische Scherben herumliegen. Sichtbar ist von der
ältesten Anlage zweierlei, wie es scheint: einmal die sogenannten
„Priesterwohnungen" südlich des alten Tempels (Heraeum I 70, 109),
ferner die angebliche „Umfassungsmauer des ältesten (vorproiteischen)
Tempelbezirks" d. h. nach Waldsteins Meinung des (imaginären) Heilig-
tums, das dem älteren Heraion vorausgegangen wäre. Diese „Umfassungs-
mauern", von denen die Reste zwischen dem jüngeren Tempel und den
Gebäuden V I und V I I sichtbar werden (Heraeum 1 1 0 8 , T a f . I V und V I I ) ,
sind in Wahrheit gleichfalls Hausmauern. Denn wenn von der H a u p t -
linie im rechten Winkel ein kurzes Mauerstück abgeht, so ist das kein
Strebepfeiler, sondern ersichtlich der Rest einer Quermauer, die von den
späteren Anlagen bis auf den Ansatzstumpf zerstört worden ist.
Bedenklich machen könnte freilich, daß es auf der höchsten Terrasse
über dem alten Tempel von der vorauszusetzenden kyklopischen U m -
fassungsmauer keine Spur gibt. So weit meine Beobachtungen reichen,
liegen auch unter den Abhängen keine Blöcke der A r t , wie man sie er-
warten müßte; nur riesige Felstrümmer und kleines Geröll. Aber es ist
wohl denkbar, daß man eine solche Umfassungsmauer im Lauf der J a h r -
hunderte abtrug und als willkommenes Baumaterial verwandte, zuerst
f ü r den alten Tempel, etwa seine mächtige Stützmauer und die Pflaste-
rung, dann vielleicht auch f ü r die Anlage der anderen Gebäude.
Der neue Herrensitz in der Argolis, der sich uns hiermit ergibt, rückt
ein in die Reihe der festen Plätze, die von der Ostseite her die Ebene be-
herrschen. Mykenai, die Heraionburg, Mideia, Tiryns, N a u p l i a liegen nun
in nicht mehr allzu ungleichen Abständen von einander, nachdem die
große Lücke zwischen M y k e n a i und Mideia gefüllt ist. Freilich kann sich
die neue Burg mit ihren Rivalinnen nicht messen. | D e r R a u m der Burg-
fläche steht hinter den anderen zurück, das Kuppelgrab nimmt es weder
in seinen Maßen noch in seiner Technik mit den beiden größten Kuppeln
von Mykenai auf. Ist bei diesen der ganze Dromos aus wohlbehauenen
Quadern gefügt, so beim Heraiongrab nur das letzte Stück unmittelbar
v o r der Tür, während der übrige Teil der Wände aus unregelmäßigeren
Steinen besteht; ein Wechsel der Bauart, wie er sehr ähnlich bei einem
[77(78] Zur Frühgeschichte des Argivischen Heraions 479

Dromos am Westabhang der mykenischen Unterstadt wiederkehrt. U n d


ebenso übertrifft die Kuppel ihrer Bautechnik nach z w a r die von Menidi,
wird aber ihrerseits von dem „Schatzhaus des Atreus" und dem „ G r a b
der Klytaimnestra" übertroffen. Die alte Straße, von der die Reste k y k l o -
pischer Brücken erhalten sind, beweist lebhaften Verkehr zwischen M y -
kenai und der Schwesterburg in ältester Zeit. Ob die Beziehungen sich
immer auf gleichem Fuße hielten, mag bei so ungleicher Verteilung der
K r ä f t e bezweifelt werden.
Jetzt aber drängt sich die Frage heran, wie denn der geschichtliche
Zustand, den w i r erschlossen haben, mit dem zu vermitteln sei, den wir in
hellerer Zeit vorfinden. D a scheint mir nun in der Hauptsache nur ein
Weg denkbar: Die Ansiedlung ist einmal - doch wohl durch kriegerische
Eroberung - gründlich zerstört worden, und der Kultplatz hat ihre Stelle
eingenommen. So wenig man bei unserer Schattenkenntnis griechischer
und argivischer Frühgeschichte wagen wird, den Zeitpunkt dieser Zer-
störung zu bestimmen: sicher muß er hoch hinaufgerückt werden, da alle
unsre Uberlieferung an dieser Stelle nur das Heraion kennt, und da die
mächtige Terrassenmauer des alten Tempels an die Mauertechnik achä-
ischer Burgen gemahnt.
Die Grenze nach oben w i r d sich annäherungsweise ziehen lassen. Z w a r
ist unter den Einzelfunden (Stamatakis, A M . I I I 1878, 280 ff.) nicht eben
viel, was zu einem genaueren Zeitansatz führen könnte; aber Scherben
von großen Thongefäßen im palace style („zweiten Stil" bei Furtwaeng-
ler-Loeschcke, M y k . Thongefäße T a f . X I I ) reichen hin, um das G r a b zu
den älteren der verwandten Bauten, etwa denen von Vaphio und Pylos
zu stellen. Doch gilt das nur f ü r Anlage und erste Benutzung. | Will man
zu einem richtigeren Urteil kommen, so darf man von der großen Tholos
die beiden kleineren Felskammern nicht wohl trennen, und deren freilich
dürftige Funde (Heraeum I I 9 ff.) verschieben den Ansatz etwas nadi
unten, da die Keramik der Spätzeit mykenischen Stils angehört. Mithin
hat die Heraionburg noch auf der letzten Entwicklungsstufe achäischer
Kultur ( „ L a t e Minoan I I I " , um von Kreta her zu datieren) existiert und
kann frühestens gegen Ende der „mykenischen" Periode zerstört worden
sein.
Weiter w i r d sich behaupten lassen, daß das Heraion in irgend wel-
chem Zusammenhang mit der alten Ansiedelung gestanden haben muß.
Denn es liegt doch wohl außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit, daß der
Hügel nach der Schleifung der Burg etwa Jahrhunderte lang unbesetzt
geblieben wäre, um dann später zufällig Träger des Heiligtums zu werden.
Sondern entweder haben die Zerstörer den K u l t des besiegten Burgherrn
bewahrt, oder sie haben der Göttin, die ihnen den Sieg verliehen, auf der
eroberten Höhe ein Heiligtum gestiftet. Jedenfalls ist eine solche A n -
knüpfung nach oben nötig, ohne die das Vorhandensein des Heraions
überhaupt ein Rätsel bleibt. Fügt man sich diesen Schlüssen, so wird man
480 Archäologie [78¡79]

es weiter wahrscheinlich nennen, daß der Feind nicht aus der Fremde kam,
um nach dem Falle der Burg wieder in die Fremde zu ziehn. Denn dann
wäre der Fortbestand des Kultes kaum erklärbar. Vielmehr die Nachbarn
aus der Landschaft müssen es gewesen sein, die hier eine kleine aber un-
bequeme Rivalin erdrückten.
Freilich: Waren achäische Stammesgenossen die Uberwinder oder do-
rische Eindringlinge, und wie steht das Ereignis zur sogenannten „dori-
schen Wanderung"? Hat ein einzelner Gegner die Burg gebrochen, oder
war es etwa ein Bund argivischer Staaten, der hier gemeinsam vollbrach-
tes Werk durch die Gründung eines Centraiheiligtums krönte? Dafür ließe
sich geltend machen, wie auch später das Heraion nicht ausschließ lieh der
Stadt Argos gehört, sondern den religiösen Mittelpunkt der ganzen Land-
schaft bildet. Aber irgend welche Sicherheit darf man bei dem Stande der
Dinge nicht erwarten. |
Nur eins, was für mich von besonderer Wichtigkeit ist, sei zum
Schlüsse noch angedeutet. Als ich vor Jahren die Sagenüberlieferung der
Argolis aufarbeitete und bemüht war, jeder Stadt ihren Teil zu geben,
schien sich mir herauszustellen, daß die Geschichten von Io und den
Danaiden weder stadtargivisch noch mykenisch noch tirynthisch seien,
sondern sie schlössen sich an das Heraion an. Nun ist ja natürlich eine
Priesterpoesie an sich sehr wohl denkbar. Aber manches findet sicher eine
bessere Erklärung, wenn wir jene Sagen nicht auf dem Boden eines isolier-
ten Heiligtums sondern einer staatlichen Gemeinschaft erwachsen denken.
Der Danaername hängt damit zusammen. Mehr aber kann und will ich
jetzt nicht sagen1.

i N o t w e n d i g ist zum Schluß eine Auseinandersetzung mit Waldstein, von dem ich
Ähnliches ausgesprochen fand, nachdem ich mir an O r t und Stelle meine eigene
Meinung gebildet hatte. Im Heraionwerk ( I 2 5 1 ) w i r d etwas der A r t nur schüchtern
angedeutet, ausführlicher begründet ist es Classical R e v i e w X I V 1900, 4 7 3 . Waldstein
macht mit Recht die topographische L a g e geltend, die für eine Stadtgründung geeignet
sei (verwunderlich nur, daß er oben nicht gegraben hat) und sieht richtig eine Selt-
samkeit darin, daß sich ein großes Heiligtum ohne sichtliche Ursache fern von der
Stadt finde. A b e r alles Weitere z w i n g t so zum Widerspruch, daß ich doch glaubte,
meine eigene Begründung vortragen zu dürfen. Unrichtig w i r d zunächst als Beweis-
stück Bakchylides X I herangezogen, w o auch nicht das Geringste von einer Heraion-
burg zu lesen ist. Widersprechen muß ich ferner, wenn Waldstein am Heraion den
ursprünglichen politischen, wie später den religiösen Mittelpunkt der Landschaft sucht.
Nicht zu halten ist seine Datierung. Denn um in seiner Chronologie P l a t z zu finden,
müßte die Siedlung schon im A n f a n g des zweiten Jahrtausends zu existieren aufgehört
haben. U n d den sichersten Überrest der mykenischen Feste, das Herrengrab, hat er
nicht in seine Betrachtung einbezogen.
Zur New Yorker Nekyia

1934

Ein neues Unterweltsbild auf einem N e w Yorker Krater aus der


Mitte des 5. J h . hat P. Jacobsthal in den Metropolitan Museum Studies 5,
1934, 1 1 7 ff. veröffentlicht. Seine Deutung wird hier um ein paar Schritte
weiterzuführen versucht. Wir interpretieren also eine mittelmäßige V a -
senzeichnung, in der große Malerei nachklingt. | Wie viel davon nach-
klingt, fragen wir nur selten. Vielleicht daß sich hier oder da diese Frage
gerade dann beantwortet, wenn sie nicht ausdrücklich gestellt ist.
In dem umlaufenden oberen Bildstreifen — nur dieser lohnt erneute
Betrachtung - heben sich zwei mythische Figurengruppen heraus: sie neh-
men die beiden Hauptansichten des Kraters ein, tragen Namensbeischrif-
ten, sind durch namenlose Männer und Frauen von einander getrennt.
Beginnt man mit dem stehenden Hades die Figuren nach rechts abzulesen,
indem man den Krater nach links dreht (Abb. i ) 1 , so gehen sechs mythi-
sche Namen an dem Betrachter vorbei: Hades, Peirithoos, Theseus, Hera-
kles, Hermes, Meleagros. Liest man von der thronenden Persephone aus
nach links (Abb. 2), so hat man eine mythische Vierfigurengruppe, die
außer der Göttin die Namen Palamedes, Aias, Elpenor umfaßt. Zwischen
Elpenor und Meleagros - über dem einen Henkel, also in Nebenansicht -
sind drei namenlose Figuren untergebracht (Abb. 3): ein Jüngling im
Mantel blickt auf Meleagros hin, zwischen diesem Anonymus und Elpenor
füllt eine Zweifigurengruppe den Raum. Die langgewandete Frau hält
ein Alabastron in der Hand, das zunächst noch unbestimmt von Toten-
kult spricht. Aber sie trägt auch um das Kinn jenes Band, das dem Leich-
nam bei der Prothesis zukommt 2 . Also ist sie aus ihrem Grabe hinabgestie-
gen ins Totenreich und wird dort von einem Jüngling begrüßt. Drei
namenlose Tote der perikleischen Zeit stehen inmitten der vielen mythi-
schen Toten.
Die mythische Sechsfigurengruppe wird nach links abgeschlossen durch
den stehenden Hades wie die mythische Vierfigurengruppe nadi rechts
durch die sitzende Persephone. Rückenkontur, Szepter, Säule dienen die-
sem Abschluß. Im Rücken der beiden füllt den Raum über | dem anderen
[Archäologischer Anzeiger, 1 9 3 5 , Sp. 2 0 - 3 3 . ]
1
A b b . i und 2 nadi Zeichnungen, die Lindsley F . H a l l für die Vasenpublikation des
Metropolitan Museum gemacht hat. H e r r H a l l und Fräulein Gisela Richter erlaubten
bereitwillig die Veröffentlichung, w o f ü r ihnen auch hier gedankt sei.
2
Jacobsthal a. O . 1 3 0 mit dem Hinweis auf P. Wolters, A M . 2 1 , 1896, 3 6 7 .
482 Archäologie [22123]

Gefäßhenkel eine namenlose Zweifigurengruppe (Abb. 4). Ein älterer


Mann gestikuliert zu einem Epheben hinüber, zwischen beiden sind am
Boden Zweige mit Beeren gehäuft. Die Gebärde des Epheben ist nicht
ganz klar. A m ehesten wird er doch die rote Tänie, die er etwas tief in der
rechten H a n d hält, auf den Zweighaufen niederlegen. Diese seltsamen
Zweige deutet P. Jacobsthal überzeugend als die Totenstreu (atQwaig),
auf der eine Leiche aufgebahrt und etwa auch verbrannt wurde. Was nicht
überzeugt, ist die Unbestimmtheit, in der er — anknüpfend an E. Buschors
bekannte Interpretationen — das Wo und Wie der anonymen Figuren
belassen möchte3. Mag im übrigen auf den attischen Grabreliefs und den
weißgrundigen Lekythen die Grenze zwischen Tod und Leben noch so
schwebend sein: wenn auf unserem Bilde die Zweige wirklich eine Toten-
streu sind, so sind die beiden Figuren, die sie umstehen, keine Toten, son-
dern „Hinterbliebene", und die Gebärde des Jünglings ist ein Bestattungs-
ritus, vergleichbar der Art, wie sonst, nach dem Zeugnis der Lekythen,
Tänien am Grabe niedergelegt oder um die Grabstele geschlungen oder
über den Leichnam selbst gebreitet werden 4 . Daß danach diese eine Szene
des umlaufenden Bildstreifens im Unterschied von allen anderen Gestal-
ten auf der Oberwelt zu denken sei und nicht im Hades, würde man kaum
zu behaupten wagen, wenn sie nicht eben auch die einzige wäre, die sich
im Rücken des Hades und der Persephone abspielt. Was die beiden Unter-
weltsgottheiten mit ihrem Blick beherrschen, ist Unterwelt; was in ihrem
Rücken vorgeht, braucht nicht Unterwelt zu sein und wird es nicht sein.
Hier ist man am Rande des Lebens, aber eben noch durchaus diesseits der
Grenze. Wenn man ludendo dicere veri simile wollte, könnte man sagen:
die Frau mit dem Alabastron und der Kinnbinde hat auf dieser Toten-
streu gelegen.
Nun zu der mythischen Sechsfiguren'gruppe. V o r Theseus und Peiri-
thoos ist Herakles hingetreten. Hermes hat ihn geführt. Aber dessen
Haltung - eingestützter Arm, Körper von vorn, gesenktes Kerykeion -
scheinen zu zeigen, daß er an dem, was jetzt vorgeht, nicht mehr beteiligt
ist. Und was geht vor? Herakles bewegt sich nicht mehr heran, er macht
sich noch nicht ans Werk. Aber das Gegenüber der drei Helden ist, wenn
auch still, so doch nicht stumm 5 . In dem Heraklesepos, aus dem diese
Unterweltszene letztlich stammt, mußte hier ein Gespräch sein.

3
a. 0 . 1 3 0 .
4
Besonders ähnlich W . Riezler, Weißgrundige attische Lekythen T a f . 1 7 . Vergleichbar
auch T a f . 30. 3 1 . 48 und andere.
5
Z u P. Jacobstahl eindringender Interpretation des Theseus wäre zu fragen, ob man
nicht die Bewegung der rechten H a n d zu modern deutet, wenn man sie „spielen"
sieht. Die Haltung beider Arme und Hände kehrt sehr ähnlich wieder bei der liegen-
den Figur des Pariser Argonautenkraters. A u d i hier stützt die rechte H a n d sich auf,
sie spielt nicht. Möglich, worauf W. K r a n z mich hinweist, daß die Rechte des Theseus
in ihrem Aufstützen dem Betrachter zugleich den Fels zeigt, von dem Theseus befreit
werden will.
[23¡24] Zur N e w Yorker N e k y i a 483

Auf Hermes folgt Meleagros. „Die A r t , wie er seinen Speer auf-


stemmt, läßt vermuten, daß er sich mühsam vorwärts bewegt". Seine H a l -
tung „drückt Kummer aus über seinen T o d durch den Fluch der Mutter".
Man kann die Haltung nicht schärfer erfassen, als es P . Jacobsthal mit
diesen Worten tut. Aber man kann ihren Sinn aus der Dichtung deutlicher
interpretieren, wenn man an das f ü n f t e Gedicht des Bakchylides denkt.
Meleagros selbst ist es dort, der in der Unterwelt von seinem Tode erzählt
(138 ff.): „ D i e Mutter sann mir Untergang, und sie verbrannte aus der
künstlichen Truhe das raschen T o d bringende Scheit. Das hatte die Schick-
salsgöttin mir zugesponnen als Grenze meines L e b e n s . . . Mein Leben
schwand dahin 6 . Ich merkte, wie meine K r a f t geringer wurde. Ach,
weinend tat ich meinen letzten Hauch und verließ meine glänzende
Jugend." So sieht man ihn auf unserem Bilde „in dem Zustand, in wel- |
chem er zuletzt den Erdbewohnern erschien" 7 .
Wir haben bisher die Figur des Meleagros vereinzelt. Vielmehr sie
scheint sich selbst zu vereinzeln, indem sie aus dem Bilde herausschaut und
sich nach rechts hinüberstützt. Dennoch ist sie von den fünf anderen m y -
thischen Figuren nicht zu trennen. Das lernt man aus derselben Dichtung,
aus der w i r die Haltung des Meleagros deuteten. Niemand w i r d ja sein
schwermütiges Gespräch mit Herakles vergessen, wenn er es einmal bei
Bakchylides gelesen hat, das Gespräch von Heldentum und Göttermacht,
vom Schattendasein der Toten und dem Glück des Niegeborenwerdens.
D a ß Bakchylides auf die Malerei gewirkt hätte, ist nicht gerade
glaublich. Aber es ist ja auch gewiß, daß er jene Begegnung im Hades nicht
erfunden hat. Wahrscheinlich kam sie auch bei Pindar vor 8 . U n d auf das
epische Vorbild beider Lyriker w i r d der Bericht in Apollodors Bibliothek
(II 123) 9 zurückgehen: Alle Seelen, heißt es dort, außer Meleagros und
Medusa fliehen v o r Herakles. Gegen Medusa zieht er das Schwert. Aber
Hermes belehrt ihn, daß sie ein bloßes Schattenbild sei. U n d dann findet
er nahe dem Hadestor den Theseus und Peirithoos. Hier also sind auf
kürzestem R a u m alle fünf Gestalten mit einander verbunden, die unser
Vasenbild neben einander stellt. U n d wenn auf ihm Herakles den Bogen
in der Linken hält, so erzählt Bakchylides, wie er das Geschoß auf Melea-
gros anlegt, und wie Hermes ihn hindert, es abzusenden. Hades aber ge-
hört nicht nur so im allgemeinen hierher. V o n ihm geht ja Herakles den

6
Der Sinn bleibt, mag man wie immer den Text von 1 5 1 konstituieren. Z u r Meleagros-
gestalt des Bakchylides vgl. M . Croiset, Mélanges Henri Weil 80: Le Méléagre de
Bacdiylide voilé de tristesse et comme enveloppé dans sa résignation douloureuse . . .
7
Goethe, Uber Polygnots Gemälde in der Lesche zu Delphi, 1803. (Ausgabe letzter
H a n d Bd. 44 S. 1 2 7 . )
8
f| tciTopia naçà ni/vôàçcot (Frg. 249 a Sehr.) in schol. A B zu Ilias $ 194. D a ß gegen-
über solchen Subskriptionen mythologischer Scholien Vorsicht am Platze ist, lehrt
E . Schwartz, Jahrb. f. Philologie Suppl. X I I 403 ff.
» Vgl. dazu E . Norden, Aeneis V I S. 2 5 1 = 22$8.
484 Archäologie [24/30]

Höllenhund fordern auf jenem Wege, der ihn zuerst zu Meleagros, dann
zu Theseus und Peirithoos führt.
Wie das Epos geheißen hat, das die ge|meinsame Quelle dieser D a r -
stellungen w a r , ist nicht sicher zu sagen. Für die Minyas schien manches zu
sprechen, aber der T o d des Meleagros w a r dort anders erzählt 1 0 . A u f den
Namen kommt auch wenig an. Genug daß die Sechsfigurengruppe unserer
Vase in jener epischen Hadesfahrt des Herakles ihr dichterisches Vorbild
hatte, und daß das statuarische Nebeneinander der Figuren sich dem grie-
chischen Betrachter, der die N a m e n las, in die j lebendige Bewegung des
epischen Berichtes umsetzen mußte. Herakles steht v o r den beiden Sitzen-
den. Jeder erkennt in ihm den künftigen Befreier. E r ist von rechts heran-
getreten. N u r sein Begleiter Hermes trennt ihn von Meleagros, der in
großartiger Einsamkeit versunken dasteht. Wer das Epos kannte oder den
Pindar oder Bakchylides - und wer kannte nicht wenigstens eine von die-
sen Darstellungen oder eine vierte und fünfte? - dem mußte die Begeg-
nung zwischen Herakles und Meleagros gegenwärtig sein, so wie jeder den
Hadeskönig hinter Peirithoos als Ziel der Jenseitswanderung von Hera-
kles verstand. Das sind keine herbeigeholten Assoziationen. Sondern über
dem wortkargen Nebeneinander dieser Gestalten w a r der Vorgang des
vertrauten Mythos lebendig gegenwärtig. Sich diesen Abstand des im
Bilde Ausgedrückten und des Gemeinten klarzumachen ist eine Grund-
bedingung f ü r das Verständnis der N e w Y o r k e r N e k y i a und gewiß auch
ihres monumentalen Vorbildes.
Wir betrachten zuletzt die mythische Vierfigurengruppe. V o r der
königlich sitzenden Unterweltsgöttin steht auf sein Ruder gestützt schiff-
brüchig und bettlerhaft Palamedes. Will man sich vorstellen, wie diese
Gestalt in der großen Malerei aussah, der sie, wenn irgendeine, entstammt,
so erinnere man sich an den Lokrer Aias im Unterweltsbilde Polygnots
(Pausanias X 3 1 , i ) : toti-nm toji Aiavxi tö y.Qcoiia eanv olov av dvögi vaDayüi
76VOUO EjtaWknjarig tait x q w t i e t i xfjg aX(.ir)g. Denkt man ihn redend, so würde
er sagen, was die f ü r uns namenlosen Toten in den unteritalischen Gräbern
sagen: vüv ö'ixexr|c; r\~/.ui nag' &yavr\v n s g a e t p o v E i a v . E r könnte freilich nicht |
beginnen wie die Seele dieser Namenlosen: £(?xo|.iai ex y.aftaQÜ xadaga 1 1 :
Vielmehr in Gestalt, Haltung und Kleidung w i r d sichtbar, wie er unter-

10
V o n der neueren Literatur sei nur erwähnt C . Robert, N e k y i a des Polygnot 79 ff.
U . v . W i l a m o w i t z , Berl. Klassikertexte V i , 2 2 ff.; Grieth. Heldensage I I , SbBerl.
1 9 2 5 , 2 1 7 (für die M i n y a s ) ; Glaube der Hellenen I I 1 9 7 (gegen die Minyas). M a n
könnte den Gedanken an die M i n y a s aufrecht halten, wenn man diesem Epos zutraut,
daß es M o t i v e v e r k n ü p f t habe, die ursprünglich nicht zueinander paßten: den T o d
durch das verbrennende Scheit und den T o d von der H a n d des Apoll. D a s ist nicht
unmöglich, aber freilich nicht leicht zu glauben.
11
O . Kern, Orphicorum Fragmenta S. 106 ff. y.uöagöjv übrigens ist in den alten
Exemplaren nirgends überliefert, nur in dem der Kaiserzeit, als man jcaftagfi) nicht
mehr verstand, i n x a d a p w wie ev xaüaoüH.
Krater, N e w Y o r k , Metropolitan Museum
Courtesy Metropolitan Museum of A r t , Rogers Fund 190S
[30ji2] Zur New Yorker Nekyia 485

ging. So klagt noch unter den Toten sein bloßer Anblick die Ursache seines
Unglücks an: Diomedes und vor allem Odysseus.
In den beiden anderen Männern würde ohne die Namensbeischriften
niemand Elpenor und Aias erkennen. Gewiß, der Vasenmaler, auf dessen
„ A p o g r a p h o n " w i r doch ganz allein angewiesen sind, hat die beiden
Helden arg trivialisiert. Aber gerade sie konnte doch auch die große
Malerei nur durch Beischriften kenntlich machen. Elpenor und Aias also
stehen sich gegenüber, schauen einander an. Was | ist das Gemeinsame
zwischen ihnen? Elpenor kommt nur in der Odyssee vor (v.7.u), und z w a r
nur mit seinem Tod - im Haus der K i r k e - und seiner Bestattung, die er
von Odysseus erbittet und erhält. E r ist also gar nichts anderes als eben
dieses letzte Schicksal. So taucht er auf der „polygnotischen" N e k y i a in
Boston 1 2 zwischen dem Schilf des Limbo vor dem widderopfernden Odys-
seus auf. Aias ohne besonderen Zusatz zum N a m e n und ohne besonderes
Kennzeichen kann wohl nur der Telamonier sein. Schon P . Jacobsthal hat
an die Stelle in Piatons Apologie erinnert, w o Sokrates wünscht, dem
Palamedes und dem Telamonier Aias zu begegnen und denen, die sonst
von den Alten durch ungerechten Richterspruch gestorben seien. Aber noch
deutlicher wird, was Aias hier soll, wenn man an die N e k y i a der Odyssee
(X 543 ff.) denkt und den Telamonier sieht, wie er den H a ß gegen
Odysseus noch im Hades mit sich herumträgt. Ist also auf unserer Vase
dem Palamedes sein Endschicksal unverkennbar aufgeprägt, hat Elpenor
überhaupt kein Schicksal als eben sein Endschicksal, so läßt auch dieser
Aias zu allererst an seinen Untergang denken. Gewiß trägt jede der Figu-
ren, wie sie im Bilde statuarisch vereinzelt sind, auch als Sagengestalt ihr
eigenes Schicksal und nur ihr eigenes in Ewigkeit mit sich. Aber diese
Einzelschicksale haben einen Einheitspunkt, in dem sie sich begegnen.
Schicken w i r voraus, daß solcher Konvergenz auch die Haltung der
Figuren günstig ist. Aias und Elpenor stehen nicht wie die beiden anony-
men Paare in strengem Profil einander gegenüber als abgeschlossene
Gruppe. Aias sieht z w a r zu Elpenor hin, aber sein K ö r p e r wendet sich
nach vorn und erlaubt so, das Auge, das von Elpenor kommt, zu P a l a -
medes gleiten zu lassen. D e r hat sich mit zusammenbrechenden Beinen zum
Haus der Persephone geschleppt. Aber Leib und K o p f sind nach vorn
gekehrt, und den rechten A r m mit dem Ruder streckt er gegen Aias zurück.
Wird also der Blick angeleitet, die Einzelgestalten unbeschadet ihrer Ver-
einzelung zur Gruppe zusammenzufassen, so ruht ihre geistige, mythische
Einheit darin, daß ihrer aller Todesschicksal durch einen Mann bestimmt
ist: Odysseus. In der delphischen N e k y i a spielt Palamedes mit Thersites
Würfel, und die beiden Aias stehen dabei: eg 5e tö atito ejtitriöeg toi
'Oövaaecog -roiig exftQovg r\yaye\ ö IIoMYvcoTog, sagt Pausanias offenbar mit
Recht ( X 3 1 , 1). Hier ist es differenzierter: Elpenor, der Gefährte, den

1- A J A . 38,1934, Taf. 16.27.


486 Archäologie [32j33]

Odysseus in Treue bestattet hat, steht bei den beiden Männern, an deren
Tode derselbe Odysseus schuld ist. Niemand, dem der griechische Mythos
lebendig war - und wem war er im 5. Jh. nicht lebendig? - konnte, wenn
er die Namen las, diesen Einheitspunkt verfehlen. Dem heutigen Kunst-
betrachter mag es widerstreben, das eigentlich Dargestellte so ins Mythi-
sche transzendieren zu lassen. Aber ihm müssen ja auch die außerkünstle-
rischen Namensbeischriften ein Ärgernis sein, die doch der griechischen
Kunst, der monumentalen wie der Kleinkunst, von früher Zeit bis in die
Spätantike geläufig waren.
Also auch in diesem Nachklang großer Malerei wird eine Dichtung
vom Schicksal der Helden vernehmbar. Ob sie ein Maler gedichtet hat,
nur weiterbildend, was man in der ersten Nekyia der Odyssee erfährt,
oder ob ihm eine andere epische Nekyia vorangegangen war? Das späte
Epos hat ja im Hades die Helden zusammengeführt, um die irdischen
Ereignisse noch einmal vom Jenseits her zu kommentieren. Die zweite
Nekyia im Schlußgesang der Odyssee dient sehr eindringlich ganz allein
diesem Zweck. Dort sprechen Achill und Agamemnon den Gegensatz aus
zwischen dem Helden, der im Kampf zu fallen das Glück hat, und dem
König, der siegreich heimkehrend durch Mord umkommt, Agamemnon
und der Sprecher der Freierschar den Gegensatz zwischen Odysseus, der
zu Penelope, und Agamemnon, der zu Klytaimestra heimkehrt. Wie
dort drei kontrastierende Schicksale bezogen sind auf den Gedanken der
Heimkehr, so sind auf der Vase drei Helden mit ihrem Schicksal in Liebe
und Haß auf Odysseus gerichtet. Das kann ein Maler erfunden haben,
angelegt durch epische Nekyien. Aber mindestens ebenso möglich ist,
daß er damit einer bestimmten epischen Nekyia folgte, etwa der Nekyia
der Nostoi.
Es gab im griechischen Epos einige, nicht sehr viele Nekyien, zwei in
der Odyssee, eine in der Minyas, eine in den Nostoi. Jenseitsfahrten des
Herakles und des Orpheus sind uns bezeugt. Ob eine von diesen in der
Minyas gestanden hat, bleibt ungewiß. Gewiß ist, daß Polygnot in seinem
delphischen Gemälde zweien oder dreien jener epischen Gedichte folgte
und ebenso der Verfertiger des N e w Yorker Kraters oder das Gemälde,
durch das er trotz noch so weiten Abstandes bestimmt ist. Erwin Rohde
sprach angesichts des polygnotischen Bildes sein Erstaunen aus, wie
schwach um die Mitte des 5. Jh. die Höllenmythologie entwickelt war
(Psyche I 317). Sagen wir lieber: wie wenig von dieser Höllenmythologie
die Griechen in ihre großen Gemälde des Jenseits einließen. Denn diese
bleiben durchaus von episch-heroischer Art. N u r am Rande treten bei
Polygnot unheroische Gestalten hinzu: einige menschliche Büßertypen im
Gefolge der heroischen Büßer Homers, und dann die Bringer der Weihen
auf der einen Seite des Bildes, die Ungeweihten auf der anderen. Nur
zwischen den mythischen Gruppen stehen auf der N e w Yorker Nekyia
beliebige Athener und Athenerinnen der perikleischen Zeit. So dringt das
[33] Zur New Yorker Nekyia 487

eigene Anliegen der Menschen des j. Jh. in diese Bilder des Jenseits ein.
Aber in ihrem Kern bleiben sie homerisch. Ja indem sie alles Schattenhafte
abgestreift haben und nur das Gestalthafte bewahren, sind sie nodi aus-
schließlicher als Homer dies eine: Verewigung von Ruhm und Schicksal
der Helden.
Documents of Dying Paganism

Textiles of Late Antiquity in Washington, New York, and Leningrad

1945

i. The Hestia Tapestry

The Tapestry of "Hestia full of blessings" will not easily be forgotten


by those who saw it at one of of the great expositions of Byzantine art
or in the permanent collection at Dumbarton Oaks, Washington, D. C.
(frontispiece). The excellence of its preservation, the beauty of the colors,
the stern grandeur of the composition, the charm of the ornamental
background combine to make it an outstanding example of Greek art in
one of its latest periods. As such it is reproduced in recent works on this
subject1, though it still awaits entirely adequate reproduction and com-
plete commentary. The following pages are intended chiefly to study
its artistic and especially its religious significance2; for it has so far not
been recognized that this is a capital document of late Greek religion3.
Present Shape and Original Setting. - I had not seen the tapestry for
some years. When I saw it again, I was astonished to find it so large: the
height is 43V2 inches, the width 53 inches; the face of the principal
figure is more than 3 inches in breadth (pi. 1). In other words, this is
not a work of minor handicraft, but a woven picture.

[University of California Press, Berkeley and Los Angeles, 1 9 4 5 , S. 1 - 6 6 . ]

1
Peirce-Tyler, L ' A r t byzantin, Vol. I, pis. 1 5 3 and 1 5 4 (p. 9 1 : " l a tapisserie la plus
importante de toutes celles que le sol sec de l ' E g y p t e nous ait livrées jusqu'à présent") ;
Duthuit-Vollbach, A r t byzantin, pis. 83 and 8 4 ; W . F . Vollbach, Zeitschrift für bil-
dende Kunst, L X V , 1 9 3 1 - 1 9 3 2 , p. n o ; W . R . T y l e r , Bulletin of the William H a y e s
F o g g A r t Museum, I X , 1 9 3 9 , pp. 8 ff.
2
"Sollte nidit auch hier die schönste A u f g a b e sein, ein wirkliches Kunstwerk durch
Interpretation wieder lebendig zu machen?" U . v . Wilamowitz-Moellendorfi, Kleine
Schriften, V o l . V , 1, p. $ 1 0 .
3
" D a s Stück nennt sich ein wohlhabendes H a u s (èaxia icoXijoXßoi;). Die Geschenke
werden der F r a u . . . durch Putten und zwei Frauengestalten überbracht," W . F . V o l l -
bach, Zeitschrift für bildende Kunst., loc. cit. "Allegorie des glücklichen Hausstandes,"
B.Schweitzer, J . d. I., X L V I , 1 9 3 1 , p. 2 4 5 , n. 4. " T h e fashionable lady of A l e x a n -
dria . . . attended by t w o maids and half a dozen putti, each bringing a contribution
to her success in l i f e , " Ackermann, Tapestry the Mirror of Civilization, p. 20. " U n
cadeau de noce peut-être," Peirce-Tyler, op. cit., V o l . I, p. 92.
Documents of D y i n g Paganism 489

Enough of its original border is preserved to show that it was de-


signed to fit into an architectural frame, the whole being in the shape |
of a horizontal rectangle with an arched upper edge. The rigid compo-
sition in five symmetrical columns is in accordance with the architectural
shape of the whole. But it cannot safely be asserted that the composition
demanded that particular shape. One might imagine the picture roofed
by a triangular pediment instead of by the arch. One might, with an
insignificant change of proportions, include the five columns in a simple
horizontal rectangle without any arch or pediment. It follows that the
architectural outline of the whole was determined beforehand; in other
words, that to fill this given frame was the task which the designer saw
before him when he began his work.
The textile, then, was hung or stretched in a vaulted rectangular
space. We know such spaces since Hellenistic times4. On tombstones from
Delos and Syros a field is framed by incongruously putting an arch
between two columns. The painted walls of Hellenistic houses some-
times give the illusion of a vista in the same w a y . These devices prepare
the w a y for the numerous arched niches of later architecture; one may
think of Baalbek. The many lunettes in churches, chapels, catacombs,
filled with paintings or mosaics, also offer analogies. A picture of the
Blessed Virgin between two angels in a lunette of the Coptic church at
Baouit (pi. 5, b) need only be compared with our tapestry, belonging
to the same country and period, to make clear the similarity-and the
differences.
There is still another analogy worth mentioning. The Mithras reliefs,
devotional objects of one of the most widespread pagan religions of late
antiquity, show their principal scene, Mithras sacrificing the bull, or
Mithras and Helios, in a horizontal rectangle covered by a flat arch
which, here, signifies the arch of heaven (pi. 2). The Hestia tapestry
would exactly fit into this framework. Though we have not yet begun
to analyze its artistic composition, we may direct attention to the corre-
spondence between the central figures-here Hestia, there Mithras-gazing
into space in sharp front view between two attendants whose heads are
turned in three-quarter profile toward the center.
But the most exact resemblance is to be found in an illustration
adorning the celebrated Syrian manuscript written by the monk Rabula
in the sixth century of the Christian era (pi. 3)®. T w o columns with
spiral fluting are spanned by a flattened arch similar in form to | that
of the Mithras reliefs. In this architectural frame is set a picture of
almost exactly the same shape and proportion as the Hestia textile-quite
apart from the similarity between the compositions. Christ is seated on
4
Springer-Michaelis, Kunst des Altertums, 9th ed., fig. 6$ j , pi. 1 5 , figs. 966, 967.
5
Bibliotheca Laurentiana. Reproductions f r o m Illuminated Manuscripts, F i f t y P l a t e s . . .
by D r . G u i d o Biagi, pi. 3.
490 Archäologie

his throne between two bishops, each of them presenting a monk, and
even such a detail as the footstool of the central figure is almost the same
as in our tapestry. The impression of a real picture within a real
architectural structure is the stronger because its lower edge does not
begin below the upper level of the column bases, so that a zone of empty
space stretches between them. The original setting of the Hestia textile
cannot be better imagined.
The Goddess— An empress, one might first say, is seated on her throne,
the seat covered with a full red cushion, the back and the footstool
bordered with a yellow (i.e., golden) rim set with precious stones, red
and blue, and with pearls. She wears a whitish dress with sleeves of half
length, its folds and shading rendered in pale green. Her black shoes are
fastened with crossed strings. The fashion of her jeweled collar recalls
that which the Empress Theodora wears on the famous mosaic in San
Vitale in Ravenna: a rounded trapezoid, the row of large stones in the
middle completely framed by pearls6. Also the triangular shape of the
stones (which are dark green, light green, and blue) is known from con-
temporary jewelry 7 . The fourfold bracelets are each composed of two
yellow (golden) rings alternating with two circlets of whitish pearls.
The earrings consist of four pearls equally whitish, hanging on golden
chains or rods from a golden ring; each pearl is supported by a golden
finial or stop. A type of earring exactly similar can be seen in our
museums8. The whole display of jewelry, then, is an accurate represen-
tation of the ornaments which persons of rank, princesses or empresses,
were accustomed to wear.
The luxuriant hair falls in seven waves from beneath a ceremonial
cap or crown with indented contour. The main surface of this strange
headdress is green; its serrations are alternately blue and green. If its
form and coloring are significant, as they probably are, it represents a
crown of leaves. Fixed upon it is a wreath or tendril to which fruits j
are attached, red with yellowish shading; one is recognizably a pome-
granate. The lower limit of the headdress is marked by a yellowish
ribbon, which seems to secure it upon the hair. From a loop in it a golden
pendant hangs down toward the middle of the forehead. This pendant
has the shape of a Maltese cross or croix fourchee, which may or may
not have a special significance. It looks very much as if, like the earrings,

6 For other examples of the jeweled collar see J. Wilpert, Die römischen Mosaiken und
Malereien, Vol. III, pis. 16 and 17.
7 Compare the margin of the tapestry in the Victoria and Albert Museum reproduced
in Bull. Fogg A r t Museum, I X , 1939, p. 11, fig. 8.
8 Dennison and Morey, Studies in East Christian and Roman Art, pi. 4 1 ; Byzantine
A r t and Archaeology, fig. 327; Peirce-Tyler, op. cit., V o l . II, pi. 201 a (with the right
chronology, text p. 136). A pair with three instead of four pendants is in the Detroit
A r t Museum. The little golden finial occurs also on the Nereid textile at Dumbarton
Oaks.
[415] Documents of D y i n g Paganism 491

the collar, and the bracelets, it might have come from the workshop
of a goldsmith. Only the green crown with the wreath of fruit is no part
of the regalia of an empress. It marks her as divine; it symbolizes her
as the bearer of vegetation and dispenser of fruit. Ge, the Earth, on a
mosaic of Antioch, has a similar headdress: a fillet hung with pome-
granates and, perhaps, oranges9.
Her name is written above her head in the clear lettering of the early
Byzantine age: Hestia, one of the great goddesses of Greek antiquity. To
the name is added the word croXiW.pog "rich in blessings," which is worth
dwelling upon for a moment. It is an old, stately epithet: Sappho bestows
it on Aphrodite (tav jioKioX|jov 'AcppoSiiav Frag. 144 b Di.). In the Imperial
age it becomes a commonplace of the language of religious worship.
In the Orphic hymns, so full of epithets expressing plenitude (jtoXv^riTi
jtoXt'iioQcpe, jioXvurixave), only jioXxxbvmE, "rich in names," the favorite
invocation of this age of syncretism, is oftener used than :toMoX(te,
;roXi)6XPiE10. Athena, N y x , Dikaiosyne, Eirene, Euphrosyne, the Kouretes
are thus addressed as "full of bliss," and a hymn to Helios in a Phrygian
inscription (Kaibel 361) of approximately the same period as the Orphic
hymnbook begins with the invocation Xcuqe uuy.ap iroXiioXpe ftecov, "Hail
blessed god rich in guerdons." "Hestia rich in guerdons," then, cannot
very well be regarded as a mere flourish on the part of the designer: it
is intelligible as a reminiscence from a liturgical hymn or prayer. The
hieratic attitude of the goddess, her golden halo, her eyes fixing the
eyes of the beholder-all accord with this meaning of the inscription.
Thus this picture is no mythological fantasy, no mere display of deco-
rative splendor: it is meant as an object of worship. Its impression on
us may well be described in the words of the Neoplatonist Damascius
{Vita Isidori, 87) commenting on a statue of Aphrodite: | "into it the
artist has infused a great beauty; not sweet and voluptuous, but solemn
and virile."
How Hestia, the numen of the hearth, became a great goddess of
the universe, is a chapter in the history of Greek religion, well known
in general outline though obscure in many details 11 . Hestia, Hearth, is
the center of the house and family, the political community, the village
or city, the country, the league. It is only consistent that, wherever a
god has his house or precinct, there too is a hearth. Hestia, then, "is a

9
Antioch-on-the-Orontes. Vol. II, pi. 56, no. 7 7 , panel B.
10
The index in Gottfried Hermann's edition (Lipsiae, 1 8 0 5 ) gives eleven instances
of jtoXuwvD|J.e (-|XOi), eight of jtoMoXfte (-pie, -pioi). T h e next in order of frequency
w o u l d be jtoMjoe|AVE, with three instances. In these statistics only vocatives are
counted.
11
Welcker, Griechisdie Gotterlehre, V o l . I I , pp. 691 ff.; Preller-Robert, Griechisdie M y -
thologie, V o l . I, pp. 4 2 2 if.; Farnell, T h e Cults of the Greek States, V o l . V , pp. 345 ff.;
Wilamowitz, Glaube der Hellenen, Vol. I, pp. 1 5 6 s . ; Suess, R . - E . , s. v. Hestia.
492 Ardiaologic

holder of honors (i^idoy.og) in all the temples of the gods, and among
all mortals she has come to be a most exalted goddess." Thus says the
Homeric hymn to Aphrodite (V, 3 1 ) and in like terms a small Homeric
hymn to Hestia and Hermes ( X X I X ) . It is unnecessary to repeat the
pertinent passages from Pindar, Sophocles, Euripides, Aristophanes,
Plato 12 , but it will be useful to add a testimony from the very period of
our tapestry. Commenting on a hymn (probably of late antiquity) which
called her "the oldest and most honorable of the gods" (ji£>eo|3i}t&ttiv
ttetov)13, Proclus the Neoplatonist explains: "for in prayers they used to
sing Hestia before the others." The development is similar to that which
took place in the cult of Hekate 14 : honored at the entrance of doubtless
every house, and consequently of every temple, she became at an early
period a partaker of the worship paid to every deity; the hymn addressed
to her in Hesiod's Theogony ( 4 1 1 - 4 5 2 ) proves it. Neither Hekate nor
Hestia was, at least before the period of complete syncretism, in the
fullest sense a universal goddess ("Allgottin"), but both had a definite
trend toward universality.
We do not know what philosopher-theologian took the next step
and sanctified the center of the universe by giving it the old and hallowed
name of the goddess who for centuries had been the center of the home
and the community. The texts are well known, but must be cited. |
The shadowy figure called Philolaus the Pythagorean says in an
obscurely worded fragment (Vorsokratiker 44 [32], B 7) that "the one
in the center of the sphere has the name 'hearth.'" He meant the central
fire of the universe {ibid. 44 [32], A 16), to which he is said to have
applied yet other designations: "house of Zeus," "mother of the gods."
Whether or not we print "hearth" with a capital makes little difference
or none, since the hearth may at any moment show its divine nature 15 .
In a fragment of a lost tragedy Euripides addresses a group of gods,
among them Mother Earth. He adds, "the wise among mortals give you
the name of Hestia, seated in the aether." "The wise" we cannot identify;
but it is evident that Euripides has in mind the classical Greek diagram

12
See Farnell, op. cit., p. 346.
1 3 Proclus, In C r a t y l u m 1 3 8 , p. 79 Pasquali. T h e verse jteE0[3x>TaTTyv 6e Oewv 'Eotiav
y.£Aa&r]aaT£ xoCjjoi m a y well be from an Orphic hymn of the type of A n t h . Pal. I X ,
5M.52J-
14
See m y remarks in Goettingische Gelehrte Anzeigen, 1 9 3 1 , pp. 2 6 1 f . ; cf. Diller,
Gnomon, X I I , 1 9 3 6 , p. 2 3 9 ; on the opposite side, e. g., Wilamowitz, Glaube der
Hellenen, V o l . 1 , p. 1 7 2 ; Kern, Religion der Griechen, V o l . I l l , p. 1 2 7 , n. 1 ; A . D .
Node, Conversion, p. 2 2 . It goes without saying that Hekate was identified with the
great pre-Hellenic goddess of A s i a Minor. But Hesiod's H e k a t e is independent of, and
possibly earlier than, this identification.
15
N o t e , f o r example, o (3o)u6g x f j ; (iouXaiag ' E t m a g or t| ' E a t i a f| pouXala side b y side
with r| pouXaia i o x i a , Dittenberger, Orientis Graecae Inscriptiones Selectae, Vol. I,
p. J I 8 , n. 3 3 .
[6¡7] Documents of Dying Paganism 493

of the universe representing the earth as the center of a spherical system,


and that his wise men had given this scheme a theological cast by applying
the name Hestia to this center16. It was observed in antiquity that Plato
drew from the same or a related author in the myth of the Phaedrus:
the gods ride in their chariots along the firmament, "but Hestia alone
remains in the house of the gods." Thus a cosmological speculation of the
fifth century B. C. identified Hestia with the central earth and further-
more with Mother Earth, the ancient and mighty goddess of Greek
religion, the ever-present giver of life, fertility, and earthly weal. The
very "weal" (o/.pog) and "wealth" (idoixog) which a Homeric hymn
(XXX, 12) attributes to Mother Earth are exhibited on our tapestry
as gifts of Hestia.
In the syncretism of Hellenistic and Imperial times these identifi-
cations are welcomed and extended. Varro identifies Earth (Tellus) with
Ops, the Great Mother, Proserpine, and Vesta, "quod vestiatur herb'ts"
(Augustine, Civ. Dei VII, 24)-words which could well be used to describe
the head of our Hestia. In like manner the Orphic Hymn to the Mother
of the Gods (XXVII) identifies that great Phrygian goddess, Oriental
though Hellenized, with Hestia ('Iaxiri ati5ay.ileiaa), and in the same verse
calls her "giver of blessings" (ókPoSóxig). | The Orphic Hymn to Hestia,
(LXXXIV) gives her the place in the center of the world: she is the
"house of the gods" (oI-xe OeoW [laxagtov-these words remind us of Plato)
and the "firm support of mortals" (flvrixcov axi'ior/^a y-oataióv). That she
is identical with Earth is apparent: among her epithets there is one,
xtaónoQcpe "of verdant guise" (matching y./.oóxaQjis "fruitful in verdure,"
in the Orphic Hymn to Demeter, XL, j), that is otherwise incomprehen-
sible. The green cap or crown, fruit-garlanded, which Hestia is seen
wearing in this tapestry, is a visualization of these epithets.
Doubtless this account of the developing conception of Hestia is
incomplete at many points; we are far from knowing all the local and
contingent variations in her cult. Yet it may well be that the worship
expressed in this tapestry (woven at Panopolis-Achmim and destined,
say, for Alexandria) had, besides its strictly theological background,
some elements more local and popular. In Hellenized Egypt, Hestia
was identified with the Egyptian goddess Anukis; we do not know why,
for the latter deity is obscure even to the specialists in Egyptian religion.
This Hestia-Anukis occurs as a third deity by the side of Ammon and
Hera in Greek inscriptions of Hellenized Egypt 17 . Her reception into
16
Macrobius, Saturnalia I, 23, 8: haec sola (Vesta) quam terram esse accipimus manet
immobilis intra domum deorum, id est intra mundum, ut ait Euripides:
y.ai Tala (ifjxep. 'Eaxíav 8é a' ot aocpoi
Pqotojv y.aXoicuv fi¡j.évriv ev aíOéoi.
17
"Au,|aojvi xaii xai Xvoúfki xai "Hnai xfji y.ai Súxei xui 'Eaxíai xfji xal 'Avvoúxei
y.ai Aiovvaan xwi xai IlEXEUJiafiÉVTEi y.ai xoi; cU-Xoi; Osoig: Dittenberger, op. cit.,
h i , 3ff.;130, 7ff.Cf. Pietschmann, R.-E., s. v. Anukis, I, col. 2650.
494 Archäologie [718]

the Greco-Egyptian pantheon, if it sheds little light on the object before


us, at least goes to show that local circumstances may have spread
her cult and modified its features.
The Six Putti-The goddess is attended by three naked boys on
either side. All are alike in their chubby physique, their attitude to the
central figure, their headdress (a little cap, rendered in graded shades
of red), and their curly blond hair. Each carries a disk or medallion, its
center bluish green and surrounded by a narrow red frame within a
broader yellow one. The only purpose of these disks is to serve as apt
fields for the inscriptions (yellowish on the blue-green centers):
Upper left: I I A O Y T O C wealth, riches
Upper right: [ E ] Y $ P O [ C Y ] N H mirth, cheerfulness
Left center: E Y A O [ T I A ] praise, fair fame, good report (rather
than eloquence or fair speaking)
Right center: E Y Q X [ I ] A festivity, entertainment, abundance
Lower left: APETH excellence, virtue, merit
Lower right: n P O K O I I H progress, improvement |

Whether or not there is anything intentionally systematic in the choice


of the gifts and the order in which they appear, is not apparent; perhaps
we are to recognize an ascent from "wealth" to "good report" and
thence to "virtue" and possibly to "progress," though there is no reason
to think precisely of the Stoic progress to that virtue which is fully
obtainable only by the sage. Three of these gifts are among the blessings
prayed for in the formularies of Egyptian Christians of the fourth
century; but there, of course, the words have a different color 18 . Here it
is a popular list, slightly shaped by a philosophic and religious education
of a few hundred years.
It may be our first impression that Hestia is here receiver, not dis-
penser, of these blessings. But on closer view the two central putti are
seen to be receiving their disks from her: the bestowing hands are above,
the receiving below. This fact is borne out by the content of the inscrip-
tions: these blessings are not offered to Hestia; they are her gifts. We see
her handing over two of the disks; she has already bestowed the four
others, transmitting them to mankind, or, more particularly, to the
worshiper who may read the words. This is a hieratic composition quite
different from any in classical Greek art. Its language can be misunder-
stood only at first glance.

18 In the Christian prayers of the Sacramentarium Serapionis (Egypt, fourth century),


Funk, Didascalica et Constitutiones Apostolorum, Paderborn, 1905, Vol.11, pp. i j 8 f f . :
6 0 ; jmcriv EÙXoyiav ngoxonfj; x a i ßEVuwaewg (170, 8), xó(naai öyeiav x a i óXoxXt]-
()iav x a i EÜ{h)uiav x a i j t à a a v jtgoxonf)v ipu/f); x a i ad)|xaro5 (176, 17), elg èv8uvd-
(ituoiv jtaari; jtpoxojriis x a i àpErrj? (176,4). I owe the reference to Dom Anselm
Strittmatter, O.S.B.
[8j9] Documents of Dying Paganism 495

Distinctly unclassical, non-Hellenic, is the representation of gifts by


means of abstract disks inscribed with bare words 19 . In Greek art Ploutos
is a boy sitting on the arm of Peace, not a bit of writing which a goddess
hands over to someone. I do not know of any exact analogy with this
feature of our textile. The nearest would be in Egyptian art, where
a god holds the symbol "life" or puts it under the nose of this worshiper.
Upon a stele from Abydos, King Sesostris receives the two hieroglyphs
"life" and "happiness" from the hands of Osiris 20 . But the inscribed
circular disks on our tapestry are still remote from these old Egyptian
symbols.
The sphere and the circle-"on the circumference of which," accord-
ing to Heraclitus, "beginning and end are the same"-are an]cient symbols
of perfection. An important chapter of the history of the sphere has
recently been written by O. Brendel 21 . I cannot attempt here to write
the analogous history of the circle, and can only hint at a few occasions
on which the symbolic circle invades late Greek art. The halos on our
tapestry may express the idea of perfection fused with the idea of light.
But let us limit ourselves to examples in which the circle, whether in
abstract geometrical form, or as ornamental circular frame, or in the
shape of a wreath, surrounds a sacred symbol or a significant word.
The symbol may be the cross or the lamb or the signs of the evangelists,
or the bust or the monogram of Christ, or again the bust of Constantino-
polis, or the bust or the monogram of a consul22. To cite some specimens
of solemn words: a consular diptych includes, in two beautifully orna-
mented circles, the hexameter (Munera parva . . . ) and the corresponding
pentameter ( . . .offero consul ego) of a dedicatory distich; another places
the dismembered pieces of the Greek dedicatory verses in eight small
circles, each framed by an abstract border (xotm to Scoqov . . ,)23. In none
of these examples is there exact correspondence, but combined they
speak the language of our textile.
Nonclassical, again, is the grouping of the figures, one above an-
other, in three tiers. This "vertical perspective" is, on the whole, a
19
Comparable, perhaps, the medallions on ivories: Delbrueck, Consulardiptydien,
pis. 26-30.
20
L. Troje, A A A M und Z Q H (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie, 1916,
Abh. 17), p. 74.
21
"Symbolik der Kugel," Rom. Mitt., LI, 1936, pp. 1 ff.
22
M o r e y , Early Christian Art, figs. 72, 93, 102, 142, 1 8 3 ; Delbrueck, op. cit., pis. 16,
48-50. C f . John of Gaza, Ekphrasis i, 29-44, with my commentary, p. 168. The
threefold circle surrounding the cross is oia itoXou |j.t^ri(j.a, circle standing for
sphere. - Morey, Dumbarton Oaks Inaugural Lectures, figs. 5 and 6. - A good
formal analogy with our tapestry is on a Coptic wooden panel: a bust in front view,
at either side a winged angel carrying a circular shield with a cross: Johann Herzog
zu Sachsen, Neue Streifziige durdi die Kirchen und Kloster Aegyptens (1930), pi. 76,
no. 16 j .
23
Delbrueck, op. cit., pis. 28, 30, 3 3 ; Buecheler, C.L.E., no. 898; Kaibel, E.G., no. 1 1 1 9 b .
496 Archäologie [9110]

primitive arrangement, but formalized in the art of ancient E g y p t and


the N e a r East 24 . Only in late Hellenism or the Imperial age did. such
schemes invade Greek art. It will here be profitable to study this invasion
at two different points.
In t w o miniatures of the Vienna codex of Dioscurides (fols. 2 T and
V
3 ) the subject is a group of seven learned men (pi. 4, a). In each, the
miniaturist has distributed the figures along three sides of a rectangle:
three on either side, one above another, and the seventh figure between
the two uppermost. Contrast this scheme with the composition employed
in the famous mosaic of the Seven Sages (pi. 4, b)25. | On the miniatures
of Justinian's time the grouping, semicircular and more or less casual in
the mosaics, has become rigid; nevertheless, the Byzantine artist is ex-
pressing, in a different dialect, the same idea, " a gathering," that was
expressed in the freer language of the Hellenistic works. T o compare the
central group of the tapestry with the miniatures, and to contrast both
with the mosaic of the Seven Sages, is to perceive how un-Hellenic is
the arrangement on the tapestry, notwithstanding its Greek inscriptions.
What an effort of the imagination is required to revisualize the rigid
columns of putti as a choir surrounding the goddess!
There is, moreover-to study the invasion at quite another point,-a
group of late reliefs on which the central figure is flanked at right and left
by a border of minor attendants arranged in columnar fashion one
above another: Nemesis standing in front view, on either side of her
three winged figures likewise frontal; and Cybele seated with three
dancing girls in each vertical border (pi. 5, a)26. One m a y , with
B. Schweitzer, attempt to trace such schemes to an Oriental model. O r
one may prefer, with K . Lehmann, to lay the stress on their provincial
character. The fact remains that in our tapestry this general scheme of
design (statuesque, hieratic figure of a goddess with three attendants at
right and left) takes its place in religious art of a high standard. One
could not possibly call the textile provincial, and it is distinctive that
here the six boys are much more directly connected with the central
figure than were the attendants on the less artistic reliefs of C y b e l e and
Nemesis. N o r can one call the composition Oriental, though it is by no
means Hellenic. It is something new in this religious art of late antiquity:
the nearest formal analogy occurs in thirteenth-century Italy in the still
medieval art of Duccio 2 7 .

24
E.g., L . Curtius, Kunst des Altertums, Vol. I, figs. 1 2 5 c, 2 3 7 .
2
5 E . g., R o m . Mitt., L I , 1 9 3 6 , p. 3, fig. i , p. 5, fig. 2.
26
C f . Schweitzer, " D e a Nemesis R e g i n a , " J . d. I., X L V I , 1 9 3 1 , pp. 1 7 $ ff. ("Götterbild
mit Figurenrahmen"). Professor Lehmann w a s kind enough to give me his view of
the problem.
" C f . p. 18.
[10111] Documents of D y i n g Paganism 497

The Attendant at the Right-The central figure has a double framing,


the inner one of the six putti, the outer one of the two attendants. The
female figure at the (spectator's) right stands in a statuesque posture
of the kind we know from the Byzantine miniatures of the Paris Psalter28.
The pose of the male figure at the left is less easy to judge, since that
corner of the textile has suffered more than any | other part. Both figures
wear the same golden halo as the goddess herself, thus contributing to
the hieratic effect of the whole. They are looking neither straight out of
the picture, as Hestia does, nor at the action in the center of the picture
itself; it is safest to say that they gaze obliquely toward a point in front
of the picture in its middle axis. They virtually force the beholder, the
worshiper, into a position in this axis where the lines of sight of the three
figures-and, moreover, of the six putti-seem to meet.
The female figure at the right is clearly represented as a companion
of the great goddess, though inferior in rank. She wears a similar head-
dress, but its indentations are less sharp-less like leaves, and less numerous;
it is red instead of green, and lacks the garland of fruit and the golden
pendant. Is it meant to symbolize light, the very concept inscribed on the
tablet she is carrying in her hands? She has similar, though simpler,
earrings. Her collar resembles Hestia's in much the same degree as, in San
Vitale, the collars of the ladies in the Empress Theodora's retinue resemble
that of Theodora herself, and, in Santa Maria Maggiore, the collar of a
lady in attendance resembles that of Pharaoh's daughter2'. She wears a
mantle or shawl, yellow like the three halos; her long-sleeved tunic is red
except for a vertical green-and-yellowish stripe which is visible above and
below the mantle. In her hand she carries a tablet which seems to have
no other function than to indicate by its inscription who she is.
The inscription above the head of the central goddess might have
occurred in "classical" antiquity; not so the inscriptions on the disks and
on this tablet. In other words, remove the inscription of Hestia or of
any work of classical art, and one will not miss at least the general sense.
But take the inscriptions from the disks and from the tablet, and disks
and tablet and with them the movement of the figures lose their raison
d'etre. Perhaps the best formal analogy to the device here used to
designate Hestia's attendant is supplied by the early Byzantine medallion
bust of an evangelist in Constantinople30: he holds in both hands a tablet
of the very same shape, inscribed with a cross. Instead of showing so

28
C o d e x Parisinus Graecus 1 3 9 : Omont, Miniatures des plus anciens mss. grecs de la
Bibliothèque Nationale, pis. 1 - 1 4 bis.
» Wilpert, op. cit., V o l . I I I , pis. 1 6 - 1 7 .
30 Mendell, Catalogue des sculptures, V o l . II, pp. 4 4 4 ff., no. 6 6 1 ; W u l f f , Altchristliche
und byzantinische Kunst, fig. 1 ; Rodenwaldt, Griechische Portraits aus dem Ausgang
der Antike, fig. 1 3 .
498 Ardiaologie [11112]

unmistakable a symbol, the attendant of Hestia directly states that she


is Phos, Light.
What is the precise sense of this word in our picture? One knows ]
that the content of the Greek concept is very wide. Apart from its literal
sense, it may mean life, happiness, victory, illumination of mind, en-
lightenment, even the "intellectual light" ( V O E Q Ò V <pa>g) of the Neoplato-
nists with its mystical implications. It will hardly be possible to say
how wide or how restricted its meaning in our picture may be. One
might point out that the other inscriptions favor a more worldly shade
of the word. One might interpret the red and yellow colors of clothes and
cap as representing the splendor of light in its natural sense-the light
of fire on the hearth31. Is it too far-fetched to argue that light is that
divine gift which enlightens us so that we may appraise rightly such
gifts as we see Hestia dispensing? One thing is certain: Light is here a
superhuman power like Hestia herself-a divinity, as it were, of a lower
grade, but still a divinity. So much our textile tells us in clear language.
If we seek to know more we must turn to literary sources, two Neo-
platonic passages containing the same theological system and complement-
ing each other: one in Proclus' Commentary on the Cratylus ( C L X V I I
p. 90 Pasquali), the other in Damascius' Difficulties and Solutions (Vol. II
§283 Ruelle), which, at least in large measure, is a reworking of the lost
parts of Proclus' Commentary on the Parmenides. This second passage
is more obscure in its beginning, but becomes important toward the end.
The theological system starts with the descending triad Cronus, Rhea-
Demeter, Zeus. Rhea, says Proclus, is identical with Demeter: she is
Rhea when she remains with Cronus, Demeter when she brings forth
Zeus. One recognizes the Neoplatonic duality of (iovr) and JtQÓoSog. But
underneath this Neoplatonic surface there is "Orpheus," as Proclus him-
self reveals by quoting the Orphic verse: "she who was Rhea before
became Demeter when she bore Zeus." This goddess "contains"
(jteQiéxovaa), as Proclus puts it, "bringeth forth" (jigoPcdXetai), according
to Damascius, two divine powers, Hera and Hestia. Here, too, the
genealogy is Orphic, as Damascius actually states (xax' 'Ogqpea Vol. II
p. 1 j6, 17 Ruelle). Then Proclus adds a strange remark32: Hera, he says,
31 In a magical papyrus is the following incantation f o r a burning l a m p : £|OQX1^CD ce
M x v e , x a x à x f j ; (IT)TQÓ5 aov 'Eoxiag . . . x a ì x a t à r o v naxgóg oov 'Htpaiaxou (Prei-
sendanz, P a p y r i Graecae Magicae, V o l . II, p. 17, no. 7, 11. 377 if.). The burning lamp
is the son of the fire god Hephaistos and Hestia, the hearth of the house being the
central fireplace whence all other fires are derived. C f . also Dittenberger, Syll. 3 , 826,
C 13 : . . . x a ì ' E t n i a x a ì IIÌQ àftàvaxov . . .
32 In the passage of Damascius only a v e r y faint trace of this idea can be discerned:
"Hgav cpr^ui x a i 'Eaxiav, xavxrjv |xèv èògà^ovaav rovg eig róde xò jtfiv jigoióvxas
deoù;, ÈXEÌVTIV 6è j t à v x a ? s i ; J I Q Ó O S O V èxxaXou|j.évr|V. O n l y in the grammatical cast
of the sentence is there any correspondence with the language of Proclus in the
f o l l o w i n g : Tr)v (lèv "Hgav aitò rcàv Selitòv KQOxéovaav OÀOV xòv xtòv IP«XÀ>V S i à x o c -
|ÌOV, xrjv 6è 'Eaxiav à n ò XCDV àgiaxeQcòv Jtàv xò xfjs àgex^G tpcòg J I Q O Ì E H Ì V T ] V .
[12114] Documents of Dying Paganism 499

pours forth (jtQo|xeoi)aav) from her right side the "entire order (system,
Siaxoanov) of souls," and Hestia emits (jiqoieiaevtiv) from her left side
"the whole light of virtue" (nfiv to trig deexrjg cpcog). The image "pouring
forth" is not common in Proclus; but it answers to the Neoplatonic
notion of "proceeding forth" (jtQoo8og)-of "emanation," as one is more
accustomed to say. The higher grade or power, though remaining what
it is ([i-ovf)), overflows into the next lower one. This is how the world
unfolds itself out of the Ineffable One. It need not, then, surprise us to
find Hera pouring forth the diacosm of souls, Hestia, the light of virtue,
though I have not yet found any other place in Proclus where this
particular task is assigned them. But what is meant by "from her right
side" and "from her left side"? The two expressions apparently are
complementary; but whether they are meant to convey any systematical
or symbolical significance remains obscure. They cannot imply any
differentiation in value according to the old Pythagorean symbolism
which lists the right side with things good, the left with things evil.
The "light of virtue" could certainly have no sinister implication.
The inference is that Proclus had in mind, or even before his eyes,
a Hestia with the "light of virtue" at her left and a Hera with the
"order of the souls" at her right-whatever these formulas may mean.
In other words, in his language about Hestia and Hera and their emana-
tions, only the Neoplatonic veneer is his own. Under this surface is the
one continuous theological system, to which the much-misused name
"Orphic" can be given with good reason; for, since the triad Demeter-
Hera-Hestia originated in a poem of "Orpheus," the power which Hera
and Hestia in their turn bring forth can hardly come from another
source. H o w much Proclus himself remodeled, we cannot tell; but as
the right and the left sides have no significance in Neoplatonism, these
concepts and with them the emanation of the two powers must belong
to Orphic theology.
The Orphic Hymn to Hera ( X V I , 3) credits her with "providing for
mortals the soul-sustaining breezes" (ipuxoTeocpoug aifeag). N o doubt, Stoic
theology identifying Hera with the air is responsible for this and other
characterizations in that hymn (oiipQoav ¡xev nfjtep, dvEfxmv TQocps). | It is
possible that Proclus' conception of the "order of the souls" emanating
from Hera is a Neoplatonic transposition of the idea of the soul-sustain-
ing breezes, or some similar formula, perhaps from the Sacred Words
('Ieqoi Aoyoi) of "Orpheus," the acknowledged main source of the Neo-
platonists. It is, however, the complementary image, Hestia with the
"light of virtue" emanating from her left side, that is for us important:
for here on the tapestry we see Light standing at Hestia's left. The
correspondence may be due to chance; but is that very likely? It is obvious
that Proclus relies on an outside datum, which he fuses into his own
theology. This datum, then, will be of course not our tapestry in particular,
500 Archäologie [14115]

but something similar or related to it, perhaps a piece of Orphic theology


based on a picture like ours or represented in such a picture-we cannot
form an exact conception without compromising what, after all, must
be left in rather vague outline.
The Hestia tapestry is neither an allegory nor a mythological fantasy:
it is a devotional object, a sacred icon of a religious cult. It would be
too much to attribute it to the "Orphics", especially since those Orphics,
through Linforth's investigations, have recently become even more
shadowy than they were before 33 . But to understand it the Orphic prayer
book provides the appropriate background: that collection of hymns
in which each is dedicated to a different god or goddess and on each
is indicated the special spice-storax or frankincense or myrrh or what-
ever it may be-with which to worship this particular divinity. N o
doubt, the rites of singing and censing were performed in an appropriate
setting, in the presence of a sacred image. It would be not at all surprising
if our tapestry were an icon used in such or similar rites. In any case,
it cannot have been the only one of its kind. Other textile pictures with
other gods or goddesses must have come from the same workshop at
Achmim-Panopolis-incidentally, the birthplace of the last great poet
of Greek paganism, the poeta mirabilis, author of the epos on Dionysus:
Nonnos.
The Attendant Figure on the Left-The figure which balances Phos
at the left side of the picture must be some divine power analogous to
Light, since the head is surrounded by the same | golden halo. It is a male,
not a female figure. His red cloak is fastened at the right shoulder with
a circular brooch or button-fibula. Down from the shoulder, on his
brownish tunic, runs a blue-green stripe with a yellowish w a v y line and
yellowish dots. The drapery may be compared with male costumes of
the period; for example, on the diptych of Stilicho34 or on the mosaics
in San Vitale. He has no earrings, no jeweled collar. His hair differs
in cut from that of the two goddesses; its coloring, made up of a mixture
of black and brown streaks, is different, too. More is seen of his feet
than Phos would show if the lower right corner of the tapestry were
preserved. The mosaics of San Vitale prove that the court etiquette
allowed male feet to be exposed up to the ankles, female only to the
insteps.
The figure is badly preserved. Its lower part, with the exception of
the left foot, is all but lost. A large rent in the lower part of the body
was formerly patched with a fragment from another textile woven in
the same tedinique-apparently a marine subject, for fishes and a crayfish
33
Lin forth, The Arts of Orpheus, passim; on the Orphic hymns, see pp. 179 ff. C f .
A . D. Nock, Classical Weekly, 1942, p. 162, n. 4.
34
Delbrueck, Consulardiptychen, pi. 63. C f . the Christian tapestry, Bull. Fogg A r t
Museum, I X , 1939, N o . 1, title page.
Documents of Dying Paganism 501

are recognizable. With its removal, which occurred only after the first
publication of my "Documents," a few original features emerged which
entail an important change in the interpretation of the figure.
Whom does this figure represent? He wears a sort of crown com-
posed of three horizontal rows of knobs: the nine in the center are green,
the others red; both the green and the red are done in three different
shades, so that the impression of balls is produced, whereas the pearls
in Hestia's earrings, collar, and bracelets lade this effect of convexity.
It is odd that this headdress, if a jeweled diadem, has no distinct central
feature of quite definite shape, such as a rhomb or rosette35. Both form
and color might vaguely suggest grapes, but the new identification of the
figure will lead to a more probable explanation.
Previously this figure seemed to hold in his hands a tablet or an
unrolled scroll as if he were reading what was written upon it, perhaps
reciting a hymn to Hestia and to us. Such was my former interpretation.
Now it has become clear that this attendant held a tablet of quite the
same type as the figure at the right. Enough of the upper edge and the
left corner of the tablet is preserved to make this fact as good as certain.
Whom does this figure represent? Most probably it is a hypostasis of
a particular power of Hestia, corresponding to Light on the right side.
But let us first look at the six putti running or flying to the right and
left of Hestia. They are three on each side, in "vertical perspective".
Each carries a circular disk or tablet on which a Greek word is written.
These are the gifts which the goddess of the hearth bestows on men-Greek
words, but a non-Greek (perhaps Egyptian) practice, to use written
words in place of illustrative symbols. Then, this exactly symmetrical
structure is framed on both sides by the two standing figures, each of
which carries or carried a rectangular tablet with an inscription. Since
the word cptog is written on the woman's tablet, a word of three, or not
many more than three, letters must have stood on the man's tablet. IIY|P
is the most probable I can find. Fire is the first and most essential gift
of the hearth to man36. The second gift is light which flows out from the
hearth and brightens the house. Both words are neuter. That the bearer
of "light" is a female figure, the bearer of "fire" (if my conjecture is
correct) a male one, might thus be interpreted, that light is the gentler
force, fire the more powerful and even destructive one. "Fire is usually
called male" according to the Neoplatonist Proclus who contrasts it
with the female Earth 37 .
The flamelike headdress of the female attendant is fitting for Light
though it might also stand for Fire. The man, however, wears a different

35
See the many examples in R. Delbrueck, Spatantike Kaiserportrats.
3« Pauly-Wissowa, R.-E., VIII 1288.
37
Proclus In Timaeum ed. Diehl I, 110, 10; II, 17, 18.
502 Archäologie [15117]

headdress, a kind of crown composed of spheres. Their form and colors


have been previously described. W h a t the difference in color means is
uncertain. The balls may symbolize fire. Leucippus and Democritus, who
otherwise thought of their atoms as completely formless, ascribed spher-
ical form to the atoms of fire, and others may well have held a
similar view.
Hestia, goddess of the hearth, framed by the powers "Fire" and
"Light" bestowing her gifts on man-if one reflects on this picture of
religious art from late antiquity, one may doubt that Wilamowitz is right
in counting Hestia among the old gods " w h o have completely faded"3®.
The tapestry shows rather that she was a great divine power into and
particularly during late antiquity, a fact also testified b y the Orphic
hymn book. In the hymn addressed to Hestia ( L X X X I V ) 3 9 she is implored
to make men "rich in blessings" (jtoXuoXfSoug) and " f u l l of cheer" (efiqpQovag).
O n the tapestry her name is "the blissful" (itoMoXPog), and one of her
little messengers brings "good cheer" (sixpQocruvri) to the men w h o worship
her. Another hymn in the same collection ( X X V I I ) is addressed to the
Mother of the Gods. She too is called "bestower of bliss" (6X(3o8otig).
The throne in j the center of the universe is hers and Hestia is one of her
names. This Hestia has become the central power of the cosmos. Her
name is "home of the blissful gods" in the first quoted Orphic hymn,
a literal reminiscence of the myth in the Platonic Phaedrus (247 A )
according to which Hestia alone remains in the house of the gods, while
the other gods ride in their chariots along the firmament. "Celebrate
Hestia, oh youths, as the oldest and most exalted of the gods!" This verse
(perhaps from one of his own hymns) is cited b y Proclus in his com-
mentary on Plato's Cratylus where he is discussing the sentence that it
is fitting to sacrifice to Hestia before all other gods40. In the Laws Plato
orders the first and most holy sanctuary to be dedicated to the divine
trinity Hestia, Zeus, and Athene (745 B, 848 D), and in the solemn
judicial process of this republic Hestia or the H o l y Hearth receives
eminent honor (856 A ) .
The sacredness of Hestia as the hearth of the state and of the universe
grew the more as that of the domestic hearth declined 41 . O n Greek
inscriptions of Ptolemaic E g y p t Hestia is identified with the Egyptian
goddess Anukis; her name appears in third place immediately after
Ammon and Hera, and the names of other gods follow 4 2 . |
Structure of the Whole-In a search for analogies to this picture of
Hestia one feels almost compelled to turn first to monuments of Christian

38 Der Glaube der Hellenen II, p. 139.


39 Orphica rec. E. Abel, p. 100.
40 Proclus in Platonis C r a t y l u m Commentaria ed. G . Pasquali p. 79.
4 1 A sentence from Welcker, Griechische Gotterlehre II, 698, is here slightly varied.

4 2 W . Dittenberger, Orientis Graeci Inscriptiones Selectae m , j . 130,8.


[17j18] Documents of Dying Paganism 503

devotion, especially such as show Christ or the Trinity or the Blessed


Virgin enthroned between two attendants. It may be useful to begin
with four examples which are separated from the tapestry by probably
not many years: (i) the Mother of God seated between two angels-a
painting in a lunette of the monastery of El Baouît in Egypt (pi. j , b) i3 ;
(2) the Mother of God seated between the Emperors Constantine and
Justinian, the former holding a model of the city, the latter a model
of the church-a mosaic in a lunette of the narthex of Hagia Sophia in
Constantinople44; (3) the youthful Christ seated on the sphere of the
universe between two angels, one presenting St. Vitalis, to whom Christ
holds out a crown much as | Hestia holds out the shield with her right
hand, the other angel presenting St. Ecclesius, who offers to Christ a
model of a church-a mosaic of the apse of San Vitale at Ravenna 45 ;
(4) the youthful Christ enthroned between two saints holding books,
with an angel partly visible between each saint and Christ-an ivory
plaque from Murano in Ravenna 46 .
Should one object that these analogies are too general to be instructive,
we would answer with the challenge to search for an analogous devotional
picture throughout three millennia of Egyptian, Babylonian, and
Assyrian, as well as Greek art. One will agree, then, that the analogies
offered must have a significance, particularly since we have compared
works of religious art which are of the same period, though separated
by the frontiers between the religions. But what is that significance?
Before we answer the question, we may be permitted to add to our
analogies a very few examples from later Christian art. A twelfth-
thirteenth-century window in Chartres Cathedral (pi. 1 a) has a scheme
astonishingly like the central group of the Hestia textile: the Virgin
and Child enthroned, both depicted fullface, with three angels on either
side, these forming three tiers (in the section of window just below,
not shown, is a row of other angels). Duccio's "Madonna Rucellai"
(pi. 6) and a similar picture of his in the Academy of Florence follow
exactly the same pattern, but the rigidity of the central figures has
already given place to a more gentle bending. In the Lower Church at
Assisi47 Duccio enlarged this scheme by adding the standing figure of
St. Francis on the right, where he corresponds to Phos on the tapestry;
but the number of angels is reduced to four, and there is no figure corre-
sponding to our "Fire"-an asymmetry which is of course exceptional
and due to a particular reason. A fourteenth-century picture by Angiolo

43 Clédat, Monastère et nécropole de Baouît, pl. 98; Art Bulletin, 1923, pl. 13, fig. 15.
44 A. M. Schneider, Die Hagia Sophia, pl. 62; A. J. A., X L I I , 1938, p. 223, fig. 1.
45 Ricci, Ravenna, fig. 103.
46 Diehl, Manuel d'art byzantin, fig. 147; Morey, Early Christian Art, fig. 93.
47 Graf Vitztum und Vollbach, Malerei und Plastik des Mittelalters, fig. 10; Tode, Giotto,
fig. 7-
504 Ardiaologie [18120J

Gaddi in the National Gallery in Washington (pi. 7) shows the scheme


amplified: besides the six angels in the three tiers who flank the throne
of the Virgin, there are now two groups of three angels gathered at
her feet, and at either side of this central group there is now a pair of
saints. The basic similarity to the scheme of the Hestia textile is apparent,
in spite of the interval | of three-quarters of a millennium and the
differences between two religions, peoples, and systems of art entirely
alien to each other.
The question arises again: What do these formal analogies signify?
The correspondence is indeed probably much more than formal. We
have fallen into the habit of looking at such pictures in the museums j
and in illustrated books as mere works of art, although they were in
reality devotional objects, not primarily to be admired for their artistic
qualities, but to be worshiped with burning candles, prayers, sacred
ceremonies. The analogies we have pointed out help, then, to clarify
the following facts: Classical antiquity does not know the devotional
picture; it knows only the devotional statue. The Christian Middle Ages,
on the contrary, and the Renaissance, relied heavily on two-dimensional
representations: the iconostasis, the painted altarpiece, mosaics, pictures
for a private shrine. The Christian analogies, then, confirm what our
interpretation of the tapestry has taught us: it is a devotional object of
latest Greek paganism; yet this late Greek religion, though still invoking
the names of the ancient divinities, has ceased to belong to the age which
worshiped before statues, but belongs to the generations whose main
devotional objects are pictures.
Is this a difference merely of one artistic dimension more or less? Or
is it not much more probable that the artistic contrast implies a difference
in basic religious feeling?
A Greek of the classical period worshiped a particular god in the
presence of his agalma. There might be in a temple two statues, Demeter
and her daughter, for example; then two related powers instead of one
were venerated. But on the whole, one approached Apollo or Artemis,
or even the Artemis Brauronia on the Athenian Acropolis, or the Apollo
on the island of Delos. One might think of Artemis in the presence of
Apollo and of their mother Leto in the presence of either; but what
really mattered was the special sacrifice, vow, prayer, hymn, directed
to this one god. The unity of the divine world was guaranteed through
Homer. An altar of the twelve gods or of "all the gods" introduced
it here or there into the worship of the political community. In general,
the citizen turned in a particular instance to a particular god-powerful,
but limited in his power by the very fact that there were other gods with
other limited domains (tinai). The Greek cult statue is the visual, tangible
symbol of this fact, making manifest the sharply outlined individuality,
as powerful as it was restricted.
[20/22] Documents of D y i n g Paganism 505

With the Christian devotional picture it is quite otherwise. One


cannot compare the Virgin Mary to Athena Parthenos, or Christ to
Dionysus, or God the Father to Zeus; at least, one cannot compare them
if one has in mind the Greek religion of the classical period and, | on
the other hand, the Christian church of antiquity and of the Middle Ages.
The saints point at every moment to Christ or the Virgin, Christ and the
Virgin to the Father; God is present in his angels48, if not in person. The
entire story of salvation-one might say the entire Christian theology-is
potentially present if one person of it is shown in a devotional picture.
And this is probably the reason why these Christian paintings are rarely
restricted to one figure alone: one wants to see the Kingdom of God in
its organization or its activity.
The Hestia on our textile is no longer the old numen of the hearth
which she had been a thousand years before. We have seen how she
became endowed with an almost universal power, and how this uni-
versality is expressed on the tapestry, which the Christian analogies now
enable us better to understand. What distinguishes this Hestia, though
her pose is strictly statuesque, from any real statue? She is in action
despite her pose. She has been giving gifts and has now almost completed
the distribution. The notion of time is implied, whereas a statue re-
presents timelessness. Moreover, Hestia is attended by Light and, if our
suggestion is right, by Fire. Hestia would have no efficiency were it not
for her manifestations, Fire and Light, that spring from the hearth.
Finally, the ornaments - this beautiful tracery of yellowish vines,
green leaves, and palmettes in which a lighter red alternates with a
deeper one-are probably more than a mere artistic flourish49. They may
well represent the vegetative power of the goddess whidi we found
expressed in her hairdress. It would be an easy experiment to give the
picture a plain background: the artistic and probably the religious unity
would not be destroyed, but would be weakened. |
A statue seems so incomparably more powerful than a work in two
dimensions that it may be difficult to recognize one basic superiority of
the latter. One could behold the Zeus of Phidias and yet avoid his
eyes. The two-dimensional reproductions from antiquity50 show this
statue (or its head) in sharp profile from the right and the left as well as
frontally and in three-quarter profile. Our tapestry has only one view.
You may turn away, but as long as you are facing it you are under the

48
It is only too easy to forget w h a t all k n o w , that ayyeXot; is a messenger of someone.
In the monastery of Baouit the angel at right of the V i r g i n is called &yyeho<; OEOV, the
other, ayyeXog xtijnou (fig. 7).
19
Some elements of this ornamentation appear on the much-patched tapestry with the
Judgment of Paris published in Pagan and Christian A r t , Brooklyn Museum, 1 9 4 1 .
50
Collignon, Geschichte der griediisdien Plastik, V o l . I, p p . 5 59 ff.
506 Archäologie [22/23]

spell of Hestia's green eyes looking directly at you out of the picture.
And the eyes of all the attendants converge toward the beholder.
T o investigate the principles determining the direction of figures in
works of art, especially the direction of their gaze within the picture
and out of the picture would be a great task for an art historian, one with
a broad perspective over several millennia and continents and with a real
knowledge of religion and literature. The present writer can hardly dare
to touch on the problem 51 .
Frontal faces are common in the drawings of children and of primi-
tive peoples; the kettle of Gundestrup in Jutland may serve as an
example 52 . They are exceptional in the great artistic periods of the Near
East and of Greece. Such exceptions are the Babylonian Isdubar, and in
Greece the Gorgoneion and those masklike faces of Dionysus or Silens
which stare out of the relief or painting while their bodies move in its
plane53. If what is evident of the Gorgon's Head is also true of those
other frontal faces of archaic Greek art, it may be said that a bit of
magic interrupts the flow of the artistic narrative; the frontal face is
apotropaic or-to coin a name for the opposite-epitropaic 54 . In the works
of Hellenic art, classical as well as archaic, an ideal frontal plane (we
may say) separates the action from the beholder. Its actors have no
eyes for him, but are entirely concerned with one another. There are,
indeed, elsewhere than in the frontal types just specified, a few departures
from this rule; but on the whole [ it dominates classical art. Gradually
a great change takes place, the nature of which still has to be elucidated.
It is likely that, far from being a mere formal process, it indicates a
profound alteration in the Greek soul. On the walls of Hellenistic
Pompeii, at all events, many eyes are gazing out of the picture. In portrait
painting, at least from the Augustan age on, there is a preference for
more or less strict frontality 55 . Other significant examples of frontal
direction are the figures which seem to be stepping out of their background
into the room itself: a servant carrying a cup, or a girl with a jug, des-
cending a short flight of steps - tricky illusions of the sort destined to
reappear in baroque art. Most remarkable of all, perhaps, is an admirable
Bacchus, seated on his throne in full frontality, his tipsy eyes facing, one

51 In Morey's Early Christian A r t " f r o n t a l i t y " is one of the guiding notions; see the
index, p. 232.
52 Revue des Etudes anciennes, X , 1908, pis. i f f . ; S. Reinadi, Repertoire des reliefs,
Vol. I, pp. 148 ff.
53 Early Greek art rather often represents heads in front v i e w ; e. g., on the ivories from
Sparta, and on the C o r c y r a pediment. But it is evident that the influence of three-
dimensional sculpture, from the conventions of which narrative relief cannot at once
break a w a y , accounts for many of these; cf. Rodenwaldt, K o r k y r a , Vol. II, p. 139.
54 C f . Diez and Demus, Byzantine Mosaics in Greece, p. 38.
55 C f . Neugcbauer, Die Antike, X I I , 1936, pp. 154 ff.
[23/24] Documents of Dying Paganism 507

might say, the revelers in the room56. But note that his face is turned a
trifle to his right; he does not quite stare at us as does the Minerva of the
painter Famulus (?) as Pliny describes the picture (N. H. 32, 210):
Minerva spectantem spectans quacumque aspiceretur57.
Pliny's words impart the novel spell of the eyes fastening on the
beholder as soon as he looks upon them. A perusal of the voluminous
Inventory of the mosaics in France and French Africa yields even more
impressive evidence of this reappearance of primeval magic in highly
developed art. A f t e r turning over many pages of pretty ornaments and
scenes interesting or indifferent, at the end of the last volume 58 one comes
suddenly upon a surprising depiction, a head of Oceanus in strictly fron-
tal view, unusually grand, fatherly, and imperial (pi. 8). But one is spared
the task of formulating one's impression by the two distichs which accom-
pany it59. There the glance of Oceanus' eyes is called "starry" (sidereo
visu), in language almost | astrological, as if they exerted "influence." It
is their aim to "shatter malevolent hearts and drive the impudent tongue
from this place." "Through this endeavor," says the second distich, " w e
surpass the ancestors, and to the delight of all there shines in our house
the summit of art." To a new artistic perfection is here assigned the task
of combating the primeval danger of the evil eye and the malicious
tongue. The magic of such staring eyes is of course not uniform every-
where. Hestia's charm is very different from the stare of Oceanus; but
there is magic in both.
Among the different types of frontality passed in review one will not
find the entire scheme of the Hestia tapestry: central figure seated, staring
out of the picture, flanking figures looking toward the point of view of
the beholder. Should one try to transpose the same general scheme into
the style of, perhaps, the early Roman Empire, one would strike upon the
Vergil mosaic from Hadrumetum (pi. 9, a)60. The likeness is remarkable,
the dissimilarity is still more evident. There the Muses are the higher

56
Herrman, Denkmäler der Malerei des Altertums, Farbendr. I.
57
A comparable description, but of a statue and meant as a real miracle, is in Lucian, De
Dea Syria, cap. 32.
58
Inventaire des mosaïques de la Gaule et de l'Afrique, Vol. I l l , no. 3 1 8 . C f . Hinks,
Catalogue of the Greek, Etruscan and Roman Paintings and Mosaics in the British
Museum, p. 75, no. 15, pi. 28, and pi. 37, 3. But the mosaic in the British Museum has
a "circular water outlet," and must have been a fountain mouth.
» C . I. L „ V I I I , 8509; Buedieler, C . L. E., no. 883:
Invida sidereo rumpantur pectora visu,
cedat et in nostris lingua proterva locis.
hoc studio superamus avos, gratumque renidet
aedibus in nostris summus apex operis.
The meaning of the face is not to be understood without the epigram ; nor (even for a
Buedieler) is the epigram intelligible without the face before one.
60
Inventaire des mosaïques de la Gaule et de l'Afrique, Vol. II, no. 1 3 3 .
508 Archäologie [24j25]

powers, whereas in the tapestry the goddess outranks her attendants. But,
above all, the look of the Muses avoids sharp symmetry, and Vergil
glances obliquely into space, reciting his Aeneid to an undefined audience.
We are permitted, not forced, to join it. Hestia, on the contrary, stares at
me and compels me to look at her.
In early Christian art a type of grouping which appears on ivories
and marble sarcophagi of the fourth and fifth centuries - Christ seated
between apostles (pi. 9, b)61 — follows the scheme of the Vergil mosaic.
Christ gazes obliquely out of the scene somewhere into space: we may
look at him, but he does not look at us. It is the same in secular examples
of this type of composition. On a work dating from the end of the fourth
century, the silver casket of Projecta from the Esquiline, now in the British
Museum62, are three scenes in which a lady is standing or sitting between
two attendants who look obliquely toward the central axis in front of the
scene; but in all three the | central figure gazes slightly, though definitely,
toward a point not in the same central axis. The effect is strangely vague
if one turns to it from the piercing frontality of the eyes of Hestia.
This rigid scheme appears rather early on the Oceanus mosaic, where
the very conventional Nereids take the place of the attendants gazing
toward the middle axis. We find it on some of the reliefs of Mithras,
where, instead of looking vaguely into space, as is the rule, he gazes
straight at the worshiper (pi. 2). Perhaps the earliest example of this rigid
frontality on an official and dated monument is the famous silver misso-
rium of Theodosius I 63 . Like Hestia, the Emperor is seated in sharp front
view, and with a gesture similar to hers he is handing a document to an
official on whom he does not turn his eyes. He stares sharply out of the
picture, and so do the two Caesars enthroned at his right and left. The
two bodyguards, however, who stand at the outer sides of the Caesars,
have the oblique direction toward the observer which we know from our
Phos and Pyr (if we are allowed to use this conjectural name). But even
here a limitation is necessary: though the body and head of the Emperor
are turned squarely to the front, his eyes seem to stare not directly at the
beholder, but somewhat upward, and the Caesar at his left turns his gaze
very slightly toward the center64.

61
Pyxis in the Kaiser-Friedrich-Museum, Morey, Early Christian Art, fig. 79; sarco-
phagus of Junius Bassus, Gerke, Der Sarcophag des Iunius Bassus, pi. 5, Morey,
Early Christian Art, fig. 1 4 1 ; sarcophagus in San Ambrogio, Milan, Kaufmann,
Handbuch der christlichen Archaeologie, fig. 199.
62
Dalton, Catalogue of the Early Christian Antiquities of the British Museum, pis. 1 3 - 1 8 .
Poglayen-Neuwall, Rom. Mitt., X L V , 1930, pp. 124 ff.; Delbrueck, Spatantike Kaiser-
portrats, p. 50, n. 1 2 3 ; E. Weigand, J.d.I., LII, 1937, pp. 128 f.
"Delbrueck, Consulardiptydien, pi. 62, p. 2 3 5 ; Spatantike Kaiserportraits, pis. 94 ff
p. 200. Dated by Delbrueck 388 A . D.
64
See the details in Peirce-Tyler, op. cit., Vol. I, pi. 3 7 ; Delbrueck, Consulardiptydien,
text, pi. 3.
[25126] Documents of D y i n g Paganism 509

In symbolical and official representations of the fifth and sixth cen-


turies the scheme becomes more and more rigid. The ivory diptychs often
adopt it when they portray Christ between t w o apostles, or the Virgin
between t w o angels, or a consul between two dignitaries or between two
city goddesses 45 ; and so again does the Vienna Dioscurides, representing
the patroness of the sumptuous manuscript seated between the t w o allego-
rical figures of Magnanimity (MsyaXo^vxia) and Prudence (^Qovriaig)66.
The mosaics in San Vitale and Hagia So]phia referred to at the beginning
of this paper, and the sixth-century fresco in Santa Maria Antiqua repre-
senting the crowned Virgin adored by angels, are large-size monuments
of the type 67 . In this latest phase of the development the central figure,
whether a person of quality or a divine power like Christ or Hestia, stares
at us. A new imperious temper is unmistakable.
It is hardly necessary to add that this tradition is continued in the
Middle Ages. Christ crowning the Emperor Henry II and his consort, in
the Munich Gospels; Christ conferring the law on St. Paul, the keys on
St. Peter, upon the ciborium of San Ambrogio in Milan; St. Justina
offering a cup to either of her kneeling worshipers, in a tympanum of her
church in Padua 68 - these are a few examples, in the art of the ninth,
tenth, and eleventh centuries, of the figure seated en face, with its hands
employed in an action comparable to Hestia's here.
This symmetrical scheme, opposed as it is to Hellenic art, differs
distinctly, on the other hand, from the Oriental practice which places not
only the central figure but also the attendants in full front view. That is
the method of the now famous mural of the three priests, from Dura 69 .

65 Christ between St. Peter and St. Paul, the Virgin between t w o angels, on a diptych
in Berlin, W u l f f , Altchristlidie und byzantinische Kunst, V o l . 1 , fig. 198; Kunst der
Spatantike, Berlin, Kaiser-Friedridi-Museum, pi. 59. A m o n g consular diptychs note
especially that of Rufius Probianus, recto, Delbruedc, Consulardiptydien, pi. 65;
Wulff, Altchristl. u. byzantin. Kunst, I, fig. 192. O n this w o r k , tentatively dated
by Delbrueck about 400 A . D . , the consul wears the same sort of calcei as does
Hestia, the posture of his feet is the same as hers, the secretary on the right recalls
the attitude of Phos by the manner in which he holds his polyptydi. In the diptychs
of the sixth century the type continues, the staring becoming even more ghastly:
a characteristic example, the diptych of Magnus, dated Constantinople, 518 A . D .
(Delbruedc, Consulardiptydien, pi. 22).
6 6 Codices Graeci et Latini phototypice depicti, V o l . X , Dioscurides, fol. 6 V ; Buberl,

Der Wiener Dioscurides und die Wiener Genesis, pi. 5, pp. 16 if.; Morey, Early
Christian A r t , fig. 116; Ebersolt, L a Miniature byzantine, pi. 8, no. 1. Buberl (loc.
cit.) has pointed out the similarity between the Aricia leaf and the Vergil mosaic,
but not the profounder difference.
v? Morey, Early Christian A r t , fig. 209, and the drawing on p. 172. See above, p. 17.
6 8 G r a f V i t z t u m u. Vollbach, op. cit., figs. 10, 41, 60.

6 9 J. Breasted, Oriental Forerunners of Byzantine Painting, pi. 9. G . Rodenwaldt, Bonner

Jahrbiicher, C X X X I I I , 1928, pp. 228 if. and Gnomon, V I I , 1931, p. 293, regards as
something specially Parthian the introduction of frontality into scenes of action-too
narrow a view. Interesting, by the w a y , is the change of the profile head of a lion
510 Archäologie [26127]

We find it at the same period in India 70 , later in Coptic art and in Syria
(Etschmiadzin Gospels), and still later at Rome (fresco in the cemetery
of Comodilla, also in Santa Maria Antiqua and in the apse mosaic of San
Agnese)71. Somewhere between the thorough frontality of Oriental com-
position and the Hellenic "closed" or "transversal" system, but nearer to
the first than to the second, is the place of the Hestia tapestry, neither
Hellenic nor Oriental. It is a new formula destined to a great future. The
later Middle Ages and finally the Renaissance modify it in form and
spirit by toning down the imperious spell of the central figure until it
becomes the subtler charm of human beauty and loving companionship. |

2. The Cybele Panels

The textile panel in the Metropolitan Museum1 (pi. io) whidi is the
main subject of this study is probably the most elaborate and important
of its kind — that kind of Greco-Egyptian textile worked in purple wool
on a linen ground to which the name "Coptic" is commonly given. I
should prefer to call it the Greco-Egyptian purple-figure style, as com-
paratively few specimens have anything to do with the Coptic church2.
Although this panel has been published several times3 and postcards
figuring it as "The Triumph of Bacchus" are sold at the entrance to the
Museum, it is all but unknown.
The tapestry measures 85A by 137« inches. The inner measurements of
the rectangle enclosing the semicircular field are: height 7V2 inches, width
13 inches4. It is attributed to the third or fourth century after Christ -
dates being as yet more or less haphazard in this field, which awaits a
thorough investigation.

into a full-face on a mosaic in Antioch, Morey, Mosaics of Antiodi, p. 36 ("the grip


of Greek culture on the Orient is seen by such examples to be loosening").
70
Fisdier, Kunst Indiens, Chinas und Japans, fig. 1 6 1 .
71
Wilpert, op. cit., pi. 1 3 6 ; Diehl, op. cit., figs. 122, 163, 166, 1 6 7 ; Morey, Early
Christian Art, figs. 188, 195.
1
Metropolitan Museum, Acc. N o . 90.5.873. Provenance allegedly Achmim.
2
On the technique see O. v. Falke, Kunstgeschichte der Seidenweberei, Vol. I, pp. 1 ff.
The name " C o p t i c " is rejected by him, as likewise by W . R. Tayler for the other
group to which the Hestia and the Hagios Theodoros belong, Bull. Fogg A r t Museum,
I X , 1939, p. 1 1 . The term "Purpurwirkereien" is used by Wulff and Vollbach, Spät-
antike und koptische Stoffe in den Staatlichen Museen, pp. x f. and 18 ff.
3
W . S . F o x , "Hellenistic Tapestries in America," A r t and Archaeology, 1 9 1 7 , pp.
1 6 1 ff., fig. 3 ; M. S. Dimand, "Early Coptic Tapestries," International Studio,
L X X V I I I , 1923, p. 2 4 j ; J . D. Cooney, Pagan and Christian Art, Brooklyn Museum,
1 9 4 1 , Cat. N o . 189.
4
I owe these measurements and other information to Miss Hannah E . McAllister,
Assistant Curator of the Metropolitan Museum.
[27/28J Documents of Dying Paganism 511

A counterpart of the panel is in the Hermitage in Leningrad. It has


been published (as Dr. Dimand of the Metropolitan Museum reports) in
a rare Russian work which is not accessible to me5. At the last moment,
when this paper was almost completed, a new Russian | publication 6 , lent
by Dr. A. Salmony to the Institute of Fine Arts at New York University,
was shown me by Professor Karl Lehmann. I include in the present dis-
cussion a new illustration (pi. n ) , and an interpretation of the panel it
represents.
The Metropolitan Panel. - Within a semicircular field five figures in
vigorous movement form a symmetrical but not rigid composition. The
spirit of the picture is ecstatic, one might say at first sight Bacchic - an
impression strengthened by the presence of vine leaves and tendrils which
fill every vacant space. And yet, is the figure in the chariot really Diony-
sus? One cannot fail to recognize the exposed female breast. Even the
most effeminate figures of Bacchus, say on Roman sarcophagi or on late
ivories from Egypt, never have these circular instead of male contours7.
The contrast with the two male figures on the right and on the left end is
conclusive. The hair is long, like that of the accompanying female figures.
If the artist did not intend to deceive us, then, this is a goddess, she of the
lion-drawn chariot, Cybele8. Nor would the crown, a mural crown, be
suited to Dionysus. He may wear it when represented on the coins of his
city Teos® because it is the symbol of the city god or goddess in general,
but he could not possibly wear it in the midst of an action such as this.
Instead, it is the invariable badge of the Berecynthia mater turrita, the
turrigera dea, as Cybele is called by the Roman poets.10 Her right hand
holds up her sacred stone - the jagged object can hardly mean anything
else. "Unhewn and rough" (indolatus et asper), "irregular with protruding

s W . d e Bode, Ueber die koptisdie Kunst (Russian), Moscow, 1897. C f . M. Dimand,


Die Ornamentik der ägyptischen Wollweberei, p. 2.
6
X . Liapunova, "L'Image de Dionysos sur les tissus de l'Egypte byzantine," Musée de
l'Ermitage, Travaux du Département Oriental, Vol. III, Leningrad, 1940, pp. 149 ff.,
pl. 1.
7
See, e.g., S. Reinach, Répertoire des Reliefs, Vol. II, p. 9; Vol. I l l , pp. 1 3 5 , 360, 361.
8
The documents of her cult and myth are collected in the books of H . Graillot, Le
Culte de Cybèle; R . Hepding, Attis. See, moreover, the well-known books, F. Cumont,
Les Religions orientales dans le paganisme romain, chap. 3 ; G . Showerman, The
Great Mother of the Gods (Bull. Univ. Wisconsin, N o . 43, 1 9 0 1 ) ; and the articles
by Cumont in R.-E., II, col. 2247, s. v. Attis, and by Schwenn in R.-E., X I , cols.
2250 ff., s. v. Kybele.
' H e a d , Catalogue of the Greek Coins of Ionia, pp. 3 1 2 f., p l . X X X , no. 1 7 ; Farnell,
Cults of Greek States, Vol. V , pl. B, no. 2 1 .
It is unnecessary to pile up examples. A not too well known one is a head with a
crown of the same tripartite shape, the central part rising above the two laterals,
and the unique inscription K O C M I A : Gallerie Bachs'titz, 's-Gravenhage, Vol. II,
pi. 19, no. 100. A head of the goddess with the mural crown on a textile from
Egypt is shown in Strzygowski, "Hellenistisdie und koptisdie Kunst in Alexandria,"
Bulletin de la Société Archéologique d'Alexandria, 1902, p. 54.
512 Archaologie [28/29]

angles" (angellis prominentibus inaequalis) - these are the words in which


Arnobius describes the sacred stone of the Great Mother brought from
Pessinus to Rome 11 . On the silver dish from Parabiagio | (pi. 15) it lies in
her lap. O n the tapestry she raises or brandishes it like a weapon 12 .
Her costume is necessarily quite unlike the long gown she wears when
seated on her throne or in her carriage. Here, where she is in lively action,
her short peplos does not even reach her knees, and a spotted pelt fastened
on her right shoulder and belted around her waist covers what otherwise
might have been seen of the peplos above the girdle. A pelt is often part
of the attire of Dionysus, the short peplos was the familiar costume of
Artemis the Huntress, and both suit the wild "Goddess of the Mountains,"
whose nature probably had a strong touch of Bacchic ecstasy long before
Euripides in his Bacchantes thoroughly blended the rites of Cybele, Rhea,
and Dionysus 13 . The exposed breast, too, is appropriate to this wild life in
the mountains, though it may signify also the mother: she is the "Mother
of the Mountains," M r ^ o 'Opeia. The left arm, resting hand-on-hip, is
covered by a chlamys or shawl, one end of which floats behind, where it
is seen under her raised right arm. One gets the impression that she moves,
or has moved, in the direction indicated by her powerful, piercing eyei —
toward the center of the action.
This costume and posture, so well adapted to her lively movement, is
not the usual one, and yet it is not without analogy. It is well known that
many Greek cities of Anatolia traced their origin back to an Amazon;
hence in these there must have stood statues of their mythical foundress, as
we see her on many coins (e. g., of Smyrna 14 ) : turreted as a city goddess,
but as an Amazon with one breast bare and in a short chiton - a type
differing from Cybele's on the textile only by a double ax or another
secondary emblem. A second analogy is probably still more important. A
bronze statuette from Syria (pl. 1 2 ) " represents the goddess Cybele with
11 The holy stone at Petra in Arabia was a Xidoç néXaç tetqAywvoç àxijjtcnTOç: Suidas,
s. v. deùç "Aqt]ç; Maximus Tyrius V I I I , 8.
1 2 The stitches are cornered; they cannot indicate grapes. A cluster of grapes, moreover,

would never be carried like the object in question. Stones carried as weapons in the
same manner often occur on textiles; for example: Wulff-Vollbach, op. cit., p. 46,
no. 6243, pi. 72; A . F. Kendrick, Catalogue of Textiles from Burying-Grounds in
Egypt, V o l . I, no. 68, pi. 16; A . G a y e t ,"L'Exploration des nécropoles gréco-byzan-
tines d'Antinoë," Annales du Musée Guimet, X X X , pl. 9.
1 3 E u r . Bacchae 73 ff., 120 S., etc. A . Dieterich, " D e r Untergang der antiken Religion,"

Kleine Schriften, p. 497, traces the influence of the Dionysiac orgiasm on the
religion of Cybele back to the old Thracian immigration into Phrygia.
u See British Museum Catalogue of Greek Coin«, Ionia, pi. 27, no. 1, pi. 28, no. 5, pi. 39,

no. 6; p. 401 (Index): coins of Smyrna; Phrygia, pi. 17, no. 5: coin of C i b y r a ; p. 329:
coin of Laodicea; etc.
A . de Ridder, Collection Louis de Clercq. Catalogue, V o l . I l l , pi. 52, and in
Fondation Eugène Piot. Monuments et Mémoires, Vol. X I I , 1905, pl. 6; see also
E. Pottier, " L a Collection Louis de Clercq," Annales du Musée Guimet, X I X , 1906,
plate facing p. 232. (I owe this as well as other references to Dr. Victor F. Lenzen,
i The Hestia tapestry at D u m b a r t o n O a k s
Courtesy of Dumbarton Oaks Research L i b r a r y and Collection, H a r v a r d University
ia N o t r e - D a m e de la Belle-Verrière
From J . - B . - A . Lassus, Monographie de la Cathédrale de Chartres,
Atlas de planches, Paris 1 8 4 2 - 1 8 7 5
i b D e t a i l of h e a d , H e s t i a t a p e s t r y
2 Mithras sacrificing a bull (relief; Mithraeum at Heddernheim)
3 Christ seated between two bishops and two saints (Rabula Codex)
6 T h e " M a d o n n a R u c e l l a i " , of D u c c i o
3 C h r i s t seated b e t w e e n t w o bishops a n d t w o saints ( R a b u l a C o d e x )
5a Cybele seated (terra-cotta relief; Collection Sabouroff)

5b The Mother of G o d seated between two angels (lunette from El Baouit, E g y p t )


6 T h e " M a d o n n a R u c e l l a i " , of D u c c i o
12 G o d d e s s w e a r i n g m u r a l c r o w n a n d short chiton
( b r o n z e s t a t u e t t e f r o m Syria)
i}, a Alexander in his chariot (Byzantine relief; St. Mark's, Venice)
13 b Maenad attacking Orpheus (red-figure vase; Louvre)
7 M a d o n n a w i t h angels a n d saints, of A n g i o l o G a d d i
C o u r t e s y of the N a t i o n a l G a l l e r y of A r t , W a s h i n g t o n
8 H e a d of O c e a n u s (mosaic f r o m Algeria)
3
ai /5
"H t rt
O PcQo
a
rt .2
0*£
£3
o
à VI
ÊTJ g 00 P
f
O. l-rH CS
_Q Jh
CX
E O
S o O ns
o
J-
o CTS
z
û
'
M CJ
O

rrrTmiT>ninHii>irnni»riiHvr>i>iiifiniirrii>iiiiiiiiiiiMiitiniriiiirTiiiTii.

i 'M. mil.
i liii il m : il i ni il |l i •• ! i mi lu, ml i I I m l I I I I ni •< i h l I t M "
>3" " " " " " " "
Os
12 G o d d e s s w e a r i n g m u r a l c r o w n a n d short chiton
(bronze statuette f r o m Syria)
13 a Alexander in his chariot (Byzantine relief; St. Mark's, Venice)
13 b Maenad attacking Orpheus (red-figure vase; Louvre)
14 C h a r i o t - b o r n e D i o n y s u s or C y b e l e s u r r o u n d e d by the L a b o r s of H e r c u l e s
( t a p e s t r y ; C o u r t e s y of the M e t r o p o l i t a n M u s e u m of A r t )
15 Chariot-borne Cybele and Attis (silver dish from Parabiagio)
16 C y b e l e a n d Attis ( m a r b l e p l a q u e ; C a b i n e t des Médailles)
[29/ 31] Documents of D y i n g Paganism 513

the mural crown in a short | chiton just reaching to the knees and leaving
the right breast exposed. A chlamys or shawl falls over her left forearm.
The oblique baldric coming down from her right shoulder reminds one of
a favorite "accessory" which the designer of the tapestry gave to all his
persons except his central figure. N o t only the individual traits of the
costume, but the total appearance of the statuette is so similar to that of
Cybele on the textile that both may reflect a temple statue of the standing
goddess wearing the mural crown and dressed in a short chiton.
In such an appearance, at any rate, the textile shows her in her chariot,
the body of which is rendered in front view without the foreshortening
which would correspond with the oblique direction of her posture. The
wheels may or may not have been absent in the original which the weaver
translated to his medium; one may think of them as hidden by the two
lions drawing the chariot16. Are they really drawing it? Their posture is
strange indeed. Their symmetrically rampant bodies are in striking con-
trast with the freedom and fluency of the picture at large, — though this
precise pattern at the bottom of the vertical axis may well be felt as the
firm root out of which grows the free movement of all the rest.
The frontal chariot with team of two or four or sometimes even six
steeds, bulls, lions, griffons, elephants, or centaurs harnessed to it in the
heraldic posture of our tapestry - "l'attelage déployé" - is a motif with
a long history, of which only a few fragments need be given here17. There
is the chariot of Helios, and that of Selene, the former already on vases of
the fourth century B. C . from southern Italy 18 - a provincialism from the
Greek point of view, but at the same time a pattern which had archaic
Greek forerunners and which heads a long | tradition through the Im-
perial epoch and the Middle Ages 19 . The main track of this history winds
through un-Greek or half-Hellenized territory. As early as the time of

Professor of Physics at Berkeley.) In the Catalogue, p. 234, de Ridder calls the


statuette "Astarté (?)"; in the Monuments Piot, p. 61, he refers to coins of Tyrus
and adds: "Les numismates y dierdient d'ordinaire Astarté, la grande déesse de
T y r et de Sidon, mais il n,'est pas très sûr qu'ils aient raison, et j ' y verrais plutôt la
Tyché de T y r . "
1 6 The wheels are missing also on a medieval miniature of the sun god: D i e Antike,

X I I , 1939, p. 280, fig. 7.


1 7 See E. Herzfeld, " D e r Typus des Sonnen- und Mondwagens in der sassanidischen

Kunst," Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen, X L I , 1920, pp. 105 ff.;


H . Seyrig, Antiquités syriennes. Deuxième série, 1938, pp. 85 ff.; H a f n e r , Vier-
gespanne in Vorderansicht, 1938, pp. 70 ff.
" E x a m p l e s are: Annali dell'Instituto di Correspondenza Archeologica, 1852, pl. F
= H a f n e r , op. cit., pl. 3; Archäologische Zeitung, 1848, pl. 20 = v . Luecken, Grie-
chische Vasen, pl. 1 1 8 ; Rom. Mitt., X I I , 1914, p. 94, fig. 2, 2. Archaic forerunners:
Herzfeld, loc. cit., pp. 118 ff. ; Reinach, Répert. des Vases, V o l . II, p. 211 ; Die Antike,
X I I , 1936, p. 281.
1 9 Brendel in Die Antike, X I I , 1936, pp. 276 ff., figs. 3 , 5 , 7 , pi. 15 ; S. Reinach, Répert.

des Peintures, p. 290, no. j , p. 296, no. j ; Athenische Mitteilungen, V , 1880, pl. 16
514 Archäologie [31 ¡32]

Asoka, it seems, the motif spreads (from where?) to India; after a few
centuries it occurs in Sassanid Persia and in the art of Gandhara; and
again, somewhat later, in Chinese Turkestan. There is, moreover, the
medieval pattern of Alexander the Great borne heavenward in his griffin
drawn chariot, a well-known example of which is on the façade of St.
Mark's in Venice (pi. 13, a)20.
To return to our proper subject, Cybele's chariot appears on coins of
the Imperial age, the lions there having a less erect and rigid position than
on the tapestry 21 . There is, besides, the fact that the old Oriental symbol
of the "Mother of the Animals" or the "Persian Artemis" between two
lions or stags or birds occupied the imagination of the Greeks from their
archaic period22; it was a pattern which later took on more definitely the
traits of Cybele between her two lions23. But, in spite of these and other
analogies, one still may have the feeling that our explanation falls short
of fully accounting for the strange manner in which these lively and yet
heraldically formalized animals move in the picture. Perhaps the further
course of the interpretation will help us to fill the gap.
The piercing eyes of the goddess are turned toward the scene at her
left. A woman in a long garment, girded like Cybele herself, moves to-
ward our right, her feet in a dancing movement which is carried on by
the long, tight folds of her gown, with its edge undulating around her
ankles. She belongs to a well-known type of dancing maenads which
appear on red-figure vases, on a Bacchic mosaic from Olynthus, and on
neo-Attic reliefs. But whereas those maenads look | straight forward, she
throws her head back in the ecstatic gesture of the Maenad at Dresden
generally attributed to Skopas24. One would, then, call her a maenad if she
were in the revel of Dionysus. Since her mistress is the Great Mother,
one might call her a Corybantess, or one of "the mitred women of the
Asiatic Cybele" or of "the Phrygian chambermaids of the goddess," -

(victorious charioteer) ; Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts, pl. 16.-With slight


alterations the god in the quadriga becomes Neptune in a Roman mosaic from
Tunisia: Inventaire des Mosaïques de la Gaule et de l'Afrique, Vol. II, pl. 8é.-It is
perhaps not useless to state that the heraldic chariot is a favorite ornament on
textiles. See E . Fleming, A n Encyclopaedia of Textiles, pi. 1 $ ; G . L. Hunter, Decorative
Textiles, p. 20, pl. I V ; O. v. Falke, op. cit., fig. 74.
20
Strzygowski, Amida, pp. 350 if., pl. X X I ; Hamann, "Motivwanderung von West
nach Ost," in Wallraf-Ridiartz-Jahrbudi, I I I - I V , 1 9 2 6 - 1 9 2 7 , pp. 49 ff.; Dutuit-Voll-
bach, A r t byzantin, pl. 38 D ; Huebner in Die Antike, I X , 1 9 3 3 , p. 45, fig. 7 ; p. 48,
fig. 8.
21
Graillot, op. cit., pl. X , no. 7, Seyrig, op. cit., pl. V I , no. 1 ; Brit. Mus. Cat. Greek
Coins, Phrygia, pl. V , no. 6.
22
One example instead of many: A . J . A . , X X X V I , 1932, p. 364, fig. 1. In late antiquity
the scheme became Daniel or Susannah between two lions: R . Forrer, Die früh-
christlichen Altertümer aus dem Gräberfelde von Adimim-Panopolis, 1893, pl. X I I .
23
E.g., relief in Brussels: S. Reinadi, Répert. des Reliefs, Vol. II, p. 16$, no. 5.
24
See, e.g., Beazley-Ashmole, Greek Painting and Sculpture, fig. 1 1 8 .
[32133] Documents of Dying Paganism 515

though Catullus would give her a wreath of ivy and call her a maenad25:
the Bacchic rout and the rout of Cybele, we know, had become very
similar over many centuries.
The estatic dancer is at the same time a grim aggressor. She is attacking
with both hands the youth on the right. Her left hand stretches toward
his head - one would say seizes it and drags it back, were there not a
narrow vacant space between hand and head; but this gap may easily be
due to the technique of weaving, which needs clear outlines and avoids
overlapping. Her right hand grasps a short sword or a long knife.
Attis - for a youth attacked in the presence of Cybele can only be
Attis - is speeding away, his legs moving along the semicircular base line.
But this adaptation to the curvature is no mere formal motif; one may
easily interpret the curved line as a mountainous terrain, and describe
him with words from Ovid (Fasti IV, 234), who makes him rush to the
heights of Mount Dindymon: "cursu Dindyma summa petit." He is either
climbing or falling down on his knees, or (perhaps better) doing both.
This movement - or rather, this grouping of the Corybantian woman and
Attis - may be traced back to vases of the fifth century B. C. on which a
maenad attacks Orpheus (pi. 13, b)26. One of them shows the meanad
holding a dagger in quite the same way, and Orpheus with a similar
movement of his legs except that he runs and is about to fall down on a
straight, not a curved, line. But the comparison supports our interpre-
tation. We know the story of Orpheus and the maenads; we may with
caution reconstruct on a like model the story of Attis and the Corybantian
woman.
The rush of his movement is expressed, as often in these late cen- |
turies, by the waving mantle, though it is not clear how it is fastened -
another indication, probably, that the transposition of the picture into
the textile has caused some disarrangement. His hands vanish behind his
back; they are bound; he already is a prisoner27. Strange is the piece of

25
C f . Diogenes of Athens, the tragic poet, Trag. Gr. Fragm., ed. Nautk, p. 7 7 6 : 'Aaiaöo?
UriTpocpopous Kuße^ri? vuvalxag; Rhianus in Anth. Pal. V I , 1 7 3 : f| S^uy'ir)
dedans 116X05; Catullus L X I I I , 2 3 : Maenades hederigerae. See Roscher, Mythologisches
Lexicon, Vol. II, 1, pp. 1655 ff.
26
M o n u m e n t i . . . dell'Istituto di Correspondenza Archeologica, Vol. I, pi. V , no. 2
(Reinach, Repert. des Vases, Vol. I, p. 63) = Louvre G 436, C V A Louvre, 8, III I d,
pi. 37, 1 and 2. See also Monumenti, Vol. I X , pi. X X X (Reinach, Repert. des Vases,
V o l . 1 , p. 184); Annali dell'Istituto, 1 8 7 1 , pi. K (Reinach, Repert. des Vases, V o l . 1 ,
p. 327). The figure of Orpheus is almost identical in all three.
27
An analogy is the sacrifice of Isaac on Greco-Egyptian tapestries; see R . Forrer,
Die frühchristlichen Altertümer aus dem Gräberfelde von Achmim-Panopolis, 1893,
pi. I X , no. 8; W. F. Vollbach and E. Kuehnel, Late Antique Coptic and Islamic
Textiles, pi. 22. Other analogies are, e.g., the bound enemies of Dionysus in his
Indian triumph; K . Lehmann-Hartleben and E. C . Olsen, Dionysiac Sarcophagi in
Baltimore, fig. 7 and p. 2 7 ; Reinach, Rupert, des Reliefs, Vol. I l l , p. 26, no. 1 ;
p. 360, no. 3.
516 Archäologie [33134]

garment which falls from his girdle in parallel folds covering that toward
which the sword is directed. The author of Tristram Shandy could speak
of the subject with gusto. It is the mutilation of Attis which is represented
in the right half of the picture.
A well-known myth relates that Attis had been obligated by Cybele
to strict fidelity, as, in other stories, Adonis by Aphrodite, Daphnis by
the nymph Echenais, Rhoecus by a hamadryad 28 . In each tale the man
loved by the goddess or nymph breaks the faith. Daphnis and Rhoecus
are blinded; Adonis is mortally wounded by the boar; the punishment
of Attis is his mutilation. At this point the tradition divides. The prev-
alent version has it that he mutilates himself in a frenzy visited upon
him by Cybele. But many authors credit her with doing the deed herself29.
We are not told in what way, and all these references are very brief.
It would not be incompatible with them if she had done it through the
agency of one of her attendants, and the analogous myths of Orpheus
and Pentheus dismembered by the Bacchantes go to show that sudi a
variant is not unexampled. That it existed becomes clear from the textile.
The maenad attacks Attis, acting in Corybantic frency under the spell
and command of her divine mistress.
It is likely that at this point the movement of the lions-or let us
speak first of the lion in the right half of the picture-receives a sig|-
nificance not surmised before. Cybele's lions, one remembers, are some-
times not only the team at her chariot, but also her attendants as meta-
morphosed Corybants (Oppianus, Cyneget. I l l , 7 ff.). Now let us look
carefully at the right-hand lion. His rising foreclaws touch the sword-
carrying hand of the woman: this fatal action is directed by the goddess,
the lion being the bearer of her power. What so far has seemed a strange
heraldic pattern is now filled with significance. The language of the
picture is not the less distinct because its grammar must be carefully
studied.
The woman at the left is in every respect so similar to the one we
have described that she deserves a like designation. Her head, however,
28
Daphnis: Knaack in R.-E., IV, col. 2143, s - v - Daphnis. Rhoecus: Charon of
Lampsacus, in Jacoby, F. Gr. Hist. I l l A , 262 F 12.
2
» Lucian, De dea Syria cap. 1 5 : ¿15 yÙQ |uv f| 'Péri etejie . . . Scholia in Lucianum,
Vol. IV, p. 173 Jac.: ròv " A t t i v . . . vnò 'Péaq xrjg twv dewv ànoxonévta (xrixoó;.
Hippolytus, Refutatio V, 7: èàv 8è r) (ir|xr|Q twv Oeàiv àjioxót|>fl tòv " A t t i v xal
aÙTT| toCtov r/ouaa èqÓ)|ì,evov . . . Minucius Felix 22, 1 : (Cybele) quae adulterum
suum... exsecuit. Lactantius, Divin. Inst. I, 17, 7: Deum Mater amavit formosum
adulescentem et eundern cum paelice deprensum exsectis virilibus semivirum reddidit.
Paulinus Nolanus 3 2,82 : pastor, castum servare pudorem / qui voluit sprevitque deam,
cui saeva viriles / abscidit partes, ne quando tangeret ille / alterius thalamum qui noluit
eius adire. Fulgentius, Mitolog. I l i , 5 : Mater ipsa ... formosum adulescentem cum
paelice deprensum in deliciis habuit, et quia fidem non praestiterat ademptis genitali-
bus efjeminavit. (These and other quotations are from the collections of H . Hepding,
Attis.)
[34j35] Documents of Dying Paganism 517

is not thrown back quite so far, and her chin rests upon her left hand.
The ecstatic movement of the sister is, one may say, merged with the
gesture of the sorrowful onlooker, known already from the vases of the
fifth century B. C. 30 It is an ecstasy passing into meditation and dejection.
The old Greek skill in combining different states of mind in one action
has not diminished in this late period.
The object of this sadness can only be the event at the right side of
the picture. But why should a Corybantian woman give up her Cory-
bantic deportment? And what is the object in her right hand, where
the arm is hanging down so differently from the aggressive right arm
of her sister? One might think of a cymbal; but one cymbal alone does
not make sense-aeraque .. . aere repulsa, says Ovid (Fasti I V , 184),-and
cymbals have a different appearance and are carried in a different
manner 31 . It is an apple; one recognizes the blossom end. The same sort
of fruit, besides, hangs down as an ornament from the vine at the
bottom of our panel.
The apple thrown to a person as a token of love is well known from
Greek custom and poetry; the Greeks even coined a special word for
this "apple-throwing" ((xtiXopoXeiv)32. The girl, then, was going to throw
the apple to Attis: malo me (Galatea) petit lasciva puella, he might have
said ;with Vergil. One might imagine that she has done | such a thing
before, though this would be a modern biographical approach without
regard to the more symbolical language of ancient art blending different
phases of action. The apple rather makes her the lover of the boy in
whose direction she looks. She is the girl who has aroused Cybele's
jealousy, the hamadryad in the tale of Ovid, who calls her Sagaritis
(Fasti I V , 229), though one cannot be assured that this was always her
name. It is not even essential that she be named at all; she may have
been just an anonymous nymph of the mountain wilds or an attendant
of the Great Mother.
N o w the structure of the whole becomes still clearer. Cybele inter-
venes, dividing the two parts of the picture, separating the loving
woman from the aggressive one and the beloved youth. The arm of
the goddess with the stone is raised-one comprehends it now-in a
threatening, not merely a majestic, gesture. She is indeed the "threatening
Cybele" (minax Cybele), as Catullus ( L X I I I , 84), the "dread goddess"
30
Furtwaengler-Reidihold, Griediisdie Vasen, Vol. Ill, pi. 138 (cf. pp. 102, 12$); Monu-
menti... dall'Istituto di Corresp. Arch., Vol. X, pi. LIII, no. 1 (Reinadi, Repert.
des Vases, Vol. I, p. 217, no. 6); Pfuhl, Malerei und Zeichnung der Griechen, Vol. Ill,
pi. 219, no. $$9.
31
See, e.g., Antioch-on-the-Orontes, Vol. Ill, pi. 79, fig. 169.
32
Aristophanes, Clouds 997 (uriA-cp ijito jiopvi&tou) cum sdioliis; Plato, Epigr. 2,
1 (tot |j.r)Xq) fiaXXo) oe); 3, 1 (nfjX.ov ey<b, fiaXAei he cpiXcov at tig); Theocritus V, 88
(PdXXsi K<ri (idXoioi t6v abi6Xov d KXeagiOTa) cum sdioliis; VI, 6; XI, 10; Vergil,
Bucol. Ill, 64. See C. Dilthey, De Callimadii Cydippa (1863), pp. 113 ff.
518 Archaologie [35136]

(5EIVTI #£05), as the seer in Apollonius' Argonautica (I, 1 1 0 2 ) , calls her.


It is likely that the lion at the left is also meant to be threatening. The
raised forepaws of the two lions, though almost identical in their heraldic
shape, have one minute difference; but the excellence of the picture
appears just in the importance of the minute traits. The paws of the lion
at the right seem to prop the hand attacking with the sword. The lion
at the left, instead, does not touch the pensive woman next to him, yet
no one who considers the interrelationships of the picture will interpret
his posture as that of a beast standing on its hind legs like a good dog.
Especially if one turns the textile so that his shape becomes less erect
it is unmistakable that he threatens the girl with his paws. He, too, like
his fellow, transmits the power which emanates from the goddess-but
in a different manner.
There ist still the Pan in the upper left-hand corner, the only figure
turned to the left. H e is running away from the scene, his goat's legs
rising in accordance with the bordering semicircle or, as one may interpret
it again, with the mountainous region which is the realm both of the
Mother of the Mountains and of the Arcadian god. H e raises his right
hand in a movement of "Panic" fright. The shepherd's staff in his left,
the wild hair and beard, the horn above his forehead-these are well-
known marks distinguishing him. The dotted ribbon or baldric around
his breast is the favorite "accessory" with which our artist arrays all his
persons except Cybele herself. |
Pan's gesture may be traced, in the last instance, to Myron's Marsyas,
starting back, his right hand raised in surprise 33 . The extraordinary
influence of this statue is well known 34 . Whenever Greek art wanted to
express nature's wonder at human invention or at the marvels and even
the perversions of nature itself, the old " P a t h o s f o r m e l " (to use Aby
Warburg's term) was available. On red-figure vases satyrs admire the
rising sun or the rise of Kore or the creation of Pandora. On Hellenistic
paintings goat-footed Pan shrinks bade from the spectacle of Her-
maphroditus or admires, in the suite of his master Bacchus, the sleeping
Ariadne on the Island of Naxos. On one of the walls at Pompeii the
motif even occurs twice in the same picture: there is not only Pan in
the center; there is in the background a juvenile satyr looking down from
the mountain with his right hand raised 35 .
Very strange shapes appear on our tapestry around Pan's arms. They
have the form and movement of textile pieces 36 . Were the two pieces

33
See Gisela Riditer, T h e Sculpture and Sculptors of the Greek, figs. 5 8 6 - 5 8 8 , 593.
34
A . Furtwaengler, D e r S a t y r von Pergamon, pp. 9 ff.
35
L . Curtius, Die Wandmalerei Pompeiis, figs. 1 7 6 - 1 7 9 .
36
See also the skin on the arms of one of Bacchus' companions in R . Forrer, Romische
und byzantinische Seidentextilien, pi. i-incidentally a textile of great importance
representing the victorious Bacchus with his prisoners.
[36137] Documents of Dying Paganism 519

connected, they would make a shawl. But they are not; moreover, they
decidedly have the structure of leaves, and, most of all, those at his left
arm look as if they were sprouting from the elbow. One could describe
what one sees with words from Ovid: in frondem . .. bracchia crescunt
(Metam. 1,550). But Pan cannot undergo a metamorphosis of the common
Ovidian kind. May one venture a guess to explain this seemingly un-
paralleled feature? It is well known how strongly the name of Pan
stimulated the etymological urge of the Greeks. Already Pindar called
him "the manyfold" (jiavtoSaitog). Later on, the etymologizing and
allegorizing mythologists used to regard him as a representation of the
Universe and to interpret the individual features of his appearance
accordingly: his shaggy lower half as the symbol of the earth and its
growth; his horns, of sun and moon; his spotted coat, of the stars, and
so on37. The Stoics excelled in this; the "Orphic" hymn to Pan calls the
god "all-growing" | (jtavtoqpwis), "begetter of all things" (YEVETOQ jtavtcov),
"grower" (aul^Ta), "fruit bearer" (xaQiufiE). Could those leaves at his
arms be another expression of the same idea? One may quote another
poem of the Imperial age, the hymn to Pan in an Epidaurian inscription
which varies the same melody of Pan-theism: his shape combines all
natures (nampueg voj^cov &£p.ac)33. On our textile he combines man, animal,
and plant.
There is, perhaps, in ancient religious art one analogy worth men-
tioning. A t Nemi, the primeval sanctuary of Diana Aricina, two janiform
busts have been found on which hair and beard are partly transformed
into foliage, and contours of leaves appear beneath the eyes and on the
breast,-on one young face even at the angles of the still beardless mouth39.
We do not really know whom these heads represent and consequently
can hazard only a faint guess at the meaning of the foliation. If they
really represent Virbius-Hippolytus, the male companion of the Aricine
goddess, we may remember that she is Diana of the Groves, so that his
nature too must be akin to trees and leaves, if a particular metamorphosis
known to the ancient beholder is not lost for us. We do not receive much
help, either, from the fact that quite similar heads with hair, beard,
and brows transformed into leaves occur among the fanciful creations
in Romanesque and Gothic churches40. Whether antique or medieval, such

37 Cf. Scholia in Theocritum I, 3, with the parallel material collected by C. Wendel


in his edition of the Scholia in Theocritum Vetera (1914), pp. 27 f. Cf. also
Buecheler, C.L.E., 1504, vv. 33 if.: O Priape potens ami[ce, salve,]/seu cupis genitor
vo[cari] et auctor / or bis aut physis ipsa Panque, salve. / namque, concipitur tuo
uigore / quod solum \repl~\et aethera atque pontum.
381.G., IV, i 2 , 130 A ; P. Maas, Epidaurische Hymnen (Sdiriften der Konigsberger
Gesellschaft, Vol. IX, 1933), p. 130, v. 9.
» A. B. Cook, Zeus, Vol. II, 1, pp. 392 ff„ pis. X X I I , X X I I I .
40 Cook, op. cit., Vol. Ill, 2, p. 1133. Many years ago I sketched a Gothic head of this

kind at Gelnhausen in Hesse.


520 Archäologie [37138]

metamorphic shapes seem to transmit a lore dimmed or lost in the verbal


tradition, and they may add to the probability that w e have not quite
misunderstood what seems to be leaves at the arms of Pan in the Cybele
picture.
There is one trait in Pan's appearance which w e have not yet ob-
served. Though the god is not ithyphallic, as the reproduction perhaps
might suggest, the two curves which delimit the upper parts of his thighs
are drawn in such a manner that one or t w o small stitches41 would
suffice to give him that virility which is characteristic of him, | and which
perhaps the weaver omitted when he copied the original drawing. A s
it is, there is a small but significant gap in the picture. If w e were allowed
to fill it by giving Pan what he deserves, a new possibility would become
evident. The figure of Pan corresponds to that of Attis, though it is some-
what smaller. We mentioned the similar position of the legs; one might
also refer to the naked upper part of the body, the fur trousers of Attis,
the furred legs of Pan. The sign of Pan's virility, then, would correspond
to that strange piece of fabric hanging down from Attis' waist which
covers the crux of the entire picture. There is no doubt that Pan and
Attis are in significant contrast. One may be inclined to take it humor-
ously. O v i d would have done so. But the artist and those for whom he
invented his composition probably felt quite differently about it.
The t w o spandrels completing the lunette into a rectangular field
contain each a dolphin and t w o pointed and lengthy snailshells or per-
iwinkles. The background in the spandrels is not filled with vine leaves
and tendrils; it is uniform in texture and color, the purple threads being
equally mixed with the whitish threads against which the figures and
the ornaments in the semicircle stand out. It is clear that dolphins and
shells and the plain space around them say: this is sea; so that the
mountain district is surrounded b y the ocean. One cannot help feeling
that thus the picture gains a kind of elemental breadth. Though the
language is primitive, it is not less-maybe it is even more-expressive:
the realm of the Great Mother stretches over all the land as far as the
sea, and over the sea too, perhaps. In a ritual hymn of the Imperial age
preserved in an inscription from Epidaurus she claims as her territory
"half of heaven, half of the earth, and as her third part a part of the
sea" (to [xev ii|iiau oiiQavaj, to &' riniau 70110:5, jiovtco to tqitov jjipog)42.

41 In this connection a technical remark will prove useful. The silhouettes in what
I venture to call "the purple-figure style" are produced by areas of purple weft
thread which contrast with the areas of white weft thread. But the outlines are
sharpened in many places, and interior detail (Innenzeichnung) is produced by
delicate and accurate linear stitdies comparable to the engraved lines on black-
figure vases.
*21.G., IV, i 2 , 131 A ; P. Maas, op. cit., p. 135, vv. 21 if. About the dating see K. Latte,
Gottingisdie Gelehrte Anzeigen, 1934, p.408; P.Friedlander, Hermes. L X X , 1935,
[38139] Documents of D y i n g Paganism 521

Apollonius Rhodius (I, 1078 ff.) tells us that the Argonauts, being kept
back at Cyzicus by contrary winds, climb in procession to the top of
Mount Dindymon to perform the rites of Rhea. "And lo, the winds
ceased so that they could leave the place." It is an aetiological story: the
inhabitants of that country used to pray to Rhea Dindymene for favor-
able winds. "The winds, the sea, the earth | beneath, are hers, and the
snowy seat of Olympus," says Mopsus, the soothsayer of the Argonauts.
Our picture says almost the same in a different language.
It may perhaps be an accidental parallel that Catullus' Attis who
emasculates himself in a frenzy comes to Phrygia over the sea:
super alta vectus Attis celeri rate maria ( L X I I I , 1),
(Attis carried across deep seas in a fast ship)

and after his disillusionment turns back to the seashore:


animo aestuante rursum reditum ad v a d a tetulit;
ibi maria vasta visens lacrimantibus oculis . . . ( L X I I I , 4 7 f.)
(With surging mind again he sped back to the w a v e s ; looking
upon the waste seas with streaming e y e s . . . )

There the goddess follows him:


at ubi umida albicantis loca litoris adiit,
teneramque vidit A t t i n prope marmora p e l a g i . . . ( L X I I I , 87 f.)
(But when he came to the w a t e r y stretches of the white-gleaming
shore and saw tender Attis by the smooth spaces of the s e a . . . J 4 3

The Hermitage Panels.-We are now ready to examine the counter-


part of our tapestry, an acquisition from Egypt for the Hermitage (pi. 1 1 ) .
The general scheme is the same to such a degree that the two pieces must
have belonged either to two very similar garments or to the selfsame one.
The Hermitage specimen is in a much poorer state of preservation than
the textile in the Metropolitan. It is nevertheless highly important, and
our task will be to make clear how it differs from its Metropolitan twin.
The central feature, the goddess in her lion-drawn chariot, is the
same in all details but two: her body from the belt down is shifted to
the left, and the contour of her chin-all that is left of her head-seems
to show her looking leftward. She has already turned away from her
victim.

p. 4 6 4 - A n archaic i v o r y relief from A s i a M i n o r represents a winged goddess stand-


ing between sun, moon, and stars above, fishes below, holding a deer: O . K e r n ,
Athen. Mitt., L , 1 9 2 j , pp. 1 5 7 i f . , pi. 7 . See O . K e r n , Die Religion der Griechen,
V o l . I I I , p. 1 2 7 .
43
These and the following translations are, on the whole, taken f r o m the Loeb Series
or other well-known editions.
522 Archäologie [39j41]

The figure of Attis offers hardly any difference either. The baldric
is hung from his right instead of from his left shoulder to the opposite
hip. One sees better than on the Metropolitan specimen how the piece
of garment falling at his crotch is fastened around his hips. ]
Also, the maenad between the goddess and Attis is the same, but
turned in the opposite direction. The upper part of her body is destroyed
and one cannot reconstruct its movement. One would say with con-
fidence, however, that it must have been ecstatic.
Between this gap in the textile and the left elbow of Cybele a strange
object is to be seen, a kind of column, pointed at the top, and broadened
at the bottom where its rounded outline is accompanied by a fringe of
short strokes. The conical top is separated from the main part by a
narrow belt and is accompanied by pieces of garment. I have no other
explanation than that this is the member which Attis has lost, dripping
with blood at the severed end
. . . etiam recente terrae sola sanguine maculans . . .

as Catullus puts it ( L X I I I , 7). Whether it was carried by the maenad


in frantic triumph, or just hung in space like the tympanum on the
Metropolitan specimen, cannot be decided.
The right part of the picture, then, shows the moment of action
consequent upon that of the other panel. Now the maenad turns from
Attis to the goddess, and the goddess is moving away.
At the left a naked youth with a shepherd's staff has the place which
on the Metropolitan panel is occupied by the maenad with the apple.
The maenad on the Leningrad specimen is pressed into the left corner;
the space which was so well suited to the goat-legged Pan is ill-adapted
for her: hence her awkward appearance. The youth belongs to a
Hellenistic type well known from statues and paintings44: dancing on
tiptoe, the left leg put forward and crossing the right one, the right arm
raised, the left arm carrying a crook, sometimes a panther's pelt hanging
down over the right arm. Here the head is frantically thrown back like
that of the attacking maenad on the Metropolitan specimen, showing
that he too is in the service of Cybele. What appears under his left
elbow is a remodeling of the familiar panther's pelt. Here it looks very
much like the leaves we noted on the arms of Pan on the Metropolitan
panel. It may, or may not, refute our interpretation of those leaves.
The dancing youth separates the girl from the goddess. It is even
likely that he is pursuing her with his weapon, and he seems to be
ithyphallic. But the upper left part of the tapestry has suffered too much
damage to allow | of a more detailed interpretation.
The left side of the Hermitage panel, consequently, confirms what
the interpretation of the right side yielded. It is the same act in the
44
A . Furtwaegler, Der Satyr von Pergamon, pp. 1 2 ff., pis. I I , I I I .
[41142] Documents of Dying Paganism 523

religious drama as that shown on the Metropolitan panel, but the next
scene of it: the moment after the climax.
The Purpose of the Panels.-We have not even raised, much less
answered, the question whether these scenes on the textiles are mere
mythological embroidery or something more. On the Dumbarton Oaks
textile, Hestia promises gifts and asks for worship 45 . The Cybele tapestries
are no devotional objects. What are they, then?
Many mythological scenes on Greco-Egyptian textiles or plates of
ivory may equally well have adorned Christian or pagan garments or
furniture. Even a tapestry so rich in small figures as that in the
Metropolitan Museum with Bacchus or Cybele on the lion-drawn chariot
in the central circle, surrounded by the Labors of Hercules (pi. 14) 46 ,
can be considered as mere mythology, which only some rigorous Coptic
abbot would have scorned. In the city of Gaza, pictures of pure Greek
mythology were painted on the walls of a public building as late as
about 500 A . D. and described in an entirely pagan fashion by Procopius,
who, after all, was a Christian theologian47. His pagan mythology did
not interfere with his Christian theology. But those pictures at Gaza
represented the story of Theseus and Hippolytus and episodes from the
Iliad. One can hardly imagine that even the Gazaeans would have
tolerated the scenes on our textiles, or that even Procopius might have
described them at a public meeting. For this is not merely an old fabulous
or romantic tale. Here Cybele appears in her majesty, one of the greatest
divinities of late antiquity, and Attis dying and rising again is the one
in whose mysteries countless men and women of these centuries found
happiness and peace, "reborn to life eternal 48 ." The story on the tapestries
is the very gospel of the mystic congregation of Attis. |
It is even possible that more of a mystic sense hides behind the
figures than one may discover at first sight. The connection of the Great
Mother with Pan can be traced back to Pindar 49 . But in that early period
it was only the goat-footed daemon of the mountains who was associated
with the Mother of the Mountains. One would not see more, one would
even see less in the textile, except for the leaves sprouting from Pan's
arms. They have indicated to us that the artist wanted to express the

45
See "The Hestia Tapestry," above.
46
Metropolitan Museum no. 13646 g. One recognizes the following scenes: (1) Hercules
and the hydra, (2) H . and the Stymphalian birds, (3) H . and the horses of Diomedes,
(4) H . and Cerberus, (5) H . and Antaeus, (6) H . and the bull, (7) H . liberates Prome-
theus by shooting the eagle; Gaia, in half-length, lifts her arms.
47
P. Friedländer, Spätantiker Gemäldecyclus in Gaza, Studi e Testi, Vol. L X X X I X ,
Citta del Vaticano, 1939.
48
taurobolio criobolioque in aeternum renatus: C.I.L., V I , 5 1 0 = Dessau, Inscr. Lat.
Selectae, 4 1 5 2 .
49
Pindar Frags. 95, 96 Schroeder = 85, 86 Bowra. See U . v. Wilamowitz-Moellendorff,
Pindaros, pp. 270 f.; O. Kern, Die Religion der Griechen, Vol. III, pp. 1 2 7 f.
524 Archaologie [42143]

daemon's universality. If Pan, the companion, is all that, the Mother


must rank still higher, and Attis cannot be lower. The Gnostic sect of
of the Naassenes, according to their opponent the bishop Hippolytus
(deposed in 235 A. D.), allegorized the story in the following manner50:
the mother is "the blissful nature of the supramundane and eternal
beings"; emasculating her beloved, "she calls back the male part of the
soul to herself'-whatever that may mean. In the Neoplatonic inter-
pretation of the fourth century 51 the Great Mother is "the mistress of
all life, the cause of all coming-into-being"; Attis is "the demiurge of
things coming-into-being and perishing"; his starry cap signifies the
firmament, and so on. Another allegory presents him as the sun, and his
statue at Ostia has the sunbeams and the crescent on the head. It is
impossible to make out exactly how the myth was understood by the
adepts who designed or wore this garment. That they saw a secret sense
in it is likely, since the religion of Cybele and Attis had its surprising
sway in late antiquity just because of its mystery. The singular leaves
at the arms of Pan and of the younth may yield a special argument in
favor of such a mysterious meaning.
But, to come back to what determines the impression of the whole,
the scene is full of real orgiasm, that Oriental orgiasm surrounding
Cybele which we know from the Hellenistic poets-Callimachus, Varro,
Catullus-who transposed it into Greek and Roman poetry.
At the top of the Metropolitan tapestry, among the vines which
mingle the Bacchic ecstasy with that of the Great Mother, one sees a
timbrel. It belongs in the hands of the goddess and of her followers-
ades et sonante typano quate flexibile caput
(approach and with resounding timbrel shake your limber head),

as she herself was addressed in the undulating ("galliambic") meter


characteristic of her, in a poem of the famous Maecenas (Caesius Bassus
VI, 262). One may think that the maenad at the right has exchanged the
timbrel for the sword; in any case, the timbrel sets the orgiastic tone:
tympana tenta sonant: Lucretius II, 618
(tight-stretched timbrels resound)-
leve tympanum remugit: Catullus L X I I I , 29
(the light timbrel rings)-
tibi typana non inani sonitu matri deum tonimus: Varro, Menippeae
Frag. 132 B u e -
(for thee, the Mother of the Gods, we make the drum thunder
with no idle sound)-
X E i g l 8' dvaaxo[iEV05 \tkya tinitavov EJiA-aTaynaE 8iv(otov 'Peir|g ojtXov
'OX.u|xmaSo;: Antipater in Anth. Pal. V I , 219, 19 f.

50
Refutatio omnium haeresium V , 7.
51
Sallustius, Concerning the Gods and the Universe, ed. by A . D. Nock, § I V p. 8.
Juliani Imperatoris Oratio V , pp. 165 A ff.
[43/44] Documents of D y i n g Paganism 525

(holding up his great tambour, the r e v o l v i n g instrument of


O l y m p i a n R h e a , he beat it),
et inania t y m p a n a tundent: O v i d , Fasti I V , 183.
(and w i l l t h u m p their h o l l o w drums)

It is that orgiastic tone of the timbrels to which our imagination must


supply the orgiastic cry from the mouth of the priestesses:
raXXaiq) KuPéX.ri$ òXoXvyuoiti JtoXXaxi bovaa. t ò v Pagìiv E'15 à x o à g
rjxov àjtò axofiàtrav: Rhianus in Anth. Pal. V I , 173, 3 f.
(who often uttered f r o m her lips the sharp cry, p a i n f u l t o hear,
that C y b e l e ' s votaries u s e ) -
comitum chorus ululet: Maecenas (Caesius Bassus V I , 262)
(the chorus of the companions m a y s h o u t ) -
ubi sacra sancta acutis ululatibus agitant: Catullus L X I I I , 28
(where w i t h shrill yells they shake the h o l y emblems).

The timbrel and the blood-stained sword are the implements of Cybele's
rites on the textile as in a Hellenistic epigram:
x ù u j i a v à r'r|XT|EVTa x a l a i t a t i tpoivix^évxa ( p a o y a v a : Anth. Pal. V I , 51
(the edioing tambourines and the knives reddened w i t h blood).

The ecstatic movement shows most of all in the heads thrown back
and in the tossed hair of the attendants:
teretem comam volantem. iactant tibi f a m u l i : V a r r ò , Men. Frag. 132
(for thee thy servants toss their curly, flying h a i r ) -
ubi capita Maenades v i iaciunt hederigerae: Catullus L X I I I , 23
(where the Maenads i v y - c r o w n e d toss their heads v i o l e n t l y ) - |
iactatis comis: O v i d , Fasti I V , 244
(with tossed h a i r ) -
|j.aivo|jivT|v 80x15 Avé|ioici xgiya. Dioscorides in Anth. Pal. V I , 220, 2
(giving his w i l d hair to the w i n d ) -
ÈSivriOEv 8' B v a x Q O f a k i y y a xó|iav: A n t i p a t e r in Anth. Pal. V I , 219, 10
(and tossed his w h i r l i n g locks).

The toss of the head was only the most striking feature; the whole body
was in movement: iactatio insana membrorum, says St. Augustine (Civitas
Dei VII, 24, p. 305, 20 Domb.). The goddess herself, the dominating
center of the scene, could be best described with words of Lucretius
(II, 600 ff.) : there she drives her lion team, the mural crown on her head-
quo nunc insigni per magnas praedita terras
horrifice fertur divinae matris imago
(adorned w i t h which emblem the image of the divine mother is
carried n o w a d a y s through w i d e lands in awe-inspiring state).

Something of her terribleness whidi the poet's description communicates


to his reader is to be felt in our picture.
These literary passages, to which many others could easily be added,
may suffice to show that, far from being a mere mythological pastime,
our picture imparts, and is meant to impart, religious awe. Though it is
526 Archäologie [44145]

not a devotional object like the textile of Hestia, it cannot be separated


from the worship of Cybele and Attis, who, with Isis, Serapis, Mithras,
were the great divinities of the Roman age and the most powerful
antagonists of Christianity, so much the more as "the rites of Attis,
apart from certain crudities, might almost have passed for Christian
usage 52 ." Our panels mirror, then, not only the myth but the religion
of Cybele and Attis. This is much; but perhaps it is not enough. We know
that at the festival called Taurobolia the high priest, on entering the
ditch in which he was to be flooded with the ritual blood, was dressed
in a peculiar attire 53 . The Phrygian priest of the Magna Mater in Rome
is described as wearing a motley stole54. There will have been other
ceremonial vestments in these | manifold and colorful rites. The tapestries
in the Metropolitan Museum and the Hermitage may well have belonged
to such ritual costumes.
The cult of Cybele and Attis moves between two opposite poles,
like other cults of the Orient and like the Eleusinian mysteries, but
unlike the static religion of the Olympian gods. These poles are life and
death, hatred and love, mirth and mourning. Within the Roman festival
of the Megalesia, the Day of Blood (dies sanguinis) was, in the Imperial
age, immediately followed by the Day of Hilarity (Hilaria)55. But all
over the world of the Empire the ecclesiastic year of Cybele's adherents
oscillated between the event represented on our tapestries and the opposite
moment or season when Cybele, her lover at her side, drove in her iion
chariot through the blessed country. Thus they are shown on a common
sort of bronze medal, the so-called Contorniati 56 , and, in a much richer
setting, accompanied by the symbols of Time and Eternity, on the silver
dish from Parabiagio (pl. 15)57. The medals, according to a common
surmise, were destined for distribution at the Megalesian festival; the
plate is a liturgical implement of surprising grandeur, once actually
used, and even somewhat worn, in Cybele's rites. The dire side of her
religion is pictured on our panels and, for example, on a strange, hex-

52 S e e the chapter "Attis in Relation to Christianity," in A . B . C o o k , Zeus, Vol.11, i ,


pp. 303 ff.
5 3 See H . Graillot, Le Culte de Cybele, p. 284; Oppermann in R.-E., Vol. V A, col. 16,

s. v. "Taurobolia." Prudentius, Peristephanon X , 1015: Cinctu Gabino Sericam fultus


togam. The costume will not have been the same through all the centuries and in
all the provinces of the Roman Empire.
5 4 itoi.xiX.riv ÊvÔEÔuxcûç atoXrjv: Dionysius Halic., Antiq. Rom. II, 19,4.

5 5 G. Wissowa, Religion und Kultus der Romer, 1st ed., p. 266.

5 6 Robert, "Mythe de Cybèle et Attis," Revue Numismatique, 3 e série, t. I l l , 1885,


pp. 34 ff., pis. 3 - $ ; Daremberg-Saglio, Dictionnaire des antiquités, Vol. I, figs. 2251 f.;
Enciclopedia Italiana, Vol. X I , tav. 22, no. 9.
5 7 Published by Aida Levi Spinazzola in Opere d'Arte pubblicate a cura del R . Istituto

di Archeologia e Storia d'Arte, fasc. V. See also Aida Levi in L a Critica d'Arte,
Vol. II, 1937, pis. 155-157, pp. 218 ff.; Brendel in Jahrbuch des Instituts, L, 1935,
Anzeiger, pp. 521 ff.; A . B . C o o k , Zeus, Vol. I I I , 2 , p. 1127.
[45 ¡46] Documents of Dying Paganism 527

agonal marble plaque in the Cabinet des Médailles (pl. i6) 58 , which
shows a mountainous terrain, Mount Dindymon, topped by the sacred
pine of Attis; on the left is Cybele enthroned, surrounded by her attend-
ants; on the right one sees Attis, prevented by an armed Corybant from
toppling down from his rocky seat59. He seems to have just committed
the selfmutilation; a strange lappet of his garment hangs down between
his trousered thighs exactly as it does on our tapestries. Ritual imple-
ments and crowns are spread lavishly over the scene. This marble j
plaque must come from a sanctuary of Cybele, and it is a fair conjecture
that, as part of a decorated floor, it may have been worn down by the
tread of the faithful. Our panels too, then, were destined for ritual use,
and it is not all unlikely that the kind of cloth or vestment to which
they belonged was intended to be employed by priests or initiates of
Cybele and Attis and perhaps to be buried with them60.

58
A . de Longpérier, "Cybèle et Attis," Bulletin Archéologique de l'Athénaeum Français,
Vol. I, i8j5, p. io6, pl. V I . Small reproductions in Daremberg-Saglio, Dictionnaire
des antiquités, Vol. II, figs. 2021 and 2250.
59
Arnobius, Adv. gentes V , 7 : sub pini arbore genitalia sibi desecat. Servius ad Vergilt
Aeneidem I X , 1 1 6 : {puer Attis) quem semianimem sub pinu latentem cum invertissent
antistites Matris Magnae ... See A . Loisy, Les Mystères païens, pp. 88 fi.
60
See R. Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen, 2d. ed., p. 94: "Toten-
gewand und Priestergewand. Auch bei den Mandäern fallen beide Begriffe zusammen
und ist das priesterliche Gewand zugleich die kultlich festgelegte und bedeutsame
Totenkleidung."
VI
Deutsche Literatur
Aristophanes in Deutschland

1932/33

„Ein politischer Führer sollte seine Ritter auswendig wissen. Denn


es gibt keine tiefere Wahrheit als die, daß Kleon allemal von dem
Wursthändler übertrumpft wird" (Die Antike II 159): Worte eines
englischen Ministerpräsidenten, gesprochen 1926, die die meisten unserer
Politiker mit Verwunderung hören würden. Denn Deutschland überläßt
es dem praktischen England, seine regierende Auslese durch „die
Klassiker" zu erziehen. Das braucht freilich auf unserer Seite nidit immer
so zu bleiben, weil es nicht immer so gewesen ist. Diltheys Freund Graf
Paul Yorck schrieb seine Prüfungsarbeit für die höheren Verwaltungs-
ämter über die aristotelische Katharsis (Die Antike V I I 213). Arnold
Rüge, der ein geistiger Wegbereiter der 48 er Bewegung war, hat über
platonische Ästhetik und über die Ästhetik des Komischen Bücher ge-
schrieben und sich mit römischer Satire und Aristophanes befaßt. Und
Johann Gustav Droysen ist darum als Historiker des Hellenismus und
der preußischen Politik, als Biograph Alexanders und Yorcks nicht minder
groß, seine Verdienste um Schleswig-Holstein und die Paulskirche wiegen
darum nicht leichter, weil er den Deutschen ihre beste Aristophanesüber-
setzung geschenkt hat.
Aristophanes in Deutschland - das ist nur ein kleines und von wenigen
heut durchblättertes Kapitel unserer Geistesgeschichte. Aber es ist durch-
aus nicht nebensächlich, welche Substanzen der deutsche Geist in seiner
wechselvollen Geschichte sich anverwandelt hat, und welche Kräfte er
bei diesem Einschmelzungsprozeß entband. In wichtigen Augenblicken
geistiger und politischer Entwicklung hat man sich an Aristophanes ge-
stärkt, ihn nachgebildet, über ihn nachgedacht. Und es spricht vielleicht
nicht unbedingt für unsere Zeit, daß sie ihn nicht mehr nötig zu haben
meint. |
(Wir benutzen mit Dank die Forschungen Früherer, vor allem die
Schriften von Curt Hille, Die deutsche Komödie unter der Einwirkung
des Aristophanes; Fritz Hilsenbeck, Aristophanes und die deutsche
Literatur des 18. Jahrhunderts; Wilhelm Sueß, Aristophanes und die
Nachwelt.)

[Erster Teil, Die Antike V I I I , Berlin 1932, S. 2 2 9 - 2 5 3 . Zweiter Teil, Die Antike I X ,
Berlin 1 9 3 3 , S. 8 1 - 1 0 4 . ]
532 Deutsche Literatur [2301231]

Die Geschichte des deutschen Aristophanesverständnisses, als ein


zusammenhängender geistiger Vorgang gefaßt, beginnt mit Hamann und
Goethe. Aber einen Blick muß man doch vorher auf das 16. Jahrhundert
werfen. Z w a r wenn man in der Renaissance wie anderwärts so auch in
Deutschland den aristophanischen Plutos herausgab, bearbeitete und auf-
führte, so beweist die Vorliebe f ü r diesen Nachzügler der alten Komödie
nur, daß man mit dem wahren Aristophanes noch nichts anzufangen
wußte, aber sich Herrn Reichtum und Frau Armut neben anderen allego-
rischen Puppen des Mittelalters gern gefallen ließ. Und noch weniger
geht es den Aristophanes an, daß bei seinen Wolken Melanchthon Bundes-
genossenschaft suchte zur Abwehr einer eigenmächtigen Philosophie - wie
man die Wolken ja auch sonst sehr o f t weniger um des Dichters als um
des Sokrates willen gelesen hat. Es gibt im 16. Jahrhundert und über-
haupt bis auf Hamann nur einen einzigen Deutschen, dem es auf Aristo-
phanes selbst ankam: das ist Nicodemus Frischlin, der schwäbische
Humanist aus dem Ende des humanistischen Jahrhunderts. Frischlin ist
gar nicht durch die Schulstube zu Aristophanes geführt worden, sondern
durch ursprüngliche Wesensverwandtschaft. E r war ein Mensch, den sein
satiricum Ingenium mit Professoren, Rittern und Fürsten verfeindete, den
seine unruhige Lebendigkeit in Deutschland umherjagte und über Deutsch-
land hinaus bis an die Türkengrenze, den sein Formtrieb zum
Humanisten, Poeten, Übersetzer machte. Die Fazetien und die Eloquenz
seines Meisters Aristophanes rühmt er echt humanistisch auf dem Titel
des Buches, in dem er 1586 fünf aristophanische Stücke griechisch heraus-
gab und in plautinisch-terenzisches Latein kunstvoll metrisch übertrug.
Dem Kaiser Rudolph, dem er das Werk widmete, stellt er den alten
Dichter vor als Sittenrichter, der die Staatsfeinde, die Zwietrachtstifter,
die Frechheit des Pöbels streng geißelt, keinen Stand, kein Alter, kein
Geschlecht, nur die Unschuldigen verschont. Aber hinter dieser wohl-
berechtigten moralischen Phraseologie steht eine ursprüngliche Liebe, die
ihn echt renaissancehaft in dem Griechen den Bruder grüßen läßt. Ähnlich
wie auf Bildern der Zeit ohne allen geschichtlichen Abstand Schlachten
des | Altertums von deutschen Rittern in deutscher Landschaft geschlagen
werden, so sieht Frischlin sich selbst als neuen Aristophanes und den
Kaiser Rudolph als einen zweiten König Darius, der von dem attischen
Komöden gehört hat und dessen Eifer um die mores mit einem großen
Geldgeschenk belohnt. Wenn Frischlin die aristophanischen Ritter widmet
Illustri et generoso Domino, D. Ferdinando Hofmanno, Baroni in
Gruenenphyel et Strechau, Archimarschalco Austritte et Styriae, so rücken
ihm mit dem ritterlichen Geschlecht des steirischen Freiherrn die athe-
nischen Ritter ununterscheidbar zusammen, „die Hasser des Kleon und
aufrührerischer Bürger, die Liebhaber von Frieden und Ruhe, die Hüter
der öffentlichen Wohlfahrt und dir durchaus ähnlich". Der edle Herr soll
an den alten Rittern betrachten, was dem Ritterstand zieme, und wie man
[231j232] Aristophanes in Deutschland 533

die Kleone unserer Zeit unter das Gesetz beugen müsse. So sind die
Wolken nützlich zu lesen, um aus ihnen zu lernen, wie man die sophisti-
schen und philosophischen Spitzfindigkeiten der Rhetoren für nichts
achten müsse, und zugleich zur Erholung von der Mühsal des öffentlichen
Amts. So sollen die Frösche dem edlen Herren, Kaiserlichen Geheimen
Rat und Procancellarius des Römischen Reiches, dem sie gewidmet sind,
den Sinn schärfen für den Unterschied zwischen guter und schlechter
Poesie, damit er und seinesgleichen die Ehrungen ihrer Fürsten auf die
würdigen Dichter lenke.
Frischlin selbst wollte sich gar nicht nur mit dem gedruckten Wort
begnügen. „Unter vielen Projekten, an die er sein Herz gesetzt, war auch
dies gewesen, auf Fasching 1581 zwei Komödien des Aristophanes auf-
zuführen" (Sueß). Und diese Hoffnung hält sein gedruckter Aristo-
phanes aufrecht:
Ergo pande fores, theatra pande,
Sum dignus nitidis agi theatris.
Sie wurde erst nach seinem Tode erfüllt. Zu der berühmten Straßburger
Gelehrtenschule und Akademie, die Johannes Sturm gegründet hatte,
gehörte ein sehr lebendiges Theater, auf dem um die Wende vom 16. zum
17. Jahrhundert außer lateinischen Stücken auch griechische Tragödien
und im Jahre 1613 die Wolken des Aristophanes in der Ursprache auf-
geführt wurden. Den Zuschauern gab der Magister Isaak Froereisen
eine deutsche Übersetzung in die Hand - „zwar nicht von Worten zu
Worten, sondern allein dem sensu nach" - , verfaßt in Reimversen Hans |
Sachsischer Art, die Chöre in zeitgenössischer Liedform. Strepsiades ist
„ein schlechter Baursmann", aus einem athenischen Beamten wird der
„Schuldvogt", ein scherzhaft gebildeter Eigenname wird recht glücklich
verdeutscht: „Strepsiades des Kargfiltz Sohn ($eiöcovos mög)". Die Sprache
wird ins gemütlich Derbe und Breite umgesetzt, und jene bürgerliche
Lehrhaftigkeit, die wir gleichfalls aus der volkstümlichen Literatur des
16. Jahrhunderts kennen, liegt über dem Ganzen und kommt etwa in dem
„Epilogus oder Beschluß" zu einem lebendig kräftigen Ausdruck:

Dieweil dann nun durch Gottes macht


Diß Spiel zu seinem end ist bracht,
So bitt ich euch freundlichster maßen,
Ihr wolt euch nicht verdrießen lassen,
Sondern noch ein weil sein zu ruh
Und mir ferner auch hören zu,
Was wir all nach Christlichem brauch
Darauß haben zu lehrnen auch.

Aus so frischer Nähe, so unbekümmert um allen geschichtlichen Ab-


stand wie bei Frischlin und Froereisen sind diese griechischen Komödien
534 Deutsche Literatur [232)233]

von keinem Späteren ergriffen worden. Man ermesse, wieviel reflektierter


wir sie lesen mit unserm Geschichtssinn, unserm „sechsten Sinn", der
immer die fünf ursprünglichsten zu dämpfen droht. Zunächst aber war
es nach der Straßburger Wo/^ew-Aufführung überhaupt für anderthalb
Jahrhunderte in Deutschland still von Aristophanes. -

In Florenz steht hoch oben im Boboligarten die Statue einer Göttin


des Überflusses, gesetzt im Jahre 1636. Ihre Inschrift rühmt den Wohl-
stand Toscanas, „während fast ganz Europa von unheilvollstem Kriege
loderte" (omnis fere Europa dum funestissimo arderet hello). Der
Deutsche aber empfindet vor diesen Worten doppelt, was alles damals
in seinem Lande zerstört worden ist. -

Die Vernunft, die nun für ein Jahrhundert Herrscherin wird, läßt
als Komödie nur das Charakter- und Intrigenlustspiel nach der Weise
des Menander, des Plautus und Terenz gelten. Dieses Lustspiel hatte
Aristoteles anerkannt als Erfüllung der im Begriff der Komödie ange-
legten Möglichkeiten. Es hatte mit seinen festen und scheinbar allgemein
gültigen | Menschentypen, mit seinem diesseitig bürgerlichen Handlungs-
raum, in dem sich durch Verwicklung und Lösung allgemein verständliche
Vorgänge abspinnen, eine deutliche Verwandtschaft zum rationalen Welt-
bild. Damit verglichen ist Aristophanes in der Tat durchaus unver-
nünftig, wie er sich aus der Alltäglichkeit in die phantastische Welt
hinüberbewegt und in jene zurück, wie er die selbstgeschaffenen Vorgänge
durch lyrischen Aufschwung, kämpferischen Witz, momentgebundene
Ansprache an die Zuschauer immer wieder unterbricht. In den 60er und
70er Jahren des 18. Jahrhunderts aber, in denen Deutschland die starre
Kruste der Ratio sprengt, wird er schrittweise für den deutschen Geist
gewonnen.
Johann Georg Hamann, der „Magus aus Norden", der Dunkle, der
Mystagoge der neuen Bewegung, hatte 1759 in seinen Sokratischen Denk-
würdigkeiten der Aufklärung nicht nur, sondern aller Abstraktion den
Fehdebrief geschrieben. Alle solche Sicherungen sollten durch das Bild des
„unwissenden" Sokrates erschüttert, durch Sokrates sollte der Weg zu
Paulus, durch die Unwissenheit der Weg zum Glauben freigemacht werden
oder auch „zu einer Weisheit, die im Verborgenen liege". Wollte Hamann
in den Denkwürdigkeiten, wenn nicht ein neuer Piaton oder Xenophon, so
doch ein neuer Schuster Simon sein als schlichter, aber treuer Deuter des
philosophischen Meisters, so tritt er zwei Jahre später gegen seine Kritiker
mit seiner Streitschrift Wolken als Aristophanes auf. Von dem Meister
der alten attischen Komödie freilich hatte diese Schrift kaum mehr als
das ganz Allgemeine, die Spottlust und dann den Titel und ein paar
Zitate. Aber ein Titel ist für diesen Irrationalisten nach seinen eigenen
Worten „kein Schild zum bloßen Aushängen, sondern der nucleus in
[233j234] Aristophanes in Deutschland 535

nuce, das Senfkorn des ganzen Gewächses", oder auch ein „mikro-
skopischer Same, ein orphisches Ei, worin die Muse Gezelt und Hütte
für ihren Genius bereitet hat". Und was Zitate für ihn bedeuten, lehrt
Goethes unerreichte Hamann-Charakteristik in Dichtung und Wahrheit.
Hamanns Grundtrieb - so wird dort gezeigt - geht auf die Ganzheit,
alles Einzelne ist ihm verwerflich. Um nun das Unmögliche zu erreichen,
dazu greift er nach allen Elementen, darunter den „andrängenden
Sprüchen der heiligen und Profanskribenten und was sich noch sonst
humoristisch hinzufügen mag". Dicht neben Hiob und Paulus steht
Shakespeare und eben Aristophanes.
Hatte die rationalistische Kritik gegen jene erste Schrift Hamanns
den Vorwurf der Unverständlichkeit erhoben, so ist der Titel der zweiten, |
Wolken, der nucleus oder Keim der Antikritik. „Sollte es also im Ernst",
sagt der Antikritiker ironisch, „dunkle Stellen in dieser Schrift geben,
so würde es eine lächerliche Erwartung sein, daß der Autor sich jemals
entschließen wird, den Teppich von Dünsten, die Veste seiner Tritte, in
einen klaren Himmel zu verwandeln". Deshalb also Wolken, weil die
Verstandeshelle des klaren Himmels den Gegnern überlassen bleibt,
während vor dem Mystiker sich ein unendlich deutbarer Teppich aus-
breitet. Zugleich klingt aus der Weltschöpfung des Alten Testaments die
„Veste" herein, so daß der Schreibende sich für einen Moment mit dem
Schöpfer zu gleichen scheint. Und dann wieder ist dieser Mystiker und
Schöpfer ein neuer Aristophanes, der um des Sokrates willen seine
Angriffslust gegen die Spießbürger und gegen die Denker richtet und -
wer weiß? - gegen Sokrates selbst.
Ohne daß wir uns anmaßen wollen, Hamanns „geballte Faust in eine
flache Hand zu verwandeln", sei hier nur soviel gesagt: sein Urproblem
ist dieses, Weisheit und Unwissenheit. Darum schreibt er seine Denk-
würdigkeiten. Eine Abwandlung jenes Urproblems sind die „Grenz-
streitigkeiten des Genies mit der Tollheit", denen - vom Polemischen
abgesehen - die Wolken gewidmet sind. „Der rasende Sokrates", sagt
Rudolf Unger (Hamann und die Aufklärung) „hält mit dem prophe-
tischen, feierlichen, mystischen, der Humorist mit dem tiefsinnigen
Grübler geheimnisvolle Zwiesprache". Und im Dienste dieses Spiels und
Widerspiels, dieses Spiegeins und Widerspiegeins, dieser ebenso gewollten
wie gemußten Dunkelheiten steht ihm das Aristophanische; das sind
außer dem Titel eben jene Zitate. Sehr bezeichnend, welche Stellen ihm
im Sinne haften. Nach dem Beispiel des Bauchredners und Propheten
Eurykles, sagt Aristophanes durch den Mund seines Chores, sei er in
fremde Bäuche eingegangen und habe eine Fülle des Komischen ausge-
schüttet. Er wechsle das Gewand je nach seiner Gesinnung, läßt Aristo-
phanes seinen vielwendigen Karikaturtragödiendichter Agathon sagen,
und seine Stimmung nach den Dramen die er gerade dichtet, und der
ganze Leib müsse an dieser Stimmung teilhaben. Also Masken- und
536 Deutsche Literatur [234/236]

Kostümwechsel, Verhüllung, Ironie, aber zugleich auch menschliche Ganz-


heit: so erhellt oder verdunkelt Hamann durch aristophanische Blinke und
Blitze sich selbst. Oder er nennt als Muster für das Luftige, Schwärmende,
Leichtangebundene, Schwirrende seines eigenen Verfahrens jenen Versuch,
„welchen Sokrates seinen Schülern aufgab, ihren Sinn wie | einen Käfer
am Faden seines Schenkels in die Luft schweben zu lassen". „Chimärische
Einfälle" erklärt Hamann selbst für unabtrennbar von seinem Denken.
IlagdQufrjxa EijQu\}[j.a ^guyicov öiavEUnata Xoiqucov („unrhythmische w o h l -
rhythmische Neigungen der phrygischen Anmutsgöttinnen") zitiert er
dafür aus dem Aristophanes: die Vereinigung des Widersprüchlichen und
vielleicht nicht zufällig auch das Orientalische klang ihm in dem Vers der
Thesmophoriazusen entgegen.
Gewiß ist in alledem der wirkliche Aristophanes mit seinen eigent-
lichen Gehalten und Formen noch fern und undeutlich. Aber dieser ferne
Aristophanes ist zum ersten Mal seit 150 Jahren in Deutschland ein
Element der Lebensluft, die einen Menschen nährt. Nichts bezeichnender,
als daß der Hamlet — Genie oder Tollheit, Verhüllung, Schauspiel im
Schauspiel - dicht neben Aristophanes steht und Hiob und Paulus neben
beiden. Durch dieses bloße Nebeneinander, nicht durch irgend eine begriff-
liche Wertung, wird Aristophanes zum Rang eines genialischen Dichters
erhoben. Wie Herders neue Sicht auf Shakespeare, die Bibel, den Orient
in Hamann ihren Ursprung hat, so haben ein Schriftentitel und ein paar
Zitate von ihm genügt, den Aristophanes neu zu erwecken.
Ist Hamann ganz und gar bewegter Beweger, so ist Lessing, der Er-
füller der Ratio, ganz und gar Grenzsetzer. Er ist zu sehr Aristoteliker,
als daß ihm Aristophanes Wesentliches bedeuten könnte. Der ist ihm nie
eine Kraft, von der er sich ein Stück weit forttragen läßt, oder ein
Element, das er empfängt und eingeschmolzen in ein Ganzes weitergibt,
sondern ein Schulbeispiel, ein Stück Gelehrsamkeit - „Aristophanes und
seine Scholiasten!" - ein Fall, der ihm eine Einsicht klären hilft oder ihm
etwas beweist. Nur einmal, und vielleicht nicht zufällig ein paar Jahre
nach Hamanns Wolken, spricht er in der Dramaturgie mit höherem
Einsatz als sonst von Aristophanes, der ihm einen Augenblick die
komische Dichtung überhaupt vertritt. Die Charaktere der Komödie, so
lehrt er im 89. bis 91. Stück, sind wie die der Tragödie allgemein, nicht
individuell. Man hat sich darüber aufgehalten, daß der aristophanische
Sokrates Züge trage, die dem geschichtlichen gar nicht zukommen. Aber
dieser Komödien-Sokrates kann und darf gar nicht das Individuum
Sokrates sein, und jene Züge sind keine mutwilligen Verleumdungen,
sondern eine durchaus legitime Erweiterung des Einzelcharakters, eine
Erhebung des Persönlichen zum Allgemeinen. Solche klare Einsicht hätte
Hamann nie gesucht. Aber was im Falle Aristophanes zunächst wirkte,
war nicht Lessings Begriffsjformel, sondern Hamanns lebendige Regung.
Sie vibrierte durch die 70er Jahre in „Sturm und Drang", in Goethe und
[2361237] Aristophanes in Deutschland 537

Lenz. Und es ist kein Zufall, daß Hamann begeistert war, als er auf
seiner letzten Reise in den Westen (1787) bei Jakobi Goethes Komödie
Die Vögel, nach dem Aristophanes kennen lernte. Wenn er den Verfasser
entzückt einen Blitzkerl und Tausendkünstler nannte, und wenn ihm
war, als ob ihm aus dem ganzen Leibe lauter Funken sprängen, so mochte
er über die bloße Gesinnungsverwandtschaft hinaus sich selbst als An-
reger und Goethe als seinen größeren Schüler sehen.
„Hamann ist unbedingt der eigentlich verborgene Urheber der
Sturm- und Drangbewegung" (Gundolf). Sein Funke zündet in Herder
und durch Herder in dem Goethe der Straßburger Zeit. 1761 waren
Hamanns Wolken erschienen. 1770 begegneten sich Herder und Goethe.
1773 wirft Goethe die Farce Götter, Helden und Wieland aufs Papier.
1774 läßt Lenz sie mit Goethes Zustimmung drucken. 1775 schreibt Lenz
selbst, wiederum gegen Wieland, seine Wolken. 1777 erscheint von dem-
selben Lenz im Deutschen Museum ein Fragment, das den Fröschen des
Aristophanes nachgebildet ist. 1780 führt Goethe in Ettersburg Die
Vögel, nach dem Aristophanes auf.
Man zweifelt noch immer, ob überhaupt neben Goethes satirischer
Laune und jener Flasche Burgunder, die er selbst verantwortlich macht,
der Geist des Aristophanes zitiert werden müsse, um die Entstehung von
Götter, Helden und Wieland zu begreifen. Ist es nicht einfach ein Toten-
gespräch in der Manier Lukians? Gewiß könnte es das sein, so lange
nur Merkurius und Charon, Euripides und Alceste miteinander reden.
Selbst daß in der Goetheschen Farce wie in den aristophanischen Fröschen
ein Hadeskampf zweier Dichter die Mitte bildet, brauchte noch nicht viel
zu bedeuten. Denn nicht nach literarischen Abhängigkeiten, sondern nach
lebendigem Kräftespiel geht unsere Frage, und nur darum ist sie über-
haupt wichtig. Dann aber muß klar werden: Götter, Helden und Dichter,
das könnte ein lukianisches Totengespräch hergeben. Götter, Helden und
Wieland, das verrät aristophanische Kräfte. Lukian läßt die Schatten
geschichtlicher Personen oder zeitloser Menschen miteinander streiten.
Aristophanisch ist, von den Vorgängen und von Einzelheiten ganz ab-
gesehen, der Fechterstreich gegen den mächtigen Zeitgenossen. Kronzeuge
sei der Angegriffene selbst, der in seinem Teutschen Merkur von 1774
seinem Angreifer bezeugt: „Der Herr D. Göthe, nach|dem er uns in seinem
Götz von Berlichingen gezeigt hat, daß er Shakespeare sein könnte, wenn
er wollte, hat uns in dieser heroisch-komisch-farcicalischen Pasquinade
bewiesen, daß er, wenn er wolle, auch Aristophanes sein könne." Bei
Aristophanes hatte Hamann Hilfe gesucht in seinem Kampf gegen den
starren Geist der Zeit. Jetzt steigt Goethe, durch Hamann und Herder
aus dem engen Gehäuse glücklich befreit, aristophanisch in die Unterwelt
hinab, um gegen die schmächtig spielerische Antike, wie Wieland sie
agierte, die Leidenschaft und derbe Leibhaftigkeit eines neuerlebten
Götter-, Helden- und Dichtertums aufzurufen.
538 Deutsche Literatur [237/238]

Hatte aber Hamanns Berührung mit dem alten Komöden schließlich


doch nur eine Streitschrift hervorgebracht, die den Titel und ein paar
Zitate von jenem borgt, so ist die Goethische Farce schon als dramatisch
bewegtes Werk dem Aristophanes weit näher. J a wenn man in Rechnung
stellt, wie sehr das deutsche Schrifttum jener Zeit der Politik fern war,
wird man selbst das politische Moment, das sich bei Aristophanes so sehr
von selbst versteht, bei Goethe nicht verkennen. Der Fechterstreich richtet
sich gegen einen mächtigen Mann, den Weimarer Prinzenerzieher, Heraus-
geber des Deutschen Merkur, Führer der deutschen Rokokoliteratur. Und
Rokoko, das war eine politische Haltung und eine menschliche Gesinnung,
noch bevor es Malerei, Musik oder Poesie wurde. Mit seiner Farce ficht
Goethe gegen das schattenhaft noch immer weiterlebende Rokoko, dem
er selbst entwachsen war. Und so sehr literarisch sie unleugbar ist, man
überhöre doch den politischen Klang nicht, wenn Herkules, der „sich
betrinkt und ein Flegel ist, seiner Gottheit unbeschadet", entgegen der
Aufklärungsmoral von Tugend und Laster den Mittelzustand zwischen
beiden als den positiven preist und den besten, „wies Eure Bauern und
Knechte und Mägde noch tun". „Wenn ihr diese Gesinnung in meinem
Jahrhunderte merken ließet, man würde euch steinigen", hält Wieland
erschreckt dem urtümlichen Halbgott engegen. Und so wenig Goethe sich
schon bald danach auf die Aussprüche seiner komischen Personen wollte
festlegen lassen - „Herkules Geschwäzze", schreibt er an Lavater, „ist
wahrlich nicht mein Gefühl. Es ist nur, daß man die Hansen bei der
Perücke zupft" —, man spürt doch hier und sonst, wie tief der Stoß gegen
eine noch herrschende Gesinnung geführt wird. So dient die Farce wenn
auch polemisch und peripher der neuen Menschenbildung.
Man kann nun nicht mehr zweifeln, ob der spottlustige und glaubens-
lose Spätling Lukian oder der leidenschaftliche, politische und „den eige- |
nen Erzieherwillen verbergende" Meister der alten Komödie die Farce
inspiriert hat. Aber es ist doch kein Zufall, daß man allzu sehr am Lite-
rarischen und Einzelnen haftend sich bisher nicht recht zu entscheiden
wagte. Sie ist wirklich weit mehr ein Gespräch als ein Drama, geschrieben
um gehört, nicht um agiert zu werden. Und aristophanisch ist mehr die
Kampfgesinnung überhaupt als die Gestaltung im einzelnen, und gar die
groß gebaute Form des Aristophanes wurde von niemandem in dieser
formsprengenden Zeit, auch von Goethe nicht, gesehen.
Was Goethe sich und den Deutschen von Aristophanes zueignete, war
Angriffskraft, Laune, Bewegung. Und dies wirkte weiter in Lenz. Ein
Jahr nachdem er Goethe den Druck der Farce abgerungen hatte, ist in
ihn selbst „des Aristophanes Seele gefahren, der ein Schwein und doch
bieder war" (Brief an Herder). Hier wie sonst nimmt er den Goetheschen
Anstoß auf, schreibt die Wolken, in Prosa, wie sich von selbst versteht.
Gegen Wieland ist auch sein Angriff gerichtet, nur daß der Gegner bei
Goethe als Moralist, bei Lenz als Immoralist angegriffen wird. Lenz ging
[238/239] Aristophanes in Deutschland 539

an sein aristophanisches Werk mit dem höchsten Anspruch: „Hier etwas,


das unserer ganzen Literatur wohl anderen Schwung geben möchte und
somit ihrem Einfluß auf die Gemüter." „Aus hellem Himmel ein Schlag,
der sie all zugrunde richtet." Aber hier wie sonst kam Lenz zu spät. Wie-
land hatte Goethes Satire freundlich, ihn selbst in Weimar entzückt auf-
genommen, war auf dem Weg zu einem neuen, höheren Schaffensbereich,
zu den Abderiten und zum Oberon. Die Wolken wurden von ihrem eige-
nen Verfasser vernichtet und widerrufen.
Aber der Anstoß, den Lenz von Goethe-Aristophanes empfing, dau-
erte noch fort. Die Goethesche Satire mochte ihn auf ihr Urbild führen:
die Hadesfahrt des aristophanischen Dionysos verschmolz ihm mit
Goethes Doktor Faust, und in Boies Deutschem Museum von 1777 erschien
sein „Fragment aus einer Farce, die Höllenrichter genannt, einer Nach-
ahmung der ßoiTgaxoi des Aristophanes". Darin ist freilich mehr Urfaust
als Aristophanes, mag man auf die Knittelverse hören oder auf die
lenzisch-faustische Verzweiflung. Und wichtig ist das Fragment in unse-
rem Zusammenhang nur als ein Anzeichen für die dauernde Nähe des
Aristophanes in jenen Jahren.
Auch Goethe hat ihn nicht aus den Augen verloren, wozu Lenz viel-
leicht beitrug. Aber sein Lieblingsstück wurden nun die Vögel, nicht aus
Zufall. Denn in dieser heitersten, phantasievollsten und am meisten lyri- \
sehen Komödie des Aristophanes ist die politische Erregung ihrer Tage
am schönsten niedergekämpft und nur wie ein Gärstoff an der Wirkung
spürbar, und jenes echt aristophanische Hinaus aus dieser bürgerlichen
Welt, das zugleich ein Hinüber und Hinauf in eine ganz andere ist, er-
reicht hier die gültigste Form. Goethe hatte sich wohl Ende der 70er Jahre
an eine Übersetzung gemacht. Aber unter der Hand wurde ihm eine Be-
arbeitung daraus, und am 18. August 1780 führte er sie zum Entzücken
der Weimarer Hofgesellschaft auf. Oeser hatte die Dekorationen gemalt,
Mieding die Vogelmasken verfertigt, Goethe selbst „mit den Misels ge-
probt".
Vergesse man nicht: das Ganze war eine Belustigung des Weimarer
Hofes und eine Entspannung für den geplagten Minister: die phantasti-
schen Masken, Corona Schröters Gesang, die leichten Spöttereien gegen
Wappenadler auf den Straßen und Ordensvögel im Knopfloch, Scherze
über Goethes naturforscherischen Sammeleifer, er selbst und andere Mit-
glieder der Gesellschaft unter den Mitspielenden, er als Scapin in der Rolle
Treufreunds, Einsiedel als Pierrot in der Hoffeguts, heitere Erinnerungen
an seine Schweizer Reise mit dem Herzog. Vielleicht sahen wirklich die
Eingeweihten in dem Schuhu den alten Bodmer, dem man damals in Zü-
rich die Aufwartung gemacht hatte. „Außer der mächtigen Freude, die der
Herzog und die Herzogin-Mutter an diesem aristophanischen Schwank
gehabt hat, ists auch für Goethens Freunde tröstlich zu sehen, daß er mit-
ten unter den unzähligen Plackereien seiner Ministerschaft noch so viel
540 Deutsche Literatur [239¡240]

gute Laune im Satz hat." (Wieland an Merck, z6. 8. 1780.) Aber dieses
Eintagsspiel war doch mehr. Wenn Goethe im Jahr vorher den Orest
gespielt hatte und jetzt den Treufreund spielte, so war nach der attischen
Tragödie nun auch die Komödie nach Weimar verpflanzt - wobei freilich
zu beherzigen ist, „daß von Athen nach Ettersburg mit einem Salto mor-
tale nur zu gelangen war".
Man hat die Goetheschen Vögel aus den vergangenen Erlebnissen des
Dichters gedeutet und sich meist mit den Erinnerungen an die Schweizer
Reise von 1779 zufrieden gegeben. Man hat die Tatsache nicht übersehen
können, aber kaum hinreichend ausgewertet, daß Goethe vor allem auf
seiner Italienischen Reise 1786-88 von der Erinnerung an jenes Spiel
begleitet wird. Auf dem Weg nach Italien in Karlsbad las er sie vor: „Sie
haben ein unsägliches Glück gemacht." Als er die drohende Menge in
Malcesine beruhigt hat, notiert er abends ins Tagebuch: „Ich habe den
Treufreund köstlich gespielt, sie harangiert und sie bezaubert." Als er |
die Sträflinge im Gefängnis zu Verona hinter Gittern sieht, kommt ihm
das Bild wieder; „und ich leugne nicht, daß der gute Humor, womit ich
meine Vögel abgefertigt hatte, hier doch einen etwas schweren Stand
würde gehabt haben". Im Theater zu Vicenza sind ihm die ungebärdig
klatschenden Zuschauer die Vögel, während er selbst spürt, daß er „zum
Vogel verdorben" ist. Und so noch öfter. In Palermo notiert er: „Mein
Geselle (Kniep) ist ein excellenter Mensch, der wahre Hoffegut, sowie ich
redlich den Treufreund spiele." Am aufschlußreichsten ist das, was er unter
dem bezwingenden Eindruck des Palladio, der „ein recht innerlich und
von innen heraus großer Mensch gewesen", am 19. September in Vicenza
niederschreibt. Die größte Schwierigkeit sei immer, die Säulenordnungen
in der bürgerlichen Kunst zu brauchen. Man ahnt, daß Goethe im Symbol
von sich selber spricht. Aber man braucht sich nicht mit einer Ahnung zu
begnügen. „Es ist wirklich etwas Göttliches in seinen Anlagen, völlig die
Force des großen Dichters, der aus Wahrheit und Lüge ein drittes bildet,
das uns bezaubert." Und nun sieht er neben den großen Werken des Bau-
meisters „das enge, schmutzige Bedürfnis der Menschen" und wägt ab,
„wie wenig diese köstlichen Monumente eines Menschengeistes zu dem
Leben der übrigen passen". Und wieder ist ihm diese Einsicht ein Sym-
bol der moralischen Welt. „Dann verdient man wenig Dank von den
Menschen, wenn man ihr inneres Bedürfnis erheben, ihnen von sich selbst
eine große Idee geben, ihnen das Herrliche eines großen wahren Daseins
fühlen machen will (und das tun sinnlicherweise die Werke des Palladio
in hohem Grade); aber wenn man die Vögel belügt, ihnen Märchen er-
zählt, ihnen vom Tag zum andren forthilft etc., dann ist man ihr Mann."
Also Treufreund muß Goethe sein, weil er nicht ganz und nicht immer
Palladio sein kann. „Ich sage das nicht, um meine Freunde herunterzu-
setzen." Also auch unter seinen Freunden sind die Vögel, und die Goe-
thesche Gelassenheit findet sich damit ab: „Ich sage nur, daß sie so sind,
[240/242J Aristophanes in Deutschland 541

und daß man sich nicht verwundern muß, wenn alles ist wie es ist." Treu-
freund ist es ja auch, den die Vögel am Schluß des Goetheschen Spiels zu
ihrem Herrn erheben: „Sei du unser Ratgeber, unser Leiter, unser Heer-
führer." Und schon 1782 hatte Goethe an Merck geschrieben, als ihm
anstelle des Kammerpräsidenten Kalb die Leitung der herzoglichen Kam-
mer übertragen worden war: „Lieber Bruder, es geht mir wie dem Treu-
freund in meinen Vögeln: mir wird ein Stück Reichs nach dem andern auf
dem Spaziergang übertragen." Also diese menschelnde Welt nehmen wie
sie | ist und in ihr den Platz sich zu gewinnen, der seinen Kräften entspricht
und auf dem man am meisten nützt, nicht mit Menschenverachtung son-
dern mit mutiger und heiterer Resignation: das ist die Gesinnung, die er
in das aristophanische Stück hineingelegt hat, indem er sich zugleich
lachend über sie erhebt.
Aber auch das ist noch lange nicht alles. Gleich zu Anfang scherzt Goe-
thesche Liebhaberei über sich selbst, da Treufreund auf steilstem Berg im
beängstigenden Augenblick sein Naturstudium treibt zur Verzweiflung
des Gefährten. Hören wir aber auch, was er gleich darauf zu den Zu-
schauern spricht: „Wir konntens in der Stadt nicht mehr aushalten." „Wir
lebten gern auf unsere Weise und konnten selten eine Gesellschaft finden,
die für uns paßte. Kurz wir sehnten uns nach einem neuen Lande, wo es
eben anders zuginge." Meint man nicht mehr noch als den Goethe und
Karl August von 1779 den Goethe zu hören, der nach Italien flüchtete?
Ist es Zufall, daß er in Karlsbad, wo gewiß sein ganzes Sinnen auf Italien
gerichtet ist, gerade diese Komödie vorlesen mag und die größte Wirkung
erzielt, daß dann gerade der Gedanke an die Vögel ihn vom Gardasee bis
nach Sizilien begleitet? Genügt es darauf zu verweisen, daß er eben im
Jahre 1786 das kleine Stück für die Göschensche Gesamtausgabe seiner
Werke neu überarbeitet hatte? Oder genügt das vielmehr gar nicht, und
ist die Komödie eben auch eine von den „poetischen Antizipationen", von
denen er im Hinblick auf sein Leben zu sprechen liebt?
Aber die Sache hat doch noch ein ganz anderes Gesicht. Unter den
Vögeln sind ja auch die Singvögel. Schuhu „der Kritikus" zaust und rupft
sie, sein Diener Papagei „der Leser" ist ihr erklärter Freund, der ihrem
Gesang ganze Stunden zuhören kann. Die Worte „Ich singe wie der Vogel
singt" hat Goethe gerade in jenen Jahren, in denen die Ämter ihn vom
dichterischen Schaffen abzuschneiden drohten, dem Sänger im Wilhelm
Meister in den Mund gelegt. Und wenn Corona Schröter hinter der Szene
die Lerche und die Nachtigall sang, so muß man wohl merken, welcher
Welt der Dichter sich ursprünglich zugehörig gewußt hat, als er sich die
aristophanische Komödie anverwandelte. Wiederum weiß man, mit wel-
chem derben Haß der junge Goethe jene unfruchtbare kritische Mäkelei
verfolgte: „Schlagt ihn tot, den Hund, er ist ein Rezensent." Wenn Hoffe-
gut und Treufreund durchaus zum Schuhu wollen, „der mit nichts zufrie-
den ist, und dem wir deswegen große Kenntnisse zuschreiben", zu | dem
542 Deutsche Literatur [2421243]

Kritikus und nicht zu den Sängern, so wäre es seltsam, wollte man irgend
etwas anderes als Spott, wollte man noch irgend etwas Goethisches in dem
Paare finden.
Und hier geraten wir an einen letzten Blickpunkt. Man ist gewohnt,
es als eine charakteristische Notwendigkeit zu betrachten, daß die poli-
tische Komödie des Aristophanes bei Goethe eine literarische hat wer-
den müssen. Gewiß ist das richtig. Und doch nicht ganz. Gundolf hat
uns sehen gelehrt, wie mit der französischen Revolution für Goethe die
Menschheit „aus einer strebenden in eine fordernde" sich zu verwandeln
schien. „Den Menschen als ein forderndes statt als ein strebendes Wesen
zu sehen und zu begreifen, daran mußte er sich erst gewöhnen, erst von
seiner eigenen Natur abstrahieren." Als solche fordernden, ungoethisdien
Menschen aber kommen HofTegut und Treufreund zum Schuhu. „Was
vertreibt Sie aus ihrem Vaterlande?" - „Die ganz unerträgliche Einrich-
tung." „Wir suchen eine Stadt, eine Stadt, wo wir uns besser befänden als
da, wo wir herkommen." „So eine Stadt, wo vornehme Leute die Vor-
teile ihres Standes mit uns Geringeren zu teilen bereit wären." „Eben eine
Stadt, wo die Regenten fühlten, wie es dem Volk, wie es einem armen
Teufel zumute ist." Und diese Schlaraffenstadt wird dann mit einer para-
doxen Ubersteigerung aller bürgerlichen Wünschbarkeiten oder Umkeh-
rung aller gewohnten bürgerlichen Verhältnisse ausgemalt. Hingegen
während Lerche und Nachtigall singen, fühlen diese Begehrlichen nichts
als Hunger und Durst und sind mißgelaunt, daß es kein Ende nehmen
will. Bedenkt man, wie Goethe gerade hier sein Vorbild im einzelnen
ganz neu gestaltet hat, so wird man dieser Komödie die gesellschafts-
kritische, die politische Tendenz nicht abstreiten können. Und so mag sie
auch in diesem Sinne eine „Antizipation" sein.
Goethe liebte die physikalischen Experimente mit den „entoptischen
Farben" um ihrer „wundersamen Spiegelungen" willen. So hat er Eigenes
und Fremdes, Befreundetes und Feindliches in seiner Bearbeitung der
Vögel gespiegelt. Mag der Versuch, auch dieses Ferne sich und uns an-
zueignen, in der Weite des Goetheschen Lebens nicht so sehr viel bedeuten,
unwichtig ist er auch dafür nicht, und für die Aufnahme des Aristophanes
in Deutschland ist das Jahr 1780 eins der wichtigsten. Hier war mit
heiterer Kühnheit ein Werk des fremdartigsten unter den großen grie-
chischen Dichtern nicht nur in zeitgenössisch deutsches Gewand gekleidet,
sondern sogleich auf die wichtigste Bühne Deutschlands gestellt worden. |
„Der ungezogene Liebling der Grazien" so hat bekanntlich Goethe
im Epilog ihn genannt und damit dem Bildungsphilister eine bequeme
Formel in die Hand gedrückt. Damals war es immerhin mehr. „Die Cha-
riten haben in der Seele des Aristophanes ihr Heiligtum gefunden", hieß
es in einem griechischen Epigramm, das sogar dem Plato zugeschrieben
wurde. Die „Ungezogenheit" des Aristophanes war ein Urteil der Auf-
klärung. („Man kann sich kaum etwas Ungezogeneres denken" als die
[243¡244] Aristophanes in Deutschland 543

aristophanischen Wolken, liest man bei Moses Mendelssohn.) Die coin-


cidentia oppositorum gibt der Goetheschen Formel ihren eigenen Cha-
rakter, einen leichten Schimmer der versinkenden Rokokowelt wird man
kaum in ihr verkennen. So wenigstens mußte sie zu Wieland hinüber-
klingen. Enthält sie etwa audi einen Blick in die Zukunft?
Das achte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts hatte den Aristophanes in
Deutschland eingebürgert. Eins aber war auch Goethe damals verschlos-
sen: die strenge und große Form der antiken Komödie. Erst das Italien-
erlebnis hat ihn selbst für solche Erfahrungen reif gemacht, und das Ver-
ständnis antiker metrischer Formen ist wenigstens mittelbar auch ein Er-
gebnis dieser für die deutsche Bildungsgeschichte nicht zu überschätzen-
den Wendung. Der alte Goethe hat von dem neugewonnenen Verständ-
nis der aristophanischen Komposition wenigstens flüchtigen Gebrauch ge-
macht, als er 1819/20 die viel früher geschaffenen naturphilosophischen
Dichtungen, die „Metamorphose der Pflanzen" und die „Metamorphose
der Tiere", durch drei kleine Gedichte umfaßte und für diese die Namen
Parabase, Epirrhema, Antepirrhema aus dem Aristophanes borgte. Wer
die großen Anreden und Gesänge an das im Theater versammelte Athener-
volk aus der antiken Komödie kennt in ihrer gesetzmäßigen Abfolge von
Parabase (Hintritt vor das Volk), Ode (Gesang), Epirrhema (Zuspruch),
Antode (Gegengesang), Antepirrhema (Gegenzuspruch), der sieht hier die
beiden Metamorphosengedichte aus ihrer Vereinzelung in eine höhere
Gesamtform hinübergeführt. Sie selbst sind nun „Gesang" und „Gegen-
gesang": ihre innere Symmetrie, vielleicht auch daß sie etwas Höheres
sind als die Lehrgedichte der Schulpoetik, wird so verdeutlicht. Die Para-
base bietet sie den versammelten Hörern dar und spricht die freudige For-
schergesinnung aus, aus der sie vor vielen Jahren entstanden sind, eröffnet
den Blick auf das All-Eine, aus dem man sie verstehen muß, und mahnt,
daß man über der Erkenntnis das Erstaunen nicht vergesse. Die beiden
Zuspräche fordern auf, das heilig öffentliche Geheimnis zu | ergreifen,
und deuten weiter an, in welcher Gesinnung es zu ergreifen sei. Man sieht:
mit Komödie hat das nichts mehr zu tun. Goethe hat hier ein Formsystem,
das man im Aristophanes zu verstehen seither - schließlich doch durch ihn
selber - befähigt worden ist, sich zunutze gemacht zu einer Zeit, da ihm
die Komödie selbst fern gerückt war, während er noch 1780 wohl das
Komödienhafte, aber nicht die Formgewalt an der alten Komödie zu
ergreifen vermochte. So klaffen ihre Elemente, die in Aristophanes sich zu
einer fraglosen Einheit verbanden, noch ganz auseinander, selbst bei
Goethe, ein Symbol, wie schwer sich in Deutschland komische Genialität
und strenge Form vereinen.
Warum für Goethe das Aristophanische als Spott, Angriff, Verzerrung
im Grunde ungemäß war, kann man am besten mit seinen eigenen Worten
sagen: „Ich dagegen bin mir nur bewußt, daß ich niemals unmittelbar
gegen Mißwollende gewirkt, sondern daß ich mich in unmittelbarer Tätig-
544 Deutsche Literatur [2441245]

keit erhalten und sie, wiewohl angefochten, bis ans Ende durchgeführt
habe" (Biographische Einzelheiten, Vorschlag zur Güte). U m so wichtiger
ist es zu erkennen, wie doch auch f ü r die Einbürgerung des Aristophanes
in Deutschland Goethe das Entscheidende bedeutet.

In den 8oer Jahren ist es stiller von Aristophanes. Es mag zunächst


f ü r die deutsche Bildungsgeschichte gleichgültig erscheinen, daß in Straß-
burg P h i l i p p B r u n c k - Receveur de l'argent du R o y , Commissaire
des Guerres, und neben dieser beamteten Tätigkeit ebenso kritischer wie
geschmackvoller Kenner und Herausgeber griechischer Dichter — daß
Brunck 1 7 8 3 seine bedeutende Aristophanesausgabe erscheinen ließ, der-
gleichen es damals innerhalb des Reiches nicht gab. In dem zierlichen
Äußeren dieser Edition klingt das untergehende R o k o k o nach. Wenn
aber dann in der Vorrede Aristophanes als „der genialischste Autor des
ganzen Altertums" (totius antiquitatis scriptor ingeniosissimus) gerühmt
wird, so muß man wenigstens fragen, ob ihn der Elsässer Brunck so hätte
sehen können ohne die von Hamann Goethe Lenz ausgehende Bewegung.
Einige Ubersetzungen erscheinen in jenen Jahren, darunter die Frösche,
von Goethes Schwager, dem tüchtigen J o h a n n G e o r g S c h l o s s e r
( 1 7 8 3 ) . Liest man die „Vorerinnerung", so sieht man, daß hier alles unter-
wegs ist zu einer neuen Wertung. „Wenn man den Aristophanes recht be-
trachtet, so kann man ihm unmöglich das Lob eines edlen, männlichen, küh-
nen Patriotismus absprechen, und wenn man sieht, | mit wieviel Laune, mit
wieviel Verstand, mit welcher Beredsamkeit, mit welchem Geist er alles dar-
stellt, so kann man ihm ebensowenig eine der ersten Stellen unter allen uns
bekannten Dichtern des Altertums versagen." Das klingt recht anders als
noch zwanzig J a h r e vorher der junge Lessing geschrieben hatte: „Aristo-
phanes ist einen ganz anderen Weg in den Schauspielen gegangen, als w i r
heutzutage zu gehen pflegen; so daß w i r ihn uns nur in sehr wenig
Sachen zum Muster vorstellen können." Dann kommen freilich auch bei
Schlosser die üblichen V o r w ü r f e wegen der Plattheiten, der Unflätigkeiten,
der Ungerechtigkeiten. „ A b e r " , heißt es sogleich wieder, „der würde doch
wahrlich wenig Sinn verraten, der ihn wegen seiner Plattheiten mit einem
italienischen Possenreißer vergleichen oder sein Genie wegen seiner U n -
gerechtigkeit selbst gegen den Sokrates und Euripides verdammen wollte."
Ein Possenreißer w a r er f ü r Boileau gewesen. Jetzt ist er ein Genie. U n d
daß er das ist, rechtfertigt ihn auch gegen noch so berechtigte V o r w ü r f e :
„Zeigt mir den Mann von Aristophanes' Genie, der sich in den Eingebun-
gen seines Witzes mäßigen kann." M a n sieht, wie die neue Wertung, die
die Geniezeit möglich gemacht hatte, hier von einem verständigen Nach-
folger der Genieapostel in bewegter aber doch kritischer Sprache formu-
liert wird. „ D i e alte Komödie hat allerdings viele Fehler gehabt und mag
viele Grausamkeiten begangen haben." Das wesentlich Geniale der alten
Komödie gegenüber der neuen ist noch nicht anerkannt; das hat erst zehn
[245j246] Aristophanes in Deutschland 545

Jahre später Friedrich Schlegel gewagt. Aber — und hier spricht die Gene-
ration unmittelbar vor 1789 - was fehlt uns, die wir keine solche politi-
sche Komödie haben! „Es ist traurig, daß die Schlachtopfer des Geizes,
der Eitelkeit, der Dummheit ihrer Oberen nun gar kein Mittel mehr
haben, den Druck, worunter sie seufzen, auf eine Art an den Tag zu legen
und ihrer Galle auf eine Art Luft zu machen, kein Mittel mehr, den in
den Hofkreis eingeschlossenen Regenten zu erleuchten; keines, die sich
zum Ansehen der Weisheit brüstende Dummheit zu züchtigen, die religiöse
Heuchelei zu entlarven, begierigen Eigennutz zu brandmarken und die
übertünchte Leerheit abzuwaschen." Unsere Zeit muß sich mit der zahmen
Allgemeinheit rabnerischer Satiren behelfen. Und hätte sie selbst die Frei-
heit des Archilochus und des Aristophanes, „wie würde auch unser emp-
findsames, gutherziges Rosenfestsäkulum eine kühne Satire ohne Kon-
vulsion ertragen?" Hier ist man unterwegs - nicht sehr weit auf dem
Wege, aber doch unterwegs — zu einer neuen gesellschaftlichen und geisti-
gen Freiheit, und sie wird, wie resigniert auch immer, gesichtet unter dem
Namen des Aristophanes.
Die sprachlichen Mittel des Ubersetzers sind von der Bewegung der
70er Jahre bereitgestellt worden. Aber er selbst weiß, daß Höheres zu
erringen ist, und er wünscht, daß „ein Mann, der mehr Griechisch ver-
stünde als er, eine freiere und reichere Sprache hätte und mehr Poet wäre,
diese seine Arbeit umschmelzte und fortsetzte." Fortgesetzt hat sie der
Jenaer Professor C h r i s t i a n G o t t f r i e d S c h ü t z (in seinen
Literarischen Spaziergängen von 1784), der seine Ubersetzung der Wol-
ken dem „edlen Schlosser widmet, dem Manne von hellem Geiste und
freiem deutschen Sinne zum Beweise seiner Dankbarkeit für das Ver-
gnügen, welches ihm seine Ubersetzung der Frösche und seine Vorrede
dazu voll kühner aber wahrer Bemerkungen gemacht hat." Vielleicht hat
er seinen Vorgänger in der Lebendigkeit des Tones übertroffen. Aber
mehr Poet ist er nicht gewesen, und Schlossers Hoffnung wurde erst ein
Jahrzehnt später wirklich erfüllt.
Weimar war durch Goethe und Lenz auf Aristophanes aufmerksam
geworden, vor allem durch die Aufführung von 1780. Die Herzogin stu-
diert den Aristophanes im Urtext und liest ihn zuweilen mit Wieland,
findet, daß „seine Frösche so gut auf unsere Zeit passen", und zitiert
ihn aus dem Gedächtnis und etwas verkehrt auf Griechisch (Brief an Kne-
bel, 4. Januar 1784). Auch die genannten Übersetzungen von Schlosser
und Schütz werden durch Goethe angeregt sein. Aber Neues bringen erst
die 90er Jahre. 1793 ist Schiller in seiner schwäbischen Heimat. Das
Gespräch mit dem Heilbronner Ratsherrn Schübler kommt auf die grie-
chische Literatur. Aristophanes, so zeichnet Schübler Schillers Gespräch
auf, sei ein gar großer Originalkopf. (Man hört die Formulierung der
Geniezeit.) Schützens Ubersetzung der Wolken solle ich lesen; auch werde
dieser eine neue Ubersetzung der Frösche für seine Thalia ihm mitteilen,
546 Deutsche Literatur [2461247]

worin er zeigen werde, daß sich wohl mehr leisten lasse, als Schlosser in
Karlsruhe geleistet habe. - Die angekündigte Übersetzung ist nie erschie-
nen. Ein Größerer griff ein und hob, unterstützt von eben jenem Schütz,
aber doch in ganz neuer Weise mit dichterischer Freiheit das Aristophanes-
verständnis, die Aristophanesaneignung auf eine höhere Stufe: W i e -
1 a n d.
Goethe hat in seiner großartigen Logengedächtnisrede auf Wieland |
(1813) das Wirken dieses im tiefen Grunde friedfertigen und genießeri-
schen Menschen, Schriftstellers und Dichters dargestellt als einen von der
Außenwelt ihm aufgedrungenen Kampf nach zwei Fronten. Man wäge
die Goetheschen Worte genau und ermesse, wieviel goethischer Kampf in
ihnen sich anzeigt, und warum Goethe den ehedem so scharf befehdeten
und innerlich so verschiedenen Mann im Rückblick brüderlich begreifen
und begrüßen konnte. „Er kündigt allem, was sich in der Wirklichkeit
nicht immer nachweisen läßt, den Krieg an, zuvörderst also der platoni-
schen Liebe, sodann aller dogmatisierenden Philosophie . . . Unversöhnlich
arbeitet er ferner dem religiösen Fanatismus und allem was dem Ver-
stände exzentrisch scheint entgegen." N u n aber die andere Seite: „So-
gleich überfällt ihn die Sorge, er möge zu weit gehen, er möge selbst phan-
tastisch handeln; und nun beginnt er zugleich einen Kampf gegen die
gemeine Wirklichkeit. Er lehnt sich auf gegen alles was wir unter dem
Wort Philisterei zu begreifen gewohnt sind, gegen stockende Pedanterie,
kleinstädtisches Wesen, kümmerliche äußere Sitte, beschränkte Kritik,
falsche Sprödigkeit, platte Behaglichkeit, anmaßliche Würde und wie
diese Ungeister, deren Name Legion ist, nur alle zu bezeichnen sein
mögen." So hatte Goethe selbst die „Wirklichkeit" leidenschaftlich um-
faßt und alles Spintisieren über sie gehaßt, nur daß ihm die Wirklichkeit
ein Weiteres, Tieferes und Unergründlicheres war. Und er hat sich selbst
gerühmt, die Deutschen von „Philisternetzen" befreit zu haben, nur daß
er dieses Befreiungswerk mit größerer Unbedingtheit vollzog. „Hierbei
aber", fährt Goethe fort und hebt wiederum aus eigener Erfahrung den
so beschriebenen Kampf über die Ebene des Gewollten und Verstandes-
mäßigen hinauf, „verfährt er durchaus genialisch ohne Vorsatz und Selbst-
bewußtsein." Und nun zeigt Goethe, wie Wieland in Shaftesbury „einen
wahrhaften älteren ZwilKngsbruder im Geist" gefunden habe und durch
ihn bestärkt worden sei, jene Kämpfe nicht trocken und pedantisch zu
führen, sondern mit Heiterkeit, Witz, Geist und Eleganz. Schließlich ist
es die dichterische Einbildungskraft, die ihn über den verständigen Eng-
länder hinausführt zu einem Schaffen, bei dem dann die Franzosen ihm
Helfer werden.
Man wird dieses einfach große Liniensystem, in dem Goethe Wielands
Wirksamkeit darstellt, ohne Zwang auf die des Aristophanes übertragen
können und Wesentliches bei ihm wiederfinden: den Kampf gegen die
Schemen, die die Wirklichkeit verfälschen oder ihm zu verfälschen schei- |
[248/249J Aristophanes in Deutschland 547

nen, als da sind Sophistik, Naturphilosophie, euripideische Dichtung, mo-


derne Musik . . . , den Spott über die Plattheiten des athenischen Spieß-
bürgertums, und diese Kämpfe geführt mit Witz, Geist und dichterischer
Imagination. Und so sähe man, wodurch es Wieland beschieden war,
ein neues Verständnis des alten Komöden zu bewirken. Goethe sieht in
der Aristophanesübersetzung noch einen anderen Trieb wirksam: „Ein
Mann von solchen Talenten aber, predige er auch noch so sehr das Ge-
bührende, wird sich doch manchmal versucht fühlen, die Linien des An-
ständigen und Schicklichen zu überschreiten, da von jeher das Genie sol-
che Wagestücke unter seine Gerechtsame gezählt hat. Diesen Trieb befrie-
digte Wieland, indem er sich dem kühnen außerordentlichen Aristo-
phanes anzugleichen suchte und die ebenso verwegenen als geistreichen
Scherze durch eine angeborene Grazie gemildert zu übertragen wußte."
Gemildert - man beachte, wie der alte Goethe, vielleicht schon allzu ge-
neigt gegebene Grenzen zu respektieren, hier eine Schwäche des gefeierten
Ubersetzers und Dichters fast in einen Vorzug umdeutet.
Es ist sehr lehrreich zu sehen, wie Wielands Urteil über Aristophanes
sich wandelt. Im Agathon von 1766/67 spricht er von dem „asotischen
Witzling Aristophanes", in der zweiten Ausgabe von 1773 gleichbedeu-
tend, nur verständlicher, von dem „liederlichen Witzling". Aber die ge-
sammelten Werke der 90er Jahre bringen die Stelle mit der bezeichnenden
Änderung „der genievollste, witzigste und verständigste aller Possen-
schreiber, Aristophanes". Mittlerweile also hatte Wieland den Aristo-
phanes entdeckt. Die Geniezeit hat ihm dazu verholfen, Goethe insbeson-
dere. Voraussetzung dafür war, daß er des Abstands von der eigenen
Zeit inne wurde. Diese Ferne der Zeiten und Völker fühlbar zu machen,
auf dem notwendigen Wege über die Ferne eine neue Nähe zu gewinnen:
das war Herders Werk gewesen. Dessen Lehre klingt an, wenn Wieland —
in seinem „Offenen Brief über Aristophanes" von 1793, auf den wir gleich
zurückkommen - an Johann Heinrich Voß schreibt: „Erinnern Sie sich,
wie himmelweit das was man damals Komödien nannte, als

Eupolis atque Cratinus Aristophanesque poetae


Atque alii, quorum comoedia prisca virorum est,
für die Belustigung des athenischen souveränen Pöbels an den Dionysien
arbeiteten, von unseren heutigen Lustspielen, besonders unseren beliebten
Familienstücken verschieden war." E r insistiert auf den Gegensätzen von
anständig und unanständig, von Kultur und Sitten „und was | für einen
Unterschied 2400 Jahre in allem diesem machen", auf dem „Charakter
des athenischen Volkes, des lebhaftesten, leichtsinnigsten, frivolsten, in-
konsequentesten, des zugleich klügsten und albernsten, liebenswürdigsten
und unartigsten aller Völker die jemals gewesen sind", auf der Epoche des
peloponnesischen Krieges mit ihren Spannungen und ihrer Verderbnis.
Verdankt Wieland diesen ersten Ansatz zu einem historischen Blick der
548 Deutsche Literatur [249¡250]

Wirkung Herders, so kündigt sich in der Charakteristik des Aristophanes


selbst eine merkwürdige Verschmelzung der Gegensätze an. Man höre
einen Teil des weitgeschwungenen und stark gespannten Satzes: „ . . . die
Komödien oder (um ihnen ihren richtigen Namen zu geben) die Possen-
spiele - freilich Possenspiele eines Mannes von Genie, der in seiner Art
so einzig war wie Shakespeare in der seinigen - so voller Witz und Laune
als keine anderen Produkte des Witzes und der Laune, aber doch Possen-
spiele — Karikaturen, wie sie nur eine Meisterhand zeichnen konnte, die
in jedem Zug den Künstler sehen lassen, dem die wahren Lineamente der
menschlichen Natur bekannt waren, aber doch Karikaturen - kurz die
Komödien des Aristophanes..." Der Mann von Genie, die Meisterhand,
die Zusammenstellung mit Shakespeare: in diesen Formeln spricht die
Geniezeit, eingegangen in den Künstlersinn Wielands. In den Aber, den
Possenspielen, den Karikaturen, hört man das Zeitalter der Vernunft,
hört man noch immer Boileau:

Aux accès insolents d'une bouffonne joie,


La sagesse, l'esprit, l'honneur furent en proie.
Als coincidentia oppositorum stellt sich das Wesen des Aristophanes dem
reifen Wieland dar.
Zwei Antriebe zu seiner Ubersetzungsarbeit nennt er selbst. „Ich
habe von Jugend auf eine natürliche Anmutung zu schweren literarischen
Abenteuern gehabt" - auch seine Shakespeare-Ubersetzung hat er ein
„literarisches Abenteuer" genannt — „und so ist midi denn vorlängst der
Einfall angewandelt, einige Stücke des Aristophanes zu übersetzen, und
zwar (um mir die Arbeit noch schwerer zu machen) in Versarten zu über-
setzen, die den seinigen so nahe kämen, als es die Natur unserer Sprache
und die Grenzen meiner versifikatorischen Fähigkeit immer nur erlauben
würden". Also der Formkünstler in Wieland hat sich geregt. Und das
Formbewußtsein in Deutschland hat nun in den 90er Jahren — man kann
mit Recht sagen durch die Wendung Goethes zur Form, zur Antike, zum
Süden — eine so hohe Bewußtheit erreicht, daß Wieland | nicht mehr auf
die Prosa zurückfallen kann, wie es ihm früher bei Shakespeare begegnet
war, mit jener Folge für das deutsche Shakespeare-Verständnis, die Gun-
dolf uns geschildert hat.
Aber zu diesem Formtrieb gesellt sich ein zweites wesentliches Mo-
ment. „Ich verwandte nun alle Zeit, die mir andere notwendigere Be-
schäftigungen übrig ließen, an die Fortsetzung und Vollendung der Achar-
ner; und was meine Lust zur Sache nicht wenig vermehrte, war die Be-
merkung, daß die seit einigen Jahren vor unseren Augen in Frankreich
gespielte große tragikomische Sansculotten-Farce auf dieses Stück und
noch mehr auf die Ritter (oder, wie der Titel noch richtiger heißen könnte,
Demagogen) und den Frieden eben dieses Dichters ein ganz neues Licht
warf, vielen Stellen gleichsam zum Schlüssel diente, vielen Gemälden und
[250j251] Aristophanes in Deutschland 549

Charakterzügen eine Wahrheit und fraîcheur gab, als ob sie erst gestern
von dem Pariser Volk und den Demagogen, von denen ganz Frankreich
sich so erbärmlich mystifizieren und mißhandeln läßt, kopiert worden
wären." Hier also taucht in der Geschichte der deutschen Aristophanes-
rezeption zum erstenmal das politische Moment entschieden auf. Die
Stücke erhalten „ein ganz neues und eigenes Interesse für den gegen-
wärtigen Moment, ein Interesse, das sie nur vor sechs Jahren noch nicht
gehabt hätten, und das den Aristophanes, wenn eine gute Übersetzung
von ihm für diesen Zeitpunkt erscheinen könnte, zu einem der allgemein-
sten und angenehmsten Lehrbücher machen würde". So in dem Brief an
Voß. Und in der Einleitung zu den Demagogen (den Rittern) setzt er
auseinander, daß „das Totalgemälde, so sie von dem damaligen Zustande
der athenischen Demokratie in der Einbildungskraft des Lesers zurück-
läßt, für kein bloß zum Lachen erfundenes Zerrbild zu halten sei. Das
habe Aristophanes vornehmlich der seit einigen Jahren, durch eine in
ihrer Art einzige Revolution, vor unsern Augen entstandenen französi-
schen Republik zu danken, worin wir diese Nation die Person des aristo-
phanischen Demos und einige ihrer berüchtigsten Demagogen die Rollen
des Paphlagoniers und Wursthändlers, für bloße Anfänger in der demo-
kratischen Kunst, wie sie sind, mit einer Fertigkeit und Gewandheit spie-
len gesehen haben, wodurch sie sogar ihren griechischen Vorgängern und
Mustern selbst den Vorzug streitig machen und wenigstens unseren komi-
schen Dichter gegen allen Verdacht, die Grenzen dessen, was vermöge der
menschlichen Natur möglich ist, überschritten zu haben, völlig sicher-
stellen" (Attisches Museum, 2. Bd. 1798). Neben und mit dem neuen |
Formbewußtsein der 90er Jahre ist es das politische Moment, das das
Aristophanesverständnis auf eine neue Stufe stellt.
Hier sind freilich auch die Grenzen der Wielandschen Kräfte auf-
zuweisen, sowohl seines Formtriebes wie seines politischen, und damit
die Grenzen seiner Übersetzerleistung, wobei wir von den Mängeln des
philologischen und geschichtlichen Einzelverständnisses gern absehen
können. Wieland ist wählerischer Liebhaber, aber nicht leidenschaftlicher
Bewerber. Sein Formwissen ist noch ganz das des Rokoko, wenn auch
angefrischt durch die neue geistige Bewegung der Hamann Herder Goethe
Schiller. Ihm hat die geistige Revolution nicht das alte Formsystem zer-
brochen. Also war für ihn auch die neue mächtigere Formschöpfung nicht
da, mit der Goethe die geistige Revolution beendete wie Napoleon die
politische. „Etwas Gewagtes, aber (meinem Gefühl nach) beinahe Un-
nachläßliches war es, den Aristophanes nicht nur in seinen gewöhnlichen
Jamben, sondern auch in seinen Trochäen, Anapästen und achtfüßigen
jambischen Versen, soviel es mir möglich sein wollte, nachzubilden oder -
nachzupfuschen. Denn, die Wahrheit zu sagen, bei den Anapästen, zu
welchen unsere Sprache ganz und gar nicht geeigenschaftet ist, verdient
mein Versuch kaum einen bessern Namen." Diese Selbstverurteilung ist
550 Deutsche Literatur [2511252]

sehr berechtigt, die Begründung aus dem Wesen der deutschen Sprache
sehr unberechtigt. Etwas lesbarer wurden die Langzeiten, als Wieland
später in seiner Übertragung der Wolken den schon geläufigeren, aber
darum nicht passenderen Hexameter einsetzte. Aber das ist nicht das
Wichtigste. Gerade wenn man die Verse liest, die er völlig zu beherrschen
meint, gleich bei den „gewöhnlichen Jamben", kommt man an die Grenzen
seiner Leistung. Man höre den Anfang seiner Acharner:

Wieviele Dinge nagen mir am Herzen!


Wie einzeln sind hingegen die frohen Augenblicke!
Kaum zähl ich ihrer viere; jene sind
Wie Sand am Meer unzählbar . . .

und vergleiche damit, wenn nicht den Originaltext, so die Droysensche


Übersetzung:

Wievielerlei Ding nicht hat mir schon mein Herz gekränkt,


Doch gefreut wie weniges, herzlich weniges, viererlei,
Hingegen geärgert Sand-am-Meere-malerei!

Wieland hat den griechischen Trimeter in den Blankvers umgesetzt. Der


Trimeter war gleichsam noch nicht entdeckt. Das Handbuch der Metrik |
von Gottfried Hermann, das im Briefwechsel zwischen Schiller und
Goethe eine Rolle spielt, erschien 1799. 1800 in Goethes Helena wird der
Trimeter zum erstenmal in die lebendige Dichtung eingeführt: „Ihre neue
Vorlesung", so schreibt Schiller an Goethe am 26. September 1800, „hat
mich auf die Trimeter sehr aufmerksam gemacht, und ich wünschte in die
Sache mehr einzudringen". Und er erbittet „den Hermann von den grie-
chischen Silbenmaßen". Im nächsten Jahr bringt die Jungfrau von Orleans
Trimeterszenen. Man sieht, wieviel Goethe und in seiner Nachfolge
Schiller sich die Form des Dialogverses kosten ließen, und man kann an
der Helena bis ins einzelne erkennen, wie der Meister immer lernend
und formend an diesen Versen arbeitete. Daß ein aristophanischer Tri-
meter ein festes Gebilde ist, und daß Trimeter sich an Trimeter fügt wie
in einer griechischen Mauer Quader an Quader, das ahnt Wieland nicht.
Flüchtig geht ihm die Rede über die Grenzen der Verse dahin, in
elegantem, der Alltagsrede allzu angenähertem Fluß. Und ebensowenig
spricht zu ihm die Fülle und Kraft, das Malerische und Plastische der
Sprache, kurz das Sprachschöpferische des Originals. Im ersten Vers
hat auch Droysen das ursprünglich heftige und dadurch komische Bild
nicht herausgebracht, fast weniger noch als Wieland: Wieviele Dinge
haben mir schon einen Biß ins Herz gegeben! Die komische Dreistufigkeit
in Vers 2 geht bei Wieland ganz verloren, von dem kühn erfundenen
Multiplikationswert in Vers 3, dem Parallelismus gefreut — geärgert,
dem Schlußreim viererlei - maierei, von alledem weiß er nichts wieder-
[2521253] Aristophanes in Deutschland 551

zugeben. Er hat gewiß nach seiner Ubersetzungsmaxime, wie Goethe


sie charakterisiert, den Autor der fremden Nation „zu uns herüber ge-
bracht, tief überzeugt, daß nicht das Wort sondern der Sinn belebe". E r
hat als erster ganz von fern auch ein Bild des rhythmischen Kunstwerks
vermittelt, und er ist dabei unpedantisch und weltmännisch zu Werke
gegangen. Aber er spielte über den Text hin und drang nicht in ihn ein,
sah ihn als etwas elegant und locker Geknüpftes, nicht als etwas in
strenger Meisterschaft Gefügtes - wobei wieder zu bedenken ist, daß
heute durch die Arbeit vieler Generationen sich schon f ü r den Anfänger
manches von selbst versteht, was damals auch für den reifen Künstler
unverstanden blieb.
Neben Wielands Formensinn, so wurde oben klar, war die franzö-
sische Revolution und die Art wie er sie erlebte bestimmend f ü r die Ein-
bürgerung des Aristophanes. Goethe deutet das Politische in Wieland
durch den Hinweis auf „die deutsche Reichsverfassung, welche so viele
kleine Staaten in sich begriff und darin der griechischen ähnlichte". Die |
Jugend einer solchen Stadt „ w a r frühzeitig aufgeweckt und aufgefordert
über Staatsverhältnisse nachzudenken. Und so w a r auch Wieland, als
Kanzleiverweser einer der kleinsten Reichsstädte, in dem Falle Patriot
und im besseren Sinne Demagog zu sein". N u n kommt die große franzö-
sische Revolution, über die Wieland als Herausgeber des Teutschen Merkur
„Gelegenheit hatte, ja genötigt war, sich monatlich aus dem Stegreife
vernehmen zu lassen". Wach und lebhaft, teilnehmend und skeptisch,
warnend und prophezeiend begleitet er die Ereignisse. Und so bekommt
ihm Aristophanes einen neuen Sinn, wie er ihn f ü r niemand vorher gehabt
hatte. Doch nun ist es nicht schwer, auch hier seine Grenze aufzuzeigen.
Wenn er im Oktober 1789 eine „kosmopolitische Adresse an die franzö-
sische Nationalversammlung" richtet, so spricht er von „den tragi-
komischen oder komitragischen Haupt- und Staatsaktionen, die auf dem
allgemeinen Weltschauplatze aufgeführt werden", von dem „großen
Drama, welches E w . Hochmögenden dem übrigen Europa auf Unkosten
Ihrer Nation zum Besten zu geben geruhen". E r selbst sei dabei „ein
einzelner unbedeutender Weltbürger", der aber gleichwohl „die Ehre
habe ein Mensch zu sein und als solcher genötigt ist an allen mensch-
lichen Dingen mehr oder weniger Anteil zu nehmen". So habe er „von
dem Augenblicke, da der Vorhang aufgezogen wurde, bis zu dieser
Stunde einen der aufmerksamsten und wärmsten Zuschauer abgegeben".
Man beachte, wie sich ihm der Bilder- und Formelbereich des Theater-
wesens aufdrängt, und wie er sich selbst in Parkett oder Loge sitzend
vorkommt. Er „nimmt weltbürgerlichen Anteil an dem Wohl und Weh
der sämtlichen Einwohner von Europa" und richtet seine klugen und
bedenklichen Fragen an einen Vulkan im Augenblicke der Eruption.
So erfährt also Wieland auch im Aristophanes das Politische mit
einer Deutlichkeit wie keiner vor ihm. Aber er erfährt es als ferner
552 Deutsche Literatur [253182J

Zuschauer. Kleon und der Wursthändler, die Kriegsverlängerer und die


Friedenssüchtigen, die Adeligen und die Demagogen — all das begegnet
ihm nicht im eigenen Leben zu Liebe oder Haß, sondern fern jenseits
des Rheins sieht er Dinge sich vollziehen, die sich von Athen her komisch
glossieren lassen - die Ritter sind „mit den treffendsten Anspielungen
auf die sogenannte französische Republik angefüllt" — und gleichzeitig
erhält das athenische Geschehen durch das zeitgenössische ein über-
raschend lebendiges Gesicht. |
1794 erschien gleichzeitig mit Wielands Übersetzung der Acharner
Friedrich Schlegels Aufsatz: Vom ästhetischen Werte der griechischen
Komödie, — „eine Rhapsodie", wie Friedrich an den Bruder schreibt
(27. Oktober 1794), „die künftig einen Teil der Geschichte der grie-
chischen Komödie ausmachen wird". Wie bei Wieland die dichterische, so
ist bei Schlegel die erkennende Aneignung auf einer neuen Stufe gegen-
über allem Früheren. J a als Erkennender und mit seinem verborgenen
Programm hat der 22jährige Schlegel den 60jährigen Wieland schon hinter
sich gelassen.
Schlegel geht aus von der Unfreiheit des komischen Genies, das sich
damals nur in der gebändigten Fröhlichkeit des bürgerlichen Lustspiels
zu bewegen verstehe: einer Mischform aus komischem und tragischem
Drama, welche sich gewöhnlich mit bescheidenem Stolz den ersten Platz
über beiden anmaße. Diese sogenannte Komödie, deren großes Beispiel
Lessing gegeben, deren geringe Nachfahren Iffland und Kotzebue sind,
entthront er und erhebt an ihre Stelle die alte griechische Komödie
als dem Ideal des reinen Komischen entsprechend. Man muß sich klar-
machen, was er damit tut. Die klassische Poetik seit Aristoteles hatte
die alte politische Komödie als Vorstufe der neuen bürgerlichen gesehen.
Die Geniezeit hatte die Genialität des Aristophanes entdeckt. Doch lese
man in Sulzers Theorie der schönen Künste, die in den 70er Jahren
erschienen war, in den 80er und 90er neu aufgelegt wurde, den Artikel
„Aristophanes" nach. Dort wird wohl rühmend anerkannt „der un-
erschöpfliche und alles durchdringende Witz, die höchste Gabe zu spotten,
darin ihm weder Lucian noch unter den Neueren Swift noch irgend
jemand gleichkommt; die Sprache und der Ausdruck, den er im | höchsten
Grad der Vollkommenheit besessen hat; die riesenmäßige Stärke, womit
er die Demagogen in Athen und oft das ganze Volk selbst angegriffen
hat. Es wäre vielleicht nicht übertrieben, wenn man sagte: daß in einer
einzigen von seinen Komödien mehr Witz und Laune ist, als man auf den
meisten neueren Bühnen in einem ganzen Jahr hört". Dann kommen die
Aber: „Aber in einem Stück sind doch mehr Grobheiten und Zoten
als man itzt auf der schlechtesten Hanswurstbühne duldet. Man kann
diesen Dichter seiner Talente halber kaum genug loben und wegen des
Mißbrauchs, den er bisweilen davon gemacht hat, kaum genug tadeln."
Wozu sich der Vorwurf barbarischer Ordnungslosigkeit in Handlung und
[82¡83] Aristophanes in Deutschland 553

Gestalten gesellt. Mit dieser Wertung des Zwar - Aber, des Nochnicht,
die im Grunde aristotelisch ist, hat Schlegel gründlich gebrochen.
Zwei Grundbegriffe sind es, an denen er sich vorantastet mit sicherem
Blick, wenngleich noch jugendlich unsicherem Gang: die Freiheit und
die Freude — und man spürt, wenn man diese Begriffe betrachtet und
in manchem Satz der Abhandlung, wie die Jugend durch Kant, Schiller
und die französische Revolution erregt ist: „Die Griechen hielten die
Freude heilig wie die Lebenskraft. Ihre Komödie ist ein Rausch der
Fröhlichkeit und zugleich ein Erguß heiliger Begeisterung; ursprünglich
nichts anderes als eine öffentliche religiöse Handlung, ein Teil von dem
Feste des Bakchus, welcher Gott ein Bild der Lebenskraft und des
Genusses w a r . " Also auf den dionysischen Urgrund der Komödie dringt
Schlegel durch. Und wie später bei Nietzsche ist ihm das nicht bloß
historische Feststellung, sondern offenbar will er etwas freimachen, was
gehemmt ist. Freude - Hedone würde man auf griechisch sagen — ist ein
Grundtrieb des Daseins selber, und darum ist sie gut. Sie ist verwandt
mit Leben, Seele, Liebe. Schlegel spricht leise, aber er blickt tief, wenn
er sagt: „Alles Leben deutet auf seine Wurzel und auf die Frucht seiner
Vollendung; und der höchste Moment der Lebenskraft ist seine Ver-
doppelung, der Genuß eines homogenen Lebens." So dringt das Denken
in die Tiefen des Daseins bis zur zeugerischen U r k r a f t und ahnt im
höchsten Uberschwang ein Jenseits aller menschlichen Beschränkung.
Damit sind wir bei dem andern Leitbegriff, der Freiheit. Schöne
Freude muß frei sein. Und darum ist unbedingte Freiheit das Wesen der
wahren Komödie, das sie nur einmal, in Athen, genossen hat. Auf ihren
religiösen Ursprung dringt Schlegel auch hier wieder durch. Aus dem
Dichter und seinem Chor redet der Gott der Freude selbst. So werden |
sie zu heiligen und unverletzlichen Personen. Die Komödienfreiheit hat
also ihren letzten Ursprung im Kult, und dieser Ursprung hält sich durch,
als das religiöse Institut auch ein politisches wird. „Unter dem Deck-
mantel der Religion und der Politik erschlich sich die Kunst das, worauf
sie ein ewiges Recht hat - unbeschränkte Autonomie." Man verspürt
in solcher Formulierung starke Restbestände eines ästhetischen Rationalis-
mus, der den Rückgang auf die Religion nicht radikal genug vollzieht.
Darüber darf man nicht vergessen, mit welcher Energie dieser Rückgang
doch hier gewonnen und von da aus die alte Komödie anerkannt wird als
„ein unübertreffliches Muster schöner Fröhlichkeit, erhabener Freiheit
und komischer K r a f t " .
Aber in ihrer Freiheit liegt auch die Gefährdung, „aus ihrem
Ursprünge und Charakter erklären sich sehr leicht ihre vorzüglichsten
Fehler: Rohigkeit, ehe der öffentliche Geschmack gebildet, Verderbtheit,
nachdem die öffentliche Sittlichkeit entartet w a r " . Man hört einen
Augenblick die Aufklärungsmoral Sulzers und Wielands. Aber weit wich-
tiger ist dem jungen Schlegel und weit wesentlicher ist als Leistung sein
554 Deutsche Literatur [83184]

Kampf gegen die falschen Vorurteile. Das eine ist jenes ständisdie Vor-
nehmtun, das etwa bei Wieland in der Form des bürgerlich gewordenen
Rokoko redet: die Komödienschreiber hätten mehr für die roheren Volks-
klassen, für die Bewohner des Piräeus, Handwerker, Seeleute und
Matrosen geschrieben als für den gebildeten und edleren Teil ihrer Nation.
Für diese Gesinnung hat Herder nicht gelebt. Der junge Schlegel aber
hat jene ursprüngliche Lust erlebt und anerkannt, vor der alle ständischen
Grenzen fallen, noch radikaler als sie in der Seance du jeu de paume
gefallen waren: „Die Freude und die Schönheit ist kein Privileg der
Gelehrten, der Adeligen und der Reichen, sie ist ein heiliges Eigentum
der Menschheit." Die griechische Muse sprach zum Volk. „Freilich über-
traf auch der gemeine Mann zu Athen nicht bloß an natürlichem Geist
und geselliger Bildung sondern noch weit mehr an Freiheit und Energie
des sittlichen Gefühls alle seinesgleichen."
Der andere gewöhnliche Vorwurf ging gegen die angebliche Zu-
sammenhangslosigkeit des dichterischen Baues. Wir haben schon ange-
deutet, daß er sich aus Sulzers Aufklärungsästhetik belegen läßt: „Damals
scheint die Komödie noch keine ordentliche Gestalt gehabt zu haben."
„Die Form seiner Komödie ist noch sehr barbarisch und mehr ein Possen-
spiel als eine Handlung, in welcher sich Begebenheiten, Unternehmungen |
oder Charaktere entwickeln." Hier greift Schlegel ein mit seinem Begriff
der Freiheit. Jene angebliche oder wirkliche Zusammenhangslosigkeit, die
Parabase, die Durchbrechung der komischen Illusion, alles das findet
seine tiefste Rechtfertigung in dem Wesen der komischen Ekstasis. Nicht
Ungeschicklichkeit ist hier zu rügen mit der überlegenen Kunstrichter-
miene einer sich fortgeschritten dünkenden Zeit, sondern anzuerkennen
ist besonnener Mutwille, überschäumende Lebensfülle. Und gerade das,
was jene rationale Kunstkritik vermißt, „dramatische Vollständigkeit",
ist der reinen Komödie unangemessen, weil unter solcher Strenge die
Freude und die Freiheit leiden müßten. Komödie ist höchster Rausch
des Lebens.
Es war ein kühnes Unternehmen des 22jährigen, die seit Aristoteles
bestehende und durch seine Autorität gestützte Wertung umzukehren:
die alte Komödie aus einer unvollkommenen Vorstufe des weltgültigen
Lustspiels zum Rang der genialen Komödie schlechthin zu erheben. Daß
hier etwas ganz anderes als kühle sachliche Erkenntnis am Werke ist,
wird noch klarer aus einigen bisher übergangenen Sätzen. Der junge
Literat richtet den Phantasieblick in eine Zukunft, da die Komödie „das
vollkommenste aller poetischen Kunstwerke sein wird; oder vielmehr
an die Stelle des Komischen würde das Entzückende treten und, wenn es
einmal vorhanden wäre, ewig beharren". Die Komödie steigert sich phan-
tastisch über sich selbst hinaus: „Wenn auf solchem Wege nur einige
Schritte getan sind, so läßt sich alles hoffen." In dieser Zukunftsvision
verrät sich ein Enthusiasmus, der allein aus geschichtlichem Nachdenken
[84185] Aristophanes in Deutschland 555

nicht zu erwachsen pflegt. Ob er nicht eher im Geheimen dieses Nach-


denken geleitet hat? Was ist das f ü r ein Zukunftsland, das hier echt
romantisch postuliert wird? Schlegel selbst hat rückschauend in seiner
katholischen Zeit diesen Zukunftsblick gedeutet als ahndende Antizipation
der Idee, die er später bei Gelegenheit des Calderon als christliche Ver-
klärung der erleuchteten Phantasie bezeichnet habe. Das ist gewiß ein
willkürliches Hineindeuten, bestimmt den Bruch dieses Lebens zu über-
tünchen. Aber als eine Antizipation erscheint es auch uns. Was ist das
„vollkommenste aller poetischen Kunstwerke" anders als jene „progres-
sive Universalpoesie", die Schlegel vier J a h r e später in dem berühmten
i i 6. Athenäumsfragment, dem Programm der Romantik, zu umschreiben
versucht? Heben w i r aus dem schillernden Allgemenge nur einige Worte
heraus, die auf die einfacheren Gedankengänge von 1794 zurückzuweisen |
scheinen: „ D i e romantische Poesie ist unter den Künsten, was der Witz
der Philosophie ist." Sie soll „den Witz poetisieren und die Formen der
Kunst . . . durch die Schwingungen des Humors beseelen". M a n meint
zu verstehen, wohin schon in dem Komödienaufsatz der Weg ging, auf
dem es keinen besseren Wegweiser, kein vollkommeneres Vorbild gibt
als die alte griechische Komödie. M a n muß wohl einer Fata Morgana
nachjagen, um auf der Erde einen großen Fund zu tun. Friedrich Schlegel
erphantasierte sich die Universalpoesie und gelangte darüber zu einer
neuen Sicht auf Aristophanes, wie er sie dann noch einmal in dem Gespräch
über Poesie (1800) ausspricht: „Eine verschwenderische Fülle von Erfin-
dung wurde hier als Rhapsodie kühn hingeworfen mit tiefem Verständnis
im scheinbaren Unzusammenhang." Was Friedrich entdeckt hat, w i r d
dann später der Bruder August Wilhelm in seinen Wiener Vorlesungen
über dramatische Kunst und Literatur (gehalten 1808, gedruckt 1809)
- abgewandelt, erweitert, auch verweichlicht — v o r die europäische
Öffentlichkeit bringen.

Der Leistung Wielands und Friedrich Schlegels f ü r Aristophanes


haben die folgenden J a h r e nichts von ähnlichem R a n g an die Seite zu
stellen. Tiecks Märchenkomödie verdankt dem Aristophanes sehr wenig,
am wenigsten die romantische Selbstironie, die sie ihm zu verdanken
glaubte. Aristophanes verdankt der Übersetzungsprobe A . W. Schlegels
und den Teilübertragungen der großen Philologen Friedrich August Wolf
und Welcker immerhin die Einsicht: vor dem neuen Form wissen, das
Goethe um die Jahrhundertwende den Deutschen gebracht, könne
Wieland nicht bestehen, dessen Wolf als seines „einzigen trefflichen V o r -
gängers" gedenkt. Welcker hat 25 Jahre später, als Droysen ihm seinen
Aristophanes schickte, die eigene Ubersetzung leichthin preisgegeben:
„Meine eigene Ubersetzung kenne ich jetzt nicht mehr, nur weiß ich,
daß sie nicht gedruckt hätte werden sollen" (Brief an Droysen). Wolfs
„Wolken" sind von ganz anders souveräner A r t und machen sich H o f f -
556 Deutsche Literatur [85j86]

nung auf „Wielands, Goethes und ähnlicher Richter Zufriedenheit". Vor


seiner „herrlichen Übertragung" verzweifelte selbst der unerschrockene
Droysen „oft genug so ganz an der Fähigkeit etwas Besseres aufzufinden,
daß er Wolfs eigenste Worte unverändert aufnahm". In Wolf nämlich
verband sich „die kecke Grandiosität seiner Laune und die attische Kühn-
heit seines allseitig beweglichen und freien Sinnes" (so Droysen) mit
einem | bedeutenden Formwissen, das er dem Dichter der „Helena" ver-
dankt. Goethe selbst, dem Wolf die noch unveröffentlichte Übersetzung
1 8 1 0 in Karlsbad mitteilte, prophezeite ihr, daß sie „ein bedeutendes
Meteor an unserm philologischen und rhythmischen Himmel" sein werde
(an Sartorius, 19. Juli 1810). Um mehr zu werden, dazu fehlte ihr vor
allem die politische Schwerkraft, so daß sie in der Auseinandersetzung
des deutschen Geistes mit Aristophanes keine Epoche macht. Epoche
machte und zwar im allereigentlichsten Sinn in den 90er Jahren die
französische Revolution und macht jetzt im zweiten Jahrzehnt des
19. Jahrhunderts Napoleon.

Wiederum stößt eines der außerordentlichen deutschen Formtalente


mit dem großen politischen Geschehen der Zeit zusammen. Friedrich
Rückert, der mainfränkische Student, Mußjurist, Philolog aus Leiden-
schaft für Sprache und Dichtung, sieht 1809 seinen Eintritt ins öster-
reichische Heer durch die Niederlage von Wagram vereitelt, findet 1 8 1 3
wiederum den Anschluß an Preußen nicht. Neidisch blickt er auf den
verehrten Fouque, der in „dem Mittelpunkt nicht nur einer eigenen unbe-
grenzten poetischen Welt, sondern auch eines so gewaltig bewegten
öffentlichen Lebens" steht, während ihn selbst seine „so sehr nebenaus
geschobene äußere Lage an den Herrlichkeiten der Zeit auch nur den
entferntesten Anteil zu nehmen verhindert hat". „ J a wenn ich selbst als
Preuße das Vaterland hätte befreien können, so würde ich einen andern
Mund zum Singen auftun." Also flüchtet er sich in die Dichtung, stellt
wenigstens seine Geharnischten Sonette ins Feld und versucht sich am
politischen Lustspiel. 1 8 1 5 erscheint von der geplanten Trilogie
„Napoleon, politische Komödie in drei Stücken von Freimund Reimer",
das erste Stück Napoleon und der Drache, das Rückert schon im Oktober
1 8 1 4 an Fouque als fertig, „aber noch ganz ungehobelt" gemeldet hatte.
Das zweite Stück folgte sehr verspätet und ermattet 1 8 1 8 . Daß das
dritte gar nicht mehr erschienen ist, wird man nicht bedauern.
Rückert hatte sich 1 8 1 1 in Jena habilitiert und gleich im ersten
Semester eine Vorlesung über Aristophanes' Vögel gehalten. Neben
Aristophanes war damals Calderon sein Meister. Beide hatte die Roman-
tik auf den Schild gehoben. An beiden war es für Rückert gewiß mehr
als alles andere die Fülle der schwierigen Formen Rhythmen Reime
Assonanzen, was ihn begeisterte. Dabei werden ihm Wieland und die
Schlegel das Auge geöffnet haben für die politischen Kräfte des Aristo-
[86188] Aristophanes in Deutschland 557

phanes. Was ihm | im Leben versagt ist, flüchtet sich in die Poesie, und
dieser im Grunde unpolitische und formenschwelgerische Poet glaubt sich
eine Weile zu politischen Komödien berufen, ohne Bühne, ohne Publikum,
ohne eigentlich dramatische Kräfte.
Napoleon und der Drache ist kein Spottgedicht auf Napoleon sondern
eine komisch-allegorische Darstellung der französischen Revolution, wie
sie gebändigt wird durch ihn. Der Geist der Zeit reitet auf dem Storch
über die Welt, auch über die Insel Korsika. Korsika hat geträumt:
Lange kreist' es mir im Busen furchtbar tosend, endlich brach
Aus des Leibs gesprengtem Schlosse es hervor als ein Vulkan.
Ja, ich sah, was ich geboren ein Vulkan wars, und ich sah,
Wie er Rauch und Schlacken wirbelnd, mit entsetzlicher Gewalt
Unten schütterte den Boden, oben finsterte den Tag.
Der gallische Hahn brütet einen Basilisken aus. Freiheit und Gleichheit
tanzen um den Freiheitsbaum mit Ohnehos und seinen Söhnen. Napoleon
kommt aus Ägypten, verschlingt den Drachen, stürzt den Geist der Zeit
aus seiner Herrschaft und setzt sich als der wahre Geist der Zeit an dessen
Stelle. In der Nacht bleibt er allein, und das Stück schließt mit seinen
Worten:
Was Licht in der Luft? Was Glanz im Azur?
Die innere Glut ist selbst sich genug.
Ausbreche du Glut aus Kerkersverschluß
Durch dampfenden Schlund, . . . und fülle mit Dunst
Jetzt Himmel und Luft!
Daß irdisches Rund ein dunkeler Wust.
Kein leuchtender Punkt, kein Strahl, kein Funk'
In Höhe und Kluft, als in flammender Lust
Ich einziger nur, mit schrecklichem Wurf
Aus vulkanischer Brust ausschleudernd Wut
In die Welt voll Furcht!
So stehe ich herrschend im Dunkeln.
Es ist leicht und zwecklos, bei allem Klang der Töne die mangelnde
dramatische Kraft zu tadeln oder das Ausgedachte des allegorischen
Apparats. Wichtiger ist, daß hier zum erstenmal eine Dichtung auftritt,
die schon im Titel den Anspruch erhebt, eine politische Komödie zu sein,
auftritt in einem großen Moment der Nation als Waffe gegen ihren
größten Feind. Blieb freilich dem Anspruch die letzte Erfüllung versagt,
so waren, wie die ausgehobenen | Proben zeigen, rhythmisch-sprachliche
Mittel eingesetzt, die weit über alles Wielandische hinausgingen. Trochä-
ische, jambische, anapästische Langzeilen und anapästische Systeme traten
aus dem Aristophanes in die deutsche Poesie ein, gehoben durch ein
virtuoses Spiel Calderonscher Assonanzen. Dagegen mußte alle Uber-
558 Deutsche Literatur [88189]

setzungsarbeit verblassen, mit der eben noch die Philologen Wolf und
Welcker über Wieland hinauszukommen versucht hatten. Jetzt war ein
ursprünglicher produktiver Formensinn auf Aristophanes getroffen und
hatte in dessen Gefolgschaft die erste politische Komödie erzeugt.

Wie sie auf Platen gewirkt hat, der ein Schüler des Formkünstlers
wie des Orientalisten Rückert war, erfahren wir aus seinem Tagebuch
doch wohl nicht vollständig: „Zuerst lasen wir Friedrich Rückerts aristo-
phanische Komödie über Buonaparte. Sie mag geistreich sein und ist in
jedem Falle recht künstlich. Aber poetische Anlage scheint mir darin
nicht entwickelt" (13. April 1818). Das „Künstliche" wird schon in halber
Anerkennung gesagt und war das letzte, was einem Platen gegen den
Geschmack sein konnte. Die Mängel, zumal des zweiten Teiles, konnten
ihm nicht entgehen. Aber ob er wirklich — wie sein neuester Biograph
behauptet - acht Jahre später ganz sollte vergessen haben, daß ihm die
erste deutsche Aristophaniade begegnet war? Weit glaublicher, daß dieser
Anstoß geheim in ihm fortgewirkt hat. Und vielleicht läßt sich das sogar
am einzelnen zeigen. Man höre die Anapäste, mit denen Rückerts Geist
der Zeit apokalyptischen Abschied nimmt:

So hülle nun, Tag, die Stirn dir in Nacht


Und Sonne den Glanz ins Trauergewand;
Ihr Stern', entfallt dem azurenen Plan,
Löscht eueren Strahl in Dunst und Dampf,
Und, o Mond du, die Lamp'!
Auslösche, was Macht zu leuchten noch hat,
In Meer und Land, in des Erdballs Mark;
Und Menschengedank', auslösch' er in Nacht!
Daß düster und schwarz Nadit, nidits als Nacht,
Mit giftigem Qualm von Achse zu Achs'
Umlagre das All!
So gehe ich in die Verbannung. |
Können die Anklänge in der Verhängnisvollen Gabel zufällig sein, wenn
es dort (im 2. Akt) in demselben anapästischen Metrum heißt:

Eh kehre zurück und verderbe die Welt


Die titanische Brut, die unendliche Nacht
Und das uranfänglidie Chaos!
und wenn in dem großartig programmatischen Schluß des ersten Akts,
der ersten „Parabase", dieselbe apokalyptische Stimmung und das bizarre
Bild von den verlöschenden Lampen des Himmels wiederkehrt:
Weltgeheimnis ist die Schönheit, das uns lockt in Bild und Wort.
Wollt ihr sie dem Leben rauben, zieht mir ihr die Liebe fort;
[89190] Aristophanes in Deutschland 559

Was noch atmet, zuckt und schaudert, alles sinkt in Nacht und Graus,
Und des Himmels Lampen löschen mit dem letzten Dichter aus!
Die Anklänge an Rückert sind gewiß gewollt, und ganz sicher ist dies:
nach Rückerts politischer Aristophaniade sind Platens Literaturkomödien
der nächste folgerechte Schritt der deutschen Dichtung auf Aristophanes zu.
Platen ist der einzige unter den großen deutschen Dichtern, in dessen
Leben Aristophanes Epoche macht. Im Jahre 1826, in dem er alles was
er bis dahin geschrieben als „Pfuscherei" verdammt, legt er zwischen
sich und Deutschland die Alpengrenze, zwischen sich und seine dramatische
Widerwelt, aber auch zwischen sich und seine eigene Vergangenheit die
erste Aristophaniade. Sie ist als bitterer Abschied gemeint:
Wer Schönes bildet, kann dem Preis entsagen,
Er kann ein Land, das ihn verkennt, vermissen.
Und:
Gönne das Geschick dem Dichter nur den Wunsch, für den er glüht,
Bald sich in ein Land zu flüchten, wo die Kunst so reich erblüht,
Bis zuletzt die deutsche Sprache seinem Ohre fremder tönt,
Eine Sprache, die sich ehmals unter seiner Hand verschönt.
Als er dann in Italien Fuß gefaßt hat, sendet er als erstes großes Werk
den Romantischen ödipus über die Alpen. Und hier ist besonders deutlich,
wie die Komödie Stufe sein soll zum Höheren, zu der ersehnten Tragödie:
Doch unser Poet, seit Jahren erwägt sein Geist die gefährliche Laufbahn:
Was andern ein Spiel bloß dünkt, was leicht wie den Schaum von der
Fläche sie schöpfen - |
Er findet es schwer, ihm liegt es so tief, ja tief wie die Seele des Tauchers!
Noch stets mißtraut er der eigenen Kraft! Sechs Lustra begehrten die
Griechen
Von dem Jüngling, der zu dem Wettkampf sich, zu dem tragischen
Kampfe sich anbot:
Kaum hat sie erreicht der Poet; drum gönnt
Langatmende Muße dem Wanderer, der
An des südlichen Meers Felsufer (da schon
Das Gespann des Apoll in die Wag' eintrat)
Sturmwinde belauscht, Anapäste betont
Und Erfindungen denkt,
Zu belustigen Krethi und Plethi.
Der Name Aristophanes begegnet in Platens Memorandum meines
Lebens zum erstenmal 1822: „Zu dem was ich in der letzten Zeit gelesen
habe, gehört Byrons Kain und Harold, sodann einige Stücke von Aristo-
phanes in der herrlichen Vossischen Übertragung", die 1821 zu erscheinen
angefangen hatte. „Herrlich" kam sie ihm vor trotz ihrer Leblosigkeit,
560 Deutsche Literatur [90j91]

weil sie ganz sicher im formal Metrischen ihm den Komiker in seinem
erstaunlichen Formenreichtum bekannt machte, sie allein ihn bekannt
machen konnte. Dann wendet er viele Arbeit aufs Griechische und notiert
einige Wochen später, daß er sich alle schwierigen oder merkwürdigen
Stellen in den Schriftstellern anstreiche, die er am meisten liebe. „Es sind
deren neun: Homer, Herodot, Pindar, Anakreon, Aeschylus, Sophokles,
Aristophanes, Theokrit und die Bacchantinnen des Euripides." Aber bald
engt diese Schar sich ein, und in den Aphorismen besonders über
dramatische Kunst, die er zwei Jahre später niederschreibt, stehen die
bekennerhaft programmatischen Worte: „Nur derjenige, der Form und
Sprache vollkommen überwunden hat, wie wir es bei Sophokles, Aristo-
phanes, Calderon sehen, darf behaupten, daß er durch und durch Künstler
sei. Die höchste Vollendung der Form ist die Schönheit selbst und fällt
mit der Seele der Kunst in eins zusammen." Aus dieser Grundüberzeugung,
das heißt aus solcher inneren Verwandtschaft, gelingt es Platen als erstem,
die geniale Formkunst der altgriechischen Komödie in sich lebendig zu
erwecken und sehr bald auch nachbildend der deutschen Dichtung einzu-
pflanzen. Der Stolz ist durchaus berechtigt, mit dem er während der
Arbeit an der Verhänignisvollen Gabel in sein Tagebuch schreibt: „Nie-
mals ist eine solche Komödie in irgend einer anderen Sprache | gedichtet
worden und ist auch in bezug auf die Form nur in der deutschen möglich"
(14. April 1826).
Das höchste Formkunstwerk - aber Formkunstwerk ist eine Tautolo-
gie, das höchste Kunstwerk also war für Platen das Drama. Der alte
Gedanke der deutschen Nationalbühne, dem Lessing dient, von dem
Wilhelm Meister träumt, dessen philosophische Begründung Schiller
schreibt, den Goethe als Weimarer Theaterleiter gegen alle Widerstände
zu verwirklichen trachtet - dieser Gedanke lebt auch in Platen. „Das
Theater", so beginnt er jene Aphorismen über dramatische Kunst, „muß
durchaus als Nationalangelegenheit behandelt werden, wenn es gedeihen
soll. Es muß zuerst der Grundsatz aufgestellt werden, daß nur die Poesie
das Recht habe, auf dem Theater einer Nation zu erscheinen". „Die
poetische Form muß als wesentlich festgesetzt, ein ganz in Prosa oder in
stümperhaften Versen und Reimen geschriebenes Drama müßte zurück-
gewiesen werden, auch wenn es Genie verriete. Es kann dem Genie selbst
kein größerer Dienst erzeigt werden, als es zur höchsten Vollendung
anzureizen." Und dann folgen die Sätze über Sophokles, Aristophanes,
Calderon. Erst aus dieser Gründersehnsucht begreift man den Haß gegen
die Schicksalstragödie, gegen Immermanns falsches Shakespearisieren und
überhaupt gegen die Versudelung der deutschen Bühne. Und man begreift,
wie im Kampf um ihre Reinigung Aristophanes Vorbild wurde, der große
strenge Formkünstler, der Nationaldichter und der Kämpfer zugleich.
Denn Platen konnte auch als Kämpfer zuletzt nur Künstler sein wollen,
und so trieb ihn der natürliche Drang zu dem reizenden Lied der Thalia,
[91192] Aristophanes in Deutschland 561

Weil keins, wie es scheint, mehr umfangsreich, weil keins die gesamte des
Wohllauts
Tonleiter erklimmt, von der Flöte hinauf zu dem schrecklichen Schall der
Posaune.
(Parabase von 1834).
Man pflegt darauf hinzuweisen, daß Platens Aristophaniaden mit
Notwendigkeit literarisch anstatt politisch haben werden müssen. „In
Deutschland", schreibt der Dichter selbst damals an Gustav Schwab,
„findet sich, da alles öffentliche und Politische ausgeschlossen bleiben
muß, weiter kein Stoff für die wahre Komödie als der literarische". Und
doch handelt es sich für ihn, in dem er das Literarische, das Dichterische
im höchsten Sinne nimmt, um etwas ganz anderes als nur um Literatur. |
Der Nation selber hält er ihre Unfreiheit und Enge vor, ihre Schlaffheit
und Undankbarkeit, ihre Dreistigkeit, ihre Halbheit, ihren Haß gegen
alles harmonisch gerundete Ganze und „der empor sich schraubenden
Ohnmacht schwerfälligen Wahn". Mag mancher lächeln über die deutsche
Literaturgeschichte von Armin dem Befreier bis auf Platen selbst, die als
letzte Parabase in hallenden aristophanischen Anapästen den ödipus
beschließt. Der Schreiber dieser Seiten, der noch aus seiner Jugend große
Stücke davon auswendig weiß, hat immer empfunden, wie hier, geschwellt
von dem Stolz des Dichters und geregt von der Fülle seines Wohllauts,
der große Strom der deutschen Dichtung feierlich und begeisternd vor-
überrauscht.
So sind denn diese unpolitischen Komödien auf eine sehr verschwie-
gene, ironische und dabei universale Art, man möchte sagen auf eine sehr
deutsche Art, doch wiederum politisch, indem sie nämlich die Unmöglich-
keit der echten politischen Komödie nachdrücklich aussagen.
Größers wollt er wohl vollenden; doch die Zeiten hindern es:
Nur ein freies Volk ist würdig eines Aristophanes.
Zwar der Dichter freut sich eines großgesinnten Königs Gunst;
Doch Europas Seufzer steigen um ihn her als Nebeldunst.
Da der Sonnenstrahl der Freiheit seine Tage nicht erhellt,
Gibt er statt des Weltenbildes nur ein Bild des Bilds der Welt.
Einem spätem Meister überläßt er die berühmte Tat,
Volk^^d Mächtige zu geißeln, ein gefürchtet Haupt im Staat.
Man rechne sich aus, daß diese Worte zwischen den Karlsbader Beschlüs-
sen und der Juli-Revolution geschrieben wurden, und man wird zuge-
stehen, daß der Dichter die Sache des deutschen Geistes und der deutschen
Freiheit nicht unrühmlich vertritt.
Was Platen zu einem Aristophanes letztlich fehlt, ist gar nicht das
Politische, es sei denn in dem Sinne, daß ihm die Polis, die Gemeinschaft
fehlt, aus der und für die er schafft, daß ihm der „Chor" fehlt, durch den
Aristophanes sich aussingt und ausspricht zu dem gegenwärtigen Volke.
562 Deutsdie Literatur [92¡94]

Platen ist ganz einsam und vielleicht darum letztlich zu ernst für die
aristophanische Komödie trotz alles Witzes, aller Spottlust, aller wort-
schöpferischen Komik. Er kann das, was er verspottet, nicht leicht, nicht
spielerisch genug nehmen. Er steht noch zu sehr in den Dingen, noch zu
sehr zwischen seinen Feinden. Sein Arkadien, in dem die bizarre Schicksals-
tragödien|karikatur sich abspielt, seine Welt der romantischen ödipodie,
seine Lüneburger Heide, auf der der Dichter Nimmermann dem Verstände
und dem Publikum begegnet, sie haben nicht jenes befreiende Jenseits
von diesem Raum und dieser Zeit, wie das Wolkenkuckucksreich oder
die Unterwelt oder das Friedensland auf Erden in den Komödien des
Aristophanes, nicht jene „transzendentale Höhe des höchsten Blödsinns
und der aristophanischen Weltverspottung" (Nietzsche). Ihm fehlt,
wieder mit Nietzsche zu sprechen, „die Unbedenklichkeit, die Skepsis, die
,Unmoralität', die Erlaubnis sich eines Glaubens entschlagen zu können,
die zur Größe gehört (Caesar, Friedrich der Große, Napoleon; aber auch
Homer, Aristophanes, Lionardo, Goethe)".
Doch ist es ja im Grunde eine Binsenwahrheit, daß ein Aristophanes
nur einmal möglich war, und daß es seitdem höchstens aristophanische
Phantasmagorien geben kann. Als Phantasmagorie aber ist die von Platen
die glänzendste. Man mag vieles vermissen, vieles kritisieren. Man mag
mit Recht bedauern, daß Platen gegen seinen großen Zeitgenossen
Immermann stand, den einzigen der eines Ranges mit ihm war: der-
gleichen gehört zum Schicksal der deutschen Literatur. Aber man lese
etwa Eichendorffs Lustspiele aus dem gleichen Jahrzehnt, verspätete
Nachfahren Tiecks, vielmehr man versuche diese philiströsen und form-
losen Produkte zu lesen, um zu erfahren, was wir immer noch an Platen
haben, wenn man es sonst nicht weiß. „Ein reifes und männliches Urteil",
wie er es fordert und verdient, wird immer darauf bestehen müssen,
daß Werke von so viel „feurigem Spott", soviel Kühnheit, Witz und
dramatischem Leben, solchem Glanz der Rhythmen, solcher Kraft und
Schönheit des Wortes nicht verdienen, dem Herbarium der Literatur-
geschichte überantwortet zu werden.
Der dritte Akt des Romantischen Oedipus schließt damit, daß die
thebanische Sphinx sich in den Abgrund — des Orchesters! — stürzt. Sie war
verdammt ihr lebelang schlechte Verse zu hören und die schlechten
Poeten zu bestrafen. Jetzt begegnet ihr Oedipus mit dem ersten richtigen
Distichon, und sie muß „selbst in Charons Nachen steigen". Aber über-
höre m-an doch in Oedipus' Distichon über dem vollkommenen Fall
der Rhythmen nicht den Sinn der Worte:
Möge die Welt durchschweifen der herrliche Dulder Odysseus,
Kehrt er zurück, weh Euch, wehe dem Freiergeschlecht!
Und überlese man nicht die szenische Bemerkung: „Distichon in Trans- |
parent erscheinend!" Wird nicht hier plötzlich die Dichtung selbst trans-
[94¡95] Aristophanes in Deutschland 563

parent, und kann man das Cave adsum verkennen, das der Dichter in
seine Heimat hinüberruft? Erfüllt hat es sich im Wortsinne freilich nicht.
Aber gerade deshalb bleibt seine Drohung gegen das Stümpertum auf-
gerichtet. Und die aristophanischen Kräfte, die er den Deutschen ins Blut
geimpft hat, sind noch jahrzehntelang zu spüren.
Gewiß ist ohne Platen nicht denkbar die Aristophanesübersetzung
Droysens, der große Beitrag, den das vierte Jahrzehnt des 19. Jahrhun-
derts zum Thema Aristophanes in Deutschland geliefert hat. Wenn Pla-
ten 1822 von der „herrlichen Vossischen Übertragung" spricht, Droysen
1834 von dem „essigsauren Voß" (Brief an Welcker), so liegt Platens
eigene Dichtung dazwischen. Was Voß durch seine Ubersetzungsmühle
gehen ließ, erwähnen wir nur am Rande. Droysens Werk aber gehört nicht
allein der Philologie und der Geschichtswissenschaft, sondern der deut-
schen Literatur, mag auch die deutsche Literaturgeschichte kaum Notiz
davon nehmen.
Johann Gustav Droysen ist einer jener universalen Menschen, die heute
so selten geworden sind: Historiker, Philolog, Politiker, Denker, Künstler,
befähigt und geneigt einen Versrhythmus so ernst zu nehmen wie die
politische Gegenwart und Zukunft der Elbherzogtümer, ein geschichtliches
Faktum naher oder ferner Vergangenheit so ernst wie das Problem der
geschichtlichen Erkenntnis überhaupt. Erstaunlich auch der Umfang seines
Schaffens: in dem Doppelberuf des Gymnasiallehrers und Universitäts-
dozenten mit voller K r a f t tätig läßt er 1833 seinen Alexander, 1836 seine
Diadochen erscheinen, entdeckt und gestaltet also eine ganz neue Ge-
schichtsperiode, den „Hellenismus", und arbeitet zwischendurch an der
Aristophanesübersetzung, deren erster Band 1835, deren zweiter und
dritter 1837 und 38 vor die deutsche Öffentlichkeit treten.
Schon 1829 hatte der 21jährige seine AischylosÜbersetzung abgeschlos-
sen, die Frucht seiner Studentenjahre. Sie versuchte sofort das Höchste:
das Vorhandene zu verdeutschen, das Verlorene mit dichterisch erfinden-
der Freiheit zu rekonstruieren und das Ganze wahrhaft geschichtlich zu
deuten. Uber seine Übersetzungsmaxime spricht Droysen sich eindringlich
aus. „Es wäre gleich fehlerhaft alles Fremdartige zu verwischen, wie der
eigenen Sprache das Joch eines fremden Ingeniums aufzubürden; zwi-
schen den beiden Klippen der Karikatur und der Farblosigjkeit kann die
größte Treue allein hindurchleiten." „Die erste Anforderung ist, daß aus
dem Schönen in das Schöne übersetzt werde", — eine Formel, die wir beim
Aristophanes erweitert Wiederhören werden. „Die Melodie der Klänge,
das Spiel verwandter Silben und ähnlicher Worte, an dem sich so gern die
Rede fortspinnt, diese organische Lebendigkeit, die in jedem Punkt der
Oberfläche selbständig und charakteristisch nachzittert" - das ist es was
vor allem die sorgfältigste Rücksicht des Ubersetzers fordert. Da ferner
keine der ursprünglichen Tetralogien vollständig erhalten ist, muß sich
der Interpret um ein Bild des Verlorenen bemühen: erst so können die
564 Deutsche Literatur [95¡96]

erhaltenen Dramen als Teilglieder eines umfassenderen Ganzen richtig ge-


sehen werden. Schließlich stellt der Historiker die Werke seines Dichters
in das Geschehen ihrer Zeit. Schon er hat sehr eindringlich und ausdrück-
lich die Tragödien als staatliche und zugleich als religiöse Dichtung be-
griffen. „So wenig wie die Propheten Israels ihre mächtigen Mahnungen,
dichtete er seine Dramen um der Ästhetik willen; sie waren ihm Predigten
an das Volk; und erst so verstanden hat der Ernst seiner Gedanken, die
dunkle Pracht seiner Sprache, die tief leidenschaftliche Ruhe seiner Welt-
anschauung ihre ganze Kraft." „Die vorliegende Trilogie", so beginnt er
die Einführung in die Orestie, „hat eine so entschieden politische Tendenz,
daß sie ohne Berücksichtigung der Erwägungen und Zustände, in die sie
mit einzugreifen bestimmt war, in wesentlichen Punkten unverstanden
bleiben würde." Athens äußere und innere Geschichte wird dargestellt und
in diesem Gesamtbezirk zeichnet sich Aischylos* politischer Wille ab und
das schmerzliche Vergebens, das am Ende auch dieses großen Lebens steht.
„Sein dramatischer Sieg war seine politische Niederlage." Gewiß ist hier
Aischylos' staatliches Handeln allzu parteipolitisch gesehen und Sieg und
Niederlage zu sehr nach dem Maßstab des mittleren Bürgers verteilt. Aber
Droysen blieb doch nur hinter seiner eigenen Absicht zurück, und wir
haben es heut leichter als er, zu wissen, wo der Dichter in Zeiten der
Wirren steht.
So war Droysen schon als Ubersetzer ungewöhnlichen Ranges legi-
timiert, als er an den Aristophanes ging. Nehmen wir zu den Gaben, die
er am Aischylos bewährte, noch sein spottlustiges bewegliches Tempera-
ment und den jugendlichen Übermut seiner zwanziger Jahre. Vergessen
wir nicht, die Freundschaft mit Felix Mendelssohn, den lebendigen Geist
des Mendelssohnschen Hauses und den Wunsch des Freundes mit Aris- |
tophanes bekannt zu werden in die Rechnung einzusetzen. Ubersehen
wir vor allen Dingen nicht ein letztes: wie einst Wieland durch die
französische Revolution, Rückert durch Napoleon zu Aristophanes ge-
trieben wurden, so wird Droysens Arbeit geheizt durch die Julirevolution
von 1830. „Der medische Hahn wurde zum gallischen, der statt der Tiara
die rote Mütze trägt und noch heute der Höfe Tyrann ist." Die Gelegen-
heit hatte Droysen zunächst nicht eine strenge Übertragung auferlegt.
„Es war ein Scherz, daß ich vor Jahr und Tag meinem Freunde Felix
Mendelssohn, der gern den alten Spötter kennenlernen wollte, die Vögel
übersetzte; weil es nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, folgte ich
ganz meiner Laune und Ansicht über mögliche Treue und erlaubte Un-
treue; meinem künstlerischen Freunde zu Gefallen, sah ich auf nichts
emsiger als der Ubersetzung die künstlerisch schöne Form, die unendlich
holdselige Leichtigkeit und poetische Farbigkeit des Originals zu erhalten."
(Brief an Welcker, 1. September 1834).
An der „lebendigen Friktion der Dinge" entzünden sich Droysens po-
litische Energien. Im Jahre nach der Julirevolution plant er unter ande-
[96197] Aristophanes in Deutschland 565

rem die Gründung eines historisch-politischen Journals. Dort will er selbst


von dem Lebensprinzip Preußens handeln, „dem heftigen Vorwärts"
- man denke: im letzten Jahrzehnt Friedrich Wilhelms III.! — und er will
Preußen zeigen „als le juste milieu Europas, als Mitte zwischen den Polen
der Magnetnadel der europäischen Achse, freilich leider auch den Punkt
jenes schnöden Staatszeitungsindifferentismus" (28.Mai 1831). Kein Wun-
der, daß seine publizistischen Pläne am Berliner Zensor scheitern. Aber
inmitten der Reaktion die ihn hemmt und der Stagnation die ihn be-
drückt, verliert er nicht den Glauben an den künftigen Beruf Preußens.
„Freilich ist der Weg weit, mühevoll, vielleicht blutig und voll Sdiande;
doch die Hoffnung ist stärker als die Angst und der Glaube heller als die
Nacht, in der wir träumen und verzagen möchten" (3. Juli 1831). Die
starken Kräfte dieses gesunden Geistes verbrauchen sich nicht in unfrucht-
barem Kampf, sondern wenden sich auf die tätige Wirkung in Lehramt
und Forschung. 1835 nimmt er auch die Arbeit am Aristophanes wieder
auf. Es kann nicht anders sein, als daß von den aufgestauten Energien des
Politikers vieles in dieses Übersetzungswerk eingegangen ist. Kein Zufall,
daß es in der Hauptstadt Preußens entstand, in dem Jahrzehnt zwischen
der Julirevolution und dem Tode Friedrich Wilhelms III.
Droysen hat weniger als irgend jemand das „Unnachahmliche" der j
aristophanischen Sprache verkannt. Wir begnügen uns, dem oben ange-
führten Brief einen zweiten an denselben Welcker (vom 24. Juni 1837)
hinzuzufügen. „Oder schelten Sie mich wirklich, daß ich so arg mit dem
alten lustigen Mann umgesprungen bin? In der Tat habe ich ihm mit aller-
lei neumodischem Flitter so das gute alte -tpißdmov überdeckt, daß er
oft geckenhaft genug anzusehen sein wird. Aber Sie wissen mein Bekennt-
nis, daß vor allem das Ubersetzen das undankbarste Geschäft ist, und
dann, daß der Ubersetzer besonders darauf zu achten habe, aus dem
Schönen in das Schöne - so hatte er es schon im Aischylos formuliert -
und aus dem Lustigen in das Lustige zu übertragen. Nun war es mir durch-
aus nicht anders möglich, den scharfen und frappanten Schlagreden, z. E.
in den Rittern, beizukommen, als daß ich sie Reim auf Reim treffen ließ,
und aus dem antiken Parallelismus der Rhythmen wurde die deutsche
Koppelung der Reime, aus dem Gleichgewicht rhythmisierter Massen das
naseweise Einschlagen in denselben Endklang." Daß er der Fülle der Töne,
der weitesten Spannung zwischen toller Burleske, feierlicher Erhabenheit
und zartester Empfindung nicht überall gewachsen war, braucht nicht
gesagt zu werden. Vielleicht hat sogar im höchsten Sinne Nietzsche recht:
„Der Deutsche ist beinahe des presto in seiner Sprache unfähig. So gut ihm
der buffo und der Satyr fremd ist, in Leib und Gewissen, so gut ist ihm
Aristophanes und Petronius unübersetzbar." Mag immerhin sein! Es
bleibt doch bestehen, daß Droysen als Gesamtleistung bisher nicht über-
troffen worden ist. Der Schwabe Ludwig Seeger hat in den 40er Jahren
den Kampf gewagt, Tübinger Stiftler, demokratischer Patriot von der
566 Deutsche Literatur [97198]

schwäbischen Art, Poet in der Nachfolge Uhlands, Verdeutscher Béran-


gers. Vielleicht ist es kein Zufall, daß seine Aristophanesübersetzung ge-
rade im Révolutions jähr 1848 vollendet wurde. Aber es ist erst redit kein
Zufall, daß die Entscheidungen - und wir rechnen die Aristophanes-
verdeutschung dazu — in Preußen und nicht in Schwaben fielen. Zudem
war Droysen die unvergleichlich mäditigere Natur, und wenn Seeger die
größere „Natürlichkeit" seiner eigenen Obersetzersprache gegen den Vor-
gänger ausspielte und aus der Rückkehr zum Wielandschen Blankvers die
Entscheidungsfrage machte, so fällt die Entscheidung gegen ihn, der nie
begriffen hat, wie sehr jeder griechische Trimeter ein Kunstwerk eigenen
Gesetzes ist.
Ein unentbehrlicher und unveralteter Bestandteil des Droysenschen
Werks sind die geschichtlichen Einleitungen. Hier spridit der politische |
Historiker, für und gegen Menschen, Staaten und Parteien leidenschaft-
licher sich einsetzend, als es der überschauenden Ruhe Rankes gemäß war,
aber wie es der Art der jüngeren Historikergeneration entsprach. Ver-
fassungsformen, Staatseinrichtungen, wirtschaftliche Zustände, politische
Parteien rückt er in eine damals ungewohnte Nähe und Schärfe des Blicks.
Er befreit sich von dem überlieferten Urteil des Klassizismus, indem er die
politische Gebundenheit der alten Autoren ins Licht setzt. Thukydides
ist nicht „der allein unparteiische und edle Historiker", sondern er steht
„würdig und ernst wie ein alter ehrenfester Tory in seiner Partei". „Man
glaubt immer wieder, was der vornehm torystische Thukydides und der
fromme Lakonerkönig Xenophon und die insolente Komödie sagen."
Droysen stellt sich selbst - in den Briefen an Welcker, aus denen wir die
Zitate entnehmen - als „Verehrer der Bewegung und des Fortschritts"
hin. (Wir entsinnen uns, wie er Preußens Lebensprinzip in dem heftigen
Vorwärts sah.) „Der Historiker hat doch wohl vor allem dem Fortschritt
in der Entwicklung das größte Gewicht zu leihen, und führte derselbe
auch wie in Kleons Fall geradeswegs zum Untergang." „Alle Tugend und
Moralität und Privattrefflichkeit gebe ich gern den Männern der Hem-
mung hin, die Gedanken der Zeit aber sind nicht bei ihnen." „So bin ich
für Athen der entschiedenste Demokrat. Groß ist Kleon, der die Erfolge
zu sichern bei Tausenden hinrichten läßt, eine blutige Energie, größer ist
Alcibiades, die vor der Zeit geknickte Blüte, in Wahrheit ein Vorläufer
Alexanders. Ich kenne alle seine argen Fehler, seine Herrschsucht, seinen
Stolz, seine schrankenlose Sucht des Genusses: quand même, er ist das
Höchste, was die Demokratie Athens bringen konnte." (Aus Briefen vom
1. September 1834, 24. Juni 1837, 23. Juni 1838.)
Droysen machte sich einige Sorge, wie der so hoch verehrte Welcker
als größter Vertreter der in klassizistischen Urteilen groß gewordenen
Generation diese historisch-politischen Ketzereien aufnehmen würde. „Die
Anwendung unserer lebendigen Kenntnis von Torysmus und Whigismus
auf Athen", schrieb Welcker zurück (13. März 1838), „ist mir wahrlich
[98j100] Aristophanes in Deutschland 567

nicht zuwider; ich sehe ein, wieviel Aufschluß sie gibt und welche Riditung
sie vielfach der Beurteilung geben kann." Dann freilich kommen Beden-
ken: „Nichts erfordert mehr Gerechtigkeit und Unbefangenheit, als neben-
einander das Bedingte der Parteien sowie audi der verborgen wirkenden
mächtigen Zeittendenzen, und dann das Individuum nach den | unverrück-
lichen Merkmalen eines nationalen ethischen Ideals abzuwägen. Voll-
enden kann man dies nur con amore für sich, für wenige. In das Publikum
passen, wie von allem, auch einseitige Darstellungen, Faktoren der Wahr-
heit." Die von Welcker gestellte Forderung bleibt auch für die Zukunft
noch zu erfüllen, nachdem in Droysens mutiger Einseitigkeit die Gene-
ration der Paulskirdie und nach ihm die Generation der Reichsgründung
zu Worte gekommen ist.
Wie aber sah Droysen den Aristophanes selbst? Der rationalistischen
Ästhetik war er der Possenreißer gewesen. Die Geniezeit hatte ihn zum
genialischen Possenreißer befördert. Im Klassizismus mußte das Urteil
umschlagen: er wurde der tugendhafte Ratgeber und Erzieher seines Vol-
kes, und Süvern hatte die Vögel in eine lehrhafte Allegorie umgedeutet
zum Schaden der Poesie und der Geschichte gleichermaßen. Dagegen tritt
Droysen auf ausgerüstet mit dem starken Wirklichkeitssinn der jungen
Generation, der das Erbe Napoleons an das 19. Jahrhundert ist, und
gleichzeitig in seinem Denken durch Hegels Geschichtsdialektik bestimmt.
„In Zeiten gesteigerter Zivilisation, wenn das Scheidewasser der Auf-
klärung alles Leben angefressen, wenn man über Sitte und Vorurteil, über
alles Überlieferte und Substantielle hinwegräsoniert hat", dann ist der
Augenblick für einen Aristophanes gekommen. „Die alte Komödie ist
selbst eine der sprechendsten Erscheinungen der Zeit, auf deren Verderbt-
heit sie immerfort schilt, und ihre Möglichkeit und Popularität ist für die
Verworrenheit des allgemeinen sittlichen Bewußtseins ein stärkerer Be-
weis als die Klagen und Insinuationen, mit denen sie selbst so freigebig
ist." Es klingt wie eine Rückkehr zu den Urteilen des 18. Jahrhunderts,
wird aber jetzt ohne Abwertung und mit einem ganz neuen Wirklichkeits-
gefühl gesagt: Die Komödie des Aristophanes ist gewissenlos und gesin-
nungslos. Sie hat nur ein Gewissen und eine Gesinnung: Kunstgewissen
und Kunstgesinnung. Sie lebt ganz allein aus der „unendlichen Fülle der
Poesie" und der „unvergleichlich hohen künstlerischen Vollendung". Der
Wirklichkeitssinn dieses sittlich strengen Mannes wendet sich gegen alles
falsche Moralisieren und bekennt sich zu dem eigenen Recht der Dichtung
mit einer Kraft, die zuletzt aus der Mitte der Goetheschen Existenz ge-
nährt ist.
Man vergesse nicht, daß der Droysensche Aristophanes sich schon fast
hundert Jahre in der Anerkennung der Näheren wie der Ferneren |
bewährt hat. Von der älteren Generation wünschte Welcker Glück zu der
vollendeten Arbeit: „Sie scheint mit großer Gunst aufgenommen zu wer-
den, wie sie denn auch voll Geist, Kunst und Studium ist" (21. Januar
568 Deutsche Literatur [1001101]
1839). Am wichtigsten aber ist, daß die Hallischen Jahrbücher, die kri-
tische Zeitschrift der radikalen Jugend, eine durch drei Hefte sich ziehende
Besprechung brachten, zu der der Herausgeber Arnold Rüge selbst sich
mit dem Philologen Bergk verband. Rüge also, dem die Sache der Bildung
und der Freiheit, des Geistes und der Politik untrennbar war, und der,
in einer Anzeige von Herweghs Gedichten, als die Aufgabe seiner Zeit
aussprach „neben der Erwerbung der bürgerlichen Freiheit nicht nur die
freien Gedanken unserer großen Vorfahren, sondern auch ihre vollendeten
Formen vor einer barbarisdien Reaktion zu retten", - Rüge begrüßte
„das bewundernswürdige Werk", „die Ubersetzung oder vielmehr die
Wiedergeburt der aristophanischen Komödien", dieser „großartigen Ge-
legenheitsgedichte, die ihresgleichen in der Weltgeschichte nicht finden",
als eine deutsche Angelegenheit. Und man wird noch heut mit einigem
Staunen lesen, wie diese eindringende Betrachtung das Dichterische, das
Geschichtliche und das Philosophische gleichermaßen zu seinem Recht
kommen läßt und damit auf die Teilnahme des deutschen Publikums
zählen zu können scheint. Am ursprünglichsten ist Rüge - der Verfasser
einer Ästhetik des Komischen — in dem, was er als hegelisch geschulter
Denker über Droysen hinaus von dem Sinn der Komödie sagt. Den
tugendhaften Aristophanes der Philologen hatte Droysen abgetan. Sein
Aristophanes war Immoralist. Aber Rüge möchte diesem Urteil alle Mög-
lichkeit nehmen, selbst ins Moralisieren abzugleiten. Gewiß ist die Komö-
die gewissenlos, ungerecht. Aber „dieses Unrecht ist nur ein Unrecht gegen
die überhaupt unberechtigte Existenz, kein Unrecht gegen den Begriff
des Menschen. Der Grund des Komischen ist die Einsicht oder vielmehr
Anschauung, daß eben jene Existenz und ihre Zufälligkeit unberechtigt
sei". Das Unrecht also, dessen Droysen den Aristophanes zeiht, ist nur
prosaisch genommen ein Unrecht. In der Dichtung ist dieses Unrecht
gerade poetisches Recht, aus dem die Komödie lebt und das der Komö-
dierte anerkennt, wenn er Humor hat. In gleicher Weise wird auch die
„Gesinnungslosigkeit" zu Ende gedacht. Parteiisch ist die Komödie durch-
aus. „Das grelle Schlaglicht der Komik ist das Bewußtsein der Gegen-
partei." Aber „auch die komisch-bevorzugte Partei ist eben nur k o m i s c h
bevorzugt, das heißt es wäre keine Komödie, wenn | nicht jedes prosaische
Parteiinteresse in ihrem Äther verflüchtigt erschiene".
Rüge nimmt „den berühmten Ausspruch (Hegels) über Aristophanes:
,in ihm zeige sich die alles zerfressende Subjektivität, an welcher der
Hellenismus (wir würden sagen: das Hellenentum) zugrunde gehe' mit
einigem Mißtrauen auf." Ihm ist die aristophanische Komödie „die
Schöpfung einer tollen Welt bloß durch die ideale Macht des Geistes, die
ihre Tollheit durchschaut und dieses zweite Gesicht darzustellen und zu
offenbaren weiß". Dann aber ist sie kein Erzeugnis der Zersetzung son-
dern die Erfüllung dessen, was im ursprünglichen Komos schon angelegt
ist: „die Heiterkeit der komischen Laune, welche mit trunkenem Behagen
[1011102J Aristophanes in Deutschland 569

sich gegen die Alltagswelt kehrt". Denn Rüge sieht mit Staunen auf die,
unglaubliche Höhe der komisch-humoristischen Bildung", die er in seinem
eigenen Zeitalter vermißt.
Sie fehlt in den Philosophiekomödien, in denen die inneren Kämpfe
der Hegeischen Schule sich ihren Ausweg in die Welt des Lachens suchen.
Sie fehlt nicht ganz in der stärksten Komödie, die die 40er Jahre aus ari-
stophanischer Formkraft hervorgebracht haben: in der Politischen Wo-
chenstube des Pommern Robert Prutz. Sie erschien 1845, erregte gewalti-
ges Aufsehen, brachte dem Verfasser einen Majestätsbeleidigungsprozeß
ein, den der König niederschlug, und wird noch heut das amüsanteste Buch
sein, aus dem man sich die Stimmung jener Jahre unmittelbar vor 48 ver-
gegenwärtigen kann. Prutz, als Schrifsteller Publizist Rhetor und Poet
einer der bedeutendsten in jener Zeit, bekennt sich selbst zu Platen als
dem unerreichten Meister des „metallenen Verses", neben dem freilich
sein eigener wie überhaupt der Vers der 40er Jahre blechern klingt. Er
rechnet mit den Kritikern ab, die Platens Komödien als „philologisches
künstliche Machwerk" bekrittelt:
J a versucht es nur erst und spitzet einmal, wenn ihr könnt, die
gewaltigen Ohren
Und klappert dazu, mit verfehlender Hand, euch den Takt an dem
knöchernen Bein ab!
und weist die zurück, die mit ihrer frischgelernten Devise
Politik allein, radikale zumal, sonst nichts sei würdig zu schreiben
über den unpolitischen Platen aburteilen:
Denn von Rüge gelernt hat dieses Geschlecht das summarische kurze
Verfahren; |
Nur gebricht ihm der Geist, den Rüge besitzt. Doch auf Dichter ver-
steht sich auch der nicht.
Von dem Freund Rüge hat wohl auch Prutz gelernt, daß der komödische
Scherz niemanden, auch ihn selbst und die Gefährten nicht verschonen
darf, und daß der Komödierte das Komödienrecht anerkennen und, wenn
er kann, es machen muß wie Sokrates: der Theaterjubel der Athener über
den Komödiensokrates schweigt still - so schildert es Prutz eindring-
lich - als der echte Sokrates ruhig lächelnd auf sein Bühnenabbild blickt.
Denn das ist, ihr Herrn, das tyrannische Recht des erobernden Gotts
Dionysos,
Daß er mitleidlos in Ruinen zerschlägt, was immer von irdischem Ton
ist:
Doch über dem Schutt, in unendlichem Blau, wiegt schmetternden Lieds
sich die Lerche.
Von der recht unterhaltenden Handlung sagen wir hier nichts und
nur wenig von dem Spott über alles und jedes: politische und literarische
570 Deutsche Literatur [1021103]

Spätromantik, geistiges Philistertum, kirchliche Muckerei, die preußische


Pickelhaube, das Hermannsdenkmal, die Durchschnittsgesinnung der Li-
beralen:
Gesinnung ist 'ne Wasserpflanze meistenteils,
Die aus des Herzens Felsengrunde nicht, o nein,
Nur aus dem Sumpf der Redensarten sich erhebt -
die Sehnsucht nach beamteter Sicherheit und königlichen Huldbeweisen:
Nichts Kleines ist es einzulaufen sichern Gangs
In den allersehnten Hafen des Beamtentums
Und an dem Anker königlichen Jahrgehalts
In schöner Ruh das Schifflein zu befestigen —
den Hegeischen Standpunkt:
Sie hat das Kind: es habend, hat sie auch das Recht,
Daß sie es hat - (Doktor): Historisch geworden, ich versteh -
den beschränkten Untertanen verstand:
O das ist bloß der blinde Untertanverstand,
Der die erhabne Schlangenbahn der Obrigkeit
Nicht allsogleich begreifen kann —
den Philosophen (Schelling), der schwanger ist
mit einem unaussprechlichen |
Potenzenhaften denkabschlußvollendenden
Urzeitenthüllend-christentumverklärenden
Blitzfunkelnagelneuen Positivsystem.
Man hatte gerade damals in Schellings Berliner Vorlesungen den baby-
lonischen Turm des letzten idealistischen Systems erstehen und einstürzen
sehen und damit eine Epoche der deutschen Geistesgeschichte erlebt. Wie
denn die Prutzsche Komödie deshalb mehr als nur private Bedeutung
hat, weil sie an dem Krisenpunkt steht, wo in Deutschland die Kräfte
Humanismus und Politik, Dichtung und Literatentum, Philosophie und
Wissenschaft sich verlagerten und eben dadurch das geistige und politische
Erdbeben hervorrufen halfen. Als Zeuge dieser Erschütterung verdient
die Komödie noch heut gelesen zu werden und würde einen Neudruck
lohnen. Wir geben nur noch als Stilprobe dieser gereimten Rhetorik ein
paar Parabasenverse, in denen sich der liberale Humanismus in seiner
Stärke und seinen Schwächen am lebendigsten darstellt:

Du aber, o mein deutsches Volk, o du von Gott erkoren,


Auf daß durch dich das Griechentum noch einmal wird geboren:
Tu ab von dir die falsche Scham, tu ab, tu ab das Halbe,
Das Graue laß dem Eselein und laß dem Mönch das Falbe!
[1031104] Aristophanes in Deutschland 571

Nach dem Aufruf zur Ganzheit dann die Kritik:


In dieser schweren dicken Luft der Kritiker und Kenner
Da ziehst du keine Dichter groß und ziehst dir keine Männer!
J a hätte Shakespeare immer erst die Logen sollen fragen,
Ob dero Gnaden Sittsamkeit auch dies und das vertragen,
Und hätte Aristophanes in Wolken Fröschen Rittern
Vor jeder Jungfer müssen und vor jedem Pfaffen zittern:
Sie hätten nie das Licht erblickt die köstlichen, die Meister,
Von eignen Gnaden Könige im freien Reich der Geister!
Und am Schluß die Prophezeiung, die freilich ein wenig wohlfeil ist und
bisher ohne Erfüllung blieb:
Dann, wenn du einst in künftger Zeit dein Recht dir hast genommen,
Dann wird mit anderm Guten dir auch die Komödie kommen.
Dann wird ein Aristophanes in Deutschland auferstehen -
Und aus der „Wochenstube" dann mag man Patronen drehen!
Aber eins wird man Prutz zugestehen müssen, daß die neueren Zeiten
hinter Aristophanes zumeist noch weiter zurückgeblieben sind als er. |
Wir verfolgen die Geschichte des Aristophanes in Deutschland nicht
über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus. Die philologische Forschung
hat seitdem Wichtiges hinzugewonnen in eifriger Einzelarbeit, hat das er-
staunliche Formkunstwerk der aristophanischen Komödie wenigstens mit
dem Verstände zu erkennen angefangen über Droysen und seine Zeit
hinaus, hat Sprachliches und Geschichtliches schärfer erfaßt und aus der
Fülle der seither gefundenen Monumente das lebendige Leben den Sin-
nen nähergebracht. Man hat sogar ein paarmal aristophanische Stücke
gespielt, die Vögel in Knittelversen. Ein neues Gesamtbild des Aristo-
phanes ist nicht entstanden. Nietzsche gab ein paar Winke über den
Dichter aus einem Gefühl der Verwandtschaft, mehr noch aus dem Willen
ihm verwandt zu sein in der Freigeisterei, im geistigen Faschingsgelächter
und Übermut. Hofmannsthal sprach seinen bezaubernden Prolog zur
Lysistrata: „Denkt euch einen Tanz, einen wahrhaftigen Tanz, ersonnen
nach einem Plan voll entzückender K l u g h e i t . . . die ganze Welt in Larven
gesteckt und tanzend im Überschwang der zügellosesten Gebärden . . . die
frechste Frechheit noch durch einen namenlosen Schwung geadelt, - denkt
euch dies alles, und auf diesem schimmernd den Tau der frühen Z e i t . . .
denkt euch die Welt dazu, die blutigen Lanzen des Peloponnesischen
Krieges . . . denkt euch dies alles in allem: im Wirbel dieser Welt diese
Komödie dahertanzend wie einen von wilden Kindern gepeitschten Krei-
sel - dies denkt euch, und dann geht hin und spielt eure Lustspiele her-
unter!"
Rhythmen und Landschaften im zweiten Teil des Faust

1953

Thomas Mann in Dankbarkeit gewidmet

. . . der zweite Teil ist w o h l geehrt, ja be-


wundert und philologisch durchpflügt,
aber wenig geliebt worden . . .

. . . es ist an jeder Stelle so vorzüglich, so


geistvoll, so herrlich wortgenau und abun-
dierend an Weisheit und W i t z , so kunst-
froh, heiter und leicht im Tiefsinn und in
der G r ö ß e , . . . daß es Liebe verdient, dies
ewig kuriose Gebilde, weit mehr noch als
Ehrfurcht, ja, daß man die größte Lust
hätte, einen ganz frischen, ganz unphilo-
logischen und unmittelbar zutunlichen
Faust-Kommentar zu schreiben . . .
Thomas Mann, Phantasie über Goethe |

1. Goethes Terzinengedichte

Terzinen sind fast die letzte große Versform, Dichtungsform, die


Goethe sich aus der Überlieferung zu eigen macht nach so vielen anderen
Formen. Hat man recht bedacht, was diese Aneignung für den 76jährigen
bedeutet haben muß? A u f seiner italienischen Reise hat er gewiß für ge-
schlossene Formen wie das antikische Distichon und die italienische Stanze
gegen Dantes Terzinen Partei genommen, so wie er sich in Vicenza für
Palladio begeisterte und in Assisi an dem kleinen Tempel der Minerva
nicht satt sehen konnte, hingegen die babylonisch übereinander getürmten
Kirchen des heiligen Franciscus mit Abneigung links liegen ließ. (Im ur-
sprünglichen Tagebuch klang es noch schärfer.) Ein Jahrzehnt später führt
ihn A. W. Schlegels Prometheus, der mehrere Seiten in Schillers Musen-
almanach von 1798 füllt, auf die dantische Versart. Er fragt Schiller, was
er über sie denke (21. Februar 1798). Ihm selbst will sie bei näherer An-
sicht nicht gefallen, weil sie keine Ruhe hat und man wegen der fortschrei-
tenden Reime nirgends schließen kann. Schiller bestärkt den Freund in
seiner Abneigung gegen das dantische Maß: Es leiert gar zu einförmig

[Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar, 1953, 1 1 4 S . ]


im Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 573

fort - womit denn der Herausgeber des Musenalmanachs recht eigentlich


seinen Mitarbeiter Schlegel kritisiert. Kein Zur-Ruhe-kommen in Dantes
Commedia? Da man doch dessen meisterlicher Art seine Canti zu beschlie-
ßen nicht genug nachsinnen kann.
Fünfundzwanzig Jahre später sagt Goethe im Gespräch mit dem
Kanzler von Müller (29. September 1823): Terzinen müssen immer einen
großen, reichen Stoff zur Unterlage haben, wenn sie gefallen sollen. Das
klingt noch so allgemein wie ehedem Schillers Bemerkung, die feierliche
Stimmung scheine ihm unzertrennlich von dieser Versart. Aber die aller-
nächsten Jahre bringen den Umschwung: Streckfuß schickt Goethe seine
Dante-Übersetzung (1824-1826), und Goethe greift | darüber hinaus
wieder zu dem italienischen Text der Commedia; es ist die Ausgabe
Venedig 1739, die er besitzt. Seltsames Zusammentreffen - aber was trifft
damals für Goethe nicht zusammen? Es war ja die Zeit, da das Faust-
Werk neu in Bewegung kam, diesmal um den Dichter nicht wieder los-
zulassen, bis es in siebenjähriger unerhörter Arbeit vollendet war. 1826
entstehen die beiden Terzinengedichte Goethes, Fausts erster Monolog im
Zweiten Teil
Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig,

und das ursprünglich titellose Gedicht

Im ernsten Beinhaus war's, wo ich beschaute,


konzipiert in jener Nacht - man versuche sie sich zu vergegenwärtigen -
nachdem Goethe den Schädel des vor zwanzig Jahren verstorbenen Freun-
des hatte zu sich bringen lassen und nun mit diesen Reliquien allein war.
Goethes Terzinenpläne gingen weiter. Denn als er das Gedicht an die
Reliquien Schillers zum erstenmal veröffentlichte, im 23. Bande der Aus-
gabe letzter Hand, 1829, auf den zwei, bis dahin leer gebliebenen, letzten
Seiten, ließ er darunter die Bemerkung drucken: Ist fortzusetzen. Das hat
er nur noch einziges Mal getan, als er am Ende des 12. Bandes, 1828, den
ersten Akt des Zweiten Faust abbrach mit jenen Versen, die unter anderm
auch an die lieben Zeitgenossen gerichtet waren:

. . . wenn eure Tageswelt,


Wie's oft geschieht, mir widerlichst mißfällt.

Was aber bedeutet der Zusatz Ist fortzusetzen unter jenen Terzinen? Das
Gedicht ist wahrlich beendet mit seiner vierzeiligen Gnome
Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen . . .

ebenso wie Fausts Terzinen zum Abschluß kommen mit der einzeiligen
Gnome
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.
574 Deutsche Literatur [213]

Fortzusetzen also konnte das Terzinengedicht nur sein in dem Sinne, daß
es Glied eines Cyclus wurde. Es ist ja bekannt, wie | der Wille, Gedichte
zu Cyclen zusammenzuordnen, in Goethe je länger je stärker wurde. So
hat er eine früher geplante Dichtung über die Natur ersetzen wollen und
zum Teil ersetzt durch zusammengruppierte Einzelgedichte. Die Reliquien
Schillers waren 1829 gedacht als Glied eines solchen Kreises, den doch
wohl auch das dantische Maß zusammenhalten sollte.1 Ein skizzenhafter
Gedichtanfang in Terzinen ist unter Goethes Entwürfen erhalten:2

So nah der Freund von der und jener Seite,


Und immer ich gebunden an der Stelle . . .
Der Ansatz erwies sich wohl als zu augenblicklich und zu persönlich, um
ins Großgeschaute und Großgedachte hinaufgesteigert zu werden. Wäre
das Gedicht über die ersten zehn Zeilen hinaus gediehen, so wäre es gewiß
in jenen geplanten Cyclus eingeordnet worden.
Versformen sind für Goethe symbolische Formen oder Seelenformen.3
Das verstünde sich, auch wenn er selbst nicht von den magischen Wirkun-
gen der verschiedenen Metren spräche; wofür er als Beispiel seine Römi-
schen Elegien nennt, die in Byronische Ottave rime umgesetzt sieb ganz
verrucht ausnehmen würden. Man braucht sich nur einen Augenblick zu
besinnen, um zu wissen, wie ganz verschieden voneinander Fausts Mono-
loge je von Anfang an durdi ihre verschiedenen Versformen klingen: der
Monolog in Blankversen

Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles . . .


von dem Monolog in hellenisierenden Trimetern4
Der Einsamkeiten tiefste schauend unter meinem Fuß . . .
und wiederum die zum Goetheschen Instrument erhobenen Knittelverse
Habe nun, ach! Philosophie . . .

1
Siehe zu dem Vorstehenden, vor allem K . Vietor, Goethes Gedicht auf Schillers Schädel,
Publications of the Modern Language Association $9, 1944, 42 ff., und die sidi daran
schließende Erörterung über Ist fortzusetzen ebendort 60, 1945, 399 ff., 421 ff., 1 1 5 6 ff.
Man braucht nur das Druckbild in der Ausgabe letzter Hand anzusehen, um zu er-
kennen, daß Vietor die ebenso einfache wie wesentliche Wahrheit getroffen hat. Be-
merkenswert ist auch: in Band 22 der Ausgabe letzter Hand hat das auf S. 261 an-
gefügte Vermächtnis die Bezeichnung Ist fortzusetzen nicht. - Vgl. auch M. Hecker,
Schillers Tod und Bestattung, 1 9 3 5 , 160. - Über Goethes Streben zum Cyclus s. F.
Stridi, Die Mythologie in der deutschen Literatur I, 1910, 3 3 2 fr.; K . Burdadi, Ein-
leitung zum Westöstlichen Divan, Jubiläumsausgabe Bd. V , S. X L V f.; W. Flitner,
Goethe im Spätwerk, 1947, 12 f.
2
Weimarer Ausgabe Band j , II, 408 f.
3
F. Gundolf, Goethe 437 ff.
4
Uber diesen „Trimeter" ein Wort in Kapitel X I .
[314] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 575

oder die gereimten Fünfheber


Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen,
Allein im Innern leuchtet helles L i c h t . . .
Ihnen allen gegenüber vergegenwärtige man sich den Terzinenmonolog.
Um nur eins zu erwähnen: keiner der andern | Faustmonologe wäre los-
zulösen aus dem Kontext, in dem er steht; die Terzinen Fausts aber sind
nicht nur machtvoll genug, sondern allgemein genug, um für sich bestehn
zu können. Es ist nicht beweisbar, aber durchaus denkbar, daß sie unab-
hängig vom Faustplan entstanden sind als Goethes, nicht Fausts, dantesker
Sonnenaufgangs-Canto. Sie wären dann in die Eröffnungsscene ein-
geschmolzen worden, als der Faust engültig zum Hauptgeschäft wurde.
Sonst hätten sie vielleicht ihren Platz in jenem geplanten Terzinencyclus
finden können.
Wie sehr sich Goethe in den Jahren 1825 und 1826 in den Klang der
Danteschen Terzinen hineingehört hatte, und zwar jenseits der Streck-
fußschen Ubersetzung in den des Originals, geht aus einer technischen Ein-
zelheit hervor, die wichtig genug ist. Goethes Terzinengedichte gehören zu
den frühesten in deutscher Sprache, die durchweg klingende (weibliche)
Reime haben. Bei Schlegel wechseln männliche und weibliche Reime und
so bei Kannegießer, der die erste vollständige Danteübersetzung in
Deutschland schrieb (1814 bis 1821), und bei Streckfuß. Derselbe Wechsel
in Rückerts Terzinengedichten aus dem zweiten Jahrzehnt und in Cha-
missos aus dem Ende der zwanziger Jahre, seinem Salaz y Gomez und
seinen Gedichten mit russischen, indianischen und andern exotischen In-
halten. Goethe selbst, als er in der Recension des Streckfußschen Dante
(1826) eine Ubersetzungsprobe gab, hat noch den Reimwechsel beibehal-
ten, der im Deutschen so viel bequemer ist. Erst als er die eigenen beiden
Terzinengedichte schrieb und jenes dritte begann, hatte er sich so in Dante
hineingehört, daß ihm die durchweg klingenden Reime eine Klangnot-
wendigkeit geworden waren. Er stand damit im Gegensatz zur deutschen
Terzinentechnik, wie sie sich in zwei Generationen der Romantik heraus-
bildete, und schuf eine Norm, die erst in unserer Zeit George in seiner
Dante-Ubersetzung aufgenommen hat5.
Was hier behauptet wurde, müßte freilich von einem genauen Kenner
nachgeprüft werden. Ich weiß nur zwei Ausnahmen, oder was für einen

5
Es ist seltsam, daß K . Witte, Danteforschungen II, 1879, 504 ff., da wo er über die bis
dahin erschienenen Dante-Übersetzungen einen Überblick gibt, zwar die Reimtedinik
erörtert, aber die von uns fixierte Frage gar nicht zu sehen scheint. — Goethes Über-
setzungsprobe gehört in den September 1826, das Gedicht auf Schillers Schädel ist
drei Wochen später. Tagebuch zum 2. September: Notierte einiges, auf Streckfußens
Bemühungen im Übersetzen bezüglich . . . Dante's 12. Gesang, Original und Über-
setzung. Zum 25. September: Nachts Terzinen. 26. September: Früh die Terzinen
weitergeführt... Die Terzinen abgeschrieben . . . Weitere Beachtung der Terzinen.
576 Deutsche Literatur N6]

Augenblick so aussehen könnte. | In durchgängig weiblichen Reimen schrieb


Adalbert von Chamisso 1803 ein Terzinengedicht Die jungen Dichter und
schrieb Clemens Brentano die ersten beiden von den vier Terzinengedich-
ten, die seine Romanzen vom Rosenkranz einleiten. Chamissos vereinzel-
tes Gedicht ist heut gewiß mit Recht vergessen, ganz im Gegensatz zu
seinen bedeutenden Terzinendichtungen der zwanziger Jahre, und es ist
schon genug, es hier um der Reimtechnik willen genannt zu haben. Bren-
tanos Romanzen waren nach dessen eigenem stolzen Urteil gedichtet von
einem Dante, der den Shakespeare im Leibe habe — er hätte hinzufügen
können: und der mit Hilfe Herders und A . W. Schlegels durch die Schule
des spanischen Romancero gegangen war. Sie entstanden zwischen 1804
und 1812, wurden aber erst 1852 gedruckt. Als Goethe seine Terzinen-
gedichte mit durchaus weiblichen Reimen schrieb, stand er in keiner Tra-
dition als der dantisch-italienischen6.
Aber gleich hier ist etwas zu sagen, was uns immer wieder begegnen
wird: Goethes Hinwendung zu Dante wird von einer Gegenwendung
gekreuzt, und das geschieht schon im technischen Bezirk. Wir erinnern uns,
wie Goethe in seiner Diskussion mit Schiller sich daran stieß, daß die
dantische Versart keine Ruhe hat und wegen der fortschreitenden Reime
nirgends schließen kann. Als er dann 1826 seine beiden Terzinengedidite
schreibt, bewirkt jeweils die Sentenz den machtvollen Abschluß. Aber im
Unterschied von den Reliquien ist der Faustmonolog nicht in Terzinen
gedruckt, sondern er ist in fünf Abschnitte gegliedert. Das Druckbild
macht die innere Struktur sichtbar, und niemand wird beim Lesen oder
Recitieren diese Absätze verwischen wollen oder können, den ersten nach

Zum höchsten Dasein immerfort zu streben -

den zweiten nach

Ein Paradies wird um midi her die Runde -

den dritten nach

und, leider schon geblendet,

Kehr' ich mich weg, vom Augenschmerz durchdrungen — |

den vierten nach

Zu bergen uns in jugendlichstem Schleier.

6 „Ehrenpforte für den Theaterpräsidenten v o n Kotzebue", Schelling, Werke I vii,


535 ff. aus der Erlanger Literaturzeitung 1801. A u f S. 539 Kotzebues Reisebeschrei-
bung in Terzinen mit nur weiblichen Reimen. Die Terzinen in I x, 431 ff. von 1802
haben gemischte Reime. Terzinen mit nur weiblidien Reimen hat A n f a n g der 20er
Jahre auch Platen gedichtet.
7 Gemeint ist das Gedicht In tausend Formen magst du dich verstecken. V g l . dazu F.
Stridi, Deutsche Klassik und Romantik, 1924, 254 f.
[618] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 577

Den Fluß der dantischen Terzinen durchdringt Goethe mit einem gegen-
dantischen Formprinzip — ähnlich wie er audi im Buch Suleika das Reim-
geschlinge des persischen Ghasels in vierzeilige Strophen gliedert und es
damit an der Geschlossenheit klassischer Form teilnehmen läßt7. |

2. Goethe über Dante

„Dante et G o e t h e ! . . . étrange association de noms!" „Pourquoi


étrange?"
„Pourquoi?... Parce que ce sont bien les deux génies, les deux hommes
les plus opposés qui furent jamais."
„Je ne les vois pas opposés; tout au contraire."
„Point opposés, bon Dieu! L'Italien du X l I I e siècle et le Germain du
X I X e ! Le poète catholique, qui chante en sa Divine Comédie l'orthodoxie
de Saint Thomas et les catégories d'Aristote, et ce païen panthéiste, qui
cache sous la robe et le nom du reprouvé docteur Faust les témérités de
Spinoza et le système suspect de Geoffroy Saint-Hilaire! Point oppo-
sés!" . . .
Das Buch Dante et Goethe, dem dieses Dialogstück entnommen ist,
verdiente vielleicht auch heut noch mehr als bloß eine literarische Merk-
würdigkeit zu sein. Es erschien im Jahre 18 66 unter dem Pseudonym
Daniel Stern, mit dem Marie de Flavigny, Comtesse d'Agoult, ihre Schrif-
ten zeichnete. —
„Es begegnet mir immer wieder, daß ein älterer wohlmeinender
Dilettant in der Divina Commedia den Schlüssel zu allen Geheimnissen
des Goetheschen Fausts gefunden zu haben meint." Diesen Satz Erich
Schmidts, des Germanisten, habe ich mir vor vielen Jahren notiert und
auf demselben Blatt den des Romanisten Voßler: „Nicht daß die Gött-
liche Komödie eine entscheidende oder befruchtende Wirkung auf die Ge-
staltung des Faust jemals gehabt hätte. Vergeblich hat man sich bemüht
den ,Dante im Faust' zu finden8." Benedetto Croce und Farinelli auf der
italienischen Seite stimmen mit ihren deutschen Kollegen überein. „Goe-
the s'ispirò pochissimo alla Divina Commedia 9 ." Man wird nicht Un-
recht tun, dies trotz mancher Ausnahme als die geltende Ansicht der
Literaturhistoriker zu betrachten, denen sich neuerdings Fritz Strich zu-
gesellt hat: Zu Dante habe Goethe nie eine wirklich innere | Beziehung
gewonnen10. Sie können schon darum nicht völlig recht haben, weil Goethe
8
E . Schmidt, Danteskes im Faust, Archiv f. d. Studium d. neueren Sprachen 107, 1901,
241 ff.; K . Vossler, Die Göttliche Komödie, I. Band, I. Teil, 1907, 1. Vosslers Ein-
leitung stellt dann Faust und Commedia in Gegensatz und dodi in Verwandtschaft ein-
ander gegenüber.
9
A . Farinelli, Dante in Spagna - Francia - Inghilterra - Germania, 1922, 353 ff.; B.
Croce, Scritti di Storia letteraria e politica X I I , 1946, Goethe I 54 sqq., II 46 sqq.
10
F. Stridi, Goethe und die Weltliteratur, 1946, 130.
578 Deutsdie Literatur [8]

immer oder fast immer von dem, was man als Characteristicum an ihm
zu sehen meint, zugleich das Gegenteil ist. „Die Quelle seiner dichterischen
Fruchtbarkeit", ich citiere Thomas Mann, „war die Polarität". Und Karl
Reinhardt: „Ist doch das in Goethes eigenem Schaffen herrschende Gesetz
kein anderes, als was ihm in der Natur sich offenbarte: Polarität und Stei-
gerung." Und Paul Valéry: „Car tous les Janus de Rome ne suffiraient pas
à représenter toutes les oppositions, tous les contrastes - ou si l'on veut,
toutes les synthèses qu'il y a dans Goethe 11 ." Gewiß, Dante stieß Goethe
ab, man braucht nicht zu sagen in wie vielem. Aber in demselben Dante
fand Goethe, zumal der alte Goethe, eine Macht, die ihn im tiefsten zur
Bewunderung, zur Nachfolge, zum Widerspruch, zum Wettkampf zwang,
vielleicht gerade darum, weil er ihr früher nicht genug getan hatte.
Goethes Urteile über Dante sind oft gesammelt worden 12 . In Goethes
Jugend war Dante so gut wie unentdeckt, in Deutschland schon ganz ge-
wiß; aber selbst in dem Italien des 18. Jahrhunderts begriff ihn - trotz
Giambattista Vico - „höchstens einer unter tausend", wenn Alfieri mit
einer Äußerung in seiner Selbstbiographie recht hat 13 . Was Goethe auf
seiner italienischen Reise über Dante gesagt haben will, darüber wird der
so viel später niedergeschriebene Bericht kein unbedingt zuverlässiges Do-
kument sein. Im Jahre 1801, auf der Höhe seines Klassicismus, konnte
Goethe wohl eine kurze Scene der Commedia rühmen als zu dem Höchsten
gehörig, was die Kunst hervorgebracht hatu. Nicht zufällig war es die
Ugolino-Episode, berühmt seit Gerstenbergs Sturm-und-Drang-Drama,
das „die populäre Dante-Vorstellung in Deutschland geschaffen hat",
jene Vorstellung, die gegründet war auf die grauenvollen Stellen des In-
ferno, und die im Grunde auch heut nodi nicht ganz überwunden ist.
Dante im großen begann erst damals von der Romantik entdeckt zu
werden 15 . Mit Recht darf August Wilhelm Schlegel sich rühmen, er sei

Der erste, der's gewagt auf deutscher Erde |

11
Th. Mann, Goethe und die Demokratie, Neue Rundschau 1949, 3 0 1 ; K . Reinhardt,
Von Werken und Formen, 1948, 390. Paul Valéry, Discours en l'honneur de Goethe,
1932, in: Variété I V 1 1 8 . Vgl. auch P. Müllensiefen, Die Polarität der Kräfte, Jahr-
buch der Goethe-Gesellschaft Bd. 16, 1930, 73 fi.; W. Flitner, Goethe im Spätwerk 1 4 ;
A . Heusler, Kleine Schriften, 1943, 586.
12
Zuletzt E . R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 1948, 352 f.
13
L a Vita di Vittorio Alfieri, Cap. 17 (zum Jahr 1 7 8 7 ) : . . . dii oramai in Italia, chi è
che veramente e legga ed intenda, gusti e vivamente senta Dante e il Petrarca? uno
in mille, a dir molto.
14
Anzeige von Böhlendorfs Trauerspiel Ugolino Gherardesca, Jubiläumsausgabe Band
36, 267 ff.
15
E . Auerbach, Entdeckung Dantes in der Romantik, Deutsche Vierteljahrsdirift für
Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7, 1929, 682 ff. Der Satz über Goethe:
„Goethe hatte durchaus keine Beziehung zu der geistigen und sinnlichen Kultur des
Trecento" bedarf dodi der Begrenzung, wie der eine Name Giotto genügen würde zu
beweisen.
[9110] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 579

mit Dante zu ringen, als Übersetzer und als Nachbildner. Sein Bruder
Friedrich steht wie immer als Anreger neben ihm. Schelling und Hegel
reichen mit philosophischer Deutung über die Brüder Schlegel hinaus und
begründen das philosophisch-geschichtliche Dante-Verständnis in Deutsch-
land. Goethe stand abseits. Aber die Anfangsworte jener Recension von
1801 wollen beachtet sein; sie beziehen sich auf Dante: Wenn das außer-
ordentliche Genie etwas hervorbringt, das Mit- und Nachwelt in Erstau-
nen setzt, so verehren die Menschen eine solche Erscheinung durch An-
schauen, Genuß und Betrachtung, jeder nach seiner Fähigkeit — als ob
Goethe seine eigne Haltung dem Außerordentlichen gegenüber sich noch
vorbehielte.
In den Annalen von 1801 steht an einer Stelle nebeneinander Tassos
Anmut, Ariosts Gewandtheit, Dantes widerwärtige, oft abscheuliche Groß-
heit. Die beiden Renaissancedichter erhalten jeder eine einfache Censur,
bei Dante ist Abneigung mit Bewunderung charakteristisch verbunden.
Dann aber erscheint 1824-1826 die Streckfußsche Dante-Ubersetzung. In
seiner Recension von 1826 gibt Goethe eine Probe, wie Streckfuß hätte
übersetzen müssen, wenn er ein Dichter gewesen wäre, und schreibt eine
Charakteristik Dantes, die Abneigung und Bewunderung wie früher ver-
einigt. Das Mikromegische und deshalb Sinneverwirrende des dantischen
Höllenlokals stößt Goethe ab und damit - muß man doch wohl hinzu-
denken - das genau Konstruierte in Purgatorio und Paradiso. Aber gleich-
zeitig preist er die großen Geistes- und Gemütseigenschaften und sieht
sich durch den seltsamen Reichtum der einzelnen Lokalitäten überrascht,
in Staunen gesetzt, verwirrt und zur Verehrung genötigt. (Man wäge
jedes einzelne Wort!) Der Blick auf Dantes Zeitgenossen Giotto, diesen
sinnlich-bildlich bedeutend wirkenden Genius, hilft Goethe das scharf
Umrissene und vollkommen Gegenwärtige der Danteschen Figuren und
Gruppen sicher zu begreifen.
Vertraulich befreundet freilich scheint ihm Dante nur einmal (1827),
da er dem alten Freund Fr. H. Jacobi, dem dajmals ihm so fremd gewor-
denen, unsern Dante gegenüberstellt. Dort Jacobi, der von der Natur gar
nichts wissen will, hier unser Dante, von dem Goethe als Schlußpointe
anmutiger Verse die Formel übernimmt,
Naturphilosophie sei Gottes Enkelin
mit dem ausdrücklich commentierend beigefügten Citat: Inferno XI, 97 ff.
Si che vostr'arte a Dio quasi e nipote16.

16
Das Gedicht Von Gott dem Vater stammt Natur, Jubiläumsausgabe Band 38, 126,
entstand am 1 1 . August 1826. Die Tagebücher notieren unter dem 10. August: Abends
Dante und Sonstiges, unter dem 1 1 . August: Aristoteles im Original nachgesehen
wegen einer Stelle des Dante. Kleines Gedicht im Gefolg dessen. Dante, Inferno X I
80 und 101, beruft sidi auf Aristoteles' Ethik (la tua Etica) und Physik (la tua Fisica).
580 Deutsche Literatur [10111 ]

Da spricht doch wohl, wenn auch in leichterer Tonart, derselbe Goethe,


der einen naturphilosophischen Terzinencyclus planend Ist fortzusetzen
unter die Reliquien schreibt. |

Die Dantische Linie der Ouvertüre

So vergesse man, wenn man Goethes Sinnen und Urteilen über Dante
abwägt, doch nicht Goethe den Dichter der beiden mächtigen Terzinen-
gedichte. Gewiß könnten sie nicht in der Commedia stehen. Aber ebenso
gewiß ist, daß sie in Dantes Nachfolge gehören und ohne ihn so über-
haupt nicht bestünden17. In beiden Gedichten ist jene höchste Genauigkeit
und Gegenwart des Ganzen wie des Einzelnen, die Goethe an Dante so
hoch pries: in den Reliquien das Beinhaus, in dem Monolog die Alpen-
landschaft - doch darüber ist es unnötig zu reden. Dann ist in beiden
Gedichten das starke Ich, das gleich von Anfang an sich ausspricht, nicht
dramatisch, nicht lyrisch, sondern betrachtend, und zwar derart, daß
Schauen und Denken die beiden Komponenten der Betrachtung sind. Sie
sind in völligem Gleichgewicht. In den Reliquien sind beide sogleich aus-
drücklich genannt:

Im ernsten Beinhaus war's wo ich beschaute ...


Die alte Zeit gedacht' ich . . .
Im Monolog, wenngleich auch hier von Anfang an mit aller K r a f t vor-
handen, werden sie doch erst von der Mitte an ausdrücklich:
Hinaufgeschaut.. .
So daß wir wieder nach der Erde blicken ...
Ihn schau ich an . . .
Ihm sinne nach, und du begreifst genauer . . .
In beiden Gedichten wird der Weg vom Gesehenen zum Gedachten mit
einem starken Also vollzogen.

Die Stelle, die Dante mit non dopo molte carte bezeichnet, ist Physik Budi II K a -
pitel 2. (Es ist 194 a 21 der Akademie-Ausgabe). Goethe fand im Kommentar seiner
Dante-Ausgabe (Venedig 1739) den Hinweis: Quasi al principio del libro: Ars imi-
tatur naturam in quantum potest. Das war also die Stelle, die er im Original nach-
sah. Von Aristoteles Physik wird er sich dann der ihm vertrauten Poetik zugewandt
haben, deren Lektüre das Tagebuch unter dem 12., 13., 14. August verzeichnet.
17
E. Kühnemann, Goethe, Leipzig 1930, II, 368: „Wundersam, wie mit seinem Versmaß
auch etwas vom Dantegeist in Goethe hinüberzurauschen scheint." Demgegenüber
E. Sulger-Gebing, Goethe und Dante, Berlin 1907, 86 f.: in den Terzinen sei die Er-
innerung an Dante nicht, wie Podihammer meine, ohne weiteres und jedenfalls nicht
inhaltlich, sondern höchstens formal gegeben. Da ist in der Polemik gegen Pochham-
mers Übertreibungen manches Berechtigte; unfruchtbar, wie immer gegenüber großer
Dichtung, ist der Gegensatz formal - inhaltlich.
[11113] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 581

Ihr Müden also lagt vergebens nieder . . .


So ist es also, wenn ein sehnend Hoffen . . .
Aber mit Schauen und Denken nicht genug: darüber öffnet sich, aus
dem Geschauten und Gedachten erhebt sich, eine | noch tiefere Einsicht,
nur dem Eingeweihten zugänglich. Sie wird ausdrücklich benannt in den
Reliquien:
Dodi mir Adepten war die Schrift geschrieben,
Die heil'gen Sinn nicht jedem offenbarte.
Aber im Monolog spricht durchaus eine verwandte Stimme, die Symbolik
von Sonne und Regenbogen deutend. In beiden Gedichten findet die
Transcendenz denselben sprachlichen Ausdruck:
Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte,
Das flutend strömt gesteigerte Gestalten . . . (Reliquien)
Nun aber bricht aus jenen ewigen Gründen
Ein Flammenübermaß . . . (Monolog)
Am Schluß steht jeweils die gewonnene Erkenntnis da, zur Sentenz
geprägt, vierzeilig in den Reliquien:
Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen . . .
einzeilig im Monolog:
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.
Ruhelos war die dantische Form Goethen ein Menschenalter vorher er-
schienen, da er ihrer noch nicht mächtig war. Vorwärts drängend bleibt
sie immer. Aber jetzt schafft er ihr - außer jener Gliederung im Mono-
log - die große Ruhe des Abschlusses in der Sentenz, anders freilich als
Dante seine Canti zu schließen pflegt.
Denn sonst ist es nicht schwer, zu vielem die genauen Entsprechungen
in der Commedia aufzuzeigen. So kehren vom ersten bis zum letzten Ge-
sang wenige Verben häufiger wieder als vidi, io vidi, così vidi oder quindi
m'apparve oder auch — in der Sonnenaufgangsscene am Anfang des Gan-
zen —
Guardai in alto e vidi le sue spalle
Vestite già de raggi del pianeta (Inf. I, 16),
wo man denn das Hinaufgeschaut des Faustmonologes schon bei Daniel
Stern verglichen findet18, aber getrost noch weiter gehen und der ganzen
Goetheschen Sonnenaufgangsbeschreibung sich erinnern darf: |
Hinaufgeschaut! Der Berge Gipfelriesen
Verkünden schon die feierlichste Stunde.

18 D. Stern, Dante et Goethe 374.


582 Deutsche Literatur [13j14J

Der Weg durch die drei Reiche bei Dante ist ja ein Weg, auf dem das
Sehen zu immer größerer Reinheit gedeiht, von jenem guardai in alto e
vidi am Anfang des ersten Gesanges bis zur Gottesschau am Ende des
hundertsten19.
Bei Goethe fanden wir Sehen und Denken eng verbunden. In der
Commedia ist das Sehen und das Verstehen und Deuten in der Regel auf
verschiedene Personen verteilt: der Wanderer durch die drei Reiche sieht
und fragt, das Antworten und Deuten ist zumeist Sache Virgils, Statius',
Beatrices, Mateidas, S. Bernardos, obgleich, wie sich versteht, auch Dante
sich selbst - den Dante, der die Person in der Commedia ist - immer wie-
der als pensando oder ripensando (Inf. X , 122. Par. X X I 44) darstellt
oder intesi, intesi e certo fui (Inf. III, 61. V, 37) von sich sagt.
Mit Dante trifft sich Goethe auch in der Haltung dessen, der in das
Geheimnis eingedrungen ist und nun das Mögliche davon sich auszuspre-
chen bemüht, dabei wissen lassend, daß es sich um verborgene Weisheit
handelt. Wenn Goethe als Adept spricht, so darf man aus dem Inferno
vergleichen (IX, 6z):
Mirate la dottrina che s'asconde
Sotto il velame degli versi strani!
und aus dem Purgatorio (VIII, 19):
Aguzza qui, lettor, ben gli occhi al vero:
Che il velo e ora ben tanto sottile,
Certo, che'l trapassar dentro e leggero.
Wo dann doch wieder der Unterschied deutlich ist zwischen Dante, der
seine Leser ausdrücklich anredend belehrt, und Goethe, der mit Schillers
Schädel allein ist, Faust, der in der Hochgebirgslandschaft allein ist.
Was Goethe an Dante aufs tiefste ergriffen haben muß - gerade weil
es ihm schon vorher völlig vertraut war - ist die Bewegung des Ganzen:
aus dem Dunkel und durch das Dunkel zu immer höheren und lichteren
Sphären bis in den Anblick des höchsten Lichtes - man kann sagen: die
platonische Bewegung, von der so vieles in der europäischen Atmosphäre
lebendig war und durch Augustinus, Ficino, Comenius, Shaftesbury, wenn
man einzelne Namen will, frühzeitig an Goethe herantrat20. So sind Auf-
stieg und Licht in beiden Terzinengedichten Goethes wesentlichste Sym-
bole. In den Reliquien ist der Gegensatz hier Beinhaus, Moderkält' und
Enge, dort freie Luft, Sonnenlicht und jenes Meer, das flutend strömt

19
S. U. Leo, Sehen und Sdiauen bei Dante, Dante-Jahrbuch Bd. X I , 1929, 183 fr.,
Dante's W a y through Earthly Paradise, Italica Vol X X I V , 1947, 279 ff. - Zum
Folgenden vgl. E. Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, 1929, 197 ff.
20
S. E. Cassirer, Goethe und die Geschichtliche Welt, 1932, 128. Derselbe, Idee und Ge-
stalt, 1 9 2 1 , 16.
[14\15] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 583

gesteigerte Gestalten. Im Monolog sind die Gegensätze vermittelter, die


Abstufungen reicher, bis plötzlich das Flammenübermaß der Sonne alles
Übrige für einen Moment auszulöschen scheint. Nur für das Feuer- und
Lichtsymbol seien aus Dante einige Stellen verglichen, wobei wir uns für
das Verfahren auf Goethe selbst berufen können: Solche Parallelstellen
machen uns mit dem eigentlichsten Dicbtergeist Dantes auf den höchsten
Grad vertraut.
Im 27sten Gesänge des Purgatorio steigen die Wanderer durch die
Flammenwand zum irdischen Paradies hinauf:
Tanto era ivi l'incendio senza metro (54),
ein Vers, der in Streckfußens Ubersetzung
Im höchsten Übermaß die Flamm' entglommen
Goethes ungleich mächtigeres Flammenübermaß hat formen helfen.
Das Blicken in die Sonne wiederholt sich im Paradiso immer wieder.
Gleich im ersten Gesänge ist es Beatrice, deren Blick dazu fähig ist wie das
Auge des Adlers (46 ff.), und Dante vermag jetzt ihrem Blicke folgend in
die Sonne zu schauen mit übermenschlicher K r a f t , die er vorher nicht
besaß:
E fissi gli occhi al sole oltre al nostro uso.

Im aßsten Gesänge erblickt Dante über Tausenden von Sternen eine Sonne,
die alle andern entzündet. Die Sonne ist Christus, und ihre leuchtende
Substanz ist so stark, daß Dante sie nicht erträgt, che non la sostenea (33).
Von da an wird vollends das Lichtsymbol herrschend. Sei hier nur so viel
kurz erwähnt: Im 25Sten Gesänge wird Dante blind beim Anblick des
höchsten Lichtes; im nächsten gewinnt er die Sehkraft wieder. | Im Schluß-
gesange schaut er hinein in den göttlichen Glanz und glaubt - dieses sehr
im Gegensatz zu Goethe - :

Mich hätte . . . ganz der Glanz geblendet,


Den ich von dem lebendigen Strahl empfand,
Hätt' ich von ihm die Augen abgewendet.

Ich citiere hier die Streckfußsche Ubersetzung und füge aus ihr den
dritten Reim spendet hinzu, um wahrscheinlich zu machen: diese Reim-
dreiheit klinge im Faustmonolog nach: . . . wendet ... gespendet ...
geblendet, dort wo Faust den Blick in die eben aufgehende Sonne gerade
n i c h t erträgt. Aber schon im 2 5Sten Gesänge, dort wo Dante blind
wird, sind bei Streckfuß wenigstens zwei der Reimwörter dieselben:
. . . gewendet .. . geblendet. Ist es nötig zu sagen, daß Goethe wiederum
den Streckfuß ganz gewiß nicht nötig hatte, um diese Reime zu finden,
und daß die Frage, die wir hier erörtern, nicht an solchen Einzelheiten
hängt? ]
584 Deutsche Literatur [16117]

4. Die shakespearische Linie der Ouvertüre

Wir sind noch nicht zu Ende mit dem dantischen Element in der
Prologscene des Zweiten Faust. Aber die Grundform von Goethes Da-
sein - wir erinnern uns — ist die Polarität. Die mächtige Anziehung, die
Dante auf ihn ausübte, wird man nicht begreifen, wenn man nicht die
ebenso mächtige Abstoßung sieht, und umgekehrt. Schon ehe die eigentlich
dantische Melodie erklingt, ist die anti-danteske erklungen aus Ariels
Munde:
Ob er heilig, ob er böse,
Jammert sie der Unglücksmann.

Dort die Unerbittlichkeit des mittelalterlichen Weltgefüges, hier die mit-


leidende Güte der Natur mit der ihr eigenen, so zarten wie strengen
Ordnung - Vier sind die Pausen nächtiger Weile —, einer heilenden Ord-
nung, die sie freigebig spendet dem der sich ihr anvertrauen mag und
der — nicht zu vergessen — immer strebend sich bemüht; denn wir sind ja
nicht irgendwo, sondern in der Fausttragödie. Die gegen-dantische Melodie
also erklingt zuerst. Ariel und die Elfen singen sie, nicht mehr anonyme
Geisterchöre, Geister des Ruhmes der großen Tat, wie sie in Goethes
älteren Entwürfen gedacht waren (Paralipomena Soph. 63 = Ins. 49
und Soph. 100 = Ins. 58). Die Melodie, die er der dantischen voraus-
klingen läßt, soll sofort als shakespearische Melodie erklingen. Wäre es
ihm sonst nicht leicht gewesen, andere Namen für seine Geister zu erfinden
oder seinen Ariel etwa namenlos zu lassen? Aber mit Ariel und den
Elfen wollte er, mußte er Shakespeares Sturm und Sommernachtstraum
heraufrufen, wie Puck und Ariel mit Oberon und Titania schon durch den
Walpurgisnachtstraum des Ersten Teils gegeistert waren. Was bei
Shakespeare ein je das ganze Drama durchziehendes Motiv ist, geisterhaft
aufklingend und wieder verschwindend, das wird am Anfang des Zweiten
Faust in eine einzige weite | Scene zusammengefaßt, wobei es fast un-
nötig ist zu sagen, in wie anderen Tönen wiederum Goethes Ariel und
Goethes Elfen singen als Shakespeares form- und wandlungsreichere, mut-
willigere und bändigungsbedürftigere Dämonen. Die Namen Oberon und
Prospero hätte Goethe ebenso wenig gebrauchen können wie Juno und
Ceres. Sie waren zu italienisch oder zu antikisch und zu sehr geladen mit
Shakespeares Dramatik. N u r Ariels Name kam ihm gelegen, vielleicht
neben manchem andern auch darum, weil er an die Namen der drei
Erzengel anklingt, und gewiß, weil er mit himmlisch reinen Tönen schon
durch den Walpurgisnachtstraum geistert. Aber Goethes Ariel wuchs jetzt
in die Statur Prosperos und Oberons hinein als einer der Geistern zu be-
fehlen hat.
Wie sehr Shakespeares Elfensang in Goethe weiterklang, dafür einige
Beispiele. Goethes Ariel befiehlt:
J17J18] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 585

Schlüpfet zu den Blumenkronen,


Tiefer, tiefer, still zu wohnen,
In die Felsen, unter's Laub. . . .
Darin tönen Pucks Verse (Sommernachtstraum II, i):
that all their elves for fear
Creep into acorn cups, and hide them there,
und Ariels Verse (Sturm V, i):
In a cowslip's bell I lie
Under the blossom that hangs on the bough.
Goethes Elfenchor singt:
Täler grünen, Hügel schwellen,
Buschen sich zu Schattenruh;
Und in schwanken Silberwellen
Wogt die Saat der Ernte zu.
Da wird man in den Bildern und bis in den Rhythmus hinein an Ceres'
Gesang vor Prosperos Zelle (Sturm IV, i) erinnert:
Earth's increase, foison plenty21,
Barns and garners never empty;
Vines with clust'ring bundles growing,
Plants with goodly burden bowing. |
Aber Goethe folgt nicht der einfachen, paarweisen Ordnung mit nur
weiblichen Reimen, und seine Reime sind nicht so leicht hingestreut wie
die Shakespeares, die hie und da zu Assonanzen werden. Vor allem:
Goethes achtzeilige Strophe mit wechselnden weiblidien und männlichen
Reimen wiederholt sich nach Ariels Gesang viermal, den vier näditigen
Pausen entsprechend, — eine Form, die gegenüber den aufklingenden und
wieder verklingenden Einzelstrophen Shakespeares ins hohe Singspiel
geweitet und gesteigert ist. Als eine höhere dichterisch-musikalische Ein-
heit wollte Goethe sie empfunden, gesehen und gehört wissen. Darauf
weisen auch die Beischriften, die er ihnen in der ersten Handschrift gab und
später wegließ (vermutlich als zu technisch): Serenade, Notturno, Matu-
tino, Reveille.
Vielleicht ist es sinnvoll, wenn man bei Ariel und seiner Geisterschar
an die Gesänge der Erzengel im Prolog im Himmel denkt. Die Ähnlich-
keit ist so groß wie sogleich auch der Gegensatz. Achtzeilige Strophen mit
wechselnden weiblichen und männlichen Reimen sind es auch im Prolog.
Aber machtvoll zusammengefaßt werden die drei Strophen durch die
Wiederholung am Schluß:
Der Anblick gibt den Engeln Stärke . . .
21 Der Vers ist mit einem halbtönenden e am Ende von increase zu sprechen.
586 Deutsche Literatur [18120]

Vor allem: die Strophen der Erzengel haben steigenden Rhythmus, die
Strophen Ariels und seiner Gesellen haben fallenden. Und man wäge ab,
wie durch diesen Unterschied der einen Silbe die Gesänge am Anfang
des Zweiten Teils so viel zarter werden, und wie undenkbar es wäre,
die Elfen in der Strophe der Erzengel singen zu lassen oder die Engel in
der der Elfen. -
In dem Concerto Dramatico, (Jubiläumsausgabe Bd. 7, 97 ff.), diesem
lustigen Halbunsinn, den Goethe 1772 an die Freunde in Darmstadt
sandte, hat der jugendliche Dichter die allermannigfachsten Versformen
con gusto ausprobiert und mit musikalischen Anweisungen wie Allegretto,
Arioso, Allegro con furia ausgestattet. Die Anfangsstrophe lautet:

Die du steigst im Winterwetter


Vom olympschen Heiligtum . . . |

und trägt das musikalische Vorzeichen

Tempo giusto l"


Mit derselben Strophenform also beginnt jenes Singspiel und beginnt der
Zweite Teil des Faust; und eine Einzelheit: dort schließt Winterwetter,
hier schließt Frühlingsregen die erste Zeile der Anfangsstrophe. Ist das
Zufall? oder vielmehr ein Zeichen, daß Goethe noch nach mehr als fünfzig
Jahren diesen Rhythmus als tempo giusto empfand für das hohe Sing-
spiel Ariels und seiner Elfen? |

j. Verschlingung der beiden Linien

Im Beginne des Zweiten Faust erklingt zuerst die shakespearische,


dann die dantische Melodie, weniger und mehr als Shakespeare, dantisch
und gegen-dantisch. Aber auch damit ist der Polyphonie dieser Prolog-
scene noch nicht genug getan. Die dantische Melodie ist leise aber deutlich
hörbar lange vor dem Terzinenmonolog. Sie beginnt in Wirklichkeit,
durch die shakespearische sich schlingend, mit den ersten Zeilen dieses
ersten Aktes.
Einschlafen, ausruhen, erwachen, Sonnenaufgang, emporblicken ins
Helle und Überhelle — man bedenke, wie sich verwandte Situationen oder
wesentliche Momente dieser Situation an Entscheidungsstellen der Divina
Commedia wiederholen. Drei Dante-Scenen sollen hier verglichen werden:
der Anfang von Dantes Wanderung (Inferno I), der Eintritt in das
eigentliche Fegefeuer (Purgatorio I X ) und der Aufstieg zum irdischen
Paradiese (Purgatorio X X V I ) .
Im ersten Gesang, der das Vorspiel der gesamten Commedia ist wie
die Faustscene, die wir betrachten, das Vorspiel des Zweiten Teils, verliert
[20121] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 587

Dante den rechten Weg; so voll Schlaf ist er. Dann findet er sich am Fuß
eines Hügels und schaut empor - über jenes Guardai in alto und sein
neues Aufklingen im Hinaufgeschaut der Terzinen wurde vorher ge-
sprochen. Er sieht die Schultern des Hügels bekleidet mit den Strahlen
der Sonne. Von Grausen - so übersetzt Streckfuß Dantes pietà (I, 2 1 ) -
war sein Herz gepeinigt. Jetzt fühlt er seine Furcht ein wenig beruhigt:
Allor fu la paura un poco queta (I, 19).
Die aufgehende Sonne wird in ihrer Symbolkraft fühlbar, ebenso wie die
Nacht, der Weg und jeder andre Zug.
Faust ist ermüdet, unruhig, schlaf suchend, als der Geisterkreis ihn zu
umschweben beginnt. Wie undantisch Ariel und | seine Elfen sind, braucht
nicht noch einmal gesagt zu werden. Aber in seinen Worten an den
Elfenchor
Besänftiget des Herzens grimmen Strauß,
Entfernt des Vorwurfs glühend bittre Pfeile,
Sein Innres reinigt von erlebtem Graus
ist manches, worin die dantische Scene nachzuklingen scheint, das Grausen
des Herzens und wie es beruhigt wird. Vielleicht ist es auch bemerkens-
wert, daß gerade hier das Reimsystem: Strauß — Pfeile - Graus — näch-
tigerweile - aus - zum ersten Male etwas wie einen Anklang an Terzinen
lange vor Fausts Terzinenmonolog vernehmbar werden läßt.
Aber alles dies könnte am Ende auch „ Z u f a l l " sein, so wenig es
schließlich befriedigt, den Anfang der Commedia und den Anfang des
Zweiten Faust sich zufällig berührend zu denken. Genauer und wörtlicher
sind die Anklänge in den beiden Purgatorio-Scenen. Im pten Gesang
sinkt Dante - es ist Nacht - vom Schlaf besiegt ins Gras (vinto dal sonno
in su l'erba inchinai I X , 1 1 ) , wie Virgil nachher von ihm sagt:
Du aber lagst, den Geist von Schlaf befangen,
Im Tale dort auf jenem Blumenflor (IX, 53).
Faust sollen wir sehen auf blumigen Rasen gebettet, ermüdet, unruhig,
schlafsuchend, bis Ariel seinen Geistern befiehlt:
Erst senkt sein Haupt aufs kühle Polster nieder.
Als er dann in der vierten der nächtlichen Pausen ruht, singen die Elfen:
Wunsch um Wünsche zu erlangen,
Schaue nach dem Glänze dort!
Leise bist du nur umfangen,
Schlaf ist Schale, wirf sie fort!
Noch einmal: Goethe brauchte niemanden für seine Reimklänge, und
doch müssen ihm mit der Situation zugleich die Reime aus der Streck-
588 Deutsche Literatur [21/23]

fußschen Übersetzung im Ohr geklungen haben: befangen — gegangen —


gelangen — fort — dort - Ort. Wenn dann Goethes Ariel den Sonnenauf-
gang ankündigt:
Felsentore knarren rasselnd, |
so ist daran zu denken, wie in der Commedia sogleich nach Dantes
Erwachen die Felsenlandschaft gezeichnet wird, in der Lucia ihn zum
Tore hinaufträgt:
Zum Fegefeuer bist du nun gedrungen;
Den Felsen sieh, der's einschließt - sieh das Tor.
Und dann noch einmal am Ende desselben Gesanges, als die heilige
Pforte sich in ihren Angeln dreht (136):
Daß es dem Knarren jenes Tores glich . . .
Dante verweist ausdrücklich auf jene Scene im Lucan, und überbietet
sie, da Caesar mit Gewalt den römischen Staatsschatz aufbricht, so daß
der Tarpejische Fels ertönt und das Tor schrillt. Goethe hatte gewiß
im Gedächtnis den großen Moment der Ilias (V 748 ff.), da Hera den
flammenden Wagen lenkt und sich ihr donnernd die Pforten des Himmels
öffnen. Er hatte noch vieles andere im Sinn, so das Deckengemälde im
Casino Rospigliosi mit dem Sturm der Hören um den Wagen des Sonnen-
gottes. Und Türen und Tore — nicht wahr? - hatte er oft knarren hören.
Aber die drei Worte Felsen - Tore - knarren sind doch wohl nicht zufällig
so in jener Dantescene verbunden. Wir wissen, wie Goethe gerade die
scharfe Genauigkeit dantischer Landschaft bewunderte. Um — wie oft
noch! — Mißverständnisse zu verhüten: was kann mehr Goethisch sein
als dieser Sonnenaufgang bis in die Lautmalerei der r und s und / in den
zwei Versen

Felsentore knarren rasselnd,


Phöbus' Räder rollen prasselnd.
Im 2/sten Gesänge des Purgatorio geschieht der Aufstieg durch
Flammenglut zum Paradiese. Daß das Flammenübermaß in Fausts
Terzinen aus diesem Gesang angeeignet und zugleich weit über Streckfuß
hinaus gesteigert ist, wurde oben gezeigt. Aber schon vorher, so in der
letzten Strophe des Elfenchores, der die nahende Sonne ankündigt, sind
leise Anklänge an die dantische Melodie vernehmbar. Man würde das
vielleicht nicht zu sagen wagen, wenn man nicht gerade auf eben den-
selben | 27Sten Purgatorio-Gesang verweisen könnte:

Wunsch um Wünsche zu erlangen


Tanto voler sopra voler mi venne ( X X V I I 1 2 1 )
Schaue nach dem Glänze dort
Vedi lä il sol che in fronte ti reluce ( X X V I I 133).
[23 ¡24] Rhythmen und Landsdiaft im zweiten Teil des Faust 589

Aber auch das ist noch nicht alles. Wir kommen an dem Verse nicht vorbei,
der den Kommentatoren viel zu schaffen gemacht hat:
Dann badet ihn im Tau aus Lethes Flut.
Gegen Ende des 26sten Purgatorio-Gesanges wird der Fluß Lethe
genannt (108), an dem Dante dann im 28sten Matelda trifft. Hier ist die
Landschaft besonders geschmückt mit zitterndem Laub, bunten Blumen,
grünem Rasen, der vom Tau des Lethe-Flusses besprüht ist. Im 3isten
Gesang wird Dante von Matelda durch den Lethe-Fluß hindurchgezogen
und trinkt von dem Wasser das ihn umgibt, die Erinnerung seiner Schuld
dort zurücklassend. Die Faustkommentatoren streiten sich, ob Goethe
seine Lethe aus Dante hat oder geradeswegs aus griechischer Uberliefe-
rung. So gestellt ist die Frage verkehrt, der Streit überflüssig, der Gegen-
stand auf das Scholiastenniveau herabgezogen. Es versteht sich, daß der
Lethequell oder Lethestrom in Goethes Bewußtsein von früh an lebendig
war als ein Motiv der europäischen Bildung. Washed in Lethe, steeped in
soft and delicate Lethe, heißt es bei Shakespeare22. Goethe machte in
einem Stammbuchvers an die Gräfin von Brühl (1785) den Karlsbader
Sprudel zur Quelle der Lethe - ein Bildungsornament gesellschaftlich
scherzhaft gebrauchend. Für den alternden Goethe wird Lethe viel mehr.
Aus seinen letzten anderthalb Jahrzehnten hat Erich Schmidt viele Brief-
stellen zusammengebracht, an denen von lethäischen Fluten, lethäischem
Nebel lethäischem See, ätherischem Lethestrom die Rede ist (Jubiläums-
ausgabe Bd. 14 zu V. 4629 und V. 6721). Man kann aus dem Faust selbst
zwei so verschieden getönte Stellen vergleichen wie die aus der
Baccalaureus-Scene (6721):

Wenn, alter Herr, nicht Lethes trübe Fluten


Das schiefgesenkte, kahle Haupt durchschwömmen, |
und die Worte des Chores im Helena-Akt (8896):
Letheschenkenden, holdmildesten Worts.
Aber auch damit ist noch nicht alles über die Lethe in der Prologscene
gesagt.
Dann badet ihn im Tau aus Lethes Flut,
heißt es in Ariels befehlender Rede.
. . . wo des klaren Flusses Wogen (nämlich Lethes)
Den Rasen am Gestad mit Tau besprühn

22
Ich lese little Love that now sleepeth in Lethe Lake aus Spensers Shepheardes Calen-
dar bei L. Spitzer, Studies in Philology 47, 1950, 497; dazu 501 2 . Es wäre vermutlich
ebenso leidit wie hier überflüssig, Parallelen anzuhäufen.
590 Deutsche Literatur [24¡25]

heißt es in Streckfuß' Ubersetzung von Purgatorio X X V I I I , 61 f., und


Lethes Flut steht am Zeilenende in der Übersetzung von Purgatorio
X X V I , 106. Dort reimt Flut mit gut und ruht, und diese Reime sind
durchflochten mit den weiblichen wieder — Lieder - darnieder. So reimt
in Ariels Rede Lethes Flut mit entgegenruht, und diese Reime sind durch-
flochten mit den weiblichen nieder - Glieder. Dabei ist auch noch dieser
Zug nachdenkenswert: In der antiken Tradition sind es Seelen, die aus
dem Lethe-Quell trinken oder die Lethe-Wiese und den Lethe-Fluß
durchkreuzen. Aber bei Dante und bei Goethe, und nur bei diesen, scheint
es, wird nicht ein Abgeschiedener, sondern ein lebender, leidender Mensch
von einem helfenden Geist oder helfenden Geistern in der Lethe gebadet,
so sehr dann wieder Matelda, la bella donna, verschieden ist von den
Goetheschen Elfen. Also die mythologische Vorstellung von der Lethe,
Goethen von je geläufig und dem Alternden symbolisch bedeutsam,
empfängt durch Dante noch eine neue Wesentlichkeit: in dem Stufenweg
des Lebens wird eine neue Ebene erstiegen, und alles was auf der früheren
war versinkt in heilende Vergessenheit. -
Genug davon, wie Goethe die „ dan tische" Linie schon im ersten Teil
der Ouvertüre durch die „shakespearische" geschlungen hat23. Sei nun
noch darauf hingewiesen, wie scharf wiederum die beiden Melodien dort,
wo sie in der Mitte der Scene zusammentreffen, gegeneinander abge-
setzt sind.
Wenn die erste Zeile des Terzinenmonologes erklingt, so fühlt man
den neuen Rhythmus wirklich wie einen frischen | Pulsschlag voll tiefster
Ruhe und Festigkeit. Diesen Eindruck hat der Dichter besonders ver-
stärkt, indem er den Terzinen die beiden Verse vorausgehen läßt, mit
denen Ariel die Scene frei macht für den einen Faust:
In die Felsen, unters Laub;
Trifft es euch, so seid ihr taub.
Es ist das einzige Mal, daß in der Ariel-Scene zwei fallende Viersilbler
stumpf reimend aufeinander folgen, dieses gegenüber den Terzinen, also
steigenden Langzeilen in durchaus klingenden und miteinander ver-
schlungenen Reimen. Und die letzte Zeile ist die einzige in dieser Scene,
die ganz aus Einsilblern besteht:
Trifft I es I euch, I so I seid / ihr / taub.
Dergleichen ist wahrscheinlich in der Faustdichtung überhaupt nidit
häufig. Hier hat der Wortklang etwas Huschendes, das mit dem elfischen
Geschehen zu stimmen scheint, und jedenfalls ist der Kontrast besonders
stark, wenn nun Fausts Monolog mit seinen vollen Wortklängen einsetzt. |
» D . J . Snider, Goethes Faust, Second Part, C h i c a g o 1 8 8 6 , n : Thus, in this little Pre-
lude, Goethe shows his connection with the t w o previous Literary Bibles, Dante und
Shakespeare, und develops himself and his poem, as it were, out of them . . .
[25127] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 591

6. „Naturphilosophie sei Gottes Enkelin"

Die reiche Kontrapunktik, die Goethe dem Vorspiel des Zweiten


Faust gab, wurde so erst in der letzten Fassung erreicht. Hier wurde
gleich am Anfang vernehmbar, daß der 76jährige seinem Lebenswerk
eine Weite und Tiefe zu geben gedachte, die über alles Frühere hinaus-
ging. Noch im Plan von 1816 (Paralipomena Soph. 63 = Ins. 49) war
die Eingansscene einfacher angelegt. Faust war nicht ermüdet, unruhig,
schlafsuchend, sondern schlafend. Statt Ariels und seiner Elfen sollten
ihn Geisterchöre umschweben, die in schmeichelnde Worte und Melodien
ihre eigentlich ironischen Anträge verhüllen. Ironisch - also die Freuden
der Ehre, des Ruhms, der Macht und Herrschaft, die sie in sichtbaren
Symbolen und anmutigen Gesängen vorspiegeln, waren hintersinnig ge-
meint. Aber wie auch immer diese Ironie gewendet werden sollte, der
Unterschied zwischen jenen geplanten Geisterchören und Ariels Elfen-
chören ist deutlich24. Jene sollten von dem singen, was in dem Strebenden
selbst lebte. Geister des Ruhms der großen Tat heißen sie in einem anderen
Entwurf (Soph. 100 = Ins. 58). Jetzt hingegen sind Kräfte der großen
Natur am Werk, von der Faust ein Teil werden soll. Und der heilende
Schlaf, in den sie den Ermüdeten versenken, vollzieht sich nach festen
Maßen: den vier Pausen, wie Ariel sie anordnet und der Elfenchor sie
ausfüllt. Goethe kannte die vier vigiliae des römischen Heeres seit seiner
Jugend aus dem Neuen Testament der Lutherbibel als Nachtwachen oder
Wachen der Nacht oder einfach als Wachen. In Rom müssen sie ihm als
die Vigilien im Gottesdienst der Kirche wiederbegegnet sein. Das Wort
Wachen aus der Bibel beizubehalten, konnte ihm nicht in den Sinn
kommen, da Faust ja eben ruhen sollte und nicht wachen. Warum aber
nannte er sie Pausen, die, eben weil sie Pausen sind, ausgefüllt werden
müssen? Daß ein Zeitraum aus nichts anderm als aus Pausen besteht, ist
doch nicht so ganz von | selbst verständlich, wie es den Kommentatoren
vorzukommen scheint.
Wichtig oder nicht, wir können die Frage vielleicht beantworten25.
Goethe war durch viele Jahre ein aufmerksamer Leser der römischen
Kaiserbiographien. Die Tagebücher berichten von seiner Sueton-Lektüre

24
K. Burdach, Das religiöse Problem in Goethes Faust, Euphorion 23, 1931, 18, findet
den ursprünglichen Plan befremdend — man sieht nicht recht, warum. Wir werden auf
den Unterschied zwischen dem Plan von 1816 und der Ausführung von 1826 noch
mehrfach zurückkommen. - Daß der Plan von 1816 wirklich „ein im ganzen zutref-
fendes Bild der ältesten Konzeption unseres Stückes" gebe (J. Niejahr, Goethes Helena,
Euphorion 1, 1894, 81 ff.) ist nicht denkbar. Goethe kann damals doch nicht seine
eigene Helena, die von 1800, ignoriert haben. Er hat es auch nicht getan. Helena
glaubt soeben von Troja zu kommen und in Sparta einzutreffen: das ist der Beginn
des Helena-Fragments und des Dritten Aktes. Sie findet alles einsam: das ist Vers
8669: Erstaunt' ich ob der öden Gänge Schweigsamkeit.
592 Deutsche Literatur [27128J

zuletzt 1825, v o n der Lektüre der Scriptores Historiae Augustae zuletzt


im August 1819:

Abends für mich. D i e Kaiser des Julius Capitolinus gelesen.


Bald nach Hause. Leben des Commodus.
Leben des Heliogabalus.
Nachts das Leben Alexanders Severus und der Maximinen.
Leben der Gordiane.

N u n w i r d in diesen Biographien mehrmals berichtet, der Kaiser C o m m o -


dus sei ein so großer Verehrer der Isismysterien gewesen, d a ß er sich wie
ein ägyptischer Priester das H a a r scheren ließ, in feierlicher Begehung eine
Anubis-Statuette trug und, wie es einmal heißt, „alle Pausen ausfüllte"
(omnes pausas expleret). Sollten diese Worte mit ihrem rituellen K l a n g
in Goethes Sinn gehaftet haben und dann mit den vier Nachtwachen
zusammengeschmolzen sein?
Man möchte sich nicht gern auf H o l z w e g e verirren, aber man sucht
noch nach einem verbindenden Glied zwischen den Vigilien des römischen
Heeres und der römischen Kirche hier und den pausae des ägyptisch-
römischen Anubiskults dort. W a r u m wären die Vigilien gerade zu Pausen
geworden? Eine Möglichkeit wenigstens sei hier aufgezeigt, nicht viel
mehr als das. W i r sahen vorher, w i e Dantes 9ter Purgatorio-Gesang bis
in die Einzelheiten lebendig in Goethes Erinnerung haftete. N u n steht
am A n f a n g gerade dieses Gesanges eine seltsame Zeitrechnung, die den
Dante-Auslegern seit Jahrhunderten zu schaffen macht, ohne daß, wie
es scheint, ein Einverständnis zu erzielen wäre. D i e Nacht macht Schritte,
passi. V o n diesen Schritten, sagt Dante, hatte sie damals schon z w e i
gemacht, und der dritte Schritt senkte eben seine Flügel abwärts. Seltsames
Bild. D i e einen Ausleger verstehen unter den passi die Tierkreiszeichen,
andere verstehen die Stunden der Nacht. | Die Dante-Ausgabe Venedig
1739 26 aber, die Goethe besaß, deutet die passi der Nacht eben auf
jene vier Vigilien, die im Faust die vier Pausen heißen. Es ist gewiß nicht
zu beweisen, aber es ist sehr w o h l möglich, d a ß jene danteschen passi
- der W o r t k l a n g und die im Kommentar betonte Vierzahl - mit den
pausae der Commodus-Vita und mit den römischen Vigilien in Goethes
Geist, dem allumfassenden, zusammenschmolzen.

25 Ich benutze die höchst dankenswerten Sammlungen von E. Grumadi, Goethe und die
Antike, 1949, II, 875 f. Die hier in Betracht kommenden Stellen sind Script. Hist.
Aug. V I I 9, 4; X I 6, 8 sq.; X I I I 9, 10 sq.
24 L a Commedia di Dante, Venezia 1739, Cantica Seconda p. 80: Se il poeta seguita
pure a descrivere l'Aurora del giorno . . . , chiamerà passi della notte le quattro vigilie
. . . e cosi non s'allontana molto dal vero dicendo, che sul finire della terza vigilia com-
minciava quasi l'Aurora. - Es steht j a nicht zur Frage, ob diese Deutung richtig ist,
sondern daß sie in jener Dante-Ausgabe steht, die Goethe jederzeit zur H a n d hatte.
[28 ¡29] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 593

Auf diese Vermutungen soll nicht zu viel Gewicht gelegt werden.


Kehren wir von möglichen Einflüssen zur Goethisdien Dichtung selber
zurück. Auf alle Fälle ist es die vollkommene Ruhe und das Geordnete
in dieser Ruhe, was die vier Pausen vermitteln. Dazu kam wohl noch,
daß sich der Klang des au in Pausen und iiwsfüllen paarte mit dem in
Hdttpt und Strauß und Graus und Tau. Denn was dem Dichter im Alter
aus alledem wird, ist außer wunderbaren Klängen — oder lieber: in
wunderbaren Klängen - dieses: Fausts reinigender und heilender Schlaf
wird eingeordnet in das große Naturgeschehen als in einen heilig-welt-
lichen Ritus.
Nach dem Verklingen der Gesänge erwacht Faust: so war es schon
1816 und wer weiß wie viel früher geplant. Und nach den Gesangs-
strophen mußte ein Monolog folgen: Der Geist, gereinigt und frisch,
nach dem Höchsten strebend. Also selbst von den Worten

ein kräftiges Beschließen,


Zum höchsten Dasein immerfort zu streben

war das meiste dem Dichter schon gegenwärtig, lange ehe sie Teil des
Terzinenmonologs wurden. Die Terzinenform, der Wetteifer mit Dante,
ist nicht vor 1825/6 möglich. Dieser letzten Phase gehört, durch Dantes
Naturphilosophie - Gottes Enkelin — mit angeregt, der natursymbolische
Gehalt der Terzinen, die „platonische" Bewegung, das Empor und wieder
Hinab, die Sonne, die Blendung, der farbige Abglanz. In verschiedener
Weise und doch symphonisch ist der Elfen-Teil sowohl wie der Monolog-
Teil ein holder und mächtiger Ausdruck Goetheschen Natursinnens
geworden. |
Man bedenke, wie anders im Ersten Teil Faust der Natur gegenüber-
steht, leidenschaftlich zugewandt und eindringend, dann jedesmal wieder
abrupt sich entfernend, verzichtend, zurückgeworfen. Nachdem er das
Zeichen des Makrokosmos betrachtet hat:

Welch Schauspiel! Aber ach! ein Schauspiel nur!


Der Erdgeist:
Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
Nicht mir!
Im Osterspaziergang:
Ach! zu des Geistes Flügeln wird so leicht
Kein körperlicher Flügel sich gesellen.
Im Monolog Wald und Höhle:
O daß dem Menschen nichts Vollkommnes wird,
Empfind' ich nun.
594 Deutsche Literatur [29131]

Auf leidenschaftliche Hinwendung folgt jedesmal der Rückschlag27. Statt


dessen bringt der Monolog des Zweiten Teils Einordnung in die große
Ordnung, Harmonisierung durch die Harmonie der Natur. Indem Goethe
diese Ouvertüre schrieb, stimmte er den Zweiten Teil zu einer weithin
von Naturphilosophie bestimmten Dichtung um.
Hier darf man daran erinnern, wie dem Dichter und Naturforscher
Goethe der Plan eines großen Lehrgedichts über die Natur viele Jahre
hindurch als Aufgabe vorschwebte. Lucrezens De Rerum Natura hat er
aufs höchste bewundert, so wenig er den atomistischen Materialismus und
den dogmatischen Ton leiden mochte, und immer wieder ist er zu Lucrez
zurückgekehrt, nicht nur wegen der langjährigen Freundschaft mit dem
Ubersetzer Knebel und der lebhaften Teilnahme an dem Schicksal dieses
Ubersetzungswerks, sondern auch darum, weil er hier das große Beispiel
eines Lehrgedichts über die Natur vor sich sah28. Damit zu wetteifern
war einst sein Wille. Man weiß, daß er auf sein großes Naturgedicht
schließlich verzichtete und Cyklen kleinerer Gedichte an dessen Stelle zu
setzen vorzog, zuletzt sie im dritten Band der Ausgabe letzter Hand
(1827) unter dem Titel Gott und Welt vereinigend 29 . Aber auch damit
war die Kraft nicht erschöpft, die sich einmal auf jenes Naturgedicht
gerichtet hatte; sie strömte in den Zweiten Faust ein, umgab, durchdrang
und formte das dramatische Geschehen und stellte das Werk — diese
„Wiederbringung aller Dinge im Weltprozeß der Literatur" (E. R.
Curtius) — unter vielem andern auch in die Nachfolge des Empedokles
und Lukrez als eine Dichtung De Rerum Natura. |

7. Mephistopheles und die Phorkyaden

Der Zweite Faust war selbst für Gundolf „eine Lade für Einlagen,
ja ein Gedicht aus Einlagen." „Wir bemerken bei Gestaltung des Faust II
dieselbe zentrifugale Tendenz, die schon die Wanderjahre zu einem
Sammelbecken Goethischer Bildung und Weisheit gemacht hatte, unter
notdürftigem Bestand der Fiktion eines einheitlichen Helden mit einheit-
lichem Geschehen30." Wenn dies für einen Kenner wie Gundolf so aus-
sah, um wie viel mehr für den Durchschnittsleser, und wenn der Zweite
27
E . Schmidt, Jubiläumsausgabe B a n d 1 3 zu V . 3 2 1 7 .
28
E . Grumach, Goethe und die Antike, 3 3 5 ff. V g l . hierzu und zum Folgenden W . K r a n z ,
Empedokles, Antike Gestalt und romantische Neusdiöpfung, 1 9 4 9 , 100 ff. - Goethe
las auch in dem Hexametergedicht Anti-Lucretius sive de D e o et N a t u r a des Kardinals
Melchior de Polignac (Parisiis 1 7 5 4 ) und zitiert daraus in den Materialien zur Farben-
lehre einige gegen N e w t o n gerichtete Hexameter.
29
Die Zeugnisse brauchen nicht von neuem vorgelegt zu w e r d e n ; siehe F . Strich, D i e
Mythologie in der deutschen Literatur I 3 3 2 ff.; Flitner, Goethe im S p ä t w e r k 1 2 1 f.,
128.
30
G u n d o l f , Goethe 7 7 4 . D a s Schlußkapitel in G u n d o l f s Goethe r u f t mehr als irgend ein
anderes den Widerspruch herauf.
Pi 132] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 595

Faust im allgemeinen, wie sehr im besonderen die Klassische Walpurgis-


nacht! Der Vergleich mit den Wanderjahren freilich führt doch nur allzu-
sehr in die Irre. Die Wanderjahre mußten drei Bände der Ausgabe letzter
Hand füllen, und J . F. Cotta wartete in Stuttgart. Den Zweiten Faust
versiegelte Goethe vor seinen Zeitgenossen. „Episodisch wie eine schlechte
Tragödie", mag mancher Aristoteliker urteilen und könnte sich dabei
auf ein Gespräch mit Eckermann (13. Februar 1831) berufen, in dem
dieser noch mehr als Goethe selbst auf den in sich abgeschlossenen kleinen
Weltenkreisen des Faust besteht und dafür eines von jenen berühmten
Sie haben vollkommen recht von dem Meister einkassiert. Aber ist es
Selbsttäuschung, daß je mehr man eindringt, desto notwendiger auch das
scheinbar Irrweghafte wird? Man mag die verrätselten Kabiren gern
entbehren wollen 31 , bis man für sie der wundersamen Formel begegnet:
Sehnsuchtsvolle Hungerleider
Nach dem Unerreichlichen.
Dann spürt man, was diese und andere Dämonen in der Fausttragödie
bedeuten und insbesondere für Fausts Streben nach Helena: Begleitende
Melodien verstärken die Hauptmelodie, die freilich manchmal hinter
jenen zu verschwinden droht.
Es wurde oben hingedeutet auf den Wandel, den die Ouvertüre des
Zweiten Faust gegenüber dem Entwurf von 1 8 1 6 er ¡fahren hat, als sie
zehn Jahre später ins Leben trat. Diesem Wandel, so soll gezeigt werden,
oder wenigstens vielem darin, entspricht die Umgestaltung, die die
Klassische Walpurgisnacht erfahren hat zwischen dem ausführlichen Plan
von 1826 (Paralipomena Soph. 123 = Ins. 91) und der endgültigen
Fassung von 1830. So groß auch hier der Unterschied ist, durch eins lasse
man sich nicht täuschen - und ich fürchte, daß in diesem Punkt auch die
bewundernswerte Interpretation Karl Reinhardts 32 einer Täuschung ver-
fällt - : durch den vielfach ironischen Ton des Entwurfs. Rococogeist sei
das, dessen der Dichter erst in den Jahren nach 1826 Herr geworden wäre?
Sieht man es so, dann ist eins vergessen: wie sehr Goethes dichterisches
Wort verschieden ist von dem Ton, den er anschlägt, wenn er über seine
werdenden oder auch seine fertigen Dichtungen spricht. Seine Briefe an
Schiller sind voll von solchen Ironien, die von dem Freunde oft in gleichem
Tone weitergeführt werden 33 . Wie sollte jener Entwurf nicht voll davon

31
A . G . Latham, Faust I and II, Introduction p. X X X V I I I : The present writer would
be loth to sacrifice anything, unless, perhaps, it were those venerable, but utterly
inexplicable and ineffably wearisome deities, the Kabiri.
32
K . Reinhardt, Von Werken und Formen, 1948, 348 ff. - Tradition und Geist, i960,
309 ff-
33
Burdadi, a. O. 18, steht etwas ratlos vor diesem ironischen Ton in Goethes Äuße-
rungen („der mir stets unbehaglich bleibt") und weist ihn irrtümlich Goethes späteren
Lebensjahren zu. Übrigens spricht Goethe so nicht nur über seine Pläne sondern auch
über seine fertigen Werke.
596 Deutsche Literatur [32133]

sein, in dem Goethe mit seinen Plänen vor die Öffentlichkeit tritt und
kein Geheimnis vor dem Publicum zu verbergen vorgibt. Audi so ist der
Unterschied zwischen dem Entwurf von 1826 und der Ausführung von
1830 groß genug und höchst lehrreich für das fertige Werk, auf das ja
zuletzt alles ankommt.
Daß der akademisch angestellte Doctor und Professor Wagner nicht
wie geplant von Mephistos Eilmantel mit nach Thessalien entführt wird,
sondern daß er zu Hause bleibt, um Wichtigstes zu tun, macht ihn erst zu
dem was er eigentlich ist. Er bleibt dort wo er hingehört. Der zweite Akt,
in Fausts hochgewölbtem, gotischem Zimmer beginnend, im Archipelagus
schließend, läßt noch einmal den ganzen Abstand ermessen, den Faust zu-
rückzulegen hat bis in die Nähe Helenas und in das Unendlidi-Freie und
zugleich Geordnete der griechisch gesehenen Natur.
Mephisto kommt in der vollendeten Fassung zu den drei Phorkyaden,
den Scheusälern, die gemeinsam nur ein Auge und einen Zahn haben, den
häßlichsten und darum dem Mephistopheles verwandtesten unter den
griechischen Dämonen. Zwei sind es bei Hesiod, drei bei Aischylos und bei
den Mytho|graphen. Goethe dichtet am Mythos weiter, dichtet mit höch-
ster Treffsicherheit, indem er den Mephisto bestimmt sich den dreien an-
zugleichen. Außer der griechischen Form - und was für einer Form! - muß
Mephisto auch eine griechische Genealogie haben.

Des Chaos wunderlicher Sohn,


so hatte Faust ihn schon im Ersten Teil bei ihrer ersten Begegnung ge-'
nannt (1384).
Des Chaos vielgeliebter Sohn,
so nennt sich Mephisto jetzt (8027), als er die Phorkyadenmaske - ein
Auge, einen Raffzahn - angelegt hat. In der Wiederholung klingt es noch
höhnischer und noch genauer genealogisch. Denn die Phorkyaden nennen
sich wie im Echo seine Schwestern:
Des Chaos Töchter sind wir unbestritten,
und dies aus Goethes genealogisierender Machtvollkommenheit und trotz
des (kaum bemerkbaren) Widerspruchs, daß die Phorkyaden ihrem
Namen nach ja eigentlich Töchter des Meergottes Phorkys sind. Chaos
steht bei Hesiod am Anfang der gesamten Theogonie, ist Urahn also auch
der Graien. Für Goethe war diese Verwandtschaft zu entfernt. Mephisto
ist der allernächste Abkömmling des uranfänglichen Wirrsals, der Ver-
nichtung. Das Vulkanische in der Natur, Revolution und Krieg in der Ge-
schichte sind ihm nächst verwandt.
Von hier aus kann man auch ahnen, was Goethe ursprünglich plante,
als er in den früheren Entwürfen seinen Mephisto statt mit den drei Graien
mit der einen Enyo wollte zusammentreffen lassen. Enyo ist bei Hesiod
[33135] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 597

N a m e der einen seiner beiden Graien, bei Homer ist E n y o die Städtezer-
störerin, Schwester des Ares Enyalios. Mit anderen Worten: Hesiod hat
den homerischen Namen der Kriegsfurie übernommen und eine seiner
Schauergestalten damit ausgestattet. Goethe fand die beiden Enyo-Figu-
ren in seinem Hederich hintereinander verzeichnet. In der vollendeten
Dichtung gibt er den drei Phorkyaden-Graien keine Sondernamen, die ja
das individualisiert hätten, was unterschiedslos bleiben soll. In den Ent- |
würfen ist es noch nicht die Gruppe, sondern nur die eine Enyo. Ihre gran-
diose Häßlichkeit hat sie aus dem Hesiod. Aber daß sie als einzelne auf-
tritt, als hätte sie gar keine Schwestern, ist dem Homer entnommen (oder
Hederichs Lexicon Mythologicum). Mephistopheles versteht sich mit ihr
und schließt ein Bündnis ab, dessen offenkundige Bedingungen nicht viel
heißen wollen, die geheimen aber desto merkwürdiger und folgereicher
sind. Bei den geheimen Bedingungen hat man an ein Liebesverhältnis zwi-
schen Mephistopheles und dem Ungetüm gedacht34 - und warum soll man
das schließlich abstreiten? Aber Enyo ist Kriegsdämon, müssen sich also
folgereiche Bedingungen des Bündnisses nicht auf künftige Kriege be-
ziehn? Der Krieg, der sich im Helena-Akt anmeldet und dann im vierten
A k t beherrschendes Thema wird, sollte wohl hier zwischen den beiden an-
gesponnen werden. Mephistopheles rät zur physischen Gewalt und stellt
Fausten drei Helfershelfer, heißt es schon in dem Entwurf von 1816,
gleich nachdem Helena und ihr Sohn entschwunden sind.
Wie ist der Wechsel zu verstehen? Grandiose Häßlichkeit w a r in den
Entwürfen e i n Motiv. Es wurde d a s große Motiv in der letzten Fassung.
Also hat Goethe jene Vorbereitungen künftigen Krieges fahren lassen.
Aus der einen urhäßlichen Kriegsfurie ist die Dreiheit der Phorkyaden
geworden. Alles ist jetzt auf den einen Gegensatz zu der einzigen Helena
gestellt.
Wie aber ist diese Häßlichkeit geartet? Das eine Auge und den einen
Zahn, eine Scheußlichkeit so abschreckend, daß weder Sonne noch Mond
sie ansehen mögen: so stellte es der alte durch Aischylos vermittelte
Mythos dar. Goethe greift tiefer. D o r t w o es Form von irgendwelcher
A r t gibt, ist man beinahe schon auf dem Wege zur Schönheit. Faust vor
den Sphinxen und den Sirenen stehend:

Wie wunderbar! das Anschaun tut mir Gnüge,


Im Widerwärtigen große, tüchtige Züge.

Dieses dreifache Ungetüm hingegen ist am nächsten dem Nichts, platonisch


gesprochen dem Nicht-Seienden: |

. . . da ihr, der Welt entrückt,


Hier niemand seht und niemand euch erblickt

34M.Morris, Goethe-Studien I 2 , 1902, 183 f.


598 Deutsche Literatur [35136]

oder, wie sie von sich selbst sagen:


In Nacht geboren, Nächtlichem verwandt,
Beinah uns selbst, ganz allen unbekannt.
Diese Züge, oder Beinahe-nicht-Züge hat Goethe ihnen gegeben, aus
eigener Macht die Mythologie mit Naturphilosophie durchdringend.
Selbst die Zahl dieser Phorkyaden ist unbestimmt. Erst sind es drei,
dann aber schlägt Mephisto vor, ihn in ihre Dreiheit aufzunehmen:
Da ging' es wohl auch mythologisch an,
In Zwei die Wesenheit der Drei zu fassen,
Der Dritten Bildnis mir zu überlassen
Auf kurze Zeit.
Und so geschieht es. Denn bald hört man sie jubeln:
Im neuen Drei der Schwestern welche Schöne!
Goethe hat sich die Verschiedenheit der antiken Überlieferung, die er in
seinem Hederich fand — „einige zählen deren nur zwo, nämlich die Pe-
phredo und die Enyo, die meisten aber drey" — zunutze gemacht, aber
gewiß nicht, um sich einen Platz in der Reihe der Mythologen zu sichern,
sondern damit anschaulich würde: so unsicher sind diese Formen der
äußersten Häßlichkeit, daß nicht einmal die Zahl ihrer Träger beständig
ist.
Man darf bei alledem an Piatons Versuch im Timaios erinnern, das
vollkommen Gestaltlose und darum Nicht-Seiende — denn Sein heißt
Geformt-sein - und darum Nicht-Erkennbare dennoch zu erfassen und
in halb-mythischem Ausdruck zu beschreiben. So sind die Phorkyaden von
Goethe unter anderm gewiß dazu bestimmt, das Helena-Thema durch eine
Kontrastmelodie voller zu instrumentieren und zugleich die Dichtung um
einen naturphilosophisch-grundlegenden Zug zu bereichern.
Hier denke man noch einmal zurück an den Gegensatz zwischen dem
Ouvertürenentwurf von 1816 und der fertigen | Ouvertüre von 1826. Die
Umgestaltung der Walpurgisnacht folgt langsamer nach, aber sie folgt
nach. Mephistos Pakt mit der Kriegsdämonin Enyo wäre in der Linie
jenes Entwurfs gewesen, in dem die Geisterchöre von Ruhm, Ehre, Macht
und Herrschaft singen sollten. Mephistos Begegnung mit den Phorkyaden
ist in der Linie des jetzigen Prologs, der durchdrungen ist von Goethes
Natur-Sinnen: Die Nacht in ihre Pausen klar gegliedert, ihr Dunkel
immer wieder erleuchtet durch große Lichter, kleine Funken, Tagesblick,
Silberwellen, Glanz der nahenden Sonne. In Fausts Terzinenmonolog ist
im Dämmerschein die Welt erschlossen, senkt sich Himmelsklarheit in die
Tiefen, wird neuer Glanz und Deutlichkeit gespendet, klärt sich Färb'
an Farbe los vom Grunde. Die Phorkyaden sind zu alledem das Gegen-
teil:
Versenkt in Einsamkeit und stillste Nacht. I
[37/38] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 599

8. Hintergründiges im Faust

Den größten Wandel innerhalb der Klassischen Walpurgisnacht hat


Homunculus durchgemacht, und wenn auch nicht Faust selbst, so doch die
sichtbare Rolle die er spielt. Faust und Homunculus haben zunächst ein-
mal ihren Platz getauscht. Die Walpurgisnacht sollte ja die Vorbereitung
sein f ü r den Hinabstieg in die Unterwelt. Dort sollten Faust und Manto
vor Persephones Thron stehen. Eine Scene in Trimetern w a r geplant, in
der das griechische Versmaß des Helena-Aktes vorausklingen sollte, Tri-
meter gesprochen von Manto und von Faust, der nicht umsonst das Wohl-
gedachte .. .in solchen ernsten, langgeschwänzten Zeilen auszusprechen
von seiner Führerin ins Schattenreich gelernt hatte. Der zweite Akt, go-
tisch beginnend, sollte streng klassizistisch enden, so daß der streng klassi-
zistisch beginnende Helena-Akt an dieses Ende anschloß und die Weite
des zurückgelegten Weges bis in die metrische Form hinein vernehmbar
wurde.
Ungern und erst ganz zuletzt hat Goethe auf die Unterweltscene ver-
zichtet. Im zweiten A k t ließ sie sich nicht mehr halten, seitdem Homun-
culus die Umformung erfahren hatte, die uns später beschäftigen wird. So
sollte noch 1830 die Scene vor Persephones Thron zum Prolog des dritten
Aktes werden (Paralipomenon Soph. 1 5 7 = Ins. 124). Erst als der Dich-
ter so weit war, muß er sich überzeugt haben, daß der Helena-Akt als
griechische Tragödie mit Helenas Rede und mit nichts anderem, auch
keinem Prolog bei Persephone, zu beginnen habe.
Darum, nicht aus irgendwelchem dichterischen Versagen, blieb die
große Unterweltsscene ungeschrieben, obgleich sie bis in die Einzelheiten
deutlich und hier und da bis in den Wortlaut fertig vor Goethes Geist
stand und er sich schwer und spät von ihr trennte. Er hat sie durch das
vordergründige - und doch so hintergründige — Geschehen der klassischen
Walpurgisnacht überdeckt. Damit befolgt er ein festes Stilprinzip, Stil-
prinzip seines Spätwerks, wie K a r l Reinhardt es am besten beschrieben
hat: jene „Manier, weite Räume zu eröffnen und darin das Reduzierte
durch die Kunst des Perspektivischen zu steigern 35 ." Fausts eigentliche
Tat am Kaiserhof, bevor er Helena heraufzaubert, ist sehr real, finanz-

35
Reinhardt, Von Werken und Formen 367 f. = Tradition und Geist 325 f. Dies gegen
die verbreitete Auffassung, für die E. Kühnemann, Goethe, Leipzig 1930 II 434 citiert
sei: „Das Spiel ist an dieser Stelle immer Bruchstück geblieben." - Man kann auf eine
Analogie in Piatons Spätwerk hinweisen, auf das, was ich dort (s. m. Piaton I 175 =
I 2 159) die „ironische Gewichtsverschiebung im Kunstwerk" genannt habe. - Ob
Goethe mit der Tagebuchnotiz vom 24. Januar 1832: Neue Aufregung zu Faust in
Rücksicht größerer Ausführung der Hauptmotive, die ich, um fertig zu werden, allzu
lakonisch behandelt hatte, auf die hier betrachteten Scenen zielt (so R. Petsch, Goethes
Faust, 2. Ausg. 192J, 42), ist fraglich, und selbst wenn es so wäre, würde sich an dem
im Text Gesagten nichts ändern oder höchstens so viel, daß Goethe an seinem Stil-
prinzip für Augenblicke zweifelhaft geworden wäre.
600 Deutsche Literatur [38/39]

politisch: es ist die Schaffung des Papiergeldes. Wieviel dabei Mephisto-


pheles auch mitwirkt, so begründet doch Faust als ein Vorgänger oder
Nachfolger John Laws für sich die Stellung, die er dann im vierten Akt
innehaben wird, und aus der das Werk seines Alters, die Kolonisation,
herauswächst. Man soll sich über Goethes Erfindung dieses finanzpoliti-
schen Geschehens wundern, aber doch nicht zu sehr. Die Assignatenwirt-
schaft der französischen Revolution hatte damals jeder im Sinn, wie Goe-
the selbst ihrer in den Annalen und auf der ersten Seite der Campagne in
Frankreich gedenkt und in den Maximen und Reflexionen das Durch-
rauschen des Papiergelds zu den ungeheuren Elementen zählt, auf die
gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist. Im Alltag wird das für Goethe
zu einer Sache des eignen häuslichen Budgets. „Von den Stecknadeln",
schreibt er an seine Frau, „kommt nur ein halbes Pfund, weil man bei
dem Verhältnis des Papiergelds zum Silber nicht so geschwind überschla-
gen kann, wie es sich gegen die vorigen Jahre verhält, und ob die Leute
einen freventlich überteuern, weil man Eile hat." Auch in den Gesprä-
chen mit Eckermann ist mehrmals von dem Papiergeld und seinen Para-
doxien die Rede: in Hinsicht auf den Faust, in einer Anekdote von den
Spitzenmanschetten des Barons von Grimm, die 250 000 Franken geko-
stet hätten, mit einem Seitenblick auf die Geldspekulationen des jungen
August von Goethe, und sonst. Ist das uns so fremd, die wir noch größere
Papiergeldkatastrophen erlebt haben?
Aber Fausts finanzpolitisches Handeln bleibt im Hintergrunde. Im
Vordergrund rollt das herrliche, auch bühnenmäßig herrliche, Schaubild
des Maskenzuges ab, in dem Faust als Gott des Reichtums verkleidet mit
seinem Scheingold alles bezaubert und mit seinem Feuerzauber alles er-
schreckt36. | Später, im Lustgarten, unter der Morgensonne, erfährt der
Kaiser und erfahren wir Zuschauer, was sich in der Nacht wirklich be-
geben hat.
Am Ende des vierten Akts hat Faust für „seinen" Kaiser mit Hilfe
der Dämonen den Sieg gewonnen und soll nun den Preis empfangen, um
dessentwillen er all dieses getan hat:
Die Lehn von grenzenlosem Strande.
Die Belehnungsscene stand klar vor des Dichters Sinn. Das Paralipomenon
(Soph. X V 1, S. 342 = Ins. 1 7 1 ) , in dem Faust vor dem Kaiser knieend
den Ritterschlag empfängt, ist bekannt. Und wiederum mußte diese Scene
in den Hintergrund entschwinden, und überdeckt wird sie, der Akt wird
beschlossen, durch den Auftritt, in dem die Reichsämter sich um ihren

Gundolf, Goethe 7 6 3 , sieht hier „die tiefste Demütigung v o n Goethes Genius . . ."
Wenn es nicht Gundolf wäre, so w ü r d e man kein W o r t darüber verlieren. Uber
Goethes Finanzreform, bevor er nadi Italien floh: E v a A l e x a n d e r Meyer, Politische
Symbolik bei Goethe (Heidelberg 1 9 4 9 ) 49.
[39j40] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 601

Kaiser huldigend versammeln, bis zuletzt der als Erzkanzler so gefügige


als Erzbischof seinen Herrn demütigend unter das Joch der Kirche beugt.
Fausts Belehnung, was anders bedeutet sie als dies: aus dem alten
Staatsgefüge erwirbt er sich das Recht Kolonisator zu werden. Es ist Fausts
Schritt in eine neue Zukunft, an deren Bilde mitgewirkt haben Holland
und die deutsche Nordseeküste bis zur Weser- und Elbmündung37, West-
preußen, Venedig, die Pontischen Sümpfe, ein Entwässerungsunternehmen
des Kaisers Probus in Pannonien, worüber in jenen Scriptores Historiae
Augustae ein merkwürdiger Bericht steht, und nicht zuletzt Amerika:
Eröffn ich Räume vielen Millionen,
Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.
Aber dies Zukunftsreichste ist ironisch verborgen hinter welchem Vorder-
gründigen? Hinter der curialen Scene in Alexandrinern. Das französische
Versmaß, in Deutschland aus seiner Macht völlig gestürzt durch die Revo-
lution gegen den französischen Klassizismus, von Goethe zum letzten Mal
sarkastisch spielend benutzt im Jahrmarktsfest von Plundersweilern
(1778), um die hochgestelzte Historia von Esther abzusetzen gegen die
derben Knittelverse der Jahrmarktsscenen - hier am Ende des vierten
Faustaktes dient es dem Achtzigjährigen, die | überalterte Monarchie ver-
nehmbar zu machen, die von den Mächten des Umsturzes bedroht nicht
weiß, wie überlebt sie ist, und sich in den veraltetsten Formen des Cere-
moniells und des Metrums bewegt. Starre Alexandriner, deren starres
Cäsurensystem dann doch ab und zu durchbrochen wird, sei es ironisch
spielend:

Mit Prachtgefäßen, gülden, silbern, allzumal (10919) . . .


Doch hoher Ahnen Kette zieht bedächtigen Blick (10955) . . .
Gesamte Landsgefälle: Zehnten, Zinsen, Beth' (11024) . . .
- weder die lange Reihe der Kleinodien noch die der Ahnen noch die der
Einkünfte duldet den Verseinschnitt - sei es anmutig gleitend:
dann Bächlein ohne Zahl,
Wie sie sich, eilig schlängelnd, stürzen ab zu Tal. (1100)
Als Goethe die Scene in Alexandrinern schrieb, sieht er nicht nur
französische Poesie im allgemeinen vor sich und sich gegenüber; es mögen

37
V g l . dazu K . Lohmeyer, Jahrbuch der Goethe-Gesellsdiaft 1 3 , 1 9 2 7 , 1 0 6 ff., ein lehr-
reicher Beitrag, der besonders auf die Flutkatastrophe der Nordseeländer im Februar
1 8 2 5 hinweist. M a n darf freilich auch hier das Einzelvorbild nicht isolieren und w i r d
mit dem Verfasser nicht so weit gehen, in dem Hamburgischen A m t Ritzebüttel d a s
Vorbild für Fausts Kolonisatorentätigkeit sehen zu wollen! - W a s die Pontinischen
S ü m p f e betrifft, so vergleiche man Faust 1 1 5 5 9 - 1 1 5 6 1 mit d e m A b s a t z der Italienischen
Reise unter dem 2 3 . Februar 1 7 8 7 , J u b . - A u s g . B d . 26, 209. Die Übereinstimmung geht
bis in den Wortlaut.
602 Deutsche Literatur [40¡4f]

aus diesem französischen Literaturbereich, mit dem er von Jugend auf


völlig vertraut w a r — zumal aus der herrlichen Epoche des X V I . Jahrhun-
derts - doch wohl ab und zu bestimmte Dichtungen wenigstens f ü r Augen-
blicke vor seinem allumfassenden Geist gestanden haben38. Sehr möglich,
daß darunter eine Scene aus dem Gedicht des Hugenotten du Bartas über
die sieben Schöpfungstage war, jene Episode, deren Goethe ein Menschen-
alter vorher in seinen Anmerkungen zu Kameaus Neffen mit besonderer
Auszeichnung gedacht hatte: So fragen wir, ob nicht die ersten vierzig
Verse des siebenten Schöpfungstages von du Bartas vortrefflich sind, ob
sie nicht in jeder französischen Mustersammlung zu stehen verdienen . . .
Im Jahre 1823 w a r Goethe mit einigen Seiten Nachträgliches zu Rameaus
Neffe noch einmal auf diese Dinge, wenn auch nicht ausdrücklich auf du
Bartas, zurückgekommen.
In jenen vierzig Versen nun läßt du Bartas einen Maler auf sein eben
vollendetes Landschaftsbild blicken und beschreibt es mit aneinander ge-
reihten Einzelzügen: Wald, Grotte, Weg, Bäume, Fels, und von dem Fels |
un argenté ruisseau
A flots entre-coupez precipite son eau.

Die Landschaft in der Rede des Erzbischofs ist viel freier und weiter, aber
eine Anreihung von Einzelzügen ist es eben auch: Berg, Wald, Höhen,
Weiden, Seen,
dann Bächlein ohne Zahl,
Wie sie sich, eilig schlängeld, stürzen ab zu Tal.

Klingen Goethes anderthalb Verse über die Bächlein vielleicht nicht zu-
fällig an die anderthalb Verse des du Bartas an, in denen precipite genau
an derselben Versstelle steht wie Goethes stürzen ab? Aber sei es Zufall,
so mag der Vergleich noch deutlicher machen, was man ohnehin fühlt: in
Goethes Versen durchdringt, durchbricht, durchschlängelt Natur f ü r einen
Augenblick das Alexandrinische — dem Erzbischof, der diese Alexandriner
spricht, gleichsam zum Trotz 39 .
Die Einrichtung des Papiergeldes im ersten A k t , Helenas Losbittung
von Persephone im zweiten, die Belehnung im vierten sind wichtigste
38
Über Goethes Vertrautheit mit den Franzosen des X V I . Jahrhunderts siehe Dichtung
und Wahrheit III. Teil, n . Buch, Jubiläumsausgabe Band 24, 40. Daß dem Dichter,
als er Erwache Friedericke diditete, außer Hagedorn auch Ronsard vorschwebte, ist
wahrscheinlich. Vgl. W. A . Nitze, Goethe and Ronsard, Publ. Modern Language Assoc.
69, 1944, 486 ff. - Zu du Bartas vgl. H . Schöne, Antike Vorteile und barbarische
Avantagen, Die Antike 10, 1934, 292 ff.
39
J . Frankenberger, Walpurgis, 1926, 1 1 3 sieht in der Alexandrinerscene nur das eine:
die langweilige Weitläufigkeit der Aufzählung, die Sprache als „leere klappernde
Hülse für tote Gehalte". Ähnlidi K . May, Faust II. Teil aus der Sprachform gedeutet,
1936, 2 1 7 ff. Dies scheint die communis opinio zu sein, der sich auch B. Croce, Goethe
II 77 ausdrücklich anschließt. Als ob Goethe Lust oder auch nur die Kraft gehabt
hätte, in dieser Abgestandenheit völlig konsequent zu sein.
[41142] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 603

Handlungsmomente im Faustdrama. Der Dichter läßt sie im Reflex sicht-


bar werden. (Der Film könnte sie im Hintergrund erscheinen lassen. Ein
Mann von dem Rang Friedrich Theodor Vischers hat von ihnen kaum
etwas gesehn, wenn er es als „einen Hauptmangel der Dichtung" rügt, daß
„Goethe das Nötigste versäumt habe, nämlich seinen Faust bei Zeit und
energisch ins handelnde Leben zu stoßen40." Was sich auf der Bühne ab-
spielt, ist im ersten Akt Karneval, Mummenschanz, Trionfo, allegorisch-
symbolisch hindeutend auf die Sachlichkeit finanzpolitischen Geschehens,
im vierten Akt gefährlich-widersinniges Fortwuchern überalterten For-
mulars gegenüber zukunftsvollem Unternehmen. Wie aber steht im zwei-
ten Akt Fausts Handeln dem gegenüber, was auf der Bühne vorgeht:
Homunculus' Schicksalswegen durch die Klassische Walpurgisnacht, nach-
dem Faust selber von Manto geführt in des Olympus hohlen Fuß hinab-
gestiegen ist? |

5>. Klassisch-Romantisch-Arkadisches

Kein Faust ohne Helena. Aus der Figur des Volksbuchs, die Faust auf
Wunsch seiner Studenten heraufzaubert und später zu seiner Concubina
macht, wurde sie in Marlowes Tragödie ein erregendes Fatum. Marlowe
rückt beide Scenen des Volksbuchs nahe zusammen und verbindet eng
damit die Katastrophe seines Helden, der genau zwischen Helenas erstem
und zweitem Erscheinen den Teufelsbund noch einmal mit seinem Blute
schreibt zum Preis dafür, daß er sie sich gewinnt. Bei ihrem ersten Erschei-
nen teilen Faust und seine Studenten sich in die rühmenden Worte:
that peerless dame of Greece
Whom all the world admires for majesty,
the pride of Natur's works
And only paragon of excellence.
Das zweitemal ist sie nur für Faust da und er ihr ganz hingegeben:
Was this the face that launched a thousand ships

Und burnt the topless towers of Ilium?

Here will I d w e l l . . .

I will be Paris . . .

O, thou
Clad art beauty
in the fairer than
of a the eveningstars;
thousand air

Brighter art thou than flaming Jupiter . . .


40
Fr. Th. Visdier, Kritische Gänge IP, 1922. 3J0; 358.
604 Deutsdie Literatur [42/43]

Marlowes Tragical History erschien 1818 in Wilhelm Müllers, des Grie-


chenmüllers, deutscher Ubersetzung und wurde höchstwahrscheinlich erst
damals von Goethe gelesen. Die leidenschaftliche Rede, mit der sein Faust
im ersten Akt des zweiten | Teils die von ihm selbst aus dem Reich der
Mütter heraufgezauberte Helena begrüßt, zeigt in ihrer Struktur Marlo-
wes Wirkung. Erst pathetische Frage, dann das Ich, dann das Du: so ist es
bei Marlowe. Goethe nimmt das Ich sogleich hinein in die Frage, dann
folgt auch bei ihm das Du:
Hab ich noch Augen? Zeigt sich tief im Sinn
Der Schönheit Quelle reichlichstens ergossen?

Du bist's der ich die Regung aller Kraft,


Den Inbegriff der Leidenschaft,
Dir Neigung, Lieb', Anbetung, Wahnsinn zolle.
Das ist Marlowes unmittelbare Einwirkung auf den späten Goethe; sie
geht, wie man sieht, nicht tief 41 . Aber schon für den ganz jungen gehörte
Helena, noch ehe Gretchen in die Dichtung eintrat, zu Faust - dem Volks-
buch gemäß und dem was von Marlowes Drama in der Atmosphäre des
protestantischen Europa dauerte, zum Bühnenstück der wandernden Ko-
mödianten und zum Puppenspiel popularisiert. Als dann um die Jahr-
hundertwende Goethes Faust, der Tragödie Erster Teil zum Abschluß
gedieh, zeichnet sich ein zweiter Teil ab und in diesem zu allererst Helena
als notwendigste und deutlichste Gestalt. Meine Helena ist wirklich auf-
getreten, meldet Goethe am iz. September 1800 an Schiller. Aufgetreten,
das heißt aber: als griechische Tragödienheldin. Es war die Zeit von Goe-
thes und Schillers hohem Klassizismus. So darf man nicht zu sehr erstau-
nen, wenn Goethe fortfährt: Nun zieht mich aber das Schöne in der Lage
meiner Heldin so sehr an, daß es mich betrübt, wenn ich es zunächst in
eine Fratze verwandeln soll. Die Fratze, das Barbarische, das Abge-
schmackte, das Abenteuerliche sind in dieser Unterhaltung der beiden
Freunde auswechselbare Begriffe, entgegengesetzt dem Schönen, dem
Reinen, dem Edlen, kurz: dem Griechischen. Schiller antwortet beruhi-
gend und verbreitet sich über das Barbarische der Behandlung im All-
gemeinen, das Goethen durch den Geist des Ganzen auferlegt sei, und über
Helena als ein Symbol für alle die schönen Gestalten, die sich in die
Faustwelt hinein verirren werden. Goethe ist schon weiter als Schiller
denkt. Der \ Trost, den Sie mir in Ihrem Briefe geben, daß durch die Ver-

41
O . Heller, Faust and Faustus, A Study of Goethe's Relation to M a r l o w e (Washington
University 1 9 3 1 ) , 1 7 6 ff., mödite Goethes unmittelbare Abhängigkeit von M a r l o w e
möglichst groß erscheinen lassen, während J . B o y d , Goethe's Knowledge of English
Literature, 1 9 3 2 , 82, die genau entgegengesetzte Tendenz hat. - Barker Fairley,
Helena in Goethe's Faust, Studies in H o n o r of Gilbert N o r w o o d , 25 j ff.
[44/45] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 605

bindung des Reinen und Abenteuerlichen ein nicht ganz verwerfliches


poetisches Ungeheuer entstehen könne, hat sich durch die Erfahrung schon
an mir bestätigt, indem aus dieser Amalgamation seltsame Erscheinungen,
an denen ich selbst einiges Gefallen habe, hervortreten. Man wird an
Mephisto-Phorkyas im Helena-Fragment - und später im Helena-Akt -
denken müssen. Schiller kommt auf einen Sonntag von Jena nach Weimar
hinüber, und Goethe liest ihm vor, was von der Helena bis dahin fertig
ist. Da ich in der Hauptsache Ihre Beistimmung habe, schreibt Goethe am
23. September, so kann ich mit desto besserm Mute an die Ausführung
gehen. Im Tagebuch vom 26. September sind die Worte notiert: Schönes
mit dem Abgeschmackten durchs Erhabene vermittelt. Nachmittag Fort-
schritte an Helena.
Man hat unter dem Erhabenen das Motiv der Opferung verstanden.
Aber gar kein Motiv ist hier gemeint, sondern Stil. Das Erhabene, subli-
mitas, hypsos, war ein Stilkriterium der antiken literarischen Kritik,
lange bevor es einer der Grundbegriffe in Kants und Schillers Ästhetik
wurde. In jener Tagebuchnotiz jedenfalls ist es nicht wie Kants mathe-
matisch oder dynamisch Erhabenes ein Etwas, das über die menschlichen
Fähigkeiten des Erfassens oder des Widerstandes hinausgeht, hat auch
nichts zu tun mit dem Schillerschen Genius, der mit gigantischem Arm
über die Tiefe dich hinträgt. Goethe folgt wohl zuweilen dieser Gleich-
setzung des Erhabenen mit dem Übergroßen und Ubermächtigen, noch
öfter scheint er ihr zu widersprechen. Das Ungeheure hört auf erhaben zu
sein, heißt es in den Wanderjähren (I 10); es überreicht unsere Fassungs-
kraft, es droht uns zu vernichten. Das Erhabene also, muß man verstehen,
hält sich innerhalb dieser menschlichen Fassungskraft. So redet in jener
Tagebuchnotiz Goethe gewiß mehr die Sprache Longins als die der zeit-
genössischen deutschen Philosophie.
Goethe rechnet in Dichtung und Wahrheit den Longin, also die be-
rühmte Schrift De sublimitate, neben Aristoteles, Cicero und Quintilian
zu den stilkritischen Werken der Alten, die | er in seiner Jugend fleißig,
. . . doch sprungweise gelesen habe. Aber das half mir nichts, fügt er hin-
zu42. Mag es aufs Große gesehen so gewesen sein, so ist doch gewiß, daß
der Begriff des Erhabenen als eines fest bestimmten Stilprinzips ihm von
früh an vertraut war. Boileaus Ubersetzung des Longin samt seinen Re-
flectionen darüber war ein berühmtes Werk des französischen Klassizis-
mus und der von ihm beherrschten Jahrzehnte, also audi in Deutschland,
wo man dann neben Boileau das griechische Original studierte und über-
setzte43. In Goethes Studienzeit war das geläufig, und vor allem von der
antiken Stillehre her muß man verstehen, was er in jener Tagebuchnotiz
meint.

12
Dichtung und Wahrheit, Buch X I I , Jubiläumsausgabe Band X X I V 1 1 2 .
« K. Justi, Winckelmann, 1898, I 2 268.
606 Deutsche Literatur [45¡46]

Das Schöne ist dort, wie sich versteht, Helena und alles was zu ihr
gehört. Das Abgeschmackte, Fratzenhafte, Barbarische ist der Kreis des
Faust, so wie der Erste Teil der Tragödie ihn erfaßt hat, also jetzt, da
Faust selbst zunächst fern bleibt, Mephisto. Das Erhabene ist die erhobene
Form, griechische Bühne, Maske und Kothurn, geschlossene Tragödien-
rede, Trimeter und Chormaße, Götter- und Heldennamen und -gestalten,
Epitheta und reimlose Wortklänge. Mit einem Wort, erhaben ist dies:

HELENA.Vom Strande komm ich, wo wir erst gelandet sind,


Noch immer trunken von der Woge schaukelndem
Bewegen, die vom phrygischen Gefild uns her . . .

PHORKYAS.Alt ist das Wort, doch bleibet wahr und hoch der Sinn,
Daß Scham und Schönheit nie zusammen, Hand in Hand,
Den Weg verfolgen, auf des Menschen Lebenspfad

oder, wie der Dichter in der letzten Fassung verbessert:


Den Weg verfolgen über der Erde grünen Pfad.

Und hier möge man die ganze Rede der Phorkyas in ihrem Bau sich
gegenwärtig machen. Sie ist zweigeteilt schon im Druckbild. Der erste
Teil, noch fast ruhig, ist mit deutlicher Steigerung in vier großen Sätzen
so gebaut: 3 + 3 + 4 + 7 Verse, davon die drei ersten Sätze gemessen und
sentenziös, der siebenzeilige endlich mit strenger Rüge an den Chor sich j
wendend — ihr Frechen — aber dann sogleich zu dem weit ausgebreiteten
Bild von den Kranichen und dem Wanderer objektiviert. In scharfem
Gegensatz zu diesem ersten Teil der Rede folgt der zweite mit einem
Getümmel heftiger Anreden - ihr, ihr, du, ihr... - kurze Sätze, erst
Fragen (2 + 2 + 1 ) , dann fast durchweg Ausrufe, in schärfstem Staccato
schließend. Mag solche beschreibende Analyse pedantisch klingen; gemeint
ist sie als ein Versuch, die Architektur einer großen Tragödienrede grie-
chischen Stiles wenigstens andeutend klar zu machen: jene Erhabenheit,
die das Abgeschmackte - Mephistopheles - mit dem Schönen - Helena
und Chor - vermittelt.
An jenem selben 2 6. September bittet Schiller den Freund um den
Hermann von den griechischen Silbenmaßen (Gottfried Hermanns Hand-
buch der griechischen Metrik, 1799) mit der Begründung: Ihre neuliche
Vorlesung hat mich auf die Trimeter sehr aufmerksam gemacht, und ich
wünschte in die Sache mehr einzudringen. Er will sich sogar in Neben-
stunden etwas mit dem Griechischen beschäftigen, fragt nach Grammatik
und Lexikon, hofft auf Humboldt und Friedrich Schlegel, und dies alles
nur um so weit zu kommen, daß ich in die griechische Metrik eine Einsicht
erhalte. Die Montgomery-Scenen der Jungfrau von Orleans und in höhe-
rem Sinne Die Braut von Messina zeigen, wie weit er eingedrungen ist und
zugleich, welchen Eindruck das Erhabene in Goethes Helena-Drama und
[46/47] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 607

Goethes Art es vorzutragen auf Schiller gemacht hat. Goethe selbst hatte
ja von Hermann und Humboldt reiche Belehrung, mündliche, geschriebene
und gedruckte, über die griechischen Versmaße erbeten und empfangen44.
Jene Amalgamation des Schönen und des Barbarischen, des Griechi-
schen und des Nordischen, mußte auf der Stufe des hohen Klassizismus
um die Jahrhundertwende einseitig und also unvollständig sein. Die
Helena blieb Fragment, wie ja von Goethes Griechendramen keines zur
Vollendung gedieh, von der einzigen Iphigenie abgesehen - und mit der
war es ihm später unmöglich etwas anzufangen, sie erschien ihm verteufelt
human und die Gegenwart eines mehr als vergangenen Zustandes, her-
vorgegangen aus einem Studium der griechischen Sachen, das aber unzu-
länglich war; wenn es erschöpfend gewesen wäre, so wäre das Stück un-
geschrieben geblieben - um an einige Äußerungen des späteren Goethe
über seine Iphigenie hier zu erinnern45. Das Helena-Drama hätte für
immer das Schicksal von Prometheus, Elpenor, Nausikaa, Pandora, Achil-
leis geteilt, wenn nicht der 76jährige sich dem Faust wieder zugewandt
hätte. Als selbständiges Drama war die Helena unvollendbar. Ohne
Helena war der Faust undenkbar. Er tritt in seine Vollendungsperiode
ein (im Februar und März 1825), indem der Dichter die letzten Momente
in Fausts Leben durchgestaltet und, während jene Arbeit noch vorangeht,
die Helena in den Organismus, den freilich mächtig gewandelten, zurück-
nimmt, aus dem sie entstammte46. Da Goethe seine Helena als geschlos-
senes Spiel im vierten Band seiner Ausgabe letzter Hand (1828) ver-
öffentlicht, nennt er sie klassisch-romantische Phantasmagorie, Zwischen-
spiel zu Faust. Als Zwischenspiel hat er in jener Zeit oft von ihr gespro-
chen. Und doch hatte er schon 1800 an Schiller geschrieben:... aber das
sehe ich schon, daß, von diesem Gipfel aus, sich erst die rechte Aussicht
über das Ganze zeigen wird. Und als er die letzte Hand an den Helena-
Akt legte, wußte er genau: dort sei die Achse, auf der das ganze Stück sich
drehti47. Die Helena war noch nicht dritter Akt und konnte es nicht sein,
solange die klassische Walpurgisnacht nicht geschrieben war. Aber Phan-
tasmagorie und Zwischenspiel: das war doch mit jener Technik des „Under-
statement" und leiser ironischer Irreführung des Publikums gesagt, von
der vorher die Rede war, und auf die wir noch zurückkommen werden.
Klassisch-romantisch: damit blickt Goethe unter anderm hinüber auf
das literarische Gefecht, das gerade damals drüben in Frankreich vor sich
44
Etwas später treten A. W. Sdilegel und der jüngere Voß hinzu, vgl. Niejahr, Eupho-
rion I, 1894, 93 f; A. Heusler, Deutscher und antiker Vers, 1917, 116 ff.; E. Staiger,
Goethes antike Versmaße, in: Eumusia, Festgabe für Ernst Howald, 1947, 175 ff.
45
Vgl. H. G. Graf, Goethe über seine Dichtungen, II 3, Nr. 2549 ff.; Goethes Gespräche
III 24. Vgl. Hermann Grimm, Goethe, 1894, 306.
«« Pniower, Nr. 353 ff. Nr. 368 ff. Graf Nr. 1278 ff. Nr. 1292 ff. G. W. Hertz, Zur Ent-
stehungsgeschichte von Faust II Akt 5, Euphorion 33, 1932, 248 f.
47
Pniower 501 = Graf 1454. Gräf bemerkt mit Recht, daß damit nur die Verbindung
Fausts und Helenas, also der Abschnitt von 9127 an gemeint sein könne.
608 Deutsche Literatur [47j48]

ging, als wolle er, der eifrige Leser des Globe, sagen: Kinder, dies haben
wir längst hinter uns gebracht. Der Helena-Akt ist nicht nur Vereinigung,
Verschlingung, Verschmelzung zweier Stile oder Phasen, sondern vor
allem ein Darüber-hinaus. Streng antikisch sind die Scenen in Sparta, aber
in unheimlicher Verkleidung und Maske und | ebenso unheimlicher Ver-
tauschung des Geschlechts spielt der nordische Mephisto seine Rolle als
griechischer Dämon. Die Scenen im innern Hof der gotischen Burg sind
ritterlich-mittelalterlich gedacht. Mittelalterlich ist der geschichtliche
Hintergrund, die Besitzergreifung der Peloponnes durch die feudalen
Mächte, troubadourisch ist Fausts knieende Huldigung vor Helena. Blank-
verse und Reimverse sind herrschend, und es ist alles eher als Zufall, daß
Helena auf Fausts Willkommenrede nicht in ihren griechischen Trimetern
antwortet, sondern in demselben Blankvers, mit dem er sie angeredet
hatte. Wie unmittelalterlich hier in Wirklichkeit vieles oder das meiste
ist, dafür genügt es auf die Blankverse zu verweisen oder auf des Turm-
wärters Lynkeus Reimgedichte, wo in der Heftigkeit des Gefühls und der
Bildkontraste wie in Rhythmen und Reimform Calderons Musica della
sangre aufklingt48. An östliches erinnert die Scene, in der Helena von
Faust in Reimen zu sprechen lernt: ein persisches Motiv ist, wie man aus
dem Buch Suleika des West-östlichen Divans weiß, wunderbar hier an-
geeignet. Gotisch nein, romantisch ja. Aber selbst hier ist Klassisches und
Romantisches seltsam bedeutend verschlungen. Der Chor kommentiert das
romantische Geschehen in seinen antikischen Rhythmen, Mephisto-Phor-
kyas, bisher so streng in ihren Trimetern, fällt plötzlich - und damit wird
die Maskenhülle transparent — zurück auf die nordischen Reime, da sie
heftig eintretend die vorgetäuschte Meldung vom drohenden Angriff des
Menelas bringt:

Buchstabiert in Liebesfibeln,
Tändelnd grübelt nur am Liebeln . . .
Doch gerade hier begegnet ihr wie im Rückprall Faust zum ersten und im
Helena-Akt einzigen Male mit griechischen Trimetern und prägt in anti-
kische Form jene griechische Gesinnung, für die es keine Schönheit gibt, es
sei denn geordnete Schönheit, so daß Unordnung eins mit Häßlichkeit
ist:
Auch nicht in Gefahren mag ich sinnlos Ungestüm.
Den schönsten Boten, Unglücksbotschaft häßlicht ihn.
So viel also hat Faust schon von Helena gelernt, und so dicht ist hier die
Verschlingung des Klassischen und Romantischen. |

48
Schon Th. Carlyle in seiner Anzeige von Goethes Helena (1828) bemerkte: Again and
again we think of Calderon and his Life a Dream. - Über Goethes Verhältnis zu
Calderon s. Gundolf, Goethe 688 ff.
[49j50] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 609

Dann aber kommt das Dritte: nicht mehr nur Verschlingung sondern
Überhöhung. Dort ist es, wo nach besonders großen und reichen antiki-
schen Rhythmensystemen Musik einsetzt und vollstimmig das Ganze be-
gleitet, so daß das Faust-Drama in den Euphorion-Scenen zur hohen
Oper wird. Der Raum aber, der sich jetzt geöffnet hat, ist Arkadien.
Dieses Arkadien, den klassischen und den romantischen Bezirk über-
höhend, ist „nicht Konvention sondern Vision" (Karl Reinhardt)49. Aber
Vision in Goethes Sinn kann es nur werden, indem es zuerst genauest
gesehene Wirklichkeit, geographisch-historische Wirklichkeit, ist, wie wir
ja die Geschichts- und Reisewerke kennen, aus denen Goethe sich Jahre
hindurch ein reiches Wissen über das zeitgenössische, das mittelalterliche
und das antike Griechenland aneignete. Als Faust im Dienst seiner Köni-
gin an die germanischen Heerführer Befehle austeilt, werden die Küsten-
landschaften Pylos, Sparta, Korinth, Achaia, Elis einzeln genannt (9454-
9481), und die Peloponnes als geographische Einheit wird greifbar deut-
lich:
Nichtinsel dich, mit leichter Hügelkette
Europens letztem Bergast angeknüpft. (9512 f.)
In ihr ist Arkadien das höchste und das centrale Land. Das höchste:
Dies Land, allein zu dir gekehret,
Entbietet seinen höchsten Flor (9523).
Und sehnsuchtsvoll nach höhern Regionen . . . (9540).
Das mittlere:
Wir halten in der Mitte Stand (9509).
Vielleicht auch:
Noch zirkt, in ewiger Jugendkraft
Für u n s , . . . Arkadien . . . (9567).
Und später in Euphorions Gesang:
Immer höher muß ich steigen,
Immer weiter muß ich schaun.
Weiß ich nun, wo ich bin!
Mitten der Insel drin,
Mitten in Pelops Land . . . (9821 ff.). |
Diese Höhe und Mitte ist genaue geographische Wirklichkeit und zu-
gleich Symbol erhabenster und reinster Natur und vollkommensten
Mensch-seins. Nichts ist hier vereinzelt, niedrig oder bruchstückhaft.

49
K . Reinhardt, Goethe and Antiquity in: Goethe and the Modern Age, The Inter-
national Convocation at Aspen, Colorado, Chicago 1949, p. 47 = Tradition und
Geist 274 ff.
610 Deutsdie Literatur [50/51]

Mächte, die sonst gegeneinander kämpfen, sind hier friedlich vereint:


erde- wie seeverwandt ist diese Landschaft. Das Erhabenste ist mit dem
Schlichtesten verbunden: das Zackenhaupt der Berge und die genäschigen
Ziegen; die sehnsuchtsvoll nach höhern Regionen sich erhebenden Bäume,
die mächtig starrende Eiche, der milde Ahorn rein emporsteigend - und
dann Milch und Obst, Honig und Wohlbehagen.
Menschliches und Göttliches ist dort nicht getrennt:
Denn wo Natur im reinen Kreise waltet,
Ergreifen alle Welten sich.
Pan schützt sie dort (9538), nämlich die Rinder. Man wird und soll diesen
Pan zuerst ganz ursprünglich nehmen, nämlich als den ziegenfüßigen
Herdengott Arkadiens. Aber wie Goethes Arkadien zugleich ein Symbol
ist, so doch wohl auch sein Pan. Im Festzug des ersten Aktes zieht der
Kaiser selbst als der Allgott Pan ein:
Das All der Welt
Wird vorgestellt
Im großen Pan. (5873 ff.)

Vielleicht darf man daran erinnern, daß in einem Paralipomenon


(Soph. 170 = Ins. 149) ein Aufstieg gerade innerhalb dieser arkadischen
Dinge angedeutet wird, der mit Polytheismus und Heroismus beginnt
und mit Pantheismus endet. Dazu scheint in dem vollendeten Helena-
Akt der Augenblick zu passen, da nach einem großen Chorgesang in anti-
kischen Rhythmen, der gefüllt ist mit lieblicher Lüge des Göttermythos,
vollstimmige Musik einsetzt und Phorkyas in Reimen sich an den Chor
wendet:
Macht euch schnell von Fabeln frei!
Eurer Götter alt Gemenge,
Laßt es hin, es ist vorbei. (9679 ff.)
Eine neue Göttlichkeit scheint ebenso wie in dem älteren Plan auch hier
die Göttervielheit zu überhöhen. |
Neben Pan werden in jenen arkadischen Strophen Fausts die Lebens-
nymphen sichtbar; nicht Festzugsnymphen wie im Mummensdianz des
ersten Aktes, auch nicht mythologische Nymphen wie am Peneios in der
Klassischen Walpurgisnacht oder wie so oft in antiker und antikisierender
Dichtung und Bildnerei, sondern hier ein einziges Mal: Lebensnymphen.
Das Traditionelle wird in diesem visionäen Arkadien zu einer Natur-
gewalt umgeformt oder in sie zurückgeformt. Denn was dem Dichter
mit diesem einen Wort gelingt, ist die Wiedergewinnung ursprünglich
mythischen Sinnes.
E. R . Curtius nennt sehr treffend den Faust „eine Wiederbringung
aller Dinge im Weltprozeß der Literatur - also auch der Hirtenpoesie"
[51152] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 611

und stellt Goethes Arkadien als „Ideallandschaft" in jene Linie, die mit
Homer beginnt und über Theokrit und mehr noch Vergil durch Spät-
antike, Mittelalter und Renaissance bis in die Neuzeit geht50. Der eine
Name Poussin, so bedeutend f ü r Goethe, würde genügen zu zeigen, daß
wie so oft auch hier der Literaturhistoriker die bildende Kunst nicht
vergessen darf. Poussin hat Goethes Arkadien mit bestimmen helfen. Der
Schauplatz wird im großen Stil nach Poussinscher Weise gedacht, heißt
die scenische Bemerkung am Anfang von Goethes Pandora, und ebenso
könnte sie im Helena-Akt (nach Vers 9574) lauten. Denn vergleicht man
die sehr ausführliche Beschreibung der Scenerie in der Pandora mit der
kürzeren im Faust, so findet man Nahverwandtes. Felsenhöhlen sind
hier wie dort. Höher hinauf verdichtet sich das Gesträuch, bis sich das
Ganze in einen waldigen Gipfel endigt, in der Pandora. Ähnlicli und
doch verschieden im Faust: Schattiger Hain bis an die rings umgebende
Felsensteile hinan, wo die Felsensteile Ort und Symbol f ü r Euphorions
letztes Schicksal ist.
So wird man denn nicht verkennen, wodurch das Arkadien im Helena-
Akt denn doch aus aller Tradition wiederum herausragt. Es wäre zu
fragen, ob es irgendwo vor Goethe jene Transcendenz des Arkadischen
gibt, so etwas wie:
Und sehnsuchtsvoll nach höhern Regionen
Erhebt sich zweighaft Baum gedrängt an Baum. ]
Vor allem aber: Goethes Arkadien ist ja nicht das Land bukolischen
Liebens und Musizierens, auch nicht das Land, in dem schöne und ernste
Gestalten in klassisch-edler Haltung der Wirklichkeit des Todes ansichtig
werden: Et in Arcadia ego. Sondern Goethes Arkadien ist der Raum, in
dem Fausts Bund mit Helena für einen hohen Augenblick zu gelingen
scheint, bis der Ikarusflug Euphorions aucii dieses Faustische Unternehmen
zur unvollkommenen aber belehrend-fördernden Episode macht.
Es ist Zeit sich der Eingangsscene des ersten Akts wieder zu erinnern,
von der unsre Betrachtung ausging und zu der sie immer wieder zurück-
kehren muß. Das Arkadien des Helena-Akts wäre kaum denkbar und war
jedenfalls nicht geplant, so lange die Geisterchöre, wie in dem alten
Entwurf von 1 8 1 6 , von Ehre, Ruhm, Macht und Herrschaft sangen.
Damals war das alte verzauberte Schloß der Raum für das Faust- und
Helena-Geschehen, bis Euphorion die Zaubergrenze überschreitend im
Kampf erschlagen wird. Wie es jetzt gefügt ist, umschließt vollkommene
Natur sowohl am Anfang des ersten wie auf der Höhe des Helena-Akts
das menschliche Schicksal, und in Arkadien tauchen Landschaftsmotive

50
E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Kapitel 10: Die
Ideallandschaft; B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, 1946, Kapitel 10: Arkadien,
die Entdeckung einer geistigen Landschaft; 3. Aufl., 1955, Kapitel 16.
612 Deutsche Literatur [52154]

der Ouvertüre oft steiler und gesteigert wieder auf, bis zuletzt, arkadische
Ordnung durchbrechend, Euphorion sich von Schwindelstufen der höch-
sten Felsen empor in die Lüfte wirft.
Völlige Pause. Die Musik hört auf. Der Akt darf nicht als hohe
Oper enden sondern wendet sich von dem arkadischen zurück in das
antikische Element und für einen Augenblick sogar in das barbarische: in
das antikische, da Helena ihrem Knaben in die Schattenwelt nachfolgt
und die Chorführerin Panthalis in Treue das Schicksal ihrer Herrin teilt,
bis ganz zuletzt die Mädchen des Chores jene Verwandlung erfahren,
von der bald die Rede sein muß; in das barbarisch-romantische Element,
da Phorkyas, nachdem sie in einer recht unmephistophelischen Rede in
Blankversen dem von Helena verlassenen Faust seinen Weg gewiesen hat,
nun ins Proscenium tritt, die klassische Welt wie einen Bühnenraum ver-
läßt und in sarkastischen Reimen zu verstehen gibt, wie leicht es sei sich |
genialische Atrappen äußerlich anzueignen. Ein sehr romantischer Zug,
solche Durchbrechung der letzten Bühnenillusion zugunsten der vorletzten.
Dabei hat neben anderen Motiven auch dieses technische den Dichter
bestimmt: den Aktschluß, der nun folgt, abzuheben von der Haupthand-
lung, die wir mit Fausts Wolkenflug für jetzt abschließen sahen. |

10. Abschied der Choretiden und des Homunculus

Im Helena-Akt steht dem Klassischen das Romantische gegenüber,


und über beiden erhebt sich das Arkadische. Aber wie er streng als antike
Tragödie beginnt, so mußte er antikisch enden mit einer Exodos, Schluß-
gesängen oder Schlußreden des Chores, die Goethe freilich reicher aus-
gebildet hat als die meisten antiken Dramatiker. Noch in seiner Spätzeit,
in der er alles andre war als ein Klassizist, hat er sich antike Formen
angeeignet weit hinaus über die, deren er auf der Höhe seines Klassizismus
mächtig gewesen war. Man denke an die Pandora zurück um zu ermessen,
in wie viel rauschenderen trochäischen Langzeilen jetzt die Mädchen des
Chores Abschied nehmen, aufgehend in das Leben der weiten Natur.
Der letzte Chor in der Helena sei bloß darum weit ausgeführter als
die übrigen, weil ja jede Symphonie mit einem Uni aller Instrumente
brillant zu endigen strebe, so bemerkt Goethe zum Kanzler von Müller,
wie dieser unter dem 16. Juli 1827 notiert 51 . Bloß darum? Oder be-
schränkt sich Goethe, da er über seine fertige Dichtung spricht, absichtlich

51
534 Pniower = 1499 Graf. Man kann zweifeln, was hier mit dem letzten Chor ge-
meint sei, ob das gesamte trochäische Gefüge (nennen wir es B) von 9992 an im Ver-
hältnis zu dem was ihm vorausgeht (A) oder der vierte Teil von 1 0 0 1 1 - 1 0 0 3 8 (D) im
Verhältnis zu den drei vorhergehenden Teilen 9992-10010 (C). Es ist eben ein analoges
Verhältnis, das sich in der Formel A : B = C : D ausdrücken ließe. Die Entscheidung
ist also nicht sehr widitig.
[54j55] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 613

wieder auf das Technische und überläßt es dem Kanzler und uns, weiter
zu fragen nach dem Sinn dieses Unisono?
Eine kurze trennend-verbindende Bewegung hat Goethe dem Schluß-
chor vorausgehen lassen, wie es sie in keinem antiken Drama gibt noch
geben kann: die Chorführerin wendet sich gegen ihren Chor, wie sie das
schon früher in der Faustburg getan hatte (9127 ff.). Jetzt trennt sie sich
von ihm und folgt ihrer Herrin nach in den Hades. Durch dieses kurze
Handlungsmoment scheidet der Dichter noch deutlicher, als er es sonst
könnte, die Namenlosen, wie es sie immer gibt, von der einen berühmten
Gestalt. Mit welcher Genauigkeit bis ins kleinste er dabei verfährt, wird
klar, wenn man den Reden der Chorführerin an dieser Stelle den Namen
Panthalis vor1 gesetzt findet. Durch den Helena-Akt war sie Chorführerin
ohne Eigennamen gewesen. Nur als sie noch fast am Anfang des Aktes
(8638) zum ersten Mal sprach, setzte der Dichter Panthalis (als Chor-
führerin) vor ihre Rede und das im Hinblick auf jenen letzten Moment,
da sie sich durch Treue einen Namen, Person, recht eigentlich erst erwirbt
(9984). Der Dichter hätte einen Namen leicht erfinden können, und viel
bedeutet der Name Panthalis auch so nicht, da er ja nur in den Über-
schriften steht, nicht in den Versen selbst erklingt. Entnommen ist er
einem der Gemälde des Polygnot, die Pausanias beschreibt, und um deren
Vergegenwärtigung Goethe sich vor Jahren mit Hilfe der Brüder Riepen-
hausen so angelegentlich bemüht hatte52. Panthalis und Elektra hießen
auf jenem Wandgemälde in Delphi die beiden Dienerinnen Helenas.
Mag denn dies als ein kleiner Zug der Treue, Treue gegen die Uberliefe-
rung, bemerkt sein.
Indem Goethes Panthalis sich abhebt von ihrem Chor, sich für Helena
entscheidet, ihr ins Reich der Unterwelt nachfolgt, wird am Gegensatz
um so deutlicher, welches Schicksal den Mädchen des Chores beschieden
wird, den Namenlosen:
Wer keinen Namen sich erwarb noch Edles will —
so nimmt Panthalis Partei gegen ihre Gefährtinnen. Aber hätte wirklich
auch jder Dichter Partei genommen gegen seinen Chor, dem er die
wunderbaren Verse, die nun folgen, in den Mund legt? Der Dichter
steht doch wohl auf beiden Seiten oder auf keiner, und welches Recht
hätten gar wir, Partei zu nehmen gegen die Namenlosen? Was geschieht
mit ihnen? Viel ausdrücklicher und genauer das, womit Prospero am
Schluß von Shakespeares Sturm den treuen Ariel entläßt:

then to the elements


Be free and fare thou well!

52
Polygnots Gemälde in der Lesche zu Delphi. Nadi der Beschreibung des Pausanias
restauriert von den Gebrüdern Riepenhausen. Bleistiftumrisse auf weißem Papier.
Zwölf Blätter, 1803.
614 Deutsche Literatur [55j56]

Die vielen gehen unter, so denken viele53. Aber ist wirklich Helenas
Schicksal, mythischer Schatten im Reiche der Schatten zu sein, beneidens-
werter als das der Mädchen des Chores? Auf den Gedanken, daß der
Chor nicht wieder in die Unterwelt hinab will, sondern auf der heitern
Oberfläche der Erde sich den Elementen zuwirft, tue ich mir wirklich
etwas zu \ gute, sagt Goethe zu Ediermann, und dieser bekräftigt: Es ist
eine neue Art von Unsterblichkeit (29. Januar 1827). Mythologisch ge-
sprochen: die Choretiden werden zu Nymphen - Lebensnymphen, hatte
es früher geheißen (9538) - , die erste Gruppe wird zu Dryaden (Wir, in
dieser tausend Äste . ..), die zweite zu Oreaden (Wir, an dieser Felsen-
wände . ..), die dritte zu Najaden (.. . eilen mit den Bächen weiter), nur
bei der vierten Gruppe wäre man in einiger Verlegenheit sie zu benennen
und müßte Nymphen der Weinberge und Reben erfinden54. Ins Natur-
philosophische übersetzt: die zweite Gruppe ist „Erde", die dritte ist
„Wasser", bei der ersten und der vierten würde man freilich mit „ L u f t "
(. . . frei zu luftigem Gedeihn) und „Feuer" (.. . fördersamst zum Sonnen-
gott) systematischer sein als recht ist.
Der Dichter hat einmal den Plan gehabt, die vier Gruppen, in die
er seinen Chor teilte, am Schluß wieder in ein Ganzes zu vereinigen55.
Wie er in der Klassischen Walpurgisnacht am Schluß des zweiten Aktes
die vielen mythischen Gestalten All Alle zu gemeinsamem Hymnus
zusammenstimmt, so sollten am Ende des Helena-Aktes die vorher in
vier Gruppen getrennten sich wieder vereinen und Alle sollten zuletzt
sprechen:

So verteilen wir uns Schwestern nicht zum Scheiden, zum Begegnen,


Ewig auf und nieder steigend, suchend dieses Landes Raum.
Warum hat der Dichter auf diese letzte Vereinigung Aller schließlich
doch verzichtet? Vielleicht darum, weil auch ohnedies das Begegnen und
nicht das Scheiden fast überall erfüllt ist. Die Dryaden locken wurzelauf
des Lebens Quellen: das weist auf „Wasser", und frei zu luftigemGedeihn:
das weist auf „Luft" wie schon vorher das Flüsterzittern, Säuselschweben;
und wiederum weisen die Wurzeln auf das Element „Erde". So geht es
weiter, und kein Versuch, einen der vier Teile des Chors auf ein Element
allein zu beschränken, würde der Fülle der Bewegung gerecht.
Dazu kommt noch eins: Als All-Bewegung, All-Vereinigung, All-
Durchdringung gipfelt der Endgesang der Choretiden. Den Zauber dieses
brillanten Uni aller Instrumente hätte jener ruhigere Abschluß, den der
Dichter einmal erwog, in der Tat | nur schwächen können. Er war aus

53
H . Rickert, Goethes Faust, 1 9 3 2 , 386. E. Traumann, Goethes Faust II 2 , 1920, 2 5 1 .
54 Croce, a. O. X I I , II, 60 £.
55
Paralipomena 150 Ins. = 1 7 7 Soph. „Darunter Schlußschnörkel" bemerkt die Wei-
marer Ausgabe.
[57] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 615

einer mehr distanzierten Stimmung hervorgegangen, und der Dichter


hat mit Recht auf ihn verzichtet.
Schwerer ist es in Worte zu fassen, was dieses Bacchanal am Ende
des Helenadramas bedeutet - wenn wir uns nicht an Goethes musikalisch-
technischem Gleichnis genügen lassen. Ein All-Durcheinander gewinnt
die Herrschaft über das Geordnete. Aber aus dieser Verwirrung und Ver-
mischung ertönt das große rätselnd-deutende Wort (10 030):
Und nun gellt ins Ohr der Cymbeln mit der Becken Erzgetöne,
Denn es hat sich Dionysos aus Mysterien enthüllt.
Das klingt wie die Antwort auf jene Frage, die Phorkyas fast am
Anfang des Helena-Akts an die Choretiden gerichtet hatte (8771):
Wer seid denn ihr, daß ihr des Königes Hochpalast
Mänadisch wild, Betrunknen gleich, umtoben dürft?
oder wie es ursprünglich noch mänadischer in Wort und Rhythmus hieß,
da der Helena-Akt noch „Satyr-drama, Episode zu Faust" betitelt war:
Wer seyd denn ihr? daß ihr der Königs hohes Haus
Mit der Mänaden wildem Getümmel umtönen dürft?
Wie paßt alles dies zu jenem Goethe, dem angeblich, und selbst für
Gundolf, „nur der klare hellenische Formsinn und Formwille, das
Apollinische, erschlossen war" 56 ? Und fußt Gundolf nicht wiederum auf
Nietzsches Götzendämmerung? Nietzsche spricht dort von „jenem
Elemente, aus dem die dionysische Kunst wächst, - dem Orgiasmus. Ich
zweifle in der Tat nicht daran, daß Goethe etwas derartiges grundsätzlich
aus den Möglichkeiten der griechischen Seele ausgeschlossen hätte. F o l g -
l i c h v e r s t a n d G o e t h e d i e G r i e c h e n n i c h t . " (Von
Nietzsche gesperrt.) Wurde nicht vielmehr Goethe von Nietzsche wie von
Gundolf misverstanden, Goethe, der von dem, wozu man ihn abstempeln
möchte, meist auch das Gegenteil ist? Mag er als hellenisierender Theore-
tiker und dort, wo er der Kunst seiner Zeit die Wege vorzuschreiben sich
befugt und beamtet sieht, von jenen ekstatischen Urgründen nichts wissen
wollen, als Mensch hat er sie gekannt wie nur einer, als Historiker hat er
wenigstens geahnt, daß es ohne Dionysos und seine Mysterien kein grie-
chisches und damit in höherem Sinn kein abendländisches Drama und
also auch kein Faustdrama gäbe, und als Dichter hat er hier am Schluß
des Helena-Akts diese Naturgewalt enthüllt, ohne die jenes

Bewundert viel und viel gescholten, Helena,


und alles, was darauf und daraus folgt, und auch sein Arkadien nicht
bestünde. -
56
F. Gundolf, Romantiker, 1930, I, 29.
616 Deutsche Literatur [57158]

Vielleicht haben schon andere bemerkt, daß dieser bakchisch-stürmische


Schluß des Helena-Akts einen sehr seltsamen Vorläufer in Goethes Werk
hat. Unter seinen Kantaten steht als erste ein Gedicht, das er im Tage-
buch der Entstehungszeit, unter dem 15. Juni 1798, Hüter des Parnassus
nannte. Er war höchst angetan, als Schiller ihm für die Veröffentlichung
im Musenalmanach von 1799 den Titel Sängerwürde vorschlug, der die
Ironie versteckt und doch die Satire für den Kundigen ausdrückt (Schiller).
Aber noch zweimal änderte Goethe später den Titel, 1806 in Dithyrambe,
1815 in Deutscher Parnass57. Seltsamer Wechsel, in dem sich vielleicht eine
Wendung hin|weg von der ursprünglichen Tendenz andeutet. Gemeint
nämlich war die Kantate als eine scherzhafte Abfertigung des alten Gleim,
hervorgerufen durch dessen schwächlich greisenhafte Streitschrift gegen
die angriffsfreudigen Xeniendiditer. Als des Thüringer Waldes hoch-
borstige Faunen hatte Gleim sie abgekanzelt. Nun läßt Goethe dieses
verwegene Geschlecht mit bakchantischem Getöse und Getümmel in das
apollinische Heiligtum eindringen.
All das stünde sehr fremd in unserm Zusammenhang, wenn nicht
merkwürdige Übereinstimmungen bis in den Wortlaut aufzuweisen wären
zwischen jenen Partien der Kantate, in denen die dionysische Welt
lebendig wird, und dem ekstatischen Schluß des Helena-Aktes. In der
Kantate heißt es:
Und Metall
Rauher Schall
Grellt ins Ohr . . .
und nach einer Weile:
Aus den zarten Rieselwellen
Tränket ihr
Gar Silens abscheulich Tier.
Damit vergleiche man die Verse der Choretiden:
Und nun gellt ins Ohr der Cymbeln mit der Becken Erzgetöne . . .
Und dazwischen schreit unbändig grell Silenus' öhrig Tier.
Gehen diese Ähnlichkeiten bis in den Wortlaut, so hört man - fast noch
merkwürdiger - eine Verwandtschaft zwischen den im ganzen so ver-
schiedenen Rhythmen, wenn man in der Kantate ab und zu zwei
trochäische Kurzzeilen, wie das ja nur natürlich ist, zu einem trochäischen
Tetrameter sich zusammenschließen läßt:
O wie möcht' ich gern mich täuschen! Aber Schmerzen fühlt das Ohr:
so schildert die Kantate die Wirkung des bakchantischen Getöses.

57
Die Daten, nach E. von der Hellen in der Jubiläumsausgabe II 274. Dazu Briefwechsel
zwischen Schiller und Goethe, 23. und 2$. Juli 1798. Zum Folgenden M. Morris,
Goethestudien II 2 , 197 ff.
[58 ¡60] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 617

Alle Sinne wirbeln taumlich, gräßlich übertäubt das Ohr, heißt es in


dem Abschiedschor, wo denn die Ähnlichkeit ebenso auffällig wie die
Verschiedenheit natürlich ist zwischen dem | Goethesdien Stil von 1798
und dem von 1826. Ab und zu wird dann die Verwandtschaft so nahe,
daß sich eine Doppelzeile der Kantate gar nicht übel in dem bakchan-
tischen Schlußgesang anlassen würde:
Nichts geschont, gespaltne Klauen treten alle Sitte nieder,
Und in wütendem Erglühen hält der Faun die Nymphe fest.
Man muß schon ein feines Gefühl haben, um zu spüren, daß diese beiden
Zeilen nicht von Goethe zusammengeschmiedet, sondern hier von uns
zusammengeleimt sind.
Was soll die Annäherung anscheinend so entfernter Dinge? Was hat
der rauschende Schluß des Helena-Aktes zu tun mit der milden Satire
aus einem vergessenen literarischen Gefecht des 18. Jahrhunderts? Aber
vielleicht ist die Kantate, abgesehen davon daß sie eine Satire ist, auch
noch etwas anderes? Es hat lange gedauert, bis man das Satirische in ihr
deutlich erkannte, und jetzt übersieht man vielleicht, wodurch sie sich
vielerorten darüber erhebt. Schon die verschiedenen Titel, die Goethe für
sein Gedicht versuchte, schienen anzuzeigen, daß er noch mehr wollte
als bloß ein literarisches Gefecht, Gefecht mit dem alten Gleim.
Goethe stellt in der Kantate zwei Kräfte in mythischen Bildern ein-
ander gegenüber: Apollon und Dionysos. Das war ihm lebendig, und
schwerlich hat er es von Friedrich Schlegel zu lernen brauchen, den
Gundolf zum Entdecker jenes Gegensatzes lange vor Nietzsche macht.
Das Dionysische, so erscheint es in dem Gedicht, ist Goethes und Schillers
Welt, wie sie sich von Gleim her ansieht. Aber wie wäre Gleim machtvoll
genug gewesen, solche dionysische K r a f t auch nur als Gegenkraft zu
erfassen? Dem Dionysos steht Apoll gegenüber:
Nicht die Leier nur hat Saiten,
Saiten hat der Bogen auch.
Selbst den Busen des Verehrers
Schüttert das gewalt'ge Nahn,
Denn die Flamme des Verheerers
Kündet ihn von weiten an. |
Rhythmen, Worte und Bilder zeigen, wie herrlich-hoch sich diese apolli-
nische K r a f t erhebt - an deren Bilde die Statue des Belvedere und Winckel-
manns Hymnus auf sie mitgewirkt haben und mit welcher Ironie
Goethe von dieser Höhe herab Papa Gleims freundliche Mittelmäßig-
keit hinter sich läßt. Denn schließlich ist es doch Goethe selber, der die
beiden Kräfte aus sich heraus und einander gegenüberstellt, weil er beide
bei den Griechen fand und in sich erlebte. Die Versöhnung, wie er sie am
Schluß zu hoffen vorgibt, ist allerdings zu milde, zu gleimisch, um edit
618 Deutsche Literatur [60161 ]

gemeint zu sein. Aber soll vielleicht so etwas wie eine echte coniunctio
oppositorum sich andeuten hinter jenem spöttisch vorläufigen Ausgleich?
Sei denn von hier aus das Dionysische in dem letzten Chorstück des
dritten Faust-Aktes noch einmal der Betrachtung empfohlen. -
Helenas mythische Schicksalslinie also wird am Ende des dritten A k t s
kontrastierend eingerahmt von der ekstatischen Auflösung der Choretiden
in die Natur. Fausts Eindringen in die Unterwelt im zweiten A k t ist
für den Zuschauer überdeckt von Homunculus' Wegen durch die klassische
Walpurgisnacht bis zu seinem Scheitern an Galateas Muschelwagen. Auch
hier war es ein Mißverständnis zu meinen, Faust sei dem Dichter unwich-
tiger geworden. Faust unwichtiger gegenüber dem „Menschlein"? Ja, wenn
der Maskenzug wichtiger ist als die Papiergeldherstellung, die Versamm-
lung der Erzämter um den Kaiser wichtiger als die Belehnung Fausts.
Vielmehr das dramatisch Wichtigere verschwindet im Hintergrund und
wird nur im kontrastierenden Reflex und Durchblick sichtbar. T r o t z allen
Geredes, das jetzt hoffentlich verstummt ist, über den faustischen Men-
schen: es gibt nur einen Faust, wie es nur einen Hamlet oder einen
Oedipus gibt, aber es gibt unzählige Homunculi. N u r einmal steigt
Faust hinab ins Reich der Persephone, aber Monaden oder Entelechien,
wie Goethe als Naturphilosoph aristotelisch oder leibnizisch zu sagen
liebte, sind überall auf dem Wege sich zu verkörpern. Sie werden freilich
nicht immer die Peneioslandschaft durchirren und selten am Wagen
Galateas scheiternd sich in die Elemente stürzen. Aber des einen Faust
Suche nach der einen Helena führt, so darf man denken, vorbei an vielen |
Homunculi, wenn auch Goethe nur das Scheitern-Entstehen der einen
Entelechie mit mythenschaffender K r a f t durch die griechischen Mytho-
logeme geschlungen hat.
Das Hinabsteigen Fausts hat sein mythisches Vorbild:

Hier hab ich einst den Orpheus eingeschwärzt,

erinnert Manto, da sie Faust den Weg weist. Fausts wie Orpheus' Ein-
dringen in die dem Lebendigen verbotene Welt, das sind einzelne tragisch-
gewaltsame Geschehnisse. Faust wirbt um Helena, wie einst Achill sich
Helena erworben hat gegen das Geschick, par'aisan, hyper moron, wie das
auf griechisch klingt. Halbgötter treten heran, ahnt Manto, als Chiron
mit Faust sich nähert. U n d wenn sie ihn auch liebt - und wir ihn be-
wundern - gerade darum, weil er Unmögliches begehrt, so hat Goethe,
den Mythos sinnvoll abwandelnd, eben sie zur Tochter des Heilgottes
gemacht. Tochter des Tiresias, die Seherin Tochter des Sehers, w a r sie
bei den Griechen. So fand Goethe es in seinem mythologischen Handbuch,
so doch wohl bei Dante (Inferno X X 55 ff.), und so beließ er es in dem
Entwurf von 1826. Aber die sinnige, wohldenkende Tochter des Tiresias,
Manto wird in der endgültigen Fassung zur Tochter Äskulaps, dessen
mondbeschienenen Tempel der Dichter vor die Phantasie zaubert, der
[61162] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 619

Regisseur auf die Bühne stellen wird. Warum Tochter des Heilgottes|
Doch wohl nicht, jedenfalls nicht in der Hauptsache, darum, weil dem
Dichter ein sarkastischer Seitenhieb gegen die Ärzte wieder einmal gelegen
kam. Chiron spricht es aus, daß Faust asklepischer Kur höchst bedürftig,
ihrer freilich auch vor andern wert sei. So sieht in den Augen des Arztes
das Tragisch-Gewaltsame an Fausts Abenteuer aus, und in Mantos letzten
Geleitworten, ehe Faust unsern Augen entschwindet, ist viel von dem
Verbotenen und Dunkel-Geheimen, das sein Unternehmen kennzeidinet:

Tritt ein, Verwegener, . . .


In des Olympus hohlem Fuß
Lauscht sie geheim verbotnem Gruß.
Hier hab' ich einst den Orpheus eingeschwärzt.... |
Fausts Unterweltfahrt also ist überdeckt durch die Wege des Homun-
culus, Wege von niederen zu immer höhern und schöneren Gestalten
des Mythos, Wege von den Bergen zum Meere, von Anaxagoras zu Thaies,
vom Vulkanischen zum Neptunischen, vom Revolutionären zum langsam
Wachsenden, vom Kristallisierten zum Organisierten, aus der künstlichen
Phiole des Alchemisten in das Elementare der Natur und den Weltraum.
Am Schluß steht der Hymnus auf das Herrschertum des Eros, der alles
begonnen, jener Naturkraft, die in Goethes Faust wie in Piatons Sympo-
sion die uranfängliche, wenn auch nicht die höchste Erscheinung der
Liebe ist.
Des Homunculus Entstehung und das Eingehen der Choretiden in
die Natur sind Vorgänge, die einander entsprechen. Wie jene unter dem
Zeichen des Eros steht, so herrscht über dieses die Fülle des Naturgött-
lichen. Nicht umsonst werden am Ende des dritten Aktes zweimal mit
Nachdruck alle Götter genannt:

Betet er zu allen Göttern, fördersamst zum Sonnengott.


Haben aber alle Götter, hat nun Helios vor allen . . .
Alle Götter: das ist wieder ein Ausdruck jenes Pantheismus, der, den
Polytheismus überhöhend, in jenem Paralipomenon (i/oSoph. = 1491ns.)
zum dritten A k t auftaucht, und der in dem ausgeführten Drama den
Polytheismus überwindet in dem Moment, da in Arkadien die voll-
stimmige Musik einsetzt und Phorkyas der Götter alt Gemenge für über-
lebt erklärt (9681). Man muß sich dabei jener Aussprüche erinnern, in
welchen Goethe den Polytheismus für den Dichter, den Pantheismus für
den Naturforscher in ihm, den Monotheismus für seine Persönlichkeit als
sittlicher Mensch beansprucht58. Wird man sich auch hüten, diese Drei-

58 Maximen und Reflexionen, (Schriften der Goethe-Gesellschaft Band 2 1 ) 807. Dazu


fast wörtlich übereinstimmend eine Stelle in dem Briefe an Fr. H . Jacobi vom 6. J a -
nuar 1 8 1 3 . Unser Text ist aus beiden Stellen zusammengesetzt.
620 Deutsche Literatui [62j64]

gliedrung zum ungoethischen Dogma erstarren zu lassen - als wären


wirklich zwischen dem Dichter, dem Naturforscher und dem sittlichen
Menschen strikte Grenzen —, so kann man doch nicht verkennen, daß ein
Pantheismus über der Göttervielheit in der Mitte des Dramas herrscht,
um am Ende des Werkes zu transcendieren in die eine allmächtige Liebe. -
Der Schluß des dritten Aktes und der Schluß des zweiten stimmen
zueinander, und beide stimmen zu der Ouvertüre am | Anfang des ersten
Diese drei Stücke vor allem - im Verein mit vielem in der Klassischen
Walpurgisnacht und im Verein mit Arkadien — machen den Zweiten
Faust zu dem großen Naturgedicht, zu dem er in dem alten Goethe sich
weitete.
In der Ouvertüre ist so zart wie fest die Ordnung der Natur ange-
zeigt, und in sie eingegliedert erhebt sich aus ihr das Menschenleben als
ein stufenweises Empor. Am Ende des zweiten und des dritten Aktes
wird das dramatische Geschehen umrahmt von der Weite des Mytho-
logisch-Naturhaften, indem Homunculus sich entstehend in die Elemente
wirft und - anders und doch wieder ganz analog — die namenlosen
Choretiden sich auflösen in das unendliche All. Die Verwandtschaft er-
streckt sich, wenigstens in der Ouvertüre und in der Exodos der Chor-
etiden, bis in die Worte und Klänge. Selbst die Rhythmen klingen bis-
weilen aneinander an: in der Ouvertüre jene Strophen Ariels und seiner
Elfenchöre, Vierheber mit abwechselnd klingenden und stumpfen Reimen,
in der Exodos langhallende trochäische Achtheber, bald klingend, bald
stumpf endend, Langzeilen antikischen Gepräges und darum im Gegen-
satz zu jenen Strophen, wie sich von selbst versteht, ohne Reime. Und
doch höre man aus der Ouvertüre etwa

Wenn der Blüten Frühlingsregen . . .


Täler grünen, Hügel schwellen . . .
Und in schwanken Silberwellen . . .
und aus der Exodos
. . . reichgeschmückte Hügelzüge . . .
. . . Schmiegen wir, in sanften Wellen . . .
. . . bald mit Blüten überschwänglich . . .
Man könnte diese Vierheber durcheinandersagen und wüßte bald nicht
mehr, welche Zeile zu welcher Gruppe gehört. So wird denn klar, wie
in starken Variationen doch dieselben melodischen Züge durch beide
Gebilde gehen. Von beiden ist der Schluß des zweiten Aktes sehr verschie-
den sowohl im rhythmischen Gefüge wie in dem Explosiven, möchte man
sagen, der Aktion. Und doch wären vielleicht selbst hier, und gewiß wenn
man weiter zurückhorcht in die Klassische Walpurgisnacht, zumal in den
Gesängen der Sirenen Anklänge sowohl zu der Ouvertüre wie zu dem
Ende des dritten Aktes vernehmbar:
[64 ¡65] R h y t h m e n und Landschaft im zweiten Teil des Faust 621

Heil den mildgewognen Lüften . . .


Blicke ruhig von dem Bogen
Deiner Nacht auf Zitterwogen
Mildeblitzend Glanzgewimmel . . .
Wenn sich lau die Lüfte füllen . . .
Glitzern hier im See sich spiegelnd . . .
Flüsterzittern, Säuselschweben . . .
Man spiele so weiter und stelle nach einer Weile eine Prüfung mit sich
selber an. —
Kehren wir für einen kurzen Augenblick zur Entstehungsgeschichte
des Dramas zurück und betrachten die Wandlung, die die Ouvertüre vom
Plan von 1 8 1 6 zur Ausführung von 1826 erfahren und wie sie die Wand-
lung der beiden Aktschlüsse nach sich gezogen hat. Im Plan von 1816 keine
Spur, daß dem Chor irgendeine bedeutsame Rolle zugedacht war. Die
Rolle jedenfalls, die er jetzt hat, jene Auflösung in die Allnatur, wäre
unvorbereitet, wenn noch Geister des Ruhmes der großen Tat die Ouver-
türe beherrschten, und würde ganz und gar nicht hineinpassen in die
Zauberwelt, wie sie im Entwurf vorgesehen war: das alte Schloß mit
seiner Zaubergrenze, seinem in Palästina kriegführenden Besitzer, seinem
Zauberer-Kastellan, Helenas magischem Ring und dem geweihten
Schwert, durch das ihr Sohn erschlagen wird. Alles dies mußte gründlichst
in das Klassisch-Romantisch-Arkadisch-Naturhafte umgestaltet werden,
um in jener Exodos der Chormädchen zu enden. In der Ouvertüre von
1826 und der Helena, wie sie 1827 an Cotta abging, war das vollendet.
Die Ouvertüre, oder besser das Natursinnen, das in ihr zu Worte
kommt, hat den Bau des zweiten Aktes gegenüber dem Entwurf von
1816 durchaus umgestaltet, hat der Figur des Homunculus ihre ganz ver-
änderte naturmythologische oder naturphilosophische Weite gegeben und
dem zweiten Akt jenen Schluß, der der Unterweltsfahrt Faustens zwar
nichts von | ihrer tragischen Bedeutung nahm, sie aber als dramatischen
Vorgang in jene hintergründige Tiefe eintauchen ließ.
Homunculus ist entschwunden, und doch wird man in einem späteren
Augenblick an sein Schicksal denken müssen, seltsam genug im himm-
lischen Epilog. Die Engel erscheinen schwebend in der höheren Atmo-
sphäre, Faustens Unsterbliches tragend. Gewiß wird man ihrem Jauchzen
und ihrem Es ist gelungen vertrauen. Aber es sind die jüngeren Engel,
die so jubeln. Die vollendeteren wissen von dem Erdenrest:
Wenn starke Geisteskraft
Die Elemente
An sich herangerafft...
Starke Geisteskraft, körperlos, also ohne Elemente: das war Homunculus
seit dem Augenblick, da der Kleine in Wagners Laboratorium zu reden
anfing. Er sieht, er weiß, er führt, er will . . . nämlich entstehen, und
622 Deutsche Literatur [65/66]

dies geschieht am Ende der Walpurgisnacht. Zerschellen, so nennt es


Thaies. Die Elemente an sich heranraffen, so nennen es die vollendeteren
Engel. Thaies ist ein großer Philosoph, viel weiser als Anaxagoras, und
dennoch ein Mensch, zu welchem Proteus, wenn dies noch der rechte
Augenblick wäre, sagen könnte wie vorher Nereus:
Doch wir Geister sind ganz anderer
Und der einzig richtigen Meinung. (8349 f.)
Die Engel aber sind doch wohl der höchsten Weisheit näher als selbst ein
Nereus oder Proteus, und der ewigen Liebe, die allein geeinte Zwienatur
völlig zu scheiden vermag, ist Untertan jener Eros, der alles begonnen, so
wahr Glaube die Naturphilosophie überhöht.
So wird also von diesem Schluß des Ganzen her noch deutlicher, was
für dieses Ganze Homunculus eigentlich bedeutet. Am Wagen Galateas
scheiternd zu entstehen ist freilich das Privileg dieses kleinen mytholo-
gischen Menschleins. Aber eine Entelechie wie er ist auch Faust, die mäch-
tigste in dieser Tragödie. So wird uns das Schicksal des Homunculus über
das Wesen Fausts einiges zu sagen haben - und damit vielleicht ganz von
fern auch über unser eigenes59. |

11. Vorklang und Nachhall klassischen Maßes

Nach dem ursprünglichen Plan sollte Fausts Unterweltsfahrt in den


strengen Formen griechischer Tragödie enden, so daß Helenas Prologrede
am Anfang des dritten Aktes sich ohne Kontrast anfügte. Statt dessen ist
in der Fassung von 1830 die klassische Walpurgisnacht — welch paradoxer
Name! - zuletzt ins Hymnische hinaufgesteigert, und danach beginnt der
Helena-Akt in einem großartig starken Gegensatz: die eine Stimme der
griechischen Heldin setzt ein, nachdem am Schluß des zweiten Aktes All
Alle zusammenstimmend die Elemente gefeiert haben. Aber der Dichter,
höchst formbewußt, wollte dennoch die Trimeter des Helena-Aktes nicht
unvorbereitet erklingen lassen, und seine Klassische Walpurgisnacht durfte
nicht ganz ohne klassisches Metrum vor sich gehen. Darum bestimmte er,
nachdem er auf Fausts Unterweltsfahrt verzichtet hatte, Erichtho dazu,
die Nacht mit einem hellenischen Prolog im tragischen griechischen Maß
zu eröffnen (7005):
Zum Schauderfeste dieser Nacht, wie öfter schon.
Tret' ich einher, Erichtho, ich, die düstere.
Die thessalische Zauberin gibt sich selbst ein auszeichnendes Beiwort, wie
Goethe bei Lucan tristis Erichtho (VI 640), effera Erichtho (VI 508) las,
59
Will man sich mit dem hier Gesagten kritisch auseinandersetzen, so vergleiche man
dazu Rickert a. O. 34 ff.; G. W. Hertz, Natur und Geist in Goethes Faust, 1901,
163 ff., 20$ ff.
[66167] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 623

bei Dante Eriton cruda (Inf. I X 23), vielleicht bei Ovid (Epistula Sapphus
139) furialis Ericbtho. Bei Lucan dann noch eine Reihe schauerlich be-
schreibender Züge. Möglich, daß Goethe durch den Kommentar seiner
Dante-Ausgabe (Venedig 1739) auf Lucan geführt worden ist, den er dann
eifrig studierte60. Goethes Erichtho erhebt Widerspruch gegen seine Vor-
gänger, aus denen er sie kannte:
Nicht so abscheulich, wie die leidigen Dichter mich
im Übermaß verlästern.
So stellt sich diese Klassische Gestalt mit romantischer Ironie - als so und
nicht anders geartete Wirklichkeit den dichtejrischen Fiktionen entgegen,
sie, die doch in Lucans historischem Epos fast wie ein mythischer Ein-
dringling wirkt.
Erichtho also spricht den hellenisierenden Prolog, das Geschichtliche,
das Mythologische und das Naturhafte dieser Nacht vorbereitend. Das
Geschichtliche: das ist die pharsalische Schlacht, ein sehr vergangenes Er-
eignis, aber von der Prologsprecherin ins Allgemeine erweitert: Denn
jeder, der..., ein großes Beispiel... ; derart ins Allgemeine erweitert,
daß man den starren Lorbeer sich ums Haupt Napoleons ebenso wie
Caesars mag biegen sehen und jenes Wird sich immerfort ins Ewige
wiederholen nicht allein auf das gespenstische Geschehen der Zaubernacht
beziehen möchte, sondern auf das Typische des geschichtlichen Ereignisses
selbst, da
Der Freiheit holder, tausendblumiger Kranz zerreißt,
Der starre Lorbeer sich ums Haupt des Herrschers biegt.
Das Schattenbild des historischen Geschehens also verschwindet im Dun-
kel, die mythische Welt rückt in den Schein des klaren Mondes, der über
dieser Walpurgisnacht leuchten wird, bis er zuletzt im Zenith verharrend
herabblickt
auf Zitterwogen
Mildeblitzend Glanzgewimmel,
auf Galateas Muschelwagen und das Schicksal des Homunculus. Erichtho
meldet noch, wie es einer antiken Prologfigur zukommt, die Ankömm-
linge an und zieht sich selbst zurück. Die Deutlichkeit des Geschehens, das
sie ausspricht, der Nachdruck, den sie auf das Allgemeingültige und dann
auf das Geziemende legt, sind als hellenische Züge gemeint, die sich in das
Metrum und in den Prologcharakter schicken.
Ursprünglich war das mit Erichtho recht anders geplant. Zwar war sie
schon im Entwurf (von 1826) die erste Gestalt auf thessalischem Boden,
der die Reisenden begegnen. Sogar das Licht des klaren, obschon abneh-
menden Mondes leuchtete bereits über der Scene, in der die Zauberin den

60 Venediger Ausgabe zu Inferno I X 20: vedi Lucano nel 6. della Farsaglia. Goethes
Tagebuch unter dem j. April 1826: Abends Lucan 6. Buch.
624 Deutsche Literatur [67j69]

untilgbaren Modergeruch dieser Felder einziehen sollte. Etwas von einer


Prologfigur haftete ihr von vornherein an. Aber sie war noch nicht be-
stimmt, einsam einen hellenisierenden Prolog zu | sprechen, sondern sie
sollte zu einer Gruppe gehören. Auf dem einen Arm sollte sie das Wunder-
kind Erichthonios tragen, um der Namensverwandtschaft willen von
Goethe aus eigener mythologischer Machtvollkommenheit ihr zugesellt,
und auf dem andern Arm das chemische Männlein. Abenteuerlich klingt,
was von der Leidenschaft des Wunderkindes zu dem Männlein angedeu-
tet wird. Es ist etwas Verwandtes um die Entstehung der beiden. Goethe
schrieb viele Jahre vorher an Schiller (25. Oktober 1797) über die für
einen Modernen nicht recht appetitliche Erzeugungsgeschichte des Erich-
thonios: Ihnen ist die Zudringlichkeit des Vulkans gegen Minerven be-
kannt, wodurch Erichthonios produziert wurde. Haben Sie Gelegenheit,
so lesen Sie diese Fabel ja (man beachte das eindringliche Ja!) in der älte-
ren Ausgabe des Hederich nach und denken dabei, daß Raphael daher
Gelegenheit zu einer der angenehmsten Kompositionen genommen hat?1.
Die androgyne Natur des Menschleins kam noch dazu, um dem Mephisto-
pheles guten Anlaß zu bösen Glossen zu geben, so wie er später das
bübisch-mädchenhafte Gestümper der Engel begehrlich glossieren wird
(11687). Geschlechtlich und figürlich Abstruses stand am Anfang. Das
sollte mephistophelisch belustigend und verwirrend wirken, und die
Scene konnte so nur in Reimversen geplant sein, ebenso wie das was vorher-
geht und folgt. Es war ein einziger Griff des Dichters, möchte man den-
ken, mit dem er die andern Figuren der Gruppe bei Seite schob, Erichtho
zur einsamen Prologsprecherin bestimmte und ihre Prologrede in grie-
chische Trimeter meißelte. Über diese thessalische Nacht ist damit von
Anfang an eine Klarheit verbreitet, die sie sonst nicht hätte, nicht nur
Klarheit des Mondes -

Der Mond, zwar unvollkommen, aber leuchtend hell,


Erhebt sich, milden Glanz verbreitend überall -
sondern jene Bestimmtheit von Formen und Ordnungen, kurz all das, was
diese Walpurgisnacht zur klassischen macht und zur Vorbereitung auf den
Helena-Akt. -
Die Rede Erichthos ist in der endgültigen Fassung der einzige Ort, an
dem Trimeter vor dem Helena-Akt erklingen. Diesem Vorklang ent-
sprechend folgt eine einzige Trimeterrede | nach dem Helena-Akt: der
Monolog am Anfang des vierten Akts:
Der Einsamkeiten tiefste schauend unter meinem Fuß,
Betret' ich wohlbedächtig dieser Gipfel Saum . . .
61
Die angenehme Komposition ist eins der kleinen Freskos im Bade (stufetta) des Kardi-
nals Bibbiena im Vatikan. Vgl. J. D. Passavant, Raphael of Urbino, London and
New York 1872, 269 no 215. (Mitteilung von Professor E. Panofski in Princeton.)
[69170] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 625

Hier hat der erste Vers - trotz Eckermann und Riemer - immer seine sie-
ben Hebungen bewahrt62. Ubermächtig gleichsam steigert er die Erhaben-
heit für einen Augenblick über die griechische Norm hinauf und deutet
darauf hin, daß Fausts Maß aus dem Ubermaß erwächst. So beginnt der
Monolog, in dem Faust das Helenageschehen erfassend spiegelt und über
sich selbst hinausführt63. Faust hat diese Form, hat Form für sich gewonnen
und trägt sie als Einsamer hinüber in das Künftige.
Hochgebirg, starre zackige Felsengipfel heißt die scenische Bemerkung,
und jener erste Vers versetzt sofort dorthin. Uber alle früheren Land-
schaften des Dramas ragt diese hinaus. Am Anfang des ersten Aktes wird
Faust in anmutiger Gegend der Berge Gipfelriesen hinaufschauend an-
sichtig. Audi in dem Arkadien des Helena-Aktes wurde das 2.ackenhaupt
der Berge aus tieferen und wohnlicheren Regionen gesichtet. Warum dies
jetzt die höchste und steilste irdische Landschaft im Faust ist, das versteht
man zunächst aus Howards und Goethes Wolkensystematik. Es ist eine
Cumulus-Wolke, die den Faust herbeigetragen hat und ihn auf eine her-
vorstehende Platte des Berges aus sich entläßt.
Steht Wolke hoch, zum herrlichsten geballt,
Verkündet, festgebildet, Machtgewalt,
heißt es in dem Cumulusabschnitt des dem Howard gewidmeten Vers-
zyklus über die Wolkenformen. Die Wolke könnte an keiner niedrigeren
Berghöhe landen, ohne als Stratus oder Nimbus herabzusinken. Aber nur
der Cumulus kann sich modeln und wenigstens für Augenblicke ein götter-
gleiches Frauengebild werden.
Doch wäre es gewiß zu naturalistisch, dies alles allein aus dem Wol-
kensystem deuten zu wollen. Fausts Umschau vom höchsten Berge, das
versteht sich, ist zugleich Symbol für seine geistige Umschau. Sind Aus-
drücke wie sehen, schauen, Auge, Bild, Form über das Ganze reichlich
ausgestreut, so ist dieses | Gesehene, Geschaute zugleich voll symbolischen
Sinnes. Es spiegelt, bezeichnet, steigert sich

Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort.


Man darf dabei auch an die Zeilen denken, mit denen Goethe jenen Ge-
dichtzyklus über die Wolkenformen beschließt:
Doch mit dem Bilde hebet euren Blick:
Die Rede geht herab, denn sie beschreibt;
Der Geist will aufwärts, wo er ewig bleibt.
Das Atmosphärische steigert sich wie von selbst ins Symbol.

62
Andere Siebenfüßer hat Goethe normalisiert: Weimarer Ausgabe X V 2, 85 zu Vers
8515.
43
Vgl. dazu K . A . Meissinger, Helena, 1935, 86 ff.
626 Deutsche Literatur [70171]

Einordnung in die große Ordnung, Harmonisierung durch die Harmo-


nie der Natur und innerhalb ihrer das Empor und das Zurück als die
Gesetze des menschlichen Daseins: so etwa erschienen uns früher die
Grundzüge in der Ouvertüre des Zweiten Teiles. Dieses Allgemeine wird
durch das Helena-Erlebnis zu Fausts genauer, persönlicher und steiler
Erfahrung. Man erinnert sich, wie er ein einziges Mal im Helena-Akt
griechische Trimeter spricht (943 5 ff.). Was er dort abweist, ist verwegne
Störung, sinnlos Ungestüm, Häßlichkeit. Was er gelernt hat, ist Schön-
heit, hohe Ordnung, wie denn im Griechischen die Begriffe Kailos und
Kosmos sich weithin decken. Merkwürdig, wie oft das Wort Ordnung
mit Nachdruck gleich am Anfang des dritten Aktes im Munde Helenas
wiederkehrt:

Hier steigen meine Krieger nach der Ordnung aus (8541)


Du findest alles nach der Ordnung stehen (8555)
Wenn du nun alles nach der Ordnung durchgesehn (8569)
. . . aber nichts
Lebendigen Atems zeichnet mir der Ordnende (8580).

Dasselbe Wort sollte nach einem Entwurf (Paralipomenon 8 5 Soph.) auch


von Mephistopheles-Phorkyas gesprochen werden:

Im Innern herrschet sie über das Erworbene,


Das erst durch Ordnung zur erwünschten Habe wächst.

Dasselbe Wort dann in Fausts Munde, da er dem Türmer Lynkeus be-


fiehlt:
Geh und häufe Schatz auf Schatz
Geordnet an. (9337 f.) |

Und kurz darauf folgen jene Trimeter, in denen Faust das Gegenteil von
Schönheit und Ordnung zurückweist (9435 ff.). Vielleicht darf man sich
erinnern, was schon im ersten Teil der Dichtung Faust, der Unbehauste,
der Unmensch ohne Zweck und Ruh, in Margaretes kleinem, reinlichem
Zimmer sich umschauend rühmt: Gefühl der Stille, der Ordnung, der Zu-
friedenheit (2692), den Geist der Füll' und Ordnung (2702), als ob in
einer viel schlichteren Weise etwas in Margaretes Wesen Vorstufe wäre für
Helena.
Geordnete Schönheit sieht Faust, von Helena kommend, in der Natur.
Das erste Streitgespräch zwischen ihm und Mephistopheles, gleich nach
jenem Trimetermonolog, geht um die Gestalt der Erde, ob vulkanistisch
oder neptunistisch zu deuten, das heißt aber: ob ordnungslos oder geord-
net. Faust steht gegen den Vulkanismus, nicht nur weil Goethe darin gegen
Alexander von Humboldt stand, nicht nur weil jener vulkanistisdi klin-
gende Abschnitt im 12. Gesang von Dantes Inferno - der Abschnitt, den
Goethe selbst übersetzt hatte - zum Widerspruch und Wetteifer aufrief.
[71172] R h y t h m e n und Landschaft im zweiten Teil des Faust 627

Das sind noch immer Momente außerhalb der Dichtung. Innerhalb ihrer
aber gilt dies: Was in der Geologie Vulkanismus, das heißt in der politi-
schen Geschichte Revolution:

Sie gründen auch hierauf die rechten Lehren,


Das Unterste ins Oberste zu kehren. (10089 f-)
Und vom Kampf der Revolution gegen die überlieferte, wenn auch brü-
chige Ordnung ist der größte Teil des vierten Aktes erfüllt.
Doch auch das ist längst nicht alles. Faust steht gegen Vulkanismus
und Revolution, weil Goethe gegen beides stand. Aber Faust ist ja selbst
Vulkan und Revolution, als er seine Faustische Laufbahn beginnt, und
Goethe war einst Sturm und Drang gewesen und hatte an jener deutschen
literarischen Revolution, die eine Revolution der deutschen Seele war,
bewußt und unbewußt, willig oder unfreiwillig unaufhaltsam mitgewirkt
{Dichtung und Wahrheit X I . Buch), obwohl er | zugleich oder unmittel-
bar danach auch das andre war oder wurde: Gestalter des Titanischen. So
ist Fausts Weg, bis zu Ende nie ganz gelingend, die Uberwindung des
Chaotischen durch das Gesetz der Ordnung. Helena ist die Erfahrung,
die ihm diesen Sieg vor allem gewinnen hilft, und Euphorions Schicksal
bestätigt sie ihm im Gegensinn. Aber auf dem Wege war er schon lange
vorher gewesen, so wenn er am Kaiserhof im Festzuge als Plutus aus-
spricht:
Verworren, scheckig, wild
Umdrängt uns hier ein fratzenhaft Gebild.
Nur wo du klar ins holde Klare schaust,
Dir angehörst und dir allein vertraust,
Dorthin, wo Schönes, Gutes nur gefällt,
Zur Einsamkeit! - da schaffe deine Welt.

Ariel und seine Elfen hatten ihm auf diesem Wege geholfen. Aber schon
Margaretes schlichter Sinn der Ordnung hatte ihn entzückt inmitten seines
Titanentums. J a , war nicht, nach den Worten des Herrn, in Fausts dunk-
lem Drange von vornherein ein Bewußtsein des rechten Weges, eine Ah-
nung also, daß mit Piaton zu reden „das Gute schön und das Schöne nicht
ohne Maß" ist? Tiefere Worte für diese Vision des Kosmisch-Harmoni-
schen gibt es kaum als die aus Fausts Munde gleich zu Anfang des Dramas,
da er das Zeichen des Makrokosmus erblickt hat:

Wie alles sich zum Ganzen webt,


Eins in dem andern wirkt und lebt!
Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!
Mit segenduftenden Schwingen
Vom Himmel durch die Erde dringen,
Harmonisch all das All durchklingen!
628 Deutsche Literatur [72j74]

Fausts Streben zur griechischen Helena ist hier im Beginn seiner Titanen-
laufbahn präfiguriert.
Faust, von Helena kommend, erblickt nicht nur Ordnung in der
Natur; sein großer Plan, der die Handlung von da ab | bis zum Ende
seines irdischen Lebens bestimmt, ist dieser: die Natur zu ordnen, wo sie
zum Wohl der Menschen solcher Ordnung bedarf. Was ihn zur Verzweif-
lung beängstigt, ist

Zwecklose K r a f t unbändiger Elemente (10219).

Sein Plan, mit kühnem Fleiß als Kolonisator dem Meeresstrand frucht-
baren Boden abzugewinnen, gründet in dem was er von Helena gelernt
hat.
Und hier möchte noch ein Grund sein, warum der Dichter diese Land-
schaft am Anfang des IV. Aktes ins steile Hochgebirge verlegt. Als Faust
und Mephistopheles eingreifen in den Krieg des Kaisers, steigen sie über
das Mittelgebirg herüber und beschauen die Anordnung des Heeres im
Tal (vor 10297). Der Strand des Meeres als Faustens letztes Ziel hatte sich
schon vorher in seinem Gespräch mit Mephistopheles abgezeichnet. Das ist
also ein Weg ähnlich wie in der Klassischen Walpurgisnacht. Führt er aber
dort von den thessalischen Bergen bei Pharsalus am obern, dann am untern
Peneios entlang bis zur Ägäis, so ist er hier unvergleichlich mächtiger, von
dem Hochgebirge über das Mittelgebirge und des flachen Ufers Breite
(10201) bis an das herrische Meer (10229). Vielleicht ist auch dies ein
Grund, warum Faust einen Monolog von solcher Höhe herab zu sprechen
hat.
Fausts Trimeterrede ist so gebaut: In den ersten vier Zeilen ist er, man
darf sagen, griechischer Prologsprecher:

Der Einsamkeiten tiefste schauend unter meinem Fuß


Betret' ich wohlbedächtig dieser Gipfel Saum . . .

so wie Erichtho begonnen hatte:

Zum Schauderfeste dieser Nacht, wie öfter schon,

Tret' ich einher, Erichtho, ich, die düstere . . .

und wie Helena begonnen hatte:

Bewundert viel
Vom Strande und viel
komm* ich, gescholten,
wo wir erstHelena,
gelandet s i n d , . . .
Nach jenen vier prologischen Trimetern des Faustmonologs folgen 1 2 Tri-
meter, in denen die Cumuluswolke zum Helenabild sich formt und sich
dann wieder entformt, und 12 Trijmeter, in denen die Cirruswolke die
Gestalt Margaretes annimmt und die Form bewahrend sich in den Äther
erhebt. Margarethe, sagt man gern, habe über Helena gesiegt, das Mäd-
[74175] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 629

chen der lebendigen Wirklichkeit über die Gestalt der Mythologie, oder
gar das deutsche Gretchen über die griechische Helena. Aber diesen Sieg
spricht Faust in jenen griechischen Trimetern aus mit ihrem unauffällig
genauen Gleichmaß der Teile. Das also hat er von Helena gelernt: Rhyth-
mus, Gleichmaß und gestufte Ordnung. Erst jetzt kann er sprechen:
Wie Seelensdiönheit steigert sich die holde Form.
Ohne Helena bliebe seine Jugendliebe so vergessen, wie sie es seit dem
Lethebad in der Ouvertüre des Zweiten Teiles war. Jetzt freilich lebt
ihm mit Hilfe dieser gestaltenden Erfahrung das früher Lebendige in
neuer Wesentlichkeit wieder auf,
erhebt sidi in den Äther hin
Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort.
Gewiß, in dem irdischen Handeln Fausts wird davon nichts offen sichtbar.
Aber sollte wirklich das Beste seines Innern an seinem ordnenden Handeln,
seinem Wirken für die vielen Millionen gar nicht mehr beteiligt sein? Wie
auch immer, dies hat der Dichter nicht durchgeformt, und wenn man nach
Schwächen in der Dichtung sucht, hier ist wirklich Goethe allzu lakonisch
geblieben, wie er wenige Wochen vor seinem Tode manche Hauptmotive
seines Werkes kritisch überblickend in sein Tagebuch notiert (24. Januar
1832) 64 .
Der Schluß des Mysterienspiels aber öffnet die Himmel. Dort könnte
die Eine Büßerin nicht für ihn zur Gnadenmutter beten, und diese könnte
nicht antworten:
Komm! hebe dich zu höhern Sphären!
Wenn er dich ahnet, folgt er nach,
ihr Wenn bliebe ein ungewisses Wenn, hätte nicht Faust, ausblickend vom
Hochgebirge und von der Höhe seines Lebens, selber auf jenes Drüben
gezielt, wohin er als Hundertjähriger die Augen blinzelnd zu richten für
Torheit erklärt. Liegt der Ton dieser Worte auf dem Blinzeln, und soll
sich Faust nur | gegen anthropomorphe Jenseitsbilder wehren? Oder
rechnet er, alt und starr geworden, jeden Blick über die Grenzen des Le-
bens hinaus zur menschlichen Beschränktheit, und ist er wirklich „il tipo
ideale dell' uomo moderno: PAnticristo umanitario" geworden, als den
G. A. Borgese ihn sieht65? Vielleicht hat der Dichter dies an seinem Faust

6t
So hat ihn selbst Gilbert Highet,The Classical Tradition 2 1950, 389 f., mißverstanden:
. . . "After a short marriage, Helen vanished, and left Faust to the medieval demon
who was his other seif."
65
Saggio sul' Faust, Milano 1933, 126. Sehr anders Burdach, Das religiöse Problem in
Goethes Faust, Euphorion 33, 1932, 24: „ . . . n i c h t Unglaube gegenüber jeder un-
irdischen, übersinnlichen Welt, wie man irrig verstanden hat" - wo dann dodi auf die
Verschiedenheit der Stadien in Fausts Leben nicht geachtet ist. Darum wird man doch
630 Deutsche Literatur [75176]

absichtlich in der Schwebe halten wollen. Für sich selbst hatte er erfahren:
im Alter werden wir Mystiker, und er gestaltet jenes Drüben am Ende
seines Mysterienspieles. |

12. Epilog

Übrigens werden Sie mir zugeben, daß der Schluß, wo es mit der ge-
retteten Seele nach oben geht, sehr schwer zu machen war ... und so fort.
Die Stelle aus den Gesprächen mit Eckermann (6. Juni 1831) wird immer
wieder citiert, um zu beweisen, daß Goethe die scharf umrissenen christ-
lich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen benutzte - man fügt noch gern
hinzu „lediglich" und „als Mittel zum Zweck" benutzte (und man ver-
gißt zu bedenken, was Goethe unter der Uberschrift Nichts anderes als
über solche Redensarten zu sagen hat, die den gemeinen Sinn einschläfern!)
- also: daß Goethe diese Figuren und Vorstellungen benutzte, um seinen
poetischen Intentionen eine wohltätig beschränkende Form und Festig-
keit zu geben66. Aber wir wollen doch auch hier wie früher nicht vergessen,
daß Goethe, wenn er sich über seine Dichtungen äußert, als Techniker
redet und nicht als Dichter. In dem Dichter hatten sich die vielen ver-
schiedenen Bezirke des Faustdramas geformt, waren in ihm gewachsen,
so wenig man dabei den unendlichen Fleiß, das Handwerk, oder nenne
man es das Machen, im geringsten zu unterschätzen braucht, und zu diesen
Bezirken gehörte seit langem und in wechselnden Formen, zuletzt in einer
dieser Formen sich gestaltend, der Himmel der christlich-kirchlichen Über-
lieferung. Mit dieser Welt umgehend hatte Goethe ein langes Leben hin-
durch gelebt, in Hinnahme und Hingabe, in Zwiesprache und Abkehr, in
Gebet und Mephistophelesgeste, in sinnenfreudigem Heidentum, in west-
östlicher Katholizität, als Mystiker, durch Bild, Musik und Wort. Auch
so werden wir ihm zugeben, daß der Schluß sehr schwer zu machen war.
Betrachten wir vor allem einige rhythmische Motive und einige Züge der
Landschaft.

Aldous Huxley, Themes and Variations (New York 1943) 221 nicht ernst nehmen:
" A n d the same sort of all too human anticlimax (er hat vorher von Shakespeares
Tempest gesprochen) saddens us at the end of the second part of Faust with its impli-
cation that draining fens is Man's final End, and that the adiievement of this end
automatically qualifies the drainer for the beatification."
Vgl. Rickert, Goethes Faust 448. Nichts anderes als: Jubiläumsausgabe Band 37, 3 1 2 .
Mit vielem bei G . W. Hertz, Natur und Geist in Goethes Faust, Kapitel 8: Fausts
Himmelfahrt, müßte man sich auseinandersetzen, wenn das hier angebracht wäre.
Vgl. auch W. Flitner, Goethe im Spätwerk 298 ff. - K . Burdach, Die Sdilußscene in
Goethes Faust, Sitz.-Ber. d. Preuß. Akad., Philos.-Histor. Kl., 1 9 3 1 , 1 ff. Burdach
stellt S. 22 die Frage, „ob es Goethe gelang, zwischen dieser Erlösung Fausts und dem
vorhergehenden Drama eine künstlerische Einheit darzustellen" (soll wohl heißen:
herzustellen). „Diese Frage muß man verneinen . . . Die Sdilußscene . . . springt un-
vermittelt in eine übersinnliche Welt . .
[76/77] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 631

Die Schlußscene, überschrieben Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde,


ist im Grunde nur scheinbar abgesetzt von der vorhergehenden67. Dort
war der Kampf um Fausts Unsterbliches | entschieden worden. Mephisto-
pheles wird ins Proscenium gedrängt und scheidet, seine Niederlage zu-
gebend, mit der schneidenden Reimdissonanz beschäftigt - bemächtigt aus
dem Mysterienspiel, das nun noch den letzten Schicksalen der Seele zu-
gewandt bleibt.
Aus der Glorie von oben hatte sich die himmlische Heerschar herab-
gesenkt, um sich mit Fausts Unsterblichem dann wieder zu erheben. Die
den Engeln zugeteilten Verse sind Zwei- oder Dreiheber, fast alle in fal-
lendem Rhythmus:
Folget, Gesandte,
Himmelsverwandte,
Gemächlichen F l u g s ! . . .
Rosen, ihr blendenden,
Balsam versendenden . . .
Was euch nicht angehört,
Müsset ihr meiden . . .

Solche Kurzverse, wie sie vor allem in der als hohe Oper gedachten Eu-
phorion-Scene begegnet waren, haben vermutlich in ihrer schmeichelnden
Einfachheit eine lange Vorgeschichte68. In Tanzliedern des 17. Jahrhun-
derts klingt es ähnlich:
Lasset uns scherzen,
Blühende Herzen . . .
Lauten und Geigen
Sollen nicht schweigen.
Kommet zum Tanze,
Pflücket vom Kranze.
Goethe selbst hat in seinen Kantaten solche gereimten Kurzverse, wenn
auch meist in steigenden Rhythmen; etwa:
Dem festlichen Tage
Begegnet mit Kränzen,
Verschlungenen Tänzen . . .
Und gewiß stehen diese Kantaten noch mehr als vieles andre bei ihm in
einer festen Uberlieferung. Leichteste Tanz- und Liebeslieder also hat er
im Faust in die höchsten Sphären gehoben. |
67
Dieses Urteil geht aus der Interpretation hervor. Es wird äußerlich bestätigt, und kann
dodi, wie sich versteht, nicht völlig bestätigt werden, durch die Handschrift V H c , die
das Ende der Grablegung mit dem Anfang der Bergschluchten verbindet. Goethe hat
1830 die letzte Scene geschrieben und gleichzeitig den Schluß der vorletzten über-
arbeitet; s. G . W. Hertz, Euphorion 33, 1932, 267.
«8 Z u dem Folgenden: W. Vesper, Deutsche Gedichte des 17. Jahrhunderts, 1907, 10, 38.
632 Deutsche Literatur [78/79]

Dieselben Rhythmen und ein ähnliches Reimsystem waren schon am


Anfang des Ersten Teils erklungen in den Ostergesängen der Engel und
der Getreuen:
Christ ist erstanden!
Freude dem Sterblichen . . . (783 ff.)
H a t der Begrabene
Schon sich nach oben . . . (78 5 ff.)

im Gesang der Geister:


Schwindet, ihr dunklen
Wölbungen droben . . . (1447 ff.)

freilich audi in dem leichten Singsang der Soldaten:

Burgen mit hohen


Mauern und Zinnen . . . (884 ff.)

Also wären Verse dieser A r t dort, w o der eigentliche Kampf mit Me-
phistopheles angeht, zu gesanghaft oder zu schwebend-milde gewesen. So
werden dieses einzige Mal den Engeln zwei Sprechverse gegeben, heraus-
fordernd, kampfbereit und geradewegs an Mephistopheles gerichtet:

Wir kommen schon, warum weichst du zurück?


Wir nähern uns, und wenn du kannst, so bleib!

Dann nehmen die Engel ihre eigene Melodie wieder auf, und den Rhyth-
mus dieser schwebenden, gereimten Kurzzeilen bewahren auch nachher in
dem als letzte Scene abgetrennten Schlußstücke viele Engelsgesänge.
Es ist in diesen Strophen gar manches, was durchaus nicht nur christ-
lich sein muß, und selbst das Christliche klingt nirgends dogmatisch und
ausschließlich. Aber muß etwas dogmatisch und ausschließlich klingen, um
christlich zu sein? Goethe zog das Schauen dem Glauben vor, und die
Frage nach der Christlichkeit jener Engelsgesänge möchte einer höhern
Macht als selbst dem Urteil Benedetto Croces und George Santayanas
anheimzustellen sein.
Von dem, was die Engel zu singen bestimmt waren, wäre manches f ü r
jene schwebende Kurzzeile zu gewichtig gewesen. Sie sollten, fast wie in
feierlicher Verkündung eines Gerichtsbeschlusses, Fausts Rettung ausspre-
chen und das Gesetz nachjdem sie erfolgt; auch diese Verkündung — wie
hier alles oder das meiste — in einer mächtigen Tradition stehend, die der
Dichter halb annimmt, halb abweist: es ist die Rechtfertigungslehre der
christlidien Kirchen. Wie in den strengen christlichen Theologien zweier-
lei zusammenwirkt, auf der Seite des Menschen Sündenbewußtsein, gute
Werke, Buße oder sola fides, „Glaube allein", von Gott her Gnade und
Liebe, so wagte Goethe eine eigene Rechtfertigungstheologie, in der das
Immer-strebend-sich-bemühen des Menschen, sei es auch ohne Sünden-
[79180] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 633

bewußtsein und ohne Buße, sich mit der Liebe von oben zur Erlösung ver-
einigt. Um dies zu formulieren, waren gewichtigere Vierheber, steigende,
dem Dichter notwendig:
Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen . . .
die Zeilen abwechselnd mit stumpfem und klingendem Schluß, so daß im
Grunde je zwei Zeilen sich zu machtvollen Achthebern zusammenschlie-
ßen:
Gerettet ist das edle Glied Der Geisterwelt vom Bösen -
damit wird der Entscheid verkündigt.
Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen -
das ist das faustische Dasein als der menschliche Beitrag in diesem Recht-
fertigungsverfahren, so antipaulinisch wie nur denkbar, Rechtfertigung
durch nie ermüdendes Wirken allein.
Und hat an ihm die Liebe gar Von oben teilgenommen -
das ist die Rechtfertigung durch die „teilnehmende Gnade", gratia co-
operans, um es in Augustins Formel zu sagen69.
Begegnet ihm die selige Schar Mit herzlichem Willkommen -
das ist die Erhebung Fausts in den Kreis der göttlichen Boten.
In Vierhebern von fallendem Rhythmus schließen die Engel gleich
darauf den Jubelbericht an über ihren siegreichen Kampf, beginnend mit
der Erinnerung an
Jene Rosen aus den Händen
Liebend-heiliger Büßerinnen . . .
und endend mit jenem
Jauchzet auf! Es ist gelungen. |
Audi hier gibt das Druckbild nicht ganz den Eindruck wieder, den das
Ohr empfängt. Denn da der Rhythmus fallend ist und alle Zeilen klin-
gend schließen, so geht die Linie von Jene Rosen bis gelungen im Grunde
ohne Unterbrechung durch: ununterbrochen soll der Fluß dieses Jubel-
berichtes sein.
Aber wenn man so die Engelsgesänge nachstammelt und ihren Rhyth-
men nachrechnet, wird man zugleich auch gewahr, wie die himmlische
Heerschar sich differenziert: aus ihr sondern sich Gruppen: die seligen
Knaben, die jüngeren Engel, die vollendeteren Engel. Es ist nicht wie bei
Dante eine festgestufte seiende Ordnung sondern ein Emporwachsen zu

69
Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschidite, 1 9 1 4 , I I I 4 2 0 5 .
634 Deutsche Literatur [80/81]

immer höheren Rängen, und in diese werdende Vielheit der göttlichen


Sendboten ist Fausts Jenseitswerden eingeordnet.
Die Engel, die sein Unsterbliches tragend ihr Gerettet singen, schweben
aus der Grablegungsscene herüber in die Schlußscene an und über dem
heiligen Berge, so daß beide Scenen in Wirklichkeit eine einzige sind.
Nichts ist gesagt, welcher Art diese Engel sind, und nichts darüber, ob ihr
Gerettet schon völlige Erfüllung meint oder erst auf dem Wege zur Er-
füllung ist. Um dieses Ob—Oder geht ein leiser Streit der jüngeren und der
vollendeteren Engel, die eben um dieses Gegensatzes willen jetzt vom
Dichter unterschieden werden. Es ist die Schar der jüngeren, also un-
erfahreneren, die in jenem strömenden Jubelrhythmus ihr Gelungen singt.
Aber die Engel, die Fausts Unsterbliches tragen, wissen es genauer, fühlen
es gleichsam am Gewicht, werden gerade darum die vollendeteren Engel
genannt und singen in einer etwas schwereren Variante des eigentlichen
Engelrhythmus:
Uns bleibt ein Erdenrest
Zu tragen peinlich . . .
Die ewige Liebe nur
Vermag's zu scheiden.
Jene Verkündigung also, daß Faust gerettet sei, schließt nicht aus sondern
ein, daß sein Seelenschicksal sich noch vollenden muß. Er ist Anfänger
und wird den Anfängern unter den Engeln zugesellt. |
Wie sein Unsterbliches in dieser Hierarchie werdender Boten werdend
nach oben schwebt, so Margaretens in dem Chor der Büßerinnen um die
Mater gloriosa. Doch ehe wir dorthin zu folgen versuchen, muß von dem
Berg der Anachoreten die Rede sein. Der Bewegung des himmlischen
Empor hat Goethe diesen Berg mit seinen Bewohnern als etwas Irdisch-
Festes entgegengebaut.
Zum Bilde dieses Berges hat vieles beigetragen: die Wirklichkeit des
spanischen Montserrat und des griechischen Athos, dazu vielleicht die des
toskanischen Berges La Verna, auf dem der Heilige Franciscus, der Pater
Seraphicus, die Stigmen empfing70. Wilhelm von Humboldts Beschreibung
des Montserrat war Goethe gewidmet (1800); von dem Athos und seinen
Mönchen wußte Goethe im Jahre 1814 und las er in den zwanziger Jah-
ren, als er das zeitgenössische und mittelalterliche Griechenland studierte.
Und mit diesen Wirklichkeiten verschmolzen in seiner Phantasie Werke

70 Über Goethe und den Montserrat s. zuletzt A . Farinelli in: Goethe, Viermonatssdirift
der Goethe-Gesellschaft 8, 1943, 192 ff., 260 ff. Auf den La Verna weist P. Expeditus
Schmidt. Faust, 1930, 224 nadi dem Vorgang von Ambros Styra; auf den Athos, mit
einem Fragezeidien, R. Busch-Zantner, Faust-Stätten in Hellas, 1932, 62 ff. Rosen-
kränze, wenn es möglich wäre, von denen welche die Mönche vom Berge Athos
bringen, wünscht sich Goethe 1 8 1 4 auf einem Blatt über russische Heiligenbilder:
Goethe, Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft 10, 194/, 22*.
[81/82] R h y t h m e n und Landschaft im zweiten Teil des Faust 635

der kirchlichen Malerei, die er in Italien gesehen hatte, und deren Er-
innerung durch Stiche in seiner Sammlung angefrischt wurde: die Fresken
in Pisa und andre Bilder heiliger Einsiedler. Aber er selbst hatte ja schon
Jahrzehnte früher (1784) in seinen Geheimnissen die Wohnungen der
zwölf Rittermönche auf einen steilen Berg, dort oben freilich in ein sanft
geschwungenes Tal, verlegt, vielleicht den Montsalvat der Gralsage sich
aneignend. Als Humboldt den Montserrat bestieg, gab dem Sinn dieses
scharfen Beobachters der Gedanke an Goethes Geheimnisse Richtung und
Stimmung. Und wie sehr wiederum in Humboldts Bericht den Dichter
der Geheimnisse die Heraufbeschwörung seiner eignen Dichtungswelt an-
sprach, ersehe man daraus, daß er selbst später (1816) den Berg seiner
Rittermönche einen ideellen Montserrat nennt. So befruchtet Dichtung die
Wirklichkeit und Wirklichkeit die Dichtung. Manches wird mit solchem
Woher der Stoffe und solcher Vorgeschichte der Motive deutlich, aber
nicht, warum Goethe überhaupt in jene überirdische Welt des Faust-
schlusses den Berg der Anachoreten hat hineinragen lassen, die letzte
Landschaft in dem Drama voller Landschaften. |
Dantes Jenseits hat die Vollkommenheit und die Unendlichkeit des
Kreises und der Kugel. Das Wollen des Dichters - dies ist sein letztes Bild
am Ende seines hundertsten Gesanges - empfängt die Bewegung eines
gleichmäßig umschwingenden Rades von Gott, der Liebe — das ist christ-
lich - , die die Sonne und die andern Gestirne bewegt-das ist der aristote-
lische „Erste Beweger". Die Gleichartigkeit von Gestirnbewegung und
Seelenbewegung ist platonisch, und auf Piaton (und seinen Schüler Cicero)
geht es zurück, wenn Dantes Dichtung mit dem Blick auf die vollkom-
mene Bewegung der Sphären schließt.
Das Jenseits in Goethes Faustmysterium hingegen ist bestimmt von
der Unendlichkeit des modernen Weltbildes. Gewiß ist auch hier die
Kreisbewegung noch bedeutend im anschaulichen Symbol: Selige Knaben
in Kreisbewegung sich nähernd (12076), Steigt hinan zu höherm Kreise
( 1 1 9 1 8 ) , Chor seliger Knaben um die höchsten Gipfel kreisend (11926),
Komm! hebe dich zu höhern Sphären (12094). Doch dies ist allgemeiner
empfunden und gesagt, als wenn Dante durch seine genau gezählten, näm-
lich neun, himmlischen Sphären ins Empyreum emporführt. Von himm-
lischen Kreisen weiß Goethe auch im altpersischen Glauben:

Und was nur am Lob des Höchsten stammelt,


Ist in Kreis' um Kreise dort versammelt,
und von Kreisbewegung ist das mythische Schlußbild der Klassischen Wal-
purgisnacht durchdrungen: Kreis um Kreis (8380), In kreisenden Schwun-
ges Bewegung (8427), Chorus der sämtlichen Kreise (zu 8444), In ge-
dehnten Kettenkreisen (8447). So wird die Kreisbewegung, die sich in
Raffaels Galatea-Gemälde der Farnesina eben andeutet, bei Goethe zu
einem bedeutenden Bewegungsmoment, weit hinaus über die scenisch-
636 Deutsche Literatur [82/84]

möglichen Darstellungsmittel seiner Zeit. Aber wie wesentlich auch noch


der Kreis als Ordnungssystem und Symbol: die Vorstellung, die den
Schluß des Faust bestimmt, ist, im Gegensatz zu der pythagoreisch-mittel-
alterlichen Unendlichkeit von Kreis und Kugel, das durch nichts begrenzte
Empor: |
Schwebend nach oben (i 1992)
. . . schwebend in der höheren Atmosphäre (zu 11934)
Denn das ist der Geister Nahrung,
Die im freisten Äther w a l t e t . . . (11922)
Mit streng voneinander gesonderten Sphären wäre das hier herrschende
Lebensgefühl schwer vereinbar.
Solcher himmlischen Unendlichkeit also hat Goethe ein Stück hoher,
doch irdischer Natur entgegengebaut. Von irgendwoher muß jenes Drüben
geschaut werden, und dieses Irgendwoher ist der Berg der Anachoreten.
Er ist nicht anmutige Gegend wie im ersten Akt, nicht historisch-mythisch
bestimmte Landschaft wie das Thessalien im zweiten, nicht Arkadien,
frei und vollkommen, wie im dritten. Warum nichts von dem allem
braucht man kaum zu sagen. Aber auch die Hochgebirgslandschaft am
Anfang des vierten Aktes ist für den einsam umschauenden Faust, nicht
für die Anachoreten, der symbolische Ort.
Noch eins: diese Landschaft mit dem Berg der Einsiedler steht nicht
da wie die andern Landschaften, sondern sie wird:
Waldung, sie schwankt heran,
Felsen, die lasten dran,
Wurzeln, sie klammern an,
Stamm dicht an Stamm hinan. (11844 ff-)
Mit diesen knappen, machtvollen Rhythmen begleitet Chor und Echo
jenen Vorgang des Werdens, Rhythmen nur scheinbar gleich jenen schwe-
benden Rhythmen der Engel, in Wahrheit viel gewichtiger und gezack-
ter 71 . Also etwa so: — w — . Ein Stemmen und Entgegenstem-
men, wie die Worte es sagen.
Was bedeutet dieses Werden der Landschaft? Wie ist es gemeint?
Zunächst mag der Bühnengewaltige es zu verantworten haben, wie er
auch in Wilhelm Meisters Wanderjahren (II 9), dort wo das nächtliche
Bergfest zu mimischen Darstellungen übergeht, Felsmassen maschinenhaft
heranziehen läßt. Seit dem Kampf um Fausts Unsterbliches waren die
schwebenden Engel und mit ihnen der himmlische Raum im | Scenenbilde
gegeben. Sollte dem also eine irdische Welt zugesellt, entgegengestellt
werden, so durfte doch wohl der Vorhang vor der letzten Scene nicht

71
Heusler, Deutsche Versgeschichte I I I , 3 7 9 ff.; derselbe Kleine Schriften, 1 9 4 3 , 477
V g l . dazu auch K . M a y , Faust II. Teil aus der Sprachform gedeutet, 1 9 3 6 , 2 5 5 ff. Zur
Auseinandersetzung über Einzelheiten ist hier nidit der O r t .
[84185] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 637

fallen, sondern der Montserrat mußte dem freien Äther entgegenwachsen.


Ist aber in diesem Bereich des Mysterienspiels alles sowohl sinnlich als
auch symbolisch, sollte man dann nicht in jener Bewegung zugleich ein
Symbol zu sehen haben? Goethes Jenseits ist werdend. Wie konnte sein
Diesseits, auch sein erhabenstes Diesseits, anders sein als werdend - und
also audi wieder entschwindend? (Wobei man freilich zugeben muß, daß
solcher Deutungsversuch es schwer haben wird, sich gegen skeptische Ein-
wände zu verteidigen. Aber daß irgendeine Deutung nötig ist, darüber
wird man sich wenigstens verständigen können und sich auf Goethe selbst
berufen, der eben im Jahre 1826 schreibt: Genau genommen ist nichts
theatralisch, als was für die Augen zugleich symbolisch ist.)72
Chor und Echo ist den Versen vorgesetzt, die jenes Werden aus-
drücken, beschreiben. Es ist der Chor der Einsiedler:

Löwen, sie schleichen stumm-


Freundlich um uns herum.

Aus dem Chor sondern sich die einzelnen Anachoreten wie vorher aus dem
Chor der Engel die einzelnen Engelsgruppen und nachher aus dem Chor
der Büßerinnen die bestimmten Personen. Die einzelnen Anachoreten
haben keine Eigennamen sondern allgemeine Ehrennamen, die Goethe,
mit völliger Freiheit und nur auf das Symbolisch-Universale gerichtet,
der kirchlichen Tradition entlieh. Auf Grundhaltungen kam es ihm an;
jeder hat seinen Raum und seinen Rhythmus.
Der Pater ecstaticus wird schwebend sichtbar, wie solche ekstatische
Erhebung von dem heiligen Franciscus berichtet wird und von Filippo
Neri, den Goethe sich in Italien zu seinem Sonderheiligen erkor. Aber
anders als diese schwebt der Ecstaticus auf und ab, und seiner Bewegung
entsprechen seine Gefühle, wie er selbst sie leidenschaftlich ausspricht.
Franciscus, bevor er die Stigmen empfing, betete um zwei Gnaden: den
Schmerz zu fühlen, wie Jesus ihn in seinem | bittersten Leiden empfand,
und die Liebe, von der Jesus entflammt war, um solche Leiden für uns
Sünder auf sich zu nehmen. Und der Franziskaner Jacopone begann einen
Gesang:
O dolce amore - c'hai morto l'amore,
prego die m'occidi d'amore.

So wogen hier in der Brust des Ecstaticus Lust und Schmerz auf das
heftigste durcheinander, beide völlig sublimiert: der Schmerz ist siedend,
aber Schmerz der Brust, die Lust ist schäumend, aber es ist Gotteslust, und
seine Sehnsucht fleht um die Verflüchtigung alles Nichtigen. Sein Rhyth-
mus nimmt genau den des vorhergehenden Chores auf, vielleicht etwas
weniger staccato, und beide Strophenenden entsprechen einander: Heili-

72
V g l . Traumann, Goethes Faust I I 2 3 7 1 .
638 Deutsche Literatur [85/86]

gen Liebeshort - Ewiger Liebe Kern, doch so, daß bei dem Chor sdion
erfüllt scheint, was bei dem Ecstaticus noch leidenschaftlicher Wunsch ist.
Im Gegensatz zu dem Ecstaticus hat der Pater profundus seinen
unveränderlichen Platz: tiefe Region. Und diese Tiefe ist ein Symbol
für fundamentale Erkenntnis. Natur ist Gleichnis: Wie . . . Wie .. .
Wie . . . 5o . . . - Gleichnis für die allmächtige Liebe. Alles in der Natur,
auch das Wildeste und Verderblichst-Scheinende, Wassersturz und Blitz,
sind Zeugen göttlicher Liebe. Worin unterscheidet sich diese allmächtige
Liebe, die alles bildet, alles hegt, (11872), von dem Eros, der alles begon-
nen (8479), in der Klassischen Walpurgisnacht? Sind das nur verschiedene
Namen für die gleiche Erfahrung oder Wesenheit, oder überhöht diese
Liebe jenen Eros? Daß dies Letzte gemeint ist, wird man empfinden.
Aber ehe wir die Antwort über das Gefühlsmäßige hinauszuheben ver-
suchen, hören wir auf den Rhythmus, in dem der Pater profundus spricht.
Seine Melodie ist ungleich gewichtiger als alles, was in diesem Bezirk
vorhergeht, und als fast alles, was folgt: drei Strophen, jede achtzeilig,
vierhebige Zeilen in steigendem Rhythmus mit abwechselnd klingenden
und stumpfen Reimen. Diese Form begegnet an Stellen besondern Nach-
drucks im ] Ersten Teil 73 ; verdreifacht dort, wo Faust seine große Fluch-
rede spricht:

Wenn aus dem schrecklichen Gewühle


Ein süß bekannter Ton mich zog . . . ( 1 5 8 3 ff.)
einfach dort, wo er der Werte ihre durch das ganze Drama dauernde
Form gibt:
Werd' ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön! . . . (1699 ff.)
zweimal dort, wo er, vom Osterspaziergang kommend, sein Studier-
zimmer wieder betritt:
Verlassen hab' ich Feld und Auen,
Die eine tiefe Nacht bedeckt . . . (1178 ff.)
am mächtigsten zu Anfang des Prologs im Himmel, da dort die drei
Strophen Gesang der Erzengel sind und durch die Wiederholung im
Unisono abgeschlossen werden:
Der Anblick gibt den Engeln Stärke . . . (267-270).
Diesem vierzeiligen Refrain konnte in dem Gedicht des einen Anachoreten
nichts entsprechen. Sonst aber sind nicht nur die Strophenformen identisdh,
die Verwandtschaft erstreckt sich bis auf die Worte, Bilder und Klänge.

73
D a s Lied des Bettlers v o r dem T o r ( 8 5 2 ff.) soll wohl w i e eine leiernde Parodie der
feierlichen Gesangstrophe klingen.
[86j87] Rhythmen und Landsdiaft im zweiten Teil des Faust 639

Im Prolog:
Es schäumt das Meer in breiten Flüssen
Am tiefen Grund der Felsen auf . . .
Und Stürme brausen um die Wette . . .
Da flammt ein blitzendes Verheeren . . .
Im Epilog:
Wie Felsenabgrund mir zu Füßen
Auf tiefem Abgrund lastend ruht,
Wie tausend Bäche strahlend fließen
Zum grausen Sturz des Schaums der Flut . . .
Ist um mich her ein wildes Brausen,
Als wogte Wald und Felsengrund . . .
Der Blitz, der flammend niederschlug . . . |
Uber die Gleichheit der Strophenbildung und die Verwandtschaft der
Klänge und Bilder hinaus reicht dieses: hier wie dort ist die mächtige
Natur Ausdruck göttlicher Wirkung.
Aber nun die Verschiedenheit: Im Prolog umfaßte der Blick den
Kosmos, der Anachoret blickt in eine fremdartig erhabene, doch irdische
Landschaft - mir zu Füßen . .. um mich her . . . - eben jene, deren Ins-
Werden-Kommen vorher von Chor und Echo in Worte geprägt worden
war. Damit wird die Landschaftsmelodie zum letzten Mal aufgenommen,
die mit der Ouvertüre des Zweiten Teiles begann (wenn man ferne
Anklänge in dem Monolog Wald und Höhle des Ersten Teiles hier außer
Rechnung läßt) und die sich in Arkadien fortsetzt. Es braucht kaum
gesagt zu werden, wie verschieden diese Landschaftsmelodien getönt sind.
Und doch höre man nach den eben citierten Zeilen des Epilogs einige
Zeilen aus der Ouvertüre:
Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend . . .
Von Sturz zu Sturzen wälzt er jetzt in tausend,
Dann abertausend Strömen sich ergießend,
Hoch in die Lüfte Schaum an Schäume sausend . . .
und das setzt sich fort in Arkadien:
. . . vereinigt stürzen Bäche
. . . nach höhern Regionen,
Ehebt sich zweighaft Baum gedrängt an Baum.
Der Ahorn, mild, . . .
Steigt rein empor und spielt mit seiner Last,
wo man denn insbesondre von den Bäumen Arkadiens zu dem
Anachoretenberge hinüberblicken und -hören muß:
Wie strack, mit eignem kräftigen Triebe,
Der Stamm sich in die Lüfte t r ä g t . . .
640 Deutsche Literatur [87189J

Also vereinigt sich in den Strophen des Pater profundus etwas von
beiden melodischen Linien, der des Prologs im Himmel und der, die in
den landschaftlichen Räumen des Zweiten Teiles erklingt. Aber beides
wird hier transcendiert von der allmächtigen Liebe. Im Prolog herrscht
die Schöpfermacht, wie sie am Anfang der Genesis herrscht, am Schluß
ist es die alles | bildende, durchdringende, erhebende Liebe. Sie ist noch
etwas sehr andres als jener Eros, der alles begonnen, am Ende der
Walpurgisnacht. Daß sie ihr Verwandtes im Innern des Menschen hat,
mag auch für den Eros Kosmogonos gelten - und es gilt für ihn bei
Piaton aber der Schluß des Faust wird christlich durch das Gebet.
In das Innere des Herzens zieht .sich der Pater profundus zurück
(i 1884 ff.), und aus dieser Einkehr erhebt sich das Gebet um innere Ruhe
und Erleuchtung. Das Griechische und das Alttestamentliche bleiben be-
wahrt, aber sie werden überhöht. Oder wenn man an Goethes Maxime
über die drei Formen der Religion, Polytheismus, Pantheismus und
Monotheismus, zurückdenkt: Es wurde früher in unsrer Deutung ver-
sucht zu zeigen, daß im Dritten Akt Pantheismus den Polytheismus
hinter sich läßt74. In dem umrahmenden Mysterienspiel erhebt sich der
eine Gott des Alten und des Neuen Testaments über den Deus sive
Natura, derart daß am Schluß des Ganzen auch noch das Unergründlich-
Schöpferische überhöht wird von der Allmächtigen Liebe. —
Es mag wie ein seltsamer Abweg aussehen, wenn wir hier plötzlich
auf die Hypsistarier 75 zu sprechen kommen, jene spätantike Religions-
gemeinschaft des innern Kleinasien, von der Goethe in der Mitte der
zwanziger Jahre erfuhr, etwa ein Jahr, nachdem sein Faustwerk neu in
Bewegung gekommen war. Damals nannte er sie eine Sekte, der man sich
anschließen möchte, wenn sie sich erklären nur das Höchste schätzen zu
wollen (an Riemer, 7. Oktober 1826). In dieser Weise legte er sich so-
gleich ihren Namen und das wenige was wir von ihnen wissen zurecht.
Und von nun an begleitet ihn dieser hypsistarische Gedanke durch die
letzten Jahre seines Lebens. Ein Jahr vor seinem Tode schreibt er an
Boisseree (22. März 1 8 3 1 ) von jener Sekte, welche, zwischen Heiden,
Juden und Christen geklemmt, sich erklärten das Beste, Vollkommenste,
was zu ihrer Kenntnis käme, zu schätzen, zu bewundern, zu verehren und,
insofern es also mit der Gottheit in nahem Verhältnis stehen müsse, anzu-
beten. Da wurde mir, so schließt der Brief, auf einmal aus einem dunklen
Zeitalter her ein frohes Licht. Denn ich fühlte, daß ich zeitlebens ge-
trachtet hatte, | mich zum Hypsistarier zu qualifizieren . .. Das Religions-
gespräch mit Boisseree geht durch die folgenden Monate, und der Dichtei
beschließt es mit den Worten (25. Juli 1831): Findet sich einmal eine

s. Kapitel I X .
75
Über die Hypsistarier und Goethes Wohlgefallen an dieser Sekte s. A . Kippenberg, in:
Goethe, Viermonatsschrift der Goethe-Gesellsdiaft, 8, 1 9 4 3 , 3 f f . ; B. W y s s in: P h y l l o -
bolia f ü r Peter von der Mühll, 1 9 4 6 , 1 7 2 ff.
[89j90] Rhythmen und Landsdiaft im zweiten Teil des Faust 641

heitere herzeröffnende Stunde, so versuche ich meine hypsistarische Lehre


aufs Papier zu bringen. Als er wenige Wochen später seinen Faust ab-
schloß und versiegelte, war so viel des Hypsistarischen darin, daß man
es nicht allzusehr bedauern muß, wenn er jene Lehre nicht mehr aufs
Papier gebracht hat. Damit wenden wir uns zum Berge der heiligen
Einsiedler zurück. -
Sprach der Profundus in den mächtigen Strophen der Erzengel, so
stehen dem Seraphicus in der mittleren Region die Strophen Ariels aus
der Ouvertüre an, nur um die eine Anfangssilbe kürzer als die Erzengel-
strophe, aber so sehr viel zarter und leichter klingend in ihrem fallenden
Rhythmus. Der Seraphicus ist in seinem Namen und in seinem Wesen
den Engelshierarchien näher. Er ahnt den Chor seliger Knaben in dem
Morgenwölkchen, das durch die Tannen schwebt. Sie folgen in ihrem
Chorgesang seinem Rhythmus. Er nimmt sie - swedenborgisch - in sich
hinein, und als er sie aus sich entläßt, schweben sie nicht mehr durch die
Tannen sondern um die höchsten Gipfel des Berges. Seine Strophe wird
am Schluß klingender, fließender, indem der Wechsel weiblicher und
männlicher Reime - Kreise - unvermerkt - Weise - verstärkt - einer
Vierheit durchaus weiblicher Reime weicht: Nahrung - waltet - Offen-
barung - entfaltet. Und die Knaben singen nicht mehr in seinem Rhyth-
mus, sondern in dem viel leichteren der Engelschöre, denn sie haben
gelernt, und sie wissen jetzt:

Den ihr verehret,


Werdet ihr schauen.
In den Morgenwölkchen hatte der Seraphicus die seligen Knaben
erkannt. Das Wolkenmotiv klingt zuerst in der Ouvertüre auf als reines
Naturmotiv:
Tal aus| Tal ein ist Nebelstreif ergossen (4688).
In der Klassischen Walpurgisnacht empfängt es mythologische Form: |
Welch ein Ring von Wölkchen ründet
Um den Mond so reichen Kreis?
Tauben sind es . . .
Paphos hat sie hergesendet,
Ihre brünstige Vogelschar . . . (8339 ff.)
Uberraschend ähnlich wie jetzt im Epilog:
Welch ein Morgenwölkchen schwebet
Durch der Tannen schwankend Haar!
Ahn' ich, was im Innern lebet?
Es ist junge Geisterschar. (11890 ff.)
Dort sind es Tauben der Liebesgöttin, hier sind es die seligen Knaben,
der jüngste unter den Engelschören. Es führt ein weiter Weg von jener
642 Deutsdie Literatur [90/91 ]

bis zu dieser Mythologie, von Paphos zu der Offenbarung ewigen


Liebens. Aber die Ähnlichkeit der Klänge weist auf eine, wenn auch
ferne, Verwandtschaft. Schließlich steht genau in der Mitte zwischen
beiden Mythologien Fausts Hochgebirgsmonolog, da ihm in Wolken
abgebildet Helena und die Jugendgeliebte erscheinen. Gewollt oder nicht,
es ist wie ein Aufstieg von Stufe zu Stufe zwischen diesen vier Wolken-
bildern 76 .
Daß Geister und Engel durch die Augen eines besonders gewürdigten
Menschen die Welt und was in ihr ist sehen, gehört zu Swedenborgs
phantastisch-mystischer Erfahrung (per oculos meos viderunt mundum
et quae in mundo sunt). Goethe hätte sich das Motiv gewiß nicht ange-
eignet, es wäre ihm absonderlich oder absurd vorgekommen, wäre es
nicht - um es auf dantisch zu sagen - mehrfacher Deutung und Bedeutung
fähig: polysemum nennt Dante sein Gedidit in dem großen Brief an
Can Grande della Scala. Dante selbst, nicht etwa einer seiner Erklärer.
So fern den meisten heute solche scholastische Linienziehung einem Kunst-
werk gegenüber ist, so wenig wird man leugnen können, daß jenem
swedenborgischen Motiv zum mindesten so etwas wie ein „anagogisdier"
und ein „allegorisch-moralischer" Sinn innewohnt, die es erst bedeutend
machen; anagogisch, da hier der Aufstieg zur höchsten Weisheit und
Liebe einen besonders merkbaren Schritt macht; allegorisch-moralisch, da
wir für unser eigenes Dasein | einen Imperativ darin vernehmen. Jener
Aufstieg aber ist das Grundthema des Faustschlusses, und ohne diesen
Imperativ, also rein als Gegenstand „interesselosen Wohlgefallens", wäre
die Ausweitung der Fausttragödie zur Transcendenz des Mysterienspiels
ein sehr überflüssiges Goethisches Experiment, wie es das für viele noch
heute ist. Aber mag man zu solcher Scholastik sich stellen, wie man will:
offensichtlich ist, daß Goethes ordnender und stufender Geist dem Pater
Seraphicus eine höhere Region anweist als dem Pater profundus, und
daß die höhere Region symbolisch ist für die höhere Existenz. Der Pro-
fundus fühlt die innere Qual und betet um Stille und Erleuchtung für
sich selbst; der Seraphicus trägt als Liebender zugleich Sorge für die
andern. Oder, um weiter umzuschauen, der Pater ecstaticus und der Pater
profundus sind kontemplativ: sie bekennen und beten. Der Pater Sera-
phicus und der Doctor Marianus sind an dem, was sich vollzieht, handelnd
beteiligt, jener an der Knaben und an Fausts jenseitigem Werden, dieser
an der Bewegung, die zu den Büßerinnen und zur Gnadenmutter hinauf-
führt.
Des Pater Seraphicus' Zelle steht in der mittleren Region des Berges,
die des Doctor Marianus in der höchsten. In den ersten Worten des
Seraphicus werden die Seligen Knaben sichtbar, denen die Engel Fausts
Unsterbliches übergeben werden, in den ersten Worten des Marianus,

76 Zu dem Wolkenbilde: R. D. Gray, Goethe the Aldiemist i$8 ff.


[91j92] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des F a u s t 643

also weit höher empor, die Gruppe der Frauen, die sich um die Himmels-
königin schart. Der Doctor Marianus ist der rhythmenreichste der vier
Einsiedler. Wo er zur Himmelskönigin betet und verstehend die Büße-
rinnen rechtfertigt, spricht er in starken fallenden Rhythmen:
Höchste Herrscherin der Welt!
Lasse mich im blauen,
Ausgespannten Himmelszelt
Dein Geheimnis schauen!
Das Wort Entzückt hat Goethe als Regiebemerkung vor diese Anrede
an die Mater gloriosa gesetzt und die Worte auf dem Angesicht anbetend
vor jene letzte Strophe desselben Doctor Marianus fast am Ende des
Ganzen: |
Blicket auf zum Retterblick,
Alle reuig Zarten . . .
Für solche Klänge also entzücktester und huldigendster Anbetung hat der
Dichter diese Strophe bestimmt; sie verhält sich zu der Urteilsverkündi-
gung der Engel
Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen . . .
wie die Strophen Ariels und des Seraphicus sich verhalten zu den Strophen
der Erzengel und des Pater profundus. Der Marianus ist ja der einzige
von den lebenden Menschen, der bis zuletzt gegenwärtig hörbar und
sichtbar bleibt und, nachdem die Gnadenmutter sich in die höchsten
Himmelssphären erhoben hat, in jenen selben Rhythmen das letzte Gebet
an sie richtet, die letzten Worte aus Menschenmund in der Goetheschen
Dichtung.
Der Pater ecstaticus und der profundus beteten für sich. Der Seraphi-
cus sorgte für die Seligen Knaben. Der Marianus betet erst für sich - Lasse
mich im blauen ...—, dann im Namen aller, die sind wie er - Unbezw'tng-
lich unser Mut ... Uns erwählte Königin . . . Im zweiten Teil seiner
großen Rede, oder soll man sagen seines Gesanges, abgesetzt von dem
ersten Teil durch jenes Stück in Engelsrhythmen, in dem er die Büßerinnen
erblickt und ihr Bild zeichnet, im zweiten Teil also rechtfertigt er die
leicht Verführbaren, um ganz am Ende, da die Madonna mit ihrem
Gefolge entschwebt, Alle mitzunehmen in sein letztes Gebet:
Alle reuig Zarten . . .
Werde jeder beßre Sinn
Dir zum Dienst erbötig . . .
Die Mater gloriosa bestimmt den Epilog lange ehe sie sichtbar wird.
Der Berg der Anachoreten wäre von Anfang an nicht da ohne sie. Ob
Goethe jemals Gott den Herrn im Epilog seine Mysterienspiels wieder
644 Deutsche Literatur [92194]

zu bemühen gedachte, so wie er ihn im Prolog eingeführt hatte, wissen


wir nicht. Den Plan eines Endgerichts über Faust mit Christus als dem
Weltenrichter hat er genau erwogen (Paral. Soph. 195 = Ins. | 179, 183),
und diesem älteren Plan gehörten sogar schon die rosenstreuenden Engel,
sie die jetzt so genau mit den Büßerinnen um die Madonna verbunden
sind (11942 ff.). Heben vielem, was ihn abhalten mochte die Gerichts-
scene auszuführen, die mit Michelangelos Jüngstem Gericht und Raffaels
Disputa eine Verwandtschaft des Bildes und der Gesinnung gehabt hätte:
das Drama wäre zu statisch, zu begrenzt, zu männlich geworden. Die
Mutter war in dem Entwurf jener Gerichtsscene mit den Evangelisten und
Heiligen zugegen als eine Figur unter vielen, wenn auch eine der höchsten.
Sie wurde zur Hauptfigur, emporschwebend, sich abwärts neigend, ent-
schwebend. Die Disputa wandelte sich zu einer Himmelfahrt im Sinne
des Tizian und der Sistina77.
In dem Manne, der sich manchmal einen dezidierten Nichtchristen
genannt hat, und zu andern Zeiten den einzigen vielleicht, wie Christus
ihn haben wollte, - der es in einem Reimspruch den edlen Sachsen zum
Ruhm anrechnet,
Daß sie gehaßt das Christentum,
und in einem andern treulich, unverstohlen sich zu Vater, Sohn und
heiligem Geist bekennt, - in Goethe müssen unermeßliche Erfahrungen
eines langen Lebens zusammengewirkt haben, um den Abschluß des Faust
in der Mater-gloriosa-Scene zu schaffen, und alle diese Erfahrungen in
lebendigster Zwiesprache, die das Nein ebenso einschloß wie das Ja. Erst
wenn man all dies zusammenzusehen versucht, wird man mit Gewinn
einem Hinweis Benedetto Croces auf ein bestimmtes Altargemälde in
Venedig folgen78. Oben im Bilde ruht auf Wolken die Madonna mit dem
Kinde, von Engeln umschwebt. Sie blickt nach rechts hinab, wo auf der
Erde drei reich gekleidete Frauengestalten anbetend knieen. Zur Linken
schwebt, den Knien der Madonna nah, also in einer Ebene zwischen den
drei Frauen und der Madonna, eine weibliche Heilige, an ihrem Salb-
gefäß als die große Sünderin aus dem Lukas-Evangelium (VII 3 6) kennt-
lich. Das Bild wird dem Carlotto Caliari zugeschrieben, einem Sohne
des großen Paolo Veronese, welchen Goethe so hoch bewunderte. Es ist
sehr möglich, daß Goethe es bei seinen Gängen durch Venedig in der
Chiesa del Soc]corso auf dem Hauptaltar sah und, man kann kaum ahnen
mit wie vielen Erinnerungen es verschmelzend, im Gedächtnis behielt.
Die Kirche gehörte zu einem Kloster reuiger Sünderinnen (monastero di
penitenti). Man kann sich den Dichter bei seinem ersten oder lieber noch

77
Vgl. hierzu Hertz, Natur und Geist in Goethes Faust, 63 ff.; K . Burdach, Das religiöse
Problem in Goethes Faust, 46ff.
7» B. Croce, Scritti di Storia lett. e polit. X I I , Goethe II, 1946, 48 ff., dazu die Tafel
zwisdien S. 48 u. 49.
[94¡95] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 645

seinem zweiten Aufenthalt in Venedig denken, wie er vor jenem Altar


stand und etwa von dem Kustoden Belehrung über Gemälde und Kloster
empfing. Die seltene Gruppierung paßt durchaus zu der Himmelsscene
im Faust. Die drei knieenden Büßerinnen hätten sich in Goethes Phantasie
in die drei Marien verwandelt, Magdalena zu den Füßen der Madonna
wäre die eine Büßerin, sonst Gretchen genannt, geworden, und selbst der
noch unpersönliche Chor der Büßerinnen, der zu Anfang die Strophe
Du schwebst zu Höhen
Der ewigen Reiche
singt, hätte seine Entsprechung in den schattenhaften Gestalten, die noch
tiefer als Magdalena im Hintergrund des Altarbildes sichtbar werden.
Wenn man dieses Gemälde nur nicht als „Einzelvorbild" isoliert, sondern
in dem großen Zusammenhang zu sehen versucht, in welchem es für
Goethe, falls er es kannte, gestanden haben müßte, so wird man für Croces
Hinweis höchst dankbar sein79. Goethe hätte das im Bilde Ruhende in
Bewegung gesetzt und auch hier neben der Hauptbewegung - schwebend
nach oben — etwas von einer Kreisbewegung angedeutet - die Herrliche,
mittenin, im Sternenkranze - wie vorher die seligen Knaben in Kreis-
bewegung schweben. Alles Statische in Bewegung zu verwandeln war ja
des Dichters Wille, als er diese letzten Scenen des Mysteriums schuf.
Die Mater gloriosa also schwebt einher samt ihrem Gefolge, wie sie
von dem Doctor Marianus geschaut und mit Entzücken angekündigt
worden war. In einer Stufenfolge sprechen zu ihr der Chor, dann die
drei großen Sünderinnen betend für die Eine Büßerin,
Die sich einmal nur vergessen,
Die nicht ahnte," daß sie fehle . . . |
Man mag mit Croce dem Dichter vorhalten, daß er es zu leicht nehme
mit mildernden Umständen, und mag aufzählen, wie vielfach schuldig
sie sei. Gegenüber den Sentimentalisten mag solche Rechnung sogar eine
leise Berechtigung haben. Aber vor dem Richterstuhl der ewigen Liebe
haben dodi wohl Goethes Büßerinnen recht, die mit mildernden Umstän-
den weniger karg sind. Man mag mit andern Kritikern darüber grübeln,
warum die drei Büßerinnen für die Eine Büßerin bitten, da ihr doch
schon längst vergeben sein muß, wenn sie der Gnadenmutter so nahe
schwebt80. Gewiß ist bei Dante die Systematik des Jenseitsreiches un-
erschütterlich streng, gefestigt von dem Bewußtsein des sie tragenden

79
Und ihm manchen unangebrachten Scherz nachsehen, wie etwa: Che cosa poteva ad
essi die non avevano vissuto, insegnare Faust, in ricambio, nel paradiso? Forse a fare
all' amore etc.
80
Nach Rickert, Goethes Faust 491 ff., sei das Verzeihen angemessen (12068) gemeint
vor allem als ein aktives Verzeihen, das Margarete dem Faust gegenüber auszuüben
habe.
646 Deutsche Literatur [95196]

Jahrhunderts, während Goethe seine Transcendenz gleichsam für sich und


gegen seine Zeit als Dichter und homo religiosus ersann. Aber nun sehe
und höre man doch das andere: wie in dieser von ihm gedichteten
Himmelswelt eine hohe Ordnung des Klanges, des Gefühls, des Gedan-
kens und der Anschauung herrscht.
Zunächst der Rhythmus. Der Chor der Büßerinnen singt seine kurze
Strophe
Du schwebst zu Höhen
Der ewigen Reidie . . .
in der zartesten Variante des Engelsrhythmus, deren der Doctor Marianus
sich genau dort bedient hatte, wo er dieser Büßerinnen ansichtig wurde:
Um sie verschlingen
Sich leichte Wölkdien . . .
Die drei großen Sünderinnen haben jede eine achtzeilige Strophe und
dann eine letzte achtzeilige Zw Drei. Der Rhythmus dieser Strophen ist
ähnlich dem in den Gesangsstrophen Ariels und seiner Elfen in der
Ouvertüre, mit einem starken Unterschied: in der Ouvertüre wechseln
miteinander klingende und stumpfe Reime: Frühlingsregen ... sinkt .. .
Segen ... blinkt. In den Strophen der Marien, wenigstens der ersten
beiden, sind alle Reime klingend: Füßen ... Sohnes ... fließen .. . Hohnes.
Das gibt diesen Strophen ihr Fließen, ja Strömen. Die dritte Sünderin,
Maria Aegyptiaca, freilich weicht von ihren beiden Schwestern ab und
übernimmt das | Reimsystem der Ouvertüre: Orte ... ließ .. . Pforte .. .,
stieß, weil die männlichen Reime

Warnend mich zurücke stieß . . .


Der ich treu in Wüsten blieb . . .
Den im Sand ich niederschrieb . . .
entschlossener und endgültiger klingen als die durchaus weiblichen Reime.
Als sie aber dann Zu Drei sprechen, sind jene durchaus fließenden Reime
wiederhergestellt, und der Strom des Flehens ergießt sich ungebrochen.
Strom des Flehens und Strom des Erinnerns. Aber nun sehe man, wie
das Ganze dieses strömenden Gebets doch einer vorgegebenen Ordnung
folgt. (Es hilft nidhts, wir müssen uns, um klar zu zeigen, was zu zeigen
ist, eines Buchstabenschemas bedienen, das man nachher so bald als mög-
lich vergesse.)
A. Vernimm das Flehen (Aa), Du Ohnegleiche! Du Gnadenreiche! (Ab)

B. Bei der Liebe (Ba), die den Füßen . . . (Bb)


Beim Gefäße (Ba), das so reichlich . . . (Bb)
Bei dem Bronn (Ba), zu dem . . . (Bb)
[96197] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 647

C. Die du großen Sünderinnen Deine Nähe nicht verweigerst...


D. Gönn' auch dieser guten Seele . . . Dein Verzeihen . . .
Das Gebet hat vier Grundelemente: A : Die eigentliche Anrufung, die
gegliedert werden kann in die Bitte (Aa) und den Namen oder das
heilige Beiwort der Angerufenen (Ab). B: Die Beschwörung oder das,
wodurch der Bittende hofft Erfüllung zu erlangen, dieses Bei (Ba), um
des Nachdrucks willen oft unterstützt durch einen Relativsatz (Bb).
C: Der die Bitte begründende Relativsatz, dem Namen der Angerufenen
zugeordnet. D : Die Bitte selbst. — Was bei Goethe ein Strom schien und
auch ist, folgt doch einer Ordnung unabhängig davon, wieviel dem
Dichter davon bewußt gewesen ist.
Das System aber ist die Gebetsüberlieferung vieler Jahrhunderte, kon-
densiert und in vielem gesteigert, aber in den wesentlichen Zügen durch-
aus bewahrt. Man kann auf Homer | zurückgehen (Ilias X 278 ff.): Höre
mich (Aa), Tochter des aegishaltenden Zeus (Ab), die du mir immer in
allen Mühen beiseite stehst . . . (C). So sei mir auch jetzt wieder freund-
lich; gib, daß ich . . . (D). Zu diesem Gebet müßte man die Formel des
Schwures (Ilias I 234 ff.) hinzufügen: Bei diesem Stabe (Ba), der nie
wieder Blätter noch Früchte tragen wird (Bb). Uralte Gebetformel und
uralte Schwurformel sind in dem Gebet der Büßerinnen verschmolzen81.
Aber lassen wir die heidnische Antike und bringen nur wenige Bei-
spiele aus dem Gebetschatz der christlichen Kirche. Im Ordo Missae lautet
das Altargebet des Priesters: Oramus te (Aa), Domine (Ab), per merita
Sanctorum tuorum (Ba), quorum reliquiae hic sunt (Bb), . . . ut indulgere
digneris omnia peccata mea (D). So heißt es in einem Hymnus des Alanus
ab Insulis, einem, der gerade von der Heiligen Maria Magdalena han-
delt82:
Aeterni Patris unice, (Ab)
Nos pio voltu respice, (D)
Qui Magdalenam hodie
Vocas ad thronum gloriae. (C)
Jesu, dulce refugium,
Una spes poenitentium,
Per peccatricis meritum (B)
Peccati solve debitum. (D).
Oder hier ist ein Gebet des Heiligen Ambrosius, das der Priester bei
seiner VorDereitung auf die Messe sagt: Summe Sacerdos et vere Pontifex,
Jesu Christe, (Ab), qui te obtulisti Deo Patri hostiam puram et immacu-
latam et qui dedisti nobis carnem tuam ad manducandum et sanguinem
41
Vgl. hierzu C . Ausfeld, D e Graecorum precationibus, Jahrbücher f. klass. Philol.
Suppl. 28.
82
Dreves-Blume, Ein Jahrtausend lateinischer Hymnendiditung I 287.
648 Deutsche Literatur [97198J

tuum ad bibendum . . . (C), rogc jAa) per hanc miram et ineffabilem


caritatem (Ba), qua nos miseros et indignos sie amare dignatus es ... (Bb).
Doce me servum tuum indignum . . . (D). Auch ohne ein genauer Kenner
des kirchlichen Gebetsritus zu sein, kann man viel mehr dieser Art bei-
bringen.
So völlig hat Goethe sein Gedicht von diesen Gebetsformen durch-
dringen lassen, daß man fast Mühe hat sie wiederzuerkennen. Er hat sie
verteilt, und er hat sie vervielfacht. |
Den Anruf hat er dem Chor der Büßerinnen gegeben, das beschwörende
Bei den drei großen Sünderinnen, und was noch übrig bleibt, nämlich
jenes begründende Relativ und die eigentliche Bitte, ist mit starker Span-
nung für die Strophe aufgespart, die die drei Büßerinnen gemeinsam
sprechen. Vervielfacht ist jenes Bei: es tritt in den beiden ersten Strophen
je dreimal, in der dritten viermal auf und derart, daß die Gestalten und
die Geschichte der drei Frauen völlig anschaulich werden. Bei der Sama-
ritanerin wird zugleich auch der symbolische Sinn, den das Johannes-Evan-
gelium rätselnd dem Brunnen, den Reden des Heilands und damit jener
Begegnung anheftet83, in wunderbare Worte gefaßt:
Bei der reinen, reichen Quelle,
Die nun dorther sich ergießet,
Uberflüssig, ewig helle
Rings durch alle Welten fließet -

Man vergleiche den schönen Anfang des z i. Gesanges in Dantes Pur-


gatorio
La sete natural che mai non sazia,
Se non coll'acqua onde la femminetta
Samaritana dimandö la grazia . . .
Der eingeborne Durst der sich entlade
Im Wasser nur das einst die Samariter
Frau sich von Unserm Herrn erbat als G n a d e . . .
(Übersetzung von George)
damit am Gegensatz noch deutlicher werde, welche andächtige Bewun-
derung für die Reinheit und die Weltweite der Botschaft aus den Goethi-
schen Versen spricht.
Zugleich aber übertragen diese drei Strophen auf den Hörer ihr starkes
Mitgefühl für das Menschliche bis in das Sinnliche hinein, das diesen Ge-
stalten eigen war, ehe sie den jetzigen Zustand im Jenseits erreichten:
Beim Gefäße, das so reichlich
Tropfte Wohlgeruch hernieder,
Bei den Locken, die so weichlich
Trockneten die heil'gen Glieder . . . |
83
V g l . R . Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 1 9 4 1 , 128 ff.
[991100] Rhythmen und Landsdiaft im zweiten Teil des Faust 649

Man kann es Croce nicht allzusehr verdenken, wenn er den vielen Inter-
preten gegenüber, die diese Züge übersehen, gerade dabei verweilt und die
Heiligkeit gleichsam für konventionelle Zugabe erklärt. Aber man soll
eine Einseitigkeit nicht durch eine andere ersetzen. Goethes deutsche Inter-
preten neigen vielleicht dazu, den Dichter mit Dante zu verwechseln.
Croce mißt ihn an Dante und empfindet lebhaft Goethes dichterischen
Zauber, /doch so, daß er seine Theologie nicht ernst nimmt. Man wird
Goethe erst dann gerecht, wenn man beides hört und beidem seinen Wert
läßt, je an seinem Orte: hier den Locken, die so weichlich Trockneten die
heiligen Glieder, dort der reinen reichen Quelle, Die nun dorther sich er-
gießet', wie vorher in den Worten des Doctor Marianus hier dem schmei-
chelhaften Odem und der Gelüste Ketten, dort jenem

Hier ist die Aussicht frei,


Der Geist erhoben.

Erst wenn beides zusammenklingt, ist die Welt vollkommen. N u r feste


Rangordnung ist notwendig; aber man kann nicht zweifelhaft sein, was
hier wem unter- und übergeordnet ist.
Den Gestalten der heiligen Geschichte und des christlichen Mythos,
dieser Gruppe der Büßerinnen, hat Goethe hinzugesellt das Geschöpf
seiner Phantasie, die eine Büßerin. Dies ist sein eigenstes und in aller
Schlichtheit kühnstes Schaffen am Mysterienspiel. Nur dadurch wurde
dieses Mysterium Umrahmung für die Fausttragödie. Nur dadurch wurde
die Fausttragödie zu allerletzt eine Einheit. Der Monolog am Anfang des
vierten Akts ist architektonisch gesehen das wichtigste Verbindungsglied -
man mag finden: ein zu schwaches Verbindungsglied - , ohne das das
Mysterienspiel unvermittelt stünde und Margaretes Gestalt eine ver-
schwindende Episode der Tragödie bliebe.
Der Doctor Marianus hatte die Büßerinnen angekündigt. Dann be-
teten sie zur Gnadenmutter, ihr Gebet gipfelnd in der Bitte für die eine
Büßerin. Jetzt erklingen die Worte dieser Einen: |
Neige, neige,
Du Ohnegleiche,
Du Strahlenreiche,
Dein Antlitz gnädig meinem Glück!
Der früh Geliebte,
Nicht mehr Getrübte,
Er kommt zurück.
Das sind die Rhythmen der himmlischen Chöre - und doch nicht ganz. Die
eine Büßerin nimmt auf, was vorher der Chor der Büßerinnen gesungen
hatte:
Du Ohnegleiche,
Du Gnadenreiche . . .
650 Deutsche Literatur [100j101 ]

nur wird die Gnadenreiche jetzt zur Strahlenreichen, ein Symbol der grö-
ßeren Nähe zum heiligen Licht. Aber in diesem Gebet der Einen und sdion
vorher in dem Gebet des Chores klingen noch andere, ganz früh erklun-
gene Töne:
Ach neige,
Du Schmerzenreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Not! (3587-9).

Der Anklang an Gretchens Gebet im Zwinger ist ebenso ergreifend deut-


lich wie die Abwandlung. Damals steigerte sich der Umfang der Zeilen
von der ersten zur zweiten und zur dritten, und Strophenhaft wieder-
holte sich dieses selbe System dreimal und dann noch ein viertes Mal ganz
am Ende des leidenschaftlichen Monologes. Jetzt wird jenes Ach, neige
durch Neige, neige ersetzt. Sich anschmiegend heißt die scenische Bemer-
kung, und man empfindet, wie sehr viel mehr anschmiegend dieses ver-
doppelte Neige, neige ist als jenes schmerzhaftere Ach, neige. Du Schmer-
zenreidie hieß es damals, da das Gebet sieht an die dolorosa richtete, Du
Strahlenreiche heißt es jetzt in dem himmlischen Gebet an die gloriosa.
Die eine Zeile
Dein Antlitz gnädig meinem Glück

hebt sich aus den übrigen sechs Zeilen dieser Strophe durch den doppelten
Umfang heraus. Auch darin hört man eine Zeile aus dem Zwingergebet
aufklingen:
Dein Antlitz gnädig meiner Not. |

Eine Vorschmelzung also ist in dieser Strophe der einen Büßerin geschehen:
der Engelsrhythmus - oder genauer: eine seiner Variationen - hat das
Zwingergebet verwandelnd in sich aufgenommen. Das Zwingergebet,
wird man fühlen, ist erhört, und Rhythmus und Worte klingen jetzt in
den Engelssphären erneut und verwandelt auf.
Den seligen Knaben waren wir gefolgt bis dorthin, wo sie Fausts Un-
sterbliches empfingen. Dann hatten die Gnadenmutter und die Gruppe
der Büßerinnen die Mitte des Raumes erfüllt. Jetzt sind die seligen Kna-
ben wieder da, in Kreisbewegung sich nähernd (vor 12076), wie wir
gerade diese Knaben immer wieder kreisend und im Kreis gesellt sahen.

Er überwächst uns schon


An mächtigen Gliedern (12070 f.)

beginnt jetzt ihr Gesang, also genau dort fortsetzend, wo sie vorher ge-
endet hatten:
Schon ist er schön und groß
Von heiligem Leben. (11987).

Die Jenseitslinien Margaretens und Fausts sind einander ganz nahe.


[1011102] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 651

Da erklingt etwas rhythmisch völlig Unerwartetes. Die eine Büßerin,


die eben noch in den Engelsrhythmen, in einer anschmiegenden und an
Frühestes erinnernden Variation davon, zur Madonna gefleht hatte, über-
nimmt nun, beinahe am Ende des Ganzen, Rhythmen von einer Macht,
die fast über alles in diesem Bereich hinausgeht:
Vom edlen Geisterchor umgeben
Wird sich der Neue kaum gewahr . . .
Es sind jene steigenden Vierzeiler mit abwechselnd klingendem und männ-
lichem Reim, wie sie vorher in den Strophen des Pater profundus begegnet
waren. Also nicht wie Ariel singt die eine Büßerin oder wie der Seraphi-
cus oder wie der Doctor Marianus oder wie die drei großen Büßerinnen,
sondern in den Rhythmen wie |
Die Sonne tönt, nach alter Weise,
In Brudersphären Wettgesang . . .
und
Werd' ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!...
und
Wie Felsenabgrund mir zu Füßen
Auf tiefem Abgrund lastend r u h t . . .
Zu solcher Größe ist die eine Büßerin emporgestiegen, und jene mächtigen
Rhythmen sind dem Dichter gerade recht, um Fausts lernenden Aufstieg
darin zu fassen.
In einer Einzelheit freilich sind sie verschieden von der Strophe Fausts
oder der Erzengel oder des Profundus. Wo man acht Zeilen den Strophen-
abschluß erwarten würde, macht die eine Büßerin nicht halt, sondern
geht über diese Grenze hinaus mit zwei Zeilen, die als Gebet an die Ma-
donna gerichtet sind:
Vergönne mir, ihn zu belehren,
Noch blendet ihn der neue Tag.
Und diese beiden Zeilen warten auf ihre Gegenreime — seit mehreren
hundert Versen war dergleichen nidht mehr geschehen - und finden sie
in den zwei einzigen Zeilen, die der Gottesmutter in den Mund gelegt
sind:
Komm! hebe dich zu höhern Sphären!
Wenn er dich ahnet, folgt er nach.
Die Ergänzung dessen, was in den Wortklängen der einen Büßerin un-
vollendet bleibt, durch die Gottesmutter ist ein Symbol: daß sich in der
Höhe das Getrennte vereinigt und das Unvollkommene ergänzt.
652 Deutsche Literatur [1021103]

Die Gottesmutter mit ihrem Gefolge ist emporgeschwebt. Zwei Stim-


men werden nachklingend vernehmbar, eine irdische und eine himmlische.
Was als irdische Landschaft zurückbleibt, ist der Einsiedlerberg oder viel-
mehr dessen höchster Gipfel. Denn nur den Raum für den Doctor Mari-
anus braucht der Dichter, und jeder Regisseur würde wohl den Berg bis
auf diesen Gipfel versinken lassen, wie vorher die Waldung heran\ge-
scbwankt war. Dort oben bleibt der Doctor Marianus zurück. Pater hatte
Goethe auch ihn nennen wollen, bis er ihn von den drei andern Eremiten
unterschied als den „Lehrer", auch unsern Lehrer; denn in seinem Gebet
wird jeder beßre Sinn zum Dienst an der ewigen Liebe aufgerufen. Das
Mysterienspiel, um es zu wiederholen, ist durchaus auf unser eignes Wohl
und Wehe gerichtet, und wenn Kant recht hätte, daß dieses der Kunst nicht
ansteht, so überschritte hier Goethes Gedicht die Grenze des Kunstwerks
oder hätte es schon getan.
Der Chorus mysticus ist, der höchsten irdischen Stimme gegenüber, die
Stimme von oben, er ist Chorus in excelsis. In einer schwebenden, ver-
sdiwebenden Form der Engelsrhythmen erklingt er, und er erklingt ganz
rein. Denn der letzte Reim der Faustdichtung, versteht sich, ist

getan — hinan.

Mit langem Vokal reimte Goethe, der Mainfranke, fast immer sein an,
heran, daran, voran, hinan, obenan, himmelan (ebenso wie sein ab, herab,
sein davon und sein hin, wohin, dahin:
Dahin! Dahin
Möcht' ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!)
Während Mephistopheles mit einer scharfen Reimdissonanz aus der Dich-
tung scheidet (i 1842 f )
beschäftigt - bemächtigt,
muß der letzte Reim des Ganzen rein sein.
So erklingend vereinigt dieser Chorus deutend die Fausttragödie mit
dem Faustmysterium und versucht unserm eigenen Sinnen und Tun die
Richtung zu geben. Denn auf das Goethische Werk sind die Worte genau
anwendbar, mit denen Dante in dem Brief an Can Grande das Endziel
der Commedia bestimmt: „ . . . es ist das Endziel des Ganzen wie des
Teiles, die Lebenden in diesem Leben von dem Stande des Elends zu ent-
fernen und sie hinzuführen zu dem Stande des Glückes" (finis totius et
partis est, removere viventes in hac vita de statu miseriae et perducere ad
statum felicitatis).
VII

Polyhistorie
Athanasius Kircher und Leibniz

Ein Beitrag zur Geschichte der Polyhistorie im X V I I . Jahrhundert

1937

Leibniz an Athanasius Kircher


16. Mai 1670. Eigenhändiger Brief.
Rom, Pontificia Università Gregoriana.
In den Rendiconti della Pontif. Accad. Rom d'Ardieol., Vol. X I I I , zum ersten Mal von
mir veröffentlicht.

VIR MAGNE

Qvidni enim ego TIBi privatim publicum elogium tribuam? Sed non
est nunc tempus in laudes tuas nunqvam intermorituras digrediendi: ad
causam potius scriptionis meae veniam. Cum neminem hactenus morta-
lium altius TE videam in arcana a r t i s c o m b i n a t o r i a e , vel qvod
idem est partis L o g i c a e i n v e n t o r i a e penetrasse, qvae sola TIBÌ
tot aeterna inventa, tot incomparabilia monumenta peperit: ego vero
pene à prima pueritia usque subitaneas nonnunquam de hoc negotio medi-
tationes agitaverim, non potui qvin tui compellandi mihi audaciam face-
rem, qvam et auxit Exell m u s atqve Ill m u s BOINEBURGius, notum TIBi,
notum omnibus eruditis nomen, qvi mihi tuam inter tantas curas incredi-
bilem humanitatem non potuit satis praedicare. Nimirum Anni sunt qvasi
qvatuor qvod edita est à me X I . circiter plagularum dissertatio de Arte
combinatoria, in qva dedi operam, ut aliqua si non bona saltem nova
afferrem. Inter alia multa de novis modis syllogisticis utilibus pariter atqve
inutilibus disserui, ostendi utiles in universum modos nulla figurarum ra-
tione habita esse 88. Cujuslibet figurae modos esse 6. primae secundae &
qvartae non minus qvàm tertiae: Computare variabilitatem dati versus
Protei: Hexametrorum species esse 76, si solam scansionis varietatem
consideres; rationem idem in aliis vel carminibus vel melodiis indagandi.
Qva ratione perfectissimà et realissima Scriptura Universalis excogitari
possit: Constructis p r a e d i c a m e n t i s a r t i s c o m b i n a t o r i a e
dato qvolibet praedicato omnia eius subjecta et dato qvolibet subjecto
omnia eius praedicata in materia necessaria invenire. In qvo consistant
vera artis combinatoriae praedicamenta; specimen exiguum extempora-
neum praedicamentorum artis combinatoriae in Geometria; ICtum Pau-
[Rendiconti della Pontificia Accademia Romana de Archeologia X I I I , 1937.]
656 Polyhistorie [229/231]

lum I in tit. Digest, de Grad, et Affin, errasse nonnunqvam in supputando


numero personarum dati gradus consanguinitatis, v. g. in gradu V. pro 192.
posuisse 184. et qva ratione brevi ter sine molesta enumeratione ab ICto
ibi adhibitä facillimeqve iniri computatio qveat. Qvaeqve alia sunt id
genus plura minutiora. In qvorum nonnullis et errasse me nunc agnosco,
sed qve nihil ad rerum summam pertineant; & qvid mirum cum vicesi-
mum tunc annum egerit Scriptor lapsus obrepsisse. Fortasse fuit tam
felix dissertatiuncula, ut in manus tuas devenerit; qvare non est cur
de ea nunc quidem fusius loquar. Ego interea Iurisprudentiae,
cuius me studio dedi potissimum, incubui, advertiqve in ea magnum
artis combinatoriae usum esse supra quàm vulgo credatur. Deprehendi
enim innumera eius praecepta per Corpus Iuris sparsa reduci posse in
Elementa qvaedam pauca & regulas infallibiles, qvas qvi teneat sola
earum combinatione decidere omnes casus possit: et nunc Moguntiae,
postqvam Eminentissimum favere his conatibus video, cum Amplissimo
Lassero Consiliario Moguntino Cancellarii qvondam filio rem ad praxin
deducere aggressus sum. Incidi autem anno abhinc felicissime in expecta-
tum tamdiu opus tuum de Arte magna sciendi seu Combinatoria; hausi,
legi, vol vi, avidissimè, nec nisi absolutum deposui, qvid qvaeris? totum
me et admiratione & amore Tui impleveras, nec poteram indignari
multas praxis reconditiores Tibi servatas; cur enim hominum ingrati-
tudini omnia prostitueres. Cumqve mentionem etiam T E facere vidissem
Cistularum Combinatoriarum qvibus pene omnia omnium scientiarum
fundamenta, Mathesin, Medicinam, Jurisprudentiam, Theologiam, & qvid
non, complexum te memorabas, incredibili haec videndi cupiditate exarsi,
qvàm saepe usuram colloqvii tui vel una hora duraturi mihi optavi, sed
frustra. Qvid agerem? restabat hoc unum, ut T E per literas compellarem,
qvod & nunc facio, audeoqve à T E vehementer contendere, homo ignotus
licet, ut mihi grandia qvidem sed tarnen publice profutura sine vanitate
conanti consilium opemqve ne deneges. Si qvid in jurisprudentia, si qvid
alibi, monere, docere, communicare etiam dignaberis habebis perpetuum
benefìcii si infacundum certè calidum praeconem; si qvid etiam perscribi
de rebus nostris literariis per Germaniam praesertim iubeas, promtis-
simum corresponsorem. Nec est qvod T E scribendo respondendoqve
oneres, satis erit si qvem virum doctum, promtum, curiosum apud vos
substituas, qvicum qvasi TEcum per literas conferre, qvi mihi sensa tua
nunciare possit, qvi mea ad T E referat. Haec nisi displicent, fac
significari, ego nihil diligentiae reliqvum faciam. Finirem, nisi unum hoc
incideret dignum interrogatu.
In Arte Tua magnetica, divino opere lib. 3. parte 5. cap. 4. problem. 1.
memoras T E anno 1633. Massiliae apud Mercatorem Arabern reperisse
materiam qvandam admirabilem, qvae etiam tecta se ad solem vertat, |
qvale Heliotropium hactenus nullum cognitum est, TEqve partem etiam
aliqvam accepisse experimentumqve aliqvoties sumsisse, sed materiam
[231] Athanasius Kircher und Leibniz 657

fuisse corruptioni obnoxiam, teqve eius correctionem non desperasse. Hàc


de re si fas est qvaero qvod materiae n o m e n, mineralisne an alterius
regni, et ex qua potissimum Arabiae parte Mercator aut materia oriundus
oriundave fuerit; item an conservandarum eius virium rationem repereris.
Imo subit adhuc aliqvid animum, crescente paulatim audacia, qvasi non
initio satis magna esset. Nimirum in arte tua Magnetica editionis Romanae
secundae lib. 2. part. j . sect. prop. I. legi inventum R . P. Grandamici
t e r r e l l a m superalterutrumpolorumperpendiculariteradhorizontem
constituendi, qvo facto terrella librata praecisè sine omni declinatione et
variatione meridianum loci meridiano suo monstratura sit. Sed qvoniam
verba sunt obscuriuscula, qvaerere ausus sum, an experimentum sumtum,
ac tunc deprehensum sit, aliqvoties, in diversis locis, omnem praecisè
declinationem & variationem cessare. Sed qvo progredior inconsultae
prolixitatis non tantum, sed et in interrogando licentiae? Qvam si condo-
naveris, si dignum me praeceptis monitisque Tuis sapientissimis, dignum
favore, auxilio, Consilio habueris, non parum accessisse fortunae meae cre-
dam: Ego hoc contra unum repromittere ausim, sensurum TE, beneficium
neqve in ingratum, neqve in prorsus indignum collatum esse. Qvod super-
est, vir immortalitate digne, TIBi qvanta in hominem cadere potest, pro
fausto nominis ornine in viridi crudaqve, ut Virgilius vocat, senectute,
àftavaciav precor. Vale faveqve Vir Maxime Vestrae pl.Reverendae Pater-
nitatis
Admiratori
Gottfredo Gvilielmo Leibnitio
J . U. doctori.
Moguntiae 16 Maji 1670.

P. S. nondum desino ineptire: didici virum qvendam illustrem maxi-


mis peregrinationibus 8c sumtibus omnium prope orbis Linguarum radices
collegisse easqve in unam Harmoniam ac velut Lingvam Universalem
contulisse, de qvo qvid TIBi videatur opto scire, qvi incredibili mentis
capacitate haec omnia complexus es. Qvare et digna duxi qvae TIBi signi-
ficar entur.

V I R O incomparibili
Adm. R . P. Athanasio Kirchero
Societatis Iesu Sacerd.
Romam. |
658 Polyhistorie [232j233]

Athanasius Kircher an Leibniz


23. Juni 1670. Eigenhändiger Brief. Hannover.
Veröffentlicht: II, 1, Nr. 23 A k .

Praenobilis et clarme Vir


Insigni animi mei voluptate legi, quas dederas, omni humanitatis
genere confertas literas. Unde tanto mihi acciderunt gratiores, quanto ex
abdita quadam et magnetica ingenij mihi simillimi oviicpuoet mihi magis
arridebant. Gaudeo itaque tibique intimè congratulor de insolita ingenij
tui fcecunditate, qua: eam tibi uel in primo iuuentutis flore, artium scien-
tiarumque saturam peperit; qua: uel in isthac setate modum excedere
uideatur. Opusculum tuum de l e g i b u s a r t l s c o m b i n a t o r i a : ,
iam dudum luci datum necdum uidi, nihil tarnen mihi antiquius foret, si
eo quandoque frui liceret. Quod uerò mea hucusque opera luci commissa
nonnihil apud innatam tibi benignitatem, esse patiaris, id nequaquam
proprijs meis uiribus, sed superno luminum Patri, cuius gratia uiuo et
morior, adscribas uelim; qua: si viro literato defuerit, cseteros omnes
humani ingenij conatus et labores puram putam uanitatem esse tibi
persuadeas. Rhabdologia: pantosopha: quod desiderabas secretum, quo ex
tabellarum varie combinatarum, translatione, idiota: quoque ad qua;übet
qusesita respondere possint, necdum luci dare licuit; tum ob ingentes
labores, in tabellis inscribendis tolerandos, tum ob continuam negotiorum
heteroclitorum farraginem; librosque prado parandos, quibus ita distineor,
ut uix respirandi mihi tempus supersit; satagam tarnen ut unus ex
discipulis meis, memorata arcana suo tempore in lucem deducat. Porro
qua: de heliotropica materia in Arte magnetica proposita scire desiderabas;
nihil aliud scias fuisse, quam doronici herbs quam Pardalianchen Botanici
uocant Florem; qua et etiamnum felici sane successu ad horasmonstrandas
non sine intuentium admiratione utor; hoc tarnen habet uitij ut corrupto
flore, ueluti indignabunda ä pericyclosi se subtrahat. Utrum uero sub
uestro climate frigidiori eundem effectum pra:stitura sit, uos uideritis. De
terrella magnetica uel etiam acu longiori, quam exactissime librata, sese
ad polorum eleuationes depressionesque accommodante, quod attinet; non
duntaxat uerum est, sed etiam a N N Patribus, in Indiam orientalem ultra
citraque comeantibus, ita magno Nautarum commodo comprobatum fuit,
ut de eo nullum amplius dubium supersit. Quod tandem mihi uideatur de
noua omnium linguarum radice, ex qua vniuersalis lingua constitui possit,
aperte tibi dicam. Ego sane plurimum et circa hoc argumentum iussu
Ferd. III. Ca:saris si ullus alius me laborasse fateor; sed frustra; idem
feci, quod illi, qui aquam cribro haurire stolidius conantur. Unde ne
tempus inutili labore consumerem; institutum sub döwaciag chao ueluti
desperatum reliqui. Affama: sunt ] istx insolentium Thrasonum. Verum
cum huiusmodi thema in nouo opere, quod Turris Babel inscribitur,
sequenti forsan anno prado subdendo (Vtrum nimirum lingua vniuersalis
[233j234] Athanasius Kircher und Leibniz 659

ex radicibus primariarum linguarum deduci possit) quam exactissime


excolam; eo Te suo tempore remitto. Cum itaque Caesarea: curiositati
satisfacere nequirem, occasione eius aliam methodum detexi quam Poly-
graphiam vniuersalem inscribo; qua modum demonstro, quo quilibet etiam
non nisi uernacula lingua instructus cum totius orbis Nationibus et
populis, reciproco literarum commercio correspondere queat; Qua: cum
jiagaöola uiderentur; primus omnium Alex. V I I . Pont. Max. me presente,
cum desiderato successu, periculum fecit; quod et Caesarem fecisse, se
ipse, Uteris ad me datis significauit. Non dubito quin iam librum uideris
et legeris; post primam enim editionem, Lugduni Gallorum statim recusus
fuit et à Iansonio i o linguarum additamento suo tempore, Deo dante, sub
magno tomo luci dabitur. Ex quo, quanta sub Arte Combinatoria arcana
lateant, cognosces. Mitto tibi hisce catalogum librorum meorum, ut quid
hucusque a me in Reip. lit'" bonum operum prodierit, aut proditurum
sit, comperias. Vale doctissime uir, amicitae mese decus, et gloria, et uti
ccepisti, me amare ne cesses.
Praenob. et clar mae D nis Tuae
Roma: 23 Iunij 1670.
Seruus prompt, et studiosmus
Athanasius Kircherus.

Kommentar

Jean Baruzi hat in seinem Buche „Leibniz et l'organisation religieuse


de la terre" (1907) den Beziehungen des Philosophen zu dem Jesuiten-
orden ein volles Kapitel eingeräumt, das mit dem vorhergehenden über
Ägypten und dem folgenden über Peter den Großen eine dreigliedrige
Einheit bildet: Sie machen die drei Wege sichtbar, auf denen Leibniz die
Einigung der Welt unter dem Zeichen des Christentums erstrebt hat.
Baruzi hat auch den Beginn jener Beziehungen aufzuspüren versucht.
Davon läßt sich einiges, was er nur als Vermutung gab, jetzt sichern,
manches läßt sich ergänzen und genauer fassen, da wir hier den ersten
(oder wenigstens den ältesten erhaltenen) Brief vorlegen können, den
Leib]niz an ein bedeutendes Mitglied der Gesellschaft geschrieben hat:
den Brief des 24jährigen Leibniz an den 68jährigen Athanasius Kircher,
datiert Mainz den 16. Mai 1670.
Bekannt war bisher die Antwort Kirchers vom 23. Juni, aus der her-
vorging, daß Leibniz diesen Briefwechsel eröffnet hatte. Ein ähnliches
Eröffnungsschreiben hat er ungefähr gleichzeitig an den Jesuiten Kochan-
ski in Prag gerichtet. Es ist verschollen und erhalten nur Kochanskis
Antwort vom 7. Juni (II, 1 , N r . 22 Ak.). Der Brief an Kircher aber
liegt in der ^bändigen Briefsammlung, die aus dessen Nachlaß in die
Bibliothek der Pontificia Università Gregoriana in Rom gekommen ist.
660 Polyhistorie [234¡235]

Die Briefsammlung Kirchers ist bisher undurchforscht, ja so gut wie


unbekannt geblieben. Auch ich habe sie nur eben Brief um Brief ange-
sehen und mir einige zufällige Auszüge gemacht. Vielleicht werde ich
Gelegenheit haben, das Ganze künftig genauer durchzuarbeiten. In unsern
Zusammenhang gehört ohnehin nur ein ganz allgemeiner Umriß 1 .
Die meisten dieser Briefe sind begreiflicherweise an Kircher gerichtet,
weniger zahlreich sind seine eigenen Briefentwürfe. Audi mandies was
nicht Brief ist liegt in den Mappen: Nachzeichnungen ägyptischer Denk-
mäler, Kopien griechischer, lateinischer, semitischer Inschriften und der-
gleichen. Die Zeit, die hier umfaßt wird, ist rund das halbe Jahrhundert
zwischen 1630 und 1680, der Raum die ganze damals bekannte Erde bis
China und Südamerika. Die großen geschichtlichen Ereignisse klingen
herein: der 30jährige Krieg, das 4tägige Seegefecht zwischen Engländern
und Franzosen von 1666, Fehrbellin, die Bedrohung Wiens durch die
Türken, der Übertritt der Königin Christine von Schweden. Die Brief-
schreiber entstammen allen Höhenstufen des staatlichen, kirdilichen,
wissenschaftlichen Lebens: Papst Alexander VII., Kaiser Leopold, die
deutschen Fürsten, kaiserliche und fürstliche Räte, Kardinäle, große Her-
ren, Patres der Gesellschaft Jesu, Buchhändler, vor allem Gelehrte jeder
Wissenschaft und jeden Ranges. |
So mannigfach wie die Schreibenden sind die Gegenstände: von der
getrockneten Tarantel bis zur pindarischen Ode des Vondel und zur A u f -
bereitung böhmischen Eisenstahls, von antiken Denkmälern bis zu astro-

Abkürzungen
A k . = Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe herausgegeben von
der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Darmstadt, 1923 ff.
Foucher de Careil = Œuvres de Leibniz. Paris, 1859 ff.
Klopp, = Die Werke von Leibniz. Hannover, 1864 ff.
Gerhardt = Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. Berlin,
1875 ff-
Baruzi, = Leibniz et l'organisation religieuse de la terre. Paris, 1907.
Couturat Logique = La logique de Leibniz. Paris, 1901.
Couturat Opuscules = Opuscules et fragments. Paris, 1903.

1 Dem Bibliothekar der Pontificia Università Gregoriana, Herrn P. Frodi, danke idi
auch an dieser Stelle für seine Hilfsbereitschaft. [Korrectur-Note : Die im Text ausge-
sprochene Hoffnung kann sich so nicht verwirklichen. Die Aufgabe aber bleibt gestellt,
auch wenn ein anderer sie durchführt. Von den Teilaufgaben, deren ich manche an-
geben könnte, soll hier nur eine stehen, weil sie in unseren Problemzusammenhang
gehört. Die römische Briefsammlung enthält eine ganze Reihe ausführlicher Briefe von
Fabri de Peiresc an Kircher. 7 unveröffentlichte Briefe Kirchers an Peiresc verzeichnet
SOMMERVOGEL, Bibliogr. de la Comp, de Jésus, IV, 107$: Paris, Bibl. N a t . Fonds
Français N r . 9538, fol. 227-240, dazu einen in der Correspondence de l'Abbé
Nicaise t. IV, ebenda N r . 9362. Diese Briefe werden ineinander greifen. H a t man sie
beisammen, so wird man über das Verhältnis der beiden Männer Wichtiges erfahren
und wird in der Geschichte der Polyhistorie einen Linienzug durch 3 Generationen
führen können: Peiresc - Kircher - Leibniz].
[235j236] Athanasius Kircher und Leibniz 661

nomischen Beobachtungen, von den Berichten jesuitischer Missionare oder


koptischen, armenischen, indischen Handschriften bis zu Bücherpreisen,
die Elzevier mitteilt, Livius-Kollationen, die Gronov erbittet. Oder man
möchte erfahren, was Kircher von der Wünschelrute halte, oder jemand
verspricht ihm ein Krokodil, das er sich wünscht, oder Königin Christine
läßt ihn wissen, daß sie von ihm die Widmung eines Buches erwarte,
- um nur einiges herauszugreifen. Und dann also immer wieder seine
gedruckten und noch ungedruckten Werke. Man sieht ihn, wenn man
das alles zusammennimmt, lebendig vor sich: den Amtmannssohn aus dem
Fuldaischen, der auf dem Wege über Würzburg und Avignon schließlich
in Rom zu einem Barockgelehrten von europäischem Range aufgestiegen
ist. Als Beitrag zur Kultur- und Gelehrtengeschichte des XVIIten Jahr-
hunderts, nicht zuletzt der deutschen, sind diese Briefbände unschätzbar.
Uns geht hier nur der Leibniz-Brief an, der einzige in dieser Sammlung:
Band V Nr. 166 - ein Blatt, eng und ohne Rand auf beiden Seiten be-
schrieben in des Philosophen eigener, wohlbekannter Hand.

Die Formalien. - Vir magne steht am Anfang, vir maxime am Schluß,


vorher noch vir immortalitate digne (in einem auch sonst beliebten Spiel
mit dem Namen Athanasius), sogar in der Aufschrift Viro incomparabili.
Vir amplissime, Nobilissime et clarissime vir, Illustrissime (oder Nobi-
lissime) et amplissime domine (oder auch noch experientissime als drittes
Preiswort) und dazu etwa noch ein dankendes oder werbendes Fautor
magne, Fautor eximie - das sind die üblichen Anreden; Nobilissimo et
amplissimo viro und ähnlich heißt es in der Aufschrift oder allenfalls ein-
mal Nobilmo et amplmo et cum consultatissimae experientiae tum summae
celebritatis viro: alles abgewandelte, auch gehäufte Curialien. Der Brief
an Kircher aber setzt an deren Stelle die Ausdrücke einer ganz persönlichen
und ungeheuchelten Bewunderung. Auch sprach Leibniz nicht etwa nur in
der Anrede an Kircher so: immortalis Kircherus hatte schon der 20jährige
drucken lassen (De arte combinatoria, 1666, §6z = V I , 1, 194 Ak.) im
Hinblick auf die „lang verheißene" Ars magna sciendi und auf das was
Kircher bereits geleistet hat. Als vir vastissimo ingenio, begabt mit einer
fatalis in illustrandis scientiis felicitas, so erscheint er ihm damals. Von
ihm hofft er die Vollendung dessen, was er selbst in seiner jugendlichen
Vorarbeit begonnen hat (quae nos praeconcepimus).
Inzwischen ist die Ars magna erschienen, 1669, und im nächsten Jahr
verfaßt Leibniz den Brief, der uns vorliegt. |

Der Anlaß. - Leibniz ergeht sich nicht lang und breit in preisenden
Worten. Man ist aus jener Zeit, und auch von den Korrespondenten
Kirchers, ganz andere Instrumentation gewöhnt. In den Bänden des Kir-
662 Polyhistorie [236j237]

cherschen Briefwechsels fällt schon dem Auge dieser Brief durch seine
echt Leibnizische Gedrängtheit und das Fehlen aller Höflichkeitsränder
auf. Er ist bis an den Blattrand mit Inhalt gefüllt, und schon im zweiten
Satz ruft der Schreibende sich selbst zur Sache. Die Sache aber heißt:
ars combinatoria. Sie ist das gemeinsame Anliegen Leibnizens und des
großen Mannes, an den er herantritt. Indessen daß er dies wagte, dazu
bedurfte es zu dem sachlichen noch eines menschlichen Anstoßes: Exzel-
lenz Boineburg hat ihm Mut gemacht und ihm Kirchers unglaubliche
Leutseligkeit gerühmt. Daß der Freiherr von Boineburg, der ehemalige
Minister des Kurfürsten-Erzbischofs von Mainz und Beschützer des
jungen Leibniz, es gewesen sei, der diesem die Richtung auf die Gesell-
schaft Jesu gegeben habe, war schon immer eine wohlbegründete Ver-
mutung2. Unser Brief bringt den urkundlichen Beweis. Wir dürfen an-
nehmen, daß Leibniz sich auch in dem verlorenen Eröffnungsbrief an
Kochanski auf Boineburg berufen haben wird.

Die Gegenstände. - Leibniz hat in diesen Jahren und auch später


immer wieder, wenn er briefliche Bekanntschaften anknüpfte, mit einer
Darlegung seiner Ars combinatoria oder Logica inventoria begonnen.
(So bemerkt Couturat). Sie war die Grundlage seines theoretischen Den-
kens und ist es in mannigfachen Abwandlungen immer geblieben. Diesmal
aber hatte er noch einen ganz besonderen Anlaß: er wandte sich an den
Mann, der mehr als irgend einer in die Geheimnisse dieser Wissenschaft
eingedrungen sei. Er berichtet ihm von seiner Erstlingsschrift und zählt
aus ihr ohne sichtbare Ordnung allerlei Anwendungen seiner Methode in
den verschiedensten Gebieten auf. Allerdings, fügt er hinzu und konnte
seine Unermüdlichkeit in kein besseres Licht setzen, sei er schon an man-
chen Punkten über das damals Veröffentlichte hinaus. Immerhin hofft
er, seine Schrift sei vielleicht so glücklich gewesen in Kirchers Hände zu
kommen - eine Erwartung, die, wie die Antwort zeigt, nicht zutraf.
Er geht dann auf seine gegenwärtige juristische Wirksamkeit ein, auf
die Versuche, die er gemeinsam mit dem kurmainzischen Hofrat Herrn.
Andr. Lasser unternommen hat, das römische Recht auf wenige Elemente
und unfehlbare Regeln zurückzuführen und mit Hilfe der Kombinatorik
alle denkbaren Rechtsfälle zu entscheiden. Ähnliches mit ganz ähnlichen
Worten begegnet öfter in den Briefen dieser Zeit, so an Thomas Hobbes
(II, i, Nr. 25 Ak.), so - ausführlicher - an den Helmstedter Juristen
Hermann Conring (II, x, Nr. 15 Ak.). Diesmal verweilt er nicht lange |
dabei. Nur daß Eminenz den Plänen geneigt sei, deutet er mit wohl
erwogener Absicht an.
Dann aber biegt er zu Kirchers Ars magna hinüber, die im vorigen
Jahr erschienen war, spricht seine Begeisterung und Bewunderung aus
2
B a r u z i , 46. Ritter in der Einleitung zur Akademie-Ausgabe I, 1 , S. X L .
[237j238] Athanasius Kirdier und Leibniz 663

und sagt mit vorsichtigen Worten, wie gern er die von Kircher erwähnte
Cistula combinatoria zu Gesicht bekommen möchte. Man versteht diesen
Wunsch erst, wenn man bedenkt, welche Wichtigkeit das X V I I t e Jahr-
hundert den - man könnte sagen — Geistesmaschinen zuschrieb. Schon der
junge Pascal hatte (1643) eine arithmetische Maschine ausgedacht und
ausführen lassen, mit der man „ohne jede Geistesarbeit Aufgaben aus
allen Gebieten der Arithmetik lösen konnte 3 ." Leibniz selbst hat,
spätestens 1671, seine lebendige Rechenbank konstruiert und dazu ein
ander Instrument, so ich eine lebendige Geometriam nenne (II, 1 , 1 6 0 Ak.);
einige Jahre später dann eine Chiffriermaschine (I, 2, 125 Ak.) und eine
algebraische Maschine, die Gleichungen lösen konnte4. Schon in seiner Ars
combinatoria (VI. 1, 203 Ak.) erwähnt er Georg Philipp Harsdörffers,
des bekannten Nürnbergers, fünffachen Denkring der deutseben Sprache,
mit dessen Hilfe man 97 209 600 deutsche Wörter bilden könne („nütz-
liche und unnütze"). Darauf gründete Albert von Holten die Konstruk-
tion einer cylindrischen Grammatik (II, 1, 207 Ak.), und Leibniz selbst
hat nach diesem Vorbild den Plan einer logischen Maschine gefaßt (II,
1, Nr. 96 Ak.). Kircher ging mit ähnlichen Gedanken von jeher um.
Er hatte in seiner Musurgia (1650) den Bau einer cista musarithmica
angegeben, die auch dem ganz Unmusikalischen die Fähigkeit verschaffen
sollte, vierstimmige Sätze zu komponieren. Den Entwurf dieses Appa-
rats findet man abgebildet auf der Kupfertafel X I V , die, wie wir sehen
werden, grade auch Leibnizens Aufmerksamkeit erregt hat. Die Wolffen-
büttler Bibliothek bewahrt ein in Holz ausgeführtes Exemplar, das
Leibniz in der Hand gehabt haben mag, als er (1690) ihr Bibliothekar
geworden war. Gewiß werden noch andere solche Kästchen hier oder
dort erhalten sein, wie ich denn in dem genannten Briefwechsel Kir-
chers die Cista öfter erwähnt finde. Valde Imperator expectat cistam
musurgicam, schreibt der Kaiserliche Rat Johannes Gans an Kircher
(vol. V I I fol. 133, Viennae 6. Febr. 1649). Und in einem anderen Brief
- dessen Absender ich mir nicht vermerkt habe - (vol. V I I fol. 220)
heißt es: Gaudeo praeterea, ut RVa similem cistulam pro compositione
Musica illi (das ist der Große Kurfürst) mittat per me, qualem misit
Serensmo duci Holsatiae; ego efficiam ut munus Electore dignum mittatur. \
Offenbar gehörte es damals an den Fürstenhöfen zum guten Ton, mit
einem Kircherschen Kompositionskästchen zu hantieren.
Das war 20 Jahre vorher. Und nun hat Kircher sich daran gemacht,
die allgemeine Denkmaschine zu entwerfen. Wieder also sieht der junge
Leibniz das, was er selbst erstrebt, bei Kircher vorgebildet, wer weiß,
vielleicht schon vollendet. Aber dieses Anliegen, wie wichtig auch für
den Briefschreiber, ist doch nur eine Einzelheit und bahnt ihm den Über-
3
Widmungsbrief an den Kanzler Pierre Seguier in: Pascal, Pensees et Opuscules par
L. Brunschvicg, 45.
4
Vgl. Couturat, Logique, i i j .
664 Polyhistorie [238¡239]

gang zu einem größeren Wunsch. Sein Brief soll ein erster Schritt sein:
er will den großen Mann, der selbst mit aller Welt brieflichen Austausch
hat, in das Netz seiner Korrespondenz verflechten. Er erbietet sich, die
Mitteilungen, die der andre ihm machen wolle, weiter zu verbreiten und
ihn wiederum mit Nachrichten aus der Gelehrtenrepublik, zumal aus
Deutschland, zu versorgen.
Damit hat er die eigentliche Absicht ausgesprochen, die er am Schluß
des Briefes als Bitte um die Weisungen und Mahnungen des weisen Mannes
noch einmal nachdrücklich wiederholen wird. Aber er ist zu weltklug,
um sich mit diesem Allgemeinen zu begnügen. Er fügt Fragen hinzu, die
den Alten zur Mitteilung verlocken sollen und ihm gleichzeitig zeigen
werden, wie eifrig der Jüngere ihn studiert hat. Es sind zwei Fragen aus
der Ars magnetica. Leibniz wünscht genauere Auskunft erstens über
einen heliotropen Stoff, den Kircher in Marseille von einem Araber erwor-
ben hat, und zweitens über eine Kompaßkonstruktion des Jesuiten Jacques
Grandami, — das erste eine entlegene Einzelheit (aber giebt es Verein-
zeltes?), das zweite eine Frage, über die Leibniz in den Briefen dieser Zeit
auch mit Kochanski in Prag, mit Fabri und Lana in Italien, mit Olden-
burg in London, mit Berthet in Paris, mit Hevelius in Danzig verhandelt,
wie ihn denn das Problem des Kompasses noch später immer wieder
beschäftigt hat5. Als er sich einmal die Hierarchie der Seelen vergegen-
wärtigt und eine höhere Erkenntnis über der menschlichen zu denken
sucht, malt er sich aus: ein Engel komme und erkläre ihm die wahre
Ursache der magnetischen Deklination und ihrer Perioden (Gerhardt
V I I , 26,).
Wichtiger noch ist wohl das Postscriptum. Er berichtet dort über
den Plan eines weitgereisten Mannes, der die Wurzeln aller Sprachen
gesammelt und sie zu einer Harmonie und gleichsam einer Universal-
sprache vereinigt habe, und fragt Kircher, was er von diesem Plane halte.
Wir können den Mann benennen: es ist Benght Skytte, jener schwedische
Emigrant, der - beiläufig - schon im Jahre 1667 den Großen Kurfürsten
für den Gedanken einer allumfassenden wissenschaftlichen Anstalt in |
Berlin „Heliosophopolis" gewonnen hat. 1669 ist Leibniz ihm in Frank-
furt am Main begegnet. Mea (juvenis) memoria, schreibt er 1 7 1 2 aus der
Erinnerung nieder, Benedictas Skytte, Senator regni Sueciae, magno studio
in barmoniam lingvarum incumbebat... Ei Francofurti ad Moenum
locutus sum, et consilia intellexi, cum alia, tum illud de eruenda ex lingvis
praesentibus per orbem sparsis lingva primaeva. Ajebat se non paucarum
lingvarum vocabula radicalia collegisse, atqve inde ad fontem communem
assurgere conari. Plurimum Islandicae tribuebat extremae veteris Teuto-
nismi dialecto; non ignorabat consensum Finnonicae et Hungaricae, Tur-

s Vgl. im Personenverzeichnis zu Band II, 1 A k . unter Grandami, auch Couturat,


Logique, 527.
[239/240] Athanasius Kirdier und Leibniz 665

cicam etiam veterem seu Tartaricam commendabat, et, si bene memini,


Constantinopolin usqve excurrerat6. Die auffällige Ubereinstimmung
zwischen der späten Niederschrift und dem 42 Jahre älteren Briefe lehrt,
wie fest geprägt Leibniz den Jugendeindruck in seiner Erinnerung be-
wahrte. Sein Brief selbst aber läßt merken, mit welcher Erwartung er
damals auf diesen Plan blickt, und was er auch hier Kircher glaubt zu-
trauen zu dürfen.
Kirchers Antwort auf diesen Brief ist längst bekannt: II, 1, Nr. 23 Ak.
vom 23. Juni 1670. Der überschwänglichen Hymnik des Verehrers ent-
spricht der Ton, in dem der Meister antwortet. Er beglückwünscht den
Jünger wegen der ungewöhnlichen Fruchtbarkeit seines Ingeniums. Er
hat in der Tat und mit vollem Recht den verwandten Zug, die „geheime
magnetische Annäherung eines mir höchst ähnlichen Geistes" gespürt, die
wir nachher versuchen werden genauer zu umschreiben. Vergessen wir für
jetzt bei diesen Worten nicht, daß Kircher in seiner Ars magnetica die ma-
gnetische Kraft, wie das seine Art war, durch alle Bereiche verfolgt hatte.
Leibnizens Schrift über die Kombinatorik hat er leider noch nicht
gesehen. Es würde ihm überaus wichtig sein, sie kennen zu lernen7.
Aber die Bitte um Lehre und Weisung erfüllt er sofort: Alle Verdienste, so
mahnt er, müsse man nicht den eigenen Kräften, sondern dem höchsten
Vater alles Lichtes zuschreiben, ohne den die Anstrengungen des menschli-
chen Geistes pure Eitelkeiten seien. Man überhöre wiederum nicht den
Anklang an die platonisch-christliche Lichtmetaphysik der Ars magna
lucis et umbrae. |
Dann geht er Punkt für Punkt die Anfragen Leibnizens durch.
Er beginnt mit der Rhabdologia pantosopha oder Cista combinatoria,
mit deren Hilfe „aus der Versetzung mannigfach zusammengestellter
Täfelchen auch der ungelehrte Mann auf jede beliebige Frage soll antwor-
ten können" - wozu man die Formulierung der Musurgia über die ars
nova musarithmica vergleiche: qua quivis etiam quantumvis musicae im-
peritus ad perfectam componendi notitiam brevi tempore pertingere
potest, und die Bemerkung Leibnizens über seine Scientia generalis (VII,
3 G e r h a r d t ) . . . . ut quisque mediocri licet ingenio praeditus . . . jacili

6
Die Aufklärung, wer der quidam des Briefes ist, verdanke ich Dietrich Mahnke
in Marburg. Ueber Skyttes Akademieplan vgl. Harnack, Gesch. d. Kgl. Preußischen
Akademie, I, 1, 4 und II, 3. Die Datierung der Frankfurter Begegnung gab mir
Prof. Paul Ritter auf Grund seiner schwedischen Archivforschungen. Dr. Sigrid
v. d. Schulenburg teilte mir die unveröffentlichte Niederschrift Leibnizens mit. Sie
stammt aus der an Eckhart gerichteten Epistolaris de Historia Etymologien Dissertatio,
die als Einleitung in die Collectanea Etymologica gedacht war: Hann. Ms. IV.
464 Bl. 84 r.
7
Schwerlich war das mehr als eine Höflichkeitsformel. Leibniz selbst meinte später,
„sehr gelehrte Männer, unter denen Kircher und Bayle hervorragten", hätten seine
Jugendschrift mit Beifall gelesen: Vita Leibnitii a se ipso breviter delineata in:
Guhrauer, Leibniz, II Beilage, S. $6.
666 Polyhistorie [240/241]

meditatione et brevi experientia difficillima etiam intellegere et pulcherri-


mas veritates ... invenire possit. Die Cista also, antwortet Kirdier, habe
er zu konstruieren noch keine Zeit gehabt wegen der Schwierigkeit die
Tabellen herzustellen, auch wegen der Fülle der Geschäfte und wegen der
Bücher, die er zum Druck vorbereite, und die ihm kaum Zeit zum Atmen
lassen. So hoffe er, den Denkkasten werde einmal ein Schüler von ihm
ans Licht bringen.
Wie er sich hier selbst beschreibt, schildert ihn Kochanski (II, i,
Nr. 22 Ak.): Mathematik könne der Alte nicht mehr treiben, weil er die
nötige Sammlung nicht mehr finde. Dermaßen sei er von Auswärtigen
überlaufen und von den großen Herren der römischen Kurie mit Anfra-
gen hier- und dorthin gezogen. So habe er sich jetzt auf die Antiqui-
tates und die Polyglottia zurückgezogen. Kircher selbst erwähnt im Ver-
lauf des Briefes als vor der Veröffentlichung stehend seine Turris Babel
(erschien 1679) und eine Neubearbeitung seiner Polygraphia universalis.
Ein Verzeichnis seiner schon erschienenen und noch zu schreibenden
Bücher hat er für Leibniz (und, dürfen wir hinzudenken, für dessen Kor-
respondenten) dem Briefe beigefügt, wie er das in Briefen und Büchern
öfters tat.
Auf die Einzelfragen über den „heliotropen Stoff" des Arabers und
die Kompaßkonstruktion des Grandami gibt er Auskunft: Jener sei ein-
fach die Blüte von Doronicum pardalianches. (Warum hat er sich dann in
der Ars magnetica so dunkel ausgedrückt?) Der Kompaß sei von den Vä-
tern der Gesellschaft auf ihren Ostasienfahrten erprobt worden. Skyttes
Gedanken einer Universalsprache aber verwirft er mit starken Worten.
Alle seine eigenen Versuche hätten zu nichts geführt. Nur eine Polygraphia
universalis habe er erfunden, die Papst Alexander V I I . und Kaiser Leo-
pold ausprobiert hätten.
Wie lebhaft Kirchers universalsprachliche Versuche gewesen sind,
wissen wir auch sonst. In Wien liegt ein ungedrucktes Manuskript Lin-
guarum omnium nova arte ad unam redactio, in Wolfenbüttel ein anderes
Novum inventum linguarum omnium ad unam reductarum, Romae 1660,
eine dritte Fassung hatte er nach Mainz an den Kurfürst-Erzbisdiof ge-
schickt. Während nun die Polygraphia nova et universalis ex combinatio- |
ria arte detecta 1663 in Rom erschien, hat er anscheinend keinen jener
Versuche drucken lassen. Sein Brief an Leibniz lehrt, weshalb. Leibniz
schrieb zu Beginn der neunziger Jahre, als er Bibliothekar in Wolffenbüttel
geworden war, über das dort liegende Exemplar ein recht ungünstiges
Urteil nieder. Gewiß entsann er sich damals nicht mehr, daß kein an-
derer als Kircher schon über 20 Jahre früher die eigenen Versuche preis-
gegeben hatte, zu einer Zeit, wo er selber längst so weit noch nicht war®.

» D a s Wiener Manuskript ist erwähnt in der Bibliogr. de la Comp, de Jesus, I V , 1 0 7 5 :


Catal. M S S . Vindob. N r . 9536. Alles Weitere verdanke ich einem. Hinweis von
Dr. Sigrid v. d. Schulenburg, die mir zu dem unvollständigen Abdruck des Leibniz-
f24 i/242] Athanasius Kirdier und Leibniz 667

Fortgang des Verkehrs und Wandel in Leibnizens Urteil. - Leibniz


gibt, was ihm celeberrimus Kircherus über seine literarischen Pläne anver-
traut, im nächsten Jahre (8. Februar 1671) an Hermann Conring weiter
(II, 1, Nr. 40 Ak.), und der Helmstedter Jurist wird weder der erste
noch der einzige gewesen sein, den er mit solchen Mitteilungen bedachte.
Kirchers Herold zu sein hatte er ja versprochen, und man weiß, daß
der Briefwechsel jener Zeit das leisten mußte, wozu später Zeitungen,
Zeitschriften und Kongresse da sind. Kein Zweifel, daß Leibniz sehr stolz
auf den neuen Korrespondenten war. Wenn er in den Briefen der näch-
sten Jahre, wie er gern tut, sich auf seinen Briefwechsel beruft, so kommt
Kirchers Name immer wieder vor, oft an erster Stelle. Cum egregiis
passim viris, in Italia RR PP Kirchero et Lana . .. commercium literarum
colo (1671, I, 1, 62 Ak.). Auch viele Curiosi. .. haben auf meine Briefe
an sie mit einer extraordinairen Hoflig- und Willfährigkeit geantwortet,
darunter ich die Herrn der Königl. Franz. Academie und engl. Societät,
auch Hrn. von Boineburg, H. P. Kircher und Lana in Italien .. . zehlen
kann ( 1 6 7 1 ; II 1, 164 A k . ) . . . so mit einigen der vornehmsten ingeniorum
unserer Zeit teils münd- teils schriftliches commercium stabiliert, darunter
ich die Herrn der \ Franz. und Engl. Konigl. Sozietäten der Curiosorum,
den H. P. Kircher, Herrn Boyle und eine große Zahl anderer nennen
kann (1673; I 1, 345 Ak.). Au reste les plus habiles mathematiciens du
siecle, comme le Pere Kircher ä Rome, Möns. Huguens Hollandois, in-
venteur des pendules. . . (1675; I, 1, 477 Ak.). Les correspondances. . .
avec des personnes qui sont sans contredit du nombre des plus habiles de
l'Europe. Je puis nommer en Italie le Pere Kircher, le P. Fabry penitencier
de S. Pierre, le P. Lana de Brescia . . . (1677; I, 2, 16 Ak.).
Ersichtlich legt Leibniz es darauf an, seinen eigenen Wert mit gewich-
tigen Namen zu steigern. Aber man schätze doch ab, was es in seinem
Munde bedeutet, wenn er noch 1675 Kirdier neben Huygens nennt!

sehen Gutachtens bei Couturat, Opuscules $36 f. wichtige handschriftliche Ergän-


zungen gab. Mit ihr und Prof. Paul Ritter durfte ich das Original einsehen: L Hs V
Vol. I B1 1 - 2 . Oben rechts vermerkt Leibniz das hübsche Histördien: Cum Kircherus
simile qvid ad Eminentissimum Elect. Moguntinum misisset, Linckerus tunc ejus
Consiliarius vocabat non male: difficiles nugas. - Wichtig ist der Auszug aus Kirdier:
Adjecta est epistula Kircheri ad Smum Ducem Augustum. Scribit se integro Tomo
talia typis editurum. Aliud se prae manibus habere ad Caesaris instantiam - das
muß das Wiener Manuskript sein - , ubi non {ut) hic a circumferentia ad centrum,
sed contra a centro ad circumferentiam eatur: seu ab una lingua nota ad universitatem
linguarum et idiomatum progreditur. Ita ut qvivis qvacumqve lingua licet sibi
ignorata scribere possit, et scripta intelligere. Esseqve simul arcanam Steganographiam
nobilissimam. Se libenter missurum, sed sumtus deficere. Romae 2 Oct. 1660. Dann
führt Leibniz ein Gutachten Conrings von 1661 an, in welchem Kirchers Leistung
günstig beurteilt und über die von Becher erhoben wird. Schließlich folgt Leibnizens
eignes Urteil beginnend: Mihi videtur Kircherus nihil magni momenti praestitisse,
schließend: Dalgarni et Wilkinsii labores multo meliores. Mihi tarnen nihil horum
satisfacit.
668 Polyhistorie [242,¡243]

Erhalten scheint von dem Briefwechsel zwischen Leibniz und Kircher


außer dem Briefpaar, das den Anlaß dieser Mitteilung bildet, nidits zu
sein. Rege war er ganz bestimmt nicht. J'ai eu quelque commerce de
lettres autrefois avec le feu P. Kir cher, schreibt Leibniz selbst 1695 an den
jüngeren Boineburg, der sein Urteil über eine philosophische Kircher-
Stelle erbeten hat (Klopp V I , i n ) 9 . Vielleicht hat es gar nie mehr als
das eine Briefpaar gegeben, und die Bemerkung, die Leibniz sich für eine
Audienz beim Fürstbischof von Fürstenberg gemacht hat (Klopp II 423),
Obiter zu gedenken der Briefs von Herrn P. Kircher, so zu zeigen, könnte
auf den einen, bekannten Antwortbrief gehen. Kircher war damals ein
alter, überlasteter Mann. Als Leibniz 1671 über physikalische Probleme
an den Jesuiten Honoré Fabri schreibt, bittet er Kircher den Brief zu
zeigen, und Fabri erwidert (II, 1 188 Ak.), er habe nach diesem Auftrag
gehandelt und Kircher um eine Antwort gemahnt. Ob es dazu gekommen
ist, wissen wir nicht.
Was Leibniz von Kircher erhoffte, fand er auf die Dauer doch nicht
erfüllt. Mancher wird vielleicht in den Worten unseres Briefes Nec po-
teram indignari.. . den ersten noch verborgenen Ausdruck eines Ungenü-
gens zu spüren meinen. Und jedenfalls heißt es schon 1671 in einem Brief
an Herzog Johann Friedrich von Hannover (II 1, 160 Ak.) von der Ars
combinatoria: welche Lullius und P. Kircher zwar excolirt, bey weiten
aber in solche deren intima nicht gesehen. Die Enttäuschung über das erst
mit so großen Hoffnungen erwartete, dann begeistert begrüßte Werk
schlägt sich in einer Randbemerkung zur Nova methodus nieder: Kircherus
in Arte magna sciendi (quam vocat) longissime infra nostram spem sub-
sedit (VI, 1, 279 Ak.). Die Bemerkung mag aus den späteren 70er Jahren
sein, und am Ende des Jahrzehnts ist sein Urteil über den Mann über-
haupt sehr herabgestimmt. La polygraphie du P. Kircher, schreibt er an
Herzog | Johann Friedrich (I, 2, 167 Ak. = II 1, 559 Ak.), que V. A. S. a
veu, est si peu de chose et si éloignée de mon dessein, qu'il n'y a pas la
moindre apparence que j'en puisse avoir profité. Aussi la pluspart des
inventions de ce pere ne sont que des petits jeux d'esprit plus tost jolis
qu'utiles. Man bedenke freilich, daß Leibniz seine Selbständigkeit be-
tonen und den Herzog für seine eignen Pläne gewinnen will, und daß er
auch über Raymundus Lullus in demselben Zusammenhang sehr kühl
urteilt. Man erwäge auf der anderen Seite, daß er in einem Entwurf der
Scientia nova generalis von 1681 (VII, 72 Gerhardt) neben Peiresc, Mer-
senne und dem aufs höchste von ihm geschätzten Ordensgeneral Oliva
auch Kircher unter denen nennt, deren Nachlaß für die wissenschaftliche
Welt zu erhalten ihm wichtig scheint (quid dicam de Mersenno, de
Kirchero aliisque multis). Man nehme weiter dazu, daß er irgendwo in

9
V g l . Brodbeck, Philipp Wilhelm Reidisgraf zu Boineburg (Diss. Jena, 1 9 2 7 ) 4 3 , w o
das landesübliche Urteil über Kircher wiedergegeben w i r d .
[2431244] Athanasius Kircher und Leibniz 669

der Protogäa über Kirchers Leichtgläubigkeit in geologischen Dingen


spottet, und wiederum daß er in dem eben erwähnten Brief an den jünge-
ren Boineburg einen metaphysischen Abschnitt aus Kircher als wohlbe-
gründet rühmt und ernster Erörterung für wert hält. So mag man auf
beiden Seiten dieser Abrechnung noch manchen Posten hinzufügen: als
Gesamtergebnis bleibt doch bestehen, daß Kircher für den reifen Leibniz
nicht mehr der vir magnus war, als welchen er ihn ehedem angeredet
hatte.
Gesamturteil. - Was aber war Kircher für den 24jährigen Leibniz?
Die Frage ist nur auf dem Hintergrund der umfassenderen zu beant-
worten: was die Societas Jesu für ihn bedeutet hat. Denn gleichzeitig hat
er auch mit Kochanski zu korrespondieren angefangen und im nächsten
Jahre mit Francesco Lana und Honoré Fabri (deren Antwortbriefe vom
Jahre 1671: II, 1, Nr. 72 und 90 Ak.). Das Kapitel in Baruzis wichtigem
Buch wird hier vorausgesetzt, und nur an eine Seite des nuancen- und
wechselreichen Verhältnisses gilt es zu erinnern.
J'ai toujours eu grande estime pour cette Compagnie, schreibt Leibniz
im Jahre 1681 an den Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels 10 , ils vivent
exemplairement, ils cultivent les études, ils ont eu des excellents hommes.
On leur est redevable de beaucoup de bien. Und an anderer Stelle (II, 1,
514 Ak.): Mais un ordre comme le leur, qui a tant de grands hommes
excellens en toute sorte de sciences, les faisant travailler de concert, pour-
roit establir des propositions aussi asseurées que celles des Elemens d'Eu-
clide, qui seroient véritablement utiles dans la practique des arts et qui
ne periroient jamais. Besonders aufschlußreich sind die Worte les faisant
travailler de concert, mit denen er sich in die Rolle eines Ordensgenerals
hineinträumt, der zugleich Akademiepräsident wäre. Man weiß ja längst,
daß ihm bei den Akademieplänen, von denen er fast sein ganzes Leben
hindurch bejsessen war, die Gesellschaft Jesu eins der wichtigsten Vor-
bilder gewesen ist, ja zeitweise d a s große Beispiel einer Gemeinschaft,
die Frömmigkeit und Gelehrsamkeit vereinte 11 . Bei ihnen fand er noch
am ehesten verwirklicht jenes Ideal des „wissenschaftlichen Klosters", von
dem er geträumt hat 12 .
Unter diesen Jesuiten aber nahm Kircher einen besonderen Platz ein.
Er war nicht nur ein kenntnisreicher und bedeutender Fachgelehrter wie
etwa Kochanski, Lana, Fabri. Er war beinahe eine Akademie der Wis-
senschaften schon für sich allein (mit einer mathematisch-naturwissen-
schaftlichen und einer historisch-philologischen Klasse). Und er führte

10
Zitiert von Baruzi, 75.
u Foudier de Careil, VII, p. VI. Couturat, Logique, 50$ ff. In der schönen Darstellung
Diltheys, Ges. Sehr., III, 25 ff., kommen die Jesuiten zu kurz. W o sie in die Dar-
stellung eintreten (S. 36), stehen sie an falscher Stelle.
^ B a r u z i , 448. Vgl. auch Baruzi, Trois dialogues inédits mystiques de Leibniz, Revue
de métaphysique et de morale 13 (1905), 1 ff.
670 Polyhistorie [244¡245)

über alle Zweige dieser Wissenschaften eine ungeheure Korrespondenz.


Er war Polyhistor nicht, oder nicht nur, in dem Sinne, daß er die Einzel-
wissenschaften in seinem Kopfe häufte. Sondern an jeder Einzelaufgabe
war gleichzeitig die Vielheit der Wissenschaften beteiligt. Ihre gemein-
same Grundlage suchte er in der Ars magna sciendi und den anderen
Ansätzen zu einer allgemeinen Denk-, Sprach- und Schreiblehre. Und
das Ziel von alledem war die immer wieder von ihm angerufene gloria
Dei13.
Leibniz beginnt eben damals seine große Correspondenz in Europa ia
bis nach China - wie er sie später (16. I. 1716) in einem Schreiben an
Peter den Großen bezeichnen wird — in zäher Arbeit aufzubauen. Etwa
gleichzeitig weist er in einem seiner frühesten Akademiepläne (I, 1, Nr. 25
Ak.) der zu gründenden Gesellschaft dies als erste Sonderaufgabe zu, daß
sie den allgemeinen und universellen Briefwechsel der Gelehrten zu unter-
halten habe. So wünscht er mit Kircher, mit dieser gelehrten Gesellschaft
in Person, Verbindung zu gewinnen. Er bietet sich ihr gleichsam als
korrespondierendes Mitglied an. Denn er fühlt die Verwandtschaft, die
der Antwortbrief des anderen ihm bezeugt. Er war sich ja seiner Nei-
gung zum Universalen seit früher Jugend bewußt. So spricht er 1671
in einem Brief an Pierre de Carcavy, den Bibliothekar Colberts, von der
voluptas, quam ex multiplicis cognitionis varietate pene a pueritia cepi
(II, 1, 183 Ak.), mag auch der Ausdruck hier mehr nach Polymathie
als nach Universalität klingen. In Kircher — das wird nicht zu viel |
gesagt sein - sah er den universalen Menschen, wie er selbst einer zu
werden hoffte 14 .
Schon in der Disputationsschrift des 18jährigen Leibniz, Specimen
quaestionum philosophicarum ex iure collectarum ( 1 6 6 4 ; VI, 1, 7 4 Ak.),
wird Kircher als einer der ersten Autoren zitiert. Das Corpus Iuris, heißt
es dort, enthalte durchaus nicht nur juridische Gegenstände, ebensowenig
wie die Heilige Schrift nur theologische Dogmen. Nam et Athanasius
Kircherus arcana omnium scientiarum ex Scripturis eruta, seu Polypae-
diam biblicam pollicebatur - nämlich am Ende seiner Ars magna lucis et
umbrae (Rom 1643). Erschienen ist diese Polypaedia nicht, Teile des
offenbar umfassenden Planes werden später in der Turris Babel und der
Area Noe verwirklicht sein. Jedenfalls mußte schon der Gedanke einer
theologisch oder biblisch begründeten Polyhistorie dem jungen Leibniz
Eindruck machen: Panhistorie mit theologischer Spitze ist im Grunde
immer sein eigentliches Anliegen geblieben.
13
Vgl. meine sehr vorläufige Skizze in den Sitzungsber. d. Sädis. Gesellschaft, 1934,
Heft 4: Die Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht, § 2, Athanasius Kirdier,
und dazu den Nachtrag: Pindar oder Kirdier? im Hermes 70, (1935), 468 iî.
Man muß also die Bedeutung Kirdiers für Leibniz dodi wohl anders und weiter
sehen, als Baruzi unter Berufung auf Couturat formuliert: „Le père Kircher peut
être considéré comme ayant exercé une influence logique sur Leibniz à cause de ses
essais de langue universelle."
[245¡246] Athanasius Kircher und Leibniz 671

In der Dissertatio De arte combinatoria (i 666) steht Kirchers verspro-


chene Ars magna sciendi und Polygraphia universalis vor dem Geiste des
Schreibenden. In der Nova methodus discendae docendaeque iurispruden-
tiae (i 66 y) führt er unter den Grundlagen dieser wie jeder Wissenschaft
die Mnemonik auf und als ihr Mittel solche Schriftzeichen, die ohne Um-
weg zur Erinnerung sprechen. Huc pertinent Hieroglyphica veterum
Aegyptiorum et hodiernorum Sinensium de quibus multa Kircheri Oedipus
- wozu Leibniz am Rande et China nachgetragen hat (VI, i, 278 Ak.). Die
chinesischen und ägyptischen Schriftzeichen waren für ihn auch später
immer wieder im Blickfelde, wenn er seine Characteristica universalis
bedachte. Seine Kenntnis dieser Dinge aber bezog er aus den ägyptologi-
schen und sinologischen Werken desselben Kircher, dessen Versuche einer
allgemeinen Denk-, Sprech- und Schreiblehre ihn so erregten.
Von den Bemühungen um die „Cistae", und wie Leibniz bei seinen
Versuchen das Geistige ins Mechanisch-Nutzbare umzusetzen, wiederum
auf Kircher als bewunderten Vorgänger traf, wurde vorher an der Hand
ihres Briefwechsels gesprochen. Erwähnen wir noch, daß Kirchers Musur-
gia (1650), wie es scheint, beinahe d a s Buch war, aus dem er sein Wissen
über Musik bezog. Als er einmal den Plan eines Atlas universalis umreißt,
sollen die Tafeln zur gesamten Musik nach Praetorius und Kircher ent-
worfen werden. Und als er die musikalische Seite seiner Universalsprache
bedenkt und damit zugleich das, was sie an Schönheit und an Wirkung |
auf das Gefühl haben soll, verweist er wieder auf Kirchers Musurgia und
grade auf jene oben erwähnte Tafel mit der Cista musarithmica, nach der
selbst ein Musikunkundiger soll komponieren können15.
Schwerer werden Beziehungen im Bereich der Metaphysik faßbar zu
machen sein; das liegt in der Sache selbst. Und doch kann man sich
nicht vorstellen, daß der junge Leibniz gleichgültig fortgelesen habe über
das, was er am Schluß der Musurgia unter dem Titel Metaphysica hartno-
nica abgehandelt fand. Dort war die Seele gefaßt als lebendige Zahl
aus Gerade und Ungerade gemischt, als numerus numerans. Wie kommt
sie, fragt Kircher, zur Erkenntnis der äußeren Dinge (quomodo res foris
oblatas cognoscatft Und er antwortet: sie mißt die äußere Harmonie
mittels der ihr innewohnenden Harmonie (harmoniam extrinsecam noe-
tico intrinsecae harmoniae incorruptibili radio mensurat), sie begreift als
zählende Zahl die harmonische Proportion des Alls mittels der ihr eigenen,
Schönheit, d. h. auch wieder Harmonie oder Proportion (cum intra se,
numerum habeat omnia numerantem, omnium rerum proportionem har-
monicam sua pulchritudine continebit). Ein Abschnitt handelt De har-
moniae (harmonia hat der Druck) intellectuum Archetypi Angelici et,
humani ad invicem et ad mundum comparatione. Es gibt eine Harmonie

15
Couturat, Opuscules, 222 und 278. An der zweiten Stelle: Adde Kircheri Musurgiam,
ubi Tabulae quibus componi potest cantus etiam a Musicae ignaro.
672 Polyhistorie [246¡247]

des menschlichen Geistes wie eine des intellectus Angelicus und eine des.
intellectus Archetypus, und alle drei stehen unter einander und mit der
Welt in harmonischer Proportion. Der Intellekt ist gleichsam das Auge,
sein Gedächtnis der Spiegel, in dem alle Bilder der Welt aufglänzen
(speculum, in quo omnes mundi imagines resplendent). Gott ist gleichsam,
eine Harmonie, die zugleich im höchsten Sinne Einheit ist (veluti harmonía,
quaedam unitissima). Aus ihm entäußern sich die Harmonieen des intel-
lectus Angelicus, der noch unisón alle Harmonieen der Welt aus sich ent-
faltet, und des intellectus humanus, der wie eine Saite alle Töne der Ok-
tave hervorbringt.
Diese letzten Seiten der Musurgia mit ihrem aus Marsilius Ficinus
angeeigneten und christlich getönten Pythagoreismus müssen Leibniz
besonders verwandt angesprochen haben, der schon 1671 in einem Briefe
an Herzog Friedrich von Braunschweig sich anheischig machte zu bewei-
sen, dass eine Ratio ultima rerum seu Harmonía Universalis, id est Deus
sein müsse (II, 1, 162 Ak.). Im übrigen werden einige Leibnizsche Formell}
genügend zeigen, wie viel ihm von dem, was er bei Kircher las (oder,
a u c h bei Kircher las), Baustoff wurde in seinem ausgebildeten System:
Da gibt es die universale Harmonie in ihren mannigfachen Dimensionen
- die Schönheit des Alls, die sich in jeder lebendigen Monade spiegelt -
die Seele, die sich, ohne es zu wissen, in der Kunst des Zählens ¡ übt,
wenn sie Musik hört - die in Stufen zur göttlichen Vollkommenheit
aufsteigenden Gattungen der Geschöpfe, über den Menschen die Engel
mit der ihnen zugeordneten Erkenntnisweise - Gott, dessen Rechnen die
Welt schafft. Und so mochte Leibniz, der von sich bekannte als Philosoph
zu beginnen, aber als Theologe zu enden, wohl in das Gebet einstimmen,
mit dem Kircher seine Musurgia schließt: O magne Harmosta, qui omnia
in mundo numero pondere et mensura disponis; dispone animae meae
enneachordon iuxta divinae voluntatis tuae beneplacitum . . .
Immortalis Kircherus,vir magnus,maximus,incomparabilis, so schreibt
und empfindet der 20jährige und noch der 24jährige Leibniz. War viel-
leicht der Gepriesene dem Maß, mit dem er hier gemessen wird, nicht
ganz gewachsen, so hat er noch viel weniger den geringschätzigen Ton
verdient, mit dem der 33jährige ce pere von ihm sagt. Aber aus dem
Wechsel des Urteils wird man etwas über den Wandel in Leibnizens
Selbstbewußtsein lernen können. Er fühlt sich als reifer Mann dem Vor-
gänger überlegen, der ihm als Werdendem das Wunschziel schon erreicht
zu haben schien: cocpíri, jtoXunafríri, xaXXiTexvir].
VIII

Persönliches
Z u Hermann Useners i oostem Geburtstag

25. Oktober 1934

Ich habe eben den Briefwechsel zwischen Usener und Wilamowitz


gelesen und schreibe unter dem frischen Eindruck diese wenige Zeilen
über Hermann Usener nieder. Denn beide waren meine Lehrer. Wilamo-
witz freilich hatte mich als 18jährigen schon mächtig ergriffen und dann
zwei Jahre lang auf mich gewirkt, als ich im Sommer 1902 zuerst vor dem
fast 70jährigen Usener stand.
Daß Usener nicht mehr auf der Höhe seiner Kraft war, kam mir gar
nicht so sehr zum Bewußtsein. Viel zu stark wirkte die mächtige Gestalt,
das Löwenmäßige des Hauptes auf den jungen Menschen, der sich klar
war, längst nicht so viel Haare auf der Oberlippe zu haben wie Usener
in seinen Augenbrauenbüschen. Wie sich terribilità und Güte in ihm
verbanden, darin lag viel von dem Geheimnis seiner Wirkung. Er konnte
aufbrausen, wenn er auf Unehrlichkeit traf, in kirchlichen Dingen oder
bei einem Mitglied seines Seminars. Er schien mir vielleicht etwas starr,
wenn er sich im Seminar bei der Erörterung über eine Platonstelle hin-
ter seinem Sprachgefühl verschanzte. Er ließ mich zu seinen religions-
geschichtlichen Übungen zu, an denen mehrere richtige Privatdozenten,
(ich dächte Deubner, Lietzmann, Loeschcke) teilnahmen. Das war eine
Ehre. Aber dann wurde ich milde und dodi deutlich wegen mancher
Oberflächlichkeiten meines Referats getadelt, und das tat mir gut, da,
ich mir die genialischen Laxheiten meines Lehrers Wilamowitz allzu
gern zum Vorbild nahm.
Vielleicht war dies das größte Geheimnis: Usener nahm den jungen
Menschen ganz und gar ernst. „Können Sie es mit Ihren religiösen Uber-
zeugungen vereinen, an meinen religionsgeschichtlichen Übungen (über
das Taufsymbol in der alten Kirche) teilzunehmen? Machen Sie sich das
vorher klar!" Und er ließ mich ihm feierlich in die Hand zusagen. Aber
zugleich war er ganz einfach menschlich. Ob ich schon jemanden in Bonn
kenne, fragte er mich bei meinem ersten Besuch. Und als ich verneinte:
da sei stud. P., mit dem müsse ich mich anfreunden —, was in mir einen
gewissen trotzigen Widerstand hervorrief. Schließlich hat Usener doch
recht behalten. Einmal riet er mir, auf eine Bücherauktion zu gehen. Ich
glaube sogar, daß er mir Westermanns Biographi als nützliches Buch
bezeichnete, das ich ersteigern sollte und dann auch ersteigert habe.

[Vorgelesen im Kolleg an der Universität Halle/Saale.]


676 Zu Hermann Useners 100. Geburtstag

Unvergeßlich, wie er die selbständigen wissenschaftlichen Regungen


förderte. Ich hatte außerhalb meiner Seminarverpflichtungen eine Arbeit
über griechische Metrik niedergeschrieben, den ersten schwachen An-
satz eigener wissenschaftlicher Produktion. Ich muß ihm davon erzählt
haben. Denn er forderte mich auf, zu ihm ins Haus zu kommen und sie
ihm vorzulesen. Ich fing an. Er holte Texte, prüfte nach, widersprach.
Einmal sprang er zu seinem Eisenöfchen, das auszugehen drohte: „Jetzt
habe idi vergessen, ihn zu füttern." Als ich zu Ende war, sah Usener nach
der Uhr: es war weit über die Abendessenszeit hinaus. Daß ich hätte
abbrechen können, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen.
Useners wissenschaftliche Größe habe ich mir erst nach und nach zu
Gesicht gebracht. Daß sich mir dieser geistige Reichtum um die Mitte
eines echten, guten und wahrhaft bedeutenden Menschen ordnet, verdanke
ich meinen zwei Bonner Semestern.
Erinnerung an Georg Loeschcke

I9J2

Vor fünfzig Jahren habe ich Georg Loeschcke zuerst gegenübergestan-


den, und wenn ich heute vom Pacific nach Bonn am Rhein zurückdenke,
an das überlieferungsreiche, das anmutig stille oder auch bunt lärmende
Bonn von damals, ist es mir trotz allem, was dazwischenliegt, wie vor-
gestern. Ich stehe als zwanzigjähriger Student in dem Vorraum des Bonner
Hauses, der nicht anders aussieht als viele Vorräume in solchen Bonner
Bürgerhäusern. Jemand kommt die schmale Treppe herunter, etwas vorn-
über gebeugt, etwas salopp auch in der Kleidung und dem leicht struppi-
gen, leicht ergrauenden blonden Vollbart und begrüßt freundlich und
fragend den jungen Studenten.
Ich war Berliner, hatte zwei Jahre vorher an der Berliner Universität
klassische Philologie, vielmehr Altertumswissenschaft, zu studieren be-
gonnen als Schüler von Wilamowitz. Das hieß aber sofort: nicht nur bei
ihm studieren, wenn er auch allem die Richtung wies, und dem Studium
nach Kräften die möglichst große Weite geben. Daß ich mich im Alten
Museum auszukennen versuchte, von Kekule und Graef, später von Kalk-
mann und Delbrueck Statuen und Gipsabgüsse verstehen lernte, mit
Furtwänglers Katalog mich in der Vasensammlung zurechtfand, verstand
sich ebenso wie das Studium der Texte, das freilich den Vorrang hatte.
Aber ein Semester wenigstens, aus dem dann zwei wurden, wollte ich
außerhalb Berlins studieren. Bonn hatte die stärkste Anziehung. Denn
dort lehrten noch Usener und Buecheler, dort war, schien mir, der einzige
bedeutende Strom der klassischen Philologie außerhalb Berlins, der von
Wilamowitz unabhängig war. Unabhängigkeit aber - oder der Wunsch
danach - war das, was ich gerade von Wilamowitz zu lernen anfing, Un-
abhängigkeit auch von ihm, von dem für mich so vieles abhing. Als ich
midi verabschiedete und ihm sagte, daß ich nach Bonn gehe, erhielt ich
von ihm die Antwort, so fest als ob es daran keinen Zweifel gäbe: „Dann
werden Sie also bei Loeschcke studieren." Wahrscheinlich wußte ich, daß
Loeschcke in Bonn Archäologie lehre, und dann verstand es sich von selbst,
daß ich bei ihm hören würde. Aber bei Loeschcke studieren, das klang mir
unerwartet. Und doch hat Wilamowitz recht behalten. Ich denke mit
Bewunderung und großer Verehrung an die alten Meister Usener und
Buecheler, und ich hoffe, ich habe | bei ihnen meine Philologie um wichtige

[Bonner Jahrbücher C L I I , 1952, S. 13-16.]


678 Persönliches [14]

Gebiete, Techniken und Grundsätze bereichert. Aber ich wurde Loeschckes


Schüler, und seinen Namen habe ich ein paar Jahre später zusammen mit
dem von Wilamowitz auf das Widmungsblatt meiner Doktordissertation
gesetzt.
Antike Kunst: das hieß für meine Berliner Professoren der Archäologie
vor allem die Werke der Großplastik vom sechsten Jahrhundert an, das
damals noch beinahe wie etwas neu Entdecktes vor uns auftauchte, über
die klassischen und hellenistischen Jahrhunderte bis Augustus und Trajan.
Daneben, gewiß, gab es Kleinkunst und irgendwo in der Ferne Architek-
tur, Inschriften und manches sonst. Das Eigentliche aber war: man stand
dem Kasseler Apoll oder dem Augustus von Primaporta gegenüber und
versuchte, sie als einmalige Schöpfungen zu begreifen, und dazu dienten die
geschichtlichen Zusammenhänge. Das bleibt wesentlich und unersetzbar.
Aber was nun bei Loeschcke geschah, war wie ein Dammbruch, zeitlich
und räumlich und gegenständlich. Griechische Kunst ging weit ins zweite
Jahrtausend zurück: Loeschcke hatte ja mit Furtwängler die mykenischen
Vasen veröffentlicht, und er mochte gelegentlich auf seinen eigenen Anteil
an diesem gemeinsamen Werk Nachdruck legen. Und von der mykeni-
schen Zeit erstreckte sich der große Strom der Geschichte bis ans Ende der
Römerzeit, um gerade am Rhein greifbar in die Frühgeschichte des eigenen
Volkes zu münden. Kunstgeschichte war ein Teil der Geschichte, Quaesti-
ones historicae stand im Titel von Loeschckes Doktorschrift, und Nietz-
sches Warnung vor dem Nachteil der Historie für das Leben berührte uns
erst später. Neben der Plastik gab es Malerei und Architektur, und vor
allem hatte die Kleinkunst gleiches Recht, wurde von Loeschcke vielleicht
mit noch größerer persönlicher Neigung einbezogen. Wir lernten von ihm,
eine Vase oder einen Vasenscherben zu studieren, wenn er, oft das Ver-
größerungsglas aus der Tasche ziehend, den Formen mit scharfer Auf-
merksamkeit und merklicher Liebe folgte. Wir wanderten am Limes
Romanus entlang oder fuhren durch das Moseltal nach Trier, empfingen
in unmittelbarer Gegenwart eine Ahnung von römischer Architektur.
Bau, Umbau, Anbau, von Graben-, Wall- und Turmkonstruktion, von
Ausgrabungstechnik, von römischer Kleinkunst, und in alledem erfuhren
wir Geschichte in weitem Sinne - wenn auch noch nicht „die Pracht der
T r e v e r s t a d t . . . , da sie den Ruhm der Schwester Roma teilte".
Andere Grenzen fielen oder waren nicht vorhanden, so die Grenzen
zwischen Literatur und Kunstgeschichte. Im Akademischen Kunstmuseum
fanden ja auch die philologischen Vorlesungen statt, und etwas von
Welckers umfassendem Geist war an dieser Stätte lebendig. Bei Loeschcke
lasen wir Pausanias, lernten neben dem griechischen Text Architektur-
grundrisse und -aufrisse lesen, sahen die Tempelstatue der Parthenos aus
den literarischen Zeugnissen und den Nachbildungen erstehen, oder aus
den Beschreibungen tauchte in der Ferne Polygnots verlorene Malerei auf.
Was in Loeschckes Kolleg und Seminar vor sich ging, war immer voller
[14115] Erinnerung an Georg Loeschdce 679

Anregungen. Als ich in den nächsten Jahrzehnten den antiken Kunst-


beschreibungen eine beträchtliche Arbeit widmete, war ich mir bewußt,
das bei Loeschcke Gelernte fortzusetzen, es vielleicht vereinend mit philo-
logisch-technischer Akribie, die man bei nie|mandem besser lernen konnte
als bei Buecheler, und in Useners Gefolgschaft hinausforschend in die
Welt, wo Griechisches und Christliches sich durchdringt. Wenn mir später
in Rom unter der Quarzlampe in einer kleinen Zelle der Vaticana ver-
loschene Buchstaben einer griechischen Handschrift sichtbar wurden, so
wußte ich, daß ich in der Schuld der Benediktiner von Beuron stand. Aber
wenn aus dem Schwarz auf Weiß des Textes dann die Bilder auftauchten,
die dort beschrieben sind, so dachte ich an Loeschckes Seminar zurück.
D a ß man in unserer Wissenschaft und in Wissenschaft überhaupt ver-
stehen muß, das scheinbar Getrennte zu vereinen, und daß man keine
Angst haben darf, ein neues Gebiet zu betreten, weil „die Wissenschaft es
verlangt" oder weil jenseits der üblichen Grenze plötzlich ein Gegenstand
von Bedeutung sichtbar wird, dieses Wissen verdanke ich vor allem zwei
Männern, Wilamowitz und Loeschcke.
Eine Liste der Arbeiten, die unter Loeschckes Einfluß entstanden sind,
würde deutlicher noch als eine Liste seiner eigenen Veröffentlichungen die
Weite seiner Interessen und die Energie seines Einflusses zeigen. In seinen
letzten Jahren, als er, an die Berliner Universität berufen, mit mir, dem
angehenden Universitätsdozenten, in alter Güte umging, fuhr er mir
einmal ins Wort: „Ich bin ja kein Gelehrter, ich bin ein Lehrer!" Loeschcke
kein Gelehrter? Niemand als er hätte so sagen dürfen. Wägt man aber,
was bei ihm zu eigener wissenschaftlicher Produktion wurde gegen das,
was er an Anregungen überfreigebig ausstreute, so kann kein Zweifel sein,
daß wenigstens in den späteren Jahren seines Lebens das Schwergewicht
auf dieser, nicht auf jener Schale lag. Dabei war er sich über das Niveau
seiner Schüler durchaus im klaren und konnte etwa in der Halböffent-
lichkeit des Kunstmuseums mit mokantem Ton sagen: „Nun hab ich dem
X auch noch den letzten Gedanken aus seiner Dissertation herauskorri-
giert. Jetzt wird es eine gute, reinliche Materialsammlung."
Bei dieser Gelegenheit sei eine Aufgabe genannt, die Loeschcke mir
einst anvertraut hat. Das Thema hieß: Das Rundbild. Die Aufgabe war,
zu sammeln und zu ordnen, was die antike Kunst an Figuren und Kom-
positionen geschaffen hat, die ein Rund füllen, also auf Schalen, Münzen,
Gemmen, Spiegeln usw. Ich bin mit dieser Aufgabe nie über die ersten
Kapitel hinausgekommen, wenn mir auch das, was ich annähernd fertig
brachte, zu einem Stipendiatenjahr im Süden verhalf. Loeschcke, dächte
ich, hatte im Sinn, daß hinter vielem, was uns erhalten ist, als so gut wie
verloren und darum zu „rekonstruieren" die Gattung der ionischen Me-
tallschale stünde. Wer ihn kannte, wußte ja, daß die ionische Kunst in
seinen Geschichtskonstruktionen leicht ein übergroßes Gewicht bekam,
und „Rekonstruktionen" lagen in der Luft. Aber aufs Ganze gesehn ver-
680 Persönliches [15¡16j

dient jene Anregung vielleicht auch heute nicht vergessen zu werden, und
für Loeschckes Freigebigkeit ist sie ein mir vertrautes Beispiel.
Loeschcke war in manchem ein Provinzler. Seinen sächsischen Sprach-
klang hat er nie abgelegt, und die mykenische „Püchelkanne", die ich
damals in mein Kollegheft notierte, wurde mir erst erheblich später als
Bügelkanne deutlich. Aber dieser Obersachse kannte die Mittelmeerländer,
hatte jahrelang | an der Universität Dorpat gelehrt, und mit jenem Pro-
vinzialismus kreuzte sich ein weiter Sinn und eine erhebliche Menschen-
und Weltkenntnis.
Der Student, an den langen Familientisch des Loeschckeschen Hauses
geladen, an dem sich die Mahlzeit ohne viele Förmlichkeit vollzog, konnte
über manches staunen, so wenn plötzlich einer der Söhne sich mit einem
„Du, Loeschcke" an den Vater wandte und die Respektlosigkeit gut
machte, indem er dem Vater eine eigene Beobachtung, vielleicht an römi-
schen Münzen oder Terra sigillata, berichtete. Der Reichtum der väter-
lichen Persönlichkeit schien sich unter die Söhne zu verteilen und in jedem
von ihnen zu eigener Art zu werden. D a war der Theologe, und von
evangelischer Theologie lebte im Vater viel. D a war der künftige Archäo-
loge, da war der Maler, und da war der Jüngste, der bildender Künstler
und Kunstforscher geworden ist. Selbst vom Arzt mochte der Vater etwas
in sich haben, das sich an einen Sohn und nun schon an seine Enkel ver-
erbt hat. Seien diese Blätter von einer Erinnerung begleitet, die mir lieb
ist, weil sie zeigt, wie es im Bonner Kunstmuseum zuging, und ein Zeugnis
ist von Loeschckes Fähigkeit des Schneidens und Heilens zugleich. Seine
Studenten oder einige unter ihnen hatten den Schlüssel zu den Glas-
schränken des Kunstmuseums und durften also die Sammlung antiker
Kleinkunst aus der Nähe studieren. Eines Tages war ich allein mit der
Duris-Schale. Sie fiel mir aus der Hand und zerbrach in viele Stücke -
wie sich nachher herausstellte, wohl vor allem in die Fragmente, aus denen
sie zusammengeleimt war. Ich war tief erschrocken und mußte Loeschcke
Meldung machen von dem, was ich begangen hatte. Er schwieg eine kurze
Weile und sagte dann ruhig: „Nun, hoffentlich haben Sie dabei etwas
gelernt."
„Werde ich nun eigentlich Philologe oder Archäologe?" fragte ich
ihn (und midi) gegen Ende meines Bonner Studienjahres. „Sie werden
Philologe mit starkem archäologischem Interesse!" war Loeschckes Ant-
wort. Und so ist es geworden.
Erinnerung an Wilamowitz

3>oiße ä v a | , av y a g ol8ag lr)ie aaig (xexa Moiiaaig


xöv XaQitag |xEi|avft' f)(XETEQris aotptrig
xayov ojicog jtXeiaxoiai aeßaajHog' aXkä av xeivr|i
XAIP' EXE' FIÖIAXRII JIÖXX' ENI AU^UVIRII.

M i t diesen V e r s e n g r ü ß t e ich z u seinem 7 j s t e n G e b u r t s t a g e ( 1 9 2 3 ) d e n


M a n n , dessen Schüler ich i m J a h r e 1900 g e w o r d e n w a r . A l s A c h t z e h n -
j ä h r i g e r h a t t e ich z u m ersten M a l in seinem S t u d i e r z i m m e r in W e s t e n d
i h m gegenübergesessen, u n d o f t bin ich s e i t d e m , u n d m a n c h m a l nicht o h n e
Bangen, die vertrauten Stufen zu ihm hinaufgestiegen. Im Jahre 1908
h a t t e ich, v o n m e i n e m S t i p e n d i a t e n j ä h r a u s d e m S ü d e n zurückgekehrt,
i h m z u seinem 6 o s t e n G e b u r t s t a g e eine S a m m l u n g griechischer Land-
s c h a f t s a u f n a h m e n m i t e i n e m e t w a s ungeschickten G l ü c k w u n s c h - D i s t i c h o n
überreicht. D a r a u f a n t w o r t e t e er m i t d e n f o l g e n d e n V e r s e n :

'EXXr|vi5og yf|5 x ä g n a q aiaveig veog


YEQOVXI ÖEI|ag cpcDxoöaiöaXog crocpöc
E(ivr|aag wv i6ti>v xig ov ¡xr) Xr)OExai.
XTlM.lv jiEV r|8r| xdjv xaXwv |.ii|j.r)|xaxa
ayaitriTÖv EIFTE<I),UED'• äXXa aoi frfiol
frswv öiauXov 6OIEV slg x(i)Qav öga|iEiv.
3>iXo|xü)mxog Eiet|vixr|i
Xagiaxrieiov.
20. XII. 08.

I n d e r N a c h t v o r seinem 8 osten G e b u r t s t a g s t a n d ich in seinem G a r t e n


i n m i t t e n f a c k e l t r a g e n d e r S t u d e n t e n , u n d d a er mich e r s t a u n t e r k a n n t e :
„ S i e h i e r ? " k o n n t e ich nicht a n d e r s als i h m e r w i d e r n : „ I c h b i n doch I h r
S t u d e n t ! " U n d d i e eine V e r s z e i l e ist m i r teuer, d i e m i r d e r 8 0 j ä h r i g e u n t e r
jenes B i l d schrieb, a u f d e m er d a s t e h t d e n Z e u s v o n K y r e n e b e t r a c h t e n d :

cpiXiriv avT)Q(o xwi q>iX(oi xr)Qei yegwv.

A l s d e m avrip öai|ioviog, d e r e r t r o t z v i e l e r menschlicher u n d allzu


menschlicher Z ü g e w a r , h a b e ich i h m d a m a l s g e h u l d i g t ; sein B i l d h ä n g t
a n m e i n e r W a n d in C a l i f o r n i e n w i e f r ü h e r in D e u t s c h l a n d , u n d nach
seinem U r t e i l h a b e ich n i e a u f g e h ö r t z u f r a g e n , m o c h t e ich es a n e r k e n n e n
o d e r mich d a g e g e n a u f l e h n e n . D e n n w i r h a b e n m a n c h e n s c h a r f e n K a m p f
g e k ä m p f t , u n d noch in e i n e m seiner l e t z t e n B r i e f e a n m i d i stehen d i e
W o r t e : „ D o c h d a s ist ein z u w e i t e s F e l d , u n d w i r w ü r d e n a n e i n a n d e r u n d
schließlich a u s e i n a n d e r k o m m e n , w a s G o t t v e r h ü t e . "
Epigrammata

i. Greeting to the Association composed by Paul Friedlaender, of


Berlin, Germany, who was present at the meeting (from The Classical
Association of New-England Thirty-third Annual Bulletin, 1938).
XaÎQEte ti(.ICÔVTËÇ NEOI A r T A I O I 'EXXctôa KOIVT)V
TT)V V.ai êiiol JtâxQriv, AYYZ'LAI èooonévoi
'EX/.r|vo)v y.àllovg v. ai à/.r|ôeiriç iOTOcprjTai,
awtovteç "/.9'uaÉTlvj ZEC cpiXE, ÈXEuÔE<Hr|v.

2. Dedication of DOCUMENTS OF D Y I N G P A G A N I S M Univer-


sity of California Press 1945.
To my wife
CHARLOTTE
whatever I write is dedicated
Koivocpûoûç PLOTOU '/.«oiTi'iaia aoi ZUBE y . E u a t '

'Eaxir| EÀT]-/OI ar\i qDL>.ir]L XEcpaXrji.

3. Dedication of
EPIGRAMMATA
Greek Inscriptions in Verse.
University of California Press 1948.
' H [xé KOX' E^peopag xai eyeivao oaig èv àpoiiQaig
E E D Ù V jtoXicov aajv évi xaQ^ocróvaig

1") LIE T8T)v q)covr)v è6iòà|ao Y.ai aéo Moxiaag


• / . a i FF&EA TOJV TCQOTEQMV ' f | g V.EV ù j t E p f t a v É E i v

a8oi J I É X E V E ? X A Q I ' viiv XSÓNECRDA


M o i p a i g EL TO

Sàv.Qua xai Xoip-qv jtatQÌSi tf|i TÒ jtàXai.


Paul Friedländer: Publikationen

Die mit * bezeichneten Titel finden sich in dieser Ausgabe.

1905

1. Argolica. Quaestiones ad Graecorum historiam fabularem pertinentes. Diss.


Berlin 1905. 96 S.

1907
2. Herakles. Sagengeschichtliche Untersuchungen. Philologische Untersuchungen
X I X . Berlin 1907. 185 S.
*}. Z u m Plautinischen H i a t . Rheinisches M u s e u m L X I I , 1907. S. 7 3 - 8 5 .

1909

''4. Z u r Entwicklungsgeschichte griechischer Metren. H e r m e s X L I V , 1909, S. 3 2 1 - 3 5 1 .


Persona. G l o t t a II, 1909, S. 1 6 4 - 1 6 8 .
^6. Z u r Frühgeschichte des argivisdien Heraions. Archäologisches Institut, Athenische
Mitteilungen X X X I V , 1909, S. 69-79.

1912

7. Johannes v o n G a z a u n d Paulus Silentiarius. Kunstbeschreibungen Justinianischer


Zeit. Leipzig, Berlin 1 9 1 2 . 3 1 0 S. N e u d r u c k in V o r b e r e i t u n g , Hildesheim 1968.
*8. Die C h r o n o l o g i e des N o n n o s v o n Panopolis. H e r m e s X L V I I , 1 9 1 2 , S. 4 3 - 5 9 .
*9- P r o m e t h e u s - P a n d o r a und die Weltalter bei Hesiod. Zeitschrift f ü r das G y m -
nasialwesen L X V I , 1 9 1 2 , S. 802-803.
10. E n t w i c k l u n g des C h o r e s in der nacheuripideisdien Tragödie. Zeitschrift f ü r das
Gymnasialwesen L X V I , 1 9 1 2 , S. 806-808.

1913

*II. YnOQHKAI (Hypothekai), Hermes X L V I I I , 1913, S. 5 5 8 - 6 1 6 . I Hesiod,


S- 5 5 8 - 5 7 2 (Neudruck in „Wege der Forschung" X L I V , Hesiod, Darmstadt 1966,
S. 2 2 3 - 2 3 8 ) ; I I Theognis, S. 5 7 2 - 6 0 3 ; I I I Demokrit, S. 6 0 3 - 6 1 6 .

1914
Ä
'i2. Kritische Untersuchungen zur Geschichte der Heldensage. Rheinisches Museum
L X I X , 1 9 1 4 , S. 2 9 9 - 3 4 1 .
s:
'i3. D a s P r o o e m i u m der Theogonie. H e r m e s X L I X , 1 9 1 4 , S. 1 - 1 6 . (Neudruck in
„Wege der Forschung" X L I V , Hesiod, Darmstadt 1966, S. 2 7 7 - 2 9 4 ) .
684 Paul Friedländer: Publikationen

14. Die Anfänge der Erdkugelgeographie. Jahrbuch des Deutschen Archäologischen


Instituts X X I X , Zweites H e f t , 1914, S. 98-120.
15. Rez. von: Wolf Aly, Hesiods Theogonie mit Einleitung und Kommentar, Heidel-
berg 1 9 1 3 . Sokrates, Zeitschrift f ü r das Gymnasialwesen, Neue Folge, II. Jahr-
gang, 1 9 1 4 , S. 288-290.
16. Rez. von: Adolf Römer, Homerische Aufsätze. Leipzig, Berlin 1914. Deutsche
Literaturzeitung 42/43, 1 9 1 4 , Sp. 2264-2268.

1921
17. Der Große Alcibiades. Ein Weg zu Plato. (Erster Teil) Bonn 1 9 2 1 , 51 S.
*i8. Rez. von: U. von Wilamowitz-Moellendorff, Griechische Verskunst. Berlin 1921.
Deutsche Literaturzeitung 30/31, 1 9 2 1 , Sp. 409-416.

1922
19. Die Aufgaben der klassischen Studien an der Universität. Aus: Schule und
Leben, H e f t 6, Berlin 1922, S. 2 1 - 3 4 .
:;
"20. Rez. von: August Oehler, Der Kranz des Meleagros von Gadara. Auswahl und
Übertragung. Berlin 1920. Deutsche Literaturzeitung 29, 1922, Sp. 623-627.

1923
21. Der Große Alcibiades. Ein Weg zu Plato. (Zweiter Teil: Kritische Erörterung)
Bonn 1923, 68 S.

191$
''22. Die griechische Tragödie und das Tragische. Die Antike I, Berlin 1925. Erster
Teil, S. 5-35. Zweiter Teil, S. 295-318.

1926
~"23. Die griechische Tragödie und das Tragische. Die Antike II, Berlin 1926. Dritter
Teil, S. 7 9 - n 2.
"'24. Rez. von: Altionische Götterlieder unter dem Namen Homers, deutsch von
R . Borchardt. München 1924. Gnomon II, 1926, S. 344-349.

1927
2$. Zur Geschichte des Altphilologischen Seminars. Festschrift „Die Philipps-Uni ver-
sität zu Marburg 1 5 2 7 - 1 9 2 7 " , Marburg 1927, S. 695-701.

1928
26. Piaton. Band I : Eidos, Paideia, Dialogos. Berlin 1928. 278 S.
27. Die Entdeckung der Erde durch die Griechen. (Festvortrag, gehalten anläßlich
der Hauptversammlung am 1. Juli 1928. Mitteilungen, Universitätsbund, Mar-
burg, N r . 21, 1928, S. 23-30.)
Paul Friedländer: Publikationen 685

1929
Retractationes I. Hermes LXIV, 1929, S. 376-384. 1: De fine Odysseae. 2: De
Homeri Hesiodique Certamine. 3: In Ardiilochi frg. 67 a. 4: In Ardiilodii frg. 74.
5: In Sapphus c. 2, 9. 6: De Tyrtaei Eunomia. 7: In Solonis c. 1. 8: In Calli-
machum O x . 2079.

1930
29. Piaton. Band II: Die platonisdien Schriften. Berlin 1930. 690 S.

1931
30. Vorklassisch und Nachklassisch. (Vortrag gehalten auf der Fachtagung der klas-
sischen Altertumswissenschaft zu Naumburg 1930.) In: Das Problem des Klassi-
schen und die Antike, herausgegeben von W. Jaeger, S. 33-46. Neudruck Stutt-
gart 1961.
*3i. Rez. von Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby. Pars I: Theogonia. Berlin 1930.
Göttingisdie gelehrte Anzeigen 1931, S. 241-266. (Neudrude in „Wege der For-
schung" X L I V , Hesiod, Darmstadt 1966, S. 100-130.)

1932
"•32. Retractationes II. Hermes LXVII, 1932, S. 43-46. 9: De Lucreti vv. 144-49.
10: De prooemio Lucretiano. 11: Lucr. I 758.
i 33. Statius: An den Schlaf. Die Antike VIII, Berlin 1932, S. 215-228.

*34. Aristophanes in Deutschland, Erster Teil. Die Antike VIII, Berlin 1932,
S. 229-253.

1933
*3$. Aristophanes in Deutschland, Zweiter Teil. Die Antike IX, Berlin 1933,
S. 81-104.

1934
*36. Lachende Götter. Die Antike X, Berlin 1934, S. 209-226.
''37. II0XX& TOI öeiva (Polla ta deina). Hermes L X I X , 1934, S. 56-63.
"•38. Rez. von: Die Dionysiaka des Nonnos, deutsch von Thassilo von Scheffer. Mün-
chen. Bd. I, 1929. Bd. II, 1933. Deutsche Literaturzeitung 1934, Sp. 683-687.
39. Rez. von: nXd-rcuvog Svjwöaiov, Ksl|jevov, ^ETdqppaoi; xai igfiryvEia ünö
'I. SuxoiJTgT]. Piatons Symposion. Text, Übertragung und Erklärung von
J. Sykutris. Athen 1934. Göttingische gelehrte Anzeigen 1935, Nr. 9.
*40. Die Melodie zu Pindars Erstem Pythisdien Gedicht. Berichte über die Verhand-
lungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-
historische Klasse, L X X X V I , 4. Heft, 1934, S. 1-53.

»935
"'41. Pindar oder Kircher? Hermes L X X , 1935, S. 463-472.
*42. Zur N e w Yorker Nekyia. Archäologischer Anzeiger, 1935, Sp. 20-33.
686 Paul Friedländer: Publikationen

1937
*43. Athanasius Kirdier und Leibniz. Ein Beitrag zur Geschichte der Polyhistorie im
X V I I . Jahrhundert. Rendiconti della Pontificia Accademia Romana die Archeo-
logia X I I I , 1937, S. 229-247.

1938
*44. Geschichtswende im Gedicht. Interpretationen historischer Epigramme. Studi
italiani di Filologia Classica X V , 1938, S. 89-120.
::
"45. ALç x a l tqÎç tò xaXóv (Dis kai tris to kalon). Transactions of the American Philo-
logical Association L X I X , 1938, S. 375-380.

1939
46. Spätantiker Gemäldezyklus in Gaza. Des Prokopios von Gaza Ekphrasis Eikonos.
(Studi e testi della Biblioteca Vaticana 89) Città del Vaticano, 1939. 120 S. Neu-
druck in Vorbereitung zusammen mit Johannes von Gaza und Paulus Silen-
tiarius, Kunstbeschreibungen Justinianischer Zeit, Hildesheim 1968.
"'47. The Epicurean Theology in Lucretius' First Prooemium. Transactions of the
American Philological Association L X X , 1939, S. 368-379.

1941
"'48. Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius. American Journal of Phi-
lology L X I I , 1941, S. 16-34.
,:
"49. Plato Phaedrus 24$ A. Classical Philology X X X V I , 1941, S. 5 1 - 5 2 .

1942
,:
'5o. A New Epigram by Damagetus. American Journal of Philology L X I I I , 1942,
S. 78-82.
* S i . Heracliti fragmentum 124. American Journal of Philology L X I I I , 1942, S. 336.
;:
'52. Rez. von: Fr. Solmsen, Plato's Theology. Ithaca, N e w York 1942. The Philosophi-
cal Review LII, 1942, S. 507-509.

1944
53. The Greek behind Latin. Classical Journal X X X I X , 1944, S. 270-277.

1945
*54. Documents of Dying Paganism. Textiles of Late Antiquity in Washington,
New Y o r k , and Leningrad. University of California Press, Berkeley, Los Angeles
1945. 66 S.
55. Socrates enters Rome. American Journal of Philology L X V I , 1945, S. 337—351.
Jetzt als „Sokrates in Rom", Piaton 2 , Bd. I, Kapitel X V I I , 1954; Englische Aus-
gabe, Plato, Bd. I, Kapitel X V I I I , 1958; Platon3, Bd. I, Kapitel X V I I I , 1964.
Paul Friedländer: Publikationen 687

j 6. R e z . v o n : W . E. L e o n a r d and S. B. Smith, T . Lucreti C a r i D e rerum N a t u r a -


Introduction and C o m m e n t a r y . U n i v e r s i t y o f Wisconsin Press, Madison, 1942.
A m e r i c a n Journal of P h i l o l o g y L X V I , 1945, S. 318-324.
*57. R e z . v o n : Richard Robinson, Plato's Earlier Dialectic. Ithaca, N e w Y o r k , 1941.
Classical P h i l o l o g y X L , 194$, S. 253-2J9.

1948

58. E p i g r a m m a t a . G r e e k Inscriptions in Verse f r o m the Beginnings to the Persian


Wars, w i t h the collaboration of H . B. H o f f l e i t . U n i v e r s i t y of C a l i f o r n i a Press,
B e r k e l e y and Los Angeles, 1948. 198 S. *
59. Rez. von: P i n d a r i Epinicia edidit A l e x a n d e r Turyn. American Journal of
P h i l o l o g y L X I X , 1948, S. 2 1 4 - 2 1 7 .

1949

60. Structure and Destruction of the A t o m according to Plato's Timaeus. U n i v e r s i t y


of C a l i f o r n i a Publications in Philosophy X V I , 1949, S. 225-248.

1952

*6i. Erinnerung an G e o r g Loeschcke. Bonner Jahrbücher C L I I , 1952, S. 1 3 - 1 6 .

1953
•'61. R h y t h m e n und Landschaften im zweiten Teil des Faust. W e i m a r 1953. 114 S.

1954
63. P i a t o n . B a n d I : Seinswahrheit und Lebens Wirklichkeit. 2. A u f l a g e , Berlin 1954.
390 S.

1957
64. P i a t o n . B a n d I I : D i e platonischen Schriften. Erste Periode. 2. A u f l a g e , Berlin
' 9 5 7 - 33$ S.

1958

65. P l a t o . V o l . I, A n Introduction. Translated f r o m the G e r m a n b y H a n s M e y e r h o f f .


Bollingen Series L I X 1, Pantheon Books, 1958. 422 S. 2. korrigierte und ergänzte
A u f l a g e in Vorbereitung, Princeton U n i v e r s i t y Press, 1968.

1959
'•66. Noch einmal zur Echtheit der Pindar-Melodie. Hermes LXXXVII, 1959,
s . 385-389-
67. Adnotatiuncula«:
*i. D i e Melodie zu Pindars erstem pythischen Gedicht. A l s N o . 66 in diesem
Band.
688 Paul Friedländer: Publikationen

*2. Hestia Polyolbos (jetzt eingearbeitet in „Documents of Dying Paganism").


Hermes L X X X V I I , 1959, S. 389-392.

i960
68. Piaton. Band I I I : Die platonischen Schriften. Zweite und dritte Periode. 2. Auflage,
Berlin i960. 533 S.
*69- Akademische Randglossen. In: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken
(Festschrift für H.-G. Gadamer zum 60. Geburtstag), Tübingen i960, S. 3 1 7 .

1963
70. Plato. Vol. I, A n Introduction. Translated from the German by Hans Meyerhoff.
Harper Torchbooks, Harper and Row, 1963.

1964
71. Piaton. Band I : Seinswahrheit und Lebenswirklichkeit. 3. Auflage, Berlin 1964.
438 S.
72. Piaton. Band I I : Die platonischen Schriften. Erste Periode. 3. Auflage, Berlin
1964. 358 S.
73. Plato. Vol. II, The Dialogues, First Period. Translated by Hans Meyerhoff.
Bollingen Series L I X 2, Pantheon Books, 1964. 389 S.

1968
74. Plato. Vol. III, The Central and the Late Dialogues (Second and Third Period).
Translated by Hans Meyerhoff. Bollingen Series L I X 3, Princeton University
Press, 1968.
75. Plato. Vol. I, A n Introduction. Translated from the German by Hans Meyerhoff.
2nd revised and augmented edition. Princeton University Press, 1968.
Register
Neuzeit: Autoren- und Sachregister

Abert, H . 397; 419s 9 Boeckh, A. 184; 188 f.; 4 1 1 f.; 413 f.;
Alanus ab Insulis 647 42670, 72; 4 3 7 ; 4 4 é

Alfieri, V. 578 für Echtheit der Pindarmelodie 395


„All Alle" 614 Bogner, H . 246; 249
Aly, W. 68 ff.; 2654 Boileau $48; 605
Ambros 396; Boisserée 640
empfindet „edle Einfalt und stille Borchardt, R. 59 ff.
Größe" in der Melodie zu Pindar Borgese, G. A. 629 f.
Pyth. I 457 Brinkmann, R . 206 1
Ambrosius (Heiliger) 647 Bruhn, E. 1896
Ariel 584 f.; 588; 591 ; 627; 641 ; 643 Brunck, Ph. 544
Auerbach, E. 578 Buecheler, F. 3 1 3 ; 324; 4 9 J 2 3
Bulle, H . 473
Burdach, K . 630 66
Baruzi, J., zu Leibniz und den Busolt, G. 315
Jesuiten 659
Baudelaire 109
Bekker, I. 237 1 Calderon 1 7 5 ; 555
Belger, C. 473 Caliari, C. (Altarbild in Venedig, viel-
Beloch, J . 2 3 8 ^ 29883 leicht in Goethes Erinnerung) 644
Bentley, R . 334 Chamisso 575
Bergk, T. 3 1 5 " f. Chateaubriand 246
Bergson, H . 6 Cobet 314
Bernays, J . 3 0 0 ^ ; 340 8 Comenius 582
Bernhardy 252* Corneille 108
Berve, H . 315 Croce, B. 632; 644 f.; 649
Birt, T. 2 5 82' Crusius, O. 42 j 6 7

Anmerkung zum Register


Paul Friedländer, der am 10. Dezember 1968 starb, konnte leider dieses Register
nicht mehr selbst machen oder auch nur beratend mir zur Seite stehen. So fiel mir die
Aufgabe zu und damit die Verantwortung für das Resultat.
Vollständigkeit war unerreichbar, und eine Auswahl war daher notwendig. Es ist
versucht worden, das Wichtigste zu geben, gelegentlich wohl auch etwas, das einem
speziellen Interesse entgegenkam. Das Resultat ist also unvermeidlich subjektiv und
mithin anfechtbar. Kurze Erklärungen wurden gelegentlich gegeben, um das Suchen zu
erleichtern; ausführliche Analysen waren nidit möglich.
Ich möchte hoffen, der Index gibt dennoch eine Andeutung des Umfangs des Feldes,
der Mannigfaltigkeit der Themen und zugleich der Fülle des Wissens, die aber nie
Selbstzweck ist, sondern der Klarheit des wissenschaftlichen Gedankens dient.
Zuletzt möchte ich Herrn Professor Dr. Hermann Fränkel (Stanford) für seine Durch-
sicht dieser Arbeit danken und Herrn Professor Dr. Herbert Hoffleit (Los Angeles) für
immerbereiten Rat in vielen Einzelheiten.
Charlotte Friedländer
692 Neuzeit: Autoren- und Sachregister

Curtius-Adler 2538 Gaddi, Angiolo 504


Curtius, E. R . 578 Galilei, Vincenzo (über antike und
zum Faust 594 moderne Musik) 402 f.
Gebet: seine Formen, antike und
Dante 129; moderne 646 ff.
„Rhythmen und Landschaften im zwei- Gevaert (zu Pindar Pyth. I) 396
ten Teil des Faust" 572-652 passim Gildersleeve 2 1 0 2 . 3
Inf. I 586 Giotto 579
Inf. I X , 62 582 (Dante und Goethe Giussani, C. 3 39 4 fl.
zum. Geheimnis) Goethe
Inf. X I , 80, 101 579 1 6 (Aristoteles' Annalen (1801): Urteil über Tasso,
Ethik und Physik) Ariost, Dante 579
Inf. X I , 97 579 zur Achilleis 248
Purg. V I I I , 19 582 zu Aristophanes 537 ff.; 543; 545 ff.
Purg. I X , X X V I 586 Concerto Dramatico - Tempo
Purg. X X I 354 if. (Begegnung giusto- 586
Vergils mit Statius) Dante Ausgabe Goethes 573
Purg. X X V I I 588 f. Verhältnis zu Dante 5 7 7 8 " 1 1 f.
Brief an Can Grande della Scala: dort Inf. I 586
nennt Dante sein Werk „polysemum" Inf. I X , 62 582
(dasselbe für Goethe gültig) 642; Inf. X I , 97 579
6 52 Inf. X I I 626 (ein Teil von Goethe
Deecke zu tpersu auf Wandgemälde einer übersetzt)
maskierten Gestalt beigeschrieben 321 Inf. X X , 55 fr. 618 f.
Delahaye 2 5 1 ; 255 1 6 Purg. V I I I , 19 582
Delbrueck, R . 49 5 22 - 2 3 Purg. I X , X X V I 586 f.
Deutsch, R . E. 337 ff. zu Egmont 364
Diehl, E. 2 4 0 s ; 3 i 5 Endgericht über Faust 644
Di£s, A . 201 zu Euripides 154; 170; 176
Dieterich, A. i y 6 i 2 Fausts Monologe 574 f.
Dilthey.W. 158 Die Geheimnisse 63 5
Werden der Individualität 669 1 1 Gedächtnisrede auf Wieland 546 f.
Dörpfeld 2 5 3 ^ 7 4 Götter, Helden und Wieland 537
Dreizahl im religiösen Leben: „Kult- an Humboldt zur Agamemnon-
dreiheit" und „Gebetsdreiheit" 276 Obersetzung 1 1 6 ; 1 1 9 ; 1 2 3 ; 126
Droysen, J . G. (beste deutsche Aristo- Hymnus auf Eros 619
phanes-Übersetzung) 531:563-571 Kabiren 595
du Bartas 602 Kantate (Apollon und Dionysos)
Duccio 496; 503 616 f.
zu Athanasius Kircher 395; 400; 532
Ehrenberg 31 y s Kurzverse im Faust 631 f.
Ellger 69* Manto: griechischer Mythos
Erman, A . 451 geändert 618
Ernout, A. 339 if. Niebuhrs Brief 107 f.
zu Nonnos 246
Ficino, Marsilio 5 8 2; 672 zu Palladio 540, 572
Finlay 478 Pausen der Nacht (Vigiliae) 591 f.
Fraenkel, Ed. 349 24 Platonische Bewegung zum Licht 582
Frank, E. 4 1 9 » Prometheus 113
Fränkel, H . 314 „Rhythmen und Landschaften im
Frischlin, Nicodemus: Aristophancs ver- zweiten Teil des Faust" 572-652
wandter Geist 532 Schillers Reliquien 573 ff.
Fuchs, R . 2061 zu Sophokles 145; 149
Furtwängler, A . 473; 479
Neuzeit: Autoren- und Sachregister 693

Vermächtnis altpersischen China . . . illustrata 399


Glaubens 6 35 Lingua Aegyptiaca restituta 443
Gombosi, Fr. 615 Magnes sive de arte magnetica ...
Grammont, M. 343 1 5 f. 399
Gundolf, F. 548; 594; 6 1 5 ; 6 1 7 Musurgia Universalis 395; 398;
400 ff-447 passim; 663; 671 f.
Hamann, J . G. 13 Turris Babel 3995666
Aristophanesverständnis in Deutsch- „Athanasius Kircher und Leibniz"
land 532 ff. 655-672
Hamel, F. - Hürlimann, M.: die Pindar- Kirchhoff, A. 21IO; 86
melodie als einziges Beispiel grie- „Kleinliedertheorie" 2641'2
chischer Musik 397 Klaffenbach, G. 237 ff.
Hauvette 3 1 3 Kleist 108
Hegel: „Es ist die Ehre der großen Klotz, A. 46526 f.
Charaktere, schuldig zu sein" 108; Köhler, R . 250
zur Antigone 144 f.; 579 Kranz, W. 2 1 2 I ; 2 7 6 "
Herder 87; 242
Hermann, G. 4 1 7 Lachmann, C. 329
Goethe und Schiller durch sein Buch in Lactanz 17
griechische Metrik eingeführt 606 Lange, J . 214s
Hoffmann, O. 264 Lasserre, F. 314
Hofmannsthal 5 71 Latte, K . 440
Hölderlin Law, John 600
zum ödipus 108; 142; 143 f. Lehrs, K . 2 5 4 " ; 266?
zur Antigone 188; 245 Leibniz 655-672
zum Archipelagos 248 Leo, F. 266 s ff.; 268 f.; 349 2 4 ; 459 ff.
Humboldt, W. v. Lessing: Charaktere der Komödie seien
Ubersetzung des Agamemnon 122; nicht individuell 536
606 Leutsch, E. L. - von Schneidewin, F. W.
Beschreibung des Montserrat 643 f. 207
Hunt 318 Lobel, E. 314
Huxley, Aldous 629 s 5 f. Loeschcke, G. 677-680
Hypsistarier 640 Lubinus (Eilhart) 249
Ludwich, A. 2502; 2 5 1 s ; 2 5 4 1 3 ' 1 5
Immisdi, O. 313

Jacobs, Fr. 2382 Maas, P. 79 2 6 ; 2 1 2 1 ; 250; 252?; 3 1 4 ;


Jacobsohn 4 5 9 1 ; 4 6 3 1 5 ; 4652 s 41958; 437; 4 4 o
Jacobsthal, P. 481 Mann, Thomas 572
Jacoby, F. 8 1 - 1 0 4 Marcellus, Comte de 246; 249
Jacopone da Todi 637 Marlowe Einwirkung auf Goethe 603 ff.
Jaeger, W. 192; 240 s Marullus 3255329
Jean Paul 18 McDiarmid, J . B. 214
Jebb, S i r R . 183; 189; 1 9 1 ' Meineke, A. 252*
Joel, K . 191 Merritt, B. D. zu Kritios 215
Meyer, Ed. 264 1 ; 298 s 3
Kaibel, G. 240 6 ; 275; 4 9 j 2 3 Montserrat 634 (cf. Humboldt)
Kant 605 Morey, Ch. R . 490«; 4 9 j 3 2 ; 50652
Karstedt, U. 315 Mörike 245
Kavvadias 476 Mountford, J . F. 445; 448 ff.
Kircher, Athanasius 395-446 (Die Echt- Müller-Blattau 437
heit der Melodie zu Pindar Pyth. I) Müller, Otfried 26; 69
Ars magna lucis et umbrae 400 ff.; Müller, Kanzler von 5 7 3 : 6 1 2
44S ff.; 66z f. Munro, H . A. J . 339 ff.
694 N e u z e i t : Autoren- und Sachregister

Newton 13 Sachs, C . 396


N i e b u h r : an G o e t h e 107 Santayana, G. 632
Nietzsche 1 6 ; 2 6 7 s ; 306; 2 8 3 s 4 ; 562; 571 „Scala M a g n a " des S a m a n n ü d i 444
G o e t h e und das Dionysische 615 Sdieffer, T h . von Übertragung der
Norden, E. 7 1 ' ; 266* Dionysiaka des N o n n o s 246 ff.
Schelling 4 ; 579
Notopoulos, J. A. 193
Schiller 90; 545 f . ; 5 7 2 ; 5 7 6 ; 6 0 5 ; 6 1 6
zu Oedipus Rex 141
Oehler, August 242 ff. zu Trachinierinnen 151
Ordnung 626; 629 Schlegel, A . W . 5 5 5; 5 7 5 f . ; 6 0 7 «
Orientalisches K o s t ü m in der Tragödie K r i t i k des Euripides 154
175 Prometheus 572
Otto, W. F. 246 Sdilegel, F. 86; 5 4 5 ; 552 ff.; 606; 6 1 7
O u w a r o f f (cf. U w a r o f f ) 246; 26032 D i e alte K o m ö d i e und „Universal-
poesie" 554 f.
Schlosser, J . G . : übersetzt „Die Frösche"
Pasquali, G . 68 544
Pearson, A . C . 189 Schmid, Erasmus, Kircher benutzte seine
P e i r c e - T y l e r 488*; 490» Pindar-Ausgabe 409; 4 3 7 ; 449
Peircsc 4455443 Schroeder, O . 1 8 3 ff.; 395 ff.; 427™
Pfeiffer, R . 3 1 7 f. Schütz, C h . G . 545
Platen 2 4 5 ; 558 fr. Seeck, O . 2513.4
Aristophanes als Wegweiser zu einem Shaftesbury 582
Nationaltheater 560 f. Shakespeare 107; 109; 1 2 7 ; 129; 132;
Pohlenz, M . , Scholion zu Callimachus 1 5 2 ; 1 6 4 ; 1 7 5 f . ; 1 8 2 ; 3 6 4 ; 584 ff.; 6 1 3
O x y r . 2079 bestätigt die I n t e r p r e t a - Shorey, P . 194
tion 318 Skutsch, F . 3 2 1 ; 3 2 2 ; 3 2 3 s
P o r t - R o y al 156 Solmsen, F r . 203-205
Poussin 6 1 1 f. Steindorff, G . 4 5 1 ; 544
Premerstein, A . v. 25310 Stern, D a n i e l (Marie de F l a v i g n y C o m -
Prutz, R . 569 ff. tesse d'Agoult) 5775581
Streckfuss, K . 5 7 3 ; 575 u. passim bis 652
Swedenborg 641
Racine 108;
zu Phedre 154
zu Andromaque 172 Terzinen 572
Radermacher, L . 2061 männliche und weibliche R e i m e :
R a f f a e l , Transfiguration 159; A . W . Schlegel, Rückert,
Galatea-Gemälde 6 3 5 ; Disputa 644 Kannegiesser, Streckfuss 575
R e i n h a r d t , K . 2 0 7 s ; 3 1 6 ; 5 9 5 ; 599 zuerst Reimwechsel, dann durchweg
Reitzenstein, R . 2 5 5 1 8 ; 240; 2 8 7 6 5 weibliche R e i m e : Chamisso 575 f.
Rickert, H . 630 6 6 durchaus weibliche R e i m e : Clemens
Riemann, H . 396 Brentano 576; Goethe 575;
R i t u a l e R o m a n u m : die Formel „ S i c u t " Stefan George 575
2 7 7 f. Thomson, G. A. K . 193
Robert, C. 692
Robinson, R . 193-202 Usener, H . 206I; 2 7 6 ; 2 8 7 «
R o m e , A. 4 2 6 ^ ; 4 4 5 ; 4 5 1 6 ; 4 3 7 ; 4 4 1 ? U w a r o f f (cf. O u w a r o f f ) 2 4 6 ; 26032
für Unechtheit der Pindarmelodie Uxkull-Gyllenband, Graf 1918
397
Rostagni, A . 318
Rüdkert, F r . 3 4 9 2 3 ; 5 56 ff. Vico, G. 125578
Terzinen 575 Voss, I. 3 1 4 ; 329
Rzach, A . 27323 Vulkanismus u. Neptunismus 626 f.
Neuzeit: Autoren- und Sachregister 695

Wahl, J. 201 „Griechische Verskunst" 453 ff.


Waldstein, zum Heraion 477 f.; 4801 „Der Choriambische Dimeter" 455
Weltker, F. G. 34; 93; 294«; 555; 283M Wilhelm, A. 2406
Werfel, F. 163 Winckelmann 140; 149; 176 f.
Westphal, R. 395: 4*4: 457 Wolf, F. A. JJ5 f.
Wieland 548 ff. Textgeschidite des alten Epos 82
Goethes Gedächtnisrede auf Wieland Wolff, E. - Petersen, C.: unbedingtes Ein-
,46 f. treten für die Echtheit der Pindar-
Götter, Helden und Wieland 357 f. Melodie 397
Wilamowitz-Moellendorff, U. v. 12; Wölfflin, E. 343«
2213; 24 23,24; 3 243 ; 39=4; 53 f.; 68; Wolkensystematik (Goethe) 625 f.
183 ff.; 188; 213 f.; 248; 250; 253';
269 14 ; 275». 31; 292^; 298M; 3132;
3IJS Zimmer, H. 10
69 6

Antike: Autoren- und Sachregister

Achmim-Panopolis 493; 500 XIII 11 376


Agathias 250; 262 X I I I 28 37817; 3 7 9
Aia-Kolchis 19 ff. Anthologia Planudea zu Damagetus I 1
Aeschylus 13 238
Agam. 1 1 6 ff. Antipater (Anth. Pal. V I 219, 19 f.)
Choeph. früheste „Erkennung" in 524 f.
Tragödie 124 ff.; 188; 190; 585 ff. Anukis 493
Eumen. 129 ff.; Gründung der Polis; Anyte 244
Übergang in die heiligen Ordnun- Apollodorus 43
gen des eignen Daseins gibt Tra- I 143 24; I I 123 4839
gödie ihren letzten Sinn 177 fr. I I I 63 46
Religiosität des Aeschylus, Sophokles, Apollonius Rhodius
Euripides 178 I 1078 ff. 521 (Cybele Rhea)
Latus 1 1 4 f. I 1 1 0 2 518 (Cybele 8ewt) deog)
Oresteia 1 1 5 ff. II 513 mit Schol. 2625
Pers. i n f.; 1 1 4 ; 226 f. Sdiol. II 653 262«
Prometh. 1 1 2 ff.; 120 II 955 f. 219
Die Lösung des Prometh. 1 1 4 ff. Schol. I I I 87 24
Sept. 112 Sdiol. I I I 242, Schol. IV 59, 86 2320
Alkmaionis 42 ff. I I I 744 3 5 8 f. (Medeas Schlaflosig-
Alkman 358 keit)
Ambivius Turpio (an Terenz geschulter I V 1 1 5 3 f. 3 2 5 3 2 « , «
Schauspieler): Tendenz den Hiat zu ürc6pdr)TO? Sparta übernimmt das stolze
glätten 469 Beiwort Athens 227 f.
Ammonios: vielleicht Verfasser des Epos Apostolius 207 4
„Gainia" 255 f.; 262 Archelaos 191
Ammonius: Grammatiker 318 Ardiilochus frg. 6 7 a 3 1 3 ; frg. 74 3 1 3 f.
Anaklasis 394 Aristonoos 7 1
Anakreon 2835456 Aristophanes 13 ff.; 16 f.; 206
Anaxagoras 1 9 1 ; 338 Ach. 1000 221
Andocides 3 1 3 Aves 448 1 4 ; 221
Andronicus 462 AaitaXfjg Parodie des Knabenunter-
Anthologia Palatina richts 275
I 10 2J3W Nttbes 263 ff. 276
V I $ 1 , 173,3 f., 219,18, 220,2 $25 Hubes 300 228
V I 219,19 f. 524 Ranae 371 ff. 276, Thesm. 1 1 6 3 ff. 276
V I I 226, 242, 255 229 Vesp. 804 ioo
V I I 335, 452 231 archaischer Stil 2 8 1 s 0
V I I 24 5 233 zur Kult- und Gebetsdreiheit 276
V I I 2 3 1 , 432, 438, 541 238 „Aristophanes in Deutschland"
I X 1 3 6 2 5 1 ; 2J4 53I-571
I X 6 5 6 253 Aristophanes von Byzanz 82;
I X 8 254 athetierte Xiooivog 'Yjtoöfjxai 274
I X 3 6 2 253 Aristoteles 93
I X 808 254 Definition des „Lächerlichen" 6
XI193 317 nennt Sinope Tochter des Asopos: dies
Antike: Autoren- und Sachregister 697

spricht für eine milesisdie Vorlage Bakchylides 50; 234; 369


des Eumelos 20 X V (zu Deianeira) 48
zur Tragödie 1 1 0 ; Definition 170; V 1 1 7 f. (zu Ankaios) 50
die 3 Tragiker 170 V (zu Meleagros) 483 f.
„Conversation is actually more liable
frg. 20 b (an die Leier) 4Z6 73
to error than solitary thought" Brygos: Schale stellt Heroen- und Silenen-
{De Sophist. Elenchis), quoted by welt dar 14
Robinson 196
Robinson: „God is either mind or
Caesar 588
something beyond mind" (frag. 49,
Callimachus 244
Rose) 200
Oxyr. 2079 3 1 7 f.; 524
als Hörer in der Akademie 212
Catullus
Athen, Pol. 20, 1 : Deutung der Tat des
LXIII84 517
Harmodios und Aristogeiton als
LXIII7 522
Tyrannenmord eine politische Tat
L X I I I 28 f. 524 f.
2168
L X I I I 23 525
Athen. Pol. 1 2 : Theognis' Distichon
Chiron Xtgtovo; 'Yjtodfjxai nicht von
ähnlich für Solon überliefert 288
zu Tyrtaeus' Eunomia 315 Hesiod 274
notwendige Teile eines Prooemiums Christodor 253; 261 ff.
326 Chronos 234 f.
zu ävaßuniüadai 3$3 Sophokles Frgg. 280 N 2 , 832 N 2 234
Politik (I, 2, 1253 b) zu Haus und C f . auch s. v. Stobaeus, Vorsokratiker
Staat 189; (1340 a 18) Rhythmen und Cicero 348; 467; 605
Melodien bilden Ethisches ab 419 Claudius Claudianus aus Alexandria
Probleme (919 b 26 ff.) Melos hat auch 258 ff. (Vergleich mit Nonnos)
allein Ethos 419 Constantin 503
Wesen der Komödie 534 Contorniati 516
Ethik, Physik II 2: zu Goethes Lektüre Coptische Kirche in Baouit 489
von Dante, Inf. X I 80, 101 (Akad.- Cory ban ten j 16 ff.
Ausg. 194 a 2 1 ) 579 1 6 Cureten 341 f.
„Der Erste Beweger" 653 Cybele 5 1 0 - 5 2 7
Rhetorik I I I c. 1 7 3 1 3 Bronze-Statuette aus Syrien 51 z15
Vita in Codex Marcianus 212 neuplatonische Interpretation der
Aristoxenos 457 Göttin 524
Arkadien 609 ff.
Arnobius 512 Daktylepitrite 369-394 darunter auch:
Asklepiades 244 Asklepiadeus, Enhoplier oder Paroi-
Athenaeus V I I I 364 275; miakon oder Prosodiakon, Enkomio-
X V 681 B (Antiphilos über die logikon, Epitrite, Glykoneion, Hypo-
Spartiaten) 227 dochmios, Iambelegos, Ioniker, ionicus
Athos 634 a minore, Ithyphallikon, ithyphallische
Atellanenspieler: sehr früh maskiert Klausel, Kratineion, Lekythion, Phere-
322 ff. krateion, Platonikon, Reizianum
Attis 5 1 5 - 5 2 7 passim Damagetus 237-241
Kult des Attis 523 ff. Damascius 491
Augustinus 582 Difficulties and Solutions (dnogiai xai
EjuXwmg) II § 283 498
Civ. Dei V I I 24 493; 525
Damon 419; 458
Danai'den- und Iosage 480
Demeterhymnos (Spott der Iambe) 16
Baalbek 489 Demokrit „'Ynodfjxai" 3 0 0 - 3 1 1 ; 337 f.
Babrius 66 f. Form der Feueratome 502
698 Antike: Autoren- und Sachregister

Demosthenes „Kranzrede" §§ 208, 290 Hekataeus von Milet 2 1 ; 302


2
33 Hephaistion 2 1 3 ; 360-394 passim
Diana Aricina $19 H e r a k l i t frg. 124 312
Diodorus 315 Heraion 473-480
Diogenes Laertius 70 H e r o d o r 22
Dionysios der Große, Bischof von H e r o d o t 26; 28; 44 f.; 47; 216; 2 1 9 ; 225;
Alexandrien 300 93 f. 227; 232; 443 (zu „mends")
Dionysius Halicarnassensis 3 4 3 1 5 : 419 Hesiod 23:35:46
Dioscorides ( A n t h . Pal. VI 220, 2) 525 Mythos v o n P a n d o r a und den Welt-
Dioscurides codex 496; 509 altern 65 ff.
Dracontius 2J3' 9 „Prooem. Theog." 68-80
Rez.: Theog. ed. F. Jacoby 81-104
Eris 266
Empedokles 9 1 : 9 3
H e k a t e H y m n u s : (Theog. 4 1 1 - 5 2 )
Frg. 146 D 89
9 9 : 4 9 2 ; Hesiods Sakralstil 265
Frg. 1 1 2 9 1 ; 267
Kalliope : Hesiods Namengebung
Frg. 1 3 1 34112
87 f.; 341
Ennius 327; 345
Homers und Hesiods Wettkampf
E n y o 596 ff.
105 f.
Ephoros 4 3 : 2 2 3
Hestia 488-510
Epicurus 328-336 passim; 337 f.
Hestia, „goddess of the hearth becomes
Epigonoi 34
goddess of the universe"
Epigramme 213-36 cf. Stellenregister
49I-49316
Erichtho 622 ff.
Hesych 237; 313; 318
Eumelos: Korinthiaka beruhen auf mile-
Hippocrates Progn. 1 9 1 ; 96
sischem Epos 19-34
Homer
Euripides 154-182
„Lachende G ö t t e r " 3-18 passim;
Androm. 1 7 1 ff.
34 ff-; 4 5 f-; 49 f-; 57 f-; 91; 9 4 ;
Bacch. 179 ff.
O 699, $ 54 f., 2 12 2 1 4 : 4 8 7 ;
Elec. 166 ff.
E 748 ff. 588 0 16 102 f.
Helena 175
Horaz
Her. 158 ff.
c. II 2,25 231
Hippol. 154 ff.
c. I V i 314
Ion 174; (296) 227
Hypnos i o ; 3 6 o f f .
Iph. Taur. 176
Med. (480 ff.) 27; (264) 3 1 ; 1 5 4 f . ;
(826) 227 Johannes von G a z a 47 7 7 ; 252 ff.; 257:4952
Orestes 175 Beschreibung eines Gemäldes in Gaza
Palamedes 160; 163 523
Phoen. 174 f.; (855) 227 Justinian 253!°; 263; 503
Troad. 160 ff.
Zerstörer der griechischen Tragödie? Kadmos Sage wohl milesisch 23; 27 f.
173 xaAAixoQo? 227 f.
Komik 175 f. Kekropiden 227
Religiosität 178 f. Kleanthes 15
Eusebius 300 Kleine I lias 4 1 ; 48 f.
Kleisthenes 216
Festus: „personata fabula" und die Ein- xoivo; 231
f ü h r u n g der Maske. Stowassers falsche Koluth 253 ff.; 262
Interpretation 321 ff. Kranz des Meleagros 242 ff.; 299 s9
Frontalität 2 1 4 ; 506; 510; 513 f. K r a t i n 380 ff.
Kreophylos 48 ff.; 5 1 ; 53
Galen: I l e p i ipir/.f|(; notdürv 208 Kyprien 40
Gregor von N a z i a n z 250; 403; 438; 441 K y r o s 250 ff.; Verstechnik 254 ff.
Antike: Autoren- und Sachregister 699

Lethe 589 ff. IV 244 525


Leucippus 502 IV183 525
Longinus De sublimitate 605 Metam. I 550 519
Longus 58
Lucan 588; 6 2 2 P a n (leaves sprouting from arms) 518 f.
Lucretius 325 f.; 3 2 8 - 3 5 3 ; 524 f.; 594 P a n d o r a : Hesiods neue Fassung des
Mythos 65 f.; 2 6 7
Macrobius 49316 Parmenides 84; 93
Maecenas 524 f. Pausanias
Medea Ursprung und Entwicklung der I 29, 1 3 226
Sage 19-34 I41 276
Melampodie 293™
II 3 30; II 30 100
Meleagros 5 0 ; 4 8 1 ; 483 f.
V 17, 9 M
Mesomedes 3 7 7 ; 4 0 3 ; 3 9 7 ; 4 5 7
V I I 4, 4 22"
Mimnermus 2 0 f.; 2 4 0 4
I X 5, 1 4 40
Mosaiken
X 3 1 , i 484 f. (Aias im Bild
from Antioch 4 9 1 ; 509; 5 i o 6 9
Polygnots)
o f Oceanus 507 f. (pl. 8)
„Persona" 321-324
from Olynthus 514
Pherekrates 275
in San Agnese 5 i o 7 1
Pherekydes F r g . 44 27
in San Vitale 4 9 0 ; 4 9 7 ; 500; 503
in Santa Maria Maggiore 497 Chronos als kosmogonische Gestalt
in Santa Sophia 503 234
o f Seven Sages 496 (pl. 4 b) Philolaus the Pythagorean 492
of Vergil 507 f. (pl. 9 a) Phineus 2 3 ; 29
Musaeus 252 Phlyax 324
Myrons Marsyas 518 cpcbg 498
Pindar 46
Istbm. V I 210
Naassenes $24
Nem. V I I 78 211
Naevius 4625467
X 7 4 2 ; 46
Naupaktia 32
XI37 41
Neuplatoniker
Olymp. I X 1 0 0 2 1 1 (Antithese von
ÈJtÉ/tEtva v o i 200
cpva und ötöaxxöv)
Interpretation des Parmenides 201 ;
XIII74 30
498 f.
Paean V I I 13 ff. 210
Neuplatonische Interpretation der
Pyth. I 185; „Die Echtheit der
„Platonischen Theologie" 203 f.
Melodie zu P y t h . I " 397-457
vorigòv cpcjg 498
Gemeinschaft v o n Königen und
Dualität v o n ixovf) und ÄQ00605 498
Sängern (auch Olymp. I) 89
Nonnos 179:2460.; „Die Chronologie
IV 27
des N o n n o s " 250-2635500
VI 19 ff.; 294 (Mahnungen des
Chiron an Achill)
OixaXiag SA.coaig 48 if. VIII 47
Oppianus 516 Frgg-95.96 5234'
Orpheus und die Orphiker 2 2 ; 93 133 89
' I e q o ì A ó y o i main source of the N e o - 209 210
platonists 499 Piaton 89; 9 3 ; 1 3 2 ; 1 6 3 ; 1 6 $
Orphic H y m n s : to the Mother of the „ Akademische Randglossen" 212
Gods, to Demeter, t o Hestia 493 ; Alcib. I 203
to Hera 499; Apol. 203
Ovid 361 Charm. 1 7 3 C, 1 7 4 A 91
Fasti I V 184, 2 2 9 517 Crat. 2 0 3 ; 400 D - 4 0 8 D (Etymologie
IV 234 5M der Götternamen) 34822; 502
700 Antike: Autoren- und Sachregister

Critias 20 j Gestirn-und Seelenbewegung 635


Gorg. 507 E fi. issues involved in Plautus: Trin. 658 348
interpretation of universe confront Plinius 507
also moralist, statesman 205; Plutarch 2 0 1 ; 206 1 ; 2 1 9 ; 303; 3 1 5 ; 317
pleasure not highest principle 204 Polybius 237 f.
Ion 91 I V 6, 2; 25, 3 237
Lysis 200 IV 6, 1 6 - 1 9 ; 61 238
Meno 169; 196; 198; 200 Polygnot 4830; 484; 613
Menex. 246 E 3 1 7 Porphyrius 326
Nomoi X (Gesetze, Laws)-. „Plato's Poseidippus 241
Theology" 203 if.;
Proclus
745 B, 848 D göttliche Dreiheit
hat vornonnianische Verstechnik in
Hestia, Zeus, Athene 502
seinen Hymnen 255 fr.
856 A besondere Ehrung der
In Rem publ. Comment. 2101
Hestia 502; 631 C 3 1 7
In Cratylum Comment. 492; 498
Parm. the hypothetical method 194;
200 f. In Parmenidem Comment. 498 f.;
Phaedo 101 D 194 ff.; 63 D, E, 501 f.
1 1 7 A B 206 f. Procopius: beschreibt Wandmalereien in
Phaedr. 203; 235 A 207; 245 A 2 1 0 f.; Gaza 523^
248 D E 3 1 7 ; the gods ride in Prodikos 14
their chariots along the firmament, Protagoras 15
but Hestia remains in the house of Prudentius jiö53
the gods 493; 502
Quintilian 346 2 0 ; 605
Phileb. 204; 59 E 208; 26 B 3 1 7 ; 2$ D 318
Rep. 196 ff.; 204 f.; 491 C 317
Rabula codex 489
Soph. 193 ff.
Rhianus (Anth. Pal. V I 173, 3 f.) 525
Theaet. 194
Statesm. (Politikos) 195
Brief VII 195 Sacramentarium Serapionis 494 1 8
Tim. 205; $98 Sappho frgg. 60, 65, 84 277
Dialektik 195 carm. 2, 9 314
Socratic elenchus or the hypothetical Scholien
method 193 ff. zu Pindar Olymp. X I I I 74 30
Intuition theory and elenchus theory Parmeniskos Schol. zu Eur. Med. 264
of the Upward Path 199 ff. 3i
Hypothesis in the Meno 196 Aristides Scholien 220
in the Phaedo: „The Metaphor of Moschopulos: zu Hesiod Theog. 225 ff.
Accord" in 100 A, 101 D 2667
196 ff. zu Callimachus Oxyr. 2079 3 1 7 ff.
in the Rep. 198 ff. (von Wifstrand restituiert)
in the Parm. 200 f. cf. auch Apollonius Rhodius
„The Line and the Cave" 201 f. Scribonius 352
„Epagoge" 194 Scriptores Historiae Augustae 591 f.; 601
„Flight into the >.0701" 198 Seikilos Liedchen 3 9 7 : 4 1 6 : 4 5 7
„Reality of being" 198 Senar: Andronicus und Naevius behandeln
Synopsis-theory 199 ihn analog dem Saturnier 462
jTSgiaYwyil Seneca 109; 1 2 7 ; 156; 303; 363
„Unity of Plato's thought" 198 Simonides 206; 2 1 3 ; 2 1 6 ; 234; 269
Naturgesetz (Natural Law): Plato- Sokrates 15
nischer Ursprung des Begriffes 205 Päan im Gefängnis gedichtet: einziger
Platonische Bewegung zum Licht Hymnus, der mit Abschiedsgruß
582; 593 beginnt 70
Antike: Autoren- und Sachregister 701

Solon Taurobolia 526


Frg. I Elegie etg eauxov (Musenelegie) Thebais 34-53 passim
191 f.; 278M; 292 f.; 295M; 296; 316 Theodosius I 50S63
Sophokles 133-153 Theodosius II 250
Aias 148 f.; 158; 177
Theognis 66; 222; 2404; 275-300
Antig. 144 ff.
Theophrastus 353; 312
Elec. 1 3 4 - 1 4 1 ; Vergl. mit Elec. in
Aesch.Choeph. 134 fr.; mit Eur. Thukydides 22; 44; 216
Elec. 169 f. Tragische Ironie 142
Oed. Col. 152 f.; Oed. Rex 141 ff. Tyrannenmörder 213 ff.
Philoct. 141; 149 f.; Tyrtaeus 222 20 ; 239 ff.
1 0 8 1 , 1 1 2 3 ¡83; 207; 362 f. Eunomia 315 f.
Tracbin. 48; 150 ff.; 158
Höchste Einsamkeit des tragischen
Varro 3 4 2 " ; 348; 493; 524
Helden 14; 153
Vergil 344; 357ff.; 517; 582; 587
Vergleich mit Aesdiylus 133 f.
Religiosität 178 Begegnung mit Statius 354 ff.
Frgg. 280 N 2 , 832 N 2 zu Xpovog 234 Mosaik aus Hadrumetum 507 f.
Frg. 587 23 Verrius 323
„Antig. 332-375" „IIoM.d td öeivä" Vesta 493
183-192 Vorsokratiker5
„Sphragis": als Beweis für die Echtheit von 47 A 4 § 6 191
Theognis' Dichtung 277 f.; 279 43 22 C 3 234
Statius 88 B 25, 33 234 (Kritias zu Chronos
„An den Schlaf" 354-365 und ewige Weltzeit)
Statius und Vergil 354 f. 8 8 B 1 8 234
Stephanus Byzantius 20 68 (55) B 18b 350M
Stobaeus 290 71 ; 291 7 2 ; 305 f.; 309 44 (32) B 7 492 (zu Philolaus)
Ecl. I 8, 40 a 234 zu Xpövog
Strabo 3 4 2 " Xenophanes 13
Suidas 45; 250 f.; 253
Symbol of circle and sphere 495 Zeus Laphystios (Athamas vor Opferung
Synesios 388 am Altar gerettet) 26
Metrische Analysen

Aeschylus Nem. II 378


Hiket. 75 f. 376 III 376
Pers. 130-132 372 V ep. 1 3737
864 if., 879 if. 376 V str. 6 380
974 f. = 988 f. 380 V I I 376 f.
Sept. 750 if. 372 VIII 390
Anth. Pal. X I I I 376 Pyth.l 413-35 passim
X I I I 28 37817; 379 HI 375
X I I I 6 Theokr. ep. 22 388 IV 370
Aristophanes I X str. 7 381
Ach. 7 f., 840, 842, 846, 858 384 X 3842s
Sappho (Berl. Klass. Texte V. 2, S. 15 if.)
Ecc. 971 393 34
388 f.; 392
Pax 774 372
Scolia der 7 Weisen (Diehl, Anth. Lyr. II
Vesp. 1518-27 372
19° f-) 37 2 ®
Euripides
Sophokles
Bacc. 519 391 Ant. 332-375 183-187
" 7 9 375 Oed. Col. 1080 372
Ion 768 f. 375 Oed. R. 463 383
1483 f. 375 467 if. 393
Med. 410 if. 371 1086 372
Pindar Trad0. 102 380
Isth. I l l 390 880 376
Stellenregister

Ardiilochus frgg. 67 a, 74 3 1 3 f. „Noctes serenas" (Prooemium I)


Aristophanes: Nub. 546 207 334
Callimadius Oxyr. 2079 3 1 7 f. Lucretius I 942-IV 1 7 (zu „stacto")
Damagetus (Epigramm) 237 ff.
3$2
„De fine Odysseae" 57 f.
Lucretius V I 857 f. 352 f.
„De Homeri Hesiodique certamine"
Lucretius (Appendix I) „Ortho-
105 f.
Empedocles frag. 25 207 graphica" 350 f.
Epigramme Nonnos Dionys. 16, 321 2 5 1 ; 20, 372
1) Die Tyrannenmörder (A) 213 ff. 252; 3 7 , 2 - 4 *57 2 2
2) Die frühe Perserzeit (B-H) Parmenides 8, 26 84
217-222 Pindar Nem. V I I 104 207
(H: zu Spartiaten bei den Thermo- Piaton
pylen 220 ff.) Gorgias 498 E 207 f.
3) Ende der Perserkriege (I) 222 ff. Meno 87 B 196
4) Sturz Athens (J) 227 f. Nomoi V I 754 C, X I I 956 E 208
5) Untergang der griechischen Frei- Phaedo 63 D E, 1 1 7 A B , 206-209,
heit ( K - M ) 228 ff.; 233 fr. 101D 194
Galen: Jtegl i|njxfj5 Jtaflwv, p. 16, 6 M
Pbaedrus 235 A 207; 245 A 210 f.
208
Philebus 25 D 318
Heracliti frag. 124 3 1 2
Staat 343 A 194
Hesiod: Theog. 31 83
3 2 , 3 8 - 5 2 89 f. Aristoteles-Vita, Codex Marcianus
37-39 91 f. 212
33$ 84 Sappho carm. 2, 9 314
Kyros 251 f. Seneca Here. fur. 1065 ff.
Lucretius Solon carm. 1 316
„Retractationes" II ( 9 - 1 1 ) 325-327 Sophokles
9) Lucretius I 44-49 325 f. Antig. 332-375 183-192
10) De prooemio Lucretiano 326 f. Philok. 1238 207
1 1 ) Lucretius I 758 327 Theophrastus Frag. I I I 4, 38 353
Prooemia I - V I 334 f. Tyrtaeus Eunomia 315
Paul Friedländer
Piaton

3 Bände. Groß-Oktav. Ganzleinen je D M 38,—

Band 1
Seinswahrheit und Lebenswirklichkeit
3., durchgesehene und ergänzte Auflage
Mit 8 Tafeln und 1 Titelbild. X , 438 Seiten. 1964

Band 2

Die platonischen Schriften, i. Periode


3., verbesserte Auflage
V I , 358 Seiten. 1964

Band 3

Die platonischen Schriften, 2. und 3. Periode


2., erweiterte und verbesserte Auflage
V I , 533 Seiten, i960

Ernst Kapp
Ausgewählte Schriften
Herausgegeben von Hans und Inez Diller
Groß-Oktav. 337 Seiten. Mit 1 Bildnis. 1968. Ganzleinen D M 78,-

Eduard Norden
Kleine Schriften zum klassischen Altertum
Herausgegeben von Bernhard Kytzler
Mit 1 Bildnis Eduard Nordens. Groß-Oktav. X V I , 706 Seiten. 1966
Ganzleinen D M 88,-

Georg Rohde
Studien und Interpretationen
zur antiken Literatur, Religion und Geschichte
Mit 1 Frontispiz. Oktav. X , 322 Seiten. 1963. Ganzleinen D M 1 8 , -

W a l t e r de G r u y t e r & C o • Berlin 30

Das könnte Ihnen auch gefallen