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STUDIEN
ZUR ANTIKEN LITERATUR
UND KUNST
Dieses Buch, das ich erst in hohem Alter erscheinen lasse, hat eine lange
und etwas mühselige Vorgeschichte.
Man kann sich kaum vorstellen, wie weit von echtem Austausch im
Felde der klassischen Studien ich in Kalifornien gelebt habe. Seit der
Emeritierung im Jahre 1949 (dies war damals ein absolutes Ende der
Lehrtätigkeit) war leider der Austausch mit Studenten und auch Kollegen
sehr erschwert, und es war trotz freundschaftlicher Beziehungen kein aus-
führliches Zusammenarbeiten mehr möglich. Briefwechsel mit den weni-
gen europäischen Freunden und Kollegen konnte das nicht ersetzen.
Nur Weniges ist zu sagen von dem, was ich an den einzelnen Auf-
sätzen geändert oder ihnen hinzugefügt habe, von der Rechtschreibung
und kleineren stilistischen Änderungen abgesehen.
Durchgreifende Änderungen waren ausgeschlossen; trotzdem schien es
mir in einigen Fällen richtig kurz auf spätere Forschung hinzuweisen,
meinen Standpunkt deutlicher zu machen oder auch zu korrigieren. So
ist in Nr. z, „Kritische Untersuchungen zur Geschichte der Heldensage",
der letzte Abschnitt neu wie auch in Nr. 3, „De fineOdysseae", der deutsch
geschriebene Teil und in Nr. 10, itolXä xä öeiva, der Abschnitt: „Zur
Musik". Zu Nr. 30, dem Aufsatz zu Pindar Pythien I und zu Nr. 39,
der Fauststudie, ist einiges im Text und in den Anmerkungen zur Inter-
pretation und zur Sachkenntnis hinzugefügt worden.
Der Teppich der Hestia Polyolbos, besprochen in Nr. 37, „Documents
of Dying Paganism", hat seit der ersten Auflage eine wichtige Änderung
erfahren: die Entfernung eines eingeflickten Stückes. Dies hat mir eine
bessere Deutung vorzuschlagen erlaubt, die ich schon im Hermes
L X X X V I I , Heft 4, 1959, S. 389 fr., dargelegt habe. Dieser Aufsatz ist
in den Text hineingearbeitet worden, und alles nicht mehr Angemessene
wurde gestrichen.
Ich bin dem Verlag Walter de Gruyter & Co. dafür dankbar, daß
er den Druck schnell und sorgfältig durchgeführt hat. Mein Dank gebührt
auch den gelehrten Gesellschaften, den Herausgebern und Verlegern, die
bereitwilligst den Neudruck meiner Schriften gestattet haben, ebenso den
Museen und Instituten, durch deren Entgegenkommen angemessene Re-
produktionen von Werken in ihrem Besitz in diesem Band erscheinen.
I
Mythologie und Heldensage
Lachende Götter 3
Kritische Untersuchungen zur Geschichte der Heldensage 19
II
Griechische Literatur
Homer und Homerisches
De fine Odysseae (Retractationes I i ) 57
Besprechung: Altionische Götterlieder, deutsch von Rudolf Borchardt 59
Hesiod
Prometheus - Pandora und die Weltalter bei Hesiod 65
Das Proömium der Theogonie 68
Besprechung: Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby. Pars I:
Theogonia 8x
De Homeri Hesiodique certamine (Retractationes I 2) 105
Tragödie
Die griechische Tragödie und das Tragische 107
öeiva (Sophokles, Antigone 332-375)
N O X X Ä TOI 183
Plato
Review: Plato's Earlier Dialectic by Richard Robinson 193
Review: Plato's Theology by Friedrich Solmsen 203
Aig xai TQ15 TO xaXov 206
PlatoPhaedrus245A 210
Akademische Randglossen 212
Epigramme
Geschichtswende im Gedicht. Interpretation historischer Epigramme 213
A new Epigram by Damagetus 237
Besprechung: Der Kranz des Meleagros von Gadara. Auswahl und
Übertragung von August Oehler 242
Vili Inhaltsverzeichnis
Nonnos
Besprechung: Die Dionysiaka des Nonnos, deutsch von Thassilo
von Scheffer 246
Die Chronologie des Nonnos von Panopolis 250
Maximen
YÜO0HKAI 264
Textkritik
Heracliti fragmentum 124 312
Retractationes I 3-8 313
III
Sprachliches
Persona 321
Lucretius
Retractationes II 9 - 1 1 325
The Epicurean Theology in Lucretius' First Prooemium
(Lucr. I. 44-49) 328
Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius 337
Statins
An den Schlaf 354
IV
Musik und Metrik
Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 369
Die Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht . . . . 395
Pindar oder Kircher? 437
Noch einmal zur Echtheit der Pindar-Melodie 448
Besprechung: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Griechische
Verskunst 453
Zum Plautinischen Hiat 459
V
Archäologie
VI
Deutsche Literatur
Aristophanes in Deutschland 531
Rhythmen und Landschaften im zweiten Teil des Faust 572
VII
Kircher und Leibniz
Athanasius Kircher und Leibniz
Ein Beitrag zur Geschichte der Polyhistorie im X V I I . Jahrhundert 6 j 5
VIII
Persönliches
Zu Hermann Useners ioostem Geburtstag 675
Erinnerung an Georg Loeschcke 677
Erinnerung an Wilamowitz 681
Epigrammata 682
Paul Friedländer: Publikationen 683
Register
Neuzeit: Autoren- und Sachregister 691
Antike: Autoren- und Sachregister 696
Metrische Analysen 702
Stellenregister 703
I
1934
unfromm gewordenen Zeit, die ihre Götter nicht mehr ernst nahm. Hier
spreche jenes Ionien, das schon von der Aufklärung gekostet habe und
einige Generationen später die Philosophie erzeugen wird. So mag man
heute geneigt sein dieses Stück kostbarer Poesie geistesgeschichtlich einzu-
ordnen.
Aber liegen dem nicht sehr moderne Wertungen zu Grunde? Gewiß
ist diese echt phäakische Geschichte von urtümlicher Heroenzeit schon
weit entfernt, gewiß wird in ihr ein Wunschtraum ionischer Griechen
Gestalt wie in dem Phäakenvolk überhaupt. Gewiß, diese Götter beneh-
men sich recht menschlich, die Zuhörer werden heiter, sogar Odysseus,
der vorher beim Heldengesang dahinsdimolz in Tränen, hat seine Freude
an dem heiteren Lied. V o r allem aber lachen doch die Götter selbst. Heißt
das, daß die Menschen diese Götter nicht mehr ernst nehmen? W i r sehen
doch zu allererst, daß diese Götter sich nicht ganz ernst nehmen. Aber
wird ihnen dadurch von ihrer Timé, wie die Griechen sagen, etwas ge-
raubt: ihrem Amt, ihrem Herrschaftsbereich, ihrer einem jeden eigentüm-
lichen Wirkensmacht? Hephäst wird hintergangen. Ares und Aphrodite
hintergehen. Aber beide kommen ans Ziel, der Gott der ganz Krieg und
die Göttin die ganz Liebe ist. Hephäst, ganz Künstler, Erfinder, siegt mit
seiner List und Kunst, wenn er auch in der Liebe unterliegt, die ja nicht
seines Amtes ist. Die unbeteiligten Götter lachen ihr unauslöschliches
Gelächter und geben damit den Hörern das Zeichen, es ihnen nachzutun.
Poseidon als würdiger Oheim löst den Knoten. N u r Zeus läßt sich in diese
Familienirrungen nicht hineinziehen. Abbruch geschieht den Göttern doch
nur, wenn man sie moralisch nimmt. Aber wer erlaubt uns das? „Die
Götter sind an sich weder sittlich noch unsittlich, sondern losgesprochen
von diesem Verhältnis, absolut selig" 1 . Sie sind „die Kinder der Unend-
lichkeit und hinweg über den traurigen Ernst des Erkennens des Guten
und Bösen, aus welchem der Begriff der Schuld entspringt" 2 . Durch das
Gelächter wird keiner von ihnen in seiner Timé gemindert. Ares geht
am Schluß nach Thrakien, in das rauhe Nordland, das ganz „voll von
Ares" ist: er bleibt der wilde Kriegsgott. Aphrodite gewinnt nur noch
in dem was sie eigentlich ist, zumal wenn man auf das Gespräch zwischen
Apoll und Hermes hört: „Hermes, möchtest du in starken drückenden
Banden gefesselt im Bette liegen bei der goldenen Aphrodite?" „Möchte
ja dieses | geschehen, Apollon, möchten dreimal so viele Fesseln mich
umfangen, und mögt ihr Götter zuschauen und alle Göttinnen auch noch:
aber ich wollte liegen bei der goldenen Aphrodite!" Damit aber auch
jeder Fleck von ihr abgewaschen werde, sehen wir sie zuletzt nach Cypern
in ihr Heiligtum gehen, nicht mehr die „wohlbekränzte" oder die
„Tochter des Zeus" zubenannt, sondern die „Lächlerin". Dort in Paphos
baden sie die Anmutsgöttinnen, salben sie mit dem ö l der Unsterblichkeit
und ziehen ihr schöne Kleider an, „ein Wunder zu schauen". Damit
schließt die Geschichte ( V I I I 366). Aphrodite ist an ihrer heiligen Stätte,
zu neuem Wirken bereit. -
Aus vielen Zeugnissen, literarischen und bildlichen, kennen wir einen
alten Göttermythos, mit dem die eben nacherzählte Geschichte zusammen-
hängt. Hephäst, das lahme Götterkind, wird um seiner Häßlichkeit
willen von Hera aus dem Olymp geworfen. Er lernt die Schmiedekunst
und schickt der Götterkönigin einen Zauberthron mit unsichtbaren
Fesseln. Sie setzt sich darauf und kann sich nicht mehr erheben. Die Götter
beraten, wie man den Hephäst heraufholen und ihn zwingen könne, die
Fesseln zu lösen. Hera setzt Aphrodite zum Preise. Ares unternimmt das
Wagnis. Aber Hephäst treibt ihn mit Feuerbränden zurück, und Athene
lacht ihn aus. Was dem Krieger mißlang, gelingt dem Dionysos. Von
seinem Wein berauscht, von seinen Satyrn umschwärmt, auf seinem
Maultier sitzend wird der lahme Gott auf den Olymp zurückgeführt.
Dort löst er die Hera und empfängt Aphrodite zum Lohn.
Daß ein altionischer Götterhymnos homerischer Art so erzählte, ist
Vermutung, wenn auch sehr wahrscheinliche. Jedenfalls hat man in Dich-
tung und bildender Kunst der älteren Zeit diese Geschichte immer wieder
dargestellt. Ist sie unehrerbietig gegen die Götter, wie manches daran
scheinen mag? Aber es war ja Kultdichtung die sie formte, und Tempel-
schmuck der sie darstellte. Hera w i r f t den Hephäst aus dem Olymp?
Aber das gehört zu den Umgangsformen dieser gewalttätigen Götter-
aristokratie und bringt ihn auf den Weg seiner Bestimmung. Die Rache
an der Mutter ist sein gutes Recht und ist zugleich die Probe seiner
zauberischen Kunst. Und wenn er trunken gemacht werden muß, so tut
das seiner eigensten Timé keinen Eintrag, erhöht vielmehr die Kostbar-
keit dieses Fanges und ist noch ein Preis auf die Macht des Dionysos dazu.
Ares versucht Aphrodite zu gewinnen, Hephäst gewinnt sie: man
sieht, wie hier der Götterschwank der Odyssee anpaßt, mit dem wir be-
gannen, und wie er noch besser verständlich wird, wenn man ihm die
eben erzählte Geschichte vorausgehen läßt. Vielleicht erscheint uns das
Lied von Ares' und Aphrodites Heimlichkeiten, zum Tanz gesungen, um
eine Stufe »weltlicher' gegenüber dem Mythos von Hephästs Heimholung,
den wir doch als Götterhymnos kennen. Aber schwankhaft ist auch dieser,
und nichts könnte hindern auch jenen als Teil eines Hymnos zu denken,
am wenigsten das was wir als komisch daran empfinden. Denn beim
Götterfest zu lachen war keine Sünde sondern zuweilen sogar heiliges
Gesetz. -
In der Ilias ( X X 4 ff.), kurz vor dem Entscheidungskampf zwischen
Hektor und Achill, greifen die Götter ein in den Krieg. Zeus donnert
gewaltig, Poseidon erschüttert die Erde und die Berge, und der Fürst der
Unterwelt springt entsetzt von seinem Thron - Verse die die antike
Kunstkritik als Musterbeispiel des „Erhabenen" anführt. Als aber dann
6 Mythologie und Heldensage [212j213]
die Götter zu zweien gegeneinander in den Kampf gehn (32 ff.) - nach
Art homerischer Helden wird alsbald und nicht nur einmal der Schritt
vom Erhabenen zum Lächerlichen gemacht, und wieder sind es Ares und
Aphrodite, an die vor allem das Lachen sich heftet.
Da ist zuerst ( X X I 387) eine Begegnung zwischen dem rohen Kriegs-
gott und der starken Tochter des großen Vaters, Athene, die den Gegner
in den Sand streckt. Dort liegt er plump, riesenhaft. Athene aber lacht
und ruft ihm Hohnworte zu. Aphrodite kommt, führt den Stöhnenden
aus dem Kampf. Athene geht ihnen nach, und sie freut sich in ihrem Sinn.
Aphrodite wird von ihr mit einem Schlag auf die Brust getroffen, so daß
sie hinstürzt und den Ares mit sich reißt. Athene aber ruft wieder Worte
des Triumphes und des Hohnes über die Liegenden.
Was macht das Komische dieser Szene aus? Versuchen wir einige
Züge herauszuheben. „Eine Verfehlung oder Entstellung die ohne
Schmerz ist und nicht vernichtet", so hat Aristoteles das „Lächerliche"
definiert. Das Hinfallen ist ja schon an sich immer noch das einfachste
Beispiel des Lächerlichen - „es ist eine Art mechanischer Starrheit, dort
wo man aufmerksame Geschmeidigkeit und lebendige Biegsamkeit zu
finden wünschte" (Bergson, Le Rire). Riesenhaft ist der stürzende Gott,
sieben Hufen Landes bedeckend. Und wieder findet man das Komische
in der Nachbarschaft des Erhabenen, oder noch richtiger Erhabenes und
Komisches miteinander innerlich verschmolzen, wenn diesen Goliath die
Göttin hinstreckt, die er noch eben beschimpft hat, und wenn dabei seine
eigene Rede voll | ist von Erinnerungen an die frühere Niederlage, die
er derselben Göttin verdankt. Dazu nehme man das Grotesk-Wider-
sprüchliche im Wesen und Tun der Götter: der Kriegsgott als Verwunde-
ter, die Liebesgöttin als Krankenpflegerin. Das ungleiche Paar das mit-
einander stürzt. Der doppelte Sturz, da doch die Wiederholung („die
periodische Wiederholung eines Wortes oder eines Vorgangs") von je
zu den Mitteln der Komödie gehört. Man wird auch nicht gern an bloßen
Zufall denken, wenn hier dieselben beiden Götter nebeneinander liegen,
die wir im Liede des Demodokos auf einem lieblicheren Lager beieinander
fanden. Und jedenfalls wird dieser Gedanke die Heiterkeit noch ver-
mehren. Uber allem dies, daß es eben Götter sind, die sich so menschlich
aufführen. —
In dieser Götterschlacht gibt es noch eine andere scherzhafte Begeg-
nung: zwischen Hera und Artemis, die der Krieg der Menschen auf die
entgegengesetzte Seite getrieben hat ( X X I 479 ff.). Hera schilt die Jüngere
„Hündin ohne Scheu", daß sie ihr, der Mächtigeren, zu begegnen wage,
und verweist sie auf das was ihres Amtes ist. Wenn sie aber ihr, der Hera,
im Kampf begegne, werde sie sehen, wer stärker sei. Damit schlägt sie ihr
den Bogen um die Ohren, „lächelnd", und die Geschlagene flieht davon
zum Vater Zeus. Der zieht sie auf seine Kniee, fragt sie „süß lachend"
was ihr begegnet sei. Sie darf sich ausklagen auf seinen Knien.
[213j214] Lachende Götter 7
nem Wort! und mit dem drohenden Appell an die Kraft seiner Hände,
der darum nicht minder gewaltsam ist, weil diese Hände das feierlidie
Beiwort „die unnahbaren" erhalten.
Helden entzweiten sich über ein beinahe Nichts. Ihr Zwist, der vie|-
len Männern das Leben kostet, erfüllt das große Gedicht. Wenn Götter
sich über das Schicksal von Völkern entzweien, so gibt das einen ehe-
lichen Zank - der sich sogleich in Gelächter auflösen wird. Hephäst,
schon als hinkender Handwerker so etwas wie komische Person unter der
adligen Göttergesellschaft, redet zum Frieden: unerträglich daß ihr beide
um sterblicher Menschen willen hadert und Kampfeslärm unter Göttern
erregt. Und keine Freude wird mehr sein an edlem Mahl, da das Niedri-
gere die Oberhand gewinnt. „Das Niedrigere": will sagen der Bezirk der
menschlichen Dinge. Also im Munde des Gottes, dieses göttlichen Spaß-
machers, wird der große Gegenstand des Gedichts, der Kampf der Hel-
den, „niedrig", gemessen nicht einmal an der Existenz der Götter über-
haupt, sondern an der Freude ihres Mahles. So anders sehen sich die-
selben Dinge an, wenn der Dichter sie aus der Höhe der Götter betrachtet,
dieser adligen Herren, die sich von dem Zwist ihrer Hörigen unverstän-
digerweise haben berühren lassen.
Aber selbst das wäre noch zu ernst. Hephäst mahnt die Mutter, dem
Vater entgegenzukommen, damit er „uns nicht das Mahl verwirre". Sie
könne ihn mit schmeichelnden Worten uns gnädig stimmen. Und er reicht
ihr den Becher und redet ihr zu: ertrage! Er mag nicht sehen wie sie ge-
schlagen wird. Schon einmal hat er ihr beistehen wollen, und da hat Zeus
ihn am Fuß gepackt und auf die Erde hinabgeschleudert. Einen ganzen
Tag ist er durch die Luft geflogen, bis er bei Sonnenuntergang fast ohn-
mächtig auf Lemnos ankam. Dort haben die Sintier ihn gepflegt. So
spricht Hephäst. Hera lächelt, und lächelnd nimmt sie aus der Hand des
Sohnes den Becher. Der Dichter hätte nicht zweimal mit solchem Nach-
druck von ihrem Lächeln geredet, wenn es nicht etwas bedeuten sollte.
Lächeln ist vieldeutig. Aber wir vernehmen darin: Anteilnahme und
Eifersucht, Groll und Furcht haben sich gelegt, sie hat ihre Überlegen-
heit wiedergewonnen. Und vielleicht deutet es schon voraus. Jedenfalls
werden wir seiner zu gedenken haben. Wir werden sie noch ein paar-
mal lächeln sehen.
Dann geht Hephäst als Mundschenk bei den Göttern herum und
gießt ihnen Nektar ein, der hinkende Schmied spielt die Rolle der holden
Hebe, und das „unauslöschliche Gelächter" erhebt sich unter ihnen. Nach
dem Lächeln der Königin das Gelächter der seligen Götter. Im Lachen
über ein Nichts offenbart sich diese Seligkeit. „ S o " - in solcher selig
heiteren Laune - schmausen sie den ganzen Tag, und nun vollzieht sich |
das Mahl, die begleitende Musik, der Sonnenuntergang und der Gang
zum Schlafgemach mit jener homerischen Regelmäßigkeit, die das Zei-
chen leiblicher Gesundheit und guten Gewissens ist. Wir erfahren neben-
10 Mythologie und Heldensage [217j218]
her, daß Hephäst es war, der den Göttern ihre Häuser „mit wissendem
Sinn" gemacht hatte, derselbe den wir seine Mutter so klug beraten und
unter den Göttern mit so tiefer Absicht den Lustigmacher spielen sahen.
Ganz zuletzt sucht Zeus sein Lager auf, neben ihm schläft die golden
thronende Hera. So endet fürs erste in wiederhergestelltem Einklang der
Zwist der Götter über dem Streit der Menschen.
Ein bedeutender Indologe hat das olympische Gelächter homerischer
Götter an dem abgründigen Lachen des indischen Gottes messen wollen
und dabei die Heiterkeit über Hephäst, den Ungetümen Hinkebold, eine
flache Lache genannt (H. Zimmer). Aber zugegeben daß die Griechen
oberflächlich sind gemessen an den Tiefen des Orients, und daß sie ober-
flächlich sein wollen, so dringt doch eben jene Deutung der Hephästszene
selbst nicht tief genug. Und die Metaphysik dieses olympischen Geläch-
ters leuchtet erst auf, wenn man es über den zehntausend Schmerzen
der Achäer erklingen hört. -
Schon in diesem ersten Gesang der Ilias war das Lachen im Begriff
sich an Zeus selbst heranzumachen, als Hera ihn durchschaut mit der
überlegenen Klugheit des Weibes und nur der Appell an seine Armes-
kraft ihm den Sieg gibt. Aber daß der höchste Gott für einen Augenblick
nur dies einzusetzen hat, soll man darüber nicht lächeln? War es etwa
auch darum, daß Hera gelächelt hat? Und nun wird dieser Sieg weib-
licher Klugheit zu einer eigenen epischen Szene: „Trug an Zeus" heißt
ein Gesang der Ilias, und wieder ist diese Truggeschichte eine Episode
innerhalb des ernstesten Geschehens.
Hera sieht vom Olymp aus, wie Poseidon drunten den Griechen hilft,
und sie freut sich. Drüben auf dem Idagebirge sieht sie den Zeus sitzen,
verhaßt ist er ihr in der Seele. D a bedenkt sie, wie sie ihn täuschen könne,
und sie beschließt ihn mit Liebessehnsucht zu erfüllen. Sie geht zu Aphro-
dite, erzählt ihr eine erfundene Geschichte, bittet sie um ihre Hilfe. Aphro-
dite - „die das Lächeln liebende" - gibt ihr den Zauberriemen, den sie
selbst trägt, und versichert ihr: du wirst erreichen, was du in deinem Sinne
denkst. Hera lächelt. Sie denkt etwas ganz anderes als sie der Aphrodite
gesagt hat. Aber sie freut sich der guten Vorbedeutung, und sie nimmt j
ihren Sieg über Zeus schon vorweg. Lächelnd steckt sie den Liebesgürtel
an ihren Busen.
Heras Fahrt geht weiter. Sie trifft den Schlafgott. Ihm darf sie nichts
vorreden. Aber ihre Bitte und ihr Versprechen - sie verspricht ihm einen
Göttersessel - fruchtet dafür auch nicht sogleich. Hypnos hat schon ein-
mal den Zeus auf Heras Wunsch zur Unzeit eingeschläfert. Als Zeus dann
erwachte, war er ergrimmt und hatte die Göttin im Hause hin- und her-
geworfen. (Also wieder eine olympische Gewaltszene.) Und den Schlaf-
gott hätte er damals ins Meer geschleudert. Aber die Nacht hat ihn ge-
rettet, die Bändigerin der Götter und Menschen. Denn Zeus scheut sich
etwas zu tun, was gegen ihren Sinn wäre. (Vor der großen Ordnung der
[218j219] Lachende Götter 11
Natur, vor dem Dunkel, dem seine eigene lichte Dynastie entstammt,
hat der höchste Gott Ehrfurcht.) Hera macht ein zweites Angebot: sie
verspricht ihm eine der Anmutsgöttinnen mit feierlichem Eide. (So wie
sie vielleicht in jenem alten Hephäst-Hymnos die Aphrodite als Preis für
ihre eigene Lösung ausgesetzt hat.)
Hera kommt zu Zeus. So wie er sie sieht, umhüllt ihm Eros den
dicht gefügten Sinn. (Also der Zauber wirkt sofort.) Hera erzählt ihm
„listig sinnend" dasselbe Märchen, das sie der Aphrodite erzählt hat.
Zeus sdilägt ihr vor, sie sollten gelagert sich der Liebe erfreuen (mit fast
denselben Worten, wie Ares sie im Phäakenlied zu Aphrodite sprach).
Sie antwortet ihm „listig sinnend": einer der Götter könne sie sehen und
hingehen und es allen Göttern sagen. (Also sie sagt eigentlich J a und
denkt das Geschehen weiter aus, so wie es sich im Phäakenliede vollzieht.)
Zeus redet ihr zu: eine goldne Wolke wolle er um sie beide hüllen, durch
die nicht einmal Helios durchscheinen könne. (Man denkt an Helios den
Merker im Phäakenliede.) Dann die herrliche Schilderung: Zeus nimmt
Hera in seine Arme, und die Erde läßt ihnen Gras und Blumen hoch-
wachsen. Eine goldne Wolke entzieht sie der Welt. Aber die Listensin-
nende hat erreicht, daß zugleich die Welt dem Zeus entzogen ist. Sie hat
nicht umsonst gelächelt, als ihr bei Aphrodite der erste Schritt gelang.
Der Lenker der Geschicke ist für eine Weile aus der Lenkung ent-
fernt. Unter Poseidons Führung drängen die Achäer ihre Feinde über
den Graben zurück. Hektor wird von Aias schwer getroffen. D a er-
wacht Zeus auf dem Gipfel des Ida neben Hera, er fährt auf und umfaßt
mit einem Blick was geschehen ist. Furchtbarer Blick. Drohende Rede. Er
droht ihr Schläge und erinnert sie, wie er sie früher aufgehängt und ihr |
die Füße mit goldnen Ambossen beschwert, ihr um die Hände unzerreiß-
bare goldne Fesseln gebunden hat. Liebe und Lager wird ihr nichts helfen.
Hera erschauert und schwört einen feierlichen Eid bei Erde Himmel
und Styx, beim Haupte des Zeus und bei ihrer beider ehelichem Lager:
sie ist nicht schuld, daß Poseidon den Troern schadet und den Achäern
hilft. Jetzt ist das Lächeln an Zeus. Ihr Schwur, so vorsichtig gefaßt,
daß er hart am Meineid vorbeistreift, zeigt ihre Unterwerfung an. Die
„Täuschung des Zeus" war ein kurzes Zwischenspiel bei den Göttern.
Zwischen einem Lächeln der Hera und einem Lächeln des Zeus vollzog
sich das Ganze. Drunten bei den Menschen aber wechseln Sieg und Nie-
derlage die Partei. Dann sitzt Hera bei den Göttern. Sie lacht mit den
Lippen, aber die Stirn über ihren schwarzen Brauen erheitert sich nicht:
gegen die Ubermacht des höchsten Gottes vermögen die göttlichen Ein-
zelkräfte nichts auf die Dauer; sie müssen sich widerwillig fügen.
Man pflegt zu sagen: durch das Gewebe dieser Geschichte könne man
hindurchsehen auf eine ältere ernste Dichtung von der „heiligen Hoch-
zeit" des Zeus und der Hera. Ein späterer Dichter habe das umgesetzt in
burlesken Ton. Und die schönen Verse, in denen die Erde unter dem
12 Mythologie und Heldensage [219j220]
Götterpaar frisch sprießendes Gras und tauigen Lotos und Krokos und
Hyakinthos dicht und weit emportreibt, läßt man wohl aus jener ur-
sprünglich edleren Fassung übernommen sein. Aber was liegt solcher
Umdeutung wieder zu Grunde als ein moralisches Werturteil? Die Ge-
schichte ist wahrhaft urtümlich genug mit jenen riesenhaft maßlosen
Zügen, um derentwillen Giambattista Vico gerade im Homer die früheste
Menschheit wiederzufinden meinte: „Menschen, an Schwäche des Ver-
standes beinahe Kinder, an Stärke der Phantasie wie Frauen, an auf-
wallender Leidenschaft wie Jünglinge von großer Heftigkeit" 3 . Ange-
sichts solcher urtümlicher Gestaltung, in der wieder das Erhabene und
das Komische nahe beieinander sind, kann es nicht erlaubt sein, eine
angeblich edlere und reinere Geschichte jenseits der epischen zu erfinden
und die so erfundene für ursprünglicher zu halten. D a ß Zeus den großen
Mächten des natürlichen Lebens unterliegt, dem Eros, der „alle Men-
schen und alle Götter bändigt", oder dem Allbezwinger Schlaf, ist nichts
was ihn in seiner Würde herabsetzt. Im Gegenteil. In einem N u ist seine
Macht wiederhergestellt. Gerade dadurch daß sie einen Augenblick ein-
geschläfert war, ist sie nach dem Erwachen um so unwiderstehlicher. Sein
Lächeln aber ist der Genuß dieser erneuten Majestät. |
Wilamowitz hat in seinem großen letzten Werk immer wieder den
Satz vertreten, daß „Mythos" und „Glaube" auseinanderzuhalten sei.
Mythos sei Dichtung und also freies Spiel, Glaube sei innerste Angelegen-
heit. Die homerischen Gedichte, die wir betrachtet haben, könnten diese
Uberzeugung auf den ersten Blick nur stärken. Denn was hat für unsre
Begriffe das Abenteuer von Ares und Aphrodite mit Religion zu tun?
Dennoch ist fraglich, ob solche Trennung richtig ist. Gibt es einen „Glau-
ben" der Hellenen jenseits von Kult, Bild und Mythos überhaupt? Homer
und Hesiod haben den Griechen ihre Götter geschaffen, sagt Herodot.
Im Mythos sind sie lebendig gegenwärtig, anschaubar, den zuerst der
Dichter und dann der Bildner formt. U n d wenn in dieser mythischen
Schöpfung viel Spiel ist, so haben die Griechen längst vor Piaton, der
es formulierte, gewußt, daß Spiel und Ernst Geschwister sind und daß
von den höchsten Dingen der Mensch nicht anders reden könne als in
einer Mischung von Ernst und Scherz.
Der griechische Mythos, der im Homer seine erste große Gestalt ge-
winnt, diese Weltansicht, mehr als das: diese Weltschöpfung hat als not-
wendigen Klang, ohne den das Ganze nicht Zusammenklang wäre, ge-
rade inmitten des majestätischen Ernstes das göttliche Spiel, das gött-
liche Mitspielen und Dreinspielen, das göttliche Lächeln und Gelächter.
Die Ilias erzählt von den ernstesten und vernichtendsten Dingen, von
dem was den Menschen jener Zeit höchstes Anliegen und Muster mensch-
lichen Daseins war. Aber diese Welt wird erst ganz, wenn das Lachen der
Götter immer wieder f ü r Augenblicke hineinklingt.
1
La Scienza nuova III i.
[220/221] Lachende Götter 13
zeigt ein Abglanz dieses frühen Satyrspiels auf einer bemalten Trink-
schale des Brygos: Im innern Rund ein feierliches Bild aus dem heroischen
Kreise. Auf den Außenseiten tolle Begebnisse aus der Silenenwelt. Die
nackten, geilen Gesellen wollen mit gezückter Waffe der Götterbotin Iris
zu Leibe und gar der Himmelsherrin selber. Gewiß, Hera wird von Her-
mes und Herakles geschützt, und auch Iris wird im letzten Augenblick
durch | Dionysos gerettet werden. Aber schon das was geschieht ist derb
genug, und derb werden die Reden sein, die sich über die Göttinnen her-
machen.
Es ist als ob die wachsende Schroffheit der tragischen Situation, wie
Sophokles sie heraufführt, jene höchste Einsamkeit der einzelnen tragi-
schen Gestalt - es ist als ob sie einen noch stärkeren Ausgleich gefordert
hätte. Neben der Tragödie erwuchs im Dienste desselben Dionysos die
Komödie, und in ihren ekstatischen Wirbel werden auch die Götter hin-
eingerissen.
In den Vögeln des Aristophanes, der Utopie der Wolkenkukuksstadt,
die die Stadt- und staatsflüchtigen, gegenwartsflüchtigen Menschen grün-
den, verwirklicht sich als Spiel ein uralter Menschenwunsch, ein Wunsch
wie im Märchen vom Fischer und seiner Frau: Gott zu werden, Zeus zu
werden. Der griechische Mythos hatte an Salmoneus, an Keyx - sie
nennen sich Zeus und ihre Gattin Hera - diesen Wunsch und seine ver-
derblichen Folgen gestaltet. Die griediische Weisheit wußte wohl, war-
um sie immer wieder vor solchem Streben warnte: suche nicht Zeus zu
werden! Die Komödienutopie spielt mit seinem Gelingen. Ein kecker
Mensch im Bunde mit den Vögeln schneidet den Göttern Opferdampf
und Gebetshauch ab, zwingt die Belagerten zur Ubergabe, nimmt ihnen
die Herrschaft.
Wer wird hier verspottet? Die Menschen? Die Götter? In der Wol-
kenkomödie verkündet der Schüler der neumodischen Weisheit als sein
frisch gelerntes Wissen im Streit mit dem Vater:
(Sohn:) So gibts einen Zeus? (Vater:) Es gibt ihn! (S:) Nicht! Es gibt
ihn nidit,
So wahr Gott Wirbel herrscht und den Zeus vertrieben hat.
Hier geht der Hieb gegen die Nachzügler der ionischen Naturphilo-
sophie. Ähnlich trifft in den Vögeln, als mit feierlichen Worten die neue
Weltentstehungslehre verkündigt, das Geschlecht des Zeus entthront, das
Reich der Vögel gegründet wird, den Sophisten Prodikos ein Pritschen-
schlag (692). Und der Vergleich des Himmelsgewölbes mit einem Bade-
trog erinnert lustig an die modernsten naturphilosophischen Verstiegen-
heiten (1001). Das Phantasiespiel des Aristophanes ist durch die neu-
modische Weisheit angestachelt und ohne sie nicht denkbar. Aber dann
hören wir die großen Klänge religiöser Verkündigung - zum Spiel freilich
umgebildet - , die der entgötternden Physik grade entgegengesetzt sind. |
[223¡224] Lachende Götter 15
5
Philosophie der Kunst, Werke V 394.
18 Mythologie und Heldensage [226]
Gestalt gewordene Macht ist. So ist das was die Griechengötter aus-
zeichnet vor allen andern, ihre Form Gestalt Grenze Menschlichkeit, eben
dieses ist es, was unausweichlich in der Berührung von Endlich und Un-
endlich das Lachen aufklingen läßt. Denn „das Lachen" - sagt Jean Paul6 -
„bleibt ewig im Gefolge der geistigen Endlichkeit . . . sowohl der an-
schauenden als der angeschaueten Endlichkeit bleibt, eben als einer, die
Täuschung des komischen Stellen-Wechselns fort und anhängend, nur eine
andere auf höherer Stufe; und noch über einen Engel ist zu lachen, wenn
man der Erzengel ist".
Der wahre Dionysos lacht - und das Theater mit ihm - über sein
Bühnenzerrbild und damit unter anderm auch über das was dem attischen
Spießbürger Götter und Menschen sind. Die Olympier - und Homers
Hörer mit ihnen - lächeln und lachen über die göttlichen Sonderkräfte,
die die Grenze ihres Sonderseins vergessen. Selbst Zeus wird dem Dichter,
der sein Bild für Augenblicke allzusehr nach dem Bild irdischer Herrscher
geformt hat, nicht verwehren, über das so geformte wiederum zu lächeln.
In gestuftem Neben- und Übereinander nähert sich die Vielfalt helleni-
scher Göttergestalten dem was die Griechen „das Göttlidie" nennen. Und
vielleicht ist auch das Lachen ein Symbol dieser Transzendenz. |
6
Vorschule der Ästhetik § 30.
Kritische Untersuchungen zur Geschichte der Heldensage
1914
1. Argonautensage
der Sdiluß auf einer älteren Entwicklungsstufe hinzugefügt wurde als der A n f a n g .
A b e r wir können getrost und wir müssen sogar die korinthische Zeit unter dem
N a m e n „Eumelos" zusammenfassen.
2 Ein derartiger Ausdruck ist natürlich nur so gemeint, daß Milet als Zentrum gedacht
wird. Wenn man Milet sagt, schließt man Priene nicht aus. A b e r auch Samos ist nicht
sdiarf geschieden, und die Strahlen gehen noch weiter.
20 Mythologie und Heldensage [3001301]
erwähnten Fragment (Frg. z, 8). Nun betrachte ich es als so gut wie aus-
gemacht, daß die Heimat des Aietes ursprünglich Aia - „Land" — hieß
und im Märchenlande beim Aufgang der Sonne lag 3 ; so fühlt man es
noch bei Mimnermos (Fr. n ) . Der zweite Name - Aia fj KoX/i; pflegt
Herodot zu sagen — ist so in die Sage hereingekommen, daß man das
Märchenland Aia mit dem wirklichen Lande Kolchis am Ostrand des
Schwarzen Meeres glich 4 . Wieder zweifelt wohl niemand, daß die Milesier
es gewesen sind, die an dem östlichsten Ziel ihrer Pontusfahrten den
Herrschaftssitz des Sonnensohnes Aietes wiederfanden. Phasis ist j a
geradezu als milesische Gründung bezeugt (Steph. Byz.).
Die zweite Angabe, die darauf hinführt, daß der Korinther Eumelos
ein milesisches Epos benutzt hat, ist, so unscheinbar sie wirkt, vielleicht
noch beweisender. Bei ihm nämlich (und ihm folgte darin Aristoteles)
wurde Sinope eine Tochter des Asopos genannt 5 . Was das bedeutet, ist
klar, sowie man die Sagen von den Asopostöchtern überblickt 6 . Kerkyra
wird von Poseidon | geraubt, Aigina von Zeus, Salamis wieder von
Poseidon, Rhode von Helios. Jede wird nach der Insel gebracht, die von
ihr den Namen bekommt, und gebiert dem Gott einen Sohn, der auf der
Insel herrscht. Nun drücken diese Sagen in mythischer Form ersichtlich
die Beziehung der betreffenden Insel zur Nordostecke des Peloponnes aus.
Die Rhodier stammen j a aus der Argolis; Kerkyra ist korinthische
Kolonie; für Aegina fehlt die geschichtliche Ueberlieferung, und nur die
Sage belehrt uns; die salaminische steht unter dem Einfluß der äginetischen
wie Salamis unter dem von Aegina. Wenn nun Eumelos die Sinope unter
die Asopostöchter rechnete, so mußte er sie vom Flusse Asopos vermutlich
durch Apoll entführen und Mutter des Syros werden lassen 7 . D a ist das
Vorbild der eben genannten Sagen, für den korinthischen Dichter wohl
3
W i l a m o w i t z hat in seiner Einleitung zur Medea (wie ehedem H . D . Müller, M y t h o -
logie der griechischen Stämme I I 3 2 9 ) in A i a das Totenland gesehn und sich in dieser
Hinsicht auf Wackernagel berufen, der in den Vermischten Beiträgen zur griechischen
Sprachkunde (Basel 1 8 9 7 ) 4 ff. den N a m e n "AiÖt)5 versuchsweise mit a i a zusammen-
gebracht hatte. A b e r Wackernagel selbst spricht sich sehr vorsichtig aus, und mit der
Theorie v o n W i l a m o w i t z scheint es mir (trotz Malten, K y r e n e 1 2 0 ) nicht zu stimmen,
daß Aietes Sohn des Helios, des lichten Gottes, ist.
4
Maas, H e r m e s 1 8 8 9 , 699 fr. G ö t t . Gel. A n z . 1 8 9 0 , 3 5 2 , hat Kolchis vielmehr als ein
griechisches W o r t genommen ( = Chalkis) und kühne Sdilüsse auf diese Hypothese
gebaut. Dagegen spricht die Doppelheit A i a r| Ko).%i<; ebensosehr wie die Ober-
lieferung von dem realen V o l k der Koldier.
s F r g . 8 Kinkel im schol. A p . R h . I I 946.
6
Z . B. bei Diodor I V 7 2 . Die Vermischung der beiden Asoposflüsse in der Sage ist sehr
alt, so daß schon bei Pindar Isth. V I I I 1 7 Thebe und A i g i n a Schwestern heißen. F ü r
uns kommt der böotische Fluß nicht in Betracht. - V g l . v . Wilamowitz, Berl. Klassiker-
texte V 50, mit dem ich aber nicht ganz übereinstimme.
7
Diodor a. O . Wenn nach einer anderen Sage Zeus die Sinope entführt, aber v o n ihr
getäuscht w i r d ( A p . R h . I I 949, Ps.-Skymnos 9 4 1 ) , so zeigt die Abweichung v o m
Schema, daß hier eine Umbildung des Ursprünglichen vorliegt.
[3011302] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 21
insbesondere das Vorbild der Kerkyra, maßgebend gewesen. Nun ist ja
aber Sinope durchaus nicht von Peloponnesiern besiedelt worden, sondern
eine milesische Kolonie. Und dem entspricht es, wenn eine andere
Gründungssage den Namen Sinope vielmehr von einer Amazone herleitet.
Das schickt sich gut für eine kleinasiatische Stadt®, und für diese
Tradition tritt zudem das Zeugnis des Hekataios ein (Fr. 352, Mu = 34
Jac), der als Milesier die echte kennen mußte. Woher also die Neubildung,
woher überhaupt Sinope in dem korinthischen Epos? Soweit ich sehe,
bietet sich nur eine Annahme dar, daß die milesische Vorlage bereits eine
Landung der Argonauten in der wichtigsten milesischen Kolonie gab9,
und daß Eumelos nach einem Schema, welches ihm geläufig war, die
Gründungssage schuf, um auf diese Weise (so kann man etwa sagen) das
Interesse der korinthischen Handelsherren an Milets Kolonialpolitik in
mythischer Spiegelung zu geben.
Es ist des weiteren bekannt und von Kirchhoff 10 mit voll ¡kommener
Stringenz erwiesen, daß die Apologe der Odyssee, deutlicher gesprochen
die Bücher hii, eine ausgebildete Argonautensage nicht nur kennen, sondern
von ihr auf das stärkste beeinflußt sind, daß diese Argonautensage ionisch
ist — denn diese Odyssee ist ionisch — und daß man auch hier den mile-
sischen Ursprung greifen kann. Kirke ist Schwester des Aietes und Tochter
des Helios. Ihre Insel Aiaie hat den Namen nach der Aia und wird mit
dem ,Haus und Tanzplatz der Morgenröte und dem Ort, wo der Sonnen-
gott aufgeht', ganz ähnlich der Aia bei Mimnermos gemalt. Wie tief
aber dieses Motiv in jene ganze Odysseedichtung verflochten ist, wird
daraus klar, daß Helios, der Vater der Kirke und des Aietes, hier die
Geschicke des Odysseus lenkt 11 .
Kirke nun weist dem Odysseus seinen Weg durch die Plankten, und
dabei wird in berühmten Versen geradezu auf die Argo hingewiesen,
eine Angabe der ,Quelle' so deutlich wie man sie nur wünschen kann.
Die im Liede gefeierte Argo, die von Aietes kommt 12 , Jason durch Hera
8
Vgl. die kurze Kritik des Amazonenmythos Philol. Unters. X I X 169 ff. Auch Leon-
hard, Hettiter und Amazonen, sieht für die Amazonen das Zentrum der Sagenbildung
in Kleinasien.
' D i e Namen des Deimadios und seiner Söhne (Ap. Rh. II 955 f.) scheinen nach Milet
zu weisen; s. meine Argolica (Berl. Diss. 1905) 67.
10 Homerische Odyssee 288 ff.
11
Das Motiv vom Zorn des Helios und was damit zusammenhängt, wird man geradezu
als milesische Odysseedichtung ansprechen dürfen. Dann ist der Zorn des Poseidon
vermutlich nidit-milesisch. Vgl. v. Wilamowitz, Homer. Untersuch. 167.
12
Daß hier das Planktenabenteuer bei der Rückfahrt genannt wird, bietet wohl keine
Schwierigkeit. Denn das Motiv, das offenbar nicht rationalistisch aus den wechselnden
Uferblicken bei der Bosporusfahrt gedeutet werden darf, sondern ein altes Märchen-
motiv ist, gehört zur Hinreise ebenso wie zur Rückfahrt. Grimm, s. Märchen 9 7 : Die
zuschlagende Tür auf dem Rückweg. (Auch sonst wechselt ein Motiv zwischen Hin-
und Rückfahrt: Malten, Kyrene 155 f.) - Daß es ein mythisches Motiv ist, geht aus den
ethnographischen Parallelen hervor. Tylor, Anfänge der Kultur I 343, hat schon
22 Mythologie und Heldensage [302j303]
beschützt: das zeigt eine ausgebildete | epische Vorlage 13 . Und wie die Irr-
felsen sicher, so ist vielleicht auch das Sirenenabenteuer, das in der Nach-
barschaft steht, aus der Argonautensage herübergenommen. Denn bereits
Herodor (Fr. 39) kennt als Grund, warum Orpheus mitzog, Chirons
weissagenden Spruch: ohne das Spiel des Sängers würden sie bei den
Sirenen nicht vorbeikommen können. Orpheus als Teilnehmer gehört
gewiß schon dem Epos an, denn die Metope vom delphischen Sikyonier-
schatzhaus bezeugt ihn für das sechste Jahrhundert 14 , und es ist sehr mög-
lich, daß er eben mit dem Sirenenabenteuer gleichzeitig in die Sage ein-
geführt worden ist. Aber ob dies wirklich schon in so früher Zeit geschah,
daß die Odysseussage davon beeinflußt werden konnte, will mir doch
recht ungewiß erscheinen.
Sicher hingegen ist, daß die Laistrygonenstadt mit ihrem festen Hafen
und ihrer Quelle Artakie ein märchenhaftes Abbild von Kyzikos mit
seinem y/utög ?auf]v gibt, wo der Name Artake (und Artakie) an Berg,
Inselchen und einer berühmten Quelle haftete. Dann sind die Laistry-
gonen von Telepylos identisch mit den Gegeneis oder Encheirogastores
vom Bärenberg bei Kyzikos oder nach deren Vorbild geschaffen oder von
deren Vorbild beeinflußt15. Kyzikos aber ist eine milesische Kolonie, und
das Argonautenepos, das in der Odyssee benutzt wird, ist über die allge-
meine Wahrscheinlichkeit hinaus auch an diesem Einzelzuge als milesische
Schöpfung erkennbar.
Die Ilias nennt ferner an mehreren Stellen den Euneos als Sohn des
Jason und der Hypsipyle auf Lemnos. Das weist doch wohl auf eine
Geschichte, die dem, was man später von der Landung der Argonauten
erzählte, zum mindesten irgendwie ähnlich gewesen sein möchte. Und
diese Voraussetzungen waren | natürlich in ionischer Sage gegeben, wenn
Wahrscheinlich ist ferner, daß bereits Apsyrtos als Sohn des Aietes der
milesischen Schicht angehört. Knaack 19 hat erwiesen, daß sich bei dieser
Sagengestalt ein barbarischer Name an eine griechische Person geheftet
habe, die ursprünglich ein ,Phaethon' war. Denn Phaethon ist ein bei
Apollonios nicht mehr verstandener ,Beiname' des Apsyrtos, und in die-
selbe Richtung weisen die Namen, die für seine Mutter genannt werden:
Asterodia (gleichfalls bei Apollonios), die das Gestirn im Namen führt
und auch Gattin des Endymion heißt; Eriauge ,die Leuchtende' in den
Naupaktien 20 ; Neaira bei Sophokles, die als Gattin des Helios und Mutter
der Lampetie und Phaethusa oder an an | derer Stelle als Mutter der
Auge auftritt. Für Neaira als Mutter des Phaethon(-Apsyrtos) wird wohl
nichts anderes gelten wie für Neaira, die Mutter der Phaethusa. Die
aber gehört der Heliosgenealogie des u, d. h. wie oben ausgesprochen,
milesischer Dichtung an. Schließlich darf wohl auch erwähnt werden, daß
Neaira in einer erotischen Novelle bei Parthenios 21 Gemahlin des Milesiers
Hypsikreon heißt.
16 Für samisdien Ursprung habe ich ein freilich höchst unsicheres Indizium beizubringen
versucht: Philol. Unters. X I X 87.
17 Vgl. den tüchtigen Artikel „Phineus" in Roschers Lex. d. M y t h .
18 Bemerkungen zur Würzburger Phineusschale, Festschr. zur 3 6. Philologenversamml.
122 ff.
19 Quaestiones Phaethonteae, Philol. Unters. V I I I , 14 ff.
20 Schol. Paris, z u A p . R h . III 242. Im schol. Laur. steht Eurylyte, die aber in Wahrheit
die zweite Gemahlin des Aietes ist (schol. I V 59. 86). Es ist wohl jedem Benutzer der
Apolloniosscholien klar, wie unzulänglich die allein auf den Laurentianus gebaute
Ausgabe von Keil ist. V g l . Deike, D e scholiis in A p . Rh. quaestiones, Göttingen 1901.
21 K a p . 18; auch bei Plutardi Mul. virt. 17. D a r f man bei Hypsikreon an 'Yueqlcuv
denken? V g l . noch m. Argolica 67.
24 Mythologie und Heldensage [3051306]
22
Trotz Groeger, De Argon. Fab. (Diss. Breslau 1889) 13, der schol. Ap. Rh. I I I 87
mißdeutet. Daß es jemals eine Sagenform gegeben habe, in der Jason vom Drachen
getötet worden wäre, kann ich Robert (Hermes X L I V 387) nidit zugeben. Gegen ihn
auch Petersen, Rh. M. L X V I I I 594.
23
Stesichoros Fr. 1 - 4 . Simonides Fr. 53. Kypseloskasten: Pausan. V 17,9. Korinthischer
Krater: M011. d. Inst. X T. 4/5. Dazu und zum Folgenden vgl. v. Wilamowitz, Text-
[306/307J Kritische Untersuchungen zur Heldensage 25
von dem bösen Pelias und dem Frevel der Peliaden nicht stimmt, also
auch mit der Argonautensage nichts zu tun hat, muß dieses Leichenfest
älter sein, d. h. ein verschollenes Epos von ihm gehandelt haben/ Daß
dieser von Wilamowitz scharf und klar vollzogene Schluß einen Fehler
in den Prämissen enthält, wird durch das Vorhergehende deutlich gewor-
den sein. Ein Widerspruch der inneren Situation ist nur gegenüber der
korinthischen Umformung vorhanden, während in dem milesischen
Argonautenepos, das von dem bösen Pelias und dem Frevel der Peliaden
gar nichts wissen konnte, alles aufs beste zusammenklingt. Pelias hat dem
Jason versprochen, wenn er das Kleinod heimbringe, ihm den Thron zu
räumen. Der Held kehrt mit dem Vließe zurück. Was kann die Sage mit
dem überflüssig gewordenen Könige besseres tun als ihn im rechten Augen-
blick sterben zu lassen? Wollte man auch jetzt noch sagen, dem Manne,
der den Jason in Gefahren geschickt, gebühre kein feierliches Totenfest,
so wäre das | viel zu modern moralistisch geurteilt, um für alte Sage zu
gelten. Und ersichtlich ist es ein trefflicher Abschluß, wenn nun die
Männer, die so ernste Abenteuer Seite an Seite erlebt haben, noch einmal
in friedlichem, glänzendem Kampfspiel miteinander um die Ehre ringen.
Ein von aller Argonautendichtung gesondertes Epos über die Leichenspiele
des Pelias ist wohl an sich nicht undenkbar, aber seltsam wäre es gewiß,
und befriedigender wird man die hier vorgetragene Zusammenfügung
nennen müssen.
Ist somit das Wesentliche der Argonautensage von der Ausfahrt des
Phrixos bis zur Heimkehr Jasons nach Kolchis für das ionisch-milesische
Epos gewonnen, so darf die Aufgabe der Kritik erst zur Hälfte als gelöst
gelten. Und hier befinden wir uns eben an dem Punkt, an dem mein
Widerspruch gegen die allgemein geübte Methode einsetzt. Denn nun
gilt es vielen als selbstverständlich und keiner Erörterung mehr bedürftig,
daß die Hauptzüge der Sage — abgesehen von der pontischen Lokalisie-
rung und vielleicht diesen oder jenen Zusätzen — aus Thessalien hinüber-
gekommen seien, weil ja eben die Haupthelden in Thessalien sitzen, und
weil die Argo von Jolkos ihre Ausfahrt antritt 24 . Das ist der methodische
Fehler, gegen den ich mich wende, und erfordert wird vielmehr der
Versuch, in vorsichtiger Analyse die Herkunft der einzelnen Motive
innerhalb der milesischen Sage zu zeigen. Ein überall gleichmäßig sicheres
Ergebnis läßt sich nicht erwarten, und man muß die verschiedenen Grade
der Wahrscheinlichkeit abzuschätzen bemüht sein. Aber schon die
Negation gegenüber der ohne Bedenken geübten Methode scheint mir ein
methodischer Fortschritt.
Das Wichtigste hat Otfried Müller geleistet (Orchomenos 158 ff.),
indem er auf den bei Herodot (VII 197) überlieferten Kultbrauch von
Halos in der Phthiotis aufmerksam machte. Die Stadt galt als Gründung
des Athamas. Ein 'Aftaixavuov iteöiov kennt dort Apollonios25. Das Haupt-
heiligtum ist das des Zeus Laphystios. Und nun erfahren wir, daß der
älteste aus dem Geschlecht des Athamas oder, was dasselbe ist, aus der
Nachkommenschaft des Phrixossohnes Kytissoros das | Gemeindehaus
(Xr)itov) nicht betreten darf; sonst verfällt er dem Opfertode, offenbar
am Altar des Laphystios26. Viele sind schon außer Landes geflohen.
Kehren sie aber doch zurück und werden im Gemeindehaus ergriffen, so
werden sie einem Opfertiere gleich geschmückt und in feierlicher Prozes-
sion zum Tode geführt. - Wie dieser im einzelnen nicht mit wünschenswer-
ter Klarheit kenntliche Tatbestand aufzufassen sei, braucht uns hier nidit
zu kümmern. Aber Herodot fügt noch das Aition hinzu: Kytissoros sei
aus Kolchis zurückgekehrt und habe den Athamas gerettet, den man
gerade wegen Dürre und Mißwachs als v.aftapnós habe opfern wollen. Und
was Herodot nicht sagt, was aber nicht minder klar ist: auch das Schicksal
des Phrixos verläuft in einer ganz parallelen Linie: auch er soll aus Anlaß
einer Dürre geopfert werden, auch er wird gerettet und geht außer
Landes.
Nun ist ja klärlich der Bericht des Herodot durch die vom Epos aus-
gebildete Gemeinsage beeinflußt: die Erwähnung von Kolchis zeigt das
ganz fraglos, und im einzelnen kann gewiß nodi manches in gleicher
Weise unursprünglidi sein. Aber in der Hauptsache stimmt doch der uralte
Kultgebrauch - das Verfallensein des Opfers, die Flucht - so genau mit
den Sagen von Athamas und Phrixos, und Athamas gehört eben auch
sonst so deutlich nach Halos, daß hier ein ursprünglicher Zusammenhang
schwer bestritten werden kann. Also hat die Sage von Athamas, Nephele
und Phrixos wahrscheinlich hier ihren Ursprung 27 . In welcher Form
freilich, das kann man unmöglich noch scharf erfassen. Aber das Motiv
der Unfruchtbarkeit, das ja mit Nephele, der Wolke, zusammengehört28,
und das des Widders, der anfangs gewiß nicht golden gewesen ist, sondern
ein Opfertier, wird ursprünglich sein. Ganz unberechtigt hingegen wäre
es, nun auch die Geschichte von Jason und Medea in dieser selben Gegend
mit der von Phrixos verbunden zu glauben. Dafür spricht nichts und
29
Wenn die Athamas-Phrixos-Sage nach Milet gekommen ist, könnte man vielleicht
als Zwischenglied Teos einschieben. Denn diese Stadt heißt Gründung des Athamas
und muß doch wohl vom Geschlecht ihres Gründers erzählt haben. Aber beweisen
läßt sich diese Möglichkeit nitht.
30
Auf Servius Georg. II 140 zu bauen, wo die Drachentötung an den Anfang gesetzt
wird, geht nicht an. Das kann trotz H . D. Müller, Myth. d. griedi. Stämme II 340 ff.,
keine edite Oberlieferung sein. Wenn das schatzhütende Ungeheuer getötet ist, wozu
dann noch die anderen Proben?
28 Mythologie und Heldensage [3101311]
Kadmos nach der Tötung des Ungetüms dem Ares zur Buße ein ,ewiges
Jahr' dienen läßt.
Ohne diese aus der Kadmossage übernommenen Motive aber ist die
Argonautensage gar nicht oder nur mit Mühe denkbar. Man wird also
urteilen dürfen, daß diese Züge nicht in eine so gut wie fertige Argonauten-
sage nachträglich übernommen worden sind, sondern daß sie zum Aufbau
des Gesamtkomplexes notwendigen Stoff geliefert haben. Man setzt ein
böotisches Stadium der Argonautensage an, um die Aehnlichkeit zu
erklären 31 . Aber ich wüßte nicht, wie und wann man das statuieren
könnte, und wenn mein Bild von der Gesamtentwicklung richtig ist, so
müssen wir vielmehr fragen: wie ist es denkbar, daß milesische Dichtung
die Kadmosmotive zum Aufbau des Argonautenepos benutzt? Und die
Antwort lautet: nichts ist leichter erklärlich als dies; denn, daß man die
Sage von Kadmos in Milet aufs lebhafteste gepflegt hat, daran zweifelt doch
heut wohl niemand. Dabei ist es vollkommen gleichgültig, ob man diese
Sage geradezu für wesentlich ionisch-milesisch hält wie Wilamowitz und
Schwartz32, ob man gar mit mir noch darüber hinausgeht und so weit,
selbst den Namen Kadmos für kleinasiatisch zu halten 33 , — oder ob man |
den Milesiern (was ich allerdings für durchaus schief und inkonsequent
halte) nur ein lebendiges Interesse an diesen Sagen zuschreibt.
Man darf wohl noch einmal zusammenstellen, was für milesische
Kadmossage spricht. Kadmos heißt Sohn oder Bruder des Phoinix, und
von diesem Phoinix stammt Atymnios, ein karischer Heros. Kadmeer
sind nach Herodot an den ionischen Gründungen beteiligt; Priene führt
den alten Namen Kadme, die Bewohner werden Kadmeer genannt; in
der Nähe liegt das archaische Städtchen Thebai an der Mykale; das
milesische Geschlecht der Theliden führte sich auf Kadmos zurück.
Kadmos der Thebaner und Kadmos der Milesier heißen gleichermaßen
Erfinder der Buchstabenschrift; Kadmos von Milet ist ein mythischer
Schriftsteller, ,der zuerst in Prosa schrieb, wenig jünger als Orpheus*.
Kadmos heißt ein Berg und ein Fluß im oberen Mäandertal. Schließlich
lehrt nach dem Beweise von Schwartz die Form der Kadmossage wenig-
31
Jessen, Proleg. in catalogum Argonautarum (Diss. Berlin 1889) 31 ff. 38. Jessen nimmt
ein argivisches, ein böotisches und ein thessalisches Stadium der Argonautensage an.
Die Hypothese hat eine entfernte Verwandtschaft mit meinen Ergebnissen, aber sie
scheint sidi mit den literarischen Gegebenheiten nicht zu vertragen. Sagenforschung
ist zunächst Literaturgeschichte.
32
Wilamowitz, Homer, Unters. 139. Schwartz, Quaest. Herodoteae (Ind. Lect. Rost.
1 8 9 0 ) 1 0 ff.
33
Ich verweise auf das, was ich Philol. Unters. X I X 60 ausgeführt habe und was mir
noch heut wahrscheinlich ist, daß die Argonautensage nidit nur von der Kadmossage
beeinflußt sei, sondern diese ihrerseits wieder beeinflußt zu haben scheine, woraus
natürlich die Entwicklung beider Sagen an demselben Orte nur noch klarer würde.
Aber ich brauche das und anderes hier gar nicht und will nur sagen, daß der Wider-
spruch von Bethe, Gött. Gel. Anz. 1907, 706, mich trotz seiner Schärfe an der Sadie
nicht irre macht: das sprachliche Argument hat er nicht gewürdigt.
[311 ¡312] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 29
stens das Negative, daß sie nicht in Böotien entstanden sei; die Böoter
hätten ihren Stadtgründer nicht aus der Fremde kommen lassen.
Wir haben hier nicht über die Kadmossage zu handeln, wir braudien
nur das Resultat, wie stark innerhalb des Kulturkreises von Milet in sehr
alter Zeit das Interesse für die Sagengestalt des Kadmos gewesen sein
muß. Damit ist für mich bis zu der in solchen Dingen überhaupt erreich-
baren Wahrscheinlichkeit bewiesen, daß das milesische Argonautenepos
die in Rede stehenden Motive aus der milesischen (oder in Milet geläufi-
gen) Kadmossage übernommen hat.
Noch von einem dritten Abschnitt der milesischen Argonautensage
läßt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit die Herkunft bestimmen: von der
Landung bei Phineus und dem Harpyienabenteuer. Es ist klar, daß diese
Sage nur locker mit dem Ganzen verknüpft ist, und daß sie eine selb-
ständige Existenz nicht nur gehabt haben kann, sondern bei dem alter-
tümlichen Charakter, der ihr eigen ist, wahrscheinlich gehabt hat. Phineus
ist nicht immer an demselben Platze angesiedelt, son|dern einmal in
Thrakien, gewöhnlich in Paphlagonien, und hier wieder vor der Durch-
fahrt durch den Bosporus oder nach ihr, je nachdem man ihn die Hin-
fahrt durch die Plankten prophezeien ließ oder nicht. Daneben aber gibt
es, wie Hiller von Gaertringen bewiesen hat 34 , noch eine ganz andere
Lokalisierung, die ihn zum Arkader macht. Sie ist nur in schwachen
Spuren und spät überliefert 35 , so daß man wohl bedenklich werden könnte,
aber sie bestätigt sich durch gewisse Züge in der Sage selbst: die Harpyien
werden bis zu den Strophaden südlich von Zakynthos verfolgt, eine von
ihnen fällt in den peloponnesischen Fluß Harpys. Es versteht sich von
selbst, daß die arkadische Phineussage, wenn sie denn alt und ursprünglich
ist, mit der Argonautik noch nicht verbunden gewesen sein kann. Diese
Verbindung ist so erfolgt, daß man die Boreaden zu Teilnehmern der
Fahrt machte und den Phineus von Arkadien her dorthin versetzte, wo die
Argo vorüberkam, also irgendwo an das Meer zwischen Thessalien und
Aia. Besteht demnach die Phineussage in Arkadien für sich, und ist sie
in Milet dem großen Argonautenzyklus eingegliedert, so muß, falls die
Zeugnisse uns nicht täuschen, für diese Motivgruppe der Weg aus den?
Peloponnes nach Milet angesetzt werden.
Noch immer aber wissen wir nicht, woher Milet die wichtigsten
Gestalten, Jason und Medea, empfangen hat. Ganz unberechtigt ist es,
diesen Teil der Sage ohne weiteres Bedenken für urthessalisch zu halten
und mit dem wirklich thessalischen Element von Phrixos und dem Vließ
schon in Thessalien verbunden zu denken. Das ist zum mindesten un-
erweislich. Für Jason könnte man allenfalls seine Verwandtschaft mit
Pelias und Aison heranziehen, um ihn im Norden des pagasäischen Golfs
36
Wenn Aison nach A p . Rh. I 45 ff. Alkimede, die Tochter des Phylakos und Schwester
des Iphiklos, zur Gemahlin hat, so weist diese Verknüpfung wohl nach Milet; s. meine
Argolica 67.
37
Daß Medea in Korinth ursprünglich ansässig sei, ist die Meinung z. B. von Otfr.
Müller, Ordiomenos 264; Wilisch, Über die Fragmente des Epikers Eumelos (Pro-
gramm Zittau 1 8 7 5 ) ; Jessen, Prol. in Argon, catal. 4 4 ; Odelberg, Sacra Corinthia
(Uppsala 1896) 1 8 1 . Die entgegengesetzte Ansicht vertreten etwa Groeger, De Argon,
fab. 22 ff.; Bethe, Theban. Heldenlieder 1 7 9 ; v. Wilamowitz, Einl. zur Übersetzung
der Medea 1 2 ff. (während er früher nach der anderen Seite neigte: Homer.
Unters. 122).
38 Dies nimmt auch Gruppe, Griech. Myth. und Reí. J 7 9 7 an.
[314j315] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 31
Hera, die ihr zum Lohn versprach, sie wolle ihre Kinder unsterblidi
machen. Nachdem diese nun gestorben sind, verehren die Korinther sie
unter dem Namen Halbbarbaren (uiloßaoßaQoi). Von dieser Benennung
abgesehen, die einen recht jungen Eindruck macht, wirkt die Sage alter-
tümlich und verlangt als Ergänzung irgend etwas der Art, wie Pausanias
es aus Eumelos berichtet. Genau passen die Motive nicht aneinander.
Denn wenn Hera jene Verheißung gibt, und wenn Medea ihre Kinder in
das Heiligtum bringt, müßte die Göttin ihr Versprechen einlösen. Da
das nicht geschieht, so fehlt hier ein verbindendes Motiv, etwa, daß Jason
den geheimnisvollen Vorgang stört, und daß den Kindern dadurch die
versprochene Wohltat entzogen wird. Dann möchte Medea ursprünglich
nicht als schuldbehaftet dem Jason gegenübergestanden haben, sondern
sie wird aus Zorn davongegangen sein, die Göttin von dem sterblichen
Manne, weil er eindringt in das was sie verbergen will. Es ist der Melusinen-
typus. Auf griechischem Boden enthält die Thetissage fast alle Züge wie
diese Medeasage auch, sogar die Werbung des Zeus, der dodi dem allge-
meinen Typus nicht angehört. So wird man denn leidit eine Beeinflussung
von hier aus annehmen wollen. In einem Zuge jedoch ähnelt die Medea-
sage einem andern Beispiel derselben Form stärker. Bei Thetis handelt es
sich nur um einen Sohn; Medea verbirgt tö det Yiyvonevov. Und die indische
Sage erzählt ganz ebenso, wie die Flußgöttin Ganga, die sich dem König
Santanu vermählt hat, ein Kind nach dem andern in den Strom wirft 39 .
Die Uebereinstimmung kann gewiß Zufall sein. Es ist aber mit der Mög-
lichkeit zu rechnen, daß die Medeasage hier einen ursprünglicheren Zug
bewahrt hat, also nicht schlechtweg eine Nachahmung der Thetissage ist.
Eine ganz andere Legende (Parmeniskos im schol. Eur. Med. 264) läßt
die sieben Söhne und sieben Töchter der Medea im Heiligtum der Hera
von den Korinthern getötet werden. Da tritt die Geschichte als Aition
für einen Sühnebrauch auf, und gewiß wird das eine spätere Umwand-
lung sein. Aber für jene ältere Erzählung ist die Frage berechtigt, ob diese
Medea wirklich den Korinthern erst bekannt wurde, als man das Epos
vom Argonautenzug nach Korinth übertrug. Mich macht der altertümliche
Charakter der korinthischen Medeasage bedenklich, und ich neige dazu,
umgekehrt anzunehmen, daß man schon vorher in Korinth von Medea
erzählt habe, und daß hierin die Erklärung zu suchen sei, wie man es
denn gewagt hat, den Aietes zu einem Korinther zu machen. Das ist frei-
lich ein subjektives Wahrscheinlichkeitsurteil, und nidit jeder wird geneigt
sein, sich dem anzuschließen. Aber noch ein anderes Zeichen weist, wie
es scheint, in dieselbe Richtung40. In Kerkyra zeigte man die Höhle der
39
E . H . M e y e r , Indogermanische Mythen II 578. Oldenberg, Veda 2 5 3 1 . Vgl. Real-
encycl. „Rhoikos 3 " .
40
Vgl. Jessen, Proleg. in Argon, catal. 40. Ob die Sage von Byzanz wirklich auf Megara
zurückgeht, bezweifle ich sehr. Der Bosporus liegt doch zu sehr an der Fahrtlinie des
ausgebildeten milesisdien Argonautenepos, um nicht nachträgliche Fixierung auf
Grund dieses Epos wahrscheinlicher zu machen.
32 Mythologie und Heldensage [3151316]
Makris, in der Jason und Medea ihre Ehe vollzogen hatten, xeivo xai
eiöeti viv ieqöv xXr][^ETai avtpov Mr|öeir|g, so berichtet Apollonios (A 1 1 5 3 f.),
der dem Timaios zu folgen scheint41. Das sieht recht altertümlich aus und
erschien dem Philitas schon so befremdend, daß er die Höhle durch den
Palast des Alkinoos ersetzte42. In den Naupaktia siedelten sich Jason und
Medea nach dem Tode des Pelias, d. h. jedenfalls unmittelbar oder bald
nach der Heimkehr aus Kolchis, in Kerkyra an, und man möchte ver-
muten, daß die Naupaktien jene altertümliche Sage von der Makrishöhle
kannten. Jedenfalls kamen in diesem Epos zwei Söhne des Paares,
Mermeros und Pheres, vor, und den Mermeros kennt in Ephyra an der
gegenüberliegenden epirotischen Küste bekanntlich der erste Gesang der
Odyssee43. Daß diese Erfindungen auf Eumelos basieren, ist nicht leicht
möglich, da sie ihm ja vollkommen widerstreiten. So scheint es auch von
dieser Seite her, daß man in Korinth eine alte Sage von der Vermählung
Medeas mit einem sterblichen Gatten (vielleicht hieß er schon Jason)
besaß, und daß man diese Sage in die Kolonie Kerkyra mitnahm, wo sie
neu lokalisiert wurde. Das Gedicht des Eumelos und die Naupaktien hätten
dann jenes die | korinthische, dieses die korfiotische Lokalsage mit dem
milesischen Argonautenepos verbunden44.
Wer dies alles bestreiten will, hat folgende Annahmen nötig: Weder
in Korinth noch in den korinthischen Kolonien habe man von Medea
irgend etwas gewußt. Dann sei die milesische Sage in Korinth übernom-
men und fortgebildet worden nur deswegen, weil das Herrschergeschlecht
von Kolchis auf den Ahnherrn Helios zurückging, und weil man in
Korinth den Sonnengott eifrig verehrte. Jetzt hätten sich in Korinth und
in den Kolonien anschließend an diese willkürliche Uebertragung ganz
selbständige Medeasagen entwickelt, und schließlich habe man in Kerkyra
die dort neugebildete Medeasage wiederum selbständig und ohne Rück-
sicht auf das korinthische Vorbild mit der milesischen Argonautensage
verbunden. Für unmöglich kann man das nicht erklären, aber schwere
Bedenken gegen diese Konstruktion drängen sich auf. Der Helioskult
allein will kaum als zureichender Anlaß für die Uebernahme der Sage
nach Korinth erscheinen. Die korinthische Medeasage zeigt eine so alter-
tümliche Prägung, daß man sie ungern nur auf Grund eines ganz fremden
und verhältnismäßig spät übertragenen Epos entstanden denken möchte.
Und die korkyräische Medeasage ist gegenüber der korinthischen wieder-
um zu selbständig, zu alt und zu altertümlich, um die Annahme leicht
41
A p . Rh. I V 1 1 2 8 ff.; Timaios im Schol. 1 2 1 7 (S. 1 3 2 Geffcken). Bestimmte O p f e r und
A l t ä r e galten zur Zeit des Timaios als Stiftungen der Medea.
42
Schol. A p . R h . I V 1 1 4 1 . 1 1 5 3 . 1 2 1 7 .
43
S. v . W i l a m o w i t z , Homerische Untersuchungen 26.
44
M a n muß darauf hinweisen, daß die N a u p a k t i a nicht nur einem naupaktisdien, son-
dern auch einem milesischen Dichter zugeschrieben wurden (Paus. X 38). M a n sieht,
wie wertvoll solche Herkunftsangaben sind.
[3161317] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 33
Milesische Argonautensage
+ +
Korinthischer Anfang Korinthischer Schluß |
45
Wenn man die Erörterung Bethes, Theban. Heldenlieder 1 7 8 fï., billigt, so könnte
man vermuten, daß es der O r t E p h y r a uuxtö "Aqyeoç gewesen sei. E i n Versuch,
E p h y r a zu fixieren, steht Gazette archéologique X 1 8 8 5 , 402. (In meinen früheren
Andeutungen über E p h y r a , A r g o l i c a 94, ist viel Phantastisches.)
34 Mythologie und Heldensage [1171319]
kosepisode (Z 222 ff.) erzählt Diomedes von seinem Vater Tydeus, und
wie der ihn als kleinen Jungen verlassen habe, um gegen Theben zu
ziehn, wo das Heer der Achäer zugrunde ging. Im vierzehnten Gesang
(3 109 ff.) spricht Diomedes wieder von seinem Vater Tydeus, der vor
Theben gefallen liegt, und gibt dessen Genealogie und Jugendgeschichte.
Portheus, König von Pleuron und Kalydon, hat drei Söhne, Agrios,
Melas und Oineus. Dessen Sohn Tydeus siedelt als irrender Recke nach
Argos über und heiratet eine Tochter des Adrast. Überall herrscht Über-
einstimmung mit der Gemeinsage.
Es ergibt sich also, daß den Iliasdichtern die Geschichten vom theba-
nischen Krieg durchaus lebendig waren. Im W schwebt ein Gedicht vor,
das den Oedipus mit dem thebanischen Kriege verband; an den anderen
Stellen klingt ausgebildete Dichtung vom Kriege selber durch, und sie
ist, wenn wir uns nur in genügende Entfernung vom Detail stellen, die
Sage so wie wir sie kennen. Aber was noch wichtiger ist: es handelt sich
hier nicht um Episoden, die man beseitigen könnte. Es muß jedem ein-
leuchten, daß die thebanische Sage den tiefsten Einfluß auf die troische
ausgeübt hat. Euryalos ist ja nur als Sohn des Mekisteus vor Troja und
insbesondere an den Wettkämpfen beteiligt. Aber auch Sthenelos spielt
eine unerhebliche Rolle, während sein Vater Kapaneus als die am schärf-
sten umrissene Gestalt unter den Helden von Theben gelten darf. Zwei-
felt jemand, daß Sthenelos gleichfalls nur als Sohn des Kapaneus ins
troische Epos eingedrungen ist oder, wenn man will, als ,Epigone'? Ja
vielleicht könnte sogar Diomedes auf dieselbe Weise in die trojanische
Sage erst nachträglich verflochten worden sein. Gewiß ist er einer der
besten Helden, die vor Troja kämpfen. Aber tut er eigentlich etwas ganz
Entscheidendes? Auch er scheint vielmehr weniger notwendig in der tro-
janischen Sage zu sein als sein Vater Tydeus in der thebanischen. Und
zum mindesten die Frage ist erlaubt, ob das Urteil über ihn nicht eben-
so zu lauten habe wie über Euryalos und Sthenelos. Ueber diese aber fühle
ich mich ganz sicher50.
Als Ergebnis darf ich dieses in Anspruch nehmen, daß die Dichter
unserer Ilias den thebanischen Sagenkreis in ausgebildeter Form kennen,
ja daß sie für das Zustandekommen des Trojaepos, sowohl für den Per-
sonenbestand wie für die Motive, der Dichtung vom thebanischen Kriege
aufs stärkste verschuldet sind. Das kann nach meiner Auffassung gar
nicht anders gedacht werden, als daß schon im neunten und achten Jahr-
hundert, wenn nicht früher, die Sage vom Kampf der Argiver gegen
Theben im Heldensange Kleinasiens ausgebildet worden ist. Ich meine
damit niemandem etwas erheblich Neues zu sagen51.
50
Ich lese bei Robert, Studien zur Ilias 3 7 j : „ D a ß Diomedes ursprünglich nicht in den
troischen, sondern in den thebanischen Sagenkreis gehört, brauche ich hoffentlich nicht
erst zu beweisen."
51
V g l . E d . M e y e r , Gesch. d. Altert. I I § 1 2 3 .
38 Mythologie und Heldensage [322¡324]
52
Hermes X X V I 224. - Die schwierigen Fragen nach der Geschichte der thebanisdien
Befestigung brauchen jener einfachen Erwägung gegenüber zum Glück nicht ent-
schieden zu werden. Die letzte Behandlung der Frage durch Gomme im Annual of
the British School at Athens X V I I 29 ff. Taf. X I X ignoriert die Fundtatsachen und
die Überlieferung, so daß diese Hypothese, die die archaische Stadt in den Norden
der Kadmeia legt, wie Wilamowitz die hellenistische, ausscheiden muß. Der Mauerzug,
wie ihn, den Plan von Fabricius (Theben. 1890) berichtigend, die Karten in Baedekers
Griechenland (1908, nach S. 174) und im Guide Ioanne 223 geben, ist nach F. Böltes
Urteil, das er mir freundlichst zur Verfügung stellt, nicht archaisch, sondern aus der
Zeit des Epaminondas. In archaischer Zeit sei nur die Kadmeia befestigt gewesen. -
Für die Siebenzahl der Tore in archaischer Zeit bietet Pindar schlechterdings nicht
das Zeugnis, das Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. II § 123 Anm., ihm entnehmen will. Denn
gesetzt, die Stadt hätte damals nur drei Tore gehabt, und dem Dichter wäre der
Widerspruch mit der Wirklichkeit fühlbar geworden, so fand er wohl noch einige
Mauerpförtdien oder irgendein anderes Mittel, um das epische Beiwort vor seinem
Verstände zu rechtfertigen. - Um die mykenische Stadt einzugrenzen, kommen bisher
vier Gräberstätten in Frage: südlich der Kadmeia bei H . A n n a , südlich der Vor-
stadt H. Theodori, nördlich von H. Lukas (dem Ismenion) und am linken Ufer der
Dirke (vgl. Keramopoullos, 'Ecpri^. aQ%. 1910, 209 ff.). Danach wäre es an sich
möglich, daß der „mykenische" Mauerring nicht nur den Hügel der heutigen Stadt
umfaßt, sondern sich bis an den Ismenos ausgedehnt hätte. Aber das ist wegen des
Umfangs so gut wie ausgeschlossen. - Ob die Beobachtung von Keramopoullos ('EcpT)[i.
uqx- 1909, 107), daß die Kadmeia in „mykenischer" Zeit kein einheitlicher Hügel
gewesen sei, sondern aus vier getrennten Kuppen bestanden habe, für die Frage nach
dem Mauerzug etwas austrägt, kann ich nicht übersehen. - Die Hypothesen von
Robert, der zunächst für das „mykenische" Theben ein einziges Tor, ein Heptapylon
annahm (Hermes X L I I 93), dann mit der Möglichkeit rechnete, es seien drei Tore
gewesen und eins davon ein Tetrapylon (mußte heißen Pentapylon; Pausanias als
Schriftsteller 174), sind unbeweisbar. Aber wenn sie richtig wären, so würde die
poetische Willkür (Robert spricht von einem Mißverständnis) des ionischen Epos um
nichts weniger klar sein, da es sich doch in diesem um sieben selbständige und gleich-
wertige Tore handelt.
Aber ein so von innen her die Sage gestaltender Zug kann kaum rein
technisch formaler Absicht sein Dasein verdanken. Es ist auch sdiwer
einzusehen, warum das Nacheinander sich leichter ergibt, wenn die Hel-
den verschiedene Tore berennen, als wenn sie etwa in einer Heeressäule
anrücken. Ich glaube vielmehr, daß der Ausdruck ,siebentorige Stadt',
der ja von dem ,hunderttorigen Theben' ins Wunderbare überboten wird,
zunächst nur die mächtige Stadt mit dem großen Mauerring in symbo-
lisch-anschaulichem Ausdruck bezeichne, und daß die ,Siebentorigkeit'
dann die Anzahl der Helden fixiert habe. Aber auf alle Fälle ist der
Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Dichtung unüberbrückbar. Daß
die dichterische Vorstellung in Böotien entstanden wäre, ist mithin eine
fast unmögliche Annahme. Argos ist gewiß als Ursprungsland nicht völ-
lig ausgeschlossen. Aber davon wissen wir nichts, und wir sehen uns
diesem Tatbestand gegenüber, daß das Bild des siebentorigen Thebens
im kleinasiatischen Epos lebt und zeugt, demselben Epos, welches die
ausgebildete Gestalt der thebanischen Sage kennt, und daß diese sieben
Tore eine Schöpfung der Phantasie sind, die man in einem weiten Ab-
stand des Ortes und der Zeit von der historischen Wirklichkeit denken
möchte.
Muß man also festhalten, daß wir die Dichtung vom thebanischen
Krieg zuerst in ,homerischer' Zeit auf ionischem Boden finden, und daß
die sieben Tore, die für das fertige Gebilde unentbehrlich sind, nicht mit
irgendwelcher Gewähr einer hypothetischen, älteren, mutterländischen
Stufe der Sage zugewiesen werden können, so verstärkt, wie es scheint,
eine Betrachtung der Heldennamen die bisher gewonnenen Eindrücke.
Die sieben Tore erfordern sieben Heroen, und da die Namen im wesent-
lichen feststehen, so müssen wir dieselben bereits für das alte ionische
Epos fordern. Da macht man nun die bemerkenswerte Erfahrung, daß
deren Formen - wenn wir, wie billig, gleich von vornherein dem Aetoler
Tydeus sowie dem Adrast und Amphiaraos eine Sonderstellung ein-
räumen - vollkommen durchsichtig sind, also verhältnismäßig jung er-
scheinen, und daß sie fast alle deutlich daktylisch-anapästischen Silbenfall
haben. Man stelle nur die Helden der Ilias, 'AxiAXsiig, 'Oö^oaeug, Aiag,
"E-xxtop, Aivsiag, 'AxQEijg, Nr)Xei>g, Negtcüq neben noXweucrig, 'EteoxXijg,
'Iitjtouiöcuv TaXa'ioviörig, napftevojiaiog, MsXävijutog, vielleicht auch Kouta-
vEiiig54, um den Unterschied zu spüren: in der Ilias Gebilde, die teils sdiwer
deutbar, teils ganz undeutbar sind und dem Hexameter zwar nicht wider-
54 Von Wilamowitz gleich *2xajtav£t>g gesetzt, also als redender Name gedeutet. Von
den thebanischen Gegnern wurde abgesehen (außer Eteokles und dem berühmten
Melanippos), weil sie jünger sein können: IIoXuqp6vTT]5, Mevageiig, Yjtepßiog
Oivojio; stammen bei Aischylos natürlich aus dem Epos, während er in Aaaft£vr]g
(worauf Wilamowitz mich einmal hinwies) dem Amphiaraos ersichtlich aus eigner
Macht einen Gegner geschaffen hat, den die Sage nicht kannte, da ja Amphiaraos von
niemandem getötet wurde.
40 Mythologie und Heldensage [325¡326]
55
Im Sinne der obengegebenen Darlegung ist es unberechtigt, wenn z. B. Legras, Les
legendes thebaines 4 5 , zwei Schichten, eine ursprünglich thebenfreundlidie, also wohl
böotische, und eine thebenfeindliche, argivische, unterscheiden will. Die Namenbildung
' E t e o x M i s gegenüber IloXuveixiig d a f ü r als Beweis anzurufen, beruht auf modernem
und unrichtig geleitetem Sprachgefühl. IIoAtiV£bir|g der Streitfrohe (nicht le
querelleur\) ist kein Schimpfname.
[326/327] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 41
56
Als ältester Mittelpunkt der Kaikoslandsdiaft gilt heute Teuthrania, jene Siedlung
am rechten Kaikosufer zwischen Pergamon und Elaia. Vgl. Thrämer Pergamos 207 ff.,
Conze Ath. Mitt. X I I 149 ff. Diese Annahme scheint irrtümlich zu sein. Denn die
literarische Überlieferung fordert den Ansatz einer a l t e n Stadt Teuthrania über-
haupt nicht, und die Namensform ist (worauf mich Wilamowitz einmal aufmerksam
machte) zunächst die einer Landschaft, nicht die einer Stadt. Nun hat die Grabung
bisher für ein uraltes Teuthrania nicht das Mindeste ergeben. Was wir dort gefunden
haben (vgl. Ardi. Jahrb. X X I I I Anz. 114) ist, wie ich im Widerspruch zu den falschen
Angaben von Schudiardt (Pergamon I, Topographie der Landschaft 115) bemerke,
ein Kastell frühattalischer Zeit. Eine Stützmauer schien älter zu sein, läßt sich aber
gut mit der Ansiedlung des Damaratos (Xen. Anab. II 1, 3. VII 8, 17) kombinieren,
so daß man die „Stadt" Teuthrania nicht über das fünfte Jahrhundert hinaufzudatie-
ren braucht. Man muß betonen, daß die Grabung bisher keine einzige archaische
Sdierbe dort geliefert hat. Daß wirklich nichts Archaisches vorhanden sei, kann man
freilich noch nicht ganz fest behaupten, und notwendig muß oben auf dem Gipfel an
einigen Stellen bis zum gewachsenen Boden durchgegraben werden, was leider 1907
von mir versäumt worden ist, weil mir das Problem erst während und nach der
Grabung deutlich wurde. Das Ergebnis der kleinen Arbeit (zwei Tage dürften
genügen) wird sehr wahrscheinlich für die archaische Siedlung negativ sein. Aber ich
möchte schon jetzt den von Schudiardt gewiesenen Ausweg, daß in Teuthrania wie in
Pergamon der Herrschersitz in alter Zeit offen am Fuße der Burg gelegen habe, als
eine bedenkliche Hypothese bezeichnen. Die archaischen Städte Ioniens, die wir
wirklich kennen, liegen auf dem Berg. - Das geistige Zentrum der Kaikosebene wird
eben in alter Zeit nicht jene Stadt Teuthrania gewesen sein, die nur moderne Hypo-
these so hoch erhoben hat, sondern Elaia. Mein Versuch (Philol. Unters. X I X 161),
die Herakles-Telephos-Geschidite an die Stadt Teuthrania zu knüpfen, war verfehlt,
w S. unten S. 45.
42 Mythologie und Heldensage [328¡329]
Zum Schluß muß man noch eine prinzipielle Frage aufwerfen, die
nämlich, ob die Epigonensage als Imitation der Sage von den ,Sieben'
entstanden ist. So nimmt man meist an58, und manches spricht dafür. Ge-
wiß sind die Väter viel schärfer herausgearbeitete Helden, und der Be-
richt von ihrem Untergang spricht viel lebhafter zu unserer Phantasie.
Gewiß ist es eine künstliche Symmetrie, daß in der älteren Generation
alle bis auf Adrast ihren Tod finden, während von den Epigonen alle
bis auf den Sohn des Adrast am Leben bleiben, und daß Eriphyle von
Polyneikes mit dem Halsband wie von seinem Sohne Thersandros mit
dem Peplos bestochen wird. Und beide Male liegt die Nachbildung, wie
es scheint, auf Seiten der Epigonensage. Aber an einer Stelle muß doch
wohl das Urteil anders lauten. Es ist ein offenbar altertümlicher Zug der
Sage, und wir kennen ihn sogar in zwei Brechungen59, wie Athene dem
schwer verwundeten Tydeus die Unsterblichkeit bringen will, dann aber,
als er in seiner tierischen Wut das Hirn des toten Melanippos schlürft,
sich schaudernd abwendet und ihm die Gabe versagt. Wenn man nun bei
Pindar (Nem. X 7) liest, daß einst die Glaukopis den Diomedes zu einem
Gott gemacht habe, so läßt sich darin jener selbe Parallelismus nicht ver-
kennen. Hier wird es äußerst schwer, in der Epigonensage die sekundäre
Umbildung zu sehen, und man möchte glauben, daß Athenes Beginnen
bei Tydeus nur darum mißlingt, weil es nachher bei seinem Sohne ge-
lingen wird 60 . Damit zeigt sich aber, wie die Sage von den Vätern und
die von den Söhnen sich g e g e n s e i t i g beeinflußt haben, und das
scheinbar so klare Ergebnis wird sehr in Zweifel gerückt. Es ist recht wohl
zu fragen, ob nicht die Eroberung Thebens gleich anfänglich oder doch
sehr früh von der Sage konzipiert wurde (möglich sogar, daß der Krieg
wirklich mit dem Untergang Thebens endete), und ob nicht der mißj-
lungene Zug der Väter nur eine ursprünglichere und lebendigere Ausbil-
dung erhielt, darum weil es der erste, jener der zweite war, und weil der
Untergang eines Heeres die Phantasie stärker erregt, zumal wenn im
Hintergrund ein endlicher Sieg die helle Folie bildet.
58
Z. B. v. Wilamowitz Hermes X X V I 239; entgegengesetzt Gruppe Griech. Myth. u.
Rel. 512, von dem ich freilich sonst vollkommen abweiche.
59 Bethe, Theb. Held. 76.
60
Selbstverständlich kann es nicht innerhalb des Epigonenepos erzählt, sondern nur
prophezeit worden sein, wofür man an Menelaos bei Proteus denke. Aber diese Pro-
phezeiung wird man für die Epigonoi mit einiger Wahrscheinlichkeit voraussetzen
dürfen.
[3291330] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 43
lyse der Ueberlieferung oder die Frage nach der Rekonstruktion einzelner
Epen, deren Titel uns überliefert sind, gehört nicht notwendig hieher.
Dennoch möchte ich den Versuch machen, auch diese Spezialuntersuchung
an einem Punkte zu fördern. Das Ergebnis w i r d ein Widerspruch gegen
Bethes ,Thebanische Heldenlieder' sein. Darum ist es nur billig, im vor-
aus zu betonen, daß jede Forschung von diesem grundlegenden Buche
auszugehen hat. Im besonderen ist die Scheidung der verschiedenen T r a -
ditionen und auch die Zusammenfügung, die ich im folgenden vortra-
gen werde, zum großen Teil Bethes Werk.
Wie es dem Motivparallelismus zwischen der Sage von den ,Sieben'
und der von den ,Epigonen' entspricht, kehrt Eriphyles Bestechung durch
Polyneikes in der zweiten Generation wieder als Eriphyles Bestechung
durch Thersandros. Daneben aber haben w i r die Nachricht, daß Adrast
es gewesen sei, der sie durch das Geschenk des Halsbandes seinem Willen
geneigt gemacht habe 61 . Diese zweite Sagenversion kannte die Bestechung
durch Thersandros schwerlich, da in der ersten Vater und Sohn einander
entsprechen. Wenigstens könnte eine so unsymmetrische Gegenüber-
stellung wie die zwischen Adrast und Thersandros, wenn sie irgendwo
vorgekommen sein sollte, nur einer mißratenen | und sekundären Sagen-
bildung angehören. U n d jedenfalls ist zu suchen, ob in irgend einer
Sagenform die Bestechung durch Thersandros n i c h t vorkommt. Das ist
nun in der T a t der Fall nach dem schol. X 326 6 2 , in dem Amphiaraos bei
der A u s f a h r t seinem Sohne Alkmaion den Befehl gibt, nicht früher gegen
Theben zu ziehen, als bis er die Mutter bestraft habe. Denkt man sich
den Befehl so ausgeführt, wie er gegeben w a r d — und es heißt ausdrück-
lich, daß Alkmaion ,dieses alles ausgeführt habe' dann ist die Be-
stechung durch Thersandros überflüssig und störend, weil ja der Rache-
zug dem Sohne schon vom Vater befohlen wird, die Mutter also nicht
erst einzugreifen braucht. U n d andererseits erzählt im Gegensatz zu
jener Sagenform des Odysseescholions Apollodor, der die zweite Be-
stechung kennt, daß Alkmaion die S t r a f e an der Mutter erst nach der
Heimkehr von Theben vollzogen habe. Mit der Wendung aber, daß
Muttermord und Entsühnung v o r den Epigonenkrieg fällt, gehört jener
Bericht des Ephoros zusammen, der den Alkmaion nach dem Krieg gegen
61
Bethe 52 f. Das Urteil über Apollodor scheint mir nicht ganz zutreffend zu sein. Denn
mit den Worten töv öquov Xaßoöoa ist im Sinne des Mythographen zweifellos „von
Polyneikes" gemeint und die Rückbeziehung auf das was vorhergeht: Ei Xaßoi töv
öp|j.ov und IToÄuvEL"/.r|q 6011g aijxfi töv opjiov ist ganz klar. Aber dieser Einwand
trifft das Wesentliche nicht, und die Scheidung der Traditionen scheint unanfechtbar.
62
Bethe 128. - Die Szene, wie Alkmaion vor seinem Auszuge die Mutter tötet, findet
Loeschcke (wie er Ath. Mitt. X X I I 263 angedeutet und mir mündlich näher aus-
geführt hat) auf dem Bilde der „tyrrhenischen" Amphora Arch. Jahrb. V I I I T. 1 dar-
gestellt (vgl. Thiersch, Tyrrhenische Amphoren 56 ff.). Die Symmetrie der beiden
Auszugsszenen von Vater und Sohn ist sowohl in der poetischen Konzeption wie in
der bildlichen Ausgestaltung augenfällig.
44 Mythologie und Heldensage [3301331]
Epos gehört. Es kann ja nicht gleichgültig sein, wer der Bestechende ist.
Ist es Polyneikes, so kommt das Motiv ganz von außen, ist es Adrast, so
schließt sich dieser Sagenzug mit dem Ganzen der hier von uns verfolgten
Sage aufs beste und schärfste zusammen. Denn Adrast rächt sich, wie
der Scholiast zu Pindar Nem. I X 3 5 sagt, schließlich an seinem alten Feinde
Amphiaraos, indem er durch Eriphylens Mittlerschaft den im stillen
immer noch Gehaßten ins Verderben treibt. |
Wir waren vorhin zu dem Wahrscheinlichkeitsschluß geführt wor-
den, daß die Bestechung Eriphyles durch Adrast zur Vorgeschichte der
Alkmaionis gehören müsse. War das richtig, und war es weiter richtig,
dieses Eingreifen des Adrast dem aus Herodot, Pindar und Menaichmos
rekonstruierten epischen Bericht einzufügen, so ist die Folgerung un-
vermeidlich: dieser epische Bericht gehört in die Alkmaionis.
Bethe hat bekanntlich anstatt dessen die 'Ajxcpiaeaov e|eXaaia ge-
nannt 67 . Das ist leicht zu widerlegen, da es, wie ich ehedem von Wilamo-
witz gelernt habe, ein solches Epos überhaupt nicht gibt. Ich darf seinen
Beweis hier in Kürze mitteilen. Nach der unter Herodots Namen gehen-
den Homerbiographie 48 dichtet Homer in Neonteichos 'Ancpidpeco E^sXaoi-nv
triv Eg 0r)ßag. Das ist wohl die einzige Bezeugung des Titels. Denn wenn
Suidas unter den Werken Homers 'Aiicpiagaou E§EXaaig nennt, so kann und
wird das aus Pseudo-Herodot stammen, den ja Suidas reichlich ausge-
schrieben hat. Die Thebais fehlt hingegen in dieser Homerlegende völlig,
und das muß gleich sehr bedenklich machen, wenn man an den alten
Ruhm der Diditung denkt, für die man ja bereits bei Kallinos den Homer
als Verfasser zitiert fand. Aber es kommt noch etwas Entscheidendes
hinzu. Nachdem der Dichter Neonteichos verlassen hat, erhält er von den
Söhnen des Königs Midas den Auftrag, die Grabschrift für ihren ver-
storbenen Vater zu verfassen, und dichtet die berühmten Verse XaXxrj
jtagMvog eijxi. Dieselbe Erzählung von dem Auftrag hat auch die Homer-
vita, die in dem Florentiner Traktat liegt '0|xt)qou xai 'Hoio5ov xal toü
Yevovg xai dycovog aintöv unmittelbar an die alte Dichtung vom Wett-
kampf angefügt worden ist69. Und auch hier geht dem Epigramm die
Abfassung der Thebais und der Epigonoi voraus. Es leuchtet ein, daß die
herodotische Vita und der Florentiner Traktat in dieser Partie auf die-
selbe Quelle zurückgehen, und daß diese im Traktat genau wiedergegeben
wird, während Pseudo-Herodot willkürlich änderte: er ließ die Epigonoi
fort, weil deren Echtheit von dem | wirklichen Herodot (IV 32) bestritten
war, wie sie auch im Traktat angezweifelt wird, und ersetzte den Titel
67
E r hat aber selbst gesagt, er lege „weniger Wert auf die Belehnung des aufgezeigten
Epos mit dem Titel 'Anquapdov sliXaaii;, als vielmehr auf den Nadiweis, daß es
zwei Epen über den Zug der Sieben gab" (S. 60 Anm.). Und dieser Nadiweis ist
zweifellos gelungen.
68
Westermann Bioyedcpoi J § I i . Homeri Op. ed Allen V p. 198.
69
Zeile 243 ff. in Rzachs Hesiodausgaben. Z. 2$ j ff. bei Allen.
46 Mythologie und Heldensage [333j334]
Thebais durch jenen anderen Titel, der eigentlich keiner ist. Mit dieser
Beweisführung, die ich im Sinne ihres Urhebers vorgetragen zu haben
glaube, scheint das Epos von des ,Amphiaraos Ausfahrt' ein für allemal
beseitigt70.
Was nun die inhaltliche Rekonstruktion anlangt, so ist Bethe - das
hat die Kritik meines Erachtens mit Recht betont71 - durch überscharfe
Schlüsse zu willkürlichen Hypothesen gelangt. Erstens habe ,des Amphi-
araos Ausfahrt' von der Bestrafung Eriphyles nichts wissen können, weil
sie Schiedsrichterin gewesen sei und nur ihr Amt nach freiem Ermessen
ausgeübt habe. Und zweitens seien in diesem Epos alle Helden - alle
sieben Helden - vor Theben umgekommen, keiner, auch Adrast nicht,
sei zurückgekehrt. Dagegen hat man mit Recht eingewandt, daß Eriphyle
jedenfalls ein Verbrechen beging, wenn sie sich bestechen ließ, ob sie
Schiedsrichterin war oder nicht. J a , man kann behaupten, daß ihr Ver-
brechen im ersten Fall noch viel schwerer war. So ist wohl kein Zweifel
möglich, daß die Bestechung immer auch die Rache als Ergänzung forderte.
Und dafür, daß alle umkamen, Adrastos mit, ist schlechterdings kein
Beweis zu finden. Von ,allen' Helden spricht weder Homer (A 409) noch
Hesiod (ExH 162), deren Worte sehr wohl auf die Gemeinsage passen.
Daraus ferner, daß einmal bei Homer (B 828 ff.) ein Adrestos und ein
Amphios, Söhne des Merops von Perkote, fallen, folgt doch - ganz
gleich, ob hier echte Sage vorliegt oder, wie ich glauben möchte, eine
willkürliche Dichtererfindung, - nicht im mindesten, daß auch Adrast
in irgendeiner Fassung der thebanischen Sage umgekommen sei72, mag
jener Perkosier immerhin nach ihm den Namen tragen. Pindar aber
bezeugt für unseren Zusammenhang geradezu das Gegenteil. Denn man
wird schwerlich behaupten können, daß die Sagenform des neunten
nemeischen Gedichts nicht in sich zusammenhänge, und daß sie | etwa
irgendwie willkürlich umgestaltet worden sei. Gewiß ändert Pindar bis-
weilen an dem ehrwürdigen Mythos, aber dann sagt er ausdrücklich, daß
er ändert, oder man erkennt doch deutlich den Grund. Hier jedoch erzählt
er schlicht und offenbar der Ueberlieferung folgend, daß sieben Scheiter-
haufen die Helden verzehrt hätten, während den Amphiaraos die Erde
verschlang. Da muß es freilich dahingestellt bleiben, ob ihn die Erinne-
rung täuschte, ob es bei genauem Nachredinen nur sechs Helden sein
konnten, deren Leichname dort verbrannten, oder ob wirklich die Gesamt-
zahl neun betrug, wie das sehr wohl möglich ist, und wie es z. B. Apollodor
(III 63) für ,einige' Autoren angibt. Aber jedenfalls muß einer dage-
70
Schon Welcker hatte „Thebais" und „Amphiaraos Ausfahrt" gleichgesetzt.
71
Gruppe in Bursians Jahresberichten L X X X I 93 ff., Legras, Les legendes Thebaines
63 2 , 802. Legras 47 teilt übrigens Bethes Irrtum, daß ursprünglich alle Helden unter-
gegangen seien. Vgl. auch Rohde, Psyche I 2 1 1 4 A. 2.
72
Wie Usener kombinierte bei Bethe 65 und im „Stoff des griech. Epos" K l . Sehr. IV
234 ff.
[334j335] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 47
wesen sein, der den Scheiterhaufen für die Helden schichten ließ, und
das kann keiner von der feindlichen Seite getan haben. So bleibt nur
Adrastos übrig, wie ihn denn Pindar wirklich einführt. Es hat sich mit-
hin jenes Epos, das im neunten Nemeengedicht vorausgesetzt wird, weder
bei der Bestrafung der Eriphyle noch beim Untergang der Helden von
der Gemeinsage unterschieden, und so steht von dieser Seite nicht das
mindeste im Weg, der vorhin aufgestellten Wahrscheinlichkeitsrechnung
zu folgen und die aus Pindar, Herodot und Menaichmos zusammen-
gefügte Sagenversion der Alkmaionis zuzuweisen.
Bethe hat freilich an dieser Tradition ein besonders hohes Alter er-
kennen wollen. Das beruht wohl auf unrichtigen Schlüssen73. Mir scheint
im Gegenteil die höchst komplizierte Vorgeschichte für den verhältnis-
mäßig jungen Ursprung des Ganzen zu sprechen. Denn wenn ich nicht
irre, so ist die Sage von der Vertreibung des Adrast, von seiner Flucht
nach Sikyon und seiner Rückkehr entstanden, um die durch das Epos
festgestellte Tradition von dem Argiverkönig Adrast mit der nicht minder
feststehenden Tatsache des Kultes zu versöhnen, daß Adrast gerade in
Sikyon besonders hohe religiöse Verehrung genoß74. Sie wäre dann also
am ehesten im Nordosten des Peloponnes entstanden und naturgemäß
erst dann, als das ausgebildete Epos vom Thebanischen Krieg aus Ionien
herübergekommen war. Man sieht, wie trefflich das für die Alkmaionis
passen würde. Denn sie ist im korinthischen Kulturkreis nicht vor 600
entstanden75.
Eine gewisse Bestätigung dieser Schlüsse kann man noch daraus ge-
winnen, daß Pindar auch sonst die Alkmaionis zu berücksichtigen
scheint. Wir meinen die merkwürdige Szene der achten pythischen Ode,
wie Amphiaraos dem Angriff der Epigonen auf Theben zuschaut, offen-
bar von seinem Heiligtum zwischen Theben und Potniai aus76, und wie
er spricht: ,Ich erblicke den Alkmaion, der als erster an den Toren Thebens
die schillernde Schlange auf dem blanken Schilde führt' 77 . Die Szene
kann kaum von Pindar erfunden worden sein. Es ist ja gerade seine
Art, irgendeine Situation aus dem Epos herauszugreifen und als isoliertes
Bild zu rahmen. Auf jeden Fall aber stammt die Vorstellung, daß
73
Zum Teil erledigt sich die Meinung dadurch, daß die Hypothese vom Untergang aller
sieben Helden schwindet.
74
Eine andere Aussöhnung dieser beiden widersprechenden Tatsachen scheint im Schiffs-
katalog vorzuliegen, wo es ( B 572) von Sikyon heißt: olq "AÖQriaxog jtQÖjx'
¿HßaaUeVE. Oder ist doch dieselbe Sage gemeint?
7
5 Bethe 156.
76 Pausanias I X 8, 3. Vgl. Dittenberger, De sacris Amphiarai (Ind. schol. Hai. 1888/9).
77
Die Angabe über das Schildzeichen scheint mir die Frage, die ich ehedem (Johannes
von Gaza und Paulus Silentiarius 23) gestellt habe, ob nämlich die Schildbeschreibun-
gen in Aeschylus Sieben vom Epos angeregt seien oder ganz auf Erfindung des Dra-
matikers beruhen, im ersten Sinne zu entscheiden. - Schwartz, Quaest. Herod. 16,
sucht zu sehr in der Ferne.
48 Mythologie und Heldensage [3351336]
Alkmaion der erste ist, aus der Alkmaionis. Denn sie war es, die den
Epigonenzug von Alkmaion führen ließ, während die Epigonoi den
Aigialeus an diesen Platz stellten78.
3. OixaXias aXcoaig
Hier kann und will ich nichts Neues sagen, nur wiederholen, was ich
früher, zu unklar offenbar, auseinandergesetzt habe79. Aber die Erörte-
rung paßt hierher, weil die Methode die gleiche ist wie in den beiden
ersten Kapiteln.
Von der Oixa/iag aXwoig des Kreophylos wissen wir durch ausdrück-
liche Ueberlieferung sehr wenig80. Doch sehen wir aus | den kümmerlichen
Resten: Eurytos und Jole kamen vor, und Herakles eroberte die Stadt
und die Königstochter. Es ist audi gegen alle Wahrscheinlichkeit, daß
Herakles in diesem Epos n i c h t der Gatte Deianeiras gewesen sei, und
daß die Gewinnung der Jole n i c h t den Flammentod des Helden auf
der Oeta verschuldet habe, wozu das Nessosabenteuer als notwendige
Voraussetzung tritt. In Wahrheit ist dann auch die Werbung um
Deianeira, der Abschied aus Aetolien und mancherlei anderes nicht fortzu-
denken. Wer sich überlegt, wie einheitlich hier die antike Ueberlieferung
in allen wesentlichen Punkten ist, und wie fest die Motive ineinander-
greifen, der wird schwer ein anderes Urteil für möglich halten. Nun
kommt hinzu, daß Sophokles in den Trachinierinnen und Bakchylides im
fünfzehnten Gedicht den Zusammenhang so geben, wie jeder ihn kennt 81 .
Damit ist ein Epos, und zwar ein altes, als Quelle notwendig. Denn an
das Gedicht des Panyassis kann schon um der Zeit willen kaum jemand
denken und hier ist entscheidend, daß Panyassis als Plagiator des Kreo-
phylos galt, also in den Teilen seiner Herakleia, die den uns angehenden
Sagen gewidmet waren, mit dem älteren Epos mindestens stofflich genau
übereingestimmt haben muß.
Kreophylos, der Verfasser der Oixodiag aXcoaig, ist ein Samier. Die
Legende läßt den Homer nach Samos kommen und seinem Gastfreund
Kreophylos jenes Epos schenken. Ist es an sich schon unberechtigt, die
Angaben über die Herkunft der alten Epen gering zu schätzen, so ist das
78 Bethe 110.
79 Herakles, Philologisdie Untersuchungen X I X (1907), Kap. III. Dazu vgl. die Kritik
von Bethe, Göttingische gelehrte Anzeigen 1907, 697 ff. Die Kritik nimmt ausgespro-
chenermaßen dieses dritte Kapitel vor, um daran die Verwerflichkeit der ganzen
Arbeit zu zeigen.
80 Epicorum Graec. Fragm. ed. Kinkel pp. 60 sqq.; Homeri Opera rec. Allen vol. V,
in unserem Falle gar nicht erlaubt. Denn hier gibt es nicht wie etwa bei
der Kleinen Ilias unvereinbare Widersprüche über die Autorschaft, es
streitet nicht ein Phokaeer mit einem Dichter aus Erythrai und einem aus
Sparta, sondern die Ueberlieferung ist eindeutig: Kreophylos von Samos
hat das Gedicht gemacht oder Homer hat es ihm in Samos geschenkt. Und
die Kreophyliden sind ein samisches Geschlecht, so daß es eine Geschlechts-
tradition gegeben haben muß. Bei dieser Uebereinstimmung der Tatsachen
und Zeugnisse muß es als unerheblich betrachtet werden, wenn in der
Vita des Suidas Kreophylos Xiog f| 2ä(nog heißt, so wenig wir sagen
können, wie die erste, ganz singulare Heimatbezeichnung entstand82. Nur
dies weiß man: Chios und Samos sind ja benachbarte Inseln. |
Die Ol/aXtag aXtocng also ist ein kleinasiatisch-ionisches, ein samisches
Gedicht. Das sagt die Ueberlieferung. Man findet aber auch, wenn nicht
alles täuscht, in der Sagenanalyse selbst Spuren, die in die gleiche Richtung
weisen. Ich will nicht davon sprechen, daß die Odyssee <p) den Bogen-
schützen Eurytos einführt und von ihm eine Sage kennt, welche älter ist
als die des Kreophylosepos, daß man also in Ionien auch von Eurytos |
erzählt haben muß. Es gibt deutlichere Zeichen. Wenn man dem Herakles
82 Mein früherer Versuch (Philol. Unters. X I X 71), den Irrtum des Suidas zu verstehen,
ist unhaltbar. Die Homervita des Proklos (Westermann 25, 27) will mit den Worten
Xeyovaiv avxo\ £¡,5 "Iov nXeucavta Öiatpiipai jtapa KpecjcfiXo) diesen Aufenthalt
„auf seiner Reise nach los" entsprechend der Gemeintradition in Samos fixieren, da
ja auch bei Ps.-Herodot Homer von Samos nach Jos geht. - Daß Kreophylos „Va-
gant" war, d. h. außerhalb von Samos seine Gedichte vortrug, ist gewiß möglich.
Aber die Vorstellung, die Bethe 702 andeutet, ignoriert die Tradition von dem sami-
schen Kreophylidengeschlecht. - Bethe behauptet anderwärts noch seltsamer von
offenbaren Uberlieferungen, sie seien nicht vorhanden. S. 705: „Rhodos hat damals
[in alter Zeit] nicht das Meer beherrscht... Ersteres behaupte ich, weil es kein
Zeugnis dafür g i b t . . . " Es gibt nicht nur ein Zeugnis, es gibt mehrere. In der bekann-
ten Liste der Thalassocratorum, qui maria tenebant (Euseb. Chron. I 225 aus Diodor
V I I 11) stehen nadi den Lidi, Pelasgi, Thrakii an vierter Stelle die Rhodii (vgl. Aly,
Rhein. Mus L X V I 594). Von den Seefahrten bis nach Iberien berichtet Strabo 654.
Dazu stimmt, daß nach Apld. V I 15 ( = Tzetzes Lyk. 911) Tlepolemos mit seiner
Begleitung: jteqI t&? 'IßriQixä; vt]Ood; sich ansiedelt. Und von dem spanischen Rhode
heißt es: xai)TT]v öi n@tv vecöv x g a T o i v x e g exxioav 'P6Ö101 (Skymnos 204 aus
Timaios). Zeugnisse für rhodische Kolonisation in Lykien und Kilikien brauche ich
wohl niemandem beizubringen. Aber ich wiederhole, daß Aianteion am Hellespont
a Rhodiis conditum (Plin. V 125) und Apollonia am Pontos ajtoixta MiXt]<juüv xai
"Poöuüv (St. B.) heißt. Also Kolonien von Spanien bis Kilikien und bis in den Pontos,
daneben die ausdrückliche Nachricht von der Thalassokratie: und Bethe sagt, es gibt
kein Zeugnis. - Da Bethe ferner erklärt: „Ich finde auch keinen Herakleskult auf
Rhodos bezeugt", so muß ich ihm die berühmte duaia tjv AWöioi ¡¿et' äfjäg diiovaiv
aiiTÖ aufweisen (Zeugnisse bei Knaack, Hermes X X I I I 139), mit der man nicht ohne
Wahrscheinlichkeit die Bow6jtia-0£u5auHa-Inschriften von der lindischen Akropolis
kombiniert hat (IG X I I 1 , 7 9 1 - 8 0 4 ; Hiller v. Gaertringen R - E I I I 1017). Zu diesem
Kult gehört die ätiologische Sage, wie Herakles in Thermydrai landet und den Stier
des pflügenden Bauern aufißt. Damit erledigt sich wieder eine Behauptung Bethes:
„Rhodos hat gar keine Heraklessage."
50 Mythologie und Heldensage [3381339]
Deianeira, die Tochter des Oineus, die Schwester des Meleager, zur Frau
gab, so konnte das nur an einem Orte geschehen, wo die ätolischen Sagen,
die von Oineus, Meleager, der kalydonischen Jagd, lebendig waren. Das
muß natürlich nicht Aetolien gewesen sein; eine Sage, die in Aetolien
spielt, ist darum dort noch nicht gewachsen oder ausgebildet worden.
Nun finden wir den ätolischen Sagenkreis im neunten Gesang der Ilias
lebendig; die Geschichte Meleagers wird, wie bekannt, in der Gesand-
schaftsrede des Phoinix willkürlich zweckvoll umgebildet. D a Oineus,
Meleager, die kalydonische Jagd und was damit zusammenhängt im
ionischen Epos vorkommt - oder will jemand die ,Gesandtschaft an
Achill' für mutterländisch halten? - so sind diese Sagen in Kleinasien
wenn nicht entstanden, so doch lebendig gewesen und gewiß zunächst
nicht in ganz Kleinasien, sondern an einem bestimmten Ort, in einem
bestimmten Kulturkreis Kleinasiens oder etwa in mehreren. Ob man
diese Gegend oder eine dieser Gegenden fixieren kann, ist eine weitere
Frage. Ich glaube, daß erhebliche Wahrscheinlichkeit für Samos spricht.
Zwei Figuren des ätolisdien Sagenkomplexes nämlich haben auf Samos
gewissermaßen ihre Gegenbilder: einmal Oineus und zweitens Ankaios,
die bei Asios von Samos (Fr. 7) in derselben alten samischen Königsliste
stehn. Von Oineus ist nur der Name da, an Ankaios aber haftet eine
berühmte Sage: er ist der alte König, den „zwischen Lipp" und „Kelches-
rand" ein Eber im Weinberg tötet83. Unter den Hauern des kalydonischen
Ebers fällt nun aber gleichfalls ein Ankaios (er heißt Arkader") nach
einer Ueberlieferung, die durch archaische Bildwerke für das sechste Jahr-
hundert gesichert wird. Die beiden Figuren sind ursprünglich identisch; bei
dem samischen König erscheint das Motiv einerseits ursprünglicher, da die
Gestalt f ü r sich steht und noch nidit in den größeren Komplex einge-
gliedert ist, andrerseits künstlicher in der Durchbildung. Wenn wir nun
für die ätolischen Sagen um der Ilias willen ein kleinasiatisches Zentrum
suchen müssen, und wenn uns Oineus und | Ankaios in derselben Genea-
logie auf Samos begegnen, so spricht eine nicht geringe Wahrscheinlich-
keit dafür, daß eben Samos das gesuchte Zentrum ist85.
83
D i e Mutter des Pythagoras, Pythais, stammte von diesem Ankaios (Porphyr. V i t a
P y t h . 2 aus Apollonios itepi IIuOotYogoi)); er muß also in der samischen Geschlechter-
tradition bedeutend gewesen sein.
84
Bakchylides V 1 1 7 ff. ist er nur durdi die falsche E r g ä n z u n g [0C5 teJxey zum Sohn
der Althaia geworden. D a s Richtige gibt W i l a m o w i t z mit [8v t e j x e v .
85
D a ß Oineus dem Samier Ankaios nur deswegen beigegeben wäre, weil dieser Wein
baut (Bethe 700 A n m . ) , ist ganz unwahrscheinlich. Dann w ä r e er eben nicht durdi drei
Generationen v o n ihm getrennt, sondern es hieße dodi w o h l ' A ^ x a l o g O'ivecog. -
Bethes Behauptung, daß der samische Ankaios und der Ankaios der kalydonischen
J a g d einander ausschließen, kann ich nidit begreifen. Falsch ist es, den Ankaios, der
einen gut griechischen N a m e n führt (wie ' Y X a i o ; ' A x t a i o g ) in Samos wie in Arkadien
einer lelegisdien Urbevölkerung deshalb zuzuschreiben, weil die antike Sagenkonstruk-
tion in dem alten Samierkönig einen Leleger gesehen hat. - Wenn ich (in einer A n -
[339j340] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 51
merkung, die Bethe irreführend mit dem Text zusammen abdruckt) den 'AYxatog
nXeiiQümog 635 als eine schwache Bestätigung meiner Ansichten bezeichnet habe,
so war damit - zu kurz, wie es scheint, um verständlich zu sein - folgendes gemeint:
Das ionische Epos fingiert hier (denn „Sage" wird das schwerlich sein) einen Gegner
des Nestor und bezieht das Namenmaterial für ihn (Ankaios und Pleuron) aus dem
Kreise der „ätolischen" Sagen von der Jagd. Mithin ist dies eine schwache Spur
dafür, daß die ätolischen Sagen irgendwo in Kleinasien lebendig gewesen sind, unter
der Voraussetzung natürlich, daß man das W als kleinasiatisch anerkennt.
86
Soll heißen: obskurer Mensch.
52 Mythologie und Heldensage [1401341 ]
87
S. ¿ 7 2 in einer Darlegung, die eine Seite lang ist. Bethe behauptet freilich (S. 7 0 1 ) , ich
habe die Sage v o n Olenos ignoriert.
bs P - W R - E V I I I 4 2 j .
89
Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, daß idi die Einführung des Herakles in Böotien
ehedem zu tief datiert habe (S. 56). D a s lehren jetzt die böotisdi-geometrisdien
Heraklesfibeln (Amer. Journ. of Archeol. 1 9 1 1 , 1 ff., es gibt aber mehr, als dort ver-
öffentlicht sind). Sie madien auch wahrsdieinlidi, daß meine Konstruktion irreging,
die den böotisdien Herakles ganz aus dem rhodischen Epos herleiten wollte. Direkter
Einfluß v o n der Argolis her ist wahrsdieinlidi. A b e r daß Herakles kein Böoter w a r ,
dürften gerade die Fibeln wieder beweisen, die eben schon im achten Jahrhundert
durchaus argivisdie Abenteuer schildern.
[341] Kritische Untersuchungen zur Heldensage 53
Griechische Literatur
De fine Odysseae
(Retractationes I i )
1929
1
Hermae voi. 63 p. 81.
2
Die Homer. Odyssee $32.
58 Griediische Literatur [376]
Die hier gemachte Beobachtung ist darum wichtig, weil nicht die
unvermeidliche Subjektivität des Unitariers oder des Analytikers J a oder
Nein sagt, sondern der feste Sprachgebrauch.
Die Analytiker suchen sich dem zu entziehn. Schadewaldt 3 läßt die
Odyssee mit dem Einschlafen des Odysseus enden, also mit ty 343. Die
noch radikalere Analytik Von der Mühlls 4 überläßt dem Uberarbeiter
das oi fiEV EJiEuct und schreibt nur die eine mit äanaaioi beginnende Zeile
dem ursprünglichen Gedicht zu.
Ob man Analytiker ist oder Unitarier, anerkennen muß man, daß
oi |xev ejieitoi . . . aijtaQ (oder 8e) eine feste, altepische Ubergangs- oder
Verbindungsformel ist (A 3 1 2 - 3 1 3 ; A 606-609; ^ 326-328). Ein Uber-
gang also geschieht hier von dem schlafengehendem Paare zu Telemach
und den beiden Hirten. Und dieser Ubergang ist nicht nur sprachlich not-
wendig, sondern auch sachlich.
Das Zubettgehen der beiden wiedervereinigten Gatten zum Schluß
einer alten Odyssee zu machen, oder hier mit den Alexandrinern das
jtEpag oder relog das „Ziel", der Dichtung zu sehen ist hellenistische (und
moderne) Sentimentalität. Romane wie etwa der des Longus oder der
des Apollonios von Tyros enden so. Ein altes Epos kann so nicht ge-
endet haben. Denn Odysseus kommt nicht zu Penelope allein, sondern
auch zu Vater und Sohn, zu seinem Besitz und seiner Herrschaft. Also
auch mit dem Einschlafen des Odysseus ("»f 343) kann keine Odyssee
geendet haben.
Der Vers 297 avräg Tt^.eucixos xai ßouxoXog t)8e außcürrig wird wieder
aufgenommen in 367 uqoe 8e Tr|Xg|iayvov xai ßouxoXov t|8e crußwrriv und
leitet in die Handlung des letzten Gesanges über, in dem dieselbe Dreiheit
wiederkehrt: co 359 und 363. Wie viel von dem letzten Gesang ursprüng-
lich und notwendig ist, soll hier nicht untersucht werden. Daß wenigstens
Strecken des co ein notwendiger Bestand der Odyssee sind, darüber sollten
sich Unitarier und Analytiker einigen, nachdem bewiesen worden ist,
daß ip 295/6 weder das Ende der Odyssee noch ihr itegag oder teXo? jemals
gewesen sind, sondern ein Übergang.
3
Von Homers Welt und Werk 3 4 1 2 . 488. - Neue Kriterien zur Odyssee-Analyse,
Sitz.-Ber. Heidelberger Akademie 1959.
•* P - W R - E »Odyssee* 763 f.
Besprediung:
Altionische Götterlieder
deutsch von Rudolf Borchardt
1926
Dienst antreten; Hövede mit Abfall der Vorsilbe Ge- und mhd. Laut-
form, obwohl das Wort im Mhd. nicht vorkommt) - und manches andere.
Und gar nicht "Weniges gibt es, da boten auch Dialekte und Mittelhodi-
deutsch keinen Anhalt mehr, und man scheint sich zunächst damit ab-
finden zu müssen, daß B. wie als Dante-Ubersetzer so auch hier eine
Sprache sich zurecht geformt hat, oft vielleicht mehr tyrannisch als könig-
lich schaltend. |
Aber wenn man tiefer eindringt - und jedes tiefere Eindringen lohnt - ,
so wird man erkennen, daß der Wille des Übersetzers auf nichts Geringe-
res gerichtet ist als auf einen deutschen Homerstil fern von jener Kon-
vention, die durch Stolberg und Voß begründet in leichter Variation
bis heut gültig ist, ohne dabei die endgültige Form gefunden zu haben
(Stolberg versagte im Metrischen, Voß im eigentlich Dichterischen
durchaus, R. A. Schroeder und Th. von Scheffer spinnen mit mehr oder
weniger Geschick und Geschmack am alten Faden). Diese Konvention
aber, die wir als Knaben mit einem der deutschen Homere uns assimilie-
ren, verstellt später selbst den Lesern des Originals bis zu einem gewissen
Grade das Echte. „Wir lesen", sagt B. im Nachbericht, „keinen Homer,
wenn wir den Homer unserer Väter und den Homer unserer Großväter
lesen". Daß sie diese Konvention durchstößt, nicht kritisch sondern mit
positiver Leistung, darin liegt das große Verdienst der neuen Ubersetzung,
ganz gleichgültig an wieviel Stellen wir vor nicht Gelungenem, ja Un-
begreiflichem stehen.
Während die Stolberg-Vossische Tradition für die Homerische Kunst-
sprache nur eine erhöhte Umgangssprache mit Schmuckwörtern einzu-
setzen hat, will B. eine solche Kunstsprache neu schaffen. Der Augment-
losigkeit entspricht etwa das Fehlen der Vorsilbe ge- in [ge]schwinde,
[gejsessen, [ge]kommen, sogar [Ge]Stell. Dort metrische Dehnung oder
andere Anpassung daktylenfremder Wörter, hier Bildungen wie Silbere-
bogner, zuegenahet. Hier wie dort archaische Formen: solt ( = sollst),
wilt (— willst), Gelücke, unscbädelich; archaische Wörter: weder ( = als),
jehen, Notzog, Jochbaug. Das sind nur einige Kategorien aus vielen und
wenige Beispiele aus Hunderten. Artikel und Personalpronomen sind
eine dauernde Qual für jeden Ubersetzer aus den alten Sprachen. B. bildet
mit Enklisis des „sie": gelangtens, stobens, unterdrückt das „du": Roß
solt tummeln umher — daß heldische Kinder gebarest - der gänzlich Lobe-
sang bist — oder den Artikel: ob du gewahrtest Mann, der solcherlei Kühn
(ßouai) hintnach hie fahren des Weges — Kind trug unter dem Busen -
tider Pronomen und Artikel: waren bald an Hofe.
Dringen wir weiter in das Syntaktische vor, so bemerken wir vor
allem das Bestreben, jene leichtere Bewegung des Griechischen nach-
zubilden und insbesondere jene Freiheit der epischen Rede, die noch
keine rhetorische Schulung hinter sich hat. So sehr die eingeborenen
Kräfte unserer eigenen Sprache sich solchem Bestreben darbieten: hier
[345j346] Altionische Götterlieder 61
Tpoirig stob auf troischer \ Spur [Kaemmerer: strebt er nach Troja hin;
Schwenck: eilte sie fröhlich gen Troja]; aEvaxo ö' <bg oicovog schoß dahin
wie ein Vogel; Eaav|ieva)g f|iisv schwungs hinsauste. Es ist leicht, gerade
hier auch Übertreibungen aufzustechen: exitav^cog öe xata cppEvag ipiegos
eUev (Aphr. 57) reißend durch all ihr Blut übermannte der Drang sie;
HETä cpoEcu TEQjtEio ttmöv (7z) ihr jauchzte das Blut in der Ader; •daußriaaaa
(Dem. 15) sie aber grauste vor Wonne. A b e r der Rezensent wenigstens
muß gestehen, daß ihm erst jetzt die Heftigkeit vieler Bewegungen, die
auf archaischen Bildwerken wiederkehrt, eindringlich geworden ist.
Was hat nun B. im ganzen erreicht? Nicht weniger, scheint uns, als
daß man hier das Jugendliche und Anfängliche der homerischen Gedichte
in deutscher Sprache zu ahnen beginnt. M a n höre auch nur eine längere
Versreihe (Dem. 176 ff.):
Also sie, an Falten gehoben die reizenden Hemden,
Stoben ins hohle Wagengeleis; und um sie die Strähnen
Sausten hinter die Schultern ein Gold als blühte der Safran.
Trafen auch hart an der Straße die Gottheit, da sie noch eben
Blieben war; und also zum lieben Hofe des Vaters
Führeten sies, die aller zuletzt, herzinne bekümmert,
Stieg, vom Haupte hernieder verhüllt, und um ihre hehren
Götterfüße im Gehn erseufzten die finstern Gewände.
[ W o erinnert werden muß, d a ß etaXi^eto nur Bewegung, nicht T o n
ausdrückt]. Oder man vergleiche einmal gegen Ende des Aphrodite-
Hymnus (264 ff.), da w o von den Baumnymphen die Rede ist, B. und
Schwenck (den Schüler Welckers), um zu sehen, wie bei dem Heutigen
das Kanzleihafte, der Wust von Übersetzungswörtern und Flickpartikeln
rein weggewischt ist.
Schwenck:
Und es entsprießen zugleich hochwipflige Eichen und Tannen
Auf der nährenden Erde mit selbigen, wann sie enstehen,
Herrliche, üppig erblühend in ragenden Waldberghöhen.
Doch wann ihnen des Todes Geschick dann endlich gekommen,
Welken die herrlichen Bäume zuerst, absterbend im Boden.
Rings dann dorret die Rind', und herab nun fallen die Äste,
Und es verläßt mit denselben der Göttinnen Seele das Tagslicht.
Borchardt:
Diesen zugleich sind Fichten gekeimt und mächtige Eichen,
Gleich mit ihnen geboren auf all der treibenden Erde
Prachtvoll, strotzender Wuchs, auf Höhen und Halden der Berge. \
Kommt aber ihnen die Stunde Geschicks und endlichen Todes,
Dorren zuerst die irdischen Teil der herrlichen Bäume,
Ringsum schrumpfen die Borken zunicht, es brechen die Äste,
Und ingleichen verläßt ihre Seele das himmlische Leuchten.
[348j349] Altionische Götterlieder 63
In dieser Lust des Erweckens mag hier und da des Guten zu viel
getan sein an „ungewohnter und originaler Fremdheit, an neuer wilder
und harter Farbe" (um B.s Selbstcharakteristik im Nachwort zu zitieren):
erreicht ist doch oft jenes „unschuldig Regellose, geregelt durch keine
analogisierende Grammatik", und wenn auch vielleicht nicht eben dieses:
„die Noch-nicht-Sprache, die sich erst im Blitze der Poesie zur Sprache
bildet", so doch eine Neuheit und Gespanntheit, die diesen Versen für uns
abhanden gekommen war. Und nun frage man sich, was es demgegen-
über ausmacht, wenn nicht selten der Wille zum Ursprünglichen ins
Stammeln führt, das Ferne und Fremde unverständlich wird, beim
„Schollern und Strudeln" der Rhythmen das Gleichgewicht des Verses in
Gefahr kommt. Denn so sehr es zu rühmen ist, wie genau oft die Über-
setzung bis in die feinere Versgliederung, den Bau der v.wXa, das Enjambe-
ment hinein dem Original folgt: wir können es doch nicht für richtig
halten, daß zuweilen die Zäsur ignoriert wird, oder daß die Usenersche
Hexameter-Theorie dazu herhalten muß, häufige rhythmische Über-
ladungen an der Zäsurstelle zu rechtfertigen, da es sich doch in diesen
Hymnen nicht um irgendwelche Urformen handelt sondern um gebildete
Verse.
Aber wie gar nichts Ungewolltes hier ist bis in das hinein, was uns
als Übertreibung erscheint, lehrt, wenn man es sonst nicht merkte, das
rechtfertigende „Nachwort", aus dem wir schon mehrmals Sätze aus-
gehoben haben. Dieses Nachwort gibt nichts weniger als eine „Text-
geschichte" der Hymnen, mit dem Bewußtsein, daß jeder solcher Versuch
bestenfalls eine Näherung an das Wahrscheinliche ist, in der Absicht,
durch diese Betrachtung rückwärts zum Ursprung durchzudringen und
damit zu dem, was diese Dichtungen für die heutigen Menschen allenfalls
bedeuten können. Der Laie wird hier ein einziges Mal Textgeschichte als
geistiges Schicksal erfahren. Der Philologe wird dieses Bild mit Spannung
betrachten und für manche Formulierung auch im einzelnen dankbar sein:
die Orphik [deren Posten in der Gesamtrechnung freilich überschätzt ist]
„nicht eine Theologie, wie man es genannt hat, sondern eine endemische
Selbsttrübungssucht des hellenischen Klarheitsorgans"; der Dichter des
Apollon-Hymnus kein Chiot, weil er in Chios sich „wohnend" nennt
[aber ist wirklich die Blindheit Homers nur aus dieser Stelle heraus-
gesponnen?]; die byzantinische Hymnensammlung den Zauberer Homer
neben dem Zauberer ] Virgil repräsentierend [aber die byzantinische
Subskription öevqi jtepag Xd/e tö>v eij öainova; fiavcov "O(ir|g0D ist (S. 75)
mißverstanden, sie meint ein hic explicit]. Zenodot und Aristarch hatten
„die unvorstellbar ungeheure Aufgabe, die Grundgesetze des gewissen-
haften Lesens . . . zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit, und
für alle Ewigkeit, an einem Objekte ersten Ranges zu erschließen und
folgestreng darauf rückanzuwenden". Wilamowitz hat „mit glänzendem
Scharfsinn die Nebelbilder der homerischen Apokryphen-Atmosphäre in
64 Griechische Literatur [349]
1912
habe Epimetheus das Faß geöffnet, und die Fabel j8 des Babrios. Hier
steht das Faß bei „dem Menschen", alle Güter enthaltend. Er öffnet es
aus Neugier, die Güter fliegen davon, die Hoffnung bleibt als einziges
Gut den Menschen erhalten (ähnliche Vorstellung Theognis 1 1 3 5 ff.).
Hesiod hat dies bewußt umgestaltet und mit den andern Geschichten ver-
knüpft. (Dieser Abschnitt präzisiert die Ausführungen in Herakles, Philol.
Untersuch. X I X 39 ff.)
Der Mythos von den Weltaltern soll gleichfalls das Dasein des novo5
„historisch" erklären. Die j Geschlechter bilden eine einheitlich ab-
steigende Entwicklung, auch das dritte ist gegenüber dem zweiten gerin-
ger (144). Nur das vierte ist ausdrücklich herausgehoben (158): die Heroen
von Theben und Troja. Ein Nebenzweck ist die Dämonologie. Sie geht
insofern der Zusammenhang des ganzen Gedichts nahe an, als diejenigen,
die bei Lebzeiten das goldene Geschlecht bilden, später die drei(ßig)-
tausend Dämonen sind, die über Recht und Unrecht auf Erden wachen
(123-5 ~ 253-5). Die Analyse lehrt, daß das vierte Geschlecht, weil es
die absteigende Reihe unterbricht und keinen Metallnamen hat, nicht der
ursprünglichen Konzeption angehören kann. Aber auch das dritte weist
über diese hinaus, da ersichtlich die Vorstellung von dem Bronzezeitalter,
das unserer Eisenzeit vorhergeht (150/1), hier maßgebend ist. Daraus
ergibt sich eine gewisse Wahrscheinlichkeit für einen vorhesiodischen
Zustand der Sage, der nur 3 Geschlechter gekannt hätte, Gold, Silber,
Eisen, und der entwickelt worden wäre aus dem noch ursprünglicheren
Gegensatz der goldenen Zeit und der schlimmen Gegenwart. Diese drei-
gliedrige Form läßt sich jetzt nachweisen, seitdem das Prooemium zu
Babrios, das in der bisher bekannten Fassung die 5 Geschlechter in
genauem Anschluß an Hesiod aufzählte, in ursprünglicherer Form ge-
funden worden ist (Papyrus Bouriant bei Croenert, Kolotes und
Menedemos 160:
1914
[Hermes X L I X , 1 9 1 4 , S. 1 - 1 6 . ]
1
Z . B. Pasquali in den X ä g u e g , Fr. Leo dargebracht i i 4 s ; A l y , Rhein. Mus. L X V I I I ,
1 9 1 3 , 2 9 : „ E s ist völlig ausgeschlossen, daß ein Rhapsode jemals die ersten 1 1 j Verse
der Theogonie so vorgetragen habe, wie w i r sie heute lesen." Idi nehme aber auch
von. der Anmerkung N o t i z , in der zugestanden wird, daß die Anordnung „so ganz
confus nicht sei", und daß sich eine A r t „Scheinzusammenhang" auffinden lasse. Über
die zahllosen Hypothesen der Früheren gibt eine Übersicht Puntoni in der Rivista di
filologia X X , 1 8 9 2 , 369 fr. - W i l a m o w i t z , Die Ilias und H o m e r ( 1 9 1 6 ) , Beilage 4.
„Meine Absicht ist, das Proömium als echtes Werk Hesiods zu erweisen, indem ich
es e r k l ä r e . . . "
im D a s Proöroium der Theogonie 69
da ab durch das ganze Altertum als Einheit gelesen worden ist. Dann
kann es naturgemäß keine bloß willkürliche und zufällige Anhäufung
verschiedener Prologe und Prologstücke sein, sondern es muß sich selbst
in der Klitterung (wenn es denn eine wäre) noch der Plan aufdecken
lassen. Ich selbst meine, daß ich den Bauplan des Hesiod darlegen werde.
Sollte ich darin irren, so würde immerhin das Princip erwiesen sein,
nach dem jener hypothetische „Rhapsode" aus älteren Werkstücken das
große Proömium aufgebaut hätte2.
Wenn irgendwo eine Athetese erheblicheren Umfangs auf ihre Stich-
haltigkeit geprüft werden soll, so muß man die Stelle der neuen Naht
ganz genau untersuchen. Ergibt sich dann, daß die Verknüpfung, wie
der überlieferte Text sie bietet, schärfer, feiner, inniger ist als nach der
kritischen Operation, so ist die Athetese als falsch erwiesen. Nun steht
vor dem eigentlichen Anfang der Theogonie nach der Überlieferung eine
propositio thematis ( 1 0 5 - 1 1 5 ) in der Form, daß die Musen aufgefordert
werden, das und das zu singen, und diese propositio klingt in die Worte
aus: „Dies sagt mir und beginnt mit dem, was zuerst entstand!" Fast
echoartig hebt danach das Gedicht an (116): „Zuallererst entstand das
Chaos." Kann es ein fester verknüpftes Gefüge geben, und sollte man
hier nicht das echte Gefüge vor Augen haben? So hat denn Otfried
Müller 3 , der das ganze Proömium in 5 Stücke zerlegte und das erste, dritte
und fünfte verband, wohlweislich diese Ankündigung vor dem Beginn
des Gedichts stehen lassen. Ellger4 hingegen, dessen scharfe Schlüsse heut
noch die meiste Nachfolge finden, will den ganzen | zweiten Teil des
Proömiums von 3 6 - 1 1 5 athetiren, so daß dem Gedichtanfang unmittel-
bar vorausginge: „Die Musen hauchten mir die K r a f t der Poesie ein und
hießen mich die Götter besingen und sie selbst am Anfang und am Ende.
Aber was rede ich davon? - Zuerst entstand das Chaos . . . " Ein Pro-
ömium, welches nicht auf den Anfang des Werkes hinführt, sondern sich
so weit verirrt, daß der Verfasser ausdrücklich abbrechen und das Werk
unvermittelt beginnen muß, widerspricht dem Wesen des Proömiums.
Dies aber ist der Tatbestand in der Ellgersciien Construktion, während
die Überlieferung einen so vortrefflichen Übergang bietet, wie nur je
einer vom Proömium zum Gedicht gemacht wurde. Damit ist für jeden,
der den vorher aufgestellten Grundsatz billigt, entschieden, daß die
propositio thematis i o j - 1 1 5 vor dem Anfang des Gedichts stehen
bleiben muß.
2
D e r wichtige A u f s a t z von Robert in den Melanges N i c o l e 4 6 1 ff., w o der innere
Zusammenhang der Theogonie nachgewiesen wird, scheint nicht allgemein genug
bekannt zu sein, weshalb ich hier auf ihn hinweise. In nicht wenigen Einzelheiten
weiche ich freilich ab.
3
Kleine deutsche Schriften I 4 3 0 ff.
4
D e prooemio Theogoniae, Diss. Berlin 1 8 7 3 . D i e Zusätze zu dem Proömium der
Hesiodischen Theogonie, Wissensch. Beil. des Sophiengymn., Berlin 1 8 8 3 .
70 Griechische Literatur
5
S o A l y a. a. O . 28 nach dem V o r g a n g Anderer (Schömann, D i e hesiod. Theogonie
296 f.).
6
Ich ändere daran auch nichts nach den Darlegungen von Ziegler, Rhein. Mus. L X V I I I ,
1 9 1 3 , 3 4 6 ff., zumal hier auf die Begriffsfülle und -färbe nichts ankommt. Ich möchte
aber gegenüber der von Ziegler vorgetragenen Ableitung zwei Fragen stellen: erstens,
wie es kommt, daß dieses xoüö® immer am Schluß steht; zweitens, w a r u m nie ein
D a t i v oder ein ejti dabei begegnet, während in den von Ziegler beigebrachten Bei-
spielen, w o es sich um den Abschiedsgruß n i c h t handelt, solche Bestimmung nie-
mals fehlt.
7
Fouilles de Delphes I I I 2 nr. 1 9 2 . Berl. Philol. Wodienschr. X X X I I 1 3 9 4 . A n f a n g
¿'[xvTjaouev, Schluß xatge.
[415] D a s Proömium der Theogonie 71
rechtigt wäre, sondern allein darum, weil es für den Gang der Unter-
suchung zweckmäßiger scheint.
Dem Aufruf aexwnsfta folgt eine preisende Schilderung dessen, was
die Musen tun. Sie singen; davon erklingt der Palast des Zeus und der
ganze Olymp. Und was singen sie? Erstens die Entstehung der beiden
Göttergenerationen, zweitens den Zeus, drittens von den Menschen und
den Giganten. Das ist nicht etwa eine Inhaltsangabe des später folgen-
den Gedichts, die uns zu Schlüssen über dessen ursprünglichen Bestand
und Umfang berechtigte 8 . Sondern das ist eine kurz stilisierte Andeutung
der Stoffe, über welche die Musen oder auch die Dichter verfügen: Theo-
gonie, Hymnen, heroisches Epos. So ergibt sich von V. 36 bis 51 eine
unantastbare Einheit. Man muß sich nur nicht daran stoßen, daß der
Dichter zwar einer allgemeinen Ordnung folgt, aber doch keineswegs
straff disponiert und dieselben Dinge, wenn sie sich ihm neu aufdrängen,
oder wenn sie etwa zum Fortspinnen des Gedankens von neuem zweck-
mäßig erscheinen, mehr als einmal vorbringt: von der Wirkung des Ge-
sanges hört man dreimal in teilweise wörtlicher Ubereinstimmung (37.
40. 51), der Inhalt wird zweimal angegeben, zuerst allgemein (38), dann
in genauerer Gliederung (44 ff.). Der scheinbare, teils auch wirkliche
Mangel an klar geordnetem Aufbau, der im großen fühlbar ist und
dort so viel Anstoß erregt, läßt sich auch in diesem kleinen Teile nicht
verkennen. Das ist archaischer Stil, den man verstehen lernen muß. ]
Den eben besprochenen Absatz, der den allgemeinen Preis der Musen
enthält, hat der Dichter mit dem Aufruf dpx<i>|xsfra durch ein Relativpro-
nomen verknüpft. Das ist eine Bildung, wie sie fast in jedem homeri-
schen Hymnus, aber auch in zahllosen Gebeten wiederkehrt'. Zweierlei
kann mit dem Relativum angeschlossen werden, einerseits eine allge-
meine Schilderung von dem Sein der Gottheit, eine Beschreibung ihres
regelmäßigen Tuns, eine Hervorhebung dauernder Wesenszüge - ( I I I )
Mvr]oo[iai oviÖE Xce0<j}|j.ai 'AjtöXXwvog ev.octoio, ov te ftsoi v.atd 8cö|xa Aiög tqo-
liEouaiv iovxa — (Aristonoos 10 ) 'Eatiav ij|ivr|cro^£v, a . . . vaöv av Ieqöv $oißou
•/oqsiieic - andererseits ein epischer Bericht von Geburt, Epiphanie oder
irgendeinem Vorgang aus dem Leben des Angerufenen — (II) AruxriTQa
. . . äo-/.o(j,' deiÖEiv avxr\v f|8e iHiyaxga ... iyv 'AiöcovEiig i^Quaas — (XVI)
'Aay.Xr|itiov äp/ojj,' aeiöeiv . . . töv eveivato 5ia Koncovig. Hesiod hat zunächst
die Prädikation des Wesens, nicht den epischen Bericht. Und hier ist nun
der homerische Artemishymnus ( X X V I I ) so ähnlich bis in die Einzel-
8
Ellger, Programm j , A l y a. O . 27.
9
V g l . N o r d e n , Agnostos Theos 1 6 8 ff. Die Breslauer Dissertation von Stenzel D e
ratione quae inter carminum epicorum prooemia et hymnicam Graecorum poesin
intercedere videa,tur ( 1 9 0 8 ) geht auf die Frage der Gesamtcomposition und auf
Hesiod kaum ein.
10
W i l a m o w i t z , Griechische Verskunst 4 9 6 f .
72 Griechische Literatur [516]
die Schilderung als auch die Geburtsgeschichte, aber er reiht die eine in
primitiver Weise an die andre (Mouadcov . . t a t Ali itaxpi v|xvevaai tegutouat,
voov — MoCaai. . tag EV üiegirii Kgoviör|i T E X E ) .
D i e Geburtsgeschichte selbst hat ihre genaueste Entsprechung im
Hermeshymnus, tag EV IIiEQir]i Kgoviör)i TEXE itaxoi niyEioa MvT||ioawr| ~ ov
TEXE Mala vi)|j.cpTi EtmX6xa[K>g Aiög ev cpiXöxrixi niYEiaa. || ewea yaQ oi v u x x a g
11 Gruppe, Über die hesiodisdie Theogonie 31, und Ellger, Programm 8, athetiren V. 5 8/9,
weil die Nennung des vollen Jahres dem Naturgesetz widerspreche. Aber es ist kaum
zweifelhaft, daß die Stelle vielmehr als wichtiger Beleg den bekannten Beispielen
anzureihen ist, w o eviavxo5 noch nicht = exog ist, sondern allgemein einen bestimm-
ten Zeitraum bedeutet.
74 Griechische Literatur [819]
Verse 60-67 1 2 . Sie sind formal unentbehrlich. Denn die seltsame Ordnung
der Satzteile in 60-62, w o die Ortsbestimmung T U T Ö O V DJT' DXQOTATRIG
xoQuqpfjs vicpÓEVTog 5OXi)|iJioii von dem Verbum getrennt und an das Ende
gestellt ist, erklärt sich nur so, daß auf den Anschluß des folgenden
evda gerechnet war 1 3 . U n d wenn, um den Inhalt zu berühren, die Rede
erst auf den Wohnsitz, dann auf die Gefährten der Musenschar kommt,
so bieten sich hierfür Entsprechungen genug: für den Wohnsitz die
Hymnen auf Apollon (III) 141 ff., Hestia ( X X I X ) 9, Pan ( X I X ) 6 ff.,
für die Gefährten Pan 19: avv 8é acpiv T Ò T E vujiepai O P E C M Ä Ö E G . . . ¡jiXjtovxai..
Nachdem die Geburt des Hermes berichtet und eine Charakteristik
seiner Vielgewandtheit angeschlossen worden ist, wird erzählt, was er
weiter tat (20): og xaì ÈJTEÌ ÖR| U.R]xnòg À N ' àdavàxcov T)ÓQE yuioov O Ù X É T I 8T)QÒV
E X E I T O fiévcov ÌEQOH EVI H X V C D I ài.}.' O Y ' dvai|ag ^T]TEI ßoag 'AjióXAajvog. Er findet
die Schildkröte und macht sich ein Instrument aus ihrer Schale, fteòg 8' wtò
xaXòv « E I Ò E V . . . à|itpi Aia K D O V Ì & T ) V xaì MaiàSa xaXXuié8iXov, w o denn der
Dichter noch einmal anklingen läßt, was er zu A n f a n g erzählt hat: wie
die Eltern des Gottes sich zusammenfanden. Bei Hesiod ist es ähnlich
bis in die Einzelform hinein; so gleich am A n f a n g (68) ai TÒT' iaav itpòg
" O X D L W O V 1 4 ayaX XüiaEvcu Ò M xaXfji, und auch sie besingen ihren Vater. N u r
der Einzug der neugeborenen Göttinnen in den O l y m p kann im Hermes-
hymnus keine genaue Parallele haben, weil durch den Z w a n g der Fabel
Hermes erst später emporsteigt. Aber gerade dieses Motiv, die Ein-
führung in den Götterhimmel, haben die Hymnen gar nicht selten, und es
schließt sich dann ganz naturgemäß der Geburtsgeschichte an. Im Pan-
hymnus ( X I X ) trägt Hermes den Neugeborenen in den Kreis der Unsterb-
lichen, die freuen sich alle, und davon bekommt das Kind den Namen:
Ilàva 8é |xiv xaXéeaxov O T I (ppéva jtäaiv ETEQ^E. Und im kleinen Aphrodite-
hymnus (VI) vernimmt man, wie die Göttin aus dem Schaum geboren
wird, wie die Hören sie empfangen und schmücken und sie schließlich in
den Chor der Götter und den Palast ihres Vaters geleiten. So ist denn
auch dieser Teil des hesiodischen Proömiums typisch, und daß die Musen
abermals singen, entspricht nur ihrer Natur und darf niemanden be-
fremden. Man frage sich doch, ob der Dichter sie etwa stumm in den
Olymp einziehen lassen konnte.
„Dies also sangen die Musen15, die neun Töchter des Zeus," | und
darauf werden ihre Namen genannt. Für die Namensnennung an dieser
Stelle ließe sich der Panhymnus nur von fern vergleichen, und man wird
vielleicht zugeben müssen, daß hier ein individueller Zug vorliegt, ganz
im Geiste des alles benennenden Hesiod. Wie man denn längst darauf
aufmerksam gemacht hat, daß die Namen dort fehlen, wo man sie im
Gedicht erwarten müßte (915 ff.), eben weil sie im Proömium schon
genannt waren.
An die Aufzählung schließt sich eng verbunden ein Preis der göttlichen
Kraft, die in den Musen waltet, der äQerai und ti|iai. Kalliope wird durch
den füllenden Versschluß rj 6e jtQocpEQEa-cciTTi ecmv ditaasiov herausgehoben
und an sie ist alles Folgende angeschlossen mit dem verbindenden Vers 16 :
f| yäg xai ßaaikevaiv äfx' aiöoioioiv öjtr]5ei. Der „König", den die Göttinnen
bei der Geburt gnädig anschaun, der besitzt die Macht der Sprache und
wirkt dadurch beim Streit auf dem Markt. Das ist die Gabe der Musen.
Denn wenn auch die Sänger von Apoll und den Musen stammen und die
„Könige" (nicht von ihnen, sondern) von Zeus, so verleihen doch die
Musen (allen, also auch den von Zeus stammenden „Königen") die Macht
der Rede. (Und so mächtig sind die Musen:) Wenn einer in Kummer ist,
dann tröstet ihn der Sänger 17 . - Daß nun ein solcher Teil, der von den
15
TCtix' äga Moioat asiSov (7$) scheint nicht scharf anzupassen, nachdem das letzte,
was vorhergeht, gar nicht klar als Inhalt des Musensanges bezeichnet war. Aber die
angeführten Worte in ihrem Bezug auf das vorhergehende ¿nvEvaai? (70) machen
eben die dazwischenstehenden Sätze deutlich als das, was sie sein sollen. (Richtig
hierin Ellger, Programm 1 1 , dem ich freilich sonst nicht folge.) Dies befremdet; aber
doch nur, wenn man den aus homerischer Technik gewonnenen Maßstab an Hesiod
legt. Ganz ähnlich unhomerisch ist das ojg eqpato nach indirekter Rede Erga 69. Ich
nehme bei dieser Gelegenheit ausdrücklich die in den Philol. Unters. X I X 42 f. aus-
gesprochene Athetese von Erga 60-69 zurück und glaube sagen zu dürfen, daß wieder
nur unsere willkürlichen, an homerischer Technik erwachsenen Forderungen schuld
sind, wenn wir es nicht ertragen, daß Befehl (60-68) und Ausführung (69-82) ungenau
zusammen stimmen. Freilich würde Homer das anders machen. Die Inconcinnität bei
Hesiod könnte sogar als Fortschrittssymptom gelten. [Vgl. Aly, Rhein. Mus. L X V I I I ,
1 9 1 3 , $52, mit dem ich hier zusammentreffe, so sehr wir sonst in der Gesamtauffas-
sung und den Einzelheiten auseinandergehen. Correcturzusatz.]
16
Das nennt man besser Bindeglied oder Gelenk oder Scharnier als gerade „Flickvers".
17
Die Struktur der Verse 93-100 glaube ich zu verstehen, so wenig dem Dichter eine
völlig klare Construktion der complicirten Gedankenreihe gelungen, ist. Vier Gedan-
ken sind es, die man sich schematisch so vergegenwärtigen kann:
1 a. Die Könige stammen von Zeus.
1 b. Wenn sie von den Musen begnadet werden, sind sie beredt.
76 Griechische Literatur [10111]
M a n darf nicht unerwähnt lassen, daß das Thema Y E p a ; x o i Ti(iai sich nicht immer
scharf von dem sondert, w a s vorher als „Prädikation des Wesens" bezeichnet wurde.
20
In diesem Abschnitte sind die Verse 1 1 1 und 1 1 5 durchaus unentbehrlich. 1 1 1 führt
wie der identische V . 4 6 die Götter der jüngeren Generation ein, die mit Bewußtsein
als fteoL von den älteren a d d v a r o i geschieden werden. 1 1 5 gibt den T o n , zu dem 1 1 6
als Echo erklingt. - Hingegen gelingt es mir nicht 1 0 5 - 1 0 7 und 1 0 8 - 1 1 0 neben-
einander zu verstehen, so daß ich 1 0 8 - 1 1 0 ausscheiden und mit der A n k n ü p f u n g von
78 Griechische Literatur [13/14]
Darf mithin als erwiesen betrachtet werden, daß das Proömium von
36 bis zum Schluß eine Einheit ist und unmittelbar vor unsere Theogonie
und zu ihr paßt, so bleibt das schwierige Urteil über den ersten Teil
(1-35) noch übrig. Die Musenreihe, in der Hesiod seinen Namen nennt,
- echter, sollte man meinen, und besser bezeugt kann überhaupt kein
Teil sein21. Also müssen wir zu begreifen suchen, wie denn der Dichter dem
geschlossenen Schema des Proömiums noch irgend etwas hat voransetzen
mögen. Ich glaube, daß die Frage, so gestellt, schon die Antwort in sich
trägt. Mit V . 36 beginnt ein in überlieferter, typischer Anordnung gehalte-
ner Musenhymnus. Der Dichter aber wollte ein ganz individuelles
Bekenntnis zu seinem Diciiterberuf vor den Zuhörern aussprechen. Das
konnte oder mochte er nicht einfügen in jenes traditionell ge| festigte
Proömienschema: so hat er es als abgesonderten Teil gestaltet und vorauf-
gehen lassen. Denn eine andere Deutung des überlieferten Tatbestandes
erscheint, wenn man bisher gefolgt ist, unmöglich, und es fruchtet audi
nichts, darüber nachzusinnen, ob etwa für jenen Bericht innerhalb der
geschlossenen Hymnenform irgendein Platz zu finden gewesen wäre.
Wenn sich aber der Dichter einmal entschloß, dem typisch aufgebauten
Hymnus noch etwas vorauszuschicken, so konnte er wieder nicht anders
anfangen, als man eben anzufangen gewohnt war, d. h. mit dem Aufruf
Mouffdcov 'EXixomdöcov aQ/tü|i£{F aeiöeiv. A n die helikonischen Musen
wendet er sich; denn von denen fühlt er sich berufen, während nachher
in dem viel stärker traditionellen Musenhymnus die Göttinnen auch ihre
typische und allgemein verbreitete Benennung als die „olympischen"
empfangen 22 . Dann wird mit der nun sattsam bekannten „relativischen
i n an 107 das tv. TWV verständlich machen möchte. (So auch Ellger, Programm 18).
Die beiden Dreizeiler sind seltsam ähnlich. Aber ich wäre zufrieden, wenn jemand
ohne die Athetese auszukommen lehrte.
2 1 Wenn man auf dem Standpunkt von A l y steht, daß Hesiod nur der Uberarbeiter,
nicht der Verfasser der Theogonie sei, so könnte man freilich sagen, der Verfasser
habe mit 36 angefangen und Hesiod habe dann die Verse 1-35 davorgestellt. A b e r
abgesehen davon, daß dies unbewiesen und unbeweisbar ist, soll erst einmal gezeigt
werden, w o jemals ein Proömium mit der Selbstanrede Tiiivri begonnen hätte. - Es ist
belustigend, wie die Kritiker sich ein Bild von Hesiod machen und dann auf Grund
dieses Bildes bestimmen, welche Teile man ihrem Hesiod zu belassen habe. Für den
einen hat er den Orakelstil des Ergaproömiums und des Hekatehymnus; was diesen
Stil nicht zeigt, ist unhesiodisdi. Für den andern wiederum ist er der Vertreter
„trockener und bedächtiger Helotenpoesie"; was also in gehobenerem Stil gehalten ist,
muß ihm abgesprochen werden. Man sieht, wie diese Urteile sich gegenseitig aufheben
und erkennt die petitio principii. Vgl. Hermes X L V I I I , 1913, j 6 o A . 1.
2 2 Wenn V . 25 echt ist (und die Unechtheit kann kein Mensch beweisen), so hat er schon
im ersten Teil des Proömiums seine Musen auch olympische genannt. Andererseits
heißt es im zweiten Teil (54), w o also nur von den olympischen die Rede ist, ihre
Mutter Mnemosyne Yovvoiaiv 'EXeiriHigog fieöeouaa. Das weist nach Böotien. - Wie
ich glauben möchte, hat man das Gewicht des scheinbaren Gegensatzes v o n helikoni-
schen und olympischen Musen stark übertrieben.
[14115] Das Proömium der Theogonie 79
23 'EXixamdöcov . . . a l d' 'EXixcövo; . . . Dies ist eben so zu erklären, daß sowohl der
Beiname wie die Angabe des Wohnortes etwas Typisches ist. V g l . Norden, Agnostos
Theos 168.
24 Schümann, Die hesiod. Theog. 299 f., verwies auf den A n f a n g des homerischen
Apollonhymnus. Im Aphroditehymnus steht zuerst f) . . . 01506 y.ai r ' iba\i&aaaxo . . .
Dann springt es in das Präsens öiivatai über (7), nachdem freilich schon der Relativ-
satz das Präsens gebracht hatte.
25 Unecht ist hier gar nichts. Wollte jemand vor V . 5 eine Lücke ansetzen, so würde er
kaum angeben können, wie sie etwa zu füllen sei. U n d der Sprung vom Präsens zum
Aorist bliebe auf alle Fälle.
2Ä Ellgers Athetese von 1 1 - 2 1 hat bei M a a ß Aratea (Philol. Unters. X I I ) 273 Nachfolge
gefunden.
27 Die von Peppmüller ausgesprochene Athetese des Verses 17 scheint mir riditig. Dione
steht offenbar als Mutter Aphrodites hier. Bei Hesiod ist aber Aphrodite mutterlos
und Dione heißt vielmehr eine der Quellnymphen (353). A u d i Hebe p a ß t so wenig
in die A b f o l g e , daß Sdiömann S. 40 $oißr|V schreiben wollte.
80 Griechische Literatur 115116]
Jetzt aber biegt es hier zu der Musenweihe um (22): al vti jtoft' 'Hoioßov
xaXfiv Eöiöalav doiör)v. Das ist ein harter und unvermittelter Abschluß.
Aber wir sind eben an dem Punkt, wo der Dichter durchaus mit der
Tradition bricht und ein völlig neues Erleben verkündet. Nun ist Hesiod
alles andere als ein Meister der eleganten und klaren Form. So wird es
niemanden, der ihn wirklich kennt, verwundern dürfen, daß gerade hier,
wo Altes und Neues zusammentrifft, eine merkbare und gar nicht ge-
glättete Fuge entsteht. Und wie der Anfang dieses Bekenntnisteiles rauh
und ungefüge ist, ebenso bricht der Schluß kurz und | hart ab mit dem
berühmten aXkä TIT) ¡XOI ratha jisgi ÖQÜV f) J I S Q I J I E T Q T J V .
28
28
Eine Einzelheit: M a n liest in V . 3 1 allgemein gegen die beste Überlieferung ÖQetpaoai,
läßt also die Musen den Stab abbrechen und dem Dichter reichen. Idi glaube, daß
man verstehen muß x a l [ioi axfjjtTpov E 5 O V . . . öoeipaadat, sie gaben mir den Stab
abzupflücken, hießen mich ihn abbrechen, wiesen mir ihn, damit ich ihn abbräche.
Besprechung:
1931
Diese Ausgabe ist ein ungewöhnliches, man braucht als Philologe das
Wort nicht zu scheuen: ein aufregendes Werk, und es ist nicht ganz leicht,
sie anzuzeigen. Schon darum nicht, weil dieser Band nur Teil eines größe-
ren Ganzen ist. Nicht allein, daß die Erga noch ausstehen. Vor allem
müßte man den Kommentar studieren können, den der Herausgeber
als Stütze seiner Ausgabe mit Recht für unentbehrlich hält. (Er ist nie
erschienen.) Die umfängliche Praefatio und der kritische Apparat können
das Fehlende nicht ersetzen, und unsere Anzeige wird darum vor allem
darin bestehen müssen, Fragen an den Editor zu richten, auf die wir die
Antwort von dem Kommentator (nicht mehr) erwarten. Die eigentliche
Schwierigkeit dieser Anzeige aber liegt auf dem Felde der Methode. Der
Herausgeber übt an dem Text der Theogonie eine radikale Analyse, so
sehr seine Arbeit sich von der scharfsinnig durchgeführten Sektion unter-
scheiden will und unterscheidet, die einst — in der Blütezeit selbstgenüg-
samer Kritik — Arthur Meyer1 an dem Leichnam der Theogonie — wie
zugegeben sei, nicht ohne Nutzen für das Verständnis ihres Aufbaus —
vorgenommen hat. Der Rezensent ist zwar durchaus nicht, wie ihm vor-
geworfen wird, darauf erpicht, koste es was es wolle „die Ueberlieferung
zu halten" 2 . Aber er ist seiner Wesensart nach eher „Harmonist", und
es kann wohl sein, daß er Widersprüche unterschätzt, ebenso wie es dem
„Analytiker" begegnen kann, daß er einer kleinen Unebenheit zuliebe
echte Zusammenhänge sprengt. Es muß beiden menschlichen Anlagen
gestattet sein, den Hesiod zu interpretieren, aber es wäre unfruchtbar,
wollte der | „Harmonist" mit apodiktischer Schärfe Grundsatz gegen
Grundsatz stellen und dem Herausgeber sein [xrj ttivos euiv cpiXo? zurück-
geben. Vielmehr wird er auch noch in dieser Auseinandersetzung „Harmo-
nist" sein müssen, d. h. aber hier: versuchen, wie weit zwei gegnerisdie
cHai65oio <piXoi einen wirklichen Dialog mit einander führen können, ohne
1
De compositione theogoniae, 1887.
2
v. Wilamowitz, Ilias 4 6 3 1 ) .
82 Griechische Literatur [2421243]
Ein Hesiodtext kann heut, was die Wortgestalt anlangt, nur konser-
vativ sein - wobei gerade der „konservative" Kritiker sich über das grund-
sätzlich Flüssige dieses Textes und das einigermaßen Zufällige der erhalte-
nen Fixierung nicht täuschen wird. Im einzelnen wird man nicht immer
mit dem Herausgeber zu gehen brauchen. Zwar wird man ihm beistimmen,
wenn er das metrisch unmögliche fteíriv iva xtaíoiju in V. 32 stehen läßt
(Rez. hätte nur ein Zeidien der Korruptel dazu gesetzt). Warum jedoch
281 éiéftoQE Xquctócoq (auch dies ohne Warnungszeichen) gedruckt wird,
ist nicht ersichtlich, da doch ein zweisilbiges Xgvoácop außerhalb jeder
Wahrscheinlichkeit liegt (schon neben 287!) und éxftopE der deteriores
immer gleichberechtigt neben ¿Ié-Ooqe zur Verfügung des Dichters stand.
Dabei scheut der Editor selbst vor schweren Aenderungen nicht zurück,
so wenn er in V . 335 die Wilamowitzsche Konjektur crjtEÍpr|imv uEYáXaig
statt Jtsígaoiv év ¡lEyá/.oig in den Text setzt. Die Konjektur ist blendend,
aber ganz gewiß falsch. Denn aiteloa gibt es bei Homer und Hesiod über-
haupt nicht! Und wenn auch, so wäre doch mit den „großen Windungen"
der Schlange nur ein ausmalender Zug hinzugefügt. Hingegen die neigcrc«
yaití; sind bestimmend für das homerische Weltbild, um von der Theogonie
selbst zu schweigen, in der die jiEÍoata überall, wo sie vorkommen, von
Jacoby getilgt werden (518. 622. 738. 809, vgl. Erga 168). Dann wieder
ist der Begriff itégag, nEtgata bei den Philosophen von höchster syste-
matischer Bedeutung. Ueber itsgag also wird der Kommentar eine Unter-
suchung bringen müssen, ehe man an iteigaaiv rührt. Er wird die Möglich-
keit des allerdings befremdlichen neyáXoig zu prüfen haben. (Darf man
von fern ixaxiatoug oQovg in dem Epigramm Kaibel 843 vergleichen? Muß
man nicht an Parmenides 8, 26 [isyuXcov év jieíqokji ösa^äiv denken? Können
bei Hesiod mit M-eyá^oig die Grenzen der Erde gemeint sein? Ist das selt-
same Jieígaaiv év HEyáXoig aus einem Jieígaaiv év 7o.ír|g wie in 518 abge-
wandelt, weil hier yairig schon vorausging, sowie Homer ein einziges Mal
öTeeo|jrr|YEQETa Zeúg [II 298] sagt, weil vecpE^TiYEgéta wegen des vorher-
gehenden vEcpéXriv sich verbot?) Jedenfalls: ajiEiQT)iciv nEyá^aig gehört nicht
in den Text, und in den Apparat allenfalls, um im Kommentar bekämpft
zu werden. Die scheinbar geringfügige Einzelfrage ist methodisch ebenso
wichtig wie geistesgeschichtlich. Methodisch: selbst wenn itEÍgaaiv év
HEyáXoig korrupt wäre, dürfte es so wenig aus dem Text entfernt werden
wie in V. 23 das korrupte ftEÍryv. Geistesgeschichtlich: jieÍquoiv ist ein un-
schätzbarer Zug in dem Weltbild des Dichters.
Zeiten zu machen berechtigt ist". Was Kirchhof! bestritt, daß „die Beson-
derheiten der Entwicklungsstufe, der eine geistige Schöpfung entsprang, ein
Ausnahmeverfahren in der Beurteilung derselben begründen", gerade dies
wurde in dem Aufsatz über das Proömium behauptet. Es wurde - wie
noch radikaler in dem Aufsatz über die Erga (Hypothekai, Hermes 1 9 1 3 )
- zur Erörterung gestellt, ob nicht die Analysen Kirchhoffscher Richtung
„allgemeine Gesetze und Formen des menschlichen Denkens aller Zeiten
und Bildungsstufen" im Geist des achtzehnten Jahrhunderts ansetzten,
während doch das Denken und Dichten der archaischen Zeit eben gerade
erst verstanden werden sollte. Was Friedrich Schlegel (Pros. Jugend-
schriften I I 268) von Homer sagt - „nie wird jemand die homerische
Poesie verstehen und begreifen lernen, der sich von der allgemeinen
Voraussetzung der Menschen, was in ihrem nächsten Kreise gewöhnlich
ist, müsse gewiß auch natürlich und überall wahrscheinlich sein, noch
nicht ganz frei gemacht hat" — das galt auf dem sehr begrenzten Gebiet
hesiodischer Kompositionsform auch uns damals als Axiom. Es werden
auch andere um 1 9 1 0 „das Archaische" als eine besondere literarische
Kategorie beachtet und benannt haben. Aber in jenen Aufsätzen wurde
es doch wohl mit besonderer Eindringlichkeit in die Mitte der Forschung
gestellt. |
Jacoby lehnt diese „lockende Art der Friedländerschen Interpreta-
tion" ab (Hermes 1926, 159). Z w a r daß diese Interpretation „sich still-
schweigend das Uberspringen der Recensio erlaubt", wird er selbst nicht
mehr behaupten, da er mit vollkommenem Recht feststellt: „Die eigent-
lichen Probleme für den Hesiodeditor liegen in einer Zeit, die wir mit
äußeren Hilfsmitteln — also mit der Recensio — doch nicht erreichen"
(ebenda 157). Er wird die Frage nach dem „Archaischen" gewiß nicht
grundsätzlich ablehnen. Aber er meint wohl nicht, daß sie z. B. für das
Proömium grundsätzlich etwas bedeute. Der harmonistische Rezensent
glaubte es als einen seltsam altertümlich aber sehr bedachtsam angeleg-
ten Garten wohl zu kennen. Jetzt findet er die Wege zerschnitten und
muß Gräben überspringen. An dieser Stelle soll nun nicht der Versuch
gemacht werden, das, was der Editor geschieden hat, wieder zu ver-
einen. Man müßte den früheren Aufsatz wiederholen und würde damit
nichts fördern. Aber eine Reihe von Fragen sind auch hier an den künf-
tigen Kommentator zu stellen.
Das Proömium Hesiods endet nach Jacoby mit V . 104 /aieete, texva
Aiog, ö6t£ 5* ineQOEaaav äoiör)v, wie einer der homerischen Hymnen, die
als Vorspruch bei Rhapsodengesängen dienten. Also hätte die erste
Zeile des eigentlichen Gedichts nicht an ein Proömium angeschlossen,
sondern der Anschluß wäre erst von einem späteren Bearbeiter hergestellt
worden? Also hätte die Theogonie kein individuelles Proömium gehabt,
zu dessen Wesen doch das öslyna tov Xoyov gehört, und das überlieferte
8eiY(xa wäre erst die Zutat eines oder zweier Rhapsoden? Und Hesiod
[247j248] Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby 87
hätte eine Form des Proömienabschlusses gewählt, die von Homer über
Apollonios bis zu Nonnos, von Parmenides über Arat zu den Oppianen
und zu Paulus Silentiarius nirgends eine Parallele hat? Wechselt nicht,
wenn xaipete bei Hesiod den Beschluß macht, sein Proömium zu den Pro-
ömien des homerischen Hymnenbuches hinüber, unter denen es sich doch
wiederum - bei aller von mir früher aufgewiesenen Verwandtschaft -
ganz fremd ausnehmen müßte, da die Hymnen auswechselbare Vorsprüche
für Rhapsodenvorträge sind, das hesiodische Proömium hingegen unaus-
wechselbar und nur für dieses Gedicht bestimmt? Der Kommentar wird
starker Mittel bedürfen, um dieses Argument zu entkräften: daß Hesiod
durch das Verfahren des Editors herausgerissen wird aus der einheit-
lich konsequenten Linie, daß er hineingestellt wird in eine Gesellschaft,
in die er nicht gehört. Und man wird gespannt sein müssen auf die posi-
tiven Gründe. Jedenfalls müßten sie stärker sein als was gegenwärtig
der kritische Apparat beibringt, die Form xXeLete am Versanfang (wofür
W. Schulze x.Xeete als axecpcdog vorschlug) und die | Form r % (die Jacoby
selbst aus seinem Hesiodtext in 679 nicht zu vertreiben wagt, die man
doch in 106 leicht genug vertreiben könnte, die doch zumindest den er-
weiternden Theogonie-Rhapsoden geläufig war und schon den Sängern
der homerischen Gedichte - warum also nicht dem Hesiod?). Denn mag
man diese Formen für hesiodisch oder für unhesiodisch halten, dies sollte
doch wohl nicht bestritten sein, daß man sich in einem durch den beweg-
lichen Vortrag mancher Sänger gegangenen Texte auf einzelne Formen
überhaupt nicht verlassen kann, als müßte das „Original des Dichters"
bis auf den Buchstaben getreu erhalten sein. Gilt nicht f ü r die Hesiod-
tradition der ersten Jahrhunderte, was Herder in seinem Horenaufsatz
von 1795 über Homer sagt: ein steifes Rezitieren auswendig gelernter
Verse, die unter allen Völkern Griechenlands jahrhundertelang dieselben
geblieben wären, sei ganz undenkbar?
Auch an anderen Stellen des Proömiums, wo Jacoby große Stücke
herausschneidet, werden sich die Schnittflächen nicht für jeden Leser so
leicht zusammenschließen. Nachdem in 77—9 die Musen mit ihren hesio-
dischen, d. h. doch wohl von Hesiod erfundenen Namen aufgezählt sind,
bekommt Kalliope als letzte den Zusatz öf| jtQocpEgaTarri eativ äitaaetov.
Es ist ein Lieblingsgedanke von Jacoby (Hermes 1926, 170 ff.), daß
Hesiod am Schluß von Namensaufzählungen dem letzten Namen eine
solche Prädikation hinzufügt, eben als letztem, ohne daß eine weitere
Begründung dabeisteht. Mir scheint doch nicht sicher, ob die von Jacoby
aufgeführten Parallelen zutreffen. Daß in der Okeanidenreihe Styx als
die letzte prädiziert wird i) ör| aqpecov jtQocpeQEaxäTri eativ anaaecov, hat auch
nach Jacoby „noch einen sachlichen Sinn". Aber wenn der Nereidenkata-
log endet mit Nr|[i£(nr)g ft' f| jtatpög eysi vöov äftavaxoio (262), „so bedeutet
das eben nur, daß der Katalog zu Ende ist"? Nicht mehr? Wird nicht
mit ihrem Namen „Fehllos" eben noch einmal zurückgewiesen auf ihren
88 Griediisdie Literatur [248¡249]
Vater Nrigéa m|>etJ0éa xaì akr\Ma in 233, d.h. auf die Geschichten von
Nereus, so daß diese Schlußprädikation in der Tat keiner Ausweitung
fähig und bedürftig ist? Wenn Eurybie, die letzte Pontostochter, prädi-
ziert wird als à8a|xavtog évi cpgeaì ftu|xòv exovaa (239), so entspricht das
ihrem Namen und ihrer Funktion: als Gattin des Kreios wird sie später
die Mutter gewaltiger Söhne sein (375 ff.). So mag übrig bleiben der
letzte in der Reihe der Kreios- und Eurybie-Nachkommen: Perses, 05
xaì itäai jxETEjtQ£jiEv i&|j,ocnjvTii(Tiv, sei das nun ein Hinweis auf seine Tochter
Hekate 4 1 1 ff. oder auf irgend etwas was wir nicht wissen oder wirklich
nur der formale Abschluß einer Reihe, den Jacoby überall ansetzen
will. Aber reicht dieses einzige, selbst noch fragwürdige Beispiel, um
zu beweisen, Kalliope habe den Zusatz wie die Styx gehabt ii ör) jtQotpe- |
QEOTdtri èaxiv àjtaaécov, und sie sei - ganz anders als die Styx - keines-
wegs vor den anderen besonders ausgezeichnet gewesen als eben dadurch,
daß sie - die letzte war? Nun aber folgen in unserer Überlieferung
24 Verse, in denen mit yäg jenes Prädikat begründet wird. Jacoby gibt
zu, daß es sententiae pulcherrimae sind, aber er spricht (Hermes 1926,
172) von einer „ungewöhnlich törichten Begründung" und läßt also
die schönen Verse „aus anderen Proömien" hierher übertragen sein. Wer
sich viel mit Unechtheitsbeweisen zu befassen gehabt hat, lächelt allmäh-
lich über solche Scheltreden, deren Urheber sich nicht gern an ihre frühe-
ren Äußerungen erinnern lassen, — wenn nun z. B. der Menexenos wirk-
lich wieder platonisch ist. Also lassen wir das „ungewöhnlich töridit"
und fragen wir nach dem Zusammenhang, wie Hesiod oder der zusam-
menfügende Rhapsode ihn gemeint hat! Nach Ruhm, Freude, Gesang,
Tanz, Lied, Festeslust heißen die Musen. Nur eine heißt nach der Stimme,
der Sprache: Kalliope. Ist es irgendwie in ihrem Wesen gegeben, daß
sie von allen die vorzüglichste sein muß? Warum ist das nicht Kleio,
warum nicht Uranie? Hat nicht der Dichter (oder der Rhapsode) Kal-
liope darum an den Schluß gesetzt und sie zur vorzüglichsten gemacht,
weil die Schönheit des Wortes es ist, die zwei Menschenarten ihre Würde
gibt: den Königen und den Sängern? Kalliope ist es, die die Zusammen-
gehörigkeit von König und Sänger begründet. So heißt es in dem Text,
den das ganze Altertum, also gewiß schon die Zeit des Aischylos und
Pindar las. Jacobys Hesiod aber hätte diesen Zusammenhang nicht ge-
stiftet. Nicht einmal e i n erweiternder Rhapsode hätte das getan. Son-
dern der erste hätte die Könige hinzugefügt und bei Kalliope gar nicht
an seinen eigenen Gesang gedacht, und erst ein zweiter hätte diesen Scha-
den ausgebessert. Eine Fülle von Fragen drängt sich auf. Ist der Versuch,
der Hermes 49, 10 gemacht wurde, das schwierige Gefüge dieser Vers-
reihe als archaisch zu begreifen, nicht der Erwägung wert? (Das yàg in
V. 94 wäre nicht das erste griechische yàg, dessen Beziehung Schwierig-
keiten macht; ein yàQ hat ja geholfen, das Proömium des Thukydides
zu zertrümmern!) Und vernichtet nicht vielleicht die Absetzung durch
[249j250] Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby 89
So druckt Jacoby. Sie hauchten mir Stimme ein? Aber seinem Wesen ist ja
der Mensch atiÖT|eig (e 334, £ 125), exojv ev otti^eoiv at)8r)v (A 430). Zeus
90 Griechische Literatur [2501251]
befiehlt dem Hephaistos zur Erschaffung der Pandora Yoüav ijöei qpiiQEiv, ev
6' avögci)itou -9e(iev aii6r)v (Erga 6i), und vom Pferd des Achill heißt es
aii8r|EVTa 6' eftt^e ftEa (T 407). Haben also die Musen ihm Stimme einge-
haucht, die er doch als redendes Wesen wesenhaft besaß, und nicht viel-
mehr eine irgendwie geartete, | musische, dichterische Stimme? Ist also der
Vers überhaupt entbehrlich, der das erforderte Attribut bringt (wie es
nun auch geheißen haben mag)? Jacoby setzt ihm das Antisigma voran,
hält ihn also für eine duplex recensio — wovon eigentlich? Wir erwarten
Aufklärung darüber und überhaupt die Begründung der komplizierten
arineitoffig von dem Kommentar, und wir sagen hier nur, warum die Frage
uns von so großer Wichtigkeit geworden ist, ganz abgesehen von der
Textkritik und von der Frage, was Hesiod gedichtet hat und was etwa
die Späteren. Nehmen wir den Text so wie er vorliegt. Die, irgendwie
prädizierte, Stimme hauchen die Musen ihm ein, damit er rühme das
was sein wird und das was vorher war. Und nachher sagen die Musen
an: das was ist, was sein wird und was war. Also das Wissen, das durch
die Zeiten blickt, das ist der Besitz der Musen, und das haben sie dem
Dichter bei seiner Weihe verliehen. Aehnlich im Scherzspiel des 'Aycbv
"Ouf)Qou xai 'Haioöov 91 Rz. = 97 Allen = c. 8 1. 25 Wil. Mofta' aye [iot
T<x t' eovxa ta x' Eaao^Eva jiqö t' eovtoi . . . Das ist also im sechsten Jahr-
hundert5. (Man denke an Schiller, um zu erkennen, daß hier ein über-
zeitlicher Aspekt vorliegt: Er hat alles gesehn was auf Erden geschieht
und was uns die Zukunft versiegelt. Er saß in der Götter urältestem Rat
und behorchte der Dinge geheimste Saat.) Diese hesiodische Gesamtsicht
der dichterischen Existenz ist von einer ursprunghaften Größe und Ein-
fachheit, vielleicht darf man auch sagen Neuheit, wenn man bedenkt,
wie die Odyssee vom Dichter nur zu rühmen weiß, daß ihm die Muse
süßen Gesang gab (ft 64). Ist es Blindheit und glaublich, daß drei oder
vier verschiedene Geister an diesem Ganzen gewirkt haben, und daß es
doch in ausgezeichnetem Sinne ein Ganzes ist?
Wir verweilen hier noch einen Augenblick. Denn dieser Gesamtaspekt
ist wiederum die Besonderung eines noch umfassenderen, den wir in einer
kurzen Skizze darstellen müssen. Der törichte Agamemnon „weiß nicht
zugleich vorwärts und rückwärts zu denken (voTjacu)" (A 343). „Der Ver-
stand der jüngeren Menschen schwankt, der Greis aber blickt zugleich
nach vorwärts und rückwärts" (r 109). Dieser Blick durch die Zeit also
unterscheidet den Weisen vom Toren. Kalchas der Seher „wußte das
Seiende, das Künftige und das Vergangene" (A 70). Das also ist das
Wesen des Sehers, nicht etwa zufälliges Erahnen zufälliger Zukunfts-
dinge, so wie es gemeinhin auch bei den Alten gesehen wird (tt|v |iavTwr|v
5
Euripides Ion v. 7 von Apollon: t d x' övta x a i p i M o v r a Oeciju^cov det. Die Ver-
gangenheit ist nicht mehr ausdrücklich genannt. Ist sie schon dem Historiker anheim-
gegeben?
[251j253] Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby 91
elvai ¿jikjtt||xt]v Toi (xeXXovtog laeaöai Plat. Charm. 173 C). Neben den
Seher stelle man den Arzt, wie Homer (q 384) und Solon (i, 53 ff.) sie
neben einander stellen und wie Empedokles (Frg. 1 1 2 ) sich rühmt, beides
zu sein. Die antike Prognostik ist die Kunst des Arztes, am Bett des
Kranken „vorherzuerkennen | und vorherzusagen - d. h. ehe der Kranke
noch befragt worden ist - das Gegenwärtige, das was vorher geschehen
ist und das was künftig sein wird" (Hippokr. Progn. 1). (Diese antike
Prognostik hat uns L. Edelstein, Problemata IV Kap. 3, besser verstehen
gelehrt; die hier gegebene ideengeschichtliche Skizze kann dem dort Ge-
sagten einen breiteren Unterbau geben.) Zum Dicher, Seher, Arzt, die ja
alle ao<poi sind, stellen wir den platonischen aocpög oder (piXoaoqpo; (Charm.
174 A): er weiß das Zukünftige, das Gewesene und das jetzt Seiende
und zwar auf dem Gebiet von Gut und Schlecht. In diesen einheitlichen
Aspekt des griechischen Weisen also ordnet sich der frühste Weise, der
Dichter ein, wenn man den Hesiodtext so nimmt wie er überliefert ist.
Solches Wissen des Weisen aber ist zugleich musisches, d. h. göttliches
Wissen. Und noch einmal: dieser überlieferte Zusammenhang soll nicht
aus einer einheitlichen Konzeption entstanden sein, sondern durch all-
mähliches Ankristallisieren? Und wenn es dem künftigen Kommentator
gelänge, uns davon zu überzeugen, müßten wir dann nicht wieder
urteilen, daß der alte und echte Hesiod unwichtig sei und wichtig erst
der erste, zweite und dritte Bearbeiter?
Was den Stil betrifft, so ist die konzentrische Komposition, die V. 38
durch V. 51 und V. 37 durch V. 52 aufnimmt, echt archaisch. Aber es
wäre ja gewiß möglich, daß auch eine Erweiterung mit dem ursprüng-
lichen Text in solch archaisches Kompositionsschema zusammenginge. Für
den Klang der drei aufeinander folgenden Versanfänge 37-9 •uiivEÜaai...
eipeCaai . . . <pa)vf|i önr]Qevaai . ist hinzuweisen auf die Versschlüsse in
Erga 1 . 2 . . . idsiovaai . . . iiuveiouaai (um vom Hekatehymnus hier noch
zu schweigen). Jene drei aber teilt Jacoby unter drei verschiedene Ver-
fasser auf — mit Wahrscheinlichkeit? Und ist es wahrscheinlich, daß in
dem dreifachen Gesang der Musen der Parallelismus oaaav tslaai xXeioucriv
. . . äQx<Vevai tiuveCoi . . . mveiaoa TEpjtouoiv . . . nicht aus einem Gusse
wäre? Daß nämlich das mittlere Glied überhaupt kein Verbum gehabt
hätte und der V. 48 äp/ofisvai tyiveiiai. •öeai ?.t|yodol x' doiöife in die
Erweiterung seinerseits erst wieder wäre eingearbeitet worden? Auch dies
nämlich hat seine Bedeutung über die stilistisch-textkritische Frage hin-
aus. In V. 34 rufen die Musen den Dichter auf acpüg 8' ama<; jtpütov te xai
vtrtaxov atsv deiöeiv. Wenn dieser Vers von demselben Dichter wäre wie
48, so würde gesagt sein, daß der Dichter den Musen erweist, was sie
selbst dem Zeus, ebenso wie das Wissen um Vergangenheit und Zukunft
Musen und Dichter vereinen würde, wenn 32 und 38 von demselben
Dichter wären. Zerreißt man nicht die Kette der | magnetischen Eisen-
ringe, durch die Piaton im Ion den Strom der Inspiration sich fortpflanzen
92 Griechische Literatur [253¡254]
läßt? Und wenn man sieht, daß die Musen vor Zeus die Theogonie singen
wie Hesiod vor den Menschen, werden wir nicht auch dies für höchst
absichtsvoll halten: menschlicher Gesang Abbild des göttlichen? Und
wieder wäre das erst nachträglich hineingebracht worden? Auch Jacoby
deutet ja in der Anmerkung zu 36-52 an, daß er einen Grundstock
hesiodischer Verse innerhalb dieser großen Erweiterung vermute, was
die kritischen Zeichen nicht im Stande sind auszudrücken. Wir müssen
abwarten, ob es dem Kommentar gelingt, solche gewiß sehr mögliche
Erweiterung wahrscheinlich zu machen, Ursprüngliches und Angewachse-
nes sicher zu scheiden. Vorläufig will uns auch hier scheinen, als hätte
zuweilen erst Jacobys jüngster Bearbeiter oder gar Interpolator den
Zusammenhang vollkommen hergestellt, der uns wichtiger scheint als
vieles sonst in dieser Dichtung. Und wird nicht der künftige Kommentar
außerordentlich starke Gründe beibringen müssen, um uns davon zu über-
zeugen, daß dieser „Bearbeiter" ein anderer ist als eben - Hesiod selber?
Bevor wir das Proömium verlassen, noch eine Beobachtung. In V. 77
bis 79 stehen die berühmten neun Musennamen. Nichts unbegreiflicher,
als daß man auch diese Verse dem Hesiod hat nehmen wollen. Verrieten
nicht gerade solche Namenreihen antikem Kunsturteil den 'HoiöSstoc;
xaQcwnf|Q? (Vgl. Nr. 68 a in Jacobys höchst nützlicher Sammlung der
Testimonia de Hesiodi vita et poesi.) Jacoby hält sich von dieser Hyper-
kritik fern, wiewohl er einige Bedenken zu überwinden hat. Aber viel-
leicht läßt sich hier alles auf eine festere Basis stellen, wenn man folgende
Zusammenstellungen auswertet. Kleio: 44 ftecov 7EV05 aiöoiov jtqcotov
v. X e i 0 v a 1 v. 66 f.li'ftea xeSva adavaToav x X e i o v a 1 v. Euterpe: 37 ( = 51)
iifiVEiaai T E p n o v o i . Thaleia: 65 ev ö a X i t) 1 g. Melpomene: 66
H fiXjtovTai. Terpsichore: 4 öpxEÜVTai. 7 % 0 q o i> g Evejtoif|aavTo xaXoug
tfiEQOEVTag. Dazu t e q j i o u c j i in 37. Erato: 6 j e p a t r| v öe öiä atona
oaaav ieiaai. 67 E J i r i g a t o v oaaav tEiaai. 70 t o a t o ? öe jcoSwv tiitö
öoimog ögtoQEi. Polymnia: 37 « (i v b i o a 1. Uranie: 71 viooixevcov itateg'
Eig ov ' o ö'o v q a v (o 1 E|a.ßaai/iEij£L. Vgl. 37 Evtög 'OXij|iitoD usw.) Kalliope:
41 öeüv ö jt i XEißioea0r|i. 6 8 dyaXXonevai ö jt 1 % a X fj 1. Hesiod also hat,
scheint es, diese Namen nicht beliebig hingestreut, sondern sorgsam vor-
bereitet. Kein Name erscheint, ohne eine Funktion auszudrücken, die
nicht vorher in der Bewegung des musischen Geschehens selbst lebendig
geworden wäre. Aber freilich, diese Beobachtung trifft nur zu, wenn 38
bis j 2 und 62-67 v o n Hesiod sind. Was also muß weichen? Scheitert
unsere Beobachtung an Jacobys Analyse? Oder umgekehrt, wie wir
glauben möchten, diese an jener? Vielleicht | könnte sich eine dritte Ansicht
melden: richtig sei die Beobachtung und die Analyse; also gehöre die
Namenreihe gleichfalls dem Ueberarbeiter. Aber darauf dürfen wir uns
die Antwort versparen, bis künftig wieder ein Kritiker mit noch schärferen
Säuren als Jacoby an den Text herangeht.
Nun zur eigentlichen Theogonie!
[254j255] Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby 93
Jacoby hat eine Abneigung gegen Eros und Aphrodite. Eros wird
auf einen einzigen Vers (120) beschränkt, Aphrodite verschwindet aus
dem Gedicht Hesiods überhaupt. Hier ist man in der günstigen Lage, sich
mit Jacobys Abhandlung im Hermes 1926 auseinandersetzen zu können,
die den künftigen Kommentar vorläufig vertreten mag: Jacoby druckt
V. 120-2 so:
»s> ..17. 05 jiavTEOtn fiETaitpeitei äftctväTOiaiv.
' " ' ' [05 xäMaaxog ev äftavaxoiai dsolai,
A.i)aineA.rig jtävxcov te Oecov jtävxcov x' Avdjjdmcov
6apvaxai sv axfidecai vöov xal ejcupgova ßouXr|V.]
Warum begnügt er sidi nicht mit Petitdruck? Warum geht seine Feind-
schaft gegen diese Verse so weit, sie auch noch in eckige Klammern zu
setzen? Daß Aristoteles V. 121/2 nicht gelesen habe, ist unbeweisbar:
dieses Negative wenigstens kann man gegen Jacoby mit Zuversicht aus-
sprechen. Aristoteles exzerpiert ersichtlich, und so wenig man sidier sagen
kann, was er nach Tai' evgiiioTEQvog las, so wenig kann man beweisen, daß
seine Vorlage hinter der Prädikation 05 jiäai (¿ETajigEJiEi äftavätoiaiv nichts
mehr gebracht habe. Die entgegengesetzte These Jacobys beruht auf seiner
Vorliebe für jene angeblich hesiodische Schlußformel, die von irgend
jemandem nichts anderes als seinen Vorrang prädiziere, wenn er nämlich
nur den einen Vorrang habe, in einer Reihe an letzter Stelle zu stehen.
Darüber ist früher bei Kalliope gesprochen worden. Und wie dort scheint
es mir auch hier zum mindesten ganz unerweislich, daß Hesiod sich
begnügt habe, den Vorrang des Eros zu behaupten, ohne ihn zu
demonstrieren.
Die Alten haben diesen Eros als den „kosmogonischen" verstanden, von
den Orphikern an über Parmenides und Empedokles zu Piaton und
Aristoteles, den Stoikern und Neuplatonikern. Welcker (Hesiodische
Theogonie 1 1 2 ) hat diese Deutung nicht umstürzen, sondern ergänzen
wollen, als er an den Steinphallos von Thespiai erinnerte. Wenn er
freilich diesem Gott einer urtümlichen Bauernreligion kosmogonische
Bedeutung beilegte (Götterlehre I 350), so wird ihm darin kaum mehr
jemand folgen. J a , heut möchte man weiter gehen und auch dem Hesiod
nur noch die Huldigung für seinen heimischen Gott übrig lassen und die
„kosmogonische" oder hesiodisch zu sprechen | „theogonische" Bedeutung
seines Eros ganz leugnen (Kern, Rel. der Griechen 250). Auch Jacoby
ist dem geneigt; „höchstens darf man auch hier fragen, ob die überraschende
Einführung des heimischen Gottes der Zeugung in den Kreis der Urgötter
durch V. 120 gewissermaßen begründet und gleichzeitig stark gefühls-
betont werden sollte; und diese Frage läßt natürlich keine beweisbare
Antwort mehr zu, so gern man sie bejaht". Ich glaube, man kann hier
zuversichtlicher reden - wenn man nur die eine Voraussetzung macht, daß
Hesiod etwas Sinnvolles und Bedeutendes schuf. Erst Chaos, dann Gaia
und dann — ein böotisdier Götterfetisch, der „seine hervorragende Stellung
94 Griechische L i t e r a t u r [2551256]
ganz einfach der Tatsache verdankt, daß er für Hesiod ein heimischer
Gott war" (Jacoby, a . a . O . 166): ist das nicht eben zu - einfach? So
einfach, daß recht besehen gar kein Sinn und Zusammenhang mehr übrig
bleibt? Warum dann grade Eros, da es doch viele heimische Götter gab?
Heißt das nicht, sich das Religions- und Geistesgeschichtliche dieser Stelle
geradezu verschließen, indem man sich auf das Zufällige und heimatlich
Enge zurückzieht? In Wahrheit hätte der nichts-als-böotisdie Eros neben
Chaos und Gaia überhaupt keinen Sinn bei Hesiod, und Sinn hätten erst
die Späteren hineingebracht, und zwar einen Sinn, von dem alle Folgezeit
zehrt seit der Orphik bis auf Dante. Also wieder wäre Hesiod ganz
unwichtig und wichtig wäre erst sein unbekannter Bearbeiter? Aber um
es offen zu sagen: an diesen Hesiod glauben wir nicht, und daß Hesiod
selbst dem Eros eine Bedeutung geben wollte neben und mit den Ur-
mächten Chaos und Gaia, das ist keine Annahme, sondern das steht ein-
fach da, weil das Gegenteil hieße: acinteaftai eiti tivog dXoviag. Daß er den
Eros-Phallos von Thespiai kannte, oder vorsichtiger zu sprechen, einen
epichorischen Kult von dieser Art, ist gewiß. Dann aber kann man den
Vorgang im allgemeinen nur so denken, daß er diesem Steinfetisdi
theogonische Macht verlieh. Ob das geschehen konnte durch die für sich
allein kaum halb verständlichen Worte ognäai n.Eta;tQEjrEi äftavatoioi? Ob
nicht sowohl diese im besonderen wie die Nennung des Eros an dieser
Stelle im allgemeinen erst sinnvoll wurden durch 121/2? Jacoby hat an
den homerischen Wendungen Anstoß genommen, die sich in diesen Versen
häufen („ausgesprochener Centocharakter"). Aber ist das, was er übrig
läßt, og jcavTEaai |.i£TcuTQejtei ädavätoiai weniger homerisch? J a , man kann
weiter gehen. Wenn man sich vorzustellen sucht, wodurch sich denn
Hesiod ermächtigt fand, den thespischen Steindämon so hoch zu erheben,
so muß die Antwort lauten: durch Homer. Mit dem, was man in einem
böotischen Bauernkult Eros nannte, schloß sich ihm zusammen, was
Homer Eros nennt, die Macht, die dem Zeus wie dem Paris itwivag |
(PQEVAG D|I(PEXÄXIN|>EV oder EVI ATRJÖEAAI JIEQURPOXUFREIG eöaixaaaev (3 2 9 4 .
315. 1^442.). Notwendig sind 1 2 1 / 2 nicht nur darum, weil sie 120 erst
verständlich machen, nicht nur darum, weil sie die Erhebung des Eros
zum Range eines Urgottes erst rechtfertigen, sie sind auch notwendig
- und das ist gleichsam die Probe aufs Exempel - weil das <piA6rr|-u (iiyrivai
sofort in der Verbindung von Erebos und N y x zum allerersten Male
geschieht und gleichsam erst durch 121/2 seine Möglichkeit findet. Mehr
als das: ohne 121/2 gibt es überhaupt keine Zeugung, also keine Theo-
gonie. Und notwendig müssen die Verse 121/2 durch und durch homerisch
sein, weil nur Homer es war, der dem Böoter zu diesem Aspekt verhalf. So
stellt sich bei einfacher Interpretation dessen, was dasteht, der religions-
geschichtliche Zusammenhang dar. Und wieder soll man glauben, dieser
große und sinnvolle Zusammenhang sei erst später hineingetragen
worden?
[256¡257] Hesiodi Carmina recensuit Felix Jacoby 95
Vortrag Öia ¡xeaou hören läßt, ,sie', wenn man nach dSpvuto Satzschluß
markiert. Vielleicht also soll man gar nicht zwischen beiden Möglichkeiten
entscheiden, sondern dieses Ganze, der dqpßö? mit der xovqt) darin - und
so s i e h t man es ja auch - treibt zuerst in die N ä h e von Kythere, und
dann kommt er nach K y p r o s ; heraus stieg die Göttin. Wie nennen w i r
dieses Ans-Land-steigen, wenn es auf dem ludovisischen Throne darge-
stellt ist oder auf dem Gemälde des Botticelli? Die Geburt der Aphrodite,
la nascita die Venere. U n d nur hier im Hesiod soll es Harmonistik sein,
also verwerflich, wenn w i r so verstehen? Wird aber nicht vielmehr das
physiologische Bild vollkommen deutlich durchgeführt? Die xovqti in jener
schützenden Hülle ist gleichsam der Embryo, und wenn die xotjqt) zur
Göttin herangewachsen ist und nun heraussteigt, so ist das die Geburt.
Will man einen Beleg aus der antiken Physiologie f ü r den Zusammen-
hang von £§Qecp-&r| und e|eßr| = ¿yeveto? Hippokrates üeqi cpiiaiog (tvöqcüjtou
V I I 5 32 Littre: ryv f) t q o qp rj ngooftEV W ^ i outö rrj; uritgög töh it a 1 8 i cd 1
xai oötü) jtgoafrEV 6 Toxog tfji ht)tqi nagayivExai xai ftäaoov dexa ^t]vcüv
e | e q x e i ; « ^ (wofür anderwärts x w e " 1 ^Ico gesagt wird).
So hängt die „Aphroditegeburt" fest und klar zusammen und man
staunt über die physiologische Eindeutigkeit des ganzen Vorgangs. N u n
aber der Zusammenhang dieses Geschehens mit dem, was im Texte vor-
ausgeht: mit der Entmannung des Uranos. Wir lassen zunächst alle Einzel-
heiten, um die Situation möglichst sinnfällig zu machen. Wir sehen den
Himmel, den großen Uranos, wie er „um die G a i a nach Liebesgenuß
begehrend sich ausstreckt". In diesem Augenblick | mäht Kronos das
Zeugungsglied ab und w i r f t es (die Einzelheiten nachher!) ins Meer.
„Nicht vergeblich flog es aus seiner Hand. Denn aus den Blutstropfen ent-
standen die und die Wesen" - und damit läßt Jacoby den hesiodischen
Text schließen. Ich frage: w a r es ein späterer Rhapsode, der da f a n d , das
ovx Ettbaia wäre so durchaus unerfüllt, und der darum die Aphrodite-
geburt anfügte? War es erst ein Späterer, der erkannte: das Zeugungs-
glied, in diesem Momente abgeschnitten, müsse zeugen, und z w a r nicht
nur durch die zufällig abtropfenden Blutstropfen, sondern durch den
notwendig in ihm enthaltenen Samen? Ist nicht vielmehr mit den Worten
ta fjiv ov ti etiboia gxcpiryE xsigög von vorn herein das Schicksal der (U|ÖEa
selbst gemeint, so wie bei Homer das Schicksal der W a f f e in Fällen wie
tov 8' ovx ähov ße/.og excpvye xBlQÖ?, aXX' eßaKs atf|'&og ( E 18) — ovd' aga (xiv
SXlov ßEXog gxqpuyE '/eiQÖg ... öia 8' a^jisQeg log ev yairii xatEnrixTO (A 376)?
Diesen wieder bis zur physiologischen Ueberdeutlichkeit sinnfälligen
Zusammenhang zerschneidet J a c o b y - womit? Mit dem zweischneidigen
Messer einer grammatisch-stilistischen und einer mythengeschichtlichen
Konstruktion. Zuerst die grammatische, xa |jiv oii ti Eteaaia . . . werde
begründend ausgeführt durch das was mit yag folgt: das Sdiicksal der
eaftd|uvYeg. „Das ist stilistisch rund und fertig". Niemand wird bestreiten,
daß rein formal mit 187 alles zu Ende sein könnte. Aber genau so gut
[258j259] Hesiodi C a r m i n a recensuit Felix J a c o b y 97
liegt es in der sprachlichen Möglichkeit des yaq, daß seine Wirkung sich
noch über 187 hinauserstreckt. Um zu paraphrasieren: xàg |ièv yàg
Qa3à\iiyyaq è6É|ato f) rfj, a i t a 8è t à aiöoTa, EJteiöri t a x i c r t a -/aTgßaXev. . . .
Ebensowenig zwingt Jacobys mythengeschichtliche Konstruktion. Zwei
„abergläubische Bräuche" ganz verschiedener Art seien in unserem Text
durcheinander gemengt, erstens der Ritus des Hinter-sich-werfens,
zweitens daß man /.tiuata ins Meer wirft. Für den ersten erinnert Jacoby
mit Recht an Deukalions Steinwürfe, für den zweiten mit Unrecht an
Leukotheas Schleier anstatt an A 314. Denn was hat der Schleier mit
Ivaaza zu tun? Und was haben die |_ir)ÖEa mit Wuata zu tun? Man schlage
nur einmal den Index zu Wuttkes Deutschem Volksaberglauben nach, um
sich zu überzeugen, wie vielfältiger Verwendung das „rückwärts, rück-
lings" im Volksbrauch fähig ist. Dann wird man nicht leicht nur zwei ver-
schiedene Riten sondern, wo es viele gibt. Auf der anderen Seite wird
die Deukalion- und die Leukothea- und die Uranosgeschichte trotz aller
Verschiedenheit darin übereinstimmen, daß rückwärts etwas Geheimnis-
volles geschieht, was dem Menschen zu sehen nicht erlaubt ist. So be-
zweifle ich, wenn auch nicht völlig den von Jacoby aufgestellten Gegen-
satz, so doch den Gebrauch, den er von ihm für die | Analyse macht, und
frage: ist es wirklich unerlaubte Harmonistik, wenn man den Wider-
spruch zwischen 181 itaXiv 8' £Qgu|JE qpéoEatìai é^oitiao) und 189 xaßßaX5 an'
6
f|jtEigoio jio/.-uy./.ijcFTCüi évi itóvTtoi nicht sehen kann ? Jacoby läßt den Kronos
an der zweiten Stelle „die |xr]&Ea vom Strand (!) ins Meer werfen" und
legt damit dem Worte rjjtEipog eine Bedeutung unter, die es nicht hat. Hier
wie dort steht Kronos auf dem Festland (wie weit von der Küste, wird
nicht gefragt) und wirft über das Land hin aufs Meer hinaus. D a kann
ich schlechterdings keinen Widerspruch erkennen.
Aber die Parallelen aus Mythos Märchen Volksbrauch, auf die wir
geraten sind, dürften noch wahrscheinlicher machen, was vorher aus dem
o{)/. ÈTwaiov geschlossen wurde: nicht die Blutstropfen können die Haupt-
sache sein, mit dem fortgeworfenen Dinge selbst muß das Wesentliche
geschehn. So ist es bei Deukalion und Leukothea, so in dem weit über die
Welt verbreiteten Märchen von den verfolgten Kindern, die etwa Kamm
und Spiegel hinter sich werfen, damit Gebirge und See daraus entsteht
(Grimm 79, dazu die Parallelen bei Bolte-Polivka); so meint es doch
wohl der Volksglaube, wenn ein Schuh oder ein Glas oder eine Apfel-
schale oder sonst etwas über Schulter oder Kopf rückwärts geworfen wird.
Immer geht es um die Sache selbst, nie um etwas was von ihr abbröckelt
oder abtropft. Und wo es sich um Verwandlungen handelt: gibt es irgend
ein Beispiel, daß nicht der Gegenstand selbst verwandelt wird, sondern
etwas was von ihm abfällt, während er selbst ins Wesenlose entschwin-
det? So darf man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit den ganzen
6
V g l . W i l a m o w i t z , D e r Glaube der Hellenen I ( 1 9 3 1 ) 96.
98 Griechische Literatur [2591260]
Charisteria Alois Rzach dargebracht, 1930, 47 fF.) uns bisher aus alter
Zeit nichts gezeigt haben und vermutlich nie viel zeigen werden. (Ed.
Schmidt, Archaistische Kunst 47 ff., vermutet, daß die ältesten Hekate-
Idole aus Holz waren und daß deshalb nichts von ihnen erhalten ist.) Setzt
man jenen Zustand für das Böotien des | achten Jahrhunderts voraus, so
beginnt man vielleicht die geistige Leistung unseres Hymnendichters zu ver-
stehen. Ueberall sah er Hekataia, und so wurde ihm Hekate eine Macht
keineswegs über den andern, keineswegs alle umfassend, wohl aber alle be-
gleitend, so etwas wie ein Medium zwischen den getrennten und vielleicht
gar ein Medium zwischen ihnen und den Menschen. Wenn jetzt der „Stil"
dieses Hekatehymnus mit dem des Ergaproömiums zusammenzugehen
scheint wie sonst mit nichts anderem, wenn das ri|xr)-Motiv ihn so be-
herrscht, wie es die ganze Tbeogonie beherrscht, so wird man fragen
dürfen, ob jene geistige Leistung des Hymnendichters, die wir anzudeuten
suchten, nicht eben für den einen sich schickt: für Hesiod, der, um an
Einzelnes zu erinnern, den böotischen Eros so hoch erhob; der, um an das
Große zu erinnern, das Gebäude dieser Götterhierarchie mit den geson-
derten und sich ergänzenden tiuai schuf. [Korrekturzusatz: Wir können
Wilamowitz für seinen „Glauben der Hellenen", dessen ersten Band er
uns eben geschenkt hat, gar nicht dankbar genug sein. Aber man sieht aus
dem hier Angedeuteten, weshalb ich auch nach seinen Darlegungen I 172
nichts zurückzunehmen habe.]
Die Titanomachie und was damit zusammenhängt kann hier wie das
meiste nur eben berührt werden. Nicht weniger als acht oder neun Schich-
ten späterer Erweiterung meint Jacoby zu erkennen. Hier wird auch der
Harmonist, der Skeptiker, der Sucher archaischer Darstellungsformen sich
dem nicht verschließen dürfen, daß viel Späteres sich angesetzt hat. Und
mag der Harmonist manche Widersprüche als weniger erheblich betrach-
ten, der Skeptiker die Möglichkeit bezweifeln, daß wir in den kompli-
zierten Vorgang schichtenweiser Erweiterung mit solcher Genauigkeit
überhaupt sollten eindringen können, sie dürfen beide nicht den bedeuten-
den heuristischen Wert der Jacobyschen Analysen bestreiten. Sie werden
sich für das Dasein von Doppelfassungen und für den nachhesiodischen
Ursprung des Typhonkampfes wirklich einmal Jacobys Zuversicht an-
schließen können: „qua de re nemo dubitabit, nisi de industria quae ante
pedes sunt videre non vult." Dabei bleibt der Typhonkampf, nicht minder
als wenn er hesiodisch wäre, ein altes, merkwürdiges und der Erklärung
bedürftiges Gedicht. Werturteile aber über die dichterische Qualität
sollten ganz ausscheiden. Die philologischen Kunstrichter widersprechen
sich hier in zu grotesker Weise (vgl. Schoemann 239, Jacoby 20), als daß
nicht schon dadurch das Unangemessene solcher ästhetischen Fragestellung
einleuchten sollte.
Jacoby bestreitet mit seiner Analyse, daß Hesiod überhaupt so etwas
wie ein Unterweltsbild habe geben wollen. Wir deuteten schon bei der
102 Griechische Literatur [263j265]
Homer ist es vom Himmel bis zur Erde so weit wie vom Hades bis zum
Tartaros. Da ist doch wohl Hades unter der Erdoberfläche gedacht (wie
Y 6i ff.). Aber für ein genaues Nachrechnen blieb eine Ungewißheit, und
diese sehen wir in der Theogonie ausgemerzt auf Kosten der formalen
Schönheit. Also mit 720 setzt die Uebernahme vorgeformten Stoffes ein,
und man begreift die Härte des Uebergangs auch genetisch. Damit aber
fällt ein wichtiges Argument gegen einheitlich hesiodischen Ursprung. Wir
lesen hesiodisches Gut zunächst bis 725.
Wir postulierten nach dem toiig |xev von 717, daß die Rede auf irgend
einem Wege zu den Hekatoncheiren zurückkehren müsse. Das kann nun,
nachdem der Weg des toiig öe nicht eingeschlagen worden ist, weil das
Raumbild dazwischen trat, nur mit evfta geschehen. Also ist echt hesiodisch
entweder 729-735 oder die andere Version 811-9 (daß 807-819 eine
andere Version zu 736-741 sei, diese Anmerkung Jacobys t r i f f t nicht zu)
oder aber eine dritte verlorene Fassung, die etwa beiden genannten zu
Grunde gelegen hätte. Ein Moment wenigstens in 811 ff. weist auf hesio-
dischen Ursprung: der Vers evöa öe naQ^dgeat tero&Xai/aXxeog ovSög. Denn
er ist fast wörtlich aus derselben Stelle des 0 entlehnt wie die Verse 720/1,
deren hesiodischer Ursprung oben begründet wurde. -
Zum Schluß etwas Allgemeines. Der überlieferte Text der Theogonie
fügt in ein genealogisches Gerüst mannigfache Bestandteile ein: lange Er-
zählungsstücke, Momente eines Weltbildes (Himmel, Erde, Tartaros), die
Tifiai der Götter im neuen Staat, Hymnisches (Aphrodite, Hekate), Gno-
misches (über die Weiber 603 ff.). In Jacobys Rekonstruktionsversudi ist
von aller dieser Buntheit möglichst viel beseitigt und übrig geblieben im
wesentlichen ein genealogisches Gerüst mit den unvermeidlichsten epischen
Erweiterungen. Die structura simplex et antiqua, die pellucida totius
carminis designatio wiederzufinden ist ausgesprochenermaßen (p. 19. 88)
das Anliegen des Herausgebers. Ein ganz bestimmter „Vorgriff" wird
in dieser Gleichung von „alt" und „einfach" sichtbar. Demgegenüber
verweise ich darauf, daß sich die JtoixiXia als Grundcharakter des Archai-
schen immer deutlicher herausstellt 7 . Die Theogonie7, wie sie uns vorliegt
und im wesentlichen schon dem Aischylos und Pindar vorlag, ist ein
Gedicht mit jener Buntheit der | Stoffe, jener Mannigfaltigkeit der Stili-
sierung, jener Raschheit und Härte der Uebergänge, die wir aus den Erga
und anderer archaischer Dichtung kennen. Gewiß läßt gerade archaische
Dichtung weit leichter Erweiterungen zu als klassische. Aber die grund-
sätzliche Frage muß lauten: hat die Theogonie diesen Charakter des
archaisch Bunten wirklich erst durch solche Erweiterungen bekommen?
Der Verstand sagt: warum nicht? Und was kann der konstruierende
7
Vgl. Hermes 48, 558 ff., Hermann Frankel, N G G . 1924, m ff., und wieder meinen
Vortrag „Vorklassisch und Nachklassisdi" in dem Sammelband: „Das Problem des
Klassischen und die Antike".
104 Griechische Literatur [266]
Verstand nicht alles für möglich halten? Die Anschauung sagt: eine solche
knappe genealogische Konstruktion ist viel zu gradlinig, ermangelt viel
zu sehr der Verschlungenheit und Buntheit, als daß sie um 700 denkbar
wäre. So ist es letztlich mein Stilgefühl, aus dem heraus ich die Möglich-
keit der von J . rekonstruierten Theogonie bezweifle. Ist sie wirklich der
echte Hesiod und nicht vielleicht nur eben e i n e Bahn in seinem viel
verschlungenen Denken?
Vieles von dem, was in dieser neuen Hesiodausgabe steht, wird sich
vermutlich als Irrtum erweisen. Aber die Wissenschaft braucht so frucht-
bare Irrtümer. Und jede künftige ricerca del vero Esiodo wird mit dieser
wahrhaft belebenden Ausgabe rechnen müssen.
D e H o m e r i Hesiodique certamine
(Retractationes I 2)
1929
1925/26
Erster Teil
antrifft, und bemüht sich das edle Wort durch Mißbrauch zu erniedrigen.
Wodurch unterscheidet sich das, was man heute zumeist tragisch nennt
und was man traurig, bedauerlich, jämmerlich nennen sollte, von ecliter
Tragik? Dadurch daß zu ihr spezifische Größe gehört. Größe muß der
tragische Mensch haben: wir sagen tragischer Held. Größe muß das
Geschehen haben, das (nach Hölderlins Anmerkungen zum ödipus)
„tragisch den Menschen seiner Lebenssphäre in eine andere Welt entrückt
und in die exzentrische Sphäre der Toten reißt": wir sagen tragische
Vernichtung. Der Mensch und das Geschehen, das ihn trifft, sind in diesen
Höhen nicht zufällig gegeneinander. Der tragische Held geht der Ver-
nichtung entgegen, will sie, reißt sie auf sich herab. Das ist seine tragische
„Schuld", wenn man das Wort Schuld nur nicht banal schulmeisterlich
im Sinne eines moralischen Vergehens nimmt, sondern die tiefe meta-
physische Verschuldung erkennt, die mit dem Dasein gesetzt ist. „Es ist
(nach Hegels Wort) die Ehre der großen Charaktere schuldig zu sein."
Und die tragische Vernichtung, der Einbruch göttlich-zerstörender Kräfte
in die menschliche Sphäre, kommt nicht als etwas Fremdes, sinnlos Zu-
fälliges über den Helden. Sie ist „auf ihn zugeschnitten", hat sein Maß
und eine geheime Verwandtschaft zu ihm. Dies ist e i n Geschehen, aber
dies ist m e i n Schicksal.
Das Tragische ist selten rein und vollendet, weil jene Größe, ohne
die es nicht wäre, selten ist und noch seltener freien Raum findet. Aber
es ist vielfach angelegt, ist als Keim, als Bruchstück zu erkennen, wenn
einer die Augen dafür hat. Und es ist notwendig. Denn ohne Größe,
ohne den Helden und seinen Untergang, seine Schuld und sein Schicksal,
versandet und verschlammt das Leben. Von hier aus aber ist zu sehen,
warum der Mensch für sein Menschentum die Tragödie nicht entbehren
kann. Wie es überhaupt wesenhafte Aufgabe der Kunst ist, Vollenderin
des Bruchstückhaften zu sein, so zeigt Tragödie das Tragische, das in uns
angelegt, aber verkümmert, unvollendet, unentfaltet ist, in Reinheit und
Ganzheit. So rettet Tragödie das Leben, daß es nicht gemein werde. |
Große Tragödie ist nicht zu allen Zeiten möglich. Goethes Bildner-
geist weicht tragischer Vernichtung aus. Schillers glühende und Kleists
brodelnde Seele reichen wohl an die Tragik heran, aber kaum in sie hinein.
Und das neunzehnte Jahrhundert hat das Tragische zumeist mit dem
Jammervollen oder auch dem Interessanten verwechselt und Seelen-
analysen Tragödien genannt. In dem großen spanischen Drama - das
bezeichnend genug Comedia heißt - füllt die Ehre des himmlischen und
des irdischen Königs so sehr den Raum, daß es scheint, als könne darum
das Tragische sich nicht zur Tragödie entfalten. Und die Dichtung des
Corneille und Racine mit ihren eigentümlich starren Stempelformen
passion, amour, honneur, patrie, zwischen denen die Dialektik einer
vollendeten höfischen Sprache spielt, bewegt sich viel zu sehr in den
Maßen einer festbegrenzten Gesellschaft, um tragisch sein zu können.
[718] Die griechische Tragödie und das Tragische 109
Denn das Tragische steigt aus tieferen als bloß gesellschaftlichen Schichten:
aus den Urgründen von Seele und Schicksal. Nur zwei Weltstunden haben
wahre Tragödie hervorgebracht, das elisabethanische England und das
Athen des fünften Jahrhunderts. Shakespeare kommt dem Unendlich-
keitsdrang unserer Zeit mehr entgegen als griechisches Peras. Schon
daran, wie hier eine Szene klar und fest abgeschlossen ist, dort oft mit
halbem Vers ins Weite verhallt, zeigt sich im Formsymbol der Gegensatz
von südlich-klassischem und nordischem Geist. Aber nicht nur eint sie
Größe, tragische Größe, über die Jahrhunderte hinweg - Baudelaire
nennt Lady Macbeth „reve d'Eschyle eclos au climat des autans" und glei-
chen Ranges mit dem Athener und dem Engländer ist ihm Michelangelo,
der Schöpfer der Nacht-, sondern Shakespeare ist so wie er wurde gewor-
den, weil ihm griechische Tragödie, die er durch das Medium des Römers
Seneca sah, einen bestimmten Begriff von tragischer Größe und Helden-
schicksal, tragischer Sprache und tragischer Würde gab.
Wie alles rein Entsprungene ein Rätsel ist, so bleibt die Geburt der
griechischen Tragödie Geheimnis. Wir blicken nur hinein in ein frucht-
bares Chaos, aus dem sie zur Gestalt emporgehoben wurde. Nicht „aus
dem Geist der Musik" ist sie geboren, vor allem nicht der Musik in irgend
einem heutigen Sinne, die es damals nicht gab. „Musische Kunst" ist sie in
ursprünglicher ungeschiedener Einheit von Wort, Ton und Ausdrucks-
bewegung, womit freilich nichts ausgesagt wäre, was sie etwa von einem
Gedichte Pindars unterschiede. Doch wenn jene Formel Nietzsches ge-
schicht|lich gesehen nicht gilt und selber nur als Zeitphänomen von
Wagnerkultus und Erzieherdrang gewertet werden darf: Nietzsche hat
— wie niemand vor ihm — in den dunkel gärenden Urgrund, die epide-
mischen und endemischen Zustände von Ekstase und Besessensein durch
den Gott hineingeblickt, die er das „Dionysische" nannte und ohne die
man das scheinbar lichte und gebändigte Phänomen des griechischen
Daseins nicht begreifen kann. In der Tat, wenn wir etwas ahnen von der
Geburt der Tragödie, so ist es dies: Eine dämonische Welt war da, von
vulkanischen Kräften und Stoffen erfüllt, wild-ekstatisch, tierisch oder
halbtierisch, woran der Name „Bocksgesang" (Trag-odia) die Erinne-
rung immer bewahrt hat. Und diese Welt ist zur göttlich-menschlichen
gebändigt worden, in der das Dämonische gleichsam nur am Rande seinen
Platz behielt: auf die ernste Trilogie, in der nur Götter und Menschen
erscheinen, folgt das Satyrspiel mit den wilden Bockssprüngen dämo-
nischer Gesellen. Von der Bändigung eines ekstatischen Seins spricht auch
- dem heutigen Menschen so fremdartig — die Maske des griechischen
Schauspielers. Maske und Verkleidung heben ihren Träger aus der Welt
des Alltags, sind in allen Weltteilen Mittel der Ekstasis, wirken den
Schauer des „ganz Anderen" bei Kindern und einfachen Menschen. Das
hat die Tragödie, als sie zum Kunstwerk wurde, bewahrt: die Maske
ist immer Mittel und Ausdruck jener strengen Form geblieben, die das
110 Griechische Literatur [8j9]
Drama ganz fern weg von allem „Leben" stellte. Und wiederum der
Chor: wie er früher seine ekstatischen Lieder dem Dionysos zu Ehren
gesungen und getanzt hatte, so hat die Tragödie niemals von ihm
gelassen. Aber er wurde nun Teil des Kunstwerks, Mittel zur Erhöhung
und Entfernung. Und noch bei Sophokles fühlt man ihn zuweilen als ein
Ding aus einer fremden Welt hineinragen, wenn ekstatisch-dionysische
Töne plötzlich an den Ursprung erinnern und daran, daß die Tragödie
stets Teil einer kultischen Feier geblieben ist: von dem Beamten des
Staates dem Gott Dionysos in seinem Heiligtum am Fuße der athenischen
Burg vor den Augen des zuschauenden Staatsvolkes ausgerichtet. So lebte
sie in jener eigentümlichen Luft gebundener Freiheit: staatlich, ohne daß
sie zu einer zweckhaften patriotisch-politischen Veranstaltung wurde,
und religiös, ohne daß sie einer Kirche gedient hätte, die es nicht gab.
Ihres Ursprungs aus dunklem Kräfteschoß sich bewußt und doch stehend
im göttlichen Lichte.
Das tragische Spiel wurde staatlich unter Peisistratos dem Tyrannen, |
damals als Athen wenige Jahrzehnte vor den Perserkriegen weit unhelle-
nischer, ionisch-bunter, orientalischer war als später die Stadt des The-
mistokles und Perikles. Wir können uns schwer ein Bild davon machen,
wie aus jenem Spiel, einem mehr „böckischen" als in unserem Sinne
„tragischen", die strenge Tragödie wurde. Aber was da geschah, hat
Aristoteles so ausgedrückt: die Tragödie sei „ernst geworden". Und nun
sehen wir auf einmal einen Vorgang, den wir auch in Kunst und Tracht
und allen Lebensformen erkennen. Lachende Lippen und Augen ziehen
sich gerade, überkünstlich gefälteltes Gewand wird einfach, geziertes
Gebaren weicht einem bewußten Ernst, der menschliche Wuchs, eben
noch fein, straff und von etwas starrer Eleganz, empfängt zugleich neue
Schwere und neuen Rhythmus. Das ist die Generation der Marathon-
kämpfer. Hier wenn irgendwo in der Geschichte sieht man, wie in kurzer
Zeit menschlicher Stoff sich umlagert, neues Gefüge gewinnt.
Solcher Wandel geschieht nicht von selbst. Wo er sich vollzieht, ist
er von Männern gewirkt. Am Bilde der Tyrannenmörder, die den Dolch
aus dem Myrtenzweige zogen und den Peisistratidenprinzen nieder-
stießen, gewinnt die athenische Jugend eine neue Gesinnung und Haltung,
und das hat sie den beiden nie vergessen. Wenige Jahre später stürzt
Kleisthenes die Tyrannis, gründet den neuen Staat, der den Demos, das
Staatsvolk, zum Herrscher macht, und schafft (so dürfen wir ahnen) aus
den unverbrauchten Kräften dieser Athener eine neue Männlichkeit zu-
gleich mit einer neuen Verantwortung. Und neben dem Staatsmann steht
der Dichter: Äschylus. Hätten wir die Werke seiner Vorgänger, die im
letzten Viertel des sechsten Jahrhunderts tragische Spiele am Dionysos-
fest aufführten, so würden wir vielleicht jene Wendung zum Ernst in
ihnen sich andeuten sehen. Aber die eigentliche Größe, Schwere, Erhaben-
heit empfing die Tragödie durch Äschylus, ihren wahren Gründer. Es ist
[9110] Die griechische Tragödie und das Tragische 111
gar nicht zu ermessen, wie stark die Generation der Marathon- und
Salamiskämpfer - unter denen er selbst mitfocht - durch seine Wort,
Musik und Bewegung gewordene Dichterkraft geformt worden ist.
Wir sehen noch eine Spur davon in seinem frühesten erhaltenen
Drama, dem einzigen, das in die Zeit vor Marathon hinaufreicht. Schutz-
suchende Mädchen haben sich an den Altar der Götter geflüchtet. Als
Repräsentant der Polis, um deren Schutz sie bitten, tritt der König auf.
Die Mädchen flehen ihn um Hilfe, um Aufnahme an: |
Du bist der Staat, du die Gemeine selbst,
Herrscher, den niemand richtet.
Aber er weiß es besser:
Ich kann nicht früher der Verheißung Bürge sein,
Eh ich nicht allem Volke Teil an diesem gab.
So „demokratisch" wird die alte Heldensage umgeformt. Das Volk
beschließt die Flüchtigen aufzunehmen, und als dann der Verfolger
kommt, tritt wieder im Namen der Gesamtgemeinde der König ihm ent-
gegen:
So volkgewirkt von allen ward ein einziger
Der Spruch vollendet, nie hinauszugeben der Gewalt
Die Schar der Frauen.
Der Fürst heißt Pelasgos, die Stadt Argos. Aber jeder Athener sieht im
Dionysostheater sitzend s e i n e Stadt, erfüllt sich mit i h r e m Stolz,
hört das Segenslied der Mädchen i h r gesungen: daß nicht Krankheit,
nicht innerer Zwist sie versehre, nicht Krieg die Blüte der Jugend knicke.
Und dann:
Mögen fromm an Altären
Sang anstimmen die Chöre
Und aus gottgefälligem Mund
Klänge tönen zur Leier!
Das ist das Lied des Dichters selbst, der diese Stadt seinen Mitbürgern
zeigt, wie sie gebunden im Göttlichen, das Recht des Schutzbegehrenden
ehrend, zum Widerstand bereit gegen die frechen Angreifer, sich keinem
Herrn zu eigen gibt und mit dem Königsnamen ihren Sprecher und Ver-
walter schmückt. Jahr um Jahr hat so der Dichter durch Wort und
Haltung, Rhythmus und Harmonie die attische Jugend gebildet und jenes
Athenervolk schaffen helfen, über das nach dem Sieg bei Salamis in den
„Persern" desselben Dichters dieses Zwiegespräch geht zwischen der
Perserkönigin und einem greisen Berater:
Nun kommen durch die Lüfte die Meermädchen, der alte Okeanos, der
Götterbote, um mitzuklagen, zu warnen, sein Zukunftswissen auszu-
forschen, zu drohen. Sie kommen und gehen wieder, er allein bleibt in
seiner unendlichen Einsamkeit, unerschüttert. Denn so klar er weiß, was
ihm bevorsteht, beugt er sich nicht. Er spricht zu Hermes:
fungen des Äschylus selbst her bestimmt. Die Hiketiden lassen das Tra-
gische nur erst aufklingen inmitten pathetischer Gesänge und gehaltener
Rede, die epischen Bericht, Wortstreit, mahnenden Zuspruch eben zu
formen und mit tragischer Würde zu umkleiden lernt. In den Sieben
steht der Held schon kraftvoll im Räume, doch die tragischen Gegen-
kräfte sind noch kaum leibhaft ins Bild gebannt. Durchaus erfüllt von
tragischer Spannung ist der Prometheus, doch so, daß der Held am Ende
noch dort ist, wo er am Anfang war - wo er aber künftig nicht bleiben
wird. Denn der Befreite Prometheus brachte Fortsetzung und Beendigung.
Noch weniger eigentliche Tragödie sind die Perser, in denen der
Dichter einige Jahre nach Salamis seinem Volk die Siegesfeier ausrichtet.
Daß das Festlied zum tragischen Spiel wird, aufgeführt inmitten my-
thischer Dramen, zeigt mehr als alles andere, wie jedes Höchste in diesem
Geschlecht zum tragischen Klange strebte. Der Dichter verlegt das Ge-
schehen nach Persien zu dem geschlagenen Landesfeind - den er würdig
zu sehen die Geistesgröße hat - , gibt im ersten Akt die Botschaft der
Schlacht, im dritten die klagevolle Heimkehr des besiegten Königs. So
wären es Pathosszenen und Pathoslieder, aber, da tragischer Kampf
ebenso fehlt wie tragischer Held, selbst im Sinne des frühen Äschylus
kein tragisches Spiel. Das wird erst durch den zweiten Akt, den für die
eigentliche Handlung überflüssigen. In ihm erscheint der Schatten des
Dareios und zeigt den Sohn, den König Xerxes, in seiner Hybris,
dem zweiten Drama, stand jeweils der Held, der den Namen gibt, in der
Mitte. Ob sie in höherem Grade als die Sieben eigentliche Tragödie waren,
ist zu bezweifeln. Es sind eigentümliche Gebilde, diese Einzeldramen
einer Trilogie, in sich beschlossen und dann wieder Glieder eines Höheren,
wie die Natur Dreiblätter bildet, in denen jedes Einzelblatt zugleich fertig
und doch der andern bedürftig ist, oder wie es in der Kunst Triptycha
gibt aus selbständigen Tafeln, die gleichwohl erst in dem größern Zu-
sammenhang ganz sinnvoll werden.
Im Prometheus ist eine Szene, die vorher noch nicht betrachtet
wurde. Wir sahen Götter und Dämonen mit dem Titanen verkehren.
Nur einmal kommt in wildem, wahnsinnigem Tanze ein Menschenwesen
in diese Einsamkeit. In Io, die auch gequält wird durch die grausamen
Götter, tritt die leidende Menschheit zu Prometheus, ihrem Wohltäter:
Der allgemeinsam Hilfe du den Menschen kamst.
So wird das, was er getan hat für diese Menschen, dem Hörer erst wirk-
lich und ergreifend. Audi von seinem Wissen, das durch Vergangenheit
und Zukunft geht, - tragischem Wissen - gewinnen wir hier Erfahrung.
Und in los Irrfahrten, in den vielen Namen von Völkern, Ländern,
Flüssen - die dem Modernen zumeist nichts als „Geographie" sind, für
den frühen Menschen alle Magie der kaum entdeckten Weite in ihren
Silben trugen- breitet sich die Menschenerde tief unten. Und alles das,
Menschenleid und Erdenweite, gibt ein Maß für Prometheus' Qualen und
Einsamkeit.
So notwendig diese Szene für dieses Drama ist, so sehr weist sie doch
ausdrücklich darüber hinaus in den nächsten Teil der Trilogie Die Lösung
des Prometheus. Ein Schicksal geht hier an dem Zuschauer vorbei, welches
sich in seiner Beziehung zu dem Helden nicht erschöpft, sondern seine
eigene Schwere hat und das Drama um ein Etwas aus seinem Gleich-
gewicht drängt. Mit | Künstlerrecht. Denn hier ist eben nur die eine Tafel
des Triptychons, das als Ganzes uns verloren ist. Und so viel wissen wir,
daß im zweiten Teile Herakles erscheint, Nachfahr jener Io, der auch wie
sie über die weite Erde ziehen wird, wie sie durch den Osten, so er durch
den Westen, wie sie als Leidende, so er als Täter, und doch als leidender
Täter, leidend auch er durch die Schuld der Götter. Und wider den
Willen des Zeus wird er Befreier des Prometheus sein. So brachte dem,
was in dem erhaltenen Drama nicht völlig ausgewogen erscheint, das
zweite Stück der Trilogie ein Schwergewicht entgegen, und durch dieses
Gegeneinandergeneigtsein werden die Einzeldramen in die höhere Einheit
überführt. Aber das Beispiel zeigt zugleich, wieviel wir verlieren, wenn
statt der ganzen Trilogien jeweils nur ein Einzeldrama erhalten ist. Voll-
ständig besitzen wir (von dem verlorenen Satyrspiel abgesehen) allein
die Orestie, die Äschylus wenige Jahre vor seinem Tode gedichtet hat,
und in der er uns sein letztes Wort darüber sagt, was ihm Tragödie ist.
116 Griechische Literatur [15116]
Jeder Versuch freilich, dieses Wort zu deuten, ist fast schon Überhebung.
„Denn wenn man sich auch", schreibt Goethe an Humboldt nach Empfang
der ylgdwerrawow-Obersetzung, „mit allem Löblichen und Guten, was
uns die älteste und neueste Zeit reicht, freundlich teilnehmend beschäftigt,
so tritt doch eine solche uralte Riesengestalt, geformt wie Ungeheuer,
überraschend vor uns auf, und wir müssen alle unsere Sinne zusammen-
nehmen, um ihr einigermaßen würdig entgegenzustehen."
Zeigten die Perser ängstliche Erwartung und traurige Heimkehr, so
ist im Agamemnon verwandte Grundform zu einem viel kontrastreicheren
Gefüge geweitet: Erwartung, glänzende Heimkehr und Tod des Helden
von der Hand des Weibes sind in e i n e große Kurve zusammengebogen.
Und alles ist wiederum eingetaucht in den tragischen Schauer, der schon
den Glanz des Einzugs umwittert. Dieses Geheimnisvolle, diese gleichsam
atmosphärische Tragik, die noch an keiner bestimmten Person haftet,
sondern das Ganze einhüllt, ist hier so stark wie bisher noch nirgends und
wie vielleicht bis zu Macbeth und Lear nicht wieder. Sie zittert durch
Zeit und Raum und läßt beide zu Mitträgern des Geschehens werden: die
Nacht der Erwartung, in der von dem ewigen Sternenchor umkreist der
einsame Wächter liegt, in Spannung, Angst und versteckter Wehklage;
das Königsschloß, in dem es Unaussprechbares gibt und „das nicht aufs
beste wie vordem durchwaltet wird". Später wird Kassandra den Blut-
hauch um sein Gemäuer | wittern und sich vor den Schemen der Ermor-
deten entsetzen. Aber anfangs ist Träger dieses Schauers bloß der Wäch-
ter, in dem für uns zuerst auch die beiden Gegenkräfte, Agamemnon und
Klytämestra, zusammenstoßen: hier der Herr, dessen geliebte Hand er
in der seinen zu halten wünscht, dort die Königin, deren „männlich-
wollend Herz" ihn Nacht für Nacht vom Dach des Schlosses Ausschau
zu halten zwingt. Träger des tragischen Schauers ist vor allem der Greisen-
chor in seinen großen Gesängen. Aus dem Grunde taucht der troische
Krieg auf. Arge Taten sind geschehen. Paris hat gefrevelt und Troja muß
dafür mit Untergang büßen. Aber auch Agamemnon hat die Tochter
geopfert und „um eines fremden Weibes willen" sind von ihm viele
Krieger in den Tod geschickt worden. Nun droht der Fluch des Volks
den Herrschenden und gesungen wird von der Hybris, die wieder Hybris
zeugt, und schließlich Verderben; von Dike, die die Wage hält, und den
schwarzen Erinyen; von Zeus, der als höchste Macht über allem waltet.
Wir spüren die Angst vor dem, was unentrinnbar kommen muß, und in
hieratischen Klängen verbindet sich Weheruf mit Segensbitte.
Von den Gestalten, die Träger des tragischen Kampfes sind, wird
Klytämestra lange vor Agamemnon gezeigt als die Stärkere, die Siegerin
sein wird. Nachdem sie schon von Anfang an in den Worten der Anderen
Bild geworden ist, erscheint sie nun leibhaft. Sie ist vom Chor - dem
„Volke" - ersehnt, ja gerufen, Heilbringerin in der quälenden Sorge zu
sein. Ihre ersten Worte zeigen sie schon: s i e herrscht, s i e verkündet,
[16117] Die griechische Tragödie und das Tragische 117
s i e nimmt die Ungewißheit von dem Volk. Sie hat die Feuersignale
gestellt, die über das Meer von Berg zu Berg die Meldung bringen, sie
hat die Opfer angeordnet - sie hat noch anderes angeordnet, was wir aus
dunklem Geraune ahnen. Sie weiß ihr wahres Gesicht zu verbergen oder
zurechtzulegen. Sie versteht sich ebenso aufs Schweigen wie - gegen den
Gemahl - auf überlange Rede, die noch besser als Schweigen verhüllt.
Aber am geheimnisvollsten ist Äschylus dort, wo er sie nicht selbst
tragischer Wille sein, sondern gleichsam ohne ihr Wissen das tragische
Grauen durch sie hindurchgehen läßt. Man hat sich gewundert, daß sie,
die zu Hause ist, dem Chor Trojas Eroberung schildere, daß sie, die den
Mord plant, das ferne Heer vor der Befleckung fremder Heiligtümer
warne. Das ist unwahrscheinlich — vielleicht! Aber was soll die Berufung
auf irgendeine naturalistisch gesehene Wahrscheinlichkeit dort, wo |
die tiefste tragische Verflechtung sich anzeigt? Der Dichter wird den
Boten alsbald von dem Seesturm und dem Untergang vieler Schiffe be-
richten lassen. Er hätte ihn auch von Eroberung und Gewalttat reden
lassen können, die ja im Mythus Ursache jenes Untergangs waren. Aber
man denke sich beides in einem Munde und in einem Verlauf, so wird
die Spannung zwischen Schuld und Sühne schwächer, die doch bestimmt
ist, gleichsam als tragische Begleitung in tieferer Lage der großen Melodie
des Dramas mehr Raum und Fülle zu sichern. Und daß gerade Klytä-
mestra es ist, die das abwesende Heer seherisch warnt? Man spürt, wie
auf einen Augenblick das Ganze gleichsam transparent wird:
Die ewige Verknüpfung von Verbrechen und Fall, der Glaube an den
Groll der Gemordeten klingt doppelt drohend aus dem Munde der Frau,
die sich selbst zur Tat rüstet und, ohne daß sie es zu ahnen scheint, das
Gesetz über sich aufrichtet. Ist nicht das, was „unnatürlich" schien, viel-
leicht eine Form jener vielberufenen „tragischen Ironie", deren Sinn doch
dieser ist: dunkel drohende Vernichtung bemächtigt sich der Worte dessen,
der ihr am nächsten ist, und spricht aus seinem Munde ohne sein Wissen
Dinge, die nur dem Hörer in ihrer grauenvollen Doppeldeutigkeit sichtbar
sind.
Und nun, lange vorbereitet durch die Erwartung des Volkes, durch
die Flammenzeichen der Heimkehr, zuletzt durch den Mund des voraus-
gesandten Herolds, zieht Agamemnon mit großem Gefolge auf seinem
Siegeswagen ein. In einer einzigen kurzen Szene muß der Dichter allen
118 Griechische Literatur [17118]
Glanz und zugleich allen tragischen Schauer auf den Helden sammeln.
Er gibt ihm eine einzige Rede — halb Ausdruck des Wesens, halb Regie-
rungshandlung - , zeigt ihn als Sieger, der ohne Überhebung den Göttern
dankt, als Herrscher, der von keiner Schmeichelei zu fangen ist und sein
Amt in feste Hand nimmt. In dem Bild von Trojas Sturz klingt tragisches
Düster herauf: das Recht, das die Götter gesprochen haben, die Vernich-
tung königlicher Herrlichkeit. Das Wort, das wir schon kennen, „um
eines Weibes willen", läßt wieder jene Unausgewogenheit von Vergehen |
und Sühne empfinden, die wie ein Stück Hybris dasteht und der im Schick-
sal Agamemnons irgendetwas zu antworten sdieint. Und soll der Zu-
hörer nicht schaudern, wenn aus dem Munde eben Agamemnons die Worte
kommen von dem „Löwen, der nach Lust geschlürft vom königlichen
Blut"? Zuletzt wenn der Herrscher verspricht, was der Heilung bedürfe
im Staat, dem wolle er ein strenger Arzt sein, so empfindet man sein
Ahnen dessen was droht, und zugleich seine Wehrlosigkeit gegen das
tragische Verderben.
Am schwersten und zugleich am wichtigsten war es, die Vernichtung
des Helden durch die stärkere Kraft für die Sinne faßbar zu machen. Der
Mord selbst mußte hinter der Bühne geschehen. Denn griechische Tra-
gödie gibt allein „das tragische tödtlich-factische Wort", nie die Bluttat
selbst. Bei Orests Muttermord wird der Dichter durch einen Redekampf
zwischen Sohn und Mutter die sogleich folgende Tat unmittelbar antizi-
pieren. Hier aber war das so geraden Weges nicht möglich, weil der Mord
nach dem Mythus und aller sinnvollen Wahrscheinlichkeit aus dem Hin-
terhalt geschieht, also keine offenen Worte ihn vorwegnehmen durften.
So schuf Äschylus jenen symbolischen Streit um ein Nichts: um den
Purpurteppich, den sie für ihn hinbreiten läßt, den er aus einem Wissen
um menschliches Maß zu betreten sich scheut. Es ist ein Kampf, dessen
Schärfe - Vers gegen Vers - um so mehr sich einbohrt, je weniger sie im
Verhältnis steht zu der Geringfügigkeit der Sache. Wir fühlen: es geht
hier um etwas anderes als das was ausgesprochen wird. Wir hören: es
wird hier um „Sieg" gekämpft. Und der Sieg wird dem Helden - im
Symbol - aus der Hand gewunden. So biegt die stolze Linie dieses Lebens
zum Untergang. Klytämestras steigt steil empor. Als sie hinter Agamem-
non in den Palast geht mit dem Ruf:
großen gemessenen Aufstieg durfte die Linie - wenn man etwas ahnt von
dem „kalkulablen Gesetz" des Kunstwerks - so steil nicht fallen. Die |
Kassandra-Szene, die zwischen Agamemnons Abgang und seinen Wehe-
rufen steht, verbreitert gleichsam das Geschehen dadurch, daß im Gefolge
des Stürzenden ein zweiter in den Sturz hineingezogen wird und daß
dieser zweite Sturz — den die Sage gab, den der Dramatiker nach Belieben
so oder anders behandeln konnte — vor unseren Augen geschieht. Aber
diese Szene ist sehr reich, und ersichtlich geht ihre Wirkung nicht bloß
nach einer Seite.
Goethe schreibt in jenem Brief an Humboldt: „Wundersam aber ist
mir jetzt mehr als je das Gewebe dieses Urteppichs: Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft sind so glücklich in eins geschlungen, daß man
selbst zum Seher, das heißt gottähnlich wird, und das ist doch am Ende
der Triumph aller Poesie im Größten und im Kleinsten". Diese Wirkung
geht gar nicht nur, aber doch zu einem großen Teile hervor aus dem, was
der Dichter durch Kassandra zeigt. Vor ihrem Seherblick werden die
Mauern des Palastes durchsichtig. Wir erleben was sich drinnen vorbereitet
unmittelbar, ja weit beängstigender, als wenn wir mit leiblichen Augen
Klytämestra am Werk sähen. Aber mehr: auch die Mauern fallen, die sich
vor Vergangenheit und Zukunft legen, und erst ekstatisch hinausgesungen,
dann in gefaßterer Rede ausgesprochen wird der ganze Fluch des
Geschlechts von jener grauenhaften Mahlzeit des Thyest bis zur künftigen
Rache als eine unzerbrechliche Kette sichtbar.
So schwingt in dieser reichen Szene die Schicksalslinie Agamemnons
aus, die des Orest beginnt sich zu erheben, und in Klytämestras ist es,
als ob ein erster Halt sich anzeige: da die Königin heraustritt, um die
Sklavin ins Haus zu rufen, stößt sie auf einen Widerstand - unheimlich
fühlbar nach jenem symbolischen Siege - , und diesen Widerstand des
Schweigens kann sie nicht brechen.
Aber die äschyleische Kassandra bedeutet nicht nur auf den Lebens-
linien der andern etwas. Sie hat eine eigene, und in ihr selbst ist ein
Stück tragischen Daseins. Wie sie früher Apollons Werbung widerstanden
hat, so trägt sie nun gar nicht gehorsam, sondern mit Haß „der Weis-
sagung furchtbare Mühsal", und sie zerbricht Stab und Binde, die Zeichen
ihres Dienstes. Sie als einzige wirft der Siegerin mit ihrem starren
Schweigen ein Hindernis in den Weg, das jene wohl umgehen, aber nicht
brechen kann. Vor allem ist etwas Tragisch-heldenhaftes in der Art wie
sie ihr Schicksal annimmt. Sie ist gar nicht wie bei Homer das Tier, das
mit Agamemnon zur Schlachtbank geführt wird. Sie geht ganz | wissend
- mit tragischem Wissen - in den Tod. Ihr Tag ist gekommen, wenig
gewönne sie durch die Flucht, die ihr frei stünde und die man ihr nahe-
legt. Das Schicksal anzunehmen, nicht ihm auszuweichen, das ist tragische
Art. Aber bevor sie das Tor durchschreitet, aus dem der Blutdunst des
Hauses ihr entgegenschlägt, ruft sie noch die künftigen Rächer auf,
120 Griechische Literatur [20/21]
So hat sich die stolz aufsteigende Kurve dieses Lebens geneigt wie vorher
die des Agamemnon, wie später die des Orest.
Der griechische Dichter konnte hier nicht schließen. Von dem
„kalkulablen Gesetz" her gesehen: er durfte die Linie des Ganzen so
abrupt nicht stürzen lassen. Von der Gestalt Klytämestras her gesehen: er
mußte einen Ausgleich schaffen zwischen der Schwäche der letzten Worte
und der grausamen Großheit, die noch vor wenigen Augenblicken da ge-|
wesen war. Er wird die Schlußworte der letzten Szene wieder von ihr
sprechen lassen aber in sehr anderem Tone:
Also am Schluß sollte sie Herrscherin sein und jenes innere Umbrechen
noch eingeschlossen bleiben in der bis zuletzt bewahrten tragisch-großen
Haltung. Dem Ausgleich dient die Ägisth-Szene.
Der Mythus hatte den Mord an Agamemnon in Ägisths Hand gelegt
und Klytämestra als seine Helferin nur Agamemnons Sklavin abschlach-
ten lassen. Es ist allein die Wirkung der äschyleischen Tragödie, daß wir
dies jetzt ganz anders sehen. Und durch nichts kann zuletzt Klytämestra
in ihrer furchtbaren Größe mehr gehoben werden, als wenn nun, da alles
getan ist, Ägisth kommt. An diesem Hinterdrein und der Prahlerei seines
Auftretens wird die Einsamkeit ihres Handelns um so stärker fühlbar, an
seiner kleinen Tyrannei mißt man noch einmal die tragisch-stolze
Haltung, mit der sie vorher denselben Männern entgegentrat. Und wie
sie am Ende Frieden stiftet zwischen den Kämpfenden, vereint sich in ihr
zuletzt beides: jene herrscherliche Größe, die ihr von Anfang an eigen
ist, und ohne die sie nicht Trägerin tragischer Schicksale sein könnte, und
jene Weichheit und gleichsam Müdigkeit, in der sich offenbart, daß ihr
Tag seine Mitte überschritten und die Erfüllung ihres tragischen Schicksals
begonnen hat:
[23124] Die griediisdie Tragödie und das Tragische 123
Nicht doch laß, o teurer Freund, uns andres noch des Argen tun!
Nein schon dieses auszuernten ist ein unglückseliger Herbst.
Leidens ward genug. Kein neuer Anfang! Wir sind ganz im Blut.
Geht, ehrwürdige Greise, heim zum Haus, das euch beschieden ist,
Eh ihr tut und leidet. Saget J a zu dem, was wir getan.
Doch wenn jetzt genug der Mühsal würde, nähmen wir es gern,
Die des Dämons schwere Klaue unheilvoll geschlagen hat.
Also klinget Weibes Rede, wenn's euch wert zu hören deucht.
So endet das erste Drama und neigt sich zum zweiten hinüber, in welchem
dieses Schicksal sich erfüllen wird.
Goethe nennt den Agamemnon, den er „abgöttisch verehrte", „das
Kunstwerk der Kunstwerke oder, wenn man gemäßigter sprechen will,
ein höchst musterhaftes". Also sah er ihn ohne die beiden andern Stücke
der Trilogie als abgeschlossene Einheit. Diese Einheit ist zunächst und
vor allem die des tragischen Vorgangs. Es wird in der Tat immer staunens-
wert | bleiben, wie der Dichter hier eine breite Fülle konzentriert und
allein das Geschehen selbst in seinem unmittelbaren Vorher, in seinem
Vollzug und in seiner nächsten Wirkung gezeigt hat. Alles Frühere und
Spätere verstärkt nur die Polyphonie dieser auf engsten Raum zusammen-
geschlossenen Handlung. Aber wer ist der Träger dieses Geschehens?
Goethe bekennt sich in jenem Brief an Humboldt davon „immer aufs
Neue ergriffen, daß jede Person außer Klytämestra, der Unheilsver-
ketterin, ihre abgeschlossene Aristeia hat, so daß jede ein ganzes Gedicht
spielt und nachher nicht wieder vorkommt, uns etwa aufs Neue mit
ihren Angelegenheiten beschwerlich zu fallen". Das scheint auf alles andre
eher als auf die Einheit der tragischen Gestalt zu weisen. In der Tat, wer
ist der tragische Held? Ist es Agamemnon? Aber der ist nur in einer,
wenn auch der zentralen Szene da und beherrscht keineswegs so sehr das
Ganze, wie Aias das sophokleische, Julius Caesar das shakespearische
Drama auch nach ihrem Tode noch, ja erst recht beherrschen. Kly-
tämestra? Aber dem widerspricht - von dem Namen des Stückes nicht
zu reden - ganz offenbar die Intention des Dichters. Äschylus sieht ja
keineswegs diese heroische Valantinne als Sondergestalt mit ihrem
Sonderschicksal, dem alles andre, auch Agamemnons Tod, als Teilschicksal
eingeordnet wäre, so wie etwa Sophokles seine Antigone oder Elektra.
Also Agamemnon und Klytämestra? Aber dann in sehr anderem Sinn
als etwa Macbeth und Lady Macbeth, da hier das Weib doch eher als
ein Teil jener unheimlichen Naturgewalt dem Helden gegenübersteht,
anders auch als Romeo und Julia, Antonius und Kleopatra, wo jeweils
ein Doppelstern tragisch vernichtet wird. Äschylus' Auge scheint vor
allem auf die Kette des Geschlechtsfluches gerichtet. Sind auch die
Menschen wechselnde Träger dieses tragischen Geschehens? Aber indem
wir diese Frage bejahen wollen und, was damit gesagt ist, genauer zu
deuten versuchen, wird uns klar, daß das „Kunstwerk der Kunstwerke"
124 Griechische Literatur [24125]
doch zuletzt Teil einer höheren Einheit ist. Und so muß erst das zweite
Drama der Trilogie, die Grabspenderinnen, betrachtet werden.
Von den Kräften, die das erste Drama erfüllten, ragt Klytämestra in
dieses zweite hinein, und wie sie dort am Schluß herrschte, so herrscht
sie noch hier. Ihr Wille wird sichtbar in den Mädchen des Chors und in
Elektra. Auf ihren Befehl, mit ihren Gaben kommen sie zum Grabe. Aber
doch hat sich alles verändert. Der Chor singt es selber: was früher Ehr-|
furcht war, ist jetzt Furcht geworden. Geschah es damals aus scheuer
Bewunderung, daß man ihrem überlegenen Willen gehorchte: jetzt ist es
nur ihre Macht die man fürchtet, und sie die Mörderin der man flucht.
Sobald es angeht, macht man sich frei und verbindet sich mit ihren
Feinden. In diesem großen Spiel und Widerspiel der Kräfte ist die ihre
nun sichtlich im Schwinden.
Auf der Bühne ist das Grab des Agamemnon, um das im ganzen ersten
Teil der Choephoren die Handlung kreist. Aber damit ist nicht genug
gesagt. Hatte der Mythos dieses Grab hingestellt, damit die Geschwister
sich dort begegnen und erkennen, so macht es Äschylus, der es nicht nur
dem Auge zeigt, sondern es durch das Wort immer wieder beschwört,
durchaus zu einem Mitspieler des Geschehens. Denn in ihm dauernd sicht-
bar verkörpert wirkt eine Kraft in dieses Drama hinein: Agamemnon, der
wohl tot ist, aber erst jetzt recht mächtig wird. Der Chor weiß, die Traum-
deuter haben's gesagt, niemand zweifelt, daß der Groll des Toten der Kö-
nigin jenen Traum geschickt hat, dem sie mit Opfern antworten will. So
lebt Agamemnon aus dem Grabe herauf, die Feinde verstörend, die Seinen
bestärkend. Um ihn wird geworben von der Königin mit Spenden, von
Sohn und Tochter wie von den Mädchen des Chors mit Haaropfer,
Tränen und Gebet.
Was geschieht am Grabe? Orest kommt, ruft den Vater, opfert die
Locke. Dann kommen die Frauen mit ihren Totenspenden. Dann folgt
die Erkennung. Es ist die früheste „Erkennung", die wir in der Tragödie
gestaltet sehen, Vorläuferin und Vorbild so vieler anderer. Aber das
Moment der Spannung, die Frage: wie wird dies zustande kommen?, die
Rührung, das also, was in Sophokles' Elektra und bei Euripides so
wichtig werden soll, ist bei Äschylus noch keineswegs die Hauptsache. Die
Erkennung am Grabe des Vaters ist nur eine Etappe in jenem Kampf
um die Macht des Toten. Hatte zuerst Orest allein ihn angerufen, dann
Elektra und die Mädchen unter der Wirkung dieser Kraft den Mut ge-
faßt, sich gegen die Herrschenden zu wenden, so vereinen sich nach der
Erkennung alle, Orest, Elektra und die Mädchen des Chores zu einer
gewaltigen Beschwörung: stärkste Leidenschaft in strengste Form gebun-
den. Und als in diesen beschwörenden Strophen alle furchtbaren Dinge
wieder lebendig werden, ringt sich Orests Entschluß los, die Mutter zu
töten:
Des Vaters Schändung also soll sie büßen! ]
[26)27] Die griechische Tragödie und das Tragisdie 125
So fühlbar nahe ist Agamemnon. Man darf sagen, daß er die stärkste
K r a f t dieses ersten Teiles ist.
Elektra hat durchaus noch nicht jenen tragisdien Raum, den erst
Sophokles ihr gegeben hat. Sie kommt zu Anfang unsicher und läßt sich
von den Mädchen treiben. Dann freilich bittet sie den Vater um Rache,
hilft dem Bruder zum Entschluß und weiß: sie hat von der Mutter
Wolfssinn geerbt und kann nicht wedeln vor den Herrschenden.
Orest war schon im früheren Drama von fern sichtbar geworden.
Jetzt im zweiten ist er gleich zu Anfang da. Schon die ersten Worte zeigen,
daß er weiß was ihm bevorsteht. Und wenn auch der letzte Entschluß,
mit dem er sich ganz in die Tat gleichsam hineinwirft, erst in jener
Beschwörungsszene aus ihm hervorbricht, so ist er doch von Anfang an
entschieden:
Muß man nicht glauben so getanem Götterspruch?
Und glaubt ich nimmer, wirken muß ich doch das Werk.
Denn vieles bestimmt ihn, Trauer um den Vater, das eigene Elend, der
Jammer, „zwei Weiber" über die Zerstörer Trojas gebieten zu sehen: zu-
letzt doch Gründe, in die vor dem eigenen Denken sein inneres Muß sich
auseinanderlegt. Es ist wesentlich, daß der Gott nicht von außen den
Unwilligen stößt. Wille des Gottes und eigener freier Täterwille stimmen
zusammen. So ist es nur eine letzte Bekräftigung, wenn auf der Höhe
jener Beschwörungsszene in Gesangrhythmen und -klängen, also in
höchster Steigerung des Gefühls, der Entschluß dasteht:
D a ist wieder Befehl des Gottes und eigener Wille gepaart. Und diese
Konvergenz und das Wissen darum und dazu die unbeirrbare Ent-
schlossenheit, die nach keinem Was dann? fragt, gibt die tragische Haltung.
Es bleibt auch nicht bei jenem in der Ekstase gefaßten, vielmehr bestätig-
ten Entschluß. Zur tragischen Haltung gehört es, daß sie auch in voller
Ruhe über die Tat verfügt. Orest beherrscht die Szene, bereitet den
Racheplan bis ins letzte vor. Jetzt ist er auf seiner Höhe. Und die tragische
Situation im Sinne des Äschylus fordert, daß, wie früher die Menschen
des ersten Dramas, so jetzt er die eigene Tat eingereiht sieht in die furcht-
bare Kette:
Erinys aber nicht entbehrend roten Mords
Trinkt ungemischten Blutes nun den dritten Trank. |
Und der Chor bestätigt:
Den Sohn führt ins Haus, um ältern Bluts Befleckung
Zu sühnen, sei's auch spät, Erinys, groß, abgrundsinnend.
126 Griechische Literatur [27128]
Zeigte der erste Teil des Dramas den Entschluß, so der zweite die Tat.
Grab und Königshaus sind auf der Bühne des Dionysos-Theaters gleich-
zeitig vorhanden. Auf der dichterischen, das heißt der gültigen Bühne
sah man in der ersten Hälfte das Grab, jetzt sieht man das Haus. Und
das Haus spielt mit wie vorher das Grab. Orest kommt als Wanderer
verkleidet mit der falschen Botschaft seines eigenen Todes. Klytämestra
als Herrin des Hauses nimmt ihm die Botschaft ab und läßt ihn ins Haus.
Durch kein Wort wird merkbar, ob er weiß, wen er sich gegenüber hat.
Und als die Königin auf die empfangene Trauerkunde sogleich mit der
Klage beginnt:
Weh mir, wie sind vom First herab wir ganz zerstört!
O nimmer ringt man nieder dieses Hauses Fluch!
verrät sich mit keinem Wort, ob ihre Trauer wenigstens für einen Moment
etwas Echtes hat. Freilich, wenn man bald darauf von der alten Amme
erzählen hört, wie die Königin das Lachen der Augen vor der Diener-
schaft verberge, so wird man seine Schlüsse ziehen. Aber hier so wenig
wie vorher leidet die Strenge dieser Kunst halbe Worte, und eben da-
durch, daß nichts gesagt wird von dem, was man gierig verlangt, und
daß sich auch alles Folgende bis zu Orests Eintritt in kühlen höfischen
Formen bewegt, gehört diese Szene zu den unheimlichsten.
Nach dem Mythus, den Äschylus vorfand, tötet Orest den Ägisth
sogleich drinnen im Palast auf dem Thron Agamemnons. Der Thron der
Väter: das war dort gewaltiges Symbol, aber für Äschylus so nicht ver-
wendbar. Und er konnte den Ägisth nicht sterben lassen, ohne ihn ein
einziges Mal zu zeigen. Sein Schauspiel wäre sonst an dieser Stelle schatten-
haft geblieben. So hat er zwei Szenen geformt: in der ersten erscheint
Orests alte Amme Kilissa, von Klytämestra als Botin an Ägisth abge-
schickt, um ihn herbeizuholen. Und der Chor rät ihr den Auftrag abzu-
ändern: Nicht mit seinen Leibwächtern solle er kommen, sondern allein
und unbewaffnet. Und in der zweiten kommt er selbst über die Bühne
und geht in das Haus, in sein Verderben.
Gegenwart also (in dem Sinne, den Goethe diesem Wort so gern gibt)
schafft der Dichter. Aber mehr: mochte sich das Epos damit begnügen,
daß erst Ägisth, der überall dort die Hauptperson zu sein scheint, und
hinterdrein die Königin erschlagen wurde: der Tragiker ersetzt das, was |
von den Unterliegenden her gesehen bloßer Ablauf eines Geschehens war,
durch ein Tun, das bloße Nacheinander durch eine ironisch-tragische Ver-
flechtung. Klytämestra selber ist es, die den Ägisth herbeibescheidet, also
in sein Verderben ruft. So wirkt die Verderberin Untergang auch dort
noch, wo sie nicht will, und sie behält bis zuletzt den ersten Rang, wäh-
rend der alte Mythus sie in den Schatten des Ägisth stellte. Noch für
anderes gewinnt der Dichter Raum. Die Tragik in der Form der tragischen
Ironie wirkt hinein in die letzten Worte Ägisths: Er rühmt die Augen
[28129] D i e griechische T r a g ö d i e und das Tragische 127
Ha!
Hier welche Weiber diese! Nach Gorgonenart
In grauen Kleidern und umflochten wirr das Haupt
Von dichten Schlangen! Bleiben kann ich nimmermehr.
So hat auch diese Linie sich abwärts gebogen. Und der Chor — nun ganz
Stimme der Moira — reiht die Tat ein, als dritte, in die Folge der Schick-
salstaten des Geschlechts.
Wir umfassen die Choephoren mit einem Blick. Wessen Tragik ist hier
gestaltet? Orests? So könnte es scheinen, wenn man das Stück als einzelnes
sieht. Aber es heißt nicht nach ihm, sondern nach dem Chor, schwerlich
aus Zufall. Und nimmt man es in dem Verbände, in dem es steht, als
zweiten Teil der Trilogie, so muß man es anders sehen. Orests Tat und
Schicksal herrscht garnicht über das Ganze. Des toten Agamemnons Tragik
reicht weit hinein mit jener erneuten aktiven Kraft, die sich in seinem
Grabmal symbolisiert. Klytämestras Tat und Schicksal, im ersten Drama
ausgebreitet, neigt sich gleichfalls weit hinein dem Untergang zu. Nicht
davon zu reden, daß auch in Elektra und selbst dem Chor ein Stück
tragischer Aktivität sichtbar wird. Also ist es Äschylus' Wille nicht ge-|
wesen, die Tragik des Orest als einer eben durch sein tragisches Sein ver-
einzelten und vereinsamten Gestalt hinzustellen, so etwa wie Sophokles
die Tragik Elektras hinstellt. Äschylus hat nichts getan um Orest zu
isolieren, alles um die tragischen Linien weiter schwingen zu lassen und
die Verbindung deutlich zu machen. Das Haus steht im Hintergrunde
und „spielt mit". Die Tragik des Hauses sollen wir erfahren. Die diesem
Hause angehören, handeln und leiden jeweils mit an dieser überpersön-
lichen Tragik, Agamemnon, Orest; aber auch die eintreten in das
Geschlecht, wie Klytämestra, oder es nur streifen, wie Kassandra. Woran
wir Heutigen, von Shakespeare oder auch von Sophokles her, denken:
Tragik des einzelnen Menschen - das hat sich noch nicht losgelöst aus der
umfassenderen Tragik des Geschlechts.
Das zweite Drama verklingt mit den Worten des Chors:
Wohin wird enden, wohin wird schwinden
Eingeschläfert die Kraft des Verderbens?
Das dritte Drama antwortet, führt das Ganze zu Ende. Zu welchem
Ende? Die Eumeniden sind dem heutigen Menschen am fremdesten unter
den drei Teilen der Trilogie, am stärksten verwurzelt in Glaube, Recht,
Institutionen einer vergangenen Zeit. Aber wie es bei Dante Stellen gibt,
die mehr Theologie oder Staatslehre zu sein scheinen als Dichtung, und
die am meisten auf die Kraft des deutenden Verstehens warten, um
gleiche Gegenwart mit gestaltetem Bilde und liebendem Aufschwung zu
gewinnen, so muß man bei diesem Teil der äschyleischen Trilogie mehr
als bei den andern sich denkend in eine unwiederholbar entschwundene
Vergangenheit zurückversetzen.
130 Griechische Literatur [31(32]
In diesem Stück gibt es fast keine Menschen, und die wenigen, die es
gibt, sind noch dazu namenlose Repräsentanten. Von den tragischen
Gestalten, die wir kennen, taucht Klytämestra als Schatten auf und geht
Orest durch das Drama. Aber er ist hier viel weniger der heldenhafte
Mann aus den Choephoren als der gleichsam zufällige personale Träger
einer Sache, um die eigentlich der Kampf ausgetragen wird. Die Handlung
ist von den Menschen auf dämonische und göttliche Mächte übergegangen.
Ja wir sehen diesen Übergang selbst fast im Symbol, wenn Klytämestras
Schatten die schlafenden Bluträcherinnen weckt, noch mehr, wenn vor
dem Gericht Apollon dem Orest die Verteidigung abnimmt und Orest
in dem eigentlichen Rechtskampf garnicht mehr selbst zu Worte kommt. |
Orest erscheint in Delphi verfolgt von den Erinyen, geschützt von
Apollon, und zwischen diesen göttlichen Wesen geht der Kampf, vor
dessen Mächtigkeit das Menschenschicksal, das ihn hervorgerufen, fast zu
verschwinden scheint. Die schauervollen Dämonen, das uralt Blut- und
Grauenhafte, erhebt sich gegen das Helle, Gestaltete, Menschlich-Gött-
liche. Der Dichter sieht diesen Gegensatz als einen des jüngeren und des
älteren Göttergeschlechts, wie er ihn angelegt fand im Mythus, und wie
er ihn selbst im Prometheus geformt hatte. Die Erinyen zu Apollon:
Gattenmord heischt Sühne und nicht weniger, eher mehr. U n d wenn jenes
alte dämonische Recht dort mitleidlos und hier gleichgültig ist, so erweist
es sich schon durch diese Unterscheidung als stammend aus überwundener
Welt. D a Apollon die Mißgestalten aus dem Tempel jagt, ist er Sieger,
nicht weil er die schärfere W a f f e hat, sondern weil er die reinere und
höhere Ordnung vertritt. |
Der K a m p f ist abgebrochen, nicht geschlichtet. Die Szene wird nach
Athen verlegt, und vor dem Blutgerichtshof des Areopags plädieren nun
die göttlichen Mächte. Die Erinyen gebärden sich wohl, als wenn sie
Rächerinnen alles Mordes wären:
Aber im Angriff denken sie nur an die eine T a t und kämpfen weiter mit
ihrer alten Waffe: Muttermord ist Mord am eigenen Blut und also der,
den sie allein verfolgen. Apollon stellt sich als den weisen Seher dar, der
seine K r a f t von Zeus besitzt und nie etwas Falsches offenbart hat. Aber
als er in den Prozeßkampf eintritt, erweist er sich nicht minder als
Repräsentant eines durchaus teilhaften Rechtes, das durch den Wider-
spruch zur unvollkommenen Rechtsidee der Erinyen in jene wunderliche
Beschränktheit gedrängt zu werden scheint: der Mord an Agamemnon
sei das Ärgere, weil hier ein siegreicher Held getötet worden sei und noch
dazu von Weibeshand. Die Blutsverwandtschaft aber, auf die sich die
Gegnerinnen berufen, gehe nur vom Vater zum Sohne, nicht von der
Mutter, die nichts schaffe, sondern nur das Erzeugte bewahre bis zur
Geburt. Ähnlich seltsam klingt Athenes Begründung, als sie für Orest
den Stimmstein in die Urne legt: dem Manne gebe sie, die männliche
Göttin, durchaus den Vorrang vor dem Weibe. Höchst fremdartig muten
diese Argumente an und sind nur aus einer ganz männlich gesinnten
Gesellschaft überhaupt verständlich. Im Sinne des Dichters sind es, wenn
auch Göttern in den Mund gelegt, d. h. von überindividueller Geltung,
dennoch Plädoyers, beschränkte Erfassungsweisen. Wäre ihm bei den
Erinyen oder bei Apollon oder bei Athene die Wahrheit, so müßte das
Urteil der menschlichen Richter einstimmig sein. Die Stimmengleichheit
erweist das relative Recht jeder der beiden kämpfenden Parteien. Für
den Angeklagten bedeutet sie Befreiung. W o die Rechtsprinzipien unauf-
lösbar miteinander streiten, hilft nur ein A k t der Gnade, die freilich -
weil wir in einer antiken Welt sind - nicht als gleichsam positive K r a f t
von oben her gespendet wird, sondern die aus dem Non liquet des Urteils-
spruches von selber hervorgeht.
Der tragische Widerstreit also, der im Menschlichen nicht lösbar war,
mußte in die göttliche Ebene hineingetragen werden. Jetzt erweist sich -
wie könnte es anders sein? - , daß er in dieser ebenso unlöslich ist. Das
höchste Recht weiß weder Apollon noch die Erinyen noch Athene oder gar
irgend ein Mensch. D i k e - damit könnte der Dichter uns bescheiden -
132 Griechische Literatur [33p5]
ist Beisitzerin nur des Zeus. Aber mit diesem Bescheid, der für den Men-
schen | ein Verweisen ins Unendliche wäre, begnügt sich der griechische
Dichter nicht. Es gab eine Legende, die von dem Prozeß des Orest die
Stiftung des heiligen Blutgerichtes auf dem Ares-Hügel herleitete. Diese
Legende greift Äschylus auf und weitet sie zu der Größe seiner tragischen
Handlung. Denn was am Schluß der Eumenidert steht, ist, wenn man es
nur stark und einfach genug sieht, nichts anderes als: die Gründung der
Polis selbst. Die Polis beruht auf der Gerechtigkeit, so lehrt Plato. Wenn
hier der hochheilige Gerichtshof gestiftet wird, so wird das Recht hinein-
gegründet in den Staat, der ohne diesen Rechtskern kaum schon Staat zu
nennen wäre. Und jene Dämonen der Urzeit dürfen auch nicht mehr
bedrohlich ihr Wesen treiben und außerhalb der Sphäre des göttlich-
menschlichen Rechtes ihr eigenes Gesetz verfolgen: sie müssen hinein-
gezwungen werden in die menschliche Gemeinschaft, daß die Menschen
ihnen Verehrung, sie den Menschen Segen bringen. Darum kämpft
Athene, die göttliche Repräsentantin der Polis, am Schluß des Ganzen
mit ihnen, bis sie aus Erinyen zu Eumeniden werden. So wird das heilige
Recht und der heilige Kult einbezogen in den geheiligten Kreis.
Aus den tragischen Zerrüttungen der Heroenzeit wächst unsere Ord-
nung. So klang es im kleineren wohl schon im Schluß der Prometheus-
Trilogie, so gewiß in anderen Trilogien des Dichters, so klingt es vor
allem und für uns allein faßbar in seinem reifsten Werk. Das ist ganz
etwas anderes als die Fortinbras-Geste, mit der nach Hamlets Untergang
ein neuer Herr seine alten Rechte an das Reich geltend macht und Feld-
musik und Ehrensalut über den Gräbern der Toten anordnet. Bei Shake-
speare ein Aufatmen, daß trotz tragischer Vernichtung das Leben dennoch
weitergeht; bei Äschylus ein notwendiger Bezug des gegenwärtigen Da-
seins auf jene heroisch-tragische Vergangenheit, aus der es seinen Ur-
sprung hat. Ob hier jenes Allgemeine sich andeutet, von dem zu allem
Anfang die Rede war, daß ohne tragische Vernichtung kein menschliches
Leben möglich ist: die Frage lassen wir unbeantwortet. Aber wir hören
hier des Äschylus letztes Wort darüber, was ihm Tragödie ist.
Tragödie ist für ihn nicht, wie zuletzt für Sophokles und doch wohl
auch für Shakespeare, das Gefäß, in dem das tragische Einzelschicksal
des einsamen tragischen Menschen aufgefangen wird. Schon daß er die
weit gebaute Trilogie als adäquate Form sich geschaffen hat, beweist,
daß er anderes wollte. Er sah den Menschen nicht vereinzelt und groß in
den Raum gestellt, sondern sah ihn unlöslich verbunden durch Blut und |
Schicksal mit der Gemeinschaft seiner Stadt, seines Stammes, seines
Hauses. Von der Tragik des Atridengeschlechts waren die beiden ersten
Dramen der Orestie erfüllt. Nun zeigt das dritte, daß auch jene Gesamt-
tragik nicht als etwas rein Abgesondertes vor uns hingebreitet wird,
damit wir Größe erfahren und durch ihren Untergang erschüttert werden,
sondern daß auch diese umfassende Tragik ihren letzten Sinn erst gewinnt
[35j295] Die griechische Tragödie und das Tragische 133
Zweiter Teil
Schon daran, wie sie bei beiden Dichtern auftritt, läßt sich der ganze
Gegensatz ablesen. Bei Äschylus ist sie im Gefolge des Chores, bei Sopho-
kles hat man sie schon gesehen und ihre einsame Klage gehört, als der Chor
zu ihr tritt. Das ist durchaus symbolisch. Denn dort läßt sie zaghaft ihr
Tun von den andern bestimmen, während sie hier den schüchtern mahnen-
den Frauen gegenüber sogleich die Herrschende ist. Und alle Warnungen
und Tröstungen dienen nur dazu, um ihr Leid und ihre Mißhandlung,
aber auch ihre K r a f t zu offenbaren und ihren Widerstand noch zu stärken.
Wenn sie alles gesagt hat und mit den Worten schließt:
da ist offenbar, wie hier ein harter Mensch geworden ist. Nicht das Werden
zeigt der antike Dichter, sondern das Gewordensein und das Sein.
Klytämestra war bei Äschylus eine das D r a m a weithin beherrschende
K r a f t . Bei Sophokles ist nicht der Chor von ihr geleitet, schickt sie nicht
den Ägisth in den Tod, tritt sie nicht dem Orest gegenüber. Ihr Gesicht
ist sozusagen ganz allein der Elektra zugewandt. Sie läßt wohl durch die
jüngere Tochter Opfergaben zum Grabe Agamemnons bringen. So oder
ähnlich gebot es der Mythus. Sonst aber verkörpert sich in ihr das feind-
liche Schicksal für die Heldin in dem doppelten Sinne, daß diese von
ihm bestimmt wird und ihm zugleich widersteht, daß es sie hart macht,
aber hart gerade zum Widerstand. Das spricht sie selbst gegen die Mutter
aus:
So ruf mich in die Menge, wenn du magst, als schlecht,
Als mundgeschwätzig oder bar jedweder Scham.
Denn wenn ich solcher Werke kund geworden bin,
M a g ich wohl deinem Wüchse keine Schande tun.
Wichtigste ist für uns, daß vor Elektras Ohren Klytämestra die Todes-
nachricht empfängt, nachdem eben noch Elektra ihr als drohende Gegen-
kraft gegenüber sich behauptet und zuletzt in siegreichem Schweigen
verharrt hatte. So bringt die weite Kurve dieses Mittelaktes eine Peripetie,
die das Schicksal der Heldin vollends ins Unglück zu beugen scheint,
also im Gegensinn zu der großen Peripetie des Dramas steht. Und das
Ganze ist auf Elektra hin geordnet. Zuletzt als Klytämestra mit dem
Boten abgegangen ist, bleibt sie zurück in jener Einsamkeit, die wie schon
im Prometheus des Äsdiylus so bei Sophokles überall die tragische Gestalt
umschließt.
hat, die eigene Tragik des Orest zu gestalten und nur mit einem Worte
an sie rührt:
E L E K T R A . Seid ihr am Ziel, Orestes? Hier im Hause steht
Es recht, - sofern Apollon recht geweissagt hat.
Dann wird sogleich Ägisth sichtbar und es scheint, daß vor allem deshalb
Sophokles im Gegensatz zu dem älteren Mythos den Ägisth hinterdrein
erschlagen läßt, um so die andere Tat und ihre Folgen gleichsam aus dem
Blick zu bringen.
Aber es genügt nicht zu sehen, wie absichtsvoll knapp dies alles
gehalten ist; man muß hinzufügen, daß Sophokles auch dann noch, als
der Vollzug der Handlung auf einen andern übergeht, so viel er immer
kann, seiner Heldin gibt. Während Orest drinnen Klytämestra tötet
und ihre Schreie aus dem Hause tönen, steht Elektra draußen und leitet
ihn gleichsam mit dem Wort.
Bereitschaft, die nach keinem Wie? und Was dann? fragt noch fragen darf,
Elektra gar nicht tragische Gestalt wäre. Erst hier wird gleichsam der
einsamste und steilste Gipfel dieses tragischen Daseins erreicht, und es hat
seinen tiefen Sinn, daß dorthin die Heldin noch einmal zuriickzielt eben
in dem Moment, da der Vollzug der Rache auf Orest übergeht:
D a du uns also solchen Weg zum Ziele kamst,
Füg alles denn nach deinem Sinn. Blieb ich allein,
Nicht beides hätt ich dann verfehlt: ich hätte groß
Mir selber Rettung oder groß den Tod gebracht.
Aber der Dichter hat noch etwas getan, um der Tat an eigenem
Schwergewicht zu nehmen und, was sie davon haben würde, vielmehr in
Elektras Schale zu legen. D a der Mythos ihm in dem Wesentlichen seines
Gefüges eine feste, ja heilige Größe war, so hat er den Rachevollzug,
der dem Orest verbleiben mußte, gleich von vornherein bestimmt gezeigt
durch den Willen Elektras. Gegen alle Überlieferung ist sie es bei ihm,
die das Kind Orest aus dem Hause tut. Sie ist durch Boten im Verkehr
mit ihm. Und daß sie bei alledem das Eine unablässig fixiert, daß sie
den Bruder „als Rächer nährt", weiß ihre Feindin Klytämestra genau.
Sie sieht die beiden verschworen, fühlt, daß sie durch den vermeint-
lichen Tod des Orest von beiden befreit ist, auch von Elektra,
rieht in der Mitte des Dramas hätte Pylades ebensogut bringen können,
da ja hier nur der „Bote" ohne alle besonderen Züge erfordert war. Aber
sdion der Prolog hätte sehr anders sein müssen, wenn Pylades neben Orest
der Sprecher wäre. Und so wird gleich zu Anfang deutlich, was eigentlich
mit der Person des Pädagogen gewollt ist. Er weist dem Orest den Weg
in die Heimat zurück, von wo er ihn gerettet hat, um ihn zum Bluträcher
groß zu ziehen. Und was das Wichtigste ist: er hat das getan nach Elektras
Willen, so daß sofort am Beginn des Ganzen Orest von ihr bestimmt wird.
Das hat Sophokles an dem überlieferten Mythos geneuert, und damit ist
klar, was die Person des Pädagogen ihm leisten soll: sie ist der anschau-
liche Ausdruck dafür, daß Orest, soweit die Gegebenheit des Mythos
es irgend zuließ, von Elektra geleitet wird, daß er das geringste Maß
eigener und von der Heldin unabhängiger Bewegungskraft behält.
Noch einmal tritt der Pädagoge auf, ganz gegen Ende, als die Ge- ]
schwister sich in ihr Wiedersehn verlieren. D a kommt er aus dem Hause,
um an die Gefahr zu erinnern, und nun geschieht die Erkennung zwischen
Elektra und ihm. Wäre es dem Dichter nur darauf angekommen, das
Gespräch der Geschwister zu beenden, so hätte er leicht ein einfacheres
Mittel gefunden. Auch auf die Erregung des Gefühls allein kann es ihm
nicht angekommen sein, so sehr ihm daran lag, an der fast töchterlichen
Liebe zu dem Alten wieder ermessen zu lassen, welchen Weg Elektra
zurückgelegt hat, um so „voll Ares" zu werden. Aber auch das ist noch
nicht das Entscheidende.
Man vergegenwärtige sich, daß dieses Wiedersehen stattfindet, un-
mittelbar bevor Orest die Rache vollziehen wird. Da wird der alte Diener
von Elektra jubelnd begrüßt:
Und eben jetzt hören wir es wieder aus Orests Munde, daß der so über-
schwänglich als Retter Gefeierte wohl in seinen Armen den Knaben davon-
getragen hat, aber doch (zu Elektra gewendet) „durch deine Fürsicht".
So ist gerade dort, wo die Tat aus Elektras Hand genommen zu werden
scheint, noch einmal alles von ihr bestimmt. Der Kreis erscheint geschlos-
sen, der Hüter, dem sie das Kind gegeben, hat ihr den Mann zurück-
gebracht, und ihr herrschender Wille steht über dem Ganzen. Das „be-
deutet" der Pädagog in dem Sophokleischen Drama. E r ist eine Aus-
strahlung der Kraft, die Elektra heißt, der tragischen Gestalt also zu-
gewandt und dazu bestimmt, auch den Orest ihr zuzuwenden.
Zuletzt Chrysothemis, die Schwester. Es kann sich nicht darum han-
deln, ihr „Charakterbild" nachzuzeichnen. Denn nicht als eine Zusam-
mengruppierung von „Charakteren" zu dem Ganzen einer „Handlung" -
wie die Zeit des Naturalismus es sah - stellt sich griechische Tragödie
140 Griechische Literatur [302j303]
uns dar, sondern als ein System gestalthafter Kräfte. Dreifach also scheint
uns die Wirkung, die von Chrysothemis ausgeht: sie ist von dem Dichter
geschaffen, um die Heldin zu zeigen, zu bewähren und zu vereinsamen.
Chrysothemis zeigt die Heldin in ihrer tragischen Unerbittlichkeit
eben dadurch, daß sie selbst ganz anders ist. Konziliant und weltklug,
ist man versucht zu sagen, wenn es nicht immer falsch wäre, Worte aus
einer gesellschaftlichen Sphäre in diese tragische Welt zu mischen. Chryso-|
themis sieht mit Schmerz das Geschehene und hält es dabei aus Furcht
und Liebe zum Leben mit den Mördern — wo die andere sich zum
tragischen Handeln aufgerufen fühlt. Sie nimmt für eine Geste leeren
Trotzes, was bei der Schwester bitterster Ernst des Entschlusses ist. Sie
weiß was recht wäre, Elektra tut was recht ist.
Chrysothemis bewährt die Heldin. Sie kommt mit der Mahnung: Sei
so wie ich, schmeichle den Herrschenden! Sie kommt mit der Warnung:
Man wird dich ins Verließ sperren. Mahnung und Warnung gleiten leicht
an Elektra ab. Und gleich bewährt sich Elektras Überlegenheit an ihr, als
sie mit den Opfergaben Klytämestras zum Grabe des Vaters zu gehen
gedenkt und der Wille der stärkeren Schwester sie mühelos von der
Mutter trennt.
Und Chrysothemis stellt die Heldin ganz in die Einsamkeit. Sie
kommt vom Grabe zurück, Elektra hat die falsche Todeskunde erfahren
und meint nun selber die Tat tun zu müssen an Orests Statt. D a macht
sie einen letzten Versuch, die Schwester zu gewinnen.
Jetzt aber, da er nicht mehr ist, blick ich auf dich,
Ob du den argen Täter väterlichen Mords
Mit mir der Schwester sonder Zögern töten wirst.
Sie sagt nachher selbst, daß sie nicht im Zweifel gewesen sei, eine Fehlbitte
zu tun. Wenn der Dichter sie dennoch fast leidenschaftlich bitten läßt, so
soll die Wirkung des Nein um so stärker sein. Und als die einzige, auf die
noch irgendeine Hoffnung war, sich von ihr abgekehrt hat, da weiß sie,
sie muß „mit eigner Hand und ganz allein" das Werk tun. Sie bleibt
zurück in jener Einsamkeit, die bei Sophokles der Ort des Tragischen ist,
und man sieht, um wieviel ergreifender so die Einsamkeit sich darstellt,
als wenn Elektra gleich von vornherein ganz ohne Schwester allein stünde.
So offenbart diese sophokleische Tragödie gerade an dem Gegenbild
des Äschyleischen Werkes, was dem Sophokles Tragödie ist. Er hebt aus
der Fülle eines heroisch-tragischen Geschehens eine einzelne Gestalt her-
aus, nicht als „Charakterfigur", wie der Moderne es leicht mißzuverstehen
geneigt ist, sondern als den Träger der Tragik. Alles was geschieht, ge-
schieht um ihretwillen, alle anderen Gestalten sind auf sie hin gerichtet.
Könnte man die Orestie als einen Fries sehen, in dem ein reiches Geschehen
mit immer wechselnden Figuren an uns vorüberzieht, so wäre die „Elek-
tra" einer Relief- oder einer Bildtafel zu vergleichen, die um eine Mittel-
[303/305] Die griechische Tragödie und das Tragische 141
in eine falsche Richtung vorstößt. Den Laios müsse ein gedungener Mörder
aus dem eigenen Lande getötet haben, und der könne auch gegen ihn
selbst die Hand kehren. Und ein anderes steigt in diesen letzten Worten
und auch sonst schon auf, was dann immer stärker werden wird bis zur
Katastrophe: die tragische Ironie, die aus diesem Drama den Leser von
je mit besonderer K r a f t angesprochen hat. Kein Wunder, da in ihr das
Ausgeliefertsein des Menschen an jene dunkle Macht sich symbolisiert,
als die das Schicksal in dieser Tragödie am stärksten erfaßt ist.
Der zweite Akt fügt aneinander die große Proklamation des Königs,
in der er dem unbekannten Täter flucht, und die Begegnung mit dem Seher
Tiresias. Jene Proklamation hätte noch am Ende des ersten Aktes stehen
können. So aber hat der Dichter in einem Raum zusammenprallen lassen:
das gegen den Unbekannten geschleuderte Verderben und die erste noch
ungeglaubte Nennung dieses Unbekannten. In Tiresias wird das Schicksal
Person und redet in deutlichen Rätseln von sich, ödipus aber steht gegen
den blinden Seher als der sehend Blinde. Mit der Raschheit, die man schon
kennt, dringt er tiefer und gefährlicher in jenen Irrtum vor, auf den er
früher schon zustieß. Und indem er eine Verschwörung helläugig zu er-
spähen meint, macht er das Dunkel, das vor der Wahrheit liegt, noch
dichter. Hybris, sagen die Alten, ist Mutter der Ate, der Sinnesverwirrung,
die „vor dem Falle kommt". Der Verblendete hört nur den einen Vorwurf
der Täterschaft, der ihm wahnwitzig vorkommen muß, horcht nur einmal
auf, als ein Wort des Tiresias ihm plötzlich von seinen Eltern etwas zu
verraten scheint, und die leicht rätselnde Verhüllung aller übrigen Seher-
sprüche ist ihm um so undurchdringbarer.
Der dritte Akt zeigt ödipus noch mehr „in zornigem Unmaß, das
zerstörungsfroh der reißenden Zeit nur folgt" (Hölderlin). Kreon ist ihm
gegenübergestellt, der maßvolle und „gerechte" Mann, als Gegenbild zu
ungezügelter Hybris und zugleich als Opfer für den Stoß dieser Hybris.
Der Stoß trifft den sinnlos Beargwöhnten fast zu Tode, und hier ist es,
wo der tragische Mensch am tiefsten in den Wahn hinein sich verrennt. |
Nachdem die Verblendung bis zum äußersten gekommen ist, folgt
sogleich die Wende. Sie zu bringen hat Sophokles der lokaste vor-
behalten. Audi lokaste ist ganz von dem Helden her bestimmt und
seinem vorwärtsdringenden, spürerischen Wesen gegenübergestellt, um
diesen Trieb dadurch, daß sie ihn abzustumpfen sucht, in eigentümlich
ironischer Umkehr gerade zu schärfen. Ging sein Suchen in die Irre,
solange es sich selbst überlassen blieb, so wird es gerade dadurch, daß
sie es zu mißleiten sucht, nun in die rechte Richtung gelenkt. Sein Wahn
war aufgeregt worden durch das Orakel. So will sie ihn von der Fehl-
barkeit aller Orakel überzeugen, während das Schicksal den Beweis der
Unfehlbarkeit erbringen will. Und der am Anfang des Aktes sich dem
Wahn von Kreons Schuld ohne Halt hingibt, ist am Schluß sich selbst als
Mörder des Laios fast schon deutlich. Der tragische Mensch, nachdem er
[306j307] Die griechische Tragödie und das Tragische 143
zuerst in die Irre getastet, hat jetzt den Damm, der ihn von tragischer
Vernichtung trennt, an der gefährlichsten Stelle beinahe durchstoßen.
Im vierten Akt beginnt die Vernichtung hereinzustürzen. Die Peripetie
wird dadurch noch heftiger fühlbar gemacht, daß dieser zweigipflige Akt
in seinem Anfang eine Wendung zum Glück zu nehmen scheint, „da
ödipus zum Leben wieder versucht wird". Durch die Nachricht vom
Tode des Polybos, den er trotz mancher Zweifel immer noch für seinen
Vater hält, scheint er von dem Drohen des Orakels befreit. Er stimmt
ein in die Hybris, mit der lokaste vorher zum Entsetzen des Chors die
göttlichen Weissagungen geschmäht hatte. Und damit verhüllt er sich
wieder für einen Augenblick die Wahrheit. Aber dann geschieht um so
gewaltsamer der Einbruch des Schicksals.
Wieder ist - im zweiten Teil dieses Aktes — lokaste die verhüllende
Kraft. Und wieder treibt sie dadurch, daß sie ihm alle Sorge wegreden
will, sein ruheloses Forschen von neuem auf. So weit hat er nun den
schützenden Damm des Geheimnisses durchstoßen, daß die Vernichtung
hereinbricht. Iokaste wird zuerst von ihr erfaßt. Nachdem sie das Ent-
setzliche klar begriffen hat, geht sie davon in den Tod. Ihm aber verdeckt
zum letzten Male für kurze Zeit seine Hybris die Wahrheit und macht ihn
taub gegen Iokastes nur leicht verhüllende Ansage. Vergessen ist der Mord
an Laios und daß er sich selbst schon fast als den Mörder erkannt hat. Er
starrt jetzt nur auf die eine Frage: Wer bin ich? Und da das Schicksal im
nächsten Moment über ihm selbst zusammenschlagen wird, gerade da reckt |
sich der tragische Held noch einmal in fast wahnwitzigem Stolz empor,
damit sein Sturz um so tiefer werde:
Die Hybris jener Frage: Wer bin ich? schien sich noch einmal vor die
letzte Erkenntnis zu stellen, bis sich im nächsten Akt zeigt, daß diese
Frage in Wahrheit zur tragischen Erkenntnis und damit zur Vernichtung
durchdringt. Zwischen den beiden Männern, die zusammen um das
Schicksal wissen, steht ödipus. Der alte Diener setzt das Werk der
Iokaste fort (nur freilich sehr viel schwächer, da wir dicht vor dem Ziele
sind): er will die Entdeckung des Furchtbaren verhindern, und gerade
144 Griechische Literatur [3071308]
ander, wie noch immer viele glauben, auch wenn sie nicht wissen, daß
sie damit in der Nachfolge Hegels stehen, und daß Hegel die „Antigone"
in solchem Sinne mißverstand, damit sie ihm als „das absolute Exempel
der Tragödie" seine Theorie des Tragischen bestätigte. Aber schon Goethe
hat gegen einen Hegel-Jünger zu Eckermann bemerkt, Kreons „Menschen
und Götter beleidigende Handlungsweise sei keineswegs eine Staats-
tugend, sondern vielmehr ein Staatsverbrechen". Daß Kreon, als er dem
Landesfeind die Bestattung versagt, und als er Antigone lebendig begräbt,
tyrannisch, nicht königlich handelt, hält ihm sein Sohn Haimon in dem
eigenen und des Volkes Namen vor. Und Tiresias der Seher kommt, um
ihm Strafe anzukündigen, weil er die heiligen Ordnungen verkehrt, |
Der Dichter konnte nicht deutlicher sagen, als er tut, daß allein Antigone
aus tragischem Pathos handelt, während sich in Kreon die Gegenkraft —
hier das Gewaltsame, Zerstörende, Böse — verkörpert, dessen das Tragische
bedarf, um wirklich zu werden.
Antigone ist auch nicht die „schwesterlichste der Seelen", wenigstens
in dem Ton nicht, den die Worte für uns zu haben pflegen. Daß sie das
Leben daran wagt, ihren Bruder gegen den Willen des Tyrannen zu be-
statten, geschieht nicht aus schwesterlicher Liebe gerade gegen diesen
Menschen Polyneikes. Und man versteht das Drama nicht im Sinne des
Dichters, wenn man noch immer mit Goethe an jener Stelle mäkelt, an
der die Heldin darlegt: was sie für ihren Bruder, das hätte sie für keinen
Gatten und für keine Kinder getan. Der tüchtige Philologe ist nicht aus-
geblieben, von dem Goethe die Unechtheit dieser Verse bewiesen zu sehen
wünschte. Aber wir meinen zu begreifen, daß sie so wenig die Erfindung
eines Späteren sind wie eine rhetorische Entgleisung des Dichters. Viel-
mehr, gerade sie gehen ganz auf das Wesen der Sache. Antigones Handeln
ist nicht zu deuten als der Uberschwang einer liebenden Seele, sondern
aus uralter Sippenreligion. Das Geschlecht ist Kultgemeinschaft der
Lebenden und der Toten. Stirbt dieser Kult, so zerfällt das Geschlecht.
Vom Labdakidenhause aber sind alle tot außer den beiden Schwestern.
Und da Ismene schwach ist, so ist Antigone die einzige Trägerin aller
heiligen Pflichten. Nicht dem geliebten Menschen, sondern dem Bruder
erweist sie die Ehre, und nicht aus der Fülle des Herzens, sondern aus
heiliger Pflicht, die ihr heroischer Wille auf sich nimmt.
Das Schwesternpaar ist dem in der Elektro, ähnlich. Beide Male steht
die schwächere und weiblichere Schwester, die an der tragischen Tat nicht
teilnimmt, neben der Heldin, damit diese deutlicher gezeigt und zugleich
in die Einsamkeit gestellt werde. Und doch hat der Dichter sich nicht
146 Griechische Literatur [3091310]
Wir lassen jetzt beiseite, was unmittelbar folgt: Ismenes und Haimons
Versuche, das Verhängnis zu wenden, und sehen dann zum letztenmal die
Heldin, wie sie stolz und aufrecht zum Tode geht. So schwer sie von der
Sonne und ihrem unerfüllten Leben Abschied nimmt - denn stoische
Haltung ist jener Zeit fremd und ist kein Nährboden, auf dem tragisches
Schicksal wächst - so ganz eines ist sie auch jetzt noch mit ihrer Tat,
deren Gegründetsein in unverrückbarer Religion der Sippe nun erst in
ihren Worten ganz deutlich wird. Ihr letztes Abschiedswort zeigt noch
einmal ihren Stolz und ihre Einsamkeit, ihre Gegnerschaft und ihren
Glauben an die Frommheit des eignen Werkes: |
[3111312] Die griechische Tragödie und das Tragische 147
Schaut mich, die aus Thebens fürstlichem Stamm noch übrig allein,
Was ich leiden muß, wer midi leiden macht,
Die ich frommes Werk gewirkt!
Und später empfangen wir Botschaft, daß sie auch den Tod nicht hinge-
nommen hat, qualvoll und gleichsam maskiert als ein langsames Ver-
hungern, wie er ihr zugedacht war, sondern daß sie mit eigener Hand
dem schleichenden zuvorkam.
Damit ist die tragische Schicksalslinie der Heldin selbst bis ans Ende
verfolgt. Aber in diesem Drama ist auch die Gegenkraft als Person sidht-
bar, und daß sie bei dem tragischen Zusammenstoß im Rückprall getroffen
werden muß, ist ein Gesetz, von welchem die sogenannte „poetische
Gerechtigkeit" doch wohl nur eine moralisierende Verengung ist. Wenn
der Held stürzt, wird er den Feind mit sich ziehen.
Der Rückprall kündigt sich an in der kleinen Ismene-Szene des dritten
Aktes, die für das Gefüge des Ganzen viel bedeutet. Wir wissen schon,
daß sie dazu da ist, die Heldin auch im Sterben noch zu vereinsamen.
Aber das ist nicht genug. Ismene wendet sich, von der Schwester zurück-
gewiesen, an Kreon, um für sie zu bitten als für die Braut seines eigenen
Sohnes. Hier erklingt der N a m e Haimon zum ersten Male, und damit
wird die Gegenbewegung fast unmerklich begonnen, die Haimon selbst im
nächsten A k t offen und stark aufnehmen, dann Tiresias zur Entsdieidung
weitertreiben wird, bis sie mit dem Sturz Kreons endet.
Damit Kreon verwundbar werde, hat der Dichter zwischen ihn und
Antigone den Haimon gestellt. Man denke, was Racine aus solcher Figur
gemacht hätte! Sophokles aber gibt ihm keine Szene mit Antigone. Ja
sie gedenkt seiner nie auch nur mit einem Worte. Denn der Vers
wird - man kann kaum zweifeln - von Ismene gesprochen. Die Einsam-
keit der tragischen Heldin mußte von dieser Liebe unberührt bleiben. Er
tritt für sie ein, während sie von ihm gar nichts zu wissen scheint. Und
während sie sich jede Bitte verbietet, bittet und fordert er für sie. So ist er
auf sie hingewendet und von ihr aus in Harmonie und Gegensatz geformt.
Aber nach der anderen Seite ist er gegen Kreon Sprecher aller guten
K r ä f t e und zugleich der ersten leisen Ansage des verderbenden Schicksals.
Kreon freilich kann in dem Wort
nur plumpe Drohung erkennen. Aber schon blickt daraus die Vernichtung |
hervor. Und die wird dann durch Tiresias in noch größere N ä h e gerückt,
bis sie mit dem Tode des Sohnes und der Gattin vollends über Kreon
hereinbricht. Man muß, wenn man die Orestie vergleicht, wohl unter-
scheiden, wie Klytämestra als Mitträgerin der Gesamttragik eben auch
148 Griechische Literatur [312¡313]
sinn gegen den verhaßten Aias einsetzen sehen, und der dann am Schluß
den Adel und das Heldentum des Toten anerkennend den Agamemnon
zwingt, ihm die Grabesehren zuzugestehen. Die tragische Kraft hat ihre
Hybris mit Tod gebüßt. Aber am Ende hat sie auch über den Feind
gesiegt und jenes erhabene Gleichmaß, das die Griechen Sophrosyne
nennen und das Athene als Beschützerin des Odysseus zu Beginn des
Dramas verkündet, herrscht wieder nach den Stürmen tragischer Zer-
rüttung.
Wer heut an den Philoktet des Sophokles denkt, dem steht gewiß
jener menschliche Gegensatz zwischen Odysseus und Neoptolemos im
Sinn. Die psychologische Antithese und die Intrige, die darauf ruht - an-
gesponnen durch die List des Vielerfahrenen und wieder zerrissen durch
die jugendliche Gradheit des andern - scheint um so mehr die Hauptsache,
als Sophokles es gewesen ist, der gegen den überlieferten Mythos und
gegen seine beiden Vorgänger Äschylus und Euripides den Neoptolemos
in die Handlung einführte mit jener Charakteristik, die ihm nur hier
eigen ist. Aber Winckelmann, Lessing, Goethe sahen auf die Gestalt des
Philoktet und fragten nach der Art seines Leidens. Damit erkannten sie
an, daß hier noch von der zentralen Kraft des Tragischen alles Einzelne
gebunden ist. Erst wo diese Kraft nachläßt, können psychologische Ana-
lyse und spannende Intrige zu selbständigen Werten sich befreien. „In-
trige fängt an sobald das Weltgefühl fortgefallen ist", schrieb Graf York
an Dilthey. So war es längst schon bei Euripides geworden, als der fünf-
undachtzigjährige Sophokles noch von der tragischen Mitte her uner-
schütterlich alles andere organisierte. |
Die tragische Situation wird bestimmt durch die Einsamkeit des
Philoktet. Denn im Gegensatz zu den beiden andern Dichtern und im
Widerspruch gegen alle Wirklichkeit macht Sophokles Lemnos zu einer
menschenleeren Insel. Und die Einsamkeit wird gesteigert durch die Qual
der Krankheit, die den Leidenden zu dem Tode als Befreier rufen läßt.
Wenn der Chor an das mythische Bild des Ixion erinnert, der auf das Rad
geflochten durch den Weltenraum treibt, so ist damit gesagt, bis zu welcher
Höhe wir uns Einsamkeit und Qual gesteigert denken müssen.
Um aber zu erkennen, was in diesen tragischen Raum das eigentlich
tragische Geschehen hineinbringt, muß man sich klar machen: die Erobe-
rung Trojas steht in Frage, die Tat also, deren Gelingen das Ziel der
ganzen Nation nicht nur, sondern der Wille des Zeus und der Moira ist.
Und der Einzige, der diesem Schicksal widerstrebt, ist Philoktet. Er tut
es aus Ehrliebe und aus Haß gegen die Führer, die ihn ausgesetzt haben.
Aber darum ist sein Tun nicht minder Hybris, denn der Schicksalswille
wird so deutlich, daß niemand ihn mißverstehen kann. Jene seltsame
Szene, da der verkleidete Schiffsmann von Odysseus geschickt wird, ist
ganz wesentlich dazu da, damit Philoktet den Spruch des troischen Sehers
150 Griechische Literatur [314)315]
sich mit dem Fortgang des Dramas noch mehr zu einem allgemeinen
Chor-sein zu verschleifen. Nicht als könnte man dies „sinnlich-mächtige
Organ" aus den Tragödien irgendwie fortdenken, und Schiller behält für
immer recht damit, „daß ohne diesen beharrlichen Zeugen und Träger
(bei Sophokles nicht eigentlich mehr Träger!) der Handlung eine ganz
andere Dichtung aus der Tragödie der Griechen geworden wäre". Aber
seine Aufgabe ist nun ein für allemal: Begleitung der tragischen Melodie,
Aufquellenlassen des ekstatischen Urgrundes, Eintauchen des „apolli-
nischen" Logos in „dionysische" Musik. Diese Neugestaltung des über-
lieferten und geheiligten Elements durch Sophokles gehört zu den sinn-
fälligsten Eigentümlichkeiten seiner Kunst. Hat man einmal begriffen,
welches der zentrale Gedanke seiner tragischen Schöpfung war, so wird
der Platz, den er dem Chor bestimmt, von dort aus notwendig erscheinen.
Auch in den Trachinierinnen ist der Chor nicht etwa von anderem
Wesen wie sonst bei diesem Dichter. Der Titel ist offenbar nur gewählt, ]
weil kein Einzelname zutreffend gewesen wäre. Denn in der Tat ist dies
das einzige Sophokleische Drama, bei dem die Frage, wer die „Haupt-
person" sei, strittig scheinen kann. Daß man meist De'ianeira, des
Herakles Gattin, dafür nimmt, ist bezeichnend für jenes Mißverständnis
heutiger Betrachter, die bei dem antiken Dichter vor allem Seelendeutung
und menschlich rührende Situationen suchen. Auf den Zustand, das
Empfinden, die Existenz der De'ianeira blickte schon Schiller mit besonde-
rem Wohlgefallen; und wen ergriffe nicht das Bild der alternden Frau,
wie sie lange sorgenvoll auf den Gatten gewartet hat und nun durch die
junge Nebenbuhlerin ihre Ehe bedroht, ihr Haus entehrt sieht? Allerdings
kann dann der ganze zweite Teil, der Tod des Helden, leicht als An-
hängsel erscheinen und so pflegen die, die dort rühmen, hier zu tadeln
oder zu schweigen.
In der Tat sollte die Grundfrage weder nach dem Seelengemälde
gehen noch nach der Hauptperson, sondern nach dem tragischen
Geschehen und seinem Träger. Und hier kann nun kein Zweifel sein: in
den Trachinierinnen hat Herakles seine Tragik und De'ianeira die ihre.
Man braucht nicht zu erörtern, ob der Mythos erlaubt hätte, die Tragik
des Mannes allein zu zeigen und das Weib als Opfer (wie im König
Ödipus) oder die Tragik des liebenden Weibes allein (wie in der Euripi-
deischen Medea). Sophokles jedenfalls hat den Mann und das Weib in
tragischer Verstrickung und Untergang gezeigt und zwar beider Tragik
in notwendigem gegenseitigem Bezug.
De'ianeira offenbart nicht wie Antigone oder Medea gleich in ihren
ersten Worten tragische Aktivität. Sie schaut aus und wartet und muß
gemahnt werden, den Sohn auf die Suche nach dem Vater zu schicken.
Erst als sie erfährt, wen sie unwissend in ihr Haus aufgenommen hat, erst
da wird sie zum Handeln aufgeregt. Nun will sie mit eigenem Willen in
das Ungewisse vordringen. Sie tut es entschieden und doch mit einem
152 Griechische Literatur [316j317]
Bangen, das die Nähe des dunklen Schicksals anzeigt. Und wo sie her-
stellen will, vernichtet sie.
Aber diese Tragik füllt den Raum der Tragödie nicht. Eine andere
Schicksalslinie kreuzt die ihre. Es ist die männliche Tragik gegenüber
der weiblichen, die aktive gegenüber der reaktiven. Herakles handelt aus
der Spontaneität seines gewaltigen und gewalttätigen Wesens, den Feind
und die feindliche Stadt vernichtend, die Beute entführend, die Ehe zer-
störend, die Gattin zur tragischen Tat aufreizend, zuletzt sie und sich
selbst verderbend. |
Diese doppelte Tragik hat der Dichter so gestaltet, daß zuerst Herakles
von Deianeira gleichsam verdeckt wird, und daß seine tragische Energie
nur hineinwirkt durch die Botschaft, die von ihm kommt, und den Zug
seiner Gefangenen mit der schweigenden Fürstentochter. Erst im letzten
Teile wird er selbst gezeigt, und nun ist Deianeira schon in die Ver-
nichtung ihm vorangegangen. Zwei tragische Schicksale sind hier in strenger
Entsprechung aufeinander bezogen. Damit hat Sophokles, als dessen
eigentliche Form bisher die Tragik des Einzelnen erschien, nicht etwa
einfach auf die ältere Äschyleische Weise zurückgegriffen. Nicht eine
Kollektivtragik geht durch das Drama, die sich jeweils einen anderen
Träger schüfe. Was Sophokles gestaltet hat, ist gleichsam eine Individual-
tragik zu Zweien, und es wird erlaubt sein, außer an Euripides' Hippo-
lytos über alle Verschiedenheit hinweg an Shakespeares Antonius und
Cleopatra oder Romeo und Julia zu denken.
Fragt man zuletzt, was die Trachinierinnen aus einem blutigen
Familiendrama zur Tragödie macht, so ist der Bindung im Mythos zu
gedenken, und hier vor allem der schicksalhaften, der göttlichen Sphäre,
die sich über das Ganze breitet. Sie wird repräsentiert durch Aphrodite
und Eros, die sinnbetörenden Mächte, durch den großen Zeus, der von
dem nahen ötagebirge herabherrscht, am stärksten aber durch jene immer
wieder in den Blick genommene, geheimnisvoll-ironische Prophezeiung,
die dem Herakles verheißt, „wenn der Kreis der Jahre beschließend ans
Ziel trüge die zwölfte Saat, würde die Trage der Mühen enden Zeus
echtem Sohne".
Und dann findet er im Haine der Eumeniden die letzte Ruhe, im Tode
dem attischen Land ein Heiltum und ein Schutz vor den Feinden.
Gegen diese einfache Bewegung richtet sich ein Gegenstreben in der |
Mitte des Dramas. Auf ödipus als den Träger übermenschlicher Kräfte
macht Theben, das ihn vertrieben hat, jetzt Anspruch. König Kreon der
Feind und Polyneikes der Sohn bemühen sich mit gutem Wort und mit
Gewalt, ihn zurückzugewinnen. Aber er bleibt hart und wiederholt den
Fluch gegen die Söhne. Hier gibt es Kampf, und ohne diese Szenen wäre
das Drama fast zu sehr Heiligenlegende für ein altes griechisches Spiel.
Aber auch so ist es ganz etwas anderes, als was sonst Sophokles Tragödie
nannte. Und mag man an den Schluß der Äschyleischen Orestie denken,
weil dort wie hier der Athener den Ubergang aus der heroischen Welt in
die heiligen Ordnungen des eigenen Daseins gemacht sah, so wird doch
dadurch das Unvergleichbare des Sophokleischen Dramas nicht aufge-
hoben. Das tragische Grundverhältnis, das Gegenüber des großen
Menschen und des großen Schicksals, wird auch hier noch gesehen, aber
gesehen aus einer Höhe, die dies weit unter sich läßt, und in die fast nur
die letzten menschlichen Geheimnisse von Leid, Adel, Heiligung und
magischer K r a f t hinaufreichen.
Es ist beliebt, den Sophokles zu denken als den vollkommenen
Menschen, den harmonischen Dichter, den freundlich-milden, bequem-
geselligen Mann. Und diese Harmonie läßt man ruhen in einem fast
kindlichen Glauben an die Götter, vor denen wir Menschen leichte
Schattenbilder sind. Dies alles gilt nur dann zu Recht, wenn man zugleich
das andere sieht, daß Sophokles sein ganzes Leben als Tragiker gelebt hat.
Er sah die Welt tragisch, das heißt erfüllt von großen Menschen und
großen Schicksalen, von heldenhaftem Kampf und Untergang, und das
Menschendasein als den Schauplatz der tiefsten Zerrüttungen. Und er sah
die Tragik nur noch steiler und erschütternder als sein großer Vorgänger,
weil von ihr nicht mehr die den Einzelnen tragende Gemeinschaft sondern
eben dieser einzelne, einsame Mensch belastet wird. Wenn er eine Tragödie
beschließt: „Und alles dies ist Zeus", so sind freilich in dem höchsten
Gotte zugleich Leid und Kampf aufgehoben. Doch darf man gerade dieser
Leiden und Kämpfe nicht vergessen, die in ihm aufgehoben sind. Die
Statue des Lateran zeigt aus der Erinnerung dankbarer Enkel den Dichter
als das Musterbild des schönen Hellenen. Aber die Büste in London zeigt
den tragischen Seher, der am Ende seines Lebens weiß, daß das eine Wort
Nicht-geboren-sein alle anderen besiege. |
154 Griechische Literatur [79180]
Dritter Teil
Euripides, der dritte unter den großen Tragikern Athens, hat keinen
sicheren Platz in dem allgemeinen Bewußtsein. Nodi ist der Gegensatz
zwischen August Wilhelm Schlegels scharfer Kritik und Goethes bis in
die letzten Lebenstage immer sich erneuernder Bewunderung nicht aus-
geglichen. Schlegel nahm das Maß für den jüngeren, so ganz anders
gearteten Dichter von Sophokles als dem höchsten Muster. Goethe ver-
droß die Richtergeste des kritisierenden Epigonen, und desto stärkeren
Eindruck machte ihm das ungeheure Können seines Mitbürgers im Reiche
der Weltliteratur. Inzwischen hat die „Aristokratie der Philologen", über
die Goethe spottete, „ihre herkömmliche Vornehmheit" dem Euripides
gegenüber abgelegt und sich um sein Verständnis ernstlich bemüht. Dabei
konnte freilich vor einer Reihe von Jahren in Deutschland und noch vor
kurzem in England der Versuch gemacht werden, ihn von Ibsen her,
den Athener von dem Norweger, den Mythendichter von dem Gesell-
schaftskritiker her zu verstehen. So fehlt noch viel daran, daß es gelungen
wäre, die Widersprüche der Kritik in der Einheit einer höheren Ansicht
aufzuheben und die Widersprüche, die in dem Dichter selbst und seinem
Werk angelegt scheinen, zu sehen als die notwendigen Widersprüche einer
reichen Natur in einer großen aber erschütterten Zeit.
Überblickt man das erhaltene Werk des Euripides, so werden Medea
und Hippolytos die größten Beispiele dafür sein, daß wie seine beiden
Vorgänger so auch er fort und fort am tragischen Mythos weiter bildet,
sei es daß er die Geschichte aus wenigen Gegebenheiten völlig neu schafft,
sei es daß er irgend eine abseitige Uberlieferung für immer in die gültige
Form hebt. Auch die Art, wie Tragik hier gesehen ist, scheint sich von
der Sophokleischen nidit im Wesen zu unterscheiden. Medea | ist Heroine,
die den ganzen Raum erfüllt wie Elektra oder Antigone. Sie tötet die
Nebenbuhlerin und den feindlichen König, dann nach schwerem Entschluß
die eigenen Kinder, sie vernichtet den Gatten, und mit alledem geht sie
den einen Weg des Hasses und der Rache. Das verschlungenere Gefüge
der Hippolytos-Tragödie wird besonders deutlich am Gegensatz zu
Racines Phèdre. Racine hat die Figur seiner Heldin nach eigenem Ein-
geständnis dem Euripides nachgebildet: „Quand je ne lui devrais que la
seule idée du caractère de Phèdre, je pourrais dire que je lui dois ce que
j'ai peut-être mis de plus raisonnable sur le théâtre." Das heißt, er hat sie
nach seinem Menschenbilde umgeformt, und was der Hofdichter Lud-
wigs X I V ihr an leidenschaftlicher Naturhaftigkeit genommen, das hat er
ihr an Wirkungsbreite zugelegt. Fast vom ersten Verse an ist sie in den
Worten der andern gegenwärtig, und ganz am Ende gibt sie sich den Tod.
So wird Rückgrat des Dramas diese eine große Rolle, die den Ruhm der
gefeiertesten Tragödinnen gemacht hat. Bei Euripides hingegen wird zu
Anfang allein Hippolytos gezeigt, ohne daß von der Königin auch nur
[ 80181J Die griediisdie Tragödie und das Tragisdie 155
die Rede wäre. Erst später tritt sie als die andere Kraft in das Drama
ein, und sie stirbt genau in dessen Mitte, während danach Hippolytos'
Schicksal die ganze zweite Hälfte füllt. Schon dieser Gegensatz deutet
darauf hin, und jede Betrachtung des Euripideischen Stückes bestätigt es:
Euripides hat weder eine Phaidra- noch eine Hippolytos-Tragödie ge-
dichtet, sondern er sieht die Tragik dieser beiden Menschen in ihrem
notwendigen gegenseitigen Bezug. So scheint hier die Grundstruktur der
Trachinierinnen wiederholt, und in der Tat gibt es bis ins Einzelne ver-
wandtschaftliche Ähnlichkeiten zwischen den beiden Dramen.
Ordnet sich hier Euripides in die Grundformen Sophokleischer Tragik
ein, so wird innerhalb dieser Gleichförmigkeit sein Eigentümliches nur
um so sichtbarer. Wo bei Äschylus oder Sophokles ein Weib statt des
Mannes herrscht oder kämpft, vernichtet oder untergeht, da mag das
tragische Geschehen noch unerbittlicher, die tragische Einsamkeit noch
ergreifender sein, aber solche Schicksale sind doch im Tiefsten von männ-
lier Tragik nicht verschieden. Bei Euripides hingegen erscheint als das
Besondere dieses: Medea wird aus dem Pathos ihres gekränkten Weibtums
zu tragischem Tun getrieben. Als Gattin und Mutter verletzt, rächt sie
sich als Gattin und Mutter. Gewiß klingt in der Klytämestra des
Äschylus Ähnliches an, aber mehr als Vorwand denn als echtes Motiv.
In den Trachinierinnen wird der männlichen Tragik | die weibliche gegen-
übergestellt. Aber selbst wenn man davon absehen will, daß Sophokles
in diesem Drama auch sonst der Kunst des jüngeren Dichters in etwas
entgegenzukommen scheint: es ist doch noch ein großer Unterschied, ob
diese weibliche Tragik der männlichen nur gleichsam antwortet, oder
ob sie das Drama wie bei Euripides beherrscht. Mit aller Vorsicht im
Urteil, die bei soviel Verlorenem geboten ist, wird man sagen dürfen,
daß Euripides dem Raum des Tragischen mit der Medea einen neuen
Bezirk hinzugewonnen hat.
Der Hippolytos zeigt das Gleiche. Denn innerhalb der Strukturver-
wandtschaft zu den Trachinierinnen wird auch hier das seelengeschichtlidi
Neue dieses Euripideischen Werkes augenfällig. Sophokles gab mit der
Aktivität des Helden, der Gegenwirkung des Weibes gleichsam das norm-
hafte Verhältnis der beiden Geschlechter auf dem Felde des Tragischen,
so wie es einem männlichen Zeitalter erscheinen muß. Euripides hat das
umgekehrt und alle Angriffskraft der Frau zugeteilt. So hat er als Erster
die vernichtende Gewalt weiblicher Liebesleidenschaft in die Welt des
Tragischen gehoben und ähnlich wie in der Medea, nur noch mit unver-
gleichlich weiterer Wirkung, der Tragödie ein neues Gebiet erobert. Wir
sind umgeben von einer Literatur, die in ihren höchsten wie in ihren
tiefsten Schichten gesättigt, ja übersättigt ist vom Motiv der Geschlechts-
liebe. Erst wenn man sich aus dieser Situation befreit, kann man ahnen,
was es an sich wie für die geschichtliche Nachfolge bedeutet, daß hier
zum ersten Mal das Tragisch-Große und Vernichtende des Eros an einem
156 Griechische Literatur [81182]
Weibe gezeigt wurde, welches nicht wie der Mann außerdem und vor
allem noch Kämpfer oder Herrscher sondern eben nur dies eine: liebendes
Weib ist.
Man weiß, daß Euripides die erste Fassung des Themas mit jener
Szene, in der Phaidra sich selbst dem Stiefsohn anträgt und zurück-
gewiesen wird, dem Unwillen der Zeitgenossen hat opfern müssen, und
es ist allerdings bezeichnend, daß jenseits der uns allein erhaltenen zweiten
Fassung „der Vertraute Agrippinas und der Höfling Ludwigs X I V . jene
erste Phaidra wieder hervorgesucht haben" (v. Wilamowitz). Racine hat
aus dem Rohstoff, den Seneca ihm bot, eine der seelisch bewegtesten und
reichsten Szenen geschaffen. Aber wenn er hier zu der stärkeren und
gewagteren Form der ersten Euripideischen Fassung zurückkehrt, so darf
man darüber nicht vergessen, daß derselbe Racine im Bilde seiner Heldin
die tragische Unerbittlichkeit, die sie auch in der | uns vorliegenden
Bearbeitung des Euripides durchaus behalten hat, einer zivilisierten
Menschenauffassung opfert. Bei Euripides verfolgt ihr Haß den geliebten
Mann noch über ihren Tod hinaus, treibt ihre Verleumdung ihn ins Ver-
derben. Racine hat das nicht ertragen. „J'ai cru, que la calomnie avait
quelque chose de trop noir pour la mettre dans la bouche d'une princesse
qui a d'ailleurs des sentiments si nobles et si vertueux. Cette bassesse m'a
paru plus convenable à une nourrice, qui pouvait avoir des inclinations
plus serviles, et qui néanmoins n'entreprend cette fausse accusation que
pour sauver la vie et l'honneur de sa maîtresse." Man ermißt den Abstand
Zwischen Port-Royal und Versailles auf der einen, Athen und dem Diony-
sos-Theater auf der anderen Seite. Man ermißt zugleich, was für den
Athener des fünften Jahrhunderts tragisch war, und was die „tragédie"
des Racine bei allem Adel und aller seelischen Bewegtheit (um derent-
willen Anatole France im Namen seiner Nation den Dichter als „la vie
même et la nature même" hoch über Sophokles und Shakespeare stellt) -
was eine Phèdre für immer davor bewahren wird, echter, das heißt
radikaler Tragik zugerechnet zu werden.
Was für eine Gestalt hat Euripides jener Phaidra gegenübergestellt
als männlichen Partner? Auf den Gedanken des Racine konnte er freilich
nicht verfallen, der als Sohn des galanten Zeitalters die Sprödigkeit seines
Helden auf die Leidenschaft für eine andere, „la charmante Aricie", grün-
det. Aber es ist auch nicht das göttliche Gesetz wie in der Joseph-Geschichte,
nicht die Heiligkeit des väterlichen Bettes, was diesen Hippolytos bindet.
Euripides war nur mit der geradesten Antithese zufrieden: er sah der
Liebesleidenschaft des Weibes gegenüber die Liebesfeindschaft des Mannes.
Und die Unbedingtheit dieser Feindschaft ist es, die ihrem Träger
tragisches Pathos gibt. So steht dort freilich ein tragischer Held, der dem
Äschyleischen Orest oder dem Sophokleischen Aias sehr unähnlich ist,
und dem statt alles kämpferischen Vorwärtsdringens nur jene, man möchte
zunächst sagen: passive Starrheit eignet. Die Frage ist erlaubt, ob da
[82183] Die griechische Tragödie und das Tragische 157
nicht das tragische Format verkleinert sei, ob nicht das tragische Feld
erweitert werde auf Kosten der tragischen Größe. Aber die Antwort wird
doch wohl lauten müssen, daß vielmehr eine neue Weise tragischer
Existenz hier anzuerkennen ist, die minder sichtbar und ohne mächtige
Gebärde nur in der Unerschütterlichkeit des So-und-nicht-anders-Seins
beschlossen liegt.
Aber indem nun Euripides in dieser Tragödie scheinbar alle über-
lieferte Ordnung umkehrte, dem Weib das leidenschaftlich Zustoßende, |
dem Mann das bloße Beharren lieh, geriet er dicht an das heran, was man
nicht anders als Problematik des menschlichen Charakters nennen kann,
etwas also was der Tragödie an sich nicht inhäriert, ihr eher zu wider-
streben scheint. Aias und Antigone und die anderen Sophokleischen
Hauptgestalten leben nur aus ihrer tragischen Grundhaltung, und das
moderne Bestreben, durchgezeichnete Charakterbilder dort zu finden, geht
in die Irre. Euripides aber stellt wirklich in Hippolytos einen Menschen
hin, der auch ohne tragisches Schicksal oder etwa in anderen Verflechtun-
gen seine Existenz und unsere menschliche Teilnahme haben würde.
Das Grundwesen dieses Charakters ist Herbheit, strenge Haltung,
zuchtvolle Selbstbewahrung, unverbrüchlich bis zur Starre und bewußt
bis zum Anmaßenden. Von diesem „Semnon" und dieser „Sophrosyne"
sprechen nicht nur der treue Diener und der erzürnte Vater gleichermaßen,
wenn auch mit verschiedener Betonung, sondern ebenso ganz offen er
selber.
Nie wieder werdet einen Mann so voller Zucht
Ihr sehn, auch wenn dies anders meinem Vater dünkt,
das sind seine letzten Worte, bevor er in den Untergang geht. Und noch
der Sterbende beruft sich darauf:
Zeus, siehst du mich, Zeus? Ich bin es, der fromm
Die Götter geehrt, ich bin es, der rein
Und keusch wie keiner der Menschen gelebt.
(Übersetzung von Wilamowitz)
Es äußert sich im ethischen Bezirk als Sittenstrenge, Tugendstolz, Ab-
neigung gegen den Umgang mit jedem, der nicht in gleicher Weise „das
Unrecht" haßt. Es äußert sich im politischen Bezirk als oligarchische
Gesinnung, die sich nach eigenem Geständnis von der Masse zurückzieht,
nur unter den „Besten" sich wohlfühlt und jedes Streben nach der höchsten
Stelle sich verbietet. Es äußert sich im religiösen Bezirk als strenge und
sichtbar zur Schau getragene kultische Frömmigkeit, eine Frömmigkeit
aber, die ihre Wahl unter den Göttern trifft, der jungfräulichen Artemis
sich zukehrt, die im Dunkeln zuchtlos wirkende Aphrodite meidet. Und
irgend etwas muß schon daran sein, wenn der Vater über die Neigung des
Sohnes zur orphischen Lehre mit ihrem Sektierertum und ihrer Askese
158 Griechische Literatur [83/85]
spottet. Es äußert sich im Bereich des Vitalen als Schauder vor dem
Geschlechtlichen, als Hinneigung zum Reinen und Fleckenlosen in der
unberührten Natur, als Leidenschaft für männliches Tun, Jagd, Rossel-
zucht und alle Übung des Leibes. Ein ödipus, ein Aias, auch eine Medea
und vielleicht sogar eine Phaidra realisieren sich ganz innerhalb ihres
Mythos. Erst dieser Hippolytos scheint ein Dasein für sich zu haben, in
mannigfache Lebensbezirke hineinreichend und nur durch den Konflikt
aus seiner Welt hineingerissen in die der Tragödie.
Mit vollem Recht sieht also Wilhelm Dilthey, dort wo er das Werden
der Individualität im Schrifttum der Griechen verfolgt, bei Euripides
etwas Neues über alle Vorgänger hinaus. Freilich ist auch im Hippolytos
Analyse des Menschen längst nicht eigenherrlich, sondern noch eingeordnet
in das tragische Geschehen. Und Tragödie im griechischen Sinne wird
das Ganze vollends erst dadurch, daß es mythisches Geschehen ist. Phèdre
und Hippolyte sind isolierte und nur in einem gesellschaftlichen Kreis
gebundene Menschen, die innerhalb dieses Kreises zu tödlicher Begegnung
aufeinanderstoßen. Der Kampf zwischen Phaidra und Hippolytos wird
als Kampf zwischen Aphrodite und Artemis zugleich in der göttlichen
Sphäre gekämpft, die wohl von dem irdischen Geschehen getrübt wird,
ihm aber wiederum etwas von welthafter Bedeutung mitteilt.
Wie Euripides dort, wo er überhaupt Individualtragik im Sinne des
Sophokles gestaltet, sein ganz eigenes Lebensgefühl hineingibt, das möge
neben Medea und Hippolytos der Herakles, das Drama des Helden der
im Wahnsinn seine Kinder tötet, als drittes Beispiel verdeutlichen.
Sophokles hatte in den Trackinierinnen Herakles als den alles um sich
und damit zuletzt sich selbst Zerstörenden gezeigt, im Aias die Tragödie
des Mannes gedichtet, der aus viel weniger furchtbarer Geistesverwirrung
erwachend sein Heldentum im Tode bewährt. Es ist die Sophokleische
Weise, daß eben das, was sonst die Größe des Menschen ausmacht, nun
seinen Untergang bewirkt. Euripides hingegen zeigt die Tragik des
gestürzten, verzweifelnden Helden, der seine Hoffnungen selbst ver-
nichtet hat. Er findet sich in einer Pein, vor der alle Mühen seines taten-
reichen Lebens zu nichts verschwinden. Er verzweifelt an der Gottheit:
„Gott ist gewaltsam. Also bin ich's gegen Gott." Er ist entschlossen das
unerträgliche Dasein zu enden. Aber er kämpft sich durch die eigene Ver-
zweiflung hindurch zu dem Entschluß „wider den Tod auszudauern".
Und am Ende steht das unvergeßliche Bild: der große Held, den Arm um
den Nacken des helfenden Freundes legend, der ihn fortführt:
seilen einer weit größeren Familie an, welche „Hellenen und Barbaren",
man würde heut sagen: die ganze Menschheit, umfaßt.
Sehen wir, ob das was die Umrisse der Trilogie uns zu verraten schei-
nen, in dem erhaltenen Drama, den Troerinnen, sich bestätigt. Was ist
hier tragisches Handeln? Wer ist tragischer „Held"? Gehandelt w i r d
hier nicht, sondern gelitten, und das Schicksal trifft die Menschen wie
Wanderer der Blitz. Denn Träger des Geschehens ist nicht ein einzelner,
sondern sind viele: die Königin, die Königstöchter, das unschuldige könig-
liche Kind, die troischen Frauen die den Chor bilden. J a wenn zuletzt
die Brandfackel in die Stadt Troja fällt, so w a r das für die Sensations-
hungrigen ein Theatercoup, für den der den Dichter verstand ein Symbol,
daß über allen Einzelnen ein Allgemeineres vernichtet w i r d : Troja, den
Göttern „unter Städten sonderlich verhaßt".
Es entspricht dieser Vielheit des tragischen Subjekts und dieser Ab-
wesenheit einer tragischen Aktivität, daß das Drama nicht w i e Medea
oder Hippolytos eine einheitliche Linie hat. Einzelschicksale neigen sich
eines gleich dem andern abwärts zum bitteren Ende: die Fürstinnen
werden in die Gefangenschaft geführt, Polyxene w i r d geopfert, das Kind
Astyanax seiner Mutter weggerissen. Nur Hekabe trägt, wie sie denn |
als Einzige von Anfang bis zu Ende gegenwärtig ist, außer dem eigenen
Leid mitleidend noch das Leid aller übrigen.
Doch selbst in dieser allgemeinen Zerstörung fehlt nicht ganz die
Bewegung des tragischen Entgegen. J a wie jede der Leidbetroffenen
anders widersteht, darin liegt nicht nur die besondere Schönheit und der
Reichtum der Troerinnen beschlossen, sondern das, was sie zur Tragödie
macht.
Kassandra kommt fackelschwingend, mänadisdi singend und tanzend.
Ihr Hochzeitslied ist in schauerlichem Widerspruch mit der Situation.
Und dieser Widerspruch symbolisiert sich unnachahmlich in dem musi-
kalischen Bau, der ekstatische und hochzeitliche Klänge mit Klagerhyth-
men durchsetzt, ja geradezu Klagerhythmus und Hochzeitsruf in eins
verschmilzt. Diese Mania, die bei der Seherin nicht eine Vernichtung
sondern eine Steigerung ihrer K r a f t bedeutet, ist ihr Widerstand gegen
das was hereinbricht. Und ein Triumphgefühl geht dann durch ihre
Reden, als sie (ein wenig unvermittelt und zu bewußt) „heraustritt aus
der Gottbesessenheit", um mit scharfer Dialektik zu zeigen, daß in all
ihrem Unglück die Troer glücklicher sind als die Sieger; es steigert sich,
als sie prophetisch das Verderben sieht, das den Griechen bestimmt ist,
und es gipfelt in dem Blick auf jenes, das sie selbst stiften w i r d im Hause
der Atriden.
Sagt, wo ist das Schiff des Feldherrn! Sagt, wohin ich steigen soll!
Brauchst nicht mehr nach gutem Winde deinen Segeln auszuschaun.
Denn der drei Erinyen eine führst du mich aus diesem Land.
162 Griechische Literatur [88/89]
und läßt Helena „an ihrem blutbefleckten H a a r " aus dem Zelt der Ge-
fangenen führen. Sie bittet sprechen zu dürfen, und nun gibt es eine
Art Gerichtsverhandlung, in der Helena mit langer scharfer Rede ihre
Verteidigung führt, Hekabe die Anklage vertritt und Menelaos den Rich-|
ter spielt. Es ist eine echt attische, zumal Euripideische Dialektik von
Gefühl und Leidenschaft, mehr noch von Witz und Geist, an der doch
auch der Schöpfer Portias seine Freude gehabt hätte, und der Zuhörer
verspürt, welche gefährliche Waffe solcher Intellekt im Bunde mit solcher
Schönheit ist. Zum Schluß wird Helena zu den Schiffen weggeführt,
damit sie drüben in Hellas sterbe.
Scheinbar ist so die Szene freilich ganz angeglichen den gleichmäßigen
Kurven der übrigen. Doch unter der Oberfläche dessen, was hier geredet
und getan wird, muß man des Ungesagten habhaft werden. Ist es erlaubt,
das Gespräch andeutend so zu geben, wie Balzac vielleicht es gegeben
hätte? „Ici pour bien saisir l'intérêt du duel des paroles, il est nécessaire
de dévoiler les pensées qu'ils cachèrent mutuellement sous des phrases en
apparence insignifiantes."
„Ich weiß, daß du mich hassest", sagt sie. (Aber du begehrst midi
noch. Weshalb wärest du sonst selber gekommen?) „Das ganze Heer hat
dich mir übergeben, daß ich dich töte", sagt er. (Was ich tun werde, steht
bei mir.) „Darf ich reden?" sagt sie. (Ich weiß, daß du mich sogar hören
willst.) „Ich will ihr das Wort geben", sagt er zu Hekabe, „damit ich
danach deine Gegenrede höre. Um ihretwillen würde ich's ihr nicht
erlauben." (Was kümmern mich deine Reden? Nur Helena will ich hören.)
„Geh nun deiner Strafe entgegen", sagt er, nachdem das Rededuell
vorüber ist. (Im Schiff sehen wir uns wieder.) „Töte mich nicht! verzeihe
mir!" sagt sie. (Wenn wir allein sind, wirst du mir verziehen haben.)
Hekabe wirft sich dazwischen. Menelaos: „Hör auf, Alte! ich kehre midi
nicht an diese hier." (Ich kehre midi an nichts als an sie.)
Dem Schluß des Aktes kommt vollends nichts gleich an Hintersinnig-
keit. Menelaos: „Diener, bringt sie zu den Schiffen!" (Ist sie erst dort,
so werde ich sie in mein Schiff nehmen.) Hekabe: „Laß sie nur nicht
dein Schiff besteigen!" Menelaos: „Wird es dadurch etwa stärker be-
schwert?" (Du glaubst mich zu durchschauen? Ich brauche dir nicht Rede
zu stehen.) Hekabe: „Kein Liebender, der nicht immer liebte." (So ist
mein Spiel verloren, die Unheilstifterin gerettet.) Menelaos: „Ich will
dir folgen, sie soll nicht auf dasselbe Schiff. Und in Hellas drüben will
ich sie töten." (Es gilt jetzt die Würde zu wahren.) Und er geht ab,
indem er mit einer tönenden Sentenz sich selbst als Erzieher des Frauen-
geschlechts zu Zucht und Ehre rühmt. Sollte noch irgend jemand im
Zweifel sein über die wahre Meinung dieses ganzen Auftrittes, so könnte |
ihn bald der Gesang der troischen Frauen belehren, die ganz in Hekabes
Sinne die Zukunft voraussehen und vor diesem Bilde wünschen: „Möge
Menelaos' Schiff mitten auf dem Meer der Blitz treffen, wenn es uns
[92j93] Die griechische Tragödie und das Tragische 165
Grundgefüges. An der Elektra des Euripides läßt sich eine Etappe dieses
Weges aufweisen, der schließlich in der Preisgabe der letzten tragischen
Ziele endet.
Euripides hat in seiner Elektra den Bauplan des Sophokleischen Vor-
bildes völlig verändert. Die Erkennung der Geschwister geschieht bei
ihm schon vor der Mitte des Dramas, nicht wie bei Sophokles gegen
den Schluß. Denn wenn Sophokles alles darauf anlegte, den Platz für
Elektras Tragik zu gewinnen und von der des Orest kaum etwas ahnen
zu lassen, so nimmt Euripides aus dem überlieferten Mythos und seiner
eigenen frei umgestaltenden Phantasie vieles was auf Elektra keinen engen
Bezug hat in die Grenzen seines Dramas hinein. Er gibt in breitem Vor-
gang Orests Rache an Ägisth. Dann erst wird die Mutter durch Elektra
ins Haus und in den Tod gelockt. Und nachher bleibt dem Dichter
Raum genug, um die Wirkung des Geschehens auf Elektra nicht nur son-
dern auch auf Orest sichtbar zu machen, ja um durch den Mund der Dios-
kuren die künftigen Schicksale aller beteiligten Personen zu verkünden.
Dazu stimmt, daß auch sonst der jüngere Dichter seiner Heldin manches
abnimmt, was der ältere mit bewußtem Nachdruck gerade ihr gab. Hatte
dort der getreue Diener den jungen Fürstensohn nach dem Willen der
schon erwachsenen Schwester ins Ausland gerettet, so hat er hier aus
eigenem Antrieb gehandelt, da beide Geschwister noch Kinder waren.
Dazu stimmt ganz, daß Orest hier nicht auf den Ruf der Schwester, son-
dern allein auf den Befehl des Gottes in die Heimat kommt, auch daß
nach geschehener Erkennung er mit dem Alten die Wege zur Rache be-
spricht, zunächst der Rache an Ägisth ganz ohne Elektras Anteil, wie sie
denn auch an dem breit dargestellten Vollzug keinen Anteil haben wird. |
Sie nimmt erst wieder das Wort, als man über die Rache an der Mutter
berät. Und hier teilt sie denn auch später mit dem Bruder das Vollbringen,
ja sie erscheint nun als die Wildere, die den Zögernden treibt.
Wenn Euripides Tun und Schicksal seiner Heldin nicht isoliert, son-
dern als Teilglied einer mythischen Geschehenskette einfügt, so liegt
darin keinesfalls, wie es scheinen könnte, eine Rückkehr zur weiten
tragischen Kurve des Äschylus, weit eher dies, daß die unerhörte Span-
nung sophokleischer Tragik hier zugunsten anderer Ziele gelockert ist.
Am größten ist das Staunen, Elektra vermählt zu finden. Sie hat
zum Gatten, wie man sogleich erfährt, einen Landmann aus eigentlich
vornehmem, aber jetzt verarmtem mykenischem Geschlecht. Das ist so
gewollt von Mutter und Stiefvater, damit sie nicht von irgend einem
Mächtigen einst den Rächer gebäre. Dabei kommt zur Sprache, daß
Klytämestra, so argen Sinnes sie auch ist, doch die Tochter vor der Ver-
folgung des Ägisth in diesen kümmerlichen Zustand gerettet hat. So weit
also ist jener äußerste Haß gemäßigt, den doch Sophokles als ein Stück
härtesten Schicksals gegen seine Heldin aufrichtet. Und was noch weiter
reicht: auch Elektras Einsamkeit ist hier gemildert, ja aufgehoben. Gewiß,
[94/95] Die griediische Tragödie und das Tragische 167
sie hat es schlecht genug. Aber da ist der freundliche Mann ihr zur Seite,
und andere einfache gute Menschen sind um sie.
Denn dies ist nun ferner etwas völlig Eigenes, daß es eine ganze
Schicht von Menschen geringen Standes in dem Drama gibt. Bei Äschylus
ragten einzelne Personen niederer Sphäre, der Wächter, die Amme, in
die hohe Tragödie hinein. Weit leisere Züge volksmäßiger Prägung hat
gelegentlich Sophokles einem „Boten" zugeteilt. Euripides aber hat die
Äschyleischen Möglichkeiten so erweitert, daß er zwei geschlossene
Stände einander gegenübergestellt: dort das Königsgeschlecht, hier die
kleinen Leute. Statt des Palastes, vor dem so oft die Tragödien spielen,
eine ärmliche Hütte als Hintergrund. Elektra beim Morgengrauen in
schlechter Kleidung mit dem Schöpfgefäß auf dem Kopf zum Brunnen
gehend. Ein kleiner ehelicher Streit: die Hausfrau erregt darüber, daß
er so vornehme Gäste aufgenommen habe, da doch die Vorräte fast zu
Ende sind; der Mann freundlich zuredend, eine Frau könne aus Wenigem
viel machen. Ein mykenischer Berghirt hat den Frauen, die den „Chor"
bilden, von dem Hera-Fest erzählt, und jetzt kommen sie, um Elektra
dazu abzuholen. An der Grenze des argivischen Landes wohnt der alte
Wärter Agamemnons als Hirt; zu dem schickt Elektra ihren Gatten |
nach Vorräten. Und nun schleppt sich das krumme und verhutzelte
Männlein her und bringt ein junges Lamm, Käse, einen besonders köst-
lichen alten Wein mit kräftiger Blume, den man einem schwächeren
zusetzen könne, und er wischt sich mit einem Zipfel seines zerschlissenen
Rockes Tränen der Rührung aus den Augen. Zum ersten Male wird diese
Welt der armen Leute und der petits faits ernst genommen und der
anderen, der Welt der Vornehmen und Reichen, gegenübergestellt.
Denn auf dieses Gegenüber kommt es an. Als die jungen Heroen-
gestalten des Orest und Pylades in die Hütte treten, klingt der Kontrast
auf, und alles ist auf ihn angelegt, als Klytämestra ihre Tochter besucht.
Schon der Vorwand, mit dem Elektra sie lockt, sie habe geboren, allein
und ohne Beistand, und nun bitte sie die Mutter zu kommen und das
pflichtmäßige Opfer für sie zu bringen, schon dieses stammt aus der
Kleinleute-Sphäre. Und wieder der Kontrast: die Königin fährt auf dem
Maultiergespann herbei, in orientalischem Prunk. Sie steigt vor der Hütte
ab, und als sie eintreten will, warnt Elektra sie, sich in dem rauch-
schwarzen Bauernhaus die Kleider zu beschmutzen.
Aber dieser ständische Gegensatz wird von einem ethischen über-
quert: Bei den kleinen Leuten ist Treue, Hilfsbereitschaft, Gastfreund-
lichkeit, menschlicher Zusammenhalt, bei den Herrschenden hingegen
die Brutalität des Usurpators, die Bosheit der Königin. Die ethische
Problematik erst schärft dem Dichter den Blick für die gesellschaftlichen
Gegensätze, und zeitweilig erscheint sie als der eigentliche Sinn des
dramatischen Geschehens. Gleich zu Anfang wird die schlichte Tüchtigkeit
des Landmannes, dem Elektra zum Weibe gegeben worden ist, sein
168 Griechische Literatur [95 ¡96]
sicheres Gefühl für das Angemessene, aus seinen eigenen Worten und aus
Elektras Munde immer wieder deutlich. Und dann gibt es eine Szene,
in der die Handlung gleichsam still steht und das „ethische Problem"
frei heraustritt. Als der Landmann seine Gäste ins Haus gebeten hat
und selbst vorangegangen ist, bleibt Orest zurück, nur deshalb, um wie
betroffen von einer ganz neuen Erfahrung jene Diskrepanz zwischen
bürgerlichem Stand und menschlichem Wert in ausführlicher Rede darzu-
legen. Wenn Äschylus und Sophokles in der Formung des tragischen
Mythos selbst, der immer zugleich dichterisch wie religiös und politisch
war, die große Erzieheraufgabe des Vaters erfüllten, so eröffnet Euri-
pides beiläufig mit seinen Zuhörern ein belehrendes Gespräch über soziale
und ethische Probleme. Man berechne, wie sehr die zentrale Kraft des |
Tragischen schon geschwächt sein muß, damit solche Teilkräfte sich zu
eigenem Leben befreien.
Eine andere Teilkraft ist die Psychologenleidenschaft des Dichters.
Sophokles stellt Grundformen des menschlichen Daseins hin und be-
stimmt von dem Hauptträger des tragischen Geschehens her das Kräfte-
system seiner Gestalten. Euripides entwickelt innerhalb der Schranken,
die auch ihm das Gefüge des Mythos setzt, größere Beweglichkeit und
Differenziertheit der menschlichen Individualität. In seiner Klytämestra
erscheint ein Weib mit allen Widersprüchen und Oscillationen, die dem
Kenner der Menschenseele als Zeichen des Lebens wert sind. Gleich die
ersten Worte erschließen ihr gar nicht unempfindliches und doch im
Grunde leeres Wesen, wie sie „mit einem nassen, einem trockenen Auge"
gleichzeitig der verlorenen Tochter gedenkt, die der Krieg ihr genommen,
und sich der erbeuteten Sklavinnen freut, die er ihr eingebracht hat:
Steigt von dem Wagen, Troerinnen! Diese Hand
Nehmt, daß ich aus dem Fahrzeug setze meinen Fuß!
Mit phrygischen Beutewaffen ist der Götter Haus
Geschmückt. Ich aber nahm die Frauen aus troischem Land
Zur Ehrengift — an Kindes Statt, das ich verlor! -
Geringes Eigen, doch willkommen unserm Haus.
Auch gegen Elektra ist sie schwankend, ein Mensch eben, „der nun
einmal so ist":
So ist mein Wesen; auch du selbst bist harten Sinns.
Sie gesteht der Tochter:
Nicht also gar so sehr
Freu ich mich, Kind, der Taten, die durch mich geschehn.
Als sie die vermeintliche Wöchnerin in ihrer Armseligkeit erblickt, da
wird es ihr leid, daß sie den Ägisth mehr als nötig zum Zorn getrieben
habe. Dennoch bleibt das alles Gekräusel der Oberfläche und sie selbst
ganz dem Manne hingegeben. War sie bei Äschylus gewaltige Mitträgerin
an der Gesamttragik des Geschlechts, bei Sophokles Person gewordenes
[96/98] Die griechische Tragödie und das Tragische 169
feindliches Schicksal (und nur als die Botschaft vom Tode des Sohnes
sie trifft durch einen Moment des Zögerns vermenschlicht), so läßt Euri-
pides sie sprechen und handeln als ein Weib mit mannigfachen Schwan-
kungen und Trieben. Erst bei ihm gibt es freie Bewegung einer verfei-
nerten Seelenkunde, für die in der älteren Tragödie, das heißt in | dem
strengen System tragischer Spannungen und Gegenspannungen, kein
Raum war.
Sophokles will das Heroinenschicksal Elektras zeigen. Darum schließt
er mit der Tat. Euripides lockert auch diese Strenge zugunsten eines
weiteren Umblicks über den Mythos, der für sein Psychologenauge gerade
nach der T a t so starke Anziehung hat. Damit nähert er sich dem Äschylus.
Aber wie so oft ist diese Annäherung mehr ein Schein, und Wirklichkeit
nur der gemeinsame Abstand von Sophokles. Das Umbrechen in der
Schicksalslinie des Helden, der sich erst stark zu seinem Werke bekennt,
dann in Zweifel, zuletzt in Elend und Wahnsinn verfällt, stellte Äschylus
vor Augen. Euripides zeigt, wie nun, nachdem Elektra den Bruder über
die letzten Bedenken fortgerissen hat und das Gewollte in einem großen
Anschwellen zum Ziele gekommen ist, beiden Tätern im Anblick der
Leichen alles, was bisher schwieg, zu reden beginnt: das Grauen der
Bluttat, die Selbstanklagen, die Einsicht, daß sie sich ausgeschlossen
haben aus allem menschlichen Verbände. Jetzt, da sie tot ist, beginnen
die Kinder in der Feindin wieder die Mutter zu sehen, und es ist sehr
ergreifend, wie sie zart die Hülle breiten über den Leichnam der „Lieben
Unlieben". Bei Äschylus neigt sich ein Heldenschicksal abwärts, ohne
selbst dann seine Größe zu verlieren. Bei Euripides endet eine unmensch-
liche Rachetat in dem Erwachen und Durcheinanderwogen aller mensch-
lichen Gefühle.
D a ß wirklich Euripides ganz etwas anderes meint als Äschylus, zeigt
vollends der Schluß. Die Elektra-Tragödie des Sophokles schloß mit der
Tat, Äschylus führte das Mittelstück seiner Trilogie bis zum Wahn-
sinnsausbruch, Euripides läßt sein Drama mit jener Szene, in der er das
schmerzliche Erwachen aus der Ekstase der T a t schildert, nicht enden.
Was aber soll die göttliche Erscheinung, die dann noch folgt? Kein unter
Menschen unlösbarer Widerstreit blieb zu entscheiden. Warum also müssen
die Dioskuren die Zukunft verkünden? Die Zukunft wird glücklich sein.
Elektra wird den Pylades heiraten, nur die Heimat muß sie verlassen,
aber sie hat Gemahl und Haus, „kein traurig Geschick". Sogar für den
Landmann, mit dem sie gelebt hatte, wird gesorgt werden. Und Orest
wird zwar noch viel zu leiden haben, aber dann wird es auch ihm gut
ergehen. Mit den Worten „du wirst glücklich sein" schließt die Verkün-
digung. „Happy end" also ist das Ziel. Soweit ist Euripides seinen
Athenern entgegengekommen. |
Doch für die Hellhörigeren unter den Zuschauern sprach die Dios-
kuren-Szene noch etwas anderes aus: seine Meinung über Gottheit und
170 Griechisch« Literatur [98j99]
Schicksal. Und hier zeigt sich noch einmal und zuletzt die Lockerung
der tragischen Strenge. Warum mußte das geschehen? fragt Orest. Die
Antwort spricht von unentrinnbarem Zwang des Schicksals. Warum
mußte ich Mörder an der Mutter werden? fragt Elektra. Wieder weist
die Antwort auf die Schicksalsverbundenheit und das von den Vätern
her über dem Hause drohende Verhängnis. Unter dieser Macht tun auch
die Götter Unbegreifliches und müssen aus dem Munde der Dioskuren
ihre Kritik hören:
zogen, wie sie zur Realisierung bedurfte. Weit über dieses Notwendige
hinaus werden jetzt dem Dichter die Augen scharf für die Umwelt seiner
Menschen. Man versteht, daß vor allem am Anfang Raum für solche
Umblicke war. Im Ion hat der delphische Apoll die weiteste Wirkung.
In seinem Heiligtum spielt das Drama von der Wiedererkennung des
ausgesetzten Königsohnes. Da wird die Morgenfrühe, die der Reinheit
des Jünglings so ansteht, und zugleich das Haus des Gottes selbst ein-
bezogen | in das Drama: erst reinigt Ion den Vorraum mit Lorbeerzweigen,
besprengt ihn mit kastalischem Wasser, jagt die Vögel mit seinem Bogen
von den Weihgeschenken des heiligen Bezirks und den leicht verletzlichen
Baugliedern des Tempels, und alles das begleitet er mit Gesang. Der
Chor kommt, athenische Frauen, die zum erstenmal Delphi besuchen,
den Tempel des Gottes betrachten, einander die Figuren des plastischen
Schmuckes deuten und dann auf ihre Erkundigung von dem Tempel-
wärter freundliche Auskunft empfangen. Eine Fülle von Leben und von
Stimmung, fromme, heitere, naive, wird eingefangen, und die Verwandt-
schaft mit einer typischen Szene des Mimos - jener volkstümlichen, das
Alltagsleben nachbildenden Dichtungsart - ist erstaunlich, ob nun
Euripides dergleichen gekannt hat oder nicht, ja noch erstaunlicher wenn
er es nicht gekannt haben sollte. Denn dieses neue Verhältnis zu allem
Gegenständlichen der Umwelt überrascht in einer Tragödie und muß als
Symptom gelten für das veränderte Kräftespiel in ihrem Innern. Oder
man sehe die Szene, die etwa an derselben Stelle des Gesamtbaues in den
Phönizierinnen steht, dem Euripideischen Drama vom Untergang des
thebanischen Königshauses. Da hat der Dichter die homerische „Mauer-
schau", so daß alle die Variation des Themas bemerken sollten, ins
Dramatische übersetzt. Der alte sorgsame und etwas gebrechliche Diener
tritt mit der jungen Prinzessin, der die Mutter diesen Gang erlaubt hat,
aus dem Hause, spürt vorsichtig die Straße entlang, ob niemand den
Verstoß gegen die strenge Sitte bemerke, und hilft dann dem Mädchen
über die alte Treppe aus Zedernholz zum oberen Stockwerk hinauf. Von
dort oben kann man die Helden des feindlichen Heeres sehen, und über
sie geht nun das sehr bewegte Gespräch zwischen den beiden. Oder man
denke an die Szene des „Orestes", in der der Held schlafend auf dem
Krankenbett liegt mit den Spuren früherer Anfälle in Gesicht und
Gestalt, bewacht von der treuen Schwester, die den Krankenbesuch des
„Chors" mit Angst um den Schlummer des Bruders empfängt. Und dann
das Erwachen und der neue Anfall und Elektra immerfort als sorgsam
bemühte Pflegerin. Man muß bei Sophokles schon bis in das Werk seines
letzten Jahrzehnts hinabgehen, um irgend etwas von dieser Art zu
gewahren. Aber wie wenig ist selbst im „Philoktet" an Schilderungs-
momenten, die nicht unbedingt erfordert und von der tragischen Idee
her notwendig bestimmt würden. Euripides hat eine ganz andere Blick-
schärfe und den stärksten Willen, das was er sieht im Wort zu gestalten,
[103j105] Die griechische Tragödie und das Tragische 175
sei es das lauernde Schleichen eines der in die feindliche Stadt | vordringt,
sei es der müde Gang des Greises, sei es sonst Dürftigkeit, Verwahrlosung,
Krankheit. Bis zur Karikatur geht diese Genauigkeit, und besonders seine
Helden im Lumpenkleid hat sich die Parodie der Komödiendichter nicht
entgehen lassen.
Der Orestes hat eine Szene, die über mannigfache Tendenzen des
Euripides belehrt. Im Innern des Hauses kommt die Handlung auf ihren
erregendsten Punkt: Orest bedroht die Helena und ihre Tochter mit
blanker Waffe. Da stürzt ein phrygischer Sklave aus dem Tor und singt,
statt den erwarteten „Botenbericht" zu sprechen, in langer Arie was
drinnen geschieht. Hier ist es zunächst die Musik - die damals modernste
Musik, wie wir freilich eben nur ahnen - die ihr Machtgebiet überraschend
erweitert hat. Man glaubt sich für eine Weile aus dem Schauspiel in die
Oper versetzt, der Affekt wird weit mehr herausgetrieben, als Rede es
vermöchte, und daß der Hörer die bedrohlich gespannten Geschehnisse
durch diese Verhüllung hindurch zu sehen bekommt, verstärkt den Ein-
druck. Wichtig ist dann vor allem das orientalische Kostüm und Wesen
des Sängers. Bei Äschylus war das Unhellenische - der Ägypterherold in
den Schutzflehenden, die Perser - gleichsam Rest eines noch kaum über-
wundenen Zustandes, da Athen sich eben erst aus der Umarmung des
Orients befreite. Bei Sophokles fehlt das „barbarische" Element voll-
kommen — ganz ebenso wie am plastischen Schmuck des Parthenon.
Euripides hingegen hat sich gern der bunten Fremdheit bedient. Die
Phönizierinnen führen ihren Namen von den Frauen des Chors, der
durch eine künstliche Motivierung hier hereingezogen wird und in
Bühnenbild und Musik als Variation über ein Thema aus der Frühzeit
der Tragödie wirken sollte. In Helena und Andromache lebt die
Phantastik der fremden Küsten, an denen sie spielen. Orientalische Diener
begleiten Klytämestra, dieser Phryger unseres Dramas hat der Helena
mit seinem Federfächer Luft gefächelt wie einer Perserkönigin. Hier ist
nun im besondern das phrygische Kostüm charakteristische Hülle des
Feiglings. „Männer, nicht feige Phryger" hieß es kurz vorher. Und diese
scharfe Zeichnung typischer Sklavenfeigheit will jeden Augenblick in
Karikatur übergehen. Die komische Situation ist nahe und oft schon
erreicht, in der Arie selbst, dann als Orest mit dem gezückten Schwert
dem Sklaven ans Leben will und dieser durch glatte Schmeichelkunst den
Kopf rettet. Solcher Augenblick, in dem das komische Element die gefähr-
detste Lage durchdringt - an Calderon eher | als an Shakespeare er-
innernd — wäre bei Sophokles undenkbar. In den Äschyleischen Anfängen,
wo die Tragödie noch nicht völlig „ernst geworden" war, gibt es Ähn-
liches. Dorthin kehrt Euripides zurück, viel freigebiger allerdings und
bewußter in der Verwendung als Dissonanz. Und mag er damit dem
„Leben" näher kommen, das immer zugleich tragisch und komisch ist,
so bedeutet doch seine Vermischung der beiden Aspekte ein Nachlassen
176 Griechische Literatur [105j106]
daß er unerbittlich die tragische Höhe hält, gegen den um ihn herein-
brechenden Verfall. Euripides ist selbst von allem diesem Chaos aufs
stärkste ergriffen. Leidenschaftlich ruft er seine Meinung zwischen die
Streitenden und wird anstatt Erzieher der Nation Mitkämpfer ihrer
Tageskämpfe. Wirken konnte er so nur auf Kosten der tragischen
Spannung. Die Folge aber war, daß seine Tragödie nicht mehr unberühr-
bar über den Zeiten stand.
Mit alledem haben wir uns längst dem höchsten Kreise genähert. Doch
gerade über die Religion des Euripides müssen wir uns mit Wenigem
bescheiden. Nichts freilich wäre bequemer als die „einschlägigen Stellen"
zu sammeln und ohne Rücksicht darauf, wer jeweils redende Person ist
und ob er etwa im Fortgang des Dramas widerlegt oder bestätigt wird,
den Glauben des Dichters durch Addition zu gewinnen. Die wahre Auf-
gabe ist sehr viel schwerer, und sie gehört nur so weit hierher, aber aller-
dings so weit, als die Idee des Tragischen von dort aus bestimmt wird.
Äschylus ist der große Schöpfer auch in diesen Bereichen. Doch sein
immer sich erneuendes Kämpfen um das reine Bild des Göttlichen ist nicht
zu verwechseln mit dem unruhigen Grübeln nach einer „Weltanschauung".
Er als einziger hat es gewagt, die Götter selbst werdend zu zeigen, j
werdend zum Sein. Und nur darum verharrt er im Suchen, weil das Bild
ewig verschleiert, der Name ewig unnennbar, der Weg unendlich ist.
Bei Sophokles ruht die Unerschütterlichkeit seiner tragischen Idee in der
Unerschütterlichkeit seines Wissens um die göttlichen Dinge. Euripides
scheint auch hier wieder dem Äschylus sich zu nähern. Denn wenige
haben so unaufhörlich nach Gott geforscht wie dieser „atheos". Er durch-
schaut das, was die Menge ihre Götter nennt, in seiner Unreinheit und
seinem Widerspruch. Er weiß, daß das Göttliche schwer zu erahnen und
seine Zeichen schwer zu erkennen sind. Und wenn er es unter mannig-
fachen Namen - Zeus, Äther, Dike, Ananke, Nus — gefunden zu haben
glaubt, so entschwindet es ihm wieder, weil ihm die Widersprüche des
Lebens diese Ordnung durchbrechen. Darum ist, was sich uns als Nach-
lassen der tragischen Spannung darstellte, in notwendigem Zusammen-
hang mit seinem Zergrübeln der göttlichen Welt, ja beides ist vielleicht
eines. Aber man begreift, was unser Zeitalter dem Euripides nähert. Sei
denn, nachdem wir den Kämpfen dieses Dichters durch viele Jahre gefolgt
sind, am Ende seiner fast letzten Schöpfung gedacht, in der dieser Kampf
die verwirrendste und ergreifendste Formulierung gefunden hat!
Aus dem Dionysos-Kult ist die Tragödie entstanden, und versucht
man sich klar zu machen, wie das zugegangen ist, so darf man gewiß nicht
(mit Nietzsche) an die Leiden des Gottes denken, die niemals dargestellt
worden sind noch - als heilig-geheimer Kultmythos - dargestellt werden
konnten; eher an die mannigfachen Sagen von heldenhaftem aber vergeb-
lichem Widerstand gegen den siegreich vordringenden Gott. Aber mag
über die Urtragödie wenig zu wissen sein, Äschylus jedenfalls hat jene
[108/109] Die griechische Tragödie und das Tragische 179
Pentheus: Allein von ihnen bin ich Mann, der solches wagt.
Dionysos: Allein gibst du für diese Stadt die Kraft, allein!
Ja warten deiner Kämpfe, die du führen mußt.
Ganz geradlinig scheint er gegen sein Schicksal anzudringen. Er steht im
Wortkampf gegen Tiresias, dessen Prophetensitz er zerstören heißt. Den
„weibgestalten Fremdling", der des Gottes Verkünder zu sein bean-
sprucht, läßt er aufspüren und binden, um ihm den Tod zu geben. Nicht
die Drohung des Gefesselten, nicht das Wunder der Befreiung schreckt ihn.
Er will den Kampf hinaus in den Bergwald unter die Mänaden tragen.
Und indem er gewaltsam vordringt, rennt er in den Untergang, nicht
anders (scheint es) als Aias, als ödipus. Wie über die Sophokleisdien
Helden so kommt auch über diesen Kämpfer gegen das Geschick die
Geistesverblendung, die „Ate". Er läßt sich von der List des Dionysos,
den er eben noch hart behandelt hat, den Sinn umnebeln, dann läßt er
sich überreden, dann sich verkleiden. Welche „tragische Ironie", Wink
des hereinbrechenden Schicksals, schon als er einwilligt:
fesseln meinte? Ist nicht dieser Gott, statt erhabener Repräsentant des
Schicksals zu sein, bewegt von sehr irdischer Rachsucht? |
DIONYSOS: Dionysos, an dein Werk denn! Bist jetzt nicht mehr fern.
An ihm nimm Rache!
Er soll mir ein Gelächter den Thebanern sein,
Ihn weibgestaltet führ ich mitten durch die Stadt
O b seines Drohens, drin er jüngst ein Meister war.
Am Schluß vollends enthüllt sich der Unwert dieses Gottes, wenn er
gemessen wird an der sittlichen Forderung der Menschen. Er muß sich von
Kadmos vorrücken lassen:
An Grimm nicht Göttern ziemts zu gleichen Sterblichen -
und weiß nur eine matte Entgegnung, mit der er die Schuld auf den
höchsten Zeus hinüberwirft. So wenig Größe bleibt dem, was zuerst alles
zu erobern oder zu vernichten schien.
An dem K ä m p f e r gegen dieses Schicksal wird Ähnliches deutlich.
Gewiß war in Pentheus' Energie des unbedingten Wollens etwas, was
an Sophokleische Helden erinnert. Aber schon dieses trennt ihn, daß an
der Tragik andere neben ihm mittragen: wahrhaft ergreifend Agaue die
Mutter, dazu ihre Schwestern, am Schluß sogar Kadmos. Mehr noch, an
Pentheus selbst nimmt man Züge wahr, die tragischer Höhe widerstreben.
Bildende Kunst stellte ihn oft dar, wie er als kriegerischer Held gegen die
Mänaden kämpft, und so hatte wahrscheinlich schon Äschylus gedichtet.
Hier aber wird dieses Motiv gekreuzt durch ein anderes. Seine Neugier,
merkt man, ist gereizt und mit ihr seine Lüsternheit, und er läßt sich nach
einigem Sträuben nicht ungern das Wagnis aufreden, in Weiberkleidung
unter die Weiber zu schleichen. So tief entwürdigt der Dichter seinen
Helden. Wenn Sophokles den Aias in der Erniedrigung zeigt, so richtet
er alles darauf, ihn wiederherzustellen. Pentheus aber kommt erst als
zerstückelter Leichnam in den Kreis zurück, den er in der lächerlichen
Verkleidung verlassen hatte. In sein Heldentum hat der Dichter ein
Stück menschlicher Niedrigkeit gemischt, wie das große Schicksal in diesem
D r a m a an Erhabenheit einbüßt durch einen Zusatz von Absurdität und
einen Mangel an sittlicher Würde. So wird der tragische Aspekt des
Lebens, der in dieser Dionysostragödie sich noch einmal zu erheben
schien, um seine letzte Erfüllung gebracht. Der Dichter steht nicht ein
für seinen Helden, weil er unbedingte Menschengröße nicht mehr zu sehen
vermag und deshalb nicht mehr gestalten will. Die Schicksalsmächte aber
hat er zu sehr durchgrübelt, als daß ihre Majestät ihm noch unerschütter-
ter Glaube wäre. Pentheus ist königlicher Kämpfer, blinder Draufgänger
und lüsterner | Schwachkopf in Einem, Dionysos zugleich sieghafter Gott
und verblendender böser Dämon. Denn Euripides findet im Leben
immer das Tragische und Untragische und Widertragische zugleich. D a s
182 Griechische Literatur [112]
hohe und das niedere Bild der Dinge verschlingt sich ihm nidit wie
dem Shakespeare so, daß das eine das andere hebt und beide in unge-
heurer Spannung eine Welt erzeugen, vielmehr durchdringen sie sich, das
eine hebt immer das andere auf, und statt reinen Lichtes gibt es einen
sdiwankenden, wenn auch farbenvollen und bezaubernden Schein. Das
Jahrhundert der hohen Tragödie war abgelaufen, als dieses Spiel nach
dem Tode des Meisters an seinem zerrütteten Volke verwirrend, auf-
reizend und ergreifend vorüberzog.
IIoM.& xa öeivä
1934
I. Zur Metrik
überhören in Gefahr ist. Die Reihe als ganze gehört doch wohl zu der
Klausel tö rtüv 6r) xMovoiv äXyoi, die Wilamowitz, Verskunst 250 f. in nicht
redit treffendem Zusammenhang behandelt hat. Der spondeische Beginn
an unserer Stelle zeigt das Irrtümliche seiner Behauptung: die erste Silbe
sei immer kurz. Hier wirkt gerade der schwere spondeische Einsatz stark.
In ihm und dann | überhaupt in dem rhythmischen Gegensatz der Klausel
gegen die vorhergehenden Daktylen zeigt sich nach der unaufhörlichen
Bewegung der Pflüge die schwere Arbeit des Gespanns.
In der Gegenstrophe steht an derselben Stelle, wo in der Strophe der
Seefahrer seinen geraden Weg fuhr, „der umsichtige, einsichtige Mann", wo
in der Strophe die feste Erde stand, das Überlegene seiner Listen. Auch
hier die Festigkeit in Iamben gegeben. Auch hier ähnliche Wendung gegen
das, was vorhergeht, und das, was folgt. Die Jagd auf Vögel, Landtiere,
Fische vorher in Glykoneen, das wilde Getier der Berge und die Bändi-
gung des Rosses in Daktylen. Als schwerer Abschluß, dem pflügenden
Roß in der Strophe entsprechend: der ungebändigte Bergstier.
Zweites Strophenpaar. Drei Prosodiaka, das dritte um ein iambisches
Metron erweitert: so Wilamowitz und Schroeder. Keiner von ihnen wird
diese Erweiterung mechanisch genommen, den Anklang des dritten er-
weiterten Prosodiakon an den alkaischen Zehnsilber überhört haben.
Dieses erste Stück mit den vielen Doppelsenkungen drückt in der Strophe
die Wendigkeit der Sprache und des Denkens, in der Gegenstrophe den
Erfindungsreichtum aus. Freilich in der Gegenstrophe schon mehr als das:
auch die Entscheidung zwischen Übel und Gut.
Das folgende große iambische Stück gibt in der Strophe zunächst den
Häuserbau, also etwas weit Standfesteres als die geistige Bewegung vor-
her; in der Antistrophos die Festigkeit von Gesetz und Recht. Dann
weiter in Strophe und Antistrophos das rhythmisch unüberhörbare
Gegenüber jtavtoxcoeog-ajtoQog und xnjiL-To/.ig-a^oXig. Die Festigkeit der fort-
schreitenden Iamben entspricht in Strophe und Antistrophos dem Gedan-
ken, was keiner Ausführung mehr bedarf. Die starken Synkopen fallen
sehr ins Ohr. An diesen Synkopestellen scheinen mit Vorliebe besonders
bedeutende Wörter zu stehen: Strophe tpsiiyEiv Antistrophos bvoqxov,
Strophe "Aiöa Antistrophos T6?.|iag.
Scharf hebt sich zuletzt ab in der Strophe |un.JiE(peaaTai, in der Anti-
strophos og taö' eqöei, dort noch einmal die Fülle des erdenkenden Sinnes,
hier noch einmal das Entscheidungsvolle des Handelns in ein einziges
Metron zusammengefaßt.
2. Zur Musik
auch hier das „Echtheitsproblem" für viele den Weg versperrt. Aber
wenn man bedenkt, daß „Accent" eine Ubersetzung von JiQoatpöia ist, so
müssen die traditionellen Accente, wie mechanisiert auch immer, etwas
von der Sprachmelodie wiedergeben. Versuchen wir es mit IloXXd xa öeiva,
indem wir nur dort die Accente einsetzen, w o sie in Strophe und Gegen-
strophe auf derselben Silbe stehen.
Str. 5 • . . a x a ( x a t a v airotgiiETai
Man darf nie vergessen, wie mechanisiert die von den Grammatikern
festgesetzten Accente sind. Aber auch so wird man die Ton-Analogie
zwischen vielen Elementen von Strophe und Gegenstrophe nicht über-
hören oder übersehen können. Hier und da ist auch Wortklang zwischen
Strophe und Gegenstrophe sehr verwandt; aber die von den Gram-
matikern festgesetzten Accente stimmen dazu nicht. Dies und vieles
andere bedarf der Untersuchung. Vielleicht sollte man Betonungen ver-
schiedenen Ranges einführen. Man vergleiche
Str. i V. 8 ijMieitp
Ant. i V. 8 OVQEIOV.
Vielleicht hat die erste Silbe von ijt-jieL-tp einen Ton zweiten Ran-
ges, die zweite Silbe den Hauptton; in OV-QEI-OV ist es vielleicht umge-
kehrt. Oder man vergleiche
Str. 2 V. 4 itavToitoQog • ajiopog
Ant. 2 V. 4 wiiijioXig • äitoXag
Der Parallelismus ist so genau, daß man sich wundert, wenn JtavroJtopog
und w|>[jtoAig verschiedene Accente haben. In der Musik glich sich
dieser Gegensatz vielleicht aus. Vielleicht glauben wir zu fest an die
überlieferten Accente? Vielleicht - vielleicht -
188 Griechische Literatur [58/59]
j. Zur Interpretation
332 öeiviiv. „Vieles Gewaltige gibts, doch nichts / Ist gewaltiger als der
Mensch" - so Hölderlin in dem Entwurf von 1801 5 . Daß Solger (1808)
und Boeckh (1843), die diesen Entwurf nicht kennen konnten, fast buch-
stäblich auf dasselbe „verfielen", macht ihnen keine Ehre. In der gedruck-
ten Hölderlinübersetzung von 1804 hieß es weit treffender: „Ungeheuer
ist viel. Doch nichts/Ungeheuerer als der Mensch." Das Wort „ungeheuer"
wohl immer | in Gefahr, sich zum gewaltig Großen zu verflachen, vergißt
doch im älteren Deutsch kaum je seinen Ursprung. „Der ursprüngliche
Begriffskeim wird noch jetzt in nicht geheuer erhalten sein, wesentlich
gleich, unheimlich", Grimmsches Wörterbuch. „Alliu creatiure, gehiure und
ungehiure" mhd. Schlimm genug, daß noch Wilamowitz (Versk. 516) sich
gegen die „dumme Ubersetzung ,viel Gewaltiges"' wenden mußte. Das
Aischyleisdie Vorbild IloXXd (iev yä tgecpei öeiva ösi^atcov axri (Cho. 585 ff.)
lehrt in der Tat, daß Sophokles den Ursinn in öeivög nicht vergessen haben
kann. Noch gewisser lehrt es Sophokles selbst. Es gibt wenige Fälle bei
ihm, in denen ÖEivog, durch Infinitiv oder Dativ oder Nomen klar be-
stimmt, die bekannte Sonderbedeutung des „in einem bestimmten Bezirk
Fähigen" hat ( X e y e i v av öeivög, Y^wacrr|i ai> öeivög, öeivög fivioatgötpog). Aber
von dieser Sonderverwendung abgesehen, fehlt dem öeivög bei Sophokles
nie ein Zuschuß des Furchtbaren, des „Ungehiuren", am allerwenigsten
dem Neutrum: ÖEivd xoX|iäv, öeiva fteaiuaag, egya 8eiva, jteitovfta öeivä, xd
öeiva yä.Q toi jiQoatiftria' öv.vov jioXvv, xd öeiv' exeiv' EjuiJtEiXr|[ievoi und vieles.
334. Daß toüto nicht adverbial sein kann, sondern Subjekt ist, darüber
ist man sich jetzt wohl einig, xoüxo xai jtöXeig in 296 stützt diese Deutung
von außen. Daß aber xoüxo steht, nicht ouxog, ist bedeutsam: „dieses un-
geheure Wesen". Und nun wird sein Tun durchverfolgt durch die mannig-
fachen Bezirke menschlichen Tuns. Die Schiffahrt als Wagnis ist ein
Gemeinplatz geworden: illi robur et aes triplex . . . Aber daß auch das
Pflügen, dieses Aufreißen, Aufreiben der doch unvergänglichen, nimmer
zu ermüdenden Erde, der Göttin Erde, die den höchsten Rang unter den
Göttern hat, daß dieses Unternehmen etwas „Ungeheures" ist, das hat
außer Sophokles vielleicht niemand ausgesprochen. Das Fällen des Bau-
mes, das Schöpfen aus der Quelle muß in der Urzeit oft mit ähnlichem
Schauer umgeben gewesen sein, wie Sophokles ihn hier empfindet. Das
quellhütende Ungetüm des Mythos, die Opfergaben an den fließenden
Quell und der Baumkult zeigen das.
343-364. Auch in den beiden folgenden Strophen muß dieser Klang
des Gefährlichen gehört werden, wenngleich die ÖBivoxr^g im Sinn des ÖEivog
ayew, kqo.teiv, X e y e i v jetzt zu überwiegen scheint. Umfaßt das erste Stro-
phenpaar das, was man die Naturformen des menschlichen Daseins nen-
5
Werke V i, vH., vgl. ebendort S. 343.
[59j60] IloUa to öeiva 189
geklärt. Eben hatte der verblendete Kreon das Geschehene gemeint aus
gemeiner Gewinnsucht verstehen zu können, mit den Worten, die an das
Chorlied anklingen (296 T O Í T O X A Í ~ 3 3 4 . TOÜTO xaí jtóXeig jtopfteí, TÓ8'
avöpag elavíatriaiv 8ó[icüv gibt vortrefflich die beiden Bedeutungskompo-
nenten von ajtoXig 370, die w i r vorher heraushoben). In dieser Schwebe-
lage und unmittelbar v o r der nächsten Stufe der Tragödie, auf der zu der
T a t der Täter gestellt wird, hört man das Lied von der menschlichen
ÖEivoTTi;: von der Grundverfassung des Menschen, der tragischen G r u n d -
verfassung.
Nicht daß der Mensch durch Geisteskraft in allen Lebensbereichen
K u l t u r schafft, allem gewachsen, nur dem Tode nicht, macht f ü r sich schon
das „Ungeheure" seiner Existenz aus, auch nicht allein, daß er sich als
Handelnder f ü r G u t oder Schlecht entscheidet. Wohl aber, daß eben dieser
mit so unheimlichen, mächtigen, schöpferischen Geisteskräften Begabte
sich f ü r Gut oder Schlecht entscheidet; daß er die Satzungen, die er durch
seine eigene Geisteskraft - seine áaxm-ó|xoi 09701 - geschaffen, mit der Ent-
scheidung seines Handelns entweder ehren oder aber gewaltsam ver-
letzten kann; daß er die Staatsgemeinde, die er selbst geschaffen, erhöhen
kann oder aber verneinen: erst in dieser Dialektik vollendet sich die
ÖEivotTig des Menschen, offenbart sich das menschliche Dasein als wesent-
lich tragisches Dasein.
4. Zur Ideengeschichte
Das führt ins Verderben. Dike Aisa Erinys walten, wie in den früheren
mythischen Geschehnissen, die als Exempla eingeflochten sind, so jetzt
im Schicksal des Atridenhauses. Im einzelnen braucht uns der weit
gedehnte und in sich gestufte Bau des Aischyleischen Liedes hier nicht zu
kümmern. Es genügt, daß bei Sophokles nur der große Gegensatz des
Beginns und dann wieder das Dike-Motiv der Schlußstrophe dem Vor-
bild entspricht. Das öeivöv als - wir sagten modern: tragische Grund-
verfassung des Menschen: das verdankt Sophokles seinem Meister.
Indessen der Gegensatz des Menschen zu aller Natur ist bei Sophokles
— mit oiiöev öeivöteqov — noch radikaler gefaßt als bei dem Vorgänger,
bei dem der Liebestrieb von Tier und Mensch (egcog ocvcoöaXuv xe xai ßeoxwv) |
trotz allem wieder auf eine Stufe tritt und so jener Gegensatz wieder ein-
geebnet wird. Und völlig neu ist bei Sophokles die Dialektik der mensch-
lichen öeivöxTi5, wie sie vorher in der Interpretation aufgewiesen wurde.
2. Daß der Mensch sich den Vorrang vor allen stärkeren Tieren allein
durdi seine Geisteskraft errungen habe, daß diese geistige Überlegenheit
sich in den einfachen Verrichtungen des Zeidelns und Melkens zeige, daß
diese selbe Überlegenheit sich in der Bildung von Staat und Gesetz offen-
bare: so lehrte die Kulturphilosophie des Anaxagoras und Arclielaos8.
Zwar die Frage, ob Sophokles eine philosophische Quelle benutzt habe,
zieht, ob man sie bejaht oder verneint, dichterisches Schaffen zur Arbeits-
weise des philologischen Betrachters herab. Daß Sophokles in eine gewisse
Nähe zu seinem großen philosophischen Zeitgenossen Anaxagoras rückt,
wird man nicht bestreiten, wird vielleicht sogar (mit Uxkull) sagen
dürfen, daß „in diese Dichterstelle ein Gedanke der Philosophie der Zeit
eingegangen sei". Man mache sich nur sogleich auch klar, wie wenig das
im Grunde ist und wie groß die Unterschiede. Der erkenntnisfrohe Geist
dieser Philosophie sieht überall seinesgleichen am Werk, ordnend, d. h.
scheidend9, im Kosmos wie im menschlichen Dasein. Mit Stolz stellt er
fest, welche geistigen Kräfte den Menschen „abgetrennt" haben (öisxgidriaav
Vorsokr. 47 A 4 § 6) von seinen tierischen Vorläufern. Aber so vieles
Licht des Geistes macht die Augen blind für den tiefen und düsteren Blick
in das öeivöv. Anaxagoras sieht die Weltentwicklung samt der Kultur-
entwicklung mit dem Stolz des Erkennenden, Sophokles sieht die Kultur
samt dem Stolz des Erkennenden tragisch.
3. Gegenüber der Einheit des epischen Menschentums, das nur
„Heroen" anerkannte - denn auch der Arzt, der Seher, der König ist vor
allem „Heros" hat sich die Wirklichkeit des vielfach gesonderten Lebens
durchgesetzt und Ausdruck gefunden in Solons Musenelegie. Die Fülle
der menschlichen Lebensberufe steht nebeneinander: Seefahrer, Ackers-
mann, Handwerker, Dichter, Seher, Arzt. In dieser Vielheit aber, die
8
Vgl. Graf Uxkull-Gyllenband, Griechische Kulturentstehungslehren 10 f.
* Joel, Gesch. d. ant. Philos. I 576.
192 Griechische Literatur [62163]
1940
The present review is late. Apart from personal reasons, there are
those which lie in the book itself. It is full of painstaking logical analyses,
which one who is not a logician sometimes has difficulty in following;
and at the same time, it contains general views on Plato of such a nature
that it is not easy for me to enter into a discussion with their author.
When, time and again, on the first few pages the words "insincerity,"
"hypocrisy," and "lie" were alleged of Socrates, I had some difficulty
in believing that Mr. Robinson and I had common ground. Finding the
word eiQtoveia translated as "slyness" and the fact of irony used as a
reproach against Socrates, I felt convinced that the author neither had a
clear concept of what irony is nor had ever tried to learn it-for example,
from J. A. K . Thomson's "Irony" or from my treatment of the subject
(Platon, Vol. I, chap. vii). When I read (p. 14) that "to many persons
the Socratic elenchus would seem a most unsuitable instrument for moral
education" and that "Socrates was certainly a unique reformer if he
hoped to make men virtuous by logic," I doubted whether the author
had ever seen behind the eXsyxoc the Dly/av, the man whose paradoxical
"intellectualism" was a service to the god and who drew the consequence
of his intellectualism in 399. After the first twenty pages I had to stop
and take breath.
But now I hope to be able to do justice to the book-a contribution to
the interpretation of Plato and to the history of logic which is worth
studying thoroughly, since Robinson, as a logician, has studied his author
thoroughly. He also provides his own translations; I take pleasure in
referring to Notopoulos' praise of them (CW, X X X V I , 176).
Part I deals with elenchus and definition, which, Robinson insists,
are the characteristic features of Plato's first period. Y e t he himself
quotes from the Sophist the theory of the elenchus that proves the
primary importance attributed by Plato to this method through all of
his life. In order to show that he maintained not only the theory but also
the practice into his late period, it would have been useful to analyze
about X without being able to say what X is in the way Socrates desires"
(p. 54). One might write a little dialogue in which Socrates would accept
this reply only to force the twentieth-century philosopher to agree that,
without being able to answer that question, we can and perhaps do make
harmful statements.
Finally the "Critique of the What-Is-X? Question" (chap, v, sec. 2)
might give rise to an interesting discussion with the author. The question
is "dangerously vague," says Robinson (p. 61). Does this imply that
Plato had been led astray by this danger? Or would it perhaps be better
to assume that Plato did know the pitfalls and that, just because of this,
he made his Socrates ask these questions time and again in order to
discriminate, as it were, between the question "What is X ? " and "What
is X ? "
The second part of Robinson's book deals with dialectic, the general
features of which are thoroughly analyzed in chapters vi and vii. There
are such acute observations as, e. g.: Plato "possesses the idea of intuition
as well as that of method; . . . He regards them not as antagonistic but
as complementary" (p. 69). Also, " . . . the word 'dialectic' had a strong
tendency in Plato to mean 'the ideal method, whatever that may be'"
(p. 74). There are good remarks, even lexicographical ones, on the be-
ginnings of a philosophic terminology in Plato (pp. 71 f., 97 if.). I should
like to enter into a dialogue with the author on the question why in
Plato's conviction dialogue is necessary. "It is useless to look for sufficient
reasons for the Platonic doctrine that the supreme method entails
question-and-answer, because there are none. The presence of this doctrine
in Plato cannot be explained as a logical conclusion, but only as a
historical phenomenon" (p. 86)-as if these two possibilities were the only
existing ones! In short: " . . . it entered into the blood of Socrates' pupil
Plato." But Plato "never fully appreciated the distinctness of Socrates'
destructiveness from his own constructiveness" (p. 87). Don't you see,
Plato might ask Mr. Robinson, behind the destructiveness of my teacher's
elenchus the constructiveness of his person? And we may add, there could
never be such a radical philosophical contrast between the two, because
Socrates is a power working within Plato. (See the chapter "Sokrates bei
Platon" in my Platon, I, 146 fiF.) How Plato, even in his seventies, felt
about dialectic as the way to the ideas, one sees in his Seventh Letter,
where he speaks about the "long common endeavor [awovaia] about the
subject itself and community of life [oD^fjv]" (341 C, cf. 344 B). And
even if it were true that "all students of Plato remark how, in the Sophist
and the Statesman, the pretence of question-and-answer misfits the form,
which is really a continuous treatise; and how this pretence is practically
abandoned in the Timaeus and the Laws" (p. 88), I should still continue
to dissent (Platon, I, 178; II, 506 ff.) and refer to what I have called the
"silent dialogue" between the actual speakers and the listening Socrates,
196 Griechische Literatur [2541255]
and, concerning the Laws, to what I have said about the struggle between
the legislative and the dialogic force in Plato (ibid., II, 671, 680 f.).
Aristotle's contrary view | that "conversation is actually more liable to
error than solitary thought" and that "science does not proceed b y
question-and-answer" (p. 88) is, or seems to be, in opposition to Plato.
Y e t it is the experience at least of this reviewer that even the solitary
method is an internal dialogue, and that even his solitary review has its
raison d'être only as a step in a discourse with Mr. Robinson or with
somebody else. N o , it is not m y particular experience; it is the great
teaching of Plato, often forgotten or obscured, but nevertheless eternal.
Chapters viii, ix, and x deal with hypothesis in the Meno, the Phaedo,
and the Republic. The problem which the Meno offers is the following
(p. 120): "What, in all this, is the proposition hypothesized? Three
suggestions come to mind: (1) Virtue is good . . . . (2) Virtue is knowledge.
. . . (3) If virtue is knowledge it is teachable." Robinson goes on to
demonstrate that the third proposition is what Plato considered to be the
hypothesis. Y e t it must be emphasized that his translation has a small,
though decisive, defect: tmoTi'frsfi.Evoi aiizo a>cojt<ï>|XEv eïtë ov ôiôaxtôv êati
(87 B) does not mean "let us . . . inquire on an hypothesis whether it is
teachable or not teachable" (p. 119) but "hypothesizing it let us inquire
whether . . . . " The very act of hypothesizing, then, precedes the inquiry
whether virtue is teachable, and the object of hypothesizing is it, namely,
virtue or the nature of virtue. This, moreover, and only this, renders the
analogy with the mathematical example precise: the geometer makes a
hypothesis about the nature of his figure ("this figure is such") and then
he draws his conclusion ("whether it is possible or n o t . . . " ) .
Consequently, the hypothesis is not the third proposition; therefore
it must be either 1 or 2. N o w , since 1 "is explicitly and unmistakably
called an hypothesis (87 D 3)" and since it is the basis of all the rest,
one should not brush it aside, as Robinson does. But one will agree with
him that it cannot be the main hypothesis, since it is never referred to
again. Robinson's arguments in favor of 2 are good; his argument against
2 (and consequently in f a v o r of 3) "that an hypothesis to Plato is not
primarily a proposition to be verified but a proposition posited to prove
something else" has an unsatisfactory basis (pp. 116 f.). Although it is
true that "an hypothesis is always a proposition posited at the beginning
of a train of thought," it does not follow that "it is naturally and
normally . . . a premise and not a demonstrand" (p. 117).
Robinson finds in the Meno a "very unsatisfactory account" of the
hypothetical method. It is true that this account is incomplete. But that
Plato "practically destroys the essence of the hypothetical method"
(p. 126) one can only say if one has made a wrong choice as to w h a t
Plato considered to be the proposition hypothesized.
In the chapter on the Phaedo (chap, ix) Robinson begins with a dis-
[2551256] Plato's Earlier Dialectic 197
THE LINE
S6§a EJU0Tri|i.T)
elxaaia juatig 5iavoia v6ti<jis
images bodies mathematical objects ideas
OptXTOV YVOXTTOV
becoming being
THE C A V E
seeing in the cave seeing outside the cave
shadows on statues mirrored original
FIRE SUN
the wall carried objects objects
This is by no means all. One must ask whether at any point the relation
between the two systems becomes inexact. One must ask which motifs
of the Cave are not represented by the Line and why not, and whether
there are elements of the Line without correspondence in the Cave. But
the first step is the recognition of the homology.
"If there were a precise correlation, the state of the unreleased
prisoner would have | to be 'conjecture' [etxaaia], and the state im-
mediately succeeding his release would have to be . . . . Jticmg. But jtiatiq
. . . . bears no resemblance to the prisoner's condition immediately after
his release; for the latter is expressly described as bewilderment and as
202 Griechisdie Literatur [259]
the belief that his present objects are less real than his previous objects
(515 D)." Not immediately, indeed. And Plato in the simile of the Cave
stresses over and again the hardships and the states of blindness, and at
the beginning of the prisoner's upward path we do not hear much of his
achievement. But then he must see the statues when he is dragged past
the road over which they are carried. This Plato expects the reader to
supply.
It is clear that "the viewing of the sun and the stars and actual
animals is dialectic" (p. 195), since Plato says so. But it is an error to
suppose that "the viewing of shadows and reflections in the real world,
and of the puppets in the Cave, and everything down to the very moment
of unchaining, is 'the work of the sciences we have gone through' (which
is certainly mathematics . . . .)" (pp. 195 f.). Ilaaa crijrn f) JiQcr/fxatsia xaiv
te/vwv ag 5nf|M>o(A.Ev (532 C 3) is by no means mathematics alone. It is
first, and for many years, gymnastic and music, the stages of education
that form the soul and prepare it for the logos long before its coming
(402 A 3). The difficult and possibly corrupt passage 521 C j ff. does not
include "everything from the moment of conversion to some moment
outside the cave in the real world." The word jieqkxywyti may contain a
remembrance of the turning-about of the fettered prisoners (515 C), but
the main stress is on "the soul being led around from some nightly day
to the true ascent of being(?)." If Robinson were right that the image of
the Cave "regards the domain of opinion as an undivided unity, re-
presented by the original state of the prisoners" (p. 197), the first stages
of education would have no representation in the Cave, and the images
carried across the cave would have no epistemological, or, if I am allowed
to coin the word, paideiological, meaning. In brief, I submit: The
shadows on the wall symbolize the world of those who have never, or
not yet, been "converted" through Platonic "gymnastics and music"; |
the puppets stand for the same world after these steps of education have
been taken-but calling it the same world betrays a superficial view: the
world has changed with the bodies and souls that have thus been trans-
formed.
This review may be unusually long, but Plato's Earlier Dialectic is
an unusual book. It grasps its subject with intense energy. It cannot be
read summarily; it must be worked through. It leaves the reader with
the conviction that he has learned a valuable lesson both where he agrees
with the author and where he must refuse to follow.
Review
Plato's Theology
by Friedrich Solmsen
1942
gods may be bought off by bribes and sacrifices) with its refutation has
no adequate treatment; it is squeezed into the discussion of the second
in no more than twelve lines (152). Had it been given its proper place,
it would become clearer that Plato's last decision in the disposal of each
of the three doctrines is to give the human choice between good and bad
a "fundamental, nay even cosmic importance". I am glad to quote Solm-
sen's own words. He has by no means neglected Plato's basic position.
But in his presentation of the third argument | it must have seemed
negligible to him. And yet, what could be more radical than to view
human injustice as a cosmic disturbancy and, consequently, to make
human decision between good and bad responsible for the greater or
lesser perfection of the universe? The reviewer still thinks that in his
own book (Platon II 672 ff., "Die Theologie") he shows the cosmic issue
on each of the three ways, and consequently their convergence, whereas
in Solmsen's opinion "no attempt is discernible to coordinate the different
aspects of the theological problem".
There is much to learn from this book about the history of philosophy,
law, and religion. The reviewer confesses that he has learnt most from
chapter X , dealing with "The Philosophy of Natural Law." We are
accustomed to consider Stoicism as the Greek source of the great juridical
tradition of the 17/18th centuries (Bodin, Grotius, Montesquieu). Solmsen
claims for the work of the aged Plato the leading part in this tradition
of natural law. "It is evident that the Stoics are greatly in his debt" (167).
"While he was anxious to restore the original unity of religion and
political life, he became the founder of 'natural theology' " (170) as well
as of natural law. The reviewer, to be sure, profoundly convinced of
the "unity of Plato's thought", cannot but doubt that the Laws in this
regard are really "a new departure" (168). The same impulse had been
at work long since, in the cosmic myth of Republic 10 and in the trilogical
connection of Republic, Timaeus, Critias; whereas the Laws contain the
final juridical, philosophical, and theological systematization. But this
may be a mere verbal criticism. It is after all Solmsen himself who refers
to a famous passage in Gorgias 507 E ff.: "The passage shows how early
Plato realized that the issues involved in the interpretation of the Uni-
verse were fundamentally identical with those confronting the moralist,
the political thinker, the statesman."
We do hope that Solmsen will continue the work so successfully
begun. He indicates an approach promising much: "to analyze the laws
embodied in Plato's last work, for these laws, if any, must correspond
to Plato's conception of the ideal type. What is the difference between
these laws and those actually obtaining in Greek cities?"
Aig xai tQig to v.aXov
1938
1. In Pindar's Nemean 7.104 (at the very end, a famous end, of the
poem) occurs xuvza 8e xpig Tstpaxi t ' «|j.koXeIv ajtogia teXe&ei (texvoicrv axe
[xaijnXaxag Aiog Kogivftog). To say the same thing again and again is
poverty. N o w , in the Philoctetes of Sophocles when Neoptolemus has
already told Odysseus that he is giving back the bow to Philoctetes,
Odysseus asks him again and again, thus testifying to his disbelief of
what seems incredible. Then Neoptolemus counters his inquiry with the
angry question: 815 tatita fJovXei xai Tpig avajtoXeiv Eitri;-which is not f a r
from Pindar. Whether Sophocles had this passage in mind-as I am in-
clined to believe-or whether both of them followed the same example,
is not very important. A similar dislike of tedious repetition (without
the very peculiar avajtoMv, to be sure) must often have been expressed.
As a topic of literary criticism we find it in the parabasis of the Clouds
(546): oi)5' iifiag tr|TO) '¡jajtatav 815 xai Tpig taiita Eiaaycov, <a).)' aei xaivag
iSsag elacpeQwv aocpi'Conai, and in the Platonic Phaedrus (235 A) where
Socrates censures the speech of Lysias: xai oiv |ioi e8o|ev 815 xai Tgig ta a w a
eiQrixEvai, wg ov itavu evnogmv Toi ito/.Xd Xeyeiv itegi toC avtov. Both passages
show the same dislike of repetition and preference for variety.
2. The other saying is entirely different and even in a w a y opposed
to the first. We meet it generally in the short form 815 xai tgig to xaXov.
But this wording, so far as I know, occurs only in the grammatical and
paroemiographic tradition, and inversely it is the only one which this
tradition knows 3 . So we cannot say whether it was alive in earlier times
or whether | we must consider it as a later abbreviation 4 . This uncer-
tainty remains when we turn to the earlier testimonies.
Empedocles justified one of the frequent repetitions in his poems5
by the statement xai 8ig yag, 0 8ei, xaXov eaxiv eviaiteiv (frag. 25). Plato
echoes this in the Gorgias (498 E): xai 8lg yao toi xai tgig cpaai xaXov Eivai
ta xaXa XeyEiv te xai eniay.oiteiaitai. The resemblance is striking. It cannot
be explained merely by the conjecture that both of them quote a com-
mon prototype. For if one should reconstruct this supposed prototype,
one would get xai 8ig yag . . . xaXov eoti . . . and then, after or before
xaXov effTi the infinitive of a verb of saying (evictjieiv ~ Xeyeiv) with the
accusative of a praiseworthy thing (0 8ei ~ to xaXov). It is quite unlikely
that both Empedocles and Plato should have followed this hypothetical
prototype almost verbatim. There can scarcely be any doubt that Plato
had in mind the famous verse of Empedocles 6 . But his word cpaoiv suggests
3
E . L. von Leutsch-F. W. Sdineidewin, Corpus paroemiographorum Graecorum (Goet-
tingae, Ruprecht, 1 8 3 9 - 5 1 ) : Zenobius 1.66; Gregorius 1.96; Diogenianus IV.20; A p o -
stolus VI.26. Also Sdiol. Plat. Gorg. 498 E and Suidas, s. v.
4
Entirely artificial they can hardly be, as Apostolius gives the nice enlargement 6ig
xai Tpig t o xaXov, t o 5e xaxov ovb' aita^.
5
C f . K . Reinhardt, Parmenides und die Gesdiichte der griedi. Philos. (Bonn, Cohen,
1916), j i f.
6
Sudi is also the opinion of the Scholiast on Plato 1. c.
208 Griechische Literatur [377)378]
that he was not the first to enlarge the Empedoclean xai 815, meant for
a special purpose, into an idiomatic 815 xai tpig meant for a more common
use. There must already have been a proverbial saying the exact wording
of which we cannot know.
A later passage of Plato is not far removed from this older one.
Instead of cpacriv he says efi 8' f| jtapoi^ia 5oxei e/eiv {Phil. 59E). The
"proverb" itself has the same elements that we found in the Gorgias: the
number 8ig xai tgig, the praiseworthy object to ys xaXdjg exov (instead of
t& xaXa), the recommendation Seiv (instead of xaXov eati). He has in mind
the same general form as before, he changes it slightly and introduces
into it a reminiscence from Pindar, EJiavaitoXEiv, thus demonstrating that
in recommending repetition he feels the antithesis to the Pindaric censure
of it. |
In the Laws (XII.956E) he uses a shorter wording: (euiohev |xev xai
itQoaflEv) xaXov 8e to ogftov xai 815 xai T(ng and (VI. 754C) 8ig yaq to ye
xaXov gr^Ev oijSev fW.ajtTEi-the latter being the only example in which he
omits the significant xai before 815 ("even twice"), which can be traced
back to Empedocles, though, on the other hand, this is the only example
in which he does not enlarge the simple (Empedoclean) 8ig through the
proverbial or idiomatic xai TQig.
From later times one may quote for example Galen's (Ilspi ijiD/fig
j t a M v , p . 16, 6M) apologetic parenthesis uiteg yag tcov dvay-xaioxaTcov ov8ev
xeiQov eoti x a i 5ig x a i TQig Xeyeiv TaviTa,—where even x a i 8ig shows that the
Empedoclean-Platonic line is kept.
II
To sum up: Plato once uses 8ig xai Tpig where he censures repetition,
he uses xai 8lg xai Tgig three times when he justifies it. Now we must take
the last step, a rather bold one, but one which would justify this whole
critical and somewhat pedantic survey-if our supposition can be sup-
ported by adequate evidence.
In Plato's Pbaedo a decisive point of the narrative is readied when
the man in charge of the poison7, not the jailer, asks the prisoner to debate
as little as possible, because otherwise it would be necessary to provide
the poison more than once. Socrates rejects this suggestion to abstain
from discussion, i.e. from being Socrates, and directly begins his first
disputation. Of course we need not deny the "historical" character of the
small incident, when we lay stress on the significance which Plato lends
to the mere fact 8 .
7
I stress this distinction because I must censure myself for having overlooked it.
» C f . P. Friedländer, Platon I I P , i960, 3 j.
[378/380J Aig xai tpl; xo xaXov 209
But until now we have neglected certain words which Plato ap-
parently emphasizes by repetition. The man in charge of the poison says
that sometimes those who grow hot with discussion are compelled to
drink even two or three times (xai | 8ig xai tgig juveiv). And Socrates
rebukes him by echoing the words: he shall prepare himself to give the
drink even twice, and, if it is necessary, even three times (xai 8ig 8(baa>v,
eav 8e 8exi, xai Tpig). That is not only the more idiomatic 815 xai TQig of
the Phaedrus; it is the emphatic xai 5ig xai rgig which we know from the
Gorgias, the Philebus, and the Laws. And this emphatic phrase Plato
emphasizes still more by putting it twice and perhaps, too, by separating
at the recurrence xai Tpig from xai 8ig, so that each of them gets its own
stress. This can hardly be mere chance. When Plato said xai 8ig xai tgig,
must he not have had in mind something like-to put it in the words of
the Laws-ncd 8ig xai tgig to ogfrov, or something like-to put it almost in
the words of the common proverb-xai 8lg xai tpig to xaXov? That trivial
man, if we catch Plato's intention, uses the words in a trivial sense; but
Socrates by repeating and stressing them makes us feel that the poison
is something oq^ov or xaXov.
That may at first sound fanciful. But those who are acquainted with
Plato's art well know that there is hardly any bare fact in his philoso-
phical dramas, that there is no fact which does not transcend mere
actuality to attain some kind of symbolic meaning. A whole series of
such "facts" occurs even in the Phaedo; I do not care to repeat what I
have said about them elsewhere9: the introductory story of Apollo as
the saviour of Theseus and the Athenians, the dream of Socrates and his
composing a hymn to Apollo, Socrates rubbing his leg and talking about
the connection of pleasure and pain, the command to bury not Socrates
but the corpse of Socrates, the veiling and the last unveiling of the dying
Socrates, his order to sacrifice a cock to the healer-god. I refer only to the
passage toward the end of the dialogue where the man with the poison
enters. Socrates asks him, as the expert in those matters (av yag tovtcov
EjuoTrifiwv), what he should do. After having received the exact instruc-
tions he takes the cup out of the hands of the man and then desires to
know whether | he is allowed to make a libation. To offer poison to the
gods must sound sacrilegious to everyone who is not aware that Socrates
with a paradoxical inversion takes the poison as a thing of bliss, a xaXov.
Thus those two small scenes between Socrates and the man in charge of
the poison-the only scenes of the dialogue which bring them into contact-
correspond with each other. The interpretation of the second one cor-
roborates our conjecture about the xai 8ig xai Tpig of the first.
9
Op. cit. (see note 8), 1.162; II.341-344.
Plato Phaedrus 245 A
1941
while Homer (B $95 ff.) even knows of a singer who challenged them
and lost his eyesight and his art. Pindar's paean tells something quite
different and quite new. It establishes the contrast between the inspired
poet and the mere craftsmen-Pindar's adversaries, no doubt. This con-
trast, fitting into his general antithesis of qptia and SiSaxxov ( O l y m p . 9.
ioo) 5 , is all the more important, as Pindar himself not only is a great
artificer but is conscious of being one (Ne. 7. 78). Yet he owes even his
craftsmanship to the Muses, whereas the others rely upon their own
wisdom. Now it may easily be that the paean is not only for us the
earliest expression of this contrast of genuine and uninspired poetry but
that Plato kept the pro-oemium in mind as the locus classicus for that
idea.
5
Cf. H. Gundert, Pindar und sein Diditerberuf (Frankfurt a. M., 193$), pp. i j if.
Gundert seems to have overlooked the paean.
Akademische Randglossen
i960
1 Siehe Aristotelis Fragmenta ed. Rose (1886) p. 428. - Rose druckt TaxgcotTioiov, gibt
aber im A p p a r a t T[ ]i)TF|Qiov, das heißt doch w o h l T [ a x g o ] T)TT|piov oder besser
x[à)tpo]atrieiov. àx{>A>TT|Qiov und àxgoaTTigiov sind z w e i ganz verschiedene Wörter,
die man nicht vermengen darf. - Z u den Ä u ß e r u n g e n Piatons, mögen sie echt sein
oder anekdotisch, siehe W . K r a n z , Platónica, Philologus 102, 1958, 80 ff. ( = Studien
zur antiken Literatur, 1967, 320 ff.). U m den zweiten „ V e r s " als Vers z u retten,
verweist ihn P. Maas (ebendort S. 83 A n m . 1) in die Kaiserzeit - höchst u n w a h r -
scheinlich. W e n n wir keine authentischen Ä u ß e r u n g e n Piatons vor uns haben, so sind
die W o r t e doch wahrscheinlich gleichzeitig oder w e n i g später.
Geschichtswende im Gedicht
Eduardo Norden
septuagenario
i. Die Tyrannenmörder
1
Warum Stobaeus, Ecl., I, 8, 2 2 : 2t(i,ümör|; EJTIYQAJI^OITCOV • 8 TOI xpovo? ö86vxa?
nat ndvxa tprixsi x a l x a ö w a i o x a x a „sicherlich nicht aus einemEpigramm genommen"
sein könne (Wilamowitz a. O.), leuchtet nicht ein. Die Zeit hat, wie sich weiterhin
zeigen wird, eine große Bedeutung in den echten Aufschriften.
2
Amer. Journ. Ardi., 1 9 3 6 , 190; Hesperia, 5, 1 9 3 6 , 3 5 5 ff.
214 Griechische Literatur [90/91J
3
Darstellung des Menschen in der älteren griechischen Kunst. Straßburg 1899.
4
Aisch., Pers., 300; Eur., Hek., 8 4 1 ; Bakch., 608.
5
O f t abgebildet, z. B. von M. Hirsch, Klio, X X , T a f . 1 - 4 ; Langlotz, Martin-Wagner-
Museum Würzburg, Griechische Vasen, N r . j i j , T a f . 1 8 2 - 8 3 .
[91/93] Gesdiiditswende im G e d i A t 215
geschlossen". Nun ist freilich auch das in sich Abgeschlossene der Erwei-
terung fähig, zumal in vorklassischer Zeit, die noch nicht größere Bezirke
einheitlich durchorganisiert und den Teil selbständiger ausbildet, als es der
klassischen Zeit recht ist6. So erscheint jetzt nach dem neuen Fund auf
dem Staatsmarkt das literarisch überlieferte Distichon als die erste Hälfte
eines Gedichtes, dessen zweiter Teil die Gewinnung der Freiheit feierte.
Denn irgend etwas wie [.... ev eAeuOequii] jtaTQiöa yrjv eöetriv muß da-
gestanden haben. Ueberblickt man das Ganze, so fällt die Ähnlichkeit
mit dem Harmodios-Skolion in die Augen: cke töv -njQotvvov xTavernv ent-
spricht dem ersten Distichon, iaovo | not)? 6' 'Aftrjvag Ejtoirjaärriv dem zwei-
ten. Und man könnte in dieser Ähnlichkeit einen Beweis sehen dafür, daß
die Aufschrift von vorn herein vierzeilig gewesen ist. Aber ebenso möglich
ist eine andere Deutung. Die Basis, von der das Fragment stammt, hat
(nach der überzeugenden Begründung des Herausgebers B. D. Meritt,
Hesperia, 5, 1936, 355 ff.) die Gruppe des Kritios von 477 getragen,
nicht die des Antenor von 510. Nun ist man sich wohl einig darüber7,
daß nach dem Abzug der Perser dem Kritios der Auftrag wurde, nicht
das geraubte Monument durch ein ganz neues zu ersetzen, sondern es
wiederherzustellen - wobei es sich versteht, daß er diesen Auftrag nur
mit den künstlerischen Mitteln seiner Generation ausführen konnte. Was
für die Gruppe gilt, wird auch für die Inschrift zu gelten haben; denn
erst beide zusammen bilden das Monument. So hat der Herausgeber des
neuen Basisfragments (a. O. 358) es für die wahrscheinlichste Annahme
erklärt, die Inschrift habe ganz so schon auf der älteren Basis gestanden.
Aber besteht nicht neben dieser Möglichkeit noch eine zweite: daß dem
älteren Denkmal nur das erste Distichon angehört habe, und daß 477 die
Aufschrift nicht nur erneuert, sondern auch erweitert worden sei? Er-
weitert vielleicht darum, weil qpöcog yivEto für die Männer von 510 ein-
deutig war, für die Generation von 480 nicht mehr? Am wenigsten hätte
es gewiß für sich, wenn man der Antenor-Basis eine völlig andere In-
schrift zuschreiben wollte. Auf alle Fälle drückt das erste Distichon, über
das wir allein urteilen können, als ein „in sich abgeschlossenes" Ganzes
die Gesinnung schon der Männer von 510 aus.
Das Epigramm ist also kein „Trinkspruch in elegischer Form". Es
ist Teil eines Monuments und selber Monument. Denn so deutlich die
Verwandtschaft mit den Skolien, so klar auch der Abstand. „Ich will im
Myrtenzweig das Schwert tragen". „Liebster Harmodios, du bist nicht
gestorben". „Immer wird euer Ruhm dauern". „Wehe, Leipsydrion, was
für Männern hast du das Leben gekostet!". „Schenke du auch dem Kedon
ein!". „Geld und Leben dem Kleitagoras und | mir!". Dieser verbindende
Klang des Ich und Du herrscht in den politischen und den meisten andern
6
Vgl. z. B. meine Bemerkungen, Gött. Gel. Anz., 1 9 3 1 , 265 f.
7
Vgl. vor allem Studniczka, N . J . Kl. Alt., 9, 1906, $46 ff.
216 Griechische Literatur [93 ¡94]
Skolien. Davon hebt sich der großartige, unpersönliche Ton des TH ¡xey'
'Adrivaioiai deutlich ab. Das ist für die Öffentlichkeit des Staatsmarktes
instrumentiert, nicht für den engeren Kreis eines Symposions oder einer
Hetairie.
Die Gesinnung freilich, d. h. die Deutung die dem Attentat gegeben
wird, ist in den Skolien die gleiche wie in dem Monument und seiner
Aufschrift. Diese Deutung, man kann fast sagen: produktive Geschichts-
fälschung, war - wie Herodot, Thukydides, Aristoteles erkennen lassen -
in höherem Grade politische Tat als das Geschehen selbst. Wem ist sie
zuzuschreiben? Gewiß nicht dem Kreise des Isagoras, des „Tyrannen-
freundes" 8 . Dann also aller Wahrscheinlichkeit nach dem Manne, der im
Sinne der so gedeuteten Tat wirkte: Von dem Geist des Kleisthenes wird
in unserer Aufschrift etwas kenntlich sein.
Die kanonische Form des Epigramms auf den Polyandria von 480
ist das Monodistichon. Dieser Satz gilt nicht für Athen, außerhalb
Athens aber streng. Das kann nur bewußter Wille sein. Denn man war
sonst auf Inschriften längst beim elegischen Vierzeiler angelangt (Hiller,
7, 9). Für das Einzelgrab des Sehers Megistias hat ihn Simonides sogar
an den Thermopylen verwendet (Hiller, 17). Die Athener haben ihn
auch auf den öffentlichen Monumenten dieser Jahre nicht vermieden 9 .
Aber die Spartaner und ihre Bundesgenossen an | den Thermopylen (Hiller,
15 ff.), die Korinther auf Salamis und am Isthmos (Hiller, 20, 22) haben
sich auf die knappe Form des einen Distichons beschränkt. Vielleicht darf
man sagen: das war spartanischer Stil, Awpio; a ueXetoi, am Thermopylen-
8
Aristoteles, A t h . Pol., 20, 1.
9
Hiller, 1 1 = Geffcken, 65, jetzt ergänzt durch den Fund auf der A g o r a : Hesperia, 2,
1 9 3 3 , 4 8 0 ; 5, 1 9 3 6 , 2 3 2 . D a z u Hiller v . Gaertringen und Peek, Hermes, 69, 1 9 3 4 , 204,
3 3 9 . P . M a a s , Hermes, 70, 1 9 3 5 , 2 3 5 . Arvanitopulos, 'EM.r|Vixr) ' E m y e a q J i x f i , 1 9 3 7 ,
1 1 8 (mir durch die Freundlichkeit des Verfassers bekannt). - Hier sei nur Folgendes
bemerkt: 1 ) A n dem Urteil A d o l f Wilhelms, daß das erste der beiden Epigramme v o n
der H a n d desselben Steinmetzen sei wie die Hekatompedon-Inschrift v o n 485/4 ( A M
2 3 , 489 ff., A n z . Wiener A k a d . , 7 1 , 1 9 3 4 , 108 ff.), läßt sich nicht rütteln. A b e r darum
ist noch nicht einzusehen, weshalb es nicht auch einige J a h r e früher oder später hätte
eingemeisselt sein können. 2) Die E r g ä n z u n g Jte^oi te[v ist wegen des bestimmten
Artikels stilistisch sehr unbefriedigend. Hingegen Jiei^oi te mit folgendem y.ai oder te
ist seit H o m e r geläufig. D a s spricht also für die Richtung, in der Hiller v . Gaertringen
und M a a s die Ergänzung versucht haben. 3) Die beiden Epigramme sind keine K o n -
kurrenzgedidhte. Denn das zweite ist v o n anderer H a n d nachträglich auf den Stein
gesetzt. A l s o brauchen sie sich nicht auf dasselbe Ereignis und nicht einmal auf das-
selbe Kriegsjahr zu beziehen. Selbst das ist nicht ganz undenkbar, daß das zweite
Epigramm auf ein älteres Ereignis gehen könnte als das erste. - D a s Problem ist alsc
durchaus in der Schwebe.
[94)95] Geschithtswende im Gedicht 217
Will man aber annehmen, diesem Distichon sei ein anderes, jetzt fehlendes,
vorausgegangen, so verletzt man den K a n o n , den w i r am A n f a n g
formuliert haben. Freilich ist das evft&ÖE xeivtai überhaupt nicht ausge-
drückt. Es verstand sich — mit Unrecht, w i r d mancher kritteln - von
selbst oder mochte von dem benachbarten Stein der Spartaner abgelesen
werden. | Toi not' Evaiov wie auf dem Stein der Korinther in Salamis noy.'
Evaio[i£g (C). D i e Ortsangabe, Thespiai am Helikon, ist zerlegt auf die
beiden Sätze. Das ist vielleicht in dieser dorischen Schlichtheit eine kleine
Künstelei, f ü r die man aus gleichzeitiger Chorlyrik Entsprechungen bei-
bringen kann. (Statt „Bringe dem Vater Kleodamos die Botschaft" sagt
Pindar, Ol. 1 4 , 2 1 : „ G e h und bringe dem Vater die Botschaft, auf daß
du dem Kleodamos, wenn du ihn siehst, ansagest . . . " ) . Toi relativisch,
twv demonstrativisch, auf einander bezogen, ävbgeg statt avöowv nach toi
gerichtet mit „umgekehrter Assimilation" 1 1 , wodurch das Richtwort des
Ganzen im Nominativ an den A n f a n g des Ganzen kommt. Mit M||«m,
dem kühnen Willen dieser Männer, beginnt der Nachsatz und zugleich
der zweite Vers. W o Acogia ¿o^oya herrscht, kann H ä r t e des Stils kein
Einwand sein.
Aber freilich, jeder w i r d dem doch recht verwandten Gedicht auf
die bei Salamis gefallenen Korinther den Vorzug geben:
D e r Gegensatz des Einst und Jetzt, des D o r t und Hier, des aktiven
Evaio[iEg und des passiven Ä|xe exei, der Heimat und der Fremde ist scharf
ausgeprägt und auf die beiden Verse verteilt. Klarer also und dabei doch
schweigsamer als das thespische Gedicht. In dem einen Wort ewôqov lebt
Korinths Stolz auf die Peirene-Quellen. Mit Salamis mythischem Ruhm
verbindet sich (unausdrücklich) der der jetzigen Toten 12 .
U n d nun das Gedicht auf die Opuntischen Lokrer:
D (Hiller, 18 = Preger, 22):
ToviaÔE jtotè cpih|xÊvouç weg 'EXXâôoç àvxia Mt|Ôcdv
Hr)TçôitoXiç Aoxoùv exiôdvôhcdv 'Ojiôeiç. |
So, ohne Verbum, ist das Gedicht überliefert. Unvollständig kann es
nicht sein. Denn den Kanon des Monodistichons zu überschreiten hätte
die Sitte oder hätten die Amphiktyonen verwehrt. Im Pentameter kann
kein Fehler sein: so wohl abgewogen füllen ihn die vier schweren Worte,
in denen Opus den Ruhm für sich beansprucht, Mutterstadt aller Lokrer.
auch der durch Zaleukos' Gesetzgebung berühmten epizephyrischen, zu
sein. So pflegt man (mit Meineke) das anscheinend wehrlose noté in
jioôeï zu ändern. Aber man vergleiche die folgenden Epigrammanfänge:
Anth. Pal. V I I 270 Toûaôe jtot' êx Snaerryg, 25 6 Oïôe rare' Aîyaioio, 443
TrâvÔé j i o T E axépvoiai, 564 Tfjiôé not' à x T E Q É i a t o v , Hiller 26 Tôvôe Jtoft'
"EXXr|V£ç. Dann wird man an dem formelhaften Tovoôe jtote kaum noch
zu rütteln wagen. Aber auch sonst hält Jtoôeï bei genauerem Nachdenken
nicht stand. In dem attischen Gedicht auf Poteidaia (Hiller, 53, III) steht
freilich jioûeî. Hier hingegen, w o wir im Kreise des strengen spartanischen
Ethos sind, wird mancher mit mir das Wort als zu gefühlvoll empfinden.
avxeï ja, Jtoftei nein! U n d auch formal widerspräche die Trennung des so
weit vorausgenommenen Verbums von dem erst im Pentameter folgenden
Subjekt der schlichten Wortfolge dieser Monodisticha. Man vergleiche
wiederum B und sehe, an welcher Stelle crâ/EÎ steht 13 . Wenn demnach
J t o t è richtig ist, so gehört der Hexameter ganz den Gefallenen, der Penta-
meter ganz der Stadt. Das gibt ein gutes klares Gegenüber ohne Über-
schneidungen. Sollte also von A n f a n g an kein Verbum dagewesen sein?
Das Fehlen des Verbums, in Weihinschriften geläufig, ist auch in Ehren-
inschriften nicht selten: 'H jiôXiç oder 'H ßouXr| oder 'O ôfj^oç tôv ôsïva.
Freilich reichen diese Ehreninschriften nicht in so frühe Zeit hinauf. Aber
sie zeigen doch, wie leicht es für griechisches Sprachdenken war, ein
àvéftîixe und àvéaTT)<j£ und Exi^r|a£ im Monument selbst vergegenwärtigt
zu sehen, so daß es der besonderen Aussprache nicht bedurfte. Die A n -
näherung der Grabschrift (zumal einer, wie wir sehen werden, erst später
gesetzten) an die Ehreninschrift würde | man leicht verstehen. U n d über
alle Analogie hinaus muß man vielleicht mit einem ganz individuellen
Knappheitsstreben redinen.
14
A u f Herodot, V I I I , 89, hat schon Bergk verwiesen, man kann V I I , 61 f., hinzufügen.
15
S o schon Preger. Das ist keine „ A u s r e d e " , wie Wilamowitz, Sappho und Simonides,
1 9 4 , schilt, sondern die richtige Deutung des sprachlichen Tatbestandes.
220 Griechische Literatur [98j99]
hat nicht auf dem Polyandrion in Marathon gestanden: ein „hier" könnte
sonst nicht fehlen. 'EXXrjvcav jtgo^axoövTEg zu sagen war wohl erst aus
der Perspektive von 480/79 möglich. Und man möchte mit diesem starken
und stolzen Gedicht, das doch gegenüber dem spartanischen ruhmredig
ist, gern noch ein Stück tiefer hinabgehen. Stand es wirklich | - was nicht
sicher ist — in der Stoa Poikile, so ist es ohnehin später als 460 (vgl.
v. Hiller) 16 .
Es fehlen in diesem Gedicht alle jene Splitterwörter, die sonst das
Griechische so beweglich madien. Die schweren Worte in schönstem
Gleichgewicht, je 2 in jeder der 2 mal 2 Vershälften: das ist bewußte
Kunst, man darf wohl sagen: echt attische Form. Die Beschränkung auf
das eine Elegeion aber ist, wenn wir den Ausgangspunkt richtig genom-
men haben, Rückgriff auf den durch Sparta bestimmten Stil von 480.
Und nun stelle man neben F das Gedicht
G (Preger, 274):
riaiöeg 'Aftr)vaiü>v IlEpacüv a t g a t o v k'E,o/.£aavxeg
f|Qv.Eaav äQyaliv\v jiatgiöi 5o\jXoawryv.
14
So ist die Weihung für Marathon in Delphi frühestens aus den 60er Jahren des
V . Jahrhunderts. Vgl. E . Loewy. S. B. Wiener Akad., 1937, 14 ff.
[991101] Geschichtswende im Gedidit 221
Und doch mögen einige Beobachtungen und Fragen nicht überflüssig sein:
i) Die vollkommen schlichte Wortstellung, die sich von Prosa nicht unter-
scheidet, hat dieses Monodistichon mit den übrigen gemeinsam. 2) Dabei
zeichnet es der harte Einschnitt tt)iöe || xsinefta vor allen aus. Er läßt dem
tt}iöe | nachsinnen, dem Worte des Gedichtes, das am meisten Unaus-
gesprochenes zu tragen hat. tfjiÖE gewinnt noch an Stärke durch den
Gegensatz des knappen xeivcov: wir hier draußen - die dort in der Heimat.
3) Die Anrede « ^eive, die unser Gedicht mit C verbindet, hat es vielleicht
früher nicht gegeben. Man ruft vom Grabe den Vorübergehenden avÖQWJtE
zu (Geffcken, 41) oder nagobmxa (Geffcken, 90) oder eite ötaxög xig avr)o
eite Ievog äXXo^Ev eXMv (Kaibel, 1 = Geffcken, 47) oder xoupete toi
TcagiovTEg (IG X I I , 9, 28 5) 17 . Hingegen die Korinther auf Salamis, die
Spartaner an den Thermopylen liegen Eni leviag, können also immer nur
einen isvog anrufen. Man empfindet: in u Ieive liegt Stolz und Klage
zugleich. 4) Was aber die Anrede der spartanischen Aufschrift einzig
macht, ist dies: Sonst wird der Vorübergehende angerufen, um eine Kunde
zu vernehmen. Höchstens wird er aufgefordert, das zu tun, was er ohnehin
täte: oixTiQE. Hier aber wird etwas nie vorher Erhörtes von ihm gefordert:
er soll in Sparta eine Meldung erstatten, die Leonidas selbst nicht mehr
erstatten kann. Es versteht sich, daß das erst zu allerletzt ein „künstlerisches
Motiv" ist. Die Meldung (sie hieße heut: „Befehl ausgeführt!") gehört
zum soldatischen Dasein 18 . Aber von den Dreihundert kann sie nicht
einer erstatten. So rufen die Toten den vorübergehenden Fremden dazu
auf. Was sonst Ungebühr wäre, das haben diese Männer ein Recht von
jedem zu verlangen, j) Daran schließt sich die Frage: Gehört vielleicht
der scharf befehlende Infinitiv (den die Späteren nicht mehr verstanden,
daher die Aenderung ayyEÜMv, än&yyeO.ov) zur Befehlssprache des Militärs?
In der Gesetzessprache sind solche Infinitive geläufig: TditoUom fhjeiv.
TävxEQCt e|cü xXv^eiv. Töv öixaa-rav ¿¡iviivxa xqiveiv. "Aq/eiv ¡xev ßouXfjg öeo-
Ti|ir|TODg ßaaiXfjag. Ebenso in der damit verwandten ethi'schen Mahnung:
|iri v.av.ä xEQÖaivEiv (Hesiod) 19 . Ebenso im befehlenden Ausruf des Herolds:
'Axovete /.eck . xaxa xa jtaxQia toxi; Xoag jiiveiv tinö xf)g aähmyyoq, (Aristo-
phanes, Ach. 1000). 'Axovete Xecdi . Tovig jioXixag . . . ämEvai... axojtEiv öe . . .
(Arist., Vögel, 448). Und Thukydides läßt den Brasidas in einer Rede, da
wo er einen militärischen Befehl gibt, sagen (V 9, 7): av de KXeagiöa . . .
al(pvi8i(og Tag iniXag avoilag ejiex&eiv xai EJtEiYEC&ai (bg Taxicrca au[iu,£i|ai.
Der präsentische Infinitiv scheint dabei zu überwiegen, und so hebt sich
unser u> |eive äyyeXXeiv deutlich ab von dem anders gearteten ßaax' I-fh . . .
17 Ob i=8ive in Kaibel, 4 = Geffcken, 44, richtig ergänzt ist, wird nun noch zweifelhafter.
Aber auch in JG I 2 985 ist |etve ganz ungewiß. (Man muß auf die Veröffentlichung
von U.Köhler, AM 10, 1885, 403, zurückgehen.) Man könnte z . B . ergänzen [ 2 o i
t68e afjfi' 'AqxiJve [jta]xr|p KaX(X)aiaxP°S £d[r)xev] oder Xaglve oder Eu^eive.
w Zutreffend R. Heinze, N. J. f. d. kl. Alt., 18, 1915, 6.
19 Vgl. E. Ahrens, Gnomen in griediisdier Diditung, Diss. Halle. 1937, 107.
222 Griechische Literatur [1011102]
jtavxa xä8' ayytikai in der Ilias O 159. 6) Und eine andere Frage: Gehört
dann auch jenes Tfjiöe zur militärischen Sprache („Hier!")? Aus Kultver-
sammlungen kennen wir es: ti? xrjiöe; jioUoi xävaftoi. 7) „ihren Worten
gehorchend", d. h. dem militärischen Befehl. „Das V o l k " , sagt R. Heinze,
a. O . 7, „hat die 300 Spartaner ausgesandt mit dem Befehl, um jeden
Preis den P a ß zu halten. Diesem Befehl hat Leonidas gehorcht". N u n
ist aber dieser Gehorsam keineswegs mit hier neu geprägten Worten
benannt. pruiaai raiftonevog (mit vorher gehendem genet. plur. otvfrQcbjtcov)
und x e V a a i JtEtftonevog ist geläufiger Pentametersdiluß bei Theognis (194.
1152. 1238 b. 1262). xc^U-iaca iteifronsvoi schon bei Solon 3, 6 (vgl. eQY^a<Jl
jisiftö^Evoi Solon 3, 11). Es ist also wahrscheinlich, daß auch prinaai
jiEift6(i.Evoi der frühen Elegie angehört, und sehr denkbar, daß die Formel
so oder ganz ähnlich schon im Tyrtaios vorkam 20 . Wenn der Dichter des
Grabelegeions auf die alte, wohl altspartanische Elegie zurückgreift, so
heißt das nicht, daß er sich die Sache leicht gemacht habe (die Frage nach
der sogenannten Originalität ist dem inschriftlichen Epigramm überhaupt
und nun gar diesem Gedicht gegenüber falsch gestellt), sondern dies:
die Mahnung des alten Gedichts, vielleicht also geradezu des spartanischen
Mahners Tyrtaios, hat | ins Leben gewirkt und klingt von da auf den
Grabstein zurück - um, ganz mit geschichtlicher Wirklichkeit gefüllt,
wieder ins Leben weiter zu wirken.
20 Vgl. zur allgemeinen Form des Pentametersdilusses Edveaiv Elö6[ievoi Tyrt. 1,8;
XEQaiv dvacxonevoi 1, 13; äxftsoi xei()6|ievoi 5, 1; itaxpiöi napvd(j.Evov 6, 2; dvöpaai
napvoinevoi 7, 18; und zum Inhalt 1, 15: (iovir|i jtEia6(ied' fiyenovcov.
21 Auskunft über die Diodor-Oberlieferung verdanke ich R. Laqueur.
[1021103] Gesdiiditswende im Gedicht 223
Kritische Erörterung. - „So viel steht fest, daß es auf einem öffent-
lichen Monument kein vergleichbares Gedicht gibt", sagt Wilamowitz,
Hellenist. Dicht. I 128, mit Recht. Aber daß darum das Epigramm „auf
einem attischen Weihgeschenk des V. Jahrhunderts nicht hat stehen
können" - so Ed. Schwartz, Hermes 35, 1900, 118 - ist kein bündiger
Schluß (wobei die Gattung des Monuments vorläufig noch ganz auf sich
beruht). Könnte man zeigen, daß das Denkmal | in einem „unvergleich-
baren" geschichtlichen Augenblick errichtet worden ist, so wäre vielleicht
die Unvergleichbarkeit des Epigramms gerechtfertigt.
Domaszewski22 und Wade-Gery 23 verteilen die vier Distidia auf zwei
durch einen Zeitabstand von fast zwei Jahrzehnten getrennte Denkmäler:
vv. 1-4 sollen auf die Doppelschlacht am Eurymedon (etwa 466), vv. 5-8
auf die Doppelschlacht bei Kypros (449/48) gehen. Die Schwierigkeiten
dieser These sind folgende: 1) vv. 1 - 4 geben überhaupt kein vollständiges
Epigramm des V. Jahrh. ab. Nimmt man sie als ein solches, so würde
diesen allgemeinen Sätzen jede sachliche Bestimmtheit fehlen. Das Epi-
gramm würde also eine Ergänzung durch eine prosaische Inschrift oder
durch ein zweites Epigramm fordern 24 . Was tut man also? Man beseitigt
die zweite Hälfte und muß dann das unvollständig gewordene Gedicht
durch einen nicht überlieferten Zusatz ergänzen. Ein bedenkliches Ver-
fahren! 2) vv. j - 8 sind so lange kein vollständiges Epigramm, als es
nicht gelingt, den Anfang als Anfang herzustellen. Weder oi8e xai noch
oiöe niv ist überzeugend. Wade-Gery hat selbst diese Schwierigkeit deutlich
erkannt. Loewys erstaunliche Hypothese 25 , daß das yäg am Anfang die
Erläuterung eines benachbarten Gemäldes übernehme, müßte sich auf
irgend eine Analogie stützen, um glaublich zu sein, yäg begründet die
vorhergehenden Worte. Es ist bisher nicht gelungen, dieses Scharnier, das
die zweite Hälfte des Gedichts an die erste fügt, zu beseitigen - ebenso
wenig wie es gelungen ist, vv. 1 - 4 als vollständiges Gedicht zu recht-
fertigen. 3) Für die Einheit des 8-zeiligen Gedichts spricht Ephoros; denn
wenn er es auch falsch interpretiert, so interpretiert er es doch als ganzes.
Aber schon im V. Jahrhundert ist das ganze - und nicht nur die erste
Hälfte — nachgeahmt worden in der bekannten Inschrift des lykischen
Dynasten, Kaibel 768. Denn da schließt sich an den ersten Vierzeiler eine
22
SB Heidelberg, 1914, Abh. 10.
23
JHS, 53, 1933, 82 ff.
24
So richtig Ed. Schwartz, a. O. 121.
» SB Wien, 1937, 27.
224 Griechische Literatur [103)105]
26
L. Weber, Philologus, 74, 1917, 49 f.
27
Die Nachahmungen geben hier nichts Sicheres aus. Man hat sogar den Eindruck, als
seien beide Versionen schon frühzeitig umgelaufen. Die lykische Stele Kaibel 768 hat
zwar oööe'i; jico Auy.torv aTr)Xr)v TOiävöe äv£{h)>cEv, aber in der anderen Nach-
ahmung Kaibel 844 steht otiöei? . . . (xei^ovafrvriTcöv.Und wenn Diodor XI, 61,7,
schreibt: veviutixote? öiio xaXXiatat; vlxag, xfjv |xev xaxä yfjv, xf|v öe xaxa MXax-
xav- otiÖEJtc0 yäq (ivruxovEiiovxai xoiaöxai y.ai xriXwcaüxai jtpä§sis YEVEcrdai, so
hat er - oder Ephoros - zwar toioütov im Text des Epigramms gehabt, aber es sieht
fast so aus, als habe er audi xdXXiov gekannt.
[105j106] Gesdiiditswende im Gedidit 225
Urteil braucht der heutige Historiker nicht zu teilen. Aber er darf es den
Zeitgenossen nicht bestreiten, daß sie so urteilen konnten. W i r werden
sogar dieses Urteil selbst als historisches Faktum zu buchen haben. Keine
schönere T a t als die Doppelschlacht bei Cypern, selbst die 20 Jahre zurück-
liegende Doppelschlacht am Eurymedon eingeschlossen: so wollte man es
alsbald nach dem Ereignis.
b) Diese letzte Darlegung a) behält, scheint mir, auch für den unwahr-
scheinlicheren Fall ihre Geltung, daß nicht xaXXiov sondern toiovtov die
ursprüngliche Lesart ist. Selbst toioötov würde meines Erachtens nicht zu
dem Urteil Wade-Gerys berechtigen, „that if these two lines do not refer
to the Eurymedon battles, I think w e must resign ourselves to attaching
no meaning to the metrical inscriptions of fifth-century Athens". Denn
in diesem emphatischen Satz ist eins übersehen: es geht hier nicht um ein
objektives geschichtliches Urteil sondern um ein zugleich poetisches und
politisches, gesprochen aus bestimmter geschichtlicher Situation, der
von 449/48.
Interpretation. - Läßt sich also das Epigramm nicht in zwei Vier-
zeiler zerlegen, so ist doch in dieser unrichtigen These etwas Richtiges
gesehen: zu Grunde nämlich liegt die Form des Doppeldistichons: Oiöe
nag5 EÜQD|iEÖovTa (Hiller, 42), | Oiöe küq' 'EXM|0jh)vtov (Hiller, 52
= Geffcken, 86 = Hicks-Hill, 46). In A t t i k a hatte man sich dem Gesetz
des Monodistichons auf seinen öffentlichen Grabmonumenten niemals
durchaus gefügt. Der Vierzeiler überwog, und diese herrschende Form
hat der Dichter des Kypros-Epigramms ins Außerordentliche erweitert,
nämlich indem er in zwei vorausgeschickten Distichen eben dies eine
ausspricht: das Außerordentliche; noch nie (1-2) ist etwas Schöneres
geschehen (3-4).
Mit einer Ausweitung der Zeitdimension bis in die fernste Vergangen-
heit setzt das Gedicht ein. Das Epigramm auf König Midas' Grab, das
dem Homer oder dem Kleobulos zugeschrieben ward, "Eox' av üöcop te
ger)i xai ösvögea nor/.pä TEÖr)Xr)i, gibt eine ähnliche Ausweitung in die
Zukunft. Die Zeit freilich ist in jenem unhistorischen, noch halb
mythischen Gedicht nur als Naturdimension erfaßt 28 . In dem geschicht-
lichen Epigramm herrscht die geschichtliche Zeit. Schon die N a t u r in v. 1
enthält einen Hinweis auf die geschichtliche Welt: die Trennung Europas
und Asiens durch den Hellespont steht am Anfang, weil der Perserkrieg,
der jetzt zum Ziel gekommen ist, sich aus dieser Urbestimmtheit der Natur
erhebt. Und eben um dieses Krieges willen sieht v. 2 die ganze Mensch-
heitsgeschichte an als vom Kriege bestimmt: König Krieg oder Gott Ares
waltet über den Städten der Menschen. Der geschichtliche Aspekt dieses
Distichons ist ähnlich wie im A n f a n g von Herodots Werk (I, 4): Aus der
ursprünglichen Trennung (xExoopiaftai) von 'Aciri und Euqcojiti erwächst der
kriegerische Gegensatz seit dem troischen Kriege (dotò totjtou <ki). Und
etwa in dieselbe Zeit gehört Choirilos von Samos, dessen Gedicht damit
beginnt, oitcog 'Aairig aitò ya^l? t)M)ev è; Evig6jtr)v noXe^o? fxÉyag.
Auf die starke doppelte Spannung von v. i und 2, bereichert durch
die kontrastreiche Fügung der Worte innerhalb dieser Verse
ov y* | EviQ(!)Jtr|v || 'Aoirig öixa | jiovto; evei^e —
Kai jtóXiag i}vT]xcöv || ftoigog "Aqt|5 ècpéjtei —, |
folgt die Lösung im zweiten Distichon. Da aber hier mit höchstem Nach-
druck (oiiöev jto) xdUiov) wieder nur etwas Allgemeines und in sich Unver-
ständliches ausgesprochen wird, so tragen 1 - 4 als Ganzes eine Spannung,
die sich erst in j - 8 lösen wird: Das Wörtchen yàg ist das Symbolwort
für diese Lösung oder Erfüllung.
Mit oiöe gleitet das Gedicht in den Typus der vierzeiligen Polyandria-
Gedichte hinüber (s. o.). Daß es wirklich im Kerameikos stand (Pausan.,
I 29, 13), ist überwiegend wahrscheinlich29. Künstlerisch bleibt die straffe,
an die Versgliederung sich bindende Antithetik: v. 5 èv rosigem - v. 6
xaxà jtóvTov, Das Besondere dieser Seeschlacht, daß die gesamte Schiffs-
bemannung mit in Gefangenschaft geriet (crìiv crà-colg toig dvögaai Diodor),
ließ sich nicht mehr in dieses Distichon fassen und greift also nachdrücklich
in die erste Hälfte von v. 7 hinüber.
7 b-8 ist ein machtvoller Abschluß, der Weiträumigkeit des Gedichtes
und der Größe des historischen Moments ganz entsprechend. Das Ende
zieht sich mit dem Anfang in eins zusammen ( 7 ~ i , 8~2). Asien wird in
der feierlichen und mehr personellen Form 'Aaig30 Subjekt. Sie stöhnt
wie bei Aischylos nach Salamis (axévei yàg 'Aaiàg Perser 549). Aber hier
wird Salamis fast übertroffen. Dem Schlag zur See (idayalai jtovuaioi
Pers. 906) steht hier der Doppelschlag gegenüber. Wer hat ihn geführt?
Der Sieg. Denn für den Sieg ist xpàxog jioXéixou mit oder ohne Kai vixri die
feierliche Form des Gebets und des Orakels 31 . So steht am Ende des
Gedichtes, das den Abschluß jahrzehntelangen Ringens bezeichnet, das
feierliche Wort für die siegreiche Entscheidung32. |
So begreift man das Denkmal - das Eduard Meyer 33 durchaus richtig
beurteilt und geschichtlich eingeordnet hat. Die Schlacht bei Cypern war
oder sollte erscheinen als das Ende des jahrzehntelangen Ringens zwischen
Griechen und Persern. Nun ist auf einmal angemessen, was vorher be-
fremdet: die Ausweitung des überlieferten Gedichttypus ums Doppelte
29
S o K . W . Krüger, Kaibel, E d . Meyer, L . Weber, Hiller v . Gaertringen. O b man, um
den notorisch unzuverlässigen Ephoros wenigstens in etwas zu entlasten, noch ein
delphisches Monument mit demselben Epigramm ansetzen will, ist Geschmackssache.
30
Wie Jtaar)g ' A a i ó o g Aischylos Perser 7 6 3 , vgl. auch Hiller, 2 5 .
31
Weil zu Demosthenes 19, 1 3 0 , Kaibel zu Elektra, 85.
32
O b man in v . 7 vorziehen soll vn a ü t ü v - Asien stöhnt auf unter ihnen - oder in.'
aütcöi — Asien, stöhnt auf getroffen von dem Endsiege selber - läßt sich aus der
Interpretation nicht mit Sicherheit entscheiden.
33
Forschungen I I , 9 ff., Gesch. d. Altert. § 3 4 2 .
[108/109] Geschichtswende im Gedicht 227
4. Sturz Athens
zwei Gliedern zwei andere Titel hinzu. Mit 'EXXaöog äxQoitoXiv klingt
Pindars 'EXXdöog epsiana deutlich an. Es ist ein hübscher Zufall, daß wir
einen spartanischen Spott über dieses pindarische Preiswort auf Athen
noch nachweisen können: üivödgoi) 8e ygd^avtog ,'EXXdöog £QEia|xa 'AfKjvai'
Aäxwv ecpr| xatanEOEiv av tt)v 'EXXdÖa 6xod^ievt|v EQ£ia(j.axi toiccutcoi34. Lysan-
der setzt an die Stelle solchen Spottes einen politischen Anspruch. Zuletzt
xaXXixopov itaTQiöa: Gewiß hat man das Schmuckwort seit Homer von
jeder Stadt in gehobener Rede gebraucht. Aber es könnte wohl sein,
daß nach dem Abwelken der Chorlyrik Athen mit seinen tragischen und
komischen Chören einen besonderen Anspruch auf diesen Titel machte.
ev toüg (XEYOtAaimv oikco xai xaXXixÖQOig 'Attr|vaig Euripides Herakliden 359,
xaXXixÖQcm ;taTQi5og Hiller 47, emvÖQov 7äv KExgoitog . . . ov . . . rjoi t '
EnEgxoHEVcoi ßpojna x^Q1? £W£Xd8a>v te xoqojv EQEÖia(j.aTa Aristophanes
Wolken 300 ff. Wäre xaXXixopog als vereinzeltes Schmuckwort \ gebraucht,
so dürfte man die hier versuchte Ausdeutung nicht wagen. Aber 'EXXdöog
dy.gonoXiv, xaXXixogon, jiatQiöa geht ersichtlich in scharfer Gegenüberstellung
auf den Vorrang in den Werken des Krieges und des Friedens. Wie wenig
Spartas Anspruch gegründet war, lehrt die Geschichte.
Unter dem Vierzeiler folgt in einem besonderen Pentameter die
Dichtersignatur. Es ist die älteste auf einer Inschrift. Was es sonst der-
gleichen gibt, ist viel später35. Was bedeutet also das Ungewöhnliche, daß
Ion von der Insel Samos sich hier nennt? Doch wohl dieses: Geist und
Tat sind geschieden. Lysander kann Athen niederwerfen und den
Anspruch auf seine Nachfolge erheben. Aber formulieren muß ihm diesen
Anspruch eine ionische Feder, die er sich kauft. So hat ihm seinen Plan
zu einem Verfassungsumsturz ein gewisser Kleon von Halikarnass,
wieder ein Ostgrieche, in die Form einer Denkschrift bringen müssen.
Daß der Text des Gedichtes schwer entstellt sei, scheint fast allgemeine
Annahme 36 . Möglich, daß an dieser Annahme etwas Richtiges ist, - ob-
gleich uns grade die Kritik an einigen |Änderungsversuchen zum besseren
Verständnis des Gedichtes führen soll. Wir gehen dabei aus von einer
offenbar treffenden Beobachtung von Wilamowitz, der den Stimmungs-
ausdruck des Gedichtes rühmt und dann hinzufügt: „Die Form steht
nicht auf gleicher Höhe". Wenn das aber so ist, dann wird vielleicht
mandies, was einem am Wortlaut befremdlich vorkommt, lieber zu ver-
stehen und nach seinem Stimmungsgehalt zu befragen als abzuändern sein.
Die beiden ersten Disticha entsprechen dem Typus der vierzeiligen
Polyandria-Aufschriften wie O I Ö E nap' EvQuniöovTa Hiller, 42, Oiöe nag'
'EM.r|(jjiovTOv Hiller, 52, Oiöe itargav jioXiiöaxQOT Anth. Pal., V I I 242 (vgl.
oben S. 225).
V . 1-2. Sie gingen in den Kampf für ihr Vaterland und warfen die
feindliche Uebermacht zurück, ndtgag evexa acpstEgag, so ist es überliefert,
und so ist es richtig. Denn so heißt es in dem homerischen Vorbild
P 157/58 01 JIEQI jtaTQris | avögaai öva|ieve£ffai . . . öfjQiv E-ÖEVTO. So heißt
es auch immer wieder im Epigramm: itegLrorcpiöogwAeaaft' fißrjv Hiller, 47,
yäg W I E Q Hiller, 68, OIÖE itatgav . . . G V Ö ^ E V O I Anth. Pal., VII, 242, Jtaxgiöa
Quonivoug Anth. Pal., VII, 255, 'Aßöiqgcov jtgoftavovta Anth. Pal., V I I , 226.
So sagt auch Demosthenes: W I E Q TOÜ 8F|[xov öe(xevog zä onXa ( X X I , 145) und
Lykurg (§43) ojtAci {TEIIEVOV IIUEQ tfjg natpifiog. (Formal klingt TOIJOÖE ITÄTGRIG
EVExa otpETEgag an xotjaö' dQExfjg Evexa atEqpavoig Hiller, 61 an.) „Sie gingen
für ihre Vaterstadt in den Kampf" ist stärker, einfacher und richtiger als
„sie gingen fern von ihrer Vaterstadt in den K a m p f " , Jidtpag HEV Ixag
aqpetEQag, nach H . Weils Konjektur, die Wilamowitz rühmt, Hiller über-
nimmt. s'ig örjgiv E Ö E V T O öjiXa aber ist eine für den Stil dieses Gedichts
vielleicht charakteristische Verschmelzung eines Homerismus öfjgiv E Ö E V T O
(P 158, siehe oben) mit einem militärischen Fachausdruck sig td£iv M E V T O
TÄ ojtla37.
V . 2. Der Angriff der Feinde ist als Sßgig, gewaltsame Störung des
Rechtszustandes, empfunden. cuiEaxeöaaav, sie wiesen ihn ab (ajto-), indem
sie die einheitliche K r a f t des | Stoßes zerstreuten. Von ndtpag Ivsxa bleibt
genug im Bewußtsein, um Jid-cgag zu äjto- hinzuzuhören. Durch die Än-
derung exdg bekäme dieser Satz keine größere Deutlichkeit, als er ohne-
hin hat. H . Weil (a. O . 29) ist „erstaunt die Niederlage in einen Sieg
umgedeutet zu finden". Aber gerade das hat Lykurg getan: EI 6E öei
jtagaöotÖTatov ^ E V E I T O I V , dXri^eg Ö E , E X E I V O I vixamsg ajtEÜavov (in Leoer.,
§ 49). „Das Gefühl der Niederlage ist beschwichtigt", Wilamowitz, a. O.
215. Indem sie dem Feinde entgegentraten, haben sie (trotz ihrer Nieder-
lage) die K r a f t seines Stoßes zersplittert und abgewandt.
3<> Vgl. die Unzahl der älteren Änderungsversudie bei Preger, Inscr. Gr. metr. zu Nr. 271.
Ferner U. v. Wilamowitz, Sappho und Simonides, 214.
37 Xenophon, Anab., II, 2, 8; vgl. audi die Stellen aus den Rednern.
230 Griechische Literatur [1121113]
38
t^t' ä X x % t)8e cpoßoio Ilias P 42 verglich Spengel. D a ist die Polarität nicht ganz
dieselbe, aber Polarität ist es auch.
39
Man hat sogar in der Verzweiflung versucht, sie zu ¡aaQvdiiEvoi zu ziehen: „kämpfend
um Tapferkeit und Furcht"!
40
i x jioXe|ioi> koawoe A 7 5 2 , aacbaetov £x ito^£|j.oio P 3 0 9 ; es ist ja nicht „befreien
v o n " wie Soph. Antig. 1 1 6 2 ao'jaa; E/ftotüV x ^ o v a .
41
„ K ä m p f e n d haben sie über Tapferkeit und Furcht nicht die Lebenden als xpitai, sie
haben ihr Leben nicht gerettet, sondern den xoivög " A i 5 t i s als Schiedsrichter auf-
gestellt", so Spengel.
[1131114] Geschichtswende im Gedicht 231
V. 7-8. Hatte sich der Blick von Athen auf Hellas geweitet, so kehrt
er nun zum Vaterlande zurück. Die Mutter Erde, die Heimaterde hat
in ihren Schoß die Leiber der Gefallenen wieder aufgenommen43, tüv
jdeioxa xaixovTcov derer, die am meisten gelitten haben (ovö' et (xaXa itoXXa
X A N O I T E 0 2 2 ) . Man denkt an Y)(XSTEQCDV naftecov in dem anderen Chairo-
wie das Gedicht abfällt, und wie recht der Dichter getan hat, den Schluß
mächtig ins allgemeine zu weiten. Und wieder ist der genaue Sinn unter
den gefühlsbeladenen Worten schwer festzulegen, wie die Mannigfaltig-
keit der Interpretationsversuche zeigt (von den mannigfaltigen Ände-
rungsversuchen nicht zu reden). Hier einige Fragen, um diese Mannig-
faltigkeit anzudeuten: Gehört rjöe otpiaig zum Vorigen oder zu dem All-
gemeinen was folgt? Ist zu Gcuagteiv hinzuzudenken ßpotoiig, oder sind es
die Götter selbst, zu deren Wesen es gehört keinen Fehl zu begehen? Wo
dann im zweiten Falle ev ßioxrji „im Menschenleben" bedeuten und zum
Folgenden gehören müßte44.
Beginnen wir mit dem Schluß. Das Vorbild ist Homer 2 488 noipav
ö' cnkiva <pr)[H jtEcpt)Y|X£vov eniievai dvögtov. Also wird mit [xoipav öe auch
hier der letzte Satz anfangen. Dazu stimmt, daß ßiotr) nicht schlechtweg
„Menschenleben" heißt im Gegensatz zum Leben der Götter, und daß
die Wortstellung ev ßioxfji (xoioav öe nur im letzten Notfalle annehmbar
wäre. Wenn uolgav öe hinter ev ßio-n}i steht, so wird Tod | dem Leben ent-
gegengestellt. Daraus folgt weiter: „daß die Menschen im Leben nichts
versehen und alles recht machen (oder: daß man nichts versieht), ist Sache
der Götter, hängt von den Göttern ab 45 ". Man behaupte doch nicht (mit
Weil a. O. 32), kein griechischer Dichter könne so gesagt haben; sie seien
alle überzeugt, daß ungemischtes Glück niemandem zuteil werde, - und
deshalb sei der Text verdorben. Denn erstens zeigt die Kroisos-Solon-
Geschichte bei Herodot, daß die Götter den Menschen wohl auch ein
reines Glück schenken können (so wie der Gott „Glück" versteht). Und
zweitens und vor allem ist ja gerade hier gemeint, daß das sehr selten ist
und daß es den Gefallenen von Chaironeia gerade n i c h t beschieden
43
E s sind die in die Heimat gebrachten irdisdien Reste: T h u k y d . II, 3 4 , 3 . 0a>|Mrra
darum anzutasten, w a r ein seltsam rationalistischer Mißgriff Bergks. D a s Epigramm
nadi Chaironeia statt nach Athen zu verlegen, ist ein Irrtum Hillers.
44
Es w i r d sich zeigen, das Spengel a. O . 3 0 2 richtig interpretiert hat.
45
Hieße der S a t z : „alles recht machen ist den Göttern vorbehalten", so w ä r e £v ßiotiji
ziemlich absurd.
[1161117] Geschiditswende im Gedicht 233
war. Ist aber so der Zusammenhang des letzten Distichons gesichert, dann
gehört schließlich •fhoitoig ex Aiog fjÖE xgiaig zu beiden folgenden Sätzen
und zu beiden gleichermaßen. Konnte man vorher noch schwanken, ob
es nicht das Vorhergehende abschließe, so zieht sjtoqev unweigerlich den
Zeus als Subjekt an. Dann heißt also der gnomische Schluß: „So hat Zeus
über die Sterblichen entschieden: O b es ihnen gelingt, hängt von den
Göttern und deren wechselnder Neigung ab. Und so ist - muß man
denken - diesen Gefallenen das eine gelungen (iißgiv äjisaxEÖaaav) und
das andere nicht. (Derselbe unbestimmte Hinweis also wie in JtXeiaTa
xajiövTcov). D a darf niemand sich beklagen, noch viel weniger über das
Todesgeschick, dem nach dem Entscheid des Zeus ganz und gar niemand
entgeht" 4 6 . Wie wir, hat Demosthenes verstanden, Kranzrede § 290: ttjv
tot) xorroQ'&o'Ov -coCg aycovi^onivoug dvE{tr|xs 81jvau.1v toig fleoig, und § 208:
f| jtöXig Eftaipevoiixi toiig xaTogfrcoaavTag atÜTüjv oC>5e -covg xgcrtriaavTag ixovoug.
8ixai(og • o |xev yao r)v avSgcov ayadcov EQyov äitaai jtEjtQaxtai • Tfji ruxT' 8',
t^v 0 8ai[i(ov eveiuev Exatnoig, Tai)Tr|i yiy.QTivTcn. D a ist das Eingeständnis des
Mißlingens in deutlichem Hinblick auf das Grabepigramm ausgesprochen.)
D a ß es so vieler Worte und so sehr eines experimentierenden Deutens
bedarf, bis man das Verständnis erreicht, ist kein Zufall. Der Untergang
von Chaironeia hat in diesem Grabgedicht einen mehr gefühlsstarken als
gedankenklaren Ausdruck gefunden.
Warum Wilamowitz das betonende xi bei oü für bloßes Versfüllsel erklärt, weiß idi
nicht.
47
Wilamowitz, Griedi. Lesebuch, Erläuterungen, 103.
48
Spengel, SB Mündien, 1875, 296.
234 Griechische L i t e r a t u r [1171119]
geschieht, ganz anders als wenn Nossis (A. Pal., V I I , 178) aus der do-
rischen Härte eine weibliche Zierlichkeit macht.
Die Zeit der Monodisticha ist vorbei, das versteht sich. Aus der A n -
rede m |eive wird ein Hexameter. Der Angeredete ist nicht mehr ein vor-
übergehender Mensch, sondern die vorüberrinnende Zeit, eine Macht,
öai|icüv. Sie ist Jiavioicov jtavEiuaxojiog, und das „all-" erklingt in V . 2 jtäai
zum dritten Male - wie auch sonst die Worte „Zeit" und „all" sich zu |
suchen scheinen. Man lese daraufhin das Stobaeus-Kapitel über die Zeit
(Ecl., I 8). Mit dem Verse Jtavx' exy.aXijjtxcDV 6 XQÖvog jtpög cpajg ayei
(Sophokles, Frg. 832 N 2 ) setzt es ein. Dann führt es über Zitate aus
Tragödie und Komödie zu den Apophthegmen der Sieben Weisen (40 a):
©aXfig eocDTTyüeic; • Ti aocpcoxaxov; ecpri • Xgovog • avEugiaxEt yäg xd jtdvxa. riegi-
avÖQog EgcoTTi^eig • Ti Jtdvxwv alxtov; £(pT] • Xpovog. ©aWjg e<pr]aEV, oxi
aaqpeaxaxog el.eyxog ^oay|-iaxtüv djiavxarv eaxiv o XQÖvog. Und fast am Ende
steht jenes merkwürdige in Prosa umgesetzte Gedichtbruchstück aus
Skythinos: X(>6vog eaxiv wxaxov xai ngwxov jtdvxtov xai. e'xei ev eawwi itavxa
(Vorsokr. 5 , 22 C 3). Diese Verwandtschaft von „Zeit" und „all" hat
wohl im V I . Jahrhundert den Chronos zur kosmogonischen Gestalt
werden lassen, bei den Orphikern und bei Pherekydes. Ähnlich, nur reiner
naturphilosophisch, ist er noch bei Kritias (Vorsokr. 5 , 88 B 25, 33 und
B 18) „ewige Weltzeit", in der Kreisbewegung der Gestirne sichtbar. In
der Chorlyrik geht das aus dem Spekulativen, Lehrhaften, in die un-
mittelbare Lebendigkeit des dichterisch gehobenen Daseins über: ö
jtavSafxaxcop /oövog Simonides, Bakchylides, xpövog 0 itavxcov jtaxr|Q Pindar:
das sind Beiworte, die sonst dem Zeus oder dem Hypnos (vielleicht also
auch dem Thanatos) zukamen. Und Sophokles: „Die große, zahllose Zeit
bringt alles aus sich hervor, was bis dahin unkenntlich war, und nimmt
das Erschienene wieder in sich zurück" (Aias 646) und ö jtavfr' öqwv xai
jtavx' ay.oixüv jtavx' dvanxiiaasi Xgovog (Frg. 280 N 2 ), jenes von der A l l -
mutter Erde, dieses von Helios ursprünglich gesagt. Und so hier
jtavEJtiaxojiog mit einer klingenden Wortbildung, die im Epos, Hymnos,
Epigramm des Hellenismus und der Kaiserzeit beliebt ist (itavEitötpiog
Jtavexcbcaog jtavexr)xu(iog jxavejioQcpviog). Aber die Zeit ist hier weniger die
Weltzeit, sie ist erfaßt im Hinblick auf die Menschen - : ftvrixoig im
„dativus ethicus" nimmt die Mitte des Verses ein. So steht auf dem Relief
des Archelaos Chronos neben Oikumene hinter dem Thron des Homer,
neben dem Uberall das Immerdar, beides in der menschlich-geschicht-
lichen Dimension. Und weil eben diese geschichtliche Zeit hier im Blick
ist, darum navxoicüv und nicht Jtdvxwv. Es gibt in diesem Zeitverlauf für
die Men| sehen (nicht für die Sterne) Unterschiede des Wie. Man muß
schon hier den Unheilklang hineinhören. Nicht zufällig wird die geschicht-
liche Zeit als Macht erfaßt in einem Moment, da sich das Gefühl „wir
sterben" und zugleich „wir wollen nicht sterben" der Seele von Hellas
bemächtigt.
[119j120] Geschichtswende im Gedicht 235
49
Das Urteil Ad. Wilhelms, Hiller, 30 sei ein echtes Monodistichon der frühen Perser-
zeit, ist vielleidit nicht ganz so unwidersprechlich, wie meist angenommen wird.
Riditig bleibt die Diagnose, daß in dem ersten Distichon dieses iozeiligen Epigramms
die Monodisticha der frühen Perserzeit nachklingen. Aber etwas anderes ist es, ob
gerade dieses megarische Epigramm je als solches Monodistichon wirklich gelebt hat. Es
ist doch wohl ebenso möglich, daß nur der allgemeine Typus dieser Monodisticha
vorschwebte, als Megara in späterer Zeit - etwa im I V . Jahrh. v. Chr. - das Bedürfnis
empfand, die Grabstätte seiner Perserkämpfer durch ein großes Gedidit zu ehren.
Durchaus richtig urteilt Wade-Gery, J H S , $ 3 , 1 9 3 3 , 95 ff.
A new Epigram by Damagetus
1942
2
Fr. Jacobs, "Catalogus poetarum epigrammaticorum," Anthologia Graeca, X I I I ,
p. 880. G. Knaack in F. Susemihl, Gesdhichte der griechisdien Literatur in der Alexan-
drinerzeit, II, p. 547. R. Reitzenstein in R.-E., IV, col. 2027. C f . the pertinent anno-
tations in Anthologia Graeca, ed. H . Stadtmueller.
3 C f . J . Belodi, Griediisdie Geschichte, III, 2, § 140; C . A . H., V I I , pp. 763 ff. (W. W. Tarn).
[80(81] A new Epigram by Damagetus 239
where the pentameter marked by the sharp antithesis recalls the second
pentameter of the new epigram, the beginning of the hexameter resembles
jiwiTEi 8' e(x itQO(iay.oi0i v. j , and Ieivtiv . . . xoviv (instead of yrjv) in v. 6
matches xi)8idvEiga xovig ( = vfj), xovig coming both here and there at the
end of a pentameter. C f . also oftveiriv . . . xoviv in Damagetus, V I I , 497.
Damagetus, V I I , 231 has in the first distidi more than one resemblance.
The first hexameter:
w5' vkeq 'A^Ppaxtag . . . daiti6' aeipag
agrees with the second hexameter of the new poem:
. . . Jidtpag wtsp elg egiv eMJcov,
of the second pentameter, while eiXexo occurs in the same metrical place
of the last pentameter.
One may finally compare the beginning of Damagetus, V I I , 432
<b AaxE8ai|xovioi, tov dgr|iov vn(xtv o Ti)|i[3og
Tvllw iijieq ©vgeag oixog e/ei qriK|XEVov.
The new epigram starts with a parallel structure: the direct address w
ijEive, the attributive tov Moiioaig . . . xexi^evov, and the name Tiuoxpixov
at the beginning of the pentameter. The second distich contains in both
cases the occasion when Timocratus or Gyllis fell and, in the pentameter,
the maxim by which they lived: here
TsOvairiv S n a g x a g a l i a ixriaaixEvog,
there
(b-yafrog r\ vixav i^eXe f| xfidvavai. |
This last parallel leads to a third trait which, besides the identity of
the historical situation and the stylistic similarities, links the poems of
Damagetus with the new epigram. Its most striking feature is the fervor
for Tyrtaeus; but, even before this enthusiasm is expressed, the poetry
shows a Tyrtaean cast. Verses 3 and 4 mirror a verse like Tyrtaeus, 6, 2:
avdg' ayaftov jtepi f| jtaxgiSi na(?vd|XEvov, and v. j recalls still more definitely
the famous evl jigoixd/oioi jieaovxa of Tyrtaeus, 6, 1 which recurs a second
and a third time in what is left of the Spartan poet (7, 30; 9, 23: ev
jtpo[idxoiai jtECTcbv). N o w a similar eaxrig ev jipoixayoig, Xaigam8ri, occurring
in Damagetus, V I I , 541 has a still greater resemblance to the command
of Tyrtaeus, 8, 4 Iftiig 8' ev jigo^axoig aajii8' avr)p exexw. In other words:
You stood in front, Chaeronides, following the advice of Tyrtaeus. The
240 Griediische Literatur [81/82]
4
Herbert B. Hoffleit reminds me that Tf0vair|v has the same metrical position in
Mimnermus, I, 2, and Theognis, 3 4 3 . It is likely that it once had its place also at the
beginning of a lost T y r t a e a n pentameter.
5 " T y r t a i o s iiber die wahre A r e t e " in Sitzungsb. der Preuss. A k a d . der Wiss., 1 9 3 2 ,
pp. J 3 7 ff. C f . idem, Paideia, I, pp. 1 1 6 if. Jaeger, of course, saw the importance of
the new epigram for his problem, cf. Anthologia L y r i c a , ed. E . Diehl, 2nd ed., I, 1 ,
P'22\
6
G . Kaibel, Epigrammata G r a e c a ex lapidibus collecta, tentatively assigned his number
7 9 0 to Alcaeus of Messene ("haud circa probabilitatem conicias"). T h e epigram from
Thermus, I. G . , I X , i 2 , $ 1 , and the t w o Delphian epigrams in honor of Xanthippus
of Elatea, S. I. G . 3 , 3 6 1 , have been attributed by A . Wilhelm to the well known
[82] A new Epigram by Damagetus 241
to assign the new poem to "the circle of Damagetus" rather than to the
master himself, and nobody can be prevented from doing so. May it be
remembered, though, that the history of art once invented an anonymous
Amico di Sandro, attributing to him a number of paintings from the
work of Sandro Botticelli. Now the Amico has disappeared, and the
Maestro holds the field.
epigrammatist Poseidippus on the sole argument that the Aetolians conferred the
proxeny noaeiöiratcoi tibi EraygannatEi IleXXaiiOi in the decree I. G., IX, i 2 , i , 17,
line 24. I should be eager to know a fragment which Klaffenbach, loc. cit., p. 717
describes as follows: "aus (dem antiken) Agrinion das Fragment offenbar einer Grab-
stelle mit den Resten eines Gedichtes, das sich auf einen IlavTaXeoov und Kämpfe um
Oiniadai zu beziehen scheint, die der Schrift nach die des ausgehenden 3. Jahrh. v. Chr.
sein müssen (Sommer 219 oder Spätherbst 212)." Several Hellenistic epigrams of
four distidis from Thyrreum have been published: I. G., IX, 1, 489; Ath. Mitt., X X V
(1900), p. 113 (and X X V I I [1902], p. 349); X X V I I (1902), p. 339, No. 21 = Peek
750. The last one attributed to the second century B. C. has a few traits in common
with the new poem. It begins:
K a i Xoyov aii|r)oavta x a i ev XiyuaxEai Moiiaai?
X£X(H|XeVOV JtQlJJlTEl 2cbjtoXw ä&£ xovig.
The style of Damagetus must have maintained itself in the local sepulchral poetry.
Besprechung
1922
Asklepiades V 164.
Asklepiades V 169.
Oe. Süß ist in Sommersglut ein Trank von Schnee,
Den ausgedörrten Gaumen zu erquicken,
Süß ist's dem Schiffer, nach des Sturmes Weh
Das Blühn der Heimatküste zu erblicken.
Doch süßer noch als alles dieses scheint
Es mir zu sein, wenn zu vertrautem Bunde
Zwei Liebende die Decke heimlich eint
Und Kypris' Lob erklingt aus beider Munde.
Fr. Süß ist dem Dürstenden ein Trank von Schnee
In Sommersglut. Süß ist der Sterne Scheinen
Aus Sturmgewölk dem Schiffer auf der See.
Doch süßer noch, wenn eine Decke hüllt
Verbergend jene, die sich liebend einen,
Und beide Aphrodites Preis erfüllt.
Kallimachos X I I 148.
Oe. Kein Gold ist mein, Menipp, nicht Hof noch Land;
Ich weiß es wohl - doch sollst du mir nicht sagen,
Was mir bekannter als die eigne Hand;
Bei allem was dir lieb - ich kann's nicht tragen.
Hör ich dies Wort so voller Bitternis,
So fühlt mein ganzes Innere die Wunde.
Ach, niemals war so liebeleer wie dies
Ein Wort, o Teuerster, aus deinem Munde.
Fr. Ich weiß, daß mir von Schätzen leer die Hand.
Doch sprich, den ich bei aller Huld beschwöre,
Nicht das, was mir wie eigner Traum bekannt.
Denn dies, Menippos schmerzt mich bis zum Grund,
Wenn ich so bittres Wort dich sagen höre,
Das liebeleerste, Freund, aus deinem Mund.
Anyte IX 144.
Oe. Der Ort hier ist für Kypris abgegrenzt,
Denn dieser ist es lieb vom Festland aus
Zu blicken fort und fort aufs Meer hinaus
Und anzuschauen wie es strahlt und glänzt. |
[627] Der Kranz des Meleagros von Gadara 245
Oder:
Fr. Kypris eignet der O r t ; denn lieb ist's immer der Göttin,
Von dem Gestade zu schaun über das glänzende Meer,
Daß sie die Fahrt vollende den Schiffenden. U n d in der Runde
Schrickt die unendliche See blickend das sdiimmernde Bild.
Der letzte Versuch, an Stelle der Reimverse das „Versmaß der Ur-
schrift" wiederzugeben, führt auf die Frage, ob nicht doch viel stärker,
als Oe. es wahrhaben will, unsere großen Dichter die „elegische" Form
auch für das Epigramm unserem Schrifttum hinzugewonnen haben. Die
venezianischen Epigramme und die Xenien, dann Hölderlin, Platen,
Mörike, sollen sie alle dem Distichon kein Heimatrecht bei uns verschafft
haben? Vielleicht wird man sagen dürfen, daß je näher ein Epigramm
einerseits der Bestimmtheit einer Aufschrift kommt, andererseits der
Schärfe des in unserem Sinne „Epigrammatischen", desto angemessener
die antike Form sein möchte, je „lyrischer" das Original, um so ange-
messener die gereimte. Denkt man sich dann freilich die verschiedenen
Formen in einer Abfolge mit einander wechselnd, so erkennt man, wie
bedenklich solche Mischung wäre, und man dankt es dem Übersetzer, daß
er die eine Weise fast ohne Ausnahmen durchgeführt hat. So ist ein Buch
entstanden, dem der gelehrte Kenner, aber auch jeder Freund der
klassischen Literatur dankbar sein muß.
Besprechung:
1934
Statt dessen e t w a :
w i e aus Stiereshälsen
Brüllten, ungeregt im Riegel, laut hinaus Palastes Pforten,
U n d das Königshaus erdröhnte unerschüttert im Getöse,
A u s der Steindrommete schüttend T o n , der eignem Sturze folgte.
Diese letzten Beispiele werden zugleich auf die metrische Form auf-
merksam gemacht haben. Der Hexameter des Nonnos ist in seiner gleich-
förmig strengen Bewegtheit eine staunenswerte Kunstform, fast rätselhaft,
wenn man sich vergegenwärtigt, wie in der lebendigen Sprache die alten
Quantitäten verfallen waren, und wie gleichzeitig ein völlig anderes
metrisches System weithin die Kirche erobert hatte. Nun ist freilich das
Gefühl für den Bau des deutschen Hexameters in den letzten Jahrzehnten
so sehr verlorengegangen, daß eine hexametrische Nonnosübersetzung
schon darum ein höchst fragwürdiges Unternehmen wäre. Das wird
deutlich, wenn man neben Verse der neuen Ubersetzung die 120 Jahre
älteren des Philologen Graefe stellt („Des Nonnos Hymnos und Nikea",
St. Petersburg 1813).
15,197
15,236
v . Sdi.: Schaute er auf die rosigen Finger der reizenden J u n g f r a u
G r . : Sdiaut' er die rosigen Finger der reizumblüheten J u n g f r a u
I5.M7
v . Sch.: W i e sie mit der H a n d den H a l s der L ö w i n umschnürte
G r . : W i e mit den Händen sie fest den Löwenrachen umschnürte.
Aber wir wollen keine Beispiele häufen, wie oft die Zäsuren verfehlt,
die Senkungen entweder zu leer oder aber überfüllt sind. Die paar eigenen
Versuche, die wir oben um des Wortlauts willen gegeben haben, sollten
nebenher noch etwas ganz anderes deutlich machen: daß der deutsche
Hexameter (soweit es noch so etwas gibt) durch die Achilleis oder durch
den Archipelagos oder etwa auch durch das Märchen vom sichern Mann
geprägt und damit für Nonnos vermutlich unbrauchbar geworden ist.
„Den Nonnos in dieselben deutschen Hexameter wie den Homer über-
setzen, kann nur, wer von ihrem Bau und ihrem Klange gar nichts fühlt.
Es ist ein Gegensatz wie zwischen den Mosaiken von S. Apollinare und
dem Parthenonfriese", bemerkte schon U. v. Wilamowitz (SBB. 1928, 25).
Für den gleichmäßigen Fluß des nonnianisdien Hexameters wären viel-
leicht fallende Langzeilen mit immer gleichen einfachen Senkungen
(„trochäische Tetrameter") ein Äquivalent. Der Ref. hat vor Jahren und
auch jetzt wieder dergleichen Versuche gemacht.
Aber nun liegt das riesenhafte Ubersetzungswerk vor, und keinesfalls
darf der Eindruck erweckt werden, als ob die Leistung gering zu schätzen
[686/6877 Die Dionysiaka des N o n n o s 249
wäre. Schon darum nicht, weil es die erste (und vermutlich f ü r alle Zeiten
die einzige) vollständige deutsche Übertragung ist, die sich jetzt neben
die lateinische des Eilhart Lubinus ( 1 6 0 5 ) und die französische des G r a f e n
Marcellus stellt. Auch in den Anmerkungen Bogners stecken Hilfsmittel
zum Verständnis, die man nicht leicht entbehren kann. Z u m 26. Buch
sind sogar ungedruckte Untersuchungen Sieglins verwertet, die nachprüfen
muß, wer die griechische K u n d e von Indien erforschen will. Greifen w i r
zuletzt beliebig eine Stelle heraus, um zu zeigen, wie viel die Ubersetzung
von der Schönheit des ursprünglichen Gedichts - trotz allem - vermittelt.
1912
Der Dichter Nonnos von Panopolis ist, wenn man seine persönliche
und seine geschichtliche Bedeutung abwägt, ganz unzureichend bekannt.
Über die handschriftlichen Grundlagen seines Textes unterrichtet jetzt die
Ausgabe Ludwichs. Uber seine Verskunst gibt es zahlreiche Untersuchun-
gen, die nur fast durchweg unter dem Mangel leiden, Wichtiges und
Unwichtiges in der gleichen Fläche breit zu entwickeln. Über seine Sprach-
mittel hat man manches zusammengestellt. Über den Inhalt seines Riesen-
gedichtes und über seine Vorlagen orientiert einigermaßen das doch immer
nützliche Büchlein von Reinhold Köhler (1853). Sonst wird er meist
benutzt, um hellenistische Poesie aus ihm zu gewinnen, oder zu mytho-
graphischen Zwecken. Wie starkes eigenes Leben seinem Werk einwohnt,
spricht die meisterhafte Charakteristik in Wilamowitzens Literatur-
geschichte aus. Aber alles zu sagen, was über ihn zu sagen ist, erfordert
ein Buch, das dann freilich nicht nur Composition und Vorlagen seiner
Dichtung zu untersuchen, nicht nur Stil und Kunst zu analysieren und in
Wirkung und Wirkungsmitteln darzustellen hätte, sondern das - nach
idealer Forderung — auch zeigen müßte, wie er in der Literaturentwick-
lung und zu der Gesamtkultur seiner Zeit steht, und wie seine Kunst sich
zu anderen Barockperioden der Poesie wesenhaft und geschichtlich ver-
hält. Von alledem wird hier kaum mit einem Wort die Rede sein, sondern
nur die bescheidene Aufgabe soll gelöst werden: ihn chronologisch, soweit
das möglich ist, zu fixieren.
Wenn diese Aufgabe gestellt wird, so ist damit gesagt, daß der ver-
breitete Ansatz „um 400" nicht bestehen kann 1 . Zu seiner | Begründung
dient die Annahme, Nonnos benutze den Gregor von Nazianz (f 390)
und werde andererseits von Kyros zitiert2. Kyros dichtete unter Theodo-
[Hermes X L V I I , 1 9 1 2 , S. 4 3 - 5 9 . ]
1
P. Maas, Deutsche Literaturzeitung 1 9 1 0 , Sp. 2 5 8 8 , hat gesagt, daß man bisher mit
dem A n s a t z zwischen A p o l l i n a r i s , dessen Psalmenmetaphrase von der Evangelien-
metaphrase des N o n n o s vorausgesetzt w i r d , u n d A g a t h i a s , der die D i o n y s i a k a zitiert,
schwanken dürfe.
2
Begründet hat den A n s a t z Ludwich, Rhein. Mus. X L I I ( 1 8 8 7 ) 2 3 3 ff., und zuletzt in
seiner Ausgabe: N o n n i Dionysiaca (1909) I p. V I I I . - K y r o s hat eine V i t a beim
Suidas, wonach er yeyove eju ©eoöoaiou toiS veou ßacriAeoog . . . Etiöoxia 701g f)
©eoöoaiou Yauetr] ßcioiXtg oucra fegriYdadTi t ö v K i p o v cpii.0£jtT)£ o i a a .
[44/45] Die Chronologie des Nonnos von Panopolis 251
Längst hat man zwei Stellen der D i o n y s i a k a damit verglichen, die erste
eine Rede des Pan, in der er, der Schafhirt, sich wünscht (16, 321):
aide jiatriQ |j.e öiöa^E TEXsaaivanou öoXov oivou . . . 5
xai xev euqjv ixeXeaaa jtoMmXavov oIotqov 'Eqcotoov.
3
Seeck in Pauly-Wissowas Realencyklopädie V I 907 ff.
4
Seeck a. O. 908. K y r o s ist 4 4 1 Consul und praefectus praetorio Orientis nach den
Novellae ad Theodosianum pert. V 3 und dem Codex Iustinianus I 55, 10. Die Abreise
der Kaiserin nach Jerusalem wird von der Überlieferung ins J a h r 440 gesetzt, was
Seeck mit dem Hinweis auf Kyros für falsch erklärt. - Zur Biographie des K y r o s vgl.
auch Delahaye, Revue des fit. G r . I X (1896) 2 1 9 .
5
Bei Nonnos, der die Pronomina nicht elidiert (Ludwich, Beiträge zur Kritik des
Nonnos 16), muß man [iE ölöaqE schreiben, nicht |_i' ¿öiöaS;E. Doch muß andererseits
(iE nidit als Enklitikon zu jtaxr|0 gezogen werden, sondern proklitisdi zu SiSa^E,
damit der Verseinschnitt nicht falsch wird. Unsere traditionelle Accentuation führt
da irre. Bei Kyros kann man natürlich schreiben wie bei Nonnos. In dem Verse
Dionysiaka 16, 320 aide vooaqpaXeo? cxa<pv}.r\<; axs B a x / o ; äväoaci) leidet die Syntax
unter dem Verszwang, wie nicht selten bei Nonnos.
252 Griechische Literatur [45146]
Meineke hat den Anklang als Abhängigkeit des Nonnos von Kyros ge-
deutet, heut herrscht die entgegengesetzte Ansicht 6 . Mit Unrecht! Bei
Nonnos sticht der zweimal vorkommende Versanfang durch nichts beson-
ders hervor. Weder ist er inhaltlich bedeutsam, noch steht er an irgend-
einem auffälligen Platze, so daß man ihn ohne weiteres im Gedächtnis
behalten müßte. Bei Kyros handelt es sich um ein Gedicht, das f ü r
eine entscheidende Wendung in dem Leben des viel bedeutenden
Dichters biographisches Dokument war, und es handelt sich um die
Anfangsworte dieses Gedichts. Daß Nonnos von Panopolis die berühmten
Verse des Kyros von Panopolis im Sinn hatte, kann man verstehn.
Der umgekehrte Vorgang, daß Kyros einen zweimal vorkommenden
und an sich durchaus gleichgültigen Versanfang des Nonnos im Gedächt-
nis behalten habe, wäre nur dann wahrscheinlich, wenn er auch sonst
voll wäre von nonnianischen Reminiscenzen, etwa wie Musaios oder
Johannes von Gaza. Davon aber ist so wenig die | Rede, daß man in seinen
erhaltenen Versen schwerlich irgendwo einen bezeichnenden Anklang an
den Stil des Nonnos möchte aufzeigen können; von seiner Verskunst ganz
abgesehen, über die noch zu reden sein wird. Als Möglichkeit läßt sich
erwägen, ob nicht f ü r beide Dichter eine gemeinsame Vorlage anzusetzen
sei7. Wenn man aber überlegt, daß Kyros ebenso wie Nonnos aus Pano-
polis stammt, daß also ein Zusammenhang irgendwelcher Art zwischen
den beiden viel wahrscheinlicher ist, als das Gegenteil, so gewinnt die
Annahme einer unmittelbaren Abhängigkeit des einen von dem andern
außerordentlich, und die Annahme einer gemeinsamen Quelle verliert in
gleichem Maße. Mithin hätte Nonnos, als er an seinem 16. Buche arbeitete,
ein ums J a h r 440 verfaßtes Gedicht zitiert.
Das Fundament, auf dem die neue Datierung ruht, ist so schmal, daß
sich wohl mancher hüten wird, den traditionellen Ansatz aufzugeben,
so wenig dieser in Wahrheit selbst begründet ist. Darum scheint es not-
wendig, den Bau durch andere Mittel zu stützen.
Ein Punkt sollte eigentlich längst schon Zweifel erregt haben, ob
man nicht den Nonnos irrtümlich um 400 ansetzt. Keiner nämlich, den
man zu seiner Schule rechnet und nach Stil und Verskunst rechnen muß,
6
Meineke zum Theokrit 3 p. 4 5 3 . Dagegen Bernhardy, Grundriß der griech. L i t . 2 I I 1,
3 9 4 ; N o n n i Dionysiaca ed. Ludwich I p. X .
7
P . Maas, D L Z 1 9 1 0 , 2 5 8 8 , vermutet „ f ü r alle drei Stellen eine bukolische Quelle".
[46/47] Die Chronologie des Nonnos von Panopolis 253
8
Dies ist eine Tatsache, mit der man zu redinen hat. Mithin wird das in der Anth.
Pal. I X 362 erhaltene Gedicht E i ; 'A/.cpeiöv jtoxanóv, das einen Nonnianer zum
Verfasser hat, von Holland (Commentationes Ribbeckianae 381 ff.) ganz irrtümlich
in den Anfang des 5. Jahrhunderts gesetzt und auf Alarichs Eroberungszug gedeutet.
Vor Anastasios ist das Gedicht formal nicht denkbar. Nun ist auf den Trümmern von
Olympia in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts ein byzantinisches Dorf erbaut
worden. Ihm voraus ging ein spätrömisches oder byzantinisches Kastell, zu einer Zeit
errichtet, als der Zeustempel noch stand. Vgl. Curtius-Adler, Olympia, Ergebnisse der
Ausgrabungen I 91 f. (Dörpfeld) 9$ f. (Adler). Mit dem kümmerlichen Dorf wird
unser Gedicht nichts zu tun haben, wie man denn auch an sich die Zeit nicht so weit
herabdrücken möchte. In die Zeit des Kastells hingegen könnte es sehr wohl gehören,
und es würde anschaulich machen, wie notwendig solche Befestigung war. Adler setzt
die Erbauung des Kastells in die Zeit um 465-470 und hält es für eine Wehr gegen
die Seeräuberzüge der Vandalen. Das scheint allerdings etwas willkürlich gegriffen,
aber unser Gedicht würde gut dazu stimmen.
9
Auch Dracontius, dessen Zusammenhang mit der Nonnosschule v. Wilamowitz, Grie-
chische Literatur 200 mit Recht hervorhebt, wird durch die Satisfactio ad Gutha-
mundum regem Guandalorum etwa in den Regierungsanfang des Anastasios datiert.
10 Uber die Chronologie der Juliana vgl. A. v. Premerstein, Jahrbuch der kunsthistori-
schen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses X X I V (1903) 108. Die Datierung
der Kirche beruht auf Gregor von Tours, In Gloria martyrum c. 102 (Mon. Germ,
hist., Script, rer. Merov. I p. 155). Da der Kaiser in dieser Geschichte Justinian heißt,
so muß die Vollendung der Kirche zwischen den Regierungsantritt dieses Kaisers
(1. August 527) und den Tod der Juliana (spätestens 1 1 . Januar 529; irrtümlich Seeck
in Pauly-Wissowas Realencyklopädie I 2208 Nr. 53) fallen. Für völlig sicher kann ich
diesen Schluß darum nicht halten, weil die Anekdote bei Gregor sichtlich fabulös ist,
so daß man sich auf den Namen des Kaisers nicht ganz verlassen kann. Aber Premer-
stein, a. O. 123 f., hat gezeigt, daß sich die Datierung der Polyeuktkirdie in die letzten
Jahre der Juliana gut zu dem fügt, was wir sonst von ihr wissen.
11
Stümpereien wie die panegyrischen Gedichte aus Ägypten, Berliner Klassikertexte V 1,
S. 1 1 7 ff., Byzantin. Zeitschr. X I X 1 ff., täte man unrecht zur Literatur zu zählen.
Und doch ist bei aller Unfähigkeit, korrekte Verse zu bauen, gerade hier die Nonnos-
schule unverkennbar.
254 Griechische Literatur [47¡49]
Als Complement muß nun gezeigt werden, daß alles, was wir aus
der Zeit um 400 und aus der ersten H ä l f t e des 5. Jahrhunderts kennen,
seiner Technik nach auf einer vornonnianischen Entwicklungsstufe steht. |
Mit Kyros sei begonnen. Z w a r die sechs Zeilen des von uns schon
betrachteten Gedichtchens könnten - sowenig der Stil irgendwie an
Nonnos erinnert — ihrer Verstechnik nach durchaus von diesem stammen.
Nirgends ist in Elision oder Doppelkonsonanz, in den Cäsuren und der
Verteilung der Daktylen etwas, das ernstlich widerspräche. J a die Vers-
schlüsse gehen, da alle auf der Vorletzten betont sind, scheinbar noch über
die Forderungen des Nonnos hinaus, der doch nur die Proparoxytona
aus dem Versende verbannt. Allein es braucht nicht erst gesagt zu werden,
daß dies alles gewiß f ü r eine sorgsam geübte Kunst, doch keineswegs un-
bedingt für die Abhängigkeit von Nonnos beweist. Sechs Verse reichen
nicht von fern, um alle Möglichkeiten zu erschöpfen. Und die andern
Gedichte des Kyros, so wenig wir haben, zeigen sogleich, welche Vorsicht
hier dem Urteil geboten ist 12 .
1. In dem Gedicht Anth. Pal. X V 9 schließt einer von acht Versen
mit YEQovTog, in dem Gedicht Anth. Pal I X 808 einer von elf Versen mit
TEtotwaxai. Dem Gesetz des Nonnos, das keine Proparoxytona im Vers-
schluß zuläßt, haben sich freilich unter seinen Nachahmern nicht alle
gefügt; Triphiodor und Koluth halten an der älteren Weise fest.
2. Die Elision itavtt' öpöoa I X 808 ist gegen den Gebrauch der gesam-
ten Nonnosschule 13 .
3. Vorschriftswidrig sind die homerischen Hiate aylaä 'egya I X 808,
deiSeixeta 897a X V 9, itäv as eiaxco X V 9 (wo man mit itavtci o' Eiaxw eine
gleichfalls unnonnianische Elision einführen würde).
4. Für die Vokalverkürzung im zweiten und dritten Fuße, die Nonnos
(außer bei xai, rj, ia.1'1) nicht gestattet 14 , begegnen folgende Beispiele: ejtei
eutiöev aXXcr&EV äXXa I X 808, voaqpi \o%aiov EQCDtog I X 136.
5. Der zuletzt angeführte Versanfang enthält außerdem trochäischen
Einschnitt im | zweiten Fuß nach einem Worte, das schon im ersten be-
ginnt, - ein f ü r geschärfte Ohren höchst unschöner Bau des Hexameters,
den Kallimachos geächtet hat, und der bei Nonnos und seinen Nach-
ahmern nicht ganz unmöglich, aber äußerst selten ist 15 . Als undenkbar
muß es bezeichnet werden, daß ein Nonnosschüler, der nicht ein Stümper
12
Man könnte auf die Annahme verfallen, daß Kyros selbst eine Entwicklung zum
Strengeren durchgemacht habe. Aber das Material reicht zu solchen Schlüssen nicht
hin. Das unten S. 49 Anm. 2 zu erwähnende Epigramm Anth. Pal. I 99 würde sogar
Einspruch erheben, da es aus dem Jahre 462 stammt.
13
Ludwich, Beiträge zur Kritik des Nonnos 29 ff.
14
Lehrs, Quaestiones epicae 264 ff.
15 Ludwich, Fleckeisens Jahrb. 109, 454 ff. W. Meyer, Zur Geschichte des griedi. und lat.
Hexameters (Münchener Sitzungsber. 1884) 1004 ff.
[49/50] Die Chronologie des N o n n o s von Panopolis 255
Die Verse sind glatt und sorgfältig, soweit man nach zweien urteilen
darf; Daktylenreichtum ist offenbar gesucht. Den Stil zeichnen die tönen-
den Adjektive aus, von denen m|HTEvr|g sonst aus Proklos und Nonnos
samt seiner Schule bezeugt ist, úi|nxáQT|vos zwar schon im Aphrodite-
hymnus (264), dann aber gleichfalls oft bei Nonnos vorkommt. So läßt
16
D a s E p i g r a m m A n t h . Pal. I 99, das Delahaye, R e v . des É t . G r . I X ( 1 8 9 6 ) 2 1 6 ff., aus
der V i t a des Daniel Stylites ergänzt und als Dichtung des K y r o s nachweist, beginnt
mit dem Vers UEoarWii? Y a t T l ? T E x a l oipavoO laxaron, ävr|g. D a ist z w a r das N e b e n -
einander zweier Spondeen und auch jede der 3 Vokalkürzungen an sich für einen
Nonnosschüler denkbar, schwerlich aber die H ä u f u n g aller dieser Eigentümlichkeiten,
w Überschrift zu A n t h . Pal. I X 1 3 6 .
18
Z u m Folgenden vgl. Reitzenstein, Geschichte der griech. Etymologica 2 8 7 ff. D a s
Wesentliche w a r schon erkannt von N i c o l a i , Griech. Literaturg. I I I 3 5 , später ganz
verdunkelt.
256 Griechische Literatur [50151]
denn bereits der kleine Brocken erkennen, daß Ammonios durchaus auf
der Höhe der zeitgenössischen Epik steht. D a ß er aber kein Schüler des
Nonnos sein kann, beweist die verräterische Elision íoteXeíjiet' öitiaaco, die
nicht nur bei Nonnos undenkbar ist, sondern in der gesamten Epik unter
Anastasios und Justinian. Es bedarf keines Wortes, wie tollkühn es wäre,
das Ammoniosfragment für sich allein als chronologischen Beweis zu
verwenden. Im Verein mit dem, was die Betrachtung des Kyros ergeben
hat, liefert es eine vortreffliche Stütze für unsern Ansatz, der den Nonnos
nach 440 herabrückt. —
Schließlich P r o k 1 o s , der Hymnendichter. Gewiß dürfte man ihn
nicht ohne weiteres an der epischen Technik seiner Zeit messen, wenn er
nicht selbst diesen Maßstab herausforderte und einerseits durch den Vers-
bau - seine Vorliebe für weibliche Hauptcäsur und für daktylischen
Fluß 19 - andrerseits durch die Wortwahl, besonders durch die Vorliebe
für jene üppig schwellenden Beiwörter wie áslívoog, ágasvofrunog, eqcútóto-
y.og, lebhaft an Nonnos erinnerte. Es gibt da in der Tat gar nicht wenig,
was für uns | lediglich aus den beiden nachweisbar ist, und so hat man den
Proklos zum Nonnosschüler stempeln wollen 20 . Aber gerade weil die
Übereinstimmung so stark ist, beweist die Metrik als sicherster Grad-
messer, daß Proklos nicht nach Nonnos gekommen sein kann, von dessen
technischen Feinheiten er nichts weiß. N u r das Sinnfälligste braucht man
hervorzuheben.
1. Dem Verse Movaáoov Egaai:nXoxá|ia>v öcoQoun ¡j.£Xoí|rr|v (I 44) fehlt
die Hauptcäsur im dritten Fuß, er ist für Nonnos und seine Schule über-
haupt cäsurlos und unmöglich.
2. Correptio Attica im Wortinnern, von Nonnos und seiner Schule
auf ganz wenige Fälle (áXXojtQÓaaXXog, áXXotgíooi, 'AjxcpiTQÍicov, 'Hpcr/.XÉT|g,
'AcpQoöitri) beschränkt 21 , ist bei Proklos durchaus nicht selten: |at) xqotqtís
19 Schneider, Philologus L I 593 ff. 129 Fälle weiblicher Hauptcäsur stehen gegen 55
männliche. 69 Verse sind rein daktylisch, 89 haben e i n e n Spondeus, nur 28 haben
2 Spondeen, die sich immer auf die beiden Vershälften verteilen. Mehr als 2 kommen
nicht vor.
20 G . Hermann, Orphica 690; Schneider a. O . v. Wilamowitz, Berl. Sitzungsber. 1907
272, sagt, daß Proklos „die Technik der zeitgenössischen Epik teilt". - Nachahmung
des Musaios bei Proklos w i l l Ludwich, Fleckeisens Jahrb. 1886, 246 ff., nachweisen.
A b e r direkte Abhängigkeit ist nach keiner Seite erweisbar und so, wie Ludwich sie
ansetzt, nach unsern Feststellungen unmöglich. Musaios kann wie alle datierten
Nonnianer nur unter Anastasios, Justin, Justinian angesetzt werden. Die Konsequenz
scheint dann allerdings zu verlangen, daß man den Achilles Tatius zum Zeitgenossen
dieser Epik macht. Denn der Zusammenhang zwischen ihm und Musaios (Rohde,
Griech. Roman 472 1 ) ist nicht z u bestreiten, Musaios kann nicht der Nehmende sein,
gemeinsame Quelle ist unwahrscheinlich, v. Wilamowitz (Griech. Literaturg. 183)
setzt den Achill in die erste H ä l f t e des vierten Jahrhunderts; „aber das ist auch nur
geraten". Bedenklich gegen die späte Datierung macht mich wiederum, daß von akzen-
tuierendem Satzschluß keine Spur ist.
21 Lehrs, Quaestiones epicae 264.
[51152] Die Chronologie des Nonnos von Panopolis 257
Ähnliche Stellen aus Nonnos finden sich leicht. Immer handelt es sich um
Situationen, deren bizarre Eigenart lebhaft hervorgehoben wird. So ruft
der Schiffer, der den Zeusstier über das Meer wandeln sieht (1, 110 ff.):
TUÌÌQS, jtapejiA.aYXfrTlS HEtavaatiog • o{i jiéì.e NriQEiig
ßoimo/.og, oij npaiTeìig àQÓTT]g, où rXaùxog àXcoeijg,
ov% ifXog, ov XeinwvEg ev oiönaaiv . . .
und dann folgt nach ein paar Versen, was formal genau an Claudian
erinnert:
A n einer andern Stelle (13, 480 ff.) tritt ein Zeuspriester dem Typhon
mit einer Beschwörungsformel entgegen:
Und das wird nun ausgeführt, einseitiger als bei Claudian, aber dies eine
mehr detailliert:
(hier ist der formelle Zusammenhang wieder ganz deutlich). Und dann
von Typhon, der durch das Zauberwort gefesselt wird (489 ff.):
ov8s TÓaov TQO|iéeay.Ev oiaTEUTfjoa x E p a w o ü
aìvoYÌvag itoXiijtrixvg, oaov pil^rivopa |xt>aTr|v
Y X a> a a TJ 1 ò u t E Ì o v t a X à A o v ß é X 0 g , elxs 5e xà|xvo)v
EÀxea <pcovr|EVTa j i E n a e ^ é v o g ò £ é 1 n, i>ftco 1.
So kann er sich gar nicht genug tun an dem Gegensatz und zugleich der
Verbindung von Wort und Waffe. Weiter ausgeführt, weniger zusammen-
30 D i e letzten Worte gehören formell noch halb, inhaltlich aber nicht mehr dazu und
bilden den Ubergang zum Folgenden Qékyei xai 10x15 àXYofivtag- EÌ òé tig V-.T.X.
260 Griechische Literatur [55156]
gepreßt in den Kontrasten und doch auch wieder ähnlich heißt es dann
in einer Hohnrede Typhons (2, 291 ff.):
und ( 1 7 8 ) :
31
In V . 2 9 1 habe idi KpoviSrig für öX'iych; geschrieben; ich sehe nicht, wie man selbst
mit der Annahme einer Lücke der „wenigen Blitze" H e r r werden will. In V . 2 9 3
steht [ioi statt e[ioi als Gegensatz zu Kooviörig. M a n orthotoniere also, q j a a y a v ' E|j.oi
konnte Nonnos ja nicht sagen. (Falsch ist, wie ich bei dieser Gelegenheit aussprechen
möchte, meine von Ludwich genannte Vermutung zu 2, 1 7 4 . Ich verstand den Vers
damals nicht, gemeint ist der erste und letzte Planet, Kgovtqg also ganz richtig.)
32
Ludwich hat diese Partie teilweise beigeschrieben. - Der Dichter erinnert in V . 2 7 nach
seiner Weise an die Geschichte, die ihn angeregt hat: an Adiill und Penthesilea. Aber
mit der ledernen Darstellung des Quintus, die Ouwaroff, Nonnos von Panopolis der
Dichter (Petersburg 1 8 1 7 ) 83, als Vorlage nennt, hat die raffinirte Scene der D i o n y -
siaka nichts gemein.
[56¡57] Die Chronologie des N o n n o s v o n Panopolis 261
Nonnos nicht als vereinzelte Erscheinung zu gelten hat, sondern daß sein
Stil auf dem Höhepunkt einer Entwicklung steht, die Jahrzehnte zurück-
reicht. Für diese Erkenntnis, die zum Verständnis des Nonnos Entschei-
dendes beiträgt, gibt Claudian mehr aus als für unser chronologisches
Problem, dem er nicht wesentlich weiterhilft. -
Ein Einwand könnte sich gegen unsre Methode der Zeitbestimmung
erheben und muß darum vorweg zurückgewiesen werden. Hat wirklich,
so ließe sich fragen, die griechisch-epische Technik in allen Teilen des
ungeheuren Imperiums eine einheitliche und gleichmäßige Entwicklung?
Die Frage verliert an Bedenklichkeit, wenn man ihr schärfer ins Auge
sieht. In Wahrheit gibt es nur zwei Brennpunkte, Ägypten und die Reichs-
hauptstadt; alles andre, was noch in Betracht kommt, Syrien und Athen,
ist Ausstrahlung von dort. Ägypten und Konstantinopel aber sind in
beständigem Austausch; oder genauer genommen: der fruchtbare Boden,
auf dem sich der Fortschritt eigentlich vollzieht, ist Ägypten, und von
dort findet ein fortwährendes Abströmen in das Reich, besonders nach
Konstantinopel statt. Claudian ist Alexandriner (als er nach Rom geht,
fällt sein Wirken für die griechische Dichtung aus). Kyros ist Panopolit,
und bei ihm zeigt sich die Anziehung, die die Hauptjstadt des Ostens
auf emporstrebende Talente übt, ganz deutlich: er wird Hofpoet und
hoher Würdenträger in Byzanz. Von Ammonios wissen wir nur, daß er
ebendort sein Epos vorlas. Proklos stammt aus Lykien und geht über
Alexandrien und Byzanz nach Athen; seine dichterische Ausbildung hat
er, wie zu vermuten, wesentlich in Alexandrien empfangen. Und mit der
zweiten Dichtergruppe dürfte es ähnlich stehen. Christodor wenigstens
stammt zwar aus dem ägyptischen Koptos; aber unter den Stadt-
geschichten (náxQia), die er versifiziert, ist die von Konstantinopel; so-
dann verfaßt er auch ein Gedicht über den isaurischen Krieg des Ana-
stasios und eine Beschreibung der Statuen im Zeuxippos 33 ; also ist er in
der Hauptstadt gewesen und vermutlich auch mit dem Hof in Beziehung
gekommen. Unter Justinian scheint dann Ägypten mehr zurück- und
Konstantinopel mehr hervorzutreten. - Die Konsequenzen, die diese
Betrachtung für Nonnos hat, sind deutlich: wir dürfen in der Tat mit
33
Suidas s. v . XptOTÓSopog. Eine dritte Landschaft, für die er gedichtet, in der er sich
also aller Wahrscheinlichkeit nach länger aufgehalten hat, ist die Mäandergegend.
Denn er dichtete auch ITaxpia MiAr|TOU, i t á t ^ i a TpáXXecov, j i á r p i a 'Aeppoöiaiaöo;.
Angefangen w i r d er mit diesem Literaturzweig in seiner eigenen Gegend haben
( j i á t p i a NáxXT)5. £<jtí öe jcóXis Jtegi 'HXioúnoXiv). G a n z ähnlich kann man beobachten,
daß der jüngere Claudian, der Nonnianer, von dem A n t h . Pal. I 1 9 stammt, für
Kilikien und Syrien (Tarsos, A n a z a r b a , Berytos), andrerseits für die Nordwestecke
Kleinasiens (Nikaia) als Dichter von itáxgia tätig ist. Offenbar hat man damals
überall solche Dichtungen verlangt, und natürlich dichteten zunächst die Dichter für
ihre eigene Vaterstadt oder Gegend, so Hermeios von Hermupolis KÚxgia 'Eg|iovjtö-
Xeo>s, Horapollon von A l e x a n d r i a xeqí twv xaxgicov ' A X E l a v ö p e i a g (Photios Bibl.
cod. 2 7 9 ) .
262 Griechische Literatur [57158]
zeigen, daß der entscheidende Fortschritt des Verses und Stils in jenen
Zeitraum fällt. Dazu stimmt das vorhin gewonnene Resultat, wonach
Nonnos höchstwahrscheinlich ein 440 verfaßtes | Gedicht des Kyros zitiert.
Und nur eins ließe sich fragen, ob denn Nonnos wirklich die für jenen
Fortschritt maßgebende und schöpferische Persönlichkeit war 35 . Nun ist
ja so viel deutlich, daß von den uns erhaltenen Nonnianern unmöglich
einer als der schöpferische bezeichnet werden kann. Dafür sind sie - mit
Ausnahme des Paulus Silentiarius, der hier natürlich nicht in Frage
kommt, - viel zu schwächliche Figuren. Man müßte denn also irgendeinem
ganz Unbekannten die Ehre erweisen, die wir jetzt unter dem Eindruck
seiner großen und großartigen Schöpfung dem Nonnos zu geben fast für
selbstverständlich halten. Die Folge wäre, daß seine Lebenszeit noch
weiter herabgerückt werden müßte; ja dann würde an sich nidits hindern,
ihn unter Anastasios und selbst unter Justinian wirken zu lassen. Ob
dieser Schluß oder seine Voraussetzungen für andere irgend etwas Wahr-
scheinliches enthalten, weiß ich nicht. Mir würde solche Konstruktion
wider alle Natur zu gehn scheinen.
35
Z . B. läßt Wilhelm Meyer, Z u r Gesch. d. griechischen und lateinischen Hexameters,
„die Möglichkeit offen, daß ein andrer es w a r , der die neue Schule disciplinirt h a t " .
YI1O0HKAI
I
9I3
i. H e sio d
1
Ed. Meyer in Genethliakon ( 1 9 1 1 ) 1 6 1 : „Die Grundlage des Werkes bilden wie bei
Hesiods Zeitgenossen, den israelitischen Propheten, einzelne Dichtungen, die aus der
momentanen Situation erwachsen sind. . . . Und diese Agitation hat gewirkt. Wie der
Fortgang des Gedichts zeigt, ist Hesiod später ein wohlhabender Mann im Besitz
von Haus und H o f . . . Perses ist verarmt.. . Das hat Hesiod den Anlaß gegeben,
seine früheren Gedichte mit den Gedanken, zu denen er in langem Grübeln über
Menschenleben und Menschenschicksal gelangt war, in einem großen Gedicht über
das Menschenleben zusammenzufassen." - Im Zusammenhang mit der Kirchhoffschen
Sammeltheorie hat Fick den Ursprung der " E p ^ a nach Lokris verlegt, und dieser
Irrtum steht noch in der Vita Hesiods, die O. Hoffmann, Gesch. d. griedi. Sprache
I, 79, skizziert. Hesiod kann die " E g y a wirklich nur in der Gegend von Thespiä und
Askra verfaßt haben, wenn sie auf den Bruder und die Richter Einfluß auszuüben
bestimmt waren. Er ist auch nicht in der Äolis geboren, da er ja nach seiner Ver-
sicherung niemals über das Meer gefahren ist. - Beloch, Grieth. Gesch. I i 2 312, trägt
über Hesiod Unbegreifliches vor. Aber auch für Aly, Rhein. Mus. L X V I I I (1913) 30,
sind die „Werke und Tage" wieder „echte Flickpoesie". Auf der anderen Seite steht
W. Fuß, Versuch einer Analyse von Hesiods E x i l , Diss. Gießen 1910. (Ich bemerke
übrigens, daß im Text nur von den " E ß v a , nicht auch von den 'HuEpai die Rede ist.
Darüber später noch ein Wort!)
[5591560] YIIO0HKAI 265
der Natur der Sache solange, als nicht das Gegenteil erwiesen ist. In
Wahrheit aber gibt es keine Gründe, jene Sammeltheorie zu stützen. Es
ist Kirchhoffs falsche Interpretation, die aus dem Rechtsstreit mit Perse?
zwei verschiedene Konflicte machen wollte 2 und abermals völlig anders
geartete Beziehungen der beiden Brüder für den sogenannten „Bauern-
kalender" erschloß3.
Das einheitliche Gebilde, das wir überblicken, ist nun freilich so eigen-
artiges und fremdes Gewächs, wie nicht eben viel anderes. Kaum vor-
stellbar scheinen uns die Bedingungen, unter denen es entstand. An den-
selben Bruder werden die Streitreden - zum Teil leidenschaftlichen
Charakters, wie uns scheint - und in einem Atem auch der ruhig beleh-
rende „Bauernkalender" gerichtet. Abwechselnd wird der Bruder und
werden die Richter apostrophiert: waren sie anwesend, und wo war Zeit
und Gelegenheit für den Vortrag solches Gedichts4? Empfand man über
der Zwiespältigkeit der Teile auch Zusammenhalt und Einheit, die der
Dichter doch gewiß seinem Werk zu geben gesucht hat? Und wie hat sich
dieses Konglomerat von mythologischer Erzählung, Streitrede, Fabel,
Spruchdichtung und Lehrvortrag im Geist des Mannes zu einer dichte-
rischen Ganzheit fügen können? Es ist gut, sich einzugestehen, wie wenig
wir in Wahrheit wissen und begreifen. Um so mehr wächst die Ver-
pflichtung, klar zu werden über das, was wir wissen können.
Am Anfang steht das Proömium, streng gebaut (2 + 2. 4. 2) und kurz
gehalten. Hesiod wählt die feierliche Hymnenform der Parallelismen und
schmückt sie zugleich mit einem Reichtum von Antithesen und Assonan-
zen, die uns spezifisch „modern" erscheinen, weil sie in der Geschichte der
griechischen Kunstprosa ihre Rolle zu spielen bestimmt waren. Beides
gehört zum hesiodischen Sakralstil, den wir vor allen Dingen aus dem
2
Mahnlieder $7 f. Kirdihoff wollte aus V . 278 herauslesen, daß Hesiod hier nicht
Partei, sondern Zeuge sei. D a s ist falsch. V g l . Lisco, Quaestiones Hesiodeae 5 5;
v . W i l a m o w i t z , Sappho und Simonides 1 7 0 .
3
Mahnlieder 66. Perses ist nicht bei Nachbarn betteln gegangen, sondern der Dichter
stellt ihm das für die Z u k u n f t in Aussicht (399 f.). U n d er hat sich demnach nicht
„mit der Bitte um H i l f e auch an den Dichter gewendet", sondern dieser ist der
einzige, den er bisher angegangen hat (396). M a n kann auch nicht sagen, daß die
W o r t e ¿ 5 x a i vüv i n ejj. r^-frEg einen Rechtsstreit der beiden ausschlössen. Ein
Zivilprozeß oder noch besser ein Streitverfahren v o r den Schiedsmännern macht
doch wohl Familienbeziehungen nicht allemal unmöglich.
* A l y hat im Rhein. Mus. L X V I I I 4 1 einen Gedanken geäußert, den ich auch im
Kolleg vorgetragen habe: der äußere Anlaß zum öffentlichen Angriff gegen den
Bruder und die Richter möge in irgendeiner volkstümlichen Institution gelegen
haben, die solche Rügegedichte forderte. Darüber bin ich jetzt nodi zweifelhafter als
früher. D e r Bauernkalender paßt so gar nicht zu einer solchen Gelegenheit. N u r um
irgendwie eine Denkmöglichkeit zu gewinnen, ließe sich fingieren, daß der Dichter
angekündigt hätte, er wolle seine Lehre über die Arbeit des Landmanns im Liede
vortragen, und daß er dann gleichsam wider E r w a r t e n den ganzen polemischen Teil
vorausschickte. A b e r besser ist es, das Nichtwissen einzugestehen.
266 Griechische Literatur [5601561]
5
Leo, Hesiodea 1$. Die Beziehung des UKivei crxoXiöv (V. 7) auf die oxoXiai und
IfrEiai öhtai des Gedichts drängt sidi immer wieder auf in dem Sinne, wie Leo es
ausspricht. Und doch erhebt sich die Betrachtung der Antithese und der parallelen
Wendungen in V. 5 und 6 dagegen. - Auf Zieglers Ausführungen einzugehen, ist
mir durch Norden, Agnostos Theos 259 A. 3, erspart; Aly a . a . O . 30 A. 1 spricht
zu unentschieden. Auf die Analogie des Hekatehymnus ist vielleicht noch nicht
nachdrücklich verwiesen worden. Er wird ja freilich entweder als unhesiodisch aus
der Theogonie entfernt (Arth. Meyer, De compos. Theog. 25) oder neuerdings gar
als hesiodisch aus unhesiodischer Umgebung gelöst (Aly a. a. O. 34), während sich
zeigen läßt, daß er von dem Dichter der Theogonie, d. h. von Hesiod, für diese
Stelle gearbeitet ist. Hingewiesen sei nur auf die Versschlüsse KaQayiyvexai f|5'
6vivr]CTiv 429 und 4 3 6 , j i a Q a y i y v e x a i o l ; y.' EdE^riioi 432,öv(und oi;) •/.' EdEXr|ioi 430
und 439, xööo; öjta^si 433 und 438, efleXouad ye <h>[icüi und duuän y' ¿deXouaa 443
und 446. Dann auf die Versanfänge ectM.t| in 435, 439, 444, yeia und ¿T]iöi(og in
438, 442, 443. Aber das ist bloß von der Oberflädie abgeschöpft. Von hier aus ist
auch Empedokles zu verstehen, für dessen Stil Hesiod (und etwa andre Kultpoesie)
von entscheidenderer Bedeutung gewesen ist als Heraklit, auf den Norden, Kunst-
prosa 18, verweist. Gorgias hat die axtinata XeIeco; nur systematisiert, nicht erfun-
den. Die Poesie besaß sie längst. - Hesiod verfügt über sehr verschiedene Stile, je
nach dem Gegenstand, der ihn beschäftigt.
6
Ich halte V. 19 nicht (wie u. a. Leo, Hesiodea 16) für korrupt, sondern für archaisch
formlos, y.ai «vöodai jtoXXdv &|xeW(o gehört nicht zu dfjy.e yairjq iv pi^riun, sondern
zu jtQOTEpryv EYEivato und allenfalls zu dfjxe oder zu einem allgemeinen „machte",
das man aus eyeWoito und ftfjxE im Sinne behält. Es ist nicht unmöglich, daß äueivco
gleich mit JtQoxEQryv conzipiert wurde, wenn man an die Verbindung ä[xa jiqöteqo;
xat aQsicov B 707, \P 588 u. ö. denkt.
7
Auch dies ist intakt überliefert, freilich in den Ausgaben unverständlich.
ist egere und carere, hier lehrt die Betrachtung des parallelen Satzes und Gedankens
312/3, daß carere gemeint ist, und Epyoio xati^cov ist soviel wie dort aEQyot;. Mit 05
(oder wenn man durchaus will 8) beginnt der Nachsatz. Richtig druckt Lehrs, Quaest.
ep. 222. Vor allem, aber steht die richtige Interpretation im Moschopulosscholion:
EQYOU x<Jt!£o>v f|70Dv evÖET)g (ov eqyou, Xeiäo^ievo;, TOUTsemv oiö£v Ep7at,6u2vo;.
[561j562] YÜO0HKAI 267
pflügen und sein Hauswesen gut zu bestellen: dann gibt es den rechten
Wettstreit um den Wohlstand 8 ." |
Wir sind nicht in einer Zeit, die Allegorien leichthin ausschüttet. Diese
neue Eris, die der nachdenkende Dichter als erster in seinem V o l k ersdiaut
hat, diese frische Konception, deren Wirken vielleicht noch in den
Systemen des Heraklit, Parmenides und Empedokles erkennbar ist, kann
nichts Geringes f ü r das Gesamtwerk bedeuten. „Merke dir dies (was ich
zuletzt von der guten Eris gelehrt habe) und laß dich nicht durch die
schlimme Schwester zu Z a n k , Streit und Prozeß verführen und von der
A r b e i t abziehn!" Z w i s t und Arbeit, das sind die Gegensätze, und wie
die Arbeit vorher der guten Schwester zugesellt worden w a r , so ist der
Zwist, den der Dichter verpönt, ein Werk der schlechten. Blickt man
weiter über den Zusammenhang des Ganzen hin, so setzen jetzt die
Abschnitte ein, in denen das Dasein der Mühsal (des jtövog) auf Erden
erklärt wird, einmal durch die besonders gewendete Sage von Pandora,
zweitens durch die neu überdachte und geformte Sage von den fünf
Weltaltern 9 . U n d dann folgen abwechselnd, an die „ K ö n i g e " und an
Perses gerichtet, des Dichters Mahnungen. Man weiß, welches ihr Thema
ist. Sie handeln nur von dem Reich, in dem die böse Eris herrscht. Die
gute ist hier nicht einmal so weit beteiligt, daß sie Komplement wäre;
das ist vielmehr Dike. Was also soll diese ganze Erfindung, die der Dichter
so nachdrücklich an den A n f a n g stellt? Wir warten durch alle jene Partien
hindurch, in denen von Zwist und Recht die Rede ist, daß sich das Reich
der guten Eris auftue mit der „ A r b e i t " , die, wie w i r wissen, zu ihr
gehört. U n d schließlich tut es sich a u f , als der Dichter seine Gedanken
nach einer anderen Richtung wendet als bisher und mit neuem Nachdruck
einsetzt (298/9): „Folge mir, arbeite!" Wohin diese Worte zielen, ist klar;
sie werden aufgenommen durch die Mahnung: „ S o sollst du tun und
8
Die Verse 2 5 / 6 muß man nicht nur nicht absondern, geschweige denn athetieren, son-
dern, wie mir der Parallelismus mit yeiTova YEtTüJv-TexTOvi textcdv usw. an die
H a n d zu geben scheint, aufs engste mit dem Vorhergehenden verbinden. Ith glaube,
daß man ¿ v a ö i ) 8 ' " E p i g r^äe ßgorotoiv nicht als Abschluß betrachten muß, sondern
als Parenthese. A l s o
^rjXoi 6e t e yeiTOva ysittov
eis ö<pevo; cjcevöovt' - ayadr] 6' "Eqi? iiöe ßpotoiaiv -
x a l 5t8Qa[xeii; x e g a n e i xoteei x a i textovi textcov
x a l jtTtoxö? itxcoxwi qpftovEei x a i doiöög üoiöüi.
D a ß das Grollen und Neiden zur guten Eris gestellt wird, zeigt nur, wie sehr wir
uns hüten müssen, unsere Moral (ganz wie unsere Poetik oder selbst Logik) in alte
Zeit hineinzutragen. D a s Richtige über diese Verse lehrt im wesentlichen Nietzsche,
Homers W e t t k a m p f , W e r k e I 2 5 7 (Taschenausgabe).
9
Meine Ansicht über diese M y t h e n habe ich (nach der früheren Behandlung: Philolog.
Untersuchungen X I X 39 ff.) in einem Vortragsreferat skizziert; s. das Dezemberheft
der Zeitschr. f. d. Gymnasialwesen L X V I ( 1 9 1 2 ) . Idi hoffe, das noch einmal aus-
führlicher darzulegen.
268 Griediisdie Literatur [562/564J
Werk auf | Werk wirken" (382). Damit aber wird der große Abschnitt
angekündet, den man den „Bauernkalender" zu nennen pflegt. Der ist
an Perses gerichtet, ihm „gewidmet", er lehrt, wie Perses arbeiten soll,
er bringt recht eigentlich die Erfüllung dessen, was wir erwarteten. So
ist es denn klar, daß jenes Stück am Anfang (ri ff.), in dem der Dichter
seine neu gefundene Eris neben die alte stellt, die beiden Teile der Dich-
tung, die „Mahnreden" und den „Bauernkalender" zu einem Ganzen
zusammenfaßt10.
Von diesem allgemeinen Überblick richtet sich das Auge auf einen
kleinen Abschnitt, der uns beschäftigen wird: es ist die Reihe von Gnomen,
die unmittelbar vor dem „Bauernkalender" steht (303-382). Selbst Leo
athetiert diese Partie 11 . Da ich sie für hesiodisch halte, muß ich meine
Ansicht begründen. Zunächst sei rückschauend an das erinnert, was vor-
hergeht. Auf die Mythen von Pandora und den Weltaltern folgt, für
die „Könige" bestimmt, jene anzügliche Fabel vom Habicht und der
Nachtigall (202-212), und daran schließen sich zwei parallele Abschnitte
(213-47, 2 48-67), die nun in einer mehr begrifflichen Erörterung zuerst
dem Perses, dann den Königen das Wesen und die Folgen von Recht und
Unrecht einprägen sollen. Dann ein neuer Einsatz, ein leidenschaftlicher
Ausbruch des Dichters (270): „Nun will ich selbst nicht mehr gerecht
sein unter den Menschen und nicht mein Sohn, da es vom Übel ist, ein
gerechter Mann zu sein, wenn ja der Ungerechte größeres Recht haben
soll." Und als hätte diese Entladung ihn befreit, fährt er ruhiger fort
(273): „Aber noch, hoffe ich, wird Zeus es nicht dahin kommen lassen",
und bahnt sich so den Weg zu allem Folgenden12. Der Bruder wird noch
einmal zu Recht und Gerechtigkeit gemahnt (274-8 5); man kann vielleicht
nicht sicher sagen, warum, da der Abschnitt 217-47 ganz ähnlichen
Zuspruch an dieselbe Adresse richtete13. Aber dann geht der Dichter mit
starken | Schritten auf sein Ziel los (286-92): „Ich meine es gut mit dir
und will dir etwas Gutes sagen: das Schlechte (xaxotr|Ta) kann man haufen-
weise kriegen, das aber, was Macht und Glanz gibt und dem Manne die
Arbeit lohnt (dgetriv), das muß man im Schweiße des Angesichts er-
10
W a s hier steht, ist nichts Neues. Ich formuliere nur etwas anders, was Lisco, Quaest.
Hesiodeae j o gut dargelegt hat. Bloße Berufung auf den Vorgänger ohne eigene
Darlegung hätte bei dieser schwierigen und umstrittenen Materie schwerlidi genügt. -
P . W a l t z , Hesiode et son poeme moral (Bordeaux 1906) 4 4 , der die Einheit be-
hauptet, geht nicht hinreichend auf das Einzelne ein.
11
Leo p. 1 7 ; ihm folgt Lisco p. 57.
12
W e r den Vers 2 7 3 streicht, hat den Zusammenhang des Ganzen nicht klar erfaßt.
Richtig E d . Meyer im Genethliakon.
13
M a n könnte etwa daran denken, der Dichter habe von den Mahnungen an die
„ K ö n i g e " „Seid gerecht!" zu den Mahnungen an den Bruder „Sei arbeitsam!" den
Sprung allzuweit gefunden und habe darum noch einmal auch den Bruder zur
Gerechtigkeit ermahnt. A b e r das überzeugt nicht unbedingt.
[564¡565] YÜO0HKAI 269
14 Leos Darlegung, nach der die gesamte Komposition des Gedichts an der Variante yag
in 287 hängen soll, so daß mit der Aufnahme von TOI das Ganze in seine Teile aus-
einanderfiele, hat midi früher überzeugt und mich jahrelang festgehalten. Ich kann
sie jetzt nidit mehr vertreten und halte es für gefährlich, den Zusammenhalt des
Gesamtwerks an ein so schwaches Wörtchen zu hängen. Ich vermag nicht einzusehen,
warum 286 nicht auf die unmittelbar folgenden Verse hinweisen soll, warum es
durchaus erst auf 299 hinweisen muß. - Über das, was ÄOETR| im Gegensatz z u
xaxöxr); hier ist, vgl. v. Wilamowitz, Skolion des Simonides (Nachr. d. Gött. Ges.
1898) 214 = Sappho und Simonides 169. Man kann darüber streiten, ob „Gedeihen"
gerade in der Nuance glücklich gewählt ist; wir haben natürlich im Deutschen nichts
genau Entsprechendes. Über die Bedeutungsgeschichte des Wortes hat Joh. Ludwig,
Quae fuerit vocis «OETT) vis ac natura (Diss. Leipzig 1906) 21, manches Richtige
gesagt. Wie er es aber bei Hesiod moralisch auffassen will, ist mir unverständlich.
Er hätte wenigstens seine Ansicht durch eine Darstellung des hesiodischen Gedanken-
gangs begründen müssen. Der Hinweis darauf, wie Piaton und Xenophon (und das
Altertum überhaupt) diese Stelle a u f g e f a ß t haben, hat kein Gewicht, da sie ja den
Dichter nicht nachlasen, sondern das Zitat im K o p f hatten. Auch ist klar, daß man
damals in unserm Sinne interpretieren weder konnte nodi wollte.
270 Griechische Literatur [5651566]
sind nicht Kitt eines Redaktors, der die Gnomenreihe mit dem „Bauern-
kalender" hätte verbinden wollen. Läßt sich aber 381 unmittelbar an 302
fügen? Die Möglichkeit wird man nicht bestreiten dürfen und wäre so
überliefert, dann würde vielleicht kein Anstoß genommen werden. Aber
es beruht doch wohl auf mehr als bloß subjektivem Empfinden, wenn man
behauptet, 381/2 schließe sich dem unmittelbar Vorhergehenden besser
an als dem Komplex 298—302. „2ol b' et nXomov 0u|iòg èekòexai... So aber
du Reichtum wünschest . . . " wird am geeignetsten da stehen, wo vorher
von andern die Rede war, die Reichtum haben oder haben wollen. Nun
wird in der Tat von der Weise, wie ein Haus sich Wohlstand verschafft
und erhält, in den vorhergehenden Versen 376-380 gesprochen. Ein
Gegensatz zu aol öe ist demnach in den unbestimmten Personen deutlich
gegeben15. In 298-301 hingegen handelt es sich um das Wirken des Perses,
so daß man ein gegensätzliches aoì 5é ungern anschließen möchte16. V . 302
spricht von dem Hunger, | der dem Faulen folgt, wo denn zwar eine
andere Person als Gegensatz zu dem folgenden aoì 5é gefunden werden
könnte, aber nun wieder keine Person, die itXoij-tou eeXöexcii. Mithin wird
der Anschluß von 381 an 302 auf alle Fälle härter als an 380, d. h. die
Athetese der Gnomenreihe findet an der Prüfung der Bindeglieder durch-
aus keine Stütze.
Weist also weder am Anfang noch am Ende etwas auf die Unechtheit
dieser Partie, so müssen nunmehr für diese selbst folgende Fragen gestellt
werden: 1. Wie verhält sich der Inhalt zu anderen Teilen des hesiodischen
Werkes? 2. Ist die Form des Abschnitts denkbar und sinnvoll?
Die erste Frage, ob sich die Gnomen der Gedanken- und Empfindungs-
welt des Dichters einpassen, darf man ganz zuversichtlich bejahen. Da
steht zu Beginn der Vergleich träger Menschen mit den Drohnen: dasselbe
Bild, das ja der Erfahrung des Landwirts entstammt, kehrt in ganz ähn-
licher Verwendung und mit wörtlichen Anklängen in der Theogonie
(594 ff.) wieder. Der Satz et 8é vx. egyatrii, xä/a ae ^riXcoaei aegyo5 | jtXouxEfivxa
(312) hat seine genaue Entsprechung am Anfang (21 ff.): eie; eteqov 7Ó.Q
tig te Ì6ùv eqyoio xati^cov | jtXotiaiov, og ojìeiiSei |ièv agófisvai t|8è cputEiJEiv |
oixóv x' ev fréatìai, wo ja jiXouxeivxa dem JiXoixnov, aEpyog dem eqyoio /axi^cov
15
Das unmittelbar vorhergehende Subjekt sind ja die jiXeove?. Aber auch die in tìàvoiq
378 angeredete zweite Person ist nicht Perses, sondern die Form ist allgemein,
dóvoi?, nicht dóvoi ist das Richtige, „eteqov, nämlidi Jialöa." So richtig Kaibel
i. d. Z. X V (1880) 463.
16
Ich weiß wohl, daß man den Ausweg wählen könnte, auf einen persönlichen Ge-
gensatz für aoì ÒÉ zu verzichten und das aot für unbetont zu halten. Dafür könnte
man sich auf Fälle wie Erga 402 xe^M-01 (lèv oü jipt|5Eig, oii ò' ètcóffia jióXX' àyo-
geiaeis und A 190 berufen, wo mit 8 8' 'AtqeÌStiv èvaoii^oi nicht eine neue Person
in Gegensatz zu einer früheren gebracht wird, sondern 'AtqeìSitv 8' Èvaoi^oi ge-
meint ist. Aber das wäre eben nur ein Ausweg, der vor allen Dingen die Unechtheit
von 303-380 als bewiesen voraussetzte. - Kirchhoff, Mahnlieder 62, meint, 381/2
habe ursprünglidi an 326 angeschlossen. Das ist ganz willkürlich.
[566j567] YÜO0HKAI 271
und auf den lebendigen Fall bezieht. Ebenso dürfte es sich z. B. mit 265/6
verhalten, und für den Spruchcomplex 2 9 3 - 7 wurde schon vorhin sowohl
seine formale Isolierung wie sein innerer Zusammenhang mit der
Umgebung betont. Wie sehr schließlich diese Spruchdichtung in ihrem
sprachlichen Stil, den scharfen Antithesen, Parallelismen und „rheto-
rischen" Gleichklängen, mit dem Proömium und anderen sicher hesio-
dischen Teilen übereinstimmt, soll nur mit einem Wort erwähnt werden 21 .
Diese Gnomen, die sowohl nach Stoff als auch nach Form zu Hesiod
durchaus passen, sind nun so aneinandergefügt, daß eine niemals eigent-
lich unterbrochene Reihe von der Mahnung „Arbeite!" (299) zu der
Mahnung „Arbeite so!" (382) hinüberführt auf einem Wege, der zwar
durchaus nicht geradlinig ist, aber doch, in allerlei Windungen wohl ange-
legt, zuletzt ganz scharf und sicher sein Ziel trifft. Ich versuche mit Hilfe
einiger Schlagworte den Zusammenhang aufzuweisen oder in Erinnerung
zu rufen.
Arbeit bringt Wohlstand und Ehre, Trägheit das Gegenteil. ( - 3 1 3 )
Arbeiten ist auch förderlicher, als nach fremdem Eigentum trachten.
(-31«)
Der Wohlstand (den man durch die Arbeit gewinnt) gibt Selbst-
vertrauen. ( - 3 1 8 )
Aber das Streben nach Erwerb darf nicht des Rechtes vergessen, nicht
zu Gewalt und Hinterlist führen, sonst kommt die Strafe der
Götter. ( - 3 3 4 )
Also handle du anders! (335)
Vor allem ehre die Götter durch Opfer! ( - 3 4 1 )
Zum (Opfer-)Mahl 22 rufe die Freunde, insbesondere die Nachbarn!
(-34$) I
Segen eines guten Nachbarn. ( - 3 4 8 )
Sei ehrlich gegen den Nachbar beim Zurückgeben des Geborgten;
hüte dich überhaupt vor unehrlichem Gewinn; liebe den, der dich
liebt, gib dem, der dir gibt! ( - 3 5 5 )
Geben ist gut, rauben ist schlimm. Eine freiwillige Gabe, auch wenn
sie groß ist, freut den Geber. Nimmt man aber jemandem etwas,
so macht es ihm Verdruß, wenn es auch wenig ist 23 . (-360)
Denn wenig zu wenig gelegt gibt zuletzt viel und Sparen bringt
Wohlstand. ( - 3 6 7 )
Doch muß man vernünftig zu sparen verstehen. (369)
Man muß auch nicht (durch falsche Sparsamkeit verleitet) den ver-
abredeten Lohn einbehalten 24 . (370)
(Bei einer Verabredung) sei vorsichtig auch gegen den Bruder und
übe M a ß in Vertrauen und Mißtrauen! (372)
Vertraue deinem Weibe nicht und laß sie nicht deine Vorratskammer
durchstöbern 25 ! (—375) (Von Y^vri-xaXiri zu itaig-olxog:)
Einen Sohn soll man haben, das fördert den Reichtum; doch können
auch mehrere Söhne für den Wohlstand nützlich sein. (-380) |
Wenn du also Wohlstand haben willst, so richte dich nach den folgen-
den Regeln - und damit beginnt der „Bauernkalender".
Kann demnach kein Zweifel bestehen bleiben, daß hier ein vom
Dichter gewollter Zusammenhang vorliegt, so müssen wir das Ergebnis
unserer Erörterungen folgendermaßen formulieren: Der Dichter hat
mittels einer eigentümlichen Form, die er entweder übernahm oder selber
schuf, zwei in sich zusammenhängende, voneinander aber gesonderte
Partien seines Werkes durch eine lange Reihe von Sprüchen verbunden.
Wie bei einer Kette ist der gleichsam starre und einheitliche Zusammenhalt
fortlaufender Erörterung in eine Vielzahl von Einzelgliedern aufgelöst, so
daß locker und doch zugleich unlösbar ein Glied an dem andern hängt.
Die Gedankenverbindung von Spruch zu Spruch ist assoziativ, fast
nirgends schwer zu finden, hier loser, dort fester. D i e formale Verknüp-
fung kann fehlen, kann aber audi durch eine Partikel herbeigeführt
23
D i e schwierigen Verse 3 5 7 - 3 6 0 (ganz falsch z. B . Steitz, W e r k e und T a g e 1 0 8 f., und
die Interpunktion und Schreibung bei R z a d i ) sind nur dann zu verstehen, w e n n
man die innere Inkonzinnität und den äußeren Parallelismus der F o r m (d. h. die
archaische Gestaltung des Gedankens) erkennt. " O 5 äv £§EXCOV ÖÄ>, XALPEI TÖII
b w g w i . I m folgenden aber muß man w i e so häufig statt des 0 5 6E xev einsetzen
eciv 5 e Tic;. D e n n das H e r z gehört natürlich nicht dem N e h m e r , sondern dem andern,
dem genommen w i r d . A l s o zu A n f a n g 0 5 |IEV yag XEV &vr\g edeXcov . . . 8cor|i. Bleibt
noch 0 7 E x a l |x£ya. D e r Gegensatz ist in 3 6 0 r.ai TE OJIIHQÖV EOV, der Sinn also
ganz deutlich: w e n n er auch etwas G r o ß e s gibt. S o w i r d man x a l |XEYU unmittelbar
zu ö(i>r|i ziehen. D a n n ist 8ye überschüssig. A b e r ein solches S a t z und V e r s a u f -
füllendes 8VE ist im E p o s gar nicht selten, z . B . T 4 0 9 , Z 1 6 8 . S o hier EMXCDV OYE
et volens quidem.
24
W a r u m in 3 7 0 durch dvÖjjl tpiXcoi der Geltungsbereich eingeschränkt w i r d , weiß
ich nicht. D e r Ü b e r g a n g nach 3 7 1 f ü h r t w o h l v o n EipriHEVog zu EJU (idp-njpa O s a d a i .
25
U m die E h e f r a u handelt es sich, nicht um eine buhlerische D i r n e , w i e Steitz a. a. O .
in erklärt. N u r so ist der Z u s a m m e n h a n g mit dem Folgenden gewahrt. Daher
denn auch ytivcuxi, nicht "yuvai£i, in 3 7 5 .
274 Griechische Literatur [570j571]
werden. Der Gedanke ist oft in einer einzigen Zeile knapp zusammen-
geschlossen, hier und da verlangt er einen zweiten Vers, um sich auszu-
breiten. Auch eine genauere Durchführung, zumal eine Angabe des
Grundes oder ein Hinweis auf die Folgen, tritt bisweilen hinzu, und einige
Male erweitern sich die Einzelsentenzen wieder zu etwas längerer Dar-
legung, so daß dann größere Stücke zusammenhängenden Nachdenkens
in die Spruchreihe eingesprengt erscheinen (320—335, 356-360).
In dem Ganzen, das den Titel "Egya xai 'H^eßon führt, findet sich,
wie hier anhangsweise erinnert werden muß, noch eine zweite gnomische
Partie sehr verwandter Struktur: sie verbindet bekanntlich den an den
„Bauernkalender" angehängten „Schifferkalender" mit den „Tages-
regeln" (762 ff.). Der „Schifferkalender" ist das letzte, was man mit
Gewißheit dem Hesiod zuschreiben darf. Enthält er doch eins der wich-
tigsten Selbstzeugnisse des Dichters. Von dem, was nun noch folgt,
wüßte ich nicht, wie man den Beweis des hesiodischen Ursprungs erbrin-
gen wollte. Auf alle Fälle scheint es so, als wenn eine Fortsetzung über
die "Egya hinaus in dem ursprünglichen Plan, den wir aufgezeigt haben,
nicht vorgesehen war 26 . Dann ergibt sich aber, daß der Fortsetzer des
Grundbestandes, mag es schon Hesiod selbst oder ein anderer alter Dichter
gewesen sein, | den Übergang zu dem neu anzufügenden Teil, den cH(XEQai,
geradeso gemacht hat, wie der Übergang von der zusammenhängenden
Paränese zu dem „Bauernkalender" durch Hesiod bewirkt worden war.
Als ,Yjtoürjxai' habe ich in der Uberschrift das hesiodische Gedicht
bezeichnet im Hinblick auf die jetzt verlorenen Xipcovog 'Yjtoftfjxai, die
ja auch unter Hesiods Namen standen, bis Aristophanes von Byzanz sie
athetierte27. Wir wissen durch Pindar (Pyth. V I 19 ff.), daß Chirons Mah-
nungen an seinen Zögling Achill gerichtet waren, und Pindar zitiert aus
ihnen den Satz: vor allem müsse man den Zeus ehren, nächst ihm die
Eltern. Die Scholien geben den „ A n f a n g " des Gedichts, vor dem man
freilich noch eine Einleitung vermuten möchte: „Merk dir nun alles wohl!
Das erste, wenn du ins Haus kommst, sei ein Opfer an die Götter."
Pindar zitiert nicht gerade diese Stelle, aber in der gleichen Gegend des
Gedichts werden die Sprüche gestanden haben, auf die er sich bezieht.
Und die Analogie mit den "Epya leitet ebenso wie die Betrachtung des
Überlieferten (jiqojtov (xev) auf die Vermutung, daß auch in Chirons
Mahnreden ein inneres Band die Sprüche verknüpft haben werde 28 . Dar-
26
Schon das könnte zweifelhaft sein, ob nicht der „Schifferkalender" eine spätere
Erweiterung, dann freilich eine sicher hesiodische Erweiterung ist.
27
Die Erga werden (apellativisdi) wcodfjiuii genannt in dem Epigramm I G V I I 4 2 4 0
(Hoffmann, Epigrammata 349) jtei/frojiEvouH ßpoxoig Ojiodrixai? 'Hai65oio evvonia
•/.o'ioa x' K<jtcu xciojtolcn ßgiovaa.
28
Frg. 1 7 1 Rz. gehört gewiß nicht in dieses Gedicht. Denn da die Bestimmung der
Lebensdauer vom Dichter ev twi xfjg Natöo? jtQOOCfljtaJi vorgetragen worden ist,
ein Wechsel des Sprechenden aber in solchem Gedicht durchaus nicht glaublidi er-
scheint, so ist Bergks hypothetische Zuweisung aufzugeben.
[571j572] YÜO0HKAI 275
auf führt auch noch etwas anderes. Das Gedicht war in Athen bekannt
und diente offenbar dem Knabenunterricht. So parodierte esAristophanes,
als er in seinem Jugendstück, den Aouxodijg, frische Schulerinnerungen auf
die Komödienbühne brachte. Mehr aber lernen wir aus der Komödie
XiQtov, „die mit Recht von der alten Kritik dem Pherekrates abgesprochen
ward" 2 '. D a werden Regeln über die Behandlung der Gäste aufgestellt,
wie man es machen müsse, und, im Gegensatz dazu, wie man es gewöhn-
lich mache. Athenaeus (VIII 364) sagt uns, das alles sei Parodie ex tüv slg
'Hoioöov DVACPEPO[IEV(DV MEYÄACOV 'Hoicov xod MEYOIXCOV "EQVCOV. Sdion die
Nennung zweier Titel zeigt30, daß hier wohl kein Bezug auf | bestimmte
Stellen gegeben werden sollte; nur die allgemeine Richtung wird gewiesen,
wo man die Vorbilder suchen müsse. D a ß aber der Dichter des Xipcov an
die XiQCüvog 'Yjrodfjxai gerade n i c h t gedacht habe, ist unwahrscheinlich.
Auch zu den Regeln über das Gastmahl bieten die "Egya xal 'Huepai ihre
Parallelen (342 f., 722 f.), so daß man sieht, wie alle diese gnomischen
Dichtungen inhaltlich und formal zueinander gehörten. Und noch in der
Parodie erkennt man, daß in solchen 'Yjtoftfjxai ein Zusammenhang
zwischen den einzelnen Mahnungen und Erfahrungssätzen gewahrt
wurde.
2. Theognis
Über „Theognis" gibt es heut noch viel weniger eine feste Meinung
als über Hesiod, und was man so sagen hört, schwankt zwischen den
äußersten Extremen 31 . Die einen sehen nur ein wüstes Trümmerfeld, in
dem auch nicht ein Stein mehr an der alten Stelle liegt, andere nehmen
wieder unbesehen das Ganze als Einheit, ohne daß man sie doch allzu
scharf nach dem Wesen dieser Einheit fragen dürfte. Für die einen ist
es ein „Kommersbuch", für andere eine Sammlung von paränetischen,
2 ' v . W i l a m o w i t z , T i m o t h e o s 74 A . 4.
3 0 K a i b e l streicht x a l M e y ä t a o v "EQY<ÜV. M i t welchem Recht, bleibt z u f r a g e n .
erotischen, sympotischen Excerpten. Ich wage für das Ganze keine ein-
heitliche Formel, wie ich denn glaube, daß nur eine Vereinigung der
verschiedenen Auffassungen, getragen von sorgfältigster Interpretation
des Einzelnen und der Zusammenhänge, Erfolg verspricht. Nur für
einen kleinen Teil möchte ich meine Meinung (die natürlich nicht [ etwas
schlechthin Neues zu sein beansprucht) kurz im voraus formulieren. Zu-
grunde liegt am Anfang des Buches eine einheitliche Dichtung, die sich
auf eine ganze Strecke hin im wesentlichen intakt erhalten hat. Es ist ein
Mahngedicht - 'Yjtoftfjxai - ganz ähnlich wie der erste Teil der hesiodischen
"Eqy«. Wie diese ist es keine Sammlung oder Anthologie, sondern es
besteht aus zwar relativ selbständigen, aber doch deutlich aneinander-
hängenden und aufeinander bezogenen Teilen, nur daß der formale Zu-
sammenhalt bei Hesiod vielleicht etwas enger ist. Es ist an Kyrnos gerich-
tet wie die "Egya an Perses (und die „Könige"), und man kann sich das
Ganze schwerlich anders denn als Vortragspoesie denken. Ob der Vortrag
beim Gelage stattfand oder nicht, trägt für das literarische Problem
nichts aus.
1 - 1 8 . Den Anfang des überlieferten Kontextes machen Gebete an
mehrere Gottheiten. Es soll erwiesen werden, daß es sich nicht um eine
Auswahl von Proömien, etwa zum Vortrag beim Mahle, handelt, son-
dern um das unversehrte Proömium einer Dichtung. Drei Gebete folgen
einander, an Apoll, Artemis, die Musen. Die Dreizahl wird schwerlich
auf Zufall beruhen. Man kennt ihre Verbreitung in dem religiösen Leben,
und neben der Kultdreiheit hat auch die reine Gebetsdreiheit ihren unum-
strittenen Platz: Aer, Aither und die Wolken, die in dem rituellen Gebet
bei Aristophanes32 aufgerufen werden, entsprechen in ihrer Zusammen-
stellung am genauesten; aber audi das Gebet in den Thesmophoriazusen
(1163 ff.) an Pallas und dieftecb©eanocpogco darf man erwähnen und die
Lieder, die in den Fröschen (371 ff.) an Soteira (d. i. Athene), Demeter
und Iakchos gerichtet werden. Sowenig also die Anzahl der Gottheiten
zufällig ist, sowenig ist es ihre Auswahl. Apoll ist der Gründer von
Megara33 und ist der Dichtergott: so ruft der megarische Dichter ihn an
erster Stelle. Mit ihm ist die Schwester Artemis wie so oft auch im Kulte
Megaras verbunden: "Aqte^h? 'Ayqoteqoi und 'AjioXXgjv 'Avpaiog | haben
dort (nach Paus. I 41) einen gemeinsamen Tempel, wenngleich das
megarische Heiligtum, auf dessen Gründungssage Theognis anspielt, der
Artemis allein geweiht war (Paus. I 41). Der Chor der Musen und
32
Wolken 263 ff.; vgl. A. Dieterich, Kl. Sehr. 123. In den beiden Strophen der Wolken-
parabase sind es jedesmal 4 Gottheiten, 563 ff., 595 ff. Ich lasse absichtlich die Fälle
weg, wo ein Kultverein dreier Götter angerufen wird. In weiterem Sinne läßt sich
an die Dreiheit der Schwurgötter und an vieles andere erinnern, was Usener, Drei-
heit (Rhein. Mus. LVIII), zusammengetragen hat. Vgl. W. Kranz, De forma stasimi,
Diss. Berl. 1910, 32 ff.
33
Theognis 773, Dittenberger, Sylloge 2 291, 22.
[574j575] YÜO0HKAI 277
Chariten gehört zu A p o l l , und ihn anzurufen ist für den Dichter fast
Nötigung.
Wie Zahl und A u s w a h l der angerufenen Götter, so zeigt auch die
Form einen einheitlichen Plan, wenn man nur ihre Eigenheiten versteht.
D a ist am klarsten das Gebet an Artemis ( 1 1 - 1 4 ) . Nach der feierlichen
A n r u f u n g folgt, ganz dem Gebetsstil entsprechend, eine „relativische
Prädikation" 3 4 , hier die Gründungslegende. D a n n die eigentliche Bitte,
die einfachste und ursprünglichste: „ H ö r e mich!" hier noch genauer aus-
geführt: „und wehre das Unheil von mir ab!" Z u m Schluß der Hinweis
auf die Macht der Göttin. D e r k a n n dadurch gegeben werden, daß an
bestimmte frühere Betätigungen dieser Macht erinnert w i r d : al jtöxa
x a t e g c o t a . . . «dusg 35 und sehr häufig mit sicut im katholischen Ritual 3 6 .
A b e r auch die allgemeine Form ist geläufig: biivaaai 8e au jtavxoa' anoveiv
steht in dem Gebet II J15 3 7 , und die Worte oti aoü ecmv f) ßaaiXsia y.ai f|
8iivauig hat man früh an das Vaterunser angefügt. Hier w i r d ctol xoiixo,
fted, ofir/gov durch den Satz und Vers füllenden Schluß £|ioi öe ^eya ergänzt
in jener polaren Ausdrucksweise, die von dem Griechen als besonders
gerundet und harmonisch | empfunden w a r d . Dies also ist ein vollständiges
Gebet aus vier verschiedenen Teilen bestehend, und es w ü r d e kaum eine
Erweiterung vertragen.
V o n gleichem U m f a n g ist das Gebet an die Musen ( 1 5 - 1 8 ) . A b e r da
stellt man mit Befremden fest, daß auf die A n r u f u n g und die relativische
Prädikation eine eigentliche Bitte gar nicht folgt. Erwarten möchte man
etwa ein öeüte, wie im Prolog der "Egya oder mehrmals bei Sappho
(Fr. 60, 65, 84). Dies oder etwas Ähnliches ist also entweder durch die
Schuld der Uberlieferung ausgefallen, oder aber man müßte annehmen,
die Musenanrufung sei so konventionell geworden, daß man auf das
34 D a f ü r ist jetzt auf Norden, Agnostos Theos 168 ff., zu verweisen. Fragen möchte
man, ob sich wirklich dartun läßt, daß diese Form anfänglich auf die Umschreibung
des Kultorts beschränkt war. M u ß 05 Jtdvx' ÈcpoQài; jünger sein? Mir scheint solche
Chronologie bedenklich.
35 81 jtoTÉ |xoi y.ai itaxgi cpiXa qpQovéouaa jiagéoxrig E 116. eì jiot' è|xàv, ài Zeù
itaxEQ, forcai tìéXcov à p à v axoucrag, vöv ae Xiaao|j,ai Pind. Isth. V I 42. eI x a i
7tpóx£Q0v . . . Aristoph. Thesm. 1157.
36 Ich greife beliebig aus dem Rituale Romanum (von dem mir eine Ausgabe „Bassani
1773" zur H a n d ist) eine „benedictio novae navis" heraus: . . . benedic navem istam
dextera tua sancta et omnes qui in ea vehentur, sicut dignatus es benedicere arcam
Noe ambulantem in diluvio! porrige eis, Domine, dexteram tuam, sicut porrexisti
beato Petra ambulanti supra mare ... Dieselbe Berufung (der offenbar eine A r t
zwingende K r a f t beiwohnen soll) kann auch in der relativen Form auftreten, so in
der „benedictio peregrinorum" : Deus, qui filios Israel per maris medium sicco vestigio
ire fecisti, quique tribus Magis iter ad te stella duce pandisti: tribue eis, quaesumus,
iter prosperum ...
37 D a z u stellt Norden (zu Vergil V I 117) Proklos hymn. 1 , 4 6 ò i v a a a i 8' èà j i à v x a
TEXÉooai ßifiötco;.
278 Griediisdie Literatur [575¡576]
eigentliche Gebet verzichten konnte38. Und nun sieht man in der Tat, wie
die übliche „relativische Prädikation" dem Dichter dazu dient, den
berühmten Musensang otti vmXóv, cpílov sari zu zitieren, und wie er dann
mit Nachdruck abschließt: „Dies Wort ist durch Göttermund gegangen."
Wer das als Abschluß, so wie es gemeint ist, eindringlich empfindet, der
wird nicht imstande sein, hier noch irgend etwas anzufügen 39 . Dann muß
man sich also des seltsamen Tatbestandes bewußt werden, daß das letzte
der drei Gebete nur noch am Anfang die Gebetsform wahrt, dann aber
von dem üblichen Wege ablenkt und in etwas ausläuft, was man als
Grundsatz bezeichnen könnte. Und man darf darauf hinweisen, daß der
erste allgemeine Gedanke, der nachher erklingt (29), das alaxpóv ebenso
ablehnt, wie hier das r.a/.óv als das Erstrebenswerte an den Schluß des
Proömiums gestellt wird.
Das Gebet an Apoll (1-4) besteht aus der feierlichen Anrede, aus dem
Versprechen, immer des Gottes zu gedenken, und aus der Bitte um Er-
hörung. Versprechen und Bitte finden wir, wenn auch in umgekehrter
Reihenfolge, häufig verknüpft in den homerischen Hymnen: ücrfh . . .
oaiTciQ eyá) v.ai aeio xai. äXAr|g n/vrjcron.' äoiöfjg oder Ö05 8' ev äyüyvi viv.r|v rwiös
cpégeafrai . . . avxag iy<0 xal aeio usw. Hier ist insbesondere noch die An-
regung vom Proömium der Theogonie deutlich: das JtQcoxóv te xaí wtoitov
stammt ja dorther. Das Gebet scheint vollständig, die „relativische Prä-
dikation" ist kein notwendiger Bestandteil. Nun folgt aber eine neue An-|
rufung an Apoll, und dann wird kurz seine Geburtsgeschichte erzählt
zum Preis des Gottes. Ein Gebet ist das nicht. Wenn man aber bedenkt,
daß die „relativische Prädikation", die hier fehlt, häufig gerade die
Geburtslegende gibt, oder mit anderen Worten, daß die Geburtslegende
zwischen Anrufung und Schlußgebet erzählt zu werden pflegte40, so wird
klar, daß dieser Teil in unserem Falle einigermaßen verselbständigt und
hinter dem eigentlichen Gebet angefügt worden ist41.
Mithin ergibt sich, daß wir nicht eine Auswahl kurzer Proömien vor
uns haben, sondern ein einheitliches Gebilde, aus mehreren locker ver-
bundenen, aber doch untrennbaren Stücken zusammengefügt. Die vier-
zeiligen Gebete an Apoll und Artemis könnten wohl für sich existieren,
aber das an Apoll gerichtete Zwischenstück (5-10) gibt weder eine Ein-
heit noch einen Schluß des Hymnus (1-4) ab, wird also nur als Teil eines
größeren Zusammenhanges möglich. Und das Gebet an die Musen ist,
38 Man vergleiche, wie in der großen Elegie Solons die A n r u f u n g an die Musen kon-
ventionell geworden ist: v . Wilamowitz, Sappho und Simonides 263.
39 Unrichtig ist, was Crusius, Anthol. Lyrica p. X X V anmerkt.
40 V g l . die homerischen H y m n e n an Hermes, Hera, Herakles, Asklepios, die Dioskuren,
ferner Alkaios Frg. 5. - Die Geburtsgeschichte bei Theognis stammt ja ganz aus
dem delischen Hymnus. N u r der letzte Vers vti^tioev öe ßctdug jióvto; á X o ; itoAirj;
ist ein Zusatz des Elegikers z u dem überlieferten íyíXaooe öe yaia neXcogr): da
forderte die elegische Form wie so o f t größere Fülle.
41 Auch hier will Crusius a. a. O . eine Lücke statuieren.
[576j577] YÜO0HKAI 279
42
Epigramm und Skolion 264 ff. Nicht in allem freilich kann ich folgen. Das nèv in
V. 19 hat seine Entsprechung nicht in den Worten n a v t a ? 8É . . . (V. 23), die viel-
mehr an Höbe ... MevajjÉcog anschließen, das Sé ist hier anreihend, nicht gegensätz-
lich. Will man das [lèv durch seinen Gegensatz ergänzen, so wird man am ehesten
denken dürfen: iyò N-èv èjuflf|oco, xà 6' £JRR] ov W|CFEI. Richtig Hudson-Williams
S. 51 A. 1.
43
Crönert, d. Z. X L VII, 1912, 408 scheint das übersehen zu haben, als er für die
„besondere Ausbildung des Schlusses" rhetorischen Ursprung behauptete.
44
Hibeh Papyri I 1 ; Diels Vorsokratiker II, 1 2 668 = 1 3 1 1 6 ; Crönert a. O. 402 ff.
45
Man sieht, auf wie irriger Voraussetzung es beruht, wenn Reitzenstein 268 sagt:
„Der gnomische Schluß . . . ist es, welcher die Aufnahme des Gedichts in unsere
Sammlung veranlaßt hat." Als Sphragis steht es da, nicht als sentenziose Elegie, und
für diese Stelle ist es verfaßt, nicht nachträglich in eine Sammlung aufgenommen. -
Faßt man das „Siegel" als technischen Ausdruck und vergleicht die Analogien, z. B.
Timotheos, so wird man nicht bezweifeln können, daß der Name des Dichters, nicht
etwa die Anrede an Kyrnos, „siegelte". Die Frage ist, ob sich die acpocr/ig wirklich
nur auf die Buchausgabe bezieht. Reitzenstein und (wenn ich nicht irre) v. Wilamo-
witz halten ja um diese Stückes willen den Theognis für das älteste edierte Buch.
Ich kann das nicht strikt widerlegen, es ist aber auch nicht strikt beweisbar, und ein
so scharfer Gegensatz zwischen ediertem Buch und Verbreitung durch den Vortrag
braucht für diese Zeit nicht notwendig angenommen zu werden. Es scheint mir
möglich, daß der Dichter beim Vortrag dieses Stück als integrierenden Teil seiner
Dichtung brachte und sagen wollte: Wenn jemand ein Stüde aus ihr aufgreift und
für sein Eigentum erklären will, so wird, da ich die Kenntnis des Ganzen voraus-
setzen darf, bald jeder wissen, daß das gestohlen ist. Macht man auf die Schwierig-
keit aufmerksam, daß ja niemand das Werk davor schütze, um die Sphragis gekürzt
zu werden, so läßt sich dieses Argument ersichtlich bei Buchpoesie ebenso wie bei
Vortragspoesie anwenden.
280 Griechische Literatur [577j579]
nese stehen. Aber es ist doch sehr bemerkenswert, daß ähnliches auf tau-
send Verse hin nicht vorkommt und überhaupt an keiner Stelle sonst, die
notwendig dem Theognis gehören müßte46. Mithin ist es am natürlichsten
anzunehmen, daß der Dichter nachdrücklich wtoflriaou.ai sagt, weil hier
seine •ujioftrjxai | beginnen, daß sich also diese Verkündigung auf das Ganze
bezieht, nicht nur auf das, was unmittelbar folgt 47 .
29-38. N u n also die erste eigentliche Lebensregel, die allgemeinste
Forderung, die nach dem Vorklang otti xakov, cpiXov toxi erhoben werden
konnte: „:te;tvuo, sei ein avr|Q jtejtvvnivog", was denn bei der intellektua-
listischen Denkhaltung griechischer Ethik alsbald in die Bedeutung des
atotpQcov und ayaftog übergeht. Worin dieser „verständige Sinn" bestehen
soll, sagt das Folgende: „ A n unanständigem und unehrlichem Werk
gewinne dir weder Ehre noch Ruhm noch Reichtum!" - Die Verse 3 1 - 3 8
geben, von dem ersten Halbvers abgesehen, ein geschlossenes Stück. „Mit
,Schlechten' habe keine Gemeinschaft, sondern mit ,Guten'! Denn von
den Guten wirst du Gutes lernen, von den Schlechten aber Schlechtes.
Darum habe Gemeinschaft mit den Guten! Dies ist mein R a t . " Die letzten
Worte schließen ab; was vorhergeht, ist eine altertümlich umständlidie,
abgerundete Beweisführung. Diese Gedankenreihe nun wird durch den
Ubergang toito fiev oiitcog ia-fh und durch ein öe an das Vorhergehende
gekettet, mit dem sie durch Verwandtschaft des Gedankens zusammen-
hängt. Dort w a r vor der Berührung mit schlechtem Tun gewarnt, hier
handelt sich's um Personen. Die Verbindung ist locker, aber sie ist doch
sogar in der Form zum Ausdruck gekommen. Im Fortgang der Dichtung
pflegt einem inneren Gedankenzusammenhang nicht mehr die äußere Satz-
verbindung zu entsprechen.
39-42. „Kyrnos, die Stadt ist schwanger." Der aufreizende Vergleich
bezeichnet einen neuen Einsatz. „Ich f ü r c h t e . . . . , denn die Bürger sind
zwar . . . . , die Führer aber . . . . " Das ist ein abgeschlossener Inhalt, hat
mithin nicht als A n f a n g einer Elegie 48 , | sondern als ein Ganzes zu gelten,
sobald sich Vierzeiler mit verwandter Struktur des Gedankens und Satzes
aufweisen lassen. Im zweiten Buch der Theognidea steht ein Vierzeiler
1 3 5 3 - 6 , in dem es heißt: „Eros ist bitter und süß zugleich. Denn wenn . . . ,
aber wenn . . . " Das erste Distichon enthält die These, das zweite gibt die
48
Dies die Ansicht von Bergk. Gegen dessen A u f f a s s u n g von dem fragmentarischen
Charakter der meisten Theognisstücke hat Harrison, Studies in Theognis, mit Recht
polemisiert.
« S o Bergk.
so pür dieses Schema a b a vgl. z. B. Hesiod Theog. 6 3 9 ff., Aristophanes Frösche 494 ff.
1 1 8 4 f.
r51 S o Bergk. Bei Hiller-Crusius ist das G a n z e ohne Unterbrechung gedruckt, bei
Hudson-Williams wieder in zwei Teilen, w a s ich f ü r keine Verbesserung halte. M a n
soll nur dort absetzen, w o die Form das nötig madit, d. h. w o die formale V e r -
k n ü p f u n g fehlt, die hier durch xwvöe gegeben ist. - D a ß die Überlieferung für
Bergks These keinen A n h a l t bietet, braucht kaum gesagt zu werden. 1 1 0 9 ff. sind
weiter nichts als ein Pasticcio.
282 Griechische Literatur [580/581]
52
Die Textgestaltung bei H u d s o n - W i l l i a m s ßovXeu x a i jioXXä |.ioYijcrai x a i . . . 6ööv
IxxEÄiaai k a n n idi nicht billigen. D e n n der Mutinensis h a t z w a r ßoii^eu x a l , aber
doch mit fast allen H a n d s c h r i f t e n die Participia noyriaag u n d ev.TEXeaag. A u d i dem
Sinne nach p a ß t die A u f f o r d e r u n g nicht: „Wolle viel erdulden u n d einen großen
W e g machen!" Dies k a n n doch immer n u r Mittel, nicht Zweck sein. Also ßouXEUEO
t r o t z des Mutinensis u n d t r o t z des Wechsels von A k t i v in 69 z u m M e d i u m .
53
„ A n Theognis e r i n n e r n d " f a n d es schon Welcker, Kl. Sehr. I 260.
54
D a m i t soll nicht die äußerliche „Stichworttheorie" a u f g e n o m m e n w e r d e n , wie sie
besonders Nietzsche v e r t r e t e n h a t , sondern n u r das, was an ihr berechtigt ist: der
sachliche Z u s a m m e n h a n g w i r d vielfach im A n k l a n g der W o r t e deutlich.
55
Die besten H a n d s c h r i f t e n geben in 83 keine verbindende K o n j u n k t i o n , so d a ß m a n
lieber z w e i P e r i k o p e n als einen Achtzeiler a n n i m m t . D e n A n f a n g w e i ß ich nicht
sicher zu gestalten. Doch scheint der Mutinensis die unmetrische Ü b e r l i e f e r u n g des
284 Griechische Literatur [5821584]
S9 Vgl. s. j8i.
«0 Vgl. S. 579.
6 1 Derselbe Ton klingt audi in dem Stück 963-970.
286 Griechische Literatur [585¡586]
62
S o sind %QT)uaTa und äqett| in 1 4 9 / 5 0 gegenübergestellt, eü^EO als „rühme dich" zu
fassen, empfiehlt sich nicht. Schon der O p t a t i v vévoixo spricht dagegen, ebenso 1 4 $
ßoiUeo, auch das Distichon 6 5 3 f. Ich habe eine Zeitlang gedacht, das Distichon bittei
höhnisch aufzufassen. A b e r das läßt sich nicht halten.
[586j587] YÜO0HKAI 287
vielleicht manchem zusagen wird. Man darf aber fragen, ob nicht hier
vorklingend zwei Motive, der Wert der Tii/rj und der Wert der öixr|,
angeschlagen werden, die dann das Folgende ausführt und durchspielt.
Darüber gleich noch ein Wort.
133-148. Bleibt also dort einiges ungewiß, so ist nun auf eine längere
Strecke hin die Ubersicht um so ungehinderter. Die Elegie Oxiöeig Kiiqv'
äxr)5 haben wir schon in ihrer Beziehung zu der Gnome 129/30 betrachtet.
„Niemand ist selbst schuld an Verderb oder Gewinn, sondern die Götter."
Das wird nun ausgeführt und rundet sich zum Ganzen, indem der Schluß
wieder auf den Anfang zurückweist: „Die Götter vollenden alles nach
ihrem Sinne64." | Davon scheint freilich der Vierzeiler, der nun folgt
(143-146) 65 , im Gedanken recht entfernt zu sein: „Niemand kann, ohne
daß die Götter es sehen (und strafen, fügt man hinzu), die Heiligkeit
des Gastes und des Schutzflehenden verletzen. Lieber fromm und arm sein,
als ungerechten Reichtum haben." Die Brücke, die zu dem vorhergehenden
Achtzeiler hinüberführt, sieht etwa so aus: Die Götter vollenden alles
nach ihrem Sinn, gewiß, aber doch nicht nach Willkür, sondern sie machen
einen Unterschied zwischen dem Frommen und dem Ungerechten. Man
denke nur wieder an Hesiod, der ausdrücklich sagt: wer sich gegen den
Schutzflehenden und den Gast vergehe, dem zürne Zeus selber und gebe
ihm zuletzt für sein „ungerechtes" Tun schlimmen Entgelt (ExH 327 ff.).
Man darf aber wohl noch einen Schritt weiter zurückgehen. Von der
öixri war ja schon in dem vorher erörterten Distichon 131/2 die Rede.
Da klingt aöixtog 7QT]|xaTa jtaad[xevog in 146 wörtlich an. Und es sieht nun
wirklich so aus, als wären in 129/30 und 131/2 die beiden Begriffe der
•n>xri und der öixr] in knapper Prägung hingestellt worden, um dann in
den beiden größeren Gedichten, die tuxti in 133—142, die öixr| in 143-146,
eingehender behandelt zu werden.
Dieser letzte Vierzeiler enthält aber noch einen anderen Hinweis, dem
wir folgen müssen. Das zweite Distichon soll offenbar positiv den Rat
63 Das gegensätzliche Begriffspaar SixTi-üßgig ist aus Hesiod bekannt: ExH 213. 214-
225-238.
Zum Gedanken (auch für 161 ff.) vgl. man das Stobaeusexzerpt ex tüjv 'Aoioto^evou
IIudaYopixcciv äxQoda£ü)v bei Diels, Vorsokratiker 45 D 11.
65 147/8 sind wohl unecht. Usener hatte das Distichon beanstandet (Jahrb. f. kl. Phil.
C X V I I 69 = Kl. Sehr. I 248), weil der Hexameter von Aristoteles als Sprichwort
bezeichnet, von Theophrast bald dem Theognis, bald dem Phokylides zugeschrieben
wird, und weil der Pentameter inhaltslos sei. Vgl. Reitzenstein, Epigramm und
Skolion 66 f. Mir wäre das noch nicht entscheidend; denn wir werden sehen, daß
Theognis älteres und schon geformtes Gut übernimmt, und daß er gelegentlidi einen
inhaltslosen Pentameter macht, ist auch nicht zu bezweifeln. Wohl aber ist der
Gebrauch von üoett) und ¿70^05 in rein moralischem Sinne dem Theognis fremd.
ocgETr) hat bei ihm so viel vom aristokratischen Standesideal, daß er schwerlich die
ganze &qett] in die „Gerechtigkeit" setzen konnte. Und gewiß war nicht jeder Recht-
liche für ihn ¿Yadög, wenn er auch wohl umgekehrt der Meinung war, daß nur ein
oivriQ ä v a d o ; „gerecht" sein könne.
288 Griechische Literatur [587j589]
66
Hudson-Williams zerreißt deshalb das Tetrastichon und zieht das zweite Distichon
mit dem folgenden unechten zu einer Einheit zusammen. D e m widerspricht schon
das verknüpfende 5e in 1 4 7 .
« 7 M a n könnte vielleicht f ü r vorteilhaft halten, das Distichon 1 5 3 f. v o r 1 5 1 f. zu
stellen. A b e r mir scheint, daß 1 5 5 ff. jetzt besser anpassen, als wenn man die U m -
stellung vornehmen wollte.
[598¡590] YÜO0HKAI 289
den, der nicht mit dem modernen Begriff v o n „ P l a g i a t " und „geistigem
E i g e n t u m " an solche Fragen herantritt 6 8 . Doch neben der allgemeinen
Beobachtung verdienen auch die Unterschiede im einzelnen A u f m e r k s a m -
keit. D e r Ersatz v o n 7«Q durch TOI zeigt nur, d a ß Theognis auf formale
Isolierung der Sprüche aus ist; denn die Form der Begründung hätte er
durchaus beibehalten können. Eingreifender ist die Ä n d e r u n g v o n otav
jtoXijg öXßog env)xai in öxav xaxwi öXßog Ejtrixai, die den allgemeinen E r f a h -
rungssatz in aristokratisch-exklusiver Weise umbiegt und damit erst f ü r
den neuen Z u s a m m e n h a n g brauchbar macht.
1 5 5 - 1 7 2 . A n das letzte G l i e d der Begriffskette xP*)M-aTa-,c°(?0S-üß!?lS
schließen gut z w e i Sprüche v e r w a n d t e n Inhalts an, v o n denen der erste
m a h n t : „ W i r f niemandem seine A r m u t v o r ! " , w ä h r e n d der z w e i t e noch
allgemeiner „ g r o ß e W o r t e " überhaupt widerrät. M a n braucht k a u m zu
sagen, d a ß es Ä u ß e r u n g e n der vßQtg sind, v o r denen hier g e w a r n t w i r d .
A b e r man m u ß schon im voraus d a r a u f hinweisen, d a ß das M o t i v der
A r m u t deshalb hier erklingt, w e i l der Dichter im folgenden gerade
darauf hinauswill. Begründet w e r d e n die W a r n u n g e n v o r hochmütigen
W o r t e n beidemal mit dem H i n w e i s auf den Wechsel des Geschickes. U n d
daran a n k n ü p f e n d sagt der nächste Vierzeiler ( 1 6 1 - 4 ) , w i e unberechenbar
E r f o l g und M i ß e r f o l g sei, und in w i e so gar keinem Verhältnis sie z u
Verstand und U n v e r s t a n d des einzelnen stehen. D a n n folgen mehrere
einzelne Disticha. D a s erste formulirt noch einmal, d a ß niemand glück-
gesegnet oder arm, gut oder schlecht sei ohne den Willen der Götter.
D a s z w e i t e w i r k t w i e eine Selbstcorrectur: „ I n W a h r h e i t ist überhaupt
niemand ,glückgesegnet'". D a s dritte erjweckt schwere Bedenken, ob man
der Uberlieferung trauen dürfe. D e n n es w i r d mit öe eingeführt, w a s dem
Princip der Isolierung z u w i d e r ist, und k a n n doch nicht z u einer Einheit
mit dem Vorhergehenden verbunden werden, da an dieses der G e d a n k e
„ W e n die G ö t t e r fördern, der g e w i n n t R u h m ; Menschenstreben aber ist
vergeblich" keineswegs eng anschließt w e d e r als F o r t f ü h r u n g noch im
Kontrast 6 9 . D a n n aber w i r d der Inhalt der letzten Versreihen noch einmal
68 Immerhin besteht der Begriff des „literarischen Diebstahls" schon, wie die acppayti
zeigt, die dafür überhaupt das früheste Zeugnis abgeben mödite. Wenn Theognis
selbst „piagierte", so wird man fragen dürfen, ob er anderen verwehren wollte, was
ihm für sich erlaubt schien. Entweder war er sich der Entlehnung in diesem Falle
nicht klar bewußt oder das Plagiat fing für ihn erst bei einem größeren Komplex an.
Jedenfalls also dürfte der Umfang eine gewisse Rolle dabei spielen. So wird schon
von hier aus ein Präjudiz gegen die Übernahme größerer solonisdier Stücke ge-
schaffen, was für später zu merken gut ist.
69 Harrison verbindet 167-170, aber den Zusammenhang hat er auf S. 215 nicht recht
deutlich gemacht. 6 x a i |IO)|J.£UU,EVO; alvst erklärt er doch wohl etwas zu künstlich
so, daß auch der Tadel ihm zum Lobe ausschlagen müsse. Mag man es zugeben oder
verschleiern, schließlich kommen doch alle darauf hinaus, x a i 6 nwneiinevot; z u i n t e r ~
pretieren. Dies aber ist nur Umschreibung für „jeder", wie denn die von Bakdiylides
V 191 ff. zitierte hesiodische Vorlage des Theognisverses einfach xai ßgOTUV tpfinav
290 Griechische Literatur [5901591]
£jteaftcti gibt. Unrichtig erklärt wohl Harrison auch 167 akX' äXXau xaxov eoti „to
each man his own fault". Vielmehr ist gemeint: irgendein Leid hat jeder. Unmöglich
wäre es nicht, die Disticha 165/6 und 169/70 zu einer Einheit zu verbinden. Aber ich
glaube nicht, daß man das wird beweisen können.
70 Über die Verselbständigung, die 175 in den zahlreichen Zitaten erfährt (xqt| jtev'i.t|v
cpeiJYOVxa), urteilt Hudson-Williams 82 gegen Bergk durchaus richtig. Analogien in
der eigenen Literatur sind jedem z u r H a n d .
71 Bei Stobaeus ist das Distichon mit einer kleinen Änderung zu A n f a n g ( x q t ] 8' ctei
y.uxd ytjv statt xqtj yaQ 6(iwg Eni vfjv) an 155-8 angesetzt. D a paßt es noch weit
weniger hin, und das Zitat darf w o h l nicht benutzt werden, u m die Unsicherheit
der Uberlieferung wahrscheinlich z u machen.
[591j592] YÜO0HKAI 291
72D a ß sich aus dem vielumstrittenen Stobaeusfragment EEVocpcüVTog iv. TOC JIEPI
©Eövviöoq nichts über die ursprüngliche Komposition der Dichtung folgern läßt, hat
Hudson-Williams 86 ff. richtig dargelegt.
73 O b der A n f a n g von 193 aixög TOI xaixr\v unversehrt erhalten ist, darf man be-
zweifeln.
292 Griechische Literatur [592¡594]
79 Aus den beiden ersten ist in 1 0 7 1 - 4 eine einzeilige Gnome gemacht worden. Da w i r d
das schöne, alte Polypenbild ausgelöscht, das bekanntlich einer epischen Vorlage
(wie ich, Argolica 54 A . 32, vermutet habe, der Melampoeie) entstammt.
80 Hudson-Williams hat das schöne Gedicht sehr mißhandelt. Seine Umstellungen sind
ganz willkürlich, und der V o r w u r f des „Unkünstlerischen" ist ein gefährlicher Pfeil.
Die Athetese v o n 253/4 mußte oben im Text zurückgewiesen werden.
294 Griechische Literatur [5951596]
81
S o Welcker, Theognidis reliquiae 46 f. und Hudson-Williams, der S. 192 von einer
clumsy interpolation spricht!
[596j597] YÜO0HKAI 295
Trümmerfeld hier nicht durchforscht, sondern erst dort wollen wir die
Untersuchung aufnehmen, wo mit 329 eine neue Ordnung beginnt82.
329—366. Zunächst eine zweizeilige Gnome: „Der Kluge, der das
gerade Recht zur Seite hat, holt, auch wenn er langsam ist, den Schnellen
ein." Dann ein anderes Distichon: „Geh ruhig den Mittelweg 83 !" Das
hat scheinbar zu dem Vorhergehenden geringe Beziehung; aber das
„ruhig" weist auf das „langsam" zurück, und in dem Zweizeiler 335/6
werden die beiden Gedanken hinterdrein verschmolzen, wie wir das
schon einmal (bei 153) in solcher ) Spruchfolge sahen: „Eile nicht zu sehr
(knüpft an 329 an), der Mittelweg der sicherste (knüpft an 331 an), und
so wirst du das Gut erreichen, das so schwer zu gewinnen ist." Dann muß
man freilich den beiden dazwischenstehenden Zweizeilern ihren Platz
streitig machen. Sie sprechen in verschiedenem Sinne über das cpeiryeiv und
könnten somit eine Art Komplement zu dem öicdxelv in 329 geben. Aber
darüber hinaus sehe ich nicht, was sie an dieser Stelle sollen. Von 337
an ist dann der Zusammenhang ohne große Mühe in seiner Einheit nach-
zuweisen. Wenn bisher etwas rätselhaft von dem Verfolgen, vom klugen
Benutzen des Mittelweges, vom geraden Recht die Rede war, so ver-
nehmen wir jetzt eine deutlichere Sprache. Ein Vierzeiler zuvörderst
(337-40): „Zeus, gib mir, daß ich Freund und Feind entgelten lasse, was
sie an mir getan84!" Diesen Gedanken führt der folgende Abschnitt
(341-50) fort. Das glühende Begehren nach Rache kehrt hier wieder,
am Schluß bis zum Blutdurst gesteigert, und jetzt erfährt man die Ursache
solches Hasses: Schlimmes hat er erduldet, Feinde haben ihm Hab und
Gut geraubt; wie dem Hund, der einen reißenden Fluß durchschwömmen
hat, so ist ihm alles entfahren, was er besaß. Ganz ungezwungen fügt
sich dazu der Wunsch an Frau Armut (3 51-4), sie möge ihn verlassen und
nicht immer sein elendes Leben teilen. Dann (355-60) eine Aufmunte-
rung, in der Form an Kyrnos, in der Sache an sich selbst gerichtet: „Habe
Mut im Unglück, es wird auch wieder anders kommen. Und laß deine
Schwäche nicht zu sehr merken!" Nun 3 zweizeilige Gnomen: „Leid
bedrückt, Rache erhebt." Wie soll man das Ersehnte erreichen? „Fange
den Feind durch schöne Reden; dann räche dich!" Und noch genauer:
„Halt dich im Zaum, sprich immer freundlich! Nur das Temperament
der Schlechten' ist allzu hitzig (das der ,Guten' ist, wie ich gefordert
habe)."
82
3 2 3 - 8 „Laß dich nicht durch irgendwelche Verleumdung dazu bringen, einen Freund
aufzugeben!" Die öiaißoXiri könnte irgendwie mit dem a-iataig in 254 zusammen-
gebracht werden. Aber das bleibt natürlich durchaus zweifelhaft, und es ist fest-
zuhalten, daß wir über den Zusammenhang des bis 254 reichenden Teiles mit dem,
der 329 beginnt, vorläufig gar nichts wissen.
83
„Und gib suum cuique!" Das ist jetzt in seinem Zusammenhang nicht zu verstehen
und beweist damit auch, wenn es noch nötig wäre, daß vorher das Echte fehlt.
84
Verwandt ist Solon elg eauxov 516.
296 Griechische Literatur [5971599]
85
3 7 3 - 3 9 2 mit Ausschluß von 3 8 1 / 2 . Dies sah schon Emperius (nach Bergks Angabe),
von den Neueren ist erst Hudson-Williams gefolgt.
86
Vielleicht ist derjenige, dem die Umarbeitung einer solonischen Elegie in den Versen
I 9 7 f f . gehört, identisch mit dem Verfasser der in Rede stehenden Partien. A b e r das
ist unerweislich.
[599¡600] YÜO0HKAI 297
sich dieses Kapitel nicht etwa dort ansetzen, wo der Faden des Gedichts
zuletzt für uns abriß, bei jenem Vorwurf an Kyrnos „du täuschest mich"
(254). Wohl aber erkennt man ohne Mühe, daß der Dichter auch hier an
den allgemeinen Regeln, die er gibt, durch höchst persönliches Schicksal
beteiligt ist, zumal er ja geradezu von dem Verlust seiner Habe berichtet.
Nun entsinnen wir uns, wie der zweite Hauptabschnitt das Thema der
Armut sehr eindringlich behandelte. So wird jetzt noch deutlicher, daß
es seine Armut gewesen ist, von der der Dichter sprach, und jedes Wort
bekommt damit eine viel lebendigere Kraft. Ja, vielleicht ist es nicht zu
kühn, in den „Schlechten", der in die Höhe gekommenen Masse, die-
jenigen zu sehen, die an seinem Unglück schuld sind. Erkennen wir so
einen inneren Zusammenhang der auseinandergerissenen Teile, so ist es
freilich nicht möglich, zu bestimmen, auf welchen Wegen der Dichter sie
verbunden hat, oder auch nur annähernd abzuschätzen, ob die Verbindung
mit 50 oder 100 oder mehr Versen hergestellt war.
629-654. Dies ist noch eine Kette zusammengehöriger Gnomen, die
sich aufzeigen läßt. Es genüge, die Schlagworte anzugeben, damit der
Zusammenhang deutlich werde. Auf der einen Seite stehen die Begriffe
V0C5, 7vd)|xr), ßouXr), dazu tritt aiötog und etwa noch eXrcig. Auf der anderen
Seite erkennt man dnjtXaxiri, cm], djirixaviri, avaiÖEui, jteviri. Schließlich
eiSvoog, exaigog und erögog. Sehr wohl kann diese Spruchreihe im großen
und ganzen intakt sein, und eine Ursache, an der Autorschaft des Theognis
zu zweifeln, sehe ich nicht, während z. B. in dem durch das Stichwort
oivo; gekennzeichneten Abschnitte 496-510 zum mindesten die Verse
503-8 schon durch die Anrede an Onomakritos andern Ursprung ver-
raten. Aber das erhaltene Stück ist doch zu klein, als daß man imstande
wäre, zu sehen, wo das Ganze hinaus soll und wie es etwa mit den
übrigen Stücken der Theognisdichtung zusammenhängen könnte.
753-756. Man hat vermutet87, daß das „Schlußgedicht des | Florilegs"
oder, wie es nach unserer Anschauung vielmehr heißen müßte, die Schluß-
verse der theognideischen „Mahnrede an Kyrnos" in dem Vierzeiler
Taita jiorfh&v, cpiX' exaios erhalten sei. Dieser ist ohne Zusammenhang mit
dem, was vorausgeht. Denn das müßte nach seinen Anfangsworten Lehre
und Mahnung sein. Es sind aber tatsächlich jene leidenschaftlich zweifeln-
den Ergüsse an Zeus, von denen vorher die Rede war. Wir haben sie dort
dem Theognis abgesprochen. Um so eher kann ihm der fragliche Vierzeiler
gehören, der hinter ihnen keine passende Stelle hat. Und daß es ein
Schlußgedicht ist, ergibt sich nicht nur aus dem Rat „diese Worte stets
47
Geyso, Studia Theognidea, Diss. Straßb. 1892. Der Verfasser vertritt die Florileg-
theorie, und die Zusammenhänge, denen er unter diesem Gesichtspunkte nachgeht,
sind vielfach mehr herbeigezwungen als ohne Vorurteil gefunden. Aber damit soll
nicht geleugnet werden, daß die Arbeit manche gute Beobachtungen enthält, und der
Versuch, den Zusammenhang des Ganzen nachzuweisen, ist trotz des falschen Prin-
zips und der Übertreibungen anzuerkennen.
298 Griechische Literatur [600/601]
Gedichte ganz dasselbe, nirgends finden wir einen Sprung auf fremdes
Gedankengebiet, wenigstens in den Teilen, die uns als unversehrt gelten
dürfen. Wohl aber haben wir wiederholt beobachtet, daß zwei Gnomen
scheinbar ohne Zusammenhang nebeneinandergestellt wurden, und daß
dann erst eine dritte die Beziehung der beiden und die Bedeutung für das
Ganze aufklären mußte. Und an ein kurzes Gedicht erinnern wir uns,
das zwar formal in sich geschlossen war, aber überhaupt nur dadurch
seinen Sinn erhielt, daß in ihm der fortschreitende Gedanke des Ganzen
nach einer anderen Seite umbog. Dies alles schließt ein „Florileg" völlig
aus, macht aber auch die Annahme, hier lägen „Gesammelte Gedichte"
vor, so gut wie unmöglich. Man sehe nur zum Vergleich Goethes Reim-
sprüche durch. Gewiß hat sich da nah Verwandtes vielfach zusammen-
gefunden. Aber wo eine größere Reihe in Form und Inhalt zusammen-
hängt, wie etwa die Farbensprüche in dem Abschnitt „Gott, Gemüt und
Welt", da | kann an einheitlicher Entstehung auch gar kein Zweifel sein.
Doch bleiben wir in der antiken Literaturentwicklung, um zu fragen:
gibt es überhaupt solches Werk, das durch Proömium, „Siegel" und An-
kündigung als einheitlich bezeichnet wird, auch in seinem Gedanken-
zusammenhang einheitlich ist, und das doch eine Sammlung darstellt?
Ich wüßte keins zu nennen 89 . Wohl aber weiß jeder, welches die nächste
Analogie für das Theognisbuch ist: das sind Hesiods "Egya. D a haben
wir dieselbe Verbindung in sich geschlossener Einzelteile zu einem Gan-
zen, haben dieselbe Mischung allgemeiner Lehre und höchst persönlicher
Aussprache 90 , haben auch neben längeren Abschnitten zusammenhän-
gender Erörterung jenes Fortspinnen des Gedankens durch aneinander-
gereihte Sprüche, wobei nur dem Stichos bei Hesiod naturgemäß das
theognideische Distichon entspricht 91 . Gewiß sind auch Unterschiede vor-
handen. Bei Theognis ist die formale Isolierung der Teile noch etwas
stärker. Sodann fehlt das Mythische, und die Didaktik des „Bauern-
kalenders" hat bei ihm auch nichts Entsprechendes. Was aber wollen diese
Abweichungen gegenüber der großen Ähnlichkeit besagen?
N u n hat ja für Hesiods Werk Kirchhoff den Gedanken durchzu-
führen versucht, es sei eine vom Dichter selbst nachträglich veranstaltete
89 Den Stephanos des Meleager als Kontrast heranzuziehen, ist lehrreich.
90 Man darf als wahrscheinlich annehmen, daß uns bei Theognis gerade von dem Per-
sönlichen mancherlei verloren gegangen ist. So etwas wie 805 ff. geht natürlich auf
ein bestimmtes Ereignis.
91 Fälle, wo solche Entsprechung wirklich nachzuweisen ist, sind bekanntlich vor-
handen. Man vgl. Theogn. 831/2 mit Erga 372. Und der Vierzeiler 425-8 II&VTCOV
Hev nf| «püvai ist so gut wie sicher aus den zwei Hexametern erweitert, die im
'Ay<s>y '0|J.r|(jou xal 'Haiööou stehen. Es ist bedauerlich, daß Hudson-Williams 2587
noch immer den Alkidamas für den 'Aydiv verantwortlich macht nach dem, was
Ed. Meyer i. d. Z. X X V I I , 1892, 377, bewiesen hat. Vgl. auch Busse, Rhein. Mus.
L X I V 113, und Allen, Journ. Hell. Stud. X X X I 1254, dem ich aber nicht zustimme.
Bakchyl. V 160 scheint aber auf Theognis zurückzugehen, da er den Pentameter
paraphrasiert.
300 Griechische Literatur [6021604]
Sammlung eigener älterer Poesien. Die These ist, wenn auch keineswegs
allgemein aufgegeben, doch in Wahrheit widerlegt und unhaltbar. Unsere
Darlegung in Kapitel I hat selbst für jene lange, verbindende Gnomen-
reihe die Zugehörigkeit zum Plan des Dichters erwiesen. Daß die Erga
(bis zum „ Schifferkalender" oder | mindestens bis zum „Bauernkalender"
einschließlich) von vornherein als einheitliche Dichtung konzipiert sind,
daran kann heute nicht mehr gezweifelt werden. Des Theognis „Mahn-
reden an Kyrnos" stehen literarisch in der Reihe, die von Hesiods „Mahn-
reden an Perses" eröffnet wird. Die inneren Schwierigkeiten, die sich auf-
tun, sobald man das Buch des Theognis als Sammlung auffaßt, sind vorher
dargelegt worden. Jetzt zeigt sich, daß die literargeschichtliche Einord-
nung zu demselben Ergebnis führt. Mag immer dieses oder jenes einzelne
Stück selbständig entstanden sein: einmal ist doch im Geist des Dichters
der Plan des Ganzen aufgetaucht, und dann sind in der Beziehung auf
diesen Plan des Ganzen die Einzelteile vom kurzen Spruch bis zur aus-
geführten Elegie geformt und aneinandergefügt worden. Es sind eigen-
artige Gebilde, diese 'Yjtoftrjxai, und die Antinomie, daß wir hier einerseits
eine Reihe selbständiger, abgeschlossener Gedichte vor uns haben, und
daß solche Einheiten wiederum Teile eines umfangreicheren Ganzen sind,
bleibt bestehen. Aber dies gerade freut, neue Gestalten zu begreifen, und
niemand darf glauben, daß unsere Kenntnis den Reichtum antiker Lite-
raturformen ganz umfasse oder alle Möglichkeiten erschöpft habe: JtoXXod
l-iopqpai tcüv öainovicov.
j. Demokrit
Daß sich die poetische Form der 'Yjiodijxai, wie wir sie, schärfer als in
der Regel geschieht, bei Hesiod und Theognis herausgearbeitet haben, in
der Prosaliteratur fortsetzt, in den Paränesen an Demonikos und N i -
kokles und noch in den ú-tottetixoí Xóyoi der späteren Zeit, ist bekannt
genug92. Hier soll nur über eine der ältesten unter diesen prosaischen
wtoflfjxai einiges gesagt werden, nicht als ob sich viel Neues darüber er-
mitteln ließe, aber weil wir meines Erachtens zuversichtlicher urteilen
können, als es gegenwärtig den Anschein hat.
Euseb gibt im XIV. Buch der Praeparatio ein großes Stück kluger
und scharfer Polemik wieder, die Dionysios „der Große", Bischof von
Alexandrien, gegen Epikurs Lehre richtete93. Dort wird in einem | Zu-
sammenhang, der hier nichts austrägt, der Vorrang geistiger Betätigung
dadurch dargetan, daß selbst Demokrit ihn anerkenne mit dem Satz
ßovXeadai ¡lä^Aov [úav evqeiv amoXoyíav r| tr^v ITeqocóv oí ßaaiXeiav •yEvÉafrat.
92
J . Bernays, Ges. A b h . I 266 ff. Wendland, Anaximenes von Lampsakos 81 fT.
«3 Über Dionysios s. Harnack, Chronologie der altchristl. Literatur I I $ 7 ff. Die für
Demokrit in Betracht kommenden Stücke bei Diels-Kranz, Fragmente der V o r -
sokratiker 68 [ j j ] B 1 1 8 . 1 1 9 .
[604¡605] YÜO0HKAI 301
Und diese Erwähnung des verfehmten Namens benutzt der heilige Mann,
um einen Angriff gegen den Philosophen einzufügen, der sonst so ver-
kehrte Ansichten aufgestellt und den „ Z u f a l l " zum beherrschenden Prin-
zip der Weltentstehung gemacht habe. Freilich habe er ihn vom Menschen-
leben ausgeschlossen, wie den Anfangsworten seiner „iijtoflfjxai" zu ent-
nehmen sei. Dionysios zitiert nur einen Satz und fährt dann mit eigener
Polemik fort, während uns das Demokritfragment in vollständigerer
Form bei Stobaeus erhalten ist 94 . Ob i)jtoftf|y.ou als Schriftentitel gemeint
sei oder rein appellativ „Mahnungen" bedeute, darüber läßt sich nichts
Gewisses ausmachen, und das Urteil schwankt, ob die Schrift zu einem
der durch Thrasyll erhaltenen Titel gehöre oder ob wir in ihr eine aus
Demokrits Werken ausgezogene Spruchsammlung zu erkennen hätten 95 .
Genaueres Betrachten des erhaltenen Bruchstücks möchte jedoch eine
Entscheidung möglich machen. Sei es also zunächst vorgelegt: avftgcojioi
TÚJCT1S eiöcdXov éjtXáaavTO ngcxpaaiv I8ír|g äßou/.ir|c;. ßaia yág <poovf|oei tú/t)
( i á x e t a i , t a 6é i d E i a t a ev ßicoi eüIíiveto; 0§u0eqxeít] xaTtfrvvEi. Dionysios teilt
uns mit, daß diese Sätze „am A n f a n g " der Schrift gestanden haben. Dabei
könnte es sich noch immer um eine willkürliche Sammlung exzerpierter
Sprüche handeln, wobei dieser Spruch etwa zufällig an die erste Stelle
geraten wäre. Demgegenüber lehrt in Wahrheit die Interpretation, | daß
die Worte einen Anfang bilden oder wenigstens sehr gut bilden können.
Der erste Satz freilich erweckt diesen Eindruck zunächst noch nicht. Aber
der Aczent liegt auf seinem Schluß: U m ihre eigene Torheit zu beschö-
nigen, haben die Menschen sich das Idol des Zufalls gebildet. Denn mit
der Klugheit, der wirklichen Klugheit, kommt der Zufall nur selten in
Konflict. Gewiß soll sein Vorhandensein nicht geleugnet werden. Aber im
allgemeinen vermag menschlicher Verstand ihn zu benutzen und zu zwin-
gen. „ D a s meiste im Leben weiß ein wohlverständiger Scharfblick ins
Gerade zu richten." Der Schriftsteller beginnt an einem Punkt, der dem
Ziel entgegengesetzt ist, und geht dann mit festen Schritten dorthin, wo
sein Thema beginnen soll. Achtet man auf die Begriffe aßouXiri96, (ppcwiaig
94
D a s Richtige gibt Diels. Lortzing hatte in seiner sehr umsichtigen und, wie sich
zeigen, wird, im wesentlichen das Richtige treffenden Abhandlung Über die ethischen
Fragmente des Demokrit S. 1 5 die demokriteischen Worte falsch abgegrenzt. Nicht
Demokrit sagt, die Menschen hätten die V e r n u n f t gänzlich beseitigt und den Z u f a l l
an, ihre Stelle gesetzt und für das Vernünftigste erklärt. D a s sagt Dionysios und
schließt damit den Demokrit selbst unter die Angegriffenen ein, der in seiner W e l t -
erklärung ja die T y d i e zum Prinzip gemacht hat. Richtiger als Lortzing, aber doch
nicht ganz, urteilte N a t o r p , Die Ethika des Demokritos 97.
95
D a s erste ist die Meinung von Lortzing a. a. O . (vgl. auch Freudenthal, Rhein. Mus.
X X X V 408 A . 1). Die zweite Ansicht w i r d vertreten von Hirzel i. d. Z . X I V , 1 8 7 9 ,
3 8 3 ff.; Zeller, Phil d. G r . I 5 846 A n m . ; N a t o r p a. a. O . 56. Diels in der Anmerkung
der Vorsokratiker entscheidet sich nicht.
96
Nicht eigentlich „Ratlosigkeit", sondern „Übelberatenheit"; cpQÓVT|Oiq ist der Gegen-
satz. Crönert im Wörterbuch hat die Stelle nicht richtig eingeordnet. Ebenso falsch
(„indecisión") L i d d e l l - S c o t t - J o n e s .
302 Griechische Literatur [605¡606]
D a nun unmöglich der christliche Bischof ein echtes Werk des Demokrit
lesen konnte, ohne daß es in den Katalogen der alexandrinischen Biblio-
thek oder, was auf dasselbe herauskommt, in dem uns erhaltenen V e r -
zeichnis des Thrasyllos stand, so müssen w i r fragen, mit welchem der
überlieferten Titel die 'Yjtotfjxai identificirt werden können. Dabei ist es
unwesentlich, ob diese Bezeichnung geradezu als Titel gelten oder nur den
Inhalt des Buches angeben sollte, ob das Buch nur Mahnungen enthielt
oder auch „Mahnungen" hieß. |
Soviel erscheint gewiß, daß mit der zur Erörterung stehenden Schrift
das berühmteste ethische Werk Demokrits IIEQI eMi^íris nicht identisch
sein kann 1 0 1 . Denn dessen A n f a n g w a r , wie Seneca (De tranquillitate 1 3 )
lehrt, das wohlbekannte Wort TÖV EMV|xeíafrai IIEXXOVTOC /QT) |iri jtoXXá
jtQT)aaEiv... (Frg. 3), stimmt also nicht mit den Einleitungsworten der
imoftfjxai. U n d zu dieser äußeren Diskrepanz, der man sich vielleicht noch
entziehen könnte 1 0 2 , treten sachliche Erwägungen mitentscheidend hinzu.
Z w a r ist es ganz unmöglich, sich aus Senecas Schrift D e tranquillitate und
aus Plutarchs Schrift I I E Q Í EÜFTUNÍAG ein Bild von Demokrit zu machen 103 .
Nicht nur, daß Plutarch erwiesenermaßen dem Panaitios folgt; er und
Seneca zeigen einen so eminent fortgeschrittenen Typus des Philosophie-
rens, Schilderungen, wie sie Seneca von dem Charakter des rastlos U n -
befriedigten entwirft, sind vor Theophrast so undenkbar, daß hier f ü r
archaisches Denken - und Demokrits Ethik ist im wesentlichen archaisch
- nichts zu gewinnen sein kann. Wohl aber läßt die Betrachtung des Titels
und der Fragmente einiges über das verlorene Werk wissen. Nicht ohne
Grund findet es sich auch unter dem N a m e n JIEQI xilow; citirt 104 . Eí>^t)|xír|
ist der Zentralbegriff der demokriteischen Ethik, der einzige generelle
Schrift wie jieqI Eufrufúrig, nur ohne die polemische Einleitung. Das steht ganz in
der Luft.
102 B e ¡ Seneca steht Democritum ita cepisse, was man im allgemeinen als coepisse deutet.
Koch hingegen und mit ihm N a t o r p schreibt (prae)cepisse. Der Rhythmus scheint
nach keiner Weise zu entscheiden; doch ist das eine wesentliche Änderung, während
die Schreibung coepisse nur die Uberlieferung deutet. Es kommt hinzu, daß dieses
Fragment mit 4 Zitaten (Stobaeus, Plutarch, zweimal Seneca) und 2 Umbildungen
(Marc Aurel und Sextussprüdie) am häufigsten von allen Demokritgnomen angeführt
und benutzt wird, besonders auch, daß Plutarch im zweiten Kapitel seiner Schrift
jtEQi EÜdun'iag ohne Namensnennung den Demokrit bezeichnet mit dem W o r t ó uév
oív e'ijtwv 8TI 8eí TÖV £Ú0uu£Íadcn (lÉXXovTa . . . Dies alles weist darauf hin, daß
coepisse richtig ist.
103 So Hirzel i. d. Z. X I V , 1879, 354 ff. Dyroff, Demokritstudien 1 3 1 , macht sich ein
Bild von x. EÜdi>[úr|g, das aus Stob. Ecl. 7, 3 (Wachsm. II p. 53) zu stammen scheint.
Aber an dieser Stelle werden nur in bestimmter Absicht einige Demokritsätze zu-
sammengestellt, wie Dyroff 1 3 7 selbst zugibt.
104 F r g . 4 D. aus Clemens. Auch von Epikur gab es ja eine Schrift nsgl zéXovg.
304 Griediisdie Literatur [607¡609]
begnügt, sein allgemeines sittliches Ideal in der Schrift über die Euthymie zu ent-
wickeln und bei diesem Begriff stehenzubleiben, indessen er in seiner Tritogeneia
oder wo er sonst seine Lebensregeln aufstellte, ohne engen Zusammenhang damit
seine Erfahrungen und Ansichten wiedergab."
108 Natorp 63 ff. Ed. Meyer, Papyrusfund von Elephantine 124, weist auf Berührungen
der Demokritgnomen mit dem Orient hin in Stoff und Form. Eine für die Hypo-
thekai wichtige Aufgabe ist damit in Angriff genommen und verdient weitere
Forschung.
[6091610] YIIO0HKAI 305
der echte Demokrit oder auch schon ein Auszug. Wäre der erste Fall
gegeben, so dürften wir sicher sein, die ursprüngliche Reihenfolge wenig-
stens in Resten bewahrt zu finden. Da es jedoch durchaus ungewiß ist, so
liegt von vornherein nur die Möglichkeit vor. Diese Möglichkeit läßt sich
aber für einige Stüdke zu hoher Wahrscheinlichkeit erheben.
Bei Stobaeus stehen in dem Kapitel jieqi dcppocriivTig (III 4) hinterein-
ander 10 Demokritgnomen (197-206 D.), von denen 8 das Wort dvorinove?
an der Spitze tragen und auch sonst gleichartig geformt sind. Nun ist es
schon an sich wenig glaublich, daß solche Sprüche über das ganze Werk
oder über mehrere zerstreut gewesen und dann allesamt von dem Ver-
fertiger des Florilegs zusammengesucht worden wären 112 . Ich erinnere an
die Seligpreisungen | der Bergpredigt mit ihrem ständig wiederkehrenden
Haxagioi ol jita>xoi, oti . . . . [¿axagioi oi jtevfroivxEg, öti . . . . oder an den
Faust „Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern, Was ihr nicht f a ß t . . . .
Was ihr nicht rechnet...." oder an eine Rede Nietzsche-Zarathustras mit
dem oft wiederholten: „Ich liebe die, welche.... Ich liebe den, welcher
. . . . " — um zu zeigen, daß auch Demokrits Torensprüche von ihrem Ver-
fasser als Kette gedacht sind113. Das wird durch inhaltliche Beziehungen
der einzelnen Sentenzen zueinander vollends außer Zweifel gerückt.
199: „Toren sind die, die das Leben hassen und trotzdem aus Todes-
furcht leben wollen." 200: „Toren sind (aber überhaupt) die, welche
leben, ohne sich des Lebens zu freuen." Das konnte natürlich auch vor 199
stehn. Aber 201 schließt gut nur an 200 an: „Toren sind die, welche
Dauer ersehnen, ohne sich an Dauer zu freun." Schon SrivaioTT); ist viel-
leicht im prägnanten Sinn für „Lebensdauer" denkbar114, aber das ganz
singuläre Wort wird doch wohl verständlicher, wenn ßiotr| vorausging
und der „Dauer" ihren Bezug gab. Audi die formale Verbindung durch
ov TEgjio|XEvoi wird man nicht verkennen. Eine andere formale Verbindung
führt nach vorwärts, dadurch daß öpeyovTai auch in 202 regierendes Ver-
bum ist. Wie die Toren langes Leben begehren, so „begehren sie (über-
haupt), was sie nicht haben". Die nächste Gnome gehört freilich schon
um ihres abweichenden Eingangs willen nicht hierher115. Und 204 ist so
wenig sicher zu deuten, daß man auch über ihre inhaltliche Beziehung zu
112
Allesamt; denn das Wort dvorniove? begegnet bei Demokrit sonst überhaupt nicht,
wie idi aus W . Kranzens Wortindex zu den Vorsokratikern, dem ebenso häufig
benutzten wie selten zitierten, entnehme.
113
„(xvofmoveg refrainartig wiederholt", Hirzel i. d. Z. X I V , 1879, 396.
114
Srivaioxrig nach Büchelers glänzender Deutung des überlieferten br\ veoTT]?. Für den
prägnanten Gebrauch könnte man Ilias E 407 anführen: otti (iAX' ov örjvaiög o ;
ädavaxotai ndxtjtai.
115
Es liegt nahe, avofinoveg für av&gamoi in 202 einzusetzen. Aber man überzeuge sich,
daß das eine Verschlechterung ist. Man beachte, daß jeder Satz irgendeine Handlung
fixiert und dann von ihr sagt: so handeln Toren; deutsch also: „Toren sind es, die..
Man sieht, daß so hier nicht übersetzt werden könnte. Es ist nur ein allgemeiner
Erfahrungssatz, der zu besonderem Tadel keinen Anlaß gibt. Ähnliches würde
[6111613] YIIO0HKAI 307
aber, wie mir scheint, von Frg. 204 gelten, wenn die Weise, in der Diels die Ü b e r -
lieferung zu deuten versucht hat, richtig wäre. A u d i hier würde es sich mehr um
eine E r f a h r u n g handeln, die man v o m Subjekt aussagt, als um eine typische H a n d -
lung, deren Subjekt man „töricht" nennt.
116 206 mit Bücheler als unechte Variante von 205 anzusehen, möchte sich empfehlen.
Diels meint, daß dann ?cof|g in 205 gestrichen werden müßte. A b e r kann nicht die
Variation ungenau sein? Jedenfalls w i r d ¡¡(üfj? ÖQeyovxai durch Stivaiotritog ögeYOV-
tou und tcöv ooteovtiov ÖQEyovTai in 2 0 1 und 202 geschützt.
117 W a s den Sinn von 1 9 7 anlangt, so möchte ich folgender Interpretation v o r der von
Diels den V o r z u g geben: „Toren formen sich durch den Gewinn, den ihnen der
Z u f a l l in den Schoß geworfen hat, werden z. B. dadurch hochmütig . . M a n denkt
bei ¿ua(i.o0vTCH an $uc|i.og als atomistischen Kunstausdrudc.
118 F r g . 7 j ) das vorausgeht, scheint vorn nidit unmittelbar anzupassen.
119 D a s beginnende öe möchte sogar dagegen sprechen.
308 Griechische Literatur [613/614J
120
Besonders ev navxi xoo^coi 258 und 2 5 9 . Der Schluß von 2 5 9 muß vielleicht so ver-
standen werden: „Solcher Brauch aber, der die Tötung verbietet, ist der Aufenthalt
in Heiligtümern und das Bestehen von beschworenen Verträgen." Jedenfalls ist
vonog öe unantastbar nach v6(*og dutsievEi. - Übrigens ist es bemerkenswert, daß
N a t o r p bei seiner sachlichen Anordnung der Bruchstücke diese Gruppe beieinander
gelassen hat. N u r 258 und 2 5 9 (bei ihm 1 6 0 und I J 9 ) hat er umgestellt. Aber xd
jrnnaivovxa scheint mir gut den Übergang von den Tieren zum Menschen zu machen,
und vor allem ist es gut, wenn das xxe'iveiv XQT) von 258 vorausgeht den Worten
öxokjjieq . . . vö(ioi 787901 cpaxai und dann xxeiveiv.
121
Die Übereinstimmung dieser Gnomen mit der Gesetzessprache liegt zutage. Schon
N a t o r p S. 63 wies für xi|a>.?iT)v x a l Ä.T]i<Txr|v auf die Dirae Tei'ae (Solmsen, Inscr. ad
inlustr. dial. selectae 4 2 ) : xi^a/./.EÜoi rj xi!;u?.Xag ijjio&e'xolto r| Xti'i^oixo
f| X.r|iaxdg ujtoÖEXoixo. Aber auch ddüiog 6 xxeivcdv in 2 5 7 und 260 gehört hierher;
vgl. Dittenberger, Sylloge 2 9 3 3 , 1 4 , u. Ziehen, Leges Sacrae II 1 1 0 , töv öoOXov
(iaaxiYcbaavxa adcüiov elvai.
122 Ein paar Beispiele: Solmsen 4 1 A . . . 3tQT]§dvxcov ö ' öpocpu/.axEs- f)v &e (U) ngr|§oiaiv,
a i x o i öcpEiXövxcov, 42 B oixivEg xiuouxEovxEg xf|v ¿jtagr|v (AT) jioif|aEav ejiI öuvd-
jiei . . . ev xf|jta£>f|i E / E a d a i . Inschr. v . Olympia 2 a i £e (ir)jiidEiav x d ^ixaia, oq
(XE710XOV xEXog ey.oi x a l xoi ßaaiXäEg, ^ ¿ x a jivaig x a d n o x i v o i F i x a a x o g . I. v . O. 7
ai 6 e xig n a p xö vgaqpog 8 i x d 6 6 o i . . .
[6141615] YÜO0HKAI 309
Allerdings ist der Anschluß dieser Gnome etwas lockerer als die Verbin-
dung unter den ersten dreien. Aber sie würde als Gegensatz zu 277 vor-
trefflich passen, und mit einem „hingegen" wäre der Bezug hinreichend
gekennzeichnet. Demokrit empfiehlt Adoption. Die Menschen hingegen
ziehen leibliche Nachkommenschaft vor, und diese menschliche Eigenart
hat ihren Grund in der Natur. So ist es denn am wahrscheinlichsten, daß
auch hier 4 Gnomen in ursprünglichem Zusammenhange vorliegen, so wie
Demokrit sie angeordnet hat, um seine Gedanken in altüberlieferter Form
schrittweise vorzutragen.
Noch für andere kürzere Partien ließe sidi ein ähnlicher Nachweis
erbringen127. Davon soll hier abgesehen werden, und der Blick wendet
sich nun noch einmal auf den zurückgelegten Weg. Wir | haben Klarheit
darüber gewonnen, daß ein echtes Werk des Demokrit entweder xmodijy.ai
geradezu hieß oder doch unter diese Schriftengattung gehörte, und daß
es praktische Spruchweisheit in sinnvoller Anordnung enthielt, vermutlich
einen großen Teil der unter Demokrits Namen erhaltenen Sprüdie. Audi
hat sich herausgestellt, daß wir noch streckenweis den ursprünglichen
Zusammenhang fassen. Diesen Ergebnissen gegenüber ist es vielleicht von
geringerer Bedeutung, zu wissen, mit welchem der von Thrasyll aufge-
zählten Titeln diese Hypothekai zu identifizieren sind. IIuftaYÖQTig und
Ilegi tü)v ev "Aiöou kommen natürlich nicht in Betracht, ebensowenig die
'Y1ton.vrij.1aTa r)iHxa (was immer das gewesen sein mag); denn wion.vrnj.aTa
und tijtoöfpcai unterscheiden sich begrifflich und grundsätzlich. I T e q I Tfj;
t o ü aoqpoü ö i a f r e a i o g und wohl auch jieqi d v S p a y a f t i a c ; f| iteoi aQETfjg lassen
an eine stärker theoretische Absicht denken, als sie einer Spruchsammlung
innewohnt. So bleibt 'A[xaM>eiT|g xgQag, das Lortzing ehedem, ohne Nach-
folge zu finden, mit den wToftijxai identifiziert hat, und T q i t o y e v e i o , der
Natorp die Mehrzahl der Gnomen zuteilen wollte. Entscheiden läßt sich
nicht, ein klein wenig mehr Gewicht hätte vielleicht die Gleichung
'Yjiaüfjxai = T p i T o v e v e i a 1 2 8 . Denn mögen die Titel von Demokrit selbst
stammen oder von Späteren, jedenfalls war „Füllhorn" zur Zeit des
Plinius und Gellius poetischer Name für Sammlungen von Lesefrüchten,
wie man sie damals liebte. Das weist also nach etwas verschiedener
Richtung. Andrerseits wurde in der T q i t o y e v e i ö dieser Göttername allego-
risch auf die cppovriaig gedeutet, und es hieß von der: -/ivETai ö e e x t o ö
< P q o v e i v x g i a xavxa • xö s i Ä.oYi^ecr&ai, t o e i X e y e i v v.ai t ö j i g a t T E i v a S e i . Nun
ist es ja gerade die cppovriaig, deren siegreiche Herrschaft über den Zufall
wir in den Eingangsworten der 'Yno^fjxat gepriesen fanden. So nimmt
denn das negative Moment aus der Wagschale des „Füllhorns" etwas
127
Z . B. 1 7 8 - 8 0 , 2 2 7 - 9 . A u c h in der D e m o k r a t e s s a m m l u n g sind ja Zusammenhänge
kenntlich. A b e r man k a n n bei dem C h a r a k t e r dieser A u s w a h l nicht d a f ü r einstehen,
d a ß auch nur 2 S p r ü d i e ursprünglich so a u f e i n a n d e r g e f o l g t seien, w i e sie jetzt folgen.
128 N a t o r p hat sie nicht v o l l z o g e n , aber er hat im übrigen w o h l das Richtige gesehen.
[616] YTI09HKAI 311
fort, und das positive bringt der Tritogeneia ein schwaches Mehrgewicht.
Gewiß, eine endgültige Entscheidung läßt uns die Dürftigkeit des
Materials nicht fällen. Vielleicht aber wird dieser Mangel dadurch einiger-
maßen ausgeglichen, daß wir eine Seite der demokriteischen Schriftstellerei
und die historische Entwicklungsreihe der 'YiwiHixai schärfer erfaßt haben.
Heracliti fragmentum 1 2 4
1942
Si ponis scriptum olim fuisse avtov compendio trito, librarius etiam facilius
ab altero v ad alterum transilire poterat haplographia vulgata, ut tres
tantummodo litterae <r| av) perierint. Pensitavimus alia supplementa
velut ^VT)TWV, jiaiöcov, 'EMr|v(ov. In vero quod supra posuimus ex omni
parte praestat.
Das Fragment ist so zu emendieren - aber vielleicht ist es besser, den
ganzen, etwas locker gebauten - dabei streng gedachten - Satz aus
Theophrasts Metaphysik, IV 15, p. 7 a 10 ff. herzusetzen: „Es wäre wider
alle Vernunft, wenn das Universum und jeder seiner Teile in Ordnung
und Form wäre, in den Prinzipien aber nichts dergleichen, sondern wenn
die Welt so wäre wie Herakleitos es sagt: ,Fleisch aufs geratewohl hinge-
worfen: das ist selbst der schönste Mensch.' . . . " ev öe taig aexai? nrjftev
TOIOÜXOV, akV maneg „ A A P L eixfji X E - / D ^ E V ( T | avftpü)JI>cov 6 xiMiatog", <pt|aiv
'HgaxAEitog, ö xöaixog1.
3. In Archilochi frg. 6j a
1929
4. In Archilochi frg. 74
y In Sapphus c. 2, 9
3
C f . Lasserre, Mus. Helv. I V 1947, 1 sqq.
[380¡38 í J Retractationes I 3-8 315
6. De Tyrtaei Eunomia
7. In Solonis c. 1
8
Hermae vol. 62 p. 256.
9
C f . Pelissier, De Sol. verb, copia.
[382j383] Retractationes I 3 - 8 317
Callimacheis nuper repertis post Pfeifferum (in Hermae voi. 63) sub-
venire paucissimis locis contigit. — In v. 5 supplementum éX[icraco nequeo
redarguere. Tarnen unice verum esse non concedo. Haud scio an praestet
ÈX[aiivco. Ludum puerilem respicit poeta non alium fonasse atque in
epigr. 1 : xr)v -/.ara oavròv IXa, ita ut suam artem cum turbinum ludo
comparantes adversarios fingat. - In v. 8 [ocpoitEpov] vix convenit. N a m
quamquam alibi ó qpfróvog dicitur ipsorum TrjxEiv TCOV qyftovegùv o ^ a t a xaì
xQaòir)v (APal. X I 193), tamen „scire" Teichines suum iecus liquare vereor
ut aptum sit. Liquare sciunt iecus eorum quos visu vitant. xaì yàg TÒ
ßXE[i|xa xaì T T ) V àvanvor)v xaì xr|v S L Ó A E X T O V aiiiùv (seil, T Ù V ßaaxavov È X Ó V T O O V
o<p{>a>.|ióv) J T P O O 0 E X O | J . É V O D G x r| X E a FT a 1 xaì voaelv ait Plutarchus Quaest.
conv. V 7 , 1. Temptabam igitur [àXXóxQiov] vel [àvTiitàXcov]. Quamquam
[¡loùvov éóv] minus displicere quam [acpwitEoov] non negaverim. -
Maximi momenti est removere cruces a Pfeiffero versui 33 adpictas,
id quod non mutando fit sed interpretando.
Quae exposui conveniunt fere cum iis quae Huntius (Class. | Rev.
X L I I 6) et Rostagnius (Riv. di filol. V I 22) protulerunt, neque post illos
rem rursus tetigissem, nisi Pfeifferus tam enixo studio contra dixisset.
Cuius auctoritatem ne videar parvi aestimare, pauca adnotare e re erit.
1) cmy^r) quae est in papyro post bgóaov cum mea explicatione optime
quadrat. - 2) senectutem et rorem artissime cohaerere cum cicadis constat
et a Pfeiffero ipso bene exponitur (p. 324). ögoaov igitur addubitare non
ausim. - 3) pronomen f|v |iév, quod a participio pendet ex usu notissimo,
ne quis cum verbo aeiöco coniungat pronuntiando cavebis haud difficulter.
C f . ut unum exemplum forte praesto factum adferam Plat. Phileb. 2 j D
crunnETga zaì av|xcpa)va evftelaa àpifr^òv aitEgyatetai, ubi in proclivi est diri-
mere aij|icp(Dvu a participio, àgiftuóv a verbo finito. - 4) in eo quod
Pfeifferus quamvis dubitanter commendai (iva yr\Qa<;, f|v jièv aeiöco, aitòi
tò 6' éx8i)oiui) non minus displicet coniunctio quam particulae név -
8é. - 5) Quod in enuntiato finali coniunctivum optativus subsequitur, id
multis exemplis fulciri potest. C f . Krueger § 54, 8, 2. Kuehner-Gerth
2,387. Si vero èx8i>oi|xi non pro enuntiati finalis altera parte sed pro enun-
tiato vere optativo habere tibi placet, re vera nihil mutatur. - 6) aiftì
grammaticus antiquus (cf. Callim. fr. 286 Schn.) positum opinatur àvxì
t o i (j,Età t a i r a . Adcuratius dixisset àvxì -coi nàXiv, nisi forte (cum Rosta-
gnio) credas eumpost rorem haustum iuventute se potiturum esse sperasse.
Sed ad hoc discrimen tunc mentem non attendit, quippe qui id ageret, ut
planum redderet aiftì non esse adverbium locale, sed adhiberi pro tem-
porali afr&ig, cuius interpretatio apud Ammonium est JtàXiv fj ^etò taira,
apud Hesychium JtàXiv, è | àp/ris . . . fj (xsxà taira. - 7) Emphasis in opta-
tivis òyxrjaaiTo et eir|v eifervescit, in interiectione 5 jtavxwg quasi ad fasti-
gium pervenit. Ruptus sermo animo ita commoto convenit.
1909
1
M a n könnte mit allem Vorbehalt die Proportion aufstellen <persu : persona = aplu :
apluni, aplunai (Wilh. Schulze, Z u r Gesdi. lat. Eigennamen 1 5 2 ) = a%u : axuni
(Schulze 3 0 2 ) = vipi venu : vipine venunia ( 3 1 6 ) = trepu : trepunia ( 3 1 8 ) = velsu :
velsunia (259) usw. [Ich komme auf meine A u f f a s s u n g demnächst in der G l o t t a
zurück. Skutsch.]
2
Ich habe einen Augenblick daran gedacht, für die Metathese der ersten Silbe die V o r -
stufe im Griechischen zu suchen, nach Analogie von Jtógaco u. ä. A b e r semitisch
parsópá (Dittenberger, Orientis Inscr. sel. I 644), das man scheinbar d a f ü r heran-
ziehen könnte, findet, wie mir H e r r Professor Nödelke mit gütiger Bereitwilligkeit
mitteilt, seine Erklärung darin, daß anlautendes pr sich semitisch nicht sprechen ließ.
[1661167] Persona 323
(die Masken bei ihnen seit viel längerer Zeit gewöhnlich waren als bei
den Acteurs der anderen Gattungen, und weil) sie im Gegensatz zu den
andern nicht gezwungen waren sich auf der Bühne zu demaskieren. (So
etwa muß man den sichtlich gekürzten Bericht ergänzt denken.) Es ist
also ein Mißverständnis, wenn man mit dem Festus in der Hand den
Ausdruck personata fabula in eine Zeit hinaufführt, in der es noch keine
persona gegeben habe. Gerade das Gegenteil sagt der Autor.
Damit kommen wir zu der alten Ansicht zurück. Persona ist inhaltlich
= jiqöctcdjiov. Das Wort persona hat mit dem Worte JtQoaoMtov die stärkste
formale Ähnlichkeit. N u n wäre es absurd zu bezweifeln, daß die römische
Theatermaske im letzten Grunde griechische Theatermaske ist. Dann aber
hat es alle Wahrscheinlichkeit für sich, daß auch das lateinische Wort im
letzten Grunde das griechische Wort ist.
Wenn sich jetzt anderseits etr. cpersu von lat. persona nicht trennen
läßt, so ergibt sich mit ganz demselben Grade von Wahrscheinlichkeit,
daß auch das etruskische Wort dem griechischen entstammt 3 . Und not-
wendige Folgerung ist weiter, daß etr. cp ersu \ und lat. persona, die gegen-
über der Urform gleiche Abweichung in der ersten Silbe zeigen, nicht un-
abhängig von einander dem griechischen jiqockdjiov entlehnt worden sind.
Jeder weitere Schritt führt notwendig ins Unsichere hinein. Die ein-
fachste Lösung wäre ja die, daß das Wort den Weg vom Griechischen über
das Etruskische ins Lateinische zurückgelegt habe, wie gruma <yvcb[i.ova,
sporta ( cmjpiöa, Catamitus < Catmite < ravunr|ÖT)5 (vgl. W. Schulze, Sit-
zungsb. d. Berl. A k . 1905, 709). Ich bin audi gar nicht abgeneigt, mich bei
dieser einfachsten und durch Analogien gestützten Erklärung zu beruhi-
gen. Aber es gibt da Bedenken, die nicht verschwiegen werden dürfen.
Man wird es von vorn herein f ü r wahrscheinlich halten, daß der N a m e
zugleich mit der Sache eingewandert ist. N u n läßt römische Literaturfor-
schung (Livius V I I 2) das Theaterwesen in Rom sich so entwickeln, daß
zunächst histriones aus Etrurien kommen, erst später (so scheint es) Atella-
nen aus Campanien. Die Masken aber werden bei Verrius nicht jenen son-
dern diesen zugeschrieben. Wir würden also eine oskische Benennung
erwarten, und wenn man sich dem fügte, ließe sich etwa eine oskische
Form ansetzen, die aus dem Griechischen stammte und gleicherweise ins
Lateinische wie ins Etruskisdie weitergegeben worden wäre.
Demgegenüber hätte ich geltend zu machen, daß die tomba degli
auguri in Corneto, die uns das Wort <persu überliefert, nach dem altertüm-
3
Ober das Lautliche in dem etr. W o r t läßt sich natürlich nichts Sicheres sagen. Vielleicht
darf man für die Metathese das Nebeneinander von rpurse&na und pru'sa&na (Schulze
a. a. O . 90) heranziehen. Oder man könnte auch S y n k o p e und folgende A n a p t y x e
annehmen, etwa *q>rsw < jiQÖacojtov wie a&rpa < " A t p o i t o s , dann tpersu < *cprsu.
V g l . Skutsch bei P a u l y - W i s s o w a V I 7 8 7 / 8 . Die Änderung im Wortausgang könnte
man durch Angleichung des griechischen Wortes an etr. -««¿-Bildungen erklären, falls
man nämlich solche Form schon fürs Etruskische und nicht erst fürs Lateinische ansetzt,
w a s idi allerdings für angemessen halte.
324 Lateinische Sprache und Literatur [167¡168]
liehen Stil ihrer Wandmalerei (Mon. d. Inst. X I tav. 25) kaum später als
500 gerückt werden darf. Das spricht im Verein mit dem Fundort durch-
aus für unmittelbare Entlehnung des etruskischen Wortes aus dem Grie-
chischen. Zweitens muß man darauf hinweisen, daß die Frühgeschichte des
römischen Bühnenwesens mit einem an sich dürftigen Tatsachenmaterial
arbeitet und nicht einmal auf unbefangener Auffassung dieses Materials
beruht, sondern es durch bewußte Parallelisierung mit dem griechischen
Entwicklungsgang in trügerisches Licht setzt. Niemand also darf mit Ent-
schiedenheit bestreiten, daß etwa vor den oskischen Atellani schon die
tuskischen histriones Masken nach Rom gebracht hätten. Aber selbst wer
dies für unerlaubte Willkür gegen die Uberlieferung hält, kann bei der
Übernahme des etruskischen Wortes ins Lateinische bleiben, wenn er sich
vergegenwärtigt, wie lebhaft in Camjpanien etruskischer Einfluß, wie
stark die Sprachmischung war (W. Schulze, Zur Gesch. lat. Eigennamen
62 u. sonst), und wie spät das etruskische Idiom dort erloschen ist (Nissen,
Ital. Landesk. II 682). Demnach wäre es schließlich auch nicht unmöglich,
etruskischen Namen und oskische Sache mit einander zu verbinden. Der
dossennus in der Atellane trägt eine Bezeichnung, deren „latinischer"
Ursprung recht zweifelhaft ist4, deren Endung mindestens - trotz Bueche-
ler5 - stark ans Etruskische erinnert.
Aber mag hier auch der Weg im einzelnen gewesen sein, welcher er
wolle, einiges ist sicher oder doch sehr wahrscheinlich. Dazu gehört, daß
die Maske auf dem römischen Theater zuletzt die griechische Maske ist, ob
nun Etrusker oder Osker als Vermittler zu betrachten sind. Die oskische
Posse bezieht ihre Maske von den Griechen. Denn sie stammt entweder
überhaupt vom Phlyax ab oder ist zum mindesten aufs stärkste von die-
sem beeinflußt (vgl. Bethe, Proleg, zur Gesch. d. Theaters 293 ff.). Nicht
minder fest steht es, daß die Bühnenmaske der Etrusker mit deren
gesamter höheren Kultur und Kunst nur von den Griechen stammen kann.
Ob also Osker oder Etrusker oder beide die Maske nach Rom gebracht
haben, jedenfalls ist es die griechische Maske. Dazu paßt aufs beste das
Ergebnis der Sprachbetrachtung, die in dem Worte persona eine Entleh-
nung aus dem Griechischen erkennt. Und wenn nun die Römer nachweis-
lich ihre Theatermaske zunächst nicht unmittelbar von den Griechen über-
nahmen, sondern auf Umwegen, so stimmt dazu nicht minder gut die Be-
obachtung, daß auch das sprachliche Zeichen für den Gegenstand nur als
indirekte, vermutlich durch die Etrusker vermittelte Entlehnung aus dem
Griechischen aufzufassen ist.
4
Bekanntlich deutet man dossennus in der Regel als dors-ennus, während im Gegensatz
dazu W. Schulze a. a. O. 283 das Wort als „etymologisch dunkel" bezeichnet.
5
Rh. Mus X X X I X 420. - TT]ßEwa ist doch wohl etr. Lehnwort im Griechischen. Dafür
spricht auch die Notiz im Et. M. und bei Phot. s. v. rrißEwa, wo das Wort nicht wie
in den Glossen gewöhnlich als 'Pcofiaixf) eaör|; erklärt wird, sondern die Erklärung
lautet: lnáxiov x^-öl^g o cpoooíai Ti>qqt)voí (so Buecheler statt des überlieferten
•njpavvoi).
Retractationes I I 9 - 1 1
1932
poterai ne deos rogarent: pacem. taCt' ovv öeXe naì aìtoi tòv $eòv a $éXei
xaì EOTiv axnóg, ut Porphyrii verbis utar (ad Marcellam 13). Nihil igitur
contrarii Lucretius — ut taceamus de fabuloso ilio interprete! - versus
44—49 habere voluit cum antecedentibus, immo his illos fulcimento esse.
Tribus versibus (44-46) praedicatur deorum naturam in pace constare.
Quod alteris tribus (47-49) probatur: removentur enim a dis non modo
dolor metusque (47) sed etiam ii affectus, quos deorum proprios iudicare
solet falsa religio, gratam voluntatem dico, quae hominum bene factis
paratur, et iram. Sed ne in ultimo quidem versu quicquam invenies, quo
preces Lucreti impugnari potius quam fulciri iure perhibeas.
Iam demonstrabimus versus addubitatos etiam cum insequentibus
coire in unum contextum. Atque primum hic quoque repetitione quadam
verborum ad conexum recte aestimandum perducimur. Semota ab nostris
rebus est natura deorum (v. 46), semotum a curis ut animum praebeat,
Lucreti verbis paulo post (v. 51) Memmius rogatur. Eadem igitur pace
vel vel àraga^ig., qua cum antecedentibus coniungi vidimus versus
addubitatos, nunc cum insequentibus eos coniungi videmus. Rogatur
Venus, ut pacem condonet Romanis. Rogationi fulcimento est xuQÌa òó|a
prima. Tunc ad Memmium se convertii Lucretius, quem tali securitate
fruiturum sperat, ut sapientiae vacet aures praebere.
Quorum utrumque quid, a vero iarrt distet habes. Versum truncum sic
praebent Oblongus, Quadratus, Schedae Vindobonenses unanimiter.
Temptabat corrector Oblongi habe(bi)s. At displicet tempus futurum,
quoniam in priore libri I parte „utrumque" demonstratum est, scilicet
nihil de nihilo gigni nihilque ad nihilum interire. Rectum videtur
habe(mu)s, qui exitus hexametri commendatur versu V I 7 1 1 item in
multis hoc rebus dicere habemus.
The Epicurean Theology in Lucretius' First
Prooemium (Lucr. I. 44-49)
1939
1
Cf. Ed. Norden, Agnostos Theos (Leipzig, Teubner, 1913), 150, 350.
2
C f . the pictures of Aphrodite and Adonis: E. Pfuhl, Malerei und Zeichnung der
Griechen (München, Bruckmann, 1923), § 642, Fig. 594 (Meidias-Painter); Fig. 669
(Pompeii). Dionysos and Ariadne: L. Curtius, Die Wandmalerei Pompejis (Leipzig,
Seemann, 1929), Fig. 193 (Villa Item). Cista Praenestina, No. 54.135 Walters Art
Gallery, Baltimore (shown to me by Miss Dorothy K. Hill). Ares and Aphrodite:
Curtius, op. cit., /rontispiece; Pfuhl, op. cit., Fig. 668 (Pompeii). These and other
kindred pictures and the passage of Lucretius must be added to the collections of
Eduard Schwyzer, "Der Götter Knie - Abrahams Schoss," in 'Avtiöiopov, Festschrift
Jacob Wackernagel gewidmet (Göttingen, Vandenhoeck, 1924), 292 f. They may
modify his judgement: " U m den Geliebten im Schosse der Geliebten und den um-
gekehrten Fall zu finden, muß man im Abendlande im allgemeinen in tiefere Kreise
des Lebens und der Literatur hinabsteigen."
[3691370] The Epicurean Theology in Lucretius' First Prooemium 329
3
C f . the edition of Munro, Introduction to Notes, I, 3rd edition, 5 ff. An attractive
picture of Marullus is given by Ivo Bruns, Vortrage und Aujsatze (Miindien, Beck,
1905), 380 ff. See, also, G. D. Hadzsits, Lucretius and His Influence (cf. note 14)
258 ff.
4
E. Bignone, "Nuove ricerche sul proemio del poema di Lucrezio," Rivista di Filologia
X L V I I (1919), 423 ff.; O. Regenbogen, Lukrez (Leipzig, Teubner, 1932), 65 ff.
Bignone conjectures that Lucretius intended to bridge the contradiction by an alle-
gorical explanation of his myths of Venus. Regenbogen's dramatization of the struggle
between poet and philosopher results in the hypothesis that the philosopher was about
to destroy the loftiest piece of his poetry when his death or suicide saved it. In line
with Bignone and Regenbogen is the "restoration" by N . H. Romanes, Further Notes
on Lucretius (Oxford, Blackwell, 1935), 7.
s
"Retractationes II," Hermes L X V I I (1932), 43 ff. I wish to enforce what I have said
in that article.
6
On the archaic character of the composition I agree with F. Jacoby, "Das Proomium
des Lucretius," Hermes L V I (1921), 17 ff.: "Wir miissen die Arbeitsweise anerkennen,
die innerhalb des als Ganzes entworfenen Planes die einzelnen Gedanken und Glie-
330 Lateinische Sprache und Literatur [370/371]
There (III. i 8 f f . ) :
der in sich zu Perioden abrundet, diese einzelnen Perioden von meist sehr beträcht-
lichem U m f a n g aber unverbunden" - I would say: unconnected or loosely connected -
"nebeneinanderstellt und es dem Leser überläßt, sich den logischen Zusammenhang,
die verbindende Partikel oder den Zwisdiengedanken zu ergänzen. . . . "
7 It is remarkable that Regenbogen (op. cit., see note 4), w h o deals so extensively with
the duality of poet-philosopher, misapplies this principle in dealing with the problem
of Omnis enim. ... M a y I add that the book of Regenbogen spares me the trouble
of quoting the long bibliography.
7 a C f . M . de Montaigne, Les essays, I I I . j , "Sur des vers de V i r g i l e " : C e que Virgile
9
M y statement, loc. cit. (see note j), 43, has been followed by J . Martin in his edition
of Lucretius (Leipzig, Teubner, 1934) but opposed by Friedrich Klingner in the book
of K . Büchner, Beobachtungen über Vers und Gedankengang bei Lukrez (Berlin,
Weidmann, 1936), 105. His argument is that peace in the Roman empire and peace
in the realm of the gods are entirely different. The obvious reply is that the peace of
God, though entirely different, is and must be the example of all human peace or
there would be no use in talking about divine peace at all.
91
It is understood that enim refers not to the immediately preceding lines 4 1 - 4 3 but
to 38-40 and ultimately even to 29-32.
332 Lateinische Sprache und Literatur [373]
second part of the \ prooemium opens: Humana ante oculos foede cum
vita iaceret . . . One does not know whither the thought will turn, until
one is aware that the nightmare of the all-oppressing Religio is overcome
by the savior Epicurus. Well, this struggle against the wrong theology
which emphasizes the praise of Epicurus derives its right to appear in the
whole of this prooemium from the statement of the right theology.
Lucretius could not struggle against the one before having stated the
other.
Humanity crushed down under the weight of Religio, Religio lower-
ing from heaven upon mortals-this aspect is exactly the contrast to the
peaceful eternity of the |J.ay.aQiov xal acpOagtov, far removed from our
concerns, wanting nothing from us, not | moved by anger. And this
view is precisely one of the trophies which triumphant Epicurus had
brought back from his victorious campaign: finita potestas denique cuique
(to everyone and most of all to the gods) / quanam sit ratione atque
alte terminus haerens. And the last words of this triumphal hymn nos
exaequat victoria caelo are not merely the emphatic expression of a
feeling: they gain their systematic sense in the Epicurean system, if we
think again of the Master's words i;r|a£lS 8e ¿5 ftsog ev dv^Qcbitoig-which one
can neither understand nor fulfil without the right knowledge about
t o naxdQiov xai acpftaQtov.
Epicurus has overcome the wrong Religio, but it always remains.
So the praise of the Master is followed by the struggle against this
ever-menacing power. And again-the philosophical intensity of this
struggle is invalidated (though the personal and poetical intensity may
persist), if its systematic foundation, the right theology, is broken off.
Observe the philosophical direction of the beautiful example of falsa
Religio, the sacrifice of Iphigenia. The leaders of Greece-ductores
Danaum delecti, prima vivorum (one hears bitter criticism in these words
and the implied contrast with the genuine Greek leader, Epicurus)-have
stained the altar of the goddess, turparunt sanguine foede. Before the
altar in sadness stood the father and the citizens, in fear and despair
note 9], 1 1 5 ) : (1) " V e r s 55 disserere incipiam läßt bei unbefangener Interpretation
keinen Z w e i f e l daran zu, daß die Sadibehandlung nun beginnen soll." Whether
incipiam means after seven verses or after ninety-five verses, unbiased interpretation
cannot decide. The small word " n u n " is a dangerous addition of the interpreter;
(2) " . . . d i e Verse 58-61, deren terminologische Feststellungen vernünftigerweise nur
den Zweck haben können, nicht zu einem Elogium auf Epikur überzuleiten, sondern
der Sadibehandlung die Grundlage zu geben." I do not see w h y these verses must
reasonably have one of these two purposes. I think they have a third, to bring the
first main part of the prooemium to its goal, i. e. to the statement of what reality
is. For the sake of method I stress the f a c t : in both cases emphatic words make up
for the shortcoming of argument: "bei unbefangener Interpretation," "vernünftiger-
weise." - I still think that I have demonstrated, although in a somewhat schematical
w a y , the plan of the whole prooemium {loc. cit. [see note 5], 44 f.).
334 Lateinische Sprache und Literatur (375¡376]
the daughter. She was sacrificed at the altar casta, inceste. The indignation
of the poet receives its strength from the theology: summa cum pace ...
semota ab nostris rebus ... nil indiga nostri, nec bene promeritis (like
a sacrifice) capitur neque tangitur ira (such as these Greeks imputed to
Trivia virgo).
The right theology as the foundation of the philosopher's struggle
against superstition-impiety not on the part of those who fight against
the popular beliefs, but on the part of the believers-this trend of thought,
of course, is not established by Lucretius, but by Epicurus himself. The
beginning of his letter to Menoeceus (123) proves it and therefore proves
the indispensability of the six verses: |
Finally I feel-I stress the subjectivity-I feel the radiation of the six
theological verses in a very beautiful word near the end of theprooemium:
noctes vigilare serenas. Severas coniecit Bentley-one of his sacrileges
against beauty. "Serenas seems merely a poetical epithet," says Munro.
On the contrary! As a mere poetical epithet (if such a thing exists in
genuine poetry) it would be senseless. Did Lucretius work only in good
weather? Serenas becomes ingenious and beautiful at the same time
when it is understood of the poets' spiritual landscape. Serenitas is not
the clearness of star and moonlight; its light is the same as in the follow-
ing words: clara tuae possim praepandere lumina menti. Serenus in
Lucretius is linked with tranquillus and placidus:
and the view thence of the unrest of human life. This serenity and
aloofness recall the divine existence, and when nature desires
utqui
corpore seiunctus dolor absit, mente fruatur
iucundo sensu cura semota metuque (II.17 fT.),
these very words recall the theology of the first prooemium. Prooemium 111
presents the Epicurean Olympus and the nature of its inhabitants:
This serenity and bright light of the philosopher's life reflect the "far
diffused light" of the Epicurean Olympus. The Master is worthy of
ranking with the gods whose nature he | himself has declared with a
divine tongue (v.j2ff.). Prooemium vi combines the praise of Epicurus,
who has demonstrated
with the statement that the tranquil peace of man depends upon right
insight into the calm peace of the gods (68-79). So the theology of the
12 Except the prooemium of book I V . But it is known (cf. J. Mewaldt, "Eine Dublette
in Budi I V des Lucrez," Hermes X L I I I [1908], 286 ff.) that the poet himself trans-
posed this prooemium from its place into the first book. So the beginning of book I V
is in no definite state at all.
336 Lateinische Spradie und Literatur [3781379]
first prooemium is linked not only with the other parts of the same
prooemium but also with all the other prooemia of the same poem.
George Santayana in his penetrating essay on Lucretius 13 deals in
a sympathetic manner with the religion of the Epicureans, who "ad-
mitted the existence of gods in the quiet space between those celestial
whirlpools which form the various worlds," living "the serene life to
which Epicurus aspired." He imagines a poet who "should have found
an inexhaustible fund of poetry in this conception of the immortals
leading a human life, without its sordid contrarieties and limitations,
eternally young, and frank, and different!" But then he ends by stating
that Lucretius was not this poet and why he was not. "Lucretius was too
literal, positivistic, and insistent for such a delicate task. He was a
Roman. Moral mythology and ideal piety, though his philosophy had
room for them, formed no part of his poetry." The deficiency, however,
is not in the poem but in the interpretation of Santayana. It was the fault
of the modern editors that he did not find the Epicurean theology in the
heart of the first prooemium. Otherwise he would not have overlooked
this thread in the tissue of the whole poem (1.1015; 11.646fF.; m . i 8 f f ;
v.82ff.; 146fF.; 165fF.; 309fF.; vi.58fF.; 68fF.) 14 . He would not have
failed to hear such grandiose and ardent invocations as: |
13
George Santayana, Three Philosophical Poets, Lucretius, Dante, and Goethe (Cam-
bridge, Mass., Harvard University Press, 1910), 62 ff.
14
Cf. George D . Hadzsits, Lucretius and His Influence ( N e w York, Longmans, 1935),
chapter V I I : Lucretius and Religion; E. E. Sikes, Lucretius, Poet and Philosopher
(Cambridge, University Press, 1936), chapter VI: Epicurean T h e o l o g y .
Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius
1941
1 C f . C . Giussani, T. Lucreti Cari De Rerum Natura, I (Torino, 1896), pp. 267 ff. For
other aspects of this problem cf. Phillip DeLacy, " T h e Epicurean Analysis of Lan-
guage," A . J . P., L X (1939), p. 85. Concerning the background in Democritus cf.
E. Frank, Plato u. d. sog. Pythagoreer, pp. 167 fi.
2
(re)stricta is Ladiman's conjectural restoration which is almost certain.
338 Lateinische Sprache und Literatur
as comix and corvus (1084). Thus one directly experiences the natural
process by which the Jtuftri and cpavtda|iaxa of men produced and produce
appropriate movements, sounds, and words.
This is the foundation of an important thought which Lucretius
cherishes and utters again and again 3 . The "letters"-this name covering
at the same time what we call letters and sounds-are the elements of
language, a limited number producing the abundance of words and
verses. Thus they are an image of the atoms producing the world. T o be
sure, the variety of the atoms is inconceivably greater, and so many
causes as concursus motus ordo positura figurae (I, 68 5 = II, 1021) are
required to combine them into the nature of things, while language
comes into being merely by the order, ordine solo (I, 827), of its few
elementa (= figurae), the letters.
The poet gives an example of this scheme (I, 907 ff.). Change neighbor-
hood, position, motion, and the same atoms may produce both fire and
wood, ignes et lignum, just as the words ligna et ignis have the same
elements, small changes producing the distinction. The basis for this
(sit venia verbo) atomology was laid early in the poem. In his polemic
against Anaxagoras Lucretius had stated that one should find small
particles of fire in wood, in lignis ... ignis (891-2), if the theory of the
homoeomeriae were right. And again (901): non est lignis tamen insitus
ignis. The similarity of sound failing to support the wrong doctrine of
Anaxagoras does support the orthodoxy of Democritus and Epicurus.
It is understood that the poet bears in mind this significant similarity
when in the second book (II, 386 f.) he contrasts the delicate and there-
fore more penetrating fire of the lightning with the coarser fire originat-
ing in wood: ignis noster hie e lignis ortus.
In his merciless physiology of love Lucretius compares the stroke of
love to the stroke of arms (IV, 1049 If a m a n i s struck in battle the
red fluid (umor) spurts out in the direction opposite to the stroke. If a
man is struck by love he wants to throw the fluid (umorem) from his
body into the body which has darted love (amorem) on him:
3 Lucretius, I, 196 ff., 823 ff., 907 fF., II, 686 ff., 1013 ff. are the main instances. The
texts are collected and the question is discussed by Diels, Elementum, pp. 5 ff. Diels
bars for himself the w a y to the problem with which this paper is concerned by
labelling Lucretius' combination of ignes et lignum a pun (Wortwitz). The poet
never was more serious.
Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius 339
and the process goes on. Interpreters usually refer haec to voluptatem,
hinc to cupido of the preceding verse4. But haec . . . hinc .. . hinc .. .
refer to the whole preceding process and nomen Amoris is not Cupido
but just "the name Amor". By hinc est nomen Amoris the poet points
to the twice-repeated umor ( 1 0 5 1 , 1056), as a few lines later he will
again put side by side umorem—amore (1065-6).
The invisible must be interpreted from the visible. The wind, for
example, is a kind of stream (I, 277 ff.). The winds fluunt, the water
moves flumine ahundanti and overthrows quidquid fluctibus obstat. This
exposition culminates in the outspoken parallelism flamen-flumen, sym-
bolizing the parallelism of the subjects (291 f.):
sic igitur debent venti quoque flamina ferri;
quae veluti validum cum flumen procubuere . . .
Among the different origins of lightning there is one (VI, 295 ff.),
cum vis extrinsecus incita venti
incidit in validam maturo culmine nubem;
quam cum perscidit extemplo cadit igneus ille
vertex quem patrio vocitamus nomine fulmen.
The reference to the native tongue5 stresses the etymological value of
the juxtaposition of culmen and fulmen.
The peculiarity of the corporeal is resistance, àvntimia (I, 336 ff.):
... officium quod corporis exstat
officere atque o¿stare . . .6
One may imagine that Lucretius would have liked to find the notion
of resistance in the very word corpus but that he succeeded in discovering
it only in the paraphrase officium corporis, these two words being as
nearly connected as e. g. animi natura, umor aquae, taedai corpore, etc.7
While the Romans sharply distinguish between religio and superstitio,
Lucretius never has the second word. Both notions being one to him
he has made Religio the bearer of all his hatred. Yet in his grandiose
* So Munro and Ernout. Giussani is on the right track : "Venus, cioè l'amore di fatto
cioè die c'è di vero e reale nell'amore, non è che lacere umorem in corpus de corpore
ductum e la voluptas che ci và unita." Yet he does not follow up the clue but changes
nomen into momen, failing to understand the significance of nomen amoris.
5
Giussani at least saw that here something is to be explained: "Anche l'espressione
quem patrio .. . dopo tanto parlare di fulmini ha qui dello strano e del posticcio."
His reference to the unfinished state, to be sure, is wrong.
6
"One of his favorite plays on words," Munro. " N o t a il giuoco di parole," Guissani.
Munro ad I, 875 gives examples of what he thinks are repetitions of words "without
any point whatever and therefore to our taste faulty."
7
Cf. A . Ernout, Lucrèce, De Rerum Natura, Commentaire (Paris, 1925), p. xxxix.
340 Lateinische Sprache und Literatur
8
C f . J . Bernays, Gesammelte Abhandlungen, II, p. 6. The intention of Lucretius
cannot be doubted. I, 932 very probably contains a hint at the etymology religio a
religando, but only an indirect one in the words nodis exsolvere. (A similar hint I find
in V , 1 1 4 , religione refrenatus.) VI, 382 has nothing to do with indigitamenta.
9
It is a truism that an ancient etymologist does not see why one etymology should
exclude the other; on the contrary, two are better than one. Plato Cratylus gives an
abundance of examples. Lucretius combined the traditional etymology of religio a
religando with a new (?) one a caeli regionibus.
10
The editors of Lucretius have a queer dislike of capitals in what we call personifica-
tions, thus supporting the philosopher against the poet. N o editor of any other poem
would hesitate to print Amoris in V, 1075, or Discordia in V , 440. (Since Discordia
is the Neixog of Empedocles, quorum depends upon intervalla vias, etc., not upon
Discordia.)
Pattern of Sound and Atomistic T h e o r y in Lucretius 341
It cannot be fortuitous either that in each case (II, 998. V, 795. 822)
merito appears in the vicinity of maternum and terra. Memo Maternum
twice accentuates the suggestive consonants m and t, i. e., the initial
letters of Mater Terra, and the er inherent in Mater, maternus, and Terra.
Perhaps it is not fortuitous either that in the passage about the Phrygian
Mother (II, 698 if.) Lucretius says only mater . .. dicta est and banc
vocitant matrem, since there was no terra inducing maternum nomen11.
The etymological fury does not stop short even of proper names:
11
One m a y restrict the name "alliteration" to the beginnings of words. But there is not
the slightest reason to confine one's attention to these alliterations in the restricted
sense.
12
F . Jobst, Uber das Verhältnis zwischen Lucrez und Empedokles, Dissertation E r l a n -
gen, 1 9 0 7 , p. 1 4 : " A u d i die A n r u f u n g der Kalliope darf man nicht auf eine N a c h -
ahmung des Empedokles zurückführen." I think just the opposite is evident.
342 Lateinische Spradie und Literatur
and liquor and lingua seek one another in sounds as they do in nature.
The elements of the words appeal to the tongue and the ears as the
atoms of the corresponding things appeal to the taste of the tongue.
"Instead"-aT ConTRa: already in this twice repeated formula the
ear feels a kind of offense. The harsh tc and tr are at once echoed in
taeTRa and later continued in the rt and rq of the rare peRToRQ«e«i 1 6 ,
and perhaps in the r's of natuRa feRique centauRi. The double con-
sonants in aBSinthi may fit into the sharp melody of sound. A little
later (410 ff.) we have the same contrast of sharp s's and r's and their
combination in SeRRae STRidentis aceRBum hoRRoRem contrasting
with the gliding I's and m's of eheMentis Levibus aeque ac Musaea MeLe.
And again (415) we have the sharp sounds of TaeTRa cadaveRa
ToRRewi though this time the contrast is not so impressive in croco
Cilici. The vowel a per se has no definite cachet; but since it is in At and
Amara Atque Aspera, etc. it may turn into an expressive sound (the
short a more than the long). The assonances liquORES-in O R E (398-9)
and O R A sapORE (401) are no mere play of sounds either; they seem
to be expressive too, symbolizing the necessary connection of mouth,
taste, and fluid.
In 422 ff. we follow the same trend again. The parallel connection
of atoms and sensation is expressed by the parallel construction and the
similarity of the endings: quae mulcet cumque , . . levore creatast; quae
cumque .. . constat .. . squalore repertast. The opposite qualities of the
two kinds of atoms are made sensible here by the liquids: muLcet, prin-
cipiaLi dLiquo Levore, there by the sharp double consonants: moleSTa
aSPera conSTat SQualore repeRTaST. The third kind of atoms which the
poet introduces in this passage is neither smooth nor sharp but tickling the
senses: angellis, titillare, fecula, inulae are the most impressive words both
in content and in sound. It is quite possible that this third kind is not so
easy to discriminate from the first as the first from the second; but then
you must sharpen your ears as you may cultivate your taste.
17
C f . M. Grammont, op. cit. (see note 15 supra), p. 404: " . . . i l est reconnu que les
poètes dignes de ce nom possèdent un sentiment délicat et pénétrant de la valeur
impressive des mots et des sons qui les composent; pour communiquer cette valeur
à ceux qui les lisent, il leur arrive souvent de répercuter autour du mot principal les
phonèmes qui le caractérisent, en sorte que ce mot devient en somme le générateur
du vers tout entier dans lequel il figure . . . "
Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius 345
We remember the passage of the second book dealing with the con-
trast of honey and wormwood. The same contrast occurs in the
prooemium of the fourth book (which Lucretius later transferred to the
first) as a simile illustrating the severity of the doctrine and the sweetness
of the poetical form:
Zucida pango
Carmina musaeo Contingens Cuncta lepore.
The Z of the first word joins with the Z of the last, three c's surrounding
the central musaeo, which so. far remains without resonance. In the
simile the similarity is stressed by the repetition of contingunt, which
is followed by a comet's tail of Z's18:
contingunt meZ/is duZci fZavoque Ziquore continued a little later
with Ludificetur Labrorum tenus.
The m of mellis remains without correspondence, as did musaeo before;
but some verses later both are united in one verse circulating again
around continere:
et quasi musaeo dulci contingere mette.
The opposite side dealing with the bitterness is much less elaborated than
in the second book. Yet the sounds are the same: aBSinthia TaeTKa
(IV, i i — I, 93 6) which not only means ugly but also has that sound,
and Amarum Absintbi lAticem with its sharp a's (IV, 15 = I, 94o)-sharp
not so much by their own nature as because of the significance of the
words in question. There can be no doubt that these different sounds had
very specific cachets— not always the same, to be sure-in the poet's mind
or sense. One cannot fail to hear the similar double consonants and a's
(rising out of series of o's) in a passage combining sharp odors (IV, 12 3 if.) :
u
Concerning flavoque cf. Grammont, op. cit. (see note 15 supra), p. 4 1 1 : "La com-
binaison de / avec l réunit le souffle à la liquidité, ce qui donne l'impression de la
fluidité."
346 Lateinische Sprache und Literatur
Or observe both the meanings and the sounds of words with which
taeter is combined: inTartara taetra (V, 1126); stercore de taetro (II, 874);
taetro quasi conspurcare sapore (VI, 22); taetro conscrescere odore (VI,
807); at contra nobis caenum taeterrima cum sit spurcities (VI, 976). Or
hear the wind in verses like
validi vis incita venti (VI, 137)
principio venti vis verberat incita pontum (I, 271)
vis violenti per mare venti (V, 1226)
The v's give a blowing sound, the i's whistle, and the rhyme violenti—venti
stresses the natural relationship between violence and wind (giving,
moreover, if I can trust my feeling, a swinging movement suited to wind
and waves). Let us not do injustice to the poet. It is understood that no
one should imagine him eagerly seeking and toilsomely combining sounds
of words in order to imitate sounds in nature. He probably did that just
as much and as little as Shakespeare:
When the sweet wind did gently kiss the trees,
or Sainte-Beuve 19 :
Dans les buissons séchés la bise va sifflant,
or Homer:
iotía ôé ocpiv,
TQixftá te y.ai. TEtyaxfrà ôiéaxiaE (F)iç <xvéju>io
or Goethe:
Du liebes Kind, komm geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel ich mit dir
(where the poet himself states his intention: In dürren Blättern säuselt
der Wind). The music of the wind blew through the mind of these poets
similar melodies with different keys20. It is evident too that Lucretius
did not aim merely at the external sound. He uses a similar pattern des-
cribing the storm of the lover:
vel violenta viri vis atque impensa libido (V, 964)
19
Quotes by Grammont, op. cit. (see note 15 supra), p. 391.
20
For this creative act onomatopoeia is a modern and bad expression, the Greek
rhetoricians using the world in a much more appropriate manner. C f . e. g. Quintilian,
VIII, 6, 31 : Onomatopoeia, id est fictio nominis, Graecis inter maximas habita vir-
tutes nobis vix permittitur, etc. and I, J, 7 2 ; Rhetores Graeci, edd. Spengel-Hammer,
I, p. 368; Rhet. Gr., ed. Spengel, III, p. 196. The nation of "making words" is
present everywhere. Grammont, op. cit. (see note 15 supra), pp. 377 fî. ("Phonétique
impressive") rightly distiguishes between onomatopée and mot impressif.
Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius 347
21
Munro: "Assonances and alliterations of all kinds seem to possess for Lucretius an
irresistible attraction." Giussani: " N o t a la ripetizione e l'intreccio di res multus
varius a far più viva l'immagine della cosa descritta."
348 Lateinische Sprache und Literatur
then a pattern of words meaning struggle and impressing upon the senses
sounds like ter, cer, tur, and i's and p's
et velut aeierno ceriamine proelia pugnas
edere ixrmafim cerfantia;
at last the unique and beautiful
conciliis et discidiis exercita crebris,
the opposite prefixes con- and dis- joining with almost the identical root
words -ciliis, -cidiis which by their very sound and rhythm tickle the
ear as the motes glitter in the eye.
A Venere finis. It is understood that Lucretius felt the significance or
significances of her name, the main province of ancient etymology being
the names of the gods22. Varro (De Lingua Latina, V, 61) etymologizes
Venus as the force of tying together fire and water, man and woman:
horum vinctionis vis Venus. He contents himself with the twofold v and
the assonance vin-ven (cf. Plautus, Trin., 658: vi Veneris vinctus),
whereas the much more banal etymology in Cicero's De Natura Deorum
(III, 662) Venus quia venit utilizes the whole root. Lucretius could
not stop his etymological vein just short of Venus. When he writes (1,227)
22
Plato, Cratylus 400 D-408 D. Cf. M. Warburg, Zwei Fragen zum Kratylos (Neue
Philologische Untersudiungen, Heft $), pp. 63 if.
Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius 349
may sometimes dislike it. There may be a danger too of hearing the grass
grow, and I am not quite sure whether this danger has been avoided
throughout. But the danger of seeing and hearing too little is much
greater, as this paper will have demonstrated. One may minimize each
single case, but on the whole one should not fail to become aware of what
Lucretius has expressly stated to be the very nature of language.
And perhaps it is the nature of language. He may express it in the
wrong way because he expresses it in the terms of his atomistic theory.
But the poet in him is wiser than the philosopher. And one may look
upon his pattern of sound as a symbol of the fact that poetry is very
likely to repeat the creative work of language on a different level. Let
Friedrich Rückert, the most skillful artificer in German poetry, plead
the case of the poet23:
23
Friedrich Rückert, Die Weisheit des Brahmanen, Erste Stufe, 55. Rückert, being a
Mainfranke, rhymed angemessen with Bahn gemessen. See the end of my Rhythmen
und Landschaften im zweiten Teil des Faust, see below p. 652.
24
Cf. C. Thulin, Italische sakrale Poesie und Prosa (1906); Fr. Leo, Geschichte der
römischen Literatur, I, pp. 34 ff.; Ed. Fraenkel, Plautinisches im Plautus, pp. 359 ff.;
Ed. Norden, Aus altrömisdien Priesterbüchern (Acta Reg. Societatis Humaniorum
Litterarum Lundensis, X X I X ) , passim. It may not be useless to add a few words
from a rather remote text, The Johns Hopkins Tabellae Defixionum, Supplement to
A . J . P., X X X I I I (1912), by W. S. Fox: .. . eripias salutem, corpus colorem, vires
virtutes . .. tradas illunc jebri quartanae tertianae cottidianae, quas cum illo luctent
deluctent, ilium devincant vincant. .. (deluctent is a probable restoration of the
editor. I think the original form must have run vincant devincant). A trace in Lucre-
tius: H . Haffter, Untersuchungen zur altlateinisdien Dichtersprache (Problemata,
Heft 10), p. 81. Lucretius, I, 1105, neve ruant suggests neve lue rue in the Carmen
arvale; but the resemblance may be fortuitous.
350 Lateinische Sprache und Literatur
A P P E N D I X I.
ORTHOGRAPHICA.
25
T h e lost book of Democritus, ITepi eucpcbvcov x a i Svoqxbvcov yqu|j.|x&tcov (Vorsokra-
tiker, 68 [ 5 5 ] B 18 b) m a y have contained the theory of w h a t is practice and art in
Lucretius. In the same line seems to be Philodemus, IIeqL jcotr)|J.aTajv col. 2 4 ,
Hausrath.
Pattern of Sound and Atomistic Theory in Lucretius 351
26
The statement of Caper, Grammatici Latini, ed. Keil, VII, 99, 1 1 : vortex fluminis
est, vertex capitis is likely to be an artificial distinction. C f . Felix Solmsen, Studien
zur latein. Lautgeschidite, p. 2 1 ; E. Kieckers, Historische lateinische Grammatik, I,
p. $3. Solmsen's own statement: "Der Grund, weshalb der Dichter zu der altertüm-
lichen Form griff, liegt in dem Gleichklang von vortex mit vorat" is right but not
sufficient. The assonances in torquet and aequore are not less important. The same
inadequate limitation in A . Cordier, L'Allitération Latine (1939), pp. 38,70. C f .
notes 11 and 15.
352 Lateinisdie Sprache und Literatur
APPENDIX 11.
L U C R E T I U S 1 , 9 4 2 - IV, 17.
A P P E N D I X III.
L U C R E T I U S , V I , 857 f.
(laXaxriv eiaáysa^ai xará fiixgóv eig rovg nógovg xai &OJÍEQ ávadii^uav xaí ém-
xaÍEiv t a éjtiJtoXríg. Here the metaphor is felt and, as it were, excused. The
sense is not quite the same as in Lucretius, but is very similar, the whole
sphere (heat - penetration) identical.
The main objection to suffire would be palaeographical. But uncial
or semiuncial su is very near to soc, so that only ffi has to be restored
from la, the ending re remaining unchanged. In general one should not
forget the old rule that the facility of accommodating characters to a
conjecture is not always the best guarantee for its being right 30 .
Der römische Dichter Statius aus der Zeit des Titus und Domitian
liegt mitsamt seinen Werken auf dem Friedhof der Literaturgeschichte
begraben. Vermutlich gehörte selbst sein Name zu den allerunbekann-
testen, wenn nicht der X X I . Gesang des Purgatoriums ihn mit Dante
selbst und mit Vergil in einer unvergeßlichen Begegnung zusammen-
führte. Man erinnert sich: wie Statius seine Selbstdarstellung gipfeln
läßt in dem Bekenntnis zu Vergil als seinem Meister und der Aeneis als
seiner Nährmutter — wie Dante lächelt und der Schatten nach dem Grund
seines Lächelns forscht — wie Dante ihm offenbart, daß der neben ihnen
stehende Dritte eben Vergil sei — wie dann der Schatten das Knie beugt,
um den Schatten zu umarmen, und, als Vergil ihn an ihre Schattenhaftig-
keit mahnt, sich erhebt mit Worten, die den Sinn des Ganzen aussprechen:
an diesem Irrtum möge der andere die ganze Glut seiner Liebe ermessen,
die ihn Schatten nehmen lasse für Festes.
Notwendig mußte im Gedächtnisjahre Vergils wenigstens der Name
des Statius genannt werden und die Frage sich regen nach dem Sinn dieser
Gestalt im Raum der Commedia. Mit Recht ist gesagt worden, daß in
dieser Begegnung der beiden römischen Dichter Dante seine eigene Gefolg-
schaft zu Vergil noch einmal abgespiegelt habe. Aber man muß weiter
gehen. Nachahmer Vergils gab es viele. Kein römischer Epiker nach ihm
hat sich seiner Wirkung entzogen. Warum wurde für Dante gerade
Statius zu Vergils liebendem Jünger? Weil Statius selbst sich als solchen
bekannt hat in den Schlußversen seiner Thebais:
Wird man dereinst dich lesen und wirst du den Herrn überdauern,
Du, die ein voll Jahrzwölft meine große Sorge umwachte, |
Thebaide? Gewiß hat schon das wache Gerüchte
Günstigen Weg dir gebahnt und dich neu den Künftgen gewiesen.
Schon geruht dich der Kaiser voll hohen Geistes zu kennen,
Und schon lernt und bewahrt dich italische Jugend mit Eifer.
LEBE LANG! ZWAR DEN KAMPF MIT DER GOTTESVOLLEN
AENEIS
MEIDE. DOCH FOLG IHR FERN UND VEREHRE DIE SPUR
IHRES FUSSES.
SOMNUS (Silvae V, 4)
AN DEN SCHLAF
sich vor dem Palast des Königs von Argos in erbittertem Kampf treffen.
Mehr als einmal im Verlauf dieser düsteren Geschichte ist der Schlaf
handelnde Person. Er senkt sich vom Himmel herab, er überschüttet
ermüdete Helden aus seinem Horn, oder er flieht davon, nachdem er sein
Horn geleert hat. Und dann gibt es eine große mythische Szene (Thebais
X 140 ff.), wie Juno die Iris an den Wohnort des Schlafgottes entsendet,
damit er ihre thebanischen Feinde in Schlaf versenke. Sie findet ihn in
seiner Höhle, von den Dämonen der Nacht umlagert schläft er auf seinem
Lager. Sie weckt ihn und bringt dem mildesten der Götter Junos Befehl.
Er macht sich auf, überfliegt die Lande. Sein Anhauch lagert Vieh, Vögel
und Wild auf den Boden. Matt legt sich die Meeresflut an die Felsen. Die
Wolken hangen träge herab, und es senkt der Wald die Wipfel der Bäume.
Mit seinen feuchten Schwingen breitet er sich über das Heerlager, und wir
sehen die Krieger in den Schlummer sinken. - Man erkennt, wie dem
schlaflos liegenden Dichter vieles von dem lebendig wird, was er früher
als Epiker gedichtet hat. Der Epiker aber hatte sich zu Vergil bekannt
und sich damit eingeordnet in die Ahnenreihe, die mit Homer beginnt.
Nehmen wir also unsern Ausgangspunkt bei Homer. In Ilias und
Odyssee gliedert Nacht und Schlaf als eine „Naturform des Menschen- |
lebens" (mit Victor Hehn zu reden) die epische Handlung. Bei der Dunkel-
heit gehen die Helden und die Götter zu Bette, und sie schlafen, wie es
natürlichen Menschen zukommt. Schlaflosigkeit ist etwas Ungewöhnliches.
Darum wird sie an Stelle des gewohnten Schlafes eingesetzt, wo etwas
Außerordentliches erzählt wird. Die anderen Götter schlafen, heißt es
am Anfang des zweiten Gesangs der Ilias, Zeus aber schläft nicht, sondern
er denkt nach, wie er den Achill ehren und die andern Achäer verderben
könne. Und dann findet er einen Rat und sendet den Traum zu Agamem-
non. - Am Anfang des letzten Ilias-Gesanges zerstreuen sich die Griechen
in ihre Zelte. Achill aber weint um den Freund und ihn ergreift nicht
der Bändiger Schlaf, sondern er wirft sich hin und her und gedenkt voller
Sehnsucht des Patroklos und ihrer gemeinsamen Taten. Und in Gedanken
daran liegt er bald auf der Seite, bald auf dem Rücken und bald mit dem
Gesicht nach unten, und dann steht er auf und irrt am Strand umher, bis
der Morgen kommt. Jetzt spannt er an und schleift den Leichnam des
Hektor um die Mauern. - Im vorletzten Gesang der Odyssee bereitet sich
Odysseus das Bett im Vorraum des eigenen Hauses. Dort liegt er wach
und sinnt den Freiern Böses. Er hört das Gelächter der schamlosen Mägde,
und der Groll wächst, den er mit Mühe beschwichtigt. Aber auch dann
noch wälzt er sich hin und her, wie wenn ein Mann an starkem Feuer
eine Blutwurst hin und her wendet. So wälzt er sich und sinnt nach, wie
er Hand an die Freier legen könne. Da erscheint ihm Athene, spricht ihm
Mut zu und gießt ihm Schlaf in die Augen.
Homer also ersetzt in seltenen Fällen den gewohnten Einschnitt des
epischen Geschehens, den Schlaf, durch sein Gegenteil. Die Unsicherheit
358 Lateinische Sprache und Literatur [219f220]
über das was zu geschehen hat, der Schmerz über das was geschehen ist,
halten den Schlaf fern. Der Schlaflose faßt den Entschluß, gewinnt seine
Sicherheit wieder und wendet sich dann zum Handeln.
Im hellenistischen Argonauten-Epos des Apollonios wird mit anderen
homerischen Motiven auch die Schlaflosigkeit übernommen und ab-
gewandelt (III 744). Die Nacht führt das Dunkel über die Erde hin. Und
nun wird diese Nacht in mannigfaltigen Einzelzügen geschildert. Die
Schiifer auf dem Meere blicken nach dem Bären und dem Orion aus.
Wanderer und Türhüter sehnen sich nach Schlaf. Eine Mutter, der die
Kinder gestorben sind, entschlummert tief. Kein Hundegebell mehr in
der Stadt, kein tosender Lärm. Schweigen umfängt das schwarze Dunkel.
- Solcher Aufbau der umgebenden Wirklichkeit aus vielen kleinen schar-
fen | Zügen lag dem Homer ganz fern: das ist hellenistisch, hat vielleicht
eine Art Vorbild in der frühen Lyrik. Damals hatte Alkman die Nacht
geschildert: „Es schlafen die Gipfel der Berge und die Schluchten, die
Klippen und die Bergbäche, was auf der Erde kriecht, die wilden Tiere im
Walde und das Geschlecht der Bienen und das Meergetier in den Tiefen
der See; es schlafen die Geschlechter der Vögel." Doch wenn dem helle-
nistischen Dichter dieses oder Ähnliches vorschwebte, so hat er das Welt-
gefühl des alten Lyrikers in menschliche Dimensionen und in das städtisch
Nahe verengt.
Nun fährt Apollonios fort mit dem echt homerischen Aber: aber
Medea schlief nicht; denn sie sorgte sich sehnsuchtsvoll um das Schicksal
des Iason. Dann ein Gleichnis wie in der Odyssee, nur daß an Stelle jenes
altertümlich derben Vergleichs ein eigenartig moderner steht: das Herz
springt ihr in der Brust, wie ein Widerschein der Sonne aus einem wasser-
gefüllten Gefäß an Wänden und Decke des Zimmers hin und her zittert.
Die Qual der Ruhelosen wird ganz körperhaft geschildert: wie schwelende
Flamme dringt ihr der Schmerz durch den Leib, zieht ihr durch die zarten
Halsmuskeln und in den Nacken. Dann setzt sie sich im Bette auf zum
Selbstgespräch mit einem Hin und Her leidenschaftlicher Gedanken.
Dann geht sie zu dem Kasten, in dem sie die guten und die bösen Gifte
aufbewahrt, und berät weiter mit sich, was zu tun sei. Und schließlich
kommt die Morgenröte und die Stadt gerät wieder in Bewegung.
Auch hier ist die hellenistische Abwandlung der homerischen Form
deutlich. Die Qual der liebenden Frau, nicht des männlichen Helden ist
der Gegenstand des späten Dichters. Beweglicher, vielfältiger, nervöser
ist sowohl das neue Gleichnis wie das Hin und Her der Gedanken, wie
das Empfinden des Schmerzes.
Als Vergil im Vierten Gesang der Aeneis die Liebesgeschichte der
Dido dichtete, gab er der Heldin nach dem Muster des Apollonios, durch
das ihm Homer hindurchschien, eine schlaflose Nacht vor der letzten
Entscheidung. Anders als Homer und auf den ersten Blick ähnlich wie
Apollonios malt auch Vergil zuerst ein Bild der schlafenden Welt. Und
[220/222] Statius: An den Sdilaf 359
doch unterscheidet sein Bild sich wieder sehr von dem des hellenistischen
Vorläufers. Vergil schränkt sich nicht ein auf die kleine und städtisch
begrenzte Menschenwelt: „Die ermüdeten Leiber über die Erde hin
pflücken den stillen Schlaf." Und dann weitet er sich zu dem Weltge|fühl
des alten Lyrikers Alkman. Auch bei ihm „ruhen die Wälder und das
wütende Meer, es schweigt alles Feld, Vieh und Vögel und die Tiere des
Wassers und des wilden Busches liegen im Schlaf unter schweigender
Nacht". Dieser ganzen ruhenden Welt ist jetzt mit jenem Aber, das wir
aus Homer und Apollonios kennen, die Eine Wachende entgegengesetzt:
Dido. Freilich wälzt sie sich nicht hin und her wie Achill oder Odysseus.
Es wird auch nicht ihr Liebesschmerz bis in seine körperlichen Ausstrah-
lungen analytisch beschrieben wie an der Medea des Apollonios. Beides
wäre nach verschiedenen Seiten dem Vergil als ein Abweichen von jener
Linie bedeutender Allgemeinheit und richtiger Mitte erschienen, die er
überall erstrebt. „Keinen Augenblick", sagt er, „löst sich die unselige Dido
in den Schlaf noch empfängt sie in Auge und Brust die Nacht. (Man hebe
diese letzten Worte — oculisve aut pectore noctem accipit - um ihrer groß-
artigen Eigenart inne zu werden, vergleichend ab von dem Abendgedicht
des späten Goethe: Und durchs Auge schleicht die Kühle sänftigend ins
Herz hinein.) Ihre sorgende Qual verdoppelt sich, und von neuem schäumt
ihre Liebe auf, und es wogt in ihr die Flut des Zornes." So ist alles gegen-
über dem griechischen Vorgänger verdichtet und gesteigert. Nicht zu
vergessen die Magie, die der Klang der Laute bewirkt: die Fülle der u
und der r und s in curae rursusque resurgens, der Fluß der Vokale von
a und o zu u und die den Vers einrahmden ae und mitten darin das schrille
i in saevit amor magnoque irarum fluctuat aestus.
Bei Vergil folgt dann ganz wie bei Apollonios ein leidenschaftlicher
Erguß der einsamen Frau. Sehr ähnlich stellt Dido wie Medea die Wege
des Handelns in höchster Erregung vor sich hin. Keiner erweist sich als
gangbar, der Tod ist der einzige Ausweg. Und doch sind auch hier beide
Dichter völlig verschieden. Bei Apollonios wird viel stärker der Eindruck
wirklicher Überlegung erweckt. Zwei Wege sieht Medea. Beide sind arg.
Aber dem geliebten Manne auch gegen die Eltern zu helfen, ist ein Ge-
danke, den sie für einen Augenblick sogar mit Jubel begrüßt, bis ihr dann
hinter allem der Tod als letzte Rettung auftaucht. Bei Vergil steht der
Dido sogleich die Unmöglichkeit jedes Tuns fest, und in einer einzigen
Kette pathetischer Fragen (soll ich etwa . . . oder soll ich . . . oder soll
ich . . ?) entfaltet sich diese Unmöglichkeit bis zu dem Gipfel: „stirb denn,
wie du es verdient hast und mit dem Schwert wende den Schmerz von
dir ab!" Dies ist der Schluß, dem nur noch die Erfüllung folgt, während
Medea nun inmitten ihrer heilsamen und schädlichen Gifte zu Ende über- |
legt: „Plötzlich überkam sie die Angst vor dem schauerlichen Tode. Lange
blieb sie sprachlos, und rings umher erschienen vor ihr alle Bemühungen
des Lebens, die das Herz erfreuen. Sie gedachte all des Süßen was im
360 Lateinische Sprache und Literatur [222¡223]
Leben ist, und die Sonne schien ihr wieder lieblicher anzuschauen." So
kehrt sie ins Dasein zurück, während Dido sterben wird. Dort der lebens-
kundige und am farbigen Wechsel haftende Grieche des Hellenismus,
hier der Dichter des augusteischen Rom, unerbittlich im Entweder-Oder.
Nachdem wir verfolgt haben, wie in der epischen Tradition von
Homer bis Statius die schlaflos durchwachte Nacht ein sich durchhaltendes
und sich wandelndes Formmotiv ist, kehren wir noch einmal zu Homer
zurück und erinnern uns, daß er auch den Schlaf selbst, den „Allbändiger",
als handelnden Dämon ins dichterische Geschehen hineingestaltet hat.
Nicht ein im Kult verehrter Gott ist Hypnos gewesen, aber er ist noch
weniger eine frostige Allegorie oder Personifikation. Sondern das eben ist
das Wesen Homers, daß er lebendig wirkende K r ä f t e zu Gestalten aus-
prägt, die dann durch ihn in der griechischen Kunst dauern. Man kennt
die beiden Gelegenheiten, bei denen Hypnos in der Ilias begegnet. Hera
will am hellen Tage gegen alle Ordnung der Dinge den Zeus einschläfern,
um das Schicksal ihrer Griechen zum Bessern zu wenden. Dazu braucht
sie den Zauber der Liebe und des Schlafes. Von Aphrodite erbittet sie
den einen. Dann sucht sie den Hypnos auf. Mit der feierlichen Anrede
„Schlummer, du aller Götter und aller Menschen Gebieter" beschwört
sie seine Macht, die er an dem „Vater der Götter und Menschen" be-
währen soll, und sie gewinnt ihn. Wurde schon bei dieser Begegnung seine
dunkle Gewalt dadurch gesteigert, daß er „Bruder des Todes" genannt
wird, so tragen an einer späteren Stelle aus den blutigen Kämpfen die
Brüder Schlaf und Tod den Leichnam des gefallenen Sarpedon in seine
lykische Heimat. Audi dies ist keine ausdeutbare Allegorie, sondern ein
empfundenes dichterisches Geschehen. Wir sagen: der Tote liegt wie schla-
fend oder auch: jemand schläft wie ein Toter. Homer macht Tod und
Schlaf zu Brüdern und beschließt das blutige Kampfeswerk mit dem erha-
ben friedlichen Bilde.
Vergil hat den Gott des Schlafes in einer sehr schönen und ganz ihm
eigenen Szene handelnd eingeführt: Der Steuermann Palinurus sitzt nachts
auf dem Schiff des Aeneas am Steuerruder. D a gleitet Somnus vom Him-
mel herab, setzt sich neben ihn, will ihn mit Worten einschläfern. Er wehrt
sich. Aber da schlägt ihm der Gott den Zweig, der vom Tau der Lethe |
trieft, um die Schläfen, schließt ihm die schwimmenden Augen, stößt
ihn vom Heck ins Meer. Der Gott Schlaf stammt aus Homer. Dabei ist
der Vorgang selbst gar nicht von dorther bestimmt, sondern ein originales
Beispiel jener klassischen, durch Homer ins Leben gerufenen Mythen-
dichtung. Und das Wesen dieses vergilischen Dämons hat viel mehr von
der besonderen Magie des Schlummers als Homer irgend geben modite
oder, wenn man will, zu geben vermochte.
Die augusteische Dichtung kennt noch eine andere Variation über
das homerische Thema vom König Schlaf, den die Göttin in seinem Reich
aufsucht, um ihn zum Bundesgenossen zu gewinnen. Ovid hat in der
B r o n z e s t a t u e t t e des H y p n o s ,
Wien, Kunsthistorisches M u s e u m
[2231224] Statius: An den Sdilaf 361
Schlaf, der von Qualen nicht, Schlaf, der von Schmerz nicht weiß,
Komm mit günstigem Hauch zu uns,
Seligen Daseins Herr.
Diesen Schimmer, der jetzt auf seine Lider gebreitet ist,
Halte ihn fest,
Komm, komme du Heilender!
Hier geht alles aus der Seelenlage des Augenblicks hervor, und so
bedarf kaum etwas der Erklärung, am wenigsten, daß der Schlaf mit dem
Beiwort des Heilgottes, Paion, gerufen wird. Schon vorher hatte bei
Aischylos der leidende Philoktet mit der Paradoxie des Schmerzes gar an
den Tod denselben Kultruf gerichtet: O Heiland Tod! |
Zu den allbekannten und doch so schwer verständlichen Eigenheiten
der antiken Kunst gehört ihre Kontinuität, besser gesagt jene Dankbar-
keit, die nichts was einmal schön geschaffen worden ist verloren gehen
läßt, sondern es fort- und umbildet. Die hier gesammelten Beobachtungen
sind auf einem ganz engen Felde ein neuer Beleg für die alte Erfahrung.
Auch der sophokleische Ruf an den Schlaf klingt weiter im Rasenden
Hercules des Römers Seneca, als der Held nach dem Paroxysmus des
Wahnsinns ermattet zusammensinkt. Denn auch hier betet der Chor zum
Schlafgott (1065 ff.):
Bei Sophokles bringt das Lied nur dies: das Schmerzlose, das Hauch-
hafte - und noch homerisch-heroisch - das Herrscherhafte des Schlafes.
Das ist nicht mehr als eben der gefüllte Augenblick aus sich hervortreibt,
zart und stark. Bei dem Römer wird die Macht, die der Grieche mit
wenigen Worten aufgerufen hatte, zur Allmacht, die für eine Weile den
Raum ganz ausfüllt, und die der Denker-Dichter in starken Kontrasten,
mit weit geschwungenem Ausdruck, mit durchdringender Vernunft aus-
zusagen bemüht ist, ehe er zu dem zurückkehrt, um dessentwillen wir mit
ihm diesen weiten Umblick auf Welt und Mensch, Leben und Tod tun
mußten.
364 Lateinische Sprache und Literatur [226)227]
Wenn im Epos ein Held oder eine liebende Frau schlaflos liegt, so
ist die Schlaflosigkeit klar begründet aus dem was vorhergeht, und not-
wendig für das was folgt. In einem kleinen lyrischen Gedicht wartet das
schlaflose Mädchen nächtlicher Weile - sie braucht nicht zu sagen auf wen.
In der Tragödie wird der Schlaf zu dem kranken Helden herangerufen
von anderen: so ist gleichsam die Sehnsucht nach Schlaf objektiviert. In
der Statue steht „der Schlaf" in höchster plastischer Allgemeinheit da.
Bei Statius spricht ein einziges Mal in der Antike das vom Ungewissen
gequälte Ich. Warum bleibt ihm der Schlaf aus? E r sucht selbstquälerisch
nach eigener Schuld, ohne sie zu finden: die Qual ist grundlos und ziellos.
Durch sieben Nächte geht die Qual. Die ewig wiederkehrenden Gestirne
werden zur fühllosen Gegenwelt, und kommt von dort ein Schimmer des
Mitleids, so ist es fast nur, damit die Mitleidlosigkeit um so stärker
empfunden werde. Der überlieferte Gegensatz des einen Schlaflosen zu |
den schlafenden Menschen wird zum Gegensatz der Glücklichen und des
einsam Leidenden. Die Bitte wird mit einer so tiefen Hoffnungslosigkeit
ausgesprochen, daß dem Bittenden ein beinahe Nichts zu genügen scheint.
Wie Hebbel an das Glück sein Gebet richtet: Sieh ein einziger Tropfen
hängt noch verloren am Rande, und der einzige Tropfen genügt . . . laß
ihn fallen den Tropfen! - so wird überhaupt solcher Einsamkeit voller
Qual ohne Ursprung und Ziel weit eher aus der modernen Welt ein
Widerhall antworten als aus der antiken. Das Gedicht des Statius, das so
viele Ströme antiken Geistes auffängt, und das doch ganz allein steht
in der klassischen Dichtung, war so erst in der Spätantike möglich, und
Dantes Glaube an das geheime Christentum des Statius ist vielleicht
weniger seltsam, als er zuerst scheinen mag.
IV
1909
I. Daktylepitrite
1
Vgl. Spiro, Hermes X X I I I , 1888, 237 f. Auf diesen Aufsatz, der wichtige allgemeine
Erkenntnisse ausspricht, mödite idi überhaupt aufmerksam madien. Man kann das
freilich erst schätzen, wenn man die Dinge selbständig durchgedacht hat. Was ebendort
S. 609 über „Katalexe" gesagt ist, entspricht ganz meiner eigenen Auffassung; nirgends
sonst hab idi das ausgesprochen gefunden. - Daß die „daktylischen" Glieder Enhoplier
(Paroimiaka) sind, steht natürlich auch in Useners „Altgriechischem Versbau".
2
Sdiroeder, Vorarbeiten 34, setzt unvorsilbige Verse steigenden Ganges an. Idi will
die Frage nicht eingehend erörtern. Nur wie subjectiv das alles ist, muß ich betonen.
Den Vers u» Jto/iUxX.cn)TE tpUoioi davtbv empfindet Schroeder als „steigend", idi als
fallend, vielleicht nodi genauer als fallend zu Anfang und wieder steigend etwa von
der Mitte an. Aber ich vermeine nidit damit der Structur des Verses oder antikem
Versempfinden nahe gekommen zu sein. Idi will also „fallend" die unvorsilbigen Verse
nennen, rein descriptiv.
3
Um so verwunderlicher scheint es mir, wenn Herkenrath in seinem Buche über den
„Enhoplios", während er doch diesen Begriff weit über alle Gebühr ausdehnt, die
„daktylische Penthemimeres" als „Dodimios" absondert. - Von Schroeder a. O. 84
entferne ich midi in Einzelheiten. Idi muß grundsätzlidi daran festhalten, daß ein
Vers, der äußerlich drei Hebungen (d. h. drei constante Längen) hat, auch in Wirklich-
keit ein Dreiheber, nicht ein verkappter Vierheber ist. Ohne damit natürlich be-
haupten zu wollen, daß es solche verkappte Vierheber gar nicht gebe, will sagen,
daß ein u r s p r ü n g l i c h e r Dreiheber nicht audi als Vierheber verwendet sein
könne.
372 Musik und Metrik [3241325]
"ww— w
als offenbar gleichwertig zusammen. Ähnlich Aristophanes Wespen
1 5 1 8 - 2 7 . Und wenn im Oid. Kol. 1080 ff. fünf Epitrite abgeschlossen
werden durch die Klänge aidEpiag vscpeAag xiigaoufx' ävarft' ävamov deiogr]aaaa
tovixöv 0|i|xa — ww—ww — w —w
w —^— ^ w
so kann auch der Strophensdiluß 1 3 0 - 2 in den Persern nicht anders ge-
deutet werden als ^ —w— w
— WW — UU— —W — W ,
d. h. ein konventionell als iambischer Trimeter bezeichneter Vers geht
voran (wie er bei Sophokles folgt), ihn nimmt der unvorsilbige und
stumpf endende Enhoplier mit seiner Klausel auf 6 . Alle die Formen, die
4
Nicht eigentlich 2 Trochäen, wie v . W i l a m o w i t z , Herakles I I ! 1 9 2 will und mit ihm
Leo, Plaut. C a n t . 20 2 . Richtig Kaibel zur Elektra S. 1 4 6 ; Schroeder, Sophoclis C a n t i c a
28. Daß - v j von — w — ^ — nicht getrennt werden d a r f , lehrt z. B. die Strophe
Perser 8 j 2 ff., w o die erste H ä l f t e v o n der kürzeren, die zweite H ä l f t e von der
längeren F o r m abgeschlossen w i r d . — « — d a s ist w a s übrigens be-
weisen würde, daß das Ithyphallikon nicht (wie Leo a. O . 63 will) ein äolisches
K o l o n ist. E s ist sicher viel älter als die selbständige Ausbildung der äolischen G a t -
tung.
5
Wenn man nämlidi die vorhergehenden D a k t y l e n abtrennen darf.
6
Die Skolien der 7 Weisen (Hiller-Crusius, A n t h . L y r . 3 3 3 f . Diehl, A n t h . L y r . I I 1 9 0 f.)
haben als Abschluß in deutlicher Identität die Formen:
ävÖQWv ävaftwv TE x.ax.cjv TE voCg M8wx' 'iXtyxov.
XoXei, 6ix6[«)dov e/ouaa xaQÖiai vor)[ia.
jtoXAaxi ßXaßegav £^EXa(ii))£v äaz-i\Q.
[325j327] Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 373
Schroeder stellt sich die Entwicklung, wenn ich ihn recht verstehe, so
vor: Ursprüngliche Enhoplier werden ionischer Messung unterworfen.
Sie entwickeln danach von sich aus ionische Metra, die zu den enhoplischen
Gebilden hinzutreten und allmählich anstatt der anlautenden Kürze eine
(irrationale) Länge bekommen, also zu Epitriten werden: <
WW .
Erste Stufe (—^ww-ww--
Zweite Stufe — ww— ww
Dritte Stufe — ww— ww ww
Vierte Stufe —
Der Versuch, so die Entwicklung zu zeichnen, läßt sich als falsch dartun.
Falsch ist zunächst die Beurteilung des sog. „Epitrits", den um seinerschweren
Endsilbe willen Schroeder wie übrigens auch Leo und andre als verkappten
ionicus a minore ansehn. Dafür könnten Fälle sprechen, wenn — w mit
7
Und wenn ein derartiges Gedidit anfängt Aavaov jioXiv «yXoioflgovaiv te itevxriy.ovTa
xoQäv XotgiTE?
w — ww — w — w | — w j — VJ — w —
Nem. X (womit Prometh. j 4 $ ff zu vergleichen ist), so wird man das von der Form,
die vorhin im Oid. Tyr. 1096 (und noch näher Hippol. 755 ¿itöpeucag e|j.civ ä v a a a a v
¿Xßicov an' olxcov) als Enhoplier bezeichnet wurde, nicht trennen wollen. Daß gerade
ein daktylepitr. Gedicht so beginnt, ist vielleicht nicht Zufall.
8
N u r kann ich ihm nicht folgen, wenn er (Aesch Cant. 43) das Ithyphallikon in daktyl-
epitritischen Liedern als ein stammfremdes Element bezeichnet.
374 Musik und Metrik [327j328]
9
D e r N a m e stammt v o n Nietzsche und w i r d v o n ihm als Gegensatz zur antiken Zeit-
rhythmik verwendet: Gesammelte Briefe I 3 7 5 f.
10
E s liegt mir fern zu leugnen, daß man mit Sdiroeders „Triolen" (Vorarbeiten 1 0 2 )
erklären kann, wie denn die sdieinbar 7-zeitigen Metra dem ionischen G a n g der Verst
angepaßt sind. A b e r das geht eben den nachträglichen Proceß der Anpassung an und
ergibt nichts für die Entstehung die uns hier beschäftigt.
[328/329] Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 375
kann, dieses Maß sei aus den Daktylepitriten entlehnt, so ist bewiesen,
daß die Verbindung des „daktylischen" und des „epitritischen" Elements
vor die Entstehung der daktylepitritischen Strophen hinaufreicht.
Was ist nun das Enkomiologikon? Daß die Reihe ionischen Ursprungs
sei, - u u - j u u - ü - u , wird man nicht behaupten wollen angesichts
der Gründe, mit denen vorhin ionischer Ursprung der eng verwandten
Daktylepitriten abgelehnt worden war. Also ist das Enkomiologikon
vielleicht eine Einheit, verwandt dem alkaisdien Zehner —ww—ww—
w ?Ich glaube das nicht12, erstens weil die syllaba anceps auf eine Fuge
deutet, und noch mehr, weil ja in daktylepitritisdien Gedichten neben
der bisher von uns betrachteten Form gleichberechtigt die andre steht, in
der die epitritische Einheit vorangeht, nicht folgt. (—)—w w
w —(—). Hephaistion (XV n ) nennt diese Reihe, wenn sie vorsilbig ist
und stumpf endet, Iambelegos und belegt sie aus Pindar mit dem aus-
drücklichen Vermerk, in stichischem Gebrauch habe er sie nicht gefunden. |
Daß sie aber nicht erst aus Daktylepitriten isolirt ist, beweist einmal das
Vorkommen solcher Gebilde im Drama:
fAT)Jt(o OTEva|r]ig : aKKä jtüpaai yooi. Ion 768.
jigiv av ixdOco^Ev : ayyEkiax tiva |xoi;
tig ä ßa/.oCaa jtgcoTa; : Efiöv xö yeQag. Bakchen 1179.
Haxaig' 'Ayaiir) : xXr|i^oixE'&' ev {kdaoic;.
(Vgl. Ion 1483/4 — xi $oißov aiiöaig; : xqvjct6(X£vov Xexog f|vvdadriv). Und
sodann die anscheinend engste Verwandtschaft dieser Reihe w ^
w —ww— mit dem alkaischen Elfer w ww —w—.
Das Enkomiologikon also, um zurückzukehren, ist keine Einheit,
sondern zusammengesetzt aus dem „daktylischen" Teil (d) und dem
„epitritischen" (e). Daß d identisch ist mit dem Enhoplier, darf ich wohl
nun als ausgemacht rechnen. Was aber ist der Epitrit? Einen einfachen
Trochäus in ihm zu sehen, verwehrt die mit ziemlich weitgehender Con-
sequenz durchgeführte Beschwerung der letzten Silbe. So glaube ich denn
nicht fehl zu gehen, wenn ich die Deutung ausspreche:
kürzere Nebenform.
Man muß diese Reihen in eine umfänglichere Gruppe hineinstellen.
Pind. Pyth. III gibt als Strophenende ww — ww — w — w—w—<->——, Enh.
11
Das scheint Hanssen unbekannt zu sein, der nach Bergk (Griech. Literaturg. II 1 3 7 )
die Daktylepitrite aus dem Enkomiologikon herleitet, nidit ohne entschieden un-
richtige Auffassungen besonders auch über Ioniker (Philologus LI).
12
Eher ließe sich die Ähnlichkeit zwischen beiden Zeilen so erklären, daß der alkaische
Zehner eine Ausgestaltung des ursprünglich freien (enhoplisdien) Vierhebers sei, die
unter dem Einfluß des Enkomiologikons zustande kam.
376 Musik und Metrik [329/330]
13 Bei Herkenrath, Enhoplier 9, sieht man das Ithyph. zerlegt in „troch. + spond".
[und ?], anstatt daß es als Einheit anerkannt wäre. Es spricht sich über-
haupt ein Grundfehler des Buches gleidi in den ersten Zeilen des Vorworts aus. „Es
handelt sich darum, den Vers (den Enh.) in seine Metren zu zerlegen". Als ob er aus
„Metren" bestünde und nicht eine ursprüngliche Einheit wäre. - Vortrefflich Schroeder,
Aesch. Cant. 114.
14 Soph. Phil. 686 = 701 scheinen sogar Lekythion und Ithyphallikon zu respondieren
(Schroeder Soph. Cant. 55).
[330/332] Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 377
und weiterhin
eiqyei 8e jiÖTfiCDi tir/evO' eteqov eteqcx triiv öe tiv
x a i jialg o ©Eapicovo? oiqetcu xgiftsig,
das ist —— wVJ w >—w—
UU — — — \J — .|
18
Anerkannt finde ich sie bei Spiro, Hermes X X I I I , 1888, 247.
380 Musik und Metrik [334/335]
Senkungen an zweiter Stelle und ist sie unvorsilbig gebildet mit 3 (4) He-
bungen, so nennen wir sie Ithyphallikon. Bei der Umkehrung meidet man
unvorsilbige Bildung zwar sicher nicht durchgängig, aber doch im all-
gemeinen. Darum tritt an die Stelle des Ithyphallikons dessen steigende
Form, die man dann als katalektisches iambisches Dimetron bezeichnen
kann, aber besser nicht bezeichnet. Und ebenso entspricht dem Lekythion
als zweitem Halbvers das vollständige „iambische Dimetron" als erster.
Wir teilen
ww —ww — w — w —w—, daneben steht
— ww—ww— w—w—w— ;so analysiert Hephaistion
( X V 9) das archilochische aXXa 0 Xuoi|X£Ä,r|g anaipE öd^vatai jtöfrog (vgl.
Bakch. Io: oööv nagä KaXkiönag Xay.oiaav eloxov yegat; neben 05 av nagä
IIieQiScov Xa/rjoi öwoa Movaäv und (peQEatecpavoi XaQitsg ßdXaxnv &|x<pl xi|idv);
und die dritte Form: 'Aegiag äjiö yäg ei tig eau xriÖEHibv (Aisdi. Hik. 75/6)
— WW—WW - —W — W—W — .
Als Umkehrung kennzeichnet sich Horazens nivesque deducunt Iovem,
nunc mare nunc siluae, ganz nach griechischem Vorbild, gemäß Schroeders
Nachweis, in seinen „Vorarbeiten" S. 74, w o auch andre Verwandte
hinzugesellt sind:
W—W—W—W— —WW—WW—
w—w—w —w— w w —ww— (hiermit zu vergleichen
iamb. dim. + Reizianum, eine volkstümliche aus Aristophanes und Plau-
tus bekannte Verbindung). Ja Bakchylides Io könnte sogar den (unbeweis-
baren) Gedanken eingeben, zu teilen
w—W—W—W — W —WW—WW—
str. Jidgetm iMjgia xeXeu&og äußgoaicov (aeXecov
ant. ot' "Agyov ö[i.|xaaiv ßXEjtovxa jtdvxoftsv axaixatog.
Wie sehr diese aus 2 Kurzversen bestehenden Langzeilen noch in den
größeren Versgefügen kenntlich sind, mag die Analyse einer Strophe aus
den Hepta des Aisdiylos (750 ff.) zeigen, einer statt vieler:
xgatTifrEig ex (piXayv aßouXiäv EyEivato ¡iev ^logov aiitwi
jiaxQoxxövov Olöijto6av, oaxe ¡laxQÖg dyvdv
ajtEiQag agovgav, iv' ¿XQuepr), pi^av atfxaxÖEaaav
ex'ka' jiagdvoia awä^ev vu|icpio\)g cpgevatleig. I
— w — W — W— W — WW — w w "
w — WW—WW— —W—W
- w—WW — w
' WW-WW"
Interessant ist die Differenzierung der beiden jedesmal verbundenen Halb-
zeilen, da immer eine von „iambisch-trochäischem" Charakter mit einer
[338(339] Z u r Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 383
22
Wenn man das einen u r s p r ü n g l i c h e n iambischen Trimeter nennt, so zertritt
man alle feinen Besonderheiten, die Fuge sowohl wie die Verschiedenheit der beiden
Versteile. Hingegen halte ich es für überaus wahrscheinlich, daß hier die A n r e g u n g
zu solchen synkopirten Iamben liegt: — .
23
V o n hier aus versteht man vielleicht das Vorkommen des „Adoneus" in Daktylepitri-
ten, Ol. V I ep. 3 d|icp6xEQOv (idvTiv x' ayaftdv x a t öoupl [idpvaadai xö x a i . . .
- w — - u u — ^ - Ol. X ep. 8 eiupue? oox' a l d w v dXdwrii; —
—u .
24
M a n könnte ja zur N o t statt Reiz. + Reiz. + Ithyph. so abteilen: Reiz. + Enh. +
Epitr., doch sehr wahrscheinlich ist das nidit. - Hier will idi anfügen, daß man con-
384 Musik und Metrik [339/340]
Eine genaue Umkehrung dieser Form, Reiz. + Ith., weiß ich nidit
aufzuzeigen. Aber man kann neben ihr die Langzeile Reiz. + Lekythion
construiren, kann sie sogar aufweisen in Bakchylides V I 45: öi' oaaa
jidpoiftev | dixiteXotgocpov Keov, und ich möchte glauben, daß der iambisdie
Trimeter mit der -to[i-fi jisvihijH[iEgr)s aus eben dieser Reihe entstanden ist 25 :
tauft' EYavcoftriv xai cpiXcö toiig tititeag
61a toCto toüqyov ' ä§iov jag 'EXXaöi (Aristoph. Ach. 7 f.)
Dann läge eine ungefähre Umkehrung vor in der häufigen Verbindung
dim. iamb. + Reiz 26 . w—
Acharner 840 f| owocpavtrig aXXog oi — ixcb^tov ocaÖEÖeitai27.
846 xoi) Iwtdxcov a' 'YicsQßoXog öixcüv dvaitXrjaei.
842 o^tov xaxöv tojy [xaaxaXäv .-ratQog TgaYaoaioi)
858 nXeiv T] TQiaxovft'r)|X8Qag toü (J.r|v6g kxaoxov
und mit jener Verschiebung der Kompositionsfuge um eine Stelle 28
Aias 408 Jtäg 5e atgatog ÖbiaXtog av |xe /eiqi qpovEiioi
426 'EXXaviöog t a vOv 8' ati(xog <L5e jtp6>t£ip.ai.
In diesen Fällen w a r die Halbzeile mit den Doppelsenkungen kürzer
als die iambisch-trochäisch einherschreitende. Nehmen wir das umgekehrte
Verhältnis: die Halbzeile mit den Doppelsenkungen in normaler Länge,
die mit den einfachen Senkungen gekürzt, so haben wir die Formen, von
denen wir ausgingen und zu denen wir nun wieder zurückgelangt sind.
Und auch hier wieder denselben Wechsel der Halbzeilen:
(—)—WW — WW —W
(—)—WW — WW— W
(—)—W —WW — WW—(—)
w— WW — WW—(—)
Damit ist dieser Teil unsrer Darlegung beendet. Es zeigte sich, daß
die sogen, daktylepitritischen Strophen als Elemente Langzeilen ver-
arbeiten, die ihrerseits zusammengewachsen sind aus einem enhoplischen
Gliede und einem Epitrit, Ithyphallikon, Lekythion, „iambischen D i -
metron", in dieser Abfolge oder in der umgekehrten. Solche Langverse
waren von alters her geläufig, in den daktylepitritischen Strophen sind
sie zu größeren Gebilden vereinigt und, das ist das Wichtigste, der ihnen
ursprünglich fremden ionischen Messung unterworfen worden. Dieser
Ionisierungsprozeß hat zunächst die Auswahl des Gliedes bestimmt, un-
geeignete ausgeschieden, minder geeignete (wie das Ithyphallikon) zurück-
gedrängt. E r hat ferner die übernommenen Glieder verändert, indem nun-
mehr in ziemlich weitem Umfang ein 6-zeitiges Metron mit einem andern
6-zeitigen tauschen konnte. Er hat sodann die Syntax der Glieder ver-
ändert, indem die Vervielfältigung nicht mehr an den früheren Schranken
halt machte. Und er hat schließlich, wenn auch in beschränktem Maße,
Metren eingefügt, die mit den ursprünglichen Langzeilen nichts mehr zu
tun haben. I
III. Ionisierung
WW — —
— W — W I——
D a ß in dem zweiten Beispiel statt als „Katalexis" auftritt,
könnte bedenklich machen. D a ß in allen drei Versen und in sehr vielen
386 Musik und Metrik [341 ¡342]
29
G. Hermann, Elementa doctr. metr. p. 4J0, zählt in seiner Sammlung sotadeischer
Verse unter 88 Beispielen 51 mal treochäisches Metron an dritter Stelle, also den Aus-
gang ^ ^ w - v j - 1 7 . Vgl. jetzt auch Podhorski, de versu Sot., Diss. Vindob. V, 1895,
107 sqq. mit den Statistiken p. 162, 167, 1 7 1 u. s. f. P. W. I I I A 1207 f.
[342)343] Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 387
sich hier erhalten hat. K l a r wird auch der Ursprung der „zweisilbigen
Katalexe", insbesondere, wie der Halbtrochäus — w als Katalexe des
ionischen Maßes auftreten kann: die ithyphallische Klausel geht eben auf
eine indifferente Silbe aus.
P r ü f t man danach eine längere Reihe sotadeischer Verse durch, etwa
die an einen König gerichteten bei Stobaeus, Flor. 22, 26, so ordnet sich
manches besser ein, als bisher:
1. ei xai ßaadevs itecpw.ag dbgftvr|TÖgaxowov.
2 . a v [ l a x g a jciüriig tpXE7(xaTL0)i xQatf|i negiaacöi.
4. av xpwocpopTjig, toöto tv>xi15 eotiv ejiaQ|xa.
8. r|CTcocpQocruvr)JtägEcruv, a v ixEtQrjig a e a u t o v . |
8 ist ein untadliger Enh. + Ith 30 ; 1 hat den Enhoplier erhalten, das
Ithyphallikon ionisch aufgelöst ( statt — w — w — — ) ; 3 1 ; um-
gekehrt ist es bei 2, w o das Ithyphallikon deutlich wird, während zwei
reine Ioniker an Stelle des Enhopliers getreten sind; 4 endlich ist ganz
ionisirt, und nur das Schwänzchen — w erinnert an die ithyphallische
Natur des Ausgangs.
Dieses deutliche Beispiel von Ionisierung oder ionischer Umdeutung
nicht-ionischer Glieder über die hellenistische Zeit hinaufzudatieren haben
wir an sich kein Recht, und gewiß wird es am wahrscheinlichsten sein, daß
Sotades hier selbständig gewesen ist. Dennoch ließe sich fragen, ob nicht
eine ganz ähnliche Entwicklung bei demselben Maße schon für ältere Zeit
angenommen werden muß. Aus Hephaistion ( X I I 4) wissen wir, daß
Anakreon tön ßgaxwaTaXr)5tTixMi (nämlich xETQa(iETQCDi lamxwi) oXa aia[iata
awE-Orjv.EV'
¡ievdXüH ÖT]i>Te |j,' eptog exm|>ev wate xaXxeiig
ji£?kExei, xein^pfol1 eAovaev Iv xapä8(3r|i.
Zu einem Beweise ist das Material nicht hinreichend, aber die Möglichkeit
mußte als solche herausgestellt werden.
30 Audi Ennius im „Sota" hat diese Form: ibant malaci viere Veneriam corollam.
31 Man könnte auf den Gedanken kommen, neben Enh. + Ith. als alte Form Enh. +
Reiz, anzusetzen, wenn man die Verwandtschaft dieser beiden Clausein bedenkt.
Aber das sdiwebt in der Luft.
388 Musik und Metrik [3431345]
—W —W WW
—w
und ähnlich das Epigramm des Euhodos ( J G I X , 1, 883) aus dem zweiten
nachchristlichen Jahrhundert, v. Wilamowitz, der diese Tatsachen ins
Licht gerückt hat (Melanges Weil), entnimmt ihnen die Folgerung, daß
das Phalaikeion ein solcher ionischer Trimeter von Ursprung gewesen sei.
Dem gegenüber muß betont werden, daß sich der Beweis weder für die
hellenistische Periode noch gar für Sappho und Alkaios erbringen läßt. J a
für deren Zeit wird die Annahme geradezu unwahrscheinlich. Unter
Anakreons ionischen Trimetern, die ähnliche Form haben wie des Synesios
Gedicht, z. B.
äyav<b<; ola xe veßpov veo^rjXsa
yaXa'ftrivov, öat' ev «Ar|i, xeqoeootis
dnoXEicp'&eig vno [xtitqöj £jtTor]i}r| (fr. j 2 H-Cr)
kommt das Phalaikeion nicht vor, schwerlich aus Zufall. Und wenn
Sappho solche ionischen Trimeter baut, d. h. zwölfsilbige Zeilen, so hat
sie den Elfsilbler äolischem Grundsatz gemäß sicher nicht eingemischt. Da
sie ferner (nach Caesius) dem Eingang des Elfsilblers die Freiheiten gab,
die wir später bei Catull finden, also
w W
—w
Die letzte Zeile läßt sich natürlich als Phalaikeion bezeichnen, und man
könnte sich veranlaßt fühlen, den Ursprung des fraglichen Maßes in einer
Verbindung des Glykoneion mit der geläufigen, kurzen bakcheischen
Klausel zu finden. Ich möchte diesen Weg nicht gehen, zumal ich meine,
daß man die Sapphostrophe natürlicher als 3 Glykoneen auffaßt, die von
einem Kretiker geführt und von einem Bakcheios beschlossen werden.
Man könnte von der „äolischen Basis" Gebrauch machen und den Vers
OO— w w — —
zu dem alkaischen Zehner und seinen Verwandten stellen
— — — ^
— — KJ
(v. Wilamowitz, Isyllos 129). Man könnte zur Not die Seltsamkeit hin-
nehmen, daß hier der sogenannte „katalektische" Vers vorangeht und der
akatalektische folgt. Aber ich appelliere vom Schema an die natürliche
Empfindung, und die gebietet zu lesen33 |
—w
ww—^—w
Die um eine Silbe am Schluß gekürzte Form w — w— kann ich in
Verbindung mit Ionikern nur einmal, außerhalb dieser Verbindung gar
nicht nachweisen. Hingegen muß die um eine Silbe verlängerte Zeile
w — h i e r h e r gezogen werden, die Anakreon (87 HCr) sti-
chisch verwendet
öia öriCtE KaQixovQYEog
6'/.avoLO XEiga TI^E^EVOI.
Wer sich also 5i)va|iai xqev.t|v töv Iotov immer noch als „anaklastisches
Dimetron" entstanden denkt, den müßten diese Anakreonverse eines
bessern belehren. Denn bei ihnen versagt ionische Erklärung, die ja eine
Silbe übrig lassen würde. Keine Deutung aber kann genügen, die nur für
—^ — w ,
nicht aber auch für
v^W W—W—
paßt. Nun werden viele bereit sein, hier von iambischen Dimetern zu
reden und in der Doppelsenkung am Anfang dieselbe Freiheit zu sehen,
die uns aus dem Trimeter geläufig ist. Dagegen habe ich Folgendes zu
erinnern: die Reihe öia 8t]Ct6 . . . ^ ^ — ^ — w — ^—
führt über 8viva(i.ai...
uu-w—w und über dessen katalektische F o r m ^ ^ - u - u - z u der
nodi kürzeren w w . Von dieser mußte vorhin ungewiß bleiben,
ob sie echt ionischen, d. h. aus ionicis a minore gebildeten Liedern zuzu-
sprechen sei. Beinahe sicher aber ist sie in dem Beispiel Eur. Herakliden
376 ff.:
33
S o z. B. auch Schroeder, Vorarbeiten $3 f.
[349(350] Zur Entwicklungsgeschichte griechischer Metren 393
von manchen anerkannt. Wenigstens Schroeder finde ich auf diesem Wege
(Vorarbeiten 98). Aber freilich, gleich biegen wir auseinander. Er nämlich
weist ausdrücklich auf die grundsätzliche Verschiedenheit des „Paroi-
miakos" und des Anaklomenos hin.
Ich hingegen könnte mich nur dann dazu verstehen, dieselbe Reihe bei
verschiedener Verwendung aus verschiedenem Ursprung herzuleiten, falls
triftige Gründe dazu zwängen. Da solche jedoch fehlen, ziehe ich die (Kon-
sequenz: wenn öüva^oa xQ£y.r)v töv | iotov bei Sappho nicht durch Anaklasis
entstanden ist, dann ist die Reihe überhaupt nicht so entstanden, auch
nicht wo sie unter Ionikern steht. Die Anaklasis als formbildenden Vor-
gang zu betrachten, vorauszusetzen also, die Dichter hätten sich ohne Not
eine Schwierigkeit geschaffen, wie sie die Vermehrung eines Metrons und
die entsprechende Verminderung des andern ist, scheint mir unwahr-
scheinlich. Aber das ist subjectiv. Viel schwerer wiegt, daß eine solche
„Anaklasis" zwischen zwei Metren meines Wissens keine stützenden
Analogieen hat, deren sie, um glaubhaft zu sein, doch sehr bedürfte.
Man sage auch nicht, die Form
jtEQivaiovxai jtaXaiov —w
stehe auf der Entwicklungslinie von dem reinen Ionikerpaar zum Anaklo-
menos und sei also beweisend für dessen übliche Herleitung. Vielmehr
kann man sich leicht denken, daß zunächst nur —W—VJ neben
trat, wobei der Enhoplier zerlegt wurde
—, und daß sich dann als Zwischenform —w einstellte.
Meine Annahme, um zum Schluß zu kommen, ist wiederum diese: der
ursprünglich selbständige V e r s ^ ^ — ^ ,ein Enhoplios oder Paroi-
miakos, ist, weil er genau den gleichen Umfang hatte wie 2 Ioniker und
in den 3 ersten und 3 letzten Silben ebenso klang, den ionischen Versen
zugesellt worden, um in deren eintönigen Verlauf Abwechslung hineinzu-
bringen, und er ist bald dermaßen mit ihnen verwachsen, daß sein Ur-
sprung in Vergessenheit kam. Diese Entwicklung hat an der Geschichte
des Phalaikeions und der Sotadesreihe ihre Parallelen, reicht aber wohl
in erheblich ältere Zeit hinauf.
Die Echtheit der Melodie
zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht
1934
§ 1. Das Problem
Haben wir eine antike Melodie zu Xqweol tpogniy?? Haben wir gar
Pindars eigene Melodie? Man sollte meinen, das wäre ein Problem ersten
Ranges. Aber seltsamerweise hat man es in der klassischen Philologie fast
aus den Augen verloren. Die Melodie ist nur durch die Editio princeps in
Kirchers Musurgia von 1650 bezeugt. Eine Handschrift ist bisher nicht
gefunden worden. Kircher hat heute keinen guten Ruf. Dazu kommt,
daß es wirkliche Kenner auf dem Gebiet der griechischen Musik immer
nur sehr wenige gegeben hat. So begnügt sich U. v. Wilamowitz in seinem
Pindarbuch (1922) mit einer Anmerkung (92 1 ), die das Problem immer-
hin in seiner Ungelöstheit, wenn auch nicht in seiner Wichtigkeit an-
erkennt. Seltsamer, daß O. Schroeder es weder in seinem Pythienkom-
mentar noch in seinen metrischen Schriften irgendwo berührt zu haben
scheint. Ganz anders vor 150 Jahren August Boeckh: Der große Pindar-
forscher, der zugleich einer der wenigen Erforscher antiker Musik war,
hat 67 Quartseiten seiner Pindarausgabe auf die Frage verwandt. Denn
seine allgemeine Grundlegung der griechischen Noten- und Harmonie-
lehre ( 1 2 , 203 ff.) dient nach seinen eigenen Worten vor allem dem Zweck,
die Melodie von Pythien I als echt zu erweisen und verständlich zu machen
(cuius causa pleraque hucusque disputavimus I 2, 266) 1 .
In der Forschung des fortschreitenden 19. Jahrhunderts ist wie so oft
der kritische Zweifel stärker gewesen als die kritische Prüfung. Ernstlich
geprüft hat nur R. Westphal 2 : ihm schienen erhebliche innere Gründe für
[Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen A k a d e m i e der Wissenschaften zu L e i p -
zig, Philologisch-historische Klasse, L X X X V I , 4. H e f t , 1 9 3 4 , S. 1 - 5 3 . ]
1
Wie Boeckh urteilte G o t t f r i e d Hermann im Handbuch der Metrik, 1 7 9 7 , X I I , freilich
ohne weitere Begründung.
2
Griechische Metrik, 2. Aufl. 1868, 6 2 2 ff. Griechische Harmonik und Melopoeie,
3. Aufl. 1 8 8 6 , X L V I .
396 Musik und Metrik
die Echtheit zu sprechen, und einzig die Verbindung von Gesang- und
Instrumentalnoten machte ihm Bedenken. Die Wirkung seiner Analyse
hat freilich den Zusammenbruch seines Systems nicht überlebt, und er
selbst hat sich später gegen die Echtheit entschieden. Auf der andern Seite
ließ Fr. Bellermann zwar in Messina — vergeblich - nach der verlornen
Handschrift suchen, ersparte sich aber eignes Weiterforschen mit der we-
nig treffenden | Bemerkung, daß „einesteils bis zur Auffindung eines
Manuskripts der pindarischen Melodie die Echtheit derselben zweifelhaft
bleibe, andernteils eine kritische Bearbeitung derselben eben aus Mangel
an andern, von der Kircherschen Uberlieferung unabhängigen Quellen
nicht möglich sei" 3 . C . Jan nahm sie in die Musici scriptores überhaupt
nicht auf, gestützt auf das Westphalsche Verdachtsmoment, das er doch
selbst als unkräftig hatte erkennen müssen4. Ebenso fehlt sie bei D. B.
Monro und Th. Reinach s .
Dem Zweifel der Musikphilologen haben sidi die Musikhistoriker
nicht durchaus gefügt. Ambros fand sich durch die pindarische Melodie
„auf das entschiedenste an den feierlichen Schwung gewisser uralter gre-
gorianischer Kirdienmelodien gemahnt. Gegen die eindringliche K r a f t
dieser Gesänge habe die pindarische Melodie etwas Weicheres, Milderes;
der unschätzbare Rest zeige, daß an der „edlen Einfalt und stillen Größe"
der griechischen Kunst auch die Musik teilgehabt habe" 6 . Gevaert äußerte
im ersten Bande seiner Histoire et théorie (1875) noch „un doute grave sur
l'authenticité du fragment", änderte aber im zweiten Bande (1881) seine
Ansicht dahin, daß wir „selon toute probabilité" eine Melodie Pindars be-
säßen7. Ebenso traten H . Riemann u. C . Sachs für die Echtheit ein8. Aber
sie alle hatten die kritische Vorfrage nicht scharf gestellt, und darum
fehlte ihnen letztlich die Kraft, dem als pindarisch Behaupteten nun auch
den Platz zu geben, der seinem Range entsprochen hätte9. Denn wenn wir
hier wirklich eine Melodie Pindars vor uns hätten, so würde sie damit
nicht nur zum ältesten, sondern zugleich zum schlechthin wichtigsten
Denkmal antiker Musik überhaupt. Hinter ihr müßten die Hymnen des
6 Geschichte der Musik I, 1862, 276. In der neuen Bearbeitung von B. v . Sokolowski,
der Chargesang aus dem Orestes „würde der interessanteste und bestbekannte unter
den Resten griechischer Tonkunst sein, wäre er nicht ein Bruchstück, ja, ein völlig
verstümmeltes Bruchstück". So darf man nicht sagen, wenn man wenige Seiten v o r -
her von der „Goldenen Leier" gehandelt hat. A b e r freilich fehlen ja dort nicht die
„ Z w e i f e l an der Editheit".
[415] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht 397
10
Gesammelte Schriften, und Vorträge, 1929, 38.
11 Pauly-Wissowa-Kroll R.-E. X V I s. v. Musik 864 f.
12
L'origine de la prétendue mélodie de Pindare, in: Les Etudes Classiques I, 1932, 3 ff-
398 Musik und Metrik [5I7J
§ 2. Athanasius Kircher
Die Melodie ist nur durch die Musurgia universalis des Athanasius
Kircher (1650) überliefert. Kircher aber, so sagt man, sei ein unzuverläs-
siger Zeuge. Haben die Zweifler sich ernstlich um diesen Mann geküm-
mert? Wie viele haben in der Musurgia — nicht zu reden von seinen ande-
ren großen Büchern — auch nur geblättert?
Wer einmal Wesen und Geschichte der Polyhistorie erforschen wird
- die bei ihren größten Vertretern etwas ganz anderes ist als bloße
Stoffhäufung - , wird in dem Fuldaer Jesuiten Athanasius Kircher
(1602-1680) einen der erstaunlichsten Vertreter dieser Geistesform
finden: einen Ordensmann, der in seiner Gesellschaft die Professur der
Mathematik und der orientalischen Sprachen in Würzburg, Avignon und
Rom bekleidete, | der zugleich Forscher, Experimentator, Erfinder, Samm-
ler, Denker, Schriftsteller war und alles dies in einem riesenhaften Aus-
maß und in einer heute unfaßbaren Vielseitigkeit. Man braucht ein brei-
tes Regal, um seine gedruckten Werke, meist Quart- und Foliobände,
nebeneinanderzustellen. Man liest mit wachsendem Erstaunen in der
Bibliothèque de la Compagnie de Jésus die Titel seiner gedruckten und
vielleicht noch ungedruckten Schriften 14 . Man meint sie in ein paar Grup-
pen einordnen zu können: allgemeine Denk-, Sprech- und Schreiblehre
{Ars magna sciendi 1669. Polygraphia nova et universalis 1680), zusam-
mengehend etwa mit Leibnizens Bemühungen um eine characteristica
universalis1S; Mathematik und Physik; Orientalia; Archäologie; zuletzt
die erbaulichen Schriften, wozu auch die Selbstbiographie gehören würde.
Aber man sieht sehr bald, daß solche Gruppierung zu allermeist irreführt.
Das große Werk Latium (1671) z. B. will schon nach dem Titel geogra-
phico-historico-physico ratiocinio verfahren, bringt Landkarten, zeit-
genössische Ansichten und Pläne, Aufnahmen antiker Monumente, bildet
Inschriften und Münzen ab. Aber es ist vielleicht ein halber Zufall, daß
13
Für Teilnahme und Hilfe habe ich vielen zu danken: den Musikhistorikern Max
Schneider und Serauky in Halle, Handsdiin in Basel, Herrn Konzertsänger Widi-
mann in Halle; ferner den Fachgenossen H . Koch und W. Kranz in Halle, R . Herbig
und A. v. Blumenthal in Jena. Für Literaturnachweise danke ich O. Kern, W.Schade-
waldt, stud. phil. Ettlinger und den Herren von der Hallisdien Universitätsbibliothek
C. Wendel und W. Printz.
1 4 Bibliographie, Tome I V , 1893, 1046-1077.
is Vgl. Windelband, Geschichte der Philosophie, 5. Aufl., 333.
[7¡8] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythisdien Gedidit 399
sich zieht: ipse enim sola et unica animae nostrae quies, centrum,
MAGNES.
Die Ars magna Iuris et umbrae (1646) - die Goethe Anlaß gab, sich in
der Farbenlehre mit Kirchers Person zu befassen - ist ein Folioband von
über 900 Seiten, voll von mathematischen Konstruktionen und Berech-
nungen. Aber auch von Horoskopen. Und wiederum von halb spieleri-
schen, halb nützlichen (und sehr zukunftsreichen!) Erfindungen wie der
camera obscura und der laterna magica, oder von Experimenten wie dem
mit der Henne, die hypnotisiert liegen bleibt, wenn man von dem Kopf
der liegenden aus einen graden Strich auf dem Boden zieht. Und wie-
derum:
Vernahmst du nichts von Nebelstreifen,
Die auf Siziliens Küsten schweifen? . . .
Da schwanken Städte hin und wieder,
Da steigen Gärten auf und nieder,
Wie Bild um Bild den Äther bricht.
Was Faust so im Vierten Akt des Zweiten Teils dem Kaiser als „seltsames
Gesicht" ausmalt, fand Goethe in Kirchers Ars Magna. Dies alles ist in
ihr nicht gehäuft, sondern aufgebaut in 10 Büchern, die nach dem Willen
des Verfassers eine harmonia decachordi darstellen, beginnend mit der
pbysiologia Iuris des ersten Buches, schließend mit der magia Iuris des
zehnten, über der sich als Epilog noch die metaphysica Iuris et umbrae
erhebt, ein christlich-platonischer Aufstieg aus dieser Welt des Dunkels
zum höchsten Ziel: Schau der lux luminum.
Die Musurgia universalis sive Ars magna consoni et dissoni erschien
1650 zu Rom in zwei Kleinfoliobänden von zusammen über 1100 Seiten.
Entsprechend dem zuletzt genannten Werke umfaßt sie in ihren 10 Bü-
chern tanquam in decachordo quodam eutactico das ganze Wissen vom
Klang. In einem Jahr hat er dieses Buch geschrieben, eine fast unvorstell-
bare Summe von Wissen und Denkkraft. Man blättre nur, lese hier und
da einen | Abschnitt und betrachte die Kupfer! Man ahnt, was bei genau-
erem Durchforschen deutlicher zu begreifen und in seinem Sinne tiefer
aufzuklären bliebe: das Gesetz des Ganzen. Aus der Fülle der Gegenstände
häufen wir rasch einiges nebeneinander, was dort gesammelt und geord-
net ist: Vergleichende Darstellung der Gehörknöchel bei Mensch und
Tieren. Tonwerkzeuge von Mensch, Frosch und Insekten. Notenaufnah-
men von Tierstimmen. Instrumente der Hebräer mit Auszügen aus nach-
biblischen jüdischen Texten. Liturgische Musik der Ostkirche mit ihren
Notenzeichen, dargestellt aus byzantinischen Quellen. Lehre von den
harmonischen Zahlen und der geometrischen Teilung des Monochords.
Kontrapunktik. Instrumentenkunde. Was im achten Buch abgehandelt
wird unter dem Titel Musurgia mirifica, eine seltsame Verbindung von
Arithmetik, Sprachwissenschaft, Metrik, Kontrapunktik, geht in keinem
[9110] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythisdien Gedicht 401
19
Ansätze zu einem Verständnis Kirchers gehen bisher immer, wie das kaum anders sein
kann, von dem Standpunkt der Einzelwissenschaften aus. V g l . die A u f s ä t z e : Kircher
als Geograph von K . Sapper und Kircher als Musikgelehrter von O . K a u l in der Fest-
schrift „ A u s der Vergangenheit der Universität W ü r z b u r g " ( 1 9 3 2 ) . M i r kam zustatten,
daß ich in Halle mit den Herren Ernst Benz und Dmitrij Tschizewskij über Kircher
sprechen konnte.
402 Musik und Metrik [10111]
Ordnung und hilft sie bestätigen. Selbst wenn er sich ein künstliches Spiel-
werk erfindet, folgt er dem Vorbild des großen Automatenmachers. |
20
V g l . Musici scriptores ed. J a n . 3 59. In der T a t w a r sich Kirdier bewußt, keinen V o r -
gänger zu haben.
21
Mindestens die des Collegio Romano, über deren Inhalt Kircher auf p. 545 weitere
Angaben macht, ist heute verschollen: Musici ed. J a n . p. L X X X I . Vielleicht taucht
sie mit dem handschriftlichen Nachlaß Kirchers nodi einmal auf. Die der V a t i c a n a
könnte dieselbe sein, die sdion Galilei benutzt hatte: di che à mesi passati n'ebbi
copia con non molta difficoltà (a. O . p. 9 1 ) . Welche der bei J a n p. L X I X verzeich-
neten Handschriften die von Kirdier benutzte ist, weiß idi nicht.
22
Aristoxenus Nicomachus A l y p i u s , Joannes Meursius nunc primum vulgavit, Lugduni
Batav. 1616.
[12] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythisdien Gedicht 403
listen gegen den Polyhistor | und verrät sich sehr naiv die Abneigung des
um seinen Prioritätsanspruch bangenden Gelehrten gegen den Vorgänger,
dem er einen Teil seines Riihmchens abtreten zu müssen fürchtet23.
Galilei hatte (auf p. 97) die Hymnen des Mesomedes mit den griechi-
schen Notenzeichen veröffentlicht. Aber er hatte keine Umschrift ver-
sucht. So ist der Stolz Kirchers berechtigt, mit dem er (I 541) ein Beispiel
antiker Melodik geben will, „praesertim cum nullus quod sciam hucusque
id praestiterit resque uti incognita ita et desideratissima sit." Er sagt, wo
er die Noten gefunden habe, die er gleidi darauf abdrucken wird: „Inveni
autem hoc musicae specimen, ut alias memini, in celeberrima illa totius
Siciliae Bibliotheca monasterij S. Salvatoris iuxta Portum Messanensem
in fragmento Pindari antiquissimo notis musicis Veterum Graecorum
insignito". Ich finde nur eine Stelle, auf die sich das ut alias memini zurück-
beziehen könnte (wobei eine kleine Ungenauigkeit des Ausdrucks durch
die riesenmäßige Schriftstellern des Mannes entschuldigt würde): Auf
p. 213 nämlich spricht er von einem mittelalterlichen Notensystem, das
älter sei als das gewöhnlich dem Guido zugeschriebene der 5 Notenlinien:
Jenes ältere - die Noten auf 8 Linien und zwar nur auf den Linien, nicht
auch in den Zwischenräumen-habe er gefunden, „cum antiquiorum Biblio-
thecarum latebras diligentius excussissem." Dann berichtet er: „Nam in
itinere meo Melitensi Messanensem S. Salvatoris Bibliothecam Graecis
manuscriptis instructissimam dum lustrarem, Manuscriptus hymnorum
Uber ab Ulis monachis mihi exhibitus fuit ante 700 circiter annos scriptus,
in quo multi hymni notis expressi cernebantur." Und nun veröffentlicht
er daraus 1V2 Hexameter des Gregor von Nazianz mit Noten in dem
genannten mittelalterlichen System: IlapWviri ¡leya x&qe ^okjöote öütoq eawv
|.it|teq aito(xoai)vri5 d. i. IlaQ{>£v[r| niya xalge •öeöctöote öwtoq e&cdv / (xfiTEQ
ajir)|xoav)vr|524. Dem Kircher war an diesem Text nur das Notensystem
wichtig. Wir werden uns für das Pindarfragment die Fehlerhaftigkeit des
griechischen Druckes merken, mag sie nun dem Verfasser oder dem Druk-
ker zur Last fallen. Nebenher: auch um die Korrektheit des lateinischen
Textes ist es übel bestellt, und der Tadel des Meybaum ist in diesem
Punkte wenigstens mehr als berechtigt25. Der auf philologische Genauig-
23 Fateor, cum primum hoc opus in has terras pervenisset, magnopere me perculsum (!),
quod audirem omnes illas notas Alypii iam accurate a Kirchero restitutas in eo in-
veniri. .. Dolebam me praeventum et restitutarum antiquae Musicae notarum gloriam
adeo mirando ut iactabant opere esse praereptam. .. . Vero ubi illud opus tandem
inspicere licuit, cum stupore tabulam illam tot mendis scatentem oculis pererravi et
meum £ugr|xa EÜQTixa laetius repetivi.
24 Die Identifikation verdanke ich Paul Maas: Gregor, Poem. mor. 1, 11 f. (Migne Patr.
G r . 37, 523). Es ist natürlich keine Frage, daß es sich hier nidit um, eine spätantike, son-
dern um eine mittelalterliche Komposition handelt, wie ja auch das Notensystem erweist.
(Ähnliche Notensysteme bei Galilei a. O . 36 f.) Die Beschäftigung mit Gregor paßt zu
dem Basilianerkloster.
25 nec sphalmata typographica et stupendam correctoris oscitantiam in eo opere admira-
bar.
404 Musik und Metrik [12113]
keit bedachte Kritiker begriff freilich nicht, was sich doch von selbst ver-
steht, daß man bei einer so riesen|mäßigen Schriftstellerei Schreib- und
Gedächtnisfehler begehen mußte und den Druck nicht sorgsam über-
wachen konnte.
Jene Reise nach Sizilien und Malta ist ein wichtiges Ereignis in Kir-
chers Leben (1637/8). Er selbst berichtet in seiner Lebensbeschreibung
ausführlich, wie er als Beichtvater den Kardinal Friedrich Landgrafen von
Hessen auf der weiten Seefahrt begleitet, und wie sie auf Sizilien anlegen.
Daß er dort nur seiner Ätnabesteigung und seiner naturwissenschaft-
lichen Beobachtungen, nicht seiner Bibliothekstudien gedenkt, entspricht
der volkstümlichen und erbaulichen Art dieser Selbstbiographie. Wohl
aber versichert er selbst an einer früheren Stelle der Musurgia (I 71), er
habe keine Mühe gescheut, um hinter das Geheimnis der antiken Noten-
schrift zu kommen: „excussis itaque tum Vaticana tum aliis Biblio-
thecis..."
Das Kloster San Salvatore dei Greci oder di Faro (Monasterium S.
Salvatoris de Acroterio) wurde im X I . Jahrhundert vom Grafen Roger
gegründet und mit Basilianermönchen besetzt, im X I I . wurde es von
König Roger erneuert und vergrößert. In dem erhaltenen Typikon des
Klosters (cod. 1 1 j) 26 berichtet der zweite Abt Lukas, er habe eine große
Zahl sehr schöner Bücher zusammengebracht, vor allem die Werke der
griechischen Väter, aber auch Historisches und anderes Heidnisches, was
zum Verständnis der heiligen Schriften hilft: ioxoQiy.a xe xal sxeoa xcöv xijg
•(Kigaftev xai ä X / . O T ( u a g aijXijg öitoaa jtgög xr|v •ftsiav y v c o c u v awxeivovaiv. Das
Kloster besaß eine Schreibschule: YQauiiaxr/otig xe xai xaAAiYeacpoug v.ai
öiöaaxäAovg xcövfreicDvßißAcov xai xr)v e|co jiaiösiav Ixavcög r|crxr|u.evoug. Wichtig
für uns, daß Lukas besonders die Musikpflege hervorhebt. Man habe vor
allem Männer herangezogen xoiig x f j v [XEAcpör][t&xcDV sxxAriaiacrxixcöv exjiaiöe'u-
devxag dxQißsiav.
Von dieser ehedem reichen Bibliothek ist nur ein dürftiger Bestand
durchweg griechischer und fast durchweg kirchlicher Handschriften übrig.
Die großen Verluste sind nach dem Ausweis der Numerierung vor dem
18. Jahrhundert eingetreten27. So gut wie alles Nichtkirchliche hat das
Kloster in den Zeiten seines Verfalls verschleudert. Bemerkenswert, daß
unter den vorhandenen Handschriften eine ganze Anzahl mit Musik-
26
O b e r die Schicksale der Bibliothek u n d den B e s t a n d der aus dem K l o s t e r stammenden
H a n d s c h r i f t e n in der Universitätsbibliothek z u Messina berichten F r a c c a r o l i , Dei
codici greci dei monastero dei S . S a l v a t o r e , in den S t u d i Italiani di filol. class. V , 1 8 9 7 ,
4 8 7 ff. u n d M a n c i n i , C o d i c e s G r a e c i monasterii S . S a l v a t o r i s , in den A t t i della R.
A c c a d e m i a Peloritana V o l . X X I I , 1 9 0 7 , F a s e . I I (Messina 1907). Die griechischen
C i t a t e bei F r a c c a r o l i 4 8 8 u n d bei M a n c i n i p. V I I , V I I I . - Italienische Sonderzeit-
schriften hat stud. phil. H . D ö r r i e f ü r mich eingesehen und einschlägige Stellen ausge-
schrieben. Ich d a n k e hier d a f ü r , auch w e n n das E r g e b n i s n e g a t i v w a r .
27 M a n c i n i a. O . p . I X .
[13114] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythisdien Gedicht 405
noten ausgestattet sind28. Cod. 154 ist sogar eine theoretische Anweisung
für die Sänger|schule des Klosters29. Eine Schrift über antike Musik etwa,
in der sich die Noten zu Pythien I am besten denken lassen, kann das
Kloster sehr wohl besessen haben30.
Die Frage, ob man sich auf Kirchers Angaben verlassen dürfe, hat
schon den französischen Musikhistoriker Burette 31 am Anfang des 18.
Jahrhunderts beschäftigt. Schon er fand weder in dem gedruckten Biblio-
thekskatalog des Possevin32 noch in dem handschriftlichen des Montfau-
con33 eine sichere Spur der Kircherschen Handschrift, aber er fand bei
Montfaucon am Schluß des Verzeichnisses den Vermerk JtoXJ.à ôè à l l à
ßißXia jtËQiÉxouai tà jtâvta jîeqI toî /ôqou (sic), deutete ihn mit Recht auf
Kirchenmusik und meinte, unter derartigen Handschriften habe Kircher
das Bruchstück gefunden; das sei sein natürlicher Platz.
Man wird die reichlich unklare und in zweifelhaftem Griechisch ab-
gefaßte Bemerkung bei Montfaucon weniger hoch einschätzen dürfen, als
Burette und nach ihm Boeckh34 taten. Aber auch ohne sie ist das Bild, das
wir von der Klosterbibliothek S. Salvatore gewinnen, dem was Kircher
erzählt durchaus günstig. Daß er, der Entdecker des griechischen Noten-
systems, zu einer gegebenen Melodie die griechischen Noten hätte fälschen
können, ist gewiß35. Ob irgend jemand in der Musikwelt des italienischen
Barock diese Melodie selbst fälschen konnte, ist eine Frage, die den Musik-
historikern überlassen bleibe34. Daß man aber überhaupt einem Manne wie
28
Ob die Handschrift darunter ist, aus der der Hymnus des Gregor (oben S. 12) stammt,
ist nach den Katalogen von Fraccaroli und Mancini nicht zu ermitteln.
29
cod. 154 saec. X V : àpxiï aiiv flscp dyicp tôW ar)[iaôicov xfjç novawfjç téxvtiç tcûv te
àviôvTcov xai xcmôvtcuv acoixâtcov xaî jtvEuuâxœv xai jtâariç xaQo\'0|j.iaç xat
àxoXoudiaç auvTEdEi[iévr|Ç e'iç aî)tr]v jcapà tcôv xaxà xaipoùç JMHT)TÜV.
30
Über die fabulöse Geschichte von einem Sappho-Codex mit Musiknoten vgl. Mancini
a. O. p. X . Sie konnte auf dem Grund der Kircherschen Nachricht gewuchert sein, etwa
infolge der Anfragen, die deshalb nach Messina kamen.
31
Dissertation sur la mélopée de l'ancienne musique 203 f. in den Mémoires de l'Acadé-
mie des Inscriptions 1 7 1 8 - 1 7 2 j, 203 ff., beigefügt der Histoire de l'Académie, Tome V,
Paris 1729.
32 Possevinus, Apparatus sacer, Venetiis 1606, gibt das Verzeichnis, das 1563 auf Befehl
des Papstes Pius IV. angefertigt worden ist. Es sind aber nur die „codices ad sacra et
ecclesiastica spectantes" verzeichnet. Also ist es durchaus möglich, daß damals noch
mehr Handschriften vorhanden waren.
«„Serait-ce le Paris. Suppl. Gr. 798, X V I I e s. provenant de Saint-Germain et dont
le n° 3 (fol. 23 à 454) est intitulé: Catalogue de la Bibliothèque des Basiliens de Mes-
sine?" fragt A. Rome a. O. S. 5 Anm. 3. Der gedruckte Katalog in Montfaucons Biblio-
theca biliothecarum I, 1739, 198 sq bringt die genannte Notiz nicht.
^ P i n d a r i Opera I 2, 266.
35
Meybaum hat in seinen Musici scriptores das Te deum laudamus in griechischen Noten-
zeichen wiedergegeben.
36
Eine entsprechende Frage an den Kunsthistoriker würde gewiß nicht einer gleichen Un-
sicherheit begegnen. Man vergleiche zwei Äußerungen. Gevaert, Histoire et théorie II,
1881, 471 : „on doit reconnaître que le jésuite Kircher s'il était l'auteur de la cantilène
406 Musik und Metrik [14115]
Kircher gegenüber die Frage der Fälschung leichthin stellt, zeigt nur, daß
man seine Werke nie angesehen hat und ihn nicht kennt als das was er
w a r : gewiß ein Mann seiner Zeit mit ihrem Pomp und ihrer Ruhmredig-
keit 37 , und nicht zu messen an dem Genauigkeitsmaßstab einer kritischen
Philologie, aber vor allem doch ein Forscher von unfaßbarer Weite und
Energie, ein Sammler von unstillbarem Wissensdurst 38 , ein Denker, der
die weitesten Räume durchdrang, ein Mann, der Päpsten und Kaisern
seine Bände widmen durfte und mit vielen bedeutenden Männern seiner
Zeit in Briefwechsel stand, mit Herzog August von Braunschweig, dem
Gründer der Wolffenbüttler Bibliothek, mit dem Archäologen Peiresc,
mit Gassendi und Leibniz. Die griechische Melodie w a r für ihn gewiß
ein Fund, auf den er stolz war. Aber im Zusammenhang seines großen
Werkes bedeutet sie fast nichts, und selbst für die Erörterung in der sie
steht, für die Frage | nach dem Vorrang der antiken oder der modernen
Musik, bedeutet sie sehr wenig. In der T a t wird denn die Erörterung weit
mehr auf die Nachrichten der Alten als auf die neu entdeckte Melodie
gestützt.
Bleibt noch die Möglichkeit, daß Kircher sich in seiner Erinnerung
getäuscht hat - wie natürlich in seinen großen Werken genug Gedächtnis-
fehler vorkommen mögen 39 - oder daß er betrogen worden ist. Das zweite
en question aurait fait preuve en composant son postiche d'un véritable génie
philologique et musical". Maurice Emmanuel in: Lavignac, Encyclopédie de la Mu-
sique, Antiquité, 1911, 447: „s'il n'y a pas de raisons musicales absolues qui permettent
d'accuser le père Kircher de supercherie, cette Hypodoristi a un parfum moderne
quelquefois troublant." - Ganz zuletzt A.Rome in Les Etudes classiques I 8: „(Kircher)
a écrit une phrase de plaint-diant du X V I I e siècle - le plain-chant des messes de
Dumont. 11 : c'est de l'art de formules, du plain-chant de messe de Dumont, mais cette
mélodie a su charmer un Gevaert, et comme elle est galvanisée par Saint-Saëns dans
son Antigone, il faut bien reconnaître qu'elle a de l'allure."
37
Die Histörchen, die in der Schrift Jo. Burch. Menkenii De Charlatanería eruditorum
declamationes duo, Amstelodami 1727, - der Titel ist das Kurzweiligste an ihr - über
Kircher berichtet werden, sind nicht sehr charakteristisch.
38
Daraus, daß es unter den Antiken des Museo Kircheriano Fälschungen gab, kann man
doch ihrem Sammler keinen Strick drehen. Über die Sammlung spricht durchaus mit
Hochachtung Stark, Archäologie der Kunst 109, 117. Es könnte sogar sein, daß sie in
der Geschichte des Museumswesens wichtig wäre. Vgl. die vorläufigen Bemerkungen
von J. v. Schlosser, Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance, 1908, 104. -
Daß Kircher auch Handschriftenkenner und -Sammler war, ersieht man aus dem Brief,
mit dem er dem Herzog von Braunschweig eine syrische Evangelienhandschrift nach
Wolffenbüttel schickt. Er beschreibt sie sachkundig und sagt von ihr: quo nihil mihi
fuit carius, nihil pretiosius. (J. Burckhard, Historia Bibliothecae Augustae quae
Wolffenbutteli est, Lipsiae 1744, 236 sq.)
39 Über die Fundgeschichte der chinesisch-syrischen bilinguen Inschrift hat Kircher im
Abstand weniger Seiten widersprechende Angaben gemacht: Henri Havret S. J., La
Stèle chrétienne de Si-ngan-fou (Variétés sinologiques No. 12, Chang-Hai 1897) II,
47. Es verdient bei dieser Gelegenheit vermerkt zu werden, daß Kircher in einen Streit
über die Echtheit der Stele verwickelt wurde und zum Erweis der Echtheit sein Werk
China (1667) schrieb: Havret a. O. z6i ff. Die Echtheit des Monuments scheint heute
anerkannt.
[15118] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythisdien Gedidit 407
ist undenkbar; denn es gab damals außer Kircher und Meybaum wohl
überhaupt niemanden, der über die Kenntnis der griechischen Noten ver-
fügte. Das erste ist möglich; aber man mag hin und her denken und wird
doch nichts ausdenken können, was so wahrscheinlich wäre wie die Ge-
schichte, die Kircher erzählt. |
§ 4. Recensio
Kircher hat seinen Fund zweimal abgedruckt, zuerst auf p. 541 nur
die griechischen Noten über dem griechischen Text („Abdruck A " ) , dann
auf p. 542 dieselben griechischen Noten über demselben grie|chischen Text,
aber dazu über jeder Zeile die Ubersetzung in moderne Notenzeichen
(„Abdruck B").
N n / c n
Xtf ftlt ti, c $lt ,vut.
Interpretatio.
Oaurea Cythara<^fpollinh, g)<violaceitm capillttium balentium totmenltns M*-
farumpojjeßio, quam audit yuidem incejfus fallanttum IdtitU apex ckorus. Oittmpe-
rattt •vero.Qj toncentoresftgnis intotiationis tu* choros ducentium,quando hymnorum
prdludiajacis lerntet pereußa, cuffidaiumfilme» txtingmt,
MuGca
Abdruck A . Musurgia p. 541.
Die griechischen Noten sind beide Male nicht mit einzelnen Typen
gesetzt, sondern mit Holzstöcken gedruckt, die jeweils eine ganze Zeile
umfaßten. Es ist entweder beide Male mit denselben j Holzstöcken ge-
druckt worden, oder, wenn für B andere Holzstöcke verwendet wurden
408 Musik und Metrik [18]
wie für A , so wurden sie doch rein mechanisch verdoppelt 40 . Also sind für
die griechischen Noten A und B nur eine einzige Überlieferung.
Über Zeile 3 steht in A : Chorus Instrumentalis, in B: 70Q0541 eig
xuftaQav Chorus ad Cytharam. Es kann kaum ein Zweifel sein, daß die
ir irre i i r r e i i r r e i M i
Xlu et * fóiplf!- A vo\ Ka tot Kot i' « tm ¡WH
e i M i e r er u r ei re i e r m im
Svi St xot ¡ua*» >n'>w Tct'i d *»ltt ni» ß*' mt tt j-jus/oi afôo»
X't'i e " ¡tu Chains id C/tharam .
gÜSSi^iiil
T%i'-9an"At f actf'f ci m.ff»VA yn « X' f ¿'v* T«c rot ffojgut'ar
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^If^liisiiipl 3 H/C/cVjVj/i q U \ z H N 3
AftßiK Xat Til/ ¿«f 2 AC M f« pi1 K> (um' ToV ttlJüH* tat
E R = f t :
Ï
N N c ^ 1/= q
fl«l> *oV ißo- tn/us.
Abdruck B. Musurgia p. 542.
Diese Beobachtung bestätigt mir ein erfahrener Drucker, Herr Post von der Kunst-
schule Halle-Giebichenstein.
41 Das schließende 5 ähnelt der Ligatur von ei. Vielleicht hat der Setzer sich vergriffen.
[ 18/20] Editheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythisdien Gedidit 409
aá[j.a cruv A B
Ay^AI/ópov A B T O V 4 2 <PQCÜI[XÉOV A B. |
Kircher hat diesen griechischen Text nur flüchtig oder überhaupt nicht
korrigiert - über diese Flüchtigkeit ist oben das Nötige gesagt (S. 403) -
man sieht auch, er hat den Pindar gar nicht verstanden, soweit ihm nicht
die lateinische Übersetzung des Erasmus Schmid, die er mit abdruckt, zu
einem oberflächlichen Verständnis verhalf.
Nun eine Bemerkung, die wichtig werden könnte. Der griechische
Wortlaut bei Kircher stammt aus keiner Handschrift, sondern eben aus
derselben Ausgabe des Er. Schmid von 1616. N u r in ihr fand Kircher die
Lesung TCÜV cpgoi|iiwv, die bei ihm noch ins Unsinnige verdruckt ist. Sie
beruht auf einer Konjektur Schmids, die Handschriften geben jtQooi(j.icav.
Auch die lateinische Übersetzung O aurea Cythara stammt, wie gesagt,
wörtlich aus derselben Ausgabe. Und vielleicht ein drittes: Kirchers
Pindartext bricht mitsamt den Noten kurz vor dem Ende der Strophe
ab. Genau an derselben Stelle aber ist die p. 18 bei Schmid zu Ende, der
Rest der Strophe folgt auf p. 20. Ebenso schließt mit dem Wort der
Übersetzung extinguís die p. 19 bei Schmid.
Es liegt auf dem ersten Blick sehr nahe, aus dieser Benutzung der
Schmidschen Ausgabe einen neuen Beweisgrund gegen die Echtheit der
griechischen Melodie zu ziehen43. Aber doch nur auf den ersten Blick.
Wenn Kircher den Text recht und schlecht aus einer Ausgabe nimmt, so
folgt daraus noch lange nicht, daß die Noten gefälscht sind. Mit seinen
griechischen Kenntnissen war es nicht so weit her, daß er den Pindar wirk-
lich hätte verstehen können. Es ist schon deshalb nicht verwunderlich, daß
er die griechischen Worte nicht genau nach der Handschrift gab, so wie sie
günstigenfalls in seinen Notizen stehen mochten, sondern daß er statt
dessen, als er sein Buch schrieb, nach einer Pindarausgabe griff, die ihm
auch wegen der beigefügten lateinischen Ubersetzung bequem war. D a ß
er eine Ausgabe heranzog, war nur in der Ordnung. Jeder von uns würde
es ebenso machen. N u r würden wir es ausdrücklich vermerken, was Kir-
cher, der kein Philologe war, unterließ.
42 Die jiQoacoiöia über TOV ist nicht ganz eindeutig. Sie gleicht am ehesten einem Spiritus
lenis mit Gravis.
43 Ich finde die Beobachtung gemacht und in der T a t gegen die Editheit ausgenutzt von
A . Rome a. O . (vgl. oben S. j f.) 3 ff.
410 Musik und Metrik [20/21 ]
41
Nachdem midi schon Monsignore J . P. Kirsch durch Auskünfe verpflichtet, auch den
Historiker des Ordens P. Tacchi-Venturi befragt hatte, hat auf meine Bitte Dr. Lud-
wig Edelstein aufgesucht, was sich von Kirchers handschriftlichem Nachlaß in Rom
findet. Leider ist nichts dabei, was den Pindar oder überhaupt was die Musik angeht.
Ich benutze aber die Gelegenheit, die Mitteilungen Herrn Edelsteins hier zu veröffent-
lichen.
Es liegen
1. in der Biblioteca Vittorio Emanuele
a) im Fondo Gesuitico
546 Mundi subterranei über - das vollständige Druckmanuskript
1235 Oedipus Aegyptiacus - das nicht vollständige Druckmanuskript mit einem
Anhang verstreuter Blätter
1 3 3 1 Mira Kircheri in suo Itinerario exstatico
b) in den Fondi minori
F P 4 (1841) Mathematica curiosa
A V 30 (1661) Rituale ecclesiae Aegyptiacae - vollständiges, nicht mehr gut erhal-
tenes Druckmanuskript
2. in der Università Gregoriana
14 Konvolute von Briefen an und von Kircher, darunter Entwürfe und Notizen
Kirchers. (Vielleicht sind darunter die Epistolarum 12 Tomi in Folio, die Georgius de
Sepibus in dem ältesten Katalog des Museum Kircherianum, 1678, p. 64 aufführt.)
3. in der Vaticana
Chigi S. V I 225 ein Konvolut kleiner Schriften verschiedenen Inhalts, meist an Papst
Alexander V I I . gerichtet.
Im Archivio di Stato ist nichts, in der Casanatense auch nichts, in der Angelica nur
eine Abschrift. Die Corsiniana war Herrn Edelstein nicht zugänglich. Man darf aber
die Hoffnung auf weitere Funde nicht aufgeben. Wo ist z. B. die Alypios-Handschrift
des Collegio Romano, die Kircher auf p. 540 der Musurgia erwähnt, und wo seine
ebendort erwähnte lateinische Alypios-Übersetzung, die er bei Gelegenheit zu ver-
öffentlichen gedachte, aber wohl nicht veröffentlicht hat? Dabei ist nicht zu vergessen,
was von Kirchers Sammlungen 30 Jahre nach seinem Tode Philippus Bonnani im
Prooemium des Musaeum Kircherianum (Romae 1709) schreibt: . . . quae tanto studio
et labore ad divini Numinis gloriam et Reipublicae litterariae emolumentum ille
congesserat, post obitum eius paene omnia interierunt .. . ita ut ob non modicam
rerum jacturam, quae in Musaeo antea juerant, nomine tantum retento Musaeum
ipsum desideraretur.
[21/22] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht 411
zwar folge ich, was die Tonhöhe anlangt, der Transposition von Gevaert
(und Sachs) als der bequemsten: sie setzt den Anfangston " | J " in das
hohe e' um und kommt dann ohne Vorzeichen aus. Kircher setzte " J J "
= d', Bürette und Boeckh setzten " J J " = h. Welches Problem hier liegt,
muß den Musikhistorikern überlassen bleiben. Mir genügt für die Praxis
die Bemerkung heutiger Kenner, daß „die Tonhöhe in der gefühlsmäßigen
Bewertung griechischer Melodien keine ähnliche Rolle gespielt haben kann
wie innerhalb der neueren Musik". „Einen fixierten Kammerton hatten
die Griechen nicht" 45 .
Die griechischen und die modernen Noten stimmen genau bis ein-
schließlich t6i>xtii$ und wiederum von xspawov bis zum Schluß. Aber zu
den Worten £AeAi^o[XEva xai tov alxnatav ist zwischen beiden Notenschriften
ein bemerkenswerter Unterschied. Die griechischen Noten von teijxtii-? bis
aix^atdv sind die folgenden:
Ich stelle der Deutlichkeit halber die beiden möglichen Abfolgen der
griechischen Noten untereinander und zwar a) wie sie bei Kircher ge-
druckt sind, also der Umschrift I entsprechen, b) wie sie bei der Rück-
übersetzung der modernen Noten in die antiken aussehen müßten, also
der Umschrift II entsprechen.
§ Examinatio
46 w i e Burette auf „ 3 Stellen" kommt, weiß ich nicht. E r hat nicht bemerkt, daß bei
Kircher ein einheitlicher Irrtum vorliegt, und hat sich das Problem nicht gestellt, das
w i r oben gestellt haben. N a c h ihm ist anscheinend niemand auf die Editio princeps als
alleiniges Zeugnis ernsthaft zurückgegangen - außer A . Rome, der falsche Folgerungen
gezogen hat.
47
Idem Burettus Burneius Marpurgius Forkelius rectius explicatam melodiam dederunt:
Boeckh a. O . 266.
48
U n d dies, obwohl er die Wichtigkeit richtiger Quantitäten ganz deutlich erfaßte
tempus non notae sed quantités syllabarum dabant.
[24125] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht 413
Zeile i.
e' e' d' c h e d' c' h e' d' c' h a h
XQV-ai-a cpÖQ-ixiyl 'A-JtoX-Xco-vog xai i - ojt-Xo-xcc-uuv
äg-'/og oi - a> - vwv xE-Xai-vw-mv ö'ü-iu oi ve-cpg-Xav
Das Kolon besteht metrisch aus 2 Epitriten und einer daktylischen Reihe
|— w 1— w 1— . Auch musikalisch sind es 3 Kommata.
Aber diese musikalische Gliederung folgt nicht den Metren, sondern den
Worten. Und diese Worte sind so gesetzt, daß sie jeweils mit einer Silbe
in das folgende Metrum übergreifen, also — ^ / / ^ ^—w ^ —
Die melodische Linie enthält dreimal das absteigende Tetrachord e' d' c' h,
das dritte Komma greift mit a in das nächst tiefere Tetrachord hinunter,
um mit dem schließenden h gleich wieder zurückzukehren.
49
W i r begnügen uns mit der Wortgliederung des ersten Strophenpaares. In den folgen-
den Strophen weicht die Gliederung z u m Teil ab. D a r ü b e r nachher nodi einige Worte.
50
Zeile 2 a und 2 b bilden bei Boeckh eine einzige Zeile, weil sie mehrmals in Synaphie
stehen. W i r trennen 2 a und 2 b aus praktischen G r ü n d e n . A b e r es ist unverkennbar,
daß wenigstens in Str. 1 auch W o r t l a u t und melodische Linie solche T r e n n u n g be-
günstigen. Vielleicht liegt hier ein Problem. A b e r Grundsätzliches soll hier, wie sich
versteht, gegen die Boeckhsche Zeilengliederung nicht ausgesagt werden, höchstens
dies, daß man sie nicht dogmatisieren darf.
414 Musik und Metrik [25j26]
achten haben, bei welchen Wörtern ähnlicher Aufstieg sich zeigt. Das
dritte Wort XTEOIVOV wiederholt um eine Terz höher die Schlußbewegung
von Zeile i . Beide Stellen sind ja auch metrisch verwandt: . Das
zweite und dritte Komma der zweiten Zeile setzt jeweils höher ein als
der Schluß des je vorhergehenden Gliedes. | Vielleicht ist daran zu er-
innern, daß dieselbe Regel auch für die größeren Kola (Zeichen) gilt.
Z e i l e 2 b.
e' d' c' h d' c h c <d'} d' a h a
Tag a-xoi>-ei |XEV ßa-aig dv-Xa-t-ag oq - %h
a - 5i> xXä-ia-TQov xa-te - xEu-ag" ö öe xvcoa-acov
z N v v < nnu V v
signabatur u t v . 4 ¿yriai/öpcov 6jtoxav. V g l . auch noch EXE- nach unserer Herstel-
lung. - E s muß freilich zugegeben werden, daß die Phrasierung c ' ( d ' ) d ' a f ü r
ayXatag nicht die einzig mögliche ist. M a n könnte etwa auch an c ' (c') d a denken.
[26/27] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedidit 415
Zeile 3.
c c h c d' e' d' c' h
jiei-Oov-xai ö'a-oi-öoi aa-[ia-aiv
vy- qov vco - tov al-a> - qeí, te - alg |
Das Kolon besteht metrisch aus 3 Epitriten: der erste tritt als Spondeus
auf (wie der Schluß der vorhergehenden Zeile, vielleicht also ajtovÖEiog
HEitcDv), der zweite ist vollständig, der dritte katalektisch: 1—^ 1
— . Die Wortgliederung ist nicht überall gleichartig. Das Anfangs-
wort entweder 3- oder 2-silbig, das Schlußwort 2- oder 3-silbig, so daß
folgende Einschnitte sich herausheben: entweder /—oder
— /-w l y ~ .
Der melodische Einsatz wieder höher als der Schluß der vorher-
gehenden Zeile, diesmal eine kleine Terz höher. Die melodische Linie setzt
mit dem schweren doppelten c' ein, steigt dann zur unteren Grenze des
oberen Tetrachords hinab und dann das Tetrachord in Sekundenschritten
hinauf. Also die entgegengesetzte Bewegung zu der am Anfang herr-
schenden. Das tragende Wort ist in der Strophe aoiöoi: man erinnert sich,
daß in Kolon 2 a das Wort Moiaäv den ersten starken Anstieg trug. Dann
schrittweise Rückkehr zur unteren Grenze des oberen Tetrachords.
Z e i l e 4 a.
e' d' c' c h a a g a a h a
á - yt|- ai-zó-gcov ó-jtó-Tav jipo-oi-(ií-cov
gi-jtaí-ai xa-Taa-xó-n-E-vog' xai 7019 ß i - a -
Z e i l e 4 b.
Fassung I 1 , , a hí ^ ° C h a h
Fassung I I J { c' c h a h g
djx-ßo-Xa; tev - x^i? e-Xe-Xi - ^o-|J,É-va
-tag "A-qt}S xga - /eí- ava-vEu-ÖE Ai-jráv
Die Zeile besteht metrisch aus einer daktylischen Reihe am Anfang, 2
Epitriten, und einer daktylischen Reihe am Schluß:
WW— W— W | I
Der melodische Einsatz liegt diesmal eine Quarte höher als der Schluß des
Kolon 3, so daß das ganze erste daktylische Glied als einheitliches melo-
disches Komma in Sekundenschritten von der oberen Grenze des oberen
Tetrachords bis tief in das untere zum g hinabsinken kann. Bemerkens-
wert, daß bei den beiden Doppelkürzen -av/ó- und ojió- die Melodie auf
derselben Stufe bleibt 53 . Das Wort jtQooi(xúov legt in leichtem Auf und
53
Vgl. dazu Anm. 52.
416 Musik und Metrik [27/29]
A b die Melodie als Ganzes etwas höher. Die Bewegung a h a hat ihre
Analogie in dem Schluß des Kolon 3. Wie das Wort ngooinicov | eine Se-
kunde über dem Schluß von öjtötciv einsetzt, so das Wort «nßo/.ag eine Terz
über dem Schluß von jtgooinicov. Dann aber schreitet ot|ißoXäg mit 3 großen
Sekundenschritten empor bis zur oberen Grenze des oberen Tetrachords:
einer jener Aufstiege, die innerhalb der so durchaus absteigenden Linien
besonders stark empfunden werden. Auch jetzt gehört das Wort dem-
selben Bezirk an wie vorher Moiaäv und aoiöoi. Dazu kommt hier, daß
man in dem musikalischen Terminus avaßoXr)54 die K r a f t des „Werfens"
und die Richtung des „Empor" immer hat durchhören können, te-u/tiic;
springt eine reine Quinte hinab, um dann eine neue Aufwärtsbewegung
zu beginnen. Aber hier setzt nun in ¿XeXi,to|ieva die Doppelüberlieferung
ein. Fassung I wiederholt noch einmal den Schlußton h von tevxtiis, steigt,
fällt, steigt, so daß derselbe Abschluß h a h entsteht, den wir schon aus
dem Ende von Zeile I und von Zeile 2 a kennen. Fassung I I drückt die
Doppelkürze ¿ X e - durch ein doppeltes c aus, wie auch vorher in unserem
Kolon die Doppelkürzen der ersten daktylischen Reihe auf denselben
Tonhöhen lagen. Der Abstieg c ' h a g wird an vorletzter Stelle unter-
brochen durch die Emporbewegung von a nach h mit dem Ergebnis, daß
die große Terz h g einen sehr unerwarteten Abschluß bringt 55 . Die Ent-
scheidung für eine der beiden Fassungen läßt sich hier noch nicht geben,
sondern wenn überhaupt erst aus Kolon j gewinnen.
Zeile j.
Fassung I g c'
d' c h a h a
Fassung I I c' h
-/ai tov aix-M-a-Tav xE-nau-vov oßfiv-vu-Eig
&Y - Xe - <üv dy.-u.av i-ai-vEi xaQ-öi-av
54
Vgl. v. Wilamowitz, Verskunst 1 1 1 .
55
Beim Vorsingen wehrten sich die heutigen Musiker aus ihrem Gefühl gegen diesen Ab-
schluß a h g. Er ist allerdings in der Pindarmelodie singulär. Ein ähnlicher Abschluß
aber ist im Seikilos-Lied bei eaxi tö £rjv as b ges.
[29130] Echtheit der Melodie zu Pindars Erstem Pythischen Gedicht 417
Eine richtige Umschrift gibt es nicht. Wir haben eben erkannt, daß
man für die melodische Linie über alle Umschriften seit Bürette auf die
Editio princeps zurückgehen muß.
Daß man auf Taktstriche zu verzichten hat, ist heute wohl von allen
anerkannt. Am wenigsten gewaltsam wäre noch jene Weise der Takt-
einteilung, wie Bürette sie gibt: beständiger Wechsel zwischen 3/4 und
i
U Takt 56 . Aber selbst das setzt voraus - was gar nicht wahrscheinlich ist - ,
daß eine beschwerte Anceps einer echten Longa gleich wäre. Und auch
dann wären die Taktstriche Krücken, die man lieber wegwirft 57 .
Die Quantitäten sind seltsamerweise noch nie genau genommen wor-
den, am ehesten noch bei Bürette. Bei Kircher herrscht tastende Willkür.
56
Vgl. auch G . Hermann, Handbuch der Metrik X X I I I .
s? Vgl. Abert, Die Stellung der Musik in der antiken Kultur, Die Antike II, 1926, 1 3 7 :
„Unser rhythmisches Gefühl ist durch die dreihundertjährige Tyrannis des Taktstrichs
abgestumpft worden."
418 Musik und Metrik [30j31]
2a
i oiv
¿y -
- 8i -
x6 -
xov
Xoh
Mot - oäv
xpa - ilf
xxi - a -
yXe - tpi -
vov,
pcov
2b
iSu; & - xoti - ei fiiv ß« - ai? dcy - Xa - t - a<; dp - yßc
& - 86 xXdc - la - Tpov xaT- £ - ^eu - a?" 6 xvwa-awv
£
rot - &ov - Tai 8'ä - oi - 8ol ade - jxa - oiv,
uy - p6v v « - tov al - to - psi tc - alq
4a
i a - Y?) - oi - ^6-ptov 6 - « 6 - xav upo - oi - (ii - o>v
jbi - Ttai - oi x a - T a o - %(> - (jle - vo?. xal yap ßi - a-
4b
i ¿(1 - ßo - Xi?
T<kc " A - p7]?,
Teü - x w
rpa -
4 - Xs - Xi - Co -
- av & - vsu - Öe
- va*
Xi - mov
Es bleibt keine andere Möglichkeit, als jede echte Brevis mit einer
Viertelnote, jede echte Longa mit einer Halben zu notieren. (Natürlich
bliebe es unbenommen, statt dessen Viertel und Achtel zu setzen.) Denn
gewiß gehört Pindar nicht zu den Späteren, auf die man des Dionys von
Halikarnaß Tadel beziehen muß, daß sie nicht nach den Silbenwerten die
Dauer der Töne bemessen, sondern umgekehrt: oü yäg taig ouXXaßcng
öuieuiKivovai toi>s XQ°vovs, aXXa 1015 xeövoig Tag cruXXaßäg (De comp. verb.
c. i r , p. 43 U-R). Hingegen ist, wie gesagt, nicht sicher, ob der Zeitwert
einer beschwerten Anceps dem einer echten Longa gleich ist, ob also z. B.
der Epitrit J J J J oder nicht vielmehr etwa J J J J , gemessen werden
muß58. Wir haben uns hier für das zweite, weniger einfache entschieden,
weil so das Gefüge deutlicher herauskommt. Wer will, mag aber J. durch
J ersetzen.
Hier und da möchte man die Längen über den Umfang von 2 XQÖvoi
dehnen: am Ende der Zeilen und in den Spondeen die anscheinend für
einen Epitrit stehen, also vermutlich den Umfang eines ajiovöeiog m-ei^cov
haben. Ob man diese länger ausgehaltenen Töne mit '/* oder V1 Noten
wiedergeben oder mit Fermatenzeichen versehen soll, ist vielleicht nicht
sehr wichtig und jedenfalls nicht sicher zu entscheiden. Der Diditer-
Didaskalos lehrte seinen Chor einen bestimmten Vortrag auch in solchen
Dingen. Aber spätere Aufführungen waren darin und gewiß in manchen
andern Dingen frei. |
Die Prüfung der Melodie hat gewisse Zusammenhänge mit dem Wort-
sinn ahnen lassen, dergleichen wir fordern müssen besonders auf Grund
der antiken Ethoslehre59. Rhythmen und Melodien, sagt Aristoteles in
der Politik (1340 a 18), enthalten Abbildungen | von Zorn und Sanft-
mut, von Mannheit und Maß und dem Entgegengesetzten (d. i. Feigheit
und Zuchtlosigkeit) und weiter von den übrigen ethischen Tatbeständen
(twv aXXwv fi^wcav). Das ist eine Lehre, die letztlich auf Dämon zurück-
geht, also noch in Pindars eigene Zeit. Wenn nun nach den aristotelischen
Problemen (919 b 26 ff.) schon das Melos für sich allein, ohne die Ver-
bindung mit dem Wort, Ethos hat, ein Ethos das sich in den Rhythmen
und in der Ordnung der hohen und tiefen Töne ausdrückt, so müssen sich
in einem pindarischen Werk das Ethos des dichterischen Worts und das
Ethos der Melodie entsprochen haben, vielmehr sie müssen zuletzt eins
gewesen sein. Denn sie sind — griechisch gedacht - beide gemeinsam
Die Festigkeit des Anfangs empfindet man besonders in Str. x (der Ge-
horsam), Ant. 2 (so soll es sein), Ant. 3 (so und nicht anders), Str. 4 (und
fürwahr) und wohl auch in den beiden schweren dreisilbigen Adjektiven
des fünften Strophenpaares. Der K r a f t des Emporstiegs in der Zeilen-
mitte scheinen außer dem Musikwort der Str. 1 besonders zu entsprechen
das Erheben des Rückens in Ant. 1 und der lebhaft wiederholte Wunsch in
Ant. 2. Ferner die Wörter des Strebens in Str. 3 und Ant. 5, aber auch
der Führer in Ant. 4. Stark betont sind oürig 'EXW|vcov in Ant. 3 und
'Hpcodfiiöäv in Str. 4. Den Abstieg des Schlusses nach solchem Emporstieg
meint man besonders zu empfinden in Ant. 2 (das fügsame d v S a v E i v ) , Str. 3
(IXitonai), Str. 5 (EXjuöag). Wohl auch in Ant. 5 (itagnivcov) und vielleicht in
Str. 4 (exvovos).
Z e i l e 4 a wird zum größten Teil eingenommen von dem langen
daktylischen Glied, das in ununterbrochenen Stufenschritten von e' bis g
hinabsinkt. Dieser musikalischen Figur entsprechen auf besonders große
Art
Ant. 1: putaiai xatacrxonEvog vom Sturm der Töne erfaßt
65 S. A n m . 3.
424 Musik und Metrik [37/39]
In Str. 2 verschiebt sich der Einschnitt um eine Silbe unter dem Zwang
des Eigennamens xeïvo ô' 'Aqpaiatoio xqouvoùç eqxexôv. Abweichend folgen
in Ant. 3 die Einschnitte den Metren.
Den starken Aufstieg legt Str. i in das bildhaft mächtige Wort aixfia-
xav, in der zweiten Zeilenhälfte erlischt der Blitz. Ant. i : im Aufstieg „der
Lanzen Schärfe", im Abstieg „erfreut (erweicht, erwärmt) das Herz". Die
Stelle des stärksten Aufstiegs nimmt ferner ein in Str. 2 Hephaistos, in
Ant. 2 der Gründer, in Str. 3 die weite Wurfbewegung, in Str. 4 die Dorer
und ihr Erobern, in Ant. 4 die Bitte an Zeus „nicke, gewähre" (wobei
man an das mächtige Nicken des Zeus in der Ilias A 528 denken muß). In
Str. 5 ist der Komparativ "/QÉaacov so bestimmend wie in Zeile 2 a der-
selben Strophe (xeîcov. —
Wie oft mit diesem Versuch, im Melos den Gehalt der Worte auf-
zufinden, die Grenze des noch Erkennbaren berührt wurde, vielleicht auch
überschritten wurde, braucht nicht erst gesagt zu werden. An der Not-
wendigkeit des Versuchs wird man darum nicht zweifeln. Und nun läßt
sich das, was sich hier im einzelnen zeigte, auch im großen zeigen.
Daß der Anfang des Hymnus in Gesangnoten, der spätere Teil in
Instrumentalnoten notiert ist, hat Anstoß erregt66. Inzwischen sind die
delphischen Hymnen gefunden worden, von denen der eine mit Vokal-
noten, der andere mit Instrumentalnoten gesetzt ist. Der Euripides-
papyrus ist gefunden worden, der über dem Text Vokalnoten, zwischen
den einzelnen Kommata des Textes anscheinend Instrumentalnoten hat67.
Zuletzt hat der Berliner Notenpapyrus über den Texten Vokalnoten, am
Schlüsse der Texte Instrumentalnoten gebracht68. Das sind in drei Funden
drei verschiedene Verwendungen der beiden Notensysteme. Bei Kircher
steht die vierte69. Vielleicht werden noch andere Verbindungen zutage
kommen. |
Das angebliche Unechtheitsargument fällt aber nicht nur als beweis-
unkräftig hin, es verwandelt sich ins Gegenteil, sobald man erkennt, daß
Kircher die Uberlieferung, die er gibt, gar nicht verstanden hat.
66
F ü r Westphal, Griechische Metrik, 2. Aufl. 1 8 6 8 , 624 das einzige Argument, das ihm
gegen die Echtheit zu sprechen schien. J a n , Musici Graeci, 1 8 9 5 , 4 2 6 hat das übernom-
men, hat es dann mit dem Hinweis auf die delphischen H y m n e n selbst widerlegt - um
es im Supplementum ( 1 8 9 9 ) wieder aufzuführen. D a ß in dieser zugänglichsten S a m m -
lung der Melodiarum Reliquiae Pindar fehlt, hat vielleicht mehr als vieles andere die
herrschende Meinung bestimmt. In einer künftigen Sammlung (die sehr anders aus-
sehen müßte!) w i r d Pindar als frühstes und wichtigstes Monument der griechischen
Musik an der Spitze stehen.
67
V g l . O . Crusius, Die delphischen H y m n e n , 1 8 9 4 , 1 4 7 f ï . H . Weil, Etudes de littérature
et de rhythmique grecques ( 1 9 0 2 ) 1 6 0 ff.
68
Schubart, E i n griechischer Papyrus mit Musiknoten S B Berl. 1 9 1 8 , 7 6 3 ff. Abert, Ges.
Sdir. 59 ff. Wagner, D e r Berliner Notenpapyrus, Philologus N . F . 3 1 , 1 9 2 1 , 2 5 6 ff.
69
Eine ganz absonderliche Deutung des von Kircher mitgeteilten Tatbestandes gibt
Vincent in Notices et Extraits des Manuscrits de la Bibliothèque du R o y X V I 2, 1 8 4 7 ,
1 5 3 ® . : er läßt Instrumental- und Gesangsmelodie gleichzeitig erklingen.
426 Musik und Metrik [40]
gehören würde, wenn die Voraussetzung sich v o r dem Urteil der Musiktheoretiker be-
währen sollte. Westphal hat behauptet (a. O . 6 3 2 f.), daß die Tonlage der Melodie un-
gewöhnlich hodi sei. E r hat aber zugleich gesehen, daß dieser Tatbestand vorzüglich
zur Interpretation des Textes stimmt: Pythien I muß nach den Worten xoivavtav
HaXdaxàv icaiôœv ô a g o a i ôéxovxai ( V 97 f.) allerdings für einen Knabenchor be-
stimmt gewesen sein. S o auch O . Schroeder, A p p e n d i x zur Editio maior, 1 9 2 3 , 5 1 4 .
75
Christ berief sich dabei auf die Wahrnehmungen seines Schülers Röckl : z. B. 4. A u f -
lage 1 8 2 A n m . 7. Hoffentlich verschwindet diese Anmerkung endlich aus einer künfti-
gen A u f l a g e des Schmid-Stählin.
76
A . Rome sagt von diesen: „il a distribué les longuel et les brèves dans une mesure en
428 Musik und Metrik [43/44]
3. d-vri-ai-xo-gcov o-jto-xav
e d c c h a a g
4- -XT11'5 E-Xs-Xi-^o-ni-va
h c c h a h g
1. und 3. sind darin verwandt, daß die melodische Bewegung von e' bis a
oder g in Sekundenschritten abwärts geht. Innerhalb dieser Gleichartig-
keit sind in der Behandlung der Doppelkürzen 1. und 3. deutlich Gegen-
sätze: In 1. wird in den beiden Doppelkürzen je ein (großer) Sekunden-
schritt abwärts gemacht (e' d' h a). In 3. wird in | beiden Doppel-
kürzen je derselbe Ton wiederholt (c' c a a). Diese beiden grund-
sätzlichen Arten, die Doppelkürzen zu behandeln, sind in Beispiel 2.
gleichsam gekreuzt: das erste Doppelkürzenpaar steigt in einem (kleinen)
Sekundenschritt abwärts (c' h), das zweite bleibt auf dem gleichen
Ton (d' d'). In Beispiel 4. ist wieder ein anderes und doch im Grunde
sehr verwandtes Verfahren: das erste Kürzenpaar bleibt auf dem glei-
chen Ton, während das zweite einen Ganzton nun nicht hinab- sondern
hinaufsteigt. Gemeinsam ist in allen Fällen dies: Den metrischen Doppel-
kürzen entsprechen in der Melodie entweder Sekundenschritte abwärts,
seltener aufwärts (abwärts: aufwärts = 3 : 1 entsprechend dem all-
gemeinen Zug der Melodie). Oder aber es liegt auf ihnen derselbe zwei-
mal wiederholte Ton. Unverkennbar also spiegelt sich die Zusammen-
gehörigkeit der metrischen Doppelkürzen in ihrer melodischen Bindung,
die ersichtlich nicht zustande käme, wenn innerhalb des Kürzenpaares ein
größerer Sprung abwärts oder aufwärts geschähe.
C barré, suivant une loi qui m'échappe." A b e r es ist anscheinend kein Gesetz darin,
und Kircher hat mit seiner Willkür erreicht, was er wollte: er hat die scheinbare
Gleichheit dessen hergestellt, w a s er Strophe und Gegenstrophe nennt. V g l . oben S. 40.
77
H i e r ist Boeckh mit einer Beobachtung vorangegangen. S. oben S. 4 1 4 A n m . 52.
[44 ¡45] Echtheit der M e l o d i e zu P i n d a r s E r s t e m Pythischen G e d i c h t 429
Aber darüber hinaus hat man den Eindruck, als ob das „daktylische"
Langglied als solches melodisch zusammengehalten wird, besonders deut-
lich in Zeile 4 a, w o ayr\aiyoQ(S)v önbrav in ungebrochener Linie, nur mit den
Doppelkürzen auf demselben T o n verweilend, v o n e' zu g hinabsteigt.
Ferner ist über die Cäsuren, besonders in den epitritischen Gliedern,
einiges Wichtige zu beobachten. Schon früher (S. 413) wurde gezeigt, daß
Zeile 1 melodisch aus drei Figuren besteht; daß diese Figuren sich der
Wortgliederung anpassen, die in den meisten Strophen die gleiche ist
(S. 420 f.); daß diese zugleich sprachliche und melodische Gliederung von
der metrischen abweicht; daß aber diese Abweichung eine Regel erkennen
läßt: gegenüber den metrischen Gliederungsstellen sind die sprachlich-
melodischen je um eine Silbe verschoben. Es scheinen also „Diäresen" ver-
mieden und „Cäsuren" erstrebt zu sein.
metrisch —^ |—^
sprachlich-melodisch —^ /w w w —
Ähnliches ist nodi an anderen Stellen zu beobachten.
Zeile 2 a gliedert sich metrisch —w 1— —
sprachlich-melodisch — / /ww —
(vgl. S. 413 und 421). N u r in zwei Strophen unter zehn weicht die sprach-
liche Gliederung etwas ab: Str. 3 V . 42 xai aocpoi xai /egal ßia(xai) hat den
zweiten Einschnitt hinter der sechsten statt hinter der fünften Silbe.
Str. 4 V . 68 alaav datoig xal ßaailEÜ(aiv) hat die sonst vermiedene Diärese.
Zeile 4 b:
metrisch —w [—
sprachlich-melodisch —w — / viermal
oder
(melodisch weniger ansprechend) — / ^ / w — w w fünfmal.
Einmal ( V . 50) beim Eigennamen — ^ w/w — w w —
78 V . 29 ist zu gliedern u n d z u i n t e r p u n g i e r e n
Eir) Zev, t i v eir) &v5öiveiv,
eher als eir], Zeü t i v eir) avödvEiv,
auch g e m ä ß d e m , w a s nach W a c k e r n a g e l , I d g . Forsch. I, 1892, 424 H . F r a n k e l , D e r
K a l l i m a c h i s c h e u n d der H o m e r i s c h e H e x a m e t e r , N G G 1926, 19 über die E n k l i s e des
Vokativs gesagt hat.
430 Musik und Metrik (45¡46]
auf ihren drei akuierten Silben zugleich die melodischen Gipfel, so daß je
vor- und nachher ein tieferer Ton steht. Das ist ein typisches Beispiel für
viele (Typus i). Was die zirkumflektierten Silben anlangt, so ist o f t zwi-
schen ihnen und einer akuierten kein merkbarer Unterschied. Beispiele wie
f f a g b £ b
xlv-xov xai-öct 1,68 und ev-M-gav <J>oi-ßov 2,24 unterscheiden sich anschei-
c c e c e' b e' f' e'
nend nicht von t|-öe Bax-xou 2,94 oder "/.Qv-as-o-xai-xav 2,22. Wir redinen
sie also zu Typus 1. In anderen Fällen drückt sich in der Melodie die
Zweigipfligkeit einer Zirkumflexsilbe derart aus, daß sie höher liegt als
die vorhergehende, und daß innerhalb ihrer sich der Abstieg vollzieht
c d c d es f es
(Typus 2): |xav-Tei-ei-ov <05 El-ei-Xeg 1,80.
Noch nicht weit ab von diesen Typen sind Beispiele, in denen die
Akzentsilbe höher als die vorhergehende liegt, dann aber die Linie auf
f as as g f as as g g g
gleicher Höhe bleibt (Typus 3): 'Aft-fti-öa la-yüv 1,65 at-o-Xov e-Xw-toiv
b cT d' d
1,86 a-^a 5"-a-XE^ 2,76.
Es gibt ferner eine Fülle von Beispielen dafür, daß die akuierte Silbe
nur höher ist als die ihr folgende, während sie sich mit der (oder den)
es es d c
vorhergehenden auf der gleichen Höhe hält (Typus 4): au-vo-nai-n-ov 1,13
g g as as es g g g es f f f des des
XQv-0E-o-x6-|iav 1,18 IlaQ-vaa-ai-öog 1.20 e-ju-vio as-Toa 1,28. Entsprechend
d'd' d' c] as
bei den zirkumflektierten Silben (Typus 5): iva $oi-oi-ßov 1,14. [
Es gibt sogar einige, wenn auch wenige Beispiele dafür, daß die
Akzentsilbe tiefer liegt als die vorhergehende und höher als die folgende
des' c' h h d' des c' h as
(Typus 6): (pE-Q6-jtA.oi-o 1,37 xi-fta-Qig üpi-voi-atv 1,61.
Nicht selten liegt die Akzentsilbe auf derselben Höhe wie beide sie
umgebenden (Typus 7). Dabei scheint es keinen Unterschied zu machen,
ob wir (nach der byzantinischen Regel) einen A k u t oder einen Gravis auf
g
Aber gehen w i r die Akzente der ersten Strophe durch, um sie mit den
delphischen Hymnen und (aushilfsweise) mit Mesomedes zu vergleichen.
Z e i l e i : xgvaèa ist Typus 4, also häufig, cpógniv^ und 'AjtôXXœvoç
sind T y p u s 6, also in Delph. selten, häufiger bei Mes. Bei Pindar muß der
T y p u s wegen der grundsätzlich absteigenden Linie häufig sein, xoà83
ìojtÀoxà^atv ist Typus 8, kommt also in Delph. überhaupt nicht vor, wohl
bei Mes.: erster starker Widerspruch.
Z e i l e 2 a entspricht melodisch an allen drei Akzentstellen dem,
was nach dem Wortakzent zu erwarten ist. am- und v.xé- gehören dem
reinen T y p u s 1 an. Sogar dies, daß die Akutsilbe um eine Sekunde höher
steht als die unmittelbar vorhergehende Zirkumflexsilbe (-aäv xté-), hat
eine Entsprechung in Delph. 1 , 7 2 . |
ist selten. Wir drucken hier die erste Strophe ab und unterstreichen die
Beispiele des Typus i (zu dem wir jetzt ohne Zögern auch die Fälle
rechnen, wenn die Hochtonsilbe die erste einer Zeile ist) dreimal, die des
Typus 3 und 4 zweimal, die des Typus 6 einmal. Typus 8 wird durch ein
Kreuz markiert. Strophe 1 hat also drei Fälle stärksten Widerspruchs,
acht85 Fälle stärkster Ubereinstimmung, sechs Fälle mit Doppelstrich,
sechs Fälle mit einfachem Strich. (Es kommt wenig darauf an, daß man
über die Zuordnung einzelner Fälle streiten kann.)
XQuaéa tpÓQjuvI 'AitóXXoovog xaì lojiXoxà|xoov
aiivöixov Moiaàv xxéavov ' xàc; àxoiiei [lèv ßaoig
àykatag ùqxó,
85
Rechnet man die melodischen Gipfel auf xaì, piv und xaì dazu - wozu man nach
Anm. 3 wohl ein Recht hätte - , so werden es 1 1 Fälle statt 8.
84
Wolff-Petersen, Das Schicksal der Musik 33.
436 Musik und Metrik [53]
§ 10. Abschluß
Bleibt also das letzte unsicher, so ist doch mit Nachdruck zu sagen,
daß diese Unsicherheit den vorher gewonnenen Ergebnissen keinen Scha-
den tut. Bedenke man jetzt noch einmal alle Zusammenhänge, die sich
zwischen Wort, Melos und Metrum haben aufweisen lassen, so wird hier
ein einziges Mal bei Pindar etwas von jener Einheit, die man immer ge-
fordert hat, wirklich faßbar: der Einheit von gesungenem Wort, In-
strumentalbegleitung und Reigenbewegung - so viel uns auch jetzt noch
zu voller Verwirklichung fehlt. Aber man wird nun an dem antiken
Ursprung der Melodie nicht mehr zweifeln. Mehr als das: man wird auch
an dem pindarischen Ursprung kaum noch zweifeln können. Denn nur
dem Dichter selbst war jene Einheit so sehr als ursprüngliche Konzeption
gegeben, daß sie noch uns vielfach fühlbar und hier und da faßbar wird.
Hätte ein späterer Grieche die Melodie zu Pindars Text gemacht, so
würde sie weder mit den Worten noch mit dem Metrum dermaßen zur
Einheit zusammengehen. Selbst wir — das ist wohl nicht zu viel gesagt -
müßten die Brüche spüren.
Pindar oder Kircher?
1935
1. Daß Kircher den Pindartext aus der Ausgabe des Er. Schmid (1616)
nimmt, hat A . Rome zuerst ausgesprochen und damit das alte Urteil
„Fälschung" neu zu begründen gesucht. Da ich dieselbe Beobachtung ge-
3
Ber. 20 habe ich, wie das wissenschaftliche Pflicht schien, beide Möglichkeiten gleich-
mäßig erwogen. Z u welcher ich mehr neige, kann nicht fraglich sein und sage ich jetzt
ausdrücklich. Wenn Kaiinka mich an die erste „glauben" läßt, so widerlegt ihn der
Satz, den er aus meiner Abhandlung ausschreibt.
[465] Pindar oder Kirdier? 439
dem er auf den unglücklichen Gedanken verfallen war, daß die Vokal-
und die Instrumentalnoten sich antistrophisch entsprächen, war seine
„Gegenstrophe" schon bei aßewtieig um 7 Silben oder Noten zu lang, und
er mußte durch mühsame Arithmetik die Gleichheit herstellen. Bis JtvQog
kamen noch 6, bis zum Ende der Strophe gar 30 Silben hinzu, d. h. das
ausgetüftelte Responsionssystem wäre völlig in die Brüche gegangen. Der
Selbsterhaltungstrieb des Systems also hielt ihn bei der willkommenen
Täuschung fest, daß mit oßEvvwi; die „Gegenstrophe" zu Ende sei, und
ermächtigte ihn zu dem, was uns heute so arg scheint: zur Preisgabe der
Noten hinter aßsvviiEig.
Gesetzt also, Kircher hat in S. Salvatore M vor Augen gehabt, so
schrieb er die Noten mit darunterstehendem Text ab - den Text vielleicht
unvollständig und gewiß sehr fehlerhaft - , zog in seiner römischen
Studierstube S heran und entnahm daraus, als er sein Druckmanuskript
herstellte, den Text (oder Teile des Textes) und die Ubersetzung4. Die
überschüssigen Noten ließ er unter den Tisch fallen5. Daß er so verfuhr,
ist, wenn auch schändlich, so doch rationell. Aber haben die, die ihn zum
Erfinder der Noten stempeln, sich klargemacht, welche Unbegreiflichkeit
sie ihm zumuten? Wenn er Noten und Text in M fand, so brauchte es für
seinen Zweck nicht mehr, als daß er den Text in S oberflächlich identi-
fizierte und soweit nötig ausschrieb. Wenn er die Noten erfand, so mußte
er den Text, den er sich dazu aussuchte, doch erst einmal genau ansehen.
Daß er nicht umblätterte, wenn die Seite mit oßgvvijeig ohne Punkt - und
mit dem Kustos devotem! - abschloß, ist im ersten Fall für unsereinen schwer
begreiflich, im zweiten ist es zehnmal unbegreiflicher. So beweist die Art,
wie S benutzt ist, in der Echtheitsfrage entweder nichts, oder sie sagt aus,
daß die Noten nicht auf Grund von S gefälscht sind.
2. Es ist längst gesagt, daß der Wechsel von Instrumental- und Vokal-
noten sonst so nicht vorkommt. Aber auch daß es ganz unerlaubt ist,
daraus auf Unechtheit zu schließen. Wenn man in unserem mehr als
dürftigen Vorrat antiker Notenbeispiele Einzigartiges für unecht erklären
will, so athetiere man den Orestes-Papyrus und den Berliner Noten-
papyrus (Ber. 39). Daß die Pindarnoten „offenbar" von demselben
stammen, der die unsinnige Teilung in Strophe und Gegenstrophe erfun-
den hat, ist eine Behauptung ohne Beweis. „Offenbar" kann sich Kircher
die unsinnige Responsion gerade darum ausgedacht haben, weil er in M
die beiden Notensysteme hintereinander angewendet fand. Er machte sich
ganz ohne Not Gedanken darüber: wie verhält sich das Vokal- zu dem
4 In der Biblioteca Vittorio Emmanuele ist, wie W. Kranz für mich feststellte, ein
Exemplar von S, das aus dem Collegio Romano stammt. Eintragungen hat es nicht.
5 Will man glauben, daß er die Möglichkeit gehabt hätte, M und S unmittelbar neben-
einander zu legen - sei es, daß er in Messina ein Exemplar von S auftrieb, oder daß
er M in seinem Gepäck mit nach Rom nahm - , so wird die Sadie noch einfacher. Er
hätte dann die Noten überhaupt nur bis aßEWÜei; abgeschrieben.
440 Musik und Metrik [4651466]
Instrumentalstück? und gab auf die falsch gestellte Frage die einfachste
aber verkehrteste Antwort: sie sind einander gleich, d. h. sie sind anti-
strophisch. Zu dieser Illusion verhalf ihm, in ihr erhielt ihn das flüchtig
betrachtete Seitenbild von S mit dem Schluß bei aßevvveig.
3. In der Bemerkung xöpog eig xuftagav beruht der falsche Akzent auf
das falsche u auf Kirchers lateinischer Aussprache und Schreibart. Den
auffälligen Gebrauch von elg, also ein Syntaktikum, mit diesen Ortho-
graphicis auf dieselbe Stufe zu stellen, liegt keine methodische Nötigung
vor. Warum soll man eigentlich eig als Kirchers Ubersetzungswort für das
lateinische ad ansehen, wo ihm doch, grade weil er wenig Griechisch
konnte, itgög näher gelegen haben wird, so wie es heutigen Schülern näher
liegt? Nicht aus einem Übersetzungsfehler des 17. Jahrhunderts, sondern
aus echtem, spätantikem Sprachgebrauch ist elg für itgög zu begreifen.
XOQ05 eis xift&eav hat eine genaue Parallele in dem eg netag öe xoücpa ßaivcov
des epidaurischen Pan-Hymnus, den Maas etwa ins vierte vorchristliche
Jahrhundert setzt6. Latte aber hat gerade in diesem eg für Jigog ein Zeichen
spätantiken Ursprungs aufgewiesen neben anderen sprachlichen und sach-
lichen Indizien7. So wird xogog elg xifragav spätes, echtes Griechisch weit
eher als modernes Übersetzergriediisch sein. Aber angenommen selbst,
die drei Worte seien von Kircher, so wäre die Unechtheit der Musik
immer noch nicht bewiesen. Denn sie stehen nur in Abdruck B, nicht auch
in A (Ber. 18 f.). Es wäre also gar nichts Erstaunliches, wenn sie Zusatz
des Herausgebers wären. Sie wirklich dafür zu erklären hindert vor allem
eins: der Gebrauch von £ig. So muß der Verteidiger der Echtheit für diesen
Hinweis von Maas besonders dankbar sein.
4. ayXaiag schreibt und mißt Kircher dreisilbig. Daß dieser Fehler auf
der lateinischen Aussprache Aglaja beruhe, ist allenfalls möglich. Selbst
damit wäre die Unechtheit des Ganzen nicht bewiesen. Denn gesetzt,
Kircher fand in M cr/Xaiag mit 4 Noten, so lag ihm, dem lateinisch Reden-
den, vielleicht die dreisilbige Aussprache nahe, und er ließ eine Note von
den vieren unter den Tisch fallen. Freilich notwendig oder auch nur
wahrscheinlich ist das nicht. Wenn das poetische Wort gelegentlich in
Prosa vorkommt, bei Xenophon, Aelian, Julian, Themistios, so drucken
unsre Ausgaben fast immer ein viersilbiges äylata. Ebenso druckt man bei
den Mythographen den Charitennamen. Selbst dem attischen Kriegsschiff
ATAAIA gab Boeckh und gibt jetzt Kircher (JG. II III ed. min. 2, 1
Nr. 1622 1. 597) die beiden Pünktchen über dem Iota. Aber im Ernst:
hat das 4. Jahrhundert, hat die Kaiserzeit das poetische Wort in der Prosa
6
P. Maas, Epidaurische H y m n e n (SchrGesKönigsbg. 1 9 3 3 , 1 3 0 ) .
7
G G A . 1 9 3 4 , 408. Nebenher: im M e t e r - H y m n u s scheint mir richtig
keqavvdv '¿ßalle x a l x a tunjtav' £Xä|ißave,
nexgag ÖLegriaae y.ai tu. tiiujtov' ¿Xd^ßavE.
D a steht das orgiastische Paukenschlagen für den wiederholten Donner - bezeichnend
f ü r diesen Stil, der Glätte mit Bombast vereint. M a a s 1 4 1 verkennt ihn seltsam, wenn
er archaische Prosa vergleicht. Antoninische Plastik heranzuziehen wäre richtiger.
[4661467] Pindar oder Kirdier? 441
drei- oder viersilbig gesprochen? Niemand weiß das. Meist wird man dodi
wohl àyXata gesagt haben ûç ôixaia, 'Arrivata. Die Schrift jedenfalls unter-
schied das nie. Und so konnte irgendein Abschreiber 500 oder auch
1500 Jahre vor Kircher auf die natürlichste Weise eine Note weglassen,
weil er die vier Zeichen über dem scheinbar dreisilbigen Wort für ein
Versehen hielt8. Haplographie mochte hinzukommen: Boeckh hat ja
©r<r)M ergänzt.
„Fälschung" aber wird gerade die unwahrscheinlichste Hypothese sein.
Denn wenn Kircher die Noten zu dem Text von S fälschen wollte, so fand
er dort ay^ata und darüber das metrische Schema, das die Viersilbigkeit
garantierte. Er hätte also vier Noten erfinden müssen9. Wenn ihm dabei |
(was angesichts der ^Etäßaaig elç äXXo yixoç wenig glaublich ist) der
lateinische Name Aglaja die Dreisilbigkeit aufdrängen wollte, so mußte
der Blick auf S ihn hindern, sich diesem Einfall zu beugen. Mithin ist
sehr wahrscheinlich, daß die Dreisilbigkeit ihm gegeben war, als er S
aufschlug. Dann aber hat M existiert und spricht gerade das dreisilbige
âyXaia für die Echtheit der Melodie.
j . Daß „ein Pindartext mit alten Noten sich bis in die Mitte des
17. Jahrhunderts im Westen erhalten habe, um dann spurlos zu ver-
schwinden", ist allerdings nicht nur unwahrscheinlich: es ist unmöglich
- wenn man nämlich an eine Pindarhandschrift denkt. Als Musikprobe
aber in einem antiken Musiktraktat kann die Pindarstrophe gestanden
haben - etwa wie die Mesomedes-Noten hinter dem Traktat des Bakcheios
erhalten sind. Wer will behaupten, daß es so etwas nicht gegeben haben
könne, in einem Kloster, das sich um Musikpflege und Musikhandschriften
besonders eifrig bemühte10?
6. Wenn Kircher aus einer Handschrift desselben Klosters 1V2 Hexa-
meter des Gregor von Nazianz mit einem Notensystem von acht Linien
veröffentlicht, so gibt weder der Text noch das Notensystem noch die
Verbindung beider Anlaß, von Fälschung zu reden. Kircher hat die
griechischen Worte nicht verstanden (denn im Druck sind sie unsinnig
verstümmelt) und von ihrer Herkunft vermutlich nichts geahnt (er sagt
mit keinem Wort, daß sie von Gregor sind). Es ist also durchaus un-
glaublich, daß er sich gerade diese Worte ausgesucht hätte, um die Noten
8
Also keineswegs rufe ich den Zufall zu Hilfe, wie Kaiinka 962 rügt.
9
Rome 346 sieht sich zu der Folgerung genötigt, Kircher habe vor sich gehabt „non
pas le texte imprimé de Schmid (où la scansion se trouve juste au-dessus) mais une
copie exécutée à la hâte par un aide." Darin liegt das Eingeständnis: aus S + Kirchers
Fälschertrieb ist der Tatbestand nicht zu erklären. Wohl aber erklärt er sich, wenn
dem Kircher außer S noch etwas anderes gegeben war, nämlich M.
10
Zu dem Ber. 13 Gesagten füge ich hinzu, daß der cod. Gr. 154 von S. Salvatore eben
die Papadike ist, aus der O. Fleischer, Die spätgriech. Tonschrift, 1904, das byzanti-
nische Notensystem wiederhergestellt hat. Für Fleischer ist übrigens Kircher trotz
aller Einwände „der erste abendländische Gelehrte, der sich etwas eingehender mit
diesem verwickelten Zeichensystem beschäftigt hat".
442 Musik und Metrik [467/468]
dazu zu erfinden. Wohl aber ist Gregor einer der großen Kirchenheiligen
der Basilianer. Also der Text paßt für S. Salvatore so gut, wie er für
Kircher schlecht paßt. Und die Melodie? Gewiß ist der Hymnus des
Gregor „nie komponiert gewesen" - nämlich als Ganzes. Aber daß gerade
der Anruf üae^Eviri ¡isva -/enge in der Liturgie der Basilianer vorkam,
ist doch wohl nicht unmöglich 11 . Oder wenn sich das bei einer genaueren
Kenntnis des Basilianerritus, die ich mir nicht verschaffen konnte, doch
als unmöglich herausstellen sollte, so bleibt die Möglichkeit, daß der
„Manuscriptus hymnorum Über" ein nichtliturgischer Musiktraktat jenes
Klosters war.
Und nun die Noten. „Ein achtzeiliges Notensystem aus einer der
Reform Guidos von Arezzo lange vorhergehenden Zeit!" ruft Müller-
Blattau entsetzt aus. Ich muß ihn auf die Spezialliteratur seines Faches ver-
weisen: auf das was H. Riemann, Studien zur Geschichte der Notenschrift,
1878, 151 ff., Hans Müller, Hucbalds echte und unechte Schriften über
Musik, 1884, 61 ff. und Joh. Wolf, Handbuch der Notationskunde I 1913,
52 ff., II 1919, 51 ff., 248 f. über Notensysteme gerade „vor Guido", aber
auch neben und nach Guido, darlegen, wo nur die Linien als Abbilder
der Saiten etwas bedeuten (oder, was auf dasselbe herauskommt, die
Räume über den Linien), nicht aber wie | in dem abstrakteren sog. Guido-
nischen System die Linien und die Zwischenräume. Es gibt da eine ganze
Reihe unter sich wieder sehr verschiedener Systeme, die vielleicht alle
keine weite Verbreitung hatten, die aber die Echtheit der Noten zu
IlaQfreviii durchaus möglich erscheinen lassen. H.Müller a. O. 74: „ . . . des-
gleichen werden die von P. Athanasius Kircher . . . mitgeteilten Beispiele12
verständlich und glaubwürdig." So ist gegen die Echtheit dieses Noten-
systems mit einem Ausrufungszeichen denn doch nicht anzukommen 13 .
7. Uber Kircher selbst wurde Ber. §§ 2 und 3 einiges mitgeteilt, was
immerhin Berücksichtigung verdient. Maas begnügt sich, die alten Vor-
würfe gegen den Mann zu wiederholen. Aber vielleicht könnte er sich
darauf berufen, alles was man zum Verständnis Kirchers sage sei wertlos,
solange Ermans Vorwürfe in der Allgemeinen Deutschen Biographie nicht
entkräftet sind. Es sind ihrer zwei - und so müssen wir nach der
Notationskunde auch die Koptologie berühren14.
11 In der Liturgie der Römischen Kirche gibt es solche Stücke aus hexametrischen und
distichischen Gedichten.
12 Es ist in Wahrheit nur e i n Beispiel. Müller spricht von mehreren, weil Kircher im
Anschluß an IlaßdE«ir| die verwandten Notenproben aus Galileos „ D i a l o g o " wieder-
holt.
13 „ . . . da überhaupt der Ursprung des Linien-Systems ganz im, Dunkel, läßt sidi daraus
kein Argument gegen Kircher ziehen", schreibt mir J. Handschin (Basel).
14 Ich habe den Ägyptologen und Koptologen Crum, Kees, C . Schmidt, H . Sdiaefer für
ihre Mitteilungen zu danken, v o r allem aber Georg Steindorff, der auf meine Fragen
und Einwände in ausführlichen Briefen einging. Aus ihnen werde ich einige Sätze
wörtlich anführen.
f4681469] Pindar oder Kirdier? 443
Erster Vorwurf: „Um den Lesern der Lingua Aegyptiaca doch etwas
bieten zu können, was seinen Versprechungen entspricht, greift er (Kircher)
zu Fälschungen. So schiebt er zwischen die koptischen Tiernamen ein
selbsterfundenes Wort mends ,Bock' ein, um daraus den Namen der
Stadt Mendes zu erklären." Man braudit nicht Aegyptologe zu sein, um
zu erkennen und mit aller Ehrerbietung, die dem Meister der Aegyptologie
gebührt, auch auszusprechen, daß hier das meiste unrichtig oder halb-
richtig ist. Kircher bot seinen Lesern nicht nur etwas, sondern sehr viel,
nämlich eine koptische Grammatik und zwei koptisch-arabische Glossare
mit seiner lateinischen Übersetzung, zusammen fast 500 Seiten unver-
öffentlichten Materials, dazu 100 Seiten eigener Abhandlungen. Und er
wurde damit immerhin „der Begründer der koptischen Sprachwissenschaft
in Europa" (L. Stern, Kopt. Gramm., 1880, 3). Das Wort mends hat er
nicht erfunden, um den Städtenamen zu erklären. Wort und Erklärung
stehen bei Herodot 2, 46 und dann in den antiken Lexicis. Was hat es
also mit jener „Fälschung" auf sich? Kircher fand in seinem koptisch-
arabischen Glossar unter den Tiernamen pisosoy „hircus" und fügte da-
hinter pimends „hircus, caper" ein, d. h. das altägyptische Wort in
koptischen Buchstaben mit dem koptischen Artikel pi. Ein doppelter
Frevel heute, wo sich die Pflicht, das Material rein vorzulegen, von selbst
versteht und die Vermengung von Koptisch und Ägyptisch schon einem
ersten Semester horribel vorkommt. Kirdier war kein philologischer Edi-
tor im heutigen Sinne. Und die Identität von Koptisch und Ägyptisch
meinte er gerade im 5. Kapitel seines Prodromus Coptus (1636) bewiesen
zu haben. Das Buch, von dem wir reden, nennt er ausdrücklich „Lingua
Aegyptiaca restituta", die koptische Kolumne seiner Glossare überschreibt
er „Aegyptia". So hat er sich in den Abhandlungen seines Supplementum
nirgends gescheut, altägyptische Wörter, die er bei Griechen und Römern
fand, mit koptischen Buchstaben zu transkribieren. Wenn er also einige
Glossen einfügte von der Art, die | Partheys Vocabularium coptico-lati-
num (1844) i n besonderen Anhängen sammelt, so war ihm das keine
Fälschung, sondern die rechtmäßigste Vervollständigung des „ägypti-
schen" Wortbestandes15.
Zweiter Vorwurf: „So gibt er sogar eine ausführliche Liste von kop-
tischen Werken, die sich in Kairo befinden sollen, und die wunderbarer-
weise alle die Religion, die Geschichte und die Astronomie des alten
Ägypten behandeln. Stirnlos lügt er, dieses Verzeichnis sei ihm von dem
inzwischen verstorbenen Peirescius mitgeteilt worden. Übrigens ist diese
letzte Fälschung so plump, daß sie auch Kirchers Zeitgenossen schwerlich
getäuscht haben wird." Darin ist zunächst falsch, was Erman über den
Inhalt der Kircherschen „Synopsis librorum" (p. 511) berichtet. Von den
15
L. Stern, Koptische Grammatik 3, drückt sich objektiver aus als Erman: „Mit Unrecht
hat Kircher einige angeblich ägyptische Wörter aus griechischen oder lateinischen
Quellen in sein Buch aufgenommen, z. B. bari pisothis pisiöthi pimends."
444 Musik und Metrik [469j470]
14 Titeln beziehen sidi überhaupt nur zwei ausdrücklich auf das alte
Ägypten: I I I De Religione Veterum Aegyptiorum und X Historia
Aegypti et Regum eius et Sapientum eius16. Für die andern trifft das
durchaus nicht zu oder höchstens ganz nebenher. Man überlege nur die
Titel: I De Mundo superiori et ejus ordine - I I De Deo et Angelis eorum-
que Natura - I V De Daemonibus eorumque officio et de ordine in mundo
- V De Natura Fluminis Nili 1 7 - V I De Nomis Aegypti 1 8 - V I I De 1 2
signis Zodiaci et de Influentiis eorum 19 — V I I I De mansionibus lunae —
I X De ponderibus et mensuris tarn novis quam antiquis20 usw.; also alles
Gegenstände, die für christliche Kopten wichtig waren. Und hier kann
man leicht eine Beobachtung machen, wenn man das erste der von Kir-
cher edierten Glossare, die „Scala magna" des Samannüdi, durchblättert,
die nach Sachen geordnet und in „portae" und „capita" gegliedert ist. D a
kehren 8 von den 14 angeblichen Büchertiteln genau oder sehr ähnlich als
Abschnittüberschriften, eine als Lemma wieder 21 . So trifft mindestens für
den größeren Teil dieser Titel wahrscheinlich zu, was schon der Didymus
Taurinensis in dem Literaturae Copticae Rudimentum (Parma 1783)
19 - ohne jede Anschuldigung gegen Kircher übrigens — vorbringt:
„Etenim quam Kircherus exhibet Synopsin librorum, . . eam equidem cre-
diderim recensionem potius capitum libri unius, quo notitia quaedam
rerum omnium atque nomenclatura brevissime traditur; cuiusmodi librum
alium Coptice atque Arabice scriptum recenset Hottingerus Biblioth.
Orient, pag. 3 1 4 . " Schlägt man in dieser Bibliotheca (1658) nach, so findet
man im Grunde schon dasselbe Urteil.
Wie steht es nun mit den fünf Titeln, die in der „Scala magna" nicht
vorkommen? Hat Kircher sie hinzugeschwindelt oder aber hat er die 14
Titel als einheitliche Liste bekommen, wie er behauptet? Georg Steindorff
kommt | nach eingehender Erwägung zu folgendem Urteil (brieflidi) : „ 1.
der koptische Text ist von dem Exzerptor oder Abschreiber übel zugerich-
tet w o r d e n . . , 2. die lateinische Ubersetzung Kirchers ist teilweise sehr
bedenklich; er hat wohl seine (stark verderbte) koptische Vorlage an vielen
16
In der Scala bei Hottinger a. a. O. 314 heißt Kap. 34 „Nomina dignitatum", Kap. 37
„Nomina sapientum".
17
Das Wort pikeön ist nach Kees und Steindorff unverständlich. Doch finde ich in der
Scala p. 214 pikeön Gheon, et is Nilus est.
18
Das koptische Wort tabir erklärt Parthey durch praefectura, praetorium.
19
In der Scala (p. 49) übersetzt Kircher das entsprechende Lemma richtiger: De firma-
mento et signis eius et impressionibus eius. Wie er in der Synopsis auf die Zeichen des
Tierkreises verfiel, ist nicht einzusehen.
20
Dieselben koptischen Worte tpalea nem tgenne übersetzt Kircher in der Scala (p. 142)
„ex veteri et novo Testamento". Dazu bemerkt mir Steindorff: „Wenn die Synopsis
,tam novis quam antiquis' übersetzt, und dies auf .ponderibus et mensuris' bezieht, so
ist das ein grober Fehler."
21
Hier die Nachweise: zu Titel I: p. 47, zu II: p. 41, zu V I I : p. 49, zu I X : p. 142,
zu X I : p. 163, zu X I I : p. 63, zu X I I I : p. 174, zu X I V : p. 180, zu V I I I : p. jo.
[470] Pindar oder Kirdier 445
Stellen nicht verstanden oder verstehen können und hat sich dann den
Titel zurechtphantasiert." „Solche Tollheiten", fährt Steindorff fort, „ha-
ben mich auf den von mir jetzt aufgegebenen Gedanken gebracht, daß
das Lateinische das Primäre und die koptische Version auf Grund der
lateinischen zurecht gestümpert ist." Aber das läßt sich für neun Titel
bündig widerlegen und für die übrigen fünf nicht beweisen. So kommt
Steindorff zu dem Ergebnis, daß in der Tat „die Synopsis in koptischer
Sprache von Peiresc Kircher übergeben und von diesem ins Lateinische
übersetzt worden ist".
Wie es mit dieser angeblichen Bücherliste im einzelnen steht, daran
wird noch manches unsicher bleiben. Möglich, daß der Gewährsmann des
Peiresc in Kairo an dem Wortlaut herumfrisiert hat. Ungewiß, wie genau
Kircher den koptischen Text abdruckt; denkbar, daß er manches darin las,
was er zu lesen wünschte; sicher, daß „die Willkürlichkeit, mit der er die
Titel lateinisch wiedergegeben hat, sehr groß ist" (Steindorff). Aber dies
müssen die Koptologen unter sich ausmachen. Uns geht nur das Ergebnis
an: der Vorwurf der Lüge und Fälschung, den Erman gegen Kircher
erhoben hat, ist unbegründet. Kircher ist von unserem Genauigkeitsideal
sehr weit entfernt. Aber es soll erst noch erwiesen werden, daß er lügt,
wenn er sagt: diese koptische Liste hat mir Peiresc vor sieben Jahren 22
zugeschickt; oder: ich habe im Jahre 1637/8 die und die griechische Hand-
schrift des Klosters S. Salvatore benutzt.
8. Zum Schluß eine methodologische Bemerkung, die sich gegen Mount-
ford und Rome richtet; aber beide haben nur formuliert, was halb be-
wußt bei vielen wirksam ist. Mountford wirft mir vor: „He does not
seem quite to appreciate the fact, that the strength of the case against
Kircher lies not only in the individual suspicions but in their combi-
nation." Rome gibt nach einer Prüfung der äußeren Beweise zu: „Chacun
des faits ¿numerus ci-dessus, pris a part, ne prouve pas que la melodie est
un faux." Aber die Koinzidenz so vieler Verdachtsgründe (von denen zu-
gestandenermaßen keiner ein Beweis ist) müsse zu dem Urteil führen: „Ii
n'est pas m£taphysiquement impossible que le manuscrit se retrouve. Mais
il n'y faut plus trop compter." Nicht ob die Handschrift sich je wieder-
finden wird, ist die Frage, sondern ob sie existiert hat. Da soll man den
Zweifel als Sporn des Forschens allerdings lebendig erhalten. Aber es ist
unmethodisch, so und so viele Verdachtsgründe, deren keiner durchschlägt,
zu einem Unechtheitsbeweise zu summieren.
Vergesse man doch den Ausgangspunkt nicht: Kircher sagt auf p. 540,
welche Handschriften er zur Rekonstruktion des alypianischen Noten-
systems benutzt hat: „Has notas .. in duobus manuscriptis, quorum unum
in Bibliotheca Vaticana, alterum in Collegij Romani asservatur, depre-
22
A l s o etwa 1 6 3 6 / 7 . Peiresc stirbt 1 6 3 7 . Die einzige wissenschaftliche Anordnung seines
Testaments, am T a g v o r seinem Tode, gilt seinen koptisch-äthiopischen Manuskripten:
Pierre Humbert, U n amateur: Peiresc (Paris 1 9 3 3 ) 2 7 3 f.
446 Musik und Metrik [4701471]
23
Was Kircher hier sagt, ist entweder gelogen oder es ist wahr. Rome 337 verlangt, daß
man zu seiner Beurteilung den sense of humour haben müsse. Gern! Aber hier hört
denn doch der Humor gründlich auf. Hier handelt es sich um Wahrheit oder Betrug.
0 . was ist die deutsch Sprak für ein arm Sprak, für ein plump Sprak! - Die Ge-
schichte, die Kaiinka 964 sich ausdenkt, um den Kircher „nicht geradezu als Fälscher
brandmarken" zu müssen, ist hübsch. Aber man wird in ihr die beste Bestätigung
finden für das, was idi Ber. 1 $ sagte, als ich erwog, ob Kircher sich in seiner Erinne-
rung getäuscht haben könnte.
24
Fehlt nur der Ausweg: Kircher habe hinterlistig die Pindarmelodie neben die Be-
handlung des Alypios gestellt, um mit der Wahrheit den Sdiwindel zu bemänteln.
25
Idi antworte in Kürze auf anderes, was ich in den Kritiken vorgebracht finde. -
1. Kaiinka 962: Die Melodie berücksichtigt den Wortakzent nicht. Also ist sie gefälscht.
Antwort: Eine durchgängige Berücksichtigung des Wortakzents kann es nur in durch-
komponierten Gedichten geben. In respondierenden, vor allem in vielfach respondie-
renden, ist sie wesenhaft unmöglich. Ob der Akzent trotzdem in verborgener Weise
mitspricht, ist bisher nicht sicher festzustellen. Vgl. über die ganze Frage Ber. § 9. -
2. Idi hatte gefolgert: Kircher hat den Sinn des Wechsels von Gesang- und Instru-
mentalnoten nicht begriffen, weil er zu einer Interpretation des Textes nicht befähigt
war. Dagegen Kaiinka 963: Kirdier kann, da er zweifellos griediisdi konnte, aus den
Worten Jteiftovxai ö' aoiöoi die Anregung geschöpft haben, diese und die folgenden
Worte einem Chor mit Instrumentalbegleitung zuzuweisen. Antwort: Was oben S. .
über die Unsinnigkeiten in Kirchers griechischem und lateinischem Pindartext dar-
gelegt wurde, macht es unwahrscheinlich, daß sich. Kirdier auch nur ein oberflächliches
Verständnis des Textes erarbeitet habe. Und wie soll er einen Tatbestand gefälscht
haben, den er selbst so mißversteht (Ber. 40)? - Rome 341 wendet ein: Warum mußte
der Komponist mit der Saitenbegleitung bis Jieidovtai warten? Antwort: Daß das
geschehen mußte, wird nicht behauptet (die künstlerische Freiheit hinterdrein auf ein
Muß zurückzuführen, ist immer ebenso billig wie mißlich), aber daß der Wechsel
gerade an dieser Stelle seinen sehr guten Sinn hat. - 3. Ber. 43 wurde versucht, eine
Berücksichtigung des Metrums in der Melodie u. a. an der musikalischen Behandlung
der Doppelkürzen aufzuweisen. Rome 341 wendet ein: die Pindarmetrik sei so wenig
sicher bekannt, daß man daraus nichts folgern dürfe. Antwort: Die Daktylo-Epitriten
wenig bekannt? Was würde Wilamowitz, was werden Schröder, Maas, Snell dazu
sagen? - Kaiinka 963 wendet ein: Die Tonfolge e' d' c' h deckt in dem kurzen Stück
ganz verschiedene metrische Formen. Antwort: Allerdings, eben weil dies das be-
herrschende obere Tetradiord ist. Aber darum braucht doch auf der anderen Seite
nicht falsch zu sein, daß eine bestimmte metrische Stelle eine bestimmte melodische
Behandlung bevorzugt. Warum schließt das eine das andere aus? (Auf das musikali-
[471] Pindar oder Kirdier 447
sehe Gebiet und bis zum Vergleich der Pindarmelodie mit einer Polka kann ich
Kaiinka nicht folgen.) - 4. Rome 345 ff.: Kircher hat eine Theorie darüber, wie die
melodische Linie an die metrischen „Füße", die 2-, 3- und 4-silbigen, anzupassen sei.
Diese Theorie scheine in der Pindarmelodie berücksichtigt zu sein. Antwort: in 2-, 3-
und 4-silbige „Füße" kann man jeden Vers ganz verschieden zerschneiden. Rome selbst
kritisiert freimütig seinen eigenen Versuch auf S. 348 so, daß mir eigentlich nichts hin-
zuzufügen bleibt. - 5. Ich gliederte, wie wohl jeder bisher, V. 1 melodisch in 3 Figuren
und wies dieselbe Gliederung im Pindartexte auf, so daß Wort und Melos überein-
kommen (Ber. 25. 34.). Nebenher: damit wäre, selbst wenn die Melodie unecht sein
sollte, der Pindarforschung eine Aufgabe gezeigt. Rome 343 f. löst diese Beobachtun-
gen skeptisch auf: 1 . die Gliederung des Textes sei nicht in allen Strophen durchge-
führt; 2. die Gliederung der Melodie könne täuschen, was mit Griegs Tanz der Anitra
belegt wird. - Antwort: 1. exceptio non tollit regulam, starre Durchführung durch
alle io Systeme kann niemand erwarten; 2. die Wortgebundenheit dieser Musik zu
verkennen, ist - noch ganz diesseits der Entscheidung über Echt oder Unecht - ein
modernes Mißverständnis.
Noch einmal zur Echtheit der Pindar-Melodie
1959
1 Siehe R e n d i c o n t i . . . a. O . 234 f.
2 Einen interessanten Seitenweg zur Kenntnis Kirchers findet man bei D . C y z e v s k y j ,
Literarische Lesefrüchte § 30, Zeitschrift für Slavische Philologie 13, 1936, 56 ff. (mir
ehedem von dem Verfasser übersandt): Kirdier in Rußland.
[3861387] N o c h einmal zur Echtheit der Pindar-Melodie 449
Komposition von XQvaia «pognivl sein. Das ist nicht eine „kleine Hinter-
tür" (Gombosi), sondern was wie eine einzige Frage aussieht, zerlegt sich
von selbst in zwei Fragen: i. ist die Melodie antik, oder ist sie eine Fäl-
schung des X V I I . Jahrhunderts? i . wenn antik, ist sie pindarisch oder
nachpindarisch? Und beide Fragen müssen voneinander geschieden wer-
den.
Gombosi stellt fest: In Kirchers Melodie fehlen gewisse Töne, die in
allen übrigen antiken Melodien vorkommen. Selbst wenn das richtig
wäre, wie viele antike Melodien besitzen wir überhaupt? Gombosi selbst
zählt 15 und zieht von diesen gleich 2 ab, weil sie nicht für die Lyra be-
stimmt sind. Auch so | kommt er selber nur zu dem Ergebnis: der antike
Ursprung sei „sehr unwahrscheinlich". Aber eins ist bei dieser Folgerung
vergessen: daß Kircher nicht einmal die Musik einer ganzen Strophe voll-
ständig gibt. Die lange letzte Zeile von xal TÖV aixuatav... an fehlt in
seiner Wiedergabe völlig, also etwa ein Viertel der ganzen Strophe. Ist
das nidit, als ob man das Marmorfragment einer Sphinx oder eines
Kentauren auf seine Echtheit prüft und den antiken Ursprung für sehr
unwahrscheinlich erklärt, weil der Sphinx etwa die Flügel fehlen oder
dem Kentauren Hinterhufe oder Schwanz? Wenn es also wirklich
richtig ist, daß die Mese oder die Lichanos meson in einer echten Melodie
vorkommen müssen, warum könnten sie nicht in der fehlenden letzten
Zeile der Strophe (von der Epodos gar nicht zu reden) vorgekommen
sein?
Aber mehr als das: Die New Oxford History of Music (I 348) erhebt
grundsätzlichen Einspruch gegen Gombosis Theorie der „absolute pitch
values", auf der seine Argumentation wesentlich beruht. In so scharfem
Gegensatz stehen die Kenner altgriechischer Musik einander gegenüber,
wo es um die grundsätzlichsten Fragen geht, und Gombosis Kritik an der
Pindar-Melodie beruht - wenigstens mit - auf einem System, das von
anderen Kennern scharf bestritten wird.
Gombosi beschließt seine Demonstration: „The ancient derivation of
the melody, therefore, seems to be very unlikely." Mit gutem Grunde
hütet er sich „unmöglich" statt „unwahrscheinlich" zu sagen - um dann
auf den nächsten Seiten die Untersuchung über „the forger's identity"
aufzunehmen.
Viel eingehender, umfassender und vorsichtiger ist Mountford. Ich
folge hier für eine Weile seiner Erörterung:
I. In Kirchers Bericht über seine Entdeckung des Manuskripts ist nichts
beweisbar Unmögliches.
II. Daß Kircher, dessen Kenntnis des Griechischen mehr als mangel-
haft war, den Text von Pytbien I aus der Ausgabe des Erasmus Schmid
abdruckte, ist „kein schlüssiger Beweis für Unehrlichkeit". Ich würde sagen:
es ist das Allernatürlichste. Denn aus einer Handschrift allein hätte er
den griechischen Text wahrscheinlich nie entziffern können.
450 Musik und Metrik [387¡388]
III. Kircher gibt die Musiknoten nicht bis zum Strophenende, sondern
er bricht schon eine Zeile vorher ab bei dem Wort aßevviieig. Mountford
sieht erst zwei Möglichkeiten, die es erlauben, diesen Tatbestand mit
Kirchers Ehrlichkeit zu vereinen, neigt aber dann zu der Ansicht: Kircher
„intent upon a forgery" habe den Text von Schmids Ausgabe bis zum
Seitenende kopiert und sich nicht die Mühe gegeben die Seite umzudrehen.
Ich habe schon 1934 auf eine Möglichkeit hingewiesen, warum Kircher
bei aßevviiieis abbrach und die Noten nicht weiter kopierte oder, wenn
er sie kopiert haben sollte, sie in seiner Ausgabe unter den Tisch fallen
ließ. Er war nämlich auf den absurden Gedanken verfallen, daß die
Gesangsnoten, die von zQvaea bis &Q%á reichen, und die Instrumental-
noten, die mit jteiftovTcu anfangen und | (bei ihm) mit aßsvviiEig schließen,
einander antistrophisch entsprechen. Er brachte es fertig, in seiner Um-
schrift beide Abschnitte auf 108 Viertelnoten oder 27 ganze Noten zurück-
zuführen 3 und mit solchem Gewaltmittel eine unsinnige Antistrophik
herzustellen. Das viel längere zweite Stück erhält eine ganze Anzahl von
Viertel- und sogar Achtelnoten; aber hätte er noch die lange Zeile, die
auf oßevvvEig folgt, in sein antistrophisches Pseudo-Responsionssystem mit
einbezogen, so wäre es noch absurder geworden, als es so schon ist, viel-
mehr es wäre völlig in die Brüche gegangen. Also der Selbsterhaltungs-
trieb seines Pseudosystems zwang ihn nach aßtwiieig abzubrechen.
IV. In keinem der erhaltenen Stücke antiker Musik haben wir eine
Analogie für solche Verbindung von Gesangsnoten und Instrumental-
noten. Das sei sehr verdächtig; die Entdeckung sei „zu gut, um echt
zu sein".
In Wahrheit ist sie noch besser, als Mountford sah, ja noch viel besser,
als Kircher selber sah4. Kircher hat nicht nur die unsinnige Korrespondenz
zwischen Gesangs- und Instrumentalnoten überkünstlich hergestellt; er
hat gar nicht begriffen, warum die Musik mit Gesangsnoten beginnt und
dann in Instrumentalnoten übergeht. Auf diese Frage gibt es eine Ant-
wort, aber dazu muß man den griechischen Text verstehen. In den ersten
Gedichtzeilen nämlich wird die „goldne Leier" angeredet. Dann heißt es:
„Es gehorchen aber die Sänger den Zeichen der Musik." So lange die
Leier angeredet wird, darf man kein Leierspiel hören. Instrumental-
musik setzt ein, sowie es heißt: „Es gehorchen aber . . . " Dieser Wechsel
von Acapella-Gesang zu Gesang mit Instrumentalbegleitung ist also
höchst sinnvoll: er ist symbolischer Ausdruck dessen, was in den Worten
des Textes ausgesprochen ist. Kircher hatte davon keine Ahnung. Daß
dieser musikalische Sinn sich ohne Kirchers Zutun ergibt, ist vielleicht das
stärkste Argument für den antiken Ursprung der Melodie.
V. Das Wort or/Xatag hat nur 3 Notenzeichen, es müßte aber 4 haben,
da die Metrik ein zweisilbiges ai fordert. Diese Tatsache, sagt Mountford,
3 Von der Überlänge der letzten Note abgesehen.
4
Siehe Berichte der Sächsischen Akademie a. O. S. 40.
[388/389] N o d i einmal zur Echtheit der Pindar-Melodie 451
s
Hermes 7 0 , 1 9 3 5 , 468 fi.
6
A . Rome, Pindare ou Kirdier, Les Etudes Classiques 4, 1 9 3 5 , 3 3 7 ff., beschließt seine
bemerkenswerten Darlegungen mit dem S a t z : „il serait imprudent de considérer ce
document comme authentique." D a s ist richtig. A b e r daneben muß man sofort die
These stellen: es w ä r e ebenso unvorsichtig, dieses Dokument für eine Fälschung zu
halten und es damit von weiterer Forschung abzuschneiden - wie das fast allgemein
geschieht.
452 Musik und Metrik [389]
das wichtigste Stück griechischer Musik. Soweit scheint mir in jedem Satz
die Objektivität gewahrt. Damit aber auch hier die Subjektivität nicht
ganz fehle: schön klingt die Melodie von XpuaEa cpöeniyl nicht mir allein,
ob antik oder modern, ob Pindarisch oder Nach-Pindarisch.
Besprechung
1921
Es täte der Wissenschaft und ihren Dienern gut, wenn sie öfter, als zur
Zeit geschieht, nach dem Sinn ihrer Arbeit fragten und was denn eigent-
lich die Menschen davon haben. Nicht so, als hätte sich diese Arbeit durch
ihre Brauchbarkeit für den Tag zu legitimieren. Wohl aber sollte jedes
wissenschaftliche Bemühen es vertragen, irgendwie an seinem Werte „für
die Menschen" gemessen zu werden. Was bedeutet unter diesem Blick-
punkt griechische Metrik? Sie ist einmal für den kleinen Teil der heutigen
Menschheit, der noch griechische Verse liest, ein Wissen von diesen Versen
mit der letzten Absicht, sie unserem Ohre wieder erklingen zu machen.
Darüber hinaus besteht die Hoffnung, das Wesen jenes Volkes, | welches
die Namen Rhythmus, Musik und Poesie geschaffen und auf eine heut
fast unbegreifliche Weise in alle Lebensäußerungen hineingeflochten hat,
in seiner metrischen Kunst zu erspähen, wie man es etwa in seiner archi-
tektonischen oder seiner ornamentalen Kunstübung erfaßt. Aber noch
eins: Unsere moderne Verskunst ist der antiken unendlich verpflichtet.
Und solche Beziehung ist damit doch wohl nicht abgetan, daß man mit
Wilamowitz in dieser ganzen Nachfolge wenig mehr als einen einzigen
großen Irrtum sieht, der allerdings hier und da ein paar schöne Blüten
getrieben habe. Vielmehr muß gesagt werden, daß seit Jahrhunderten
besonders für uns Deutsche die griechische Metrik (sei es in eigener |
Gestalt oder in den römischen Nachformungen) ein Maß der Strenge und
liebevollen Genauigkeit, des Reichtums und der Durchbildung hinstellt,
das uns auf das Tiefste bestimmt und auch die Zukunft vor dem Versinken
in Barbarei zu bewahren vermag.
Aber wir setzen uns mit Wilamowitz auseinander, bevor nodi gesagt
worden ist, daß er uns soeben eine umfassende „Griechische Verskunst"
schenkt und daß wir allen Anlaß haben, für dieses Geschenk sehr dankbar
zu sein, um so dankbarer, als der Verfasser sein Buch eine Pflichtarbeit
nennt und ungewöhnlich o f t darauf hinweist, wie mühsam es geworden
sei, wie wenig ihn selbst die Darstellung zuletzt befriedige. Das ist kein
Zufall. Denn eine Metrik kann man nicht schreiben. „Das richtige Ver-
daß Anapäste und Jamben, Daktylen und Trochäen nicht von Ursprung
an so scharf geschieden und so genau durchgeführt waren, können einzelne
Formen, die sich späterer normalisierter Kunst nur ungern bequemen,
als besonders altertümlich ansprechen, gleichsam als Überreste einer
freieren Bildungsweise: dazu gehören die Enhoplier, die choriambischen
Dimeter, gewisse Kurzzeilen. Aber die Frage muß gestattet sein, was uns
denn nun eigentlich zwinge, aus den Dimetern und vielleicht daneben
aus Enhopliern alle übrigen Maße und Reihen herzuleiten. Schon daß
die Trimeter immer aus Dimetern „erweitert" seien, wird sich nicht
beweisen lassen. Ferner: wenn der Chor in der ältesten Tragödie mit
langen anapästischen Reihen einzieht, wenn lange iambische Reihen in
den Chören der Tragödie begegnen, wenn Anakreon aus reinen Jonikern
endlose Reihen bildet, wenn die Komödie eine besondere Wirkung darin
sucht, ihren Chorführer in einem Metrum fortreden zu lassen „bis zum
Ersticken", so erscheint es doch weit richtiger, hier ein ganz anderes und
gleich berechtigtes Prinzip rhythmischer Gestaltung anzuerkennen.
Eine Geschichte der antiken Metrik von den Urzeiten herab werden
wir niemals schreiben können. Wir werden es auch nicht wollen, da wir
nicht mehr glauben, das Erkennen des Werdens sei die eigentliche Form,
die uns zu dem Ergreifen des Seins hinführe. Was wir erreichen wollen,
ist einmal eine immer feinere Empirie, die die Formen sich aneignet zur
Reinigung und Sicherung der Texte und vor allem, damit die Verse in
ihrer sinnlichen Fülle und ihrem künstlerischen Bau uns wieder erklingen.
Darüber hinaus steht vor uns als Aufgabe ein umgreifender Blick auf das,
was man das Formensystem der griechischen Metrik nennen könnte. Dabei
werden wir die Zeiten, Orte, Gattungen von einander scheiden; es mag
auch hier und da eine geschichtliche Einsicht leiten, indem man gewisse
Formen wie Überbleibsel aus einer früheren Welt sehen lernt, auch in
manchen Bezirken Fort- und Umbildungen wahrnimmt und als Symbol
für die Umbildung der Gesamtform betrachtet. Aber sonst ist solch
umfassender Blick viel eher „systematisch" als historisch. Für jene Empirie
und diesen | Einblick in das Gesamtgefüge enthält das Wilamowitzsche
Werk die reichste Vorarbeit und die bedeutendsten Hinweise.
Wir können von keinem alten Verse sagen, wie er entstanden ist, wir
können ihn nur inmitten ähnlicher Formen hören, die wir irgendwie als
„verwandt" erkennen. Jedes Einzelgebilde gleichsam in den Schnittpunkt
möglichst vieler Verwandtschaftsreihen zu stellen, das scheint uns die
gewiesene Aufgabe. Streitigkeiten über die Entstehung des Hexameters,
ob er geworden sei aus zwei Halbversen oder aus einem daktylischen
Vierfüßler mit adonischer Klausel oder aus einem daktylischen Singvers
der Äoler, werden künftig ihren Sinn verlieren, wenn man das Unmög-
liche der Lösung und damit das Verkehrte der Problemstellung erkannt
hat. Dem Einzelnen mag es weiter unbenommen sein, sich eine Beziehung
herauszugreifen und vor den anderen gleich berechtigten die Augen zu
[415f416] Wilamowitz-Moellendorff, Griechische Verskunst 457
schließen. Uns gilt als Pflicht, die „Verwandtschaft" mit allen jenen
Formen in der Vorstellung festzuhalten. Ob Daktylo-Epitrite aus Daktylo-
Jamben und Daktylo-Trochäen „entstanden" seien, werden wir künftig
nicht mehr fragen. Wir werden diese Verwandtschaft anerkennen, werden
andererseits darüber nicht vergessen: die gewiß sehr altertümliche archi-
lochische Langzeile, die nur statt des Epitrits die ithyphallisdie Klausel
Klausel setzt — — ^JI^I — —w — w — > die Schlußreihe der alcä-
ischen Strophe, die das Übergehen der Daktylen in den trochäischen Fall
nur in verkürzter Weise zeigt - ^ w - u u - u - u 5 das Praxilleion — w
w — v^hier, den sapphischen und den alkäischen Elfsilbler
dort — w—w—ww—w | w — w—ww—w— > die sich alle nur durch
andere Regelung der Doppelsenkungen von den bekanntesten Grund-
formen der Daktyloepitrite unterscheiden; den Jambelegos w — w — w —
und das Enkomiologikon — — w — d i e jenen
Grundformen geradezu gleich lauten; schließlich Choriamben — —
und Joniker ww— I > die doch nicht zufällig jenen Liedern bei Pindar
beigemischt sind und nicht zufällig in ihrer Zusammensetzung die häufigste
daktylische Reihe — — jener Lieder ergeben. Nicht einen recht
einfachen „Ursprung" zu konstruieren, sondern den Reichtum möglichst
vieler Beziehungen sprechen zu lassen, scheint uns gefordert.
Noch eine andere Aufgabe wartet auf | die Erfüllung. Wilamowitz
hat, wie schon gesagt, mit bewußter und berechtigter Beschränkung sowohl
die Musik wie die gesamte rhythmische Theorie bei Seite gelassen. Wir
haben von der antiken Musik wenig, und es gehören zu dem Verständnis
des Wenigen Kenntnisse, die so selten sind, daß die Berliner Akademie
neuerdings einen Papyrus mit Musiknoten veröffentlicht hat, ohne daß
sie anscheinend einen Deuter dieses Rätsels finden konnte. Aber wir
besitzen doch immerhin die Gedichte des Mesomedes und Seikilos und die
delphischen Hymnen mit ihren Tönen, besitzen, wenn auch sehr trümmer-
haft, eine Komposition aus dem euripideischen Orestes und vor allem
besitzen wir die Noten zu dem Eingang von Pindars erhabenstem Chor-
lied, eine Komposition, die nicht nur den Musikhistorikern Ambros,
Riemann, Gevaert durchaus für echt gilt, sondern die auch Boeckh und
Westphal für echt hielten. Wie sollten diese Kompositionen, durch einen
Metriker gedeutet, der Musik versteht und, von Bach und Beethoven
bewußt sich befreiend, in jene alte Tonwelt eintaucht, nicht auch für die
Auffassung der Metrik wichtig sein, da doch Wort, Rhythmus und
Melodie hier nur verschiedene Äußerung einer einheitlichen Bewegung
sind?
Und dann die rhythmische Theorie: Wilamowitz gesteht selbst, daß
er sie für die Metrik nicht nutzen könne, und gibt nur einige Textver-
besserungen, zum Zeichen daß er den Aristoxenos nicht vernachlässigt
habe. Aber das genügt nicht. Die antike metrische Theorie ist in dem
Gesamt der musikalisch-rhythmischen Theorie erwachsen. Wilamowitz
458 Musik und Metrik [416)417]
1907
[Rheinisdies Museum L X I I , 1 9 0 7 , S . 7 3 - 8 5 . ]
1
Luchs, Studemunds Studia I 2 2 f . ; Leo, Plaut. Forsch. 3 0 9 ; zuletzt mit eindringender
P r ü f u n g des gesamten Materials: Jacobsohn, Quaest. Plautinae (Goettingen 1904).
Diese Arbeit ist mein Ausgangspunkt.
1
Leo, D e r Saturnische Vers S. 2 1 .
3
Leo, Saturn. 2 1 3 .
460 Musik und Metrik [74175]
4
Leo PI. F . 78 2 deutet nach dieser Richtung.
5
Leo, Saturn. - Einen neuen Erklärungsversuch madit Thulin, Italische sakrale Poesie
und Prosa (Berlin 1906) 36 ff. Dagegen Leo D L Z 1906 Sp. 1 9 5 1 , vielleicht zu scharf.
Aber das läßt sich nicht im Vorbeigehn erledigen.
6
Die Versspielerei des Kastorion (Athen. X 4 5 5 ) wird man mir wohl nicht als Gegen-
beweis bringen.
7
Dagegen z. B. auch Maurenbrecher, H i a t und Verschleifung 149.
8
Ritsehl, Einl. z. Trinummus p. C C X X X I I sqq., ders. Rhein. Mus. I 285.
[75176] Zum Plautinischen H i a t 461
längst geäußerte Vermutung 9 , daß die Zulassung des Hiats in der Diärese
des Septenars an der Beeinflussung durch den Saturnier die Erklärung
findet, die sich aus griechischer Technik nicht gewinnen läßt. Nun zeigen
aber die drei Schemata, wenn man die Einschnitte vor schließendem
) zusammenfallen läßt, daß den übereinstimmenden Hauptein-
schnitten im Septenar und im Saturnier die semiquinaria des Senars ent-
spricht, dh. die Hauptcäsur, in der notorisch viel mehr Hiate vorkommen,
als an irgend einer anderen Versstelle 10 . Wer | den Hiat leugnet, weil er
sich mit der Synalöphe nicht vertrage, der irrt: die beiden vertragen sich.
Wer den Hiat leugnet, weil er dem Wesen der Cäsur widerspreche, sieht
sich zwar nicht vor die ganz schwierige Frage gestellt, welches das Wesen
der Cäsur ursprünglich, dh. im Griechischen sei; wohl aber vor die andere,
wie denn die Metrik der römischen Szeniker die Cäsur aufgefaßt habe.
Ich bestreite rundweg, daß wir a priori darüber irgend etwas aussagen
können. Durch syllaba anceps ist der Hiat in der semiquinaria leider nicht
zu rechtfertigen, wohl aber wird er gestützt durch die Analogie des Sep-
tenars, der seine Diärese und den heut von niemandem (glaub ich) be-
strittenen Hiat in der Diärese an derselben Stelle hat, wo der Senar seine
semiquinaria und den heut von fast allen bestrittenen Hiat in der semi-
quinaria. A n derselben Stelle, sag ich, nämlich wenn man von hinten
rechnet, wozu die gleichmäßige Formung jenes Einschnittes vor schließen-
den yj— oder, wenn man will, die Auffassung des Septenars als eines
creticus mit folgendem Senar uns ein volles Recht giebt. Eine weitere
Stütze, und zugleich den zureichenden Grund für diese Erscheinung giebt
dann die Analogie des Saturniers mit dem Hiat zwischen Camena und
insece. Saturnier, Senar und Septenar schließen
- w - H w - w ( - )
' K l o t z , Grundzüge römischer Metrik 142. 146. Derselbe K l o t z , der „die Hiate in den
Senarzäsuren prinzipiell mit Entschiedenheit" v e r w i r f t (S. 166). - Ich möchte bei
dieser Gelegenheit bemerken, daß ich mein in diesem A u f s a t z entwickeltes Prinzip
- freilich ohne jede Schärfe und ohne eigentliche Einsicht in das Wesen - angedeutet
finde bei Below D e H i a t u Plautino ( i 8 8 j , Berliner Diss., auf die ich durch Mauren-
brediers Resume [a. O . ] aufmerksam wurde). Below notiert einige (wirkliche und
vermeintliche) Übereinstimmung zwischen Dialogversen und Saturniern und schließt
dann: „haec autem omnia Plauto cum Saturniis consociata sunt. In his autem versibus
multa hiatus exempla ante oculos habuit: num mirum est ipsum quoque quibusdam
licentiis in hiatu admittendo usum esse?" Dann folgen Verkehrtheiten.
1 0 Für die in A und P gemeinsam überlieferten Partien des Poenulus hat Leo PI. F. 4 die
sie haben alle drei an der (durch Doppelstrich) bezeichneten Stelle einen
Einschnitt mit den besprochenen Eigentümlichkeiten, und haben alle drei
vor diesem schließenden Kolon ihre Hauptfuge mit legitimem Hiat.
Mit anderen Worten: Der Senar ist von Andronicus und Naevius
nach der Analogie ihrer Saturnier, die Senarcäsur nach Analogie der Sa-
turnierdiärese interpretiert und behandelt worden.
Es ist selbstverständlich, daß der semiquinaria die semiseptenaria folgen
muß. Mich dünkt, auch das Wie ist nun nicht mehr schwer zu finden. Denn
wenn man schon im Senar einen Verwandten des Saturniers sah und also
die Cäsur in dem neu übernommenen Verse so behandelte, als wäre sie die
Hauptfuge ] des Saturniers, dann war ein Unterschied zwischen jrevdrini-
|xeqt]5 und scpi)ri|xi|X£Q^5 nicht wohl möglich, um so weniger, als
blande hominem compellabo || hospes hospitem (salutat...)
ja tatsächlich mit virum mihi Camena die engste äußere Aehnlidikeit hat 11 .
Für den trochäischen Septenar folgt aus der Zusammenordnung
W———"-»II- W — W —
— w—; w — — w — w|| — w — w —
die Legalität des Hiats vor s c h l i e ß e n d e m u n d es gehört in
der Tat schon etwas wie Verzweiflung zu einem Verfahren, das selbst in
Fällen wie
venibunt servi supellex fundi || aedes omnia;
venibunt quiqui licebunt praesenti pecunia (Men. 1158) oder
quarta invidia, quinta ambitio, sexta || obtrectatio,
septimum periurium, (Euge!) octava indiligentia
nona iniuria . . . . (Persa j 57)
die vermeintliche Lücke verkleistert13.
Auch die nächsten Schritte auf dem gleichen Wege sind nodi ohne er-
hebliche Schwierigkeit. Für den Hiat nach der zweiten Senkung im Senar
findet man eine lange Reihe von Beispielen14, Bestätigung giebt wieder der
Septenar
— v^l— ; ' — * ' | ] — W — W—W—W —
wobei man sich in Erinnerung rufe, daß die Form
— W— —^ — <w<—— —W —
11
Ich denke, die feinen Unterschiede, die Leo Sat 24 heraushebt, wird man nidit als
Gegeninstanz gebraudien wollen.
12
Müller, Plautin. Prosodie 602 f.
13
Zu der Stelle der Menaechmi notieren Vahlen und Leo Müllers (et) aedes, glücklicher-
weise ihrem Prinzipe nach unter dem Text; halten sie denn so etwas für möglich?
Etwa wegen Stellen wie Truc. 186? Zum Persa schreibt Leo resignirt: hiatus probabilis
medela non facile inveniatur.
14
Müller a. O. J I I .
[77178] Z u m Plautinischen H i a t 463
sondern
V_/ w — | — KJ — | —
mit einem oder m i t beiden Einschnitten. U n d an diesen Stellen, w o die
Einschnitte zu liegen pflegen, tritt d a n n z u w e i l e n gleichsam m i t v e r s t ä r k -
ter T r e n n u n g syll. anc. u n d H i a t a u f .
W i r brauchen, scheint m i r , nicht lange zu suchen, u m auch jetzt w i e d e r
die W i r k s a m k e i t des Saturniers z u spüren:
Cornelius Lucius Scipio Barbatus
u n d w a s dem ähnlich ist 24 stimmen ziemlich g e n a u : |
saturn. w — ^ — | — ^ —1| — w — ^ — w
bakch. w w — | — | — w
u n d , u m auch dieses gleich zu erledigen, der kretische T e t r a m e t e r
— W—| — W—I — W— —W —
m i t H i a t u n d syll. anc. an den bezeichneten Stellen 2 5 , w i r d denselben W e g
der E r k l ä r u n g gehn.
22
In 14 Versen war keine von den drei untersuchten Versstellen durch Wortende mar-
kiert. - In dieser Rechnung sind die meisten Verschleifungen (außer etwa bei atque
und neque) als cäsur-hindernd angesehn. - Man beachte auch die Stelle des Personen-
wechsels, z. B. Pseud. 247 ff.
23
Ein paar Ausnahmen: Die Verse Aulul. 1 2 0 - 1 3 0 scheinen durchaus die Teilung
xarot ölfiexpov, ja sogar y.axa. uetpov, anzustreben. Ähnlich ist Trucul. 453 ff. gebaut,
und wenn nun in diesem Liede zweimal die Dimeter durch syll. anc. gesondert sind
459 lucri causa avara probrum sum exsecuta
463 vosmet iam videtis ut ornata incedo
so ist es sehr wahrscheinlich, daß wir das als seltenere Nebenform einfach zu lernen
haben. Damit würde dann Rudens 191 ff. stimmen; denn 191 und 193 haben die
Teilung nach dem zweiten Metron und V. 194 hat nun auch einen Hiat
tum hoc mi indecore | inique immodeste.
Ich würde also die Teilung xarrj. Öi|i£TOOV als rare Nebenform für Plautus bezeich-
nen und demgemäß Hiat und syll. anc., wenn sie in der Diärese nach dem zweiten
Metron vorkommen, keineswegs beanstanden. Um so mehr, als die Trennung der
Metra bekanntlich griechischer Übung entspricht:
Aisch. Prom. 15 t i ; dxw, xig 6&[xü jtgoaejtxa p.' ätpEyv'n?-
Timotheos 1 1 3 vorixai ftgrjvcoÖEi xatelxovT' ööupfup.
Und als die Analogien im Saturnier nicht fehlen: Leo Sat. Vers 39.
24
Leo Sat. Vers 44 ff. Es trifft sich hübsch, daß Naev. 5 3 quod bruti nec satis | sardare
queunt (Leo s. 46) in dem etwas anders gebauten aber doch kretisch schließenden
ersten Saturnierkolon satis den Beschluß macht. (So jetzt Leo mit Recht gegen seine
frühere, PI. F. 268 vertretene Ansicht.) Das tritt also ganz zu Fällen, wie die vorhin
bezeichneten (z. B. der oben ausgeschriebene Vers Poen. 215).
[80/81] Zum Plautinisdien Hiat 465
Der Boden wird unsicherer. Noch bleibt ein wichtiges Paar von Sen-
kungshiaten im Senar und Septenar übrig, vor schließendem creticus:
W W — W — W —W — —
— — — — w —
egomet mihi comes calator equos agaso || armiger;
egomet sum mihi imperator, idem egomet mihi oboedio
(Merc. 852)
nam isti quidem hercle orationi ¡j Oedipo
opust coniectore. (Poen. 443)
huic argumento antelogium || hoc fuit. (Men. 13)
Die Anzahl der Beispiele ist so groß, daß wir hier nicht nein sagen können,
wenn wir vorher ja gesagt haben. Das bedeutet: wir haben den Hiat auch
hier anzuerkennen, ganz gleich, ob es uns gelingt, ihn zu erklären. Ich
halte es garnicht für ausgeschlossen, daß wir so argumentieren dürfen: In
die dritte, vierte, zweite Senkung des Senars ist der Hiat durch die Paral-
lelisierung mit dem Saturnier eingedrungen. V o r dieser Uebermacht hat
auch die einzig noch in Betracht kommende fünfte Senkung kapitulieren
müssen. Oder man kann sich vorstellen, daß für die Empfindung des rö-
mischen Verskünstlers der Senar, anstatt sich in seine Dimeter zu gliedern,
nach der Analogie des Saturniers in eine Anzahl von K o l a zerfiel, und daß
das K o l o n — am Schluß des Senars und Septenars (wie ja auch am
A n f a n g des Septenars) sich als selbständig loslöste und nach vorn (und
nach hinten) diese Selbständigkeit durch Hiat (und syll. anc.) bewährte;
ganz wie insece. W o f ü r auch die eben hervorgehobene Selbständigkeit
desselben Kolons in Kretikern und | Bakcheen spricht. Mir scheint diese
Erklärung recht probabel, vielleicht darf man sie auch mit der ersten Er-
wägung kombiniren. - Oder man mag sich denken, daß der Senar gele-
gentlich als ein vorn um verlängerter Saturnier erschien, (wie ja bei
der Einführung des Semiquinaria-Hiats der Senar als ein um ver-
kürzter Saturnier vorgeschwebt haben muß); sodaß dann naturgemäß
die Hauptfuge vor schließendes w fiel, ganz wie im Saturnier vor
insece.
Im Einzelnen wäre noch manches nachzutragen. So ist im trochäisclien
Septenar ein paar Mal syll. anc. und Hiat nach der vierten Hebung be-
obachtet worden 26 , also
25 Jacobsohn a. O . 21.
Aul. 142 da mihi operam. amabo. T u a s t . . .
Epid. 57 Epidice, perdidit me.
Men. 576 res magis quaeritur
Asin. 13 j nam in mari repperi [ hic elavi bonis.
K l o t z , Grundzüge 160. Ich füge hinzu, daß nach Leos (PL F. 272) Beobachtung potis
in dem Wert nur Miles 781 und 788 vorkommt. 781 beginnt: quam potis tam
verba confer; 78 S lautet: quam lepidissimam potis quamque adulescentem maxume.
Also zwei Versstellen, die gelegentlich auch Hiat und syll. anc. haben.
466 Musik und Metrik [81/82]
meiner formalen Erklärung steht, manche von jenen dem Sprachinhalt entnommenen
Motivierungen gelegentlich mit Nutzen verwenden lassen. Dafür sind die Beispiele
Lindsays (in der Einleitung zu den Captivi) teilweise recht belehrend. Nur muß
man sich dann sagen: Plautus hatte den Hiat frei; warum er ihn in diesem konkreten
Falle verwendet, dafür läßt sich der Grund etwa in der antithetischen Gegenüber-
stellung sehn, die sonst minder sdiarf herauskäme - u. dgl.
31
Krawczynski, De hiatu Plautino. Breslauer Diss. 1906. Man sehe auch Skutsdi, Berl.
phil. Woch. 1901 S. 910 ff. Dort wird den „Verfechtern sämtlicher überlieferten
Hiate, deren wir gewiß nach Maurenbrecher und Birt bald noch manche begrüßen
werden", die Statistik anempfohlen, die jetzt Skutschens Schüler vorlegt. - Übrigens,
ich glaube weder an die hiattilgende K r a f t des h noch gar des spir. lenis.
32
Nur ein Beispiel (idi könnte aber mehre vorführen): Trin. 18 schreiben die Heraus-
geber mit A :
huic Graece nomen est Thensauro fabulae;
Philemo scripsit, Plautus vortit barbare,
während P mit Hiat
huic nomen Graece est Thensauro fabulae
giebt. Nun könnte man ja für A anführen:
Alazon Graece huic nomen est comoediae (Mil. 86),
aber für P spricht anderseits Asin. 10:
dicam.. huic nomen Graece Onagost fabulae,
und das steht der Trinummusstelle näher, weil einmal huic vorangeht und der grie-
chische Name folgt; zweitens aber weil der nächste Vers
Demophilus scripsit, Maccus vortit barbare
die genaueste Ähnlichkeit mit Trin. 19 aufweist. Ich halt es für Willkür, wenn man A
bevorzugt. (Vielleicht ist der Eindruck nur subjektiv, aber für mich ist die Lesart
von A um eine winzige Spur minder natürlich.)
33
Klotz, Leo.
34 pür Naevius ein paar Verse mit schlichtem Hiat bei Maurenbredier H. u. V. 216; nach
schließendem m ebenda 23; nach o-Ablativen (wo man an -od denkt) ebenda 1 1 5 .
468 Musik und Metrik [84185]
Die Verweisungen der Kürze halber, nicht als ob ich Maurenbrediers metrischer Auf-
fassung oder Textkonstitution allemal zustimmte. - Die dürftigen Reste des Andro-
nicus bieten naturgemäß wenig. Aber ein sicheres Beispiel von Cäsur-Hiat steht
trag. 4 1 : quinquertiones praeco in medium vocat (wo Buechelers Versuch den Hiat
zu beseitigen, geistreich aber unrichtig, Ribbecks Versuch nicht geistreich, aber auch
unrichtig ist). Der legitime Hiat im Septenar nach beginnendem Creticus trag. 18,
wenn die Form conflugae echt wäre (s. aber Solmsen, Stud. z. lat. Lautg. 127). Auch
trag. 26 enthält einen Hiat, wenn der Vers vollständig ist.
35
Die geistreichen Sophismen, mit denen Ritsehl das Zeugnis eludierte, mag man in der
Vorrede zum Trinummus nachlesen. (Seine spätere Ansicht ist ausgeführt in den Neuen
plaut. Exkursen 113.)
36 Wenn Seneca an 4 Stellen den Hiat angeblich geduldet haben soll, so würde man
wahrscheinlich aus 4 Korruptelen das Gleiche für Euripides deduzieren können.
37
Plaut. Forsch. 5 f.
[85] Zum Plautinischen Hiat 469
38
Scheinbaren Hiat vertreibt A gegen P: Poen. 746; vgl. Baier, de PI. fab. rec. 58. Be-
wußte Änderung (A = P) vermutet Leo (PI. F. 315) für Stich. 202.
39
Das nimmt Leo (PI. F. 318) für Most. 173 an. - Mit Absicht geb ich hier nichts Eignes.
V
Archäologie
Zur Frühgeschichte des Argivischen Heraions
190 9
lung Raum gewähren würden. Man hat denn auch früher unbedenklich
an dieser Stelle das alte Pharis gesucht (Conze und Michaelis, Annali
X X X I I I 49, mit guter Ortsbeschreibung, richtiger Beurteilung der Frage
und nützlicher Kartenskizze auf Tav. F). Neuerdings jedoch hat
H. v. Prott Pharis in den Süden der lakonischen Ebene legen wollen und
hat behauptet, daß das Kuppelgrab sehr wohl zu Amyklai gehören
könnte (AM. X X I X 1904, 5). Wer die bisher angestellten Erwägungen
beherzigt und damit den weit mehr als halbstündigen Weg von
H. Kyriaki, der Stätte des alten Amyklaion, nach Vaphio zurücklegt,
dem wird die Unmöglichkeit klar, das Kuppelgrab für Amyklai zu be-
anspruchen, wenn das alte Amyklai, wie wir doch glauben müssen, an
der Stelle des späteren Amyklaion gelegen hat. Zwei Hüjgel südlich von
Sparta fallen in die Augen: der von H. Kyriaki und der von Vaphio.
Auf dem ersten lag Amyklai, auf dem zweiten irgend eine Herrenburg
adiäischer Zeit, mag es nun Pharis gewesen sein, das man jetzt ohne
Gewähr im Süden der Ebene sucht, oder ein anderer Ort, einer von denen
vielleicht, die der Schiffskatalog sonst noch zur Auswahl stellt. Von der
alten Burg ist natürlich über der Oberfläche nichts erhalten. Aber ein
Stück jungen Mauerwerkes zeigt doch, daß die Lage auch einer späteren
Zeit für Siedelung oder Befestigung günstig schien, und Versuchsgrabun-
gen haben in der Tat „mykenische" Reste zu Tage gefördert (Tsuntas,
'Ecprin. agx- 1889, 1 3 1 ) . Wäre nicht die Frage in neuester Zeit wieder
verwirrt worden, so hätte es genügt, diesen Beweis des Spatens in aller
Kürze den überzeugenden Erwägungen von Conze und Michaelis zur
Seite zu rücken.
Zu dem „Laminospito" von Dimini gehört nach Lollings Plan und
Bereich (AM. I X 1884,99) die Ansiedlung auf der „Tumba", einem
flachen Hügel, der mit dem Höhenzug von Dimini durch einen Sattel
verbunden ist. Auf diesem Sattel unten am Dimini-Berg liegt das genannte
Kuppelgrab. Bemerkt sei, daß die Tumba nach Lollings Ansicht keine
feste Burg, sondern eine offene, dorfartige Siedelung getragen hätte. Die
abschließende Erforschung von Grab und Hügel durch Sta'is ( I l p a x T i x a
1901, 37) und Tsuntas (Ai|ir)viov y.ai SeaxXo 65, Taf. 2) führt zu dem-
selben Schlüsse.
Das Kuppelgrab von Kampos (am Westabhang des Taygetos) steckt
im Fuße des Berges, von dem das fränkische Castell Zarnata herunter-
blickt. Zarnata pflegt man mit Gerenia (oder Alagonia) gleichzusetzen,
und es scheint den Beschreibungen zufolge nicht zweifelhaft, daß Grab
und Burg zusammengehören (vgl. 'Ecprm. uqx. 1891, 189).
Die Gräber von Masarakata auf Kephallenia (Wolter, AM. X I X
1894, 487; Partsch, Kephallenia und Ithaka 79) - drei in den Felsen
geschnittene und ein jetzt zerstörtes, das aufgemauert war - würde man
nach der Karte (bei Partsch) nicht zur Küstenstadt Krane beziehen,
sondern zu dem steilen isolierten Kalkberg des H. Georgios, auf dem
476 Archäologie [72j74]
heut die Ruinen einer fränkischen Burg stehen. Über Kavvadias' wichtige |
neue Ausgrabung einer ganzen jungmykenischen Nekropole an diesem
Orte wird uns bald seine Publication belehren.
Das Kuppelgrab bei Menidi liegt in dem östlichen Abhang einer
schwachen Bodenschwellung, die in geringer Entfernung vom Kephisos
ansteigt. Steht man auf dieser Erhebung, so ist ringsum Ebene. N u r an
einer Stelle, nach Westen, sieht man durch eine Senkung getrennt den
höheren Hügel Gerovuni, den man in wenigen Minuten vom Kuppelgrab
her erreicht. Die Existenz der Fürstengruft verlangt die Existenz einer
Herrenburg und zwar in unmittelbarer Nähe, so daß an Athen z. B. gar
nicht gedacht werden darf. Dann aber gibt es eigentlich nur zwei Mög-
lichkeiten: entweder auf der Bodenschwellung selbst, die das Grab ent-
hält, hat auch die Burg gelegen, oder auf dem Hügel westlich davon.
Viel wahrscheinlicher ist das zweite, da die stattliche Grabanlage auch
eine stattliche Burg fordert. H a t man das Plateau des Gerovuni erreicht,
so findet man den Boden mit Scherben durchsetzt, und es fallen die gar
nicht geringen Reste einer spätantiken oder byzantinischen Umfassungs-
mauer in die Augen, von der vor Jahren, als das betreffende Blatt der
„Karten von Attika" aufgenommen wurde, noch mehr als heut über dem
Boden gewesen zu sein scheint. Das strategisch Bedeutsame der Lage hat
Milchhöfer im Text zu den „Karten" dargelegt, und wer auf dem Hügel
steht, kann nicht verkennen, daß der Standpunkt insbesondere die Straße
nach Eleusis beherrscht. Man blickt in die weite Lücke zwischen Aigaleos
und Parnes hinein und weiter rechts in den einzigen Einlaß, den die
schroff abweisende Wand des Parnes vor Dekeleia-Tatoi anbietet. Der
isolierte Hügel mit seiner wichtigen Position mußte zur Besetzung auf-
fordern. Daß er in später Zeit befestigt war, lehrt der Augenschein. Daß
die Besiedelung in alte Zeit hinaufgeht, zeigen die Scherben, unter denen
ich bei flüditigem Suchen schwarzgefirnißte Ware etwa des vierten Jahr-
hunderts auflas. Ich halte es f ü r überaus wahrscheinlich, daß an dieser
Stelle schon die mykenische Siedelung gelegen hat. Und diese Ansicht hat
denn auch Lolling sofort bei der ersten Publication ausgesprochen
(Kuppelgrab bei Menidi z, 3). | Der achäische Burgherr auf dem Gerovuni
stand gleichberechtigt neben dem Fürsten des Akropolishügels, er gehörte
zu denen, die Athen überwinden mußte, um mit der Einigung der
Kephisosebene die ersten Schritte zur Einigung Attikas zu tun. Es lockt
sehr zu Vermutungen über die politische Stellung der kleinen achäisdien
Macht, und so sei wenigstens angedeutet, daß gewiß die Grundlage ihrer
Existenz auf ihrem Landbesitz in der Kephisosebene beruhte, daß aber
andrerseits ihre rückwärtigen Verbindungen offenbar in die eleusinische
Ebene und dort ans Meer gingen, nicht unähnlich (um Kleines mit Größe-
rem zu vergleichen) wie Mykenai sein Doppelgesicht einerseits der Argo-
lis, andrerseits den nördlichen Landschaften zukehrte. Aber dies ließe
sich ausführlicher nur in anderem Zusammenhange behandeln.
[74)75] Z u r Frühgeschichte des Argivischen Heraions All
nicht sehr hoch", um die alte, gute Beschreibung Finlays zu citieren. Der
Platz ist f ü r eine Ansiedlung achäisdier Zeit vorzüglich geeignet: zwei
Seiten des Dreiecks fallen steil gegen die R h e v m a t a ab, nach der Ebene zu
steigt der Hügel sanfter und in Terrassen hinunter. Die photographische
Ansicht Heraeum I 14, Fig. 6 kann einen ungefähren Eindruck geben.
Das ältere Heraion mit seiner Stützmauer aus colossalen flachen
Blöcken nimmt erst die zweite Terrassenstufe ein; | die erste und höchste
liegt jetzt ganz eingeebnet. Meines Wissens ist hier nicht gegraben worden,
und doch müssen hier, wenn nicht alles täuscht, und wenn man nicht im
Altertum allzu gründlich abgeräumt hat, die Häuser, vermutlich der
Palast, der mykenischen Niederlassung unter der Erddecke zu finden sein,
wie über ihr mykenische Scherben herumliegen. Sichtbar ist von der
ältesten Anlage zweierlei, wie es scheint: einmal die sogenannten
„Priesterwohnungen" südlich des alten Tempels (Heraeum I 70, 109),
ferner die angebliche „Umfassungsmauer des ältesten (vorproiteischen)
Tempelbezirks" d. h. nach Waldsteins Meinung des (imaginären) Heilig-
tums, das dem älteren Heraion vorausgegangen wäre. Diese „Umfassungs-
mauern", von denen die Reste zwischen dem jüngeren Tempel und den
Gebäuden V I und V I I sichtbar werden (Heraeum 1 1 0 8 , T a f . I V und V I I ) ,
sind in Wahrheit gleichfalls Hausmauern. Denn wenn von der H a u p t -
linie im rechten Winkel ein kurzes Mauerstück abgeht, so ist das kein
Strebepfeiler, sondern ersichtlich der Rest einer Quermauer, die von den
späteren Anlagen bis auf den Ansatzstumpf zerstört worden ist.
Bedenklich machen könnte freilich, daß es auf der höchsten Terrasse
über dem alten Tempel von der vorauszusetzenden kyklopischen U m -
fassungsmauer keine Spur gibt. So weit meine Beobachtungen reichen,
liegen auch unter den Abhängen keine Blöcke der A r t , wie man sie er-
warten müßte; nur riesige Felstrümmer und kleines Geröll. Aber es ist
wohl denkbar, daß man eine solche Umfassungsmauer im Lauf der J a h r -
hunderte abtrug und als willkommenes Baumaterial verwandte, zuerst
f ü r den alten Tempel, etwa seine mächtige Stützmauer und die Pflaste-
rung, dann vielleicht auch f ü r die Anlage der anderen Gebäude.
Der neue Herrensitz in der Argolis, der sich uns hiermit ergibt, rückt
ein in die Reihe der festen Plätze, die von der Ostseite her die Ebene be-
herrschen. Mykenai, die Heraionburg, Mideia, Tiryns, N a u p l i a liegen nun
in nicht mehr allzu ungleichen Abständen von einander, nachdem die
große Lücke zwischen M y k e n a i und Mideia gefüllt ist. Freilich kann sich
die neue Burg mit ihren Rivalinnen nicht messen. | D e r R a u m der Burg-
fläche steht hinter den anderen zurück, das Kuppelgrab nimmt es weder
in seinen Maßen noch in seiner Technik mit den beiden größten Kuppeln
von Mykenai auf. Ist bei diesen der ganze Dromos aus wohlbehauenen
Quadern gefügt, so beim Heraiongrab nur das letzte Stück unmittelbar
v o r der Tür, während der übrige Teil der Wände aus unregelmäßigeren
Steinen besteht; ein Wechsel der Bauart, wie er sehr ähnlich bei einem
[77(78] Zur Frühgeschichte des Argivischen Heraions 479
es weiter wahrscheinlich nennen, daß der Feind nicht aus der Fremde kam,
um nach dem Falle der Burg wieder in die Fremde zu ziehn. Denn dann
wäre der Fortbestand des Kultes kaum erklärbar. Vielmehr die Nachbarn
aus der Landschaft müssen es gewesen sein, die hier eine kleine aber un-
bequeme Rivalin erdrückten.
Freilich: Waren achäische Stammesgenossen die Uberwinder oder do-
rische Eindringlinge, und wie steht das Ereignis zur sogenannten „dori-
schen Wanderung"? Hat ein einzelner Gegner die Burg gebrochen, oder
war es etwa ein Bund argivischer Staaten, der hier gemeinsam vollbrach-
tes Werk durch die Gründung eines Centraiheiligtums krönte? Dafür ließe
sich geltend machen, wie auch später das Heraion nicht ausschließ lieh der
Stadt Argos gehört, sondern den religiösen Mittelpunkt der ganzen Land-
schaft bildet. Aber irgend welche Sicherheit darf man bei dem Stande der
Dinge nicht erwarten. |
Nur eins, was für mich von besonderer Wichtigkeit ist, sei zum
Schlüsse noch angedeutet. Als ich vor Jahren die Sagenüberlieferung der
Argolis aufarbeitete und bemüht war, jeder Stadt ihren Teil zu geben,
schien sich mir herauszustellen, daß die Geschichten von Io und den
Danaiden weder stadtargivisch noch mykenisch noch tirynthisch seien,
sondern sie schlössen sich an das Heraion an. Nun ist ja natürlich eine
Priesterpoesie an sich sehr wohl denkbar. Aber manches findet sicher eine
bessere Erklärung, wenn wir jene Sagen nicht auf dem Boden eines isolier-
ten Heiligtums sondern einer staatlichen Gemeinschaft erwachsen denken.
Der Danaername hängt damit zusammen. Mehr aber kann und will ich
jetzt nicht sagen1.
i N o t w e n d i g ist zum Schluß eine Auseinandersetzung mit Waldstein, von dem ich
Ähnliches ausgesprochen fand, nachdem ich mir an O r t und Stelle meine eigene
Meinung gebildet hatte. Im Heraionwerk ( I 2 5 1 ) w i r d etwas der A r t nur schüchtern
angedeutet, ausführlicher begründet ist es Classical R e v i e w X I V 1900, 4 7 3 . Waldstein
macht mit Recht die topographische L a g e geltend, die für eine Stadtgründung geeignet
sei (verwunderlich nur, daß er oben nicht gegraben hat) und sieht richtig eine Selt-
samkeit darin, daß sich ein großes Heiligtum ohne sichtliche Ursache fern von der
Stadt finde. A b e r alles Weitere z w i n g t so zum Widerspruch, daß ich doch glaubte,
meine eigene Begründung vortragen zu dürfen. Unrichtig w i r d zunächst als Beweis-
stück Bakchylides X I herangezogen, w o auch nicht das Geringste von einer Heraion-
burg zu lesen ist. Widersprechen muß ich ferner, wenn Waldstein am Heraion den
ursprünglichen politischen, wie später den religiösen Mittelpunkt der Landschaft sucht.
Nicht zu halten ist seine Datierung. Denn um in seiner Chronologie P l a t z zu finden,
müßte die Siedlung schon im A n f a n g des zweiten Jahrtausends zu existieren aufgehört
haben. U n d den sichersten Überrest der mykenischen Feste, das Herrengrab, hat er
nicht in seine Betrachtung einbezogen.
Zur New Yorker Nekyia
1934
3
a. 0 . 1 3 0 .
4
Besonders ähnlich W . Riezler, Weißgrundige attische Lekythen T a f . 1 7 . Vergleichbar
auch T a f . 30. 3 1 . 48 und andere.
5
Z u P. Jacobstahl eindringender Interpretation des Theseus wäre zu fragen, ob man
nicht die Bewegung der rechten H a n d zu modern deutet, wenn man sie „spielen"
sieht. Die Haltung beider Arme und Hände kehrt sehr ähnlich wieder bei der liegen-
den Figur des Pariser Argonautenkraters. A u d i hier stützt die rechte H a n d sich auf,
sie spielt nicht. Möglich, worauf W. K r a n z mich hinweist, daß die Rechte des Theseus
in ihrem Aufstützen dem Betrachter zugleich den Fels zeigt, von dem Theseus befreit
werden will.
[23¡24] Zur N e w Yorker N e k y i a 483
6
Der Sinn bleibt, mag man wie immer den Text von 1 5 1 konstituieren. Z u r Meleagros-
gestalt des Bakchylides vgl. M . Croiset, Mélanges Henri Weil 80: Le Méléagre de
Bacdiylide voilé de tristesse et comme enveloppé dans sa résignation douloureuse . . .
7
Goethe, Uber Polygnots Gemälde in der Lesche zu Delphi, 1803. (Ausgabe letzter
H a n d Bd. 44 S. 1 2 7 . )
8
f| tciTopia naçà ni/vôàçcot (Frg. 249 a Sehr.) in schol. A B zu Ilias $ 194. D a ß gegen-
über solchen Subskriptionen mythologischer Scholien Vorsicht am Platze ist, lehrt
E . Schwartz, Jahrb. f. Philologie Suppl. X I I 403 ff.
» Vgl. dazu E . Norden, Aeneis V I S. 2 5 1 = 22$8.
484 Archäologie [24/30]
Höllenhund fordern auf jenem Wege, der ihn zuerst zu Meleagros, dann
zu Theseus und Peirithoos führt.
Wie das Epos geheißen hat, das die ge|meinsame Quelle dieser D a r -
stellungen w a r , ist nicht sicher zu sagen. Für die Minyas schien manches zu
sprechen, aber der T o d des Meleagros w a r dort anders erzählt 1 0 . A u f den
Namen kommt auch wenig an. Genug daß die Sechsfigurengruppe unserer
Vase in jener epischen Hadesfahrt des Herakles ihr dichterisches Vorbild
hatte, und daß das statuarische Nebeneinander der Figuren sich dem grie-
chischen Betrachter, der die N a m e n las, in die j lebendige Bewegung des
epischen Berichtes umsetzen mußte. Herakles steht v o r den beiden Sitzen-
den. Jeder erkennt in ihm den künftigen Befreier. E r ist von rechts heran-
getreten. N u r sein Begleiter Hermes trennt ihn von Meleagros, der in
großartiger Einsamkeit versunken dasteht. Wer das Epos kannte oder den
Pindar oder Bakchylides - und wer kannte nicht wenigstens eine von die-
sen Darstellungen oder eine vierte und fünfte? - dem mußte die Begeg-
nung zwischen Herakles und Meleagros gegenwärtig sein, so wie jeder den
Hadeskönig hinter Peirithoos als Ziel der Jenseitswanderung von Hera-
kles verstand. Das sind keine herbeigeholten Assoziationen. Sondern über
dem wortkargen Nebeneinander dieser Gestalten w a r der Vorgang des
vertrauten Mythos lebendig gegenwärtig. Sich diesen Abstand des im
Bilde Ausgedrückten und des Gemeinten klarzumachen ist eine Grund-
bedingung f ü r das Verständnis der N e w Y o r k e r N e k y i a und gewiß auch
ihres monumentalen Vorbildes.
Wir betrachten zuletzt die mythische Vierfigurengruppe. V o r der
königlich sitzenden Unterweltsgöttin steht auf sein Ruder gestützt schiff-
brüchig und bettlerhaft Palamedes. Will man sich vorstellen, wie diese
Gestalt in der großen Malerei aussah, der sie, wenn irgendeine, entstammt,
so erinnere man sich an den Lokrer Aias im Unterweltsbilde Polygnots
(Pausanias X 3 1 , i ) : toti-nm toji Aiavxi tö y.Qcoiia eanv olov av dvögi vaDayüi
76VOUO EjtaWknjarig tait x q w t i e t i xfjg aX(.ir)g. Denkt man ihn redend, so würde
er sagen, was die f ü r uns namenlosen Toten in den unteritalischen Gräbern
sagen: vüv ö'ixexr|c; r\~/.ui nag' &yavr\v n s g a e t p o v E i a v . E r könnte freilich nicht |
beginnen wie die Seele dieser Namenlosen: £(?xo|.iai ex y.aftaQÜ xadaga 1 1 :
Vielmehr in Gestalt, Haltung und Kleidung w i r d sichtbar, wie er unter-
10
V o n der neueren Literatur sei nur erwähnt C . Robert, N e k y i a des Polygnot 79 ff.
U . v . W i l a m o w i t z , Berl. Klassikertexte V i , 2 2 ff.; Grieth. Heldensage I I , SbBerl.
1 9 2 5 , 2 1 7 (für die M i n y a s ) ; Glaube der Hellenen I I 1 9 7 (gegen die Minyas). M a n
könnte den Gedanken an die M i n y a s aufrecht halten, wenn man diesem Epos zutraut,
daß es M o t i v e v e r k n ü p f t habe, die ursprünglich nicht zueinander paßten: den T o d
durch das verbrennende Scheit und den T o d von der H a n d des Apoll. D a s ist nicht
unmöglich, aber freilich nicht leicht zu glauben.
11
O . Kern, Orphicorum Fragmenta S. 106 ff. y.uöagöjv übrigens ist in den alten
Exemplaren nirgends überliefert, nur in dem der Kaiserzeit, als man jcaftagfi) nicht
mehr verstand, i n x a d a p w wie ev xaüaoüH.
Krater, N e w Y o r k , Metropolitan Museum
Courtesy Metropolitan Museum of A r t , Rogers Fund 190S
[30ji2] Zur New Yorker Nekyia 485
ging. So klagt noch unter den Toten sein bloßer Anblick die Ursache seines
Unglücks an: Diomedes und vor allem Odysseus.
In den beiden anderen Männern würde ohne die Namensbeischriften
niemand Elpenor und Aias erkennen. Gewiß, der Vasenmaler, auf dessen
„ A p o g r a p h o n " w i r doch ganz allein angewiesen sind, hat die beiden
Helden arg trivialisiert. Aber gerade sie konnte doch auch die große
Malerei nur durch Beischriften kenntlich machen. Elpenor und Aias also
stehen sich gegenüber, schauen einander an. Was | ist das Gemeinsame
zwischen ihnen? Elpenor kommt nur in der Odyssee vor (v.7.u), und z w a r
nur mit seinem Tod - im Haus der K i r k e - und seiner Bestattung, die er
von Odysseus erbittet und erhält. E r ist also gar nichts anderes als eben
dieses letzte Schicksal. So taucht er auf der „polygnotischen" N e k y i a in
Boston 1 2 zwischen dem Schilf des Limbo vor dem widderopfernden Odys-
seus auf. Aias ohne besonderen Zusatz zum N a m e n und ohne besonderes
Kennzeichen kann wohl nur der Telamonier sein. Schon P . Jacobsthal hat
an die Stelle in Piatons Apologie erinnert, w o Sokrates wünscht, dem
Palamedes und dem Telamonier Aias zu begegnen und denen, die sonst
von den Alten durch ungerechten Richterspruch gestorben seien. Aber noch
deutlicher wird, was Aias hier soll, wenn man an die N e k y i a der Odyssee
(X 543 ff.) denkt und den Telamonier sieht, wie er den H a ß gegen
Odysseus noch im Hades mit sich herumträgt. Ist also auf unserer Vase
dem Palamedes sein Endschicksal unverkennbar aufgeprägt, hat Elpenor
überhaupt kein Schicksal als eben sein Endschicksal, so läßt auch dieser
Aias zu allererst an seinen Untergang denken. Gewiß trägt jede der Figu-
ren, wie sie im Bilde statuarisch vereinzelt sind, auch als Sagengestalt ihr
eigenes Schicksal und nur ihr eigenes in Ewigkeit mit sich. Aber diese
Einzelschicksale haben einen Einheitspunkt, in dem sie sich begegnen.
Schicken w i r voraus, daß solcher Konvergenz auch die Haltung der
Figuren günstig ist. Aias und Elpenor stehen nicht wie die beiden anony-
men Paare in strengem Profil einander gegenüber als abgeschlossene
Gruppe. Aias sieht z w a r zu Elpenor hin, aber sein K ö r p e r wendet sich
nach vorn und erlaubt so, das Auge, das von Elpenor kommt, zu P a l a -
medes gleiten zu lassen. D e r hat sich mit zusammenbrechenden Beinen zum
Haus der Persephone geschleppt. Aber Leib und K o p f sind nach vorn
gekehrt, und den rechten A r m mit dem Ruder streckt er gegen Aias zurück.
Wird also der Blick angeleitet, die Einzelgestalten unbeschadet ihrer Ver-
einzelung zur Gruppe zusammenzufassen, so ruht ihre geistige, mythische
Einheit darin, daß ihrer aller Todesschicksal durch einen Mann bestimmt
ist: Odysseus. In der delphischen N e k y i a spielt Palamedes mit Thersites
Würfel, und die beiden Aias stehen dabei: eg 5e tö atito ejtitriöeg toi
'Oövaaecog -roiig exftQovg r\yaye\ ö IIoMYvcoTog, sagt Pausanias offenbar mit
Recht ( X 3 1 , 1). Hier ist es differenzierter: Elpenor, der Gefährte, den
Odysseus in Treue bestattet hat, steht bei den beiden Männern, an deren
Tode derselbe Odysseus schuld ist. Niemand, dem der griechische Mythos
lebendig war - und wem war er im 5. Jh. nicht lebendig? - konnte, wenn
er die Namen las, diesen Einheitspunkt verfehlen. Dem heutigen Kunst-
betrachter mag es widerstreben, das eigentlich Dargestellte so ins Mythi-
sche transzendieren zu lassen. Aber ihm müssen ja auch die außerkünstle-
rischen Namensbeischriften ein Ärgernis sein, die doch der griechischen
Kunst, der monumentalen wie der Kleinkunst, von früher Zeit bis in die
Spätantike geläufig waren.
Also auch in diesem Nachklang großer Malerei wird eine Dichtung
vom Schicksal der Helden vernehmbar. Ob sie ein Maler gedichtet hat,
nur weiterbildend, was man in der ersten Nekyia der Odyssee erfährt,
oder ob ihm eine andere epische Nekyia vorangegangen war? Das späte
Epos hat ja im Hades die Helden zusammengeführt, um die irdischen
Ereignisse noch einmal vom Jenseits her zu kommentieren. Die zweite
Nekyia im Schlußgesang der Odyssee dient sehr eindringlich ganz allein
diesem Zweck. Dort sprechen Achill und Agamemnon den Gegensatz aus
zwischen dem Helden, der im Kampf zu fallen das Glück hat, und dem
König, der siegreich heimkehrend durch Mord umkommt, Agamemnon
und der Sprecher der Freierschar den Gegensatz zwischen Odysseus, der
zu Penelope, und Agamemnon, der zu Klytaimestra heimkehrt. Wie
dort drei kontrastierende Schicksale bezogen sind auf den Gedanken der
Heimkehr, so sind auf der Vase drei Helden mit ihrem Schicksal in Liebe
und Haß auf Odysseus gerichtet. Das kann ein Maler erfunden haben,
angelegt durch epische Nekyien. Aber mindestens ebenso möglich ist,
daß er damit einer bestimmten epischen Nekyia folgte, etwa der Nekyia
der Nostoi.
Es gab im griechischen Epos einige, nicht sehr viele Nekyien, zwei in
der Odyssee, eine in der Minyas, eine in den Nostoi. Jenseitsfahrten des
Herakles und des Orpheus sind uns bezeugt. Ob eine von diesen in der
Minyas gestanden hat, bleibt ungewiß. Gewiß ist, daß Polygnot in seinem
delphischen Gemälde zweien oder dreien jener epischen Gedichte folgte
und ebenso der Verfertiger des N e w Yorker Kraters oder das Gemälde,
durch das er trotz noch so weiten Abstandes bestimmt ist. Erwin Rohde
sprach angesichts des polygnotischen Bildes sein Erstaunen aus, wie
schwach um die Mitte des 5. Jh. die Höllenmythologie entwickelt war
(Psyche I 317). Sagen wir lieber: wie wenig von dieser Höllenmythologie
die Griechen in ihre großen Gemälde des Jenseits einließen. Denn diese
bleiben durchaus von episch-heroischer Art. N u r am Rande treten bei
Polygnot unheroische Gestalten hinzu: einige menschliche Büßertypen im
Gefolge der heroischen Büßer Homers, und dann die Bringer der Weihen
auf der einen Seite des Bildes, die Ungeweihten auf der anderen. Nur
zwischen den mythischen Gruppen stehen auf der N e w Yorker Nekyia
beliebige Athener und Athenerinnen der perikleischen Zeit. So dringt das
[33] Zur New Yorker Nekyia 487
eigene Anliegen der Menschen des j. Jh. in diese Bilder des Jenseits ein.
Aber in ihrem Kern bleiben sie homerisch. Ja indem sie alles Schattenhafte
abgestreift haben und nur das Gestalthafte bewahren, sind sie nodi aus-
schließlicher als Homer dies eine: Verewigung von Ruhm und Schicksal
der Helden.
Documents of Dying Paganism
1945
1
Peirce-Tyler, L ' A r t byzantin, Vol. I, pis. 1 5 3 and 1 5 4 (p. 9 1 : " l a tapisserie la plus
importante de toutes celles que le sol sec de l ' E g y p t e nous ait livrées jusqu'à présent") ;
Duthuit-Vollbach, A r t byzantin, pis. 83 and 8 4 ; W . F . Vollbach, Zeitschrift für bil-
dende Kunst, L X V , 1 9 3 1 - 1 9 3 2 , p. n o ; W . R . T y l e r , Bulletin of the William H a y e s
F o g g A r t Museum, I X , 1 9 3 9 , pp. 8 ff.
2
"Sollte nidit auch hier die schönste A u f g a b e sein, ein wirkliches Kunstwerk durch
Interpretation wieder lebendig zu machen?" U . v . Wilamowitz-Moellendorfi, Kleine
Schriften, V o l . V , 1, p. $ 1 0 .
3
" D a s Stück nennt sich ein wohlhabendes H a u s (èaxia icoXijoXßoi;). Die Geschenke
werden der F r a u . . . durch Putten und zwei Frauengestalten überbracht," W . F . V o l l -
bach, Zeitschrift für bildende Kunst., loc. cit. "Allegorie des glücklichen Hausstandes,"
B.Schweitzer, J . d. I., X L V I , 1 9 3 1 , p. 2 4 5 , n. 4. " T h e fashionable lady of A l e x a n -
dria . . . attended by t w o maids and half a dozen putti, each bringing a contribution
to her success in l i f e , " Ackermann, Tapestry the Mirror of Civilization, p. 20. " U n
cadeau de noce peut-être," Peirce-Tyler, op. cit., V o l . I, p. 92.
Documents of D y i n g Paganism 489
his throne between two bishops, each of them presenting a monk, and
even such a detail as the footstool of the central figure is almost the same
as in our tapestry. The impression of a real picture within a real
architectural structure is the stronger because its lower edge does not
begin below the upper level of the column bases, so that a zone of empty
space stretches between them. The original setting of the Hestia textile
cannot be better imagined.
The Goddess— An empress, one might first say, is seated on her throne,
the seat covered with a full red cushion, the back and the footstool
bordered with a yellow (i.e., golden) rim set with precious stones, red
and blue, and with pearls. She wears a whitish dress with sleeves of half
length, its folds and shading rendered in pale green. Her black shoes are
fastened with crossed strings. The fashion of her jeweled collar recalls
that which the Empress Theodora wears on the famous mosaic in San
Vitale in Ravenna: a rounded trapezoid, the row of large stones in the
middle completely framed by pearls6. Also the triangular shape of the
stones (which are dark green, light green, and blue) is known from con-
temporary jewelry 7 . The fourfold bracelets are each composed of two
yellow (golden) rings alternating with two circlets of whitish pearls.
The earrings consist of four pearls equally whitish, hanging on golden
chains or rods from a golden ring; each pearl is supported by a golden
finial or stop. A type of earring exactly similar can be seen in our
museums8. The whole display of jewelry, then, is an accurate represen-
tation of the ornaments which persons of rank, princesses or empresses,
were accustomed to wear.
The luxuriant hair falls in seven waves from beneath a ceremonial
cap or crown with indented contour. The main surface of this strange
headdress is green; its serrations are alternately blue and green. If its
form and coloring are significant, as they probably are, it represents a
crown of leaves. Fixed upon it is a wreath or tendril to which fruits j
are attached, red with yellowish shading; one is recognizably a pome-
granate. The lower limit of the headdress is marked by a yellowish
ribbon, which seems to secure it upon the hair. From a loop in it a golden
pendant hangs down toward the middle of the forehead. This pendant
has the shape of a Maltese cross or croix fourchee, which may or may
not have a special significance. It looks very much as if, like the earrings,
6 For other examples of the jeweled collar see J. Wilpert, Die römischen Mosaiken und
Malereien, Vol. III, pis. 16 and 17.
7 Compare the margin of the tapestry in the Victoria and Albert Museum reproduced
in Bull. Fogg A r t Museum, I X , 1939, p. 11, fig. 8.
8 Dennison and Morey, Studies in East Christian and Roman Art, pi. 4 1 ; Byzantine
A r t and Archaeology, fig. 327; Peirce-Tyler, op. cit., V o l . II, pi. 201 a (with the right
chronology, text p. 136). A pair with three instead of four pendants is in the Detroit
A r t Museum. The little golden finial occurs also on the Nereid textile at Dumbarton
Oaks.
[415] Documents of D y i n g Paganism 491
the collar, and the bracelets, it might have come from the workshop
of a goldsmith. Only the green crown with the wreath of fruit is no part
of the regalia of an empress. It marks her as divine; it symbolizes her
as the bearer of vegetation and dispenser of fruit. Ge, the Earth, on a
mosaic of Antioch, has a similar headdress: a fillet hung with pome-
granates and, perhaps, oranges9.
Her name is written above her head in the clear lettering of the early
Byzantine age: Hestia, one of the great goddesses of Greek antiquity. To
the name is added the word croXiW.pog "rich in blessings," which is worth
dwelling upon for a moment. It is an old, stately epithet: Sappho bestows
it on Aphrodite (tav jioKioX|jov 'AcppoSiiav Frag. 144 b Di.). In the Imperial
age it becomes a commonplace of the language of religious worship.
In the Orphic hymns, so full of epithets expressing plenitude (jtoXv^riTi
jtoXt'iioQcpe, jioXvurixave), only jioXxxbvmE, "rich in names," the favorite
invocation of this age of syncretism, is oftener used than :toMoX(te,
;roXi)6XPiE10. Athena, N y x , Dikaiosyne, Eirene, Euphrosyne, the Kouretes
are thus addressed as "full of bliss," and a hymn to Helios in a Phrygian
inscription (Kaibel 361) of approximately the same period as the Orphic
hymnbook begins with the invocation Xcuqe uuy.ap iroXiioXpe ftecov, "Hail
blessed god rich in guerdons." "Hestia rich in guerdons," then, cannot
very well be regarded as a mere flourish on the part of the designer: it
is intelligible as a reminiscence from a liturgical hymn or prayer. The
hieratic attitude of the goddess, her golden halo, her eyes fixing the
eyes of the beholder-all accord with this meaning of the inscription.
Thus this picture is no mythological fantasy, no mere display of deco-
rative splendor: it is meant as an object of worship. Its impression on
us may well be described in the words of the Neoplatonist Damascius
{Vita Isidori, 87) commenting on a statue of Aphrodite: | "into it the
artist has infused a great beauty; not sweet and voluptuous, but solemn
and virile."
How Hestia, the numen of the hearth, became a great goddess of
the universe, is a chapter in the history of Greek religion, well known
in general outline though obscure in many details 11 . Hestia, Hearth, is
the center of the house and family, the political community, the village
or city, the country, the league. It is only consistent that, wherever a
god has his house or precinct, there too is a hearth. Hestia, then, "is a
9
Antioch-on-the-Orontes. Vol. II, pi. 56, no. 7 7 , panel B.
10
The index in Gottfried Hermann's edition (Lipsiae, 1 8 0 5 ) gives eleven instances
of jtoXuwvD|J.e (-|XOi), eight of jtoMoXfte (-pie, -pioi). T h e next in order of frequency
w o u l d be jtoMjoe|AVE, with three instances. In these statistics only vocatives are
counted.
11
Welcker, Griechisdie Gotterlehre, V o l . I I , pp. 691 ff.; Preller-Robert, Griechisdie M y -
thologie, V o l . I, pp. 4 2 2 if.; Farnell, T h e Cults of the Greek States, V o l . V , pp. 345 ff.;
Wilamowitz, Glaube der Hellenen, Vol. I, pp. 1 5 6 s . ; Suess, R . - E . , s. v. Hestia.
492 Ardiaologic
holder of honors (i^idoy.og) in all the temples of the gods, and among
all mortals she has come to be a most exalted goddess." Thus says the
Homeric hymn to Aphrodite (V, 3 1 ) and in like terms a small Homeric
hymn to Hestia and Hermes ( X X I X ) . It is unnecessary to repeat the
pertinent passages from Pindar, Sophocles, Euripides, Aristophanes,
Plato 12 , but it will be useful to add a testimony from the very period of
our tapestry. Commenting on a hymn (probably of late antiquity) which
called her "the oldest and most honorable of the gods" (ji£>eo|3i}t&ttiv
ttetov)13, Proclus the Neoplatonist explains: "for in prayers they used to
sing Hestia before the others." The development is similar to that which
took place in the cult of Hekate 14 : honored at the entrance of doubtless
every house, and consequently of every temple, she became at an early
period a partaker of the worship paid to every deity; the hymn addressed
to her in Hesiod's Theogony ( 4 1 1 - 4 5 2 ) proves it. Neither Hekate nor
Hestia was, at least before the period of complete syncretism, in the
fullest sense a universal goddess ("Allgottin"), but both had a definite
trend toward universality.
We do not know what philosopher-theologian took the next step
and sanctified the center of the universe by giving it the old and hallowed
name of the goddess who for centuries had been the center of the home
and the community. The texts are well known, but must be cited. |
The shadowy figure called Philolaus the Pythagorean says in an
obscurely worded fragment (Vorsokratiker 44 [32], B 7) that "the one
in the center of the sphere has the name 'hearth.'" He meant the central
fire of the universe {ibid. 44 [32], A 16), to which he is said to have
applied yet other designations: "house of Zeus," "mother of the gods."
Whether or not we print "hearth" with a capital makes little difference
or none, since the hearth may at any moment show its divine nature 15 .
In a fragment of a lost tragedy Euripides addresses a group of gods,
among them Mother Earth. He adds, "the wise among mortals give you
the name of Hestia, seated in the aether." "The wise" we cannot identify;
but it is evident that Euripides has in mind the classical Greek diagram
12
See Farnell, op. cit., p. 346.
1 3 Proclus, In C r a t y l u m 1 3 8 , p. 79 Pasquali. T h e verse jteE0[3x>TaTTyv 6e Oewv 'Eotiav
y.£Aa&r]aaT£ xoCjjoi m a y well be from an Orphic hymn of the type of A n t h . Pal. I X ,
5M.52J-
14
See m y remarks in Goettingische Gelehrte Anzeigen, 1 9 3 1 , pp. 2 6 1 f . ; cf. Diller,
Gnomon, X I I , 1 9 3 6 , p. 2 3 9 ; on the opposite side, e. g., Wilamowitz, Glaube der
Hellenen, V o l . 1 , p. 1 7 2 ; Kern, Religion der Griechen, V o l . I l l , p. 1 2 7 , n. 1 ; A . D .
Node, Conversion, p. 2 2 . It goes without saying that Hekate was identified with the
great pre-Hellenic goddess of A s i a Minor. But Hesiod's H e k a t e is independent of, and
possibly earlier than, this identification.
15
N o t e , f o r example, o (3o)u6g x f j ; (iouXaiag ' E t m a g or t| ' E a t i a f| pouXala side b y side
with r| pouXaia i o x i a , Dittenberger, Orientis Graecae Inscriptiones Selectae, Vol. I,
p. J I 8 , n. 3 3 .
[6¡7] Documents of Dying Paganism 493
24
E.g., L . Curtius, Kunst des Altertums, Vol. I, figs. 1 2 5 c, 2 3 7 .
2
5 E . g., R o m . Mitt., L I , 1 9 3 6 , p. 3, fig. i , p. 5, fig. 2.
26
C f . Schweitzer, " D e a Nemesis R e g i n a , " J . d. I., X L V I , 1 9 3 1 , pp. 1 7 $ ff. ("Götterbild
mit Figurenrahmen"). Professor Lehmann w a s kind enough to give me his view of
the problem.
" C f . p. 18.
[10111] Documents of D y i n g Paganism 497
28
C o d e x Parisinus Graecus 1 3 9 : Omont, Miniatures des plus anciens mss. grecs de la
Bibliothèque Nationale, pis. 1 - 1 4 bis.
» Wilpert, op. cit., V o l . I I I , pis. 1 6 - 1 7 .
30 Mendell, Catalogue des sculptures, V o l . II, pp. 4 4 4 ff., no. 6 6 1 ; W u l f f , Altchristliche
und byzantinische Kunst, fig. 1 ; Rodenwaldt, Griechische Portraits aus dem Ausgang
der Antike, fig. 1 3 .
498 Ardiaologie [11112]
pours forth (jtQo|xeoi)aav) from her right side the "entire order (system,
Siaxoanov) of souls," and Hestia emits (jiqoieiaevtiv) from her left side
"the whole light of virtue" (nfiv to trig deexrjg cpcog). The image "pouring
forth" is not common in Proclus; but it answers to the Neoplatonic
notion of "proceeding forth" (jtQoo8og)-of "emanation," as one is more
accustomed to say. The higher grade or power, though remaining what
it is ([i-ovf)), overflows into the next lower one. This is how the world
unfolds itself out of the Ineffable One. It need not, then, surprise us to
find Hera pouring forth the diacosm of souls, Hestia, the light of virtue,
though I have not yet found any other place in Proclus where this
particular task is assigned them. But what is meant by "from her right
side" and "from her left side"? The two expressions apparently are
complementary; but whether they are meant to convey any systematical
or symbolical significance remains obscure. They cannot imply any
differentiation in value according to the old Pythagorean symbolism
which lists the right side with things good, the left with things evil.
The "light of virtue" could certainly have no sinister implication.
The inference is that Proclus had in mind, or even before his eyes,
a Hestia with the "light of virtue" at her left and a Hera with the
"order of the souls" at her right-whatever these formulas may mean.
In other words, in his language about Hestia and Hera and their emana-
tions, only the Neoplatonic veneer is his own. Under this surface is the
one continuous theological system, to which the much-misused name
"Orphic" can be given with good reason; for, since the triad Demeter-
Hera-Hestia originated in a poem of "Orpheus," the power which Hera
and Hestia in their turn bring forth can hardly come from another
source. H o w much Proclus himself remodeled, we cannot tell; but as
the right and the left sides have no significance in Neoplatonism, these
concepts and with them the emanation of the two powers must belong
to Orphic theology.
The Orphic Hymn to Hera ( X V I , 3) credits her with "providing for
mortals the soul-sustaining breezes" (ipuxoTeocpoug aifeag). N o doubt, Stoic
theology identifying Hera with the air is responsible for this and other
characterizations in that hymn (oiipQoav ¡xev nfjtep, dvEfxmv TQocps). | It is
possible that Proclus' conception of the "order of the souls" emanating
from Hera is a Neoplatonic transposition of the idea of the soul-sustain-
ing breezes, or some similar formula, perhaps from the Sacred Words
('Ieqoi Aoyoi) of "Orpheus," the acknowledged main source of the Neo-
platonists. It is, however, the complementary image, Hestia with the
"light of virtue" emanating from her left side, that is for us important:
for here on the tapestry we see Light standing at Hestia's left. The
correspondence may be due to chance; but is that very likely? It is obvious
that Proclus relies on an outside datum, which he fuses into his own
theology. This datum, then, will be of course not our tapestry in particular,
500 Archäologie [14115]
are recognizable. With its removal, which occurred only after the first
publication of my "Documents," a few original features emerged which
entail an important change in the interpretation of the figure.
Whom does this figure represent? He wears a sort of crown com-
posed of three horizontal rows of knobs: the nine in the center are green,
the others red; both the green and the red are done in three different
shades, so that the impression of balls is produced, whereas the pearls
in Hestia's earrings, collar, and bracelets lade this effect of convexity.
It is odd that this headdress, if a jeweled diadem, has no distinct central
feature of quite definite shape, such as a rhomb or rosette35. Both form
and color might vaguely suggest grapes, but the new identification of the
figure will lead to a more probable explanation.
Previously this figure seemed to hold in his hands a tablet or an
unrolled scroll as if he were reading what was written upon it, perhaps
reciting a hymn to Hestia and to us. Such was my former interpretation.
Now it has become clear that this attendant held a tablet of quite the
same type as the figure at the right. Enough of the upper edge and the
left corner of the tablet is preserved to make this fact as good as certain.
Whom does this figure represent? Most probably it is a hypostasis of
a particular power of Hestia, corresponding to Light on the right side.
But let us first look at the six putti running or flying to the right and
left of Hestia. They are three on each side, in "vertical perspective".
Each carries a circular disk or tablet on which a Greek word is written.
These are the gifts which the goddess of the hearth bestows on men-Greek
words, but a non-Greek (perhaps Egyptian) practice, to use written
words in place of illustrative symbols. Then, this exactly symmetrical
structure is framed on both sides by the two standing figures, each of
which carries or carried a rectangular tablet with an inscription. Since
the word cptog is written on the woman's tablet, a word of three, or not
many more than three, letters must have stood on the man's tablet. IIY|P
is the most probable I can find. Fire is the first and most essential gift
of the hearth to man36. The second gift is light which flows out from the
hearth and brightens the house. Both words are neuter. That the bearer
of "light" is a female figure, the bearer of "fire" (if my conjecture is
correct) a male one, might thus be interpreted, that light is the gentler
force, fire the more powerful and even destructive one. "Fire is usually
called male" according to the Neoplatonist Proclus who contrasts it
with the female Earth 37 .
The flamelike headdress of the female attendant is fitting for Light
though it might also stand for Fire. The man, however, wears a different
35
See the many examples in R. Delbrueck, Spatantike Kaiserportrats.
3« Pauly-Wissowa, R.-E., VIII 1288.
37
Proclus In Timaeum ed. Diehl I, 110, 10; II, 17, 18.
502 Archäologie [15117]
43 Clédat, Monastère et nécropole de Baouît, pl. 98; Art Bulletin, 1923, pl. 13, fig. 15.
44 A. M. Schneider, Die Hagia Sophia, pl. 62; A. J. A., X L I I , 1938, p. 223, fig. 1.
45 Ricci, Ravenna, fig. 103.
46 Diehl, Manuel d'art byzantin, fig. 147; Morey, Early Christian Art, fig. 93.
47 Graf Vitztum und Vollbach, Malerei und Plastik des Mittelalters, fig. 10; Tode, Giotto,
fig. 7-
504 Ardiaologie [18120J
48
It is only too easy to forget w h a t all k n o w , that ayyeXot; is a messenger of someone.
In the monastery of Baouit the angel at right of the V i r g i n is called &yyeho<; OEOV, the
other, ayyeXog xtijnou (fig. 7).
19
Some elements of this ornamentation appear on the much-patched tapestry with the
Judgment of Paris published in Pagan and Christian A r t , Brooklyn Museum, 1 9 4 1 .
50
Collignon, Geschichte der griediisdien Plastik, V o l . I, p p . 5 59 ff.
506 Archäologie [22/23]
spell of Hestia's green eyes looking directly at you out of the picture.
And the eyes of all the attendants converge toward the beholder.
T o investigate the principles determining the direction of figures in
works of art, especially the direction of their gaze within the picture
and out of the picture would be a great task for an art historian, one with
a broad perspective over several millennia and continents and with a real
knowledge of religion and literature. The present writer can hardly dare
to touch on the problem 51 .
Frontal faces are common in the drawings of children and of primi-
tive peoples; the kettle of Gundestrup in Jutland may serve as an
example 52 . They are exceptional in the great artistic periods of the Near
East and of Greece. Such exceptions are the Babylonian Isdubar, and in
Greece the Gorgoneion and those masklike faces of Dionysus or Silens
which stare out of the relief or painting while their bodies move in its
plane53. If what is evident of the Gorgon's Head is also true of those
other frontal faces of archaic Greek art, it may be said that a bit of
magic interrupts the flow of the artistic narrative; the frontal face is
apotropaic or-to coin a name for the opposite-epitropaic 54 . In the works
of Hellenic art, classical as well as archaic, an ideal frontal plane (we
may say) separates the action from the beholder. Its actors have no
eyes for him, but are entirely concerned with one another. There are,
indeed, elsewhere than in the frontal types just specified, a few departures
from this rule; but on the whole [ it dominates classical art. Gradually
a great change takes place, the nature of which still has to be elucidated.
It is likely that, far from being a mere formal process, it indicates a
profound alteration in the Greek soul. On the walls of Hellenistic
Pompeii, at all events, many eyes are gazing out of the picture. In portrait
painting, at least from the Augustan age on, there is a preference for
more or less strict frontality 55 . Other significant examples of frontal
direction are the figures which seem to be stepping out of their background
into the room itself: a servant carrying a cup, or a girl with a jug, des-
cending a short flight of steps - tricky illusions of the sort destined to
reappear in baroque art. Most remarkable of all, perhaps, is an admirable
Bacchus, seated on his throne in full frontality, his tipsy eyes facing, one
51 In Morey's Early Christian A r t " f r o n t a l i t y " is one of the guiding notions; see the
index, p. 232.
52 Revue des Etudes anciennes, X , 1908, pis. i f f . ; S. Reinadi, Repertoire des reliefs,
Vol. I, pp. 148 ff.
53 Early Greek art rather often represents heads in front v i e w ; e. g., on the ivories from
Sparta, and on the C o r c y r a pediment. But it is evident that the influence of three-
dimensional sculpture, from the conventions of which narrative relief cannot at once
break a w a y , accounts for many of these; cf. Rodenwaldt, K o r k y r a , Vol. II, p. 139.
54 C f . Diez and Demus, Byzantine Mosaics in Greece, p. 38.
55 C f . Neugcbauer, Die Antike, X I I , 1936, pp. 154 ff.
[23/24] Documents of Dying Paganism 507
might say, the revelers in the room56. But note that his face is turned a
trifle to his right; he does not quite stare at us as does the Minerva of the
painter Famulus (?) as Pliny describes the picture (N. H. 32, 210):
Minerva spectantem spectans quacumque aspiceretur57.
Pliny's words impart the novel spell of the eyes fastening on the
beholder as soon as he looks upon them. A perusal of the voluminous
Inventory of the mosaics in France and French Africa yields even more
impressive evidence of this reappearance of primeval magic in highly
developed art. A f t e r turning over many pages of pretty ornaments and
scenes interesting or indifferent, at the end of the last volume 58 one comes
suddenly upon a surprising depiction, a head of Oceanus in strictly fron-
tal view, unusually grand, fatherly, and imperial (pi. 8). But one is spared
the task of formulating one's impression by the two distichs which accom-
pany it59. There the glance of Oceanus' eyes is called "starry" (sidereo
visu), in language almost | astrological, as if they exerted "influence." It
is their aim to "shatter malevolent hearts and drive the impudent tongue
from this place." "Through this endeavor," says the second distich, " w e
surpass the ancestors, and to the delight of all there shines in our house
the summit of art." To a new artistic perfection is here assigned the task
of combating the primeval danger of the evil eye and the malicious
tongue. The magic of such staring eyes is of course not uniform every-
where. Hestia's charm is very different from the stare of Oceanus; but
there is magic in both.
Among the different types of frontality passed in review one will not
find the entire scheme of the Hestia tapestry: central figure seated, staring
out of the picture, flanking figures looking toward the point of view of
the beholder. Should one try to transpose the same general scheme into
the style of, perhaps, the early Roman Empire, one would strike upon the
Vergil mosaic from Hadrumetum (pi. 9, a)60. The likeness is remarkable,
the dissimilarity is still more evident. There the Muses are the higher
56
Herrman, Denkmäler der Malerei des Altertums, Farbendr. I.
57
A comparable description, but of a statue and meant as a real miracle, is in Lucian, De
Dea Syria, cap. 32.
58
Inventaire des mosaïques de la Gaule et de l'Afrique, Vol. I l l , no. 3 1 8 . C f . Hinks,
Catalogue of the Greek, Etruscan and Roman Paintings and Mosaics in the British
Museum, p. 75, no. 15, pi. 28, and pi. 37, 3. But the mosaic in the British Museum has
a "circular water outlet," and must have been a fountain mouth.
» C . I. L „ V I I I , 8509; Buedieler, C . L. E., no. 883:
Invida sidereo rumpantur pectora visu,
cedat et in nostris lingua proterva locis.
hoc studio superamus avos, gratumque renidet
aedibus in nostris summus apex operis.
The meaning of the face is not to be understood without the epigram ; nor (even for a
Buedieler) is the epigram intelligible without the face before one.
60
Inventaire des mosaïques de la Gaule et de l'Afrique, Vol. II, no. 1 3 3 .
508 Archäologie [24j25]
powers, whereas in the tapestry the goddess outranks her attendants. But,
above all, the look of the Muses avoids sharp symmetry, and Vergil
glances obliquely into space, reciting his Aeneid to an undefined audience.
We are permitted, not forced, to join it. Hestia, on the contrary, stares at
me and compels me to look at her.
In early Christian art a type of grouping which appears on ivories
and marble sarcophagi of the fourth and fifth centuries - Christ seated
between apostles (pi. 9, b)61 — follows the scheme of the Vergil mosaic.
Christ gazes obliquely out of the scene somewhere into space: we may
look at him, but he does not look at us. It is the same in secular examples
of this type of composition. On a work dating from the end of the fourth
century, the silver casket of Projecta from the Esquiline, now in the British
Museum62, are three scenes in which a lady is standing or sitting between
two attendants who look obliquely toward the central axis in front of the
scene; but in all three the | central figure gazes slightly, though definitely,
toward a point not in the same central axis. The effect is strangely vague
if one turns to it from the piercing frontality of the eyes of Hestia.
This rigid scheme appears rather early on the Oceanus mosaic, where
the very conventional Nereids take the place of the attendants gazing
toward the middle axis. We find it on some of the reliefs of Mithras,
where, instead of looking vaguely into space, as is the rule, he gazes
straight at the worshiper (pi. 2). Perhaps the earliest example of this rigid
frontality on an official and dated monument is the famous silver misso-
rium of Theodosius I 63 . Like Hestia, the Emperor is seated in sharp front
view, and with a gesture similar to hers he is handing a document to an
official on whom he does not turn his eyes. He stares sharply out of the
picture, and so do the two Caesars enthroned at his right and left. The
two bodyguards, however, who stand at the outer sides of the Caesars,
have the oblique direction toward the observer which we know from our
Phos and Pyr (if we are allowed to use this conjectural name). But even
here a limitation is necessary: though the body and head of the Emperor
are turned squarely to the front, his eyes seem to stare not directly at the
beholder, but somewhat upward, and the Caesar at his left turns his gaze
very slightly toward the center64.
61
Pyxis in the Kaiser-Friedrich-Museum, Morey, Early Christian Art, fig. 79; sarco-
phagus of Junius Bassus, Gerke, Der Sarcophag des Iunius Bassus, pi. 5, Morey,
Early Christian Art, fig. 1 4 1 ; sarcophagus in San Ambrogio, Milan, Kaufmann,
Handbuch der christlichen Archaeologie, fig. 199.
62
Dalton, Catalogue of the Early Christian Antiquities of the British Museum, pis. 1 3 - 1 8 .
Poglayen-Neuwall, Rom. Mitt., X L V , 1930, pp. 124 ff.; Delbrueck, Spatantike Kaiser-
portrats, p. 50, n. 1 2 3 ; E. Weigand, J.d.I., LII, 1937, pp. 128 f.
"Delbrueck, Consulardiptydien, pi. 62, p. 2 3 5 ; Spatantike Kaiserportraits, pis. 94 ff
p. 200. Dated by Delbrueck 388 A . D.
64
See the details in Peirce-Tyler, op. cit., Vol. I, pi. 3 7 ; Delbrueck, Consulardiptydien,
text, pi. 3.
[25126] Documents of D y i n g Paganism 509
65 Christ between St. Peter and St. Paul, the Virgin between t w o angels, on a diptych
in Berlin, W u l f f , Altchristlidie und byzantinische Kunst, V o l . 1 , fig. 198; Kunst der
Spatantike, Berlin, Kaiser-Friedridi-Museum, pi. 59. A m o n g consular diptychs note
especially that of Rufius Probianus, recto, Delbruedc, Consulardiptydien, pi. 65;
Wulff, Altchristl. u. byzantin. Kunst, I, fig. 192. O n this w o r k , tentatively dated
by Delbrueck about 400 A . D . , the consul wears the same sort of calcei as does
Hestia, the posture of his feet is the same as hers, the secretary on the right recalls
the attitude of Phos by the manner in which he holds his polyptydi. In the diptychs
of the sixth century the type continues, the staring becoming even more ghastly:
a characteristic example, the diptych of Magnus, dated Constantinople, 518 A . D .
(Delbruedc, Consulardiptydien, pi. 22).
6 6 Codices Graeci et Latini phototypice depicti, V o l . X , Dioscurides, fol. 6 V ; Buberl,
Der Wiener Dioscurides und die Wiener Genesis, pi. 5, pp. 16 if.; Morey, Early
Christian A r t , fig. 116; Ebersolt, L a Miniature byzantine, pi. 8, no. 1. Buberl (loc.
cit.) has pointed out the similarity between the Aricia leaf and the Vergil mosaic,
but not the profounder difference.
v? Morey, Early Christian A r t , fig. 209, and the drawing on p. 172. See above, p. 17.
6 8 G r a f V i t z t u m u. Vollbach, op. cit., figs. 10, 41, 60.
Jahrbiicher, C X X X I I I , 1928, pp. 228 if. and Gnomon, V I I , 1931, p. 293, regards as
something specially Parthian the introduction of frontality into scenes of action-too
narrow a view. Interesting, by the w a y , is the change of the profile head of a lion
510 Archäologie [26127]
We find it at the same period in India 70 , later in Coptic art and in Syria
(Etschmiadzin Gospels), and still later at Rome (fresco in the cemetery
of Comodilla, also in Santa Maria Antiqua and in the apse mosaic of San
Agnese)71. Somewhere between the thorough frontality of Oriental com-
position and the Hellenic "closed" or "transversal" system, but nearer to
the first than to the second, is the place of the Hestia tapestry, neither
Hellenic nor Oriental. It is a new formula destined to a great future. The
later Middle Ages and finally the Renaissance modify it in form and
spirit by toning down the imperious spell of the central figure until it
becomes the subtler charm of human beauty and loving companionship. |
The textile panel in the Metropolitan Museum1 (pi. io) whidi is the
main subject of this study is probably the most elaborate and important
of its kind — that kind of Greco-Egyptian textile worked in purple wool
on a linen ground to which the name "Coptic" is commonly given. I
should prefer to call it the Greco-Egyptian purple-figure style, as com-
paratively few specimens have anything to do with the Coptic church2.
Although this panel has been published several times3 and postcards
figuring it as "The Triumph of Bacchus" are sold at the entrance to the
Museum, it is all but unknown.
The tapestry measures 85A by 137« inches. The inner measurements of
the rectangle enclosing the semicircular field are: height 7V2 inches, width
13 inches4. It is attributed to the third or fourth century after Christ -
dates being as yet more or less haphazard in this field, which awaits a
thorough investigation.
would never be carried like the object in question. Stones carried as weapons in the
same manner often occur on textiles; for example: Wulff-Vollbach, op. cit., p. 46,
no. 6243, pi. 72; A . F. Kendrick, Catalogue of Textiles from Burying-Grounds in
Egypt, V o l . I, no. 68, pi. 16; A . G a y e t ,"L'Exploration des nécropoles gréco-byzan-
tines d'Antinoë," Annales du Musée Guimet, X X X , pl. 9.
1 3 E u r . Bacchae 73 ff., 120 S., etc. A . Dieterich, " D e r Untergang der antiken Religion,"
Kleine Schriften, p. 497, traces the influence of the Dionysiac orgiasm on the
religion of Cybele back to the old Thracian immigration into Phrygia.
u See British Museum Catalogue of Greek Coin«, Ionia, pi. 27, no. 1, pi. 28, no. 5, pi. 39,
no. 6; p. 401 (Index): coins of Smyrna; Phrygia, pi. 17, no. 5: coin of C i b y r a ; p. 329:
coin of Laodicea; etc.
A . de Ridder, Collection Louis de Clercq. Catalogue, V o l . I l l , pi. 52, and in
Fondation Eugène Piot. Monuments et Mémoires, Vol. X I I , 1905, pl. 6; see also
E. Pottier, " L a Collection Louis de Clercq," Annales du Musée Guimet, X I X , 1906,
plate facing p. 232. (I owe this as well as other references to Dr. Victor F. Lenzen,
i The Hestia tapestry at D u m b a r t o n O a k s
Courtesy of Dumbarton Oaks Research L i b r a r y and Collection, H a r v a r d University
ia N o t r e - D a m e de la Belle-Verrière
From J . - B . - A . Lassus, Monographie de la Cathédrale de Chartres,
Atlas de planches, Paris 1 8 4 2 - 1 8 7 5
i b D e t a i l of h e a d , H e s t i a t a p e s t r y
2 Mithras sacrificing a bull (relief; Mithraeum at Heddernheim)
3 Christ seated between two bishops and two saints (Rabula Codex)
6 T h e " M a d o n n a R u c e l l a i " , of D u c c i o
3 C h r i s t seated b e t w e e n t w o bishops a n d t w o saints ( R a b u l a C o d e x )
5a Cybele seated (terra-cotta relief; Collection Sabouroff)
rrrTmiT>ninHii>irnni»riiHvr>i>iiifiniirrii>iiiiiiiiiiiMiitiniriiiirTiiiTii.
i 'M. mil.
i liii il m : il i ni il |l i •• ! i mi lu, ml i I I m l I I I I ni •< i h l I t M "
>3" " " " " " " "
Os
12 G o d d e s s w e a r i n g m u r a l c r o w n a n d short chiton
(bronze statuette f r o m Syria)
13 a Alexander in his chariot (Byzantine relief; St. Mark's, Venice)
13 b Maenad attacking Orpheus (red-figure vase; Louvre)
14 C h a r i o t - b o r n e D i o n y s u s or C y b e l e s u r r o u n d e d by the L a b o r s of H e r c u l e s
( t a p e s t r y ; C o u r t e s y of the M e t r o p o l i t a n M u s e u m of A r t )
15 Chariot-borne Cybele and Attis (silver dish from Parabiagio)
16 C y b e l e a n d Attis ( m a r b l e p l a q u e ; C a b i n e t des Médailles)
[29/ 31] Documents of D y i n g Paganism 513
the mural crown in a short | chiton just reaching to the knees and leaving
the right breast exposed. A chlamys or shawl falls over her left forearm.
The oblique baldric coming down from her right shoulder reminds one of
a favorite "accessory" which the designer of the tapestry gave to all his
persons except his central figure. N o t only the individual traits of the
costume, but the total appearance of the statuette is so similar to that of
Cybele on the textile that both may reflect a temple statue of the standing
goddess wearing the mural crown and dressed in a short chiton.
In such an appearance, at any rate, the textile shows her in her chariot,
the body of which is rendered in front view without the foreshortening
which would correspond with the oblique direction of her posture. The
wheels may or may not have been absent in the original which the weaver
translated to his medium; one may think of them as hidden by the two
lions drawing the chariot16. Are they really drawing it? Their posture is
strange indeed. Their symmetrically rampant bodies are in striking con-
trast with the freedom and fluency of the picture at large, — though this
precise pattern at the bottom of the vertical axis may well be felt as the
firm root out of which grows the free movement of all the rest.
The frontal chariot with team of two or four or sometimes even six
steeds, bulls, lions, griffons, elephants, or centaurs harnessed to it in the
heraldic posture of our tapestry - "l'attelage déployé" - is a motif with
a long history, of which only a few fragments need be given here17. There
is the chariot of Helios, and that of Selene, the former already on vases of
the fourth century B. C . from southern Italy 18 - a provincialism from the
Greek point of view, but at the same time a pattern which had archaic
Greek forerunners and which heads a long | tradition through the Im-
perial epoch and the Middle Ages 19 . The main track of this history winds
through un-Greek or half-Hellenized territory. As early as the time of
des Peintures, p. 290, no. j , p. 296, no. j ; Athenische Mitteilungen, V , 1880, pl. 16
514 Archäologie [31 ¡32]
Asoka, it seems, the motif spreads (from where?) to India; after a few
centuries it occurs in Sassanid Persia and in the art of Gandhara; and
again, somewhat later, in Chinese Turkestan. There is, moreover, the
medieval pattern of Alexander the Great borne heavenward in his griffin
drawn chariot, a well-known example of which is on the façade of St.
Mark's in Venice (pi. 13, a)20.
To return to our proper subject, Cybele's chariot appears on coins of
the Imperial age, the lions there having a less erect and rigid position than
on the tapestry 21 . There is, besides, the fact that the old Oriental symbol
of the "Mother of the Animals" or the "Persian Artemis" between two
lions or stags or birds occupied the imagination of the Greeks from their
archaic period22; it was a pattern which later took on more definitely the
traits of Cybele between her two lions23. But, in spite of these and other
analogies, one still may have the feeling that our explanation falls short
of fully accounting for the strange manner in which these lively and yet
heraldically formalized animals move in the picture. Perhaps the further
course of the interpretation will help us to fill the gap.
The piercing eyes of the goddess are turned toward the scene at her
left. A woman in a long garment, girded like Cybele herself, moves to-
ward our right, her feet in a dancing movement which is carried on by
the long, tight folds of her gown, with its edge undulating around her
ankles. She belongs to a well-known type of dancing maenads which
appear on red-figure vases, on a Bacchic mosaic from Olynthus, and on
neo-Attic reliefs. But whereas those maenads look | straight forward, she
throws her head back in the ecstatic gesture of the Maenad at Dresden
generally attributed to Skopas24. One would, then, call her a maenad if she
were in the revel of Dionysus. Since her mistress is the Great Mother,
one might call her a Corybantess, or one of "the mitred women of the
Asiatic Cybele" or of "the Phrygian chambermaids of the goddess," -
though Catullus would give her a wreath of ivy and call her a maenad25:
the Bacchic rout and the rout of Cybele, we know, had become very
similar over many centuries.
The estatic dancer is at the same time a grim aggressor. She is attacking
with both hands the youth on the right. Her left hand stretches toward
his head - one would say seizes it and drags it back, were there not a
narrow vacant space between hand and head; but this gap may easily be
due to the technique of weaving, which needs clear outlines and avoids
overlapping. Her right hand grasps a short sword or a long knife.
Attis - for a youth attacked in the presence of Cybele can only be
Attis - is speeding away, his legs moving along the semicircular base line.
But this adaptation to the curvature is no mere formal motif; one may
easily interpret the curved line as a mountainous terrain, and describe
him with words from Ovid (Fasti IV, 234), who makes him rush to the
heights of Mount Dindymon: "cursu Dindyma summa petit." He is either
climbing or falling down on his knees, or (perhaps better) doing both.
This movement - or rather, this grouping of the Corybantian woman and
Attis - may be traced back to vases of the fifth century B. C. on which a
maenad attacks Orpheus (pi. 13, b)26. One of them shows the meanad
holding a dagger in quite the same way, and Orpheus with a similar
movement of his legs except that he runs and is about to fall down on a
straight, not a curved, line. But the comparison supports our interpre-
tation. We know the story of Orpheus and the maenads; we may with
caution reconstruct on a like model the story of Attis and the Corybantian
woman.
The rush of his movement is expressed, as often in these late cen- |
turies, by the waving mantle, though it is not clear how it is fastened -
another indication, probably, that the transposition of the picture into
the textile has caused some disarrangement. His hands vanish behind his
back; they are bound; he already is a prisoner27. Strange is the piece of
25
C f . Diogenes of Athens, the tragic poet, Trag. Gr. Fragm., ed. Nautk, p. 7 7 6 : 'Aaiaöo?
UriTpocpopous Kuße^ri? vuvalxag; Rhianus in Anth. Pal. V I , 1 7 3 : f| S^uy'ir)
dedans 116X05; Catullus L X I I I , 2 3 : Maenades hederigerae. See Roscher, Mythologisches
Lexicon, Vol. II, 1, pp. 1655 ff.
26
M o n u m e n t i . . . dell'Istituto di Correspondenza Archeologica, Vol. I, pi. V , no. 2
(Reinach, Repert. des Vases, Vol. I, p. 63) = Louvre G 436, C V A Louvre, 8, III I d,
pi. 37, 1 and 2. See also Monumenti, Vol. I X , pi. X X X (Reinach, Repert. des Vases,
V o l . 1 , p. 184); Annali dell'Istituto, 1 8 7 1 , pi. K (Reinach, Repert. des Vases, V o l . 1 ,
p. 327). The figure of Orpheus is almost identical in all three.
27
An analogy is the sacrifice of Isaac on Greco-Egyptian tapestries; see R . Forrer,
Die frühchristlichen Altertümer aus dem Gräberfelde von Achmim-Panopolis, 1893,
pi. I X , no. 8; W. F. Vollbach and E. Kuehnel, Late Antique Coptic and Islamic
Textiles, pi. 22. Other analogies are, e.g., the bound enemies of Dionysus in his
Indian triumph; K . Lehmann-Hartleben and E. C . Olsen, Dionysiac Sarcophagi in
Baltimore, fig. 7 and p. 2 7 ; Reinach, Rupert, des Reliefs, Vol. I l l , p. 26, no. 1 ;
p. 360, no. 3.
516 Archäologie [33134]
garment which falls from his girdle in parallel folds covering that toward
which the sword is directed. The author of Tristram Shandy could speak
of the subject with gusto. It is the mutilation of Attis which is represented
in the right half of the picture.
A well-known myth relates that Attis had been obligated by Cybele
to strict fidelity, as, in other stories, Adonis by Aphrodite, Daphnis by
the nymph Echenais, Rhoecus by a hamadryad 28 . In each tale the man
loved by the goddess or nymph breaks the faith. Daphnis and Rhoecus
are blinded; Adonis is mortally wounded by the boar; the punishment
of Attis is his mutilation. At this point the tradition divides. The prev-
alent version has it that he mutilates himself in a frenzy visited upon
him by Cybele. But many authors credit her with doing the deed herself29.
We are not told in what way, and all these references are very brief.
It would not be incompatible with them if she had done it through the
agency of one of her attendants, and the analogous myths of Orpheus
and Pentheus dismembered by the Bacchantes go to show that sudi a
variant is not unexampled. That it existed becomes clear from the textile.
The maenad attacks Attis, acting in Corybantic frency under the spell
and command of her divine mistress.
It is likely that at this point the movement of the lions-or let us
speak first of the lion in the right half of the picture-receives a sig|-
nificance not surmised before. Cybele's lions, one remembers, are some-
times not only the team at her chariot, but also her attendants as meta-
morphosed Corybants (Oppianus, Cyneget. I l l , 7 ff.). Now let us look
carefully at the right-hand lion. His rising foreclaws touch the sword-
carrying hand of the woman: this fatal action is directed by the goddess,
the lion being the bearer of her power. What so far has seemed a strange
heraldic pattern is now filled with significance. The language of the
picture is not the less distinct because its grammar must be carefully
studied.
The woman at the left is in every respect so similar to the one we
have described that she deserves a like designation. Her head, however,
28
Daphnis: Knaack in R.-E., IV, col. 2143, s - v - Daphnis. Rhoecus: Charon of
Lampsacus, in Jacoby, F. Gr. Hist. I l l A , 262 F 12.
2
» Lucian, De dea Syria cap. 1 5 : ¿15 yÙQ |uv f| 'Péri etejie . . . Scholia in Lucianum,
Vol. IV, p. 173 Jac.: ròv " A t t i v . . . vnò 'Péaq xrjg twv dewv ànoxonévta (xrixoó;.
Hippolytus, Refutatio V, 7: èàv 8è r) (ir|xr|Q twv Oeàiv àjioxót|>fl tòv " A t t i v xal
aÙTT| toCtov r/ouaa èqÓ)|ì,evov . . . Minucius Felix 22, 1 : (Cybele) quae adulterum
suum... exsecuit. Lactantius, Divin. Inst. I, 17, 7: Deum Mater amavit formosum
adulescentem et eundern cum paelice deprensum exsectis virilibus semivirum reddidit.
Paulinus Nolanus 3 2,82 : pastor, castum servare pudorem / qui voluit sprevitque deam,
cui saeva viriles / abscidit partes, ne quando tangeret ille / alterius thalamum qui noluit
eius adire. Fulgentius, Mitolog. I l i , 5 : Mater ipsa ... formosum adulescentem cum
paelice deprensum in deliciis habuit, et quia fidem non praestiterat ademptis genitali-
bus efjeminavit. (These and other quotations are from the collections of H . Hepding,
Attis.)
[34j35] Documents of Dying Paganism 517
is not thrown back quite so far, and her chin rests upon her left hand.
The ecstatic movement of the sister is, one may say, merged with the
gesture of the sorrowful onlooker, known already from the vases of the
fifth century B. C. 30 It is an ecstasy passing into meditation and dejection.
The old Greek skill in combining different states of mind in one action
has not diminished in this late period.
The object of this sadness can only be the event at the right side of
the picture. But why should a Corybantian woman give up her Cory-
bantic deportment? And what is the object in her right hand, where
the arm is hanging down so differently from the aggressive right arm
of her sister? One might think of a cymbal; but one cymbal alone does
not make sense-aeraque .. . aere repulsa, says Ovid (Fasti I V , 184),-and
cymbals have a different appearance and are carried in a different
manner 31 . It is an apple; one recognizes the blossom end. The same sort
of fruit, besides, hangs down as an ornament from the vine at the
bottom of our panel.
The apple thrown to a person as a token of love is well known from
Greek custom and poetry; the Greeks even coined a special word for
this "apple-throwing" ((xtiXopoXeiv)32. The girl, then, was going to throw
the apple to Attis: malo me (Galatea) petit lasciva puella, he might have
said ;with Vergil. One might imagine that she has done | such a thing
before, though this would be a modern biographical approach without
regard to the more symbolical language of ancient art blending different
phases of action. The apple rather makes her the lover of the boy in
whose direction she looks. She is the girl who has aroused Cybele's
jealousy, the hamadryad in the tale of Ovid, who calls her Sagaritis
(Fasti I V , 229), though one cannot be assured that this was always her
name. It is not even essential that she be named at all; she may have
been just an anonymous nymph of the mountain wilds or an attendant
of the Great Mother.
N o w the structure of the whole becomes still clearer. Cybele inter-
venes, dividing the two parts of the picture, separating the loving
woman from the aggressive one and the beloved youth. The arm of
the goddess with the stone is raised-one comprehends it now-in a
threatening, not merely a majestic, gesture. She is indeed the "threatening
Cybele" (minax Cybele), as Catullus ( L X I I I , 84), the "dread goddess"
30
Furtwaengler-Reidihold, Griediisdie Vasen, Vol. Ill, pi. 138 (cf. pp. 102, 12$); Monu-
menti... dall'Istituto di Corresp. Arch., Vol. X, pi. LIII, no. 1 (Reinadi, Repert.
des Vases, Vol. I, p. 217, no. 6); Pfuhl, Malerei und Zeichnung der Griechen, Vol. Ill,
pi. 219, no. $$9.
31
See, e.g., Antioch-on-the-Orontes, Vol. Ill, pi. 79, fig. 169.
32
Aristophanes, Clouds 997 (uriA-cp ijito jiopvi&tou) cum sdioliis; Plato, Epigr. 2,
1 (tot |j.r)Xq) fiaXXo) oe); 3, 1 (nfjX.ov ey<b, fiaXAei he cpiXcov at tig); Theocritus V, 88
(PdXXsi K<ri (idXoioi t6v abi6Xov d KXeagiOTa) cum sdioliis; VI, 6; XI, 10; Vergil,
Bucol. Ill, 64. See C. Dilthey, De Callimadii Cydippa (1863), pp. 113 ff.
518 Archaologie [35136]
33
See Gisela Riditer, T h e Sculpture and Sculptors of the Greek, figs. 5 8 6 - 5 8 8 , 593.
34
A . Furtwaengler, D e r S a t y r von Pergamon, pp. 9 ff.
35
L . Curtius, Die Wandmalerei Pompeiis, figs. 1 7 6 - 1 7 9 .
36
See also the skin on the arms of one of Bacchus' companions in R . Forrer, Romische
und byzantinische Seidentextilien, pi. i-incidentally a textile of great importance
representing the victorious Bacchus with his prisoners.
[36137] Documents of Dying Paganism 519
connected, they would make a shawl. But they are not; moreover, they
decidedly have the structure of leaves, and, most of all, those at his left
arm look as if they were sprouting from the elbow. One could describe
what one sees with words from Ovid: in frondem . .. bracchia crescunt
(Metam. 1,550). But Pan cannot undergo a metamorphosis of the common
Ovidian kind. May one venture a guess to explain this seemingly un-
paralleled feature? It is well known how strongly the name of Pan
stimulated the etymological urge of the Greeks. Already Pindar called
him "the manyfold" (jiavtoSaitog). Later on, the etymologizing and
allegorizing mythologists used to regard him as a representation of the
Universe and to interpret the individual features of his appearance
accordingly: his shaggy lower half as the symbol of the earth and its
growth; his horns, of sun and moon; his spotted coat, of the stars, and
so on37. The Stoics excelled in this; the "Orphic" hymn to Pan calls the
god "all-growing" | (jtavtoqpwis), "begetter of all things" (YEVETOQ jtavtcov),
"grower" (aul^Ta), "fruit bearer" (xaQiufiE). Could those leaves at his
arms be another expression of the same idea? One may quote another
poem of the Imperial age, the hymn to Pan in an Epidaurian inscription
which varies the same melody of Pan-theism: his shape combines all
natures (nampueg voj^cov &£p.ac)33. On our textile he combines man, animal,
and plant.
There is, perhaps, in ancient religious art one analogy worth men-
tioning. A t Nemi, the primeval sanctuary of Diana Aricina, two janiform
busts have been found on which hair and beard are partly transformed
into foliage, and contours of leaves appear beneath the eyes and on the
breast,-on one young face even at the angles of the still beardless mouth39.
We do not really know whom these heads represent and consequently
can hazard only a faint guess at the meaning of the foliation. If they
really represent Virbius-Hippolytus, the male companion of the Aricine
goddess, we may remember that she is Diana of the Groves, so that his
nature too must be akin to trees and leaves, if a particular metamorphosis
known to the ancient beholder is not lost for us. We do not receive much
help, either, from the fact that quite similar heads with hair, beard,
and brows transformed into leaves occur among the fanciful creations
in Romanesque and Gothic churches40. Whether antique or medieval, such
41 In this connection a technical remark will prove useful. The silhouettes in what
I venture to call "the purple-figure style" are produced by areas of purple weft
thread which contrast with the areas of white weft thread. But the outlines are
sharpened in many places, and interior detail (Innenzeichnung) is produced by
delicate and accurate linear stitdies comparable to the engraved lines on black-
figure vases.
*21.G., IV, i 2 , 131 A ; P. Maas, op. cit., p. 135, vv. 21 if. About the dating see K. Latte,
Gottingisdie Gelehrte Anzeigen, 1934, p.408; P.Friedlander, Hermes. L X X , 1935,
[38139] Documents of D y i n g Paganism 521
Apollonius Rhodius (I, 1078 ff.) tells us that the Argonauts, being kept
back at Cyzicus by contrary winds, climb in procession to the top of
Mount Dindymon to perform the rites of Rhea. "And lo, the winds
ceased so that they could leave the place." It is an aetiological story: the
inhabitants of that country used to pray to Rhea Dindymene for favor-
able winds. "The winds, the sea, the earth | beneath, are hers, and the
snowy seat of Olympus," says Mopsus, the soothsayer of the Argonauts.
Our picture says almost the same in a different language.
It may perhaps be an accidental parallel that Catullus' Attis who
emasculates himself in a frenzy comes to Phrygia over the sea:
super alta vectus Attis celeri rate maria ( L X I I I , 1),
(Attis carried across deep seas in a fast ship)
The figure of Attis offers hardly any difference either. The baldric
is hung from his right instead of from his left shoulder to the opposite
hip. One sees better than on the Metropolitan specimen how the piece
of garment falling at his crotch is fastened around his hips. ]
Also, the maenad between the goddess and Attis is the same, but
turned in the opposite direction. The upper part of her body is destroyed
and one cannot reconstruct its movement. One would say with con-
fidence, however, that it must have been ecstatic.
Between this gap in the textile and the left elbow of Cybele a strange
object is to be seen, a kind of column, pointed at the top, and broadened
at the bottom where its rounded outline is accompanied by a fringe of
short strokes. The conical top is separated from the main part by a
narrow belt and is accompanied by pieces of garment. I have no other
explanation than that this is the member which Attis has lost, dripping
with blood at the severed end
. . . etiam recente terrae sola sanguine maculans . . .
religious drama as that shown on the Metropolitan panel, but the next
scene of it: the moment after the climax.
The Purpose of the Panels.-We have not even raised, much less
answered, the question whether these scenes on the textiles are mere
mythological embroidery or something more. On the Dumbarton Oaks
textile, Hestia promises gifts and asks for worship 45 . The Cybele tapestries
are no devotional objects. What are they, then?
Many mythological scenes on Greco-Egyptian textiles or plates of
ivory may equally well have adorned Christian or pagan garments or
furniture. Even a tapestry so rich in small figures as that in the
Metropolitan Museum with Bacchus or Cybele on the lion-drawn chariot
in the central circle, surrounded by the Labors of Hercules (pi. 14) 46 ,
can be considered as mere mythology, which only some rigorous Coptic
abbot would have scorned. In the city of Gaza, pictures of pure Greek
mythology were painted on the walls of a public building as late as
about 500 A . D. and described in an entirely pagan fashion by Procopius,
who, after all, was a Christian theologian47. His pagan mythology did
not interfere with his Christian theology. But those pictures at Gaza
represented the story of Theseus and Hippolytus and episodes from the
Iliad. One can hardly imagine that even the Gazaeans would have
tolerated the scenes on our textiles, or that even Procopius might have
described them at a public meeting. For this is not merely an old fabulous
or romantic tale. Here Cybele appears in her majesty, one of the greatest
divinities of late antiquity, and Attis dying and rising again is the one
in whose mysteries countless men and women of these centuries found
happiness and peace, "reborn to life eternal 48 ." The story on the tapestries
is the very gospel of the mystic congregation of Attis. |
It is even possible that more of a mystic sense hides behind the
figures than one may discover at first sight. The connection of the Great
Mother with Pan can be traced back to Pindar 49 . But in that early period
it was only the goat-footed daemon of the mountains who was associated
with the Mother of the Mountains. One would not see more, one would
even see less in the textile, except for the leaves sprouting from Pan's
arms. They have indicated to us that the artist wanted to express the
45
See "The Hestia Tapestry," above.
46
Metropolitan Museum no. 13646 g. One recognizes the following scenes: (1) Hercules
and the hydra, (2) H . and the Stymphalian birds, (3) H . and the horses of Diomedes,
(4) H . and Cerberus, (5) H . and Antaeus, (6) H . and the bull, (7) H . liberates Prome-
theus by shooting the eagle; Gaia, in half-length, lifts her arms.
47
P. Friedländer, Spätantiker Gemäldecyclus in Gaza, Studi e Testi, Vol. L X X X I X ,
Citta del Vaticano, 1939.
48
taurobolio criobolioque in aeternum renatus: C.I.L., V I , 5 1 0 = Dessau, Inscr. Lat.
Selectae, 4 1 5 2 .
49
Pindar Frags. 95, 96 Schroeder = 85, 86 Bowra. See U . v. Wilamowitz-Moellendorff,
Pindaros, pp. 270 f.; O. Kern, Die Religion der Griechen, Vol. III, pp. 1 2 7 f.
524 Archaologie [42143]
50
Refutatio omnium haeresium V , 7.
51
Sallustius, Concerning the Gods and the Universe, ed. by A . D. Nock, § I V p. 8.
Juliani Imperatoris Oratio V , pp. 165 A ff.
[43/44] Documents of D y i n g Paganism 525
The timbrel and the blood-stained sword are the implements of Cybele's
rites on the textile as in a Hellenistic epigram:
x ù u j i a v à r'r|XT|EVTa x a l a i t a t i tpoivix^évxa ( p a o y a v a : Anth. Pal. V I , 51
(the edioing tambourines and the knives reddened w i t h blood).
The ecstatic movement shows most of all in the heads thrown back
and in the tossed hair of the attendants:
teretem comam volantem. iactant tibi f a m u l i : V a r r ò , Men. Frag. 132
(for thee thy servants toss their curly, flying h a i r ) -
ubi capita Maenades v i iaciunt hederigerae: Catullus L X I I I , 23
(where the Maenads i v y - c r o w n e d toss their heads v i o l e n t l y ) - |
iactatis comis: O v i d , Fasti I V , 244
(with tossed h a i r ) -
|j.aivo|jivT|v 80x15 Avé|ioici xgiya. Dioscorides in Anth. Pal. V I , 220, 2
(giving his w i l d hair to the w i n d ) -
ÈSivriOEv 8' B v a x Q O f a k i y y a xó|iav: A n t i p a t e r in Anth. Pal. V I , 219, 10
(and tossed his w h i r l i n g locks).
The toss of the head was only the most striking feature; the whole body
was in movement: iactatio insana membrorum, says St. Augustine (Civitas
Dei VII, 24, p. 305, 20 Domb.). The goddess herself, the dominating
center of the scene, could be best described with words of Lucretius
(II, 600 ff.) : there she drives her lion team, the mural crown on her head-
quo nunc insigni per magnas praedita terras
horrifice fertur divinae matris imago
(adorned w i t h which emblem the image of the divine mother is
carried n o w a d a y s through w i d e lands in awe-inspiring state).
di Archeologia e Storia d'Arte, fasc. V. See also Aida Levi in L a Critica d'Arte,
Vol. II, 1937, pis. 155-157, pp. 218 ff.; Brendel in Jahrbuch des Instituts, L, 1935,
Anzeiger, pp. 521 ff.; A . B . C o o k , Zeus, Vol. I I I , 2 , p. 1127.
[45 ¡46] Documents of Dying Paganism 527
agonal marble plaque in the Cabinet des Médailles (pl. i6) 58 , which
shows a mountainous terrain, Mount Dindymon, topped by the sacred
pine of Attis; on the left is Cybele enthroned, surrounded by her attend-
ants; on the right one sees Attis, prevented by an armed Corybant from
toppling down from his rocky seat59. He seems to have just committed
the selfmutilation; a strange lappet of his garment hangs down between
his trousered thighs exactly as it does on our tapestries. Ritual imple-
ments and crowns are spread lavishly over the scene. This marble j
plaque must come from a sanctuary of Cybele, and it is a fair conjecture
that, as part of a decorated floor, it may have been worn down by the
tread of the faithful. Our panels too, then, were destined for ritual use,
and it is not all unlikely that the kind of cloth or vestment to which
they belonged was intended to be employed by priests or initiates of
Cybele and Attis and perhaps to be buried with them60.
58
A . de Longpérier, "Cybèle et Attis," Bulletin Archéologique de l'Athénaeum Français,
Vol. I, i8j5, p. io6, pl. V I . Small reproductions in Daremberg-Saglio, Dictionnaire
des antiquités, Vol. II, figs. 2021 and 2250.
59
Arnobius, Adv. gentes V , 7 : sub pini arbore genitalia sibi desecat. Servius ad Vergilt
Aeneidem I X , 1 1 6 : {puer Attis) quem semianimem sub pinu latentem cum invertissent
antistites Matris Magnae ... See A . Loisy, Les Mystères païens, pp. 88 fi.
60
See R. Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen, 2d. ed., p. 94: "Toten-
gewand und Priestergewand. Auch bei den Mandäern fallen beide Begriffe zusammen
und ist das priesterliche Gewand zugleich die kultlich festgelegte und bedeutsame
Totenkleidung."
VI
Deutsche Literatur
Aristophanes in Deutschland
1932/33
[Erster Teil, Die Antike V I I I , Berlin 1932, S. 2 2 9 - 2 5 3 . Zweiter Teil, Die Antike I X ,
Berlin 1 9 3 3 , S. 8 1 - 1 0 4 . ]
532 Deutsche Literatur [2301231]
die Kleone unserer Zeit unter das Gesetz beugen müsse. So sind die
Wolken nützlich zu lesen, um aus ihnen zu lernen, wie man die sophisti-
schen und philosophischen Spitzfindigkeiten der Rhetoren für nichts
achten müsse, und zugleich zur Erholung von der Mühsal des öffentlichen
Amts. So sollen die Frösche dem edlen Herren, Kaiserlichen Geheimen
Rat und Procancellarius des Römischen Reiches, dem sie gewidmet sind,
den Sinn schärfen für den Unterschied zwischen guter und schlechter
Poesie, damit er und seinesgleichen die Ehrungen ihrer Fürsten auf die
würdigen Dichter lenke.
Frischlin selbst wollte sich gar nicht nur mit dem gedruckten Wort
begnügen. „Unter vielen Projekten, an die er sein Herz gesetzt, war auch
dies gewesen, auf Fasching 1581 zwei Komödien des Aristophanes auf-
zuführen" (Sueß). Und diese Hoffnung hält sein gedruckter Aristo-
phanes aufrecht:
Ergo pande fores, theatra pande,
Sum dignus nitidis agi theatris.
Sie wurde erst nach seinem Tode erfüllt. Zu der berühmten Straßburger
Gelehrtenschule und Akademie, die Johannes Sturm gegründet hatte,
gehörte ein sehr lebendiges Theater, auf dem um die Wende vom 16. zum
17. Jahrhundert außer lateinischen Stücken auch griechische Tragödien
und im Jahre 1613 die Wolken des Aristophanes in der Ursprache auf-
geführt wurden. Den Zuschauern gab der Magister Isaak Froereisen
eine deutsche Übersetzung in die Hand - „zwar nicht von Worten zu
Worten, sondern allein dem sensu nach" - , verfaßt in Reimversen Hans |
Sachsischer Art, die Chöre in zeitgenössischer Liedform. Strepsiades ist
„ein schlechter Baursmann", aus einem athenischen Beamten wird der
„Schuldvogt", ein scherzhaft gebildeter Eigenname wird recht glücklich
verdeutscht: „Strepsiades des Kargfiltz Sohn ($eiöcovos mög)". Die Sprache
wird ins gemütlich Derbe und Breite umgesetzt, und jene bürgerliche
Lehrhaftigkeit, die wir gleichfalls aus der volkstümlichen Literatur des
16. Jahrhunderts kennen, liegt über dem Ganzen und kommt etwa in dem
„Epilogus oder Beschluß" zu einem lebendig kräftigen Ausdruck:
Die Vernunft, die nun für ein Jahrhundert Herrscherin wird, läßt
als Komödie nur das Charakter- und Intrigenlustspiel nach der Weise
des Menander, des Plautus und Terenz gelten. Dieses Lustspiel hatte
Aristoteles anerkannt als Erfüllung der im Begriff der Komödie ange-
legten Möglichkeiten. Es hatte mit seinen festen und scheinbar allgemein
gültigen | Menschentypen, mit seinem diesseitig bürgerlichen Handlungs-
raum, in dem sich durch Verwicklung und Lösung allgemein verständliche
Vorgänge abspinnen, eine deutliche Verwandtschaft zum rationalen Welt-
bild. Damit verglichen ist Aristophanes in der Tat durchaus unver-
nünftig, wie er sich aus der Alltäglichkeit in die phantastische Welt
hinüberbewegt und in jene zurück, wie er die selbstgeschaffenen Vorgänge
durch lyrischen Aufschwung, kämpferischen Witz, momentgebundene
Ansprache an die Zuschauer immer wieder unterbricht. In den 60er und
70er Jahren des 18. Jahrhunderts aber, in denen Deutschland die starre
Kruste der Ratio sprengt, wird er schrittweise für den deutschen Geist
gewonnen.
Johann Georg Hamann, der „Magus aus Norden", der Dunkle, der
Mystagoge der neuen Bewegung, hatte 1759 in seinen Sokratischen Denk-
würdigkeiten der Aufklärung nicht nur, sondern aller Abstraktion den
Fehdebrief geschrieben. Alle solche Sicherungen sollten durch das Bild des
„unwissenden" Sokrates erschüttert, durch Sokrates sollte der Weg zu
Paulus, durch die Unwissenheit der Weg zum Glauben freigemacht werden
oder auch „zu einer Weisheit, die im Verborgenen liege". Wollte Hamann
in den Denkwürdigkeiten, wenn nicht ein neuer Piaton oder Xenophon, so
doch ein neuer Schuster Simon sein als schlichter, aber treuer Deuter des
philosophischen Meisters, so tritt er zwei Jahre später gegen seine Kritiker
mit seiner Streitschrift Wolken als Aristophanes auf. Von dem Meister
der alten attischen Komödie freilich hatte diese Schrift kaum mehr als
das ganz Allgemeine, die Spottlust und dann den Titel und ein paar
Zitate. Aber ein Titel ist für diesen Irrationalisten nach seinen eigenen
Worten „kein Schild zum bloßen Aushängen, sondern der nucleus in
[233j234] Aristophanes in Deutschland 535
nuce, das Senfkorn des ganzen Gewächses", oder auch ein „mikro-
skopischer Same, ein orphisches Ei, worin die Muse Gezelt und Hütte
für ihren Genius bereitet hat". Und was Zitate für ihn bedeuten, lehrt
Goethes unerreichte Hamann-Charakteristik in Dichtung und Wahrheit.
Hamanns Grundtrieb - so wird dort gezeigt - geht auf die Ganzheit,
alles Einzelne ist ihm verwerflich. Um nun das Unmögliche zu erreichen,
dazu greift er nach allen Elementen, darunter den „andrängenden
Sprüchen der heiligen und Profanskribenten und was sich noch sonst
humoristisch hinzufügen mag". Dicht neben Hiob und Paulus steht
Shakespeare und eben Aristophanes.
Hatte die rationalistische Kritik gegen jene erste Schrift Hamanns
den Vorwurf der Unverständlichkeit erhoben, so ist der Titel der zweiten, |
Wolken, der nucleus oder Keim der Antikritik. „Sollte es also im Ernst",
sagt der Antikritiker ironisch, „dunkle Stellen in dieser Schrift geben,
so würde es eine lächerliche Erwartung sein, daß der Autor sich jemals
entschließen wird, den Teppich von Dünsten, die Veste seiner Tritte, in
einen klaren Himmel zu verwandeln". Deshalb also Wolken, weil die
Verstandeshelle des klaren Himmels den Gegnern überlassen bleibt,
während vor dem Mystiker sich ein unendlich deutbarer Teppich aus-
breitet. Zugleich klingt aus der Weltschöpfung des Alten Testaments die
„Veste" herein, so daß der Schreibende sich für einen Moment mit dem
Schöpfer zu gleichen scheint. Und dann wieder ist dieser Mystiker und
Schöpfer ein neuer Aristophanes, der um des Sokrates willen seine
Angriffslust gegen die Spießbürger und gegen die Denker richtet und -
wer weiß? - gegen Sokrates selbst.
Ohne daß wir uns anmaßen wollen, Hamanns „geballte Faust in eine
flache Hand zu verwandeln", sei hier nur soviel gesagt: sein Urproblem
ist dieses, Weisheit und Unwissenheit. Darum schreibt er seine Denk-
würdigkeiten. Eine Abwandlung jenes Urproblems sind die „Grenz-
streitigkeiten des Genies mit der Tollheit", denen - vom Polemischen
abgesehen - die Wolken gewidmet sind. „Der rasende Sokrates", sagt
Rudolf Unger (Hamann und die Aufklärung) „hält mit dem prophe-
tischen, feierlichen, mystischen, der Humorist mit dem tiefsinnigen
Grübler geheimnisvolle Zwiesprache". Und im Dienste dieses Spiels und
Widerspiels, dieses Spiegeins und Widerspiegeins, dieser ebenso gewollten
wie gemußten Dunkelheiten steht ihm das Aristophanische; das sind
außer dem Titel eben jene Zitate. Sehr bezeichnend, welche Stellen ihm
im Sinne haften. Nach dem Beispiel des Bauchredners und Propheten
Eurykles, sagt Aristophanes durch den Mund seines Chores, sei er in
fremde Bäuche eingegangen und habe eine Fülle des Komischen ausge-
schüttet. Er wechsle das Gewand je nach seiner Gesinnung, läßt Aristo-
phanes seinen vielwendigen Karikaturtragödiendichter Agathon sagen,
und seine Stimmung nach den Dramen die er gerade dichtet, und der
ganze Leib müsse an dieser Stimmung teilhaben. Also Masken- und
536 Deutsche Literatur [234/236]
Lenz. Und es ist kein Zufall, daß Hamann begeistert war, als er auf
seiner letzten Reise in den Westen (1787) bei Jakobi Goethes Komödie
Die Vögel, nach dem Aristophanes kennen lernte. Wenn er den Verfasser
entzückt einen Blitzkerl und Tausendkünstler nannte, und wenn ihm
war, als ob ihm aus dem ganzen Leibe lauter Funken sprängen, so mochte
er über die bloße Gesinnungsverwandtschaft hinaus sich selbst als An-
reger und Goethe als seinen größeren Schüler sehen.
„Hamann ist unbedingt der eigentlich verborgene Urheber der
Sturm- und Drangbewegung" (Gundolf). Sein Funke zündet in Herder
und durch Herder in dem Goethe der Straßburger Zeit. 1761 waren
Hamanns Wolken erschienen. 1770 begegneten sich Herder und Goethe.
1773 wirft Goethe die Farce Götter, Helden und Wieland aufs Papier.
1774 läßt Lenz sie mit Goethes Zustimmung drucken. 1775 schreibt Lenz
selbst, wiederum gegen Wieland, seine Wolken. 1777 erscheint von dem-
selben Lenz im Deutschen Museum ein Fragment, das den Fröschen des
Aristophanes nachgebildet ist. 1780 führt Goethe in Ettersburg Die
Vögel, nach dem Aristophanes auf.
Man zweifelt noch immer, ob überhaupt neben Goethes satirischer
Laune und jener Flasche Burgunder, die er selbst verantwortlich macht,
der Geist des Aristophanes zitiert werden müsse, um die Entstehung von
Götter, Helden und Wieland zu begreifen. Ist es nicht einfach ein Toten-
gespräch in der Manier Lukians? Gewiß könnte es das sein, so lange
nur Merkurius und Charon, Euripides und Alceste miteinander reden.
Selbst daß in der Goetheschen Farce wie in den aristophanischen Fröschen
ein Hadeskampf zweier Dichter die Mitte bildet, brauchte noch nicht viel
zu bedeuten. Denn nicht nach literarischen Abhängigkeiten, sondern nach
lebendigem Kräftespiel geht unsere Frage, und nur darum ist sie über-
haupt wichtig. Dann aber muß klar werden: Götter, Helden und Dichter,
das könnte ein lukianisches Totengespräch hergeben. Götter, Helden und
Wieland, das verrät aristophanische Kräfte. Lukian läßt die Schatten
geschichtlicher Personen oder zeitloser Menschen miteinander streiten.
Aristophanisch ist, von den Vorgängen und von Einzelheiten ganz ab-
gesehen, der Fechterstreich gegen den mächtigen Zeitgenossen. Kronzeuge
sei der Angegriffene selbst, der in seinem Teutschen Merkur von 1774
seinem Angreifer bezeugt: „Der Herr D. Göthe, nach|dem er uns in seinem
Götz von Berlichingen gezeigt hat, daß er Shakespeare sein könnte, wenn
er wollte, hat uns in dieser heroisch-komisch-farcicalischen Pasquinade
bewiesen, daß er, wenn er wolle, auch Aristophanes sein könne." Bei
Aristophanes hatte Hamann Hilfe gesucht in seinem Kampf gegen den
starren Geist der Zeit. Jetzt steigt Goethe, durch Hamann und Herder
aus dem engen Gehäuse glücklich befreit, aristophanisch in die Unterwelt
hinab, um gegen die schmächtig spielerische Antike, wie Wieland sie
agierte, die Leidenschaft und derbe Leibhaftigkeit eines neuerlebten
Götter-, Helden- und Dichtertums aufzurufen.
538 Deutsche Literatur [237/238]
gute Laune im Satz hat." (Wieland an Merck, z6. 8. 1780.) Aber dieses
Eintagsspiel war doch mehr. Wenn Goethe im Jahr vorher den Orest
gespielt hatte und jetzt den Treufreund spielte, so war nach der attischen
Tragödie nun auch die Komödie nach Weimar verpflanzt - wobei freilich
zu beherzigen ist, „daß von Athen nach Ettersburg mit einem Salto mor-
tale nur zu gelangen war".
Man hat die Goetheschen Vögel aus den vergangenen Erlebnissen des
Dichters gedeutet und sich meist mit den Erinnerungen an die Schweizer
Reise von 1779 zufrieden gegeben. Man hat die Tatsache nicht übersehen
können, aber kaum hinreichend ausgewertet, daß Goethe vor allem auf
seiner Italienischen Reise 1786-88 von der Erinnerung an jenes Spiel
begleitet wird. Auf dem Weg nach Italien in Karlsbad las er sie vor: „Sie
haben ein unsägliches Glück gemacht." Als er die drohende Menge in
Malcesine beruhigt hat, notiert er abends ins Tagebuch: „Ich habe den
Treufreund köstlich gespielt, sie harangiert und sie bezaubert." Als er |
die Sträflinge im Gefängnis zu Verona hinter Gittern sieht, kommt ihm
das Bild wieder; „und ich leugne nicht, daß der gute Humor, womit ich
meine Vögel abgefertigt hatte, hier doch einen etwas schweren Stand
würde gehabt haben". Im Theater zu Vicenza sind ihm die ungebärdig
klatschenden Zuschauer die Vögel, während er selbst spürt, daß er „zum
Vogel verdorben" ist. Und so noch öfter. In Palermo notiert er: „Mein
Geselle (Kniep) ist ein excellenter Mensch, der wahre Hoffegut, sowie ich
redlich den Treufreund spiele." Am aufschlußreichsten ist das, was er unter
dem bezwingenden Eindruck des Palladio, der „ein recht innerlich und
von innen heraus großer Mensch gewesen", am 19. September in Vicenza
niederschreibt. Die größte Schwierigkeit sei immer, die Säulenordnungen
in der bürgerlichen Kunst zu brauchen. Man ahnt, daß Goethe im Symbol
von sich selber spricht. Aber man braucht sich nicht mit einer Ahnung zu
begnügen. „Es ist wirklich etwas Göttliches in seinen Anlagen, völlig die
Force des großen Dichters, der aus Wahrheit und Lüge ein drittes bildet,
das uns bezaubert." Und nun sieht er neben den großen Werken des Bau-
meisters „das enge, schmutzige Bedürfnis der Menschen" und wägt ab,
„wie wenig diese köstlichen Monumente eines Menschengeistes zu dem
Leben der übrigen passen". Und wieder ist ihm diese Einsicht ein Sym-
bol der moralischen Welt. „Dann verdient man wenig Dank von den
Menschen, wenn man ihr inneres Bedürfnis erheben, ihnen von sich selbst
eine große Idee geben, ihnen das Herrliche eines großen wahren Daseins
fühlen machen will (und das tun sinnlicherweise die Werke des Palladio
in hohem Grade); aber wenn man die Vögel belügt, ihnen Märchen er-
zählt, ihnen vom Tag zum andren forthilft etc., dann ist man ihr Mann."
Also Treufreund muß Goethe sein, weil er nicht ganz und nicht immer
Palladio sein kann. „Ich sage das nicht, um meine Freunde herunterzu-
setzen." Also auch unter seinen Freunden sind die Vögel, und die Goe-
thesche Gelassenheit findet sich damit ab: „Ich sage nur, daß sie so sind,
[240/242J Aristophanes in Deutschland 541
und daß man sich nicht verwundern muß, wenn alles ist wie es ist." Treu-
freund ist es ja auch, den die Vögel am Schluß des Goetheschen Spiels zu
ihrem Herrn erheben: „Sei du unser Ratgeber, unser Leiter, unser Heer-
führer." Und schon 1782 hatte Goethe an Merck geschrieben, als ihm
anstelle des Kammerpräsidenten Kalb die Leitung der herzoglichen Kam-
mer übertragen worden war: „Lieber Bruder, es geht mir wie dem Treu-
freund in meinen Vögeln: mir wird ein Stück Reichs nach dem andern auf
dem Spaziergang übertragen." Also diese menschelnde Welt nehmen wie
sie | ist und in ihr den Platz sich zu gewinnen, der seinen Kräften entspricht
und auf dem man am meisten nützt, nicht mit Menschenverachtung son-
dern mit mutiger und heiterer Resignation: das ist die Gesinnung, die er
in das aristophanische Stück hineingelegt hat, indem er sich zugleich
lachend über sie erhebt.
Aber auch das ist noch lange nicht alles. Gleich zu Anfang scherzt Goe-
thesche Liebhaberei über sich selbst, da Treufreund auf steilstem Berg im
beängstigenden Augenblick sein Naturstudium treibt zur Verzweiflung
des Gefährten. Hören wir aber auch, was er gleich darauf zu den Zu-
schauern spricht: „Wir konntens in der Stadt nicht mehr aushalten." „Wir
lebten gern auf unsere Weise und konnten selten eine Gesellschaft finden,
die für uns paßte. Kurz wir sehnten uns nach einem neuen Lande, wo es
eben anders zuginge." Meint man nicht mehr noch als den Goethe und
Karl August von 1779 den Goethe zu hören, der nach Italien flüchtete?
Ist es Zufall, daß er in Karlsbad, wo gewiß sein ganzes Sinnen auf Italien
gerichtet ist, gerade diese Komödie vorlesen mag und die größte Wirkung
erzielt, daß dann gerade der Gedanke an die Vögel ihn vom Gardasee bis
nach Sizilien begleitet? Genügt es darauf zu verweisen, daß er eben im
Jahre 1786 das kleine Stück für die Göschensche Gesamtausgabe seiner
Werke neu überarbeitet hatte? Oder genügt das vielmehr gar nicht, und
ist die Komödie eben auch eine von den „poetischen Antizipationen", von
denen er im Hinblick auf sein Leben zu sprechen liebt?
Aber die Sache hat doch noch ein ganz anderes Gesicht. Unter den
Vögeln sind ja auch die Singvögel. Schuhu „der Kritikus" zaust und rupft
sie, sein Diener Papagei „der Leser" ist ihr erklärter Freund, der ihrem
Gesang ganze Stunden zuhören kann. Die Worte „Ich singe wie der Vogel
singt" hat Goethe gerade in jenen Jahren, in denen die Ämter ihn vom
dichterischen Schaffen abzuschneiden drohten, dem Sänger im Wilhelm
Meister in den Mund gelegt. Und wenn Corona Schröter hinter der Szene
die Lerche und die Nachtigall sang, so muß man wohl merken, welcher
Welt der Dichter sich ursprünglich zugehörig gewußt hat, als er sich die
aristophanische Komödie anverwandelte. Wiederum weiß man, mit wel-
chem derben Haß der junge Goethe jene unfruchtbare kritische Mäkelei
verfolgte: „Schlagt ihn tot, den Hund, er ist ein Rezensent." Wenn Hoffe-
gut und Treufreund durchaus zum Schuhu wollen, „der mit nichts zufrie-
den ist, und dem wir deswegen große Kenntnisse zuschreiben", zu | dem
542 Deutsche Literatur [2421243]
Kritikus und nicht zu den Sängern, so wäre es seltsam, wollte man irgend
etwas anderes als Spott, wollte man noch irgend etwas Goethisches in dem
Paare finden.
Und hier geraten wir an einen letzten Blickpunkt. Man ist gewohnt,
es als eine charakteristische Notwendigkeit zu betrachten, daß die poli-
tische Komödie des Aristophanes bei Goethe eine literarische hat wer-
den müssen. Gewiß ist das richtig. Und doch nicht ganz. Gundolf hat
uns sehen gelehrt, wie mit der französischen Revolution für Goethe die
Menschheit „aus einer strebenden in eine fordernde" sich zu verwandeln
schien. „Den Menschen als ein forderndes statt als ein strebendes Wesen
zu sehen und zu begreifen, daran mußte er sich erst gewöhnen, erst von
seiner eigenen Natur abstrahieren." Als solche fordernden, ungoethisdien
Menschen aber kommen HofTegut und Treufreund zum Schuhu. „Was
vertreibt Sie aus ihrem Vaterlande?" - „Die ganz unerträgliche Einrich-
tung." „Wir suchen eine Stadt, eine Stadt, wo wir uns besser befänden als
da, wo wir herkommen." „So eine Stadt, wo vornehme Leute die Vor-
teile ihres Standes mit uns Geringeren zu teilen bereit wären." „Eben eine
Stadt, wo die Regenten fühlten, wie es dem Volk, wie es einem armen
Teufel zumute ist." Und diese Schlaraffenstadt wird dann mit einer para-
doxen Ubersteigerung aller bürgerlichen Wünschbarkeiten oder Umkeh-
rung aller gewohnten bürgerlichen Verhältnisse ausgemalt. Hingegen
während Lerche und Nachtigall singen, fühlen diese Begehrlichen nichts
als Hunger und Durst und sind mißgelaunt, daß es kein Ende nehmen
will. Bedenkt man, wie Goethe gerade hier sein Vorbild im einzelnen
ganz neu gestaltet hat, so wird man dieser Komödie die gesellschafts-
kritische, die politische Tendenz nicht abstreiten können. Und so mag sie
auch in diesem Sinne eine „Antizipation" sein.
Goethe liebte die physikalischen Experimente mit den „entoptischen
Farben" um ihrer „wundersamen Spiegelungen" willen. So hat er Eigenes
und Fremdes, Befreundetes und Feindliches in seiner Bearbeitung der
Vögel gespiegelt. Mag der Versuch, auch dieses Ferne sich und uns an-
zueignen, in der Weite des Goetheschen Lebens nicht so sehr viel bedeuten,
unwichtig ist er auch dafür nicht, und für die Aufnahme des Aristophanes
in Deutschland ist das Jahr 1780 eins der wichtigsten. Hier war mit
heiterer Kühnheit ein Werk des fremdartigsten unter den großen grie-
chischen Dichtern nicht nur in zeitgenössisch deutsches Gewand gekleidet,
sondern sogleich auf die wichtigste Bühne Deutschlands gestellt worden. |
„Der ungezogene Liebling der Grazien" so hat bekanntlich Goethe
im Epilog ihn genannt und damit dem Bildungsphilister eine bequeme
Formel in die Hand gedrückt. Damals war es immerhin mehr. „Die Cha-
riten haben in der Seele des Aristophanes ihr Heiligtum gefunden", hieß
es in einem griechischen Epigramm, das sogar dem Plato zugeschrieben
wurde. Die „Ungezogenheit" des Aristophanes war ein Urteil der Auf-
klärung. („Man kann sich kaum etwas Ungezogeneres denken" als die
[243¡244] Aristophanes in Deutschland 543
keit erhalten und sie, wiewohl angefochten, bis ans Ende durchgeführt
habe" (Biographische Einzelheiten, Vorschlag zur Güte). U m so wichtiger
ist es zu erkennen, wie doch auch f ü r die Einbürgerung des Aristophanes
in Deutschland Goethe das Entscheidende bedeutet.
Jahre später Friedrich Schlegel gewagt. Aber — und hier spricht die Gene-
ration unmittelbar vor 1789 - was fehlt uns, die wir keine solche politi-
sche Komödie haben! „Es ist traurig, daß die Schlachtopfer des Geizes,
der Eitelkeit, der Dummheit ihrer Oberen nun gar kein Mittel mehr
haben, den Druck, worunter sie seufzen, auf eine Art an den Tag zu legen
und ihrer Galle auf eine Art Luft zu machen, kein Mittel mehr, den in
den Hofkreis eingeschlossenen Regenten zu erleuchten; keines, die sich
zum Ansehen der Weisheit brüstende Dummheit zu züchtigen, die religiöse
Heuchelei zu entlarven, begierigen Eigennutz zu brandmarken und die
übertünchte Leerheit abzuwaschen." Unsere Zeit muß sich mit der zahmen
Allgemeinheit rabnerischer Satiren behelfen. Und hätte sie selbst die Frei-
heit des Archilochus und des Aristophanes, „wie würde auch unser emp-
findsames, gutherziges Rosenfestsäkulum eine kühne Satire ohne Kon-
vulsion ertragen?" Hier ist man unterwegs - nicht sehr weit auf dem
Wege, aber doch unterwegs — zu einer neuen gesellschaftlichen und geisti-
gen Freiheit, und sie wird, wie resigniert auch immer, gesichtet unter dem
Namen des Aristophanes.
Die sprachlichen Mittel des Ubersetzers sind von der Bewegung der
70er Jahre bereitgestellt worden. Aber er selbst weiß, daß Höheres zu
erringen ist, und er wünscht, daß „ein Mann, der mehr Griechisch ver-
stünde als er, eine freiere und reichere Sprache hätte und mehr Poet wäre,
diese seine Arbeit umschmelzte und fortsetzte." Fortgesetzt hat sie der
Jenaer Professor C h r i s t i a n G o t t f r i e d S c h ü t z (in seinen
Literarischen Spaziergängen von 1784), der seine Ubersetzung der Wol-
ken dem „edlen Schlosser widmet, dem Manne von hellem Geiste und
freiem deutschen Sinne zum Beweise seiner Dankbarkeit für das Ver-
gnügen, welches ihm seine Ubersetzung der Frösche und seine Vorrede
dazu voll kühner aber wahrer Bemerkungen gemacht hat." Vielleicht hat
er seinen Vorgänger in der Lebendigkeit des Tones übertroffen. Aber
mehr Poet ist er nicht gewesen, und Schlossers Hoffnung wurde erst ein
Jahrzehnt später wirklich erfüllt.
Weimar war durch Goethe und Lenz auf Aristophanes aufmerksam
geworden, vor allem durch die Aufführung von 1780. Die Herzogin stu-
diert den Aristophanes im Urtext und liest ihn zuweilen mit Wieland,
findet, daß „seine Frösche so gut auf unsere Zeit passen", und zitiert
ihn aus dem Gedächtnis und etwas verkehrt auf Griechisch (Brief an Kne-
bel, 4. Januar 1784). Auch die genannten Übersetzungen von Schlosser
und Schütz werden durch Goethe angeregt sein. Aber Neues bringen erst
die 90er Jahre. 1793 ist Schiller in seiner schwäbischen Heimat. Das
Gespräch mit dem Heilbronner Ratsherrn Schübler kommt auf die grie-
chische Literatur. Aristophanes, so zeichnet Schübler Schillers Gespräch
auf, sei ein gar großer Originalkopf. (Man hört die Formulierung der
Geniezeit.) Schützens Ubersetzung der Wolken solle ich lesen; auch werde
dieser eine neue Ubersetzung der Frösche für seine Thalia ihm mitteilen,
546 Deutsche Literatur [2461247]
worin er zeigen werde, daß sich wohl mehr leisten lasse, als Schlosser in
Karlsruhe geleistet habe. - Die angekündigte Übersetzung ist nie erschie-
nen. Ein Größerer griff ein und hob, unterstützt von eben jenem Schütz,
aber doch in ganz neuer Weise mit dichterischer Freiheit das Aristophanes-
verständnis, die Aristophanesaneignung auf eine höhere Stufe: W i e -
1 a n d.
Goethe hat in seiner großartigen Logengedächtnisrede auf Wieland |
(1813) das Wirken dieses im tiefen Grunde friedfertigen und genießeri-
schen Menschen, Schriftstellers und Dichters dargestellt als einen von der
Außenwelt ihm aufgedrungenen Kampf nach zwei Fronten. Man wäge
die Goetheschen Worte genau und ermesse, wieviel goethischer Kampf in
ihnen sich anzeigt, und warum Goethe den ehedem so scharf befehdeten
und innerlich so verschiedenen Mann im Rückblick brüderlich begreifen
und begrüßen konnte. „Er kündigt allem, was sich in der Wirklichkeit
nicht immer nachweisen läßt, den Krieg an, zuvörderst also der platoni-
schen Liebe, sodann aller dogmatisierenden Philosophie . . . Unversöhnlich
arbeitet er ferner dem religiösen Fanatismus und allem was dem Ver-
stände exzentrisch scheint entgegen." N u n aber die andere Seite: „So-
gleich überfällt ihn die Sorge, er möge zu weit gehen, er möge selbst phan-
tastisch handeln; und nun beginnt er zugleich einen Kampf gegen die
gemeine Wirklichkeit. Er lehnt sich auf gegen alles was wir unter dem
Wort Philisterei zu begreifen gewohnt sind, gegen stockende Pedanterie,
kleinstädtisches Wesen, kümmerliche äußere Sitte, beschränkte Kritik,
falsche Sprödigkeit, platte Behaglichkeit, anmaßliche Würde und wie
diese Ungeister, deren Name Legion ist, nur alle zu bezeichnen sein
mögen." So hatte Goethe selbst die „Wirklichkeit" leidenschaftlich um-
faßt und alles Spintisieren über sie gehaßt, nur daß ihm die Wirklichkeit
ein Weiteres, Tieferes und Unergründlicheres war. Und er hat sich selbst
gerühmt, die Deutschen von „Philisternetzen" befreit zu haben, nur daß
er dieses Befreiungswerk mit größerer Unbedingtheit vollzog. „Hierbei
aber", fährt Goethe fort und hebt wiederum aus eigener Erfahrung den
so beschriebenen Kampf über die Ebene des Gewollten und Verstandes-
mäßigen hinauf, „verfährt er durchaus genialisch ohne Vorsatz und Selbst-
bewußtsein." Und nun zeigt Goethe, wie Wieland in Shaftesbury „einen
wahrhaften älteren ZwilKngsbruder im Geist" gefunden habe und durch
ihn bestärkt worden sei, jene Kämpfe nicht trocken und pedantisch zu
führen, sondern mit Heiterkeit, Witz, Geist und Eleganz. Schließlich ist
es die dichterische Einbildungskraft, die ihn über den verständigen Eng-
länder hinausführt zu einem Schaffen, bei dem dann die Franzosen ihm
Helfer werden.
Man wird dieses einfach große Liniensystem, in dem Goethe Wielands
Wirksamkeit darstellt, ohne Zwang auf die des Aristophanes übertragen
können und Wesentliches bei ihm wiederfinden: den Kampf gegen die
Schemen, die die Wirklichkeit verfälschen oder ihm zu verfälschen schei- |
[248/249J Aristophanes in Deutschland 547
Charakterzügen eine Wahrheit und fraîcheur gab, als ob sie erst gestern
von dem Pariser Volk und den Demagogen, von denen ganz Frankreich
sich so erbärmlich mystifizieren und mißhandeln läßt, kopiert worden
wären." Hier also taucht in der Geschichte der deutschen Aristophanes-
rezeption zum erstenmal das politische Moment entschieden auf. Die
Stücke erhalten „ein ganz neues und eigenes Interesse für den gegen-
wärtigen Moment, ein Interesse, das sie nur vor sechs Jahren noch nicht
gehabt hätten, und das den Aristophanes, wenn eine gute Übersetzung
von ihm für diesen Zeitpunkt erscheinen könnte, zu einem der allgemein-
sten und angenehmsten Lehrbücher machen würde". So in dem Brief an
Voß. Und in der Einleitung zu den Demagogen (den Rittern) setzt er
auseinander, daß „das Totalgemälde, so sie von dem damaligen Zustande
der athenischen Demokratie in der Einbildungskraft des Lesers zurück-
läßt, für kein bloß zum Lachen erfundenes Zerrbild zu halten sei. Das
habe Aristophanes vornehmlich der seit einigen Jahren, durch eine in
ihrer Art einzige Revolution, vor unsern Augen entstandenen französi-
schen Republik zu danken, worin wir diese Nation die Person des aristo-
phanischen Demos und einige ihrer berüchtigsten Demagogen die Rollen
des Paphlagoniers und Wursthändlers, für bloße Anfänger in der demo-
kratischen Kunst, wie sie sind, mit einer Fertigkeit und Gewandheit spie-
len gesehen haben, wodurch sie sogar ihren griechischen Vorgängern und
Mustern selbst den Vorzug streitig machen und wenigstens unseren komi-
schen Dichter gegen allen Verdacht, die Grenzen dessen, was vermöge der
menschlichen Natur möglich ist, überschritten zu haben, völlig sicher-
stellen" (Attisches Museum, 2. Bd. 1798). Neben und mit dem neuen |
Formbewußtsein der 90er Jahre ist es das politische Moment, das das
Aristophanesverständnis auf eine neue Stufe stellt.
Hier sind freilich auch die Grenzen der Wielandschen Kräfte auf-
zuweisen, sowohl seines Formtriebes wie seines politischen, und damit
die Grenzen seiner Übersetzerleistung, wobei wir von den Mängeln des
philologischen und geschichtlichen Einzelverständnisses gern absehen
können. Wieland ist wählerischer Liebhaber, aber nicht leidenschaftlicher
Bewerber. Sein Formwissen ist noch ganz das des Rokoko, wenn auch
angefrischt durch die neue geistige Bewegung der Hamann Herder Goethe
Schiller. Ihm hat die geistige Revolution nicht das alte Formsystem zer-
brochen. Also war für ihn auch die neue mächtigere Formschöpfung nicht
da, mit der Goethe die geistige Revolution beendete wie Napoleon die
politische. „Etwas Gewagtes, aber (meinem Gefühl nach) beinahe Un-
nachläßliches war es, den Aristophanes nicht nur in seinen gewöhnlichen
Jamben, sondern auch in seinen Trochäen, Anapästen und achtfüßigen
jambischen Versen, soviel es mir möglich sein wollte, nachzubilden oder -
nachzupfuschen. Denn, die Wahrheit zu sagen, bei den Anapästen, zu
welchen unsere Sprache ganz und gar nicht geeigenschaftet ist, verdient
mein Versuch kaum einen bessern Namen." Diese Selbstverurteilung ist
550 Deutsche Literatur [2511252]
sehr berechtigt, die Begründung aus dem Wesen der deutschen Sprache
sehr unberechtigt. Etwas lesbarer wurden die Langzeiten, als Wieland
später in seiner Übertragung der Wolken den schon geläufigeren, aber
darum nicht passenderen Hexameter einsetzte. Aber das ist nicht das
Wichtigste. Gerade wenn man die Verse liest, die er völlig zu beherrschen
meint, gleich bei den „gewöhnlichen Jamben", kommt man an die Grenzen
seiner Leistung. Man höre den Anfang seiner Acharner:
Gestalten gesellt. Mit dieser Wertung des Zwar - Aber, des Nochnicht,
die im Grunde aristotelisch ist, hat Schlegel gründlich gebrochen.
Zwei Grundbegriffe sind es, an denen er sich vorantastet mit sicherem
Blick, wenngleich noch jugendlich unsicherem Gang: die Freiheit und
die Freude — und man spürt, wenn man diese Begriffe betrachtet und
in manchem Satz der Abhandlung, wie die Jugend durch Kant, Schiller
und die französische Revolution erregt ist: „Die Griechen hielten die
Freude heilig wie die Lebenskraft. Ihre Komödie ist ein Rausch der
Fröhlichkeit und zugleich ein Erguß heiliger Begeisterung; ursprünglich
nichts anderes als eine öffentliche religiöse Handlung, ein Teil von dem
Feste des Bakchus, welcher Gott ein Bild der Lebenskraft und des
Genusses w a r . " Also auf den dionysischen Urgrund der Komödie dringt
Schlegel durch. Und wie später bei Nietzsche ist ihm das nicht bloß
historische Feststellung, sondern offenbar will er etwas freimachen, was
gehemmt ist. Freude - Hedone würde man auf griechisch sagen — ist ein
Grundtrieb des Daseins selber, und darum ist sie gut. Sie ist verwandt
mit Leben, Seele, Liebe. Schlegel spricht leise, aber er blickt tief, wenn
er sagt: „Alles Leben deutet auf seine Wurzel und auf die Frucht seiner
Vollendung; und der höchste Moment der Lebenskraft ist seine Ver-
doppelung, der Genuß eines homogenen Lebens." So dringt das Denken
in die Tiefen des Daseins bis zur zeugerischen U r k r a f t und ahnt im
höchsten Uberschwang ein Jenseits aller menschlichen Beschränkung.
Damit sind wir bei dem andern Leitbegriff, der Freiheit. Schöne
Freude muß frei sein. Und darum ist unbedingte Freiheit das Wesen der
wahren Komödie, das sie nur einmal, in Athen, genossen hat. Auf ihren
religiösen Ursprung dringt Schlegel auch hier wieder durch. Aus dem
Dichter und seinem Chor redet der Gott der Freude selbst. So werden |
sie zu heiligen und unverletzlichen Personen. Die Komödienfreiheit hat
also ihren letzten Ursprung im Kult, und dieser Ursprung hält sich durch,
als das religiöse Institut auch ein politisches wird. „Unter dem Deck-
mantel der Religion und der Politik erschlich sich die Kunst das, worauf
sie ein ewiges Recht hat - unbeschränkte Autonomie." Man verspürt
in solcher Formulierung starke Restbestände eines ästhetischen Rationalis-
mus, der den Rückgang auf die Religion nicht radikal genug vollzieht.
Darüber darf man nicht vergessen, mit welcher Energie dieser Rückgang
doch hier gewonnen und von da aus die alte Komödie anerkannt wird als
„ein unübertreffliches Muster schöner Fröhlichkeit, erhabener Freiheit
und komischer K r a f t " .
Aber in ihrer Freiheit liegt auch die Gefährdung, „aus ihrem
Ursprünge und Charakter erklären sich sehr leicht ihre vorzüglichsten
Fehler: Rohigkeit, ehe der öffentliche Geschmack gebildet, Verderbtheit,
nachdem die öffentliche Sittlichkeit entartet w a r " . Man hört einen
Augenblick die Aufklärungsmoral Sulzers und Wielands. Aber weit wich-
tiger ist dem jungen Schlegel und weit wesentlicher ist als Leistung sein
554 Deutsche Literatur [83184]
Kampf gegen die falschen Vorurteile. Das eine ist jenes ständisdie Vor-
nehmtun, das etwa bei Wieland in der Form des bürgerlich gewordenen
Rokoko redet: die Komödienschreiber hätten mehr für die roheren Volks-
klassen, für die Bewohner des Piräeus, Handwerker, Seeleute und
Matrosen geschrieben als für den gebildeten und edleren Teil ihrer Nation.
Für diese Gesinnung hat Herder nicht gelebt. Der junge Schlegel aber
hat jene ursprüngliche Lust erlebt und anerkannt, vor der alle ständischen
Grenzen fallen, noch radikaler als sie in der Seance du jeu de paume
gefallen waren: „Die Freude und die Schönheit ist kein Privileg der
Gelehrten, der Adeligen und der Reichen, sie ist ein heiliges Eigentum
der Menschheit." Die griechische Muse sprach zum Volk. „Freilich über-
traf auch der gemeine Mann zu Athen nicht bloß an natürlichem Geist
und geselliger Bildung sondern noch weit mehr an Freiheit und Energie
des sittlichen Gefühls alle seinesgleichen."
Der andere gewöhnliche Vorwurf ging gegen die angebliche Zu-
sammenhangslosigkeit des dichterischen Baues. Wir haben schon ange-
deutet, daß er sich aus Sulzers Aufklärungsästhetik belegen läßt: „Damals
scheint die Komödie noch keine ordentliche Gestalt gehabt zu haben."
„Die Form seiner Komödie ist noch sehr barbarisch und mehr ein Possen-
spiel als eine Handlung, in welcher sich Begebenheiten, Unternehmungen |
oder Charaktere entwickeln." Hier greift Schlegel ein mit seinem Begriff
der Freiheit. Jene angebliche oder wirkliche Zusammenhangslosigkeit, die
Parabase, die Durchbrechung der komischen Illusion, alles das findet
seine tiefste Rechtfertigung in dem Wesen der komischen Ekstasis. Nicht
Ungeschicklichkeit ist hier zu rügen mit der überlegenen Kunstrichter-
miene einer sich fortgeschritten dünkenden Zeit, sondern anzuerkennen
ist besonnener Mutwille, überschäumende Lebensfülle. Und gerade das,
was jene rationale Kunstkritik vermißt, „dramatische Vollständigkeit",
ist der reinen Komödie unangemessen, weil unter solcher Strenge die
Freude und die Freiheit leiden müßten. Komödie ist höchster Rausch
des Lebens.
Es war ein kühnes Unternehmen des 22jährigen, die seit Aristoteles
bestehende und durch seine Autorität gestützte Wertung umzukehren:
die alte Komödie aus einer unvollkommenen Vorstufe des weltgültigen
Lustspiels zum Rang der genialen Komödie schlechthin zu erheben. Daß
hier etwas ganz anderes als kühle sachliche Erkenntnis am Werke ist,
wird noch klarer aus einigen bisher übergangenen Sätzen. Der junge
Literat richtet den Phantasieblick in eine Zukunft, da die Komödie „das
vollkommenste aller poetischen Kunstwerke sein wird; oder vielmehr
an die Stelle des Komischen würde das Entzückende treten und, wenn es
einmal vorhanden wäre, ewig beharren". Die Komödie steigert sich phan-
tastisch über sich selbst hinaus: „Wenn auf solchem Wege nur einige
Schritte getan sind, so läßt sich alles hoffen." In dieser Zukunftsvision
verrät sich ein Enthusiasmus, der allein aus geschichtlichem Nachdenken
[84185] Aristophanes in Deutschland 555
phanes. Was ihm | im Leben versagt ist, flüchtet sich in die Poesie, und
dieser im Grunde unpolitische und formenschwelgerische Poet glaubt sich
eine Weile zu politischen Komödien berufen, ohne Bühne, ohne Publikum,
ohne eigentlich dramatische Kräfte.
Napoleon und der Drache ist kein Spottgedicht auf Napoleon sondern
eine komisch-allegorische Darstellung der französischen Revolution, wie
sie gebändigt wird durch ihn. Der Geist der Zeit reitet auf dem Storch
über die Welt, auch über die Insel Korsika. Korsika hat geträumt:
Lange kreist' es mir im Busen furchtbar tosend, endlich brach
Aus des Leibs gesprengtem Schlosse es hervor als ein Vulkan.
Ja, ich sah, was ich geboren ein Vulkan wars, und ich sah,
Wie er Rauch und Schlacken wirbelnd, mit entsetzlicher Gewalt
Unten schütterte den Boden, oben finsterte den Tag.
Der gallische Hahn brütet einen Basilisken aus. Freiheit und Gleichheit
tanzen um den Freiheitsbaum mit Ohnehos und seinen Söhnen. Napoleon
kommt aus Ägypten, verschlingt den Drachen, stürzt den Geist der Zeit
aus seiner Herrschaft und setzt sich als der wahre Geist der Zeit an dessen
Stelle. In der Nacht bleibt er allein, und das Stück schließt mit seinen
Worten:
Was Licht in der Luft? Was Glanz im Azur?
Die innere Glut ist selbst sich genug.
Ausbreche du Glut aus Kerkersverschluß
Durch dampfenden Schlund, . . . und fülle mit Dunst
Jetzt Himmel und Luft!
Daß irdisches Rund ein dunkeler Wust.
Kein leuchtender Punkt, kein Strahl, kein Funk'
In Höhe und Kluft, als in flammender Lust
Ich einziger nur, mit schrecklichem Wurf
Aus vulkanischer Brust ausschleudernd Wut
In die Welt voll Furcht!
So stehe ich herrschend im Dunkeln.
Es ist leicht und zwecklos, bei allem Klang der Töne die mangelnde
dramatische Kraft zu tadeln oder das Ausgedachte des allegorischen
Apparats. Wichtiger ist, daß hier zum erstenmal eine Dichtung auftritt,
die schon im Titel den Anspruch erhebt, eine politische Komödie zu sein,
auftritt in einem großen Moment der Nation als Waffe gegen ihren
größten Feind. Blieb freilich dem Anspruch die letzte Erfüllung versagt,
so waren, wie die ausgehobenen | Proben zeigen, rhythmisch-sprachliche
Mittel eingesetzt, die weit über alles Wielandische hinausgingen. Trochä-
ische, jambische, anapästische Langzeilen und anapästische Systeme traten
aus dem Aristophanes in die deutsche Poesie ein, gehoben durch ein
virtuoses Spiel Calderonscher Assonanzen. Dagegen mußte alle Uber-
558 Deutsche Literatur [88189]
setzungsarbeit verblassen, mit der eben noch die Philologen Wolf und
Welcker über Wieland hinauszukommen versucht hatten. Jetzt war ein
ursprünglicher produktiver Formensinn auf Aristophanes getroffen und
hatte in dessen Gefolgschaft die erste politische Komödie erzeugt.
Wie sie auf Platen gewirkt hat, der ein Schüler des Formkünstlers
wie des Orientalisten Rückert war, erfahren wir aus seinem Tagebuch
doch wohl nicht vollständig: „Zuerst lasen wir Friedrich Rückerts aristo-
phanische Komödie über Buonaparte. Sie mag geistreich sein und ist in
jedem Falle recht künstlich. Aber poetische Anlage scheint mir darin
nicht entwickelt" (13. April 1818). Das „Künstliche" wird schon in halber
Anerkennung gesagt und war das letzte, was einem Platen gegen den
Geschmack sein konnte. Die Mängel, zumal des zweiten Teiles, konnten
ihm nicht entgehen. Aber ob er wirklich — wie sein neuester Biograph
behauptet - acht Jahre später ganz sollte vergessen haben, daß ihm die
erste deutsche Aristophaniade begegnet war? Weit glaublicher, daß dieser
Anstoß geheim in ihm fortgewirkt hat. Und vielleicht läßt sich das sogar
am einzelnen zeigen. Man höre die Anapäste, mit denen Rückerts Geist
der Zeit apokalyptischen Abschied nimmt:
Was noch atmet, zuckt und schaudert, alles sinkt in Nacht und Graus,
Und des Himmels Lampen löschen mit dem letzten Dichter aus!
Die Anklänge an Rückert sind gewiß gewollt, und ganz sicher ist dies:
nach Rückerts politischer Aristophaniade sind Platens Literaturkomödien
der nächste folgerechte Schritt der deutschen Dichtung auf Aristophanes zu.
Platen ist der einzige unter den großen deutschen Dichtern, in dessen
Leben Aristophanes Epoche macht. Im Jahre 1826, in dem er alles was
er bis dahin geschrieben als „Pfuscherei" verdammt, legt er zwischen
sich und Deutschland die Alpengrenze, zwischen sich und seine dramatische
Widerwelt, aber auch zwischen sich und seine eigene Vergangenheit die
erste Aristophaniade. Sie ist als bitterer Abschied gemeint:
Wer Schönes bildet, kann dem Preis entsagen,
Er kann ein Land, das ihn verkennt, vermissen.
Und:
Gönne das Geschick dem Dichter nur den Wunsch, für den er glüht,
Bald sich in ein Land zu flüchten, wo die Kunst so reich erblüht,
Bis zuletzt die deutsche Sprache seinem Ohre fremder tönt,
Eine Sprache, die sich ehmals unter seiner Hand verschönt.
Als er dann in Italien Fuß gefaßt hat, sendet er als erstes großes Werk
den Romantischen ödipus über die Alpen. Und hier ist besonders deutlich,
wie die Komödie Stufe sein soll zum Höheren, zu der ersehnten Tragödie:
Doch unser Poet, seit Jahren erwägt sein Geist die gefährliche Laufbahn:
Was andern ein Spiel bloß dünkt, was leicht wie den Schaum von der
Fläche sie schöpfen - |
Er findet es schwer, ihm liegt es so tief, ja tief wie die Seele des Tauchers!
Noch stets mißtraut er der eigenen Kraft! Sechs Lustra begehrten die
Griechen
Von dem Jüngling, der zu dem Wettkampf sich, zu dem tragischen
Kampfe sich anbot:
Kaum hat sie erreicht der Poet; drum gönnt
Langatmende Muße dem Wanderer, der
An des südlichen Meers Felsufer (da schon
Das Gespann des Apoll in die Wag' eintrat)
Sturmwinde belauscht, Anapäste betont
Und Erfindungen denkt,
Zu belustigen Krethi und Plethi.
Der Name Aristophanes begegnet in Platens Memorandum meines
Lebens zum erstenmal 1822: „Zu dem was ich in der letzten Zeit gelesen
habe, gehört Byrons Kain und Harold, sodann einige Stücke von Aristo-
phanes in der herrlichen Vossischen Übertragung", die 1821 zu erscheinen
angefangen hatte. „Herrlich" kam sie ihm vor trotz ihrer Leblosigkeit,
560 Deutsche Literatur [90j91]
weil sie ganz sicher im formal Metrischen ihm den Komiker in seinem
erstaunlichen Formenreichtum bekannt machte, sie allein ihn bekannt
machen konnte. Dann wendet er viele Arbeit aufs Griechische und notiert
einige Wochen später, daß er sich alle schwierigen oder merkwürdigen
Stellen in den Schriftstellern anstreiche, die er am meisten liebe. „Es sind
deren neun: Homer, Herodot, Pindar, Anakreon, Aeschylus, Sophokles,
Aristophanes, Theokrit und die Bacchantinnen des Euripides." Aber bald
engt diese Schar sich ein, und in den Aphorismen besonders über
dramatische Kunst, die er zwei Jahre später niederschreibt, stehen die
bekennerhaft programmatischen Worte: „Nur derjenige, der Form und
Sprache vollkommen überwunden hat, wie wir es bei Sophokles, Aristo-
phanes, Calderon sehen, darf behaupten, daß er durch und durch Künstler
sei. Die höchste Vollendung der Form ist die Schönheit selbst und fällt
mit der Seele der Kunst in eins zusammen." Aus dieser Grundüberzeugung,
das heißt aus solcher inneren Verwandtschaft, gelingt es Platen als erstem,
die geniale Formkunst der altgriechischen Komödie in sich lebendig zu
erwecken und sehr bald auch nachbildend der deutschen Dichtung einzu-
pflanzen. Der Stolz ist durchaus berechtigt, mit dem er während der
Arbeit an der Verhänignisvollen Gabel in sein Tagebuch schreibt: „Nie-
mals ist eine solche Komödie in irgend einer anderen Sprache | gedichtet
worden und ist auch in bezug auf die Form nur in der deutschen möglich"
(14. April 1826).
Das höchste Formkunstwerk - aber Formkunstwerk ist eine Tautolo-
gie, das höchste Kunstwerk also war für Platen das Drama. Der alte
Gedanke der deutschen Nationalbühne, dem Lessing dient, von dem
Wilhelm Meister träumt, dessen philosophische Begründung Schiller
schreibt, den Goethe als Weimarer Theaterleiter gegen alle Widerstände
zu verwirklichen trachtet - dieser Gedanke lebt auch in Platen. „Das
Theater", so beginnt er jene Aphorismen über dramatische Kunst, „muß
durchaus als Nationalangelegenheit behandelt werden, wenn es gedeihen
soll. Es muß zuerst der Grundsatz aufgestellt werden, daß nur die Poesie
das Recht habe, auf dem Theater einer Nation zu erscheinen". „Die
poetische Form muß als wesentlich festgesetzt, ein ganz in Prosa oder in
stümperhaften Versen und Reimen geschriebenes Drama müßte zurück-
gewiesen werden, auch wenn es Genie verriete. Es kann dem Genie selbst
kein größerer Dienst erzeigt werden, als es zur höchsten Vollendung
anzureizen." Und dann folgen die Sätze über Sophokles, Aristophanes,
Calderon. Erst aus dieser Gründersehnsucht begreift man den Haß gegen
die Schicksalstragödie, gegen Immermanns falsches Shakespearisieren und
überhaupt gegen die Versudelung der deutschen Bühne. Und man begreift,
wie im Kampf um ihre Reinigung Aristophanes Vorbild wurde, der große
strenge Formkünstler, der Nationaldichter und der Kämpfer zugleich.
Denn Platen konnte auch als Kämpfer zuletzt nur Künstler sein wollen,
und so trieb ihn der natürliche Drang zu dem reizenden Lied der Thalia,
[91192] Aristophanes in Deutschland 561
Weil keins, wie es scheint, mehr umfangsreich, weil keins die gesamte des
Wohllauts
Tonleiter erklimmt, von der Flöte hinauf zu dem schrecklichen Schall der
Posaune.
(Parabase von 1834).
Man pflegt darauf hinzuweisen, daß Platens Aristophaniaden mit
Notwendigkeit literarisch anstatt politisch haben werden müssen. „In
Deutschland", schreibt der Dichter selbst damals an Gustav Schwab,
„findet sich, da alles öffentliche und Politische ausgeschlossen bleiben
muß, weiter kein Stoff für die wahre Komödie als der literarische". Und
doch handelt es sich für ihn, in dem er das Literarische, das Dichterische
im höchsten Sinne nimmt, um etwas ganz anderes als nur um Literatur. |
Der Nation selber hält er ihre Unfreiheit und Enge vor, ihre Schlaffheit
und Undankbarkeit, ihre Dreistigkeit, ihre Halbheit, ihren Haß gegen
alles harmonisch gerundete Ganze und „der empor sich schraubenden
Ohnmacht schwerfälligen Wahn". Mag mancher lächeln über die deutsche
Literaturgeschichte von Armin dem Befreier bis auf Platen selbst, die als
letzte Parabase in hallenden aristophanischen Anapästen den ödipus
beschließt. Der Schreiber dieser Seiten, der noch aus seiner Jugend große
Stücke davon auswendig weiß, hat immer empfunden, wie hier, geschwellt
von dem Stolz des Dichters und geregt von der Fülle seines Wohllauts,
der große Strom der deutschen Dichtung feierlich und begeisternd vor-
überrauscht.
So sind denn diese unpolitischen Komödien auf eine sehr verschwie-
gene, ironische und dabei universale Art, man möchte sagen auf eine sehr
deutsche Art, doch wiederum politisch, indem sie nämlich die Unmöglich-
keit der echten politischen Komödie nachdrücklich aussagen.
Größers wollt er wohl vollenden; doch die Zeiten hindern es:
Nur ein freies Volk ist würdig eines Aristophanes.
Zwar der Dichter freut sich eines großgesinnten Königs Gunst;
Doch Europas Seufzer steigen um ihn her als Nebeldunst.
Da der Sonnenstrahl der Freiheit seine Tage nicht erhellt,
Gibt er statt des Weltenbildes nur ein Bild des Bilds der Welt.
Einem spätem Meister überläßt er die berühmte Tat,
Volk^^d Mächtige zu geißeln, ein gefürchtet Haupt im Staat.
Man rechne sich aus, daß diese Worte zwischen den Karlsbader Beschlüs-
sen und der Juli-Revolution geschrieben wurden, und man wird zuge-
stehen, daß der Dichter die Sache des deutschen Geistes und der deutschen
Freiheit nicht unrühmlich vertritt.
Was Platen zu einem Aristophanes letztlich fehlt, ist gar nicht das
Politische, es sei denn in dem Sinne, daß ihm die Polis, die Gemeinschaft
fehlt, aus der und für die er schafft, daß ihm der „Chor" fehlt, durch den
Aristophanes sich aussingt und ausspricht zu dem gegenwärtigen Volke.
562 Deutsdie Literatur [92¡94]
Platen ist ganz einsam und vielleicht darum letztlich zu ernst für die
aristophanische Komödie trotz alles Witzes, aller Spottlust, aller wort-
schöpferischen Komik. Er kann das, was er verspottet, nicht leicht, nicht
spielerisch genug nehmen. Er steht noch zu sehr in den Dingen, noch zu
sehr zwischen seinen Feinden. Sein Arkadien, in dem die bizarre Schicksals-
tragödien|karikatur sich abspielt, seine Welt der romantischen ödipodie,
seine Lüneburger Heide, auf der der Dichter Nimmermann dem Verstände
und dem Publikum begegnet, sie haben nicht jenes befreiende Jenseits
von diesem Raum und dieser Zeit, wie das Wolkenkuckucksreich oder
die Unterwelt oder das Friedensland auf Erden in den Komödien des
Aristophanes, nicht jene „transzendentale Höhe des höchsten Blödsinns
und der aristophanischen Weltverspottung" (Nietzsche). Ihm fehlt,
wieder mit Nietzsche zu sprechen, „die Unbedenklichkeit, die Skepsis, die
,Unmoralität', die Erlaubnis sich eines Glaubens entschlagen zu können,
die zur Größe gehört (Caesar, Friedrich der Große, Napoleon; aber auch
Homer, Aristophanes, Lionardo, Goethe)".
Doch ist es ja im Grunde eine Binsenwahrheit, daß ein Aristophanes
nur einmal möglich war, und daß es seitdem höchstens aristophanische
Phantasmagorien geben kann. Als Phantasmagorie aber ist die von Platen
die glänzendste. Man mag vieles vermissen, vieles kritisieren. Man mag
mit Recht bedauern, daß Platen gegen seinen großen Zeitgenossen
Immermann stand, den einzigen der eines Ranges mit ihm war: der-
gleichen gehört zum Schicksal der deutschen Literatur. Aber man lese
etwa Eichendorffs Lustspiele aus dem gleichen Jahrzehnt, verspätete
Nachfahren Tiecks, vielmehr man versuche diese philiströsen und form-
losen Produkte zu lesen, um zu erfahren, was wir immer noch an Platen
haben, wenn man es sonst nicht weiß. „Ein reifes und männliches Urteil",
wie er es fordert und verdient, wird immer darauf bestehen müssen,
daß Werke von so viel „feurigem Spott", soviel Kühnheit, Witz und
dramatischem Leben, solchem Glanz der Rhythmen, solcher Kraft und
Schönheit des Wortes nicht verdienen, dem Herbarium der Literatur-
geschichte überantwortet zu werden.
Der dritte Akt des Romantischen Oedipus schließt damit, daß die
thebanische Sphinx sich in den Abgrund — des Orchesters! — stürzt. Sie war
verdammt ihr lebelang schlechte Verse zu hören und die schlechten
Poeten zu bestrafen. Jetzt begegnet ihr Oedipus mit dem ersten richtigen
Distichon, und sie muß „selbst in Charons Nachen steigen". Aber über-
höre m-an doch in Oedipus' Distichon über dem vollkommenen Fall
der Rhythmen nicht den Sinn der Worte:
Möge die Welt durchschweifen der herrliche Dulder Odysseus,
Kehrt er zurück, weh Euch, wehe dem Freiergeschlecht!
Und überlese man nicht die szenische Bemerkung: „Distichon in Trans- |
parent erscheinend!" Wird nicht hier plötzlich die Dichtung selbst trans-
[94¡95] Aristophanes in Deutschland 563
parent, und kann man das Cave adsum verkennen, das der Dichter in
seine Heimat hinüberruft? Erfüllt hat es sich im Wortsinne freilich nicht.
Aber gerade deshalb bleibt seine Drohung gegen das Stümpertum auf-
gerichtet. Und die aristophanischen Kräfte, die er den Deutschen ins Blut
geimpft hat, sind noch jahrzehntelang zu spüren.
Gewiß ist ohne Platen nicht denkbar die Aristophanesübersetzung
Droysens, der große Beitrag, den das vierte Jahrzehnt des 19. Jahrhun-
derts zum Thema Aristophanes in Deutschland geliefert hat. Wenn Pla-
ten 1822 von der „herrlichen Vossischen Übertragung" spricht, Droysen
1834 von dem „essigsauren Voß" (Brief an Welcker), so liegt Platens
eigene Dichtung dazwischen. Was Voß durch seine Ubersetzungsmühle
gehen ließ, erwähnen wir nur am Rande. Droysens Werk aber gehört nicht
allein der Philologie und der Geschichtswissenschaft, sondern der deut-
schen Literatur, mag auch die deutsche Literaturgeschichte kaum Notiz
davon nehmen.
Johann Gustav Droysen ist einer jener universalen Menschen, die heute
so selten geworden sind: Historiker, Philolog, Politiker, Denker, Künstler,
befähigt und geneigt einen Versrhythmus so ernst zu nehmen wie die
politische Gegenwart und Zukunft der Elbherzogtümer, ein geschichtliches
Faktum naher oder ferner Vergangenheit so ernst wie das Problem der
geschichtlichen Erkenntnis überhaupt. Erstaunlich auch der Umfang seines
Schaffens: in dem Doppelberuf des Gymnasiallehrers und Universitäts-
dozenten mit voller K r a f t tätig läßt er 1833 seinen Alexander, 1836 seine
Diadochen erscheinen, entdeckt und gestaltet also eine ganz neue Ge-
schichtsperiode, den „Hellenismus", und arbeitet zwischendurch an der
Aristophanesübersetzung, deren erster Band 1835, deren zweiter und
dritter 1837 und 38 vor die deutsche Öffentlichkeit treten.
Schon 1829 hatte der 21jährige seine AischylosÜbersetzung abgeschlos-
sen, die Frucht seiner Studentenjahre. Sie versuchte sofort das Höchste:
das Vorhandene zu verdeutschen, das Verlorene mit dichterisch erfinden-
der Freiheit zu rekonstruieren und das Ganze wahrhaft geschichtlich zu
deuten. Uber seine Übersetzungsmaxime spricht Droysen sich eindringlich
aus. „Es wäre gleich fehlerhaft alles Fremdartige zu verwischen, wie der
eigenen Sprache das Joch eines fremden Ingeniums aufzubürden; zwi-
schen den beiden Klippen der Karikatur und der Farblosigjkeit kann die
größte Treue allein hindurchleiten." „Die erste Anforderung ist, daß aus
dem Schönen in das Schöne übersetzt werde", — eine Formel, die wir beim
Aristophanes erweitert Wiederhören werden. „Die Melodie der Klänge,
das Spiel verwandter Silben und ähnlicher Worte, an dem sich so gern die
Rede fortspinnt, diese organische Lebendigkeit, die in jedem Punkt der
Oberfläche selbständig und charakteristisch nachzittert" - das ist es was
vor allem die sorgfältigste Rücksicht des Ubersetzers fordert. Da ferner
keine der ursprünglichen Tetralogien vollständig erhalten ist, muß sich
der Interpret um ein Bild des Verlorenen bemühen: erst so können die
564 Deutsche Literatur [95¡96]
nicht zuwider; ich sehe ein, wieviel Aufschluß sie gibt und welche Riditung
sie vielfach der Beurteilung geben kann." Dann freilich kommen Beden-
ken: „Nichts erfordert mehr Gerechtigkeit und Unbefangenheit, als neben-
einander das Bedingte der Parteien sowie audi der verborgen wirkenden
mächtigen Zeittendenzen, und dann das Individuum nach den | unverrück-
lichen Merkmalen eines nationalen ethischen Ideals abzuwägen. Voll-
enden kann man dies nur con amore für sich, für wenige. In das Publikum
passen, wie von allem, auch einseitige Darstellungen, Faktoren der Wahr-
heit." Die von Welcker gestellte Forderung bleibt auch für die Zukunft
noch zu erfüllen, nachdem in Droysens mutiger Einseitigkeit die Gene-
ration der Paulskirdie und nach ihm die Generation der Reichsgründung
zu Worte gekommen ist.
Wie aber sah Droysen den Aristophanes selbst? Der rationalistischen
Ästhetik war er der Possenreißer gewesen. Die Geniezeit hatte ihn zum
genialischen Possenreißer befördert. Im Klassizismus mußte das Urteil
umschlagen: er wurde der tugendhafte Ratgeber und Erzieher seines Vol-
kes, und Süvern hatte die Vögel in eine lehrhafte Allegorie umgedeutet
zum Schaden der Poesie und der Geschichte gleichermaßen. Dagegen tritt
Droysen auf ausgerüstet mit dem starken Wirklichkeitssinn der jungen
Generation, der das Erbe Napoleons an das 19. Jahrhundert ist, und
gleichzeitig in seinem Denken durch Hegels Geschichtsdialektik bestimmt.
„In Zeiten gesteigerter Zivilisation, wenn das Scheidewasser der Auf-
klärung alles Leben angefressen, wenn man über Sitte und Vorurteil, über
alles Überlieferte und Substantielle hinwegräsoniert hat", dann ist der
Augenblick für einen Aristophanes gekommen. „Die alte Komödie ist
selbst eine der sprechendsten Erscheinungen der Zeit, auf deren Verderbt-
heit sie immerfort schilt, und ihre Möglichkeit und Popularität ist für die
Verworrenheit des allgemeinen sittlichen Bewußtseins ein stärkerer Be-
weis als die Klagen und Insinuationen, mit denen sie selbst so freigebig
ist." Es klingt wie eine Rückkehr zu den Urteilen des 18. Jahrhunderts,
wird aber jetzt ohne Abwertung und mit einem ganz neuen Wirklichkeits-
gefühl gesagt: Die Komödie des Aristophanes ist gewissenlos und gesin-
nungslos. Sie hat nur ein Gewissen und eine Gesinnung: Kunstgewissen
und Kunstgesinnung. Sie lebt ganz allein aus der „unendlichen Fülle der
Poesie" und der „unvergleichlich hohen künstlerischen Vollendung". Der
Wirklichkeitssinn dieses sittlich strengen Mannes wendet sich gegen alles
falsche Moralisieren und bekennt sich zu dem eigenen Recht der Dichtung
mit einer Kraft, die zuletzt aus der Mitte der Goetheschen Existenz ge-
nährt ist.
Man vergesse nicht, daß der Droysensche Aristophanes sich schon fast
hundert Jahre in der Anerkennung der Näheren wie der Ferneren |
bewährt hat. Von der älteren Generation wünschte Welcker Glück zu der
vollendeten Arbeit: „Sie scheint mit großer Gunst aufgenommen zu wer-
den, wie sie denn auch voll Geist, Kunst und Studium ist" (21. Januar
568 Deutsche Literatur [1001101]
1839). Am wichtigsten aber ist, daß die Hallischen Jahrbücher, die kri-
tische Zeitschrift der radikalen Jugend, eine durch drei Hefte sich ziehende
Besprechung brachten, zu der der Herausgeber Arnold Rüge selbst sich
mit dem Philologen Bergk verband. Rüge also, dem die Sache der Bildung
und der Freiheit, des Geistes und der Politik untrennbar war, und der,
in einer Anzeige von Herweghs Gedichten, als die Aufgabe seiner Zeit
aussprach „neben der Erwerbung der bürgerlichen Freiheit nicht nur die
freien Gedanken unserer großen Vorfahren, sondern auch ihre vollendeten
Formen vor einer barbarisdien Reaktion zu retten", - Rüge begrüßte
„das bewundernswürdige Werk", „die Ubersetzung oder vielmehr die
Wiedergeburt der aristophanischen Komödien", dieser „großartigen Ge-
legenheitsgedichte, die ihresgleichen in der Weltgeschichte nicht finden",
als eine deutsche Angelegenheit. Und man wird noch heut mit einigem
Staunen lesen, wie diese eindringende Betrachtung das Dichterische, das
Geschichtliche und das Philosophische gleichermaßen zu seinem Recht
kommen läßt und damit auf die Teilnahme des deutschen Publikums
zählen zu können scheint. Am ursprünglichsten ist Rüge - der Verfasser
einer Ästhetik des Komischen — in dem, was er als hegelisch geschulter
Denker über Droysen hinaus von dem Sinn der Komödie sagt. Den
tugendhaften Aristophanes der Philologen hatte Droysen abgetan. Sein
Aristophanes war Immoralist. Aber Rüge möchte diesem Urteil alle Mög-
lichkeit nehmen, selbst ins Moralisieren abzugleiten. Gewiß ist die Komö-
die gewissenlos, ungerecht. Aber „dieses Unrecht ist nur ein Unrecht gegen
die überhaupt unberechtigte Existenz, kein Unrecht gegen den Begriff
des Menschen. Der Grund des Komischen ist die Einsicht oder vielmehr
Anschauung, daß eben jene Existenz und ihre Zufälligkeit unberechtigt
sei". Das Unrecht also, dessen Droysen den Aristophanes zeiht, ist nur
prosaisch genommen ein Unrecht. In der Dichtung ist dieses Unrecht
gerade poetisches Recht, aus dem die Komödie lebt und das der Komö-
dierte anerkennt, wenn er Humor hat. In gleicher Weise wird auch die
„Gesinnungslosigkeit" zu Ende gedacht. Parteiisch ist die Komödie durch-
aus. „Das grelle Schlaglicht der Komik ist das Bewußtsein der Gegen-
partei." Aber „auch die komisch-bevorzugte Partei ist eben nur k o m i s c h
bevorzugt, das heißt es wäre keine Komödie, wenn | nicht jedes prosaische
Parteiinteresse in ihrem Äther verflüchtigt erschiene".
Rüge nimmt „den berühmten Ausspruch (Hegels) über Aristophanes:
,in ihm zeige sich die alles zerfressende Subjektivität, an welcher der
Hellenismus (wir würden sagen: das Hellenentum) zugrunde gehe' mit
einigem Mißtrauen auf." Ihm ist die aristophanische Komödie „die
Schöpfung einer tollen Welt bloß durch die ideale Macht des Geistes, die
ihre Tollheit durchschaut und dieses zweite Gesicht darzustellen und zu
offenbaren weiß". Dann aber ist sie kein Erzeugnis der Zersetzung son-
dern die Erfüllung dessen, was im ursprünglichen Komos schon angelegt
ist: „die Heiterkeit der komischen Laune, welche mit trunkenem Behagen
[1011102J Aristophanes in Deutschland 569
sich gegen die Alltagswelt kehrt". Denn Rüge sieht mit Staunen auf die,
unglaubliche Höhe der komisch-humoristischen Bildung", die er in seinem
eigenen Zeitalter vermißt.
Sie fehlt in den Philosophiekomödien, in denen die inneren Kämpfe
der Hegeischen Schule sich ihren Ausweg in die Welt des Lachens suchen.
Sie fehlt nicht ganz in der stärksten Komödie, die die 40er Jahre aus ari-
stophanischer Formkraft hervorgebracht haben: in der Politischen Wo-
chenstube des Pommern Robert Prutz. Sie erschien 1845, erregte gewalti-
ges Aufsehen, brachte dem Verfasser einen Majestätsbeleidigungsprozeß
ein, den der König niederschlug, und wird noch heut das amüsanteste Buch
sein, aus dem man sich die Stimmung jener Jahre unmittelbar vor 48 ver-
gegenwärtigen kann. Prutz, als Schrifsteller Publizist Rhetor und Poet
einer der bedeutendsten in jener Zeit, bekennt sich selbst zu Platen als
dem unerreichten Meister des „metallenen Verses", neben dem freilich
sein eigener wie überhaupt der Vers der 40er Jahre blechern klingt. Er
rechnet mit den Kritikern ab, die Platens Komödien als „philologisches
künstliche Machwerk" bekrittelt:
J a versucht es nur erst und spitzet einmal, wenn ihr könnt, die
gewaltigen Ohren
Und klappert dazu, mit verfehlender Hand, euch den Takt an dem
knöchernen Bein ab!
und weist die zurück, die mit ihrer frischgelernten Devise
Politik allein, radikale zumal, sonst nichts sei würdig zu schreiben
über den unpolitischen Platen aburteilen:
Denn von Rüge gelernt hat dieses Geschlecht das summarische kurze
Verfahren; |
Nur gebricht ihm der Geist, den Rüge besitzt. Doch auf Dichter ver-
steht sich auch der nicht.
Von dem Freund Rüge hat wohl auch Prutz gelernt, daß der komödische
Scherz niemanden, auch ihn selbst und die Gefährten nicht verschonen
darf, und daß der Komödierte das Komödienrecht anerkennen und, wenn
er kann, es machen muß wie Sokrates: der Theaterjubel der Athener über
den Komödiensokrates schweigt still - so schildert es Prutz eindring-
lich - als der echte Sokrates ruhig lächelnd auf sein Bühnenabbild blickt.
Denn das ist, ihr Herrn, das tyrannische Recht des erobernden Gotts
Dionysos,
Daß er mitleidlos in Ruinen zerschlägt, was immer von irdischem Ton
ist:
Doch über dem Schutt, in unendlichem Blau, wiegt schmetternden Lieds
sich die Lerche.
Von der recht unterhaltenden Handlung sagen wir hier nichts und
nur wenig von dem Spott über alles und jedes: politische und literarische
570 Deutsche Literatur [1021103]
1953
1. Goethes Terzinengedichte
Was aber bedeutet der Zusatz Ist fortzusetzen unter jenen Terzinen? Das
Gedicht ist wahrlich beendet mit seiner vierzeiligen Gnome
Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen . . .
ebenso wie Fausts Terzinen zum Abschluß kommen mit der einzeiligen
Gnome
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.
574 Deutsche Literatur [213]
Fortzusetzen also konnte das Terzinengedicht nur sein in dem Sinne, daß
es Glied eines Cyclus wurde. Es ist ja bekannt, wie | der Wille, Gedichte
zu Cyclen zusammenzuordnen, in Goethe je länger je stärker wurde. So
hat er eine früher geplante Dichtung über die Natur ersetzen wollen und
zum Teil ersetzt durch zusammengruppierte Einzelgedichte. Die Reliquien
Schillers waren 1829 gedacht als Glied eines solchen Kreises, den doch
wohl auch das dantische Maß zusammenhalten sollte.1 Ein skizzenhafter
Gedichtanfang in Terzinen ist unter Goethes Entwürfen erhalten:2
1
Siehe zu dem Vorstehenden, vor allem K . Vietor, Goethes Gedicht auf Schillers Schädel,
Publications of the Modern Language Association $9, 1944, 42 ff., und die sidi daran
schließende Erörterung über Ist fortzusetzen ebendort 60, 1945, 399 ff., 421 ff., 1 1 5 6 ff.
Man braucht nur das Druckbild in der Ausgabe letzter Hand anzusehen, um zu er-
kennen, daß Vietor die ebenso einfache wie wesentliche Wahrheit getroffen hat. Be-
merkenswert ist auch: in Band 22 der Ausgabe letzter Hand hat das auf S. 261 an-
gefügte Vermächtnis die Bezeichnung Ist fortzusetzen nicht. - Vgl. auch M. Hecker,
Schillers Tod und Bestattung, 1 9 3 5 , 160. - Über Goethes Streben zum Cyclus s. F.
Stridi, Die Mythologie in der deutschen Literatur I, 1910, 3 3 2 fr.; K . Burdadi, Ein-
leitung zum Westöstlichen Divan, Jubiläumsausgabe Bd. V , S. X L V f.; W. Flitner,
Goethe im Spätwerk, 1947, 12 f.
2
Weimarer Ausgabe Band j , II, 408 f.
3
F. Gundolf, Goethe 437 ff.
4
Uber diesen „Trimeter" ein Wort in Kapitel X I .
[314] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 575
5
Es ist seltsam, daß K . Witte, Danteforschungen II, 1879, 504 ff., da wo er über die bis
dahin erschienenen Dante-Übersetzungen einen Überblick gibt, zwar die Reimtedinik
erörtert, aber die von uns fixierte Frage gar nicht zu sehen scheint. — Goethes Über-
setzungsprobe gehört in den September 1826, das Gedicht auf Schillers Schädel ist
drei Wochen später. Tagebuch zum 2. September: Notierte einiges, auf Streckfußens
Bemühungen im Übersetzen bezüglich . . . Dante's 12. Gesang, Original und Über-
setzung. Zum 25. September: Nachts Terzinen. 26. September: Früh die Terzinen
weitergeführt... Die Terzinen abgeschrieben . . . Weitere Beachtung der Terzinen.
576 Deutsche Literatur N6]
Den Fluß der dantischen Terzinen durchdringt Goethe mit einem gegen-
dantischen Formprinzip — ähnlich wie er audi im Buch Suleika das Reim-
geschlinge des persischen Ghasels in vierzeilige Strophen gliedert und es
damit an der Geschlossenheit klassischer Form teilnehmen läßt7. |
immer oder fast immer von dem, was man als Characteristicum an ihm
zu sehen meint, zugleich das Gegenteil ist. „Die Quelle seiner dichterischen
Fruchtbarkeit", ich citiere Thomas Mann, „war die Polarität". Und Karl
Reinhardt: „Ist doch das in Goethes eigenem Schaffen herrschende Gesetz
kein anderes, als was ihm in der Natur sich offenbarte: Polarität und Stei-
gerung." Und Paul Valéry: „Car tous les Janus de Rome ne suffiraient pas
à représenter toutes les oppositions, tous les contrastes - ou si l'on veut,
toutes les synthèses qu'il y a dans Goethe 11 ." Gewiß, Dante stieß Goethe
ab, man braucht nicht zu sagen in wie vielem. Aber in demselben Dante
fand Goethe, zumal der alte Goethe, eine Macht, die ihn im tiefsten zur
Bewunderung, zur Nachfolge, zum Widerspruch, zum Wettkampf zwang,
vielleicht gerade darum, weil er ihr früher nicht genug getan hatte.
Goethes Urteile über Dante sind oft gesammelt worden 12 . In Goethes
Jugend war Dante so gut wie unentdeckt, in Deutschland schon ganz ge-
wiß; aber selbst in dem Italien des 18. Jahrhunderts begriff ihn - trotz
Giambattista Vico - „höchstens einer unter tausend", wenn Alfieri mit
einer Äußerung in seiner Selbstbiographie recht hat 13 . Was Goethe auf
seiner italienischen Reise über Dante gesagt haben will, darüber wird der
so viel später niedergeschriebene Bericht kein unbedingt zuverlässiges Do-
kument sein. Im Jahre 1801, auf der Höhe seines Klassicismus, konnte
Goethe wohl eine kurze Scene der Commedia rühmen als zu dem Höchsten
gehörig, was die Kunst hervorgebracht hatu. Nicht zufällig war es die
Ugolino-Episode, berühmt seit Gerstenbergs Sturm-und-Drang-Drama,
das „die populäre Dante-Vorstellung in Deutschland geschaffen hat",
jene Vorstellung, die gegründet war auf die grauenvollen Stellen des In-
ferno, und die im Grunde auch heut nodi nicht ganz überwunden ist.
Dante im großen begann erst damals von der Romantik entdeckt zu
werden 15 . Mit Recht darf August Wilhelm Schlegel sich rühmen, er sei
11
Th. Mann, Goethe und die Demokratie, Neue Rundschau 1949, 3 0 1 ; K . Reinhardt,
Von Werken und Formen, 1948, 390. Paul Valéry, Discours en l'honneur de Goethe,
1932, in: Variété I V 1 1 8 . Vgl. auch P. Müllensiefen, Die Polarität der Kräfte, Jahr-
buch der Goethe-Gesellschaft Bd. 16, 1930, 73 fi.; W. Flitner, Goethe im Spätwerk 1 4 ;
A . Heusler, Kleine Schriften, 1943, 586.
12
Zuletzt E . R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 1948, 352 f.
13
L a Vita di Vittorio Alfieri, Cap. 17 (zum Jahr 1 7 8 7 ) : . . . dii oramai in Italia, chi è
che veramente e legga ed intenda, gusti e vivamente senta Dante e il Petrarca? uno
in mille, a dir molto.
14
Anzeige von Böhlendorfs Trauerspiel Ugolino Gherardesca, Jubiläumsausgabe Band
36, 267 ff.
15
E . Auerbach, Entdeckung Dantes in der Romantik, Deutsche Vierteljahrsdirift für
Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7, 1929, 682 ff. Der Satz über Goethe:
„Goethe hatte durchaus keine Beziehung zu der geistigen und sinnlichen Kultur des
Trecento" bedarf dodi der Begrenzung, wie der eine Name Giotto genügen würde zu
beweisen.
[9110] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 579
mit Dante zu ringen, als Übersetzer und als Nachbildner. Sein Bruder
Friedrich steht wie immer als Anreger neben ihm. Schelling und Hegel
reichen mit philosophischer Deutung über die Brüder Schlegel hinaus und
begründen das philosophisch-geschichtliche Dante-Verständnis in Deutsch-
land. Goethe stand abseits. Aber die Anfangsworte jener Recension von
1801 wollen beachtet sein; sie beziehen sich auf Dante: Wenn das außer-
ordentliche Genie etwas hervorbringt, das Mit- und Nachwelt in Erstau-
nen setzt, so verehren die Menschen eine solche Erscheinung durch An-
schauen, Genuß und Betrachtung, jeder nach seiner Fähigkeit — als ob
Goethe seine eigne Haltung dem Außerordentlichen gegenüber sich noch
vorbehielte.
In den Annalen von 1801 steht an einer Stelle nebeneinander Tassos
Anmut, Ariosts Gewandtheit, Dantes widerwärtige, oft abscheuliche Groß-
heit. Die beiden Renaissancedichter erhalten jeder eine einfache Censur,
bei Dante ist Abneigung mit Bewunderung charakteristisch verbunden.
Dann aber erscheint 1824-1826 die Streckfußsche Dante-Ubersetzung. In
seiner Recension von 1826 gibt Goethe eine Probe, wie Streckfuß hätte
übersetzen müssen, wenn er ein Dichter gewesen wäre, und schreibt eine
Charakteristik Dantes, die Abneigung und Bewunderung wie früher ver-
einigt. Das Mikromegische und deshalb Sinneverwirrende des dantischen
Höllenlokals stößt Goethe ab und damit - muß man doch wohl hinzu-
denken - das genau Konstruierte in Purgatorio und Paradiso. Aber gleich-
zeitig preist er die großen Geistes- und Gemütseigenschaften und sieht
sich durch den seltsamen Reichtum der einzelnen Lokalitäten überrascht,
in Staunen gesetzt, verwirrt und zur Verehrung genötigt. (Man wäge
jedes einzelne Wort!) Der Blick auf Dantes Zeitgenossen Giotto, diesen
sinnlich-bildlich bedeutend wirkenden Genius, hilft Goethe das scharf
Umrissene und vollkommen Gegenwärtige der Danteschen Figuren und
Gruppen sicher zu begreifen.
Vertraulich befreundet freilich scheint ihm Dante nur einmal (1827),
da er dem alten Freund Fr. H. Jacobi, dem dajmals ihm so fremd gewor-
denen, unsern Dante gegenüberstellt. Dort Jacobi, der von der Natur gar
nichts wissen will, hier unser Dante, von dem Goethe als Schlußpointe
anmutiger Verse die Formel übernimmt,
Naturphilosophie sei Gottes Enkelin
mit dem ausdrücklich commentierend beigefügten Citat: Inferno XI, 97 ff.
Si che vostr'arte a Dio quasi e nipote16.
16
Das Gedicht Von Gott dem Vater stammt Natur, Jubiläumsausgabe Band 38, 126,
entstand am 1 1 . August 1826. Die Tagebücher notieren unter dem 10. August: Abends
Dante und Sonstiges, unter dem 1 1 . August: Aristoteles im Original nachgesehen
wegen einer Stelle des Dante. Kleines Gedicht im Gefolg dessen. Dante, Inferno X I
80 und 101, beruft sidi auf Aristoteles' Ethik (la tua Etica) und Physik (la tua Fisica).
580 Deutsche Literatur [10111 ]
So vergesse man, wenn man Goethes Sinnen und Urteilen über Dante
abwägt, doch nicht Goethe den Dichter der beiden mächtigen Terzinen-
gedichte. Gewiß könnten sie nicht in der Commedia stehen. Aber ebenso
gewiß ist, daß sie in Dantes Nachfolge gehören und ohne ihn so über-
haupt nicht bestünden17. In beiden Gedichten ist jene höchste Genauigkeit
und Gegenwart des Ganzen wie des Einzelnen, die Goethe an Dante so
hoch pries: in den Reliquien das Beinhaus, in dem Monolog die Alpen-
landschaft - doch darüber ist es unnötig zu reden. Dann ist in beiden
Gedichten das starke Ich, das gleich von Anfang an sich ausspricht, nicht
dramatisch, nicht lyrisch, sondern betrachtend, und zwar derart, daß
Schauen und Denken die beiden Komponenten der Betrachtung sind. Sie
sind in völligem Gleichgewicht. In den Reliquien sind beide sogleich aus-
drücklich genannt:
Die Stelle, die Dante mit non dopo molte carte bezeichnet, ist Physik Budi II K a -
pitel 2. (Es ist 194 a 21 der Akademie-Ausgabe). Goethe fand im Kommentar seiner
Dante-Ausgabe (Venedig 1739) den Hinweis: Quasi al principio del libro: Ars imi-
tatur naturam in quantum potest. Das war also die Stelle, die er im Original nach-
sah. Von Aristoteles Physik wird er sich dann der ihm vertrauten Poetik zugewandt
haben, deren Lektüre das Tagebuch unter dem 12., 13., 14. August verzeichnet.
17
E. Kühnemann, Goethe, Leipzig 1930, II, 368: „Wundersam, wie mit seinem Versmaß
auch etwas vom Dantegeist in Goethe hinüberzurauschen scheint." Demgegenüber
E. Sulger-Gebing, Goethe und Dante, Berlin 1907, 86 f.: in den Terzinen sei die Er-
innerung an Dante nicht, wie Podihammer meine, ohne weiteres und jedenfalls nicht
inhaltlich, sondern höchstens formal gegeben. Da ist in der Polemik gegen Pochham-
mers Übertreibungen manches Berechtigte; unfruchtbar, wie immer gegenüber großer
Dichtung, ist der Gegensatz formal - inhaltlich.
[11113] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 581
Der Weg durch die drei Reiche bei Dante ist ja ein Weg, auf dem das
Sehen zu immer größerer Reinheit gedeiht, von jenem guardai in alto e
vidi am Anfang des ersten Gesanges bis zur Gottesschau am Ende des
hundertsten19.
Bei Goethe fanden wir Sehen und Denken eng verbunden. In der
Commedia ist das Sehen und das Verstehen und Deuten in der Regel auf
verschiedene Personen verteilt: der Wanderer durch die drei Reiche sieht
und fragt, das Antworten und Deuten ist zumeist Sache Virgils, Statius',
Beatrices, Mateidas, S. Bernardos, obgleich, wie sich versteht, auch Dante
sich selbst - den Dante, der die Person in der Commedia ist - immer wie-
der als pensando oder ripensando (Inf. X , 122. Par. X X I 44) darstellt
oder intesi, intesi e certo fui (Inf. III, 61. V, 37) von sich sagt.
Mit Dante trifft sich Goethe auch in der Haltung dessen, der in das
Geheimnis eingedrungen ist und nun das Mögliche davon sich auszuspre-
chen bemüht, dabei wissen lassend, daß es sich um verborgene Weisheit
handelt. Wenn Goethe als Adept spricht, so darf man aus dem Inferno
vergleichen (IX, 6z):
Mirate la dottrina che s'asconde
Sotto il velame degli versi strani!
und aus dem Purgatorio (VIII, 19):
Aguzza qui, lettor, ben gli occhi al vero:
Che il velo e ora ben tanto sottile,
Certo, che'l trapassar dentro e leggero.
Wo dann doch wieder der Unterschied deutlich ist zwischen Dante, der
seine Leser ausdrücklich anredend belehrt, und Goethe, der mit Schillers
Schädel allein ist, Faust, der in der Hochgebirgslandschaft allein ist.
Was Goethe an Dante aufs tiefste ergriffen haben muß - gerade weil
es ihm schon vorher völlig vertraut war - ist die Bewegung des Ganzen:
aus dem Dunkel und durch das Dunkel zu immer höheren und lichteren
Sphären bis in den Anblick des höchsten Lichtes - man kann sagen: die
platonische Bewegung, von der so vieles in der europäischen Atmosphäre
lebendig war und durch Augustinus, Ficino, Comenius, Shaftesbury, wenn
man einzelne Namen will, frühzeitig an Goethe herantrat20. So sind Auf-
stieg und Licht in beiden Terzinengedichten Goethes wesentlichste Sym-
bole. In den Reliquien ist der Gegensatz hier Beinhaus, Moderkält' und
Enge, dort freie Luft, Sonnenlicht und jenes Meer, das flutend strömt
19
S. U. Leo, Sehen und Sdiauen bei Dante, Dante-Jahrbuch Bd. X I , 1929, 183 fr.,
Dante's W a y through Earthly Paradise, Italica Vol X X I V , 1947, 279 ff. - Zum
Folgenden vgl. E. Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, 1929, 197 ff.
20
S. E. Cassirer, Goethe und die Geschichtliche Welt, 1932, 128. Derselbe, Idee und Ge-
stalt, 1 9 2 1 , 16.
[14\15] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 583
Im aßsten Gesänge erblickt Dante über Tausenden von Sternen eine Sonne,
die alle andern entzündet. Die Sonne ist Christus, und ihre leuchtende
Substanz ist so stark, daß Dante sie nicht erträgt, che non la sostenea (33).
Von da an wird vollends das Lichtsymbol herrschend. Sei hier nur so viel
kurz erwähnt: Im 25Sten Gesänge wird Dante blind beim Anblick des
höchsten Lichtes; im nächsten gewinnt er die Sehkraft wieder. | Im Schluß-
gesange schaut er hinein in den göttlichen Glanz und glaubt - dieses sehr
im Gegensatz zu Goethe - :
Ich citiere hier die Streckfußsche Ubersetzung und füge aus ihr den
dritten Reim spendet hinzu, um wahrscheinlich zu machen: diese Reim-
dreiheit klinge im Faustmonolog nach: . . . wendet ... gespendet ...
geblendet, dort wo Faust den Blick in die eben aufgehende Sonne gerade
n i c h t erträgt. Aber schon im 2 5Sten Gesänge, dort wo Dante blind
wird, sind bei Streckfuß wenigstens zwei der Reimwörter dieselben:
. . . gewendet .. . geblendet. Ist es nötig zu sagen, daß Goethe wiederum
den Streckfuß ganz gewiß nicht nötig hatte, um diese Reime zu finden,
und daß die Frage, die wir hier erörtern, nicht an solchen Einzelheiten
hängt? ]
584 Deutsche Literatur [16117]
Wir sind noch nicht zu Ende mit dem dantischen Element in der
Prologscene des Zweiten Faust. Aber die Grundform von Goethes Da-
sein - wir erinnern uns — ist die Polarität. Die mächtige Anziehung, die
Dante auf ihn ausübte, wird man nicht begreifen, wenn man nicht die
ebenso mächtige Abstoßung sieht, und umgekehrt. Schon ehe die eigentlich
dantische Melodie erklingt, ist die anti-danteske erklungen aus Ariels
Munde:
Ob er heilig, ob er böse,
Jammert sie der Unglücksmann.
Vor allem: die Strophen der Erzengel haben steigenden Rhythmus, die
Strophen Ariels und seiner Gesellen haben fallenden. Und man wäge ab,
wie durch diesen Unterschied der einen Silbe die Gesänge am Anfang
des Zweiten Teils so viel zarter werden, und wie undenkbar es wäre,
die Elfen in der Strophe der Erzengel singen zu lassen oder die Engel in
der der Elfen. -
In dem Concerto Dramatico, (Jubiläumsausgabe Bd. 7, 97 ff.), diesem
lustigen Halbunsinn, den Goethe 1772 an die Freunde in Darmstadt
sandte, hat der jugendliche Dichter die allermannigfachsten Versformen
con gusto ausprobiert und mit musikalischen Anweisungen wie Allegretto,
Arioso, Allegro con furia ausgestattet. Die Anfangsstrophe lautet:
Dante den rechten Weg; so voll Schlaf ist er. Dann findet er sich am Fuß
eines Hügels und schaut empor - über jenes Guardai in alto und sein
neues Aufklingen im Hinaufgeschaut der Terzinen wurde vorher ge-
sprochen. Er sieht die Schultern des Hügels bekleidet mit den Strahlen
der Sonne. Von Grausen - so übersetzt Streckfuß Dantes pietà (I, 2 1 ) -
war sein Herz gepeinigt. Jetzt fühlt er seine Furcht ein wenig beruhigt:
Allor fu la paura un poco queta (I, 19).
Die aufgehende Sonne wird in ihrer Symbolkraft fühlbar, ebenso wie die
Nacht, der Weg und jeder andre Zug.
Faust ist ermüdet, unruhig, schlaf suchend, als der Geisterkreis ihn zu
umschweben beginnt. Wie undantisch Ariel und | seine Elfen sind, braucht
nicht noch einmal gesagt zu werden. Aber in seinen Worten an den
Elfenchor
Besänftiget des Herzens grimmen Strauß,
Entfernt des Vorwurfs glühend bittre Pfeile,
Sein Innres reinigt von erlebtem Graus
ist manches, worin die dantische Scene nachzuklingen scheint, das Grausen
des Herzens und wie es beruhigt wird. Vielleicht ist es auch bemerkens-
wert, daß gerade hier das Reimsystem: Strauß — Pfeile - Graus — näch-
tigerweile - aus - zum ersten Male etwas wie einen Anklang an Terzinen
lange vor Fausts Terzinenmonolog vernehmbar werden läßt.
Aber alles dies könnte am Ende auch „ Z u f a l l " sein, so wenig es
schließlich befriedigt, den Anfang der Commedia und den Anfang des
Zweiten Faust sich zufällig berührend zu denken. Genauer und wörtlicher
sind die Anklänge in den beiden Purgatorio-Scenen. Im pten Gesang
sinkt Dante - es ist Nacht - vom Schlaf besiegt ins Gras (vinto dal sonno
in su l'erba inchinai I X , 1 1 ) , wie Virgil nachher von ihm sagt:
Du aber lagst, den Geist von Schlaf befangen,
Im Tale dort auf jenem Blumenflor (IX, 53).
Faust sollen wir sehen auf blumigen Rasen gebettet, ermüdet, unruhig,
schlafsuchend, bis Ariel seinen Geistern befiehlt:
Erst senkt sein Haupt aufs kühle Polster nieder.
Als er dann in der vierten der nächtlichen Pausen ruht, singen die Elfen:
Wunsch um Wünsche zu erlangen,
Schaue nach dem Glänze dort!
Leise bist du nur umfangen,
Schlaf ist Schale, wirf sie fort!
Noch einmal: Goethe brauchte niemanden für seine Reimklänge, und
doch müssen ihm mit der Situation zugleich die Reime aus der Streck-
588 Deutsche Literatur [21/23]
Aber auch das ist noch nicht alles. Wir kommen an dem Verse nicht vorbei,
der den Kommentatoren viel zu schaffen gemacht hat:
Dann badet ihn im Tau aus Lethes Flut.
Gegen Ende des 26sten Purgatorio-Gesanges wird der Fluß Lethe
genannt (108), an dem Dante dann im 28sten Matelda trifft. Hier ist die
Landschaft besonders geschmückt mit zitterndem Laub, bunten Blumen,
grünem Rasen, der vom Tau des Lethe-Flusses besprüht ist. Im 3isten
Gesang wird Dante von Matelda durch den Lethe-Fluß hindurchgezogen
und trinkt von dem Wasser das ihn umgibt, die Erinnerung seiner Schuld
dort zurücklassend. Die Faustkommentatoren streiten sich, ob Goethe
seine Lethe aus Dante hat oder geradeswegs aus griechischer Uberliefe-
rung. So gestellt ist die Frage verkehrt, der Streit überflüssig, der Gegen-
stand auf das Scholiastenniveau herabgezogen. Es versteht sich, daß der
Lethequell oder Lethestrom in Goethes Bewußtsein von früh an lebendig
war als ein Motiv der europäischen Bildung. Washed in Lethe, steeped in
soft and delicate Lethe, heißt es bei Shakespeare22. Goethe machte in
einem Stammbuchvers an die Gräfin von Brühl (1785) den Karlsbader
Sprudel zur Quelle der Lethe - ein Bildungsornament gesellschaftlich
scherzhaft gebrauchend. Für den alternden Goethe wird Lethe viel mehr.
Aus seinen letzten anderthalb Jahrzehnten hat Erich Schmidt viele Brief-
stellen zusammengebracht, an denen von lethäischen Fluten, lethäischem
Nebel lethäischem See, ätherischem Lethestrom die Rede ist (Jubiläums-
ausgabe Bd. 14 zu V. 4629 und V. 6721). Man kann aus dem Faust selbst
zwei so verschieden getönte Stellen vergleichen wie die aus der
Baccalaureus-Scene (6721):
22
Ich lese little Love that now sleepeth in Lethe Lake aus Spensers Shepheardes Calen-
dar bei L. Spitzer, Studies in Philology 47, 1950, 497; dazu 501 2 . Es wäre vermutlich
ebenso leidit wie hier überflüssig, Parallelen anzuhäufen.
590 Deutsche Literatur [24¡25]
24
K. Burdach, Das religiöse Problem in Goethes Faust, Euphorion 23, 1931, 18, findet
den ursprünglichen Plan befremdend — man sieht nicht recht, warum. Wir werden auf
den Unterschied zwischen dem Plan von 1816 und der Ausführung von 1826 noch
mehrfach zurückkommen. - Daß der Plan von 1816 wirklich „ein im ganzen zutref-
fendes Bild der ältesten Konzeption unseres Stückes" gebe (J. Niejahr, Goethes Helena,
Euphorion 1, 1894, 81 ff.) ist nicht denkbar. Goethe kann damals doch nicht seine
eigene Helena, die von 1800, ignoriert haben. Er hat es auch nicht getan. Helena
glaubt soeben von Troja zu kommen und in Sparta einzutreffen: das ist der Beginn
des Helena-Fragments und des Dritten Aktes. Sie findet alles einsam: das ist Vers
8669: Erstaunt' ich ob der öden Gänge Schweigsamkeit.
592 Deutsche Literatur [27128J
25 Ich benutze die höchst dankenswerten Sammlungen von E. Grumadi, Goethe und die
Antike, 1949, II, 875 f. Die hier in Betracht kommenden Stellen sind Script. Hist.
Aug. V I I 9, 4; X I 6, 8 sq.; X I I I 9, 10 sq.
24 L a Commedia di Dante, Venezia 1739, Cantica Seconda p. 80: Se il poeta seguita
pure a descrivere l'Aurora del giorno . . . , chiamerà passi della notte le quattro vigilie
. . . e cosi non s'allontana molto dal vero dicendo, che sul finire della terza vigilia com-
minciava quasi l'Aurora. - Es steht j a nicht zur Frage, ob diese Deutung richtig ist,
sondern daß sie in jener Dante-Ausgabe steht, die Goethe jederzeit zur H a n d hatte.
[28 ¡29] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 593
war das meiste dem Dichter schon gegenwärtig, lange ehe sie Teil des
Terzinenmonologs wurden. Die Terzinenform, der Wetteifer mit Dante,
ist nicht vor 1825/6 möglich. Dieser letzten Phase gehört, durch Dantes
Naturphilosophie - Gottes Enkelin — mit angeregt, der natursymbolische
Gehalt der Terzinen, die „platonische" Bewegung, das Empor und wieder
Hinab, die Sonne, die Blendung, der farbige Abglanz. In verschiedener
Weise und doch symphonisch ist der Elfen-Teil sowohl wie der Monolog-
Teil ein holder und mächtiger Ausdruck Goetheschen Natursinnens
geworden. |
Man bedenke, wie anders im Ersten Teil Faust der Natur gegenüber-
steht, leidenschaftlich zugewandt und eindringend, dann jedesmal wieder
abrupt sich entfernend, verzichtend, zurückgeworfen. Nachdem er das
Zeichen des Makrokosmos betrachtet hat:
Der Zweite Faust war selbst für Gundolf „eine Lade für Einlagen,
ja ein Gedicht aus Einlagen." „Wir bemerken bei Gestaltung des Faust II
dieselbe zentrifugale Tendenz, die schon die Wanderjahre zu einem
Sammelbecken Goethischer Bildung und Weisheit gemacht hatte, unter
notdürftigem Bestand der Fiktion eines einheitlichen Helden mit einheit-
lichem Geschehen30." Wenn dies für einen Kenner wie Gundolf so aus-
sah, um wie viel mehr für den Durchschnittsleser, und wenn der Zweite
27
E . Schmidt, Jubiläumsausgabe B a n d 1 3 zu V . 3 2 1 7 .
28
E . Grumach, Goethe und die Antike, 3 3 5 ff. V g l . hierzu und zum Folgenden W . K r a n z ,
Empedokles, Antike Gestalt und romantische Neusdiöpfung, 1 9 4 9 , 100 ff. - Goethe
las auch in dem Hexametergedicht Anti-Lucretius sive de D e o et N a t u r a des Kardinals
Melchior de Polignac (Parisiis 1 7 5 4 ) und zitiert daraus in den Materialien zur Farben-
lehre einige gegen N e w t o n gerichtete Hexameter.
29
Die Zeugnisse brauchen nicht von neuem vorgelegt zu w e r d e n ; siehe F . Strich, D i e
Mythologie in der deutschen Literatur I 3 3 2 ff.; Flitner, Goethe im S p ä t w e r k 1 2 1 f.,
128.
30
G u n d o l f , Goethe 7 7 4 . D a s Schlußkapitel in G u n d o l f s Goethe r u f t mehr als irgend ein
anderes den Widerspruch herauf.
Pi 132] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 595
31
A . G . Latham, Faust I and II, Introduction p. X X X V I I I : The present writer would
be loth to sacrifice anything, unless, perhaps, it were those venerable, but utterly
inexplicable and ineffably wearisome deities, the Kabiri.
32
K . Reinhardt, Von Werken und Formen, 1948, 348 ff. - Tradition und Geist, i960,
309 ff-
33
Burdadi, a. O. 18, steht etwas ratlos vor diesem ironischen Ton in Goethes Äuße-
rungen („der mir stets unbehaglich bleibt") und weist ihn irrtümlich Goethes späteren
Lebensjahren zu. Übrigens spricht Goethe so nicht nur über seine Pläne sondern auch
über seine fertigen Werke.
596 Deutsche Literatur [32133]
sein, in dem Goethe mit seinen Plänen vor die Öffentlichkeit tritt und
kein Geheimnis vor dem Publicum zu verbergen vorgibt. Audi so ist der
Unterschied zwischen dem Entwurf von 1826 und der Ausführung von
1830 groß genug und höchst lehrreich für das fertige Werk, auf das ja
zuletzt alles ankommt.
Daß der akademisch angestellte Doctor und Professor Wagner nicht
wie geplant von Mephistos Eilmantel mit nach Thessalien entführt wird,
sondern daß er zu Hause bleibt, um Wichtigstes zu tun, macht ihn erst zu
dem was er eigentlich ist. Er bleibt dort wo er hingehört. Der zweite Akt,
in Fausts hochgewölbtem, gotischem Zimmer beginnend, im Archipelagus
schließend, läßt noch einmal den ganzen Abstand ermessen, den Faust zu-
rückzulegen hat bis in die Nähe Helenas und in das Unendlidi-Freie und
zugleich Geordnete der griechisch gesehenen Natur.
Mephisto kommt in der vollendeten Fassung zu den drei Phorkyaden,
den Scheusälern, die gemeinsam nur ein Auge und einen Zahn haben, den
häßlichsten und darum dem Mephistopheles verwandtesten unter den
griechischen Dämonen. Zwei sind es bei Hesiod, drei bei Aischylos und bei
den Mytho|graphen. Goethe dichtet am Mythos weiter, dichtet mit höch-
ster Treffsicherheit, indem er den Mephisto bestimmt sich den dreien an-
zugleichen. Außer der griechischen Form - und was für einer Form! - muß
Mephisto auch eine griechische Genealogie haben.
N a m e der einen seiner beiden Graien, bei Homer ist E n y o die Städtezer-
störerin, Schwester des Ares Enyalios. Mit anderen Worten: Hesiod hat
den homerischen Namen der Kriegsfurie übernommen und eine seiner
Schauergestalten damit ausgestattet. Goethe fand die beiden Enyo-Figu-
ren in seinem Hederich hintereinander verzeichnet. In der vollendeten
Dichtung gibt er den drei Phorkyaden-Graien keine Sondernamen, die ja
das individualisiert hätten, was unterschiedslos bleiben soll. In den Ent- |
würfen ist es noch nicht die Gruppe, sondern nur die eine Enyo. Ihre gran-
diose Häßlichkeit hat sie aus dem Hesiod. Aber daß sie als einzelne auf-
tritt, als hätte sie gar keine Schwestern, ist dem Homer entnommen (oder
Hederichs Lexicon Mythologicum). Mephistopheles versteht sich mit ihr
und schließt ein Bündnis ab, dessen offenkundige Bedingungen nicht viel
heißen wollen, die geheimen aber desto merkwürdiger und folgereicher
sind. Bei den geheimen Bedingungen hat man an ein Liebesverhältnis zwi-
schen Mephistopheles und dem Ungetüm gedacht34 - und warum soll man
das schließlich abstreiten? Aber Enyo ist Kriegsdämon, müssen sich also
folgereiche Bedingungen des Bündnisses nicht auf künftige Kriege be-
ziehn? Der Krieg, der sich im Helena-Akt anmeldet und dann im vierten
A k t beherrschendes Thema wird, sollte wohl hier zwischen den beiden an-
gesponnen werden. Mephistopheles rät zur physischen Gewalt und stellt
Fausten drei Helfershelfer, heißt es schon in dem Entwurf von 1816,
gleich nachdem Helena und ihr Sohn entschwunden sind.
Wie ist der Wechsel zu verstehen? Grandiose Häßlichkeit w a r in den
Entwürfen e i n Motiv. Es wurde d a s große Motiv in der letzten Fassung.
Also hat Goethe jene Vorbereitungen künftigen Krieges fahren lassen.
Aus der einen urhäßlichen Kriegsfurie ist die Dreiheit der Phorkyaden
geworden. Alles ist jetzt auf den einen Gegensatz zu der einzigen Helena
gestellt.
Wie aber ist diese Häßlichkeit geartet? Das eine Auge und den einen
Zahn, eine Scheußlichkeit so abschreckend, daß weder Sonne noch Mond
sie ansehen mögen: so stellte es der alte durch Aischylos vermittelte
Mythos dar. Goethe greift tiefer. D o r t w o es Form von irgendwelcher
A r t gibt, ist man beinahe schon auf dem Wege zur Schönheit. Faust vor
den Sphinxen und den Sirenen stehend:
8. Hintergründiges im Faust
35
Reinhardt, Von Werken und Formen 367 f. = Tradition und Geist 325 f. Dies gegen
die verbreitete Auffassung, für die E. Kühnemann, Goethe, Leipzig 1930 II 434 citiert
sei: „Das Spiel ist an dieser Stelle immer Bruchstück geblieben." - Man kann auf eine
Analogie in Piatons Spätwerk hinweisen, auf das, was ich dort (s. m. Piaton I 175 =
I 2 159) die „ironische Gewichtsverschiebung im Kunstwerk" genannt habe. - Ob
Goethe mit der Tagebuchnotiz vom 24. Januar 1832: Neue Aufregung zu Faust in
Rücksicht größerer Ausführung der Hauptmotive, die ich, um fertig zu werden, allzu
lakonisch behandelt hatte, auf die hier betrachteten Scenen zielt (so R. Petsch, Goethes
Faust, 2. Ausg. 192J, 42), ist fraglich, und selbst wenn es so wäre, würde sich an dem
im Text Gesagten nichts ändern oder höchstens so viel, daß Goethe an seinem Stil-
prinzip für Augenblicke zweifelhaft geworden wäre.
600 Deutsche Literatur [38/39]
Gundolf, Goethe 7 6 3 , sieht hier „die tiefste Demütigung v o n Goethes Genius . . ."
Wenn es nicht Gundolf wäre, so w ü r d e man kein W o r t darüber verlieren. Uber
Goethes Finanzreform, bevor er nadi Italien floh: E v a A l e x a n d e r Meyer, Politische
Symbolik bei Goethe (Heidelberg 1 9 4 9 ) 49.
[39j40] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 601
37
V g l . dazu K . Lohmeyer, Jahrbuch der Goethe-Gesellsdiaft 1 3 , 1 9 2 7 , 1 0 6 ff., ein lehr-
reicher Beitrag, der besonders auf die Flutkatastrophe der Nordseeländer im Februar
1 8 2 5 hinweist. M a n darf freilich auch hier das Einzelvorbild nicht isolieren und w i r d
mit dem Verfasser nicht so weit gehen, in dem Hamburgischen A m t Ritzebüttel d a s
Vorbild für Fausts Kolonisatorentätigkeit sehen zu wollen! - W a s die Pontinischen
S ü m p f e betrifft, so vergleiche man Faust 1 1 5 5 9 - 1 1 5 6 1 mit d e m A b s a t z der Italienischen
Reise unter dem 2 3 . Februar 1 7 8 7 , J u b . - A u s g . B d . 26, 209. Die Übereinstimmung geht
bis in den Wortlaut.
602 Deutsche Literatur [40¡4f]
Die Landschaft in der Rede des Erzbischofs ist viel freier und weiter, aber
eine Anreihung von Einzelzügen ist es eben auch: Berg, Wald, Höhen,
Weiden, Seen,
dann Bächlein ohne Zahl,
Wie sie sich, eilig schlängeld, stürzen ab zu Tal.
Klingen Goethes anderthalb Verse über die Bächlein vielleicht nicht zu-
fällig an die anderthalb Verse des du Bartas an, in denen precipite genau
an derselben Versstelle steht wie Goethes stürzen ab? Aber sei es Zufall,
so mag der Vergleich noch deutlicher machen, was man ohnehin fühlt: in
Goethes Versen durchdringt, durchbricht, durchschlängelt Natur f ü r einen
Augenblick das Alexandrinische — dem Erzbischof, der diese Alexandriner
spricht, gleichsam zum Trotz 39 .
Die Einrichtung des Papiergeldes im ersten A k t , Helenas Losbittung
von Persephone im zweiten, die Belehnung im vierten sind wichtigste
38
Über Goethes Vertrautheit mit den Franzosen des X V I . Jahrhunderts siehe Dichtung
und Wahrheit III. Teil, n . Buch, Jubiläumsausgabe Band 24, 40. Daß dem Dichter,
als er Erwache Friedericke diditete, außer Hagedorn auch Ronsard vorschwebte, ist
wahrscheinlich. Vgl. W. A . Nitze, Goethe and Ronsard, Publ. Modern Language Assoc.
69, 1944, 486 ff. - Zu du Bartas vgl. H . Schöne, Antike Vorteile und barbarische
Avantagen, Die Antike 10, 1934, 292 ff.
39
J . Frankenberger, Walpurgis, 1926, 1 1 3 sieht in der Alexandrinerscene nur das eine:
die langweilige Weitläufigkeit der Aufzählung, die Sprache als „leere klappernde
Hülse für tote Gehalte". Ähnlidi K . May, Faust II. Teil aus der Sprachform gedeutet,
1936, 2 1 7 ff. Dies scheint die communis opinio zu sein, der sich auch B. Croce, Goethe
II 77 ausdrücklich anschließt. Als ob Goethe Lust oder auch nur die Kraft gehabt
hätte, in dieser Abgestandenheit völlig konsequent zu sein.
[41142] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 603
5>. Klassisch-Romantisch-Arkadisches
Kein Faust ohne Helena. Aus der Figur des Volksbuchs, die Faust auf
Wunsch seiner Studenten heraufzaubert und später zu seiner Concubina
macht, wurde sie in Marlowes Tragödie ein erregendes Fatum. Marlowe
rückt beide Scenen des Volksbuchs nahe zusammen und verbindet eng
damit die Katastrophe seines Helden, der genau zwischen Helenas erstem
und zweitem Erscheinen den Teufelsbund noch einmal mit seinem Blute
schreibt zum Preis dafür, daß er sie sich gewinnt. Bei ihrem ersten Erschei-
nen teilen Faust und seine Studenten sich in die rühmenden Worte:
that peerless dame of Greece
Whom all the world admires for majesty,
the pride of Natur's works
And only paragon of excellence.
Das zweitemal ist sie nur für Faust da und er ihr ganz hingegeben:
Was this the face that launched a thousand ships
Here will I d w e l l . . .
I will be Paris . . .
O, thou
Clad art beauty
in the fairer than
of a the eveningstars;
thousand air
41
O . Heller, Faust and Faustus, A Study of Goethe's Relation to M a r l o w e (Washington
University 1 9 3 1 ) , 1 7 6 ff., mödite Goethes unmittelbare Abhängigkeit von M a r l o w e
möglichst groß erscheinen lassen, während J . B o y d , Goethe's Knowledge of English
Literature, 1 9 3 2 , 82, die genau entgegengesetzte Tendenz hat. - Barker Fairley,
Helena in Goethe's Faust, Studies in H o n o r of Gilbert N o r w o o d , 25 j ff.
[44/45] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 605
12
Dichtung und Wahrheit, Buch X I I , Jubiläumsausgabe Band X X I V 1 1 2 .
« K. Justi, Winckelmann, 1898, I 2 268.
606 Deutsche Literatur [45¡46]
Das Schöne ist dort, wie sich versteht, Helena und alles was zu ihr
gehört. Das Abgeschmackte, Fratzenhafte, Barbarische ist der Kreis des
Faust, so wie der Erste Teil der Tragödie ihn erfaßt hat, also jetzt, da
Faust selbst zunächst fern bleibt, Mephisto. Das Erhabene ist die erhobene
Form, griechische Bühne, Maske und Kothurn, geschlossene Tragödien-
rede, Trimeter und Chormaße, Götter- und Heldennamen und -gestalten,
Epitheta und reimlose Wortklänge. Mit einem Wort, erhaben ist dies:
PHORKYAS.Alt ist das Wort, doch bleibet wahr und hoch der Sinn,
Daß Scham und Schönheit nie zusammen, Hand in Hand,
Den Weg verfolgen, auf des Menschen Lebenspfad
Und hier möge man die ganze Rede der Phorkyas in ihrem Bau sich
gegenwärtig machen. Sie ist zweigeteilt schon im Druckbild. Der erste
Teil, noch fast ruhig, ist mit deutlicher Steigerung in vier großen Sätzen
so gebaut: 3 + 3 + 4 + 7 Verse, davon die drei ersten Sätze gemessen und
sentenziös, der siebenzeilige endlich mit strenger Rüge an den Chor sich j
wendend — ihr Frechen — aber dann sogleich zu dem weit ausgebreiteten
Bild von den Kranichen und dem Wanderer objektiviert. In scharfem
Gegensatz zu diesem ersten Teil der Rede folgt der zweite mit einem
Getümmel heftiger Anreden - ihr, ihr, du, ihr... - kurze Sätze, erst
Fragen (2 + 2 + 1 ) , dann fast durchweg Ausrufe, in schärfstem Staccato
schließend. Mag solche beschreibende Analyse pedantisch klingen; gemeint
ist sie als ein Versuch, die Architektur einer großen Tragödienrede grie-
chischen Stiles wenigstens andeutend klar zu machen: jene Erhabenheit,
die das Abgeschmackte - Mephistopheles - mit dem Schönen - Helena
und Chor - vermittelt.
An jenem selben 2 6. September bittet Schiller den Freund um den
Hermann von den griechischen Silbenmaßen (Gottfried Hermanns Hand-
buch der griechischen Metrik, 1799) mit der Begründung: Ihre neuliche
Vorlesung hat mich auf die Trimeter sehr aufmerksam gemacht, und ich
wünschte in die Sache mehr einzudringen. Er will sich sogar in Neben-
stunden etwas mit dem Griechischen beschäftigen, fragt nach Grammatik
und Lexikon, hofft auf Humboldt und Friedrich Schlegel, und dies alles
nur um so weit zu kommen, daß ich in die griechische Metrik eine Einsicht
erhalte. Die Montgomery-Scenen der Jungfrau von Orleans und in höhe-
rem Sinne Die Braut von Messina zeigen, wie weit er eingedrungen ist und
zugleich, welchen Eindruck das Erhabene in Goethes Helena-Drama und
[46/47] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 607
Goethes Art es vorzutragen auf Schiller gemacht hat. Goethe selbst hatte
ja von Hermann und Humboldt reiche Belehrung, mündliche, geschriebene
und gedruckte, über die griechischen Versmaße erbeten und empfangen44.
Jene Amalgamation des Schönen und des Barbarischen, des Griechi-
schen und des Nordischen, mußte auf der Stufe des hohen Klassizismus
um die Jahrhundertwende einseitig und also unvollständig sein. Die
Helena blieb Fragment, wie ja von Goethes Griechendramen keines zur
Vollendung gedieh, von der einzigen Iphigenie abgesehen - und mit der
war es ihm später unmöglich etwas anzufangen, sie erschien ihm verteufelt
human und die Gegenwart eines mehr als vergangenen Zustandes, her-
vorgegangen aus einem Studium der griechischen Sachen, das aber unzu-
länglich war; wenn es erschöpfend gewesen wäre, so wäre das Stück un-
geschrieben geblieben - um an einige Äußerungen des späteren Goethe
über seine Iphigenie hier zu erinnern45. Das Helena-Drama hätte für
immer das Schicksal von Prometheus, Elpenor, Nausikaa, Pandora, Achil-
leis geteilt, wenn nicht der 76jährige sich dem Faust wieder zugewandt
hätte. Als selbständiges Drama war die Helena unvollendbar. Ohne
Helena war der Faust undenkbar. Er tritt in seine Vollendungsperiode
ein (im Februar und März 1825), indem der Dichter die letzten Momente
in Fausts Leben durchgestaltet und, während jene Arbeit noch vorangeht,
die Helena in den Organismus, den freilich mächtig gewandelten, zurück-
nimmt, aus dem sie entstammte46. Da Goethe seine Helena als geschlos-
senes Spiel im vierten Band seiner Ausgabe letzter Hand (1828) ver-
öffentlicht, nennt er sie klassisch-romantische Phantasmagorie, Zwischen-
spiel zu Faust. Als Zwischenspiel hat er in jener Zeit oft von ihr gespro-
chen. Und doch hatte er schon 1800 an Schiller geschrieben:... aber das
sehe ich schon, daß, von diesem Gipfel aus, sich erst die rechte Aussicht
über das Ganze zeigen wird. Und als er die letzte Hand an den Helena-
Akt legte, wußte er genau: dort sei die Achse, auf der das ganze Stück sich
drehti47. Die Helena war noch nicht dritter Akt und konnte es nicht sein,
solange die klassische Walpurgisnacht nicht geschrieben war. Aber Phan-
tasmagorie und Zwischenspiel: das war doch mit jener Technik des „Under-
statement" und leiser ironischer Irreführung des Publikums gesagt, von
der vorher die Rede war, und auf die wir noch zurückkommen werden.
Klassisch-romantisch: damit blickt Goethe unter anderm hinüber auf
das literarische Gefecht, das gerade damals drüben in Frankreich vor sich
44
Etwas später treten A. W. Sdilegel und der jüngere Voß hinzu, vgl. Niejahr, Eupho-
rion I, 1894, 93 f; A. Heusler, Deutscher und antiker Vers, 1917, 116 ff.; E. Staiger,
Goethes antike Versmaße, in: Eumusia, Festgabe für Ernst Howald, 1947, 175 ff.
45
Vgl. H. G. Graf, Goethe über seine Dichtungen, II 3, Nr. 2549 ff.; Goethes Gespräche
III 24. Vgl. Hermann Grimm, Goethe, 1894, 306.
«« Pniower, Nr. 353 ff. Nr. 368 ff. Graf Nr. 1278 ff. Nr. 1292 ff. G. W. Hertz, Zur Ent-
stehungsgeschichte von Faust II Akt 5, Euphorion 33, 1932, 248 f.
47
Pniower 501 = Graf 1454. Gräf bemerkt mit Recht, daß damit nur die Verbindung
Fausts und Helenas, also der Abschnitt von 9127 an gemeint sein könne.
608 Deutsche Literatur [47j48]
ging, als wolle er, der eifrige Leser des Globe, sagen: Kinder, dies haben
wir längst hinter uns gebracht. Der Helena-Akt ist nicht nur Vereinigung,
Verschlingung, Verschmelzung zweier Stile oder Phasen, sondern vor
allem ein Darüber-hinaus. Streng antikisch sind die Scenen in Sparta, aber
in unheimlicher Verkleidung und Maske und | ebenso unheimlicher Ver-
tauschung des Geschlechts spielt der nordische Mephisto seine Rolle als
griechischer Dämon. Die Scenen im innern Hof der gotischen Burg sind
ritterlich-mittelalterlich gedacht. Mittelalterlich ist der geschichtliche
Hintergrund, die Besitzergreifung der Peloponnes durch die feudalen
Mächte, troubadourisch ist Fausts knieende Huldigung vor Helena. Blank-
verse und Reimverse sind herrschend, und es ist alles eher als Zufall, daß
Helena auf Fausts Willkommenrede nicht in ihren griechischen Trimetern
antwortet, sondern in demselben Blankvers, mit dem er sie angeredet
hatte. Wie unmittelalterlich hier in Wirklichkeit vieles oder das meiste
ist, dafür genügt es auf die Blankverse zu verweisen oder auf des Turm-
wärters Lynkeus Reimgedichte, wo in der Heftigkeit des Gefühls und der
Bildkontraste wie in Rhythmen und Reimform Calderons Musica della
sangre aufklingt48. An östliches erinnert die Scene, in der Helena von
Faust in Reimen zu sprechen lernt: ein persisches Motiv ist, wie man aus
dem Buch Suleika des West-östlichen Divans weiß, wunderbar hier an-
geeignet. Gotisch nein, romantisch ja. Aber selbst hier ist Klassisches und
Romantisches seltsam bedeutend verschlungen. Der Chor kommentiert das
romantische Geschehen in seinen antikischen Rhythmen, Mephisto-Phor-
kyas, bisher so streng in ihren Trimetern, fällt plötzlich - und damit wird
die Maskenhülle transparent — zurück auf die nordischen Reime, da sie
heftig eintretend die vorgetäuschte Meldung vom drohenden Angriff des
Menelas bringt:
Buchstabiert in Liebesfibeln,
Tändelnd grübelt nur am Liebeln . . .
Doch gerade hier begegnet ihr wie im Rückprall Faust zum ersten und im
Helena-Akt einzigen Male mit griechischen Trimetern und prägt in anti-
kische Form jene griechische Gesinnung, für die es keine Schönheit gibt, es
sei denn geordnete Schönheit, so daß Unordnung eins mit Häßlichkeit
ist:
Auch nicht in Gefahren mag ich sinnlos Ungestüm.
Den schönsten Boten, Unglücksbotschaft häßlicht ihn.
So viel also hat Faust schon von Helena gelernt, und so dicht ist hier die
Verschlingung des Klassischen und Romantischen. |
48
Schon Th. Carlyle in seiner Anzeige von Goethes Helena (1828) bemerkte: Again and
again we think of Calderon and his Life a Dream. - Über Goethes Verhältnis zu
Calderon s. Gundolf, Goethe 688 ff.
[49j50] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 609
Dann aber kommt das Dritte: nicht mehr nur Verschlingung sondern
Überhöhung. Dort ist es, wo nach besonders großen und reichen antiki-
schen Rhythmensystemen Musik einsetzt und vollstimmig das Ganze be-
gleitet, so daß das Faust-Drama in den Euphorion-Scenen zur hohen
Oper wird. Der Raum aber, der sich jetzt geöffnet hat, ist Arkadien.
Dieses Arkadien, den klassischen und den romantischen Bezirk über-
höhend, ist „nicht Konvention sondern Vision" (Karl Reinhardt)49. Aber
Vision in Goethes Sinn kann es nur werden, indem es zuerst genauest
gesehene Wirklichkeit, geographisch-historische Wirklichkeit, ist, wie wir
ja die Geschichts- und Reisewerke kennen, aus denen Goethe sich Jahre
hindurch ein reiches Wissen über das zeitgenössische, das mittelalterliche
und das antike Griechenland aneignete. Als Faust im Dienst seiner Köni-
gin an die germanischen Heerführer Befehle austeilt, werden die Küsten-
landschaften Pylos, Sparta, Korinth, Achaia, Elis einzeln genannt (9454-
9481), und die Peloponnes als geographische Einheit wird greifbar deut-
lich:
Nichtinsel dich, mit leichter Hügelkette
Europens letztem Bergast angeknüpft. (9512 f.)
In ihr ist Arkadien das höchste und das centrale Land. Das höchste:
Dies Land, allein zu dir gekehret,
Entbietet seinen höchsten Flor (9523).
Und sehnsuchtsvoll nach höhern Regionen . . . (9540).
Das mittlere:
Wir halten in der Mitte Stand (9509).
Vielleicht auch:
Noch zirkt, in ewiger Jugendkraft
Für u n s , . . . Arkadien . . . (9567).
Und später in Euphorions Gesang:
Immer höher muß ich steigen,
Immer weiter muß ich schaun.
Weiß ich nun, wo ich bin!
Mitten der Insel drin,
Mitten in Pelops Land . . . (9821 ff.). |
Diese Höhe und Mitte ist genaue geographische Wirklichkeit und zu-
gleich Symbol erhabenster und reinster Natur und vollkommensten
Mensch-seins. Nichts ist hier vereinzelt, niedrig oder bruchstückhaft.
49
K . Reinhardt, Goethe and Antiquity in: Goethe and the Modern Age, The Inter-
national Convocation at Aspen, Colorado, Chicago 1949, p. 47 = Tradition und
Geist 274 ff.
610 Deutsdie Literatur [50/51]
und stellt Goethes Arkadien als „Ideallandschaft" in jene Linie, die mit
Homer beginnt und über Theokrit und mehr noch Vergil durch Spät-
antike, Mittelalter und Renaissance bis in die Neuzeit geht50. Der eine
Name Poussin, so bedeutend f ü r Goethe, würde genügen zu zeigen, daß
wie so oft auch hier der Literaturhistoriker die bildende Kunst nicht
vergessen darf. Poussin hat Goethes Arkadien mit bestimmen helfen. Der
Schauplatz wird im großen Stil nach Poussinscher Weise gedacht, heißt
die scenische Bemerkung am Anfang von Goethes Pandora, und ebenso
könnte sie im Helena-Akt (nach Vers 9574) lauten. Denn vergleicht man
die sehr ausführliche Beschreibung der Scenerie in der Pandora mit der
kürzeren im Faust, so findet man Nahverwandtes. Felsenhöhlen sind
hier wie dort. Höher hinauf verdichtet sich das Gesträuch, bis sich das
Ganze in einen waldigen Gipfel endigt, in der Pandora. Ähnlicli und
doch verschieden im Faust: Schattiger Hain bis an die rings umgebende
Felsensteile hinan, wo die Felsensteile Ort und Symbol f ü r Euphorions
letztes Schicksal ist.
So wird man denn nicht verkennen, wodurch das Arkadien im Helena-
Akt denn doch aus aller Tradition wiederum herausragt. Es wäre zu
fragen, ob es irgendwo vor Goethe jene Transcendenz des Arkadischen
gibt, so etwas wie:
Und sehnsuchtsvoll nach höhern Regionen
Erhebt sich zweighaft Baum gedrängt an Baum. ]
Vor allem aber: Goethes Arkadien ist ja nicht das Land bukolischen
Liebens und Musizierens, auch nicht das Land, in dem schöne und ernste
Gestalten in klassisch-edler Haltung der Wirklichkeit des Todes ansichtig
werden: Et in Arcadia ego. Sondern Goethes Arkadien ist der Raum, in
dem Fausts Bund mit Helena für einen hohen Augenblick zu gelingen
scheint, bis der Ikarusflug Euphorions aucii dieses Faustische Unternehmen
zur unvollkommenen aber belehrend-fördernden Episode macht.
Es ist Zeit sich der Eingangsscene des ersten Akts wieder zu erinnern,
von der unsre Betrachtung ausging und zu der sie immer wieder zurück-
kehren muß. Das Arkadien des Helena-Akts wäre kaum denkbar und war
jedenfalls nicht geplant, so lange die Geisterchöre, wie in dem alten
Entwurf von 1 8 1 6 , von Ehre, Ruhm, Macht und Herrschaft sangen.
Damals war das alte verzauberte Schloß der Raum für das Faust- und
Helena-Geschehen, bis Euphorion die Zaubergrenze überschreitend im
Kampf erschlagen wird. Wie es jetzt gefügt ist, umschließt vollkommene
Natur sowohl am Anfang des ersten wie auf der Höhe des Helena-Akts
das menschliche Schicksal, und in Arkadien tauchen Landschaftsmotive
50
E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Kapitel 10: Die
Ideallandschaft; B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, 1946, Kapitel 10: Arkadien,
die Entdeckung einer geistigen Landschaft; 3. Aufl., 1955, Kapitel 16.
612 Deutsche Literatur [52154]
der Ouvertüre oft steiler und gesteigert wieder auf, bis zuletzt, arkadische
Ordnung durchbrechend, Euphorion sich von Schwindelstufen der höch-
sten Felsen empor in die Lüfte wirft.
Völlige Pause. Die Musik hört auf. Der Akt darf nicht als hohe
Oper enden sondern wendet sich von dem arkadischen zurück in das
antikische Element und für einen Augenblick sogar in das barbarische: in
das antikische, da Helena ihrem Knaben in die Schattenwelt nachfolgt
und die Chorführerin Panthalis in Treue das Schicksal ihrer Herrin teilt,
bis ganz zuletzt die Mädchen des Chores jene Verwandlung erfahren,
von der bald die Rede sein muß; in das barbarisch-romantische Element,
da Phorkyas, nachdem sie in einer recht unmephistophelischen Rede in
Blankversen dem von Helena verlassenen Faust seinen Weg gewiesen hat,
nun ins Proscenium tritt, die klassische Welt wie einen Bühnenraum ver-
läßt und in sarkastischen Reimen zu verstehen gibt, wie leicht es sei sich |
genialische Atrappen äußerlich anzueignen. Ein sehr romantischer Zug,
solche Durchbrechung der letzten Bühnenillusion zugunsten der vorletzten.
Dabei hat neben anderen Motiven auch dieses technische den Dichter
bestimmt: den Aktschluß, der nun folgt, abzuheben von der Haupthand-
lung, die wir mit Fausts Wolkenflug für jetzt abschließen sahen. |
51
534 Pniower = 1499 Graf. Man kann zweifeln, was hier mit dem letzten Chor ge-
meint sei, ob das gesamte trochäische Gefüge (nennen wir es B) von 9992 an im Ver-
hältnis zu dem was ihm vorausgeht (A) oder der vierte Teil von 1 0 0 1 1 - 1 0 0 3 8 (D) im
Verhältnis zu den drei vorhergehenden Teilen 9992-10010 (C). Es ist eben ein analoges
Verhältnis, das sich in der Formel A : B = C : D ausdrücken ließe. Die Entscheidung
ist also nicht sehr widitig.
[54j55] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 613
wieder auf das Technische und überläßt es dem Kanzler und uns, weiter
zu fragen nach dem Sinn dieses Unisono?
Eine kurze trennend-verbindende Bewegung hat Goethe dem Schluß-
chor vorausgehen lassen, wie es sie in keinem antiken Drama gibt noch
geben kann: die Chorführerin wendet sich gegen ihren Chor, wie sie das
schon früher in der Faustburg getan hatte (9127 ff.). Jetzt trennt sie sich
von ihm und folgt ihrer Herrin nach in den Hades. Durch dieses kurze
Handlungsmoment scheidet der Dichter noch deutlicher, als er es sonst
könnte, die Namenlosen, wie es sie immer gibt, von der einen berühmten
Gestalt. Mit welcher Genauigkeit bis ins kleinste er dabei verfährt, wird
klar, wenn man den Reden der Chorführerin an dieser Stelle den Namen
Panthalis vor1 gesetzt findet. Durch den Helena-Akt war sie Chorführerin
ohne Eigennamen gewesen. Nur als sie noch fast am Anfang des Aktes
(8638) zum ersten Mal sprach, setzte der Dichter Panthalis (als Chor-
führerin) vor ihre Rede und das im Hinblick auf jenen letzten Moment,
da sie sich durch Treue einen Namen, Person, recht eigentlich erst erwirbt
(9984). Der Dichter hätte einen Namen leicht erfinden können, und viel
bedeutet der Name Panthalis auch so nicht, da er ja nur in den Über-
schriften steht, nicht in den Versen selbst erklingt. Entnommen ist er
einem der Gemälde des Polygnot, die Pausanias beschreibt, und um deren
Vergegenwärtigung Goethe sich vor Jahren mit Hilfe der Brüder Riepen-
hausen so angelegentlich bemüht hatte52. Panthalis und Elektra hießen
auf jenem Wandgemälde in Delphi die beiden Dienerinnen Helenas.
Mag denn dies als ein kleiner Zug der Treue, Treue gegen die Uberliefe-
rung, bemerkt sein.
Indem Goethes Panthalis sich abhebt von ihrem Chor, sich für Helena
entscheidet, ihr ins Reich der Unterwelt nachfolgt, wird am Gegensatz
um so deutlicher, welches Schicksal den Mädchen des Chores beschieden
wird, den Namenlosen:
Wer keinen Namen sich erwarb noch Edles will —
so nimmt Panthalis Partei gegen ihre Gefährtinnen. Aber hätte wirklich
auch jder Dichter Partei genommen gegen seinen Chor, dem er die
wunderbaren Verse, die nun folgen, in den Mund legt? Der Dichter
steht doch wohl auf beiden Seiten oder auf keiner, und welches Recht
hätten gar wir, Partei zu nehmen gegen die Namenlosen? Was geschieht
mit ihnen? Viel ausdrücklicher und genauer das, womit Prospero am
Schluß von Shakespeares Sturm den treuen Ariel entläßt:
52
Polygnots Gemälde in der Lesche zu Delphi. Nadi der Beschreibung des Pausanias
restauriert von den Gebrüdern Riepenhausen. Bleistiftumrisse auf weißem Papier.
Zwölf Blätter, 1803.
614 Deutsche Literatur [55j56]
Die vielen gehen unter, so denken viele53. Aber ist wirklich Helenas
Schicksal, mythischer Schatten im Reiche der Schatten zu sein, beneidens-
werter als das der Mädchen des Chores? Auf den Gedanken, daß der
Chor nicht wieder in die Unterwelt hinab will, sondern auf der heitern
Oberfläche der Erde sich den Elementen zuwirft, tue ich mir wirklich
etwas zu \ gute, sagt Goethe zu Ediermann, und dieser bekräftigt: Es ist
eine neue Art von Unsterblichkeit (29. Januar 1827). Mythologisch ge-
sprochen: die Choretiden werden zu Nymphen - Lebensnymphen, hatte
es früher geheißen (9538) - , die erste Gruppe wird zu Dryaden (Wir, in
dieser tausend Äste . ..), die zweite zu Oreaden (Wir, an dieser Felsen-
wände . ..), die dritte zu Najaden (.. . eilen mit den Bächen weiter), nur
bei der vierten Gruppe wäre man in einiger Verlegenheit sie zu benennen
und müßte Nymphen der Weinberge und Reben erfinden54. Ins Natur-
philosophische übersetzt: die zweite Gruppe ist „Erde", die dritte ist
„Wasser", bei der ersten und der vierten würde man freilich mit „ L u f t "
(. . . frei zu luftigem Gedeihn) und „Feuer" (.. . fördersamst zum Sonnen-
gott) systematischer sein als recht ist.
Der Dichter hat einmal den Plan gehabt, die vier Gruppen, in die
er seinen Chor teilte, am Schluß wieder in ein Ganzes zu vereinigen55.
Wie er in der Klassischen Walpurgisnacht am Schluß des zweiten Aktes
die vielen mythischen Gestalten All Alle zu gemeinsamem Hymnus
zusammenstimmt, so sollten am Ende des Helena-Aktes die vorher in
vier Gruppen getrennten sich wieder vereinen und Alle sollten zuletzt
sprechen:
53
H . Rickert, Goethes Faust, 1 9 3 2 , 386. E. Traumann, Goethes Faust II 2 , 1920, 2 5 1 .
54 Croce, a. O. X I I , II, 60 £.
55
Paralipomena 150 Ins. = 1 7 7 Soph. „Darunter Schlußschnörkel" bemerkt die Wei-
marer Ausgabe.
[57] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 615
57
Die Daten, nach E. von der Hellen in der Jubiläumsausgabe II 274. Dazu Briefwechsel
zwischen Schiller und Goethe, 23. und 2$. Juli 1798. Zum Folgenden M. Morris,
Goethestudien II 2 , 197 ff.
[58 ¡60] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 617
gemeint zu sein. Aber soll vielleicht so etwas wie eine echte coniunctio
oppositorum sich andeuten hinter jenem spöttisch vorläufigen Ausgleich?
Sei denn von hier aus das Dionysische in dem letzten Chorstück des
dritten Faust-Aktes noch einmal der Betrachtung empfohlen. -
Helenas mythische Schicksalslinie also wird am Ende des dritten A k t s
kontrastierend eingerahmt von der ekstatischen Auflösung der Choretiden
in die Natur. Fausts Eindringen in die Unterwelt im zweiten A k t ist
für den Zuschauer überdeckt von Homunculus' Wegen durch die klassische
Walpurgisnacht bis zu seinem Scheitern an Galateas Muschelwagen. Auch
hier war es ein Mißverständnis zu meinen, Faust sei dem Dichter unwich-
tiger geworden. Faust unwichtiger gegenüber dem „Menschlein"? Ja, wenn
der Maskenzug wichtiger ist als die Papiergeldherstellung, die Versamm-
lung der Erzämter um den Kaiser wichtiger als die Belehnung Fausts.
Vielmehr das dramatisch Wichtigere verschwindet im Hintergrund und
wird nur im kontrastierenden Reflex und Durchblick sichtbar. T r o t z allen
Geredes, das jetzt hoffentlich verstummt ist, über den faustischen Men-
schen: es gibt nur einen Faust, wie es nur einen Hamlet oder einen
Oedipus gibt, aber es gibt unzählige Homunculi. N u r einmal steigt
Faust hinab ins Reich der Persephone, aber Monaden oder Entelechien,
wie Goethe als Naturphilosoph aristotelisch oder leibnizisch zu sagen
liebte, sind überall auf dem Wege sich zu verkörpern. Sie werden freilich
nicht immer die Peneioslandschaft durchirren und selten am Wagen
Galateas scheiternd sich in die Elemente stürzen. Aber des einen Faust
Suche nach der einen Helena führt, so darf man denken, vorbei an vielen |
Homunculi, wenn auch Goethe nur das Scheitern-Entstehen der einen
Entelechie mit mythenschaffender K r a f t durch die griechischen Mytho-
logeme geschlungen hat.
Das Hinabsteigen Fausts hat sein mythisches Vorbild:
erinnert Manto, da sie Faust den Weg weist. Fausts wie Orpheus' Ein-
dringen in die dem Lebendigen verbotene Welt, das sind einzelne tragisch-
gewaltsame Geschehnisse. Faust wirbt um Helena, wie einst Achill sich
Helena erworben hat gegen das Geschick, par'aisan, hyper moron, wie das
auf griechisch klingt. Halbgötter treten heran, ahnt Manto, als Chiron
mit Faust sich nähert. U n d wenn sie ihn auch liebt - und wir ihn be-
wundern - gerade darum, weil er Unmögliches begehrt, so hat Goethe,
den Mythos sinnvoll abwandelnd, eben sie zur Tochter des Heilgottes
gemacht. Tochter des Tiresias, die Seherin Tochter des Sehers, w a r sie
bei den Griechen. So fand Goethe es in seinem mythologischen Handbuch,
so doch wohl bei Dante (Inferno X X 55 ff.), und so beließ er es in dem
Entwurf von 1826. Aber die sinnige, wohldenkende Tochter des Tiresias,
Manto wird in der endgültigen Fassung zur Tochter Äskulaps, dessen
mondbeschienenen Tempel der Dichter vor die Phantasie zaubert, der
[61162] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 619
Regisseur auf die Bühne stellen wird. Warum Tochter des Heilgottes|
Doch wohl nicht, jedenfalls nicht in der Hauptsache, darum, weil dem
Dichter ein sarkastischer Seitenhieb gegen die Ärzte wieder einmal gelegen
kam. Chiron spricht es aus, daß Faust asklepischer Kur höchst bedürftig,
ihrer freilich auch vor andern wert sei. So sieht in den Augen des Arztes
das Tragisch-Gewaltsame an Fausts Abenteuer aus, und in Mantos letzten
Geleitworten, ehe Faust unsern Augen entschwindet, ist viel von dem
Verbotenen und Dunkel-Geheimen, das sein Unternehmen kennzeidinet:
bei Dante Eriton cruda (Inf. I X 23), vielleicht bei Ovid (Epistula Sapphus
139) furialis Ericbtho. Bei Lucan dann noch eine Reihe schauerlich be-
schreibender Züge. Möglich, daß Goethe durch den Kommentar seiner
Dante-Ausgabe (Venedig 1739) auf Lucan geführt worden ist, den er dann
eifrig studierte60. Goethes Erichtho erhebt Widerspruch gegen seine Vor-
gänger, aus denen er sie kannte:
Nicht so abscheulich, wie die leidigen Dichter mich
im Übermaß verlästern.
So stellt sich diese Klassische Gestalt mit romantischer Ironie - als so und
nicht anders geartete Wirklichkeit den dichtejrischen Fiktionen entgegen,
sie, die doch in Lucans historischem Epos fast wie ein mythischer Ein-
dringling wirkt.
Erichtho also spricht den hellenisierenden Prolog, das Geschichtliche,
das Mythologische und das Naturhafte dieser Nacht vorbereitend. Das
Geschichtliche: das ist die pharsalische Schlacht, ein sehr vergangenes Er-
eignis, aber von der Prologsprecherin ins Allgemeine erweitert: Denn
jeder, der..., ein großes Beispiel... ; derart ins Allgemeine erweitert,
daß man den starren Lorbeer sich ums Haupt Napoleons ebenso wie
Caesars mag biegen sehen und jenes Wird sich immerfort ins Ewige
wiederholen nicht allein auf das gespenstische Geschehen der Zaubernacht
beziehen möchte, sondern auf das Typische des geschichtlichen Ereignisses
selbst, da
Der Freiheit holder, tausendblumiger Kranz zerreißt,
Der starre Lorbeer sich ums Haupt des Herrschers biegt.
Das Schattenbild des historischen Geschehens also verschwindet im Dun-
kel, die mythische Welt rückt in den Schein des klaren Mondes, der über
dieser Walpurgisnacht leuchten wird, bis er zuletzt im Zenith verharrend
herabblickt
auf Zitterwogen
Mildeblitzend Glanzgewimmel,
auf Galateas Muschelwagen und das Schicksal des Homunculus. Erichtho
meldet noch, wie es einer antiken Prologfigur zukommt, die Ankömm-
linge an und zieht sich selbst zurück. Die Deutlichkeit des Geschehens, das
sie ausspricht, der Nachdruck, den sie auf das Allgemeingültige und dann
auf das Geziemende legt, sind als hellenische Züge gemeint, die sich in das
Metrum und in den Prologcharakter schicken.
Ursprünglich war das mit Erichtho recht anders geplant. Zwar war sie
schon im Entwurf (von 1826) die erste Gestalt auf thessalischem Boden,
der die Reisenden begegnen. Sogar das Licht des klaren, obschon abneh-
menden Mondes leuchtete bereits über der Scene, in der die Zauberin den
60 Venediger Ausgabe zu Inferno I X 20: vedi Lucano nel 6. della Farsaglia. Goethes
Tagebuch unter dem j. April 1826: Abends Lucan 6. Buch.
624 Deutsche Literatur [67j69]
Hier hat der erste Vers - trotz Eckermann und Riemer - immer seine sie-
ben Hebungen bewahrt62. Ubermächtig gleichsam steigert er die Erhaben-
heit für einen Augenblick über die griechische Norm hinauf und deutet
darauf hin, daß Fausts Maß aus dem Ubermaß erwächst. So beginnt der
Monolog, in dem Faust das Helenageschehen erfassend spiegelt und über
sich selbst hinausführt63. Faust hat diese Form, hat Form für sich gewonnen
und trägt sie als Einsamer hinüber in das Künftige.
Hochgebirg, starre zackige Felsengipfel heißt die scenische Bemerkung,
und jener erste Vers versetzt sofort dorthin. Uber alle früheren Land-
schaften des Dramas ragt diese hinaus. Am Anfang des ersten Aktes wird
Faust in anmutiger Gegend der Berge Gipfelriesen hinaufschauend an-
sichtig. Audi in dem Arkadien des Helena-Aktes wurde das 2.ackenhaupt
der Berge aus tieferen und wohnlicheren Regionen gesichtet. Warum dies
jetzt die höchste und steilste irdische Landschaft im Faust ist, das versteht
man zunächst aus Howards und Goethes Wolkensystematik. Es ist eine
Cumulus-Wolke, die den Faust herbeigetragen hat und ihn auf eine her-
vorstehende Platte des Berges aus sich entläßt.
Steht Wolke hoch, zum herrlichsten geballt,
Verkündet, festgebildet, Machtgewalt,
heißt es in dem Cumulusabschnitt des dem Howard gewidmeten Vers-
zyklus über die Wolkenformen. Die Wolke könnte an keiner niedrigeren
Berghöhe landen, ohne als Stratus oder Nimbus herabzusinken. Aber nur
der Cumulus kann sich modeln und wenigstens für Augenblicke ein götter-
gleiches Frauengebild werden.
Doch wäre es gewiß zu naturalistisch, dies alles allein aus dem Wol-
kensystem deuten zu wollen. Fausts Umschau vom höchsten Berge, das
versteht sich, ist zugleich Symbol für seine geistige Umschau. Sind Aus-
drücke wie sehen, schauen, Auge, Bild, Form über das Ganze reichlich
ausgestreut, so ist dieses | Gesehene, Geschaute zugleich voll symbolischen
Sinnes. Es spiegelt, bezeichnet, steigert sich
62
Andere Siebenfüßer hat Goethe normalisiert: Weimarer Ausgabe X V 2, 85 zu Vers
8515.
43
Vgl. dazu K . A . Meissinger, Helena, 1935, 86 ff.
626 Deutsche Literatur [70171]
Und kurz darauf folgen jene Trimeter, in denen Faust das Gegenteil von
Schönheit und Ordnung zurückweist (9435 ff.). Vielleicht darf man sich
erinnern, was schon im ersten Teil der Dichtung Faust, der Unbehauste,
der Unmensch ohne Zweck und Ruh, in Margaretes kleinem, reinlichem
Zimmer sich umschauend rühmt: Gefühl der Stille, der Ordnung, der Zu-
friedenheit (2692), den Geist der Füll' und Ordnung (2702), als ob in
einer viel schlichteren Weise etwas in Margaretes Wesen Vorstufe wäre für
Helena.
Geordnete Schönheit sieht Faust, von Helena kommend, in der Natur.
Das erste Streitgespräch zwischen ihm und Mephistopheles, gleich nach
jenem Trimetermonolog, geht um die Gestalt der Erde, ob vulkanistisch
oder neptunistisch zu deuten, das heißt aber: ob ordnungslos oder geord-
net. Faust steht gegen den Vulkanismus, nicht nur weil Goethe darin gegen
Alexander von Humboldt stand, nicht nur weil jener vulkanistisdi klin-
gende Abschnitt im 12. Gesang von Dantes Inferno - der Abschnitt, den
Goethe selbst übersetzt hatte - zum Widerspruch und Wetteifer aufrief.
[71172] R h y t h m e n und Landschaft im zweiten Teil des Faust 627
Das sind noch immer Momente außerhalb der Dichtung. Innerhalb ihrer
aber gilt dies: Was in der Geologie Vulkanismus, das heißt in der politi-
schen Geschichte Revolution:
Ariel und seine Elfen hatten ihm auf diesem Wege geholfen. Aber schon
Margaretes schlichter Sinn der Ordnung hatte ihn entzückt inmitten seines
Titanentums. J a , war nicht, nach den Worten des Herrn, in Fausts dunk-
lem Drange von vornherein ein Bewußtsein des rechten Weges, eine Ah-
nung also, daß mit Piaton zu reden „das Gute schön und das Schöne nicht
ohne Maß" ist? Tiefere Worte für diese Vision des Kosmisch-Harmoni-
schen gibt es kaum als die aus Fausts Munde gleich zu Anfang des Dramas,
da er das Zeichen des Makrokosmus erblickt hat:
Fausts Streben zur griechischen Helena ist hier im Beginn seiner Titanen-
laufbahn präfiguriert.
Faust, von Helena kommend, erblickt nicht nur Ordnung in der
Natur; sein großer Plan, der die Handlung von da ab | bis zum Ende
seines irdischen Lebens bestimmt, ist dieser: die Natur zu ordnen, wo sie
zum Wohl der Menschen solcher Ordnung bedarf. Was ihn zur Verzweif-
lung beängstigt, ist
Sein Plan, mit kühnem Fleiß als Kolonisator dem Meeresstrand frucht-
baren Boden abzugewinnen, gründet in dem was er von Helena gelernt
hat.
Und hier möchte noch ein Grund sein, warum der Dichter diese Land-
schaft am Anfang des IV. Aktes ins steile Hochgebirge verlegt. Als Faust
und Mephistopheles eingreifen in den Krieg des Kaisers, steigen sie über
das Mittelgebirg herüber und beschauen die Anordnung des Heeres im
Tal (vor 10297). Der Strand des Meeres als Faustens letztes Ziel hatte sich
schon vorher in seinem Gespräch mit Mephistopheles abgezeichnet. Das ist
also ein Weg ähnlich wie in der Klassischen Walpurgisnacht. Führt er aber
dort von den thessalischen Bergen bei Pharsalus am obern, dann am untern
Peneios entlang bis zur Ägäis, so ist er hier unvergleichlich mächtiger, von
dem Hochgebirge über das Mittelgebirge und des flachen Ufers Breite
(10201) bis an das herrische Meer (10229). Vielleicht ist auch dies ein
Grund, warum Faust einen Monolog von solcher Höhe herab zu sprechen
hat.
Fausts Trimeterrede ist so gebaut: In den ersten vier Zeilen ist er, man
darf sagen, griechischer Prologsprecher:
Bewundert viel
Vom Strande und viel
komm* ich, gescholten,
wo wir erstHelena,
gelandet s i n d , . . .
Nach jenen vier prologischen Trimetern des Faustmonologs folgen 1 2 Tri-
meter, in denen die Cumuluswolke zum Helenabild sich formt und sich
dann wieder entformt, und 12 Trijmeter, in denen die Cirruswolke die
Gestalt Margaretes annimmt und die Form bewahrend sich in den Äther
erhebt. Margarethe, sagt man gern, habe über Helena gesiegt, das Mäd-
[74175] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 629
chen der lebendigen Wirklichkeit über die Gestalt der Mythologie, oder
gar das deutsche Gretchen über die griechische Helena. Aber diesen Sieg
spricht Faust in jenen griechischen Trimetern aus mit ihrem unauffällig
genauen Gleichmaß der Teile. Das also hat er von Helena gelernt: Rhyth-
mus, Gleichmaß und gestufte Ordnung. Erst jetzt kann er sprechen:
Wie Seelensdiönheit steigert sich die holde Form.
Ohne Helena bliebe seine Jugendliebe so vergessen, wie sie es seit dem
Lethebad in der Ouvertüre des Zweiten Teiles war. Jetzt freilich lebt
ihm mit Hilfe dieser gestaltenden Erfahrung das früher Lebendige in
neuer Wesentlichkeit wieder auf,
erhebt sidi in den Äther hin
Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort.
Gewiß, in dem irdischen Handeln Fausts wird davon nichts offen sichtbar.
Aber sollte wirklich das Beste seines Innern an seinem ordnenden Handeln,
seinem Wirken für die vielen Millionen gar nicht mehr beteiligt sein? Wie
auch immer, dies hat der Dichter nicht durchgeformt, und wenn man nach
Schwächen in der Dichtung sucht, hier ist wirklich Goethe allzu lakonisch
geblieben, wie er wenige Wochen vor seinem Tode manche Hauptmotive
seines Werkes kritisch überblickend in sein Tagebuch notiert (24. Januar
1832) 64 .
Der Schluß des Mysterienspiels aber öffnet die Himmel. Dort könnte
die Eine Büßerin nicht für ihn zur Gnadenmutter beten, und diese könnte
nicht antworten:
Komm! hebe dich zu höhern Sphären!
Wenn er dich ahnet, folgt er nach,
ihr Wenn bliebe ein ungewisses Wenn, hätte nicht Faust, ausblickend vom
Hochgebirge und von der Höhe seines Lebens, selber auf jenes Drüben
gezielt, wohin er als Hundertjähriger die Augen blinzelnd zu richten für
Torheit erklärt. Liegt der Ton dieser Worte auf dem Blinzeln, und soll
sich Faust nur | gegen anthropomorphe Jenseitsbilder wehren? Oder
rechnet er, alt und starr geworden, jeden Blick über die Grenzen des Le-
bens hinaus zur menschlichen Beschränktheit, und ist er wirklich „il tipo
ideale dell' uomo moderno: PAnticristo umanitario" geworden, als den
G. A. Borgese ihn sieht65? Vielleicht hat der Dichter dies an seinem Faust
6t
So hat ihn selbst Gilbert Highet,The Classical Tradition 2 1950, 389 f., mißverstanden:
. . . "After a short marriage, Helen vanished, and left Faust to the medieval demon
who was his other seif."
65
Saggio sul' Faust, Milano 1933, 126. Sehr anders Burdach, Das religiöse Problem in
Goethes Faust, Euphorion 33, 1932, 24: „ . . . n i c h t Unglaube gegenüber jeder un-
irdischen, übersinnlichen Welt, wie man irrig verstanden hat" - wo dann dodi auf die
Verschiedenheit der Stadien in Fausts Leben nicht geachtet ist. Darum wird man doch
630 Deutsche Literatur [75176]
absichtlich in der Schwebe halten wollen. Für sich selbst hatte er erfahren:
im Alter werden wir Mystiker, und er gestaltet jenes Drüben am Ende
seines Mysterienspieles. |
12. Epilog
Übrigens werden Sie mir zugeben, daß der Schluß, wo es mit der ge-
retteten Seele nach oben geht, sehr schwer zu machen war ... und so fort.
Die Stelle aus den Gesprächen mit Eckermann (6. Juni 1831) wird immer
wieder citiert, um zu beweisen, daß Goethe die scharf umrissenen christ-
lich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen benutzte - man fügt noch gern
hinzu „lediglich" und „als Mittel zum Zweck" benutzte (und man ver-
gißt zu bedenken, was Goethe unter der Uberschrift Nichts anderes als
über solche Redensarten zu sagen hat, die den gemeinen Sinn einschläfern!)
- also: daß Goethe diese Figuren und Vorstellungen benutzte, um seinen
poetischen Intentionen eine wohltätig beschränkende Form und Festig-
keit zu geben66. Aber wir wollen doch auch hier wie früher nicht vergessen,
daß Goethe, wenn er sich über seine Dichtungen äußert, als Techniker
redet und nicht als Dichter. In dem Dichter hatten sich die vielen ver-
schiedenen Bezirke des Faustdramas geformt, waren in ihm gewachsen,
so wenig man dabei den unendlichen Fleiß, das Handwerk, oder nenne
man es das Machen, im geringsten zu unterschätzen braucht, und zu diesen
Bezirken gehörte seit langem und in wechselnden Formen, zuletzt in einer
dieser Formen sich gestaltend, der Himmel der christlich-kirchlichen Über-
lieferung. Mit dieser Welt umgehend hatte Goethe ein langes Leben hin-
durch gelebt, in Hinnahme und Hingabe, in Zwiesprache und Abkehr, in
Gebet und Mephistophelesgeste, in sinnenfreudigem Heidentum, in west-
östlicher Katholizität, als Mystiker, durch Bild, Musik und Wort. Auch
so werden wir ihm zugeben, daß der Schluß sehr schwer zu machen war.
Betrachten wir vor allem einige rhythmische Motive und einige Züge der
Landschaft.
Aldous Huxley, Themes and Variations (New York 1943) 221 nicht ernst nehmen:
" A n d the same sort of all too human anticlimax (er hat vorher von Shakespeares
Tempest gesprochen) saddens us at the end of the second part of Faust with its impli-
cation that draining fens is Man's final End, and that the adiievement of this end
automatically qualifies the drainer for the beatification."
Vgl. Rickert, Goethes Faust 448. Nichts anderes als: Jubiläumsausgabe Band 37, 3 1 2 .
Mit vielem bei G . W. Hertz, Natur und Geist in Goethes Faust, Kapitel 8: Fausts
Himmelfahrt, müßte man sich auseinandersetzen, wenn das hier angebracht wäre.
Vgl. auch W. Flitner, Goethe im Spätwerk 298 ff. - K . Burdach, Die Sdilußscene in
Goethes Faust, Sitz.-Ber. d. Preuß. Akad., Philos.-Histor. Kl., 1 9 3 1 , 1 ff. Burdach
stellt S. 22 die Frage, „ob es Goethe gelang, zwischen dieser Erlösung Fausts und dem
vorhergehenden Drama eine künstlerische Einheit darzustellen" (soll wohl heißen:
herzustellen). „Diese Frage muß man verneinen . . . Die Sdilußscene . . . springt un-
vermittelt in eine übersinnliche Welt . .
[76/77] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 631
Solche Kurzverse, wie sie vor allem in der als hohe Oper gedachten Eu-
phorion-Scene begegnet waren, haben vermutlich in ihrer schmeichelnden
Einfachheit eine lange Vorgeschichte68. In Tanzliedern des 17. Jahrhun-
derts klingt es ähnlich:
Lasset uns scherzen,
Blühende Herzen . . .
Lauten und Geigen
Sollen nicht schweigen.
Kommet zum Tanze,
Pflücket vom Kranze.
Goethe selbst hat in seinen Kantaten solche gereimten Kurzverse, wenn
auch meist in steigenden Rhythmen; etwa:
Dem festlichen Tage
Begegnet mit Kränzen,
Verschlungenen Tänzen . . .
Und gewiß stehen diese Kantaten noch mehr als vieles andre bei ihm in
einer festen Uberlieferung. Leichteste Tanz- und Liebeslieder also hat er
im Faust in die höchsten Sphären gehoben. |
67
Dieses Urteil geht aus der Interpretation hervor. Es wird äußerlich bestätigt, und kann
dodi, wie sich versteht, nicht völlig bestätigt werden, durch die Handschrift V H c , die
das Ende der Grablegung mit dem Anfang der Bergschluchten verbindet. Goethe hat
1830 die letzte Scene geschrieben und gleichzeitig den Schluß der vorletzten über-
arbeitet; s. G . W. Hertz, Euphorion 33, 1932, 267.
«8 Z u dem Folgenden: W. Vesper, Deutsche Gedichte des 17. Jahrhunderts, 1907, 10, 38.
632 Deutsche Literatur [78/79]
Also wären Verse dieser A r t dort, w o der eigentliche Kampf mit Me-
phistopheles angeht, zu gesanghaft oder zu schwebend-milde gewesen. So
werden dieses einzige Mal den Engeln zwei Sprechverse gegeben, heraus-
fordernd, kampfbereit und geradewegs an Mephistopheles gerichtet:
Dann nehmen die Engel ihre eigene Melodie wieder auf, und den Rhyth-
mus dieser schwebenden, gereimten Kurzzeilen bewahren auch nachher in
dem als letzte Scene abgetrennten Schlußstücke viele Engelsgesänge.
Es ist in diesen Strophen gar manches, was durchaus nicht nur christ-
lich sein muß, und selbst das Christliche klingt nirgends dogmatisch und
ausschließlich. Aber muß etwas dogmatisch und ausschließlich klingen, um
christlich zu sein? Goethe zog das Schauen dem Glauben vor, und die
Frage nach der Christlichkeit jener Engelsgesänge möchte einer höhern
Macht als selbst dem Urteil Benedetto Croces und George Santayanas
anheimzustellen sein.
Von dem, was die Engel zu singen bestimmt waren, wäre manches f ü r
jene schwebende Kurzzeile zu gewichtig gewesen. Sie sollten, fast wie in
feierlicher Verkündung eines Gerichtsbeschlusses, Fausts Rettung ausspre-
chen und das Gesetz nachjdem sie erfolgt; auch diese Verkündung — wie
hier alles oder das meiste — in einer mächtigen Tradition stehend, die der
Dichter halb annimmt, halb abweist: es ist die Rechtfertigungslehre der
christlidien Kirchen. Wie in den strengen christlichen Theologien zweier-
lei zusammenwirkt, auf der Seite des Menschen Sündenbewußtsein, gute
Werke, Buße oder sola fides, „Glaube allein", von Gott her Gnade und
Liebe, so wagte Goethe eine eigene Rechtfertigungstheologie, in der das
Immer-strebend-sich-bemühen des Menschen, sei es auch ohne Sünden-
[79180] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 633
bewußtsein und ohne Buße, sich mit der Liebe von oben zur Erlösung ver-
einigt. Um dies zu formulieren, waren gewichtigere Vierheber, steigende,
dem Dichter notwendig:
Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen . . .
die Zeilen abwechselnd mit stumpfem und klingendem Schluß, so daß im
Grunde je zwei Zeilen sich zu machtvollen Achthebern zusammenschlie-
ßen:
Gerettet ist das edle Glied Der Geisterwelt vom Bösen -
damit wird der Entscheid verkündigt.
Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen -
das ist das faustische Dasein als der menschliche Beitrag in diesem Recht-
fertigungsverfahren, so antipaulinisch wie nur denkbar, Rechtfertigung
durch nie ermüdendes Wirken allein.
Und hat an ihm die Liebe gar Von oben teilgenommen -
das ist die Rechtfertigung durch die „teilnehmende Gnade", gratia co-
operans, um es in Augustins Formel zu sagen69.
Begegnet ihm die selige Schar Mit herzlichem Willkommen -
das ist die Erhebung Fausts in den Kreis der göttlichen Boten.
In Vierhebern von fallendem Rhythmus schließen die Engel gleich
darauf den Jubelbericht an über ihren siegreichen Kampf, beginnend mit
der Erinnerung an
Jene Rosen aus den Händen
Liebend-heiliger Büßerinnen . . .
und endend mit jenem
Jauchzet auf! Es ist gelungen. |
Audi hier gibt das Druckbild nicht ganz den Eindruck wieder, den das
Ohr empfängt. Denn da der Rhythmus fallend ist und alle Zeilen klin-
gend schließen, so geht die Linie von Jene Rosen bis gelungen im Grunde
ohne Unterbrechung durch: ununterbrochen soll der Fluß dieses Jubel-
berichtes sein.
Aber wenn man so die Engelsgesänge nachstammelt und ihren Rhyth-
men nachrechnet, wird man zugleich auch gewahr, wie die himmlische
Heerschar sich differenziert: aus ihr sondern sich Gruppen: die seligen
Knaben, die jüngeren Engel, die vollendeteren Engel. Es ist nicht wie bei
Dante eine festgestufte seiende Ordnung sondern ein Emporwachsen zu
69
Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschidite, 1 9 1 4 , I I I 4 2 0 5 .
634 Deutsche Literatur [80/81]
70 Über Goethe und den Montserrat s. zuletzt A . Farinelli in: Goethe, Viermonatssdirift
der Goethe-Gesellschaft 8, 1943, 192 ff., 260 ff. Auf den La Verna weist P. Expeditus
Schmidt. Faust, 1930, 224 nadi dem Vorgang von Ambros Styra; auf den Athos, mit
einem Fragezeidien, R. Busch-Zantner, Faust-Stätten in Hellas, 1932, 62 ff. Rosen-
kränze, wenn es möglich wäre, von denen welche die Mönche vom Berge Athos
bringen, wünscht sich Goethe 1 8 1 4 auf einem Blatt über russische Heiligenbilder:
Goethe, Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft 10, 194/, 22*.
[81/82] R h y t h m e n und Landschaft im zweiten Teil des Faust 635
der kirchlichen Malerei, die er in Italien gesehen hatte, und deren Er-
innerung durch Stiche in seiner Sammlung angefrischt wurde: die Fresken
in Pisa und andre Bilder heiliger Einsiedler. Aber er selbst hatte ja schon
Jahrzehnte früher (1784) in seinen Geheimnissen die Wohnungen der
zwölf Rittermönche auf einen steilen Berg, dort oben freilich in ein sanft
geschwungenes Tal, verlegt, vielleicht den Montsalvat der Gralsage sich
aneignend. Als Humboldt den Montserrat bestieg, gab dem Sinn dieses
scharfen Beobachters der Gedanke an Goethes Geheimnisse Richtung und
Stimmung. Und wie sehr wiederum in Humboldts Bericht den Dichter
der Geheimnisse die Heraufbeschwörung seiner eignen Dichtungswelt an-
sprach, ersehe man daraus, daß er selbst später (1816) den Berg seiner
Rittermönche einen ideellen Montserrat nennt. So befruchtet Dichtung die
Wirklichkeit und Wirklichkeit die Dichtung. Manches wird mit solchem
Woher der Stoffe und solcher Vorgeschichte der Motive deutlich, aber
nicht, warum Goethe überhaupt in jene überirdische Welt des Faust-
schlusses den Berg der Anachoreten hat hineinragen lassen, die letzte
Landschaft in dem Drama voller Landschaften. |
Dantes Jenseits hat die Vollkommenheit und die Unendlichkeit des
Kreises und der Kugel. Das Wollen des Dichters - dies ist sein letztes Bild
am Ende seines hundertsten Gesanges - empfängt die Bewegung eines
gleichmäßig umschwingenden Rades von Gott, der Liebe — das ist christ-
lich - , die die Sonne und die andern Gestirne bewegt-das ist der aristote-
lische „Erste Beweger". Die Gleichartigkeit von Gestirnbewegung und
Seelenbewegung ist platonisch, und auf Piaton (und seinen Schüler Cicero)
geht es zurück, wenn Dantes Dichtung mit dem Blick auf die vollkom-
mene Bewegung der Sphären schließt.
Das Jenseits in Goethes Faustmysterium hingegen ist bestimmt von
der Unendlichkeit des modernen Weltbildes. Gewiß ist auch hier die
Kreisbewegung noch bedeutend im anschaulichen Symbol: Selige Knaben
in Kreisbewegung sich nähernd (12076), Steigt hinan zu höherm Kreise
( 1 1 9 1 8 ) , Chor seliger Knaben um die höchsten Gipfel kreisend (11926),
Komm! hebe dich zu höhern Sphären (12094). Doch dies ist allgemeiner
empfunden und gesagt, als wenn Dante durch seine genau gezählten, näm-
lich neun, himmlischen Sphären ins Empyreum emporführt. Von himm-
lischen Kreisen weiß Goethe auch im altpersischen Glauben:
71
Heusler, Deutsche Versgeschichte I I I , 3 7 9 ff.; derselbe Kleine Schriften, 1 9 4 3 , 477
V g l . dazu auch K . M a y , Faust II. Teil aus der Sprachform gedeutet, 1 9 3 6 , 2 5 5 ff. Zur
Auseinandersetzung über Einzelheiten ist hier nidit der O r t .
[84185] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 637
Aus dem Chor sondern sich die einzelnen Anachoreten wie vorher aus dem
Chor der Engel die einzelnen Engelsgruppen und nachher aus dem Chor
der Büßerinnen die bestimmten Personen. Die einzelnen Anachoreten
haben keine Eigennamen sondern allgemeine Ehrennamen, die Goethe,
mit völliger Freiheit und nur auf das Symbolisch-Universale gerichtet,
der kirchlichen Tradition entlieh. Auf Grundhaltungen kam es ihm an;
jeder hat seinen Raum und seinen Rhythmus.
Der Pater ecstaticus wird schwebend sichtbar, wie solche ekstatische
Erhebung von dem heiligen Franciscus berichtet wird und von Filippo
Neri, den Goethe sich in Italien zu seinem Sonderheiligen erkor. Aber
anders als diese schwebt der Ecstaticus auf und ab, und seiner Bewegung
entsprechen seine Gefühle, wie er selbst sie leidenschaftlich ausspricht.
Franciscus, bevor er die Stigmen empfing, betete um zwei Gnaden: den
Schmerz zu fühlen, wie Jesus ihn in seinem | bittersten Leiden empfand,
und die Liebe, von der Jesus entflammt war, um solche Leiden für uns
Sünder auf sich zu nehmen. Und der Franziskaner Jacopone begann einen
Gesang:
O dolce amore - c'hai morto l'amore,
prego die m'occidi d'amore.
So wogen hier in der Brust des Ecstaticus Lust und Schmerz auf das
heftigste durcheinander, beide völlig sublimiert: der Schmerz ist siedend,
aber Schmerz der Brust, die Lust ist schäumend, aber es ist Gotteslust, und
seine Sehnsucht fleht um die Verflüchtigung alles Nichtigen. Sein Rhyth-
mus nimmt genau den des vorhergehenden Chores auf, vielleicht etwas
weniger staccato, und beide Strophenenden entsprechen einander: Heili-
72
V g l . Traumann, Goethes Faust I I 2 3 7 1 .
638 Deutsche Literatur [85/86]
gen Liebeshort - Ewiger Liebe Kern, doch so, daß bei dem Chor sdion
erfüllt scheint, was bei dem Ecstaticus noch leidenschaftlicher Wunsch ist.
Im Gegensatz zu dem Ecstaticus hat der Pater profundus seinen
unveränderlichen Platz: tiefe Region. Und diese Tiefe ist ein Symbol
für fundamentale Erkenntnis. Natur ist Gleichnis: Wie . . . Wie .. .
Wie . . . 5o . . . - Gleichnis für die allmächtige Liebe. Alles in der Natur,
auch das Wildeste und Verderblichst-Scheinende, Wassersturz und Blitz,
sind Zeugen göttlicher Liebe. Worin unterscheidet sich diese allmächtige
Liebe, die alles bildet, alles hegt, (11872), von dem Eros, der alles begon-
nen (8479), in der Klassischen Walpurgisnacht? Sind das nur verschiedene
Namen für die gleiche Erfahrung oder Wesenheit, oder überhöht diese
Liebe jenen Eros? Daß dies Letzte gemeint ist, wird man empfinden.
Aber ehe wir die Antwort über das Gefühlsmäßige hinauszuheben ver-
suchen, hören wir auf den Rhythmus, in dem der Pater profundus spricht.
Seine Melodie ist ungleich gewichtiger als alles, was in diesem Bezirk
vorhergeht, und als fast alles, was folgt: drei Strophen, jede achtzeilig,
vierhebige Zeilen in steigendem Rhythmus mit abwechselnd klingenden
und stumpfen Reimen. Diese Form begegnet an Stellen besondern Nach-
drucks im ] Ersten Teil 73 ; verdreifacht dort, wo Faust seine große Fluch-
rede spricht:
73
D a s Lied des Bettlers v o r dem T o r ( 8 5 2 ff.) soll wohl w i e eine leiernde Parodie der
feierlichen Gesangstrophe klingen.
[86j87] Rhythmen und Landsdiaft im zweiten Teil des Faust 639
Im Prolog:
Es schäumt das Meer in breiten Flüssen
Am tiefen Grund der Felsen auf . . .
Und Stürme brausen um die Wette . . .
Da flammt ein blitzendes Verheeren . . .
Im Epilog:
Wie Felsenabgrund mir zu Füßen
Auf tiefem Abgrund lastend ruht,
Wie tausend Bäche strahlend fließen
Zum grausen Sturz des Schaums der Flut . . .
Ist um mich her ein wildes Brausen,
Als wogte Wald und Felsengrund . . .
Der Blitz, der flammend niederschlug . . . |
Uber die Gleichheit der Strophenbildung und die Verwandtschaft der
Klänge und Bilder hinaus reicht dieses: hier wie dort ist die mächtige
Natur Ausdruck göttlicher Wirkung.
Aber nun die Verschiedenheit: Im Prolog umfaßte der Blick den
Kosmos, der Anachoret blickt in eine fremdartig erhabene, doch irdische
Landschaft - mir zu Füßen . .. um mich her . . . - eben jene, deren Ins-
Werden-Kommen vorher von Chor und Echo in Worte geprägt worden
war. Damit wird die Landschaftsmelodie zum letzten Mal aufgenommen,
die mit der Ouvertüre des Zweiten Teiles begann (wenn man ferne
Anklänge in dem Monolog Wald und Höhle des Ersten Teiles hier außer
Rechnung läßt) und die sich in Arkadien fortsetzt. Es braucht kaum
gesagt zu werden, wie verschieden diese Landschaftsmelodien getönt sind.
Und doch höre man nach den eben citierten Zeilen des Epilogs einige
Zeilen aus der Ouvertüre:
Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend . . .
Von Sturz zu Sturzen wälzt er jetzt in tausend,
Dann abertausend Strömen sich ergießend,
Hoch in die Lüfte Schaum an Schäume sausend . . .
und das setzt sich fort in Arkadien:
. . . vereinigt stürzen Bäche
. . . nach höhern Regionen,
Ehebt sich zweighaft Baum gedrängt an Baum.
Der Ahorn, mild, . . .
Steigt rein empor und spielt mit seiner Last,
wo man denn insbesondre von den Bäumen Arkadiens zu dem
Anachoretenberge hinüberblicken und -hören muß:
Wie strack, mit eignem kräftigen Triebe,
Der Stamm sich in die Lüfte t r ä g t . . .
640 Deutsche Literatur [87189J
Also vereinigt sich in den Strophen des Pater profundus etwas von
beiden melodischen Linien, der des Prologs im Himmel und der, die in
den landschaftlichen Räumen des Zweiten Teiles erklingt. Aber beides
wird hier transcendiert von der allmächtigen Liebe. Im Prolog herrscht
die Schöpfermacht, wie sie am Anfang der Genesis herrscht, am Schluß
ist es die alles | bildende, durchdringende, erhebende Liebe. Sie ist noch
etwas sehr andres als jener Eros, der alles begonnen, am Ende der
Walpurgisnacht. Daß sie ihr Verwandtes im Innern des Menschen hat,
mag auch für den Eros Kosmogonos gelten - und es gilt für ihn bei
Piaton aber der Schluß des Faust wird christlich durch das Gebet.
In das Innere des Herzens zieht .sich der Pater profundus zurück
(i 1884 ff.), und aus dieser Einkehr erhebt sich das Gebet um innere Ruhe
und Erleuchtung. Das Griechische und das Alttestamentliche bleiben be-
wahrt, aber sie werden überhöht. Oder wenn man an Goethes Maxime
über die drei Formen der Religion, Polytheismus, Pantheismus und
Monotheismus, zurückdenkt: Es wurde früher in unsrer Deutung ver-
sucht zu zeigen, daß im Dritten Akt Pantheismus den Polytheismus
hinter sich läßt74. In dem umrahmenden Mysterienspiel erhebt sich der
eine Gott des Alten und des Neuen Testaments über den Deus sive
Natura, derart daß am Schluß des Ganzen auch noch das Unergründlich-
Schöpferische überhöht wird von der Allmächtigen Liebe. —
Es mag wie ein seltsamer Abweg aussehen, wenn wir hier plötzlich
auf die Hypsistarier 75 zu sprechen kommen, jene spätantike Religions-
gemeinschaft des innern Kleinasien, von der Goethe in der Mitte der
zwanziger Jahre erfuhr, etwa ein Jahr, nachdem sein Faustwerk neu in
Bewegung gekommen war. Damals nannte er sie eine Sekte, der man sich
anschließen möchte, wenn sie sich erklären nur das Höchste schätzen zu
wollen (an Riemer, 7. Oktober 1826). In dieser Weise legte er sich so-
gleich ihren Namen und das wenige was wir von ihnen wissen zurecht.
Und von nun an begleitet ihn dieser hypsistarische Gedanke durch die
letzten Jahre seines Lebens. Ein Jahr vor seinem Tode schreibt er an
Boisseree (22. März 1 8 3 1 ) von jener Sekte, welche, zwischen Heiden,
Juden und Christen geklemmt, sich erklärten das Beste, Vollkommenste,
was zu ihrer Kenntnis käme, zu schätzen, zu bewundern, zu verehren und,
insofern es also mit der Gottheit in nahem Verhältnis stehen müsse, anzu-
beten. Da wurde mir, so schließt der Brief, auf einmal aus einem dunklen
Zeitalter her ein frohes Licht. Denn ich fühlte, daß ich zeitlebens ge-
trachtet hatte, | mich zum Hypsistarier zu qualifizieren . .. Das Religions-
gespräch mit Boisseree geht durch die folgenden Monate, und der Dichtei
beschließt es mit den Worten (25. Juli 1831): Findet sich einmal eine
s. Kapitel I X .
75
Über die Hypsistarier und Goethes Wohlgefallen an dieser Sekte s. A . Kippenberg, in:
Goethe, Viermonatsschrift der Goethe-Gesellsdiaft, 8, 1 9 4 3 , 3 f f . ; B. W y s s in: P h y l l o -
bolia f ü r Peter von der Mühll, 1 9 4 6 , 1 7 2 ff.
[89j90] Rhythmen und Landsdiaft im zweiten Teil des Faust 641
also weit höher empor, die Gruppe der Frauen, die sich um die Himmels-
königin schart. Der Doctor Marianus ist der rhythmenreichste der vier
Einsiedler. Wo er zur Himmelskönigin betet und verstehend die Büße-
rinnen rechtfertigt, spricht er in starken fallenden Rhythmen:
Höchste Herrscherin der Welt!
Lasse mich im blauen,
Ausgespannten Himmelszelt
Dein Geheimnis schauen!
Das Wort Entzückt hat Goethe als Regiebemerkung vor diese Anrede
an die Mater gloriosa gesetzt und die Worte auf dem Angesicht anbetend
vor jene letzte Strophe desselben Doctor Marianus fast am Ende des
Ganzen: |
Blicket auf zum Retterblick,
Alle reuig Zarten . . .
Für solche Klänge also entzücktester und huldigendster Anbetung hat der
Dichter diese Strophe bestimmt; sie verhält sich zu der Urteilsverkündi-
gung der Engel
Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen . . .
wie die Strophen Ariels und des Seraphicus sich verhalten zu den Strophen
der Erzengel und des Pater profundus. Der Marianus ist ja der einzige
von den lebenden Menschen, der bis zuletzt gegenwärtig hörbar und
sichtbar bleibt und, nachdem die Gnadenmutter sich in die höchsten
Himmelssphären erhoben hat, in jenen selben Rhythmen das letzte Gebet
an sie richtet, die letzten Worte aus Menschenmund in der Goetheschen
Dichtung.
Der Pater ecstaticus und der profundus beteten für sich. Der Seraphi-
cus sorgte für die Seligen Knaben. Der Marianus betet erst für sich - Lasse
mich im blauen ...—, dann im Namen aller, die sind wie er - Unbezw'tng-
lich unser Mut ... Uns erwählte Königin . . . Im zweiten Teil seiner
großen Rede, oder soll man sagen seines Gesanges, abgesetzt von dem
ersten Teil durch jenes Stück in Engelsrhythmen, in dem er die Büßerinnen
erblickt und ihr Bild zeichnet, im zweiten Teil also rechtfertigt er die
leicht Verführbaren, um ganz am Ende, da die Madonna mit ihrem
Gefolge entschwebt, Alle mitzunehmen in sein letztes Gebet:
Alle reuig Zarten . . .
Werde jeder beßre Sinn
Dir zum Dienst erbötig . . .
Die Mater gloriosa bestimmt den Epilog lange ehe sie sichtbar wird.
Der Berg der Anachoreten wäre von Anfang an nicht da ohne sie. Ob
Goethe jemals Gott den Herrn im Epilog seine Mysterienspiels wieder
644 Deutsche Literatur [92194]
77
Vgl. hierzu Hertz, Natur und Geist in Goethes Faust, 63 ff.; K . Burdach, Das religiöse
Problem in Goethes Faust, 46ff.
7» B. Croce, Scritti di Storia lett. e polit. X I I , Goethe II, 1946, 48 ff., dazu die Tafel
zwisdien S. 48 u. 49.
[94¡95] Rhythmen und Landschaft im zweiten Teil des Faust 645
79
Und ihm manchen unangebrachten Scherz nachsehen, wie etwa: Che cosa poteva ad
essi die non avevano vissuto, insegnare Faust, in ricambio, nel paradiso? Forse a fare
all' amore etc.
80
Nach Rickert, Goethes Faust 491 ff., sei das Verzeihen angemessen (12068) gemeint
vor allem als ein aktives Verzeihen, das Margarete dem Faust gegenüber auszuüben
habe.
646 Deutsche Literatur [95196]
Man kann es Croce nicht allzusehr verdenken, wenn er den vielen Inter-
preten gegenüber, die diese Züge übersehen, gerade dabei verweilt und die
Heiligkeit gleichsam für konventionelle Zugabe erklärt. Aber man soll
eine Einseitigkeit nicht durch eine andere ersetzen. Goethes deutsche Inter-
preten neigen vielleicht dazu, den Dichter mit Dante zu verwechseln.
Croce mißt ihn an Dante und empfindet lebhaft Goethes dichterischen
Zauber, /doch so, daß er seine Theologie nicht ernst nimmt. Man wird
Goethe erst dann gerecht, wenn man beides hört und beidem seinen Wert
läßt, je an seinem Orte: hier den Locken, die so weichlich Trockneten die
heiligen Glieder, dort der reinen reichen Quelle, Die nun dorther sich er-
gießet', wie vorher in den Worten des Doctor Marianus hier dem schmei-
chelhaften Odem und der Gelüste Ketten, dort jenem
nur wird die Gnadenreiche jetzt zur Strahlenreichen, ein Symbol der grö-
ßeren Nähe zum heiligen Licht. Aber in diesem Gebet der Einen und sdion
vorher in dem Gebet des Chores klingen noch andere, ganz früh erklun-
gene Töne:
Ach neige,
Du Schmerzenreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Not! (3587-9).
hebt sich aus den übrigen sechs Zeilen dieser Strophe durch den doppelten
Umfang heraus. Auch darin hört man eine Zeile aus dem Zwingergebet
aufklingen:
Dein Antlitz gnädig meiner Not. |
Eine Vorschmelzung also ist in dieser Strophe der einen Büßerin geschehen:
der Engelsrhythmus - oder genauer: eine seiner Variationen - hat das
Zwingergebet verwandelnd in sich aufgenommen. Das Zwingergebet,
wird man fühlen, ist erhört, und Rhythmus und Worte klingen jetzt in
den Engelssphären erneut und verwandelt auf.
Den seligen Knaben waren wir gefolgt bis dorthin, wo sie Fausts Un-
sterbliches empfingen. Dann hatten die Gnadenmutter und die Gruppe
der Büßerinnen die Mitte des Raumes erfüllt. Jetzt sind die seligen Kna-
ben wieder da, in Kreisbewegung sich nähernd (vor 12076), wie wir
gerade diese Knaben immer wieder kreisend und im Kreis gesellt sahen.
beginnt jetzt ihr Gesang, also genau dort fortsetzend, wo sie vorher ge-
endet hatten:
Schon ist er schön und groß
Von heiligem Leben. (11987).
getan — hinan.
Mit langem Vokal reimte Goethe, der Mainfranke, fast immer sein an,
heran, daran, voran, hinan, obenan, himmelan (ebenso wie sein ab, herab,
sein davon und sein hin, wohin, dahin:
Dahin! Dahin
Möcht' ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!)
Während Mephistopheles mit einer scharfen Reimdissonanz aus der Dich-
tung scheidet (i 1842 f )
beschäftigt - bemächtigt,
muß der letzte Reim des Ganzen rein sein.
So erklingend vereinigt dieser Chorus deutend die Fausttragödie mit
dem Faustmysterium und versucht unserm eigenen Sinnen und Tun die
Richtung zu geben. Denn auf das Goethische Werk sind die Worte genau
anwendbar, mit denen Dante in dem Brief an Can Grande das Endziel
der Commedia bestimmt: „ . . . es ist das Endziel des Ganzen wie des
Teiles, die Lebenden in diesem Leben von dem Stande des Elends zu ent-
fernen und sie hinzuführen zu dem Stande des Glückes" (finis totius et
partis est, removere viventes in hac vita de statu miseriae et perducere ad
statum felicitatis).
VII
Polyhistorie
Athanasius Kircher und Leibniz
1937
VIR MAGNE
Qvidni enim ego TIBi privatim publicum elogium tribuam? Sed non
est nunc tempus in laudes tuas nunqvam intermorituras digrediendi: ad
causam potius scriptionis meae veniam. Cum neminem hactenus morta-
lium altius TE videam in arcana a r t i s c o m b i n a t o r i a e , vel qvod
idem est partis L o g i c a e i n v e n t o r i a e penetrasse, qvae sola TIBÌ
tot aeterna inventa, tot incomparabilia monumenta peperit: ego vero
pene à prima pueritia usque subitaneas nonnunquam de hoc negotio medi-
tationes agitaverim, non potui qvin tui compellandi mihi audaciam face-
rem, qvam et auxit Exell m u s atqve Ill m u s BOINEBURGius, notum TIBi,
notum omnibus eruditis nomen, qvi mihi tuam inter tantas curas incredi-
bilem humanitatem non potuit satis praedicare. Nimirum Anni sunt qvasi
qvatuor qvod edita est à me X I . circiter plagularum dissertatio de Arte
combinatoria, in qva dedi operam, ut aliqua si non bona saltem nova
afferrem. Inter alia multa de novis modis syllogisticis utilibus pariter atqve
inutilibus disserui, ostendi utiles in universum modos nulla figurarum ra-
tione habita esse 88. Cujuslibet figurae modos esse 6. primae secundae &
qvartae non minus qvàm tertiae: Computare variabilitatem dati versus
Protei: Hexametrorum species esse 76, si solam scansionis varietatem
consideres; rationem idem in aliis vel carminibus vel melodiis indagandi.
Qva ratione perfectissimà et realissima Scriptura Universalis excogitari
possit: Constructis p r a e d i c a m e n t i s a r t i s c o m b i n a t o r i a e
dato qvolibet praedicato omnia eius subjecta et dato qvolibet subjecto
omnia eius praedicata in materia necessaria invenire. In qvo consistant
vera artis combinatoriae praedicamenta; specimen exiguum extempora-
neum praedicamentorum artis combinatoriae in Geometria; ICtum Pau-
[Rendiconti della Pontificia Accademia Romana de Archeologia X I I I , 1937.]
656 Polyhistorie [229/231]
V I R O incomparibili
Adm. R . P. Athanasio Kirchero
Societatis Iesu Sacerd.
Romam. |
658 Polyhistorie [232j233]
Kommentar
Abkürzungen
A k . = Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe herausgegeben von
der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Darmstadt, 1923 ff.
Foucher de Careil = Œuvres de Leibniz. Paris, 1859 ff.
Klopp, = Die Werke von Leibniz. Hannover, 1864 ff.
Gerhardt = Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. Berlin,
1875 ff-
Baruzi, = Leibniz et l'organisation religieuse de la terre. Paris, 1907.
Couturat Logique = La logique de Leibniz. Paris, 1901.
Couturat Opuscules = Opuscules et fragments. Paris, 1903.
1 Dem Bibliothekar der Pontificia Università Gregoriana, Herrn P. Frodi, danke idi
auch an dieser Stelle für seine Hilfsbereitschaft. [Korrectur-Note : Die im Text ausge-
sprochene Hoffnung kann sich so nicht verwirklichen. Die Aufgabe aber bleibt gestellt,
auch wenn ein anderer sie durchführt. Von den Teilaufgaben, deren ich manche an-
geben könnte, soll hier nur eine stehen, weil sie in unseren Problemzusammenhang
gehört. Die römische Briefsammlung enthält eine ganze Reihe ausführlicher Briefe von
Fabri de Peiresc an Kircher. 7 unveröffentlichte Briefe Kirchers an Peiresc verzeichnet
SOMMERVOGEL, Bibliogr. de la Comp, de Jésus, IV, 107$: Paris, Bibl. N a t . Fonds
Français N r . 9538, fol. 227-240, dazu einen in der Correspondence de l'Abbé
Nicaise t. IV, ebenda N r . 9362. Diese Briefe werden ineinander greifen. H a t man sie
beisammen, so wird man über das Verhältnis der beiden Männer Wichtiges erfahren
und wird in der Geschichte der Polyhistorie einen Linienzug durch 3 Generationen
führen können: Peiresc - Kircher - Leibniz].
[235j236] Athanasius Kircher und Leibniz 661
Der Anlaß. - Leibniz ergeht sich nicht lang und breit in preisenden
Worten. Man ist aus jener Zeit, und auch von den Korrespondenten
Kirchers, ganz andere Instrumentation gewöhnt. In den Bänden des Kir-
662 Polyhistorie [236j237]
cherschen Briefwechsels fällt schon dem Auge dieser Brief durch seine
echt Leibnizische Gedrängtheit und das Fehlen aller Höflichkeitsränder
auf. Er ist bis an den Blattrand mit Inhalt gefüllt, und schon im zweiten
Satz ruft der Schreibende sich selbst zur Sache. Die Sache aber heißt:
ars combinatoria. Sie ist das gemeinsame Anliegen Leibnizens und des
großen Mannes, an den er herantritt. Indessen daß er dies wagte, dazu
bedurfte es zu dem sachlichen noch eines menschlichen Anstoßes: Exzel-
lenz Boineburg hat ihm Mut gemacht und ihm Kirchers unglaubliche
Leutseligkeit gerühmt. Daß der Freiherr von Boineburg, der ehemalige
Minister des Kurfürsten-Erzbischofs von Mainz und Beschützer des
jungen Leibniz, es gewesen sei, der diesem die Richtung auf die Gesell-
schaft Jesu gegeben habe, war schon immer eine wohlbegründete Ver-
mutung2. Unser Brief bringt den urkundlichen Beweis. Wir dürfen an-
nehmen, daß Leibniz sich auch in dem verlorenen Eröffnungsbrief an
Kochanski auf Boineburg berufen haben wird.
und sagt mit vorsichtigen Worten, wie gern er die von Kircher erwähnte
Cistula combinatoria zu Gesicht bekommen möchte. Man versteht diesen
Wunsch erst, wenn man bedenkt, welche Wichtigkeit das X V I I t e Jahr-
hundert den - man könnte sagen — Geistesmaschinen zuschrieb. Schon der
junge Pascal hatte (1643) eine arithmetische Maschine ausgedacht und
ausführen lassen, mit der man „ohne jede Geistesarbeit Aufgaben aus
allen Gebieten der Arithmetik lösen konnte 3 ." Leibniz selbst hat,
spätestens 1671, seine lebendige Rechenbank konstruiert und dazu ein
ander Instrument, so ich eine lebendige Geometriam nenne (II, 1 , 1 6 0 Ak.);
einige Jahre später dann eine Chiffriermaschine (I, 2, 125 Ak.) und eine
algebraische Maschine, die Gleichungen lösen konnte4. Schon in seiner Ars
combinatoria (VI. 1, 203 Ak.) erwähnt er Georg Philipp Harsdörffers,
des bekannten Nürnbergers, fünffachen Denkring der deutseben Sprache,
mit dessen Hilfe man 97 209 600 deutsche Wörter bilden könne („nütz-
liche und unnütze"). Darauf gründete Albert von Holten die Konstruk-
tion einer cylindrischen Grammatik (II, 1, 207 Ak.), und Leibniz selbst
hat nach diesem Vorbild den Plan einer logischen Maschine gefaßt (II,
1, Nr. 96 Ak.). Kircher ging mit ähnlichen Gedanken von jeher um.
Er hatte in seiner Musurgia (1650) den Bau einer cista musarithmica
angegeben, die auch dem ganz Unmusikalischen die Fähigkeit verschaffen
sollte, vierstimmige Sätze zu komponieren. Den Entwurf dieses Appa-
rats findet man abgebildet auf der Kupfertafel X I V , die, wie wir sehen
werden, grade auch Leibnizens Aufmerksamkeit erregt hat. Die Wolffen-
büttler Bibliothek bewahrt ein in Holz ausgeführtes Exemplar, das
Leibniz in der Hand gehabt haben mag, als er (1690) ihr Bibliothekar
geworden war. Gewiß werden noch andere solche Kästchen hier oder
dort erhalten sein, wie ich denn in dem genannten Briefwechsel Kir-
chers die Cista öfter erwähnt finde. Valde Imperator expectat cistam
musurgicam, schreibt der Kaiserliche Rat Johannes Gans an Kircher
(vol. V I I fol. 133, Viennae 6. Febr. 1649). Und in einem anderen Brief
- dessen Absender ich mir nicht vermerkt habe - (vol. V I I fol. 220)
heißt es: Gaudeo praeterea, ut RVa similem cistulam pro compositione
Musica illi (das ist der Große Kurfürst) mittat per me, qualem misit
Serensmo duci Holsatiae; ego efficiam ut munus Electore dignum mittatur. \
Offenbar gehörte es damals an den Fürstenhöfen zum guten Ton, mit
einem Kircherschen Kompositionskästchen zu hantieren.
Das war 20 Jahre vorher. Und nun hat Kircher sich daran gemacht,
die allgemeine Denkmaschine zu entwerfen. Wieder also sieht der junge
Leibniz das, was er selbst erstrebt, bei Kircher vorgebildet, wer weiß,
vielleicht schon vollendet. Aber dieses Anliegen, wie wichtig auch für
den Briefschreiber, ist doch nur eine Einzelheit und bahnt ihm den Über-
3
Widmungsbrief an den Kanzler Pierre Seguier in: Pascal, Pensees et Opuscules par
L. Brunschvicg, 45.
4
Vgl. Couturat, Logique, i i j .
664 Polyhistorie [238¡239]
gang zu einem größeren Wunsch. Sein Brief soll ein erster Schritt sein:
er will den großen Mann, der selbst mit aller Welt brieflichen Austausch
hat, in das Netz seiner Korrespondenz verflechten. Er erbietet sich, die
Mitteilungen, die der andre ihm machen wolle, weiter zu verbreiten und
ihn wiederum mit Nachrichten aus der Gelehrtenrepublik, zumal aus
Deutschland, zu versorgen.
Damit hat er die eigentliche Absicht ausgesprochen, die er am Schluß
des Briefes als Bitte um die Weisungen und Mahnungen des weisen Mannes
noch einmal nachdrücklich wiederholen wird. Aber er ist zu weltklug,
um sich mit diesem Allgemeinen zu begnügen. Er fügt Fragen hinzu, die
den Alten zur Mitteilung verlocken sollen und ihm gleichzeitig zeigen
werden, wie eifrig der Jüngere ihn studiert hat. Es sind zwei Fragen aus
der Ars magnetica. Leibniz wünscht genauere Auskunft erstens über
einen heliotropen Stoff, den Kircher in Marseille von einem Araber erwor-
ben hat, und zweitens über eine Kompaßkonstruktion des Jesuiten Jacques
Grandami, — das erste eine entlegene Einzelheit (aber giebt es Verein-
zeltes?), das zweite eine Frage, über die Leibniz in den Briefen dieser Zeit
auch mit Kochanski in Prag, mit Fabri und Lana in Italien, mit Olden-
burg in London, mit Berthet in Paris, mit Hevelius in Danzig verhandelt,
wie ihn denn das Problem des Kompasses noch später immer wieder
beschäftigt hat5. Als er sich einmal die Hierarchie der Seelen vergegen-
wärtigt und eine höhere Erkenntnis über der menschlichen zu denken
sucht, malt er sich aus: ein Engel komme und erkläre ihm die wahre
Ursache der magnetischen Deklination und ihrer Perioden (Gerhardt
V I I , 26,).
Wichtiger noch ist wohl das Postscriptum. Er berichtet dort über
den Plan eines weitgereisten Mannes, der die Wurzeln aller Sprachen
gesammelt und sie zu einer Harmonie und gleichsam einer Universal-
sprache vereinigt habe, und fragt Kircher, was er von diesem Plane halte.
Wir können den Mann benennen: es ist Benght Skytte, jener schwedische
Emigrant, der - beiläufig - schon im Jahre 1667 den Großen Kurfürsten
für den Gedanken einer allumfassenden wissenschaftlichen Anstalt in |
Berlin „Heliosophopolis" gewonnen hat. 1669 ist Leibniz ihm in Frank-
furt am Main begegnet. Mea (juvenis) memoria, schreibt er 1 7 1 2 aus der
Erinnerung nieder, Benedictas Skytte, Senator regni Sueciae, magno studio
in barmoniam lingvarum incumbebat... Ei Francofurti ad Moenum
locutus sum, et consilia intellexi, cum alia, tum illud de eruenda ex lingvis
praesentibus per orbem sparsis lingva primaeva. Ajebat se non paucarum
lingvarum vocabula radicalia collegisse, atqve inde ad fontem communem
assurgere conari. Plurimum Islandicae tribuebat extremae veteris Teuto-
nismi dialecto; non ignorabat consensum Finnonicae et Hungaricae, Tur-
6
Die Aufklärung, wer der quidam des Briefes ist, verdanke ich Dietrich Mahnke
in Marburg. Ueber Skyttes Akademieplan vgl. Harnack, Gesch. d. Kgl. Preußischen
Akademie, I, 1, 4 und II, 3. Die Datierung der Frankfurter Begegnung gab mir
Prof. Paul Ritter auf Grund seiner schwedischen Archivforschungen. Dr. Sigrid
v. d. Schulenburg teilte mir die unveröffentlichte Niederschrift Leibnizens mit. Sie
stammt aus der an Eckhart gerichteten Epistolaris de Historia Etymologien Dissertatio,
die als Einleitung in die Collectanea Etymologica gedacht war: Hann. Ms. IV.
464 Bl. 84 r.
7
Schwerlich war das mehr als eine Höflichkeitsformel. Leibniz selbst meinte später,
„sehr gelehrte Männer, unter denen Kircher und Bayle hervorragten", hätten seine
Jugendschrift mit Beifall gelesen: Vita Leibnitii a se ipso breviter delineata in:
Guhrauer, Leibniz, II Beilage, S. $6.
666 Polyhistorie [240/241]
9
V g l . Brodbeck, Philipp Wilhelm Reidisgraf zu Boineburg (Diss. Jena, 1 9 2 7 ) 4 3 , w o
das landesübliche Urteil über Kircher wiedergegeben w i r d .
[2431244] Athanasius Kircher und Leibniz 669
10
Zitiert von Baruzi, 75.
u Foudier de Careil, VII, p. VI. Couturat, Logique, 50$ ff. In der schönen Darstellung
Diltheys, Ges. Sehr., III, 25 ff., kommen die Jesuiten zu kurz. W o sie in die Dar-
stellung eintreten (S. 36), stehen sie an falscher Stelle.
^ B a r u z i , 448. Vgl. auch Baruzi, Trois dialogues inédits mystiques de Leibniz, Revue
de métaphysique et de morale 13 (1905), 1 ff.
670 Polyhistorie [244¡245)
15
Couturat, Opuscules, 222 und 278. An der zweiten Stelle: Adde Kircheri Musurgiam,
ubi Tabulae quibus componi potest cantus etiam a Musicae ignaro.
672 Polyhistorie [246¡247]
des menschlichen Geistes wie eine des intellectus Angelicus und eine des.
intellectus Archetypus, und alle drei stehen unter einander und mit der
Welt in harmonischer Proportion. Der Intellekt ist gleichsam das Auge,
sein Gedächtnis der Spiegel, in dem alle Bilder der Welt aufglänzen
(speculum, in quo omnes mundi imagines resplendent). Gott ist gleichsam,
eine Harmonie, die zugleich im höchsten Sinne Einheit ist (veluti harmonía,
quaedam unitissima). Aus ihm entäußern sich die Harmonieen des intel-
lectus Angelicus, der noch unisón alle Harmonieen der Welt aus sich ent-
faltet, und des intellectus humanus, der wie eine Saite alle Töne der Ok-
tave hervorbringt.
Diese letzten Seiten der Musurgia mit ihrem aus Marsilius Ficinus
angeeigneten und christlich getönten Pythagoreismus müssen Leibniz
besonders verwandt angesprochen haben, der schon 1671 in einem Briefe
an Herzog Friedrich von Braunschweig sich anheischig machte zu bewei-
sen, dass eine Ratio ultima rerum seu Harmonía Universalis, id est Deus
sein müsse (II, 1, 162 Ak.). Im übrigen werden einige Leibnizsche Formell}
genügend zeigen, wie viel ihm von dem, was er bei Kircher las (oder,
a u c h bei Kircher las), Baustoff wurde in seinem ausgebildeten System:
Da gibt es die universale Harmonie in ihren mannigfachen Dimensionen
- die Schönheit des Alls, die sich in jeder lebendigen Monade spiegelt -
die Seele, die sich, ohne es zu wissen, in der Kunst des Zählens ¡ übt,
wenn sie Musik hört - die in Stufen zur göttlichen Vollkommenheit
aufsteigenden Gattungen der Geschöpfe, über den Menschen die Engel
mit der ihnen zugeordneten Erkenntnisweise - Gott, dessen Rechnen die
Welt schafft. Und so mochte Leibniz, der von sich bekannte als Philosoph
zu beginnen, aber als Theologe zu enden, wohl in das Gebet einstimmen,
mit dem Kircher seine Musurgia schließt: O magne Harmosta, qui omnia
in mundo numero pondere et mensura disponis; dispone animae meae
enneachordon iuxta divinae voluntatis tuae beneplacitum . . .
Immortalis Kircherus,vir magnus,maximus,incomparabilis, so schreibt
und empfindet der 20jährige und noch der 24jährige Leibniz. War viel-
leicht der Gepriesene dem Maß, mit dem er hier gemessen wird, nicht
ganz gewachsen, so hat er noch viel weniger den geringschätzigen Ton
verdient, mit dem der 33jährige ce pere von ihm sagt. Aber aus dem
Wechsel des Urteils wird man etwas über den Wandel in Leibnizens
Selbstbewußtsein lernen können. Er fühlt sich als reifer Mann dem Vor-
gänger überlegen, der ihm als Werdendem das Wunschziel schon erreicht
zu haben schien: cocpíri, jtoXunafríri, xaXXiTexvir].
VIII
Persönliches
Z u Hermann Useners i oostem Geburtstag
I9J2
dient jene Anregung vielleicht auch heute nicht vergessen zu werden, und
für Loeschckes Freigebigkeit ist sie ein mir vertrautes Beispiel.
Loeschcke war in manchem ein Provinzler. Seinen sächsischen Sprach-
klang hat er nie abgelegt, und die mykenische „Püchelkanne", die ich
damals in mein Kollegheft notierte, wurde mir erst erheblich später als
Bügelkanne deutlich. Aber dieser Obersachse kannte die Mittelmeerländer,
hatte jahrelang | an der Universität Dorpat gelehrt, und mit jenem Pro-
vinzialismus kreuzte sich ein weiter Sinn und eine erhebliche Menschen-
und Weltkenntnis.
Der Student, an den langen Familientisch des Loeschckeschen Hauses
geladen, an dem sich die Mahlzeit ohne viele Förmlichkeit vollzog, konnte
über manches staunen, so wenn plötzlich einer der Söhne sich mit einem
„Du, Loeschcke" an den Vater wandte und die Respektlosigkeit gut
machte, indem er dem Vater eine eigene Beobachtung, vielleicht an römi-
schen Münzen oder Terra sigillata, berichtete. Der Reichtum der väter-
lichen Persönlichkeit schien sich unter die Söhne zu verteilen und in jedem
von ihnen zu eigener Art zu werden. D a war der Theologe, und von
evangelischer Theologie lebte im Vater viel. D a war der künftige Archäo-
loge, da war der Maler, und da war der Jüngste, der bildender Künstler
und Kunstforscher geworden ist. Selbst vom Arzt mochte der Vater etwas
in sich haben, das sich an einen Sohn und nun schon an seine Enkel ver-
erbt hat. Seien diese Blätter von einer Erinnerung begleitet, die mir lieb
ist, weil sie zeigt, wie es im Bonner Kunstmuseum zuging, und ein Zeugnis
ist von Loeschckes Fähigkeit des Schneidens und Heilens zugleich. Seine
Studenten oder einige unter ihnen hatten den Schlüssel zu den Glas-
schränken des Kunstmuseums und durften also die Sammlung antiker
Kleinkunst aus der Nähe studieren. Eines Tages war ich allein mit der
Duris-Schale. Sie fiel mir aus der Hand und zerbrach in viele Stücke -
wie sich nachher herausstellte, wohl vor allem in die Fragmente, aus denen
sie zusammengeleimt war. Ich war tief erschrocken und mußte Loeschcke
Meldung machen von dem, was ich begangen hatte. Er schwieg eine kurze
Weile und sagte dann ruhig: „Nun, hoffentlich haben Sie dabei etwas
gelernt."
„Werde ich nun eigentlich Philologe oder Archäologe?" fragte ich
ihn (und midi) gegen Ende meines Bonner Studienjahres. „Sie werden
Philologe mit starkem archäologischem Interesse!" war Loeschckes Ant-
wort. Und so ist es geworden.
Erinnerung an Wilamowitz
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EPIGRAMMATA
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Translated by Hans Meyerhoff. Bollingen Series L I X 3, Princeton University
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2nd revised and augmented edition. Princeton University Press, 1968.
Register
Neuzeit: Autoren- und Sachregister
Abert, H . 397; 419s 9 Boeckh, A. 184; 188 f.; 4 1 1 f.; 413 f.;
Alanus ab Insulis 647 42670, 72; 4 3 7 ; 4 4 é
Band 1
Seinswahrheit und Lebenswirklichkeit
3., durchgesehene und ergänzte Auflage
Mit 8 Tafeln und 1 Titelbild. X , 438 Seiten. 1964
Band 2
Band 3
Ernst Kapp
Ausgewählte Schriften
Herausgegeben von Hans und Inez Diller
Groß-Oktav. 337 Seiten. Mit 1 Bildnis. 1968. Ganzleinen D M 78,-
Eduard Norden
Kleine Schriften zum klassischen Altertum
Herausgegeben von Bernhard Kytzler
Mit 1 Bildnis Eduard Nordens. Groß-Oktav. X V I , 706 Seiten. 1966
Ganzleinen D M 88,-
Georg Rohde
Studien und Interpretationen
zur antiken Literatur, Religion und Geschichte
Mit 1 Frontispiz. Oktav. X , 322 Seiten. 1963. Ganzleinen D M 1 8 , -
W a l t e r de G r u y t e r & C o • Berlin 30