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Prudentiana II
Christian Gnilka
Prudentiana II
Exegetica
Dieser Band faßt Aufsätze zusammen, die, auf mehr als dreißig Jahre
verteilt, an verschiedener Stelle erschienen waren. Sie werden hier, abgesehen
von den beiden letzten Nummern, in chronologischer Reihenfolge geboten.
Ergänzend treten wieder Addenda hinzu. Die Gestalt der originalen Publika-
tionen wurde im Wesentlichen beibehalten. Allerdings habe ich es nicht über
mich gebracht, diejenigen Verse, die im ersten Bande als unecht erwiesen
wurden, im zweiten weiterhin als echt zu behandeln. Die dadurch bedingten
Veränderungen des Texts wurden durch spitze Klammern: < . . . > kenntlich
gemacht. Betroffen ist in nennenswertem Maß nur Nr. XII. Aus demselben
Grunde wird aber Nr. XV in einer Neubearbeitung vorgelegt. In der Reihe der
Prudentiana erscheint ein Catullianum (Nr. III), weil es Licht auf eine Szene
der Psychomachie wirft. Zwei der Arbeiten (Nr. XIV und Nr. XXI) greifen
weit über Prudentius hinaus. Fortgelassen wurden dafür fast alle Rezensionen,
auch die recht ausführlichen Besprechungen im Gnomon (1968. 1979. 1986.
1987). Lediglich die Verteidigung des Dichters, die mir eine Schmähkritik
seiner Poesie abnötigte, wurde aufgenommen (Nr. XX).
Die Zahl der Tafeln ist gegenüber den Erstpublikationen vermehrt. Ich
danke den Bibliotheken, Instituten und Museen für die gewährte Unterstützung.
Geschlossen wird der Band durch ein Stellen- und ein Wortregister. Das Stellen-
register hat wieder Markus Mülke gemacht, dem ich außerdem für die Erar-
beitung der Druckvorlage und überhaupt für treue Hilfe sehr zu danken habe.
Münster i.W.
August 2001 Christian Gnilka
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
XIV. Der neue Sinn der Worte. Zur frühchristlichen Passionsliteratur .... 322
XV. Der Gabenzug der Städte bei der Ankunft des Herrn 364
XVI. Der Mensch als Hausherr der Schöpfung bei Prudentius 428
XVII. Verkannte Genitive bei Prudentius 431
XX. Die frühe Kirche und die antike Kultur. Zu einem neuen Pru-
dentiusbuch 457
XXI. Die vielen Wege und der Eine. Zur Bedeutung einer Bildrede
Register
I.Stellen 599
1. Bibel 599
2. Prudentius 604
3. Andere Autoren 616
4. Kirchliche Dokumente neuerer Zeit 637
II. Wörter 638
Zu den Abbildungen 646
Tafel I-XVI
I.
In seiner Gebetssatire (sat. 10) geißelt Juvenal die Torheit der Men-
schen, die in unbedachtem, naivem Glücksstreben solche Güter wie Macht,
Beredsamkeit, Kriegsruhm, langes Leben und Schönheit, deren Besitz mitun-
ter recht gefährlich sein kann, von den Göttern erflehen. Dieses Thema der
Satire wird in den Versen 54/55 bündig formuliert:
Auf die vielen Schwierigkeiten, die diese beiden Verse, namentlich der kor-
rupt überlieferte Vers 54, den Textkritikern bereiteten, wollen wir nicht ein-
gehen. Der oben ausgeschriebene Text folgt dem Herstellungsversuch von
Bickel, auf dessen eingehende Behandlung der Stelle hier verwiesen sei1. Uns
interessiert in erster Linie der Sinn des Ausdrucks genua incerare deorum.
Was heißt das: die Knie der Götterbilder "einwachsen"? Aufgrund des Zu-
sammenhangs - Gebet an die Götter - kann es als sicher gelten, daß Juvenal
hier auf die Vota anspielt. Freilich müssen nicht unbedingt die Wachstäfelchen
selbst gemeint sein, auf die man die Gelübde schrieb; wohl noch näher liegt
es, an den Brauch zu denken, die Vota entsprechend ihrem Charakter als
Verträge mit der Gottheit2 auf den Statuen zu versiegeln3. So erwähnt Philo-
strat einmal eine alte Statue, deren Schönheit mit der Zeit arg gelitten habe;
daran seien u.a. diejenigen schuld, die ihre Gelübde (darauf) versiegeln4, und
von Apuleius erfahren wir, daß die Schenkel der Statuen ein bevorzugter Platz
für die versiegelten Vota waren5. Allerdings kommt nicht viel darauf an, ob
Juvenal nun die Wachstäfelchen oder die Siegel meint. Entscheidend für das
Verständnis der Stelle ist vielmehr die Tatsache, daß incerare weder für das
Bedecken der Statuen mit Wachstafeln noch für das Versiegeln der Vota | auf
den Götterbildern eine geläufige Bezeichnung gewesen sein kann; denn incerare
heißt sonst "mit Wachs bestreichen", "mit Wachs überziehen" oder kurz:
"einwachsen"6.
Die Wahl gerade dieses Verbums kann daher hier nur eine ironische
Übertreibung bedeuten. Welch wichtige Rolle Hyperbeln und übertreibende
Metaphern bei dem Satiriker spielen, weiß jeder Leser Juvenals; daß es jedoch
auch verkannte Fälle gibt, deren Verständnis erst durch eine einfühlende In-
terpretation wieder erschlossen werden muß, hat Harrison überzeugend dar-
getan7. Den von ihm behandelten Beispielen ließe sich die Junktur genua incerare
durchaus zur Seite stellen8. Vielleicht darf man aber hier noch einen Schritt
weiter gehen: nicht nur in der Übertreibung scheint der Witz zu liegen, son-
2 Vgl. G. Wissowa, Religion und Kultus der Römer2 (1912) 381f.; K. Latte, Rom. Reli-
gionsgeschichte (1960) 46f.
3 So verstand wohl auch der Scholiast (165 Wessner): genua incerare deorum: in signis;
insignare (σφραγίζειv? so Du Cange 4, 379); votafacere. Vgl. im übrigen L. Friedländer,
Juvenalis Saturae (1895) zSt., dessen Notiz allerdings insofern irreführend ist, als er gerade das
Siegeln der Vota nicht erwähnt und die darauf bezüglichen Stellen auf ein Ankleben bestimmter
Tafeln mit Wachs deutet.
4 Philostr. her. 9, 6: περιτρίψας δέ αυτό (sc. τό άγαλμα) ό χρόνος καν νή Δι' οί
άλείφοντές τε καν ον έπνσφραγιζόμενον τάς εύχάς έξηλλάχασν τοΰ είδους.
5 Apul. apol. 54: votum in alicuius statuae femore signasti. Bei Lucian. philops. 20 ist
von Silbermünzen und Silberblättern (πέταλα) die Rede, die als Votivgaben an den Schenkel
einer Statue mit Wachs angeklebt sind.
6 Vgl. Varro Men. 76; Cels. med. 8, 8, 1; Porphyr. Hör. sat. 2, 3, 8 (297 Holder). Die
Prudentius-Stellen sind wegen ihrer besonderen Problematik hier zunächst absichtlich fortge-
lassen.
7 E. L. Harrison, Neglected Hyperbole in Juvenal: ClassRev 74 (1960) 99/101.
8 Die ironische υπερβολή des "Einwachsens" wird von den modernen Erklärern und
Lexikographen meistens verkannt, von den Übersetzern durch eine allzu freie Wiedergabe zerstört,
worin sie das Schicksal der von Harrison behandelten Hyperbeln voll und ganz teilt. Nur selten
finden sich in der Literatur Hinweise auf den satirischen Gehalt des Ausdrucks. So notiert C.F.
Heinrich im Juvenalkommentar (2 [1839] 384) zu incerare·. "Komisch" und Georges im lat.-dt.
Wörterbuch: "Scherzhaft, übertragen". Auch Bickel hat zweifelsohne den Witz erkannt, wie
seine Bemerkung aO. 91 zum Ausdruck fas est beweist.
[53/54] I. Das Einwachsen der Götterbilder 3
Eine der absurden kultischen Handlungen, die der poeta christianus hier
anprangert, lautet: genua incerare Dianae (457, Schluß). Der wörtliche An-
klang an gleicher Versstelle läßt erkennen, daß Prudentius die Junktur tat-
9 Vgl. L. Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms 310 (1923) 196.
4 Prudentiana II. Exegetica [54]
10 Die formale Übereinstimmung ist immer gesehen worden, schon Ar6valo führt in seiner
Prudentiusausgabe (Rom 1788/89: PL 59, 961 C/D) den Juvenalvers an, ebenso wie die moder-
nen Editoren Bergman (CSEL 61 [1926] 458) und Lavarenne (2 [Paris 1945] 19); auch F. X.
Schuster, Studien zu Prudentius (1909) 92 verzeichnet die Imitation. Unlängst hat Stella Marie,
Prudentius and Juvenal: Phoenix 16 (1962) 43 die Apotheosis-Stelle neben ham. 404f. und
Symm. 1,203f. als besonders eindeutigen Fall wörtlicher Juvenal-Imitation bei Prudentius hervor-
gehoben, ohne jedoch hier über die rein formale Ähnlichkeit hinaus weiter vorzudringen.
11 Wieviel sinnfälliger steht doch lambere (456) in der Bedeutung von oscularil
[54/55] I. Das Einwachsen der Götterbilder 5
öfters bei Prudentius, durch den allgemeinen Ton der Passage 455/59 an die
Satire erinnert fühlen12. Selbst ein sehr aufmerksamer Prudentius-Leser, der
mitten in dieser ziemlich breiten Schilderung verschiedener Akte der Götter-
verehrung auf das "Einwachsen" stößt, wird Mühe haben, das Wort im Sinne
Juvenals zu begreifen. Wenn Prudentius wirklich die Pointe | Juvenals repro-
duzieren wollte, dann hat er das, so müssen wir folgern, nicht eben geschickt
angestellt. Aber schon angesichts dieser ersten Stelle müssen sich Zweifel
regen, ob das seine Absicht gewesen sein kann.
Wenden wir uns nun der zweiten Stelle zu! In der Hamartigenie (389ff.)
schildert Prudentius die menschlichen Laster, die dem Teufel und seiner Die-
nerschar als "schreckliche Waffen" im Kampf gegen die Seelen dienen. Auf
eine drei Verse füllende asyndetische Reihung allgemeiner Lasterbegriffe (395/
97) folgt eine ausführlichere Darstellung menschlichen Treibens. Die entschei-
denden Verse lauten (ham. 40Iff.):
Wie in der Apotheosis erscheint auch hier das Einwachsen der Statuen
innerhalb einer Schilderung gottlosen, verkehrten Verhaltens. Doch in diesem
Fall beschränkt sich die Erörterung nicht auf das Gebiet heidnischer Religion,
sondern greift viel weiter aus. Neben törichte Beredsamkeit und entartete Phi-
losophie tritt als selbständiges Glied heidnische Superstition. Das Einwachsen
der Statuen steht somit als Charakteristikum heidnischer Kultübung überhaupt,
wie denn auch die idololatrix religio selbst als handelndes Subjekt auftritt. Auf
den wörtlichen Anklang an Juvenal hat Prudentius hier verzichtet, wobei der
Ersatz des Details genua durch den allgemeineren Begriff lapides besonders
aufschlußreich ist. Mit dem Verzicht auf den formalen Anklang an Juvenal
12 Vgl. Α. H. Weston, Latin Satirical Writing Subsequent to Juvenal, Diss. Yale (Lancaster/
Pa. 1915) 43/56; A. Salvatore, Studi Prudenziani (Napoli o.J.) 372S. Freilich steht es hier doch
insofern etwas anders, als Prudentius' Bewunderung für den Kriegshelden, Gesetzgeber und
Redner Julian aufrichtig ist; der Ausdruck augustum caput (455) hat sicher nichts Ironisches.
Zum Einfluß Juvenals auf die christliche Spätantike im allgemeinen s. neben Highet aO. 183ff.
jetzt auch D. S. Wiesen, St. Jerome as a Satirist (Ithaca/New York 1964) = Cornell Studies in
Class. Philology 34, Reg. s.v. Juvenal.
6 Prudentiana II. Exegetica [55/56]
fällt nun einerseits die letzte Stütze für das Verständnis des hyperbolischen
Charakters von incerare, andererseits scheidet aber auch die Möglichkeit ei-
ner bloß ungeschickten Verwendung der übernommenen Junktur aus. Es kann
sich hier also nicht etwa um ein Versagen dichterischer Gestaltungskraft han-
deln, der Unterschied des Gebrauchs von incerare bei Juvenal und Prudentius
muß vielmehr tiefer im Sachlichen begründet sein. Kurzum: man wird den
Verdacht nicht los, daß Prudentius die Hyperbel bei Juvenal ebenso wie man-
che moderne Interpreten nicht erkannte und infolgedessen an ein wirkliches
Einwachsen der Götterbilder glaubte.
Dieser Verdacht wird zur Gewißheit durch eine dritte Stelle, an der
Prudentius nicht das Verbum incerare gebraucht, sondern umschreibt, was er
darunter versteht. Im ersten Buch des Gedichts gegen Symmachus erörtert
Prudentius den Grund für das lange Fortbestehen des Heidentums (197ff.). Er
sieht den Grund in der starken Wirkung, die die heidnische Religiosität schon
in früher Kindheit auf den Menschen ausübt, und unterscheidet unter diesem
Gesichtspunkt drei Stufen der Einflußnahme: die Eindrücke des Säuglings in
der Wiege (201/07), die Zeit erster Teilnahme an der Götterverehrung im
Hause (208/14) und schließlich die Erlebnisse des Kindes, wenn es das Haus
verläßt (215/44). Den Einfluß paganer Religiosität auf den Säugling schildert
er folgendermaßen (Symm. 1, 201ff.):
Das Kosten vom Opfermehl, der Anblick der mit Wachs bestrichenen
Statuen (203: saxa inlita ceris) sowie der schwarzen öltriefenden Hausgötter
und der Mutter, die vor dem Bild der Fortuna mit dem Füllhorn inbrünstig
betet, - das sind also nach Prudentius die ersten nachhaltigen Eindrücke heid-
nischer Superstition auf das kindliche Gemüt. Was den Ausdruck saxa inlita
ceris angeht, der uns hier vornehmlich interessiert, so dürfte aus dem Zusam-
menhang von vorneherein ersichtlich sein, daß er sich auf einen kultischen
[56] I. Das Einwachsen der Götterbilder 7
Vorgang beziehen muß, nicht auf einen technischen, wie Blümner glaubte13;
er wertet die Stelle als Beleg für die Wachstränkung, jenes kunstvolle Verfah-
ren der Alten, den Marmorstatuen, namentlich deren nackten Teilen, durch
eine Salbe aus Öl und Wachs einen glatten, gelblichen Firniß zu geben. Doch
kann das hier eben nicht gemeint sein: der Zusatz inlita ceris (sc. saxa) ist an
dieser Stelle überhaupt nur sinnvoll, wenn er mit dem Einfluß des Götzendien-
stes auf das Kind in unmittelbarem Zusammenhang steht. An Wachstäfelchen
zu denken, verbietet sich natürlich ebenfalls14. Aber auch die Siegel der Vota
kommen nicht in Frage; denn das hieße doch die Beobachtungsgabe des "schrei-
enden Säuglings" beträchtlich überschätzen: Prudentius nennt ja auch sonst
hier nur ganz große, einfache Impressionen. Überdies paßte das kaum zur
gewählten Formulierung15. Da Prudentius zudem die mit Wachs bestrichenen
Statuen in einem Atemzug mit den öltriefenden Laren nennt, kann man schwer-
lich umhin festzustellen, Prudentius habe an ein dem bekannten "Ölen" der
Statuen entsprechendes "Wachsen" der Götterbilder geglaubt16, eine kultische
Handlung, deren Absurdität ihn offensichtlich tief beeindruckte, da er dreimal
in verschiedenen Gedichten darauf zu sprechen kommt. Hat man dieses Miß-
verständnis einmal erkannt, dann ergibt sich für alle drei Passagen eine zwang-
lose Interpretation.
Daß ein solches Mißverständnis bei Prudentius nicht völlig unerhört ist,
beweist ein anderer Fall, den bereits Lavarenne notierte17. Es war römischer
Brauch, zu bestimmten Gelegenheiten Rasenaltäre zu errichten. Bei Prudentius
13 H. Blümner, Technologie und Terminologie 3 (1884) 202,. Auch der dort zitierte
Juvenalvers (sat. 12, 88) hat mit der Wachstränkung nichts zu tun, wie Blümner selbst an
anderer Stelle nachweist (aO. 2 [1879] 155 t ): in diesem Fall muß es sich um κήρινα πλάσματα,
Figuren der Laren aus Wachs handeln; denn sonst wäre das Attribut fragili (sc. cera)
unverständlich.
14 Wohl nur versehentlich weist Lavarenne auch zu dieser Stelle auf die Wachstafeln hin
(Prudentiusausgabe 3 [Paris 1948] 1433).
15 Der Versschluß inlita ceris stammt übrigens aus Ovid (met. 8, 670) und wäre im Index
imitationum bei Bergman noch nachzutragen. Dort ist von Holzbechern die Rede, die innen mit
Wachs überzogen sind. Vgl. Gow zu Theocr. id. 1, 27. Notiert ist die Reminiszenz in der
freilich recht unkritischen Zusammenstellung von M. Liguori Ewald, Ovid in the Contra orationem
Symmachi of Prudentius = The Catholic University of America, Patristic Studies 66 (Diss.
Washington 1942) 60.
16 Schon Ardvalo (PL 59, 961 C/D) zog aus Symm. 1, 203 den richtigen Schluß, daß ein
tatsächliches Wachsen gemeint sein müsse, ohne allerdings das Mißverständnis zu erkennen: er
nahm den Irrtum des Dichters für bare Münze und glaubte an die Existenz eines solchen Brauchs!
Zum Salben der Statuen mit Öl vgl. etwa Arnobius 1, 39: si quando conspexeram lubricatum
lapidem et ex olivi unguine sordidatum ... eqs. Die übrigen Belege s. bei J. Martin zu Min. Fei.
3,1 (Ausgabe [1930] 13 = Florilegium Patristicum 8).
17 M. Lavarenne, Prudentiusausgabe 4 (Paris 1951) 752; 223 (note 5 zu p. 126).
8 Prudentiana II. Exegetica [56/57]
jedoch erscheint Rasen | neben Weihrauch als Opfergabe für die Götter18! Es
ist eine ansprechende Vermutung Lavarennes, daß Prudentius dabei solche
Stellen wie Hör. carm. 1,19,13/16 vor Augen hatte, wo caespes metonymisch
für ara e caespite facta steht, und zwar in einer Reihe mit Kräutern, Weih-
rauch und Wein.
Derartige Mißverständnisse sind nun innerhalb des ganzen prudentiani-
schen Werkes gewiß nur Kuriosa. Aber auch sie können etwas über die Situa-
tion und Arbeitsweise des Dichters aussagen. Das Heidentum war zu der Zeit,
als Prudentius schrieb, zwar noch keineswegs tot, aber ganz entschieden auf
dem Rückzug. Die Tempel waren zerstört oder geschlossen, die Ausübung des
heidnischen Kultus nicht nur im öffentlichen, sondern auch im privaten Leben
durch kaiserlichen Erlaß verboten19. In dieser Umwelt konnte sich der spani-
sche Christ kaum eine lebendige Anschauung aller Details des alten römischen
Kultus erwerben. Für ihn blieb die Literatur, und da vor allem die Poesie, die
Hauptquelle seines Wissens über die Bräuche des heidnischen Rom. Die Miß-
verständnisse beweisen, wie fern Prudentius dem alten Götterglauben in Wirk-
lichkeit schon stand.
18 Die Formulierung per. 5,50/52 ist ganz eindeutig, da hier ara von caespes unterschieden
wird: der Märtyrer soll auf dem Altar mit Weihrauch und Rasen opfern! Vgl. ferner apoth.
186f.; per. 10, 186f.
19 Cod. Theod. 16, 10, 20; vgl. Latte, Religionsgesch. 370f.
II.
NOTIZEN ZU PRUDENTIUS *
1. Mensis Ianuarius
Symm. I 237/40:
Hier ist vom Januskult an den Kaienden die Rede, d.h. an den Kalendae
Ianuariae; denn auf das Neujahrsfest, dessen Ausgelassenheit die Kirchen-
väter so oft angreifen1, müssen sich natürlich die erwähnten epulae und gaudia
beziehen. Schwierigkeiten | bereitet innerhalb der oben ausgeschriebenen Verse
allein der Ausdruck celebri de mense. Lavarenne, und mit ihm alle anderen
Übersetzer, fassen ihn als Zeitangabe nach dem Muster von de die, de nocte
("noch im Verlauf des Tages, der Nacht"); als nächste Parallele gilt Cicero ad
Qu. fr. II 1, 3 : f a c ..., ut... naviges de mense Decembri. Aber damit kommt
man hier nicht durch. Lavarennes Übersetzung, die als repräsentativ für die
übrigen stehen mag, zeigt die Schwierigkeit deutlich: "... on offre ä Janus,
quand arrive un mois fameux, des festins sacres en observant les presages..."
usw. Selbst wenn man mensis celeber als Umschreibung für den Ianuarius
noch gelten lassen wollte, so ergibt doch de, temporal gefaßt, keinen Sinn: zu
Beginn des Monats, eben an den Kaienden, nicht im Verlauf des Januar findet
das Fest statt2. Lavarenne bemüht sich daher, die zeitliche Fixierung des Fe-
stes auf den Monatsanfang in seiner Wiedergabe zu berücksichtigen (quand
arrive un mois fameux), entfernt sich aber damit weit von der angenommenen
Bedeutung der Präposition3.
Wie der Ausdruck de mense zu verstehen ist, zeigt die anschließende
Bemerkung über den Augustuskult (V. 245ff.): die Nachwelt folgte dem Bei-
spiel der Alten (hunc morem veterum ... secuta Posteritas) und ehrte Augu-
stus: mense atque adytis etflamine et aris. Hier steht der bloße Instrumentalis,
oben die Präposition im gleichen Sinn; de mense hängt vom Adjektiv celebri
ab, das seinerseits als Dativ zu Iano gehört. Der Ersatz des Instrumentalis
durch Präpositionen, namentlich durch de, ist eine bekannte sprachliche Er-
scheinung des Spätlateins4, begegnet jedoch auch schon früher. Ovid am. III
5 , 6 {area) umida de guttis | liefert ein besonders klares Beispiel5. Freilich läßt
2 Auch wenn sich das Kaiendenfest über fünf Tage hinzieht (vgl. Nilsson a.O. 217f.) -
das liegt hier in ducunt -, so bleibt es selbstverständlich immer ein Fest des Monats- und Jahres-
anfangs!
3 Daß seine Übersetzung im Grunde ohne eine solche Präzisierung gar nicht verständlich
wäre, beweisen die in Klammern beigefügten Zusätze, mit denen er in der Etude (§ 389 p. 162)
die wörtliche Wiedergabe zu verdeutlichen sucht: "On offre ä Janus, en un mois solennel (c'est-
ä-direaumoisdejanvier, le premier janvier), des mets consacres,...". - Falsch ordnet übrigens
auch Probst im ThLL III 738, 73 s.v. celeber die Prudentiusstelle ein.
4 S. dazu Leumann-Hofinann-Szantyr, Lat. Gramm. II 125f. mit der gesamten dort aufge-
führten Literatur, die jetzt noch durch G.A. Beckmann, Die Nachfolgekonstruktionen des in-
strumentalen Ablativs im Spätlatein und im Französischen = Zeitschr. f. roman. Philol., Beih.
106 (1963) zu ergänzen wäre.
5 Ebenso Ov. trist. III 3, 82 deque tuis lacrimis umida serta dato; vgl. Löfstedt, Kommen-
tar zur Peregr. Aeth. 104. Weitere Belege gibt der ThLL V 62, 18ff. Aus dem Bereich der
christlichen Poesie seien noch hinzugefügt Juvenc. II 245 (fundus) Iacob de nomine pollens und
Sedul. carm. pasch. II 23 (Dei imago) dissimilis de morte (vgl. ebd. 226).
[86/87] II. Notizen zu Prudentius 11
sich die instrumentale Bedeutung von der kausalen oft nicht trennen6; das gilt
vor allem dann, wenn es nicht ein Verbum, sondern ein Adjektiv ist, das durch
den Präpositionalausdruck näher bestimmt wird. Bei Prudentius findet sich de
statt des bloßen kausalen bzw. instrumentalen Ablativs ungemein häufig7; vgl.
z.B. cath. 6, 81f. agnum de caede purpurantem, ham. 417 (tela) de sanguine
tincta, ebd. 374 hilaram defunere plebem. Als Beispiel für die gleiche Kon-
struktion eines mit celeber bedeutungsverwandten Adjektivs sei schließlich
noch Tert. resurr. 13,2 (avem Phoenicem) de singularitate famosum genannt.
Es geht Prudentius hier um die Monatsnamen. Wie die Alten dem latini-
schen König (vgl. V. 233) Janus, also einem Sterblichen, einen eigenen Monat
weihten und den Januar nach ihm benannten, so verfuhren auch die "gelehri-
gen" Nachfahren bei der Vergottung des Augustus. In beiden Fällen war die
Ehrung ungerechtfertigt und unerhört. Der Gedanke paßt ganz in die euheme-
ristische Beweisführung des ersten Buches gegen Symmachus, und der Verlust
dieses charakteristischen Zuges ist der größte Nachteil der herkömmlichen
Interpretation. Erst jetzt erhält auch etiam in V. 237 seinen vollen Sinn. War
Janus schon vorher (V. 233) innerhalb einer Aufzählung der reges prisci ge-
nannt, so werden nun mit etiam die ihm allein erwiesenen, weit höheren Eh-
rungen steigernd eingeführt: Tros, Italus, Sabinus, Saturnus und Picus besit-
zen nur je eine Statue und eine vetusta arula, Janus ist darüberhinaus sogar
titulo mensis celebratus und erhält an den Kaienden des Januar festliche Opfer.
Etiam gehört ebenso zum Attribut celebri wie zur ganzen Aussage litatur
auspiciis epulisque sacris ... eqs.8.
Mit V. 237 und 246 berührt Prudentius die Thematik der ovidischen
Fasten; denn auf die αϊτια der Monatsnamen legt ja Ovid stets großen Wert.
Es wird daher wohl kaum ein Zufall | sein, daß dort eine ähnliche Junktur
begegnet wie bei Prudentius9. Zu Beginn des vierten Buches der Fasten heißt
es (fast. IV 13): venimus ad quartum, quo tu (sc. Venus) celeberrima mense.
6 Hierzu vgl. etwa Schrijnen-Mohrmann, Studien zur Syntax der Briefe des hl. Cyprian I
(Nijmegen 1936) 111.
7 Vgl. Lavarenne, Etude §§ 391/93.
8 Die Ablative auspiciis und epulis sind modal zu fassen; Lavarennes Übersetzung fuhrt,
was den Ausdruck epulisque sacris anlangt, auch in diesem Punkte irre.
9 M. Liguori Ewald, Ovid in the c. or. Symm. of Prudentius (Washington 1942) = The
Catholic University of America, Patristic Studies vol. 66, 5 Iff. trägt zu dem hier behandelten
Passus reiches Material zusammen, das sich jedoch bei kritischer Prüfung viele Abstriche gefal-
len lassen muß. Die Fastenstelle erscheint (S. 55) zudem in so gekürzter Form, daß unklar
bleibt, ob die Parallelität von fast. IV 13 und Symm. II 237 voll erkannt ist.
12 Prudentiana II. Exegetica [87/88]
Die Kommentatoren fassen quo ... mense temporal10, doch ist das zumindest
unnötig; ja im Hinblick auf den Kontext erscheint die Interpretation des Aus-
drucks als instrumentaler oder kausaler Ablativ sogar entschieden besser; Ovid
kommt es hier zunächst auf die Etymologie des Aprilis an, der von dem grie-
chischen Namen Aphrodite abgeleitet wird", und in diesem prägnanten Sinne
versichert er, der Monat gehöre Venus (14) und dürfe ihr nicht streitig ge-
macht werden (85; 115). Wenn Prudentius, wie wir vermuten dürfen, den
Ovidvers im Kopfe hatte, dann verstand er ihn zweifellos richtig.
2. Di cognati
Symm. I 180/85:
10 "In dem du besonders verehrt wirst" (Börner); ebenso erklärt R. Cornali (I Fasti [Torino
1926] 65 ad loc.). Ob das überhaupt sachlich zu rechtfertigen wäre, mag dahingestellt bleiben.
Immerhin fallen die Stiftungstage der Venus Ubitina und der Venus ad Circum Maximum (19.
Aug.) sowie der Venus Genetrix (26. Sept.) außerhalb des April, für den somit nur noch die
Dedikationstage der Venus Verticordia (1. April) und Venus Erucina (23. April) übrig sind.
Vgl. dazu den Festkalender bei Latte, Rom. Religionsgesch.
π Fast. IV 61ff. Vgl. dazu Börner in der Einleitung seiner Ausgabe (Bd. 141f.).
12 So Brakman: Mnemosyne 49 (1921) 107, dem die modernen Übersetzer folgen; vgl.
auch Rodriguez-Herrera in der spanischen Prudentiusausgabe von Guillen (Madrid 1950) 376.
Lavarenne, Etude § 383 gibt eine andere Erklärung, die jedoch in sich nicht schlüssig ist: "dieux
parents de Mars (Jupiter et Junon, son p£re et sa m£re)". Die Apposition bezieht sich ebenso auf
Pallas, ganz abgesehen davon, daß cognatos die angenommene Bedeutung (parents) niemals
haben könnte.
[88/89] II. Notizen zu Prudentius 13
fe, so stünde dieses Beispiel bei Prudentius ganz allein; denn de vertritt zwar
mitunter einen partitiven Genitiv13, für den Ersatz eines Genitivus subiectivus
durch die Präposition findet sich jedoch bei Prudentius kein einziger eindeuti-
ger Beleg14. Aber auch an dieser Stelle empfiehlt sich eine andere Lösung. De
ersetzt einfach ab, wie das ja eine ganz allgemeine Erscheinung des späteren
Lateins ist15: a Marte hieße es für gewöhnlich, nach dem Muster von a patre,
a matre (προς μητρός)16. Zu cognatos ist in Gedanken sibi (sc. Italis avis) zu
ergänzen. In Jupiter, Juno und Pallas erblickten die italischen Vorfahren, d.h.
in diesem Kontext: die Römer der Vorzeit, ihre Verwandten "von Mars her"!
Glänzend bewährt sich hier der alte Kommentar von Arevalo, der als einziger
das Richtige getroffen hat; im Anschluß an die Erörterung der Konjekturen
Früherer - sie zeigen, welche Schwierigkeiten die Stelle seit jeher bereitete - ,
bemerkt er (PL 60,133 D): Ego puto, a Prudentio clare vocari Iovem, Palladem
et Iunonem deos Romanorum cognatos de Marte, sive ex parte Martis. So
verstanden wird die Apposition überhaupt erst sinnvoll. Es ist wichtig, sich
den Zusammenhang mit dem Voraufgehenden (V. 164ff.) zu vergegenwärti-
gen: Mars und Venus gelten als parentes Romae, beide hält man obendrein für
Götter, obgleich die Tatsache ihrer | Vereinigung mit Sterblichen das Unwür-
dige einer solchen Vorstellung zur Genüge beweist; dieser Wahn brachte die
Römer dazu, Mars kultisch zu verehren, und nicht nur ihn, sondern zugleich
auch den "Ahnherrn" Jupiter (V. 183), Minerva und Juno, mit denen sie sich
durch Mars verwandt glaubten. Die Apposition cognatos de Marte deos gibt
also die Motivierung für den Kult der kapitolinischen Trias. Das ist der präzise
Sinn. Auch der Venuskult - das ist im folgenden ausgeführt (185ff.) - zog die
Verehrung anderer Götter, der Magna Mater und des Bacchus, nach sich. In
diesem Fall beruht die Verbindung der Gottheiten wohl auf einer allgemeinen
Assoziation seitens des christlichen Dichters (Stichwort: orgia in V. 188!).
13 Vgl. Lavarenne, Etude § 387. Seine Stellensammlung muß freilich kritisch benutzt wer-
den; apoth. 687, ditt. 132 {de fonte lavari) gehören kaum hierher: Ersatz des Instrumentalis ist
wahrscheinlicher. Zur Verwendung der "Teilungsformel" im allgemeinen vgl. Leumann-Hof-
mann-Szantyr, Lat. Gramm. II 58f.
14 Auch Brakman a.O. bringt keine überzeugende Parallele; in per. 6, 130 de corporibus
sacris favillae bezeichnet de die Herkunft (so auch Lavarenne, Iitude § 384) und ham. 212 iam
non obstanti locuples de corpore praedo gehört zu den oben S. 9f. [85f.] besprochenen Fällen,
in denen de den kausalen, bzw. instrumentalen Ablativ vertritt (locuples de ...).
15 Vgl. Leumann-Hofmann-Szantyr, Lat. Gramm. II 263.
16 Vgl. etwa Gaius inst. 1156 α patre cognati; de steht im gleichen Sinne z.B. bei Apuleius
Plat. I I de utroque (sc. de patre et matre) nobilitas satis clara und bei <Pseudo-> Prudentius
psychom. 75 (Christum) mortali de matre hominem, sed cum patre numen [vgl. Prudentiana I
486, Anm. 68],
14 Prudentiana II. Exegetica [89/90]
3. Homo exterior
Ham. 12/13:
π Guillen mag die Schwierigkeit erkannt haben; er versucht sie, allerdings ohne Erfolg, in
seiner Übersetzung zu umgehen: "el Capitolio, erigido con las piedras del Palatino"; condere
wird überdies in der Bedeutung von aedificare nie mit dem Ablativ des Mittels verbunden.
18 S. dazu die Fußnote in der Ausgabe von Thomson vol. I (Loeb Library [1949]) 364.
Vgl. auch Symm. I 550 Euandria curia als Bezeichnung für den Senat.
19 < Vgl. dazu Prudentiana 1219/27, besonders 225, wo auf diesen Aufsatz Bezug genom-
men wird. >
20 Prudentius, Hamartigenia with introduction, translation and commentary by J. Stam
(Amsterdam 1960) p. 138 ad loc.
[90/91] II. Notizen zu Prudentius 15
Wort so ein (exterior = alienus ab ecclesia). Freilich sind die anderen dort
genannten Belege nicht völlig kommensurabel; denn sonst wird exterior über-
all durch den Zusammenhang, bisweilen auch durch einen Ablativus separ.
hinreichend gestützt, wie z.B. bei Prosper epigr. 42, 4: a vera semper luce fit
exterior (sc. peccator)21.
Es liegt hier gewiß näher, an 2 Cor. 4, 16 zu denken: etsi exterior homo
noster corrumpitur, sed interior renovatur ... eqs. (Itala). Die Junktur homo
interior gebraucht Prudentius Symm. II 184f. im gleichen Sinn; zur Verbin-
dung von exterior und terrenus wäre etwa Faustus Rei. epist. 3, 9 (CSEL 21,
212) exterior et terrenus homo zu vergleichen. Zur Konstruktion: terrenus
steht nicht prädikativ, denn das ergäbe einen unerträglich trivialen Sinn. Es
handelt sich vielmehr um eine hervorhebende Periphrase vom Typ: ipse ego
sum, ... quifacio (Symm. II 220f.). Beide Adjektive stehen attributiv zu homo.
Der Satz muß also folgendermaßen verstanden werden: exterior, terrenus homo
est (sc. non interior, caelestis), qui... eqs.
<Der Gedanke, an dem Entstehen der dualistischen Häresie sei der
äußere, irdische Mensch schuld, ist paulinisch: nach Gal. 5, 19f. gehören
αιρέσεις zu den έργα της σαρκός. Prudentius entwickelt den Gedanken in
der Praefatio und verfolgt ihn im Übergang zum Hauptgedicht weiter. Der
Brudermörder Cain und sein erdhaftes Opfer werden als figura für das Fleisch
gedeutet (Stichwort terra: ham. prf. 50f.); das sündenschwangere Fleisch sen-
det Geschosse gegen die Seele, die Folge ist ein Anfall von Wahnsinn der
Seele, der zur dualistischen Häresie führt: ham. prf. 32/35 und 48/63. Die
eingeschalteten Verse 36/47 über Marcion sind unecht; vgl. Prudentiana I
291/356, bes. 341. Sie dürften eine Mitschuld daran tragen, daß der Ausdruck
exterior, terrenus homo öfters mißverstanden wurde22, weil sie die Entfaltung
der Allegorie Cain gleich caro durchkreuzen. >
Die Antinomie Leib-Seele spielt bei Prudentius überhaupt eine ent-
scheidende Rolle, - es mag genügen, an psychom. 899/909 und cath. 10, 21/
32 zu erinnern. Besonders bezeichnend jedoch für die tiefe Wirkung dieser
anthropologischen Vorstellung auf Prudentius ist die Tatsache, daß er sogar
21 Tert. praescr. 42, im Thesaurus als Parallele zu ham. 12 notiert (exterior = haereticus),
bietet an der entscheidenden Stelle einen unsicheren Text.
22 Unter den modernen Prudentius-Übersetzern kommt Thomson der Wahrheit am näch-
sten, wenn er auch die Konstruktion verkennt: "The outer man is of the earth, and seeing such
things ..." usw.; Guillen übersetzt exterior nicht mit. Am weitesten weicht Lavarenne ab (Prudence
tome II, Paris 1945): "II faut etre superficiel et terre ä terre pour conjecturer ..." usw.
16 Prudentiana II. Exegetica [91/92]
4. Visus conspicui
Harn. 863/66:
Zur Junktur visus conspicuos äußert sich Stam nicht; auch im Thesaurus
s.v. conspicuus ist sie nicht verzeichnet. Faßt man visus — oculi (acies) wie
wenige Verse später (883f.) nostris ... visibus, so muß man eine neue, aktive
Bedeutung des Adjektivs conspicuus ansetzen ("deutlich sehend"), soll jedoch
dem Adjektiv sein geläufiger Sinn erhalten bleiben, ist man zur Annahme des
in dieser Bedeutung ganz ungewöhnlichen Plurals visüs = aspectüs (sc.
animarum) gezwungen. Eine Enallage des Adjektivs schließlich wäre in dem
Fall kaum verständlich.
Hier hilft Boethius cons. 3 carm. 9, 23f. weiter: da (sc. pater) fontem
lustrare boni, da luce reperta In te conspicuos animi defigere visus. Die
Junktur conspicuos visus darf angesichts ihrer Seltenheit und des ähnlichen
Zusammenhangs, in dem sie hier | steht (oculi animi\), getrost als sichere
Prudentius-Reminiszenz in den Indices imitationum unserer Boethiusausgaben
nachgetragen werden. Damit steht fest, daß Boethius jedenfalls conspicuus als
Adjektiv mit aktiver Bedeutung faßte. Hinzukommt noch eine weitere Stelle
bei Paulinus von Nola (carm. 16,89f.): qui (sc. Felix)prope conspicuo subductus
ab ore sequentum Infestos utcumque timens vitaverat enses. Dazu hat bereits
v. Härtel im Index verborum seiner Ausgabe das Richtige notiert23. Man geht
also wohl auch bei Prudentius kaum fehl, wenn man conspicuus zu den gar
nicht wenigen Adjektiven mit veränderter Bedeutung rechnet24.
5. Apotheosis
29 Vgl. Unger: Franciscan Studies 6 (1946) 41/46; über die Verwendung von θεοποίησις
und θεοποιεΐν unterrichtet das Lexicon Athanasianum von G. Müller (Berlin 1952).
30 Zwischen Teil II und III steht ein längerer Exkurs über die Seele (782/951); vgl.
Bardenhewer a.O. Lavarennes detailliertere Inhaltsübersicht (tome II p. XVIIIf.) läßt die Glie-
derung nicht ganz klar hervortreten.
31 Vgl. Harnack a.O.
32 Vgl. psychom. 71/86, bes. V. 76: inde omnis iam diva caro est, quae concipit illum (sc.
Christum)·, man könnte divus hier geradezu im "technischen" Sinne fassen (s. dazu Wissowa,
Religion und Kultus d. Römer 343); vgl. ferner Symm. II 265/69, cath. 11, 45ff.
[94] II. Notizen zu Prudentius 19
33 Über die Berechtigung, auch solchen christlichen Gedanken ihren Platz in der Geschich-
te des Humanismus anzuweisen, s. F. Klingner, Humanität und Humanitas: Rom. Geisteswelt
(München 19614) 702f.
34 Das Substantiv ist nach Ausweis des patristischen Lexikons von Lampe überhaupt recht
selten; das Verbum άποθεόω kommt häufiger vor, steht jedoch in ganz verschiedenen Zusam-
menhängen; des öfteren gebrauchen es die Häretiker in ihrer Polemik gegen die orthodoxe
Lehre von der Gottheit Christi - ein Beweis dafür, in welchen Widerstreit der Meinungen man
mit der Annahme eines Titels Apotheosis sc. Christi geriete!
35 Unter den vielen Deutungsversuchen des Titels Apocolocyntosis, der nur durch Cass.
Dio LX 35, 3 erhalten ist, scheint uns diese am plausibelsten; sie wurde u.a. von O. Weinreich,
Senecas Apocolocyntosis (Berlin 1923) l l f . und C.F. Russo in seiner Ausgabe (Florenz 19552)
17ff. vertreten.
36 So urteilt auch Henriksson a.O. 732; bei ihm findet man einen bequemen Überblick über
die bisherigen Interpretationen des Titels der Satire.
III.
Das Gedicht bietet der Sache nach eine Verwünschung des Cominius,
deren Anlaß sich aus V. 3/4 ungefähr erraten läßt. Aber der Aussageweise
nach ist das Gedicht keine κατάρα, sondern eher so etwas wie ein Räsonne-
ment: die Verwünschung ist in die Form einer kühl berechnenden Feststellung
gegossen. Darin liegt der eigentümliche Reiz des kleinen Stücks und Catulls
künstlerische Leistung, wie denn überhaupt das bei | aller inneren Bewegung
3 Vgl. F. Klingner, Catull: Rom. Geisteswelt (München 19653) 218ff., bes. 220/2.
4 Es ist dies der seltenere Stellungstypus α : A : a (nach dem üblichen System), d.h.
Nebensatz 2. Grades : Hauptsatz : Nebensatz 1. Grades. Vgl. Nägelsbach, Latein. Stilistik9,
642f.; Leumann-Hofmann-Szantyr, Latein. Grammatik 2, 734.
5 Ihrer Funktion nach ungefähr vergleichbar ist die Wendung fortasse requiris in Catulls
berühmtem Monodistichon Odi et amo: auch sie ist nur scheinbar entbehrlich, in Wahrheit
verdankt der Zweizeiler gerade ihr viel von seiner Wirkung. Vgl. O. Weinreich, Die Distichen
des Catull (Tübingen 1926 [Nachdr.: Darmstadt 1972]) 38f.
22 Prudentiana II. Exegetica [258/259]
der. Wollte man die innere Bewegung des Gedichts graphisch darstellen, so
müßte man eine Kurve zeichnen, die zunächst kräftig, dann sachte ansteigt,
ihren Scheitelpunkt erreicht, hierauf aber sogleich steil abfällt. Denn dem Ganzen
nach wird das Epigramm von einer Spannung durchzogen, die zur Mitte hin
stetig zunimmt, um sich zum Ende hin in einem raschen 'Decrescendo' zu
lösen. Eben dieses 'Decrescendo' bedingt aber nun eine weitere Eigentümlich-
keit der catullischen Darstellung: ich meine die zunehmende V e r k n a p -
p u n g des Ausdrucks im zweiten Teil des Gedichts. Besonders fühlbar wird
sie im letzten Vers. Hier sind nicht nur die Verben aus dem Voraufgehenden
zu ergänzen, sondern auch die signifikanten Partizipien execta (sc. lingua) und
effossos (sc. oculos) in V. 4/5 finden keine Entsprechung mehr (denkbar wäre
dilaniata o. dgl.). Ich würde darauf nicht so großen Wert legen, wenn es nicht
gerade diese Knappheit der Ausdrucksweise in der die Detailschilderung ent-
haltenden zweiten Gedichthälfte wäre, die wesentlich dazu beigetragen hat,
Einheit und Anschaulichkeit des vom Dichter entworfenen Bildes vor dem
modernen Betrachter zu verhüllen. Denn es wird sich gleich zeigen, wie wich-
tig der Einblick in die Struktur des Epigramms für das rechte Erfassen der
dargestellten Situation ist. Wenden wir uns also jetzt der Sache zu: was soll
mit Cominius geschehen?
Das Verständnis des Gedichts steht und fällt mit dem Ausdruck populi
arbitrio in V. 1, und eben in diesem Punkte unterscheidet sich Krolls Auf-
fassung vorteilhaft von derjenigen des englischen Kommentators. Um zunächst
einem möglichen Irrtum vorzubeugen: der Ausdruck gehört nicht der juristi-
schen Sprache an, bezeichnet überhaupt keinen eigentlich rechtlichen Vor-
gang. So verschieden auch die Bedeutungen des Substantivs in der Fachsprache
sind: eine Wendung wie arbitrio populi interire kennt sie nicht6. Dasselbe gilt
für die außerfachliche Literatur: | niemals wird die fragliche Junktur in Zu-
sammenhang mit einer Kapitalstrafe oder sonst einer ordnungsgemäßen Rechts-
entscheidung gebraucht7. Die lateinischen Autoren nennen zwar das Volks-
gericht, genauer: die Findung der komitialen Endentscheidung eines Strafjpro-
zesses, welche auf die Provocatio folgt, öfters iudicium populidoch das Wort
arbitrium begegnet in derlei Bedeutung niemals, und daß ausgerechnet Catull
einen magistratisch-komitialen Strafprozeß so bezeichnet habe, ist ganz und
9 Das heißt: der beliebte 'quasijuristische' Gebrauch des Worts (latiore sensu: ThLL 2,
410f.) enthebt nicht der Notwendigkeit, den Ausdruck auf seinen jeweiligen sachlichen Gehalt
zu befragen, besonders dann nicht, wenn es sich um eine singuläre Junktur handelt wie in
diesem Fall.
10 Wohl zu scheiden davon sind gewisse gesetzliche Exekutionsformen, deren moderne
Bezeichnungen irreführen könnten: die sog. 'populäre Exekution', d.h. die Achtung, und die
'Volksfesthinrichtung', etwa bei der Tierhetze. Ihnen geht ein Urteil voraus; vgl. Mommsen,
Strafrecht 925/28. 934".
11 Der Henker schleift die Leiche unter Beifall des Volks an einem Haken fort: sie bleibt
24 Prudentiana II. Exegetica [260/261]
unbeerdigt liegen bleiben oder Raben Toten die Augen aushacken, dies sind
verwandte Vorstellungen, die jedoch das catullische Bild nicht scharf wieder-
geben. Denn jene zunehmende Verknappung der Ausdrucksweise bei Catull,
die, wie wir sahen, in der Gesamtanlage des Epigramms gründet, darf nicht
dazu verleiten, die beiden Schlußverse aus ihrem engen Zusammenhang mit
dem Voraufgehenden zu lösen: sie führen die in V. 4 begonnene Schilderung
fort, beruhen auf der gleichen Anschauung, malen dieselbe Szene - schon die
in V. 4 einsetzende und bis zum Ende fortgeführte Variation der Tiernamen
beweist es12. Es ist nicht so, als würde nur die Zunge von der aufgebrachten
Menge herausgeschnitten, dann der Leichnam (?) liegen gelassen: der ganze
Leib wird vom Mob z e r s t ü c k e l t , die einzelnen Körperteile werden den
verschiedenen | Tieren zum Fraß vorgeworfen! Wie zu ergänzen ist: lingua
execta sc. a populo, so auch: oculos effossos sc. a populo. Allein der Kom-
mentator Ellis hat einst diese Auffassung ernsthaft erwogen, sie jedoch ohne
hinreichenden Grund wieder fallen lassen13. Was zu Gedichtbeginn durchpopuli
arbitrio angekündigt wird, führen die Verse 3/6 aus. Dabei werden eigentlich
getrennte, doch zur selben Aktion gehörige Vorgänge (divellere corpus et
spargere: vgl. die unten zitierten Stellen aus Vergil und Seneca) so zusam-
mengezogen, daß die beiden Kola des Schlußverses nur noch einen Teil des
Gesamtbildes ausdrücken. Doch erhellt eben der Sinn durch den engen Zusam-
menschluß des Ganzen. Nur so verstanden gewinnt die Darstellung bei aller
Knappheit Kraft und - freilich grausige - Anschaulichkeit.
unbeerdigt, wird von Geiern, Hunden und Wölfen vertilgt. Derlei passiert nicht populi arbitrio!
Der hier geschilderte Vorgang folgte in Rom auf die Hinrichtung im Kerker, die natürlich ein
Urteil voraussetzte: vgl. dazu Mommsen, Strafrecht 988. Die wohl beste Parallele bietet Juv.
sat. 10, 66/89 (vgl. Mayor zu V. 66). Auch bei Juvenal begleitet das Volk das Ereignis mit
Beifall: Seianus ducitur unco Spectandus, gaudent omnes (66f.). Aber ein Willkürakt des
Volks liegt hier ebenso wenig vor wie bei anderen Exekutionsformen, welche eine Verweige-
rung des Grabrechts nach sich zogen, etwa bei der Kreuzigung (vgl. Mommsen a.O.) Schon aus
diesem Grunde kann V. 5 nicht die Anschauung wiedergeben, wie sie bei Horaz epist. I 16, 48
(non pasces in cruce corvos) u.ö. vorliegt.
12 Auch die Zeitfolge, d.h. die Gleichzeitigkeit im Bedingungsgefüge (si ... intereat, sit
data... voret) verdient immerhin Erwähnung, wenn man auch darauf nicht entscheidenden Wert
wird legen dürfen. Zum Ersatz der periphrastischen Form des Konj. Fut. durch den Konj.
Praes. bzw. Konj. Perf. vgl. Leumann-Hofmann-Szantyr 2, 550, wo gerade Catull 108 bespro-
chen ist.
13 Vgl. R. Ellis (Kommentar: Oxford 18892) 488 z.St.: "It is not easy to decide whether
Effossos refers like voret to the raven, or is the preliminary punishment inflicted by m e n . . . . But
the two lines together (5. 6) suggest a single picture ..." - und deswegen entscheidet er sich für
die erste Möglichkeit. Indes hätte gerade dieser Gesichtspunkt den umgekehrten Schluß nahele-
gen müssen: denn V. 4 drückt ja einen doppelten Vorgang aus, und so liegt es gerade im Sinne
der Einheitlichkeit des Bildes, b e i d e Vorgänge im folgenden fortgesetzt zu sehen.
[261/262] III. Lynchjustiz bei Catull 25
Die geschilderte Szene konnte dem antiken Leser Catulls schon deshalb
nicht undeutlich bleiben, weil die Sache - der Tod durch Zerstückelung -
durchaus in seinem Vorstellungsbereich lag. Einer der Freunde Catulls endete
so: auf die Nachricht von Caesars Tod hin zog die wütende Menge durch
Rom, um die Mörder in Stücke zu reißen; sie stießen auf C. Helvius Cinna,
den sie mit Cornelius Cinna verwechselten: ώρμησαν εύθύς και διέσπασαν
έν μέσω τον ανθρωπον (Plut. Caes. 68, dazu Brut. 20, 8ff.; Val. Max. IX 9,
1: populi manibus discerptus est). Zu Catulls Zeit dürfte der Fall des Sempro-
nius Asellio, auf den noch Seneca anspielt (de ira I 2, 2; ausführlicher Val.
Max. IX 7,4), in frischem Gedächtnis gewesen sein, ebenso der des M. Baebius
(Floras II 9, 26; Lucan II 118/21): Asellio hatte sich als Praetor i.J. 89 der
Sache der Schuldner angenommen und wurde darob von der Menge der Gläu-
biger, die der Volkstribun L. Cassius aufgehetzt hatte, nahe beim Forum zer-
stückelt (Val. Max.: praetextatum discerpserunt); den Baebius traf das gleiche
Schicksal zwei Jahre später beim Einzug des Marius in Rom. Nur knapp ent-
ging L. Vettius, der es gewagt hatte, Caesar der Teilnahme an der catilinarischen
Verschwörung zu beschuldigen, dem Tod auf dem Forum: Suet. Iul. 17, 2 |
{Caesar Vettium)pro rostris in contionepaene discerptum coniecit in carcerem.
In den politisch bewegten Jahren, die Catulls Leben füllten, mögen sich derart
turbulente Vorkommnisse öfter ereignet haben, als wir dies im einzelnen nach-
weisen können. Wenn wir Livius XLV 38, 2 beim Worte nehmen, so hätte
einst M. Servilius vor der Volksversammlung zu solchem Gewaltakt aufgeru-
fen: aliquis est Romae praeter Persea, qui triumphari de Macedonibus nolit; et
eum non iisdem manibus discerpitis, quibus Macedonas vicistis ? Zur Zeit der
Ständekämpfe mag eine Version über das plötzliche Entschwinden des Romulus
aufgekommen sein, die der Haß gegen die Patrizier diktiert hat: discerptum
regem patrum manibus (Liv. 116, 4). Spuren solcher Volksjustiz führen aber
nicht nur in die Vergangenheit zurück, sie lassen sich auch zeitlich weit hinab-
verfolgen, ja reichen bis in die Spätantike. Als i.J. 20 n.Chr. dem Cn. Calpurnius
Piso, der im Verdacht stand, den Germanicus auf Veranlassung des Tiberius
vergiftet zu haben, im Senat der Prozeß gemacht wurde, rottete sich das Volk
vor der Curie zusammen und gab durch Rufe zu erkennen, was mit dem Ange-
klagten geschehen würde, falls er ungeschoren davonkäme: non temperaturos
manibus, si patrum sententias evasisset (Tac. ann. III 14; vgl. Suet. Cal. 2:
paene discerptus a populo sc. Cn. Piso). Zugleich machten sie Miene, die
Standbilder Pisos zu zerstückeln (divellebantl), und hätten ihre Absicht auch
in die Tat umgesetzt, wären nicht die Statuen auf kaiserlichen Befehl in Si-
cherheit gebracht worden (Tac. I.e.). Den Standbildern Domitians blieb sol-
26 Prudentiana II. Exegetica [262/263]
ches Schicksal allerdings nicht erspart. Sie wurden, wie Plinius paneg. 52, 4f.
berichtet, nach dem Tode des verhaßten Herrschers zerstückelt, wobei sich
die Phantasie der Rachedurstigen ausmalte, sie habe es mit dem noch Leben-
den zu tun14 - die Schilderung des Plinius zeigt zugleich, was aus der Sache
werden kann, wenn sich ein Rhetor des Themas annimmt. Auch Nero hatte
derlei zu befürchten gehabt, weshalb er den Plan aufgab, kurz vor dem dro-
henden Untergang noch mit einer reumütigen Rede vor das Volk hinzutreten:
ne prius quam in forum perveniret discerperetur (Suet. Nero 47, 2). Daß übri-
gens solche Akte öffentlicher Willkür auch 'organisiert' werden konnten, zeigt
Suetons Bericht Cal. 28: aus purer Lust, einen Senatoren auf diese Weise
sterben zu sehen | (senatorem discerpi), inszenierte Caligula vor der Curie so
etwas wie 'Volksjustiz', um sich darauf am Anblick der verstümmelten Glie-
der zu weiden. Den Gipfel in der Darstellung des Grausigen einer solchen Tat
bietet wohl Claudians Invektive gegen Rufin. Von seinen eigenen Truppen
wird der Reichsfeind umstellt. Die Soldaten zerstückeln ihn mit ihren Waffen.
Hieran schließt sich eine Detailschilderung des Vorgangs, die - beim Heraus-
reißen der Augen beginnend - mit geradezu anatomischer Genauigkeit das
Zerteilen des Leibes verfolgt (in Ruf. II 407/17). Der Kenner der griechischen
Mythologie versäumt auch nicht, zu guter Letzt den Vergleich mit dem Schicksal
des Pentheus und des Aktaion zu ziehen (418/20)15.
Alle sog. 'Volksjustiz' gehört nicht zum geltenden Recht Roms. Ge-
wisse ihr allein eigentümliche Formen sind deshalb in unseren Darstellungen
des römischen Rechts, insbesondere in Mommsens "Strafrecht", nicht behandelt,
ja nicht einmal erwähnt16. Doch der Philologe, der es mit der ganzen Vielfalt
der antiken Texte zu tun hat, sieht sich, anders als der Jurist, gelegentlich sehr
14 Daß sich Volkswut statt an die Person an die Sache hält, ist nichts Unerhörtes: vgl. auch
Joh. Chrys. hom. ad pop. Antioch. 21, 3 (PG 49, 216) über die Steinigung der Bildnisse Kon-
stantins.
15 Andere Fälle aus dem Osten des Reichs erwähnt Ammian, darunter den des Statthalters
Theophilus, den das hungernde Volk von Antiochien zur Zeit des Constantius Gallus zerstückel-
te (XIV 7, 6; vgl. XV 13, 2; ferner: XIV 10, 2; XV 3, 1). Die lateinischen Berichterstatter
mögen freilich hier und da vertraute Farben auftragen. Nachweisbar ist dies in Rufins Überset-
zung der Kirchengeschichte Eusebs. Von Origenes heißt es dort (h.e. VI 4, 1: GCS 9/2, 531):
discerpere eumpaene et interficere vulgus inruerat, nisi... efurentum manibusfiiisset ereptus
dem entspricht bei Eusebius nur σμικρού δεΐν ... υπό των αύτοΰ πολιτών άνήρητο. Bezeich-
nend auch ebd. VI 41, 4 (a.Ο. 601), wo Rufin, die Steinigung durch das Volk unterdrückend,
discerpunt einsetzt!
16 Von der 'Volksjustiz* wohl zu scheiden ist der moderne Begriff des 'Vulgarrechts'.
Denn das Vulgarrecht, dessen gegenständlichen Bereich in der Hauptsache das Privatrecht bil-
det, setzt immer einen stofflichen Bezug zum klassischen Recht voraus; vgl. M. Käser, Art.
Vulgarrecht: PW 9 A 2 (1967) 1283/1304, bes. 1291.
[263/264] III. Lynchjustiz bei Catull 27
wohl veranlaßt, auf derlei Erscheinungen zu achten. Eben dieser Umstand rief
auch Useners oben erwähnte Abhandlung hervor: Usener wollte ein Stück aus
dem von Mommsen ausgesparten Felde bearbeiten. Er beschränkte sich dabei
ausdrücklich auf die Strafe der Vernichtung des Leumunds: sämtliche Formen
der 'exekutiven Volksjustiz', der sog. L y n c h j u s t i z , Schloß er aus, doch
nicht ohne gleichzeitig anzudeuten, daß die Antike solcherlei Gewalttaten sehr
wohl gekannt habe. Als Beispiele nannte er (a.O. 3571) gewisse Fälle vollzo-
gener bzw. angedrohter Verbrennung verhaßter Personen | durch das Volk.
Aber nur eine Form volkstümlicher Strafe, die Steinigung, vermögen wir dank
Hirzeis bekannter Untersuchung vollständig - soweit es die Quellen gestatten
- zu überblicken; sie ist übrigens bei den Griechen mehr gewesen als bloße
Lynchjustiz, hat überhaupt dort eine größere Rolle gespielt als bei den Rö-
mern17. Anderes liegt dagegen noch im Dunkeln, so eben die discerptio™.
Daß sie nach antiker Anschauung tatsächlich einen bestimmten Akt der
Volksjustiz darstellte, bezeugen außer den schon beigebrachten Stellen auch
noch andere, mehr 'literarische' Erwähnungen der Sache. In einer der pseu-
doquintilianischen Declamationen (12, 1), die gegen einen Mann gerichtet ist,
der von der hungernden Vaterstadt um Brot ausgeschickt zu spät heimkam, so
daß seine Mitbürger die eigenen Toten verzehren mußten, ruft der Ankläger:
non publicis manibus exeuntem discerpsimus ? Dido, der Flotte des treulosen
Aeneas nachblickend, stellt sich in rasendem Schmerz eine ähnliche Frage
(Verg. Aen. IV 600f.): non potui abreptum divellere corpus et undis Spargere
17 Denn bei jenen war sie nicht bloß ein tumultuarisches Verfahren, sondern eine politisch
wie religiös anerkannte Strafe. Nur noch wenige Spuren deuten darauf, daß sie dies einst auch
bei den Römern war: R. Hirzel, Die Strafe der Steinigung: Abhandl. der Königl. Sächs. Gesell-
schaft der Wiss., Philol.-histor. Kl. 27/7 (1909 [ Nachdr.: Darmstadt 196η) 223/66. Ebd. 258f.
über die Steinigung bei den Römern.
18 Sicher belegt ist das Substantiv erst spät (vgl. ThLL 5/1, 1309, 66ff.), z.B. Ruf. Euseb.
h.e. ΠΙ 36, 9: GCS 9/1, 279 (doch hier von der Folter: discerptiones membrorum - συγκοπαΐ
μελών!). Aber das Verbum discerpere bildete offenbar die übliche Bezeichnung dieses Akts der
Volksjustiz (der nützliche Artikel im Thesaurus 5/1, 1308f. [Graeber] ist mit strenger Blickrich-
tung auf die Sache auszuwerten!). Seltener begegnen divellere, lancinare, laniare, dilacerare.
Der beliebte Zusatz manibus sc. discerpere, lancinare o. dgl. macht klar, daß man ge-
wöhnlich mit bloßer Hand zupackte (vgl. bes. Floras an der oben S.25 [261] genannten Stelle [II
9, 26]: Baebium sine ferro rituferarum inter manus lantinatum). Aber es wäre gewiß unreali-
stisch, wollte man jeglichen Werkzeuggebrauch bei einem dermaßen tumulthaften Vorgang aus-
schließen: die von Caligula bestellten Senatsmitglieder (Suet. Cal. 28, vgl. oben S. 26 [262f.])
durchbohren den Unglücklichen beim Betreten der Curie zuerst mit ihren Griffeln, dann erst
überlassen sie ihn den anderen zur Zerstückelung; die Soldaten Rufins nehmen natürlich zu-
nächst ihre Waffen (407f.: laniant hastis artusque trementes Dilacerant), greifen dann aber
offenbar auch mit den Händen zu (vgl. vellunt, rapuere, quatit). Daß die Statuen Domitians mit
Schwert und Beil zerstückelt werden, erklärt sich aus der Sache.
28 Prudentiana II. Exegetica [264/266]
... eqs.? Mag auch vielleicht Vergil die unmittelbare Anregung zu diesem
Bilde aus der Mythologie empfangen | haben19, den Zusammenhang mit der
Ebene volkstümlicher Justiz wird man kaum gänzlich ausschließen dürfen.
Deutlicher zu spüren ist er an der Parallelstelle Aen. III 604/06: der Grieche
Achaemenides, den die Trojaner an der Küste der Cyclopen vorfinden, be-
kennt, Ilions 'Penaten' bekriegt zu haben, obgleich er weiß, wie dies auf die
Heimatlosen wirken muß: pro quo, si sceleris tanta est iniuria nostri, Spargite
me in fluctus ... Sipereo, hominum manibus (!)periisse iuvabit. Hierher zu
ziehen ist wohl auch ein Vers in Senecas Phoenissen. Iocasta, die sich als
Mutter des feindlichen Brüderpaars vor dem Volke schuldig fühlt, fordert Feinde
und Mitbürger auf (448): haec membra passim spargite ac divellite! Instruktiv
sind die zuletzt genannten Stellen, weil sie zeigen, wie jene volkstümliche
Vorstellung gelegentlich auch in der hohen Literatur hervorbrechen kann. Von
Lucan und Claudian, die sich aber auf historische Ereignisse beziehen, war
schon die Rede. Es ließen sich vielleicht noch mehr Fälle beibringen, doch
wird man danach suchen müssen; denn unsere Kommentatoren besitzen bis-
lang keinen Blick für das Typische solcher Szenen20. Darüberhinaus gilt es
stets zu bedenken, daß | die wenigen Akte tatsächlich vollzogener Lynchju-
stiz, von denen wir Kunde erhalten, nicht unbedingt ein zuverlässiges Richt-
maß für die Lebendigkeit der Vorstellung als solcher abgeben.
19 Daß freilich der Dido hier, wo es um Aeneas geht (von Ascanius ist erst danach die
Rede!), ausgerechnet der kleine Bruder der Medea, Apsyrtos, einfallen soll, halte ich für eine
wenig glücldiche Kombination der Kommentatoren (vgl. Pease im Kommentar zu Aen. IV p.
480, dessen Material überhaupt kritisch zu sichten ist). Da wäre es schon probabler, wenn sie
sich wie eine der thrakischen Frauen fühlte, die den Orpheus, weil er sie verschmähte, in
bacchantischer Raserei zerstückelten; vgl. Verg. georg. IV 520/22. Der Gedanke mag aber auch
einfach der sein, daß Dido die Macht hatte, den Fremdling, der sich inmitten ihres Volks be-
fand, zerreißen zu lassen. Man wird wohl die Vorstellungen nicht scharf trennen dürfen. Inter-
essant in diesem Zusammenhang auch Liv. XXXIX 13, 5: die Freigelassene Hispala zögert,
über die Vorgänge bei den Bacchanalien auszusagen, aus Furcht vor den Göttern, mehr noch vor
den Menschen, qui se indicem manibus suis discerpturi essent. Das Schicksal des Pentheus oder
anderer Feinde des Dionysos, vielleicht aber auch jene Form der Lynchjustiz schlechthin moch-
ten ihr vor Augen schweben.
20 Nicht einmal die besonders ausgeprägte Situation in Claudians Invektive gegen Rufin ist
richtig erkannt und beurteilt. Im neuen Kommentar zu diesem Gedicht von H.L. Levy (Philological
Monographs of the American Philological Association Nr. 30 [1971] 203) wird die Zerstücke-
lung für eine "episches Thema" erklärt, gemeint sind aber, wie der Hinweis auf die Arbeit von
P.-J. Miniconi (Etude des thfcmes "guerriers" de la poesie epique gr6co-romaine [Paris 1951]
126/29. 172) beweist, nur schlechthin grausame Schilderungen des nachklassischen Epos. Infol-
gedessen bieten auch die von Levy angeführten 'Parallelen', soweit sie sich ohnehin nicht bloß
auf sprachliche Erscheinungen beziehen, außer Lucan 2, 119/21 nichts Passendes. Fernzuhalten
sind schließlich auch alle Folterberichte, z.B. die der christlichen Martyrologien, weil sie die
Situation nicht treffen.
[266/267] III. Lynchjustiz bei Catull 29
einzelnen Körperteile aufzählte, sondern zugleich das Bild durch die Erwäh-
nung der verschiedenen Tiere bereicherte. Er verfolgt gewissermaßen die
Vernichtung bis zu ihrem äußersten Ende. Zugleich bot sich ihm so die Mög-
lichkeit, durch zusätzliche Variation im Detail seiner Aussage noch mehr den
Charakter einer 'Berechnung' der einzelnen Faktoren des Strafvollzugs zu
verleihen. Dem antiken Leser Catulls wird darum die Situation nicht weniger
klar gewesen sein. Der moderne mag sich dagegen durch die breitere Darstel-
lung einer solchen Szene bei Prudentius in seinem Verständnis des Catullgedichts
gefördert fühlen. Prudentius schildert in der Psychomachie (705/17), wie das
verhaßte Laster der Discordia, die soeben einen heimtückischen Anschlag ver-
übte, vom Heer der personifizierten Tugenden umringt und gezwungen wird,
sich zu erkennen zu geben. Ihre Antwort enthält eine Gotteslästerung, so daß
Fides zuerst die Zunge (!) der Häresie mit ihrer Lanze durchbohrt. Dann pak-
ken alle zu (719/25):
Diese Verse bieten die beste Erklärung des catullischen Epigramms. Der an-
dere Zusammenhang bei dem poeta christianus darf nicht über die Ähnlichkeit
der Situation hinwegtäuschen: auch hier handelt es sich um eine Darstellung
jener volkstümlichen Exekutionsform, und auch diese Passage gewinnt erst |
durch die Erkenntnis ihres Zusammenhangs mit der Volksjustiz die rechte
Lebendigkeit und Wirklichkeitsnähe23. Wie Catull hat auch Prudentius die Szene
dadurch noch bunter gestaltet, daß er das Verteilen der zerstückelten Glieder
an die "häßlichen Tiere" (und noch anderes: in auras ... cloacisl) mit ins Bild
23 In diesem Sinne sind meine Ausführungen: Studien zur Psychomachie des Prudentius
( = Klass. Philol. Studien 27 [Wiesbaden 1963]) 72f. zu ergänzen. Auch manche der dort ge-
nannten Kirchenväterstellen, die das Zerstückeln des Leibes Christi durch die Häretiker an-
schaulich vorführen, setzen vielleicht den bekannten Akt der Lynchjustiz voraus, bes. Cypr. de
unitate eccl. 23: (corpus unum) divulsis laceratione visceribus in frusta discerpi -
vgl. dazu die oben S. 29 [266] genannte Stelle im Panegyricus des Pacatus. Doch mögen hier
auch Folterberichte einwirken.
[268/269] III. Lynchjustiz bei Catull 31
hineinnahm. Prudentius dürfte jedoch kaum von Catull abhängen: er hat wohl
nur eine Todesart, die er aus spezifischen Gründen des allegorischen Epos
brauchen konnte, aufgegriffen und breit ausgeführt. Wie dem auch immer sei:
es kommt im Grunde nicht viel darauf an, ob Prudentius das Catullgedicht vor
Augen hatte - wie vielleicht Antonio Salvatore anzunehmen geneigt wäre24 -
oder ob er nur dieselbe Situation als geschickter Stilist mit ähnlichen Farben,
aber im übrigen frei, ausstattete - wie ich glauben möchte. Denn in diesem
Fall zeigt er, wie Catull richtig zu verstehen ist, in jenem, daß er ihn richtig
verstand! Die beigefügte Abbildung, ein mittelalterliches Mosaik aus Pavia
(Tafel I), mag unsere Anschauungskraft stützen25, wenn auch vielleicht man-
cher solche gelehrte Hilfestellung lächelnd ablehnen wird: Tennessee Williams
mutet seinem Publikum gegen Ende von "Suddenly last summer" eine ähnli-
che Szene mit noch makabrerem Ausgang zu26. |
Fassen wir zusammen! Der Gewinn für die Würdigung des catullischen
Gedichts, der sich aus dem Vorstehenden ergibt, ist ein doppelter: die Dar-
stellung erhält einmal, wie schon des öfteren hervorgehoben wurde, szenische
Einheitlichkeit, Lebendigkeit; zum anderen tritt erst jetzt - bei voller An-
schaulichkeit des wilden, grausigen Akts - der Kontrast zur kühl rechnenden
Formulierung, die Catull für diese Verwünschung wählte, in seiner ganzen
Schärfe hervor. Das Epigramm bietet eben weit mehr als "a commonplace
vituperation" (Fordyce).
24 Vgl. A. Salvatore, Studi Prudenziani (Napoli o.J.) 25/31 über vermeintliche Catull-
Reminiszenzen.
25 Es handelt sich um ein Fußbodenmosaik aus S. Maria del Popolo zu Pavia (11./12. Jh.),
jetzt im Museo Civico. Der Bildstreifen zeigt - von rechts nach links fortschreitend - zunächst
die Discordia, vom Lanzenstoß der Fides niedergestreckt (diese selbst ist nicht mehr erhalten),
dann die Szene der Zerstückelung: zwei Gestalten repräsentieren die Menge des Tugendvolks,
außer Wolf und Rabe gehört vielleicht auch noch der Fisch mit dem grimmigen Gebiß unterhalb
des Bildstreifens zur Gesamtszene (vgl. monstris ... marinis im Text V. 723).
26 "When we got back to where my Cousin Sebastian had disappeared in the flock of
featherless little black sparrows, he - he was lying naked as they had been naked against a white
wall, and this you won't believe, nobody has believed it, nobody could believe it ... They had
devoured parts of him. Torn or cut parts of him away with their hands or knives or maybe those
jagged tin cans they made music with ..." (zitiert nach der Ausgabe in den Penguin Plays PI. 82,
p. 158f.).
IV.
GRUNDLAGEN
Diakritische Interpretation
Wenn ich die Aufmerksamkeit auf ein Thema aus der christlichen Lite-
ratur der Spätantike lenke, so tue ich dies in der Überzeugung, daß jener
Bereich auch für die Ausbildung unserer Schüler und Studenten einen beson-
deren Wert besitzt. Ein bestimmtes Programm, eine neue Theorie für den
Unterricht aufzustellen, liegt mir freilich fern. Auch wage ich es nicht, fest-
umrissene Aussagen über die praktische Durchführbarkeit meiner Anregungen
zu machen - besonders nicht im Hinblick auf die Schule, deren Verhältnisse
andere weitaus besser beurteilen können als ich. Andrerseits steht für mich
fest, daß wir als Lehrer und Erzieher Dinge hohen Werts aus dem von uns
vertretenen Kulturgebiet nicht aus dem Auge verlieren dürfen, nur weil es
schwierig ist, sie im schulischen oder akademischen Unterricht weiterzugeben,
und gewiß noch viel verkehrter wäre es, wollte man aus der Not eine Tugend
machen, das heißt: für gut und vorteilhaft erklären, was uns die Verhältnisse
aufzwingen.
Was nun gerade die christliche Spätantike betrifft, so sind es allerdings
gar nicht die modernen Verhältnisse, die dazu geführt haben, daß dieses Ge-
biet in der Ausbildung unserer Schüler weit hintan steht. Allenfalls läßt sich
sagen, daß die praktischen Gegebenheiten - die Struktur von Schule und Uni-
versität, die Lehr- und Studienpläne - heute einer Einführung dieses Gebiets
in den Unterricht ärgere Hindernisse in den Weg legen denn je zuvor. Aber
verursacht haben sie dessen Vernachlässigung nicht. Die Wurzeln reichen,
wie wir alle wissen, viel weiter zurück. Als ich kürzlich vor dem Gebäude des
* Impulse für die lateinische Lektüre. Von Terenz bis Thomas Morus. Herausgegeben
von Heinrich Krefeld, Frankfurt am Main 1979, 138/80. Die folgenden Ausführungen wurden
teilweise am 29.9.1977 anläßlich der Fortbildungstagung des Landesverbandes Nordrhein-West-
falen im DAV in Mülheim/Ruhr vorgetragen. Die Abhandlung in der vorliegenden Form widme
[138/139] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 33
Gymnasiums stand, in dem ich die ersten Klassen besuchte, betrachtete ich die
wohlbekannten Namen antiker Geistesgrößen, die den Hauptbau der Schule
auf den drei vom Schulhof umschlossenen Seiten zieren1. Hochoben an den
Wänden, auf steinerne Tafeln gemeißelt, sind die folgenden Namen zu lesen:
HOMERUS PINDARUS · SOPHOKLES - THUKYDIDES · DEMOSTHE-
NES · P L A T O • ARISTOTELES · CICERO - HORATIUS · VERGILIUS •
TACITUS. Auf viele Generationen junger Gymnasiasten haben diese strengen
Tafeln mahnend herabgeblickt, und man kann nicht sagen, daß die Verfasser
eine schlechte Auswahl trafen. Es wäre unbillig, wollte man das Weglassen
dieses oder jenes Namens bemängeln. Jeder von uns hätte gewiß eine Reihe
von Namen vorzuschlagen, die er gerne in gleicher Weise geehrt sehen wür-
de. Was mir auffiel, war etwas anderes, etwas Allgemeineres: es fehlt in der
Namenskette überhaupt irgendein Vertreter christlichen Geists aus der Antike,
es fehlt etwa der eine Name "Augustinus", der allein genügt hätte, die Notwen-
digkeit einer Erweiterung des Schulprogramms in jener Richtung anzudeuten.
So aber bezeugen diese Inschriften symbolhaft die traditionelle Ausrichtung
der neuhumanistischen Bildung auf die Klassiker der vorchristlichen Antike. |
Ich habe behauptet, die Beschäftigung mit der frühchristlichen Literatur
besitze für unsere Schüler einen besonderen Wert. Zur Begründung könnte ich
mancherlei anfuhren: etwa die Qualität vieler literarischer und denkerischer
Leistungen schlechthin oder ihre Bedeutung für die europäische Geistesge-
schichte. Aber alle diese wohlbekannten Gesichtspunkte will ich hier hintan-
setzen und stattdessen nur einen Vorteil hervorkehren: den der Erziehung zur
diakritischen Interpretation. Ich sage: 'diakritische' Interpretation, nicht 'kriti-
sche', um dem Mißverständnis vorzubeugen, als sei es mir um eine Form der
modernen Literaturkritik zu tun2. Die Sache, um die es mir geht, ist vielleicht
nicht einfacher, aber jedenfalls elementarer. Mit der diakritischen Interpretati-
on meine ich eine bestimmte Unterscheidungsfähigkeit im geistigen Bereich:
die Fähigkeit zu sehen, daß Worte, Sätze, Gedanken, Gedankenverbindungen
- wie übrigens auch Elemente der bildenden Kunst - mit äußerlich geringfügi-
ich Paul Hacker zum 65. Geburtstag am 6.1.1978. Sie verdankt dem Gedankenaustausch mit
ihm mehr, als die einzelnen Hinweise zu erkennen geben.
ι Ich spreche von dem Franz Ludwig-Gymnasium in Bamberg, dem ehemals "Neuen
Gymnasium". Es wurde i.J. 1890 gegründet zur Entlastung des - fortan so genannten - "Alten
Gymnasiums", dessen Tradition es fortfiihrte (vgl. den Bericht über die Gründungsfeier in der
Festschrift: "50 Jahre Neues Gymnasium Bamberg ...", Bamberg 1940, 21/23). Die Inschriften
an diesem Gebäude repräsentieren also den Geist der humanistischen Bildung des ganzen 19. Jhs.
2 Denn "kritisches Interpretieren" meint dort etwas anderes. Vgl. etwa N . Mecklenburg,
Kritisches Interpretieren. Untersuchungen zur Theorie der literarischen Wertung und Literatur-
kritik, München: Nymphenburger Verlagshandlung 21976.
34 Prudentiana II. Exegetica [139]
3 Heute, das heißt: im Zeitalter der "semantischen Revolution" (zum Begriff vgl. K.
Steinbuch, Ja zur Wirklichkeit, Stuttgart 1975 [Heyne-Buch Nr. 7026: München 1976] 13).
Sachlich ist allerdings der verwandelnde Umgang christlicher Denker mit antiken Begriffen
nicht vergleichbar: er unterscheidet sich durch die Voraussetzungen und das Ziel grundlegend
von dem latenten 'Umfunktionieren' der Sprache, wie es heute auf vielen Gebieten des Geistes-
lebens geübt wird.
[139] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 35
ihm sein dichterisches Talent. Die Poesie sollte seine Opfergabe sein4. Prudentius
gehört also zu jenen gar nicht seltenen Männern, die damals angesichts einer
glänzenden Karriere der Welt entsagten. Man erinnere sich nur der Geschich-
te von den beiden kaiserlichen Beamten zu Trier, die den hl. Augustinus so tief
bewegte! Bei einem Spaziergang in der Nähe des Palasts stießen sie auf eine
Mönchsklause, fanden darin ein Buch: die Vita des hl. Antonius, lasen und
erkannten: Freund Gottes zu sein ist besser, als die Stellung eines amicus
imperatoris zu erstreben5. Wir wissen nicht, ob sich Prudentius ebenso wie die
beiden Trierer Beamten zu einem klösterlichen Leben entschied6, und auch
sonst bleiben die näheren Umstände jener Wende im Dunkeln7, aber seine
Dichtung zeugt von dem Ernst seiner Absicht. Alle seine Werke - die lyri-
schen Tagesgebete und Festlieder, die beiden Lehrgedichte gegen die Häresien,
das Streitgedicht Contra Symmachum, die Märtyrerhymnen, das allegorische
Epos vom Seelenkampf, die Inschriften zu Szenen des Alten und Neuen Testa-
ments - entsprechen der Aufgabe, die sich der Verfasser gestellt hatte. Zu
dieser Aufgabe gehörte es auch, von den besten Dichtern der Antike den be-
sten Gebrauch zu machen, und die Bewältigung dieser Teilaufgabe trug ihm
seit Richard Bentley den Ehrennamen Christianorum Maro et Flaccus ein8. |
4 Hauptquellen für das Leben des Prudentius und für seine Auffassung von der Aufgabe
der Dichtung sind die Praefatio·. das Eröffnungsgedicht, das er als Sechsundfünfzigjähriger - im
Jahr 404 oder 405 - schrieb und den abgeschlossenen Dichtungen voranstellte, sowie der sog.
'Epilogus', in dem man heute meist das Schlußwort zum Gesamtwerk sieht (dazu vgl. unten
Anm. 98). Der Versuch, wesentliche Selbstaussagen des Dichters, etwa die über seine Poesie
als Opfergabe (epil. Iff.), zu literarischen Klischees ohne neue religiöse Bedeutung herabzu-
würdigen, ist von W. Steidle überzeugend zurückgewiesen worden: Die dichterische Konzepti-
on des Prudentius und das Gedicht contra Symmachum: Vigiliae Christianae 25 (1971) 241/81,
ebd. 242f. Im Sinne Steidles äußert sich auch P.G. van der Nat, Die Praefatio der Evangelien-
paraphrase des Iuvencus: Romanitas et Christianitas (Festschrift J.H. Waszink: Amsterdam/
London 1973) 249/57, ebd. 256".
5 Aug. conf. VIII 6, 15.
6 Seine Gedichte erteilen darüber keinen Aufschluß. Entsprechende Mutmaßungen in
Ausgaben und Handbüchern ruhen auf einer falschen Interpretation der Verse cath. 2, 45ff. (die
richtige vertritt, wenn auch nicht entschieden genug, Michele Pellegrino: A. Prudenzio demente,
Inni della Giornata, a cura di M.P., Alba 1954, 209/11).
7 Daß sie überhaupt nur eine literarische Fiktion sei, kann ich trotz der chronologischen
Schwierigkeiten, welche die Praefatio aufwirft (vgl. Fuhrmann a.O. [unten Anm. 100] 82f.),
nicht recht glauben. Die bewußte Abkehr von der Welt ist jedenfalls der Kern der Selbstaussage:
er muß bleiben. Weshalb soll Prudentius' Karriere, wie Fuhrmann vermutet, mit 56 Jahren aus
Altersgründen beendet gewesen sein, so daß er sie gar nicht erst abzubrechen brauchte? Als
Ausonius sich zurückzog, war er etwa .73 Jahre alt, noch mit ca. 69 Jahren (i.J. 379) bekleidete
er das Konsulat. Ausonius hatte seine Ämterlaufbahn unter Gratian in einem Alter begonnen, da
Prudentius sich schon fast ein Jahrzehnt zurückgezogen hatte: als Mittsechziger.
8 Bentley in der Horazausgabe, Cambridge 1711, zu Hör. carm. II 2, 15.
36 Prudentiana II. Exegetica [140]
9 Vgl. dazu meine "Studien zur Psychomachie des Prudentius" (Wiesbaden 1963) = Klas-
sisch-Philologische Studien 27, 27/46; 125/28. Im folgenden zitiere ich sie abgekürzt "Studi-
en". Daß die Psychomachie auch eine eschatologische Dimension besitzt, hebt Steidle a.O.
(oben Anm. 4) 262 mit Recht hervor. Diese Dimension wird übrigens nicht nur im Tempelbau
am Schluß des Gedichts deutlich, sondern auch in der Schwertweihe der Pudicitia: vgl. bes. V.
107f.
[140] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 37
tieferreichenden Fragen nach Grund und Ziel, teilweise auch die nach Art und
Weise der Vergilbenutzung des christlichen Dichters unbeantwortet. Diese
Lücke hat unlängst der Amerikaner Macklin Smith gesehen und durch sein
vorhin erwähntes Buch zu füllen versucht.
Einer der Vorzüge dieses Buchs besteht darin, daß sich der Verfasser
immun zeigt gegen eine Modekrankheit der Literaturwissenschaft: gegen den
Formalismus der sog. 'Toposforschung'10. Dieses Übel ist längst auch auf die
frühchristliche Literatur übertragen worden und wirkt sich hier besonders ver-
heerend aus, weil es die tiefen geistigen Schnittlinien, die Antike und Chri-
stentum trennen, mit einem Wust von Formalien überkrustet, so daß nichts
mehr sichtbar bleibt als eine durchgehende graue Fläche öder Topoi'. Smith
besitzt einen wachen Sinn für die innere Spannung zwischen Antike und Chri-
stentum, er nimmt die biblische Fundierung der Psychomachie ernst und er-
kennt den christlichen Geist des Ganzen. Diese Sicht der Dinge macht ihn
auch zum entschiedenen Gegner der These, es sei dem Dichter schlechthin um
die ehrfürchtige Bewahrung des Schatzes antiker Kultur bzw. um die "Synthe-
se zwischen der Bibel und Vergil, zwischen seinem Gott und seiner Kultur"
zu tun gewesen11. Man hat in diesem Zusammenhang vom "christlichen Hu-
manismus" des Prudentius gesprochen12. Es muß zugegeben werden, daß Smith
wesentliche Schwächen dieser Position aufdeckt. Er erkennt treffend, daß die
antiken Bildungsgüter für einen Christen wie Prudentius keine Gegenstände
darstellen, die ihren Wert in sich selbst tragen und die es etwa verdienten, um
ihrer selbst willen erhalten zu werden. Smith (S. 5) urteilt: "It seems to me
that no 'synthesis' occurs precisely because the poet cannot conceive his culture
apart from his God, that his cultural orientation is exclusively Christian".
Solche Sätze sind heutzutage selten und darum geradezu Goldes wert. Leider
bringt sich der amerikanische Philologe um die Frucht, die solche Ansätze
10 Vgl. seine Bemerkungen 15f. Hier übt Smith auch Kritik an der Prudentiusdeutung von
Charles Witke, Numen litterarum. The Old and the New in Latin Poetry from Constantine to
Gregory the Great, Leiden/Köln 1971 = Mittellatein. Studien u. Texte 5, 102/44. Witke legt
ebenfalls allen Nachdruck auf das Traditionelle und Konventionelle der Dichtung des Prudentius.
Herausfordernd wirken Sätze wie diese (144): "Almost every aspect of his poetry is classical in
basis. (...) Prudentius' rather lengthy detailing texts, his relish for grotesque injury in the
Peristephanon, and his Christian subjects themselves have put off critical judgement". Wie der
christliche Gehalt ein Hindernis rechter Beurteilung christlicher Poesie sein sollte, ist in der Tat
nicht einzusehen.
11 So Witke 105 - s. die vorige Anmerkung.
12 Hauptvertreter dieser Prudentiusdeutung ist E.K. Rand, Prudentius and Christian
Humanism: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 51 (1920)
71/83 - vgl. Smith 27. Aber diese Auffassung findet sich auch sonst.
38 Prudentiana II. Exegetica [140/141]
erwarten lassen, weil er auf die unglückliche Idee verfällt, die Vergilbenutzung
des Prudentius sei ironisch zu verstehen! So fähren ihn alle Schritte, die er
selbst zur Lösung der aufgeworfenen Fragen unternimmt, weit in das entge-
gengesetzte Extrem der von ihm bekämpften Humanismus-These. Prudentius
erscheint | bei Smith als eine Art feingeistiger Ikonokiast: überall, wo er
Worte, Versstücke oder Vorstellungen aus der Aeneis übernehme, wolle er
Vergil durch den neuen Kontext, in dem das Vergilische auftritt, gleichsam ad
absurdum führen. Der christliche Dichter arbeite also nicht an der Bewah-
rung, sondern im Gegenteil: an der Zerstörung der antiken Kultur. "Anti-
Vergilian irony" lautet das neue Rezept13. Da aber nun einmal Prudentius viele
ernste und entscheidende Gedanken so ausdrückt, daß darin zugleich Vergil
faßbar wird, muß das neue Rezept notwendig eine Auflösung der ästhetisch-
geistigen Einheit des Gedichts bewirken. Smith kalkuliert diese Konsequenz
sogar ein. Das Nebeneinander, meint er, der ironisch-destruktiven Elemente und
des positiven biblischen Gedankenguts erzeuge in der Psychomachie eine "litera-
rische Turbulenz" (22: "literary turbulence"), eine "Schlacht zwischen den Litera-
turen" (23: "a battle between literatures"). Natürlich ist das alles nichts anderes
als eine Gedankenspielerei, die eine ausführliche Widerlegung nicht verdient.
Die neue Theorie scheitert, sobald man sie auf den Text anzuwenden versucht.
Denn - von anderem einmal abgesehen - es ist unmöglich, die beiden Elemente:
das Vergilische und das Biblische, das angeblich Ironische und das Ernstgemein-
te, innerhalb des Dichtertextes zu diagnostizieren und zu trennen. Alle Anstren-
gungen, die Smith in dieser Hinsicht unternimmt, enden in purer Willkür14.
Kurzum: es ist dem Verfasser dieses neuen Prudentiusbuchs nicht ge-
lungen, das rechte Mittel zu finden, um mit den erkannten Schwächen der
Prudentiusdeutung fertig zu werden. Daß der ausgedehnte Gebrauch Vergils
in der Psychomachie etwas anderes sein kann als eine Art kultureller Ret-
tungsaktion, ohne doch irgendwie abgewertet werden zu müssen, sieht Smith
nicht. Er sieht nur Weiß und Schwarz: "(...) the Word of God and the words
of Satan's followers"15. Die christlichen Denker und Künstler haben sich aber
13 Smith 7. 27. 276, vgl. 20 ("anti-Vergilianism"). Auch von Parodie (5. 281) und Satire
(164) ist die Rede.
14 Das zeigt gerade seine Behandlung des ersten Kampfs (psych. 21/39: Smith 282/85), der
auch hier S. 61/69 [152/56] als Interpretationsbeispiel gewählt ist. Im übrigen ist das ziemlich
umfangreiche Buch von Smith - bezeichnenderweise - relativ arm an konkreten Textinter-
pretationen.
15 Smith 23: "If the Psychomachia is such a battle between literatures, between the Word
of God and the words of Satan's followers ..." etc. Gemeint ist wohlgemerkt nicht etwa der
[141] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 39
die Sache viel weniger einfach gemacht. Ich muß an dieser Stelle weiter aus-
holen, denn die rechten Grundlagen der Prudentiusinterpretation werden erst
in einem größeren Zusammenhang deutlich.
Der hl. Paulus predigte auf dem Areopag, daß Gott das ganze Men-
schengeschlecht aus einem Menschen erschaffen und ihm die Aufgabe gestellt
habe, Gott zu suchen, obschon er einem jeden von uns nahe sei. "Denn" - so
lautet die wohlbekannte Stelle (Act. 17, 28) - "in ihm leben wir, bewegen wir
uns und sind wir, wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: 'wir sind
ja von seinem Geschlechte' (του γαρ και γένος έσμέν)". Der Apostel zitiert
hier seinen Landsmann, den Kilikier Aratos aus Soloi, der dem 3. Jahrhundert
v. Chr. angehört. Die Worte stammen aus dem Proöm seines Sterngedichts,
der Phainomena (V. 5), das im Altertum große Wirkung hatte. Was bedeutet
dieses Zitat? Es bedeutet zunächst nicht, daß der Apostel etwa der Ansicht
gewesen sei, der griechische Dichter habe die ganze Wahrheit über das Ver-
hältnis der Menschen zu Gott gekannt. Wäre dies seine Auffassung gewesen,
so hätte er es kaum für nötig erachtet, vor den Athenern über die Erschaffung
des Menschengeschlechts zu predigen. Das Zitat bedeutet auch nicht, daß Pau-
lus sich die Denkrichtung Arats zu eigen machte16. Denn der Zeusanruf zu
Kampf der Tugenden und Laster, sondern eben jener vermeintliche "Kampf der Literaturen"!
Dem Verfasser fehlt eine ganze geistige Dimension, und zwar die bei Beurteilung der Verhält-
nisse entscheidende: die Dimension der christlichen χρησις, worüber im Text oben S. 39ff.
[141ff.] gehandelt ist.
16 Entsprechende Mißverständnisse auszuschließen, sah sich schon Hieronymus genötigt.
Im Hinblick auf die Zitate aus Arat, Epimenides und Menander bei Paulus - die Stellen s. S. 42
[142] - bemerkt er (in Eph. III 5, 14: PL 26, 558 B): nec tarnen (...) tota quae scripsere sunt
sancta, quia eos vere aliquid dixisse testatus est (sc. Paulus). Daß tatsächliche Fehlinterpretationen
der paulinischen Dichterzitate den Anlaß solcher Richtigstellungen boten, beweist eine Erörte-
rung im Tituskommentar (in Tit. 1, 12ff.: PL 26, 606/08). Vgl. bes. 608 B: wenn Paulus je
einen Vers des Menander, Arat und Epimenides (bzw. Kallimachos) "benützt hat" - ab u s us
est: der Begriff uti (abuti) begegnet hier fünfmal dann hat er damit nicht etwa eine ganze
Komödie Menanders oder die Werke des Arat und Epimenides in toto gutgeheißen und hat sich
infolgedessen auch nicht die Anschauungen der Dichter über Zeus zu eigen gemacht. Wie man
sieht, war die Fähigkeit zur diakritischen Interpretation auch in der Antike nicht allgemein
verbreitet.
40 Prudentiana II. Exegetica [141/142]
Beginn der Phainomena ruht auf der Grundlage des stoischen Pantheismus;
Paulus hingegen meint ja, daß Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde
geschaffen hat, und insofern gilt der Satz: "wir sind von seinem Geschlecht"17.
Das Zitat bedeutet vielmehr, daß Paulus in den Aratversen - oder zumindest in
dem zitierten Versstück - ein E l e m e n t der Wahrheit entdeckte18 und die-
ses Element benutzte, um die Athener zu überzeugen. Dabei erhält das Über-
nommene einen Sinn, den es im originalen Kontext nicht hatte. Vom christli-
chen Standpunkt aus geurteilt: es erhält jetzt erst seinen vollen Sinn. |
Wenn moderne Gelehrte Phänomene der geschilderten Art in christli-
chen Texten beobachten, gebrauchen sie meist Begriffe wie 'Adaptation',
'Appropriation', 'Akkommodation', 'Assimilation', 'Transformation', 'Um-
formung', 'Umdeutung', 'Aneignung', 'interpretatio Christiana' u. dgl. Die
Kirchenväter selbst hatten zwar keine ganz feste Terminologie, verwandten
aber mit Vorliebe den Ausdruck χρήσις - usus (iustus, bonus) bzw. χρήσθαι
- (recte, bene) uti19, und ihnen folgend spreche ich von "Nutzung". Der Aus-
druck hat nicht nur den Vorzug der Klarheit und Nüchternheit, er entspricht
vollkommen der Theologie, auf der die vielfach geübte Praxis der Väter ruht.
π Vgl. G. Stählin, Die Apostelgeschichte (Göttingen 101962) = Das Neue Testament deutsch,
Bd. 5, 236. Ob der Plural: ώς καί τίνες των καθ* υμάς ποιητών είρήκασνν darauf deutet,
daß Paulus außer Arats Proöm auch den Zeushymnus des Kleanthes (SVF 1, 537, V. 3ff.) vor
Augen hatte, ist umstritten. Interessant, daß auch der Jude Aristobulos (bei Euseb. praep. ev.
ΧΠΙ 12, 3ff.: GCS 43, 2, 191ff.) die Aratverse dazu gebrauchte, den jüdischen Gottesglauben
zu erklären! Denn hieran knüpft sich die weiterreichende Frage, inwiefern die christliche Nut-
zung antiken Geistesguts die Praxis des hellenistischen Judentums fortführen konnte (vgl. auch
Philo leg. alleg. ΙΠ 4).
18 Justin apol. II 13, 3 sagt über die antiken Philosophen, Dichter (!) und Historiker:
έκαστος γάρ τις άπό μέρους τοΰ σπερματικοΰ θείου λόγου τό συγγενές όρων καλώς
έφθέγξατο. Hier wird unter christlicher Nutzung der stoischen Lehre vom σπερματικός λόγος
theologisch entfaltet, was in der Hl. Schrift (Rom. 1, 19/21; Act. 17, 23/24. 28) über die
(verdunkelte) Erkenntnis der Wahrheit durch die Heiden ausgesagt ist. Vgl. hierüber die beiden
Aufsätze von Paul Hacker: The Religions of the Nations in the Light of Holy Scripture: Zeit-
schrift für Missionswiss. und Religionswiss. 1970, 161/85; The Religions of the Gentiles as
viewed by Fathers of the Church: ebd. 253/78.
19 Vgl. dazu Hacker, The Religions of the Gentiles, passim, bes. 265f. 268. 270. An der
Kernstelle Aug. doctr. ehr. II 40, 60f. treten die Begriffe in solcher Dichte auf, daß sie eine
terminologische Färbung erhalten. Man begegnet ihnen aber auch sonst allenthalben, vgl. etwa
zu Hieronymus oben Anm. 16 sowie die Stellen aus Prudentius und Paulinus v. Nola S. 44 [143]
bzw. 48 [145], Ich bringe hier nur noch zwei Belege aus Augustins Confessionen: Augustin
kritisiert den Lernzwang auf der Elementarschule und die falschen Lernziele des Unterrichts
(I 9, 14), bereut jedoch gleichzeitig seine kindliche Lernunwilligkeit: poteram enim postea
bene uti litteris, quas volebant ut discerem quocumque ammo illi mei (10, 16). Auf seine
Jahre als junger Lehrer der Rhetorik in Thagaste und Karthago zurückblickend fragt Augustin
nach dem Wert von Bildung und Begabung überhaupt (IV 16, 28/31), und eine seiner Fragen
lautet: (...) Quid mihi proderal bona res non utenti bene ? (16, 30).
[142] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 41
Diese Theologie näher zu erläutern, ist hier nicht der Ort. Sie wurde von
Justinus Martyr, Clemens v. Alexandrien, Origenes u. a. auf der Grundlage
der Hl. Schrift entfaltet20. Die Quintessenz läßt sich kurz und bündig durch ein
Zitat aus Augustins Confessionen (V 6, 10) wiedergeben: "(...) niemand außer
Dir (außer Gott) ist der Lehrer der Wahrheit, wo immer und von woher auch
immer sie aufleuchtet." Weil es nur eine Quelle der Wahrheit gibt, nämlich
Gott, gehört alles Wahre (Gute, Schöne) Gott und den Christen als den Vereh-
rern des wahren Gottes21. Es ist ihr Recht und ihre Pflicht, das Wahre (Gute,
Schöne), das in den nichtchristlichen Bildungsgütern enthalten ist, "zu benut-
zen", "richtig zu benutzen". Seit Origenes stützten und erklärten die Väter
diese Lehre durch eine allegorische Auslegung des biblischen Berichts über
die Schätze der Ägypter, welche die Israeliten beim Auszug auf Geheiß Gottes
mitnahmen (Exod. 3, 22; 11, 2; 12, 35f.). Wie die Ägypter von ihrem Gold-
und Silbergerät und von ihren Gewändern keinen guten Gebrauch machten, so
auch nicht die Heiden von ihren Schätzen: deswegen muß der Christ sie fort-
nehmen und dem rechten Gebrauch zuführen22.
Betrachtet man, wie billig und notwendig, die moderne Begrifflichkeit
vor diesem Hintergrund, dann erscheint sie zumindest schwächlich, teilweise
auch in der Sache schief. Der Ausdruck "interpretatio Christiana" z.B. kann
den Eindruck einer gewissen Unredlichkeit erwecken, gleichsam als solle et-
was Nichtchristliches durch nachträgliches Herumdeuteln für christlich ausge-
geben werden, während doch die Väter nicht aus Heidnischem Christliches
20 Grundlegend hierfür Hackers Aufsatz: The Religions of the Gentiles (oben Anm. 18).
21 Klar und knapp schon Justinus Martyr: δσα ουν παρά πασι καλώς εϊρηται, ήμών
των Χριστιανών έστι (apol. II13, 4).
22 Die oft herangezogenen Hauptstellen sind in den rechten Zusammenhang gerückt bei
Hacker, The Religions of the Gentiles 265 (zu Orig. epist. ad Greg. 2: PG 11, 89); 270 (zu Aug.
doctr. chr. Π 40, 60f.). Was Augustin in dem Alterswerk De doctrina Christiana lehrte, hatte er
bereits in seinen frühen Mannesjahren gelebt: seine Bekehrung vollzog sich teilweise durch die
rechte χρήσις antiken Geistesguts. Das ganze Kapitel VII 9 der Confessiones bietet ein großes
Beispiel für 'gelebte χρήσις': Augustin schildert, wie er gewisse christliche Lehren bei den
Neuplatonikern wiederfand, anderes aber, das notwendig zum Christentum gehört, dort vermiß-
te. Die Antithese: ibi legi... non ibi legi wird viermal wiederholt und variiert (vgl. Justin, apol.
Π 13, 2: Χριστιανός εύρεθήναι (...) όμολογώ, οϋχ δτι άλλότριά έστι τά Πλάτωνος
διδάγματα τοΰ Χριστοΰ, άλλ' ότι ούκ έστι πάντη δμοια). Abschließend stellt er fest, daß
sein durch Gottes Gnade gelenkter Umgang mit den neuplatonischen Schriften ganz der Mah-
nung entsprochen hatte, das 'Gold' der 'Ägypter', das in Wahrheit Gott gehört, 'fortzuschaf-
fen', und er erkennt in seinem Verhalten weiterhin eine Übereinstimmung mit der von Paulus in
der Areopagrede vertretenen Einstellung zu den antiken Geistesgütern. Die Stelle ist bedeutsam
durch die Kombination der Exodusexegese mit Act. 17, 28.
42 Prudentiana II. Exegetica [142/143]
23 Darüber handelt Paul Hacker in einem Aufsatz, der an passender, aber leider schwer
zugänglicher Stelle erschienen ist: Adaptation, Indigenization, Utilization: The Laity. Journal of
Christian Thought and Action, vol. 5 Nr. 9, New Delhi 1977, 392/402.
24 Sie zählt zu den Bedingungen, die eine gelungene Nutzung antiken Geistesguts vom
christlichen Standpunkt aus erfüllen muß: vgl. Paul Hacker, 'Topos* und chresis. Ein Beitrag
zum Gedankenaustausch zwischen den Geisteswissenschaften: Kleine Schriften, hrsg. von L.
Schmithausen, Wiesbaden 1978, 338/59, ebd. 349.
[143] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 43
Natürlich wäre es ganz verkehrt, wollte man mit Smith (242) in diesem
Passus etwas Zynisches entdecken. Zynismus wäre in diesem Zusammenhang
geradezu Blasphemie. Hier wird klar gesagt: was der Christ übernehmen will,
muß nicht etwa nur mechanisch aus der ursprünglichen Umgebung heraus-
gelöst, es muß auch gereinigt werden. Alles Nekrotische, das die sapientia
25
saecularis mit sich führt, hat der Christ, der sich ihrer bedient, auszumerzen .
Dann ist sein Verfahren erlaubt und förderlich, und zwar nicht bloß in der
Auseinandersetzung mit den Heiden. Hieronymus warnt gegen Schluß des
Briefs (epist. 70, 6) ausdrücklich vor dem Mißverständnis, daß die Bildung
nur gegenüber den Heiden zu gebrauchen, sonst aber zu verleugnen sei.
Das Prinzip der Reinigung gilt überall da, wo Christen antike Güter
nutzen, so auch in der bildenden Kunst. Wir besitzen hierfür ein schönes Zeugnis
bei Prudentius. Er läßt im ersten Buch c. Symm. den Kaiser Theodosius eine
Mahnrede an die Stadt Rom halten (I 415/505), die mit folgenden Versen
schließt:
25 Noch in zwei weiteren Briefen (epist. 21, 13 [1, 93f. Labourt]; 66, 8 [3, 175 Lab.])
bietet Hieronymus die Allegorie von der jungen Kriegsgefangenen. Die Aussage ist im wesent-
lichen dieselbe: vgl. R. Eiswirth, Hieronymus' Stellung zur Literatur und Kunst, Wiesbaden
1955 = Klass-Philol. Studien 16, 30/39. Bemerkenswerte Formulierungen enthält vor allem der
Brief an Papst Damasus (epist. 21). Ähnlich wie an der S. 44 [143] ausgeschriebenen Pruden-
tiusstelle begegnen hier die Begriffe des Nutzens (sowie der 'Umorientierung') und der Reini-
gung im selben Zusammenhang: itaque et nos hoc facere solemus, quando philosophos legimus,
quando in manus nostras libri veniunt sapientiae saecularis: si quid in eis utile repperimus, ad
nostrum dogma convertimus (...) aut si certe fuerimus eius (sc. captivae) amore decepti,
mundemus eam et omni sordium horrore purgemus. Im 66. Brief drückt er den
Reinigungsvorgang bildhaft so aus: lava eam (sc. captivam) prophetali nitro. Wenn Hierony-
mus an der oben übersetzten Stelle nur die formal-ästhetische Seite antiker Bildung zu schätzen
scheint, so ist das nicht allzu wörtlich zu nehmen. Auch der 70. Brief eröffnet insgesamt eine
viel weitere Perspektive: vgl. ebd. 4 fin. über die Nutzung der antiken Philosophie durch die
griechischen Kirchenväter.
44 Prudentiana II. Exegetica [143]
Hier finden wir also die Begriffe der Reinheit und der (rechten bzw.
falschen) Nutzung in einem Text vereint. Prudentius drückt den Vorgang der
Reinigung bildhaft, symbolisch aus: das Blut der Opfertiere, das die Kunst-
werke bespritzte, soll abgewaschen werden. Das ist, wie gesagt, ein Symbol:
natürlich bedeutet christliches Reinigen mehr als bloßes Waschen, sogar dann,
wenn es sich, wie hier, nicht um Vorgänge schöpferischer Nutzung handelt,
nicht um das Schaffen christlicher Kunstwerke, sondern nur um die Aufstel-
lung antiker Statuen. Denn die empfohlene Maßnahme gründet nicht in einem
kulturellen Patriotismus bloß weltlicher Art: wenn es heißt, die Statuen sollten
Zierden nostrae ... patriae abgeben, so muß der Begriff patria recht verstan-
den werden, was freilich nur aus dem Gesamtzusammenhang möglich ist. Es
geht um das christliche Rom, um die Stadt, die dem Ruf Christi folgt (509f.),
die zum Glauben an Christus übergeht pleno ... amore (523). Die Kunstwer-
ke, die dieses bekehrte, christliche Rom schmücken, dienen der Ehre Gottes:
das steht hinter den Worten des Prudentius26. Damit ist zugleich gesagt, daß
26 Augustin schildert die Freude des christlichen Rom über die Bekehrung des greisen
Rhetors Victorinus und schließt mit den Worten (conf. VIII 4,9): (...) et videbant vasa eius (sc.
diaboli) erepta mundari et aptari in honorem tuum (sc. Dei) et fieri ' uti Ii α Domino ad omne
opus bonum' (2 Tim. 2, 21). Das ist wieder eine ähnliche Vereinigung der Begriffe der Reinheit
und des Nutzens, diesmal auf eine Person gewandt. Aber das macht keinen prinzipiellen Unter-
schied. Es ist gemeint, daß der Bekehrte künftig seine Fähigkeiten zur Ehre Gottes gebrauchen
wird. Die Stelle zeigt zugleich, daß der Begriff des utile fiir den Christen in der Hl. Schrift
verankert ist. Das vielleicht schönste Zeugnis dafür besitzen wir im sog. 'Epilogus' des Prudentius:
s. unten Anm. 98. Der Märtyrer Laurentius sagt voraus (Prud. per. 2, 473ff.), es werde ein
princeps kommen, der den heidnischen Kult verbieten und die Tempel schließen werde: Tunc
pur α ab omni sanguine Tandem nitebunt marmorn, Stabunt et aera innoxia, Quae nunc
habentur idola (ebd. 481/84).
[143/144] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 45
der ästhetische Reiz hier nicht als Selbstzweck aufgefaßt wird. Was Prudentius
hier über die rechte Nutzung der bildenden Kunst feststellt, läßt sich übrigens
gerade auch auf sein eigenes Gebiet: die Poesie übertragen27.
Gewiß erfassen auch die beiden genannten Teilaspekte der kritischen
Wahl und der Reinigung nicht das lebendige Ganze der christlichen χρήσις.
Diese Teilaspekte machen es uns nur | klarer. Das Ganze selbst ist, im vollen-
deten Fall, eine Art N e u s c h ö p f u n g , die sich nur im Konkreten offen-
bart. Nicht alle christlichen Autoren waren, wie wir wissen, zu einer Nutzung
antiken Geistesguts bereit, und nicht alle, die dazu bereit waren, praktizierten
sie in derselben Weise und mit demselben Erfolg28. Aber wenn große Kirchen-
väter aus der Blütezeit der christlichen Literatur von ihrer Höhe auf ihre Vor-
gänger zurückblickten, entdeckten sie eine imponierende Kontinuität dieser
christlichen Haltung zur Antike. Augustinus sah, daß der usus bonus, wie er
ihn vertrat, ebenso geübt worden war von Lateinern wie Cyprian, Lactanz,
Victorinus, Optatus, Hilarius und von "unzähligen Griechen" (doctr. ehr. II
40, 61). Hieronymus stellt sich in dem eben erwähnten Brief (epist. 70) in eine
lange Reihe griechischer und lateinischer Kirchenschriftsteller. In dieser Rei-
he erscheint nun auch der Dichter Juvencus, was uns ausdrücklich daraufhin-
weist, daß auch die christliche Poesie eine Art der Nutzung profaner Weisheit
bietet. Allerdings ergeben sich auf dem Gebiet der Dichtung gewisse Sonder-
probleme.
27 Treffend bemerkt von Jacques Fontaine, Le m61ange des genres dans la podsie de Prudence:
Forma Futuri. Studi in onore del cardinale Michele Pellegrino, Torino 1975, 755/77, ebd. 769f.
28 Die positive, d.h. reinigende und umorientierende χρήσις ist nicht die einzige Form des
christlichen Umgangs mit den antiken Geistesgütern. Diese können auch polemisch zur Destruk-
tion des Heidentums eingesetzt werden. Aber beiderlei ist unverwechselbar. Ein Beispiel: Theo-
phil. ad Autol. Π 8 spielt das Aratproöm gegen andere Äußerungen paganer Autoren, z.B.
gegen Sophokles Oed. rex 978f. aus, um die Widersprüchlichkeit der heidnischen Aussagen
über die πρόνοια zu dokumentieren. Einem Paulus kam es auf die den Aratworten innewohnen-
de Wahrheit an, einem Theophilus auf den kritischen Vergleich dieser Aussage mit anderen.
Wie gesagt: beiderlei Arten des Umgangs mit antiken Gütern sind nicht zu verwechseln, obzwar
gerade Hieronymus im 70. Brief Zeugnisse beiderlei Art mischt, weil er möglichst viele christ-
liche Vorgänger, die heidnische Bildung überhaupt verwandten, anführen will.
46 Prudentiana II. Exegetica [144]
allein in der metrischen Form des Bibelepos gegeben sah29. Damit werden wir
auf das Problem der unterschiedlichen Bewertung von 'Form' und 'Gehalt' anti-
ker Dichtung geführt. Diese Unterscheidung wird in der modernen Forschung
immer wieder gemacht, wenn von christlicher Poesie und ihrem Verhältnis
zur antiken Dichtung die Rede ist, und sie kann sich in der Tat bis zu gewis-
sem Grade auf Zeugnisse frühchristlicher Autoren stützen.
Zwar läßt sich nicht behaupten, die Christen hätten den Gehalt antiker
Dichtung pauschal verurteilt: Justin etwa rechnet außer den Philosophen und
Historikern auch die Dichter zu denjenigen, die zu partiell richtigen Einsich-
ten gelangt seien30, Clemens v. Alexandrien führt das Aratzitat der Areopagrede
zum Beweis dafür an, daß der Apostel καν ποιητικοΐς χρώμενος παραδείγ-
μασιν wahre Aussagen der Heiden bestätige31. Aber wenn derselbe Clemens
an anderer Stelle versichert32, die Dichtung habe es gänzlich mit der Lüge zu
tun und deshalb dürften Zeugnisse für die Wahrheit, welche mitunter selbst
die Dichter, von der Wahrheit bezwungen, lieferten, besonderes Gewicht be-
anspruchen, so zeigt sich hierin bereits die starke Skepsis, die man auch später
immer wieder der Poesie entgegenbrachte. Diese Skepsis führte dazu, daß
christliche Denker, die den Wert einer Nutzung der antiken Bildungsgüter
erkannt hatten, zwischen 'Form' und 'Inhalt' der Poesie einen Trennstrich
zogen. Als sich Augustinus der Dichterlektüre seiner Jugend entsann, schau-
derte ihn ob all der Torheit und Verwerflichkeit, die er einst unter der Fuchtel
des grammaticus so gierig in sich aufgenommen hatte. Aber er anerkannte,
daß er auf diese Weise "viele nützliche Worte" gelernt habe, die er in den
Dienst Gottes stellen könne. "Nicht die Worte klage ich an", sagt er, "sie sind
erlesene kostbare Gefäße, sondern den Wein des Irrtums, der uns darin von
trunkenen Lehrern kredenzt wurde"33. Eine ähnliche Unterscheidung macht
29 Hier, epist. 70,5: Iuvencus presbyter sub Constantino historiam Domini salvatoris versibus
explicavit, nec pertimuit evangelii maiestatem sub metri leges mittere. Natürlich hätte Hierony-
mus nicht bestritten, daß der Gebrauch des Hexameters mindestens auch die Nutzung der latei-
nischen Dichtersprache miteinschließt. Wenn er an anderer Stelle (vir. ill. 84) sagt, Juvencus
habe die vier Evangelien nahezu wörtlich in hexametrische Verse "umgesetzt" (transferre), so
hat man an einen vielfältigen Vorgang der sprachlichen, stilistischen und metrischen Transposi-
tion zu denken. Zu wenig gibt dem Juvencus in dieser Hinsicht Reinhart Herzog, Die Bibelepik
der lateinischen Spätantike I, München 1975, z.B. 105: "Epische Tradition (...) manifestiert
sich in mechanisch rezipierten Versatzstücken..." usw.
30 Vgl. oben Anm. 18.
31 Clem. Alex, ström. I 91 (GCS 15, 58f.).
32 Clem. Alex, protr. 73, 1 (GCS 12,. 55).
33 Aug. conf. 1 15, 24. 26. In diesen Äußerungen wird impliziert, daß die Worte in gewis-
ser Weise vom Inhalt ablösbar und eben deswegen "nützlich" sind: sie können ganz anderen
[144/145] IV. Interpretation friihchristlicher Literatur 47
Aussagen dienen als denen des originalen Zusammenhangs. Das Bild von Gefäß und Inhalt kehrt
conf. V 6, 10 wieder: iam ergo abs te (sc. a Deo) didiceram (...) perinde esse sapientiam et
stultitiam sicut sunt cibi utiles et inutiles, verbis autem omatis et inomatis sicut vasis urbanis et
rusticanis utrosque cibos posse ministrari.
34 Amphil. iambi ad Seleucum V. 57/61 (ed. Oberg, vgl. unten Anm. 102). Den Begriff
der λόγοι έράσμιοι (V. 58) fasse ich enger als Oberg (JbAC 16 [1973] 79), allein im Sinne des
Stils, der χάρις της λέξεως (V. 52). Der Gedankengang des Autors ist fiir mein Empfinden von
zwingender Klarheit.
35 Paul. Nol. epist. 16 (CSEL 29, 114/25); carm. 22 (CSEL 30, 186/93). Den Brief hat
unlängst W. Erdt kommentiert: Christentum und heidnisch-antike Bildung bei Paulin von Nola,
Diss. Hamburg 1976, Meisenheim am Glan 1976 = Beiträge zur Klassischen Philologie 82. In
der geistesgeschichtlichen Auswertung des Befunds (288ff., aber auch zuvor, etwa 254f.; 240f.;
159f.) ist Erdt nicht immer glücklich. Er ist bemüht, Ernsthaftigkeit und Tiefe der von Paulinus
empfohlenen - und in dem Brief selbst exemplarisch dargestellten - Nutzung antiken Geistesguts
zu verkleinern, und er verkennt ihr Wesen, wenn er in diesem Zusammenhang vom "Einlen-
ken" (256), von der "Konzilianz" (303f.; 240f.; 288), von "Zugeständnissen" (308; vgl. 241.
305f.) Paulins spricht. Selbst wenn die Textherstellung in epist. 16, 11: potior esse copiam tibi
in nostris quoque studiis (so Erdt 239ff. nach Claverius) statt: potior est copia ... eqs. (Härtel)
richtig sein sollte - Erdts Argumente liegen hier allerdings hauptsächlich in den eigenen Prämis-
sen der Interpretation -, folgt daraus fiir die Sache kaum das, was Erdt will. Gewiß gibt es
Unterschiede in der Auffassung und Durchführung der χρήσις, aber kritische Vorsicht, Hin-
wendung zum Wesentlichen (Christlichen) sind überhaupt feste Grundsätze des Verfahrens.
48 Prudentiana II. Exegetica [145]
"Dir möge es genügen, Fülle und Schmuck der Rede von jenen
genommen zu haben gleichsam wie Beutestücke von feindlichen
Waffen, damit du, frei von ihren Irrtümern und ausgestattet mit
sprachlicher Kunst, jenen Putz der Beredsamkeit, mit dem die
nichtige Weisheit täuscht, für lebensvolle Gegenstände verwen-
dest, damit du nicht den leeren Körper von erdichteten Dingen
ausschmückst, sondern den markigen Körper der Wahrheit (...)."
Auch hier also auf den ersten Blick wieder die Scheidung von 'Form'
und 'Inhalt'! Die "Beutestücke" (spolia), die Jovius nehmen und christlich
nutzen soll, heißen: "Fülle und Schmuck der Rede" (linguae copia et oris
ornamentum), "sprachliche Kunst" (eloquia), "Putz der Beredsamkeit" (fucus
facundiae). Ihnen stehen die "lebensvollen Gegenstände" (plenae res) und "der
markige Körper der Wahrheit" (medullatum veritatis corpus) gegenüber. Das
Gedicht an Jovius verfolgt dasselbe Ziel wie der Brief, und wie dieser ein
Prosabeispiel für die christliche Nutzung der facundia darstellt, so bietet jenes
ein poetisches Musterstück dafür. Wer nun die Texte liest, wird finden, daß
manche der "Beutestücke" des Autors selbst alles andere als bloße Formalien
sind. Uns interessiert hier das Gedicht mehr als der Prosabrief. Ich greife
einige Verse heraus. Paulinus drängt, Jovius möge Themen wie die Welt-
schöpfung Gottes, Tatsachen der biblischen Geschichte oder die Lehre Christi
besingen. Hierauf geht es so fort (carm. 22):
36 Paul. Nol. epist. 16, 6(CSEL29, 120f.): verte potius sententiam, verte facundiam.
nam animi philosophiam non deponas licet, dum earn fide condias et religione; conserta (sc.
philosophia cum fide et religione) utare sapientius ut sis Dei philosophus et Dei votes ... eqs.
Vgl. ebd. 11 (124): tua vero mens, quae ignita de caelesti semine divinum iam spiral ardorem,
in ipsam arcem sapientiae Christum fide praevia dirigatur. Der Brief ist reich an prägnanten
Formulierungen, vgl. etwa noch ebd. 7(121): et quia licet quaedamplerumque (...) in us um
veri (...) adsumere.
37 Paul. Nol. epist. 16, 11 (CSEL29, 124).
[145/146] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 49
"So ist dein Lied für mich, göttlicher Dichter, wie Schlaf im Gra-
se für den Erschöpften, wie in Sommershitze den Durst zu lö-
schen durch eines hüpfenden Bachs süßes Wasser."
Was hat Paulinus aus Vergil genommen? Nur Metrum, Worte, Wort-
verbindungen? Doch sicher nicht! I d e e n sind es, die hier wiederkehren:
die der Göttlichkeit des echten Dichters und die der Erquickung, welche echte
Poesie gewährt. Aber Paulinus hat diese Ideen nicht nur fortgenommen, er hat
sie genutzt, schöpferisch genutzt. Welche Unterschiede offenbart doch der
Vergleich beider Versreihen! Die Ideen sind verändert, erneuert, vertieft. Dem
Ausdruck poeta divinus bei Vergil - hier vom Hirten Mopsus gebraucht, in
Ekloge 10,17 vom Elegiker Gallus, in Ekloge 6, 67 ähnlich vom mythischen
Sänger und Hirten Linus - eignet etwas Vages, Unverbindliches. Das zeigen
auch die Notizen der antiken und modernen Erklärer38. Ein hohes Lob liegt
38 Bezeichnend ist die blasse Bemerkung des Filargyrius zu ecl. 10, 17 (3/2, 179 Thilo-
Hagen): divine poeta, id est Gallus poeta optimus (!). Die Wendung: divino carmine in ecl. 6,
67 veranlaßte zwar Servius und Servius auctus zu spezielleren Erwägungen (3/1, 77 Th.-H.),
aber im Ganzen hat Gudemann recht, wenn er alle diese Stellen unter dem Lemma: "translate,
i.q. praeclarus (...) nec non instinctus, praecipue depoetis" einordnet (ThLL 5, 1624, Z. 24f.).
50 Prudentiana II. Exegetica [146]
jedenfalls darin, daneben mag noch der alte Gedanke göttlicher Inspiration der
Dichter mitschwingen. Bei Paulinus ist die Idee kräftig betont, prall gefüllt,
und durch den Hinweis: vere sc. divinus klar vom antiken Vorbild abgehoben:
Jovius wird ein "wirklich göttlicher Dichter" heißen, weil 1. seine Dichtung
Gott preist, Sinn und Gehalt seiner Poesie "göttlich" sind (zu vergleichen ist
Vers 19: divinos concipe sensus\)·, 2. weil er von der Kraft des Einen Gottes,
den er besingt, erfüllt werden wird (deutlicher noch sagen das die einleitenden
Verse des Gedichts, besonders V. 7f.: intrabitque Sacer (...) Spiritus et laeto
quatiet tua viscera flatü). Der letztere Gedanke enthält eine neue Konzeption
des dichterischen Enthusiasmus39. Mit einem Wort: der christliche Dichter ist
ein "wirklich göttlicher Dichter", weil er Dei vates ist - so Paulinus im Brief
an Jovius40. Und weiter! Die Idee der Erquickung durch die Poesie wird bei
Vergil mit dem Gedanken der Göttlichkeit des Dichters nicht verknüpft, es sei
denn in der allgemeinen Weise, daß das lobende Praedikat divinus für den
hohen Reiz des Mopsus-Liedes bürgt. Bei Paulinus dagegen besteht die Er-
quickung, die der göttliche Dichter gewährt, gerade darin, daß er Göttliches
kosten läßt. Damit verändert sich natürlich auch das Wesen der Erquickung:
sie besteht nicht mehr nur im ästhetisch-geistigen Genuß, sondern in der spiri-
tuellen Labsal41. Äußerlich hat Paulinus diese enge Verbindung beider Ideen
dadurch erreicht, daß er von den beiden Vergleichen - Vergils Ruhe im Grase
und frischer Wassertrunk - nur den letzteren auswählte und seinem Zweck
entsprechend ausgestaltete.
42 Hier nur ein Beispiel, das gerade Paul. Nol. carm. 22 betrifft: Erdt a.O. (Anm. 35) 274
bemerkt: "(Es ist bedeutsam), wie sich Paulin hier an die dem Jovius gestellte Forderung hält,
nur das rein Formale von den Klassikern zu übernehmen (...) (epist. 16, 11). Denn Inhaltliches,
wie es in heidnischer Mythologie oder Philosophie zum Ausdruck kommt, hat P.N. in XXII
nicht für die positive Darstellung seiner christlichen Gedanken verwendet." Junod-Ammerbauer
ist anderer Meinung (s. oben Anm. 39), und mit gewissem Recht: es kommt darauf an, beide
Aspekte in der richtigen Weise zu verbinden. Paulinus will gewiß nur Christliches sagen, aber
er verwendet auch alte Ideen, indem er sie christlich nutzt, ihnen eine neue Richtung gibt.
Dichterischer Enthusiasmus, Göttlichkeit des Dichters, Erquickung durch die Poesie u.a. - das
alles ist benutztes Gedankengut, also "Inhaltliches", nicht bloß "rein Formales".
43 Macrob. sat. V 3, 16. Weiter heißt es dort: hic (sc. Vergilius) opportune in opus suum,
quae prior vates (sc. Homerus) dixerat, transferendo fecit, ut sua esse credantur. Dazu vgl.
Ulrich Knoche, Erlebnis und dichterischer Ausdruck in der lateinischen Poesie: Gymn. 65 (1958)
157f.: "Bei einem lateinischen Dichter wird man grundsätzlich gerade dann am ehesten ein
echtes Bekenntnis erwarten dürfen, wenn er sich einer vorgeprägten Form bedient."
52 Prudentiana II. Exegetica [147]
Auf alle diese Fragen ist folgende Antwort zu erteilen: Tradition und
Technik der antiken Dichterimitation wiesen den christlichen Dichtern die äu-
ßeren Möglichkeiten, die Bahnen, auf denen sich in diesem Bereich des Geistes-
lebens die christliche Nutzung zu vollziehen hatte. So betrachtet bildet aller-
dings die dichterische Imitationstechnik aller Dichter des Altertums, zumin-
dest des römischen, eine gewisse Einheit. Was es jedoch erlaubt, die sog.
'Imitation' antiker Vorbilder seitens christlicher Dichter zu scheiden und sie
dem umfassenden geistigen Vorgang der χρήσις zuzuordnen, ist der innere
Aspekt der Sache: der Umgang des vates Dei mit antiken Vorbildern ist auf die
christliche Lehre zentriert, ist eingebunden in das geistige Ganze des Christen-
tums. Der antike Dichter imitiert frei, je nach eigenem Empfinden, nach dem
wechselnden Zweck seiner einzelnen Aussagen, nach den Erfordernissen des
Gedichts, den Gesetzen der Gattung usw. In der inhaltlichen Aussage, in der
Qualität der Aussage herrscht kein Gesetz. Der vates Dei wählt und nutzt in
Übereinstimmung mit dem Glauben, dem er dienen will.
Daher rührt es, daß ungezählte sog. 'Imitationen' christlicher Dichter
den Sinn des Vorbilds in einem Maße verwandeln, wie dies innerhalb der
antiken Dichtung niemals vorkommt. Eben dafür liefern die zitierten Pauli-
nusverse ein treffendes Beispiel. Denn auch das Vorbild des Paulinus, jene
Vergilstelle aus der fünften Ekloge, hat ja ihrerseits ein Vorbild: den Beginn
des theokritischen Thyrsis, und so sind wir zu einer Synkrisis der Imitationen
förmlich eingeladen. Bewundernd vergleicht der Gefährte den Gesang des Hirten
Thyrsis mit dem Rauschen eines nahen Wasserfalls (id. 1):
"Lieblicher, ο Hirt, rinnt dein Lied als das Wasser dort, das von
der Höhe des Felsens herabfällt".
Das ist der Gedanke der Erquickung, gekleidet in einen ähnlichen Ver-
gleich wie bei Vergil, der diese Stelle zweifellos nachbildete. Allerdings ver-
gleicht Vergil nicht wie Theokrit Gesang und Wasserrauschen, also Klang mit
Klang, sondern Gesang und Wassertrunk, also "Gefühl mit Gefühl, Erquickung
mit Erquickung", wie F. Klingner treffend formuliert44. Klingner bemerkt weiter:
"Virgil hat das Motiv äußerlich leicht verändert und dabei tief verwandelt [!]."
Gewiß: der Vergleich beider Passagen zeigt die feine, überlegene Kunst Vergils,
und wer nur Theokrit und Vergil im Auge hat, der mag so empfinden wie Kling-
ner. Aber, frage ich, wenn das schon "tiefe Verwandlung" sein soll, was sind
dann die Verse des Paulinus im Verhältnis zu Vergil? An diesem Fall wird
offenbar, daß die schöpferische Nutzung christlicher Dichter eine totale Um-
orientierung in sich schließen kann, die sich mit den Maßstäben der Imita-
tionskunst antiker Dichter gar nicht mehr messen läßt.
Aber die äußeren Bahnen der Imitationskunst blieben, wie gesagt, die-
selben. Dazu gehört auch, daß die Imitation stets auf dem Hintergrund des
Vorbilds gewürdigt sein will. Gewiß: man kann die vorhin besprochenen Pau-
linusverse auch ohne Kenntnis des vergilischen Vorbilds verstehen, der wesent-
liche Gehalt bleibt. Aber es liegt andrerseits doch in der Absicht | des Autors,
daß das Vorbild erkannt und mit der eigenen abwandelnden Verarbeitung vergli-
chen wird. Je deutlicher der imitierende Dichter auf das Vorbild weist, desto ein-
dringlicher wirkt die Aufforderung zum Vergleich. Das heißt: auch die christ-
liche Nutzung eines poetischen Vorbilds setzt wie jede bewußte dichterische
Imitation in der Antike beim Leser die Kenntnis des (heidnischen) Vorbilds
und damit objektiv Existenz und Fortbestand des benutzten Werks voraus.
Letzteres zu betonen, ist nicht etwa müßig. Denn moderne Gelehrte
sprechen gerne davon, die christlichen Dichter hätten Werke oder Gattungen
der vorchristlichen Poesie "ersetzen" wollen. Demnach hätte also z.B. Pru-
dentius die Aeneis, das heidnische Epos, durch die Psychomachie, das christ-
liche Epos "ersetzt". Der Begriff des "Ersatzes" ist aber recht problematisch
(s. auch S. 81 [161f.]), unter anderem deswegen, weil er leicht zu der falschen
Vorstellung verleiten kann, als solle das christliche Werk in der Weise an die
Stelle des nichtchristlichen treten, daß es dieses völlig auslösche, geistig und
literarisch ausmerze. Ich zweifle, ob Prudentius zu seiner Zeit überhaupt nur
im entferntesten damit rechnen durfte, Vergil gleichsam überflüssig zu ma-
chen. Daß er dies auch gar nicht beabsichtigte, folgt schon daraus, daß gerade
die Psychomachie den Vergleich mit der Aeneis, also die lebendige Existenz
des vergilischen Epos, allenthalben voraussetzt: die christliche Nutzung jenes
Vergilverses zu Beginn der Psychomachie (vgl. darüber S. 58ff. [150ff.]) setzt
die Kenntnis des Vorbilds nicht weniger voraus als sonst eine antike aemulatio,
ja sie würde ohne Vergil sogar einen Teil ihrer Aussagekraft einbüßen. Der
christliche Dichter ist zwar überzeugt, etwas Neues, ungleich Wertvolleres zu
bieten als Vergil, aber er zeigt das nicht selten gerade dadurch, daß er an
Vergil erinnert.
54 Prudentiana II. Exegetica [148/149]
des Altertums genannt wurde45. Damit schließt sich der Ring unserer allgemei-
nen Betrachtungen, und wir können uns nunmehr den oben angekündigten
exemplarischen Prudentiusinterpretationen zuwenden.
INTERPRETATIONEN
45 Leider besitzt ein Prudentiuskenner wie Maurice Lavarenne, dem wir auch einen
Psychomachiekommentar verdanken (s. die folgende Anmerkung), dafür keinen Sinn. Er vertei-
digt (ebd. 45) die Verarbeitung dichterischer Vorbilder durch Prudentius unter Hinweis auf die
Praxis Vergils, die andere Auffassung von Originalität in der Antike, den Geschmack des zeit-
genössischen Publikums und resümiert (46): "La forme dans laquelle la Psychomachie est 6crite
etait done bien faite pour plaire aux contemporains de Prudence." Das ist nicht falsch, aber viel
zu wenig.
46 Ich zitiere Prudentius nach der Ausgabe von Johan Bergman (1926) = CSEL 61. Sie ist
noch immer unentbehrlich. Die neue Ausgabe von Maurice P. Cunningham (1966) = CCL 76
hat sie nicht zu ersetzen vermocht. Der am meisten benützte Lesetext ist der zweisprachige
von Maurice Lavarenne, Prudence, 4 Bde. (Paris: Belies Lettres 2 1955. 1945. 1948. 1951).
Lavarenne hat außerdem durch seine großangelegte "Etude sur la langue du poöte Prudence"
(Paris 1933) ein wichtiges Hilfsmittel geschaffen. Durchgehende Kommentare gibt es nur aus
älterer Zeit. Ich nenne vor allem die kommentierte Ausgabe von F. Ar6valo (Rom 1788/89:
wiederabgedruckt bei Migne, PL 59/60). Zur Psychomachie besitzen wir zwei Spezialkom-
mentare: einen von Bergman (Upsala 1897) und einen von Lavarenne (Paris 1933), hinzu-
treten meine "Studien" (s. oben Anm. 9). Leider ist die einzige deutsche Psychomachie-
übersetzung aus neuerer Zeit, die von Ursmar Engelmann (Basel/Freiburg/Wien: Herder 1959)
wegen ihrer Ungenauigkeiten und Fehler fast unbrauchbar. Gute Dienste leistet die zweispra-
chige Gesamtausgabe in der Loeb-Library (2 Bde.: London/Cambridge, Mass. 1949. 1953) von
H.J. Thomson.
56 Prudentiana II. Exegetica [149/150]
Die Psychomachie beginnt mit einem Vers, der fast nach Art der Centonen
einen Aeneisvers aufnimmt:
Das ist aber noch nicht alles. Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß
der gebildete Römer - ob Christ oder Nichtchrist - seinen Vergil kennt wie
der Grieche seinen Homer. Von Kindheit an, seit Beginn des Unterrichts beim
grammaticus, hatte er Vergil gelesen, erklärt, in Prosarede umgesetzt, aus-
wendig gelernt - Augustinus entwirft in den Confessiones ein lebendiges Bild
davon47. Unsere Bildung besitzt kein gemeinsames Fundament dieser Art, und
daher fällt es uns nicht ganz leicht, die Wirkung eines Vergilzitats recht einzu-
schätzen. Aber der Leser, für den Prudentius schrieb, konnte den ersten Vers
der Psychomachie kaum zur Kenntnis nehmen, ohne daß nicht, wenigstens für
einen Augenblick, zugleich mit dem Aeneisvers auch die berühmte Situation,
in der jener Anruf Apollons getan wird, an ihm vorüberglitt: Aeneas steht vor
der Grotte der Sibylle; die wilde Ekstase der Seherin bezeugt die Anwesenheit
des Gottes, doch des Helden eigenes Gebet ist Bedingung, damit die Grotte
ihren Schlund auftut und die Zukunft offenbar wird; da bittet er, schaudernd
zwar, doch aus innerstem Herzen.funditquepreces rexpectore ab imo: 'Phoebe,
graves Troiaesemper miserate labores ...' eqs. Was Prudentius nutzt, das sind
nicht nur die Worte des Aeneas. Es ist der tiefe, echte religiöse Ernst des pius
Aeneas, den der christliche Dichter als ein συγγενές τη άληθεία empfindet48
47 Aug. conf. I 13, 20/17, 27. Vergilerinnerungen sind für den gebildeten Römer Kind-
heitserinnerungen, und dieser Faktor wurde von den Theoretikern der Erziehung bewußt in
Rechnung gestellt, vgl. Quintil. inst. I 8, 4f.; Aug. civ. I 3. Treffend urteilt Henri-Ir6n6e
Marrou, Geschichte der Erziehung im klass. Altertum (hrsg. von Richard Harder: Freiburg/
München 1957) 368: "(Vergil) ist der Schatz von Weisheit und Schönheit, der in der Tiefe des
Gedächtnisses ruht, dessen Verse jedesmal ins Bewußtsein gehoben werden, wenn man das
Bedürfnis empfindet, eine Empfindung oder eine Idee zu unterstreichen oder zu bestätigen". Ein
Beispiel: nach dem Fall Roms i.J. 410 pflegten die Christengegner ihrer Meinung durch ein
Zitat aus Vergils Iliupersis (Aen. II 351 f.) Ausdruck zu verleihen, und sie durften sicher sein,
verstanden zu werden (Aug. civ. II 22). Denn auch der gebildete Christ hatte seinen Vergil als
Schuljunge traktiert (Hier. c. Ruf. I 16: PL 23, 428f.), und wie gerade das Werk Augustins
beweist, blieb Vergil ein lebendiger geistiger Besitz: Karl Hermann Schelkle, Virgil in der
Deutung Augustins (Stuttgart und Berlin 1939) = Tübinger Beiträge 32. Es ist nicht unwichtig,
diese weite kultur- und geistesgeschichtliche Bedeutung Vergils, die erheblich über den Bereich
des rein Literarischen hinausragt, recht zu erfassen, will man die Vergilbenutzung des Prudentius
angemessen beurteilen.
48 Der Ausdruck gehört dem hl. Basilius, zitiert S. 86 [164]. Sogar der hl. Augustinus
konnte Gebetsworte an Apollon aus Vergil: sic pater ille deus faciat (...)! (Aen. X 875) zum
Ausdruck eigener religiöser Überzeugung nutzen (de ord. 14, 10: CSEL 63, 128). Die andere
Haltung gegenüber Vergil in De civitate Dei erklärt Harald Hagendahl, Augustine and the Latin
Classics (Göteborg 1967) 457 biographisch: in einem scharfen Bruch vollziehe sich bei Augu-
stin der Ubergang von der Hingabe an die kulturelle Tradition zur Feindschaft ihr gegenüber
(ebd. 714). Hagendahl verkennt, daß auch Stellen wie de ord. I 4, 10 nicht einfach Ausdruck
unreflektierter Hingabe, sondern Beispiele christlich verwandelnder Nutzung Vergils sind: der
Kontext läßt daran keinen Zweifel. Der polemische Gebrauch Vergils in De civ. muß vor allem
von der Absicht des großen Werks her verstanden werden. Welch bedeutende Aufmerksamkeit
60 Prudentiana II. Exegetica [151/152]
und den er in seinem Gebet auf Christus wendet. Jawohl, meint Prudentius,
die Frömmigkeit, das Gebet um göttliche Hilfe, das Vertrauen auf das Erbar-
men eines allzeit gnädigen Gottes: das alles ist gut und ein χρήσιμον für den
Christen, wofern man es richtig nutzt! So etwa könnte man erklärend ausfüh-
ren, was der Vers andeutet. Weiter würde ich allerdings auch nicht gehen:
detailliertere Kongruenzen zwischen dem Inhalt der beiden Gebete bei Vergil
und Prudentius herzustellen, halte ich zumindest für gewagt49.
Auch der hl. Paulinus v. Nola hat den Aeneisvers einmal benutzt, und
zwar in einem Gebetsanruf an den von ihm besonders verehrten hl. Felix.
Paulinus schildert, wie ein armer Bauer durch Diebstahl das Vieh verliert und
in seinem Schmerz mit dem Heiligen hadert (carm. 18):
Ich habe oben S. 45 [144] bemerkt, daß nicht alle christlichen Schrift-
steller die χρήσις mit gleich gutem Erfolg übten. Ergänzend ist festzustellen,
daß auch von Fall zu Fall der Gebrauch des antiken Formen- und Gedanken-
guts besser und schlechter geraten, vollkommen gelingen und auch gänzlich
mißlingen kann. Das gilt im philosophischen Bereich, aber auch in jedem
anderen, z.B. eben auch in der christlichen Poesie. Damit will ich nicht sagen,
daß der Gebrauch, den hier Paulinus von jenem Vergilvers macht, unberechtigt
oder gar gedanklich mißglückt wäre. Der Kontext bei Paulinus ist ja insgesamt
ein ganz anderer als bei Prudentius. Paulins Gedicht zeichnet sich durch die
christliche Nutzung der Bukolik aus und muß in diesem Zusammenhang inter-
die Christen gerade dem sechsten Aeneisbuch zuwandten, hat Pierre Courcelle gezeigt: Les
pfcres de l'eglise devant les enfers virgiliens: Archives d'histoire doctrinale et litt6raire du Moyen
Age 3 (1955) 5/74. Hier liegt mancherlei Material bereit, das einer vertiefenden Deutung harrt.
49 Smith 271/76 macht etliche gute Beobachtungen zum ersten Psychomachievers, aber er
zieht die Parallele zu Vergil teilweise zu stark aus. Daß die Verse psych. 2/4 (Einheit Christi mit
dem Vater) dem Anruf: dique deaeque omnes bei Verg. Aen. VI 64 entsprechen sollen - Smith
275: "The two prayers have a basic similarity of movement ..." etc. - , ist haltlos. Deutliche
Übernahmen verleiten nicht selten zu exzessiven Folgerungen. Ein weiteres Beispiel: Antonio
Salvatore, Studi Prudenziani (Napoli o.J. [1958] 63f.) zu der χρήσις Horazens (carm. IV 5) bei
Prud. cath. 5, 1/4! Auch Salvatore wollte die Strukturen - in diesem Fall der ganzen Gedichte -
in Parallele setzen, was zu weit geht: vgl. dazu den neuen Kommentar von Marion M. van
Assendelfit, Sol ecce surgit igneus. A Commentary on the Morning and Evening Hymns of
Prudentius (cath. 1, 2, 5 and 6), Groningen 1976, 126f. Zu dem ausgezeichneten Beispiel
dichterischer χρήσις bei Prud. cath. 5, Iff. wäre mehr zu sagen, als ich hier vorbringen kann.
[152] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 61
pretiert werden50. Aber vergleicht man nun einmal Vers mit Vers: Paulinus
einerseits mit Vergil und Prudentius andrerseits, dann muß man zugeben, daß
der Gebrauch des Vergilischen bei Paulinus in diesem speziellen Fall sehr viel
schwächer wirkt als bei Prudentius. Nicht etwa nur deswegen, weil Paulinus
sich mehr vom Wortlaut des Aeneisverses löst, sondern weil bei ihm nichts
mehr zu spüren ist von dem großen Pathos Vergils, das bei Prudentius erhal-
ten, ja gesteigert wird. Aeneas steht in entscheidungsvoller Stunde als Vertre-
ter seines Volks vor Apollon, Prudentius bittet Christus im Namen der Mensch-
heit um Hilfe! Damit ist natürlich das Jammern des bestohlenen Bauern nicht
vergleichbar: er denkt nicht an die graves (!) labores der um ihre Rettung
kämpfenden und leidenden Menschen, sondern nur an seinen privaten Kum-
mer (vgl. meos [!] ... labores).
Der Vergleich des verschiedenen Gebrauchs, den Prudentius und Pau-
linus von dem Vergilvers machen, ist also weniger für Paulinus abträglich als
für Prudentius erhellend. Man sieht auf diese Weise noch besser, wie tief
Prudentius das Vergilische begriffen und verwandelt hat. Kann man wirklich
das Ziel so weit verfehlen, daß man hier im ersten Vers der Psychomachie
"anti-vergilische Ironie" am Werke sieht? Smith (276) beweist, daß heute sol-
che Verirrung tatsächlich möglich ist, aber er wird - hoffentlich! - keinen
Glauben finden.
Eine reizvolle, aber gewiß nicht immer leichte Aufgabe, die sich dem
Dichter der Psychomachie stellte, bestand darin, jene unsinnlichen Wesen, die
er wie Personen auftreten ließ51, zu lebensvollen Gestalten zu formen. Prudentius
entledigte sich der Aufgabe mit solchem Erfolg, daß mehr als ein Jahrtausend
hindurch die Künstler der verschiedensten Epochen - von der Spätantike über's
Mittelalter bis hin zu Renaissance und Barock - durch dieses Gedicht direkt
oder indirekt Anregungen empfingen52. Die Szenerie der späteren Kämpfe
fällt allerdings reicher aus als hier beim ersten. Denn das Ganze gehorcht dem
Gesetz der Steigerung: die Einzelkämpfe werden immer länger, die Schilde-
rungen immer bunter, Reden gehen hin und her. Die Kunst des Dichters gibt
dem Geschehen stets neue Wendungen, umkleidet Tugend- und Lastergestalten
mit immer neuen charakteristischen Rüstungen und Gewändern. Szenen wie
etwa der Auftritt der Luxuria (310/43) bilden Prunkstücke poetischer Darstel-
lungskraft. Demgegenüber nimmt sich der erste Kampf, den der christliche
Glaube {Fides) gegen den heidnischen Götzendienst (veterum Cultura deorum)
führt, verhältnismäßig einfach aus53. Doch zeigt sich die Meisterschaft nicht
nur im prachtvollen Gemälde, sondern auch in der bescheidenen Skizze. Mit
wenigen sicheren Strichen entwirft Prudentius das Bild der Fides. Sie erscheint
als amazonenhafte Kämpferin. Ein Zug tritt besonders hervor: der Verzicht
auf jegliche Waffe. Schultern und Arme sind nackt, das Haupt ist unbedeckt
(23). Sie führt keine Schutz- und keine Angriffswaffe (25). Sie vertraut allein
auf ihre Stärke (26). Wie selbstverständlich, unauffällig fast und kaum vom
Ganzen abzulösen, verbindet sich mit diesem Hauptzug ein anderer: die Ein-
fachheit des Äußeren. Sie wird durch die Wendung agresti... cultu (22) be-
tont. Die im folgenden Vers (23) genannten descriptiven Details sollen den
Begriff der bäurischen Schlichtheit erläutern, passen aber eben, wie gesagt,
gleichzeitig auch zu dem Mut der Kämpferin. Das ungeschnittene, das Haupt
frei umgebende Haar (vgl. intonsa comas) erinnert an die caesaries epischer
psych. 42/48 als eine mit Schwefel und Feuer hantierende Furie vorgestellt. Nur eine poetische
Einkleidung der Vorstellung von der Feuersglut der Sinnenlust? Aber bei Cassian (coll. II 13:
CSEL 13, 55) beobachtet ein Abt, wie der Dämon der Sinnlichkeit einen Asketen bedroht: cernit
Aethiopem taetrum contra illius cellulam stantem atque ignita adversus eum iacula dirigentem -
das sind die ignea tela der Libido (psych. 46f.).
52 Vgl. A. Katzenellenbogen, Die Psychomachie in der Kunst des Mittelalters, Diss. Ham-
burg 1933. In überarbeiteter Form erschienen unter dem Titel: Allegories of the Virtues and
Vices in Mediaeval Art (London 1939) = Studies of the Warburg Institute 10, wiederabgedruckt
als Taschenbuch: New York (The Norton Library) 1964. Einen Überblick gibt Lavarenne in der
Einleitung seiner Spezialausgabe der Psychomachie 74/78 (wiederabgedruckt in der leichter
zugänglichen Gesamtausgabe Bd. 3: ebd. 41/45 zur Kunst).
53 Zu dem langen Namen: veterum Cultura deorum s. "Studien" 31. Smith 283 macht
hierzu auf den Vergilvers Aen. VIE 187 aufmerksam: vana superstitio veterumque ignara deorum.
Die Folgerungen jedoch, die er aus der formalen Ähnlichkeit der Ausdrücke zieht, sind mehr als
gewagt, zumal hier, wie oft bei Smith, die Möglichkeiten des Verständnisses selbst seitens eines
antiken Lesers überschätzt werden. Die "arte allusiva" der antiken Dichter (vgl. Giorgio Pasquali:
Stravaganze quarte e supreme, Venezia 1951, 11/20) ist bei allem Raffinement doch keine
dunkle Tüftelei.
[152/153] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 63
Helden, mag es auch zunächst die rusticitas der Fides | unterstreichen - den
Gegensatz dazu bildet etwa die zu einer Turmfrisur emporgesteckte, durch
fremdes Haar aufgefüllte Lockenpracht der Superbia (183/85). Prudentius hat
es nun weiter verstanden, Erscheinung und Verhalten der Fides zu einer Ein-
heit zu verbinden, indem er das für eine Kämpferin höchst ungewöhnliche
Äußere durch die Eile ihres Auftritts erklärt, die ihrerseits wiederum in der
mutigen Zuversicht und dem brennenden Verlangen nach Ruhm gründet (24:
namque repentinus laudis calor ... eqs.; vgl. auch 22: turbida)54. Zugleich
erreicht er so, betrachtet man die Dinge unter dem Gesichtspunkt der poeti-
schen Technik, einen schwungvollen, ruckartigen Beginn der Handlung.
Gewiß wird niemand erwarten dürfen, für diese eigenartige Szene ein
vollkommenes Vorbild in der antiken Poesie zu entdecken. Und doch begeg-
net gerade in den vergilischen Schlachtenschilderungen ein Held, dessen Er-
scheinung in mancher Beziehung an den Auftritt der Fides erinnert: der Etrusker
Herminius. Ich zitiere die Stelle (Aen. XI 640ff.):
"Catillus streckt den Iollas nieder und den Herminius: den Hermi-
nius gewaltig an Mut, gewaltig durch Wuchs und durch Waffen,
den helmlosen Scheitel von Blondhaar umwallt, nackt die Schul-
tern; Wunden schrecken ihn nicht: solche Blößen bietet er den Waf-
fen. Ihm fährt die Lanze durch die breiten Schultern, erzittert und
beugt, hindurchgestoßen, den Helden schmerzvoll zusammen."
Zwar heißt Herminius auch ingens armis (641), aber das hervorste-
chendste Merkmal seiner Erscheinung bildet doch die mangelhafte Wappnung:
tantus in arma patet (644). Darin gleicht er der Streiterin, die uns bei Pru-
dentius entgegentritt membris retectis (vgl. 26). Das gilt nicht nur grosso modo,
54 Turbida hat hier seine übliche Bedeutung, wie Lavarenne, Komm. 217 z. St. richtig
gegen Bergman bemerkt: "Son trouble provient de son indignation contre PIdolätrie". Der
Ablativ agresti... cultu ist modal zu fassen.
64 Prudentiana II. Exegetica [153/154]
57 Die hier (Tafel Π, ΠΙ und IV) zur Abbildung ausgewählten Seiten der Berner Bilder-
handschrift (cod. 264 der Burgerbibliothek Bern, 1. Hälfte des 10. Jh. = cod. U der Ausgaben
von Bergman und Lavarenne) zeigen den Angriff der veterum Cultura deorum auf Fides (fol.
34v = p. 68 [Ausschnitt]), ihre Tötung durch Fides (fol. 35r = p. 69: vgl. dazu unten Anm. 84)
und den Triumph der Fides, die Bekränzung der Märtyrer (fol. 35" = p. 70: das Bild im oberen
Teil der Seite vor Vers 36). Zur näheren Beschreibung der Abbildungen, zum Vergleich mit den
übrigen Illustrationen derselben Szenen usw. verweise ich auf den Textband von Stettiner (235/
43). Ich hebe hier nur einen Punkt hervor. Die Tugend erscheint in dem dritten Bild anders
gekleidet als auf den beiden vorhergehenden Seiten derselben Handschrift: nicht mit entblößtem
Oberkörper, sondern in einem langen, langärmeligen Gewand, was im Text keine direkte Stütze
hat. Offenbar sollte der Verschiedenheit der Situation Rechnung getragen werden: die krönende
Fides ist eine andere als die kämpfende! Dieselbe Veränderung in der Gewandung der Figur läßt
auch der Vossianus in Leiden, ein Hauptvertreter der anderen Miniaturengruppe (s. die folgende
Anmerkung), erkennen, dessen sehr skizzenhafte Zeichnungen ich kürzlich im Original betrach-
ten konnte (vgl. Stettiner Tafel 19, 2). Vielleicht gehört also diese verschiedene, den Text frei
interpretierende Behandlung der triumphierenden Fides zu denjenigen Zügen der Psychomachieil-
lustrationen, die bis auf den Archetypos oder sogar auf den ersten Entwurf selbst zurückreichen. Im
Vossianus ist auch das Haar verschieden gegeben: lang und wild in den beiden Kampfszenen,
kurz und ordentlich in der Krönungsszene - und nur in dieser trägt die Tugend einen Heiligen-
schein (sowohl im Vossianus als auch in der Berner Handschrift). Die Farbigkeit der Miniaturen
verdient, soweit vorhanden, ebenfalls Beachtung, worauf ich hier nicht weiter eingehe. Die
Seite 69 des Berner Codex ist auch abgebildet bei W. Braunfels, Die Welt der Karolinger (1968)
Abb. 300, die Seite 70 bei Otto Homburger, Die illustrierten Handschriften der Burgerbiblio-
thek Bern, 1962, Tafel 9 (farbig) und bei J. Hubert - J. Porcher - W.F. Volbach, L'empire
carolingien, Paris 1968, Abb. 303. Herrn Bibliothekar Dr. Chr. v. Steiger, Bern, danke ich für
freundliche Auskunft und für die Erlaubnis zur Reproduktion der Miniaturen.
58 Es sind dies ein Parisinus des 10. Jh. (lat. 8318) und ein Leidensis des 11. Jh. (Voss. lat.
Oct. 15), mit denen sich noch weitere Hss. zu einer Gruppe zusammenfügen: ihnen steht eine
zweite Gruppe gegenüber, deren Illustrationen auf einer karolingischen Zwischenquelle fußen
und stärker überarbeitet sind. Vgl. Stettiner a.O. 151ff. (ebd. 201 ein Stemma). Zur letzteren
Gruppe gehört der Berner Codex, s. die vorige Anmerkung.
59 Katzenellenbogen a.O. (oben Anm. 52, ich zitiere die Dissertation) 12. Über die Wir-
kung der Marcussäule auf die Kunst der Spätantike und des Mittelalters vgl. M. Wegner, Die
kunstgeschichtliche Stellung der Marcussäule: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Insti-
tuts 46 (1931) 61/174, bes. 107/11 zum Adlocutionsschema.
66 Prudentiana II. Exegetica [154]
Der Künstler mag angesichts der Monumente selbst, vielleicht aber auch nach
einer illustrierten Beschreibung der Säulen, die er als Musterbuch benutzte,
gearbeitet haben. Wie Prudentius selbst sich seine Anregungen aus Vergil
holte, so der Miniator aus den Zyklen der Säulenreliefs, und wie das Vergilische
bei Prudentius neu gestaltet wird und einen neuen Sinn erhält, so auch das
künstlerische Formengut der Antike durch den Zusammenhang mit dem Dichter-
text und die Anpassung der Malereien an die Aussage des Textes. Ein Bei-
spiel: Auf der Marcussäule ist dargestellt, wie ein Barbar auf zügellosem Pferd
in wilder Flucht auf zwei ruhig stehende römische Soldaten lossprengt, von
denen der eine auf den heranjagenden Reiter deutet, das Geschehen aufmerk-
sam, doch ohne Erregung verfolgend. Diese oder eine ähnliche Szene hatte
der Miniator vor Augen, als er den Angriff der Superbia auf Mens Humiiis
und Spes illustrierte. Das Motiv der Flucht war für ihn freilich nicht brauchbar
- ebenso wenig wie etwa für Prudentius der Tod des Herminius an der bespro-
chenen Vergilstelle. Denn Superbia greift ja an, flieht nicht. Löste er die Sze-
ne jedoch aus dem originalen Zusammenhang, so bot sie eine treffende Vorla-
ge. Ein Kenner der Materie bemerkt dazu60: "Die typische Komposition einer
profanen Kriegsdarstellung wird in das Bild einer allegorischen christlichen
Kampfszene übernommen und umschließt, textentsprechend abgewandelt, ei-
nen christlichen Inhalt, der darin seinen vollkommenen Ausdruck findet." Mit
fast denselben Worten könnte man das Verfahren des Prudentius beschreiben,
obschon die Leistungen von Dichter und Miniator nicht voll kommensurabel
sind. Denn der Maler arbeitet ja auf der vorgegebenen festen Grundlage des
Textes. Die literarische Leistung ist in diesem Fall komplizierterer Natur.
Welcher innere Sinn liegt nun in der Darstellung der Fides bei Pruden-
tius? Welchen Begriff hatte der Dichter vom christlichen Glauben, daß er sich
durch eine Schilderung wie die des Herminius bei Vergil anregen lassen konn-
te? So viel lehrte uns bereits der erste Augenschein: es sind auch in diesem
Fall nicht bloße Formalien, die der Dichter der Vorlage entnimmt, es ist ein
Gedanke, den er auf seine Weise nutzt! Der Gedanke nämlich, daß sich Mut
und Zuversicht eines Kämpfers im Verzicht auf schützende Wappnung offen-
baren können. Aber was für einen Mut und was für eine Zuversicht meint
Prudentius? Worin liegt das Neue? Schwen (5) erklärt lapidar: "Das Bild des
nicht gepanzerten Kämpfers: bei Vergil ein Zeichen frevelnden Leichtsinnes
60 Vgl. Katzenellenbogen 13. Ebd. weitere Beispiele samt der dazugehörigen Bildernach-
weise.
[154/155] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 67
(...), bei Prudentius eines besonderen Mutes". Das ist im Falle des Herminius
schief, im Falle der Fides zu wenig. In solchen dürren Feststellungen zeigen
sich die | Grenzen dieser in ihrer Art tüchtigen Dissertation. Smith sieht schärfer
hin, verfehlt aber trotzdem das Ziel. Er meint (162), Fides repräsentiere den
Enthusiasmus des Neophyten, also des Neugetauften, da ja Fides als erste
Kämpferin auftrete. Aber die Psychomachie bietet keine chronologisch geord-
nete Seelengeschichte. So läßt sich die Reihenfolge der Tugenden nicht erklä-
ren. Die Anfangsstellung gerade der Fides hat zwar einen guten Sinn, aber
einen viel allgemeineren und tieferen: der Glaube ist Anfang, Fundament und
Mutter allen christlichen Lebens und muß daher allem vorangehen: άπάντων
πραγμάτων ή πίστις προηγείται (Theophil, ad Autol. I 8)61. Im übrigen
wäre es schlimm, wenn der Neophyte mehr Begeisterung zeigte als der im
Glauben Fortgeschrittene! Das wäre nicht christlich gedacht, derlei dürfen wir
einem Prudentius nicht zutrauen. Auch würde so die Personifikation nicht
ihrer Aufgabe gerecht, den dargestellten Begriff zur Gänze und in typischer
Weise auszudrücken.
Nein: jene Sicherheit, die uns in Gestalt der Fides bei Prudentius bild-
haft entgegentritt, ist die πληροφορία πίστεως (Hebr. 10,22): die feste Über-
zeugung, die volle Zuversicht des gläubigen Christen schlechthin. Von ihr
spricht z.B. Paulus an einer Stelle, die sein eigenes Auftreten als Apostel
beschreibt (1 Thess. 1,5): "Denn unsere Heilsbotschaft erging an euch nicht
nur in Worten, nein auch mit Macht, im Hl. Geiste und mit großer Zuversicht
(έν πληροφορία πολλή)". Der erste Clemensbrief charakterisiert so das Auf-
treten aller Apostel (1 Clem. 42, 3): "Sie empfingen also den Befehl, und von
Zuversicht erfüllt (πληροφορηθέντες) ob der Auferstehung unseres Herrn Jesus
Christus und im Glauben festgegründet (πιστωθέντες) durch das Wort Got-
tes, gingen sie hinaus mit der vollen Sicherheit des Hl. Geistes (μετά
πληροφορίας πνεύματος άγίου), um die frohe Botschaft zu verkünden, daß
das Reich Gottes kommen werde." Der Begriff πληροφορία (πληροφορεΐσθαι)
kommt auch sonst vor62 und erst recht natürlich die Sache, für die er steht. Die
Plerophorie zeichnet insbesondere die Märtyrer aus, deren Kämpfe Prudentius
in den Hymnen περί στεφάνων (Peristephanon) vorführt. Hier hat die πληρο-
φορία πίστεως auf andere Weise einen vollkommenen Ausdruck gefunden.
Es wundert daher nicht, wenn sich typische Züge der Märtyrerkämpfe gegen
Richter und Folterknecht - die Unerschütterlichkeit der Überzeugung, die freie,
ja herausfordernde Sicherheit des Auftretens trotz aller Bedrohung - in der
besprochenen kurzen Szene der Psychomachie wie in einem Brennspiegel kon-
zentrieren63. Auch das Verlangen nach Ruhm gehört dazu: Fides bekränzt
nach errungenem Sieg die Märtyrer porta pro laude (psych. 38). Das sagt
genug. Es ist der "unverwelkliche Kranz der Herrlichkeit", den sie empfan-
gen (vgl. 1 Petr. 5, 4: τον άμαράντινον της δόξης στέφανον). So hat auch
das epische Motiv des Schlachtenruhms in der Psychomachie eine verwan-
delnde Nutzung erfahren.
Daß übrigens Fides dubia sub sorte duelli antritt (21), soll nicht etwa
Zweifel an dem Ausgang des Kampfes wecken64 - der Sieg der Tugenden ist in
der Psychomachie niemals ernstlich gefährdet - , geschweige denn eigene Unsi-
cherheit der Kämpferin andeuten. Der Ausdruck kennzeichnet vielmehr das
insanum bellum (27) im allgemeinen, wie schon ältere Erklärer richtig sahen65,
und dient dazu, einen Kontrast zu schaffen, vor dem sich der siegreiche Mut
der Fides desto wirkungsvoller abheben kann. Bleibt schließlich noch der
agrestis cultus der Tugend. Hierzu ist ebenfalls längst das Nötigste gesagt: non
enim adpraedicandum philosophos, sedpiscatores elegit46. Noch zu Arnobius'
Zeiten mußte sich der Christ das Schimpfwort rusticus gefallen lassen67, und
für alle Zeiten blieb der Glaube von der feinen Kultur unabhängig: surgunt
indocti et caelum rapiunt, et nos cum doctrinis nostris sine corde ecce ubi
volutamur in carne et sanguine? (Aug. conf. VIII 8, 19). Für die ästhetisch-
künstlerische Wirkung der Szene bei Prudentius entscheidend ist, wie bereits
bemerkt, die Tatsache, daß dieses descriptive | Detail mit dem der mangeln-
den Wappnung unlösbar verknüpft erscheint. Der Dichter war eben allenthal-
ben bemüht, verschiedene Seiten der Fides Christiana, die in der Sache ihre
Einheit besitzen, auch äußerlich zu einer Gesamtgestalt zu verbinden.
als solche kann befremden, sondern vielmehr die Tatsache, daß sie in einem
christlichen Gedicht vorkommt, ja sogar beherrschend hervortritt: daß fast
alle christlichen Tugenden grausame Kriegstaten verüben.
Was frühere Interpreten zur Erklärung des Tatbestands beitrugen, ent-
hält nichts Überzeugendes. Man erinnerte an den angeblich grausamen spa-
nischen Nationalcharakter, der sich bei Prudentius ebenso äußere wie bei sei-
nen Landsleuten Seneca und Lucan71, rechnete auch wohl mit dem allgemeinen
Einfluß der dichterischen Tradition. Ein Gelehrter meinte wiederum, das Grau-
sige der Psychomachie sei Ausdruck der persönlichen Veranlagung des Dich-
ters72, ein anderer entdeckte darin den natürlichen, von keinerlei moralischen
Bedenken eingeschränkten Trieb des Menschen73. Smith behauptet nun sogar,
zwischen dem Auftritt der von warmen Gefühlen bewegten Fides und der
Brutalität, deren sie sich fähig erweist, herrsche "ein Widerspruch" ("a clash").
Natürlich muß dieser vermeintliche Widerspruch dazu herhalten, die Theorie
des "Anti-Vergilianismus" bei Prudentius zu stützen, worauf ich hier nicht
weiter eingehe74.
Gegenüber all diesen weithergeholten, teils auch einander zuwiderlau-
fenden Erklärungsversuchen ist festzuhalten, daß der Grund für die Grau-
samkeiten der Psychomachie ein sachlicher, d.h. ein im Anliegen des Gedichts
selbst begründeter sein muß. Will man ihn recht erfassen, hat man von der
Tradition der antiken Dichtung, insbesondere des lateinischen Epos, auszuge-
hen, aber eben nicht in der Weise, daß man dem christlichen Dichter unter-
stellt, er habe sich dem "Einfluß" der vorchristlichen Epik geöffnet, gehorche
den Gesetzen des Genos oder dem Zeitgeschmack, ohne auch nur zu bemer-
71 Vgl. "Studien" 48f. Die dort u.a. genannte Untersuchung von Ramön Menendez Pidal,
Die Spanier in der Geschichte (übersetzt von Κ. A. Horst) liegt jetzt in einem Nachdruck vor
(Darmstadt 1973). Der spanische Gelehrte glaubt zwar, Charakterzüge seines Volks schon in
vorrömischer Zeit nachweisen zu können, und entdeckt typisch Spanisches auch in den Märtyrer-
hymnen des Prudentius, aber gerade die Grausamkeit rechnet er nicht zu den Eigenarten spani-
schen Wesens. Curtius* Kritik an Men6ndez Pidal (Europ. Lit. 426f.) läßt im übrigen ahnen, wie
wenig stichhaltig solche allgemeinen, den Volkscharakter betreffenden Vermutungen im Falle
des Prudentius sind. Ob sie überhaupt je die Textinterpretation stützen können? Wenn jedenfalls
heute sogar moderne Scheußlichkeiten wie das Bühnenstück "Garten der Lüste" von Fernando
Arrabal mit dem spanischen Nationalcharakter erklärt werden (so war es in einer Theaterkritik
zu lesen), dann zeigt das die Dehnbarkeit eines solchen interpretatorischen Prinzips.
72 Italo Lana, Due capitoli Prudenziani, Rom 1962, 89.
73 Emanuele Rapisarda in der Einleitung seiner Spezialausgabe der Psychomachie, Catania
1962, 17. Die vage geistesgeschichtliche Linie, die er von den Kampfszenen der Psychomachie
zum Ritterroman des Mittelalters zieht, hilft dem konkreten Bedürfnis des Prudentiusinterpreten
wenig.
74 Smith 162, vgl. 282: "This sudden transformation of Faith's conduct ..." etc. Es gibt
nichts dergleichen. Die ganze Szene ist eine vollkommene Einheit.
[156/157] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 71
ken, wie unchristlich das doch alles sei! Prudentius ist ein so entschiedener
Christ, die Psychomachie ein so sorgsam durchdachtes geistiges Gebilde, daß
eine naive Hingabe an Tradition, Gattungszwang oder Zeitgeschmack, noch
dazu in einem dermaßen auffälligen Punkt, gar nicht in Frage kommt. Pru-
dentius läßt sich von diesen Kräften nicht treiben, er nutzt sie voll bewußt für
seine Zwecke75. Welches sind diese Zwecke? Es ist wichtig, sich gegenwärtig
zu halten, daß in der Psychomachie nicht | Menschen gegeneinander kämp-
fen, sondern übersinnliche Wesen, 'personifizierte Abstrakta', wie wir sagen.
Nicht vergilische Helden töten und werden getötet, sondern Tugenden und
Laster. Zwar erscheinen im Gefolge der einen oder anderen Hauptgestalt auch
Menschen - etwa die Märtyrer im Heer der Fides - , aber in das Geschehen
des allegorischen Gedichts greifen sie nicht ein. Die Auseinandersetzung wird
auf einer höheren, allgemeineren Ebene geführt. Gegen das Gute, dargestellt
in den verschiedenen Tugenden, steht das Böse in Gestalt der Laster. Das Gute
und das Böse sind unversöhnliche Gegensätze76. In der allegorischen Einklei-
dung können darum die Vertreter des Guten und des Bösen nur bedingungslose,
gnadenlose Feinde sein. Aeneas ist geneigt, den Bitten des besiegten Turnus
nachzugeben; da erblickt er an Turnus die Waffen des getöteten Pallas, und
erbittert senkt er das Schwert in die Brust des Gegners (Aen. XII 940ff.).
Superbia bittet, aber ungeachtet ihres Bittens schlägt ihr die Tugend das Haupt
ab (282f.). Die beiden Ereignisse sind trotz einer gewissen Ähnlichkeit im
äußeren Handlungsablauf grundverschieden. Aeneas kann Mitgefühl zeigen,
kann zwischen wechselnden Empfindungen schwanken: er ist ein Mensch.
Die Tugend kann und darf das nicht, sonst wäre der geistige Sinn des
Geschehens zerbrochen. Daß die Demut zögert und erst von der Hoffnung
ermuntert werden muß, die gefallene Gegnerin zu töten (278f.), ist mit dem
Zaudern des Aeneas (I.e. 940) nicht vergleichbar: das Zögern der Demut wird
nicht durch die Bitten der besiegten Feindin hervorgerufen, ist überhaupt nicht
durch die Gegnerin, sondern allein durch das eigene Wesen der Tugend moti-
75 Es kann daher durchaus nützlich sein, die Ästhetik heidnischer und christlicher Autoren
im Zusammenhang eines gemeinsamen, der Spätantike eigentümlichen Geschmacks zu betrachten,
wie dies Fontaine a.O. (oben Anm. 27) 758' fordert. Aber derlei wird für denjenigen Interpre-
ten christlicher Texte und Denkmäler, der das Wesen der Phänomene erfassen will, niemals
etwas anderes sein als eine bloße Vorarbeit.
76 Vgl. etwa Ruf. Orig. comm. in Rom. ΠΙ 1 (PG 14, 925 A): istae enim (sc. iustitia et
iniustitia) sibi naturaliter adversantur. Vom Standpunkt der paganen Ethik aus: Cie. Lael. 47.
Jede bildhafte Gestaltung des Gedankens fuhrt sofort in die Nähe der Psychomachie, z.B. Ruf.
Orig. 1. c. II 1 (873 B): (...) iustitia iniustitiam trudet et sapientia stultitiam et sobrietas luxuriam
jugabit. Vgl. unten Anm. 96.
72 Prudentiana II. Exegetica [157]
viert77. Vor diesem Hintergrand muß man die Grausamkeiten der Psycho-
machie insgesamt sehen: sie sind das ästhetische Mittel zur Darstellung eines
elementaren moraltheologischen Faktums, nämlich der Tatsache, daß nichts
Böses mit dem Heiligen Gemeinschaft haben, nichts Unreines in den Himmel
eingehen kann78.
Man könnte trotzdem fragen, ob die Nutzung der Grausamkeit epischer
Schlachtenschilderungen durch Prudentius nicht ein Fall von mißglückter χρήσις
ist, und mancher moderne Betrachter wird geneigt sein, die Frage zu bejahen.
Aber an diesem Punkt muß das historische Verständnis einsetzen. Die moder-
ne Welt bietet nicht weniger Grausamkeiten als die antike, und genug davon
wird in Wort und Bild festgehalten. Aber wir besitzen keine kulturelle, keine
literarische oder ikonographische Tradition, in der die Grausamkeit einen alt-
hergebrachten und anerkannten Platz hätte. Eben dies war jedoch in der Anti-
ke der Fall79, und es ist gerade eine der großen Leistungen des Prudentius, daß
er diese Tradition nicht ignorierte oder auszuschalten versuchte, sondern im
Gegenteil: fest ergriff und seinem Zweck dienstbar machte. Statt auf jenes
Element der weltlichen Ästhetik seiner Kultur und seiner Epoche zu verzich-
ten, formte er es christlich: er nutzte es, statt es fortzuwerfen. Darin spiegelt
sich die Leistung des alten Christentums insgesamt. Prudentius leistete hier
auf ästhetischem Gebiet, was andere Christen auf dem Gebiet des Kultus (der
Liturgie) oder der Philosophie oder der Rhetorik oder der bildenden Kunst
leisteten, indem sie vorgefundene Güter zur Darstellung der christlichen Leh-
re gebrauchten. Die Grausamkeiten der Psychomachie sind ein Beitrag zur
totalen Umorientierung der antiken Kultur, zur καθολική μετάθεσις, um mit
Clemens v. Alexandrien zu reden80.
77 Wir vernehmen nicht einmal die Worte der besiegten Superbia. Daß sie bittet, liegt nur
in einem Wort der Schilderung beschlossen (282f.): Tunc caput orantis flexa cervice resectum
Eripit (sc. Mens Humiiis)... eqs.
78 Besonders hervorzuheben ist hier Apc. 21, 27: και ού μή εΐσέλθη εις αύτήν (sc. εις
τήν πόλιν) παν κοινόν καν ό ποιών βδέλυγμα καΐ ψευδός ... κτλ. Denn der Tempel, den
die Tugenden in der Psychomachie nach Tötung der Laster errichten, wird in engem Anschluß
an die Stadt der Apokalypse geschildert (vgl. "Studien" 93ff.). Ferner s. 1 Cor. 6, 9f.; Apc. 21,
8; 22, 15.
79 Für die ikonographische Tradition mag es genügen, wiederum an die beiden antiken
Triumphsäulen in Rom zu erinnern: heransprengende Reiter, die dem Feldherrn mit ausgestreck-
tem Arm abgeschlagene Barbarenhäupter weisen, an Pfählen aufgespießte Köpfe, Gefallene sich
unter Pferdehufen windend, Folterszenen im feindlichen Lager u.a. bilden feste Bestandteile der
Bilderzyklen - obwohl aufs Ganze gesehen nicht zu verkennen ist, daß der Kunst in der Darstel-
lung grausiger Details engere Grenzen gezogen sind als der Literatur.
80 Clem. Alex, ström. VI 47, 1 (GCS 52, 455): γέγονεν άρα τις καθολική κίνησις και
μετάθεσις κατά την οίκονομίαν τοΰ σωτήρος. Die Äußerung steht bei Clemens in anderem
[157/158] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 73
Zusammenhang, doch in einem, der die Übertragung auf unser Thema nicht ausschließt. Vgl.
auch die Sätze aus Paulinus oben Anm. 36, wo vertere (dirigere) neben uti vorkommt.
81 Dazu s. "Studien", bes. 51/81, wo ich allerdings - bei noch beschränkter Einsicht in die
wahren Verhältnisse - das Talionsprinzip als die alleinige Möglichkeit ansah, das in der Grau-
samkeit der Tugenden liegende sachliche Problem zu lösen. Der hier dargestellte, weitere und
tiefere Sinn dieses ästhetischen Mittels ist dort (47f.) nicht klar genug entfaltet.
82 Turnus bittet Aen. XII 97ff.: da (sc. hasta) sternere corpus (...) Semiviri Phrygis et
foedare in pulvere crinis Vibratos calido ferro murraque madentis. Was Turnus hier dem
'Weichling' Aeneas wünscht, läßt Prudentius beim Tode der Luxuria Wirklichkeit werden: ihr
parfümiertes Haar (psych. 312) wird mit Schmutz besudelt: comamque madentem Pulvere
foedatur (413f.). Solche Züge des vergilischen Gedichts mußten den christlichen Dichter, der
überall darauf bedacht war, die Tötungen als dem Laster angepaßte Strafaktionen erscheinen zu
lassen, zu eigenem Gebrauch anregen. Anderes dieser Art: "Studien" 58".
83 Zum folgenden vgl. "Studien" 7460, wo auch darauf aufmerksam gemacht wird, daß
bereits ein mittelalterlicher Erklärer den tieferen Sinn der Szene erkannte.
84 Das merkwürdig Unanschauliche dieses Tötungsakts bereitete denn auch den Prudentius-
illustratoren erhebliche Schwierigkeiten. Beachtenswert, daß in der Berner Handschrift das La-
ster mit einem Strick erdrosselt wird (siehe die Abbildung Tafel III), was sich durch ein Mißver-
ständnis der künstlerischen Vorlage, aber auch des Texts erklären dürfte (Stettiner, Textband
241)! Ein ähnliches Mißverständnis begegnet übrigens in der Darstellung der Tötung der Avari-
tia (psych. 589/95), wo die kühne Ausdrucksweise des Dichters die Miniatoren an Fesselung des
Lasters bzw. an Erdrosselung mit einem Band (statt, wie richtig, an Erdrosselung mit bloßen
Armen) denken ließ. Die Beischrift zu diesem Bild lautet in fast allen Handschriften: Largitas
avaritiam ligat (!). Vgl. dazu Stettiner, Textband 354f. Derlei Mißverständnisse können sich
nicht etwa nur bei mittelalterlichen Buchmalern bilden: hierüber s. W. Richter, Vergil, Georgica,
München 1957, 386 zu Verg. georg. 4, 405.
74 Prudentiana II. Exegetica [158]
"Als das Leben der Menschen - ein elendes Schauspiel - auf der
Erde darniederlag, niedergedrückt durch die Last der Religion,
die ihr Haupt aus den Regionen des Himmels zeigte, mit gräßli-
chem Anblick über den Menschen stehend (...)",
85 Ein merkwürdiger Fall, der noch einer befriedigenden Erklärung harrt, ist der folgende:
die Tugend Pudicitia trägt herrliche Waffen (41) und tötet ihre Gegnerin mit dem Schwert
(49f.). Aber seltsamerweise wehrt sie die Fackelstöße der Libido mit einem saxum (47) ab! Das
epische Motiv des Steinwurfs braucht Prudentius für die Sobrietas (417ff.), dort jedoch mit
gutem Grund, denn Sobrietas ist waffenlos. Warum nahm Prudentius die Doppelung des Motivs
in Kauf? Warum wird der Stein von Pudicitia zudem noch auf höchst unrealistische Weise (vgl.
Schwen 9) als Defensivwaffe benutzt? Es muß ein spezieller, allegorischer Bezug vorliegen.
Das Richtige ist, wie gesagt, noch nicht gefunden. Giselinus - selbst Arzt - führte eine Galenstelle
an: De sanitate tuenda VI 14, 11 (Weitz, Sylloge 478), die nicht trifft, aber immerhin zeigt, daß
der Gelehrte die Notwendigkeit eines speziellen Bezugs zwischen saxum und pudicitia bzw.
libido erkannte (Lavarenne, Kommentar 219f. macht es sich zu einfach).
[158/159] IV. InterpretationfrühchristlicherLiteratur 75
da wagte es zuerst Epikur, die Augen zu erheben und gegen sie anzutreten
(66f.). Er blieb Sieger (75: victor):
"Daher wird die Religion zur Vergeltung unter die Füße gewor-
fen und zertrampelt, uns hebt der Sieg zum Himmel empor."
Prudentius kannte Lukrez86, gewiß also auch diese berühmte Stelle, auf
die Vergil in seinem Preis Lukrezens in den Georgica (II 492) anspielt. Sie
wird ihren Eindruck auf den christlichen Dichter nicht verfehlt haben, und ich
meine, unser Passus zeugt davon. Natürlich darf man hier nicht bloß auf die
Worte sehen, man muß vielmehr die Vorstellung im Ganzen begreifen. Da ist
zunächst das drohende caput der lukrezischen Religio, das die Menschen
schreckt horribili ... aspectu. Prudentius seinerseits konzentriert Beschrei-
bung und Kampfhandlung ganz auf das caput der veterum Cultura deorum: er
stellt es uns als Haupt eines Ungeheuers vor, dessen Schläfen die Binden der
heidnischen Priester schmücken (30) und dessen Mund vom | Blut der Opfer-
tiere gesättigt ist (3 lf.). Die Religio wird bei Lukrez zertreten pedibus subiecta-,
dasselbe Schicksal erleidet die Götterverehrung in der Psychomachie, nur daß
Prudentius die Vorstellung wiederum detaillierter ausführt (pede calcat elisos
... oculos). Die Vergeltungsidee übrigens, die bei Lukrez besonders durch
vicissim (sc. subiecta, opteritur) hervorgehoben wird, mußte dem christlichen
Dichter ganz im allgemeinen sehr sympathisch sein. Weiter: auch bei Lukrez
handelt es sich um einen Kampf (67), auch hier gibt es einen siegreichen
Vorkämpfer (75) und einen Sieg, der die Menschen zum Himmel emporhebt
(79). Was aber schwerer wiegt: die Gegnerin ist dieselbe. Zwar kommt das
völlig andere Ziel der Kämpfe hier und dort durch den verschiedenen Namen
der Feindin zum Ausdruck - gegen die religio schlechthin konnte Fides natür-
lich nicht antreten - , aber Prudentius mochte mit gewissem Recht in der
lukrezischen religio die veterum Cultura deorum erblicken, auf deren Konto
Lukrez Greueltaten wie die Opferung Iphigenies (das 'exemplum religionis, :
Lucr. I 84/101) setzt.
86 Vgl. Emanuele Rapisarda, Introduzione alia lettura di Prudenzio, Bd. 1 Catania 1951:
Influssi lucreziani. Hier stehen begreiflicherweise die dogmatischen Lehrgedichte des Prudentius
im Vordergrund, die Psychomachie ist nicht behandelt.
76 Prudentiana II. Exegetica [159]
Trifft unsere Vermutung das Richtige, dann fassen wir hier ein exzel-
lentes Beispiel christlicher χρήσις: die furchtbare Götzendienerei wird zer-
treten, wie Lukrez empfand und schilderte, aber nicht dank der Heilslehre
Epikurs, sondern durch den christlichen Glauben. Zugleich lassen sich so die
unrealistischen Züge der prudentianischen Darstellung plausibel erklären. Die
Vernichtung des scheußlichen Haupts und die Strafe des pedibus subicere,
87
opterere wurden verbunden und unter Verwendung vergilischer Ausdrücke
zu einer epischen Kampfhandlung gestaltet, wobei auch - wegen des ange-
strebten symbolischen Gehalts - die Langsamkeit des Sterbens mit zu berück-
sichtigen war. Eine Folge solchen kombinatorischen Verfahrens ist das eigen-
tümlich Wirklichkeitsfremde der Handlung, das einst Schwen zu denken gab.
Prudentius hat derlei Nachteile, falls er sie als solche betrachtete, hier wie
auch sonst in der Psychomachie in Kauf genommen. Die Kraft der vielfältigen
geistigen Bezüge, die er in das Werk senkte, wird bisweilen so stark, daß das
darübergespannte Netz des äußeren Geschehens zu zerreißen droht.
Die Erklärer bemerken, Prudentius rufe hier Christus an, wie Homer
und Vergil zu Beginn ihrer Epen die Muse anrufen, und wirklich erinnert der
Imperativ: dissere, rex noster (5) an jene vertrauten Wendungen: "Ανδρα μοι
έννεπε, Μοΰσα - Musa, mihi causas memoraM\ Schwen notiert zudem die
stilistischen Übereinstimmungen dieses Gebets mit den hymnenartigen Götter-
und Musenanrufen etwa zu Beginn der Aeneis und der Georgica. Der Vokativ
(Christe), gefolgt von der Begründung des Anrufs in der Macht Gottes, formal
durch Partizip (miserate) und Relativsatz ( q u i . . . cluis) ausgedrückt, dann der
Imperativ: "sag' an!" {dissere) mit den anschließenden indirekten Fragesätzen
{quo.... quod...), welche das Thema des Gedichts angeben, endlich die nochma-
87 Es entsprechen sich: altior insurgens (psych. 31 ~Aen. ΧΠ902); solo adplicat (32 ~ Aen.
XII303 terrae adplicat)·, elisos oculos (33 ~ Aen. VIII261); difficilemque obitum (35 - Aen. IV
694 difficilisque obitus [ebenfalls zu Versbeginn]). Smith 284f. hat aus diesen versprengten
Verselementen unhaltbare Folgerungen gezogen, die seine Hypothese der antivergilischen Iro-
nie bei Prudentius stützen sollen.
88 Lavarenne, Kommentar 215: "Prudence commence son έρορέε all6gorique par Γ invocation
initiale traditionelle des dpopdes classiques (...). Mais tandis qu' Homere et Virgile s'adressent
ä la Muse, notre po£te prie naturellement le Christ." Ähnlich Bergman im Kommentar z.St.
Das ist zu wenig. Es werden bei Prudentius nicht einfach Namen ausgetauscht! Man muß sagen,
was sich inhaltlich verändert.
[159/160] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 77
lige Begründung des Anrufs (nec enim ...) samt näherer Beschreibung des
Gegenstands: all das findet sich ähnlich in den Invocationes zu Anfang und an
wichtigen Stellen innerhalb antiker Dichtungen. Den Gedanken also, daß der
Dichter sein Werk mit dem Anruf göttlicher Hilfe und der Bezeichnung seines
Themas beginnen müsse, und die stilistische Formung des Gebets hat Prudentius
mit der antiken Tradition gemein. Aber was ist bei ihm daraus geworden!
Um zunächst nur einzelne Punkte hervorzuheben: Die Musen rief der
antike Epiker an, damit sie ihm Ereignisse aus grauer Vorzeit in Erinnerung
brächten: et meministis enim divae et memorare potestis, | sagt Vergil (Aen.
VII 645). Nur das ist ihre Aufgabe: dem Gedächtnis des epischen Dichters
aufzuhelfen, damit er sich weit zurückliegender Vorgänge erinnere; sie sind ja
die Töchter des Zeus εϊρεΰσαι τά τ' έόντα τά τ' έσσόμενα πρό τ' έόντα
(Hes. theog. 38). Aber bei Prudentius wird derjenige um Beistand angerufen,
der selbst Lenker und Herr des Geschehens ist. Die Anreden rex noster und
dux bone sagen genug. Das Thema vollends, dem Prudentius sich zuwendet,
bedarf in ganz anderer Weise der göttlichen Offenbarung: denn es ist ein täg-
lich sich erneuerndes, aber tief verborgenes, geistliches Geschehen. Sucht man
nach Vergleichbarem in der Antike, so wären die Götteranrufe zu Beginn der
Lehrgedichte des Lukrez und Vergil in gewisser Beziehung passender als die
epischen Musenanrufe. Denn dort sind es jeweils auch die Beherrscher der
vom Dichter behandelten Bereiche, deren Hilfe in hymnenartiger Invocatio
erbeten wird, und die Themen selbst sind von überzeitlicher, dauernder Be-
deutung. Venus ist die Herrin der Natur, und deswegen möchte Lukrez sich
ihres Beistands bei Abfassung des Gedichts versichern (12Iff.). Vergil ruft die
ländlichen Gottheiten an, deren Gaben er besingen will (georg. 15/23; vgl. II
2/8). Aus dem epischen Genos könnte man immerhin Claudians mythologisches
Gedicht De raptu Proserpinae anführen: hier bittet der Dichter die Götter der
Unterwelt, ihm das Innere ihres Reichs zu erschließen (I 20ff.). Aber auch
nach dieser Richtung hin tritt der Unterschied zu Prudentius klar zu Tage. Er
liegt - unter anderem - in dem völlig anderen, tiefen Interesse, das Gott an
dem Geschehen der Psychomachie nimmt: er selbst (ipse: 14) befiehlt dem
Tugendheer, für den Menschen zu streiten, er selbst (ipse: 15) wappnet die
Seele89, die wiederum für ihn (tibi... tibi: 17) kämpft und siegt. So entsteht
eine neuartige Bindung zwischen Gott, dem Dichter, seinem Thema und sei-
89 Zu diesem Gedanken vgl. Palladius dial. 20 (PG 47, 75): Gott hat jedem Laster eine
Tugend entgegengesetzt - eine Aufzählung folgt nur dem τΰφος nicht: diesem widersteht er
selbst.
78 Prudentiana II. Exegetica [160]
90 Eines der großen Gedichte des Prudentius, die Apotheosis (über den Sinn des Titels s.
RhM 109 [1966] 92/94 [in diesem Bande S. 17/19]), ist zum wesentlichen Teil der Darstellung
der Erlösertat Christi gewidmet. Hier findet sich auch der Satz (apoth. 155f.): semper in
auxilium Sermo Patris omnipotentis Descendit servando homini... eqs. Das heißt: Christus
hat sich auch vor der Inkarnation den Gerechten des Alten Bundes als Helfer sichtbarlich
gezeigt (apoth. 22/170). Der Vokativ: semper miserate in der Psychomachie impliziert tief-
reichende christliche Gedanken.
91 Lavarenne, Kommentar 215 z.St. zeigt sich irritiert ob des Umstands, daß der Hl. Geist
hier nicht wie sonst an vergleichbaren Stellen bei Prudentius mitgenannt wird. In der Tat erklärt
Prudentius apoth. 241 f.: (hoc sequimur) numquam, nisi Sanctus et unus Spiritus intersit,
Natum Patremque vocare. Wenn der Dichter hier von dieser Regel abwich, kann man das mit
Bergman, Kommentar z.St. daraus erklären, daß die Person Christi hier in besonderer Weise in
den Mittelpunkt gerückt wird. Es mochte Prudentius in diesem Fall ausreichend erscheinen, die
Macht des Erbarmers durch die Betonung der Wesensgleichheit mit dem Vater hervorzuheben.
Der Anstoß, den Lavarenne nimmt, ist im übrigen alt. Die varia lectio: de nomine trino (statt:
utroque) stellt einen bewußten Harmonisierungsversuch dar, wie denn auch sonst Interpolamente
- auch solche größeren Umfangs - , deren Motiv im Dogmatischen liegt, bei Prudentius nicht
unerhört sind. Hinter der pointierten Distinktion von unus (3) und solus (4), die Lavarenne für
eine entschuldbare Subtilität hält (" ... la subtilit6 est excusable"), steht in Wahrheit eine lange
geistige Tradition: die Abwehr des Gedankens einer solitudo Gottes, den bereits der philoso-
phische Monotheismus hervorrief (vgl. Cie. Hortensius frg. 30, bei Lact. inst. 17, 4), den die
Christengegner aufgriffen (Min. Fei. 10, 3) und den die christlichen Theologen insbesondere
durch Entfaltung der Lehre von der Hl. Trinität widerlegten (vgl. bes. Hilar, trin. IV 17/21).
Die Begriffe unus - solus (solitarius) spielen dabei eine wichtige Rolle. Die sog. Fides Damasi
(Nr. 71 bei Denzinger-Schönmetzer, Enchiridion Symbolorum) hält fest: non tres Deos, sed
Patrem et Filium et Spiritum Sanctum unum Deum colimus et confitemur: non sie unum Deum
quasi solitarium ... eqs. Vgl. Thomas v. Aquin, Summa Theol. I 31, 2f.
[160/161] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 79
92 Klar ausgedrückt ist dies bereits in den Versen 50ff. der Praefatio zur Psychomachie,
welche die typologische Auslegung des Siegs Abrahams geben: haec adfiguram praenotata est
linea, Quam nostra recto vita resculpatpede: Vigilandum in armis pectorumfidelium ...eqs.
Das sind Forderungen, die dem Leben des Christen gelten: die dichterische Darstellung der
Psychomachie soll sie erfüllen helfen.
93 In jüngerer Zeit hat besonders Steidle a.O. (oben Anm. 4) 261f. einen planvollen Zu-
sammenhang der drei Gedichte - vor allem der Psychomachie mit der Hamartigenie - zu erwei-
sen versucht. W. Ludwig ist jetzt auf diesem Wege weiter vorangeschritten (Die christliche
Dichtung des Prudentius und die Transformation der klassischen Gattungen: Entretiens sur
Pantiquit6 classique 23 [1977] 303/72). Er sieht in dem Gesamtwerk ein planvoll strukturiertes
Gebilde - eine Art "Supergedicht" - , wobei sowohl inhaltliche wie metrische Analysen ange-
stellt werden. Ein innerer Connex der einzelnen Werke, besonders der großen hexametrischen
Gedichte, ist unverkennbar. Es fragt sich nur, wieviel davon auf das Konto systematischer
Planung und Anordnung zu setzen ist: die Einheit der literarischen Produkte hat in der Einheit
des Glaubens, dem sie entspringen, ihren tiefsten Grund.
94 Das gilt nicht ausschließlich. Die Psychomachie enthält mancherlei Dogmatisches.
Prudentius hat besonders die Reden - die Nutzung der traditionellen Reden des Epos, der Hohn-
und der Triumphreden etwa, bildet ein besonderes Kapitel der Psychomachiedeutung - dazu
gebraucht, dogmatische Tatsachen darzustellen (vgl. 66/75: Geburt Christi aus der Jungfrau;
216/27: Erbsünde; 764/68: Gottmenschheit Christi). Umgekehrt bietet z.B. die Hamartigenie
ein großes, dunkles Sittengemälde (ham. 250/329).
80 Prudentiana II. Exegetica [161]
bis an, auf welche Weise er das lehrhafte Ziel seines Werks zu erreichen
gedenkt: durch Darstellung der kämpfenden Gestalten. Das Bildhafte der Be-
handlung wird so sehr hervorgehoben (vgl. bes.: ipsas virtutum fades... notare),
daß ein Erklärer vermutet, Prudentius selbst habe von vorneherein an eine
Illustration der Psychomachie durch Miniaturen gedacht95.
Wie stark Bilder in der moralischen Paränese wirken, wußte man längst,
die antike Moralphilosophie hatte ausgiebigen Gebrauch davon gemacht. Be-
sonders interessant für uns ist eine Senecastelle (epist. 59,6):
invenio imagines (sc. in epistula tua), quibus si quis nos uti vetat
et poetis illas solis iudicat esse concessas, neminem mihi videtur
ex antiquis legisse (...) illi qui simpliciter et demonstrandae rei
causa eloquebantur, parabolis referti sunt, quas existimo neces-
sarias, non ex eadem causa qua poetis, sed ut imbecillitatis nostrae
adminicula sint, ut et dicentem et audientem in rem praesentem
adducant.
96 Vgl. "Studien" 9 mit Anm. 2. Lehrreich, wie bei Hieronymus epist. 54, 16 fin. das
Beispiel der Tötung des Holofernes durch Judith ins Allgemeine, Typologische übergeht: castitas
truncat libidinem (vgl. psych. 60ff.). Eine besonders eindrucksvolle Parallele zum ganzen Kon-
zept der Psychomachie, gerade auch zu den Gedanken der Eingangsverse, bietet später der hl.
Leo d. Gr. in einer seiner Predigten (serm. 18,2: PL 54, 183 B/184 A). Es ist nicht auszuschlie-
ßen, daß sich hier auch die Wirkung des prudentianischen Gedichts zeigt: Sed his atque aliis
destruendis habet acies Christiana potentes munitiones et arma victricia (vgl. psych. 9/13), dum
instruentemilitessuosSpirituveritatis(\gl. psych. 14/16), mansuetudo iram, largitasavaritiam,
benignitas extinguit invidiam (...) subegit luxuriam continentia, humilitas arrogantiampropulsavit,
et qui impudicitia sorduerant, castitate nituerunt.
97 Damit sei nicht bestritten, daß dieses Gedicht unter allen Werken des Prudentius den
epischen Charakter am reinsten wahrt: "par son titre, son contenu, par l'homog£n£ite meme de
sa composition" (Fontaine a.O. [oben Anm. 27] 757). Aber der inneren Aussage und dem
Zweck nach ist es doch etwas anderes als ein antikes Epos.
82 Prudentiana II. Exegetica [162]
Tun auf den σκοπός, das τέλος des irdischen Daseins hin auszurichten, wie es
Basilius in der Mahnschrift προς τους νέους eindringlich darlegt, und so auch
das literarische Schaffen. Man lese nur, wie ernst Augustinus (conf. X 2, 2/4,
6) über Zweck und Nutzen selbst eines Werks wie der Confessiones reflek-
tiert! Prudentius wollte als Dichter erreichen, was er als Beamter zeitlebens
nicht erreicht hatte: etwas Nützliches zu leisten (vgl. praef. 28ff.; epil. 2Iff.).
Die Psychomachie liefert ein eindrucksvolles Beispiel für die Zweckhaftigkeit
christlicher Literatur98.
AUSBLICK
98 Die Bedeutung des sogenannten 'Epilogus' liegt nicht zuletzt darin, daß er den Grund-
satz des utile christlicher Literatur durch 2 Tim. 2, 20 biblisch verankert. Vgl. bes. V. 21ff.:
omne vas fit util e, Quod est ad us um congruens herilem; (...) Me paterno in atrio Ut
obsoletum vasculum caducis Christus aptat us ib us ... eqs. Die uralte Streitfrage, ob der
'Epilogus' das Schlußwort zum Gesamtwerk des Prudentius bilde oder nicht, hat in neuerer Zeit
wieder lebhaftes Interesse gefunden. Für mich entscheidet sie sich durch V. 7f. des Gedichts,
und zwar negativ. Denn daß Prudentius rückblickend auf das Ganze seines Werks erklären soll,
er bringe Jamben und Trochäen als Opfergabe dar, wo doch der überwiegende Teil seines
Oeuvre - Apotheosis, Hamartigenie, Psychomachie, contra Symm. I und Π: zusammen ca.
4800 Hexameter! - im versus heroicus gehalten ist, kann ich wenigstens nicht glauben. Dieses
alte Argument des Giselinus (vgl. Weitz, Sylloge 439f.) steht noch immer. Nicolaus Heinsius
beachtete es nicht, als er, seine frühere Entscheidung widerrufend und seinen Blick allein auf
das Zeugnis der Handschriften heftend, für die Schlußstellung des Gedichts eintrat (mir ist nur
die Kölner Ausgabe vom Jahre 1701 greifbar: Aurelii Prudentii Clementis v.c. opera cum notis
Nicolai Heins», Dan. filii et variorum doctorum virorum, Addenda p. 951), und was Arevalo
hierzu vorbringt (PL 60, 592 A. 593 B), geht an der Sache vorbei. Aber seine hohe Bedeutung
für die Beurteilung der prudentianischen Poesie behält der 'Epilogus' unabhängig davon, wel-
cher Platz ihm ursprünglich zugedacht war.
99 H.J.W. Tillyard, Prudentius in the Classroom?: Greece and Rome 5 (1958) 192/95.
[162/163] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 83
100 Man könnte für den Schulunterricht auch an die Lektüre eines der Tageslieder des
Prudentius denken, und M. Fuhrmanns Aufsatz im "Altsprachlichen Unterricht" (1971) 82/106
über den Hymnus Ad galli cantum (cath. 1) soll wohl diesem Ziel dienen. Aber ich bezweifle, ob
das Gedicht, falls es wirklich, wie Fuhrmann glaubt (102), "keine Einheit der Szenerie, der
Situation, des äußeren Ablaufs" erkennen ließe, sondern eine Einheit nur in der "Person Chri-
sti" besäße, etwas wäre, mit dem ein Gymnasiast auch nur einigermaßen fertig werden könnte.
Über den Aufbau des Gedichts, seine künstlerische Einheit und sein geistiges Fundament han-
delt mein Aufsatz: Die Natursymbolik in den Tagesliedern des Prudentius (JbAC Erg.-Bd. 8 =
Festschrift B. Kötting [1980]) [in diesem Bande S. 91/141].
ιοί Ich zitiere nach Kapitel- und Zeilenzahl der Ausgabe von F. Boulenger (Paris: Beiles
Lettres Ί935 [1965]).
102 Amphil. iambi ad Seleucum, ed. E. Oberg (Berlin 1969) = Patristische Texte und
Studien 9; mit dt. Übersetzung: ders., JbAC 16 (1973) 76ff. Ebd. 68ff. über Basilius als Vorbild
des Amphilochius.
103 Ich verzichte darauf, diese Urteile zu belegen. Niemand wird Mühe haben, solche und
ähnliche Äußerungen in der reichen Sekundärliteratur aufzuspüren.
84 Prudentiana II. Exegetica [163]
Titel, recht verstanden, belehrt eines Besseren104. Der Begriff des Nutzens,
der im Titel enthalten ist und später im Text öfters wiederkehrt105, bildet einen
Schlüsselbegriff der Schrift. Basilius schärft seinen Schützlingen ein, aus der
heidnischen Literatur nur das "Nützliche" zu nehmen, womit schon zur Genü-
ge ausgedrückt wäre, daß es auch das Gegenteil gibt: das Schädliche. In der
Tat aber betont Basilius die Gefahren der Lektüre so stark, daß seine Schrift
zugleich auch den Charakter einer Warnung trägt106. Er setzt dabei die Tatsa-
che voraus, daß die jungen Leute heidnische Schulen besuchen oder doch
Schulen, in denen die heidnischen Autoren gelesen wurden. Das waren die
damaligen Verhältnisse. Was dem jungen Christen not tut, das ist der kluge,
vorsichtige Gebrauch jener Autoren, das heißt: die Scheidung des Nützlichen
vom Schädlichen, sowie die bereitwillige Aufnahme des ersteren und die ent-
schiedene Abwehr des letzteren, also ein k r i t i s c h e s Verfahren. Darüber
zu belehren, ist das erklärte Ziel des christlichen Pädagogen: τίνα οΰν έστι
ταΰτα και δπως δ ι α κ ρ ι ν ο ΰ μ ε ν , τοΰτο δή και διδάξω ... κτλ. (1,
28ff.). Der Nutzen ist etwas Relatives, und wer streng auf den Nutzen einer
Sache achten soll, der braucht ein Ziel, auf das er blickt. Es zeugt von der
gedanklichen Klarheit und Festigkeit der Darstellung, daß Basilius gleich zu
Beginn umreißt, wonach sich der Nutzen für den Christen bemißt (2, Iff.):
nichts ist gut oder nützlich, dessen Zweck sich innerhalb der Grenzen des
irdischen Daseins hält, nützlich ist nur, was der Vorbereitung auf das künftige
Leben dient. Denn der Zweck des menschlichen Lebens auf Erden besteht
darin, das ewige Leben zu erlangen: προς έτερου βίου παρασκευήν απαντα
πράττομεν (2, 9f.). Um diesen Zweck einsichtig zu machen, sucht der Kir-
chenvater den jungen Leuten das unermeßliche Glück des künftigen Lebens
wenigstens andeutungshaft vorzustellen (2, 13/25): es ist unendlich größer als
alles Glück zusammengenommen, das Menschen je auf Erden erlebten. Von
dem Gedanken an diesen Zweck ist die ganze Schrift geprägt. Er wird an
104 Gut erfaßt S. Giet den Sinn des Ganzen (Les Id6es et Taction sociales de Saint Basile,
Paris 1941,229), den ich bei D.B. Saddington (The function of education according to Christian
writers of the latter part of the fourth century: Acta Classica 8, 1965 , 86/101, ebd. 88) zitiert
finde: "'Le Discours aux Jeunes Gens' n'a directement pour objet 'la culture classique' ni, en
g6n6ral, Tutilit6 de la lecture des auteurs h6116niques', mais la manifre d'en tirer profit pour la
fin essentielle de notre vie qui est le salut de l'äme."
105 Bezeichnend ist vor allem der Begriff des χ ρ ή σ ι μ ο ν (1, 27; 4, 50; 8, 3), der in
Amphilochius' Gedicht an betonter Stelle im Vers zweimal wiederkehlt (vgl. das unten S. 85f.
[164] ausgeschriebene Textstück): der alte christliche Leitbegriff der χρησις scheint darin durch-
zuschimmern.
106 In neuerer Zeit richtig bemerkt z.B. von Saddington a.O. (oben Anm. 104) 88".
[163/164] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 85
107 Nicht diese Vergleiche an sich sind neu und spezifisch christlich, und auch die Vorstel-
lung, daß man ein Ziel brauche, ist es nicht (vgl. Aristot. EN I 1 [1094a 22ff.] &ρ' οΰν και
προς τον βίο ν ή γνώσις αϋτοΰ (sc. τοΐ> τέλους) μεγάλην έχει £οπήν καί καθάπερ τοξόται
σκοπόν εχοντες μάλλον &ν τογχάνοιμεν του δέοντος - Gedanke und Bild ebenso verbunden
bei Persius sat. 3, 60), aber das Ziel selbst ist neu und, was damit zusammenhängt, die totale
Umorientierung der Werte.
108 Auch diesen Vergleich hat Basilius nicht selbst erfunden - er begegnet außerhalb der
christlichen Literatur mehrmals in Plutarchs Moralia (die Stellen bringt Boulenger in seiner
Ausgabe p. 64: Note zu p. 45, ligne 30; vgl. bes. Plut. moral. 79 C/D) sondern wiederum im
Zusammenhang seiner christlichen Darstellung passend benutzt. Auch Harald Fuchs hat die
Stelle aus Basilius einer Übersetzung für wert gehalten: Die frühe christliche Kirche und die
antike Bildung: Ant. 5 (1929) 107/19 (jetzt wiederabgedruckt: Das frühe Christentum im römi-
schen Staat = Wege der Forschung 267, hrsg. von R. Klein, Darmstadt 1971, 33/46), ebd.
86 Prudentiana II. Exegetica [164]
sen Nutzen von ihnen in ihrer Seele hinterlegen. Ganz nach dem
Bild von den Bienen also müssen wir die Schriften benützen. Jene
nahen sich nämlich weder allen Blumen gleichermaßen, noch su-
chen sie von denen, die sie anfliegen, alles wegzutragen, sondern
sie nehmen, so viel davon für ihre Arbeit tauglich ist; das übrige
lassen sie unberührt stehen. Auch wir werden, wenn wir vernünf-
tig sind, so viel für uns passend (οίκειον) und mit der Wahrheit
verwandt ist (συγγενές τη άληθεία), von ihnen nehmen und das
übrige übergehen, und wie wir, wenn wir die Blüten des Rosen-
strauchs pflücken, den Dornen ausweichen, so werden wir auch
von diesen Schriften, so viel n ü t z l i c h ( χ ρ ή σ ι μ ο ν ) ist,
pflücken, vor dem Schädlichen uns hüten. Demnach ist es gut,
gleich am Anfang jedes der Werke, die Gegenstand des Unter-
richts sind, zu prüfen und mit unserem Ziel in Einklang zu brin-
gen (συναρμόζειν τω τ έ λ ε ι ) . . . "
113f. Wenn er freilich bemerkt, Basilius' Schrift zeuge von der Erkenntnis, daß die heidnische
Literatur "für die freie Entfaltung eines sich selbst und seine Zeit erfüllenden Menschen Uner-
setzbares bot" (112), so offenbart sich hieran, wie gering die Bereitschaft zu sein pflegt, das
τέλος des Christenlebens so darzustellen, wie es Basilius tat. An "freier" Entfaltung, Erfiillung
des "Selbst" und der "Zeit" (!) war dem Kirchenvater nichts gelegen, geschweige denn, daß er
die heidnische Literatur für "unersetzbar" gehalten hätte! Ich erwähne das alles nur deswegen,
weil gerade Fuchs die wahren Verhältnisse in mancher Hinsicht besser trifft als andere.
[164/165] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 87
"All diesem aber nähere dich mit Verstand, klug hiervon das
B r a u c h b a r e sammelnd, k r i t i s c h bei jedem das Schädliche
meidend: der weisen Biene Arbeit ahme nach, die sich zwar auf
allen Blüten niederläßt, doch sehr klug von j eder nur das Brauch-
b a r e aberntet! Sie hat die Natur selbst zur Lehrmeisterin | , du
aber gebrauche die Vernunft: reichlich pflücke von dem, was nützt,
wenn aber etwas Schaden bringt, erkenne das Schlechte und fliege
rasch davon, denn schnelle Schwingen hat der Menschengeist!"
109 Weitere Parallelen bei Oberg (Ausgabe: s. oben Anm. 102) 53. Auch Gregor v. Naz.
hat den Vergleich. Hieronymus verwendet ihn, um Pauli Gebrauch der heidnischen Dichter-
verse und der Inschrift für den άγνωστος θεός zu illustrieren: in Tit. 1, 12ff. (PL 26, 607 B).
88 Prudentiana II. Exegetica [165]
Zweierlei gibt dieser Text her: einmal läßt er die Ausrichtung auf die
ganze Weite der heidnischen Literatur erkennen, denn mit allen μαθήματα
soll sich der junge Seleukos befassen (vgl. 38: απασιν; 42: απασιν; 43:
εκάστου); und τό χρήσιμον (39. 43) reichlich - άφθόνως (45) - pflücken;
andrerseits prägt er die Notwendigkeit ein, dabei klug und kritisch vorzuge-
hen: έμφρόνως (38), σοφώς (39), κεκριμένως (40), πανσόφως (43). Somit
kehren zwei entscheidende Momente, die wir schon bei Basilius beobachteten,
auch hier wieder: kein Bezirk der heidnischen Bildung bleibt dem jungen Chri-
sten verschlossen, alles kann ihm nützen, wofern er kritische Vorsicht walten
läßt. Ja, sogar aus den Darstellungen der δαιμόνων διδάγματα (54), aus der
mythologischen Poesie, vermag er noch Gewinn zu ziehen, wenn auch nur im
Hinblick auf die λόγοι (dazu s. oben S. 46f. [144f.]).
Wie wir sahen, erschöpft sich die christliche Nutzung antiken Geistesguts
bei weitem nicht in einem bloßen Auswählen, und sie ist inhaltlich auch nicht
auf das Gebiet der Moral beschränkt. Man darf nicht vergessen, daß sich die
Ratschläge in beiden Fällen auf eine rezeptive Beschäftigung mit der heidni-
schen Literatur beziehen. Eine kreative Verarbeitung des Gelesenen wäre ja
auch von den jungen Leuten um so weniger zu verlangen gewesen, als sie in
die christliche Lehre noch nicht voll eingeführt waren. Denn auch darin stim-
men die beiden Pädagogen überein, daß die Lektüre der antiken Literatur nur
progymnastischen Wert habe (Bas. 2, 26ff.; Amphil. 183ff.). Dennoch ist das
schöpferische auch hier gegenwärtig, und zwar in doppelter Weise.
Einmal lassen sich das Rezeptive und das Kreative bei dem beschriebenen
Auswahlverfahren nicht völlig trennen. In der Praxis muß das eine vielfach in das
andere übergehen. Das wird besonders deutlich, wenn Basilius sagt (3, Iff.), daß
beim Vergleichen von Christlichem und Nichtchristlichem nicht nur die Erkennt-
nis eventueller Verwandtschaft, sondern auch die des Unterschieds nützlich
sein könne, weil auch diese viel "zur Begründung des Besseren" beizutragen
vermöge. Der Lernende soll also nicht nur sondern und sichten, er soll auch
über die Unterschiede reflektieren. Hier zeigt sich, daß jenes Auswahlverfahren
ein Element geistiger Sprengkraft enthält, dessen Wirkung über die Aussonde-
rung des dem Christentum Fremden oder Widersprechenden hinausreicht. Zwei
geistige Vorgänge: das Unterscheiden und das (stillschweigende) Korrigieren
sind in diesem Verfahren verknüpft. Letzteres aber kann unter Umständen bereits
einen Schritt hin zum gestaltenden Umgang mit den antiken Bildungselementen
bedeuten. Insofern darf man vielleicht sagen, daß die beiden Erzieher auch in
dieser Hinsicht ein gewisses προγυμνάζειν einleiten, mag das auch unausge-
sprochen bleiben. Zum zweiten ist die schöpferische Nutzung antiken Gedan-
[165/166] IV. Interpretation frühchristlicher Literatur 89
kenguts bei Basilius und Amphilochius in der Art gegenwärtig, wie sie selbst
schreiben. Es ließe sich zeigen, daß z.B. Basilius in seiner Abhandlung eine
Fülle von Gedanken, Begriffen und Bildern - von den Zitaten ganz zu schwei-
gen - übernimmt, die sich bei antiken Autoren, bei Piaton etwa oder bei Plutarch,
ebenfalls finden, nur eben so übernimmt, daß das Übernommene im neuen
Zusammenhang einen neuen Sinn erhält.
Dieses Andere, Neue herauszuarbeiten, wäre die eigentliche Aufgabe
der Interpretation. Freilich kann die Aufgabe nicht allein auf der Basis der
beiden hier herangezogenen Werke befriedigend gelöst werden. Erste Hinweise
liefert allerdings auch eine immanente Betrachtung der Texte. Wenn etwa Basilius
(a.O.: S. 85 [163]) betont, die heidnische Literatur vermittle nur σκιαγραφίαν
τινά της αρετής, dann ist zumindest angedeutet, daß er unter der άρετή etwas
anderes versteht als die heidnische Philosophie, und wenn er mahnt, man müsse
sich durch | die Tugend einen Schatz für das andere (!) Leben erwerben110, so ist
damit schon ein wesentlicher Unterschied zum Verständnis des Tugendbegriffs
in der antiken Philosophie aufgewiesen. Auch andere Zentralbegriffe wie ψυχής
έπιμέλεια (9, 2), κάθαρσις ψυχής (9, 35) erhalten bei dem Christen einen
neuen Sinn, was aber eben nur in einem weiteren Zusammenhang deutlich
würde. Schließlich erinnert das Auswahlverfahren selbst, um das es uns hier
hauptsächlich ging, an die Weisungen, die Piaton (rep. 376 E/392 C) und
Plutarch {De audiendispoetis) über die Dichterlektüre erteilen. Aber den christli-
chen Erziehern geht es nicht nur um die Dichter, und das oberste Ziel der Erzie-
hung ist verschieden. Ein neuer Geist steht als Ganzes gegen einen alten111.
Daß jedenfalls die beiden Pädagogen genau wußten, was sie ihre Schü-
ler lehrten - ich meine: daß ihre praktischen Regeln tatsächlich auf der Grund-
lage theologischer Reflexion ruhen, sei hier noch durch eine weitere Passage
dargetan, die zwar den bisher herangezogenen ähnelt, aber eben jene theologi-
sche Basis deudicher erkennen läßt. Sie hat wiederum für zwei Kirchenväter
Geltung: das Stück steht in Gregors Grabrede auf Basilius. Es liefert überdies
einen eindrucksvollen Beleg dafür, wie angemessen und treffend die χρήσις als
hermeneutisches Prinzip bei der Interpretation frühchristlicher Texte ist (vier-
no Basil. 5, 1: ... δι' άρετης έπί τον βίον ήμΐν καταθεΐναι (καθένναι, codd.) δει τον
έτερον ... κτλ.
πι Eben dies wird in den modernen Betrachtungen oft übersehen oder doch zu gering be-
wertet. Wer etwa über Basilius' Rat zu kritischer Selektion bei der Lektüre urteilt: "Every
educator from Plato down has maintained similar views" (Leo V. Jacks, St. Basil and Greek
Literature, Diss. Washington 1922 = Patristic Studies 1,113), hat das Neue in Ziel und Anwen-
dung des Selektionsprinzips nicht erfaßt.
90 Prudentiana II. Exegetica [166]
mal hintereinander begegnet in diesem Passus der Begriff des Nützlichen bzw.
des Nutzenziehens). Gregor erörtert den hohen Wert der παίδευσις. Der Wert
der christlichen steht außer Frage, aber auch die heidnische darf nicht pauschal
abgelehnt werden112:
"Denn wie wir Himmel und Erde und Luft und alles, was dazu
gehört, nicht deswegen verachten dürfen, weil einige verkehrt
darüber geurteilt haben, die statt Gott Gottes Werke verehrten,
sondern wie wir, was n ü t z l i c h davon ist (χ ρ ή σ ι μ ο ν), uns
fruchtbar machen zum Leben und Genuß, aber vermeiden, was
Gefahren bringt, da wir nicht wie die Unverständigen dem Schöpfer
die Schöpfung feindlich gegenüberstellen, sondern aus den Wer-
ken den Werkmeister erfassen und, wie der heilige Apostel sagt
(vgl. 2 Cor. 10, 5), alles Denken gefangen nehmen für Christus;
wie bekanntlich von Feuer und Nahrung und Eisen und was es
sonst noch gibt, nichts an und für sich s e h r n ü t z l i c h ( χ ρ η -
σ ι μ ώ τ α τ ο ν ) oder sehr schädlich ist, sondern je nachdem, wie
diejenigen darüber befinden, die davon G e b r a u c h m a c h e n
(δπως αν δοκή τοις χ ρ ω μ έ ν ο ι ς ) - und selbst von den
Kriechtieren hat der Mensch schon einige in den Arzneien zu
Heilzwecken verarbeitet: so nun haben wir auch von jenen (den
heidnischen Bildungsgütern) das aufgenommen, was sich mit der
Erforschung und der Erkenntnis der Dinge befaßt, verabscheut
aber haben wir alles, was zu den Dämonen, zum Abgrund des
Verderbens führt. Immerhin aber haben wir sogar daraus für unsere
Gottesverehrung N u t z e n gezogen ( ώ φ ε λ ή μ ε θ α ) , indem wir
durch das Schlechte das Gute erkannten und die Schwachheit jener
Anschauungen zur Stärke unserer eigenen Lehre machten."
112 Greg. Naz. or. 43 (in laudem Basilii Magni), 11: PG 36, 508 A/509 A. Der Text ist
ebenfalls von Fuchs a.O. (oben Anm. 108) 114f. herausgegriffen und übersetzt worden. Ich
folge seiner Übertragung mit einigen Abweichungen.
V.
1.
5 Diese terminologische Freiheit wäre nicht weiter schlimm, wenn nicht einleitend eine
Definition versucht, und vor allem: wenn das Wesen der Sache klar erfaßt worden wäre. Auch
Clem. Alex, ström. 4, 141, 4 (GCS Clem. 2, 310) gebraucht bei Erörterung von Rom. 13, 1 lf.
hintereinander die Begriffe: άλληγορεΐν, μεταφορικώς, σύμβολον, είκών. Aber es empfiehlt
sich nicht, solche freie Terminologie nachzuahmen, weil uns nicht mehr selbstverständlich ist,
was dem frühen Christentum selbstverständlich war: daß Natursymbolik (bzw. allegorischer
Schriftsinn) etwas objektiv Wahres, Reales ausdrückt. S. unten Anm. 20.
6 Vgl. Gnomon 40 (1968) 362f. 365f.
94 Prudentiana II. Exegetica [413]
2.
Symbolik und Physik bildeten für die kirchlichen Denker keinen Wider-
spruch. Sie glaubten, daß Gott ebenso der Schöpfer der Zeichen wie der Ge-
setze der Natur ist. Einwände von Seiten einer rein physikalischen Weltbe-
trachtung haben sie daher nicht gelten lassen8. Aber der moderne Interpret
dürfte es in der Regel schwer haben, sich mit dieser ihm fremden Anschauung
der Natur zu befreunden. Noch schwerer wird es, wenn er den Zugang zu ihr
zuerst bei einem Dichter sucht. Der einfachere Weg führt von den christlichen
Lehrschriften zur Poesie. Dieser Weg ist auch insofern der richtige, als
Prudentius selbst im Großen wie im Kleinen von der Natursymbolik der Väter
abhängt. Das hier näherhin auszuführen, ist unmöglich und auch unnötig. Hat
man sich das Wesentliche dieser Denkweise an einem Fall klargemacht, wird
man es stets wiedererkennen, auch wenn es im Gewände der Poesie auftritt.
Zur Stärkung des Glaubens an die Auferstehung wiesen die Kirchen-
väter gerne auf das Werden und Vergehen in der Natur hin. Am Anfang ste-
hen die Worte Christi Joh. 12, 24 und Pauli 1 Cor. 15, 34ff. (das Samenkorn,
das erst absterben muß, ehe es zum Leben kommt). Aber es ist faszinierend zu
beobachten, wie dieser Gedanke im christlichen Schrifttum immer reicher ent-
faltet wird9. Zu dem Beispiel des Samenkorns gesellen sich weitere σημεία:
das Sterben und Wiederaufleben des Tages und der Nacht, der Vegetation, der
7 Auch wenn etwa Tert. res. earn. 14, 1 parabola gebraucht, meint er doch, wie der
Zusammenhang beweist, ein von Gott in die Natur gelegtes "Gleichnis": talia interim divinarum
virium liniamenta non minus parabolis operate Deo quam locuto ... eqs. Deshalb darf auch
Prudentius gelegentlich Symbol und Erklärung des Symbols äußerlich in der Form eines Ver-
gleichs (eingeleitet durch sie: cath. 2, 9; 10, 121 oder ceu: cath. 1, 27. 91) verknüpfen: die
ontologische Basis wird dadurch nicht berührt.
8 Vgl. Theophil, ad Autol. 1, 13 fin.; Prud. c. Symm. 2,203: nil vos, οmiseri, physicorum
dogmata fallant (in dem unten S. lOlf. [417] behandelten Kontext); s. auch Aug. conf. 5, 3, 3/5,
4, 7 über die Nutzlosigkeit aller Naturforschung ohne Gotteserkenntnis.
9 Belege stellt Pellegrino zu Min. Fei. 34,11 zusammen(M. Pellegrino, M. Minucii Felicis
Octavius [Turin 1967] 249). Ihre Zahl ließe sich, namentlich durch Stellen aus den späteren,
großen Kirchenvätern, leicht vermehren: vgl. unten Anm. 16 und 19.
[413/414] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 95
Jahreszeiten, des Mondes, der Gestirne. Das sind die am häufigsten genannten
Zeichen10. Gelegentlich treten besondere hinzu: das Samenkorn, das vom Spat-
zen gefressen und ausgeschieden, dennoch wieder auflebt; das Abmagern und
Zunehmen des menschlichen Körpers bei Krankheit und Genesung11; die Wie-
dergeburt des Vogels Phoenix - letztere nach dem Wissensstand der betreffen-
den Autoren ein Faktum der Natur und daher ein wunderbares, doch gültiges
Symbol (παράδοξον σημεΐον)12. Aber die Leistung der Kirchenväter erschöpfte
sich nicht in einer quantitativen Erweiterung der Symbolik. Zugleich präzi-
sierten sie den Charakter des natürlichen | Zeichens als eines von Gott zur
Belehrung der Menschen geschaffenen Beweises der übernatürlichen Tatsa-
che. Clemens v. Rom leitet den betreffenden Abschnitt folgendermaßen ein:
κατανοήσωμεν ... πώς ό δεσπότης έπιδείκνυται διηνεκώς ήμΐν την
μέλλουσαν άνάστασιν εσεσθαι (1 Clem. 24, 1). Ähnlich prägnante Formu-
lierungen bietet Theophilos v. Antiochien: ό μεν οΰν θεός σοι πολλά τεκμήρια
έπιδείκνυσιν εις τό πιστεύειν αύτω ... ταΰτα δέ πάντα ενεργεί ή του
θεοΰ σοφία [1 Cor. 12, 11] εις τό έπιδεΐξαι και δια τούτων δτι δυνατός
έστιν ό θεός ποιήσαι την καθολικήν άνάστασιν άπάντων άνθρώπων (ad
Autol. 1, 13). Tertullian nennt in demselben Zusammenhang die Welt, die
Gott aus dem Nichts erschuf, ein "mit dem Siegel (Gottes) versehenes Muster
der menschlichen Auferstehung zum Zeugnis für euch" (apol. 48,7: signatum
et ipsum [sc. corpus mundi] humanae resurrectionis exemplum in testimonium
vobis). Die Auferstehungssymbolik in der Natur hat Tertullian noch ein zwei-
tes Mal behandelt, in dem Werk De resurrectione carnis. Die betreffende
Passage verdient aus mehrfachem Grund besondere Aufmerksamkeit.
Tertullian schildert hier (res. earn. 12) das Sterben und Wiederaufleben
von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der Vegetation unter Aufbietung seiner
ganzen Sprachgewalt. Ich zitiere nur die ersten Sätze, um einen ungefähren
Eindruck zu geben:
10 Vgl. 1 Clem. 24f.; Theophil, ad Autol. 1, 13; Tert. apol. 48, 7f.; res. 12f.; Min. Fei.
34, 11 - um nur die frühen Belege zu nennen. Iren. haer. 5, 2, 3 (2,322 Harvey) verknüpft die
Symbolik des Samens mit der Eucharistielehre,
n Beides bei Theophil. I.e. (s. die vorige Anm.).
12 1 Clem. 25; vgl. Tert. res. 13 und dazu unten S. 98f. [416].
96 Prudentiana II. Exegetica [414/415]
rursus cum suo cultu, cum dote, cum sole eadem et integra et tota
universo orbi revivescit, interficiens mortem suam noctem, re-
scindens sepulturam suam tenebras, heres sibimet existens, donee
et nox revivescat cum suo et ilia suggestu.
"Blick nun auch auf die Muster selbst der göttlichen Macht! Der
Tag vergeht sterbend zur Nacht und wird allenthalben von Fin-
sternis begraben; Trauer legt an die Schönheit der Welt, jede
Substanz wird geschwärzt: trübe, stumm und starr ist alles: über-
all Stillstand, Ruhe der Dinge: so wird der Verlust des Lichts
beklagt. Und dennoch: dasselbe Licht lebt mit seiner Pracht, sei-
nem Schmuck, mit der Sonne unversehrt und ganz für den gesam-
ten Erdkreis wieder auf. Es tötet den eigenen Tod: die Nacht, es
reißt sein Grab wieder auf: die Finsternis, als Erbe seiner selbst
tritt es hervor, bis auch die Nacht ihrerseits wiederauflebt mit all
ihrer Ausstattung."
In gleicher Weise geht es noch ein gutes Stück weiter fort. Wer dieses
Prunkstück lateinischer Prosa vor sich sieht, ohne doch mit der frühchristli-
chen Denkweise genügend vertraut zu sein, wird daran vielleicht den Meta-
phernreichtum rühmen oder gar eine Allegorie im quintilianischen Sinne zu
erkennen glauben. Aber das wäre falsch. Falsch deswegen, weil der Unter-
gang des Lichts und das Sterben des Menschen, der Aufgang des Lichts und
die Auferstehung des Menschen zueinander nicht in dem Verhältnis eines lite-
rarischen Vergleichs, sondern in dem einer wesenhaften Analogie stehen. Ich
will es deutlicher sagen: wenn Tertullian das Verschwinden des Lichts unter
Aufbietung aller Mittel, welche ihm seine Kunst zur Verfügung stellt, als Ster-
ben, seinen Aufgang als Wiederaufleben darstellt, so zieht er nicht einen Ver-
gleich aus, den er selbst oder überhaupt irgendein Menschengeist erfunden
hat, sondern er drückt auf möglichst angemessene Weise eine natürlich-über-
natürliche Realität aus, die von Gott stammt, Teil der Schöpfung und damit
objektiv vorhanden ist. Das Exemplum bietet nicht Tertullian, sondern Gott:
ebenso real wie der Anbruch der Nacht oder der Anbruch des Tages ist die
Symbolik, die nach Gottes Willen mit diesen natürlichen Vorgängen verbunden
bleibt - unabhängig davon, wer oder wie viele Menschen das Exemplum |
beachten. An diesem Fall wird deutlich, worin künstlerische Leistung, künst-
[415] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 97
13 Vgl. Verf., Neues Alter, neues Leben: JbAC 20 (1977) 5/38 passim, wo anhand eines
bestimmten Gedankens, aber in großem Zusammenhang, die christliche Nutzung des herakliti-
schen, in der Antike weitverbreiteten Philosophems der steten Veränderlichkeit der Dinge dar-
gestellt ist. Zu Seneca ebd. l l f . , zur christlichen Auferstehungslehre ebd. 30/36.
98 Prudentiana II. Exegetica [415/416]
"Also dieses ganze hin- und zurückrollende System der Dinge ist
ein Zeugnis für die Auferstehung der Toten: durch seine Werke
hat Gott sie zuerst vorgezeichnet, dann durch Schriften, durch
14 Immerhin hat sie selbst ein Forscher wie J. Geffcken (Zwei griech. Apologeten [Leip-
zig/Berlin 1907] 244f.) bei Behandlung dieses Themas nicht gesehen. Er besaß aber auch sonst
keinen Sinn für christliche χρήσις, wie seine Beurteilung der Märtyrerliteratur bezeugt: vgl.
Verf., UJtima verba: JbAC 22 (1979) 610.
15 Über Begriff und Wesen christlicher χρήσις s. Verf., Neues Alter (oben Anm. 13) 37f.
u.ö. sowie Verf., Interpretation frühchristlicher Literatur: H. Krefeld (Hrsg.), Impulse für die
latein. Lektüre. Von Terenz bis Thomas Morus (Frankfurt 1979) 141ff. [in diesem Bande S. 39/
42], In beiden Aufsätzen sind Gedanken Paul Hackers fortgeführt.
[416] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 99
seine Macht hat er sie gepredigt, dann erst durch Worte. Voraus-
gesandt hat er dir die Natur als Lehrmeisterin, in der Absicht,
auch die Prophetie folgen zu lassen, damit du, zuvor ein Schüler
der Natur, leichter der Prophetie glauben mögest; damit du so-
gleich zur Aufnahme bereit seiest, wenn du hörst, was du schon
überall gesehen hast; damit du nicht zweifeln mögest, daß Gott
auch der Erwecker des Fleisches ist, den du als Wiederhersteller
aller Dinge kennengelernt hast. ... Wenn das Universum die Auf-
erstehung zu wenig vorbildet, wenn die Schöpfung nichts derarti-
ges anzeigt, weil ihre einzelnen Bestandteile, wie es heißt, weni-
ger sterben denn aufhören zu sein und weil man annimmt, sie
würden nicht neu belebt, sondern neu gestaltet, so vernimm das
vollkommenste und sicherste Zeichen dieser Hoffnung ..." usw.!
Tertullian scheint hier zuletzt den Zweiflern oder Gegnern ein Stück
entgegenzukommen, aber er tut das offenbar nur, um das Exemplum des Phoenix
desto wirkungsvoller ausspielen zu können. Eine Abschwächung der Natur-
symbolik, die er zuvor mit erheblichem Aufwand herausarbeitete, liegt gewiß
nicht in seiner Absicht. Folgende Hauptpunkte lassen sich dem ausgeschriebenen
Stück entnehmen: die Zeichenhaftigkeit der Natur ist von Gott geschaffen; sie
bietet ein Zeugnis, ein Muster (testatio, specimen wie zuvor exemplä), das
objektiv vorhanden ist16; die Natur soll nach Gottes Willen die Lehrmeisterin
des Menschen sein (natura magistral.), der Mensch ihr Schüler (discipulus ...
naturae\); doch stellt sie keine vollständige, von der Hl. Schrift unabhängige
Glaubensquelle dar, ihre Lehren erfüllen vorbereitenden Zweck, leisten Hilfs-
dienste, welche die Annahme der übernatürlichen Wahrheit in der Offenba-
rung erleichtern sollen; Tertullian gebraucht die Verben figurare, signare
(13, 1) - Prudentius sagtfigura, signum, und meint klärlich dasselbe, nämlich
eine "Figur" der Natur, nicht der Rede. In welchem geistigen Abstand zu dem
16 Zum Begriff testatio vgl. Hier. hom. de nativitate Domini: Anecdot. Maredsol. 3, 2,
397 ( = CCL 78, 528, Z. 153ff.): praedicationi nostrae etiam natura consentit, mutidus ipse
testis [!] est voci nostrae. usque ad hanc diem tenebrae crescunt, ab hac die decrescunt tenebrae
... eqs. Die Stelle führt Herzog 552S an. Ferner s. Ambros. exc. Sat. 2, 53 (CSEL 73, 277):
prima igitur resurrectionis fides [!] usus est mundi rerumque status omnium, generationum
series, successionum vices, obitus ortusque signorum, diei et noctis occasus eorumque cottidie
tamquam rediviva successio. Hierher gehören auch die έλεγκτικοι λόγοι, die Greg. Nyss. in s.
Pascha 254ff. Gebhardt zum Beweise der Auferstehung anführt (dazu s. Verf., Neues Alter
[oben Anm. 13] 33/36).
100 Prudentiana II. Exegetica [416/417]
Dichter steht doch seine jüngste Kommentatorin, | die sich auf eben diese
Begriffe beruft, um ihre Feststellung zu stützen (21): "There can be no doubt
that Prudentius uses many words metaphorically [!]. He says so himself in his
writings ..." etc.
Wir sind nun vorbereitet, den ersten Schritt hin zu Prudentius zu tun.
Aus einer der berühmtesten Partien der Cathemerinongedichte stammen die
beiden folgenden Strophen des Grabhymnus Circa exsequias defuncti (cath.
10, 117/24):
17 Caespes steht auch bei Fachschriftstellern für die Erdscholle (Colum. 2 , 4 , 6 ; vgl. ThLL
3, 112, Z. Iff.) und für den Acker (Colum. 9, 4, 4; ThLL ebd. Z. 65ff.). Das Wort ist also
korrekt gebraucht, dennoch nicht ohne tiefere Absicht. Gräber wurden mit lebender Grasnarbe
bedeckt (Tac. ann. 1, 62), weshalb caespes geradezu für sepulcrum stehen kann (Hier. ep. 1,
13; ThLL 3, 111, Z. 19ff.). So dient der Ausdruck dazu, die Symbolik, die schon durch mortua
und sepulta (sc. semina) unterstrichen war, weiter herauszuarbeiten.
18 "Schön sagt der Hymnus: sie sinnen auf die einstigen, frühem Ähren, d.h.: ist der Keim
aus dem Boden hervorgedrungen, so hat das Korn keine Ruhe, es liegt in ihm das Streben,
wieder ganz das zu werden, was es früher gewesen - Ähren, die sich im Lichte der Sonne
schaukeln. In ähnlicher Weise sagt Min. Felix von der ganzen Natur, daß sie uns zum Tröste auf
die künftige Auferstehung sinne" (Min. Felix 34, 11: vide adeo, quam in solacium nostri
resurrectionem futuram omnis natura meditetur ... eqs.): J. Kayser, Beiträge zur Geschichte
und Erklärung der ältesten Kirchenhymnen2 (Paderborn 1881) 329f. Ebenso Paul. Nol. carm.
31, 231 f.: cuncta resurgendi fadem meditantur in omni Corpore et in tenis germina et astra
polo (CSEL 30, 315).
[417/418] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 101
"Muster meiner Macht enthalten allein schon die Samen: die Na-
tur lehrt, daß alles wiedererblüht nach dem Tode. Denn sie wer-
den getrocknet, die Kraft vergeht, durch die sie vordem lebten.
Dann übergibt man sie Furchen oder Gruben, wo sie verborgen
liegen, trocken und tot. Und obwohl sie wie im Grabe verschüttet
sind, erheben sie sich aus den Grabhügeln: die Keime leben wie-
der auf."
Also verhält es sich bei Prudentius nicht anders als bei Tertullian und in der
Alten Kirche überhaupt: die Natur lehrt (natura docet), und zwar lehrt sie
übernatürliche Tatsachen des christlichen Glaubens20. Die Natur kann Lehr-
19 Vgl. dazu oben Anm. 7. Die Verse Paul. Nol. carm. 31,231/50 (CSEL 30, 315f.) bieten
eine ausführliche poetische Darstellung der Symbolik des Samens und ein aufschlußreiches Ge-
genstück zu den beiden im Text ausgeschriebenen Prudentiusstellen. Wörtliche Zitate aus der
Passage bei Paulinus: oben Anm. 18 und unten Anm. 71.
20 Womit der tiefe Unterschied zur stoischen Anschauung von der Lehrmeisterin Natur
schon genügend bezeichnet ist. Der Grundsatz des naturgemäßen Lebens (όμολογουμένως τη
φύσει ζην), dessen Beachtung dem Stoiker Tugend und Glückseligkeit gewähren soll, enthält
nichts, was über die Natur hinausweist. Der christliche Sinn des "Lernens" von der Natur
kommt gut auch bei Greg. Nyss. in s. Pascha 262f. Gebhardt (Bd. 9 der Gesamtausgabe) her-
aus: Schlaf und Erwachen sind ein "Lehrstück" (διδασκάλιον) für die Auferstehung; denn der
Schlaf ist ein "Bild" (εΐκών) des Todes, das Erwachen eine "Nachahmung" (μίμημα) der
Auferstehung! Die Stelle zeigt außerdem, daß "Bild" hier in einer Weise gebraucht wird, die es
verbietet, solchen Begriff einfach im Sinne sprachlich-stilistischer (literarischer) Bildhaftigkeit
zu verstehen. Dasselbe gilt für imago in dem entsprechenden Zusammenhang bei Paulinus v.
Nola: s. das Zitat unten Anm. 71. Vgl. ferner oben Anm. 7.
102 Prudentiana II. Exegetica [418/419]
meisterin des Übernatürlichen sein, weil sie von Gott so geordnet ist. Läßt sich
die Wahrheit dieses Sachverhalts noch mehr einschärfen als dadurch, daß man
ihn Gott selbst in den Mund legt? Der Dichter, ebenso wie der Sprachkünstler
in Prosa, paßt seine Darstellung der gottgewollten Realität an. Seine Bilder-
sprache malt das wirkliche, aller Subjektivität enthobene Bild des Übernatürli-
chen in der Natur. Man beginnt zu ahnen, welchen Reiz die Zeichenkraft der
Natur gerade auf einen christlichen Dichter ausüben mußte.
3.
An das bisher Bemerkte läßt sich nahtlos eine Betrachtung der Ein-
gangsstrophen des fünften Gedichts (cath. 5, Iff.) anfügen. Es trägt den Titel:
Hymnus ad incensum lucernae. Gemeint ist das allabendliche Lichtanzünden21.
Den Zusammenhang altchristlicher Frömmigkeit, in den das Gedicht gehört,
hat F.J. Dölger dargestellt22. Ich gebe zunächst den Text - wie immer nach J.
Bergman (CSEL 61 [1926] 25) - und einen Übersetzungsversuch:
21 Nicht - wie z.B. F. Ardvalo in seiner Ausgabe (Rom 1788/89: prolegom. 12 [PL 59,
677ff.]) annahm - die Karsamstagsliturgie; vgl. F.J. Dölger, Lumen Christi: ACh 5 (1936) 30.
Womit freilich nicht gesagt ist, daß die Feier der Osternacht darin überhaupt nicht vorkommt!
Auf die Ostervigil gehen klärlich die Verse cath. 5, 137/48 - Herzog (80) und van Assendelft
(186) hätten das nicht verkennen dürfen. Ich kann das Problem hier nicht weiter verfolgen.
22 Dölger, Lumen Christi 1/43.
[419] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 103
Das symbolische Geschehen ist hier kein Vorgang der Natur, sondern
eine Handlung des Menschen: das Feuerschlagen aus dem Stein23. Prudentius
achtet aber die alltägliche Verrichtung hinsichtlich ihres symbolischen Werts
einem Vorgang in der Natur, etwa dem Sonnenaufgang, gleich. Schon der
Gebetsanruf: lucem redde! (V. 4) deutet das an24. Die nähere Begründung liegt
in monstras (V. 8): der "Erfinder" des Lichts "zeigt" den Menschen die Ge-
winnung des Lichts aus dem Stein. Das heißt: die abendliche Verrichtung ist
ebenso Teil der göttlichen Ordnung wie eins der großen täglichen Ereignisse
in der Natur. Inventor (V. 1) zusammen mit monstras evoziert die der Antike
23 Vergleichbar ist in etwa die Kreuzessymbolik bei Justinus Martyr apol. 1, 55: auch hier
sind die σύμβολα des Kreuzes nicht nur von Gott geschaffene Dinge wie die Gestalt des Men-
schen und seine Gesichtsform, sondern auch zivilisatorische Errungenschaften wie Schiffssegel,
Pflug, Spaten, schließlich gar die heidnischen vexilla und τρόπαια (im Sinne der retorsio des
heidnischen Vorwurfs der σταυρολατρεία: Min. Fei. 29, 6/8; Tert. apol. 16; ad nat. 1, 12).
Ob Prud. per. 10, 623 (crux) expressa signis auf die signa naturalia geht, bleibt fraglich,
obschon die Stelle bisweilen so gefaßt wurde.
24 Berühmt ist die erste Strophe ob der darin enthaltenen Benutzung von Hör. carm. 4,5, 5:
lucem redde tuae, dux bone, patriae. Die horazische Zeile - ein Asclepiadeus minor, also in
demselben Maß gehalten, das Prudentius stichisch verwandte - enthält einen Gebetsanruf an
Augustus, und es liegt auf der Hand, daß ihre Verarbeitung bei Prudentius mehr bedeutet als
eine äußerliche Entlehnung horazischen Versguts. Etwas Apologetisches oder Polemisches wird
man darin allerdings nicht erkennen dürfen (vgl. A. Salvatore, Studi prudenziani [Napoli o.J.
(1958)] 64), und der heute beliebte Begriff der "Kontrastimitation" ist viel zu grob, als daß er
die Absicht des christlichen Dichters treffen könnte. Seine Intention läßt sich etwa so umschrei-
ben: die gelungene, dem Gebildeten vertraute Formulierung Horazens muß zum Preise Gottes
eingesetzt werden, weil Ihm das Beste und Schönste gebührt und weil jener Gebetsanruf erst in
seiner neuen Orientierung auf Gott den rechten Sinn erhält, der dem antiken Dichter verborgen
war. Ähnlich ist die Vergilimitation im ersten Vers der Psychomachie zu verstehen: vgl. Verf.,
Interpretation frühchristlicher Literatur (s. oben Anm. 15) 150ff. [in diesem Bande S. 58/61].
Beide Stellen bilden Musterbeispiele dichterischer χρήσις.
104 Prudentiana II. Exegetica [419/420]
geläufige Vorstellung des πρώτος εύρετής. Doch zugleich mit dem Gebrauch
dieser Vorstellung durch den Christen ändert sich ihr Sinn. Es ist der Schöpfer
selbst (vgl. cath. 4, 9: rerum conditor et repertor orbis), der den Menschen
das Feuerschlagen zeigt, und er lehrt sie damit nicht bloß einen kulturellen
Fortschritt, sondern eine übernatürliche Wahrheit. Die Unterweisung dient
weniger dem irdischen Wohl als vielmehr dem ewigen. Der Gedanke von V.
5 an läuft so (ich hebe das Wesentliche hervor): Gott hat die Nacht durch die
Sterne und die Fackel des Mondes beleuchtet - genügend beleuchtet (vgl.
innumero siderel); trotzdem zeigt er den Menschen, wie man Feuer und Licht
durch Funkenschlagen aus dem Stein gewinnt. Wozu? (Das muß einen geist-
lichen | Zweck haben, da das natürliche Bedürfnis nach nächtlicher Beleuch-
tung von Gott schon durch die Erschaffung der Gestirne berücksichtigt war:)
Der Mensch soll dadurch auf Christus, den Felsen, hingewiesen werden, in
Ihm ruht unsere Hoffnung auf Licht, Heil, ewiges Leben25.
Der geistige Kern christlicher Natursymbolik, über den wir uns auf den
vorstehenden Seiten Klarheit verschafften, ist in diesen Versen unschwer wie-
derzuerkennen: die Zeichenhaftigkeit der Dinge stammt von Gott selbst, sie
hat den Zweck, dem Menschen übernatürliche Glaubenstatsachen einzuprägen.
Der Finalsatz: ne nesciret ... (V. 9ff.) macht das ganz deutlich. Prudentius
drückt die Verhältnisse sogar mit einer gewissen Zuspitzung aus, indem er die
Erschaffung der Gestirne in den konzessiven Nebensatz (V. 5f.: quamvis ...
eqs.) stellt und diese logische Beziehung durch tarnen im Hauptsatz (V. 7)
betont. So entsteht eben jener Eindruck, als sei die Hausbeleuchtung bei Nacht
gleichsam etwas Überflüssiges, etwas, das weniger der praktischen Bedürfnis-
se wegen als zum Zweck der Belehrung da sei. Die Symbolik erscheint als der
eigentliche Sinn des abendlichen Lichts.
Das Stück sagt aber auch etwas über das Verhältnis von Natursymbolik
und Hl. Schrift. Nur der Christ ist in der Lage, das Zeichen des Feuerschla-
gens zu erfassen, denn nur er weiß, daß "Christuspetra heißen wollte" (vgl. 1
Cor. 10, 4; Eph. 2, 20f., auch an den "Eckstein" wird man denken: Mt. 21,
42 par.). Ohne die Offenbarung durch Wort und Schrift ergäbe das natürliche
Geschehen nicht den angenommenen symbolischen Sinn. Wir werden hier
25 Vgl. die Iuxtaposition der Begriffe in cath. 1, 42: s. unten S. 131 [439], Der Ausdruck
cath. 5, 10: in Christi solido corpore impliziert die Abwehr häretischer Christologie (vgl. Prud.
apoth. 956ff. und Tert. adv. Marc. 4, 18, 9, wo derselbe Ausdruck begegnet); zugleich stellt er
eine Beziehung zwischen der Person Christi und dem Namen petra her, begründet also die
Symbolik.
[420/421] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 105
also auf dieselbe Anschauung zurückgeführt, die wir in dem oben (S. 98f.
[416]) behandelten Tertulliantext antrafen. Daß die Natursymbolik im Ver-
hältnis zur Hl. Schrift propädeutischen Zweck erfülle, kann man allerdings
dem Dichtertext nicht ohne weiteres entnehmen. Derlei braucht zwar für
Prudentius nicht geradezu ausgeschlossen zu werden, aber näher liegt doch
etwas anderes. Prudentius schreibt Hymnen für bestimmte Stunden des Tages,
er führt uns in die Situation, in der wir die natürlichen Vorgänge erleben, hier
also: Sonnenuntergang, Nachtdunkel, Feuerschlagen, Lichtanzünden. Die Be-
trachtung der Symbolik dieser Vorgänge gewinnt daher bei ihm eher den Wert
einer ständigen Beherzigung und Vertiefung der christlichen Lehre.
V. 12 hat den Interpreten arges Kopfzerbrechen verursacht - gänzlich
unnötigerweise. Mit den igniculi sind weder die Seelen gemeint noch sonst
irgendwelche psychisch-geistigen Erleuchtungen, sondern die bescheidenen
Beleuchtungen im Hause, die "Feuerchen", die durch Lampen, Fackeln und
Kerzen unterhalten werden. Es lohnt sich, dem Text des Gedichts noch ein
Stück weiter zu folgen:
"(Die Feuerchen) die wir mit Lampen, triefend vom Naß des
fetten Öls, oder mit trockenen Fackeln nähren; ja auch Binsen-
dochte fertigen wir: mit Blüten-Wachs überziehen wir sie, aus
dem der Honig gepreßt ward.
Lebhaft regt sich die Flamme, sei es, daß ein hohles Tonscherb-
chen dem vollgesogenen Stücklein Werg Flüssigkeit zuführt, sei
es, daß Fichtenholz Nahrung aus Pech bringt, sei es, daß der
glühende Docht das runde Wachs trinkt;
heißes Nektar rollt vom flüssigen Scheitel tropfenweise in duf-
tenden Tränen herab, da die Feuerskraft versengten Regen vom
feuchten Gipfel weinen läßt.
Es erstrahlen also durch Deine Gaben, Vater: durch edle Flam-
men die Hallen, und den fernen Tag spielt wetteifernd das Licht,
vor dem die Nacht, besiegt, mit zerrissenem Gewände flieht.
Aber wer sähe nicht des verzehrenden Lichts Ursprung aus der
Höhe: daß es von Gott seinen Ausgang nimmt? Erblickte doch
Moses im Dornbusch Gott, flammend in sichtbarem Licht."
Christus ist das "wahre" Feuer, steht also über der Natur. Auch in cath. 5 hat
er den Irrtum einer materialistischen Gleichsetzung von Gott und Feuer sofort
eingangs durch den Anruf: Inventor rutili... luminis ausgeschlossen, creator
und creatura auch sonst im Verlauf dieses Gedichts deutlich geschieden (vgl.
27 Irreführend ist die Bemerkung bei Bergman a.Ο. (oben Anm. 4) 103: "(Prudentius) geht
aus von der in der antiken Philosophie üblichen Vorstellung von dem Feuer als einer göttlichen
Substanz" - als ob es in der christlichen Theologie keine Symbolik des Lichts und des Feuers
gäbe! Vgl. Dtn. 4, 24.
28 Ambros. spir. 1, 144 (CSEL 79, 76).
29 Ambros. ebd. 149 (a.O. 78). Wichtig für Prudentius ist die Erklärung des brennenden
Dornbuschs apoth. 55ff. <, vgl. bes. 56/58: deus in spinis volitabat acutis Vulnificasque comas
innoxius ignis agebat, Esset ut exemplo deus ... eqs. > (Kontext: es war stets die zweite Person
der Hl. Dreifaltigkeit, die sich im Alten Bund sichtbar offenbarte). Ferner: cath. 10, 1 Deus
igneefons animarum; 29f. At si generis memor ignis (sc. anima) Contagia pigra (sc. camis)
recuset... eqs.; per. 10, 439f. Naturafervens (sc. animae) solaferventissimae Divinitatis vim
coruscantem capit. Hier wird überall das immaterielle Wesen des Feuers, das Gott ist und von
dem die menschliche Seele stammt, klar bezeichnet.
108 Prudentiana II. Exegetica [422/423]
etwa V. 25: tuis muneribus und im Gegensatz dazu V. 153: tu lux vera). Aber
an der Auffassung einer wesenhaften Verwandtschaft von Gott und Feuer durfte
Prudentius festhalten, ohne sich von der kirchlichen Lehre zu entfernen. Was
allein auffallen kann, ist die konkrete Verbindung dieses Gedankens mit den
igniculi im abendlichen Hause.
Wäre Prudentius nicht Dichter, hätte er es mit der Feststellung des
Theologumenons und den biblischen Belegen genug sein lassen können. Aber
er ist Dichter, und so führt er uns die gottverwandte Qualität des Feuers durch
die Anschauung sinnfällig vor. Er zeigt uns die gewöhnlichen, alltäglichen
Geräte häuslicher Beleuchtung in einer Weise, daß sich die göttliche Abstam-
mung der flammae nobiles (vgl. V. 26) aus der Betrachtung wie von selbst
ergibt: dem Christen allabendlich beim Entzünden des Lichts sichtbarlich vor
Augen tritt. Das ist der - bisher verkannte - Sinn der langen Beschreibung der
Lampen, Fackeln und Kerzen in den Versen 13/24. Diese Strophen verdanken
ihre Entstehung nicht nur "der Lust zu fabulieren", wie man früher annahm30,
sie sind aber auch nicht vollgestopft mit allerlei dunklen Anspielungen, wie |
van Assendelft uns glauben machen will31. Die Kunst des Prudentius ist tief,
aber klar. Auch zweifle ich, ob die Beschreibung richtig charakterisiert ist,
wenn man sie - wie Herzog - "realistisch" nennt32. Die Ausdrucksweise gera-
de in der beschreibenden Gedichtpartie ist hochpoetisch, steigert sich in der
Kerzenstrophe (V. 21/24) zu wahrhaft lyrischer Kühnheit. Gewiß: die liebe-
volle, die Gegenstände erhöhende Beschreibung der abendlichen Lichtquellen
gibt auch einen Lobpreis Gottes durch Darstellung seiner Gaben (vgl. V. 25:
tuis muneribus). Im dritten Hymnus Ante cibum nimmt der Gabenpreis einen
bedeutenden Teil des Gedichts ein und wird durch einen eigenen Musenanruf
eingeleitet (cath. 3, 26ff.) sowie durch eine korrespondierende Reflexion ab-
geschlossen (ebd. V. 8Iff.). Was dort einen eigenständigen Abschnitt des Ge-
30 Bergman a.O. (oben Anm. 4) 94f. wertete die Stelle als Beispiel der Vorliebe unseres
Dichters "für eingeflochtene detaillierte Beschreibungen" (ebd. 91).
31 Typisch hierfür z.B. ihre Interpretation zu V. 15 favis...floreis(135) und V. 21 nectar
...fervidum (137).
32 Vgl. Herzog 72, wo fünfmal hintereinander die Begriffe "realistisch", "Realismus"
begegnen. Seltsamerweise scheint Herzog die Details des Texts nicht gerade sorgfältig beobach-
tet zu haben, da er das tropfende Wachs (V. 21/24) für tropfendes Öl hält (ebd.). Ähnlich erging
es Bergman, der ebenfalls die "realistische Anschaulichkeit" der prudentianischen Dichtung
rühmte (a.O. [oben Anm. 4] 97f.), dabei aber fand, daß in den Versen cath. 2, 13/20 "die ganze
Reihe [?] der verschiedenen Lampen und Fackeln der Antike hervorgezaubert" werde (94). Den
Sinn der Beschreibung sieht Herzog in der Spannung zwischen "Realismus" und "Geistigkeit",
die auch sonst die Poesie des Prudentius kennzeichne. Darin könnte ein richtiger Ansatz liegen,
aber er müßte anders fortgeführt werden, als dies bei Herzog geschieht.
[423/424] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 109
dichts bildet, ist hier in der Beschreibung der Gaben involviert. Aber diese
Erklärung genügt nicht. Sieht man genauer zu, bemerkt man, daß Prudentius
gezielt einen bestimmten Hauptzug herausarbeitet: die lebendige, verzehrende
Kraft des Feuers. Vivaxflamma (V. 17) liefert das Stichwort in der fünften, vis
ignea (V. 23) in der sechsten Strophe. Aber schon in den Versen 13/14 betont
Prudentius das Moment der Nährung des Feuers (pascimus), und die Tatsa-
che, daß Feuer sowohl durch Flüssigkeit (olei rore madentibus lychnis) als
auch durch trockenen Stoff (facibus ... aridis) unterhalten wird, erweckt hier
zusätzlich den Eindruck des Wunderbaren. Die Vorstellung wunderbarer Le-
bendigkeit des Feuers tritt dann in den beiden folgenden Strophen (V. 17/24)
beherrschend hervor. Als bloß sachliche Ergänzung der descriptio wären sie
überflüssig, ja die Verse 17/20 liefern so etwas wie eine inhaltliche Dublette
zum Vorhergehenden. Aber das Ziel der Darstellung ist eben ein anderes. Die
verschiedene Nahrung des Feuers durch Öl, gepechte Fackel und Wachskerze
wird nochmals vorgeführt, um in kunstvoller Variation den beabsichtigten
Gesamteindruck lebendiger Kraft der Flamme zu verstärken. Die Beschrei-
bung gipfelt, wie gesagt, in der sechsten Strophe (V. 21/24), die der Kerze
allein vorbehalten ist. Die Kerze, die schon in den beiden voraufgehenden
Strophen behandelt war, tritt noch einmal selbständig in den Mittelpunkt der
Betrachtung, wobei das wunderbare Wesen des Feuers durch stark personifi-
zierende Belebung der brennenden, tropfenden Wachskerze, besonders durch
die Vorstellung des Weinens, der Tränen, sowie durch kostbare poetische
Ausdrücke (nectar ... fervidum) und paradoxe Wendungen (vgl. bes. das
Oxymoron: ambustum ... imbrem für das herabtropfende Wachs) eingefangen
wird - doch es dürfte kaum nötig sein, das Einzelne weiter auszuführen.
Sieht man die Dinge so, wie man sie nach dem Willen des Dichters
sehen soll, dann steht das deskriptive Textstück nicht mehr ohne inneren Zu-
sammenhang zu seiner Umgebung da. Die Lehre von der göttlichen Natur des
Feuers bleibt bei dem Dichter kein spröder Satz, die Anschauung bestätigt sie.
Ambrosius weist an der zitierten Stelle verächtlich auf Reisig und Gestrüpp als
Nahrung des natürlichen (qualmenden und | prasselnden) Feuers hin, um den
Unterschied zum Wesen desjenigen Feuers, das Gott ist, einzuschärfen.
Prudentius geht bei prinzipiell gleicher Auffassung den umgekehrten Weg:
durch dichterische αΰξησις in der Beschreibung des einfachen Geräts und der
verschiedenartigen Feuersnahrung prägt er die tiefe, wesenhafte Analogie
zwischen Gott und Feuer ein. Die sprachlichen Mittel dienen auch hier wieder
dem Ausdruck einer natürlich-übernatürlichen Realität, die jenseits alles Lite-
rarischen liegt. Schließlich: es bedarf keiner Frage, daß die Symbolik der
110 Prudentiana II. Exegetica [424]
Handlung des Feuerschlagens aus dem Stein durch die folgende Darstellung
des göttlichen Ursprungs des natürlichen Elements gestützt, bestätigt wird.
Der symbolischen Deutung (Stein/Feuer ~ Christus/Licht) wird so das Will-
kürliche, vielleicht gar Gekünstelte, das sie sonst haben könnte, genommen.
Zu den Versen cath. 5, 1/28 gibt es seit einigen Jahren eine Spezialstu-
die, eine holländische Akademieabhandlung von C.W. Mönnich. Sie trägt den
wunderlichen Titel "Verlossende Techniek"33, und die Ausführung hält, was
der Titel verspricht. Noch deutlicher wäre freilich gewesen: "Erlösender Ma-
terialismus" . Denn der Verfasser wagt es tatsächlich, dem altchrisdichen Dichter
einen materialistischen Erlösungsbegriff zu unterstellen: das Kunstlicht sei bei
Prudentius "zumindest ein Teil der Erlösung selbst" (15: "in de volgende
strofen [V. 5ff.] blijkt het kunstlicht op zijn minst een deel van de verlossing
zelf te zijn"); die Technik des Kunstlichts sei "ein Aspekt der Erlösung" (19).
Aber damit nicht genug! Das Christentum schlechthin wird bei Mönnich zum
Materialismus: Prudentius stehe in einer christlichen Tradition, "in der die
Veritas der Offenbarung Gottes die materielle Welt mit ihrer Liebe umfaßt,
und zwar um ihrer Materialität willen" (18); die Erde sei imstande, "in ihrer
Materialität den Erlöser zu tragen und in die Erlösung eingeschlossen zu wer-
den" (ebd.). Und schließlich die Erklärung des Titels: die Welt der Konkreta,
zu der die Lampen, Fackeln und Kerzen gehören, "besitzt selbst auch erlösen-
de Wirkung ... So können wir hier von erlösender Technik sprechen" (20:
"Maar tegelijk geldt, dat de wereld der concreta... zelf ook verlossende werking
heeft... Zo kunnen wij hier spreken van verlossender techniek").
Man wird es mir hoffentlich erlassen, die Gedankengänge, die den Ver-
fasser zu solchem Ergebnis führen, im einzelnen nachzuzeichnen. Mönnich
geht von der richtigen Beobachtung aus, daß in V. 2, besonders in dem Aus-
druck certis vicibus, der Gedanke an den ordnenden Geist des Schöpfers liegt,
der beides: Tag und Nacht gemacht hat, während der folgende Vers durch
chaos ... horridum die Nacht auf die Seite des Bösen stellt. Mönnich glaubt,
dadurch werde eine dramatische Spannung erzeugt, die sich in den folgenden
Strophen entlade (13). Aber eine solche Spannung besteht nicht, weil ein Christ
wie Prudentius niemals auf den Gedanken verfallen wäre, das Symbol mit
seinem Gegenstand einfach gleichzusetzen. Die Nacht ist ebenso wenig das
Böse selbst wie der Schlaf: er gilt dem Dichter als Symbol des ewigen Todes,
der Verdammnis also (cath. 1, 25f.), und doch weiß Prudentius natürlich, daß
der Schlaf ein notwendiger Teil der Schöpfung Gottes ist: vgl. cath. 6, 11
blandus sopor vicissim Fessos relaxat artus. Der Wechsel von Schlaf und
Wachen ist von Gott zum Wohl der Creatur geordnet, trägt aber nichtsdesto-
weniger einen, ebenfalls von Gott gewollten, symbolischen Sinn. Nicht anders
verhält es sich mit dem Wechsel von Tag und Nacht. Mönnich | kann das
nicht sehen, weil er - getreu der materialistischen Zielsetzung seiner Interpre-
tation - jedwede Symbolik überhaupt ablehnt (15. 17). Seine Überlegungen
sind weithin abstrus, besonders dort, wo er über die Begriffe solidum corpus
und petra spricht. Seine Bemerkungen erwecken teilweise den Eindruck, als
neige er einer fetischistischen Gleichsetzung von Stein und Gottheit zu: Chri-
stus sei "selbst der echte (und nicht nur wesensgleiche!) Feuerstein, mit dem
er uns gelehrt hat, Feuer zu machen" (19); daher können die igniculi, die
stofflich zu verstehen sind, aus Christus stammen (20)! Wenn diese Interpreta-
tion etwas Gutes hat, so dies, daß Mönnich im Unterschied zu Herzog und van
Assendelft nachdrücklich für die richtige Auffassung von igniculi in V. 12
eintritt (15f. 20). Aber welche Folgen hat diese Erkenntnis! In ihr dürfte wohl
überhaupt die Keimzelle der materialistischen Deutung des Ganzen liegen.
Ich breche ab. Der behandelte Prudentiustext ist in jüngster Vergangen-
heit durch die beiden holländischen Arbeiten zum Substrat textferner Mystifi-
kation (van Assendelft) und materialistischer Spekulation (Mönnich) gemacht
worden. Auf beiderlei Weise zeigt sich, daß mangelndes Verständnis christli-
cher Natursymbolik auch das Verständnis der Tageslieder des Prudentius be-
droht. Man kann diese Gedichte nicht interpretieren, ohne sich von der gei-
stigen Basis, auf der sie ruhen, eine klare Vorstellung gebildet zu haben.
4.
Der gläubige Christ, der die Natur betrachtet, "stützt sich" auf das, was
Gott gemacht hat, und auf diese Weise "gelangt er hinüber" zu Ihm selbst, der
alles wunderbar erschuf (vgl. Aug. conf. 5, 1, 1). Das gilt für die Gotteser-
kenntnis im allgemeinen - so meint es Augustinus a.O. - , aber auch für be-
stimmte Glaubenslehren im besonderen: ein Betrachter, dessen Sinn einmal
für die Symbolik aufgeschlossen und durch dauernde Übung an sie gewöhnt
ist, wird mannigfaltige Symbole in der Natur entdecken. Darin liegt ein crea-
tives Moment solcher Denkweise. Andrerseits wird der Christ sich die Frage
112 Prudentiana II. Exegetica [425/426]
vorlegen müssen, was Gott getan hat, damit die Menschen ein bestimmtes
Zeichen erkennen. Er wird sich diese Frage stellen müssen, wofern er nicht
Gefahr laufen will, einer Selbsttäuschung zu erliegen. Die frühchristlichen
Denker jedenfalls haben die Frage ernstgenommen und nach der Beglaubi-
gung eines natürlichen Zeichens geforscht. Meist fanden sie die Beweise eines
Zeichens in der Hl. Schrift. Wobei man sich die Verhältnisse allerdings nicht
so vorstellen darf, als hätten die Symboliker nachträglich die Texte durchstö-
bert, um etwas auf ihre Naturbeobachtung Passendes zu finden. Vielmehr bil-
deten Betrachtung der Natur und Studium der Schrift eine lebendige Einheit.
Um bei Augustinus zu bleiben: Er sah in den hochragenden Bergen ein Sym-
bol hochfahrenden Menschengeists, ohne sich jedoch auf den visuellen Ein-
druck und seine Phantasie zu verlassen; die Erkenntnis war ihm aus dem Ver-
ständnis einer Schriftstelle erwachsen34. Auch die allegorische Erklärung eines
Bibeltexts wird als Stütze eines Natursymbols zugelassen, weil auch die
Bibelallegorese einen tieferen, geistigen, aber objektiv vorhandenen Sinn des
Wörtlichen hervorbringt. So kann die spirituelle Erklärung der Hl. Schrift die
spirituelle Erklärung der Natur stützen, und daher findet sich | beides in den
Tagesliedern des Prudentius nebeneinander35. Für beides verwendet er densel-
ben Terminus: figura ist der figürliche, allegorische Sinn einer Bibelstelle
(psychom. praef. 50. 58), aber auch das Natursymbol (cath. 1, 16; vgl. auch
imagines in cath. 2,85 und van Assendelfts richtige Bemerkung dazu: "Imagines
in the present context has the same force as e.g. figura in cath. 1, 16").
Doch schon das fünfte Gedicht lehrte, daß es neben der biblischen Fun-
dierung eines Symbols andere Arten des Beweises gibt. Eine davon ist die
Wirkung des Symbols. Da das natürliche Zeichen seinem übernatürlichen
Gegenstand auf eine innere, tiefe Weise verwandt ist, kann es auch eine Wir-
kung zeitigen, die seinen Symbolcharakter bestätigt. Diese Beweisart läßt sich
gut anhand der ersten acht Strophen des zweiten Gedichts, des Hymnus ma-
tutinus, verfolgen. Ich verzichte darauf, den Text auszuschreiben, und begin-
34 Vgl. Aug. in Job 9 (CSEL 28,2,527); conf. 1 , 4 , 4 . Er legte Job 9, 5 in der Fassung der
Vetus Latina zugrunde: ... qui in vetustatem perducit monies et nesciunt. Genauer gesagt sym-
bolisieren die Berge also Gottes Strafe an den Hochmütigen, nicht bloß eine allgemeine Eigen-
schaft des Menschen. Zum Zusammenhang von Natursymbolik und Bibelexegese s. auch unten
Anm. 39.
35 Das zweite Gedicht, auf das ich im folgenden eingehe, stützt die Natursymbolik eben-
falls durch eine vergeistigende Schriftauslegung: cath. 2, 73/92 (Jakobs Kampf mit dem Engel:
Gen. 32, 22/32). Der Sinn der Stelle ist bei van Assendelft arg verkannt. Sie bringt (115.117)
die entscheidenden Parallelen (Ambras. Iac. 2, 7, 30 und ep. 27, 16), übersetzt und interpretiert
aber falsch (119 zu V. 86/88). Die Passage verdiente eine eingehendere, klärende Behandlung.
[426] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 113
36 Nebenbei bemerkt: weder bei Paulus noch bei Prudentius ist die Rede davon, daß die
Herzensgeheimnisse am Jüngsten Tage vor Gott (!) offenbar würden - so Herzog 53. Regnante
Deo in cath. 2, 12 ("unter der Herrschaft Gottes") darf nicht so verstanden werden, denn das
wäre sinnlos: der κριτικός ένθυμήσεων και έννοιών καρδίας (Hebr. 4, 12) sieht ohnehin
114 Prudentiana II. Exegetica [426/427]
immer alles, wie Prudentius gerade in diesem Gedicht einschärft (vgl. cath. 2,105ff.: speculator
adstat desuper... eqs.); kundgetan werden die verborgenen Sünden vor allen Geschöpfen. Das
meint z.B. auch Aug. civ. D. 20,27: haec distantiapraemiorum atquepoenarwn iustos dirimens
ab iniustis, quae sub isto sole in huius vitae vanitate non cernitur, quando sub illo sole iustitiae
(vgl. Mal. 3, 17ff.) in illius vitae manifestatione clarebit, tunc profecto erit iudicium, quale
numquamfuit. Vgl. auch Prud. ham. 863ff.: obwohl getrennt, sehen die Seelen der Gerechten
und Verdammten einander (inque vicem meritorum munera cernunt: ebd. 930).
37 Bergman a.Ο. (oben Anm. 4) 80.
[427/428] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 115
Blick des Allsehers leuchtet" - damit glaubte der verdiente Editor die Aussage
der Verse 1/16 getroffen zu haben! Den eschatologischen Sinn des Symbols,
den Prudentius sieht, sah er nicht. Und weiter: "Hiervon werden einige Bei-
spiele aus dem Leben und Treiben der Verbrecher und Sünder angeführt".
Keine Spur einer Erkenntnis des gedanklichen Zusammenhalts! Herzogs In-
terpretation der Passage wiederum ist darauf ausgerichtet, den, wie er meint
(52f.), kaum merklichen Übergang vom Jüngsten Gericht zum natürlichen
Morgen in Versen 17ff. nachzuzeichnen. Ich finde, daß der Übergang mit V.
17 sofort klar und für jedermann verständlich vollzogen wird. Vor allem aber:
daß die Schilderung der Wirkung des natürlichen Lichts auf die Menschen
eine "Illustrierung" des Schreckens beim Jüngsten Gericht bringen soll, einen
"Vergleich" - wohlgemerkt: im Sinne bloßer Veranschaulichung (Herzog 55:
"Unversehens haben sich die irdischen Analogien, mit denen der | Dichter
das Anbrechen der Ewigkeit veranschaulichte [!], verselbständigt..." usw.) -
kann ich keinesfalls zugeben. Herzog hat den argumentativen Zweck der Pas-
sage verkannt. Man kann ihn freilich auch nur dann erkennen, wenn man vom
Wesen christlicher Natursymbolik einen rechten Begriff hat. Da dies auch bei
van Assendelfi nicht der Fall ist, darf es nicht wundernehmen, daß sie bei
Wiedergabe des Gedankengangs (97) an der entscheidenden Stelle abirrt: "The
line of thought is as follows. The rising sun brings light to the world that was
covered by darkness. Just so Christ will bring His light to all mankind at the
end of time . . . " (so weit, so gut! dann aber weiter:) "we know this because
even now His light shines and whoever fully realizes this must put an end to
sin; for Christ's light expunges sin". Zwar hat van Assendelft richtig bemerkt,
daß die Verse 17ff. zu den voraufgehenden im Verhältnis einer Begründung
stehen, aber die Art dieser Begründung verfehlt sie. Davon, daß jedermann
seiner Sünde ein Ende bereiten müsse, der "realisiere", daß Christi Licht auch
jetzt scheine, ist hier in diesem Text nirgends die Rede38, geschweige denn,
daß durch eine solche Überlegung die symbolische Bedeutung des aufgehen-
den Sonnenlichts irgendwie gestützt werden könnte. So unklar, so verschwom-
men denkt und dichtet Prudentius nicht. Nein: der Grund, weshalb wir die
übernatürliche Bedeutung des natürlichen Lichts erkennen, liegt in der Wir-
kung eben des natürlichen Lichts. Die Verse 17/36 müssen so genommen
38 Täusche ich mich nicht, so liegt darüber hinaus in solcher Feststellung ein subjektivisti-
sches Moment, das dem altchristlichen Dichter ebenso fremd war wie der Kirche, der er ange-
hörte. Die Prudentiuserklärung der holländischen Kommentatorin ist auch sonst nicht frei von
theologischen Fremdkörpern, wozu im Gnomon (51 [1979] 140) einiges gesagt ist.
116 Prudentiana II. Exegetica [428/429]
werden, wie sie dastehen: als Beschreibung des Einflusses von (natürlicher)
Dunkelheit und (natürlichem) Licht auf das Verhalten der Menschen. Nur so
erfüllen sie die Aufgabe eines Beweises der Zeichenhaftigkeit. Denn beweisen
kann man nicht, indem man eine übernatürliche Deutung mit einer anderen -
im übrigen fragwürdigen - vermengt. Van Assendelft begeht auf Schritt und
Tritt den Fehler, die Schilderung der natürlichen Vorgänge nicht als solche zu
belassen, sondern ihr sogleich wieder spirituelle Bezüge aufzupfropfen. Zu
cath. 2,25 schreibt sie (100): "... but as v. 26 sqq. show, P. is also expressing
the effect of Christ's light upon the sins of the world." Nein: es geht im Gan-
zen des Gedichts wohl um das Licht Christi, doch eben deshalb muß man die
genannten Verse als Beschreibung des natürlichen Vorgangs und seiner Wir-
kung rein und unvermischt bestehen lassen, sonst leisten sie nicht, was sie
nach des Dichters Absicht leisten sollen. Wenig später heißt es bei van Assen-
delft (101 zu V. 27f.): "... P. is now introducing his other level of thought:
whoever receives Christ's light into his own life must put an end to his tempo-
ral sins." Ein schöner Gedanke, aber er hat mit dem Text, den die Kommenta-
torin erklären will, nichts zu tun. Überall dasselbe Verfahren, derselbe Irr-
tum! Vgl. van Assendelft (125) zu V. 27 teste limine: "... there can be no
sinning, provided we recognize the light." Was Prudentius meint, ist geradezu
das Gegenteil: auch der Sünder - ja gerade er, der das Licht Christi nicht
angenommen, nicht erkannt hat - legt durch sein verändertes Verhalten bei
Tagesanbruch ungewollt Zeugnis ab für die Zeichenhaftigkeit des Lichts.
Es wird wohltun, nach den modernen Prudentiusinterpreten abschlie-
ßend einen Denker der alten Kirche zu Wort kommen zu lassen. Der hl. Am-
brosius sagt39, wir sollen | unsere Hoffnung auf Gott setzen, daß er uns
davor bewahre, lichtscheu das Dunkel zu suchen. Er fährt dann fort: Quomodo
39 Ambros. in Ps. 36, 15 (CSEL 64, 80 [zu Ps. 36 bzw. 37, 5]). Lehrreich für die
Natursymbolik insgesamt ist Ambros. Cain 2, 8, 26 (CSEL 32, 1, 400). Ausgehend von den
Worten Cains: eamus in campum (Vetus Latina Gen. 4, 8) zeigt Ambrosius, wie bestimmte
Gegebenheiten der Natur und bestimmte Sünden in Beziehung zueinander stehen: latro diem
refiigit quasi criminis testem, lucem adulter quasi erubescens consciam, parricida terraru
fecunditatem. Der Brudermörder flieht fruchtbare Gegenden, weil die benignitas elementorum
seinem Vorhaben zutiefst widerstreitet. Aber auch die Natur ihrerseits hatte, "das ungeheure
Verbrechen gleichsam prophezeiend", jener Landschaft die Fruchtbarkeit versagt. Sie, die Na-
tur, fällte ein gerechtes Urteil ea loca... muneris sui dote privando, ut ex innocentis soli quadam
damnatione ostenderet [!], quanta essentfutura supplicia noxiorum (a.O. 401). Ambrosius läßt
seine Gedanken mit einer gewissen Freiheit um die Sache kreisen, aber man tut dem Text keine
Gewalt an, wenn man ihm entnimmt, daß die Ödheit einer Landschaft den Verwandtenmord
symbolisiert. Zugleich wird deutlich, wie sich die symbolische Naturbetrachtung der Väter im
Zusammenhang mit der Bibelexegese entfaltet.
[429] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 117
enim potest, qui adulterium molitur, non noctem suis accommodam quaerere
temptamentis, qui falsum cogitat, testem suae fraudi adhibere, qui corrup-
telam iudicis capiat, ut opprimat innocentem, iniquitatis non explorare secretum ?
latro solitudines obsidet, noctis tenebras operitur, ut sceleri cedat effectus.
iniquitas ergo [!] tenebrae sunt, Deus lux est. Diese exzellente Parallele bringt
van Assendelft selbst bei (98 zu cath. 2, 17f.). Sie leitet das Zitat mit der
Bemerkung ein: "The association [!] darkness - stealth - sin - the devil is
expressed very clearly in Ambros. ..." Aber es geht bei Ambrosius nicht um
eine bloße Gedanken-Assoziation, sondern, wie das argumentierende ergo zeigt,
um einen Beweis. Und dieser Beweis ruht ähnlich wie bei Prudentius auf der
dem Übernatürlichen analogen Wirkung des Natürlichen auf die Menschen.
5.
Wir sind vom zehnten Gedicht über das fünfte und zweite zurückge-
schritten und stehen nun vor dem ersten: dem Hymnus Ad galli cantum. Er ist
der reinste, vollkommenste Ausdruck christlicher Natur Symbolik bei Prudentius.
Die Zeichenhaftigkeit von Hahnenschrei, Schlaf, Erwachen, Nacht, Tag, mehr
noch: die Symbolik der morgendlichen Situation des Christen, der das Licht
betend erwartet, dies alles bildet die Grundlage des gesamten Gedichts. Man
darf annehmen, daß in einem solchen Stück, das zudem noch an die Spitze der
Sammlung gestellt ist, das Wesen der Symbolik besonders deutlich hervortritt.
Ihr Wesen, das heißt: ihre objektive Existenz als eines von Gott geschaffenen
Mittels, den Menschen durch die Natur über übernatürliche Tatsachen zu be-
lehren. In dieser Annahme täuschen wir uns auch keineswegs, im Gegenteil:
schon der äußere Aufbau des Gedichts läßt erkennen, wie sehr Prudentius
bemüht war, jenes Wesen christlicher Symbolik fest und klar vor Augen zu
stellen.
Freilich gilt es in der Forschung als ausgemacht, daß das Gedicht über-
haupt keine Disposition erkennen lasse. Ältere Gelehrte behandelten die Frage
mit offenkundiger Nachlässigkeit, wie Brockhaus40 und Rosier41, oder konsta-
40 C. Brockhaus, Aurelius Prudentius Clemens in seiner Bedeutung für die Kirche seiner
Zeit (Leipzig 1872 bzw. Wiesbaden 1970) 82 bietet eine oberflächliche Inhaltsangabe, welche
die gedankliche Struktur eher zu verdecken geeignet ist.
41 A. Rosier, Der katholische Dichter Aurelius Prudentius Clemens (Freiburg 1886) 43
befürwortet eine Zweiteilung des Gedichts (V. 1/80 - 81/100) gemäß dem Herrenwort: vigilate
118 Prudentiana II. Exegetica [429/430]
tierten den vermeintlichen Mangel, wie Sixt42. Und keiner der modernen Er-
klärer ist über sie hinausgelangt. Pellegrino versuchte eine willkürliche Tren-
nung des Gedichts in zwei Teile43, Herzog | sieht nur Episoden und Ein-
schübe44, Fuhrmann machte zwar die Frage nach der Einheit des Gedichts zum
Hauptgegenstand einer gesonderten Abhandlung, fand aber ebenfalls, daß das
Stück "keine Einheit der Szenerie, der Situation, des äußeren Ablaufs" erken-
nen lasse; der christlichen Allegorie gelte alles Irdische und sinnlich Wahr-
nehmbare als die "wesenlose Hülle" des wahrhaft Bedeutsamen, die Einheit
sei für sie stets "die Person Christi"45. Wohl kaum ein Prudentiusleser wird
sich angesichts solcher Formulierungen eines Gefühls der Unsicherheit er-
wehren können. Ein Gedicht aus losen Stücken, fragt man sich, ohne äußere
Struktur? Ist denn Prudentius kein Künstler? Die Geringschätzung der Kom-
position tritt bei Fuhrmann auch in dem hervor, was er über die Berechtigung
des Ausdrucks "Episode" sagt: "Was Episode ist und was nicht, bemißt sich
im allegorischen Gedicht nach der Relevanz, die jeder Einzelheit im Ganzen
der Bedeutungssphäre zukommt, und nicht nach dem Anschein, den die äuße-
ren Proportionen der Bilder und Motive vermitteln"46. Also tritt das wirklich
Relevante und das nur scheinbar (äußerlich) Relevante auseinander? Gewiß
erschöpft sich ein Kunstwerk nicht im Handlungsablauf oder in der Folge der
äußeren Motive. Aber wenn es ein Kunstwerk sein soll, dann gehört die Struk-
tur, die Komposition mit zu seinen Ausdrucksmitteln. Van Assendelft glaubt
et orate (Mt. 26, 41), mißt aber der Gliederung offenbar selbst keine zwingende Bedeutung bei:
"An diese beiden Worte läßt sich auch die Disposition des Gesanges, wenn man eine solche
sucht [!], anschließen."
42 G. Sixt, Die lyrischen Gedichte des Aurelius Prudentius Clemens, Progr. d. Karls-
Gymnasiums in Stuttgart (1889) 7.
43 M. Pellegrino, A. Prudenzio demente. Inni della Giornata (Alba 1954) 204: er sieht
zwei gleich lange Teile (V. 1/48 - 49/96), beschlossen vom Gebet (V. 97/100).
44 Herzog 63 u.ö. Diese Anschauung reicht auf Bergman (a.Ο. [oben Anm. 4] 90) zurück
und wirkt noch bei van Assendelft nach (22 im Diagramm zu cath. 1: "Peter episode"). Fuhr-
mann sucht den Begriff der Episode neu zu fassen (a.O. [s. die folgende Anm.] 101), doch hätte
er nach seiner eigenen Definition der Episode - s. das Zitat im Text oben - die Petrusstrophen,
die seines Erachtens im "Zentrum" des Gedichts stehen (a.O.), kaum als solche bezeichnen
dürfen (a.O. 99). Man lese, was E. Norden, Orpheus und Eurydike: SbBerlin 1934, 626/83 =
Kl. Schriften (Berlin 1966) 468/532, ebd. 521 über "Episode" als Hilfsbegriff der Vergilinterpreta-
tion schreibt! Gilt schon hier, daß die sog. Episoden in Wahrheit keine sind, weil die betreffen-
den Stücke nicht linienartig aufeinanderfolgen, sondern unter sich verbunden sind (δι' άλληλα,
nicht μετ' α λ λ η λ α nach der Terminologie der aristotelischen Poetik), so gilt das von der Lyrik
des Prudentius erst recht.
45 M. Fuhrmann, Ad Galli Cantum. Ein Hymnus des Prudenz als Paradigma christlicher
Dichtung: Der altsprachliche Unterricht 14, 3 (1971) 82/106, ebd. 102.
46 Fuhrmann a.O. (s. vorige Anm.) 101.
[430/431] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 119
47 M. Fuhrmann/H. Tränkle, Wie klassisch ist die klassische Antike? (Zürich 1970) 36.
120 Prudentiana II. Exegetica [431]
beim Hahnenschrei (V. 37/48), Petri Verleugnung vor dem Hahnenschrei (V.
49/64), Christi Auferstehung zur Stunde des Hahnenschreis (V. 65/72). Daß tat-
sächlich mit V. 37 etwas Neues beginnt, wird durch den Neueinsatz/erw/tf ("man
sagt") klar; der zweite Beweis ist als solcher schon durch den Anschluß: quae vis
sit huius alitis (V. 49) unverkennbar, der dritte ebenfalls durch die Überlei-
tung: iride est quod omnes credimus (V. 65) als eng zum Vorausgehenden
gehörig gekennzeichnet. - C. Paränetischer Schlußteil (V. 73/100). Die Art
der lebhaften Exhortatio, mit der die 19. Strophe einsetzt: iam iam quiescant
improba, iam culpa furva obdormiat, iam noxa ... marceat (V. 73ff.), läßt
keinen Zweifel daran, daß der Dichter gleichsam neuen Atem holt: die Folge-
rungen aus der in Α gegebenen und in Β bewiesenen Symbolik werden gezo-
gen48. Hortative und iussive Konjunktive sowie Gebetsimperative in der letz-
ten Strophe prägen das Stück (zu diesem Teil s. auch unten S. 126f. [436]).
Den größten Nachdruck lege ich auf die innere Geschlossenheit des
mittleren, beweisenden Teils (B). Kein anderes Stück ist von den willkürlichen
Einteilungen früherer Betrachter ärger betroffen worden, indem man bald vorne,
bald hinten etwas abschnitt oder indem man es ganz zerriß. Kein anderes
Stück offenbart so viel über das Wesen christlicher Natursymbolik, wofern
man nur die innere Verbundenheit dieser Strophen untereinander und ihre
Aufgabe innerhalb des Ganzen recht begreift. Es läßt sich nicht vermeiden,
hier wieder einmal den Text auszuschreiben49:
48 Der Neueinsatz mit Strophe 19 ( = V. 73ff.) ist auch dadurch gekennzeichnet, daß Pruden-
tius, nachdem er in den Petrus- und Osterstrophen (V. 49/72) die Symbolik in die geschichtliche
Dimension gefuhrt hatte (s. untenS. 126 [435f.]), nunmehr - zugleich mit den lebhaften Paränesen
- wieder in den Bereich des täglichen Christenlebens zurückkehrt.
49 Bei der deutschen Übersetzung halte ich mich im wesentlichen an die Übertragung des
Gedichts, die Fuhrmann a.O. (oben Anm. 45), Textanhang 19f. vorgelegt hat. Eine metrische
deutsche Übersetzung des ersten Tageslieds ist jetzt in dem nachgedruckten Werk von Brock-
haus (s. oben Anm. 40) 82/85 greifbar.
[432] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern
Der besseren Übersicht wegen habe ich die drei Beweisgänge: die Dämonen-
strophen, die Petrusstrophen und die Osterstrophen mit den Buchstaben a, b
und c am Rande gekennzeichnet. Wenden wir uns zunächst den Dämonen-
strophen zu!
a) Diese Verse bilden in gewisser Weise den kritischen Punkt in der
Interpretation des Gedichts. Zunächst einmal darf ferunt (V. 37) nicht miß-
verstanden werden. Was Prudentius mit vorsichtiger Distanz als bloße Mei-
nung bezeichnen will, das ist nicht die Existenz der Dämonen, ihre Realität;
die steht für ihn außer Zweifel50. Es geht nicht an, Prudentius hier in irgend-
50 Wie sie auch für den Künstler außer Zweifel stand, der die Miniatur schuf, die in der
Berner Bilderhandschrift (cod. 264 der Burgerbibliothek Bern, 1. Hälfte des 10. Jh. = cod. U
[433/434] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 123
der Ausgaben von Bergman und Lavarenne, fol. 2y) dem Hymnus Ad galli cantum beigegeben
ist. Siehe Taf. V und dazu R. Stettiner, Die illustrierten Prudentiushandschriften, Textband
(Berlin 1895) 82f., Tafelband (1905) 157. Die Miniatur zeigt den Hahn im Obergeschoß einer
Architektur stehend und die Dämonen, wie sie das Gebäude fluchtartig verlassen. Der Künstler
bzw. sein Vorbild nahm also für bare Münze, was bei Prudentius cath. 1, 37/48 zu lesen ist, und
ließ sich durch jenes ferunt nicht davon abhalten, gerade diese Szene darzustellen. Er durfte das
auch: man beachte, daß Prudentius mit Strophe 11 (V. 41ff.) in die Form der Aussage (finite
Formen: V. 44 fiigat; V. 46 norunt) übergeht.
51 Vgl. dazu F. Cumont, Lux perpetua (Paris 1949) 409/11, der den Ursprung des Glau-
bens in Altpersien findet; ebd. s. weitere Literatur. Wenn der ambrosianische Hymnus Aeterne
rerum conditor mit den Versen l l f . : Hoc (sc. gallo) omnis erronum (errorum codd.) chorus
Vias nocendi deserit auf die Dämonen zielt, wie Ar6valo für möglich hält (zu Prud. cath. 1, 37:
PL 59, 780 B) und andere sogar für sicher erachten (so A.S. Walpole, Early Latin hymns
[Cambridge 1922 bzw. Hildesheim 1966] 31f. z.St., und anscheinend auch Cumont a.O. 409),
dann haben wir hier das schönste Zeugnis für die Verbreitung des Glaubens unter den Christen:
denn dieser Hymnus war ja unzweifelhaft für die Liturgie bestimmt. Prudentius, der das Lied
des Bischofs anerkanntermaßen bei Abfassung von cath. 1 vor sich hatte, durfte dann erst recht
ohne Skrupel jene Anschauung zugrunde legen. Vgl. aber ThLL 5, 2, 814, Z. 4f. s.v. 2. erro.
An der Parallelstelle Ambros. hex. 5,24, 88 (CSEL 32,1,201f.), wo die Gedanken des Hymnus
fast wie in einer Prosaparaphrase wiederkehren, wird der Dämonen nicht gedacht.
52 Fuhrmann a.O. (oben Anm. 45) 99: daß der "unschuldig Schlafende" den Sünder symboli-
siert, ist für Fuhrmann wie schon für Herzog 61 "ein fast unverständliches Bild", das der
Dichter in den Dämonenstrophen durch eine stringentere Aussage ersetzt und korrigiert habe.
53 Deswegen dürfen veristische Züge der Darstellung wie cath. 1, 28 iacere ac stertere
nicht verwässert werden (vgl. van Assendelft 69), sonst wird ein Kristallisationspunkt der Sym-
bolik ausgelöscht; s. noch V. 85 convolutis artubus; V. 18 stratisque opertos segnibus. Pellegrino
a.O. (oben Anm. 43) 204f. beobachtet diesen Verismus ("verismo") in cath. 1 und bringt ihn
mit den Detailschilderungen der Folterqualen in den Gedichten Peristephanon in Zusammen-
hang, erklärt ihn also aus einem allgemeinen Wesenszug prudentianischer Dichtung. Das genügt
nicht. Man muß hier wie dort die besondere, tiefere Absicht sehen.
124 Prudentiana II. Exegetica [434]
die Zeit der Sünde im aktiven Sinne ist, spielt im zweiten Hymnus eine ent-
scheidende Rolle (s. S. 113f. [426f.]), nicht hier. Symbolik ist etwas Mannig-
faltiges. So kann ein Naturvorgang aufgrund verschiedener Charakteristika
ein und dasselbe symbolisieren, und es ist keineswegs nötig, daß jedesmal alle
möglichen Seiten der Sache gleichermaßen ins Auge gefaßt werden. Davon
wird später (S. 132 [440]) noch einmal im Zusammenhang die Rede sein.
Die Dämonenstrophen bieten keine Korrektur, sondern eine Bestätigung
der zuvor entwickelten Symbolik. Die Dämonen flüchten beim Hahnenschrei,
weil sie das Zeichen (45: signum) als solches erkennen. Sie wissen, daß der
Ruf des Hahns, der das Nahen des Lichts ankündet, Symbol der mahnenden
Stimme Christi ist, der an seine baldige Ankunft erinnert. Sie wissen das eben-
so, wie sie wußten, daß Christus der Sohn Gottes ist, und dies - früher als die
Menschen - bei der Heilung des Besessenen von Gerasa (Mt. 8, 29 par.)
bekannten (Prud. apoth. 417ff.)54:
54 Vgl. dazu cath. 9, 52/57 und per. 5, 85/92, bes. die Verse:
Van Assendelft (74) erinnert zu Recht an die Worte der Dämonen Mt. 8, 29: et ecce clama-
verunt dicentes: 'quid nobis et tibi, Fili Dei? venisti hue ante tempus [!] torquere nos?' Die
Dämonen wissen im voraus (vgl. cath. 1,45: praescii!), daß Christus einst kommen wird, ihrem
Treiben ein Ende zu machen.
ss Vgl. z.B. Aug. civ. D. 1,32: die Dämonen sehen das Ende der Pest voraus und benutzen
ihr Wissen, um einen Scheinbeweis ihrer Macht zu geben und die Römer zur Einfuhrung der
ludi scaenici zu veranlassen: sed astutia spirituum nefandorum praevidens [!] illam pestilentiam
iam fine debito cessaturam ... eqs. Augustinus schrieb De divinatione daemonum (CSEL 41).
[434/435] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 125
allnächtliche Flucht beim Hahnenschrei. Sie bezeugen damit die Wahrheit des
Symbols, das Gott eingerichtet hat, und zugleich natürlich auch die Wahrheit
des Gegenstands, welchen das Symbol bezeichnet: die Wahrheit der bevorste-
henden Ankunft Christi und der Verheißung ewigen Heils. Wohl nirgendwo in
der Dichtung des Prudentius wird deutlicher als hier, daß man der christlichen
Natursymbolik mit Begriffen wie 'Metapher' und 'Allegorie' (im quintilianischen
Sinne) keinesfalls beikommen kann. Die Dämonen fliehen doch nicht, weil
Prudentius σχήματα λέξεως oder διανοίας anwendet! Hahnenschrei und
Licht sind Symbole, als Symbole haben sie eine tatsächliche Wirkung. Die
Wirkung des Symbols auf die Dämonen ist unabhängig von der Darstellung
des Symbols durch den Dichter, unabhängig von der Erkenntnis des Symbols
durch den Menschen überhaupt, ja unabhängig auch von der Offenbarung der
Wahrheit in der Hl. Schrift. Denn die Dämonen brauchen die Bibel nicht zu
lesen, um zu wissen, daß Christus der Sohn Gottes und der Hahnenschrei ein |
Symbol Christi ist. Wie gesagt: das Wesen des Symbols als eines objektiv
vorhandenen, von Gott in die Natur gelegten Zeichens tritt hier in den Dämonen-
strophen mit größter Klarheit hervor.
b) Die Petrusstrophen fügen sich glatt anS6. Der Zweck der Behandlung
des Themas wird hier gleich eingangs klar ausgesprochen: Quae vis sit huius
alitis, Salvator ostendit Petro (V. 49f.). Geschlossen wird der Abschnitt durch
die entsprechende Feststellung: Cantuque galli cognito Peccare iustus destitit
(V. 63f.). Christus selbst hat dem Apostel die dem Symbol innewohnende,
eigene Kraft und Bedeutung (vis)57 erklärt, und der Apostel verstand die Erklä-
rung. Prudentius beruft sich also für die von ihm entwickelte Symbolik des
Hahnenschreis auf die Lehre Christi. Zu der Wirkung des gallicinium auf die
Dämonen gesellt sich als zweiter Beweis der biblische. Welchen Rang muß
doch die Natursymbolik im Denken des frühen Christentums eingenommen
haben, da man sicher war, daß Gott nicht nur die Zeichen geschaffen, sondern
auch durch Christus die Menschen über ihre Bedeutung belehrt hat! Prudentius
ist der Überzeugung, daß er nichts in die Dinge hineinlege, was nicht nach
Gottes Willen in ihnen steckt. Ja noch mehr: in diesem Fall erklärt er den
Lesern die Symbolik so, wie Christus selbst sie dem Petrus erklärt hat.
56 Nur wer Aufgabe und Zusammenhang des Mittelteils im ganzen nicht sieht, kann den
Anschluß der Petrusstrophen "unvermittelt", "hergeholt" (Herzog 61. 62) oder "Befremden"
erregend (Fuhrmann a.O. [oben Anm. 45] 100) finden.
57 Vis ... alitis (V. 49) liegt nicht auf derselben Ebene wie vis diei (V. 71), drückt aber
doch mehr aus als die bloße vis verbi ('Bedeutung' im semantischen Sinne). Vgl. Fuhrmann
a.O. 100: "die Macht", "die Gewalt"; van Assendelft 76: "force", "essence".
126 Prudentiana II. Exegetica [435/436]
Worin besteht nun die Bedeutung des Symbols (vis alitis)? Indem Chri-
stus dem Petrus vorhersagte, er werde ihn vor (!) dem Hahnenschrei dreimal
verleugnen, zeigte er, daß die Sünde vor (!) seinem, d.h. Christi, Auftreten als
Lehrer der Menschheit geschehe. Christus ist praeco lucis proximae, Künder
des übernatürlichen Lichts, wie der Hahn Künder des natürlichen. Inlustret
(V. 55) bleibt im Bedeutungskreis der Lichtsymbolik, bezeichnet aber die Tä-
tigkeit des göttlichen Lehrers, der die Menschen 'erleuchtet'. Prudentius führt
hier (V. 53/56) die Symbolik in die Dimension der Geschichte: sie verändert
sich nicht geradezu, aber sie erweitert sich. Der Hahnenschrei ist noch immer
Symbol der Stimme Christi, das Tageslicht noch immer Zeichen des ewigen
Lichts, die Nacht steht nach wie vor für das Leben in der Welt, und die Nacht-
stunden vor dem Hahnenschrei bedeuten weiter die Zeit der Sünde. Aber diese
Symbolik gilt, wie wir jetzt erfahren, nicht nur für das Leben des einzelnen,
sie erinnert auch an Tatsachen der Geschichte des "Menschengeschlechts"
(vgl. V. 55: humanum genus). Neben das alltägliche Geschehen tritt das ein-
malige, der Blick des Dichters, der bisher allein auf Gegenwart und Zukunft
gerichtet war, wendet sich nun auch der Vergangenheit zu. Noch deutlicher
wird das in den Osterstrophen herausgeholt, besonders durch die dreifache
Anaphora des tunc (V. 69/71). Der moderne Betrachter mag hier eine gewisse
Unausgeglichenheit der Gedankenführung, vielleicht gar Widersprüchlichkeit
fühlen: soll der Weckruf des Hahns als Symbol der Stimme Christi zur Abkehr
von der Sünde, zur steten Wachsamkeit des Christen ermahnen und doch zu-
gleich daran erinnern, daß Christus dem Sündigen (ein für allemal) ein Ende
gemacht hat? Prudentius empfand keinen derartigen Widerspruch, und er war
sich sicher, daß seine Leser auch nicht auf derlei Gedanken verfallen würden:
die Kämpfe der Psychomachie schildern | den alltäglichen, dauernden Kampf
des einzelnen Christen gegen das Böse, zugleich aber auch den Sieg der Kir-
che, der bereits erfochten ist. Die geistige Synopse des Alltäglichen und des
Einmaligen hat er dort zur Grundlage des ganzen, umfangreichen Gedichts
gemacht. Es war ihm wie den Vätern überhaupt selbstverständlich, daß der
Sieg Christi und der Kirche für den einzelnen die Möglichkeit geschaffen hat,
die Sünde zu überwinden, ohne ihm jedoch den Kampf abzunehmen. Auf eine
theologische Explikation durfte der Dichter verzichten.
Die Petrusstrophen lassen erkennen, wie wenig sich Prudentius durch
den klaren Aufbau des Gedichts an einer fortschreitenden Entfaltung der Sym-
bolik hat hindern lassen: sie wird in dem argumentativen Mittelteil fortgesetzt,
und selbst der Schlußteil bringt noch etwas Neues hinzu (durch Einführung
des Traumes in die Symbolik des Schlafs: V. 85/96). Das mindert aber keines-
[436] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 127
wegs die Gültigkeit der von uns erkannten Gliederung des Ganzen, es zeigt
nur, daß Prudentius bemüht war, den Eindruck des Schematischen fernzuhal-
ten. Den Schritt zur geschichtlichen Bedeutung des Symbols tut er dort, wo
sich ihm der Übergang zwanglos ergibt: bei Darstellung des biblischen Funda-
ments der vorgetragenen Symbolik. Auch auf andere Weise hat Prudentius die
trennende Wirkung der Abschnittsgrenzen gemildert und das Ganze zur orga-
nischen Einheit geformt: durch den mahnenden Charakter des Gedichts, der
sich von Anfang an abzeichnet und durch die Paränesen des Schlußteils nur
energischer hervorgekehrt wird, vor allem aber durch die Einheitlichkeit der
gesamten morgendlichen Situation, auf deren Hintergrund sich die Symbolik
entfaltet (dazu s. unten S. 134f. [441f.]).
Van Assendelft hat ihr Augenmerk stark auf die allmähliche Entwick-
lung der Symbolik gerichtet, da sie ja - zu Unrecht - die additive Reihung der
"Themen" als alleiniges Kompositionsprinzip anerkennt58. Man sollte dem-
nach erwarten, daß sie das Neue in der Entfaltung der Symbolik an jenem
Hauptpunkt, d.h. eben bei Eintritt des Gedichts in den Raum der Geschichte,
klar herausstellt. Das ist jedoch nicht der Fall. Sie schickt den Versen 49/64
allerlei Bemerkungen voran, unter denen mehr als eine der Korrektur bedürf-
te59. Ich greife jedoch nur diese eine heraus: "Peter sins, in that he denies
Christ, before dawn: thus mankind sins in its denial of Christ before the dawn
of eternal light" (75). Nein: Petrus sündigte nicht vor der Morgendämmerung,
sondern vor dem Hahnenschrei! An diesem Detail hängt die gesamte Symbo-
lik. Die Sünde dauert nur so lange, bis der Herold des nahen Lichts (Christus)
die Menschheit erleuchtet (V. 53/56), das heißt: wie im Leben des einzelnen
der Schlaf (die Sünde) während der Nacht (des irdischen Lebens) überwunden
werden muß (vgl. V. 9/12; 33/36), so ist die Sünde im Dasein der Menschheit
noch während der Nacht (vor dem Ende der Zeiten) durch Christus überwun-
den worden. Die Sünde herrscht eben gerade nicht bis zum Tagesanbruch (bis
zur Wiederkunft Christi), sonst wäre es für die Menschheit insgesamt zu spät
- wie es tatsächlich für den einzelnen zu spät ist, wenn er bis zum Tagesan-
58 Abgesehen von der Darstellung der "Themen" des Gedichts in dem "Diagramm" (22)
und den erläuternden Bemerkungen dazu (21 f.) zeigt sich das im Kommentarteil durch überlei-
tende Formulierungen der folgenden Art: "... the metaphor is further developed ..." (65); "the
allegorical implications are further developed ..." (68); "to the notions night, sleep ... are now
added the demons of darkness" (71); "... a further indication of the continuing allegorical
content" (74); "... the imagery has progressed to the point" (ebd.) usw.
59 Richtig ist die Zurückweisung der Ansicht, daß der biblische Bericht bei Prudentius
lediglich rhetorische Funktion erfülle und der Fundierung eines 'Topos' diene - richtig, aber
wohl kaum nötig.
128 Prudentiana II. Exegetica [436/437]
brach, also usque ad terminos vitae socordis (V. 33f.), sündigt. Daß es sich
bei | der zitierten Bemerkung der Kommentatorin nicht um einen bloßen lapsus
handelt, sondern um ein handfestes Mißverständnis des Textes, beweist die
Wiederholung der irrtümlichen Erklärung auf der nächsten Seite des Buchs
(76): "... He showed him the bird's significance in that it announces the end to
all sinning at the approach of light." Abermals nein! Christus ist der praeco
lucis proximae (V. 54), er kommt also vor dem Licht, wie der Hahn vor dem
Tagesanbruch ruft. Die in den Verben inlustret (V. 55) und (finem) ferat (V.
56) ausgedrückten Vorgänge sind gleichzeitig und bezeichnen Wirkungen des
Auftretens Christi unter den Menschen, nicht Wirkungen seiner Wiederkunft60.
Am Jüngsten Tag ist Christus nicht mehr "Herold", und das Licht ist nicht
mehr bloß "nahe", es ist da.
Man muß der Kommentatorin zugute halten, daß ihre Aufgabe durch
die vorliegenden Studien zu Prudentius' Tagesliedern, die es aufzuarbeiten
galt, durchaus nicht immer erleichtert wurde. Selbst bei einem Gelehrten wie
Fuhrmann liest man verwirrende Sätze, etwa diesen61: "Wer sich wie der Apo-
stel nur unwesentliche Vergehen zuschulden kommen läßt, den vermag der
Hahnenschrei, der Erlöser Christus, gänzlich von der Sünde zu befreien."
Von anderem abgesehen: hat Christus nur "unwesentliche" Sünden auf sich
genommen und nur leichter Vergehen wegen gelitten? Wieder einmal muß
man einwenden: die Theologie des Prudentius ist das ebenso wenig (vgl. z.B.
per. 10, 586f.) wie die der Kirche, der er angehörte. Fuhrmann bemerkt im
übrigen treffend, daß der Hahnenschrei in den Petrasstrophen "den Rang ei-
nes heilsgeschichtlich bedeutsamen Zeichens" erhalte62. Unmittelbar danach
aber fährt er so fort: "Er (der Hahnenschrei) ist Bild für die Erlösertat Christi.
Hierdurch wird Petras abermals entlastet: Er konnte ja nicht aufhören zu sün-
digen, ehe Christus sein Heilswerk vollbracht hatte." Das stimmt nicht zum
Text - weder zu dem des Prudentius noch zu dem der Bibel. Petras erkannte
60 Es mag sein, daß die präsentischen Formen der zweiten Petrusstrophe (vgl. V. 53 fit...
peccatum, dagegen V. 50 Salvator ostendit [Perf.]; V. 57 flevit negator; V. 62 locutus est; V. 64
destitit) den Irrtum begünstigten. Aber neben der dichterischen Freiheit in der Behandlung der
Tempora gilt es zu beachten, daß offensichtlich durch die vorübergehende Bevorzugung des
Präsens die Analogie des natürlichen, symbolischen Vorgangs und des übernatürlichen (hier
zugleich: des geschichtlichen Ereignisses) aufrechterhalten werden soll: wir sollen über der
längeren, im Praeteritum gehaltenen Erzählung nicht den Zusammenhang mit dem alltäglichen
Symbol (dem Hahnenschrei) verlieren.
61 Fuhrmann a.O. (oben Anm. 45) 100.
62 Fuhrmann a.O. (s. die vorige Anm.).
[437/438] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 129
sofort nach dem Hahnenschrei seine Sünde: "und er ging hinaus und weinte
bitterlich" (Mt. 26,75). Seine Reue fällt zeitlich vor die Vollendung der Erlöser-
tat Christi, was immer man darunter versteht: vor das Leiden, vor den Tod
und vor die Auferstehung. Ebenso ist auch im Text der Petrusstrophen bei
Prudentius von der "Erlösertat" Christi nicht die Rede: wie hätte denn Petrus
solchen Sinn des Hahnenschreis damals erkennen können (vgl. V. 63), da die
Erlösertat noch gar nicht getan war? Von ihr handeln erst die folgenden Oster-
strophen. Postea in V. 61 heißt nicht etwa: post resurrectionem oder derglei-
chen, sondern post galli cantum cognitum. Kurzum: es geht in den Petrus-
strophen um Christus als Lehrer der Wahrheit, wie schon betont wurde63.
Praeco lucis (V. 54) nimmt diei nuntius (V. 1) wieder auf, und auch in den
Versen 29f.: sed vox ... Christi docentis [!] praemonet lag bereits dieselbe
Vorstellung. |
c) Der dritte Beweis wird auf sehr nachdrückliche Weise mit dem Vor-
hergehenden verknüpft: inde est, quod omnes credimus ... eqs. ("daher rührt
es, das ist der Grund dafür, daß wir alle glauben ..."). Den logischen Bezugs-
punkt dieser Überleitung bildet nichts Einzelnes, sondern das Ganze der vor-
aufgehenden Strophen, ohne daß jedoch dadurch der gedankliche Zusammen-
hang an Klarheit und Schärfe verlöre. Weil der Hahnenschrei die dargestellte
und nachgewiesene Bedeutung hat, meint Prudentius, deswegen glauben wir
alle ... usw.64. Maria Magdalena besuchte das Grab mane, cum adhuc tenebrae
essent (Joh. 20, 1), und daraus mag man die Stunde der Auferstehung erschlos-
sen haben; denn noch zuvor mußte ja Christus erstanden sein. Daß der Dichter
selbst zuerst die Zeitrechnung aufgestellt, Hahnenschrei und Auferstehung
kombiniert hat65, ist unwahrscheinlich. Dagegen spricht omnes [!] credimus·.
Inhalt jenes allgemeinen Glaubens kann angesichts der Betonung der Stunde
(V. 66f.) kaum nur die Auferstehung als solche sein. Die dreifache Anaphora
des tunc in der folgenden Strophe unterstreicht sehr energisch den angenom-
63 Richtig bemerkt M. Lavarenne (1, 6,) z.St.: "Le coq est le Symbole du Christ, qui a
apportö au genre humain la lumiöre de la v6rit6 et la fin de l'esclavage du p6ch6." Der Vers 56:
finemque peccandi ferat könnte, für sich genommen, auf das gesamte Erlösungswerk gehen, ist
aber in dem spezifischen Kontext auf den praeco lucis (doctor veritatis) zu beziehen.
64 Ähnlich auch Herzog 63. Äußerungen wie die, daß der ganze Hymnus "um die erlösen-
de Mehrdeutigkeit in der Natur Christi kreist" (vgl. 58: "Mehrdeutigkeit im Begriff [!] 'Chri-
stus'"), würde man allerdings lieber missen wollen.
65 Dies scheint Pellegrino a.O. (oben Anm. 43) 206 anzunehmen: "Con una spiegabile
libertä, e per amore del simbolico parallelo con la negazione di Pietro" habe Prudentius die
Auferstehung Christi auf die Zeit des Hahnenschreis verlegt.
130 Prudentiana II. Exegetica [438/439]
menen Zeitpunkt. Prudentius war sich offenbar sicher, daß die zeitliche Fest-
legung der Auferstehung auf die Zeit des Hahnenschreis mit der allgemeinen
Auffassung übereinstimme. Jedenfalls besteht ein unübersehbarer Unterschied
zwischen ferurtt (V. 37) und omnes credimus.
Überhaupt erkennt man von den Osterstrophen aus rückblickend, daß
Prudentius die drei Exempla nicht willkürlich gereiht, sondern vielmehr im
Sinne einer Steigerung absichtsvoll angeordnet hat. Das Zeugnis der Dämo-
nen (a) gründet nur im Volksglauben, höher steht der biblische Beweis (b). Zu
der Leugnung Petri ließ sich am meisten sagen und mußte auch mehr gesagt
werden, als zur Erhärtung der Symbolik unbedingt nötig gewesen wäre66, darum
ist dieser Abschnitt am längsten ausgefallen. Der dritte Beweis (c) markiert
den Höhepunkt: läßt sich ein gewichtigeres Argument für Wert und Wahrheit
der vorgetragenen Symbolik denken als die Tatsache, daß Christus seinen Sieg
über den Tod (V. 69f.), den Sieg des Lichts über die Nacht (V. 71f.) auf die
Stunde des Hahnenschreis verlegte? Daß die Symbolik durch einen bestimm-
ten Umstand der Auferstehung Christi bestätigt und so in dieser Basis christli-
chen Glaubens (1 Cor. 15, 14) verankert wird? Wohlgemerkt: wenn wir den
Dichter verstehen wollen, dürfen wir diesen Gedanken nicht als bloßen Einfall
seines erfinderischen Geists betrachten. Prudentius war der Überzeugung, eine
objektiv wahre Aussage zu machen. Er entdeckte in dem Zeitpunkt, den Chri-
stus fur seine Auferstehung gewählt hat, ein Moment | der göttlichen Beleh-
rung des Menschen: wie durch die Vorhersage der Leugnung Petri, so belehr-
te und belehrt Christus durch die Stunde seiner Auferstehung über das Symbol
des Hahnenschreis. Abermals zeigt sich, welche Bedeutung der Natursymbolik
im frühchristlichen Denken zukam.
66 Prudentius beurteilt die Leugnung Petri ebenso wie z.B. Aug. c. mend. 13 (CSEL 41,
485): nempe in illa negatione intus veritatem tenebat et foras mendacium proferebat. Nichts
anderes meint Prudentius, auch wenn er den Gegensatz spitzer formuliert: V. 59 cum mens
maneret innocens [!] wird erläutert durch den folgenden: animusque servaret fidem. Natürlich
war die Leugnung Sünde (V. 53 peccatum; V. 58 nefas; V. 64peccare ... destitit), und Sünde
geht mit Herzensunschuld nicht eins. Das meint aber, wie gesagt, der Dichter auch gar nicht: er
drückt den Gegensatz von Glauben und Wortsünde eben nur pointiert aus. Ausgezeichnet klärt
Arevalo (PL 59, 781 C/D) die Verhältnisse. Daß Prudentius die augustinische Schrift aus chro-
nologischen Gründen nicht kennen konnte (vgl. Pellegrino a.O. [oben Anm. 43] 206), ist uner-
heblich. Das Material aus der Väterliteratur wird bei van Assendelft (78f.) erörtert. Den Unter-
schied zwischen Ambros. hex. 5 (CSEL 3 2 , 1 , 2 0 2 ) und Prudentius faßt sie unscharf: Prudentius
will sagen, daß der Glaube unangetastet blieb, Ambrosius, daß die Leugnung nicht unabsichtlich
geschah (eben Sünde war); das führt bei ähnlicher Formulierung hier wie dort nur scheinbar zu
einem Gegensatz.
[439] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 131
6.
zeichnet wird: 1) 'Nacht' ist die Sünde und das Leben des einzelnen auf Erden
- diese Vorstellung beherrscht die ersten zwölf Strophen; 2) 'Nacht' ist das
Dasein der Menschheit vor dem Ende der Welt - das liegt in den Petrus-
strophen (bes. in den Versen 53/56), wenn es auch nicht direkt ausgesprochen
wird; 3) die 'Nacht' wurde besiegt durch die Auferstehung Christi (V. 72f.):
'Nacht' ist also der Zustand vor der Erlösung; 4) 'Nacht' bedeutet schließlich
ebenso wie Schlaf auch das törichte Weltleben im Gegensatz zum christlichen
Leben: diese Vorstellung liegt den beiden Schlußstrophen zugrunde. |
Umgekehrt kann ein natürliches Ding oder Geschehen Symbol für den-
selben übernatürlichen Sachverhalt sein, und doch aufgrund verschiedener Ei-
genschaften. Die Nacht ist Symbol der Sünde, einmal deswegen, weil ihr Dun-
kel die Sünde begünstigt und böse Taten schützt - das ist der Gesichtspunkt,
unter dem in cath. 2 der Symbolcharakter der Nacht entwickelt wird - , aber
auch deshalb, weil sie den Schlaf bringt und die Menschen zur Trägheit zwingt:
so wird im ersten Gedicht (vgl. bes. V. 27) das Zeichenhafte der Nacht be-
gründet. Weiter: ein natürlicher Sachverhalt kann aufgrund derselben Eigen-
schaft verschiedene übernatürliche Tatsachen symbolisieren. Das Licht ver-
treibt die Schwärze der Nacht: dieser natürliche Vorgang bezeichnet 1) die
Ankunft Christi am Jüngsten Tag, wenn alles Verborgene sichtbar wird (cath.
2, Iff.); 2) die Reinigung der Seele durch das Sakrament der Taufe und Christi
Gnade (ebd. V. 57/72). Dabei wird jeweils die Wirkung des Lichts im natürli-
chen Bereich nuanciert: das Licht macht - immer durch Vertreibung der
Nachtschwärze - die Dinge erkennbar (1) und rein (2).
Wie gesagt: in Form von Schemata und Gleichungen läßt sich ein der-
maßen umfassendes natürlich-geistiges Sinngefüge niemals angemessen fest-
halten oder veranschaulichen. Die natürliche Welt besitzt eine Struktur, die
auf mehrfache Weise übernatürliche Tatsachen bezeichnet, sie enthält ein
Symbolsystem größter Vielfalt. Diese Mannigfaltigkeit möglicher Symbole
erlaubt dem menschlichen Geist Entdeckungen (s. oben S. l l l f . [425]), andrer-
seits birgt sie für den Künstler ein ernstes Problem: wie läßt sich die Symbolik
zusammenhängender Naturvorgänge in einem Gedicht darstellen, ohne daß
die innere und äußere Einheit des Ganzen zerbricht? Ein klarer äußerer Bau
des Gedichts, den Prudentius in dem ersten, die Sammlung einleitenden Hymnus
allerdings geboten hat, genügt noch nicht. Das einigende Band bildet das na-
türliche Geschehen selbst: es muß deutlich erfaßt, lebendig dargestellt werden
und darf trotz zunehmender Entfaltung des Symbolischen bis zum Schluß nicht
aus dem Bewußtsein des Lesers entschwinden. Bleiben wir noch bei dem
Hymnus Ad galli cantuml
[440/441] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 133
7.
"Der Vogel, der Bote des Tages, kündet im voraus das nahe Licht;
uns ruft jetzt der Erwecker der Seelen, Christus, zum Leben. |
'Schafft fort', ruft er laut, 'die Betten, die matten, schläfrigen,
untätigen; keusch, aufrecht und nüchtern haltet Wache: schon bin
ich ganz nahe.
Nach dem Aufgang der strahlenden Sonne ist es zu spät, das
Lager zu verschmähen, (zu spät), wenn du nicht durch Zugabe
eines Teils der Nacht die Zeit für die Arbeit verlängert hast'!"
Strophe springt gleichsam von selbst hervor, wie der Christ den Hahnenschrei
auffaßt und auffassen soll. Die beiden nächsten Strophen werden durch eine
direkte Rede gefüllt70. Prudentius legt in die Form der wörtlichen Rede, was
der Christ hört, wenn der Hahn ruft. Statt das Symbol lehrhaft einzuführen,
greift er zu einem Ausdrucksmittel, das Erklärung und Erlebnis zugleich bietet.
Die Natur Symbolik ist für den Christen keine graue Theorie. Das Erwa-
chen belebt in uns die erhoffte Auferstehung, sagt Gregor v. Nyssa; morior
nocte, resurgo die heißt es bei Paulinus v. Nola71: wenn der Christ beim Erwa-
chen bemerkt, wie seine Sinne sich wieder beleben, stellt sich ihm der Gedan-
ke an die künftige Auferstehung ein. Das Symbol ist für ihn tägliches Erlebnis.
Nur deswegen konnte auch das Gebetsleben aus der Natursymbolik Kraft zie-
hen: die Apostolischen Konstitutionen schreiben das Gebet beim Hahnenschrei
vor, "weil die Stunde die Ankunft des Tages ankündet zur Verrichtung der
Werke des Lichts"72. Prudentius hätte nun niemals den Eindruck der Leben-
digkeit erzielen können, wenn er ein trockenes System von Gleichungen gebo-
ten hätte. Er stellt uns die gesamte natürliche Situation als symbolhaft vor: in
dem Rahmen, den die zentralen Symbole: Hahnenschrei, Schlaf, Erwachen,
Nacht, Licht schaffen, gewinnen auch scheinbar gleichgültige Dinge und Vor-
gänge tiefere Bedeutung. Nicht ohne Absicht nennt Prudentius die Betten mit
kühner dichterischer Enallage der | Adjektive aegros, soporos, desides (vgl.
V. 18: stratisque opertos segnibusl). Das Aufstehen vom Lager, auf dem man
70 Die Rede endet, wie man mehrfach bemerkt hat, nicht schon mit V. 8, sondern erst mit
V. 12: dafür spricht vox ista an der Spitze von V. 13. Die Zeichensetzung in den Editionen von
Bergman, Lavarenne und Cunningham ist entsprechend zu korrigieren.
71 Greg. Nyss. mort.: 53, 6ff. Heil: ... κατασβεννυμένης έν τοις καθεύδουσι της
αίσθήσεως καν πάλιν της έγρηγόρσεως ενεργούσης ήμΐν έν εαυτή την έλπιζομένην
άνάστασιν; Paul. Nol. carm. 31, 233/36 (CSEL 30, 315): Nodes atque dies, ortus obitusque
vicissim Alternant, morior nocte, resurgo die, Dormio corporeae sopitus imagine mortis,
Excitor a somno sicut ab interitu.
72 Const. Apost. 8, 34, 1/7 (540 Funk): εύχάς έπιτελεΐτε ... άλεκτοροφωνία· ...
άλεκτρυόνων δέ κραυγή (sc. εύχάς έπιτελοΰντες) δια τό την ώρα ν εύαγγελίζεσθαι την
παρουσίαν της ημέρας εις έργασίαν των του φωτός έργων. Die Zeit des Hahnenschreis ist
die Zeit um Mitternacht (vgl. hymn. Ambros. 1, 5/8; Isid. orig. 5, 30). Die Apostolische
Überlieferung des Hippolytos (E. Hauler, Didascaliae apostolorum fragmenta ... [Leipzig 1900]
119, 9/121,2) ordnet zweimalige Unterbrechung des Schlafs um Mitternacht und zur Stunde des
Hahnenschreis an. Der prudentianische Hymnus ist, ebenso wie der ambrosianische, ein Nacht-
gebet. Aber die Verse cath. 1, 21/24 gehen nicht auf den Weckruf bald nach Mitternacht (der
Stunde des geforderten Erwachens), sondern auf einen späteren Hahnenschrei, der unmittelbar
vor Sonnenaufgang ertönt. Nur von diesem späteren Ruf kann gesagt werden, er möge "alle
durch Mühe Geprüften" (V. 23) - d.h. alle, die bereits Stunden des nächtlichen labor (V. 12)
hinter sich haben - in der Hoffnung auf das Licht bestärken. Der symbolische Sinn der Zeilen
liegt auf der Hand, aber er erfordert auch eine entsprechende natürliche Situation.
[442] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 135
träge ruhte, die aufrechte Haltung des Wachenden, ja die Erwartung des Lichts,
das morgendliche Gebet selbst (vgl. V. 75/84): all das hat Anteil an der Sym-
bolik des Geschehens73. Indem der Dichter so die Gesamtsituation als einen
lebendigen Zusammenhang zeichenhafter Bedeutung vorstellt, schafft er die
Grundlage, auf der das Gedicht ruht. Die zunehmende Entfaltung der Symbo-
lik tut der Einheit des Gedichts keinen Abbruch mehr.
Es hat keinen Zweck, säuberlich herauszupräparieren, was bei bloß rhe-
torischer Personifikation der Hahn rufen könnte und was nicht. Gewiß könnte
er nicht verkünden: iam sum proximus (V. 8), denn nahe ist der göttliche
Richter (vgl. V. 16). Umgekehrt passen die Verse 1 lf. streng genommen nicht
zum übernatürlichen Sachverhalt: eine Fortsetzung des labor gibt es nach
Anbruch des überirdischen Lichts am Ende der Zeiten nicht mehr, die Wen-
dungen partem noctis addere (!), tempus labori adicere (!) gehören in den
natürlichen Bereich, wozu jedoch der Begriff des "Zu spät" (V. 10) wiederum
nicht recht stimmt; auf das tägliche Leben bezogen wäre er doch wohl zu
scharf 4 . Man könnte mit derlei Analysen weiter fortfahren. Aber es ist doch
klar: die Verse 5/12 bringen trotz der Form der direkten Rede weder eine
wörtliche Ansprache Gottes noch eine Rede des personifizierten Vogels, viel-
mehr wird alles durch das Medium der gläubigen Naturbetrachtung gesehen.
Die Rede drückt aus, was der gläubige Christ, dessen Sinn für die Symbolik
der Natur aufgeschlossen ist, vernimmt, wenn er zu nächtlicher Stunde den
Weckruf des Hahns hört. Auffallen muß allerdings, wie eng Prudentius das
Natürliche und Übernatürliche verklammert. Wenn sich auch nur selten die
Dinge im Sinne rigider Logik festlegen lassen, so schimmert doch allenthalben
durch die Beschreibung des Natürlichen die höhere Bedeutung. Der eine Vers
etwa: post solis ortum fulgidi ... eqs. (V. 9) vereint fugenlos das natürliche
73 Auch die Tatsache, daß die Hähne rufen stantes sub ipso culmine (V. 14): unterm Dach-
first; denn das deutet auf Christus, dessen Mahnung ab alto culmine (V. 29) kommt: vom
Himmel! Zugleich fassen wir hier ein schönes Beispiel vertiefender Vergilnutzung seitens des
christlichen Dichters. Vgl. Verg. Aen. 8, 456: et matutini volucrum sub culmine cantus (dazu
Henry, Aeneidea 3, 724ff.). Der Vers hat Prudentius angeregt, aber nicht bloß in formaler
Hinsicht, sondern in gedanklicher: er nutzt das vergilische Detail, um ihm tieferen, symboli-
schen Sinn zu geben.
74 Was bedeutet labor (V. 12. 23; vgl. V. 80 laborans)? Zunächst das Gebet. Denn Beten
heißt hier: stehend (V. 7. 80), weinend, bittend, fastend (V. 82) Christus anrufen, und zwar des
Nachts! Das ist labor, physischer und spiritueller labor. Symbolisch steht dann diese Mühe fur
das rechte Christenleben überhaupt (vgl. bes. V. 77ff.). Hinzuzunehmen ist cath. 2, 49ff.: das
Tagewerk des Christen besteht im Gebet (2, 52 flendo, canendo wie 1, 82 flentes, precantes),
anders als das des Weltmenschen, der auf materiellen Gewinn u. dgl. bedacht ist. Der Begriff
labor kommt hier nicht vor, aber man muß auf die Sache sehen.
136 Prudentiana II. Exegetica [442/443]
und das übernatürliche, das alltägliche und das künftige, einmalige Gesche-
hen. Damit werden wir zu Beobachtungen zurückgeführt, die wir schon oben
(S. 96f. [414f.]) aus Anlaß der Tertullianstelle machten, die sich aber durch
die Betrachtung des Dichtertextes noch weiter erhärten lassen.
8.
umfaßt; poetisch: weil der übertragene Gebrauch der Wörter der Poesie recht
eigentlich zukommt. So nutzt die symbolische Dichtung des Prudentius die
Tradition der antiken Poesie, indem sie - äußerlich betrachtet - dasselbe tut
wie jene: Worte in anderer Bedeutung gebraucht, in einen anderen Bereich
überträgt, der zu dem ursprünglichen in einem Vergleichsverhältnis steht. Aber
nur äußerlich tut sie dasselbe: das Vergleichsverhältnis ist eben nicht das eines
von Menschen erdachten (rhetorischen, literarischen) Vergleichs, sondern das
einer von Gott geschaffenen Analogie. Durch das traditionelle Ausdrucksmit-
tel erhellen sich Symbol und Gegenstand wechselseitig auf eine ursprüngliche,
unaufdringliche Weise: das Unsinnliche, Übernatürliche wird durch das Na-
türliche dem Verständnis nähergebracht, das Natürliche bekommt einen neu-
en, höheren Wert, einen bisher nicht geahnten Sinn seiner Existenz und Be-
schaffenheit. Es sei nochmals betont: ' Metaphorik' im Sinne der antiken Stil-
kunst ist das nicht. Da der Terminus 'Metapher' aber nun einmal festliegt,
meidet ihn der Interpret symbolhaltiger Texte am besten ganz75. |
Das Gesagte gilt nicht nur im allgemeinen, sondern auch im besonde-
ren, und zwar insofern, als Prudentius bestimmte Metaphern der antiken Poe-
sie übernimmt und mit neuem Sinn füllt. Ich bringe dafür hier nur ein kleines
Beispiel, das bislang keine Beachtung fand. Der Hahnenschrei, der (symbo-
lisch) vox Christi ist (cath. 1,29f.), erinnert daran, daß der Anbrach des Lichts
schon nahe bevorsteht: Ne mens sopori serviat, Ne sortmus... opprimat Pectus
sepultum crimine ... eqs. (V. 32ff.). Zu sepultum (V. 35) bemerkt van Assen-
delft (70): "Sepultum ... is well-chosen because of the continued sleep-death
association." Das ist, läßt man den irreführenden Begriff der 'Assoziation'
beiseite, gewiß richtig, aber wohl noch zu wenig. Es scheint, als habe der
Dichter eine alte Metapher der lateinischen Dichtersprache in sein symboli-
sches Gefüge eingebaut: somno sepultus ist schon ennianisch (ann. 292f.: Nunc
Höstes vino domiti somnoque sepulti Consiluere), begegnet dann bei Lucrez
75 Allenfalls könnte man den Terminus mit einem kennzeichnenden Zusatz versehen: " sym-
bolhafte Metaphorik" sagt Herzog einmal (67). Eine große Rolle spielt der Begriff der 'Meta-
phorik' in der mittelalterlichen Bedeutungsforschung, die einen ansehnlichen Aufschwung ge-
nommen hat. Vgl. F. Ohly, Einleitung zu dem Sammelband "Schriften zur mittelalterlichen
Bedeutungsforschung" (Darmstadt 1977) IX ff., bes. XXVIH/XXXI. Man versucht hier, den
Terminus zu differenzieren und gleichzeitig tiefer zu fassen, also etwa die Metapher nicht nur
als Stilmittel zu begreifen, sondern auch die "in der Metapher enthaltene signifikative Dinglich-
keit" darzustellen (W. Harms, Homo viator in bivio [München 1970] 153). Was Prudentius und
die Kirchenväter angeht, so bin ich allerdings der Uberzeugung, daß nur eine terminologische
Radikalkur vor weiterer Verwirrung bewahren könnte. Das heißt: unter den Wörtern, welche
die Kirchenväter fur die Natursymbole gebrauchen, sollte man diejenigen bevorzugen, die das
Wesen der Sache am deutlichsten ausdrücken: s. oben S. 92/94 [412f.].
138 Prudentiana II. Exegetica [444]
(5, 974: taciti somnoque sepultv, vgl. 1, 133) und Vergil (Aen. 2, 265). Zwar
lautet die Junktur bei Prudentius anders: sepultum crimine, aber es ist ja im
Ganzen vom Schlaf die Rede: der Schlaf ist Symbol des ewigen Todes (V. 26)
und der Sünde, der 'Schlaf drückt das Herz nieder, das "von Schuld begra-
ben" ist (V. 33ff.). Also wird man an jene alte Metapher denken dürfen. Aber
bei Prudentius ist das Bild des Begrabenseins der Ausdruck einer natürlich-
übernatürlichen Realität (s. oben S. 96 [414]), und dasselbe gilt für das sym-
bolische Verhältnis von natürlichem Schlaf und ewigem Tod im Ganzen76.
Ähnlich verhält es sich, wenn Prudentius (cath. 1, 43) die Junktur tenebrarum
situs gebraucht: die Vorstellung vom 'Moder der Dunkelheit' ist uralt77, aber
der Christ hat ihr einen tieferen, geistlichen Glanz gegeben, indem er durch
sie den Ansatz seiner Nachtsymbolik stützt.
9.
76 Es genügt nicht, für die alte Anschauung der Verwandtschaft von Schlaf und Tod ein-
fach Belege aus der vorchristlichen (z.B. Horn. II. 14,231) und der christlichen Antike aneinander-
zureihen (vgl. van Assendelft 68). Dazu ist im Gnomon 51 (1979) 143f. einiges gesagt.
77 Belege bei van Assendelft (73) z.St. Die Vorstellung reicht zurück auf den Ά ί δ ε ω
δόμον εϋρώεντα (Horn. Od. 10, 512 u.ö.). An ihn denkt Vergil, wenn er den Aeneas (6, 461f.)
sagen läßt: (me iussa deum) has ire per umbras, Per loca senta situ [!] cogunt noctemque [!]
profundam.
78 F. Ohly hat eine größere Untersuchung dazu unter der Feder: "Lesen im Buch der
Natur". Darin wird die Vorstellung von ihren Anfängen im frühen Christentum bis in die mo-
derne Zeit hinein verfolgt werden. Kurz angezeigt ist die Arbeit im 10. Bericht des Münsterer
Sonderforschungsbereichs 'Mittelalterforschung' (FrühmittelalterlStud 11 [1977] 530), etwas
ausführlicher wird sie im 11. Bericht umrissen (ebd. 12 [1978] 406). Überhaupt sei in diesem
Zusammenhang auf einschlägige Unternehmen dieses Forschungszentrums hingewiesen.
[444/445] V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern 139
Nun mag es zwar dahingestellt bleiben, ob man in den Großstädten der Antike
überall die | Hähne krähen hörte, doch andrerseits wird wohl kaum jemand
bestreiten wollen, daß die Natur, die Trägerin der Zeichen, bis zu gewissem
Grade der Veränderung unterliegt. Zwar wird es immer den Wechsel von Tag
und Nacht geben, solange die Erde besteht, und daher brauchte Prudentius
auch heute nichts zurückzunehmen von dem, was er über den Zeichencharakter
von Licht und Dunkelheit sagt. Wie aber steht es mit dem Schlagen des Feuers
aus dem Stein? Fragen solcher Art sind nicht etwa müßig, auch dann nicht,
wenn man eine streng historische oder liturgiewissenschaftliche Betrachtungs-
weise der Natursymbolik einzuhalten gewillt ist; denn derlei Fragen fördern
indirekt das Verständnis jener uns fremd gewordenen Naturanschauung. Man
braucht nicht lange nachzudenken, um die Antwort zu finden, die vom Stand-
punkt der Naturanschauung der Kirchenväter aus erteilt werden muß: der Schöp-
fergeist Gottes hat die Natur mit Symbolen gesättigt, hat sie so reich mit Zei-
chen ausgestattet, daß neue an die Stelle der alten treten können, wenn diese
aus einem zivilisatorischen Grunde nicht mehr wahrnehmbar sind; der Mensch
ist zur Entdeckung solcher Zeichen aufgefordert - er wird sie freilich um so
leichter entdecken, je weniger die Ordnung der Natur gestört ist. Umgekehrt
gilt, daß mit dem Fortschritt naturwissenschaftlicher Erkenntnis neue Symbole
in der Natur offenbar werden können79. Jedenfalls ist die Natursymbolik an
eine Zivilisationsstufe oder an einen bestimmten Stand der Naturwissenschaft
prinzipiell ebenso wenig gebunden80 wie etwa an einen geographischen Stand-
ort des Betrachters. Wenn die Kirchenväter die Legende des in Arabien leben-
den Vogels Phoenix als παράδοξο ν σημεΐον der Auferstehung ansahen, wenn
sie die Symbolik der Berge und Einöden erkannten81, so lehrt dies doch, daß
sie ihrem Blick keine engen Grenzen setzen wollten.
79 Dies lehrt die Geschichte der symbolischen Naturbetrachtung gerade in der Neuzeit,
vgl. Ohly a.O. (oben Anm. 75) XXXI mit weiteren Literaturhinweisen.
80 F.J. Dölger, Echo aus Antike und Christentum nr. 82: ACh 5 (1936) 144 zitiert aus
einem Brief von J. Lechner, der mitteilt, daß in der Benediktinerinnenabtei St. Walburg in
Eichstätt (gegr. 1035) bis in jüngste Zeit hinein ein abendlicher Lichtspruch in Brauch gewesen
sei. Der Absender bemerkt dann weiter: "Leider hat die Einführung der modernen, bequemen
Beleuchtung (elektrisches Licht) die Übung des Brauchs etwas zurückgedrängt. Ich denke aber,
daß ein Aufinerksammachen auf Ihre Ausführungen [Dölger, Lumen Christi a.O. Iff.] den
schönen Brauch neu beleben wird." In der Tat: wenn sich religiöse Gedanken mit dem abendli-
chen Licht verbinden, so ist nicht recht einzusehen, weshalb der technische Fortschritt dem
unbedingt ein Ende bereiten müßte. Diese Überlegung kann man auch auf die Lichtsymbolik
ausdehnen.
81 Vgl. oben S. 95 [413], 112 [425]. 1163, [42839]. Reiches Material dazu findet sich bei
M. Th. Springer, Nature-imagery in the works of Saint Ambrose = Patrist. Stud. 30 (Washing-
ton 1931) sowie in weiteren einschlägigen Arbeiten dieser Reihe.
140 Prudentiana II. Exegetica [445/446]
Nachträge
dem neuen Kommentar übt Fontaine insofern, als er eine stärkere Beachtung
des Zusammenhangs von Poesie und Liturgie fordert. Aber er verfolgt auch
diesen Gesichtspunkt in einer Weise, die eher zu einer spekulativen Herme-
neutik im Stile bestimmter Partien des besprochenen Kommentars anregen
dürfte als zu einem volleren Verständnis des Texts. Auch gegenüber gewissen
grundsätzlichen, das Verhältnis von Antike und Christentum betreffenden Be-
trachtungen Fontaines kann ich Bedenken nicht unterdrücken. Für Fontaine
scheint die Einheit spätantiken Geists das Primäre zu sein, der gegenüber christ-
liche Elemente gleichsam nur akzidentiellen Charakter tragen: "... l'unite d'une
telle attitude spirituelle estbien independante des diverses thdologies susceptibles
de lui servir de support rationner (74). So wird die prägende, neugestaltende
Wirkung der geistigen Potenz des Christentums innerhalb der spätantiken Kul-
tur nicht angemessen beschrieben. Nicht der spätantike Geist bedient sich der
christlichen Theologie, um zu rationalem Ausdruck zu gelangen, sondern um-
gekehrt: das Christentum macht sich die antike Kultur dienstbar, um seine
Lehre darzustellen (vgl. "Interpretation frühchristlicher Literatur" [oben Anm.
15] passim, bes. 177„ [in diesem Bande S. 71„] zu einer ähnlichen Äußerung
Fontaines). Schließlich sei noch angemerkt, daß Fontaine (79) eines der ver-
wegensten Interpretamente Herzogs und van Assendelfts, das ich oben (S.
106f. [421]) und im Gnomon (51, 142) zurückgewiesen habe, irrtümlich auch
mir unterstellt.
VI.
1.
Seit etwa 150 Jahren zieht sich durch die Prudentiusliteratur die Frage, ob der
Dichter seine Darstellung des Sonnensymbols dem Sabellius (referiert bei
Epiphan. panar. haer. 62, 1, 4/7: GCS 31, 389f.) verdanke. Stam (p. 151) hielt
das für "sehr wahrscheinlich", Palla dagegen (p. 152) ist geneigt, im Hin-
blick auf die Häufigkeit des "Gleichnisses von Sonne und Sonnenstrahl" (s.
F.J. Dölger: Antike und Christentum 1, 1929 [19742] 271/90) die Pruden-
tiusverse als Echo der theologischen Diskussion seiner Zeit zu betrachten. Er
hätte fester zugreifen und dem alten Problem ein Ende bereiten sollen. Denn -
den tiefen dogmatischen Unterschied beiseite - : die Annahme direkter Benut-
zung des Sabellius seitens des Dichters wird durch die jeweilige Art der Gleich-
nisse selbst widerraten. Sabellius unterscheidet Licht, Wärme und G e s t a l t ,
d.h. Kreisfigur, des ganzen Himmelskörpers (αυτό της περιφερείας σχήμα,
τό εΐδος της πάσης υποστάσεως), Prudentius unterscheidet Licht, Wärme
und B e w e g u n g der Sonne und stellt diese Dreiheit der munera der
Einzigkeit der Sonnenscheibe (V. 76 una eademque ... rota sideris) gegen-
über. Die Analogie des Dichters ist also anders aufgebaut, sie ist im Sinne der
dogmatischen Aussage vervollkommnet; denn erst jetzt findet sowohl die Ein-
heit der göttlichen Substanz wie die Verschiedenheit der Personen im irdi-
schen άνάλογον eine volle Entsprechung. Daß nun Prudentius, Sabellius vor
Augen, diese Änderung vornahm, ist um so unwahrscheinlicher, als dieselbe
Darstellung des Sonnensymbols auch bei Augustinus serm. 384, 3 (PL 39,
1690) und Ps. Augustinus, Ad fratres in eremo serm. 44 (PL 40, 1321) belegt
ist: auch sie stützen die Analogie auf lux {splendor), calor (fervor), motus
(cursus) der Sonne einerseits und das Ganze des Himmelskörpers anderer-
seits. Überhaupt ist nur die augustinische Darstellung der prudentianischen
voll parallel, nicht dagegen das andere Material, das man bei Dölger a.O.
oder Palla findet. Es mag eine gemeinsame Quelle geben, die entweder noch
der Entdeckung harrt (die zur | Herstellung der augustinisch-prudentianischen
Analogie notwendigen Elemente sind alle bei Ambros. hex. 4, 1 vorhanden)
oder uns verloren ist.
144 Prudentiana II. Exegetica [340]
2.
V. 77 (rota sideris) uno servat tot munera ductu soll heißen: "... fulfils so
many duties under one leadership" (Stam) bzw. "... conserva tutti questi suoi
compiti nel corso di un unico giro" (Palla). Ersteres ist abwegig, aber letzteres
trifft auch nicht. Es hat keinen Sinn zu sagen, daß die Sonne die verschiedenen
munera während eines U m l a u f s erfülle (Lavarenne: "au cours du meme
voyage"; Thomson: "in one course"); denn solcher Ausdruck ließe die Mög-
lichkeit eines zeitlichen Nacheinander der Funktionen offen, ja drängte den
unpassenden Gedanken geradezu auf. Die Sonne leuchtet, eilt und brennt "in
einem Zuge", "in ununterbrochenem Zusammenhang". Also: uno ductu steht
wie die geläufige, auch adverbiell gebrauchte Wendung uno tenore (vgl. Serv.
Verg. georg. 2, 337 tenorem: ductum), auf daß Einheit und Gleichzeitigkeit
aller drei Vorgänge betont werde. In der 'Apotheosis' erklärt Prudentius, wie
er bei Nennung der Hl. Dreifaltigkeit verfahren wolle (apoth. 239ff.: hoc
sequimur ... eqs.). Er nenne stets alle drei Personen,
Nur hier kommt das Substantiv ductus noch einmal bei Prudentius vor. Separe
ductu bildet das negative Correlat zu uno ductu, mag auch vielleicht separe
ductu in der Bedeutung des "ductus orationis" oder des "Schriftzugs" (im
übertragenen Sinne) schimmern: s. ThLL5, 2173, Z. 47/70 bzw. 22/46. Die
Prudentiusstellen fehlen im Thesaurus.
3.
Durch den Hinweis auf Ps. 18, 2: caeli enarrant gloriam Dei ... eqs. hatte
Stam (p. 150 zu ham. 62) die Grundlage christlicher Natursymbolik wenig-
stens angedeutet, bei Palla ist auch die Andeutung fortgefallen. Stattdessen
verweist er (p. 157) auf zwei Euripidesverse (frg. 574 Ν.2: τεκμαιρόμεσθα
τοις παροΰσι τάφανή, ähnlich frg. 811 Ν.2), die er der Sylloge annotationum
der alten Prudentiusausgabe von M.J. Weitz (1613) entnimmt (ebd. p. 656),
und folgert: " ... il concetto che le cose che ci sfuggonopossono essere ricercate
mediante quelle a noi vicine e presente giä presso i tragediografi antichi". Das
ist nun freilich gar zu wenig. Zwar mag es willkommen erscheinen, wenn
Ansätze des analogischen Denkens der Väter in der vorchristlichen Antike
aufgedeckt werden, aber mit dem bloßen Hinweis auf jene Euripidesverse ist
wenig gewonnen. Clemens Alex, (ström. 6, 18, lf.) und Theodoret (äff. 6,
90) zitieren sie, doch in anderem Zusammenhang. Um zunächst bei diesen
Versen zu bleiben: hinter ihnen steht der Satz des Anaxagoras: οψις των
αδήλων τά φαινόμενα (59 Β 21a Diels-Kranz) und damit nicht nur eine
allgemeine Maxime, die es bis zur Sprichwörtlichkeit brachte (paroemiogr. 1,
444 Leutsch; weiteres bei Diels-Kranz a.O.), sondern auch ein Grundsatz
antiker Naturwissenschaft (O. Regenbogen, Kleine Schriften, hrsg. von F.
Dirlmeier, München 1961, 141/94, bes. 158; H. Diller: Hermes 67, 1932,
14/42 = Kleine Schriften zur antiken Lit., hrsg. von H.-J. Newiger und H.
Seyffert, München 1971, 119/43). Für uns ist wichtig, daß Demokrit den Satz
des Anaxagoras ausdrücklich gutgeheißen hat (Anaxag. 59 Β 21a D.-Kr.;
Democr. 68 A 111 D.-Kr.). Denn so werden wir daran erinnert, daß auch der
Materialist innerhalb seiner mechanistischen Welterklärung die unsichtbare
atomare Struktur der Natur durch Vergleich mit solchen Phänomenen erschließt,
die dem Auge wahrnehmbar sind (s. Diller a.O. 138f.). Wichtig ist dies des-
halb, weil Prudentius ein Lehrgedicht schreibt und dabei Lucrez im Kopf hat.
Ich erinnere an den Sonnenstäubchenvergleich (Lucr. 2, 112/24), den der
Lehrdichter einlegt, Conicere ut possis ex hoc, primordia rerum Quale sit in
magno iactari semper inani. Vgl. Lucr. 1, 751 f. ... Conicere ut possis ex hoc,
quae cernere non quis Extremum quod habent... eqs. Man sieht, wie Prudentius
146 Prudentiana II. Exegetica [341/342]
dem Stil (verstanden im weitesten Sinne, als Einheit von Wort und Gedanke)
des lukrezischen Lehrgedichts getreu bleibt und ihn doch zugleich in den Dienst
der neuen Sache stellt. Damit will ich nicht behaupten, daß diese | geistige
Linie für das analogische Denken des christlichen Dichters oder der frühen
Christenheit überhaupt von herausragender Bedeutung gewesen sei. Eher wird
man auf die stoische Physik (M. Pohlenz, Die Stoa 1, 94f.) verweisen dürfen,
die ein Augustinus bei Entwicklung seiner Zeichenlehre benutzt hat (R. Lo-
renz: Zeitschrift f. Kirchengesch. 67, 1955/56, 229/32), und auf die neu-
platonische Analogielehre (W. Kluxen, Art. Analogie: Histor. Wb. der Philo-
sophie 1,1971,218f. mit Lit.). Zu Prudentius vgl. Pietas. FestschriftB. Kötting
= JbAC Erg.-Bd. 8, 1980, 411/46 [in diesem Bande S. 91/141],
4.
Wenn es, wie Markion lehrt, zwei Götter gibt, warum dann nicht viele
tausend?
"Transitory offerings" übersetzt Stam. Aber das ergibt hier keinen Sinn. H.J.
Thomson (Class. Rev. 60,1946,116) erklärt: "sacrifices that will be wasted".
Palla (p. 161) erwähnt Thomsons Auffassung als eine Möglichkeit, selbst über-
setzt er: "vittime votate a morte" und bemerkt dazu: "... per sottolineare la
crudelta dei sacrifici". Aber das Schlachten der Opfertiere galt der Antike
nicht als grausam, der heidnischen Antike nicht und der christlichen auch
nicht. Was sollte man sonst von Abels Opfer denken (ham. praef. 5/9.31), das
Gott wohlgefällig war? Und überhaupt von den Opfern des Alten Bundes?
Vgl. die Formulierung psych. 784: Quisque litare Deo mactatis vult holocaustis
... eqs. Anders freilich steht es mit dem wüsten Opferschmaus der Heiden
(Symm. 1, 452/60), ja mit dem Fleischgenuß überhaupt (cath. 3, 56/65): er
wird als roh und barbarisch abgelehnt (Vögel bilden wie Fische eine Ausnah-
me: ebd. 41/45). Doch läßt sich die Wendung perituros ... honores nicht als
Ausdruck solcher Anschauung verstehen. Die Sache wird entschieden, und
zwar im Sinne Thomsons, durch per. 10, 296ff.:
[342/343] VI. Exegetische Bemerkungen 147
Das Pferd wird beim Rennen mißbraucht, das Geschenk Gottes "vergeudet"
(perit). Vgl. auch apoth. 736 (von den Resten der Brote und Fische nach Mc.
6, 43): Ac ne post hominum pastus calcata perirent... eqs.
5.
Worten: sie lösen sich auf im Lichte der Grammatik. Das Adjektiv subtacitam
steht statt des Adverbs subtacite (-to) wie subitum im folgenden Vers statt
subito. Ersteres zeigt im Vergleich zu letzterem die charakteristische Auswei-
tung der prädikativen Verwendung des Adjektivs statt des Adverbs (Leumann-
Hofmann-Szantyr, Lat. Grammatik 2, p. 171f. § 101c mitp. 161 § 95b). Die
beiden Ausdrücke verhalten sich zueinander wie Verg. georg. 3, 538 {lupus)
nocturnus obambulat zu Hör. epist. 1, 19, 11 (poetae) nocturno certare mero,
putere diurno. Dieser Sprachgebrauch hat mehr als einmal zu MißVerständ-
nissen geführt. Aus Anlaß von Juv. sat. 1,28 (Crispinus) ventilet aestivum [i.e.
aestate] digitis sudantibus aurum begeisterte sich sogar der große Housman
für die Vorstellung, jener Dandy der Antike habe spezielle "Sommerringe"
getragen (Class. Rev. 17,1903,467; ähnlich jetzt wieder Courtney im | Kom-
mentar p. 91 ad loc.; die Stelle ist behandelt JbAC 8/9, 1965/66,177/82). Für
aestivus statt aestate verweise ich hier noch auf Calpurn. ecl. 5, 63: Necprius
aestivopecus includatur ovili; Mart. 5, 64,2: Tu super aestivas, Alcime, solve
nives. Niemand wird Mühe haben, diese Redeweise in lateinischer Poesie auf-
zuspüren. Doch zurück zu Prudentius! Jene schola sinnt darauf, "heimlich"
eine Irrlehre in die Welt zu setzen: sectam gignere subtacitam (= subtacite),
wobei das απαξ είρημένον subtacitus ohne Bedeutungsunterschied für tacitus
steht, wie subhorridus Symm. 2, 885 für horridus. Lavarenne trifft das Richti-
ge: "Delävientqu'une secte s'efforced'accräditerdoucement undogme
..." etc. Heimlichkeit und Heimtücke gehören zum Wesen der Häresie schlecht-
hin, nicht bloß der priszillianischen, wie Rosier wähnte. Sie wird spät, oft zu
spät entdeckt. Darum empfängt Concordia in der 'Psychomachie' ihre Wunde
v/rii latitantis ab ictu (psych. 672): durch einen Dolchstoß der Häresie (ebd.
710), der pugnatrix subdola (ebd. 681), die sich als Tugend verkleidet hat und
tristifraude (ebd. 690f.) ihr Attentat verübt. Zum verborgenen Wirken des
Bösen überhaupt vgl. ham. 390f. (tacitis ... viribus).
6.
zu erinnern, sondern an das reticulum aureum der Fortunata bei Petron. 67, 6
(vgl. Clem. Alex. paed. 3,62, 3: αί των σειρών άναδέσεις). Bei Marquardt-
Mau, Privatleben2 sind die Dinge an verschiedenen Stellen behandelt; nicht
auf S. 603, sondern auf S. 702 ist zu verweisen (wo die Prudentiusstelle hinzuge-
fügt werden kann). Beide kosmetische Maßnahmen liegen natürlich nicht weit
voneinander (s. Clem. Alex. I.e.). Aber hier hat der Dichter eben goldene,
perlenbesetzte Haarnetze vor Augen (wegen nectitur in V. 271 wird man wohl
bei der Perle nicht an die acus cum margarita denken dürfen, die dig. 34, 2,
25, 10 neben dem Haarnetz unter dem Schmuck der Frauen aufgeführt ist).
7.
Palla(p. 194), sinngemäß Stam folgend (p. 178), schreibt: "II grecismoplasma
in questo caso non ha, come negli altri passi prudenziani in cui ritorna ..., il
significato, frequente nel latino ecclesiastico ..., di 'creatura', ma significa 'le
sembianze'". Ich sehe nicht ein, warum. Ganz im Gegenteil: was vom ganzen
Leibe gilt (vgl. apoth. 865f. ut... plasmasse feratur Corporis effigiem [sc.
manus Domini]), gilt ebenso vom Angesicht. Es ist Gebilde Gottes (πλάσμα),
und deswegen ist seine Entstellung Entweihung (vgl. V. 273 sacrilegas ...
curas). Wer noch eine Bestätigung sucht, mag Cyprian hab. virg. 15 lesen:
(puto) omnes omnino feminas admonendas, quod opus Dei et factura eius et
plastica adulterari nullo modo debeat adhibito ßavo colore vel nigro pulvere
vel rubore aut quolibet denique liniamenta nativa corrumpente medicamine.
dicitDeus: "Faciamus hominem ad imaginem et similitudinem Nostram " (Gen.
1,26). Plastica neben opus und factura steht hier für das göttliche Schöpfungs-
werk, desgleichen plasma an der dichterischen Parallelstelle ham. 274 (richtig
Lavarenne: Toeuvre"). Der griechische Begriff fällt mit der ganzen Schwere
seiner Bedeutung ins Gewicht und darf nicht geschwächt werden, indem man,
das Wort vernachlässigend, platterdings etwas Gängiges einsetzt ("their faces";
"le sembianze"). Auf das Richtige hätte auch der von Palla vorher (p. 193 zu
V. 266f.) ausgeschriebene Passus Tert. cult. fem. 2, 5, 2 führen können (Dei
plastica dort allerdings im Sinne der πλαστική τέχνη des Schöpfers).
150 Prudentiana II. Exegetica [345/346]
8.
Der Mensch mißbraucht die fünf Sinne. Ist etwa der Geschmacksinn
dem Gourmand für seine Schlemmereien gegeben,
Palla: "perche egli prolunghi fin nella notte i pranzi preparati con vari sapori
...?" (ähnlich Stam, Lavarenne, Thomson). Man sagt: mensam (cenam) instruere
epulis, dapibus, pomis etc. (Ov. met. 8, 572; Mart. 3, 45, 3; Gell. 2, 24, 9),
aber nicht per varios gustus. Der Ausdruck gehört zum Verbum ducat. Instructa
steht absolut wie Tert. ieiun. 9, 5: cum instructissimo ferculo; Lact. inst. 4,
10, 10: instructioribus epulis. Prudentius hatcath. 5, 140 extructo ... sacrario
(i.e. altari wie per. 5, 517, trotz M. van Assendelft, Sol ecce surgit igneus,
Groningen 1976, p. 187 ad loc.). Zum Gebrauch des Plurals gustus (wie sapores)
ist auf Juv. sat. 11, 14 zu verweisen: interea gustus [Schol.: 'hos gustus'
masculinuml] elementa per omnia quaerunf, Duff erklärt richtig: "dainty
dishes". Also: "... damit er über verschiedene Leckereien hin das üppige Mahl
bis in die Nacht ausdehne?". |
9.
Nach Stam (p. 191) und Palla (p. 213) ist hier von der Verurteilung ad bestias
die Rede, also von der "Volksfesthinrichtung" (Mommsen, Strafrecht 925/
28), und supplicium scheint in der Tat dafür zu sprechen (die Sache bei
Prudentius Symm. 2,1125f.). Aber was bedeutet dann venale, sc. supplicium?
Stam gibt an: "bought" ("a death penalty ..., which is bought") und erklärt:
"(venale = bought) points to the fact that in order to be able to execute the
sentence, large sums had to be spent to buy wild animals ..." etc. Palla stimmt
zu, auch in der Erklärung: "'bought', nel senso che, alio scopo di eseguire tali
supplizi, venivano spese larghe somme per acquistare animali selvaggi". Aber
[346/347] VI. Exegetische Bemerkungen 151
Pastu mag hier einfach auf den Lebensunterhalt gehen, den der Notleidende
auf solche Weise sich verdienen muß (vgl. Tat. I.e. πωλεί ... εαυτόν ό πεινών);
vielleicht ist aber auch an die üppige cena libera am Vortag des Kampfes
gedacht (Friedländer a.O. 72), was dem Ausdruck besondere Schärfe verliehe.
Jedenfalls ist es von hier aus nur ein kleiner Schritt zu der pointierten Formu-
lierung ham. 372f. Zugrunde liegt der Gedanke, daß sich der Tod des Verbre-
chers in der Arena und der des angeworbenen Tierkämpfers faktisch vonein-
ander nicht unterscheiden. Vgl. Cyprian, ad Don. 7: quid illud, oro te, quale
est, ut se feris obiciunt, quos nemo damnavit...?... pugnant ad bestias non
crimine, sed furore (bestiis obici ist Terminus für diese Art der Todesstrafe:
Friedländer a.O. 77'; ebd. 7756 über Leidenschaft - furor - als Motiv der
152 Prudentiana II. Exegetica [347/348]
Freiwilligen). Auch der Tod des Tierkämpfers kann also polemisch als
supplicium aufgefaßt werden, nur eben als käufliches: der Veranstalter der
Tierhetze kauft es, und zwar - ungeheuerlicherweise! - kraft des Gesetzes,
damit der Blutdurst des Pöbels gestillt werde. Parare dürfte ham. 372 - trotz
der Parallelstelle per. 6, 68 (minister) ardens supplicium parare iussus - im
prägnanten Sinne gebraucht sein: nicht "herrichten", sondern geradezu "kau-
fen" wie Caes. bell. Gall. 4, 2, 2 (Galli iumenta) inpenso parantpretio; Cie.
ad Att. 12, 19, 1 cogito ... trans Tiberim hortos aliquosparare-, Liv. 41, 6, 11
argento parata maneipia. Die Bedeutung wird hier durch venale (prädikativ
gestellt) gestützt: "Die Gesetze befehlen, die Hinrichtung käuflich zu erwer-
ben". Vgl. Lact. inst. 6, 12, 39: unde bestias emis, hinc captos redime, ...
unde homines ad gladium c ο mp a r a s , hinc innocentes mortuos sepeli.
Prudentius hat parare in dieser Bedeutung psych. 874: (Fides margaritum)
mercatapararat. Lavarenne (note complementaire p. 80 ad loc.) und Thomson
waren mit ihren erklärenden Notizen auf dem rechten Wege. Pallas Einwand,
die Verse 371/74 bildeten bei solcher Auffassung zu den beiden voraufgehenden
Versen 369/70 eine Dublette ("un doppione"), insofern so nur von einer Art
des Schauspiels, eben der venatio, die Rede sei, überzeugt nicht. In V. 369f.
wird die riskante Akrobatik der Stierkämpfer dargestellt - die Verse schließen
sich formal wie thematisch mit dem Seiltanz V. 367f. zusammen (vgl. V. 367
inde ... V. 369 inde ...); die Verse 371/74 schildern das Blutrünstige des
Kampfes gegen Löwen (s. die Einteilung in V. 358: taurus, leö). Eine Dublet-
te liegt nicht vor. Läge sie vor, würde sie auch durch Annahme einer Hinrich-
tung durch Tiere (im juristischen Sinne) nicht ausgeräumt.
10.
Virtus steht für δύναμις wie Apc. 13, 2 (Vulg.): et dedit illi (sc. bestiae)
draco virtutem suam. Diese Stelle lehrt auch zugleich, was hier mit virtus
gemeint ist. Vgl. etwa noch Justin, dial. 125,4: ή δύναμις ... δφις κεκλημένη
και σατανας. Prudentius hat virtus in diesem Sinn auch ham. 512: Non mentem
[348] VI. Exegetische Bemerkungen 153
sua membra premunt nec terrea virtus Oppugnat sensus liquidos ... eqs. Die
früheren Erklärer scheinen hier alle mehr oder minder in die Irre gegangen zu
sein (s. Palla p. 230f.). Der Gedanke, daß das Nichterkennen der Tugend (!)
die Menschen in der Sklaverei der Sünde gefangen halte, mutet eher sokratisch
an als christlich; vor allem aber paßt er nicht in den Zusammenhang. Erst
recht nicht Stams Lösung (p. 198): "virtus noti intellecta: a heavenly power,
not known (by you)". Prudentius schildert, wie der praedo potens (390),
improbus hostis (406), ductor (407) mit seinen bösen Mächten die Seelen zu
vernichten sucht. Dabei ist ein Hauptgedanke des Textes ab V. 424 der, daß
der Teufel deswegen leichtes Spiel hat, weil die Menschen die drohende Ge-
fahr nicht erkennen, ja sich ihr sogar freiwillig ergeben. Es folgen zwei Bei-
spiele: der Habsüchtige (V. 432 ille) und der Ruhmsüchtige (V. 437 hic) mer-
ken nicht, daß sie vor dem Triumphwagen des Feindes gefesselt einherschrei-
ten (434/36) bzw. den Hals schon in der Schlinge haben, den Fuß schon im
Block (443f.). Wenn es nun unmittelbar darauf mit den ausgeschriebenen Ver-
sen 445ff. weitergeht, dann kann nicht zweifelhaft sein, daß virtus non intellecta
auf die Ahnungslosigkeit gegenüber der Macht des Bösen zielt, die den Men-
schen in Gefangenschaft festhält. Palla trifft im Wesentlichen das Richtige,
verdirbt jedoch den Sinn durch ein ungehöriges Einschiebsel1: "... il poeta
dice che le anime sono costrette 'nella schiavitü della dannazione' da una
'forza non compresa a t e m p o ' , alludendo al fatto che esse non si accorgono
s u b i t o dei pericoli ..." (ebenso in der Übersetzung). Nicht daß die Men-
schen die Gefahr nicht sofort und zur rechten Zeit erkennen, sondern daß sie
sie überhaupt nicht erkennen, macht dem Dichter Sorgen. Sonst wäre die Auf-
forderung: credite ... eqs. sinnlos. Es ist dies eine Aufforderung zur Befrei-
ung, gerichtet an Gefangene, die schon festsitzen und die das selbst noch im-
mer nicht begriffen haben. Vgl. die Verse aus Eichendorffs "Mahnung":
11.
Stam (p. 199) erklärt: "animas de semine Iacob = Iacob genus" und übersetzt
dementsprechend: "the progeny of Jacob". Es ist seltsam, daß ihm Palla hierin
folgt ("i nati dalla Stirpe di Giacobbe"), da doch der lateinische Ausdruck
nicht bedeuten kann, was er nach Stam bedeuten soll. Animae de semine ...
wäre als Umschreibung des Begriffs "Nachkommenschaft", "Geschlecht"
unverständlich. Lavarenne und Thomson geben das Richtige: "les ämes de la
race de Jacob", "the souls of the seed of Jacob". Die Seelen (!) dürfen nicht
unterschlagen werden, denn daran hängt der spirituelle Sinn des ganzen Text-
stücks 455/503. Prudentius gibt mit dieser Wendung geradezu ein Signal da-
für, wie die folgende allegorische Passage zu verstehen sei: als Darstellung
des Schicksals der Christenseelen. Übrigens muß festgehalten werden, daß es
um die Christenheit geht, nicht schlechthin um die Menschheit (die Anrede in
V. 445 captivi mortales widerspricht dem nicht). Palla läßt es hier bisweilen
an der nötigen Klarheit fehlen; vgl. p. 233: "(il parallelo) tra l'uomo schiavo
del peccato e gli Ebrei schiavi in Babilonia". Diese "Parallele" besteht nur
zwischen Christ und Israelit. Nur der Christ ist (im geistlichen Sinne) Nach-
fahr der Israeliten (s. Palla selbst p. 231 zu V. 448f. nostrae gentis sowie M.
Simon, Veras Israel2, Paris 1964, passim), nur er ist aus Ägypten befreit,
durch Gottes Hilfe wunderbar errettet, ins gelobte Land gelangt und doch
wieder in Gefahr, in Gefangenschaft zu geraten. Vergleichbar ist die Rede der
Sobrietas psych. 351/406: sie warnt vor dem Abfall, indem sie an den Emp-
fang der Sakramente, an die geistliche Abstammung von den Patriarchen erin-
nert (psych. 383f. vos nobile Iudae Germen ... eqs.; s. auch die Worte der
Avaritia ebd. 545/49, bes. 547 Iudae populäres). Wie dort, so hat auch hier
die Paränese des Dichters nur Sinn, wenn sie an Christen gerichtet ist.
12.
einer totalen Aufgabe der eigenen Religiosität und Beschmutzung durch heid-
nischen Kultus (vgl. bes. 458; 460f.). Der christliche Dichter benutzt also
Vergilisches, um durch die Erinnerung an eine Hauptstelle des römischen
Nationalepos der eigenen Darstellung tieferes Relief zu geben.
13.
Es genügt nicht, die biblische Vorlage (Num. 13, 24f. und 13, 28; 14, 8 etc.)
und Arkadienvorstellungen der klassischen lateinischen Dichtung zusammen-
zubringen (Palla p. 236 mit Literatur). So fehlt der Erklärung ein wesentliches
Element: der spirituelle Sinn der Kundschaftertraube und des Ackerbaus. Nur
weil dieser Sinn dem Dichter vertraut ist und er ein angemessenes Verständnis
seitens des Lesers erwarten darf, kann er dem wohldurchdachten Muster sei-
ner Allegorie jene Einzelheiten einpassen. Die Traube ist Christus, der Ge-
kreuzigte: Clem. Alex. paed. 2, 19, 3 ό μέγας βότρυς, ό Λόγος ό υπέρ ημών
θλιβείς (vgl. Greg. Naz. epist. 57: GCS 53,51; weiteres bei C. Leonardi, Ampelos,
Rom 1947,149/63; O. Nussbaum: JbAC 6,1963,136/43). Daß botryo hier und
nur hier bei Prudentius vorkommt, wie Palla anmerkt, hat also seinen guten
Grund. Das griechische Wort steht gleichsam als Terminus im lateinischen
Text, um an jene geistliche Bedeutung zu erinnern; vgl. Ambras, de fide 4, 167:
sed non solum vitem esse se dixit (sc. Christus), sed etiam botryonem voce
prophetica nuncupavit, tunc quando ad vollem botryonis exploratores Moyses
iussu Domini direxit (insgesamt fünfmal innerhalb weniger Zeilen fällt hier das
[351/352] VI. Exegetische Bemerkungen 157
Wort botryo). Die christliche Symbolik des Ackerbaus - auch Philons Schrift
De agricultura ist zu beachten - entwickelt sich aus 1 Cor. 3,9: Dei agricultura
estis sowie aus den Gleichnissen vom Sämann und vom Unkraut (Mt. 13, 18/
30). Ich erinnere an Prudentius selbst Symm. 2, 1020ff.:
Unter den vielen anderen Belegen (z.B. Justin, dial. 28, 3; Euseb. dem. 7, 1,
75f.; Macar. Aeg. hom. 26, 21; Caesar. Arel. serm. 1, 5. 10; 6, 4) hebe ich
Leo Magnus serm. 14, 1 hervor: in Dominico agro ... cuius operarii sumus,
oportet nos prudenter atque vigilanter spiritalem exercere culturam... quae si
pigro otio et inerti desidia negligantur, terra nostra nihil generosi germinis
pariet ... eqs. Die Sache kann auch etwas anders gewendet werden, so daß
Gott der γεωργός Λόγος ist, wofür hier einmal das Zeugnis eines deutschen
Dichters stehen mag (Angelus Silesius, Cherub. Wandersmann 1, 64: Die
geistliche Säung):
14.
Da der Teufel umhergeht wie ein "brüllender Löwe" (1 Petr. 5, 8; vgl. Ps. 21,
14) und Isidor (orig. 10, 74) zu decrepitus erklärt: qui iam crepare desierit,
i.e. loqui cessaverit, soll das Adjektiv hier bedeuten: "no (longer) roaring"
(Stam), "incapace di ruggire" (Palla). Falsche Gelehrsamkeit! Niemand dach-
te an die Etymologie, hier nicht und auch sonst nicht (psych. 848; Symm. 2,
1077; tit. 16). Decrepitus heißt "alt", "altersschwach", und Prudentius hatte
158 Prudentiana II. Exegetica [352/353]
natürlich den Löwen der Fabel vor Augen (Phaedr. 1, 21, 3f.: defectus annis
et desertus viribus Leo cum iaceret... eqs.), die er gelesen haben mag, wie
sie uns in der Prosaparaphrase des Romulus (20, p. 62 Thiele) vorliegt: annis
decrepitus et viribus leo cum gravatus iaceret... eqs. G. Thiele, Der lat. Äsop
des Romulus, Heidelberg 1910, p. CXXX hat längst daraufhingewiesen. Der
Fall ist lehrreich als Beispiel der Chresis2 en detail: den bösen Feind als Löwen
kennt der Christ aus der Hl. Schrift; um seine Ohnmacht darzustellen, erinnert
Prudentius an den leo decrepitus der Fabel und schafft durch diese Erinnerung
ein volles Bild.
15.
Prudentius will lieber das Gehör verlieren, als durch die Reden Mar-
cions an seiner Seele Schaden nehmen (vgl. Mt. 5, 29f.; Mc. 9, 43/47). Sol-
cher Verlust lohne sich,
Stam übersetzt: "... provided the soul may remain pure and may not be defiled
by a nefarious perception of the stolid ear and may become blissful in
consequence". Palla: "... purche l'anima si conservi felicemente intatta e priva
di un esempio ascolto, lontano dallo sciocco orecchio". Die beiden Kommen-
tatoren scheinen Konstruktion und Bedeutung des Präpositionalausdrucks nicht
durchschaut zu haben. Ab c. abl. steht hier instrumental-kausal, gehört aber
wohl nicht zum Verbum (so Lavarenne, Etude § 380), sondern zum Adjektiv,
das sonst in der Luft hängt, also: (anima) felix stolida ...ab aure | wie Verg.
georg. 1, 234 {zona) torrida semper ab igni\ Prop. 1, 16, 14 (ianua) a longis
tristior excubiis; Ov. epist. 9, 96 (Hydra) damnis dives ab ipsa suis·, ebd. 10,
9 a somno languida\ Sil. 16, 520 ingenti... saevus ab ira; im Wechsel mit
bloßem Ablativ: Prop. 4, 3, 39 quae tellus sit lenta gelu, quaeputris ab aestu.
Vgl. ThLL 1, 30, Z. 30/64. Dem Sinne nach meint stolida ab aure dasselbe
wie obbrutiscentis capitis in V. 651. Die surditas ist in solchem Falle ein
Glück, ja ein Gnadengeschenk Gottes, wie sie in anderem Falle ein Unglück
sein kann, vgl. apoth. 397ff.:
2 Ich verwende den Begriff, wie im Archiv für Begriffsgeschichte 24, 1980, 34/76 erläutert.
[353/354] VI. Exegetische Bemerkungen 159
16.
Stam und Palla fassen titulus in der Bedeutung causa: hoc titulo, "for this
reason", "per questo motivo". Aber worauf soll das Demonstrativum weisen:
"aus diesem Grunde", wo doch zuvor der ständige Salzfluß an der Statue
beschrieben wird, die Art der Strafe also, nicht ihr Grund (davon war in den
Versen 738/40 die Rede)? Mit V. 754 hoc ... titulo leitet Prudentius zur Deu-
tung der Strafe, insbesondere des Salzflusses, über (vgl. V. 750f. exfluido ...
deliquio ~ V. 755 fluidumque animum; V. 742f. solidata metallo Diriguit
fragili saxumque liquabile facta ~ V. 756 fragilis iussa ad caelestia). Wenn
hier die Regel des "contrappasso" wirksam ist (Palla p. 279), dann eben in der
Weise, daß die Strafe ein Abbild des Vergehens darstellt, daß die | Art der
Strafe die Art der Schuld bezeichnet (s. Studien zur Psychomachie des Pru-
160 Prudentiana II. Exegetica [354]
dentius, Wiesbaden 1963, Register p. 141 s.v. Talion). Und gerade diesen
Zusammenhang schärft hoc ... titulo ein. Ein titulus ist eine Aufschrift, ein
Etikett, ein Schild, ein Anschlag, eine Tafel; sein Zweck ist es, etwas bekannt
zu machen - zum Beispiel auch das Verbrechen als Grund einer Bestrafung
(Suet. Cal. 32, 2 praecedente titulo, qui causam poenae indicaret; vgl. Suet.
Dom. 10, 1; Euseb. h.e. 5, 1, 44), weshalb denn am Kreuze Christi jenes
Täfelchen angebracht war: Mc. 15,26 και ήν ή έπιγραφή της αιτίας αύτοΰ
έπιγεγραμμένη (et erat titulus causae eius inscriptus, Vulg.; bei Joh. 19,19f.
steht der lateinische Terminus im griechischen Text). Die Sache wird natürlich
von den Vätern oft besprochen (vgl. Prud. apoth. 381/85). Von hier aus ist der
Schritt zur übertragenen Bedeutung leicht: "Die Sünderin hat es verdient, un-
ter diesem titulus (hoc titulo, sub hoc titulo: vgl. Tert. an. 34, 4) aufgestellt zu
werden". Das Tropfen und Triefen bildet gleichsam den titulus an der Statue.
Die Gleichung titulus = statua (schon in den Glossen des Iso von St. Gallen
gegeben [signum], von Lavarenne u.a. übernommen) kommt der Wahrheit
nahe, ist aber zu grob.
17.
Lot blieb, anders als sein Weib, dem einmal gefaßten Entschluß getreu
und schaute nicht auf das brennende Sodoma zurück:
756 Voti
propositum contra non conmutabile servat
Loth ingressus iter nec moenia respicit alto
in cinerem conlapsa rogo populumque perustum
760 et mores populi, tabularia, iura forumque,
balnea, propolas, meritoria, templa, theatra
et circum cum plebe sua madidasque popinas.
Palla (p. 281f.) macht hier ein Zugeständnis an die negativen Werturteile, die
Lavarenne über Prudentius gefällt hat: die Vorliebe für Aufzählungen gehöre
zu den Fehlern seiner Dichtkunst (Etude § 1580). Während aber Lavarenne
derlei Stileigentümlichkeiten aus dem spanischen Nationalcharakter herzulei-
ten suchte, sieht Palla in der Asyndetahäufung ein Zeugnis "del gusto piü
medioevale che classico". Darin liegt etwas Richtiges. Die asyndetische Reihe
[354/355] VI. Exegetische Bemerkungen 161
gehört der schulmäßig gelehrten Rhetorik des Mittelalters an3: s. E.R. Curtius,
Europ. Lit.2 2894; E. Faral, Les Arts poötiques ..., Paris 1962, 297 (Geoffroi
de Vinsauf); L. Arbusow, Colores rhetorici, | Göttingen 19632, 20f. Doch
man muß auch die zeitlich voraufgehende literarische Tradition berücksichti-
gen, zumal als Kommentator eines Lehrgedichts, das immer wieder Lukrezisches
verarbeitet; denn die Asyndetareihen eignen dem lukrezischen Stil (C. Bailey
Vol. 1 p. 159f.). Gewiß ist auch damit noch nicht alles erklärt, da die Reihung
von Substantiven wie Adjektiven auch außerhalb des Lehrgedichts anzutreffen
ist, besonders in der christlichen Poesie einschließlich der Versinschriften (s.
C. Caesar, Observationes ad aetatem titulorum Latinorum Christianorum
definiendam spectantes, Diss. Bonn 1896, 47). Aber daß wiederum auch mit
direkter Wirkung Lucrezens zu rechnen ist, legt Damas. epigr. 33, 1 nahe:
verbera, carnifices, flammas, tormenta, catenas ~ Lucr. 3, 1017 verbera,
carnifices, robur, pix, lammina, taedae (vgl. A. Ferrua, Epigrammata Dama-
siana, Rom 1942, 167 mit weiteren Angaben). Jedenfalls stehen Prudentius
und seine Zeitgenossen in einer langen Tradition (Curtius a.O. 289f.), die sie
selbst wiederum befördern. Dies beweist aufs schönste die durch P.E. Schramm,
Kaiser, Rom und Renovatio ... II, Leipzig/Berlin 1929, 1324aufgedeckte, von
Palla (p. 282) verdienstlicherweise in Erinnerung gebrachte Imitation unserer
Prudentiusstelle bei dem Kardinal Humbert ν. Silva Candida. Vgl. ferner Ferrua
a.O. 86 über die Aufnahme von Damas. epigr. 1,19f. durch Joh. Scotus Erigena:
MGH poet, aevi Carol. 3, 553, 10/12. Eindrucksvoll bezeugt Alanus v. Lille
im Anticlaudianus die Beliebtheit der asyndetischen Reihe (5, 315ff.; 9, 38.
50ff. 76. 225ff. u.ö.). Was nun die ästhetische Kritik an Prudentius betrifft, so
ist der Anlaß mit ham. 760/62 besonders schlecht gewählt. Denn hier zeigt
sich gerade, wie die Asyndetahäufung unter der Hand eines echten Dichters zu
einem kraftvollen Ausdrucksmittel werden konnte. Eitelkeit und Lasterhaftig-
keit menschlichen Treibens treten in der Aufzählung der zusammenstürzenden
Gebäudemassen durch wohlberechnete Mischung der Begriffe scharf hervor,
wobei Prudentius die Einzelheiten dem Leben der Großstadt Rom entnimmt
(darauf hätten Stam und Palla aufmerksam machen sollen): tabularia, iura
forumque stehen für das negotium des römischen Juristen, Redners, Staats-
mannes, balnea und propolae gehen mehr auf das alltägliche Leben, dagegen
bezeichnen meritoria, templa, theatra sowie circum, madidas [!] popinas das
Laster und den Götzendienst. Die Begriffe geben volle Anschaulichkeit und
sind doch gleichsam Symbole der vanitas und malitia.
18.
Stam und Palla ziehen homines Sodomorum zusammen ("the people in So-
dom", "gli uomini di Sodoma"). Wenn das Latein ist, dann ist es jedenfalls |
nicht das Latein des Dichters Prudentius: homines Sodomorum statt Sodomitae
(apoth. 316; vgl. psych. 42) wäre im Vers umständlich, unerträglich. Palla (p.
282f.) tat nicht gut daran, Stam folgend auf solcher Verbindung der Worte
ausdrücklich zu beharren. Der syntaktische Einschnitt ergibt sich ganz natür-
lich mit der semiquinaria wie bei dem Vorbild Juv. sat. 1, 85f.:
Lavarenne und Thomson übersetzen richtig. Der Fall lohnt eine Bemerkung
der Sache wegen. Denn allein die Interpunktion nach homines ergibt den rech-
ten Sinn. Sodoma ist mundi forma cremandi (ham. 735), und zwar nicht nur
deshalb, weil Feuer die Welt vernichten wird, wie Sodoma durch Feuer vernich-
tet ward, sondern auch deswegen, weil es in Sodoma zuging, wie es in der Welt
schlechthin zugeht: "Ebenso (wie in den Tagen Noes) ging es in den Tagen
Lots: m a n a ß u n d t r a n k , m a n k a u f t e u n d v e r k a u f t e , m a n
p f l a n z t e u n d b a u t e . An dem Tage aber, da Lot aus Sodoma fortging,
regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel und vertilgte alle. Gerade so wird
es sein an dem Tage, da der Menschensohn sich offenbart" (Lc. 17, 28/30).
Prudentius hat diesen Zug durch die Reihe der Asyndeta V. 760/62 tabularia
... popinas bewußt hervorgekehrt. Er entwirft ein Bild, das ganz zu der Stelle
aus dem Lukasevangelium paßt: das Bild gewöhnlichen Welttreibens, aller-
dings auf dem Hintergrund römischen Lebens gemalt. Gerade für diesen Haupt-
gedanken ist die Verbindung: quidquid agunt homines von entscheidender Be-
deutung: in Sodoma wurde das törichte, sündhafte Getriebe der Menschheit
beispielhaft gerichtet und vernichtet. Und deswegen ist Sodoma forma (vgl.
auch per. 5, 193/96). Zieht man die Worte zusammen wie Stam und Palla:
quidquid agunt homines Sodomorum, ... eqs. schwindet der tiefere, allgemei-
[356/357] VI. Exegetische Bemerkungen 163
nere Sinn des Strafgerichts, an den Prudentius auch durch Christo iudice erin-
nern wollte.
19.
Die (brennenden) Gräben der Hölle sind also mit sulp(h)ur, bitumen u n d pix
gefüllt. Diese Parallele klärt die Sache; die Formulierung wird durch psych.
42ff. gestützt:
Die Kienfackel der Libido ist mit Pech u n d Schwefel überzogen: ardenti
sulpure ist Ablativus modi, desgleichen bitumine in ham. 825. Lavarenne, der
164 Prudentiana II. Exegetica [357/358]
20.
Stam (p. 245): "The intervalla with Prudentius are the heavenly regions of
paradise [!] and of the regnum dei". Palla (p. 300): "I 'grandi spazi che il cielo
separa dal centro della terra' non possono essere altro che il paradiso [!]". Zu
dieser Interpretation hatte sich schon Lavarenne (Etude § 1643) nach einigem
Rätselraten durchgerungen. Eine auffallende Übereinstimmung der Interpre-
ten, leider mit absurdem Ergebnis! Natürlich können | die magna intervalla
nie und nimmer das Paradies sein. Himmelreich und Hölle sind die loca longe
distantia, und die magna intervalla sind eben die gewaltigen Räume dazwischen
(die Junktur ist lukrezisch). Von anderem abgesehen: wie könnten die Seelen
der Seligen und die der Verdammten einander erblicken, wie könnten nament-
lich die Seligen die Qualen der Verdammten schauen, wenn diese gegenseitige
Kenntnisnahme im Paradiese (= per magna intervalla!) erfolgen sollte? Quae
in Zeile 866 ist Akkusativ des Inhalts. Wenn man sagen kann: partes dividere
(Pallad. 1, 34, 3. 7; vgl. Varro rust. 1, 5, 4; Lucr. 6, 86), kann man auch
sagen: intervalla dividere (i.q. dividendo efficere). Inhaltsakkusative, beson-
ders von Adjektiven und Pronomina im Neutrum, sind bei Prudentius, wie in
der Dichtung überhaupt, beliebt (einiges bei Lavarenne, Etude §§ 230. 233/
58). Er wagt Neubildungen wie cath. 7,78 auri recocta venapulchrum splendeat
(s. Leumann-Hofmann-Szantyr, Lat. Grammatik 2, p. 40), und eine solche
leichte Ausweitung des Sprachgebrauchs mag auch ham. 866 vorliegen. Vgl.
Symm. 2, 125ff.:
[358/359] VI. Exegetische Bemerkungen 165
21.
Palla übersetzt: "... mentre noi siamo sopiti dal balsamo del sonno", als ob
rore Arabo im Text stünde. Lavarenne, Etude § 1464, dem Stam p. 249 nach-
schreibt, bemerkt: "Le sommeil tombe sur l'homme comme la ros6e | sur les
plantes". Sehr hübsch! Aber Tau schläfert nicht ein, wohl aber der Zweig, den
Somnus schenkt: ramum Lethaeo rore madentem Vique sopor at um
Stygia (Aen. 5, 854f.). An diese Vergilverse, die auch Val. Flacc. 8, 84 und
Sil. 10, 354/56 nachahmen, dachte Prudentius hier; vgl. im Hymnus Ante
Somnum (cath. 6, 17f.): Serpitper omne corpus Lethea vis ... eqs. Die Erklä-
rer notieren den Anklang an Vergil nicht (auch Bergman im Index imitationum
seiner Ausgabe und Chr. Schwen, Vergil bei Prudentius, Leipzig 1937, sowie
Brother Albertus Mahoney, Vergil in the Works of Prudentius, Washington
1934, verzeichnen ihn nicht), vielleicht weil die Gleichheit im Wort nicht stark
genug erschien. Aber man muß auf die Sache sehen. Der gebildete Prüden-
166 Prudentiana II. Exegetica [359/360]
tiusleser jener Zeit wird den Anklang vernommen und zugleich begriffen ha-
ben, weshalb der christliche Dichter den deus Somnus (vgl. Aen. 5, 854) samt
seinem Zweige und der vis Stygia aus dem Spiele ließ. Freilich muß Dichter-
wort auch aus sich heraus Sinn geben, nicht erst im Vergleich mit dem Vor-
bild. Und so darf man vielleicht sagen, daß an Lavarennes Umschreibung
doch etwas Richtiges ist. Jedenfalls hat Prudentius durch die Junktur quietis
rore (statt Somrti o. dgl.) die Vorstellung sozusagen entmythologisiert: gerei-
nigt und für die christliche Poesie nutzbar gemacht.
22.
Der Ausdruck: in peste reatüs verdient eine erklärende Notiz, zumal dann,
wenn die Übersetzung frei ausfällt (Palla: "l'anima sciagurata, urlante in mezzo
ai supplizi che si e meritata con la colpa"; Lavarenne: "au milieu des supplices";
Stam: "wailing in the perdition"). Der arme Lazarus hat die Qual seiner Schwä-
ren hinter sich, der Reiche "heult in seiner Sündenpest". Die Wendungen:
post ulcera dira und: in peste reatus korrespondieren einander. Prudentius hat
es verstanden, die Umkehrung der Schicksale, die im Jenseits geschieht, bis in
diese Einzelheit hinein zu verfolgen: lag auf Erden der arme Lazarus vor der
Tür des Reichen ulceribusplenus (Lc. 16, 20), so wird im Jenseits umgekehrt
der Reiche in peste klagen. Der Dichter hat ein raffiniertes άντιπεπονθός
geschaffen, indem er mit pestis den Bezug zur Krankheit durchschimmern läßt
(pestis = pestilentia Symm. 2, 1002; vgl. cath. 10, 105f.: morbus quoque
pestifer, artus Qui nuncpopulatur anhelos ... eqs.), ohne doch das Feuer als
Strafmittel (Lc. 16, 24) zu ersetzen (vgl. V. 922/24). Pestis schwebt zwischen
wörtlicher und übertragener Bedeutung, | weil der Begriff durch die Junktur
in peste reatus zugleich ins Spirituelle gehoben wird. Zugrunde liegt die Krank-
heitsmetaphorik (Sünden als Krankheiten der Seele), s. F. Kudlien: Hermes
90, 1962, 104/15. Zum Begriff pestis in diesem Zusammenhang vgl. ham.
389f. His aegras animas morborum pestibus urget Praedo potens und bes.
per. 2, 22Iff.:
[360/361] VI. Exegetische Bemerkungen 167
23.
Prudentius betet:
Wenn bei lexikographischer Arbeit ein Beleg an falsche Stelle geraten ist,
braucht man nicht sonderliches Aufheben davon zu machen. Wenn sich aber
durch solche Fehler die Verfasser zweier Spezialkommentare beeindrucken
lassen, ist es an der Zeit, den Irrtum zu korrigieren. Hoppe ordnete im The-
saurus s. v. conclamo den Ausdruck ham. 944f. conclamata ... materies unter
dem falschen Lemma (conclamatus i.q.) "perditus, desperatus" ein und rückte
ihn zwischen ungleichartige Stellen wie Amm. 15, 8, 21 conclamatis negotiis
(ThLL 4, 71, Z. 52f.). Ihren richtigen Platz hätte die Prudentiusstelle unter
der Überschrift "speciatim: mortuum invocando deplorare" (ebd. Z. 23ff.)
gefunden, also etwa neben Lucan. 2, 23 corpora nondum conclamata iacent
oder Zeno 1, 16, 6 cadaver amplectitur (sc. uxor) conclamatum. Denn natür-
lich denkt Prudentius an die conclamatio. Die Wendung flebilis hora, gebildet
wie per. 3,183 flebile officium, läßt keine andere Auffassung zu. Dabei braucht
man nicht anzunehmen, daß der alte Ritus der conclamatio noch genau beach-
tet wurde (Marquardt-Mau, Privatleben2 1, 346). Es ist nur allgemein die To-
tenklage gemeint. Sie lebte auch unter den Christen fort. Zeno v. Verona (I.e.:
PL 11, 378 A/379 A) bezeugt für das Jahrhundert des Prudentius exzessive
Totenklage bei den Christen, die der Bischof freilich | aufgrund des christli-
chen Auferstehungsglaubens heftig bekämpft. Der Dichter urteilt im Prinzip
nicht anders (vgl. cath. 10, 113/16). An unserer Stelle scheint er im Hinblick
168 Prudentiana II. Exegetica [361/362]
auf seinen eigenen Tod die tatsächlichen Verhältnisse gleichsam als gegeben
hinzunehmen (sie stehen im übrigen auch im Hintergrund des Grabhymnus,
vgl. cath. 10, 117f.), aber der pointierte Ausdruck conclamata ... materies
schließt doch zugleich Trostgrund und Abweisung der Klage in sich (materies
prägnant für corpus wie Symm. 2, 258). Durch die von Palla (p. 315) wieder-
holte Erklärung Stams (p. 252): conclamatus = perditus, mortuus und ihre
entsprechenden Übersetzungen (Stam: "when ... the body shall lie dead";
Palla: "quando ... il corpo giacerä perduto") verliert die Stelle viel, zumal bei
Palla Stams Hinweis auf die conclamatio (p. 253) ganz fortgefallen ist. Nicht
zuletzt leidet die Schärfe des Gedankens. Denn nicht schlechthin dann, wenn
der Leib t ο t daliegt, sondern genauer: während er b e k l a g t daliegt, geht
die Seele ihrem ewigen Schicksal entgegen. Das Partizip Perfekt Passiv nähert
sich hier präsentischer Bedeutung wie bei Zeno I.e. oder auch Ps.Augustin
serm. 262, 2: oportet... sicut super mortuum conclamatum, ita magnos super
exstinetam animam dareplanctus (vgl. Kühner-Stegmann, Lat. Grammatik 21
1 p. 758 mit den einschränkenden Bemerkungen bei Leumann-Hofmann-
Szantyr, Lat. Grammatik 2, p. 391f. § 209a). Der Gedanke, daß die Seele
unmittelbar nach der Trennung vom Leibe gerichtet wird, ist dem Dichter
wichtig. Besonders in den Märtyrerhymnen hat er ihn wiederholt ausgespro-
chen (vgl. per. 6, 118/20; 10, 1110; 14, 91/123) und dabei bisweilen auch zu
großer Anschaulichkeit gebracht: die Seele der hl. Eulalia fliegt in Gestalt
einer weißen Taube gen Himmel, während plötzlich einsetzender Schneefall
ihren Leib mit einem weißen Leichentuch bedeckt (per. 3, 161/80); den hl.
Vinzenz holt man aus dem Kerker, um ihn zu stärken, aber während sein
Haupt auf die Bettdecke zurücksinkt, verläßt seine Seele den Leib und erreicht
den Himmel (per. 5, 365/76). Mag auch die Lehre vom direkten Aufstieg der
Seele des Märtyrers zu Gott auf besonderen dogmatischen Voraussetzungen
beruhen, so besteht doch in dem Punkte, der hier allein von Belang ist, kein
Unterschied: noch während die Trauernden um das Sterbebett stehen und den
Verschiedenen beklagen, der doch nichts mehr ist als Materie, weilt die Seele
bereits in anderen Regionen und muß sich, kaum daß die Augen des Leibes ge-
schlossen sind, darauf gefaßt machen, mit ihren eigenen, geistigen Augen Schreck-
liches zu schauen. Durch die Form des persönlichen Gebets erhält die Vision des
Dichters überdies einen eigentümlichen, bewegenden Ausdruck. Ich erinnere an
John Henry Newman, The Dream of Gerontius, besonders an jene Verse:
24.
1.
Zugleich bietet das Motiv des Marschs die Möglichkeit, auch die der Discordia
entgegengesetzte Tugend angemessen vorzustellen: als Führerin des ganzen
Heereszugs (644/49) erhält Concordia eine Rolle, die ihrem Wesen und ihrem
Rang als einer der beiden Haupttugenden des Gedichts entspricht2 und über-
dies den Auftritt der Gegnerin vorbereitet. Damit aber nun der Zug der Tu-
genden über das bloße Marschieren oder Schreiten hinaus etwas Charakteristi-
sches und zugleich Bedeutungsvolles habe, verfiel der Dichter auf den Gedan-
ken, die Siegerinnen singen zu lassen. Die Verse lauten (psych. 644/65):
2 Darüber ist in meinen Studien zur Psychomachie des Prudentius = Klassisch-Philologische Stu-
dien 27 (Wiesbaden 1963) 41/45, bes. 45 49 , einiges ausgeführt. Im folgenden kürze ich ab: Studien.
172 Prudentiana II. Exegetica [59/60]
Schwebendes, Kühnes - und lenkt gerade dadurch auf die verborgene Reali-
tät, die sie wiederum auch anschaulich macht. In den ausgeschriebenen Ver-
sen verbindet sich das Bild des wandernden und lobsingenden Volks Israel mit
der Anschauung der in Reihe und Glied marschierenden römischen Truppe.
Und wer sich die in langen Gewändern schreitenden (vgl. 634f.) und psallie-
renden Gestalten vorstellt, wird auch den Eindruck einer frommen Prozession,
also einer liturgischen Feier, kaum fernhalten können.
2.
3 Alia de parte wie altera de parte, vgl. Prud. perist. 12, 45 (parte alia, gesagt von einem
der beiden Tiberufer) und perist. 10, 846 (at parte campi ex altera). Hexameteranfänge dieser
Art sind beliebt (vgl. Schwen 98) und daher auch den Textfälschern vertraut: s. A. Salvatore,
Studi Prudenziani (Napoli o.J. [1958]) 189 über den Beginn des Additamentum U zu ham. 858 (mit
verkehrter Beurteilung der Lage, aber wenigstens unter Andeutung des Richtigen, ebd. Anm. 232).
[60] VII. Ein Zeugnis doppelchörigen Gesangs 173
4 Das militärische Schauspiel endet bei Claudian (in Rufin. 2,407/17) in einem Akt grau-
samer Lynchjustiz, der sein Gegenstück in der discerptio hat, die Discordia psych. 719/25
erleidet (vgl. RhMus 116 [1973] 263. 267f. [in diesem Bande S. 26. 30f.]). Bemerkenswert ferner,
daß der Strafakt hier wie dort von der heimkehrenden Truppe ausgeübt wird, daß er sich auch bei
Claudian gegen den Feind der Einheit (des Reichs) richtet. Zwei wörtliche Anklänge treten
hinzu; vgl. J. Bergman im Index imitationum seiner Ausgabe (CSEL 61, 1926) 462 zu psych.
724, ferner: psych. 736 conscendunt ... sublime tribunal |; in Rufin. 2, 382 scandat sublime
tribunal | (Bergman a.O. notiert nur den gleichen Versschluß Claudian. in Eutr. 1,311).
5 Vgl. A. Müller, Militaria aus Ammianus Marcellinus: Philol. 64 (1905) 573/632, ebd. 598.
6 Vgl. J. Marquardt, Römische Staatsverwaltung 22 (Leipzig 1884) 587f.; W. Ehlers,
Art. Triumphus: PW 7 Al (1939) 493/511, ebd. 509.
7 Vgl. Plut. Marceil. 8, 4: ό δέ στρατός εΐπετο καλλίστοις δπλοις κεκοσμημένος,
αδων αμα πεποιημένα μέλη καί παιάνας έπινικίους εις τόν θεόν και τόν στρατηγόν.
Der Päan kommt auch in der lateinischen Dichtung gelegentlich vor, vgl. Arbonius Silo: Frg.
174 Prudentiana II. Exegetica [60/61]
poet. Lat. 153 Morel/Büchner: Ite agite, <o> Danai, magnumpaeana canentes, Ite trium-
phantes: belli mora concidit; Orcus Hectora <habet > ; dazu noch Verg. Aen. 10, 738: Con-
clamant socii laetumpaeana secuti (nach Horn. II. 22, 391).
8 Über Römisches in den Kampfschilderungen auch der Aeneis s. R. Heinze, Virgils
epische Technik3 (Leipzig 1914) 196/205. Vergil sagt z.B. signa sequi, hat aber nicht die Legions-
adler (psych. 645 victrices aquilas), die eigentlich ins historische Epos gehören (vgl. Lucan. 5,
238; Claudian. Stil. 1, 170).
9 Das Tribunal wird von der Truppe erbaut (730 exstruitur), vgl. Amm. Marc. 24, 3, 3
constructo tribunali insistens; und zwar auf einem Erdhügel (738 consistunt aggere summo),
vgl. Amm. Marc. 23, 5, 15 ipse aggere glebali assistens. Dem zeitgenössischen Heerwesen
entsprechen ferner: porta castrensis (665), tentoria (645.743f.), cornicines (636), lorica squamata
bzw. hamata (vgl. 673/80), globi (172), cunei (670), mucrones (705 circumstat ... strictis
mucronibus omnis Virtutum legio), vexillifer (419 vexillifera) u.a. Belege für alles bei Müller
a.O. Beachtlich, daß in der Psychomachie wohl aquilae vorkommen (s. oben Anm. 8), nicht
jedoch dracones (Müller 609f.): auf Seiten der Tugenden wären sie im allegorischen Epos kaum
erträglich (vgl. Prud. perist. 1, 34/36), auf Seiten des Lasters eine Beleidigung des Heeres und
des Kaisers (vgl. Prud. c. Symm. 2,713f.). Unverfänglicher war es, die Streitmacht des Pharaoh
damit auszustatten (Prud. cath. 5, 56): zur "Romanisierung" dieser Schilderung des Durch-
gangs (cath. 5, 45/88) s. J.L. Charlet, La cr6ation po&ique dans le Cathemerinon de Prudence
(Paris 1982) 170/75, bes. 17270. In der Kunst läßt sich dasselbe beobachten; ich erinnere an die
Langhausmosaiken in S. Maria Maggiore, Rom (vgl. unten Anm. 32).
10 Lebhafte Bautätigkeit der Truppe zeigen etwa die Tafeln 9. 11. 12. 29. 31 (Abb. ΧΙ/ΧΠ;
XVI/XVII; XIX/XX; LX; LXV) bei K. Lehmann-Hartleben, Die Trajanssäule (Berlin/Leipzig
1926); dazu Textband 39/50. Vgl. auch wieder Ammian (16, 11, 14): castrorum opera.
[61/62] VII. Ein Zeugnis doppelchörigen Gesangs 175
die Vermutung, nicht nur der Zug der Tugenden, sondern auch ihr Singen
gehöre zur römischen Färbung des Schlußteils, durchaus erlaubt. Der Triumph-
gesang löst die militärischen Signale ab, die soeben verstummten (vgl. 636
cornicinum curva aera silent).
3.
Viel wichtiger war dem Dichter freilich der Vergleich mit dem bibli-
schen Vorbild. Die oben ausgeschriebene Versreihe besteht großenteils aus
einer sehr fein gearbeiteten, hochpoetischen Darstellung der Wunder des Durch-
zugs durchs Rote Meer (Ex. 14). Die Möglichkeit zu diesem Vergleich ver-
schafft sich Prudentius eben durch das Motiv des Gesangs. An diesem Punkt
setzt der Vergleich an; Eröffnung und Abschluß betonen ihn nachdrücklich:
650 noti aliter cecinit (sc. Istrahel)... eqs.; 663 sie... resultant (sc. carmina).
Außerdem wird die Tatsache des Singens noch zusätzlich in der Mitte der
Schilderung hervorgehoben: 658 Pulsavit resono modulantia tympana plectro
Turba Dei celebrans ... eqs. Damit vollzieht der Dichter zugleich innerhalb
des Vergleichs eine Wendung: war vorher nur die Situation der Israeliten
beschrieben (650/57), so ist jetzt vom Inhalt ihres Gesangs die Rede (658/62).
Da aber auch der Gesang selbst wiederum auf die überstandene Gefahr | geht,
hat der Dichter Gelegenheit, zweimal die Wunder des Durchgangs zu formen,
und die beiden kunstvollen Variationen desselben Themas, die längere (im
cum-Satz 652/57) und die kürzere (im Acc. c. Inf. 660/62), zeigen, wie er die
- natürlich nicht zufällige, sondern erstrebte - Gelegenheit genutzt hat. Der
Gesang der Tugenden und der Israeliten bildet also das Mittel, den Vergleich
anzustellen. Er ist das vom Dichter ausdrücklich benannte tertium comparationis.
Aber andrerseits hätte der Vergleich keinen rechten Sinn, wenn er nur eine
äußerliche Gemeinsamkeit, nicht auch einen tiefen sachlichen Bezug aufdek-
ken sollte. Und dieser tiefere, typologische Bezug erstreckt sich durchaus nicht
nur auf das Singen, sondern auf die gesamte Situation: auf die überstandene
Gefahr, die Vernichtung des Gegners, die Errettung durch Gott, das Lob Got-
tes durch die Geretteten, das frohe Fortschreiten hinein in die Sicherheit. In-
dem Prudentius den Gesang betont, hebt er eine Gemeinsamkeit hervor, die
das äußerlich Verschiedene verbindet, doch so verbindet, daß die Analogie
der Ereignisse auch neben dem tertium comparationis allenthalben hervor-
strahlt.
176 Prudentiana II. Exegetica [62]
Der Gesang dient also der Typologie, die Typologie ihrerseits dient
dem Ziel des ganzen Gedichts. Prudentius schuf gleich in der Praefatio zur
Psychomachie eine biblische Begründung des Seelenkampfs, indem er den
Krieg Abrahams nach Gen. 14 allegorisch deutete. Im Verlauf seiner Schil-
derung der Einzelkämpfe hat er sich immer wieder bemüht, durch Erwähnung
biblischer Gestalten die geschichtliche Dimension aufzudecken und das Ge-
schehen in der Hl. Schrift zu begründen". Daher mußte ihm daran liegen,
nach Abschluß der Hauptschlacht noch einmal das Ganze auf einen Typos der
Bibel zurückzuführen, auch den Sieg als biblisch vorgebildet zu erweisen. Das
ist der tiefere Sinn der Szene - unbeschadet ihrer "technischen" Aufgabe in
der Komposition des Gedichts (s. oben S. 170f. [58]). Dabei stellt der zweite
Typos (Durchgang durchs Rote Meer) gegenüber dem ersten (Abrahams Sieg)
keine bloße Wiederholung dar, weil jetzt ein anderes Moment des Seelen-
streits schärfer herausgearbeitet wird: das der wunderbaren, gnadenhaften
Errettung, die ganz und gar Gott verdankt wird12.
Zwei Retuschen hat der Dichter an der biblischen Schilderung vorge-
nommen, um den Vergleich zu straffen: Istrahel heißt victor (650), obwohl die
Israeliten nicht kämpften, vor allem aber wird Moses, der das Meerlied zu-
sammen mit den "Söhnen Israels" anstimmt (Ex. 15,1), ebensowenig erwähnt
wie Miijam, die den Frauen singend und das Tympanon schlagend voranschreitet
(ebd. 15, 20). Stattdessen nennt Prudentius nur allgemein das "Volk Gottes"
(659 turba Dei). Auf die Möglichkeit, Concordia als Vorsängerin einzufüh-
ren, hat er verzichtet. Das ist bemerkenswert, weil der biblische Text eine
solche Lösung hätte nahelegen können (Ex. 15,20): sumpsit ergo Mariaprophe-
tissa, soror Aaron, tympanum in manu sua egressaeque sunt omnes mulieres
post earn cum tympanis et choris, quibus praecinebat, dicens: cantemus Domi-
no ... eqs. Prudentius läßt Concordia dem Zug voranschreiten, nicht aber
vorsingen! Diese vielleicht unscheinbare Kleinigkeit hat ihr Gewicht, wie sich
noch zeigen wird. Andrerseits hat Prudentius den Vergleich nicht ängstlich
festgezogen, nicht einmal in puncto Musik. Denn natürlich schlagen die Tu-
genden keine Tympana wie die Israeliten (658 nach Ex. 15, 20)13. Auch diese
11 Vgl. psych. 58/65 (Judith und Holofernes); 163/71 (Job); 291/304 (David und Goliath);
386/92 (David und Samuel); 536/44 (Achar); dazu die Märtyrer (36/39), die jungfräuliche
Gottesmutter (70/75), Judas Iscarioth (529/35).
12 Vgl. demgegenüber das Abraham-Bild der Praefatio (psych, praef. 34f.) Abram triumfi
dissipator hostici Redit recepta prolefratris inclytus ... eqs.
13 Dies gegen J. Bergman, Psychomachie-Ausgabe (Uppsala 1897) 59 zu V. 648.
[62/63] VII. Ein Zeugnis doppelchörigen Gesangs 177
4.
14 Sie weckte Erinnerungen an Musik und Tanz im Theater (Aug. in Ps. 32 en. 2 serm. 1,
5 [CCL 38, 250]; serm. 311, 5 [PL 38, 1415]). Vgl. W. Roetzer, Des hl. Augustinus Schriften
als liturgie-geschichtliche Quelle (München 1930) 231; F. Leitner, Der gottesdienstliche Volks-
gesang im jüd. u. christl. Altertum (Freiburg 1906) 257/61. Wir greifen hier ein Beispiel der
Ablehnung antiker Kulturgüter aufgrund ihres dem Heidentum eigentümlichen Gebrauchs (usus
proprius). Die Sache hat große Bedeutung und bedarf einer zusammenhängenden Darstellung.
Vorerst s. Ch. Gnilka, ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken
Kultur 1. Der Begriff des "rechten Gebrauchs" (Basel/Stuttgart 1984) 4%. 65f.
is Richtig erkannt von A. Rosier, Der katholische Dichter Aurelius Prudentius Clemens
(Freiburg i.B. 1886) 217: "Bei der großen Sorgfalt, welche Prudentius gerade in der Psychomachie
augenscheinlich auf seine Arbeit verwendet hat..." usw.
16 Basil. Μ. in Ps. 1, 2 (PG 29, 212).
17 Ambros. in Ps. 1, 9, 2 (CSEL 64, 7) und 1, 9, 5 (ebd. 8). Wenig später (in Ps. 1, 11
[ebd. 9]) stellt er eine allegorische Beziehung zu den Tugenden her. Er fragt: quid igiturpsalmus
nisi virtutum est Organum? Und er erklärt: wie der Leierspieler auf Saiten und Schnüren, also
toten Resten einst lebender Substanzen (in reliqtäis mortuis), die verschiedenen Töne seines
178 Prudentiana II. Exegetica [63/64]
druck macht in dieser Hinsicht seine Exegese des Gleichnisses vom Verlore-
nen Sohn (Lc. 15, 11/32). Der ältere Bruder blieb während des Festmahls
draußen stehen18:
Die Wendung: "Musik und Tanz" (Lc. 15,25) liefert dem Exegeten das
Stichwort, wobei ihm die griechischen Begriffe chorus und symphonia die
Möglichkeit zu einem gleitenden Bedeutungswechsel eröffnen: nicht auf-
reizender Tanz und Flötenmusik wie im Theater seien gemeint, sondern die
singende "Schar"20 und das geistliche Lied des Kirchenvolks. Der Festsaal
steht ja für die Kirche, das Freudenmahl für die heilige Feier, der Verlorene
Sohn für den Sünder, welcher sich der kirchlichen Bußdisziplin unterwirft.
Ambrosius' Erörterung kreist um den Begriff der symphonia, dessen etymo-
Lobgesangs hervorbringe, so müssen auch wir erst der Sünde absterben und dann die unter-
schiedlichen Tugendwerke in diesem Leibe hervorbringen: (propheta docuit) tunc demum in hoc
corporediversaoperadiscriminanda virtutum ...ut occupatisintentionecaelestiumnullainreperet
terrenorum libido vitiorum, simul animus caelestis gratiae suavitate nitesceret. Das erinnert an
die Situation in der Psychomachie.
18 Ambras, in Lc. 7, 237f. (CSEL 32, 4, 388).
19 Zum Ausdruck psalmum respondere und zur Interpunktion an dieser Stelle s. H. Leeb,
Die Psalmodie bei Ambrosius = Wiener Beiträge zur Theologie 18 (Wien 1967) 3176. 53/56.
Seine Studie gibt die Paralleltexte aus Ambrosius, wenn auch oft arg zerstückelt, an die Hand.
Sie muß im übrigen kritisch benutzt werden, s. unten Anm. 56.
20 Chorus im speziellen Sinne für "Sängerchor" kennt Ambrosius nicht, s. Leeb 46f. Er
bezeichnet so allgemein eine tanzende oder singende Schar, im Zusammenhang mit dem christ-
lichen Kultus natürlich immer nur eine singende! Vgl. etwa Ambras, hex. 3, 23 (CSEL 32, 1,
74f.), wo sanctorum chorus durch hymni sanctorum (cantus psallentium) ergänzt wird. Keinen
Sinn für das Wesen christlicher Chresis (oben Anm. 14), in diesem Fall: für die Ablehnung des
Tanzes, besitzt A. Ronald Sequeira, Klassische indische Tanzkunst und christliche Verkündi-
gung = Freiburger Theolog. Studien 109 (Freiburg 1978), bes. 231/43.
[64] VII. Ein Zeugnis doppelchörigen Gesangs 179
5.
Damit befinden wir uns bereits im Bereich der Liturgie. Der Eindruck
der liturgischen Feier verstärkt sich noch, wenn man, der dichterischen Vision
folgend, Gesang und Schreiten zu einer Vorstellung verbindet. Prudentius läßt
ja nach dem Gefecht die Tugenden in veränderter Gewandung und Bewegung
aufziehen (634f.):
21 Vgl. Ambras, hex. 3, 23 (CSEL 32, 1, 75), wo der concentus plebis mit dem concentus
undarum (consonus undarum fragor) verglichen wird. Consonus ist bei Ambrosius so etwas wie
ein Fachausdruck zur Bezeichnung des Volksgesangs; s. Leeb 49. Schön auch Aug. conf. 9, 7,
15: ... magno studiofratrum concinentium vocibus et cordibus sowie Prudentius selbst cath. 9,
111 (die verschiedenen Altersgruppen anredend): voce concordespudicisperstrepant concentibus!
22 Dazu s. Studien (oben Anm. 2) a.O.
180 Prudentiana II. Exegetica [65]
Die Kriegerinnen hatten also während der Kämpfe das Gewand nach
Soldaten- oder Amazonenart durch den Gürtel gezogen, so daß es die Knie frei
ließ; jetzt lösen sie den Gürtel, das Gewand fällt herab und bedeckt die Füße
(634: ad. usque pedes ... defluit imos), zugleich wird aus dem Sturmschritt der
Heldinnen ein zuchtvolles, gemessenes Schreiten (635)23. Zum Bilde stimmt,
daß später von "festlichen Chören" der Tugenden die Rede ist, wofür das
vergilische Wort chorea (choraea) steht24: 688 (Discordia) festis respondet
laeta choraeis (vgl. 242 cum virgineis ... choraeis). Daß sich damit verschie-
dene Bilder überlagern, wurde schon betont. Auch der Begriff agmen schil-
lert25. Prudentius hat Triumphmarsch und Prozession in seiner Schau des geist-
lichen Vorgangs vereint. Prozessionen, die unter Psalmengesang einherzogen,
waren dem Christen seiner Zeit ein vertrauter Anblick26. Unserer Szene steht
das Bild nahe, das St. Ambrosius, De virginibus 2, 17 (PL 16, 222 D), vom
Einzug der Jungfrauen in den Himmel entwirft:
Die Ähnlichkeiten mit der Psychomachie fallen ins Auge: der Festzug
(pompa), die "Jungfrauenchöre" (virginales chori), der Psalmengesang zum
23 Vgl. Liv. 27, 37, 13: tum Septem et viginti virgines, longam indutae vestem, carmen in
Iunonem reginam canentes ibant... eqs. (bei der Bittprozession i.J. 207).
24 Reisch: ThLL 3,1020, 23f. ordnet s.v. chorea (χορεία) fälschlich auch Prud. cath. 9, 1
ein:... choraeis ut canamfidelibus Dulce carmen... eqs. Hier ist choraeis Ablativ zu choraeus
{choreus, chorius, χορείος) i.q. trochaeus, vgl. ThLL 3, 1020, 49/64. Von den beiden
Psychomachiestellen (242. 688) fehlt s.v. chorea die letztere. Zur Orthographie vgl. Bergmans
Apparat z.St., zur wechselnden Prosodie bei Vergil s. E. Norden, P. Vergilius Maro, Aeneis
Buch VI3 (Leipzig 1927) 297f.
25 Vgl. V. 640 casta agmim und zur Nachbarschaft der Begriffe Paul. Nol. carm. 21, 281/
83 Prima chori Albina est cum pare Therasia; lungitur hoc germana iugo, ut sit tertia princeps
Agminis hymnisonis mater Avita choris.
26 Vgl. etwa R. Kaczynski, Das Wort Gottes in Liturgie und Alltag der Gemeinden des
Johannes Chrysostomus = Freiburger Theolog. Studien 94 (Freiburg/Basel/Wien 1974) 105f.;
zu Ambrosius Leeb 46. 60. Über die Prozessionen der Arianer und der Katholiken in Konstan-
tinopel s. unten S. 190 [72].
[65/66] VII. Ein Zeugnis doppelchörigen Gesangs 181
Lobe Gottes, das Vorbild Mirjams, die Typologie des Durchgangs durchs
Rote Meer, der Einzug in den Himmel! Denn auch der Triumphzug der Psy-
chomachie besitzt eine eschatologische Dimension. Als Spes sich mit goldenen
Flügeln zum Himmel (!) emporschwang, blickten ihr die übrigen Tugenden
sehnsuchtsvoll nach (305/08). <Das Ziel ihrer Sehnsucht ist> mit ihrem Sieg
erreicht: der wolkenlose Himmel, der über ihnen aufklart, gibt das Zeichen
(642f.):
Der Zug geht auf das "Lager" zu, das zugleich als Stadt vorgestellt und
mit Jerusalem verglichen wird27; es umschließt den mystischen Tempel28, den
die Tugenden nach dem | Muster des himmlischen Jerusalem (Apc. 21) erbau-
en29. Also selbst der Grundgedanke bei Ambrosius paßt zur Psychomachie,
und wieder glaubt man, eine Vorlage des Dichters zu greifen.
6.
27 Vgl. oben S. 170 [58]. Castro sind ja auch im Militärwesen nicht immer Lager, sondern
bisweilen Orte (Grenzkastelle), was vielleicht bei Prudentius den Übergang in der Szenerie (hin
zur urbs, vgl. 818) erleichtert; s. Müller (oben Aran. 5) 614. Auch der antike Illustrator der
Psychomachie gab das Lager als stadtähnliche Architektur wieder, s. Stettiner (unten Anm. 30)
368f. 371.
28 Vgl. schon 107f.: Pudicitia weiht ihr Schwert catholico in templo..., aeterno splendens
ubi luce coruscet. Zum Tempelbau s. die Kommentierung des Stücks: Studien 93/124.
29 Daß Tugenden bauen, stört den eschatologischen Bezug nicht. Auch Παρθενίη steht
nach Greg. Naz. carm. 1 , 2 , 1, 527 (PG 37, 562 A) unter den singenden Chören Gottes und
wohnt έν αστει ... εύρυθεμέθλω Ούρανίω (ebd. 53If.). Über Tugendpersonifikationen im
Himmel s. Studien 35f.; ferner: Impulse für die lat. Lektüre, hrsg. von H. Krefeld (Frankfurt
1979) 17251 [in diesem Bande S. 61].
182 Prudentiana II. Exegetica [66/67]
Die Reiterei gehört zur Darstellung militärischer Pracht, dennoch ist ihr
Auftreten merkwürdig: 1) Nirgendwo erscheint die Psychomachie als Reiter-
schlacht wie etwa der Kampf im elften Buch der Aeneis (obwohl gewiß die
italischen Amazonen um Camilla den Entwurf einer Weiberschlacht erleich-
terten!). Nur eine einzige Kämpferin tritt als Reiterin auf, und sie gehört der
Gegenseite an: Superbia, die durch das stolze Roß gekennzeichnet wird (178/
200). Daß ihr berittene Mannschaft auf Seiten der Tugenden entgegentrete,
hören wir nicht. So mag der Leser, der auf Konsequenz der äußeren Hand-
lungsführung achtet, einigermaßen überrascht sein, am Ende des Kriegs von
der Existenz einer Kavallerie zu erfahren, die er im Einsatz nirgends erlebte. -
2) Nach Beendigung der offenen Schlacht schreiten die Tugenden bedächtig in
fußlangen Gewändern einher (634f., s. oben S. 179f. [64f.]). Für die berittene
Truppe kann das natürlich nicht gelten, ohne daß wir doch durch eine entspre-
chende Einschränkung vorbereitet würden. Die Reiterinnen tauchen ebenso
plötzlich auf, wie sie verschwinden: nach V. 649 ist von ihnen nirgends mehr
die Rede. - 3) Concordia führt den Doppelzug, geht aber selbst zu Fuß (671
pedem ... moenibus infert). Wie kann eine Fußgängerin die Reiterei anführen?
Der spätantike Künstler, der die Psychomachie illustrierte, empfand die Schwie-
rigkeit und entschied sich dafür, Concordia gegen den Wortlaut des Texts
allein der Gruppe der Fußgängerinnen zuzuordnen30. Sogar der Zeichner der
Sanktgaller Bilderhandschrift, der um eine besonders textgetreue Wiedergabe
der beiden Marschkolonnen bemüht war, sah in dieser Hinsicht keinen ande-
ren Ausweg31. - 4) Der Gegensatz zwischen dem wehrlosen Volk | Israel und
dem schwergerüsteten Heer des Pharaoh kommt Ex. 14 durch die Wagen und
30 Die Zeichnungen im Parisinus lat. 8318, saec. X ( = P1 bei Stettiner) und Leidensis
Voss. Lat. Oct. 15, saec. XI ( = Le' bei Stettiner) lassen trotz ihrer Skizzenhaftigkeit die spät-
antike Vorlage am reinsten erkennen; vgl. R. Stettiner, Die illustrierten Prudentiushandschriften,
Diss. Straßburg (Berlin 1895) 155; zu diesem Bild (vor V. 646 gehörig) ebd. 369/71; Tafelband
(Berlin 1905) Taf. 9/10, Abb. 4; Taf. 25/26, Abb. 1 (in Le1 stehen die vor V. 644. 646. 665.
667. 681 gehörigen Bilder alle auf einer Seite). Die Gruppen der Fußgänger und Reiter sind
hintereinander gegeben, aber offenbar doch in paralleler Bewegung gedacht. Concordia ist die
erste unter den peditesl Beim nächsten Bild (Eintritt ins Lager) ist von den equites bezeichnen-
derweise schon nichts mehr zu sehen: sie verschwinden ebenso plötzlich wie im Text selbst.
31 Vgl. die beigegebene Abbildung Taf. VI; bei Stettiner Taf. 191f., Abb. 14; Text 370f.
Die ganze Miniaturenfolge dieser Handschrift (St. Gallen, Stiftsbibl. 135 = G bei Stettiner)
ist im Anhang der Psychomachieausgabe Engelmanns (s. unten Anm. 33) abgebildet; unser
Bild dort Abb. 19, dazu Text ebd. 94. Die beiden Züge sind hier übereinander gegeben, das
Singen wird z.T. durch Gesten bezeichnet. Concordia schreitet wieder allein den Fußgängerin-
nen voran (unter denen Discordia durch fehlenden Kopiputz auffällt). - Für die Anfertigung
einer Neuaufnahme dieser Seite (p. 426) und die Erlaubnis zur Publikation danke ich der Stifts-
bibliothek.
[67] VII. Ein Zeugnis doppelchörigen Gesangs 183
Reiter der Ägypter zum Ausdruck: 14, 9 equitatus et currus Pharaonis; 14, 17
in curribus et in equitibus illius (vgl. 14, 18. 23); 14, 26 ... ut revertantur
aquae ad Aegyptios super currus et equites eorum (vgl. 14, 28); ebenso im
Meerlied des Moses 15, 1: equum et ascensorem eius deicit in mare; 15, 19
ingressus est... eques Pharao cum curribus et equitibus eius in mare; und im
Mirjamlied: 15, 21. Von diesem Gegensatz lebt die Darstellung des Durch-
gangs durchs Rote Meer in der frühchristlichen Kunst, und zwar in der bilden-
den wie in der literarischen. Als Beispiel der ersteren sei an das entsprechende
Mosaik im Langhaus von S. Maria Maggiore, Rom, erinnert32; für die Dicht-
kunst kann Prudentius selbst cath. 5, 53/55 stehen:
Warum also hat Prudentius gerade dort, wo er den Vergleich des Tu-
gendheeres mit dem Volk Israel vorbereitete, zum ersten und einzigen Mal im
ganzen Gedicht equites auf Seiten der Tugenden, sozusagen auf der falschen
Seite, aufziehen lassen und damit, wie es scheinen mag, den sonst sorgsam
gearbeiteten Vergleich (s. oben S. 175/77 [61/63]) unnötig geschwächt?
Gewiß sind alle diese Auffälligkeiten Zeichen der "Technik" des al-
legorischen Dichters, der auf andere Dinge mehr schaut als auf eine fugenlose
Decke des äußeren Geschehens. Aber in so merklicher Weise verletzt auch er
sie nur dann, wenn er ein Motiv dafür hat.
7.
sehen, Rapisarda auf italienisch33. Das heißt: wie man auch übersetzt, fast
notwendig muß sich der Eindruck bilden, als sängen die beiden | agmina
Verschiedenes - wofern man eben nur "übersetzt". Und es ist daher in gewis-
ser Weise verständlich, daß Ebert34 auf den kuriosen Gedanken kam, die Psal-
men der pedites deuteten einen sermo pedester an, der Hymnengesang der
Reiterei dagegen entspreche einer höheren Gattung. Lavarenne hat diese Kom-
bination mit dem richtigen Argument abgewiesen35: die Psalmen sind Wort
Gottes und können daher keinesfalls anderen Gesängen untergeordnet werden.
Man stelle sich auch das Stimmengewirr und -gebraus vor, wenn die beiden
Kolonnen verschiedene Texte zu verschiedenen Melodien anstimmen sollten!
Nichts Unpassenderes ließe sich hier denken als ein Mißgetön, wie es sich
einstellt, wenn etwa irrtümlich bei einer Prozession der eine Teil des Zuges
im Singen dem anderen vorauseilt! Was Prudentius über die Seelen im Para-
dies sagt (cath. 5,121/24), nämlich daß sie ihre süßen Weisen sängen concentu
pariles, eben das erwarten wir von der symphonia des Doppelzuges, den
Concordia anführt. Es ist vom Sprachlichen her auch gar nicht nötig, die An-
gaben peditum psallente caterva und equitum resonantibus hymnis auf ver-
schiedenerlei Liedgattungen zu beziehen. Mit den Begriffen psalmus, psallere,
hymnus verhält es sich bei Prudentius nicht anders als sonst in der christlichen
Latinität: psalmus kann ein Hymnus sein, sogar ein Märtyrerhymnus, und
umgekehrt kann hymnus einen davidischen Psalm bezeichnen36; psallere heißt
öfters nur allgemein "singen", "lobsingen", "preisen" (i.q. hymnirey. Auf
der in theodosianischer Zeit voll entwickelten Darstellung gehören die ausreitende ägyptische
Kavallerie, Pharaoh auf dem Streitwagen sowie die im Meer versinkenden Reiter; vgl. etwa
Abb. 3/5. 8. 14. 23. 24. 26. Daß Pferde fehlen wie auf der entsprechenden Darstellung in der
Synagoge von Dura-Europos, ist die Ausnahme; vgl. Renate Pillinger, Die Tituli historiarum
oder das sogenannte Dittochaeon des Prudentius = DenkschrWien 142 (Wien 1980) 38 zum 9.
Bildepigramm {Iter per mare), wo die Pferde und Wagen ebenfalls nicht vorkommen, weil sie
für den "lichten Punkt" (Herder) dieses Epigramms unwichtig sind.
33 M. Lavarenne, Prudence 32 (Paris 1963) 72; H.J. Thomson, Prudentius 1 (London/
Cambridge, Mass. 1949) 325; U. Engelmann, Die Psychomachie des Prudentius (Basel/Frei-
burg/Wien 1959) 75; J. Guillen, Obras completas de Aurelio Prudencio (Madrid 1950) 343; E.
Rapisarda, Prudenzio. Psychomachia (Catania 1962) 79.
34 Α. Ebert, Allgemeine Geschichte der Literatur des Mittelalters l 2 (Leipzig 1889) 2842.
35 Lavarenne, Psychomachie-Ausgabe (Paris 1933) 253 zu V. 648.
36 Prud. perist. 4, 147f.: Perge conscriptum tibimet senatum (sc. martyrum) Pangere
psalmis ; perist. 10, 837f.: docta mulier psallere Hymnum canebat carminis Davitici... eqs.
(i.e. Ps. 115, 6f.); s. Lact. inst. 4, 8,14: divinorum scriptor hymnorum (sc. David); Hier, psalt.
sec. Hebr. praef.: titulushebraicus... interpretatur volumen hymnorum. Weiteres H. Rubenbauer,
Art. hymnus: ThLL 6, 2/3, 3144, 80/3145, 10: zu Ambrosius s. Leeb (oben Anm. 19) 26f.
37 Vgl. etwa Prud. perist. 6, 150: Vestrumpsallite rite Fructuosum mit perist. 1,118: State
nunc, hymnite, matres ... eqs. Ferner perist. 5, 313f.; cath. 9, 22f. Psallat altitudo caeli,
psallite omnes angeli, Quidquid est virtutis usquampsallat in laudem Dei, ... eqs.
[68/69] VII. Ein Zeugnis doppelchörigen Gesangs 185
die Unterscheidung der Liedarten kam es hier dem Dichter offenbar gar nicht
an. Auch in V. 663f. heißt es abschließend: sie... resultant Mystica dulcimodis
virtutum carmina psalmis. Ein Begriff steht für den Gesang aller38. Wie ge-
sagt: zwischen Psalm, Hymnus und (biblischem) Canticum wird nicht unter-
schieden, vielmehr hat sich der Dichter wohl absichtlich so ausgedrückt, daß
zugleich das Mirjamlied und jede Liedart des christlichen Kults getroffen war.
8.
Dennoch vermitteln die Verse 647/49 den Eindruck, als äußere sich die
Zweiteilung des Heeres auch irgendwie im Gesang. Ich behaupte auch gar
nicht, daß die zitierten Übersetzer falsch übersetzen. Es bleibt nur die Frage,
welche Vorstellung sich mit den Worten verbinden soll. Philo Iudaeus glaub-
te, die Israeliten hätten nach dem Durchzug durch das Rote Meer einen ge-
mischten Chor aus Männern und Frauen gebildet: Moses habe das Lied den
Männern angestimmt, Mirjam den Frauen. Philon erwähnt das im Zu-
sammenhang der Nachtfeier der Therapeuten (de vita contempl. 83/88). Sie
treten zunächst nach Männern und Frauen getrennt in zwei Chören an, um
Gott durch Hymnen | und Tänze39 zu preisen, vereinen sich dann jedoch nach
dem Vorbild der Israeliten zu einem einzigen Chor: "(Dieser Chor) mischt die
hohen Frauenstimmen und den Klang der tiefen Männerstimmen zu anti-
phonischen Melodien (μέλεσιν άντήχοις και άντιφώνοις) und erzeugt so
einen harmonischen und wahrhaft musikalischen Zusammenklang"40. Natür-
lich kommt solche Lösung für die Szene der Psychomachie nicht in Frage,
weil die Tugenden allesamt Jungfrauen sind. Und an Tanz der Virtutes ist
schon gar nicht zu denken. Aber die Philonstelle erinnert uns zumindest an
38 Carmina läßt alle Möglichkeiten offen. Zu carmen = psalmus s. etwa Ambros. exc.
Sat. 2 , 2 6 (CSEL 73,263): David seproptereaflagellatum suo carmine (Ps. 72,12/14) confitetur
... eqs.; ThLL 3, 466; Leeb 28.
39 Ungeachtet der Wertschätzung, welche seit Eusebius (h.e. 2, 17) den Therapeuten ent-
gegengebracht wurde, offenbart Philons Schilderung die Züge einer Mischung, die den Prinzipi-
en der Kirche im Umgang mit der antiken Kultur durchaus zuwiderläuft. Vgl. oben Anm. 14
und S. 178 [64] mit Anm. 20 über die Ablehnung des Tanzes durch die Kirchenväter. Auch Philons
Vergleich der Nachtfeier mit den Bacchusfesten (vita contempl. 85) gehört hierher. Eusebius (h.e.
2, 17, 21f.) hat in seiner Wiedergabe des philonischen Berichts diese Züge unterdrückt.
40 Der Begriff άντίφωνος geht hier wohl (vita contempl. 88) auf die Intonation im Ak-
kord; vgl. Liddell/Scott s.v. mit den Belegen aus Piaton und Aristoteles. Das Wort begegnet
bereits vorher im Text (84): die beiden getrennten Chöre der Therapeuten singen teils
συνηχοΰντες, teils άντκρώνοις άρμονίαις. Vielleicht könnte man in diesem Fall auch an
Wechselgesang denken. Über die Probleme, welche die Tragödie in dieser Hinsicht aufgibt, s.
186 Prudentiana II. Exegetica [69]
"Das Heer Gottes aber sind die Tugenden, die für die gottergebe-
nen Seelen kämpfen; und ihnen kommt es zu, wenn sie den Wi-
dersacher besiegt sehen, den herrlichen, höchst angemessenen
Hymnus anzustimmen für Gott, den Siegverleihenden und Sieg-
gekrönten. Zwei Chöre sind aufgestellt, der eine für die Männer-
gemächer, der andere für die Kammern der Frauen, - die im
Wettklang und Wettgesang das harmonische Lied anstimmen
(αντηχον και άντίφωνον άναμέλψουσιν άρμονίαν). Den Män-
nerchor leitet Moses, der Vollkommene, den Frauenchor Mirjam,
die geläuterte Wahrnehmung. ... Von beiden Chören wird aber
dasselbe Loblied mit wundervollem Kehrvers gesungen, das an-
zustimmen sich ziemt; es lautet also: 'Singen wir dem Herrn,
denn ruhmvoll hat er mich verherrlicht; Roß und Reiter warf er
ins Meer' (Ex. 15, 1. 21)".
J. Lammers, Die Doppel- und Halbchöre in der antiken Tragödie, Diss. Münster (Paderborn
1931) passim, bes. 147/60. An anderer Stelle (Philo plant. 167) sind φθόγγοι άντίφωνον die
verschiedenen Töne der Lyra, deren Harmonie eine einzige Melodie ergibt. Zu Philons Schrift
De vita contemplativa vgl. F. Daumas/P. Miquel in der Einleitung der Ausgabe = Les oeuvres
de Philon d'Alexandrie 29 [Paris 1963] 11/69; ebd. 142 3 einige Hinweise zu Tanz und
doppelchörigem Gesang im Alten Testament.
41 Die moderne Analyse versichert uns, das Mirjamlied (Ex. 15, 20f.) sei ein altes Stück
innerhalb dieses Textabschnitts, Moses' "Schilfmeerlied" dagegen (ebd. 15, 1/19) sei jünger
(vgl. M. Noth, Das zweite Buch Mose = Das Alte Testament Deutsch 5 [Göttingen 1959] 95/
100). Aber den frühen Exegeten lag solche Analyse natürlich fem. Aus dem Text, so wie er
dasteht, ergibt sich, daß zwei Gruppen singen: die "Söhne Israels" und die Frauen.
[69/70] VII. Ein Zeugnis doppelchörigen Gesangs 187
an dieser Teilung hängt seine allegorische Erklärung (Moses deutet auf den |
νους, Mirjam auf die αϊσθησις). Für Prudentius' Tugenden konnte das kein
Grund sein, zwei Chöre zu bilden, zumal ja der Dichter eben Moses und
Mirjam gerade nicht auftreten läßt (vgl. oben S. 176 [62]). Die Annahme, er
habe trotzdem durch seine Zweiteilung dem biblischen Vorbild äußerlich ir-
gendwie nahe bleiben wollen, befriedigt nicht.
9.
Aber man darf bei Behandlung solcher Dinge nicht nur auf biblische
Vorlagen schauen, erst recht nicht nur auf literarische. Man muß auch mit der
Möglichkeit rechnen, daß die Anregung aus der Liturgie kam, nicht aus der
Literatur; aus lebendiger Anschauung, nicht aus schriftlicher Quelle. Im Grunde
redet ja niemand von derlei Dingen ohne irgendeine Anschauung. Philon stellt
sich tanzende Chöre vor, Ambrosius bisweilen das psallierende Volk in der
überfüllten Basilika. Auch Prudentius hatte gewiß eine Sache vor Augen, nicht
bloß eine Vorlage. Achtet man, dem liturgischen Charakter der Szene fol-
gend, auf die kirchliche Psalmodie der Zeit, ergibt sich zumindest eine Ver-
mutung. Prudentius mag das "antiphonische" Psallieren, das heißt: den Wech-
selgesang zweier Chöre, nachgebildet haben. Nimmt man nämlich an, Pru-
dentius habe an Wechselgesang der beiden Züge gedacht, klärt sich alles, und
man versteht sofort, weshalb er die Zweiteilung des Heeres überhaupt einführ-
te. Denn wenn auch sonst über die Art des antiphonischen Gesangs in der
Alten Kirche manche Unsicherheiten bestehen mögen, in einem stimmen die
Quellen überein: die Teilung in zwei Gruppen, Chöre o. dgl. bildet Vorausset-
zung und Merkmal solcher Singweise. Über Flavianus und Diodorus, die "Er-
finder" der Antiphonie, berichtet Theodoret42: οΰτοι πρώτοι διχή διελόντες
τους των ψαλλόντων χορούς έκ διαδοχής αδειν την Δαυϊτικήν έδίδαξαν
μελωδία ν. St. Basilius kennzeichnet die antiphonische Psalmodie des Kirchen-
volks zu Caesarea so43: διχή διανεμηθέντες άντιψάλλουσιν άλλήλοις.
Sozomenos schreibt von den Arianern in Konstantinopel44: είς συστήματα
μεριζόμενοι κατά τον των αντιφώνων τρόπον έψαλλον. Isidor ν. Sevilla
45 Isid. eccl. off. 1, 7, 1 (PL 83, 743 C/744 A); vgl. orig. 6, 19, 7f.: antiphona ex Graeco
interpretatur vox reciproca, duobus scilicet choris alternatimpsalleruibus ordine commutato... eqs.
46 Isid. orig. a.O.: inter responsorios autem et antiphonam hocdiffert, quodin responsoriis
unus versum dicit, in antiphonis autem versibus alternant chori. Über die modernen Versuche,
die Rolle der beiden Chöre genauer zu bestimmen, s. Leeb (oben Anm. 19) 18/23. Auf die
umstrittene Unterscheidung von "antiphonischer" und "alternierender" Psalmodie habe ich ver-
zichtet. Vgl. auch H. Leclercq, Art. Antienne: DACL 1, 2 (1924) 2282/319, bes. 2282/92;
ferner L. Petit, Art. Antiphone dans la liturgie grecque: ebd. 2461/88.
47 Den Begriff antiphona hätte Prudentius übrigens nur mit einer starken prosodischen
Lizenz (Kürzung der Paenultima wie etwa idölum 379) in den Hexameter bringen können, doch
klang das Wort wohl überhaupt zu neu und technisch, als daß der Dichter hätte daran denken
können, seine hübsche Anspielung dadurch zu entstellen.
48 Vgl. Verg. ecl. 1,5: (Tityre) formonsam resonare doces Amaryllida silvas, wozu zwar
Servius erklärt: carmen ... doces silvas sonare, doch wurde die Bedeutung des Kompositums
empfunden, vgl. Prop. 1, 18, 31:... resonentmihi "Cynthia"silvae. Ferner Ambros. hex. 6 , 6 2
(CSEL 32, 1, 253): siquidem vel in concavis montium ... vox auditur dulcior et responsa suavia
referens echo resultat.
[71/72] VII. Ein Zeugnis doppelchörigen Gesangs 189
die Sangesart des άντιψάλλειν, wie schon ein Blick auf V. 663 lehrt, wo
resultant einfach den Klang der Lieder insgesamt meint49. Es kommt mehr
darauf an, die deskriptiven Elemente zu erfassen und sich aus ihnen die rechte
Anschauung zu bilden. Und so wird denn schließlich auch klar, weshalb hier
überhaupt pedites und equites erscheinen. Ich meine also: Dem Dichter lag
daran, gerade dort, wo er das psallierende Heer vorführte, die Zweiteilung
des Zuges zu begründen, und die Zweiteilung brauchte er, um den Gesang der
Tugenden als antiphonisch zu kennzeichnen. Die Teilung in Infanterie und
Kavallerie ist ad hoc geschaffen, nur für diese Szene und nur für diesen Zweck,
und wird folglich sofort danach wieder aufgegeben. Um eine liturgische Neue-
rung seiner Zeit in dem Gedicht zu verweben, hat er die bifida agmina erfun-
den und dem eigentümlichen liturgisch-militärischen Mischcharakter der Sze-
ne gemäß durch Teilung in pedites und equites motiviert.
10.
Dieses Ergebnis ist dem Text durch eine Art interpretatorischen Indizien-
beweises abgewonnen. Wer ihm zustimmt, wird aber sogleich sein Gewicht
erkennen: Prudentius kann dem eigenartigen Zusammenhang seines Gedichts
nur ein Motiv eingefügt haben, das allgemein verständlich war, nur auf eine
Sache angespielt haben, die weit verbreitet war. Und eben diesen Befund spie-
geln die Quellen. Bald nach der Jahrhundertmitte fand der Wechselchor in die
Liturgie Antiochiens Eingang50 und verbreitete sich so | rasch, daß St. Basilius
i J . 375 sagen kann, die zu Caesarea geübte Psalmodie sei die weithin übliche,
49 Vgl. den transitiven Gebrauch bei Ambras, in Ps. 1,9 (CSEL 64,7f.): diei ortuspsalmum
resultat, psalmum resonet occasus ... psalmum reges sinepotestatis supercilio resultant; Leeb
32. 36.
50 Die beiden Asketen Flavianus und Diodorus, später Bischöfe von Antiochia bzw. Tarsos
(t 404 bzw. vor 394), führten sie noch zu der Zeit, als sie Laien waren, in Antiochien ein:
Theodrt. h.e. 2,24, 8f. (GCS 44,154), dazu Theod. Mopsuest. bei Nicetas Choniata thesaur. 5,
30 (PG 139, 1390 C). Sie sollen die antiphonischen Lieder aus dem Syrischen ins Griechische
übertragen haben (Theodrt. ebd.). Socr. h.e. 6, 8 (PG 67, 689 C/692 A) gibt eine Überlieferung
weiter, derzufolge sogar der hl. Ignatius v. Antiochien die Antiphonie dort begründet haben
soll, und zwar aufgrund eines Gesichts, das ihm zeigte, wie Engel die Hl. Dreifaltigkeit in
antiphonischen Hymnen priesen. Wenn die Auskunft, die Plinius von den abgefallenen Christen
erhielt (ep. 10, 96, 7: ... quod essent soliti stato die ante lucem convenire carmenque Christo
quasi deo dicere secum invicem), auf eine Art antiphonischen Singens ginge (vgl. A.N. Sherwin-
White, The Letters of Pliny [Oxford 1966] 704f. mit Lit.), müßte tatsächlich mit älteren Formen
der Antiphonie gerechnet werden.
190 Prudentiana II. Exegetica [72]
51 Basil. Μ. ep. 207, 3 (2, 186 Courtonne); in der griech.-dt. Ausgabe von W.-D. Hau-
schild (Stuttgart 1973) 143. Es ist der liturgiegeschichtlich wichtige Brief an den Klerus von
Neocaesarea, in dem Basilius u.a. die in Caesarea übliche Singweise der Psalmen (τρόπον
μελωδίας) gegen den Vorwurf verteidigt, sie weiche von der Tradition ab; er beruft sich auf
gleiche Praxis namentlich in Libyen, in der Thebais, in Palästina, Arabien, Phoenizien, Syrien,
Mesopotamien, sagt aber, daß die Art, die sich jetzt durchgesetzt habe, mit der "aller Kirchen
Gottes" übereinstimme. Worauf sich die Kritik (τό έπί ταΐς ψαλμφδίαις έγκλημα) eigentlich
bezog, brauchen wir hier nicht zu fragen; wichtig eben nur, daß die Äntiphonie in solche Vertei-
digung eingeschlossen werden konnte. Der Passus ist auch deswegen bedeutsam, weil er lehrt,
daß das Kirchenvolk (ό λαός) durch den Wechselgesang zwar absichtlich beansprucht, nicht
aber überfordert wurde: nach Basilius bewirkte gerade das antiphonische Singen Übung in der
Textsicherheit, Stärkung der Aufmerksamkeit und Schutz vor Ablenkung. Das paßt recht gut
zur Wirkung, die nach Aug. conf. 9, 7, 15 während der drangvollen Zeiten in Mailand erzielt
werden sollte; s. oben im Text. Warum soll das Volk in Mailand dümmer gewesen sein als das
in Caesarea? Dies z.B. gegen B. Fischer: TheolRev 68 (1972) 379f., dessen Kritik an Leeb
sonst in mancher Hinsicht trifft. Ambrosius sagt, sogar Kinder lernten gerne die gesungenen
Psalmen, obwohl sie sonst nichts auswendig lernen wollten: (psalmus) sine labore percipitur,
cum voluptate servatur (in Ps. 1, 9, 4/5 [CSEL 64, 8]).
52 Sozom. h.e. 8, 8,1/5 (GCS 50, 360f.); Socr. h.e. 6, 8 (PG 67, 688 D/689 C). Vgl. auch
Sozom. h.e. 3, 20, 8 (a.O. 135) und dazu H. Leclercq: DACL 6, 2 (1925) 2283.
53 Vgl. Kaczynski (oben Anm. 26) 111. Nur beiwege sei notiert, daß schon die vorchrist-
liche Antike Wechselchorgesang bei kultischen Prozessionen kannte. Vgl. etwa neuerdings P.L.
Schmidt: AltsprachlUnterr 28 (1985) 42/53 über die Fragen, die Horazens carmen saeculare in
dieser Hinsicht aufgibt.
54 M. Pellegrino, Les Confessions de saint Augustin (Paris o.J. [1961, französ. Übers, aus
dem Ital., Rom 1956]) 241/46.
55 Paul. Med. vit. Ambros. 13, 3 (Vite dei Santi, a cura di Ch. Mohrmann, 3 [Verona
1975] 70): hoc in tempore primum antiphonae, hymni et vigiliae in ecclesia Mediolanensi
[72/73] VII. Ein Zeugnis doppelchörigen Gesangs 191
die im Osten erprobt war; denn Augustinus (I.e.) bemerkt, daß die neue Sing-
weise während der Bedrückung durch die arianische Kaisermutter Justina ein-
geführt wurde und dazu bestimmt war, das um den Bischof versammelte ka-
tholische Volk zu stärken. Isidor (s. oben S. 187f. [70]) faßt die Entwicklung
zusammen und nennt ausdrücklich Ambrosius als denjenigen, der die Antiphonie
im lateinischen Westen heimisch machte. Sein Zeugnis konnte bisher nicht
entkräftet werden56. Demnach war die wechselchörige Psalmodie zu | der Zeit,
da Prudentius die Psychomachie schrieb57, überall bekannt, hatte vielleicht
aber doch noch etwas vom Reiz des Neuen behalten. Wie nahe mochte es dann
für einen Dichter liegen, der selbst in seinen Hymnen von Ambrosius angeregt
ist, diese Singweise vorzuführen! Und wie leicht konnte der Leser unter sol-
chen Umständen die Szene begreifen! Angesichts der Spärlichkeit liturgiege-
schichtlicher Quellen aus jener Zeit könnte der Psychomachie-Stelle - die Rich-
tigkeit unserer Interpretation vorausgesetzt - ein gewisses Gewicht zukom-
men.
celebrari coeperuiti; cuius celebritatis devotio usque in hodiernum diem non solum in eadem
ecclesia, verum per omnes paene provincias occidentis manet. Die Vita ist auf Anregung St.
Augustins i.J. 422 verfaßt.
56 Auch nicht durch Leeb: daß Paulinus (s. vorige Anm.) unter antiphona nicht den anti-
phonischen, sondern den sog. responsorischen Gesang verstanden habe, wird a.O. 103 als "hy-
pothetisches Ergebnis" geboten; auf S. 108 wird die Möglichkeit urplötzlich ein Faktum und aus
Isidors Erklärung deswegen eine Fehlinterpretation. Das ist methodisch unstatthaft. Selbst als
Hypothese bleibt Leebs Deutung der Paulinus-Stelle problematisch, weil antiphona vonpsalmus
responsorius in Texten des 5. Jh., so bei dem gleichzeitig mit Paulinus schreibenden Cassian
(inst. 3, 8: [CSEL 17, 43]), unterschieden wird (vgl. Leebs eigene Belege a.O. 53/55). Leebs
Begriffsuntersuchung anhand des (unpublizierten) Ambrosius-Index von O. Faller ergibt nur
einen fragwürdigen Schluß e silentio: da Ambrosius die antiphonische Singweise nirgends ein-
deutig nenne, habe sie nicht existiert. Aber aus Ambrosius selbst wüßten wir noch nicht einmal,
daß es eine Neuerung in der Singweise überhaupt gegeben hat (vgl. wieder Leeb 90). Die
methodischen Schwächen der Arbeit Leebs (erkannt von J. Schmitz, Gottesdienst im altchristlichen
Mailand = Theophaneia 25 [Köln/Bonn 1975] 307: "Im Grunde baut hier eine Vermutung auf
der anderen a u f ) haben ihr Ergebnis nicht überall diskreditiert; vgl. z.B. Bastiaensen im Kom-
mentar zur Ambrosius-Vita (vorige Anm.) 295. Verunsichert scheint J. Fontaine, Naissance de
la poesie dans l'occident chrdtien (Paris 1981) 128.
57 Sie ist nicht in dem "Werkverzeichnis" seines autobiographischen Gedichts (Prud. praef.
37/42) enthalten, das Prudentius i.J. 404/05 verfaßte. Wir wissen nicht, wie lange der Dichter
dann noch gelebt hat, aber man darf wohl vermuten, daß die Psychomachie bald danach, also
bald nach 405, entstand.
νπι.
PRUDENTIANA *
Die Erklärung des Prudentius ist auch deswegen reizvoll, weil überall
noch viel zu tun bleibt, selbst dort noch, wo moderne Interpreten bereits vor-
gearbeitet haben. Die Forscherin, der die Festgabe dargebracht wird, sieht es
gewiß gerne, wenn dafür Beispiele vorgeführt werden, hat sie doch selbst ihre
Aufmerksamkeit diesem Dichter zugewandt. Hinsichtlich der Zahl der Bei-
spiele halte ich mich an die lex scholastica, wobei ich aus drei verschiedenen
Werken je einen Fall vorlege.
1. Ham. 330ff.
Prudentius preist denjenigen selig, der die Gaben des Schöpfers maß-
voll zu gebrauchen vermag, ohne den täuschenden Lockungen der Welt zu
erliegen:
Der Makarismos erinnert an Vergil georg. 2, 490ff. felix qui potuit rerum
cognoscere causas ... eqs., wie man längst gesehen hat (vgl. jetzt R. Palla,
Appunti sul Makarismos e sulla fortuna di un verso virgiliano, Studi Classici e
Orientali 33, 1983, 171/92. 189). Aber da es Lukrez ist, den Vergil preist,
hätte man um so leichter bemerken können, daß Prudentius hier nicht nur
* Roma renascens. Beiträge zur Spätantike und Rezeptionsgeschichte. Ilona Opelt von
ihren Freunden und Schülern zum 9.7.1988 in Verehrung gewidmet, herausgegeben von Michael
Wissemann, Frankfiirt/Bern/New York/Paris 1988, 78/87.
[78/79] VIII. Prudentiana 193
Anders als hier bei Lukrez ist der Vergleich bei Prudentius mit der Selig-
preisung verwoben und daher nur angedeutet. Aber der Kern des Vergleichs:
die Täuschung des Kindes, das die unter der scheinbaren Süße verborgene
Bitternis nicht bemerkt, bleibt auch dort noch deutlich erkennbar. Der tiefe
Unterschied liegt freilich darin, daß Lukrezens bittere Arznei, die demokri-
tisch-epikureische Naturerklärung, eben Heilmittel ist, das durch die Form
der Poesie versüßt wird. Bei Prudentius ist daraus ein Giftbecher geworden,
aus ärztlicher Klugheit eine tödliche Verführung durch die Güter dieser Welt.
Im entscheidenden Punkt ist Laktanz inst. 5, 1, 14 dem alten Dichter näher:
circumlinatur modo poculum caelesti melle sapientiae, utpossint ab inpruden-
tibus amara remedia sine offensione potari, dum inliciens prima dulcedo acerbi-
tatem saporis asperi sub praetexto suavitatis occultat. Laktanz hatte gewiß
Lukrez im Kopf (vgl. P. Monat im Kommentar zu Lact. inst. V, Paris 1973 =
Sources Chret. 205, 26). Das, was versüßt werden soll, ist bei ihm die christ-
liche Lehre, das Mittel dazu die Bildung der Antike (doctrina), besonders der
anspruchsvolle Stil (eloquentia). Hier liegt, wie gesagt, eine durchaus positive
194 Prudentiana II. Exegetica [79/80]
Anwendung des Bilds im Sinne Lukrezens vor1. Ein Interpolator hat nun aber
auch die andere, bei Prudentius | herrschende Vorstellung, daß der Honig
Gift verdecke, aus gegebenem Anlaß in den Laktanztext gebracht (a.O. 10):
nam et in hoc philosophi et oratores et poetae perniciosi sunt, quod incautos
animos facile inretire possunt suavitate sermonis et carntinum dulci modulatione
currentium [mella sunt haec venena tegentia]. Der Zusatz findet sich (mit
gewissen Abweichungen) in zwei Handschriften. Monat nimmt ihn in den Text
(Sources Chret. 204, 128), doch Brandt (CSEL 19, 400) hatte ihn zu Recht
ausgeschieden: dasselbe Bild zweimal hintereinander, dazu noch in verschie-
denem Sinne, derlei wird man dem Cicero Christianus nicht zutrauen wollen.
Dagegen mochte sich ein Textbearbeiter um so eher angeregt fühlen, den ne-
gativen Vergleich einzuschieben, als er auch sonst dazu dient, die Gefahr der
Eloquenz zu veranschaulichen2. Hieronymus bemerkt, ausgehend vom "Kelch
Babylons" (Jer. 51, 7): vides quidem eloquentiae mella, et non suspicaris
mortifera venena (Tract, de Ps. 82, 7, 8: CCL 78, 387). Wie leicht sich über-
haupt die Richtung des Vergleichs ändern, Medikament und Gift assoziiert
werden konnte, lehrt eine Partie bei Vinzenz von Lerinum. Auch er hat un-
zweifelhaft Lukrez vor Augen und gebraucht doch den Bechervergleich, um
das Verfahren der Häretiker zu kennzeichnen, die harmlose Gemüter durch
ihre Bibelzitate, eben den Honig, täuschen: itaque faciunt (sc. haeretici) quod
hi solent, qui, parvulis austera quaedam temperaturi pocula, prius oras melle
circumlinunt, ut incauta aetas, cum dulcedinem praesenserit, amaritudinem
non reformidet (comm. 25, 35). Die Bitternis bleibt hier hinsichtlich ihrer
Substanz unbestimmt, der Vergleich beleuchtet nur die Methode im allgemei-
nen, und so scheint die Nähe zu Lukrez auch inhaltlich noch gewahrt. Aber
durch den Kontext verschiebt sich die Aussage, besonders durch einen weite-
ren Vergleich, der unmittelbar folgt: die Häretiker etikettieren ihre Lehren mit
Zitaten aus der Heiligen Schrift, ebenso wie man auf giftige (!) Kräuter und
Säfte die Namen von Medikamenten schreibt, ut nemofere, ubi suprascriptum
1 Ich gebe den Text nach Brandt. Auf die kritische und exegetische Schwierigkeit zu
Beginn des ausgeschriebenen Stücks gehe ich hier nicht ein, obwohl eine neuerliche Behandlung
lohnend erscheint. Für die Verbreitung der lukrezischen Verse hat gewiß auch das Zitat bei
Quintil. inst. 3 prooem. 4 gewirkt. Vgl. H. Hagendahl, Latin Fathers and the Classics, Göte-
borg 1958, 64 u. 274 (zu Hier, epist. 133, 3, 7); ferner Auson. Symm. epist. p. 222 Peiper.
2 Bisweilen erscheint das Bild verändert, indem die Kostbarkeit des Trinkgefäßes (gleich
Wortprunk) in Gegensatz zum verderblichen Inhalt gesetzt wird: Aug. de nat. et orig. animae 1,
3, 3; 2, 17, 23 (CSEL 60, 305. 358); vgl. Aug. conf. 1, 16, 26. - Zum Becherbild insgesamt
vgl. S. Grün, RAC 2 (1954), 59/62.
[80/81] VIII. Prudentiana 195
2. Psych. 575
3 Vgl. Leo M. epist. 15, 15 (PL 54, 688 A) über die Interpolation der Hl. Schrift durch
die Anhänger Priszillians: quomodo enim decipere simplices possent, nisi venenata pocula quodam
melle praelinirent... eqs.? Im Zusammenhang mit der Warnung vor Häresie gebraucht schon
Ign. Trail. 6, 2 ein ähnliches Bild (Gift im Honigwein).
196 Prudentiana II. Exegetica [81/82]
spricht auch von der virtutum legio (706, vgl. 36), aber der Leser kann doch
dem vorwiegend nach epischem Muster geschilderten Kampfgeschehen nicht
ohne weiteres die feste Ordnung der römischen Schlachtreihe entnehmen. Auch
sprachlich hat man Schwierigkeiten. Gradus kann hier nur der Rang sein. Vgl.
Mod. dig. 48, 3, 14, 2 in extremum militiae gradum datur; Amm. 29, 5, 20
omnes contrusit ad infimum militiae gradum, ferner ThLL 6, 2153, 36ff.; 8,
963, 16ff. So wird man denn auf die überraschende Tatsache hingeleitet, daß
die werktätige Liebe (Operatio) die rangletzte Tugend sei. Es war gewiß diese
Folgerung, der Lavarenne entgehen wollte, indem er auf die Triarier rekurrierte.
Liest man etwa, was Ambrosius off. 1,143/74 über die beneficentia (misericor-
dia) zu sagen hat, scheint Prudentius' Urteil tatsächlich seltsam (vgl. auch off.
1, 38: bona etiam misericordia, quae et ipsa perfectos facit, quia imitatur
perfectum Patrem. nihil tarn commendat Christianam animam quam misericordia
... eqs.). Aber ganz ohne Beispiel steht | seine Bewertung doch nicht da.
Paulinus von Nola sandte zwei Epigramme an Sulpicius Severus, damit sie als
Beischriften zu seinem Bilde und dem des hl. Martin gesetzt würden, die
Sulpicius im Baptisterium zu Primuliacum hatte anbringen lassen. Der Gegen-
satz zwischen ihm - Paulinus - und dem verehrten Heiligen sollte herauskom-
men (Paulin. Nol. epist. 32, 3). Er beruht darin, daß Martin durch seine Tu-
genden ein Vorbild für das vollkommene Leben ist, Paulinus durch Hingabe
seines Vermögens den Sündern einen Weg zeigt, wie sie Verzeihung erlangen
können (epist. 32, 3 carm. 1, 3ff.):
Die Anspielung im zweiten der zitierten Verse wird durch die Schlußzeilen
des anderen Epigramms erklärt (ebd. carm. 2, 9/12):
Geldspenden, auch Hingabe eines großen Vermögens, ist also weniger als
Heiligkeit. Dazu stimmt die Wertordnung der Verdienste, die Prudentius sei-
[82/83] VIII. Prudentiana 197
nem Epilogus zugrunde legt. Herzensreinheit geht voran, dann erst folgt das
Almosengeben, dem hier allerdings noch - eine Äußerung besonderer Demut
des Autors - das Dichten untergeordnet wird:
Daß die hier erkennbare Dreiteilung tatsächlich eine Stufung der Verdienst-
lichkeit ausdrückt, wird in den folgenden Versen ganz klar. Prudentius unter-
scheidet in Anlehnung an 2 Tim. 2, 20 dreierlei Gefäße aus verschiedenem
Material: aus Gold, Bronze, Ton (15/17) bzw. Silber, Elfenbein, Holz (18/
20). Beide Reihen entsprechen der Wertordnung: Tugend, Almosen, Poesie.
Vgl. R. Henke, Studien zum Romanushymnus des Prudentius, Frankfurt/Bern/
New York 1983, 63ff. Für uns ist hier nur wesentlich, daß die Unterstützung
der Armen der Heiligkeit (vgl. V. 9) bzw. den Gaben eines reinen Herzens
(vgl. V. 3f. dona conscientiae, Quibus beata mens abundat intus) eindeutig
untergeordnet wird. Denn die Gestalten, die in der Psychomachie auf Seiten
des Guten kämpfen, sind ja - ausgenommen eben die Operatio - tatsächlich
allesamt identisch mit jenen dona conscientiae, die Vers 2 des Epilogus bei-
spielhaft nennt (Fides und Pudicitia der Psychomachie finden darin sogar wört-
liche Entsprechungen). Daher stimmt es vollkommen, wenn Operatio als dem
Range nach (militiae gradu) letzte, unterste, geringste (postrema) vorgestellt
wird. Auf die Haupttugend der Caritas und das Hohe Lied der Liebe im ersten
Korintherbrief hätte Lavarenne hier nicht verweisen dürfen. Sie wird in der
Psychomachie nicht durch die Operatio, sondern durch die Concordia vertre-
ten, deren Hymnus auf den Frieden (psych. 769ff. pax plenum virtutis opus ...
eqs.) den paulinischen Lobpreis der Liebe nachformt; vgl. dazu meine Studien
zur Psychomachie des Prudentius 4Iff. Auch grammatisch wird die Stelle nun
klar, weil sed seinen vollen (adversativen) Sinn erhält. Es ergibt sich ein aus-
gewogenes Urteil über die Operatio: letzte zwar an Rang, aber doch (in
198 Prudentiana II. Exegetica [83/84]
diesem Fall) die einzige, die der gegnerischen Kriegslist ein Ende bereiten
kann4. Denn ob nun Geiz oder Sparsamkeit: ist das Geld fortgegeben, hat der
Spuk sein Ende. Daß dies der Dichter meint, zeigt die folgende Beschreibung
der Operatio (577ff.): omne onus ex umeris reiecerat, omnibus ibat Nudata
induviis ... eqs. Zwar ist niemand so reinen Herzens, daß er nicht die sühnen-
de Kraft des Almosens bitter nötig hätte (vgl. Cypr. de opere et eleemosynis 3,
dazu Helene P6tre, Caritas, Louvain 1948, 248; W. Schwer, Almosen, RAC
1, 1950, 306), aber das widerspricht nicht der Lehre, daß Operatio dort, wo
sie allein auftritt, also gewissermaßen für sich genommen wird, weniger be-
deutet als diejenigen Gestalten, welche das pectus purum atque immaculatum
(Cypr., a.O.) repräsentieren. | Es mag sein, daß die moderne Bewertung
sozialer Leistungen das Verständnis solcher Betrachtungsweise erschwert.
3. Tit. I
Es ist schwer, von dem Gemälde oder Mosaik eine bestimmte Vorstellung zu
gewinnen, zu dem diese Zeilen als Beischrift hätten treten können (daß die
prudentianischen Tetrasticha insgesamt nicht Erläuterungen für einen tatsäch-
lichen Bildzyklus liefern sollen, steht mir aus anderen Gründen fest, doch gehe
ich auf diese weitreichende Frage hier nicht ein). Das liegt eben daran, daß
Prudentius sich eine bestimmte Idee von dem Geschehen des Sündenfalls machte
und diese Idee wiederum sprachlich auf eine so stark bildhafte Weise aus-
drückte, daß sich sein Epigramm auch als Bild gewissermaßen verselbständigt.
Diese Idee, diese Anschauung des Ereignisses ist die totale Veränderung, wel-
4 Die Tatsache, daß Operatio die letzte ist, die in offener Feldschlacht auftritt, kann,
wenn sie überhaupt mit jener Angabe in Zusammenhang steht, nur der episch-technische Aus-
druck eben ihres untersten Ranges (gradus) sein, keinesfalls ihres höchsten, da die beiden höch-
sten Ränge bereits an Fides und Concordia vergeben sind: Fides eröffnet den Kampf, Concordia
beschließt ihn; die beiden stehen nach dem Sieg als "heiliges Paar" auf dem Tribunal (psych.
734ff.).
[84/85] VIII. Prudentiana 199
che die Sünde im Menschen bewirkt, ausgedrückt hier durch die Verfärbung
von Weiß zu Schwarz. Die totale Veränderung stellt den "lichten Punkt" des
Epigramms dar, um mit Herder zu sprechen: "den lichten Gesichtspunkt, aus
dem der Gegenstand gesehen werden soll" (J.G. Herder, Anmerkungen über
das griechische Epigramm, 2. Teil, 17962 = Herders sämtliche Werke, hrsg.
von B. Suphan, 15, 376). Er fällt hier, wie öfters bei Prudentius und in der
christlichen Epigrammatik, mit der spirituellen Bedeutung des Ereignisses oder
des Gegenstands zusammen, auf die der Dichter hinarbeitet. Dabei geht er
aber nicht allein vom Farbkontrast Weiß/Schwarz aus, wie er auch < in dem
allerdings unechten Vers> ham. 156 vorliegt (quique bona infecit vitiis et
Candida nigris), sondern von der Anschauung eines physischen Vorgangs, den
er als analogisch im Hinblick auf einen geistlichen auffaßt. Als Folge eines
Giftmords treten am Körper des Opfers schwärzliche Verfärbungen auf (livores:
Quintil. decl. 15, 4; Suet. Cal. 1, 2). Das sind die indicia et vestigia veneni \
(Cie. Cluent. 30), veneficii signa (Tac. ann. 2, 73), und sie meint Juvenal 1,
72: nigros efferre maritos. Vgl. Serv. Aen. 4, 514: ... quia nigrifiunthomines
post venenum. Nero versuchte, die Anzeichen des Giftmords an Britannicus
dadurch zu verdecken, daß er die Leiche mit Gips einschmieren ließ (έπειδή
πελιδνός ύπό του φαρμάκου έγενήθη: Dio Cass. 61, 7, 4). Die Symptome
sind so gewöhnlich, daß die Farbbezeichnung in der Poesie auf das Gift selbst,
den Giftbecher, die vergiftete Speise usw. übertragen wird: Ov. met. 2, 198
nigri... veneni (vgl. 1,444per vulnera nigra venenö)\ Prop. 2,27, 10pocula
nigra; Juv. 6, 631 livida ... adipata veneno. Ich vermisse einen Hinweis auf
diesen Sachverhalt bei R. Pillinger, Die Tituli historiarum ... des Prudentius,
Wien 1980 (= Österreich. Akad., Phil.-Hist. Kl., Denkschriften, Bd. 142)
20f.; denn es ist sicher, daß Prudentius ihn vor Augen hatte. In dieser Analo-
gie gründet die Bildlichkeit des Epigramms und damit auch seine innere Ein-
heit. Denn wenn auch zwischen den drei ersten Versen (umschlossen von den
Namen Eva ... Adam) und dem vierten eine absichtliche Fuge besteht, so ist
doch die letzte Zeile von den voraufgehenden nicht in der Weise abzusetzen,
wie Pillinger will: sie versteht Vers 4 als Hinweis auf die "Darstellung" (in
Malerei, Mosaik), während die Verse 1/3 auf "die biblische Geschichte in
Prudentianischer Exegese" zu beziehen seien. Solche Trennung erscheint gekün-
stelt, und auch aus dem Tempuswechsel (Pillinger: "fiiit, tinxit, aber dot = praes.
historicum") ist nichts zu machen, da die Partikel tunc, deinde, mox eine zu-
sammenhängende Zeitenfolge ergeben, welche die Abtrennung des letzten Ver-
ses nicht duldet. Die Bekleidung (V. 4) ist vielmehr - mit Verschiebung der
Bedeutungsebenen - die Folge der Befleckung und Beschmutzung (V. 1/3),
200 Prudentiana II. Exegetica [85/86]
die verdeckt werden soll. Tegmina hat seinen prägnanten Sinn, ebenso an der
Parallelstelle cath. 3, 116ff.:
Dedecus - das ist im Epigramm eben die Verfärbung. Der Titulus ist bildhaf-
ter und kühner, indem er die (äußere!) Bekleidung unmittelbar aus der An-
schauung der (inneren!) Befleckung hervorgehen läßt. Die psychologische Be-
gründung (pudor im Hymnus) ist darin mitgegeben, auch wenn der Satan V. 4
| selbst als Handelnder auftritt (hierüber Pillinger, a.O. 21 und zuletzt J.L.
Charlet, Prudence et la Bible, RecAug 18, 1983, 25f.). Noch ein Wort zu
columba (V. 1). Gesucht ist nicht nur der Gegensatz von Taube und Schlange,
Einfalt (Unschuld) und Tücke. Der Dichter verhindert durch die Angabe: Eva
columba fuit... eqs., daß das Bild der Schwärzung irgendwie auf die äußere
Person der Stammutter bezogen wird, da sonst das Ganze leicht ins Abstruse
oder Komische hätte abgleiten können. Er hebt das Geschehen gleich eingangs
auf die geistliche Ebene (über Taube und Seele vgl. Pillinger, a.O. 20). Erst in
der dritten Zeile gibt er diese Vorsicht auf: (Eva) tirvcit... Adam. Die geistli-
che Tiefe der Verfärbung bleibt zwar auch hier durch die Adjektive innocuum
... sordentibus gewahrt, zugleich aber wird die Analogie zu jenem physischen
Vorgang kräftiger unterstrichen (tinxit... maculis), so daß der Schritt zu den
tegmina und damit in den Bereich des Körperlichen (vgl. nudisl) vorbereitet
ist. Es ließen sich noch weitere Feinheiten des Stücks bemerken. Etwa solche
der Wortstellung. Man achte nur auf das harte Zusammentreffen der Farbwörter
in V. 1, das durch den Chiasmus: (fuit) tunc Candida, nigra deinde (facta)
erreicht wird. Oder auf den parallelen Bau der mittleren Verse, der den Zu-
sammenhang der Vorgänge zu unterstreichen scheint. Oder auf die Sperrung
draco ... victor zum Schluß, die so etwas wie "den letzten scharfgenommenen
Punct" der Wirkung (Herder) bietet. In der Wortwahl fällt das schöne dichte-
rische Adjektiv malesuada auf, das Prudentius hier wie an der Parallelstelle
(cath. 3, 113) für passend erachtete. Doch es braucht vielleicht nicht alles
ausgesprochen zu werden! Das Epigramm offenbart im Ganzen und im Ein-
zelnen die christliche Nutzung einer literarischen Gattung und der in ihr be-
schlossenen Möglichkeiten des Ausdrucks. Unter diesem Gesichtspunkt müs-
sen die prudentianischen Tituli betrachtet werden.
IX.
oder der Protokolle einer Verhandlung. Es ist klar, daß hier Züge der Münd-
lichkeit etwas ganz anderes sein können als im Falle eines anspruchsvollen,
hochliterarischen Dichtertexts. Solche Spuren lebendiger Rede, wie sie sich
zum Beispiel dadurch herausbilden |, daß der Autor diktiert oder auf eine
niedere Sprachebene seiner Hörer Rücksicht nimmt1, dürfen in der Poesie
nicht gesucht werden. Die Spätantike bietet Dokumente für beide Arten der
Mündlichkeit. Manche Märtyrerakten, Predigten und Protokolle können wir
ganz oder teilweise jener zweiten Art zuschlagen, aber die Hauptmasse der
literarischen Texte gehört, wie sonst auch, in jenen anderen Bereich des Münd-
lichen, der überhaupt zunächst als der weitere erscheint. Denn alles oder na-
hezu alles, was wir von der antiken Literatur besitzen, ist mündlich im Sinne
der Bestimmung, weil fast alles für das Ohr verfaßt ist. Grade oder Stufen der
Mündlichkeit ergeben sich hier durch die vom Autor in Aussicht genommene
Gelegenheit des Vortrage: aufsteigend von der Lektüre zur Rede, zur Rezita-
tion, zum Gesang, zum Schauspiel. Aber, wie gesagt, die Unterscheidung darf
nicht allzu scharf genommen werden, ist doch jedes literarische Werk, unab-
hängig von seiner Bestimmung, immer auch schon dem Ursprung nach etwas
Lauthaftes, so daß wiederum - unter diesem Blickwinkel - eine 'ursprüngli-
che' Mündlichkeit zugleich das Umfassendere und Allgemeinere darstellt. Das
soll gleich mein erstes Beispiel (I) vorführen.
ι Hier nur eine Einzelheit. Augustinus verdeutlicht das Wort veneficia in einer Predigt,
um einem Mißverständnis vorzubeugen: veneficia, non beneficia, id est, non a bonis dicta, sed
a venenis (serm. 163, 2: PL 38, 890). Vulgärlateinische Aussprache erklärt das; ν kann für b
stehen, auch im Anlaut (vene statt bene auf Inschriften, vgl. E. Kieckers, Histor. lat. Gramma-
tik 1, München 1931, 120). Vgl. im übrigen P. Charles, L'element populaire dans les sermons
de Saint Augustin: Nouvelle Revue th6ologique 69, 1947, 619/50.
[238/239] IX. Züge der Mündlichkeit 203
- und bisweilen vielleicht auch nicht sehr erheblich - , ob derlei tatsächlich und
unter den Umständen, die der Text vorauszusetzen scheint, zu Gehör gebracht
wurde oder nicht. Daher die vielen Fälle, die wohl für immer im Halbdunkel
zwischen Text und Rede verbleiben werden. Immerhin läßt sich diese Unsi-
cherheit in dreien der vier folgenden Kapitel (II, III und IV) überwinden. |
I.
Während ich dies schreibe oder sprechend bilde, daß ich doch
befreit von den Fesseln des Leibes emporführe, dorthin, wohin
mich die regsame Zunge mit ihrem letzten Laute trägt!
Bis zum letzten Atemzuge also will Prudentius dichten: bei der Arbeit, so
wünscht er, möge ihn der Tod treffen, bei der Arbeit möge seine Seele zu Gott
2 Vgl. Ch. Gnilka, Zur Praefatio des Prudentius: Filologia e forme letterarie. Studi offerti
a Francesco Deila Corte 4, Urbino o.J. [1988] 231/51, bes. 248/51 [ = Prudentiana I 138/57,
bes. 154/57],
204 Prudentiana II. Exegetica [239/240]
auffahren, auf den seine Poesie sich richtet, so daß Dichterseele und Dichter-
stimme gleichsam dasselbe Ziel haben. Eine gewisse innere Spannung wird
fühlbar. Der Dichter wird einerseits vom Leib befreit, andererseits durch die
Zunge emporgetragen. Die Aussage schwebt zwischen Anschauung und Ge-
danken. Dennoch liefert die Strophe ein schönes und klares Zeugnis dafür,
daß die elocutio laut geschah: für das laute Lesen bestimmt, wurde antike
Literatur laut geformt - oder doch unter ständiger Prüfung des Geschriebenen
mit Hilfe der Stimme3. Anders macht der Text, namentlich der letzte Vers des
Gedichts, keinen Sinn. |
Fragen wir uns, welche Züge der prudentianischen Poesie solche Ar-
beitsweise und Zweckbestimmung erkennen lassen, so erteilt uns die zitierte
Strophe selbst eine Antwort. Dionys v. Halikarnaß hebt den Wohllaut des λ
hervor: ήδύνει ... αυτήν (sc. την άκοήν) τό λ και εστι των ήμιφώνων
γλυκύτατο ν ... κτλ. 4 Norden zitiert als Beispiel dafür den Vergilvers, der
ausdrückt, wie Aeneas in der Unterwelt Didos Herzensverhärtung zu lindern
sucht: ... lenibat dictis animum lacrimasque ciebat (Aen. 6, 468)5. Ein noch
eindrücklicheres Beispiel wäre unsere Prudentiusstrophe mit ihrem Vokal-
reichtum und der absichtsvollen Häufung des l in der letzten Zeile: Liber quo
tulerit lingua sono mobilis ultimo. Indem von der lingua mobilis die Rede ist,
wird gleich demonstriert, worin ihr Anteil an der kunstgemäßen Formung der
Gedanken (elocutio) besteht. Auf Schritt und Tritt läßt sich das Streben nach
Klangwirkungen bei den antiken Dichtern beobachten, und Prudentius steht
den Klassikern darin nicht nach. Nur bei lautem Vortrag hört man das Zischen
der Schlange in dem Vers: Seps insueta subit serpere flexibus (c. Symm. 1
praef. 74), und wer über die Zeile: In morem recinens suave inmorientes oloris
(ebd. 1, 63) nur die Augen gleiten läßt, wird zwar vom Gesang des sterbenden
Schwans lesen, aber ihn nicht durch die Dichterworte hindurch hören. Nur hören
kann man auch Hannibals Hiebe gegen die Stadttore, hart und dumpf zugleich:...
ille petitae Postquam perculerat tremefacta repagula portae ... eqs. (ebd. 2,
3 Eine hübsche Bestätigung der Sache, freilich ins Satirische gewendet, ergibt sich durch
eine Szene bei Petron (115, 1/5). Der Dichter Eumolpus sitzt bei einem Schiffbruch unter der
Kapitänskajüte und murmelt, während er Verse aufs Pergament wirft, so laut vor sich hin, daß
es sich anhört, als brülle ein gefangenes Tier. Die Stelle ist besprochen bei Balogh, "Voces
Paginarum" (s. Anm. 6) 213f.; vgl. auch G. Vogt-Spira, Indizien fiir mündlichen Vortrag von
Petrons "Satyrica", in: Ders. (Hrsg.), Strukturen der Mündlichkeit in der römischen Literatur,
Tübingen 1990 = ScriptOralia 19, 183/92, hier 184.
4 Dionys. Hai. comp. 14, 54 p. 165 Usener/Radermacher = 14, 19 p. 107 Aujac/Lebel.
5 Vgl. Norden, Komm, zu Aen. VI p. 255 z.St.
[240/241] IX. Züge der Mündlichkeit 205
6 Aug. conf. 6, 3, 3 über St. Ambrosius. Dieses eindrucksvolle Zeugnis (vgl. Norden,
Antike Kunstprosa 1, 6) stellt J. Balogh, "Voces paginarum": Philol. 82, 1927, 84/109; 202/40
seiner Sammlung einschlägiger Belege voran, welche die Gewohnheit lauten Lesens in der An-
tike deutlich bekunden - trotz der einschränkenden Feststellungen bei B.M.W. Knox, Silent
Reading in Antiquity: Greek, Roman and Byzantine Studies 9, 1968, 421/35.
7 Aug. mus. 2 , 2 (PL 32,1 lOOf.). Vgl. dazu Η. Koller, Die Silbenquantitäten in Augustinus'
Büchern De musica: Mus. Helv. 38 (1981) 262/67.
8 Zur lauten Lektüre der Poesie vgl. noch die von Balogh, "Voces paginarum" (s. Anm.
6) 211 beigezogene Stelle aus Augustins Brief an Licentius (epist. 32, S: CSEL 34, 2, 13) und
besonders Hier, epist. 21, 13,4 (CSEL 54,122). Hieronymus deutet die 'Schoten' im Gleichnis
vom Verlorenen Sohn (Lc. 15, 16) auf das Wortgetön der heidnischen Literatur (carmina poeta-
rum, saecularis sapientia, rhetoricorumpotnpa verborum) und fährt fort: haec sua omnes suavit
delectant et dum aures versibus dulci modulatione currertiibus capiunt, animam quoque p
trant et pectoris interna devinciunt. verum ubi cum summo studiofiierintac labore ρ erleet α
nihil aliud nisi inanem sonum et sermonum strepitum suis lectoribus tribuunt; nulla ibi
saturitas veritatis ... eqs. Der Reiz der Verse, die in süßer Modulation dahineilen, kann nur
deswegen verführerisch auf Ohr und Herz des Lesers (!) wirken, weil sie beim Lesen vernehm-
lich erklingen, ja sogar, wie der Kirchenvater hier meint, nichts als leeres Wortgeklingel sind.
9 Norden, Komm, zu Aen. VI p. 427 über solche Fälle "mit malerischer Absicht".
206 Prudentiana II. Exegetica [241/242]
Das sind alles bekannte Dinge, die ich hier nur im Zusammenhang mit der
späten Dichtung in Erinnerung bringe. Denn welche Bedeutung der mündliche
Vortrag auch für sie hatte, läßt sich eben aus der Gleichheit der Mittel ermes-
sen. Er würde dem Vergil einige Verse stehlen, pflegte der Dichter Julius
Montanus zu sagen, wenn er ihm zugleich auch Stimme, Mienenspiel und
Gestik rauben könne: eosdem enim versus ipso pronuntiante bene sonare, sine
illo inanes esse mutosque (Seneca bei Sueton-Donat Vita Verg. 29). Wieviel
muß es sein, was uns da verloren geht, gewiß auch im Falle des Prudentius!
Wir wissen nichts über Rezitationen der prudentianischen Gedichte. An
seine Hymnen knüpft sich die Frage, ob sie für den Gesang, vielleicht gar für
liturgische Zwecke gedacht gewesen seien. Die Frage ist schwierig und sicher
nicht für alle Stücke in der gleichen Weise zu beantworten. Gesanglicher Vor-
trag bleibt immer möglich, wie etwa auch im Falle der horazischen Lyrik.
Aber liturgische Verwendung ist doch noch etwas anderes. Feststeht freilich,
daß Teile des Liber Cathemerinon und, in geringerem Umfang, auch Lieder
aus der Sammlung Peristephanon im Mittelalter mit Neumen versehen, also
für liturgischen Gesang | bestimmt waren10. Andererseits fallen die Gedichte
meist recht lang und anspruchsvoll aus. Auch ist die Situation, die der Dichter
selbst annimmt, nicht einheitlich. Das erste Märtyrergedicht etwa ist als regel-
rechtes Festlied konzipiert und gibt dieser Situation auch im Text Ausdruck
(per. 1, 118/20, vgl. per. 3, 206/10). Daß die angenommene Situation der
tatsächlichen Bestimmung des Lieds entsprechen muß, ist damit aber auch
noch nicht erwiesen. Von einem Gedicht vollends wie dem Hymnus omnis
horae, der mit der Aufforderung des Dichters beginnt, der Knabe möge ihm
das Piektrum reichen (cath. 9, Iff.):
Gib mir, Knabe, das Piektrum, auf daß ich in gläubigen Trochäen
ein süßes und melodisches Lied singe: Christi herrliche Taten!
Ihn allein soll meine Muse rühmen, Ihn meine Lyra loben,
kann man sich nur mühsam vorstellen, daß es vom Autor selbst sollte irgend-
wie für den Kirchengesang gemacht worden sein - trotz der mittelalterlichen
Neumen - , zumal Musikinstrumente im frühchristlichen Gottesdienst verpönt
waren11. Wohl aber setzen die prudentianischen Hymnen die Existenz eines
Kirchengesangs und einer zugehörigen Hymnendichtung voraus, deren künstleri-
sche Steigerung sie darstellen - etwa ebenso wie Prudentius' Tituli, die Bei-
schriften zu einem Bildzyklus fingieren12, nicht denkbar wären, wenn nicht
tatsächlich Bildepigramme am Gewände christlicher Bauten gestanden hätten.
II.
11 J. Quasten, Musik und Gesang in den Kulten der heidnischen Antike und christlichen
Frühzeit, Münster 1930 = Liturgiegeschichtliche Quellen und Forschungen 25,103/10. Zusätz-
lich kann ich auf meine Studie "Missiologische Probleme der frühen Kirche" verweisen: Musicae
Sacrae Ministerium 25, 1988, 37/58.
12 Im Ganzen richtig G. Bernt, Das lateinische Epigramm im Übergang von der Spätantike
zum frühen Mittelalter, München 1968, 72 - trotz Renate Pillinger, Die Tituli Historiarum ...
des Prudentius, Wien 1980, 12/15, u.ö.
208 Prudentiana II. Exegetica [243/244]
13 Hier. inGal. 2 praef. (PL 26,380): Hilarius... in hymnorum carmine Gallos indociles vocat.
14 Hier. vir. ill. 100: est eius ...et Uber hymnorum. Ihre Bestimmung für den Volksgesang
bezeugt Hil. hymn. 1, 9/12. Das Thema des Hymnenbuchs (die orthodoxe Christologie) kündet
ein vorangestellter Zweizeiler an, zugleich ein Makarismos auf David. Zu den Texten s. folgen-
de Anmerkung.
15 Vgl. A. Feder: CSEL 65, 1916, praef. p. LXX; die Hymnen hier p. 208/16 und bei W.
Bulst, Hymni latini antiquissimi, Heidelberg 1956, p. 31/35. Dazu ein hymnus dubius p. 217ff.
Feder; dieser allein bei A. S. Walpole, Early Latin Hymns, Cambridge 1922 (Hildesheim 1966) p.
5/15.
16 Vgl. F. Homes Dudden, The Life and Times of St. Ambrose 1, Oxford 1955, 270ff.
(über die Kirchenmusik 293/97).
π Ambros. serm. c. Auxentium epist. 75a (21a Maur.), 34 (CSEL 82, 3, p. 105).
18 Über das Echtheitsproblem s. etwa Walpole, Early Latin Hymns (s. Anm. 15) 17/27.
[244/245] IX. Züge der Mündlichkeit 209
19 Seneca verwendet den Dimeter stichisch (in den Cantica der Tragödien), Horaz hat ihn
nur in Verbindung mit dem Trimeter oder Hexameter (in den Epoden).
20 Walpole, Early Latin Hymns (s. Anm. 15) 23.
21 Ch. Gnilka, Ein Zeugnis doppelchörigen Gesangs bei Prudentius: JbAC 30, 1987, 58/
73, bes. 63f. und 70/73 mit der dort genannten Literatur [in diesem Bande S. 170/91, bes. 177/
79 und 187/91]; dazu Quasten a.O. 232f.
210 Prudentiana II. Exegetica [245/246]
Hymnus ist das Ergebnis einer schöpferischen Leistung, das der Kunst noch
genügenden Spielraum läßt, aber der Bestimmung der Lieder, dem Gesang in
der Basilika, klug Rechnung trägt.
III.
Wir wissen, daß Vergil mit seiner wunderbaren Stimme die Georgica
vor Augustus las und ebenso die Bücher II, IV und VI der Aeneis; daß Asinius
Pollio im augusteischen Rom die öffentlichen Rezitationen einführte und daß
diese Sitte sich bereits in der frühen Kaiserzeit so verbreitet hatte, daß sie von
den Hörern als drückende Verpflichtung des gesellschaftlichen Lebens emp-
funden wurde22. Aber wir besitzen aus den ersten Jahrhunderten kein Zeugnis
dafür, daß die Rezitation selbst ein Thema des rezitierten Gedichts bildete.
Keiner der rezitierenden Dichter scheint auf den Gedanken verfallen zu sein,
Anlaß, Ort und Publikum des ersten Vortrags in seine Poesie einzubeziehen
und dem rezitierten Werk einzugliedern. Soweit wir sehen, war Claudius
Claudianus der erste, der das tat. Er schrieb etwa gleichzeitig mit Prudentius
(zwischen 395 und 404), ist aber von ihm in vielfacher Hinsicht geschieden.
Prudentius schafft aus der Glut seines christlichen Glaubens, Claudian aus der
Begeisterung für Schönheit und Größe antiker Kultur; Politik spielt bei Pru-
dentius, aufs Ganze gesehen, nur eine Nebenrolle, für Claudians Invektive,
Epik und Panegyrik ist sie wesentlich; wir hören nichts von einer Verbindung
des christlichen Dichters mit den mächtigen Männern seiner Zeit, Claudian ist
der Herold der Taten Stilichos und steht zu Häuptern des senatorischen Adels
in bestem Verhältnis; eine Ehrung wurde Prudentius anscheinend nicht zuteil,
Claudian erhielt eine Bronzestatue auf dem Trajansforum (Get. praef. 7/14),
deren Steinsockel griechische Verse trägt, die ihn als Vergil und Homer prei-
sen (CIL 6, 1710). Prudentius endlich verstand seine Dichtung als Opfer für
Gott (epil. 1/10), sein Dichterdasein als asketische Lebensform, die er nicht
unbedingt im Kloster, sicher aber in Stille und Zurückgezogenheit | zu verwirk-
lichen gedachte. Claudian dagegen ist Hofdichter inmitten höfischen Prunks,
er tritt auf in den Palästen Roms und Mailands und läßt sich vor erlauchtem
Publikum, vor Kaiser, Kaiserhof und Senat, hören. Zur Rezitation der clau-
dianischen Gedichte, zur Situation des Vortrags, für den sie geschrieben wur-
den, gehört nicht nur der akustische Eindruck, sondern auch der visuelle: die
Prachtentfaltung spätantiken Baudekors und der Prunk des Hofs und der römi-
schen Aristokratie. Von den bunten Marmorplatten hallte die Stimme des rezitie-
renden Dichters wider, wie das schon der Satiriker Juvenal spöttelnd und
übertreibend von der Rezitation in vornehmem Hause schildert: ... convulsaque
marmorn clamant Semper et adsiduo ruptae lectore columnae (Juv. sat. 1,12f.).
Aus dieser Situation sind die claudianischen 'Praefationes' geboren,
metrisch selbständige Stücke in elegischen Distichen, die den großen hexame-
trischen Gedichten jeweils voraufgehen. Die meisten nehmen direkt auf die
Situation des ersten Vortrags Bezug oder haben sie sogar zum einzigen In-
halt23. Wenn auch die literarische Form der poetischen 'Praefationes' mehrfa-
che Wurzeln besitzt24 - bei Prudentius, der sie auch hat, dienen sie anderen
Zwecken - , so ist doch eben offenkundig, daß sie bei Claudian mit der ersten
Rezitation der Gedichte zusammenhängen und sozusagen ein formgeschichtliches
Ergebnis des antiken Rezitationswesens darstellen. Publikum, Anlaß und auch
Ort des Vortrags gewinnen für den Dichter solche Bedeutung, daß der äußere
Rahmen auch im Werk eine Entsprechung finden und festgehalten werden
muß. Daß der Rahmen so wichtig erscheint, liegt einmal an dem Rang der
Hörer und den Huldigungsabsichten des Poeten, zum anderen an der zeitge-
schichtlichen, politischen Thematik der Poesie. Zwischen dem Rahmen und
dem nachher ausgeführten Bilde bestehen harmonische Übergänge.
Als Beispiel mag hier die Praefatio zum Preisgedicht auf das sechste
Konsulat des Kaisers Honorius stehen (rezitiert zu Anfang des Jahres 404 in
Rom). Der Dichter variiert den Gedanken, daß die Beschäftigungen, Leiden-
schaften und Leiden des Tages in unseren Träumen fortwirken (V. 1/10). So
sei es auch ihm ergangen, die Liebe zu den Musen lasse ihm auch des Nachts
keine Ruhe: ihn träumte, er stehe inmitten des bestirnten Himmels zu Füßen
23 Vgl. die Praefationes zu Ruf. 1 und 2; III cons.; Theod.; Stil. 3; Get.; VI cons. Nicht
allen Werken und nicht allen Büchern sind Praefationes vorangestellt; so hat von den drei Bü-
chern De consulatu Stilichonis nur das letzte eine Praefatio. Aus der Art schlägt Eutr. 2 praef.;
hierzu vgl. Ch. Gnilka, Dichtung und Geschichte im Werk Claudians: Frühmittelalterliche Stu-
dien 10, 1976, 96/124, bes. 107/11.
24 S. Döpp, Zeitgeschichte in Dichtungen Claudians, Wiesbaden 1980 = Hermes Einzel-
schriften 43, 6 14. Ferner: A. Cameron, Claudian, Oxford 1970, passim (dazu Gnomon 49,
1977, 26/51, bes. 44), wo der Hinweis auf Johannes v. Gaza und den rhetorischen Betrieb
besondere Beachtung verdient ('78).
212 Prudentiana II. Exegetica [246/247]
Jupiters, er | bringe seine Verse zu Gehör, ein Lied über den Sieg der Götter
im Gigantenkampf, und der Reigen der Götter ringsumher spende ihm Beifall
(V. 11/20). Und dann weiter (V. 21/26):
Mit der Huldigung an den Kaiser und das Publikum der Rezitation verbindet
sich hier der Vorverweis auf das Hauptthema des Gedichts, den Sieg Stilichos
über die Westgoten bei Verona, der durch den angedeuteten Vergleich mit
dem Triumph der Götter über die Giganten mythisch überhöht wird. Es bleibt
überhaupt zu bedenken, daß die claudianischen Praefationes, obschon sie der
situationsbedingten Rahmung der ersten Rezitation dienen, dennoch feingear-
beitete Kunstwerke darstellen, mit dem Hauptgedicht zusammen zur Dauer
bestimmt sind26 und daher auch in die antike Ausgabe der Carmina maiora27
aufgenommen wurden.
25 Nach Vergil Aen. 6, 893ff. (die beiden Tore der Träume: das aus Horn fiir die wahren,
das elfenbeinerne für die falschen).
26 Vgl. M. Fuhrmann, Mündlichkeit und fiktive Mündlichkeit in den von Cicero veröffent-
lichten Reden, in: Strukturen der Mündlichkeit (wie oben Anm. 3) 53/62, hier 53/56: durch die
Kunst wird das Einmalige ins Allgemeine erhoben, durch die literarische Qualität wird die
Einmaligkeit aufgehoben.
27 Uber sie Th. Birt: MGH a.a. 10,1892, praef. p. LXXVI sq. Der neue Editor Claudians,
J.B. Hall (Leipzig: Teubner 1985), macht sich von den Verhältnissen ein anderes Bild, vgl.
dens., Prolegomena to Claudian, London 1986, 57ff. Ob zu Recht, brauchen wir hier nicht zu
fragen. Meine "Beobachtungen zum Claudiantext" waren jedenfalls für ihn fast ganz umsonst
geschrieben (Studien zur Lit. der Spätantike, hrsg. von Ch. Gnilka und W. Schetter, Bonn 1975
= Antiquitas, Reihe 1, Bd. 23, 45/90 [=Prudentiana I 16/67]).
[247/248] IX. Züge der Mündlichkeit 213
Wenn nun die Gedichte Claudians, deren Ausrichtung auf den mündli-
chen Vortrag zu festlichem Anlaß solchermaßen bezeugt ist, sonst weiter kei-
nen sonderlichen 'rezitativen' Charakter an sich tragen - es sei denn, man
wertete das Übergewicht der eingelegten Reden in diesem Sinne, wobei frei-
lich zu bedenken bliebe, daß Reden schon in der Epik der silbernen Latinität
stark hervortreten28 - , so folgt daraus nicht etwa, daß sie schließlich doch ohne
Rücksicht auf die Rezitation verfaßt seien, ihre 'Mündlichkeit' vielleicht doch
nur fingiert sei, | sondern das Umgekehrte: der Umstand beweist nur, wie
sehr alle Literatur, die wir überhaupt vergleichen können, den Erfordernissen
lauten Sprechens und mündlichen Vortrage angepaßt ist.
IV.
28 W. Kroll, Studien zum Verständnis der röm. Literatur, Stuttgart 1924, 219.
29 Parallelen und Literatur bei Leeman-Pinkster im Kommentar (1, 160) zur Stelle. Über
den Nutzen der Dichterlektüre für den Redner s. bes. Quintil. inst. 10, 1, 27/30.
30 Vgl. M. Citroni zu Mart, epigr. 1, 35, 2 (M. Valerii Martialis epigrammaton über
primus, Firenze 1975, p. 116); Friedländer, Sittengeschichte 102, 190ff.; Marrou, Geschichte
der Erziehung 407f. Bezeichnend etwa noch Macrob. sat. 1, 24, 5 (Vergiliani versus) qualiter
eos pueri magistris praelegentibus canebamus (Worte des Redners Q. Aurelius Symmachus).
214 Prudentiana II. Exegetica [248/249]
31 Dazu tritt hier Sallust: Auson. protr. ad nepotem V. 46/65 (p. 263f. Peiper; p. 75f.
Prete). Solche Anweisungen bezeugen das Fortleben jener schulmäßigen Pflege der pronuntiatio,
die wir besonders durch Quintilian inst. 11,3 kennenlernen; vgl. H.A. Gärtner, Die Gesten in
der Darstellung. Beispiele zur Bedeutung des mündlichen Vortrages für das Verständnis der
römischen Historikertexte, in: Strukturen der Mündlichkeit (wie oben Anm. 3) 97/116, hier 97/99.
32 Vgl. D. Comparetti, Virgilio nel Medio Evo. Nuova edizione a cura di G. Pasquali,
Firenze 1937, 75f. Die ersten Kapitel des Buchs bieten überhaupt eine vorzügliche Darstellung
der Verhältnisse.
33 Don. Aen. 1 prooem. (vol. 1, p. 4, 24ff. Georgii).
34 Entsprechende Hinweise fehlen auch bei Servius nicht, vgl. etwa Serv. Aen. 9, 479 (2,
p. 351 Thilo): est conquestio matris Euryali plena artis rhetoricae; sie zeige alle Regeln, die
Cicero in den rhetorischen Schriften zwecks Erregung des Mitleids aufstelle. In diesen Zusam-
menhang gehören auch Einzelanweisungen über sinngemäßen Vortrag, vgl. z.B. Don. Aen. 2,
44 (1, p. 153, 4f. Georgii): Dornum sie pronuntiandum est atque setUiendum, quasi omnes
essent versuti et insidiosi. Und gleich darauf (Don. Aen. 2,48: ebd. p. 153, 22ff.): quod cum ita
sit, separandum est aut et sie dicendum aliquis lotet error equo, ut de eo quod fiiit incertus
iudicasse videatur... eqs.
[249/250] IX. Züge der Mündlichkeit 215
Aus diesem großen Zusammenhang der rednerischen Kultur ist die spät-
lateinische, auch die frühchristliche Dichtung nicht herauszulösen. Sie setzt
die Wirkung der lauten Rede voraus, arbeitet irgendwie immer auf solche
Wirkung hin. Die allgemeinen Mittel, die sie mit antiker Poesie oder Rede
überhaupt teilt, brauchen hier kaum erörtert zu werden. Einiges davon ist
schon berührt worden (s. oben S. 204/06 [240f.] zu Prudentius). Unsere Haupt-
frage muß lauten: welche besonderen Gelegenheiten mündlichen Vortrags bo-
ten sich dieser Dichtung, die ja, zunächst jedenfalls, nicht Schullektüre war,
und welche Züge der Mündlichkeit entsprechen diesen Gelegenheiten und be-
zeugen sie zugleich? Die Merkmale des ambrosianischen Hymnus bezeugen
den Kirchengesang. Die Praefationes Claudians die Rezitation in den Palästen.
In eine andere Sphäre führen uns die Gedichte des hl. Paulinus von Nola. |
Das heutige Dorf Cimitile birgt in seinem Namen noch immer die Erin-
nerung an das coemeterium, aus dem es entstand. Hier, vor den Toren der
antiken Stadt Nola und am Grabe seines Schutzpatrons, des hl. Felix, ließ
sich, wohl i.J. 395, der einstige Statthalter Campaniens Pontius Meropius
Anicius Paulinus nieder, nachdem er sich zu einer vollkommenen Nachfolge
Christi entschlossen, auf eine politische Karriere verzichtet und den gewalti-
gen Grundbesitz seiner Familie großenteils zugunsten der Armen verkauft hatte.
Die Priesterweihe hatte er damals schon empfangen; später, etwa i.J. 409,
wurde er Bischof von Nola und stand seiner Herde in den schweren Zeiten der
Goteninvasion bei. Trotz eines asketischen Lebens in Armut verkörpert er den
christlichen Kulturwillen jener Zeit. Der ehemalige Schüler des Ausonius ist
durchdrungen von der Überzeugung, daß alles Wahre und Schöne, alles Gute
in Kunst, Philosophie, Dichtung zur Ehre Gottes genutzt und damit seiner
eigentlichen Bestimmung zugeführt werden müsse35. Vor allem bemühte er
sich darum, die Verehrung seines Schutzpatrons zu fördern. Er errichtete dem
hl. Felix eine neue Basilica und erweiterte den ganzen Baukomplex um das
Grab (der übrigens jetzt durch eine neue Campagne erforscht wird und gerade
in diesen Tagen die besondere Aufmerksamkeit der christlichen Archäologen
auf sich zieht36). St. Paulinus schmückte die Bauten mit Malereien und Mosai-
ken, zum Teil nach eigenen Entwürfen, und mit selbstverfaßten Inschriften.
Unter seinen Gedichten bilden die sog. Natalicia (carmina) zu Ehren des hl.
Felix eine besondere Reihe. Es sind insgesamt vierzehn Gedichte (die Stücke
Nr. 12/16. 18/21. 23. 26/29 in v. Härtels Ausgabe: CSEL 30,1894) verschie-
denen Umfangs, alle bis auf eines rein hexametrisch37. Natalicia heißen sie,
weil für den Christen der Todestag, besonders der Todestag des Märtyrers
und des Bekenners, der Geburtstag ist. Das Fest des hl. Felix liegt auf dem 14.
Januar, fällt somit in eine Jahreszeit, da noch Winter herrscht, aber bereits der
campanische Frühling winkt; so weht bisweilen Frühlingsahnung durch diese
Januargedichte. Daß sie, die ersten beiden ausgenommen, für die Rezitation
am | Felixtag bestimmt sind, kann kaum bezweifelt werden. Für die meisten
Gedichte sind die Beweise erdrückend38.
Die Anreden an die Zuhörer - St. Paulinus spricht immer nur vom
'Hören' und von den 'Ohren' seines Publikums - gehen deutlich über das
hinaus, was noch im Sinne bloßer Fiktion erklärlich wäre. Zumindest ist der
Befund derartig, daß die Beweislast auf der anderen Seite läge39. Das 18.
Gedicht bietet ein gutes Beispiel: dreimal wird hier in wachsenden Abständen
(18, 8f.; 62/64; 211/16) an die Aufmerksamkeit der Hörer appelliert, das
letzte Mal mit der Versicherung, der Zeitverlust werde für die Zuhörer im
Verhältnis zum Gewinn gering sein (18, 211 f.):
In der Eröffnung eines anderen Natalicium bezeichnet der Autor das ange-
kündigte Gedicht geradezu als series recitanda (20,27): als 'Text, der rezitiert
ses für Frühchristliche Archäologie bilden, der i.J. 1991 in Bonn stattfinden wird. Vgl. auch D.
Korol, Die frühchristlichen Wandmalereien aus den Grabbauten in Cimitile/Nola, Münster 1987
= JbAC Erg.-Bd. 13.
37 In dem langen Gedicht 21 sind zwischen die hexametrischen Teile (1/104; 344/858)
iambische Trimeter (105/271) und elegische Distichen (272/343) gestellt.
38 Allerdings bleibt auch unter diesem Gesichtspunkt die Unterschiedlichkeit der Natalicia
zu bedenken; vgl. etwa P. Fabre, Saint Paulin de Nole et l'amitiö chräienne, Paris 1949, 341/
43. Er rechnet mit einer öffentlichen Lesung der Gedichte vom vierten Natalicium an (carm.
15), für das sechste (carm. 18) stehe sie fest.
39 Ungeachtet der Erfahning, daß sich gerade fiktive Mündlichkeit mitunter besonders
aufdringlich bemerkbar macht: s. J. Blänsdorf, Die Werwolf-Geschichte des Niceros bei Petron
als Beispiel literarischer Fiktion mündlichen Erzählens, in: Strukturen der Mündlichkeit (wie
oben Anm. 3) 193/217. Einige Beispiele für Appelle an den Hörer (außer den oben im Text
genannten): carm. 20, 64; 23, 99f.; 27, 192f.; 241f. Zu vergleichen sind auch Anreden der Art:
ergofideles Cemite nunc animis ... eqs. (carm. 23, 266f.).
[251/252] IX. Züge der Mündlichkeit 217
werden wird'40. Überhaupt benennt der Dichter sein eigenes Tun fast aus-
schließlich mit Verben wie canere, dicere, (pro-)fari, loqui, eloquiu.a., wel-
che die Vorstellung mündlicher Rede erwecken, und wenn auch darauf viel-
leicht nicht viel zu geben ist, so wird doch die 'Mündlichkeit' bisweilen gera-
dezu 'thematisiert'41. Am | schönsten vielleicht zu Beginn des 23. Gedichts (1/
44), wo, wie auch sonst in den Natalicia, eine Art 'Festtagseinstimmung' ge-
boten wird42. 'Der Frühling', sagt der Dichter, 'öffnet den Vögeln die Stim-
men, meine Zunge hat den Geburtstag des Felix zum Frühling' (If. Ver avibus
voces aperit, mea lingua suum ver Natalem Felicis habet, ... eqs.). Das The-
ma wird, christlichem Analogiedenken gemäß, vertiefend fortgeführt und am
Schluß des Prooems, in der an Christus gerichteten Beistandsbitte, wiederauf-
genommen. Der Dichter muß ja seine Festlieder von Jahr zu Jahr variieren,
und so bittet er, Christus möge ihm die Variationskunst des Nachtigallen-
gesangs gewähren (23, 27/44):
40 Dies bedeutet hier das Gerundivum (in Vertretung eines Partizipium Fut. Pass.), s.
Leumann-Hoftnann-Szantyr, Lat. Grammatik 2, S. 394. Vgl. etwaPrud. cath. 1,52 (negan-
dum); 12, 45 (aequanda); weitere Beispiele bei M. Lavarenne, Etude sur la langue du po£te
Prudence, Paris 1933, § 717ff.
41 Bezeichnend wieder carm. 18, an dessen Beginn mehrere solcher Wörter zusammen-
stehen: Lex mihi iure pio posita hunc celebrare quotannis Eloquio famulante diem, sollemne
reposcit Munus ab ore meo, Felicem dicere versu, Laetitiamque meam modulari carmine voto
Et magnum cari meritum cantare patroni ...eqs. (18, Iff.). Ähnlich, aber den Begriff des Worts
(verbum, eloquium, loqui, fari, os) theologisch vertiefend: carm. 21, 672/703. Eine Passage
vergleichbarer Bedeutung ist carm. 15, 26/49 (vgl. hier bes. 29 linguae plectro lyra personet
oris), interpretiert von Kl. Kohlwes, Christliche Dichtung und stilistische Form bei Paulinus
von Nola, Diss. Bonn 1979 = Habelts Dissertationsdrucke. Reihe Klassische Philologie 29,
137/79. Auch carm. 18, 44/48 gehört hierher (der Dichter weiht im Gegensatz zu den Pilgern
nur bescheidene, dafür aber nicht stumme Gaben:... illi... Larga quidem, sed muta dicant: ego
munere linguae, Nullus opum, famulor... eqs.). Nicht im einzelnen Wort also liegt der Beweis
(icanere mit ausdrücklichen Bezug auf die 'Schriftlichkeit': 18, 70; vgl. 21, 792f.), sondern in
der breiten Streuung und wiederholten Verdichtung der Züge.
42 Der Ausdruck nach Kohlwes, Christliche Dichtung (s. Anm. 41) 133f.
218 Prudentiana II. Exegetica [252/253]
Die deutsche Übersetzung kann die Wirkung der originalen Verse natürlich
bei weitem nicht erreichen. Gerade die feineren Züge der 'Mündlichkeit' ge-
43 Zugrunde liegt der Gedanke, daß alle menschliche Wortkunst im göttlichen Wort ihren
Ursprung hat (und Ihm als Opfer dargebracht werden muß). Vgl. Chresis I (unten Anm. 50) 73
mit Belegen aus Gregor v. Nazianz; s. auch K. Suso Frank, Augustinus: sapienter et eloquenter
dicere, in: Strukturen der Mündlichkeit (wie oben Anm. 3) 257/69, hier 267. Bei Paulinus selbst
sind die eben (Anm. 41) genannten Partien aus carm. 15 und 21 zu vergleichen.
[253] IX. Züge der Mündlichkeit 219
hen verloren, etwa gewisse lautmalerische Effekte, die wohl den Nachtigallen-
gesang nachahmen sollen. Auch hat der Dichter manche Ausdrücke mit ab-
sichtsvollem Doppelsinn so gesetzt, daß sie einerseits die Vogellaute be-
schreiben, andererseits aber auch die Modulation der menschlichen Stimme
treffen: etwa das Rollen und Pfeifen in V. 33f. (rotat, sibila ducit)44. Aber es
sind eben nicht nur solche Glanzpartien, die auf die Annahme führen, die
Gedichte seien für den Vortrag verfaßt. Die einzelnen Merkmale erzeugen
einen Gesamteindruck. Dem Carmen 26 hat man geradezu predigtartigen Cha-
rakter zuerkannt45. Ich hebe noch ein bemerkenswertes Detail heraus. Der
Autor kann voraussetzen, daß ein bestimmtes Ereignis, ein Kirchendiebstahl,
seinen Hörern bereits bekannt sei: Credo ex hoc (!) numero vestrum prope
nullus in isto Sit novus auditu ... eqs. (19, 385f.). Die Kunde davon hatte sich
weit verbreitet, aber St. Paulinus rechnet auch damit, daß einige aus dem
Auditorium damals selbst in Nola zugegen waren: certe adfueritis in ista (!)
Urbe aliquiper idem tempus ... eqs. (ebd. 387f.). Frische, gemütliche Über-
leitungen dieser Art entspringen einer bestimmten Situation, die der Erzähler
im Auge hat. Daß sie fingiert sei, ist nicht geradezu unmöglich, aber, wie
gesagt, unwahrscheinlich.
Darin besteht, soweit ich sehe, Einigkeit unter den Kennern des Autors.
Bleibt noch die Frage, vor welchen Kreis er mit seinen Gedichten trat. Die
Annahme, er habe sich damit vor den Pilgermassen hören lassen, die am Felixtag
zusammenströmten, erscheint doch recht lebensfremd46. Das Landvolk, das
44 Mir liegt die Examensarbeit meiner Schülerin Beate Breilmann vor, die das Stück 23, 1/
44 kommentiert. In der neueren Literatur wird die Passage von A. Cameron und A. Pastorino
berührt: La poesia tardoantica ... Atti del V. Corso della Scuola superiore di archeologia e
civilta medievali, Erice (Trapani) 2-12 dicembre 1981, Messina 1984, 209/34 (ebd. 229/31),
bzw. 309/50 (ebd. 332). Ich bemerke hier nur, daß Paulinus in diesen (und in anderen, ver-
gleichbaren) Versen die literarische Variationskunst der Antike, das Streben nach varietas ('Motiv-
variation'), neu und religiös vertiefend begründet, also ein Beispiel echter Chresis bietet.
45 Kohlwes, Christliche Dichtung (s. Anm. 41)211.
46 Trotzdem ist sie beliebt. Vgl. H. Urner, Die außerbiblische Lesung im christlichen
Gottesdienst, Göttingen 1952, 40; R.P.H. Green, The Poetry of Paulinus of Nola, Brüssel 1971
= Collection Latomus 120,34; J.T. Lienhard, Paulinus of Nola and Early Western Monasticism,
Köln/Bonn 1977 = Theophaneia 28,147; Seraf. Prete, Paolino agiografo, in: Atti del convegno
XXXI cinquantenario della morte di S. Paolino di Nola (431-1981), Nola 20-21 marzo 1982,
Rom 1983, 149/59, ebd. 154f. Entschieden verteidigt wird sie von J. Fontaine, Naissance de la
poesie dans Γ Occident Chretien, Paris 1981, 171f. mit Anm. 305, dessen Anschauung der Ver-
hältnisse bereits Kohlwes, Christliche Dichtung (s. Anm. 41) 212/15 zurückwies. Das Argu-
ment, die Volkstümlichkeit der Wundererzählungen spreche fiir solche Bestimmung, ist jeden-
falls nichtig; vgl. Fabre, Saint Paulin (s. Anm. 38) 372; P.G. Walsh, The Poems of St. Paulinus
of Nola, New York 1975 = Ancient Christian Writers 40, 12. Zurückhaltend äußert sich Helena
220 Prudentiana II. Exegetica [253/254]
der I Bischof glaubte durch die Malereien fesseln und so vom Schmausen und
Trinken ablenken zu müssen (27, 542/95), wird er sich schwerlich als Zuhö-
rerschaft beim Vortrag seiner Hexameter vorgestellt haben. Man erinnere sich
nur, wie St. Augustinus selbst in seinen Prosapredigten auf die ungebildeten
Hörer Rücksicht nahm47. Die Bauern mit ihrer vulgären Aussprache hätten
womöglich den Dichter nicht einmal verstanden, hätten gar vivere und bibere
verwechselt. Nun wissen wir vom Autor selbst (epist. 29, 14), daß er die
berühmte Martinsvita seines Freundes Sulpicius Severus in Gegenwart der hl.
Melania, des hochgebildeten Bischofs Nicetas und 'vieler anderer Gottesmänner'
rezitierte, und in solchem Kreis wird man sich auch die Rezitationen seiner
Gedichte zu denken haben. Als Ort der Vorträge braucht vielleicht die Kirche
nicht unbedingt auszuscheiden, wenn auch die Natalicia kaum in eine liturgi-
sche Feier gehören. Arator rezitierte später sein Epos über die Apostelge-
schichte in S. Pietro in Vincoli48. Und die Nolaner Kirchen mit ihren bunten
Fußböden in opus sectile, ihren Apsismosaiken und Malereien hätten den Re-
zitationen des christlichen Dichters einen ähnlichen Rahmen geboten wie die
Paläste in Rom und Mailand den Vorträgen Claudians. |
Junod-Ammerbauer, Le pofcte chrdtien selon Paulin de Nole: Revue des Etudes Augustiniennes
21, 1975, 13/54, ebd. 52.
47 Darauf verweist in diesem Zusammenhang Kohlwes, Christliche Dichtung (s. Anm. 41)
212/15. Damals ist ja schon die Rhythmisierung der Prosa Sache der Bildung geworden, wie
sich wiederum aus Augustinus lernen läßt (s. A. Primmer, Gebändigte Mündlichkeit: Zum
Prosarhythmus von Cicero bis Augustinus, in: Strukturen der Mündlichkeit [wie oben Anm. 3]
19/50, hier 48/50), erst recht natürlich die Poesie. Damit braucht freilich nicht gesagt zu sein,
daß die Lesungen geradezu hinter verschlossenen Türen stattfanden. Die Notiz über Arators
Rezitationen (s. die folgende Anm.) ist auch in dieser Hinsicht lehrreich: zu diesen Anlässen
fand sich eine bunte Menge aus Klerikern, vornehmen Laien und Leuten aus dem Volke ein.
48 Die Rezitation veranlaßte Papst Vigilius i.J. 544, nachdem ihn alle literarisch Gebilde-
ten darum gebeten hatten. Wir verdanken die Nachricht einer längeren Notiz in gewissen Hand-
schriften (der Text bei J. Huemer: Wien. Stud. 2, 1880, 79f. und A.P. McKinley in der Arator-
Ausgabe: CSEL 72, 1951, p. XXVIII). Sie verdient es, hier auszugsweise mitgeteilt zu werden:
cuius beatitudinem (i.e. papam Vigilium) litterati omnes doctissimi continuo rogaverunt ut eum
(sc. codicem) iuberet publice recitari. quod cum fieri praecepisset in ecclesia beati Petri quae
vocatur Ad Vinculo religiosorum simul ac laicorum nobilium sed et e populo diversorum turba
convenit. atque eodem Aratore recitante distinctis diebus ambo libri quattuor vicibus sunt auditi,
cum uno die medietas libri tantummodo legeretur propter repetitiones assiduas quas cum favore
multiplicipostulabant. Es bestand also die Gewohnheit fort, ein Buch pro Tag zu rezitieren (vgl.
Sueton-Donat, Vita Verg. 27: Vergil las die Georgica dem Augustus vor per continuum
quadriduum), und nur die vom begeisterten Publikum geforderten Wiederholungen waren schuld
daran, daß Arator pro Tag nur ein halbes Buch schaffte. Der sich hieraus ergebenden Frage,
inwieweit der Umfang einzelner Werke oder ihrer Teile auf die Erfordernisse der Rezitation
Rücksicht nimmt, kann ich nicht nachgehen. Für die Aeneis vgl. R. Heinze, Virgils epische
Technik, Leipzig 31915, 263.455f.
[255] IX. Züge der Mündlichkeit 221
Jedenfalls wird man die Rezitationen des Nolaner Bischofs vom spätan-
tiken Rezitationswesen nicht trennen dürfen49. Nicht nur seine Poesie selbst
nutzt auf vielfache Weise ungezählte Formen- und Gedankenelemente der an-
tiken Dichtung: auch die Gewohnheit, Poesie vorzutragen, die kulturelle Ein-
richtung der Rezitation, wird von ihm für christliche Zwecke: Ermahnung,
Tröstung, Erbauung der Gläubigen, zur Verherrlichung Gottes und seiner Heili-
gen g e b r a u c h t . Das Rezitationswesen saß zu tief in der spätantiken Kul-
tur, als daß es aus dem umfassenden Vorgang der Chresis50 hätte ausgespart
werden können.
49 Dabei ist vorausgesetzt, daß die Dichterlesungen Pauiins nicht eigentlich liturgischen
Zwecken dienten. Über hagiographische Lesungen in der Liturgie s. die Hinweise bei Th.
Baumeister, Art. Heiligenverehrung I: RAC 14, 1988, 117f., 127f.; M. van Uytfanghe, Art.
Heiligenverehrung Π: ebd. 153.
50 Zu diesem Wort, das auch schon an früherer Stelle dieses Beitrags verwendet wurde,
vgl. meine Studie: ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur
I. Der Begriff des "rechten Gebrauchs", Stuttgart/Basel 1984.
χ.
Symmachus' Rede über den Victoria-Altar galt ihrer Zeit als Meister-
stück rednerischer Kunst1, und innerhalb dieser Rede ist es wiederum die Anspra-
che der personifizierten Roma, die offenbar besonderen Eindruck machte;
denn weder Ambrosius noch Prudentius verzichten auf das Mittel solcher
προσωποποιία, um der gegnerischen Schrift wirkungsvoll entgegenzuarbei-
ten2. Daher beansprucht die Frage, wie Symmachus die Romarede im eigenen
Text begrenzt hat, also die Frage, welche Sätze er seiner Roma in den Mund
legt und wo er ex propria persona spricht, einige Aufmerksamkeit. Sie betrifft
das genaue Textverständnis und vielleicht auch die Würdigung der Relatio als
Kunstwerk, wenn auch nicht die sachliche Interpretation. Der Anfang der
Romarede kann nicht zweifelhaft sein. Aber wo endet sie? O. Seeck (MGH
a.a. 6, 1, 1883, 282) gibt keine Markierungen. Er druckt folgenden Text (die
üblichen Paragraphen füge ich in Klammern hinzu):
(9) Romam nunc putemus adsistere atque his vobiscum agere ser-
monibus: optimi principum, patres patriae, reveremini annos meos,
in quos me pius ritus adduxit! utar caerimoniis avitis, neque enim
paenitet! vivam meo more, quia libera sum! hie cultus in leges
meas orbem redegit, haec sacra Hannibalem a moenibus, a
Capitolio Senonas reppulerunt. ad hoc ergo servata sum, ut
longaeva reprehendar? (10) videro, quale sit, quod instituendum
putatur; sera tarnen et contumeliosa est emendatio senectutis. ergo
diispatriis, diis indigetibus pacem rogamus. aequum est, quidquid
omnes colunt, unum putari. eadem spectamus astra, commune
caelum est, idem nos mundus involvit: quid interest, qua quisque
prudentia verum requirat? uno itinere non potest perveniri ad tam
Wie hier im Seeckschen Text wird auch sonst der Umfang der Rede öfters
unbezeichnet gelassen3, was zumindest dann auffällig ist, wenn, wie bei J.
Wytzes (Der letzte Kampf des Heidentums in Rom, Leiden 1977,205ff. 275ff.),
dem lateinischen Original eine Übersetzung und ein Kommentar beigegeben
werden. Darin | dürfte sich eine gewisse Unsicherheit andeuten. Die letzte
Herausgeberin, Michaela Zelzer (Ambros. epist. X 72a [17a], 9: CSEL 82, 2
[1982] p. 26/27), schließt die Rede nach reprehendar. D. Vera läßt sie, wie
schon E. Gibbon, K. Latte, H. Dudden u.a.4, mit emendatio senectutis enden
(Commento storico alle Relationes di Quinto Aurelio Simmaco, Pisa 1981,
392: in der italienischen Übersetzung). Nach M. Lavarenne (Prudence, tome
III, Paris 19632, 110) u.a.5 ist sie erst mit grande secretum zu Ende, für R.
Klein (Der Streit um den Victoriaaltar, Darmstadt 1972, 32) scheint sie gar bis
offerimus zu reichen6.
Der suggestiven Kraft der Paragrapheneinteilung darf man hier jeden-
falls nicht erliegen. Man erwartet irgendeinen Ausdruck des Abschlusses der
Rede oder ihrer Wirkung. Hätte Roma schon nach reprehendar verstummen
sollen, so hätte sich das allenfalls durch gekünsteltepronuntiatio und actio des
Redners zum Ausdruck bringen lassen7, was nicht eben ein Vorzug des gefei-
erten, als excellens volumen (!) gerühmten Denkmals literarischer Kunst wäre
(s. Anm. 1). Denn im Text findet solcher Einschnitt keine Stütze; videro schließt
eng an reprehendar an, wie überhaupt Roma von sich selbst mit einer gewis-
sen Pointierung in der ersten Person des Singulars spricht: reveremini annos
me ο s, in quos me pius ritus adduxit! utar caerimoniis avitis ...! vi ν am
me ο more, quia libera s u ml hie cultus in leges me as orbem redegit,
...ad hoc ergo servata s um, ut longaeva reprehendar? ν i de r o,
quale sit ... eqs. Wie gesagt: videro kann man von dieser Wortfolge kaum
ohne Gewalt abtrennen, es paßt ganz zum Ich-Stil der voraufgehenden Sätze.
Außerdem wäre die Äußerung: videro, quale sit, quod instituendum putatur
als direkte Bemerkung des Senators vor dem Kaiser anmaßend, ja unerträg-
lich. Nur die greise Roma darf so sprechen, nur sie darf im Vollgefühl ihrer
jahrhundertelangen Erfahrung abwartend auf die Neuerung des Christentums
blicken und | Skepsis andeuten, was wohl daraus werden solle: "Ich will sehn,
was es ist, das man einzuführen für gut hält" (Latte).
Der erste fühlbare Einschnitt ergibt sich vor ergo, und hier (nach emen-
datio senectutis) würde man auch die Rede am liebsten schließen. Gewiß wäre
auch Abbruch der Rede mit dem Satz: sed haec otiosorum disputatio est, also
Redeschluß nach grande secretum, eine spürbare Caesur, aber man empfindet
bei solchem Übergang doch etwas Mißliches. Denn so fiele der Redner seiner
ehrwürdigen Dame recht barsch ins Wort, und es würde ihrem Auftritt nach-
träglich etwas von der Wirkung genommen. Als ob sie sich in Altweiberge-
schwätz verloren habe! Roma selbst als otiosa: was könnte unpassender sein8?
Läßt man die Rede noch weiter reichen, bis offerimus - dies wäre das Äußer-
ste - , dann wirkt der Übergang von der eingelegten Personificatio zum neuen
Punkt der Bittschrift abrupt. Die Erwartung eines Ausdrucks der Zustimmung
seitens des Autors oder wenigstens der Wiederaufnahme seiner eigenen Rolle
bleibt so ganz unerfüllt.
Befriedigt wird sie dagegen, wenn Symmachus mit der Folgerung: ergo
diis patriis ... pacem rogamus wieder selbst das Wort ergreift. Ergo steht
kraftvoll an der Satzspitze, teils zusammenfassend, teils anaphorisch9 - ganz
die es nötig machten, an das Urteil des Lesers zu appellieren (ebd. p. 241, 17ff. Georgii). Aber
derlei wird man eben in dem Meisterstück rhetorischer Prosa kaum erwarten dürfen.
8 Zum Ausdruck otiosorum disputatio vgl. Vera im Kommentar a.O. p. 42f. Es ist ganz
gleich, ob man eine negative Wertung heraushört oder nicht: auch der Sphäre heiterer, philo-
sophischer Muße kann der Senator seine Roma nicht ohne weiteres zuordnen. Ein Ton leichter
Depretiation scheint mir im übrigen doch mitzuschwingen. Er müßte sich verstärken, wenn man
das Urteil auf die Worte der Greisin bezöge; vgl. etwa Lact. inst. 6, 10, 21: (ilia) quae otiosi et
inepti senes fabulantur, gesagt von den Philosophen.
9 Beide Funktionen sind verwandt, vgl. Rehm: ThLL 5, 2, col. 771, 44ff. bzw. 71ff. Zur
'funetio anaphorica', zur Wiederaufnahme der Rede nach irgendeiner Unterbrechung, etwa nach
einer digressio, s. auch Skutsch-Rehm s.v. igitur. ThLL 7,1, col. 266, 38ff. Vgl. unten Anm. 12.
[466/467] X. Zur Rede der Roma 225
anders als in dem voraufgehenden Fragesatz: ad hoc ergo servata sum... eqs.,
wo es im Stile eines quid ergo? einen absurden Gedanken einleitet. Hier kehrt
der Autor mit ergo entschieden zur eigenen Forderung zurück (vgl. 8: servanda
est tot saeculis fides), die durch Romas Einlassung unterstützt ward. Also wie
sonst ergo, ut dixi; ergo, ut supra dictum est; ergo, ut breviter contraham
summam, etc.10, so hier kurz: ergo ... pacem rogamus, wobei der Wechsel im
Numerus den Neueinsatz unterstreicht. Denn wie der Autor seine Prosopopoiie
einleitete: Romam nunc put emus adsistere ... eqs., so nimmt er danach das
Wort wieder in der ersten Person Plural: rogamus, spectamus, offerimus (idem
no s mundus involvit). Das geschieht nicht nur ad evitandam iactantiam (vgl.
Serv. Aen. 2, 89) - bald darauf heißt es ja oro vos (rel. 3, 13) - , sondern ist
hier besonders passend: Roma hat zwar in der Ich-Form zu den Kaisern ge-
sprochen, aber als Inbegriff und Sinnbild aller Römer, und darum geht es dort,
wo wieder der Stadtpräfekt einsetzt, weiter: ergo ... rogamus. Die Ich-
Form bildet überhaupt ein Stilmerkmal in den Reden personifizierter Gestal-
ten. Leicht begreiflich, denn ihr Wesen besteht ja gerade darin, eine | Ge-
samtheit in e i n e r Person zu vertreten! Und so redet denn auch die Roma bei
Claudian, Ambrosius, Prudentius und im Panegyricus auf Constantin und
Maximian durchweg in der Ich-Form", desgleichen etwa die Res publica in
Pacatus' Preisrede auf Theodosius, wo übrigens der Redner mit ähnlicher Par-
tikel das Wort wieder an sich nimmt: solus igitur, Auguste, solus inquam
12
omnium ... eqs. . Auch hat man den Eindruck, daß die berühmten Sätze über
die Identität aller Gottheiten, über denselben Sternenhimmel und die verschiede-
nen Wege zur verborgenen Wahrheit nicht eigentlich zum Part der Roma gehö-
ren, die auf Alter und Erfolg pocht, sondern besser aus dem Munde des Redners
kommen, der die philosophischen Grundlagen seines Standpunkts andeutet.
10 Cie. Phil. 12, 22; part. 46; Quintil. inst. 5, 10, 94 u.ö.
11 Claudian. Gild. 28/127; Ambras, epist. 73 (18 Maur.),7; Prud. c. Symm. Π 655/768;
paneg. lat. 7 (6), 11, 1/4. Daß die redende Personifikation aus bestimmtem Anlaß auch einmal
in die Wir-Form verfällt (wie etwa Roma bei Ambrosius I.e. in dem Sätzchen: hic vivimus et
illic militamus), ist damit natürlich nicht ausgeschlossen. Aber bei Symmachus beobachtet man
nach ergo einen deutlichen Übergang.
12 Paneg. lat. 2 (12), 11,3/7 bzw. 12, 1. Ergo nach direkter Rede ebd. 38, 2/4: quotiens
sibi ipsum (sc. Maximum) putamus dixisse: 'quo fugio? ... ο quam difficile est miseris etiam
perire!' ergo ut clausae cassibusferae ... eqs.; ferner Plin. paneg. (paneg. lat. 1)68, 1. Zu
igitur vgl. auch die Wiederaufnahme der Darstellung bei Prud. c. Symm. II 161 (nach der
direkten Rede Gottes 123/60): Haec igitur spondenteDeo ... eqs. Mit ergo oder igitur wird
auch gerne nach Zitaten fortgefahren, etwa wenn ein Aktenstück oder eine Bibelstelle im Wort-
laut mitgeteilt wurde (Hist. Aug. vol. 1 p. 177, 21; vol. 2 p. 139, 10; 228, 18 Hohl/Samberger/
Seyfahrt; Cypr.: CSEL 3, 1 p. 280, 18; 281, 13; 384, 9; 210, 23; 193, 5).
226 Prudentiana II. Exegetica [467/468]
Bei alledem wüßte man gerne, wie die beiden großen zeitgenössischen
Autoren, die den Text der Relatio gründlich nacharbeiteten, Ambrosius und
Prudentius, die Stelle auffaßten. Aus Ambrosius sind hierzu allerdings nur
indirekte Hinweise zu gewinnen. Fest steht jedenfalls, daß er die Romarede
vor Beginn der Erörterung über die Privilegien der Vestalinnen (rel. 3, 11)
abgeschlossen sah, denn er gibt folgende Inhaltsübersicht (epist. 73 [18 Maur.],
3/4):
Daraus geht klar hervor, daß Ambrosius nur den ersten der drei Punkte flebili
questu sermonis von Roma behandelt fand, nicht mehr den zweiten, die Priester-
schaft betreffenden. Vor rel. 3, 11 war also auch für Ambrosius unbedingt
Ende der Romarede im Symmachustext. Weiteren Aufschluß erteilt vielleicht
die Rede, die er seiner eigenen Roma in den Mund legt (Ambros. ibid. 7). Dem
Charakter nach ist sie eine Scheltrede an die Heiden, die teilweise, besonders
gegen Ende, | protreptische Töne anschlägt13. Dem Inhalt nach fuhrt sie den
schon zuvor (ibid. 4/6) behandelten Gedanken fort, daß die militärischen Er-
folge Roms nicht von den vermeintlichen Göttern herrührten; außerdem wird
die späte Bekehrung gerechtfertigt, zum Schluß auch schon die skeptische
Grundhaltung des Gegners berührt. Aber die philosophischen Sätze der geg-
nerischen Schrift (rel. 3, 10) erreicht die Romarede bei Ambrosius nicht. Erst
n a c h der Prosopopoiie: erst nachdem er der Roma des Präfekten die eigene
gegenübergestellt hat, geht der Bischof dazu über, den Wege-Satz des Sym-
machus zurückzuweisen (Ambros. ibid. 8):
13 Ambrosius wollte also mit der Adresse auch das Ethos der Rede ändern, das er in
questus und querela (Ambros. ibid. 4. 7) erkannte. Seine Roma wendet sich nicht an die Kaiser,
sondern an die Heiden, und sie jammert nicht, sondern schilt und mahnt: obiurgatio und ad-
hortatio statt miseratio und fletus. Wieder andere Färbung gibt Prudentius seiner Romarede, s.
unten Anm. 16.
[468/469] X. Zur Rede der Roma 227
Die προσωποποιία wird hier aufgegeben, inquit (sc. Symmachus) ist wieder
aus der Person des Autors gesprochen14. Solche Disposition der eigenen Dar-
stellung legt nahe, daß Ambrosius auch die personificatio bei Symmachus an
entsprechender Stelle beendet sah, d.h. eben v o r den philosophischen Sät-
zen, wohl vor den Worten: ergo diispatriis... pacem rogamus, auf die er hier
Bezug nimmt.
Deutlichere Auskunft erteilt Prudentius. Sie fälltfreilichüberraschend aus
und scheint denjenigen modernen Gelehrten Recht zu geben, die Redeschluß erst
nach grcmde secretum oder offerimus annehmen. Prudentius zieht das Bild der
Personifikation, die Symmachus vorführte, in kräftigeren Farben nach und wie-
derholt, in eigener dichterischer Bearbeitung, ihre Rede (Prud. c. Symm. Π 80ff.):
Prudentius schlägt also die philosophischen Sätze (Symm. rel. 3,10) der Roma-
rede zu. Es hilft nichts, sich dagegen zu sträuben. Seine Paraphrase sagt klar,
daß er die Rede im Symmachustext jedenfalls nicht vor grande secretum enden
14 Die Einschübe: ut ait, inquit verwendet Ambrosius zwar auch zur indirekten Wiedergabe
der Romarede bei Symmachus (Ambros. ibid. 3. 4), aber natürlich nicht innerhalb der direkten
Rede, die er seine Roma halten läßt (ibid. 7) - und nur darauf kommt es hier an: inquit zeigt
klar, daß diese Rede zuvor geschlossen wurde.
228 Prudentiana II. Exegetica [469/470]
lassen wollte. Die überleitenden Sätzchen: sed haec otiosorum disputatio est
... eqs., die, wie wir sahen, Redeschluß an dieser Stelle (vor sed) erschweren,
übergeht er freilich; sie waren ja auch für eine auf die Sache gerichtete Wie-
dergabe nicht wesentlich. Das klare Zeugnis eines zeitgenössischen Autors
bleibt in jedem Falle bemerkenswert15.
Es wird aber durch den Fortgang des Gedichts selbst etwas entkräftet.
Denn Prudentius' eigene, jugendliche Roma, die er später (c. Symm. II 640bff.)
der Greisin des Symmachus entgegentreten läßt, hält eine lange Rede (655/
768), deren Thema allein die innere und äußere bzw. militärische Verjüngung
Roms bildet, wobei zum Abschluß (760ff.) noch einmal auf Symmachus' Per-
sonifikation Bezug genommen wird. Erst auf diese eigene, durch doppelten
Hinweis auf die berühmte Prosopopoiia des Gegners geschlossene Romarede
folgt dann - ähnlich wie bei Ambrosius - die Widerlegung jener philosophi-
schen Sätze des Heiden (773: Persistit tarnen adfirmans ... eqs.). Insgesamt
stellen sich die Verhältnisse bei Prudentius folgendermaßen dar: das Doppel-
argument von dem einen Himmel (a) und den vielen Wegen (b) aus Symm.
rel. 3, 10 wird vom Dichter zuerst in seiner Wiedergabe der Romarede des
Gegners referiert (85/90), dann noch einmal, nach Schluß der eigenen Roma-
rede, als Behauptung des Symmachus selbst vorgetragen (773/80: in umge-
kehrter Reihenfolge: b, a); hierauf wird zuerst a widerlegt (781/842), sodann
b abermals wiederholt (843/46) und anschließend ebenfalls zurückgewiesen
(847/909). Auffällig bleibt, wie gesagt, bei solcher Disposition, daß die Wi-
derlegung jener Sätze aus rel. 3, 10 auch hier wieder erst n a c h der christli-
chen Romarede (773ff.) einsetzt - und erst nachdem die erfolgreiche Wirkung
dieser Rede auf die Kaiser16 geschildert wurde (769ff. Sic adfata pios Roma
exoravit alumnos ... eqs.) | . Es scheint also, als habe Prudentius zunächst die
Äußerungen aus Symm. rel. 3, 9/10 zusammengenommen und der Roma zu-
gewiesen, dann aber, bei der ausführlichen Widerlegung, ganz wie Ambrosius
aus dem Gefühl heraus gearbeitet, daß nur das Pochen auf Alter und Erfolg
zur Roma passe, nicht jedoch das Philosophieren.
Allerdings mag sich ihm die Notwendigkeit zu solcher Stoffteilung auch
aus den Erfordernissen der Stoffbewältigung ergeben haben. Da Prudentius in
den mehr 'theoretischen' Sätzen der Relatio den geistigen Kern des Widerstands
erkannte, entschloß er sich zu einer gründlichen Bearbeitung der ganzen Par-
tie rel. 3, 8/10; sie macht bei ihm den Hauptteil des zweiten Buchs aus und
umfaßt fast achthundertfünfzig Verse (67/909). Innerhalb dieser ausgedehnten
Argumentation mußte nun wiederum den Schlußsätzen in rel. 3, 10 eingehen-
de Behandlung widerfahren, und man versteht, daß der Dichter sie nicht durch
die Rede seiner Roma erledigen lassen wollte; sie läuft bei ihm ohnehin schon
über 113 Verse hin (655/768) und wird durch den Preis des Sieges bei Pollen-
tia (696ff.) prall gefüllt. Aufgrund dieser Ökonomie mußte er wohl die Wider-
legung der philosophischen Gedanken aus rel. 3, 10 von seiner Prosopopoiie
der Roma trennen, selbst wenn er sie bei Symmachus mit ihr verbunden fand.
Wenn aus der Sache etwas im allgemeinen zu lernen ist, dann dies, daß
bei solchen Personifikationen ihr erster Auftritt, sozusagen die Vorstellung
der Person, und der Einsatz ihrer Rede stets scharf bezeichnet werden, daß
aber ihr Zurücktreten und Verstummen bisweilen weniger merklich sich voll-
ziehen kann, ohne daß doch diese Grenze geradezu unsicher sein müßte. Aber
sie hat geringere Bedeutung als der Anfang, der die Darstellung spürbar hebt
und belebt. Wenn der Autor selbst wieder an die Stelle seines Geschöpfs tritt,
wird ein gleitender Übergang geduldet, und der Wechsel des Sprechers erregt
nicht mehr dasselbe Aufsehen wie zu Beginn. So erkläre ich mir die Art, wie
Prudentius die Grenze jener Rede zunächst hinausschiebt, ohne doch dann die
eigene Darstellung darunter leiden zu lassen.
XI.
SATURA TRAGICA *
1.
Die folgenden Beobachtungen eröffne ich mit einigen Sätzen, die wohl
jedem Klassischen Philologen, ja heute gewiß den meisten Menschen sehr
fremdartig klingen, so fremd, daß sie wie aus einer anderen Welt herübertö-
nen. Aber die Sätze beschreiben einen Vorgang, der heute in verstärktem
Maße die Forscher verschiedener Disziplinen beschäftigt, sie beschreiben ihn
nur von einem bestimmten Standpunkt aus. Das, was man heute gern mit dem
Begriff der 'Auseinandersetzung' (zwischen Antike und Christentum) bezeichnet
oder doch unter diesem Begriff mitversteht, hört sich in den Worten der Kir-
che folgendermaßen an1: |
"Was immer an Wahrheit und Gnade schon bei den Heiden sich
durch eine Art verborgener Gegenwart Gottes fand, befreit sie
(die Missionstätigkeit der Kirche) von den Ansteckungen des Bö-
sen (a contagiis malignis liberat) und gibt es ihrem Urheber Chri-
stus zurück (restituit), der die Herrschaft des Teufels zerschlägt
und die vielfältige Bosheit übler Taten in Schranken hält. Was
immer an Gutem in Herz und Sinn der Menschen oder in den
* Wiener Studien 103, 1990, 145/77. Erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten am 15.
Nov. 1988 auf Einladung des Philologischen Seminars der Universität Bonn, später in Düssel-
dorf, Innsbruck und Wien.
ι Cone. Vat. Π, Decr. de activitate missionali Ecclesiae, Ad gentes divinitus 9: Acta
Apostolicae Sedis 58 (1966), 958 = Das Zweite Vatikanische Konzil, 3, (LThK 21968), 44. Ich
habe diese Sätze des Konzils bereits an anderer Stelle zu gleichem Zweck zitiert (Die vielen
Wege und der Eine. Zur Bedeutung einer Bildrede aus dem Geisteskampf der Spätantike: Litera-
turwissenschaftliches Jahrbuch 31, 1990,9/51, ebd. 23 [in diesem Bande S. 490f.]). Ich wieder-
hole hier das Zitat und zum Teil auch meine anschließenden Bemerkungen dazu, weil dieser
Passus - stärker noch als andere, vergleichbare Konzilstexte - die wesentlichen Gesichtspunkte
der Sache zusammenfaßt. Vgl. außerdem etwa Cone. Vat. II, Const, dogm. de Ecclesia, Lumen
gentium 13 (Acta Apostolicae Sedis 57, 1965, 17 = Das Zweite Vatikanische Konzil, 1, 1966,
192): "Cum autem Regnum Christi de hoc mundo non sit (cf. Joh. 18, 36), ideo Ecclesia seu
Populus Dei, hoc Regnum inducens, nihil bono temporal! cuiusvis populi subtrahit, sed e contra
[146/147] XI. Satura tragica 231
Dieser Text stammt aus dem Jahre 1966, er könnte freilich auch im Jahre 400
verfaßt sein. Denn was die Konzilsväter hier sagen, ist ganz aus dem Geist der
Kirchenväter gesagt. Hier werden aus moderner Sicht Grundlage, Methode,
Ziel des christlichen Umgangs mit den Gütern nichtchristlicher Kulturen for-
muliert, aber diese Formulierung gilt ebenso für die Grundsätze der Kirche in
den ersten Jahrhunderten. Die Lehre von den 'Samen' des Guten in der vorchrist-
lichen Kultur, die zuerst St. Justinus mit Hilfe stoischer Begrifflichkeit zu
entfalten versuchte; die Zusammenschau innerer und äußerer, persönlicher
und kultureller Conversion, die bei den Kirchenvätern allenthalben anzutref-
fen ist; ihr theozentrischer Aspekt jeder missionarischen Nutzung der Güter,
welche die Ehre Gottes zu verfolgen hat; der bekannte Grundsatz der Väter,
daß alles Gute dem Schöpfer gehört und Ihm zurückerstattet werden muß, daß
der Christ also im Zuge der Aufnahme und Verarbeitung der Elemente des
Guten und Wahren nichts Fremdes sich aneignet, sondern nur nimmt, was ihm
als dem Verehrer des wahren Gottes zukommt; die auf Erfahrung gegründete
Überzeugung der kirchlichen Autoren, daß der rechte Gebrauch vorchristli-
cher Kulturgüter immer das Prinzip der Reinigung und Befreiung in sich schließt,
weil die Teile des Guten und Schönen bei heidnischen Völkern nur in Verbin-
dung mit bösen und unreinen Beimengungen vorkommen; die Anschauung
überhaupt, daß christliche Nutzung dynamisch ist in Hinsicht ihrer Wirkung
gegen das Böse; und schließlich die Erkenntnis, daß die versprengten Elemen-
te des Guten, indem die Kirche sie sammelt und auf Christus hin ausrichtet,
nicht nur | bewahrt, sondern "geheilt, erhöht, vollendet" oder, wie das Konzil
facilitates et copias moresque populorum, quantum bona sunt, fovet et assumit, assumendo vero
p u r i f i c a t , r o b o r a t , e l e v a t . Memor est enim se cum illo Rege colligere debere, Cui
gentes in hereditatem datae sunt (cf. Ps. 2, 8) et in Cuius civitatem dona et munera adducunt"
(cf. Ps. 71 bzw. 72, 10; Is. 60, 4/7; Ape. 21, 24). Besonders hinzuweisen wäre noch auf eine
Stelle in der Pastoralkonstitution (Const, pastoral. De Ecclesia in mundo huius temporis, Gaudi-
um et spes 58: Acta Apostolicae Sedis 58, 1966, 1079 = Das Zweite Vatikanische Konzil, 3,
1968, 466), wo in gleichem Zusammenhang von den "animi ornamenta dotesque cuiuscumque
populi" die Rede ist. Eine Bemerkung, die sich schön auf die Poesie der Völker, also auch auf
die antike Dichtung, beziehen läßt.
232 Prudentiana II. Exegetica [147]
an anderer Stelle sagt2, "erhellt" werden: alles das sind Leitgedanken der früh-
kirchlichen Chresis, und sie sind allesamt in dem zitierten Text enthalten, sei
es andeutungshaft, sei es expressis verbis3.
Es ist nun meine These, daß sich der Vorgang der 'Auseinandersetzung'
auch als historisches Phänomen der Spätantike viel weiter erschließt, wenn
wir ihn unter den Bedingungen, von den Grundsätzen aus betrachten, die in
dem zitierten Text niedergelegt sind. Ich meine, daß der moderne Betrachter,
wenn er sich auf die Grundsätze der frühkirchlichen Denker und Künstler
einläßt, wenn er das Material zunächst gleichsam mit ihren Augen anschaut
und an ihren Absichten mißt, zu klarerer Auffassung vom Wesen dieses gan-
zen Vorgangs gelangt, ohne doch auf eine wahrhaft kritische und wissenschaft-
liche Haltung verzichten zu müssen. Wenn das allerdings richtig sein soll,
dann muß es Beweise dafür geben, daß jene Grundsätze von den frühkirchlichen
Autoren beachtet wurden, daß es folglich lohnend ist, eine aus den Vätern
selbst gewonnene Hermeneutik anzuwenden. Es muß praktische Beispiele ge-
ben in großer, von Jahrhundert zu Jahrhundert stets wachsender Zahl. Es ist
wie bei Entzifferung einer unbekannten Schrift: stimmt das angenommene
System der Entzifferer, dann müssen sich immer mehr Wörter, Sätze, Zeilen
lesen lassen, ist das nicht der Fall, besteht der Verdacht, daß die Theorie
falsch ist. Ich wende mich heute einem Beispiel zu, das seine Schwierigkeiten
hat, aber auch seine Reize. Es geht um Juvenal und Prudentius: um die Nut-
zung juvenalischer Satura durch den christlichen Dichter.
2.
5 P. Wessner, Lucan, Statius und Juvenal bei den römischen Grammatikern, Philol.
Wochenschr. 49 (1929), 296/303. 328/35.
6 Unter der Voraussetzung, daß Nicaeus auch der (jedenfalls heidnische) Verfasser des
commentum ist, vgl. U. Knoche, Die römische Satire, Göttingen 41982 = Studienhefte zur
Altertumswissenschaft 5, 95. Die Frage wurde erneut geprüft von A. Bartalucci, II "Probus" di
Giorgio Valla e il "commentum vetustum" a Giovenale: Stud. It. Fil. Class. N.S. 45 (1973),
233/57. Er gelangt zu dem Ergebnis, daß der Kommentator am Ende des 4. Jh. bereits einen
Vorgänger gehabt haben muß, den er aufarbeitet (247): als Verfasser komme jener Probus in
Betracht, an den Lactanz Briefe gelehrten Inhalts schrieb (Hier. vir. ill. 80 im Zusammenhang
mit Damas. Hier, epist. 35, 2: CSEL 54, 266). Dabei wird dem Juvenalzitat (sat. 10, 365f.) bei
Lact. inst. 3, 29, 17 (CSEL 19, 270f.) besondere Bedeutung zugemessen (253/56). Die 'Wie-
derentdeckung' Juvenals rückte demnach an den Anfang des Jahrhunderts.
7 Servius ist als junger Grammatiker Teilnehmer am Saturnaliengespräch bei Macrobius
(vgl. Macrob. Sat. 1, 2, 15; 1, 24, 8; 3, 18, Iff.), wo einmal auch Juvenal (sat. 1, 15) anklingt
(Macrob. ebd. 3, 10, 2). Vgl. F. Klingner, Römische Geisteswelt, München 51965, 540f. Eine
Juvenalreminiszenz bei Symmachus selbst: epist. 4, 34, 3 (Juv. sat. 1, 18): MGH a.a. 6, 1, p.
110, 27, ed. Seeck = Symmaque, Lettres, ed. Callu, 2 (Paris 1982), 117.
8 Aug. epist. 138, 3, 16 (CSEL 44, 143) - garriendo vera dicentem ist wohl mit Anspie-
lung auf Horaz serm. 1,1, 24f. gesagt: quamquam ridentem dicere verum Quid vetat? Hier
zitierter Juv. sat. 6, 287/95. Auf sat. 1,49f. wird inciv. 2, 23 (p. 85, Z. 21/23 Dombart/Kalb5)
angespielt. Diese Testimonien bei H. Hagendahl, Augustine and the Latin Classics 1, Göteborg
1967, p. 193, Nr. 426. 427; vgl. ebd. 2, p. 477. In den grammatischen 'Regulae' (GL 5, 497
Keil) steht ebenfalls ein Stück aus der Weibersatire (sat. 6, 471/73), dazu sat. 5, 8. Vgl. G.
Highet, Juvenal the Satirist, Oxford Ί954, 180ff., bes. 185, mit den Anmerkungen ρ. 296ff.;
zur Frage der Juvenalkenntnis bei früheren Vätern (Tertullian und Lactanz) 183f.
9 Hier, epist. 70, 2, 4 (CSEL 54, 702); vgl. Chresis I (o. Anm. 3), 16. 128332. Der Sache
nach eine eindringliche Vorstellung dieses (polemischen) Zwecks der Chrdsis bietet Hil. trin.
12, 20 (CCL 62 A, 593f.).
234 Prudentiana II. Exegetica [149/150]
10 Symm. rel. 3: MGH a.a. 6, 1, 280/83. Dazu der Kommentar von D. Vera (Commento
storico alle relationes di Quinto Aurelio Simmaco, Pisa 1981, 12/53). Mit den Erwiderungen
des hl. Ambrosius (epist. 17. 18, dazu 57): R. Klein, Der Streit um den Victoriaaltar, Darm-
stadt 1972; J. Wytzes, Der letzte Kampf des Heidentums in Rom, Leiden 1977 ( = EPRO 56),
200/318 (kommentiert).
π So urteilt etwa M. Lavarenne in der Prudentiusausgabe (III, Paris 2 1963, 105): "Mais il
y a dans le premier livre une verve qui fait penser ä Juvenal...". Vgl. W. Ludwig, Die christ-
liche Dichtung des Prudentius und die Transformation der klassischen Gattungen, Entretiens
(Fondation Hardt) 23, Genf 1977, 303/72 (31 lf.): Contra orqtionem Symmachi I enthält "eine
satirische Beschreibung der Religion des alten Rom ...". Die Ähnlichkeit ist allerdings nicht auf
das erste Buch beschränkt. Zu Juvenal in der Götterpolemik des Laurentius- und des Romanushym-
nus (Prud. per. 2. 10) vgl. jetzt A.-M. Palmer, Prudentius on the Martyrs, Oxford 1989,180/84.
Stimmen aus der früheren Literatur bei A. Salvatore, Studi Prudenziani, Napoli o. J. (1958), 2922.
[150/151] XI. Satura tragica 235
also durch die Lehre, alle Götter seien Menschen gewesen, Herrscher vor
allem, die zu Lebzeiten oder nach ihrem Tode kultische Verehrung erlangt
hätten. Sein Euhemerismus weist aber den speziellen Zug auf, daß die Vergötter-
ten nicht verdienstvolle Männer waren, sondern allesamt Schurken und Betrü-
ger, welche die einfältigen Menschen der Vorzeit übertölpelten12. Er gliedert
seine Schilderung zunächst nach Weltaltern und gleitet dann geschickt zur
Herrscherapotheose der römischen Kaiserzeit hinüber13. Die Darstellung ist
erfüllt von kräftigen Bildern und soll die zunehmende Entartung römischen
Lebens zeigen, zu der dann die Wende unter Theodosius d. Großen in lichtvollen
Kontrast tritt. Was also, ich wiederhole die Frage, ist das Juvenalische daran?
3.
Zunächst kann man das Versmaß anführen. Der Hexameter ist das Vers-
maß der Satire seit den späteren Büchern des Lucilius, und durch den Vers
steht Prudentius der römischen Satura jedenfalls näher als kirchliche Prosa-
schriftsteller wie Tertullian und St. Hieronymus, die man heute bisweilen | als
Satiriker bezeichnet14. Aber der Hexameter ist eben auch der Vers anderer
Gattungen, des Epos und des Lehrgedichts, und auch sie haben das prudentia-
nische Gedicht mitgeprägt.
12 Ähnlich Firm. err. 9/12 (p. 99/105 ed. Turcan, Paris 1982). Auch bei Lactanz fehlt
diese Sicht nicht, aber er rechnet doch mit verschiedenen Motiven der Vergötterung. Aufschluß-
reich inst. 1, 15, 2, wo drei Gründe angenommen werden: einfältiges Staunen über die ver-
meintliche virtus der Herrscher, Schmeichelei und Dankbarkeit für kulturstiftende Wohltaten.
Prudentius hat im Sinne seines Ziels (Heidentum ist barbarisch: 1, 449ff.) gestrafft: der poly-
theistische Götterhimmel verdankt seine Entstehung einem grandiosen Volksbetrug; er war
möglich, weil sich die barbarischen, rohen, dummen Vorfahren den Götzendienst aufschwatzen
ließen (1, 44. 55. 79/83. 99f. 145f.), der dann, nachdem er einmal Fuß gefaßt hatte, zäh tradiert
wurde. Der Dichter bereitet so den Boden für die kommende Auseinandersetzung mit Symmachus
im zweiten Buch. Der Wert, der für Symmachus am höchsten steht, wird bereits im Vorfeld
zerstört: der mos patrius (1, 154) ist geradezu Ergebnis der Dummheit der Vorfahren (1, 146
ineptia vulgi) und der verbrecherischen Schlauheit ihrer Verfiihrer.
13 Eine genauere Darstellung der kompositorischen Linie hoffe ich an anderer Stelle geben
zu können. Hier erinnere ich nur daran, daß Weltaltermythos und Idee der Depravation gerade
zu Beginn der Weibersatire Juvenals (sat. 6, 1/24) das gedankliche Schwungrad bilden.
14 David S. Wiesen, St. Jerome as a Satirist, Ithaca, N.Y. 1964, passim, bes. 1/19; R.F.
Boughner, Satire in Tertullian, Diss. John Hopkins University, Baltimore 1975 (University
Microfilms Ann Arbor 1980) passim, bes. 7/34; Deborah Fraioli, The importance of Satire in
Jerome's Adversus lovinianum as an argument against the authenticity of the Historia Calamitatum:
MGH, Schriften 33, 5 (Fälschungen im Mittelalter, Teil V), Hannover 1988, 167/200. Dazu
jetzt C.J. Classen, Satire - the elusive genre, Symbolae Osloenses 63 (1988), 95/121, bes. die
abwägenden Bemerkungen über Hieronymus ebd. 106/08.
236 Prudentiana II. Exegetica [151/152]
15 Am besten immer noch Sister Stella Marie, Prudentius and Juvenal: Phoenix 16 (1962),
41/52. Ein Sonderfall ist behandelt JbAC 7 (1964), 52/57 [in diesem Bande S. 1/8].
16 Auch dazu Stella Marie (o. Anm. 15).
17 Vgl. etwa M. Lausberg, Untersuchungen zu Senecas Fragmenten, Diss. Münster 1969
= Untersuchungen zur antiken Lit. u. Gesch. 7, 1970,211/25 zu Seneca de superst. frg. 34. 35.
So gehört der Spott über den Isiskult bei Juvenal sat. 6, 532/34 und Prud. c. Symm. 1, 629f. in
einen weiteren Zusammenhang, der auch durch Sen. frg. 35, Min. Fei. 22, 1 und Lact. inst. 1,
21, 20 faßbar wird: s. Lausberg 222/25 (wo Prudentius fehlt). Allerdings rücken Juvenal und
Prudentius in diesem Fall doch enger zusammen, weil beide der Gedanke zu verbinden scheint,
daß die Priesterschaft selbst den Kult nicht ernst nehme (wenn die Wendung Juv. sat. 6, 534
plangentis populi ... derisor Anubis so richtig verstanden ist!). Prudentius jedenfalls schärft
diesen Gedanken, indem er den Isiskult mit dem Mimus und die kahlköpfigen Isispriester (Juv.,
Lact, ebd.; carm. c. pag. 98f.) mit den Clowns auf der Bühne (ThLL 3, 194, 71ff. s.v. calvus:
"figura comoediae, saturae") gleichsetzt, die zudem selbst lachen müssen über das, was sie
darstellen: (Isidis) Mimica ridendaque suis sollemnia calvis (c. Symm. 1, 630). Hier tritt also
der Aspekt des Lächerlichen im Götterkult hervor: s. dazu unten S. 251f. [167f.], bes. Anm. 71.
18 In der Schilderung der Kindheit im heidnischen Rom (1, 197ff.), auch dort, wo die
Wirkungen der 'Edikte' des Theodosius dargestellt werden (1, 506ff.)> zeichnet sich der stadtrö-
mische Charakter des Werks am schärfsten ab. Erwähnt werden etwa die νια sacra, der Doppel-
[152/153] XI. Satura tragica 237
tern fällt die Wahl nicht zufällig auf Rom. Nicht nur, weil Juvenal in Rom
lebt, schildert er römisches Leben, sondern weil dort das Laster in unerträgli-
cher Weise zutage tritt: nam quis iniquae Tarn patiens urbis ... (sat. 1, 30f.).
Für Prudentius ist Rom das Haupt und Bollwerk des Heidentums. Das Thema
wird gleich im ersten Vers angeschlagen: credebam vitiis aegram gentilibus
urbem ... (1, 1). Die Stadt wird personifiziert vorgestellt, vom Kaiser angere-
det und kommt dann im zweiten Buch mit einer langen Rede selbst zu Wort19.
Es geht im ganzen Gedicht um die urbs.
Weiter: Zu Prudentius' Zeit wurde auch die Invektive dichterisch ge-
formt, und zwar durch Claudians Gedichte In Rufinum und In Eutropium.
Und auch hier hat die juvenalische Satire gewirkt20. Aber die Invektiven Clau-
dians sind von Juvenals Satiren, stärker noch vom Prudentiusgedicht dadurch
geschieden, daß sie den persönlichen Angriff gegen eine Gestalt der zeitgenös-
sischen Politik zum Wesenskern haben21. Prudentius und Juvenal | wiederum
sind darin einander ähnlich, daß sie die Verkehrtheit römischen Lebens schlecht-
hin anprangern. Das Typische verbindet beide. Zwar nennen beide auch histo-
rische Personen, aber die Beispiele sittlicher Entartung gehören der Vergan-
genheit an. Bei Juvenal ist das taktisch-künstlerisches Prinzip22, bei Prudentius
ergibt sich das Verfahren aus seiner Schau der tatsächlichen Verhältnisse.
Symmachus, dessen Name im Titel steht, wird von ihm nirgends diffamiert, viel-
mehr als Zierde römischer Eloquenz hoch gerühmt, sogar über Cicero ge-
stellt23. Die teuflische Gefährlichkeit seiner Rede wird bezeichnet, der Redner
tempel der Venus und der Roma (1, 218/22), die Gräber an den Ausfallstraßen Roms, an der via
Latina und an der via Salaria (1, 403/05), das Forum Romanum und das Kapitol (1, 534), der
Tarpejische Felsen (1, 548), überhaupt die vielen Göttertempel in Rom (1, 190f.), dann die
Märtyrerstätten vor den Mauern Roms (1, 514f.).
19 Prud. c. Symm. 1, 412ff.; 2, 649ff.
20 Th. Birt, Zwei politische Satiren des alten Rom, Marburg 1888 (über Juv. sat. 4 und
Claudian in Eutropium); vgl. auch Chr. Gnilka, Dichtung und Geschichte im Werk Claudians,
Frühmittelalt. Stud. 10 (1976), 96/124 (101f.), und M. Citroni, Giovenale e Virgilio in Claudiano,
Eutr. 166/77, Filologia e forme letterarie. Studi offerti a F. Deila Corte 4, Urbino o. J. (1988),
253/59...
21 Über das Wesentliche der Invektive s. S. Köster, Die Invektive in der griech.-röm.
Literatur, Meisenheim 1980 ( = Beiträge z. Klass. Philol. 99), 39. Köster hat die claudianischen
Gedichte in seine Darstellung miteinbezogen, Prudentius' Werk aber ebensowenig wie die Sa-
tire (vgl. 27f.). Die Bezeichnung "religiöse Invektivik" für das prudentianische Gedicht und
andere Erzeugnisse antipaganer Poesie (S. Döpp, Philol. 132, 1988,40f.) verdeckt einen Unter-
schied, der im Falle des Prudentius sicher aufrecht erhalten werden muß. Vgl. auch Classen (ο.
Anm. 14) 11623.
22 Juv. sat. 1, 147/71.
23 Prud. c. Symm. 1, 632ff.: Ο linguam miro verborum fontefluentem...
238 Prudentiana II. Exegetica [153/154]
24 Die Praefatio des ersten Buchs deutet das Geschehen Act. 28, 1/6 als Analogie zur
Gefahr, die der Kirche durch Symmachus droht: er ist die Giftschlange, seine Rede ihr Biß.
Aber mit dem Schlußgebet (c. Symm. 1 praef. 80/89) erfüllt Prudentius das Gebot der Feindes-
liebe {orale pro persequentibus et calumniantibus ras, Mt. 5, 44; vgl. Act. 7, 60: Stephanus),
und er entschuldigt den Gegner, wie Christus am Kreuz diejenigen entschuldigte, die Ihn gekreuzigt
hatten: Pater dimitte Ulis; non enim sciunt quidfaciunt (Ix. 23, 34, von den modernen Heraus-
gebern als Interpolament angesehen, von den Vätern als echt zitiert); vgl. 1 Cor. 2, 8ff.; Act. 3,
17. Das ganze Gebet ist tiefernst, von christlicher Religiosität durchdrungen: die Haltung zum
literarischen, geistigen und kulturpolitischen Gegner stellt etwas Neues dar, ist von der antiken
Invektive tief geschieden. Die Bezeichnungen inscius, indocilis (1 praef. 86f.) und sagax eloquii
caput (ebd. 75), orator catus (2, 10) widersprechen einander natürlich nicht. Es geht um den
Geist der Welt und den Geist, der von Gott stammt (1 Cor. 2, 12): "Keiner der Fürsten dieser
Welt hat sie (die Weisheit Gottes) erkannt" (1 Cor. 2, 8).
25 Neben der domitianischen Ära (vgl. bes. sat. 4) bilden die tempora dira unter Nero (sat.
10, 15/18) ein Hauptziel der juvenalischen Satire (vgl. sat. 4, 136/39; 10, 306/09; 8, 211/30;
12, 129 über Nero): calvus Nero steht appellativisch für Domitian (sat. 4, 38). Es folgt das Paar
Claudius und Messalina (sat. 6, 115ff.; 10, 329/45; 14, 330f.; 5, 146/48; 3, 238); auch Claudi-
us' Apotheose wird ins Lächerliche gezogen (sat. 6, 620/23). Satirische Hiebe treffen ferner
Tiberius (sat. 10, 93f. und die ganze Passage 10, 56ff. über Sejanus), Caligula (sat. 6, 614/18)
und Otho (sat. 2, 99/109).
26 Auf Augustus und Hadrian läßt er 1, 278f. eine absichtsvoll gemischte Reihe folgen:
Traianus, Nerva, Severus, Titus, Nerones. Gerade daß er auch die 'guten' Kaiser in die Kritik
einbezieht, hat Sinn. Denn seine Kritik geht von einem Standpunkt aus, der alle mehr oder
weniger im gleichen Lichte erscheinen läßt. Theodosius bildet den scharfen Gegensatz als Be-
freier von der Dämonenherrschaft (1, 506ff., bes. 524/43); schwächer hebt sich Constantin
heraus (1, 467/95): er ist Befreier der römischen Aristokratie von der Tyrannei des Maxentius;
später, im zweiten Buch, treten die Theodosiussöhne hinzu.
27 Auch sat. 7, Iff. widerspricht dem nicht: Et spes et ratio studiorum in Caesare tantum
... Denn die Misere fiir die geistigen Berufe ist eben eine allgemeine, und nur Hadrian selbst
gibt Anlaß zur Hoffnung.
[154/155] XI. Satura tragica 239
dentius dagegen sieht mit der Annahme der christlichen Religion einen tat-
sächlichen, tiefen Wandel bewirkt. Dieser Wandel ist zwar durch Symmachus
gefährdet, aber er ist vorhanden.
4.
28 O. Ribbeck, Der echte und der unechte Juvenal, Berlin 1865, 32.
29 Tanaquil Faber, Prima Scaligeriana nusquam antehac edita, Ultrajecti 1670,65: "Juvenalis
excellens, & ou il y a de belles choses. Satyrae tragicae. Miror autem cur se dicat scripsisse
stylo Lucilii, nam nihil est dissimilius, & phrasi Horatianae".
30 Ch. Witke, Latin Satire, Leiden 1970, überschreibt ein Kapitel "Juvenal and Saturae
Tragicae" (113ff.), verfolgt aber innerhalb seiner Darstellung das 'Tragische' nicht weiter. In
240 Prudentiana II. Exegetica [155/156]
rich, der erste Latinist der Universität Bonn. Er wertet die erste, programma-
tische Satire als vollkommenen Ausdruck des "genus tragicum comico mixtum,
quod totum excoluit Juvenalis" und kommt im Laufe seines Kommentars öf-
ters auf diese Wesensbestimmung zurück31. Juvenal sei Vertreter einer "tragi-
schen Satire", er habe "an vielen Stellen bewundernswürdige Züge eines acht
tragischen Charakters"32. Scaligers Begriff sei "eine Bezeichnung, die seinen
(Juvenals) Hauptcharakter trifft, und zugleich sein wahres Verhältniss zum
Horaz überraschend aufklärt". Freilich besitze Juvenals Satire auch stark ko-
mische Züge. Daher sei ihr Charakter | "gemischt"33. Gelegentlich wird auch
ein Beispiel des "comicotragicum" bei Juvenal notiert. Der Kommentator spricht
vom "schauderhaften Eindruck" gewisser Stellen34 und urteilt: "Seine (Juvenals)
Schönheiten sind das Schrecklichschöne, seine Grazien die φοβεραι χάριτες" 35 .
Heinrich hat sich seine Anschauung des Tragischen offenbar in Anleh-
nung an den erklärten Autor und an römische Kunstauffassung überhaupt ge-
bildet. Tragicus ist in römischer Zeit Stilbegriff für das Erhabene36, hat aber
darüber hinaus zwei weitere (übertragene) Bedeutungen: die des Trauervollen
(itragicus gleich luctuosus) und die des Schauderhaften (tragicus gleich horren-
dus). Das sind die beiden Seiten des έλεεινόν und des φοβερό ν der klassi-
schen Tragödie (Aristot. poet. 1449b. 1453b), letztere aber in scharfer, einsei-
tiger Beleuchtung, mehr im Lichte des μιαρόν gesehen37. Die Bedeutung des
Schauderhaften, Schrecklichen, Widernatürlichen, Ungeheuerlichen entwik-
dem Sammelband von E.S. Ramage, D.L. Sigsbee, S.C. Fredericks, Roman Satirists and their
Satire, Park Ridge N.J. 1974, finden sich (168f.) ein paar recht passende, aber knapp und
allgemein gehaltene Bemerkungen über Juvenal als Tragiker und Epiker unter den satirischen
Dichtern (wie er sich selbst verstanden haben soll).
31 K.F. Heinrich, Juvenalausgabe (vom Sohn Karl Berthold herausgebracht, Bonn 1839),
1 (Text), 3 zu sat. 1.
32 Heinrich (o. Anm. 31), 2 (Kommentar), 13 in der Einleitung "Von der Satire".
33 Heinrich 2, 18.
34 Heinrich 2, 93f. zu Juv. sat. 2,29/33; 345 zu Juv. sat. 8, 220: "Das comicotragicum der
Juvenalischen Satire wird an dieser Stelle recht deutlich."
35 Heinrich 2,22f. Vgl. Demetr. eloc. 130: "Ομηρος ... παίζων φοβερώτερος. Zu φοβερός
als Stilbegriff s. auch Dion. Hal. Lys. 13 und Pomp. 3, 21: φοβερόν ... τό θουκυδίδου (sc.
κάλλος).
36 Vgl. etwa Cie. Brut. 203: (Sulpicius) grandis et, ut ita dicam, tragicus orator; de or. 1,
219: tragoediae ('geschwollene Reden'). Weitere Belege zu dieser sprichwörtlichen Verwen-
dung im Kommentar von Leeman-Pinkster-Nelson (Cie. de or., Bd. 2, Heidelberg 1985, 142
z.St.); vgl. auch C.O. Brink, Horace on Poetry 2, Cambridge 1971, 178, zu Hör. ars 94.
37 Zur ersteren vgl. Aug. conf. 3, 2, 2: luctuosa et tragica, sowie die ganze anschließende
Erörterung über den dolor des mitleidenden Zuschauers der theatrica spectacula. In der ver-
engten Bedeutung 'Gedicht traurigen Inhalts' geht tragoedia dann ins Mittelalter weiter, s. J.H.
Waszink, Die griechische Tragödie im Urteil der Römer und der Christen, JbAC 7 (1964), 139/
48 = Opuscula selecta, Leiden 1979, 33/42, am Schluß.
[156/157] XI. Satura tragica 241
kelt sich unter dem Eindruck der Gegenstände tragischen Spiels und Lese-
stoffs. Bezeichnend ist das Martialepigramm 10, 4. Wer einen Oedipus liest,
heißt es dort (also von Vatermord und Inzestehe mit der Mutter), einen Thyestes
(also von endokannibalistischer Mahlzeit und Inzestehe mit der Tochter), wer
Dramen liest wie die Medea (die ihren kleinen Bruder zerstückelte, ihre Kin-
der tötete, allerlei furchtbare Zauberei verübte) und die Scylla (die ihren Vater
verriet), der liest nur monstra. Die Bedeutung des Monstruosen haftet daher
dem Wort tragicus an, bis in die Spätantike. Sceleris tragici exemplum, sagt
Livius vom Vatermord; tragica fercula heißen kannibalistische Mahlzeiten bei
Tertullian. Das Wesen der Tragödie besteht nach St. Cyprian darin, die Ver-
brechen der Vorzeit aufzugreifen und | darzustellen: cothurnus est tragicus
prisca carminefacinora recensere. Lactanz nennt die tragischen Stoffe cotumata
scelera, und daher sind für ihn die "ungeheuren Verbrechen" (inmania facinora)
des täglichen Lebens "Tragödien". Grande aliquod ... crimen bildet schließ-
lich auch für Prudentius das Sujet tragischen Spiels38. Inwieweit diese Charak-
teristik zutrifft, können, eher als die griechischen Dramen, Senecas Tragödien
lehren, die das Böse und Gräßliche in einer neuen Weise hervorbringen39. Wie
nun überhaupt die Darstellung des Schauerlichen um sich greift, wie sie auch
von den Epikern der Kaiserzeit beherrscht wird40, so wird sie auch von Juvenal
in die Sittengemälde seiner Satiren einbezogen.
5.
Ich bringe ein Beispiel aus der zweiten Satire. Zu den heuchlerischen
Sittenrichtern wird dort auch Domitian gerechnet, der die 'lex Iulia de adulte-
riis et stupro' erneuerte, aber mit seiner Nichte Julia ein Verhältnis hatte und
die Schwangere zwang, Abortivmittel zu nehmen, woran sie starb. Von ihm
heißt es sat. 2, 29/33:
38 Mart, epigr. 10, 4, If.; Liv. 1, 46, 3; Tert. apol. 9, 9; Cypr. ad Don. 8; Lact. inst. 6,
20, 28; de ira Dei 18, 11; Prud. c. Symm. 2, 647f. Vgl. auch Auson. eph. 8, 11 (p. 14 Peiper)
= eph. 7, 11 (p. 12 Prete): ... tragicospatimurper somnia coetus. Von hier aus geht tragicus in
die Bedeutung 'wild', 'unzivilisiert' (a fens moribus) über: Euanthius, de fabula 1, 4 (Donat.
comm. Ter. ed. Wessner 1, 14).
39 Hierzu s. O. Hiltbrunners Literaturbericht über Seneca tragicus, ANRW 32 (1985),
970ff., bes. 975. 1003. 1036 zu Arbeiten Paratores, I. Opelts, Knoches.
40 Literatur dazu in meinen 'Studien zur Psychomachie des Prudentius', Wiesbaden 1963
( = Klassisch-philologische Studien 27), 49 mit Anm. 3 und 6; s. ferner M. Fuhrmann, Poetik
und Hermeneutik 3 (1968), 23/66.
242 Prudentiana II. Exegetica [157/158]
"(Solch ein Heuchler) war unlängst der Ehebrecher, der sich durch
ein Beilager nach Art der Tragödie besudelte. Er erneuerte die
Gesetze, die für alle bitter sind und die sogar Venus und Mars
fürchten müssen, während Julia ihren fruchtbaren Leib immer
wieder durch Abortiva löste und Klumpen gebar, die dem Oheim
ähnelten."
"Eine Stelle von der grössten Energie, von wahrhaft schauderhaftem | Ein-
druck", urteilt Heinrich41. Durch solche Züge mußte die Satura ein neues,
dunkles Pathos annehmen, und Juvenal selbst war sich dessen durchaus be-
wußt. In der Weibersatire spricht er von habsüchtigen Müttern, die ihre eige-
nen Kinder vergiften, und macht sich dann selbst einen ironischen Einwand
(sat. 6, 634/39):
"Natürlich, ich erfinde das nur! Meine Satire nimmt den hohen
Kothurn, Grenze und Gesetz der Vorgänger überschreite ich, las-
se, von Bacchus begeistert, ein erhabnes Gedicht ertönen nach
sophokleischer Art mit weit geöffnetem Munde42, wie es den Ber-
41 Heinrich (o. Anm. 31) 2, 93. Ausdrückliche Hinweise auf die Tragödie finden sich,
jeweils in der charakteristischen Art der Überbietung, noch Juv. sat. 8, 215ff. (Vergleich des
Muttermörders Nero mit Orestes): Par Agamemnonidae crimen, sed causa facit rem Dissimi-
lem ...; sat. 15, 29ff. (über einen Fall von Kannibalismus): (referemus) Nos volgi scelus et
cunctis graviora cothumis. Nam scelus, a Pyrrha quamquam omnia syrmata volvas, Nullus
apud tragicospopulus facit. accipe nostro Dira quod exemplum feritasproduxerit aevo. Vgl.
auch sat. 12, 115/27; etwas anders sat. 14, 284/87, aber auch hier geht Vergleich mit dem
Theater vorher (256ff.): das Leben bietet mehr als die Lustbarkeiten im Theater.
42 Sophocleo ... hiatu wie Hör. ars 138 tanto ... hiatu, kaum mit Bezug auf die Maske.
[158/159] XI. Satura tragica 243
gen der Rutuler und dem Himmel Latiums unbekannt ist. Ach,
wäre ich doch ein Schwätzer! Aber Pontia ruft: 'Ich hab' es ge-
tan, ichgesteh's ..."'
Zweierlei liegt darin: daß Juvenal die Greuel des Lebens nicht erfindet -
im Unterschied zur Tragödie; und daß er dennoch, gewissermaßen durch die
Tatsachen gezwungen, welche allein schon ύλη τραγική bilden43, der Tra-
gödie sich nähert und von der Satire sich entfernt. Sein Gedicht, meint er,
nehme von selbst Züge des Erhabenen an. Die grandia monstra (sat. 6, 645)
erzeugen gleichsam ein grande carmen (636). Nicht ich bin es, will er sagen,
der willkürlich das Gesetz der Gattungen mißachtet. Dieses Gesetz, wie es von
Horaz für Komödie und Tragödie formuliert wird (ars 89/91), | verlangt eine
dem Stoff angemessene Stilwahl, es verbietet daher, thyesteische Mahlzeiten
carminibus privatis zu behandeln, in Gedichten niederen Stils also, welche
gewöhnliche, nicht-heroische Schicksale schildern44. Aber gerade darüber, meint
Juvenal, setzt sich das Leben hinweg: das Leben ist es, das die lex opens
mißachtet, das die Grenzen für ungültig erklärt, die der Literat zieht. Und
damit darf sich der Satiriker für entschuldigt halten; denn das Leben aufzu-
zeichnen, wie es sich vor seinen Augen abspielt (vgl. sat. 1, 63ff.), dazu war
er angetreten. Die Merkmale der Gattungskreuzung, die Mischung des Satiri-
schen und des Tragischen, ergeben sich ihm mithin aus der Sache, die er sich
vornahm45.
43 Vgl. Polyb. 2, 16, 14. Die folgenden Verse (Juv. sat. 6, 641ff.) verraten übrigens die
Benutzung der Tragödie Senecas (Med. 953/57) durch den Satiriker; vgl. O. Zwierlein, Kriti-
scher Kommentar zu den Tragödien Senecas, Mainz 1986 ( = Akad. Mainz, Geistes- und
Sozialwiss. Kl., Einzelveröffentlichung 6), 340.
44 Vgl. Cie. opt. gen. or. 1: in tragoedia comicum vitiosum est et in comoedia turpe
tragicum. Horaz fußt auf der aristotelischen Rhetorik (3, 7, p. 1408 a, lOff.): s. Brink (o. Anm.
36) 1, 97f. Der Junktur carminibus privatis liegt die Definition der Komödie als ιδιωτικών
πραγμάτων ακίνδυνος περιοχή (Diom. ars 3, GL 1, p. 488, 4 Keil) zugrunde. In gewisser
Weise folgt Juvenal freilich mit seiner Berufung auf das 'Leben' gerade der Bahn, die Horaz
vorgezeichnet hatte: ein Pathos, so Horaz (serm. 1, 4, 45/62; vgl. ars 93ff.), das nur gibt, was
das Leben zeigt, macht aus der Dichtung niederen Stils, aus Komödie und Satire, noch keine
(hohe, echte) Poesie - verletzt also das Gesetz der Gattung auch nicht! Juvenal geht in dieser
Richtung weiter.
45 Daß er freilich den Wechsel in Thema und Stilhöhe durchaus auch wirkungsvoll einzu-
setzen versteht, vor allem dort, wo er das Epos parodiert wie in der vierten und zwölften Satire,
ist unverkennbar, und der Dichter hat das gewiß nicht leugnen wollen; vgl. hierzu Inez Gertrude
Scott, The Grand Style in the Satires of Juvenal, Northampton/Mass. 1927 ( = Smith College
Class. Stud. 8), passim. Aber das παρατραγωδεΐν (wie es in der lateinischen Poesie etwa
Phaedr. 4, 7 vorfiihrt) hat Juvenal an jener Steile natürlich nicht im Auge: es trifft überhaupt
nicht das Wesen der 'satura tragica'.
244 Prudentiana II. Exegetica [159/160]
Zum Eindruck des Grauenvollen fügt sich der des Jammervollen. Der
Satiriker sieht, wie die Menschen unter den selbstverschuldeten Verhältnissen
leiden. Miser ist eines seiner Lieblingsworte. "Dahin, ach, ist es mit uns Ar-
men gekommen!" Illic heu miseri traducimur (sat. 2, 159). Der Ausruf faßt
den ganzen Jammer zusammen. So nimmt Juvenals Satura bisweilen geradezu
den Charakter einer 'miseratio' an. Das heißt: auch das andere Element des
'Tragischen', das luctuosum, ist seiner Dichtung verwoben. Durchwaltet wird
das alles von der berühmten juvenalischen Empörung, die nach der Selbstaus-
sage des Dichters (si natura negat, facit indignatio versum, sat. 1,79) seine
Kunst motiviert. Beides, Jammer und Empörung, verbindet sich nicht nur dem
Ausdruck nach, sondern auch in der ganzen Art der Darstellung. Als Beispiel
könnte etwa die Versreihe dienen, die vorführt, wie der hungernde, vor Wut
weinende Klient dem Reichen als Amusement bei der Tafel dient (sat. 5, 156/
60). |
6.
Nicht als ob sich solche Szenen tatsächlich ohne jeden Willen zur Gestal-
tung, allein aus der Anschauung des Lebens bildeten! Oder als ob der Satiriker
nur aus der Tragödie selbst hätte solchen Atem ziehen können! Auch in den
Grundmotiven seiner Weltsicht ist der " Juvenalis declamans" und der " Juvenalis
ethicus" angeregt durch die Rede und das philosophische Schrifttum46. Auch
der Moralphilosoph schüttet seinen Jammer über das Menschengeschlecht aus,
auch er hält uns gelegentlich die Untaten der Bühne als Schreckbilder vor
Augen. Wie Juvenal in der Weibersatire fand auch Seneca in der Schrift De
matrimonio alle Scheußlichkeiten der Tragödie durch die Clytaemnestrae und
Eriphylae des täglichen Lebens überboten47. Vor allem aber vereint Juvenal
die beiden Hauptwirkungen pathetischer Rede: indignatio und miseratio, horror
46 Ich wiederhole im Text die Titel zweier älterer Juvenalstudien: R. Schuetze, Juvenalis
ethicus, Greifswald 1905; J. De Decker, Juvenalis declamans, Gent 1913.
47 Seneca bei Hier. adv. Jovinian. 1, 48 = Sen. frg. 66/67 Haase; vgl. E. Bickel, Diatribe
in Senecae philosophi fragmenta I, Leipzig 1915, 392, 1/7, und jetzt M. Lausberg, ANRW II
36, 3 (1989), 1899/1917. Auch sonst kann angesichts ungeheuerlicher Ereignisse die Erinne-
rung an die Tragödie wachgerufen werden. So leitet Apuleius eine der Phaedra-Sage ähnelnde
Erzählung folgendermaßen ein (met. 10, 2): iam ergo, lector optime, scito te tragoediam, non
fabulam legere et a socco ad coturnum ascendere (Hinweis R. Häußler). Vgl. auch Lactanz an
der oben S. 241 [15η (Anm. 38) berührten Stelle de ira Dei 18, 11 (CSEL27, 117): bine cotidie
ad immaniafacinora prosilitur, hinc tragoediae saepe nascuntur.
[160/161] XI. Satura tragica 245
in seiner Satura äußerte51. Die zwei (verderbten) Verse, die wir von ihm ha-
ben, scheinen das zu bestätigen52. Ich erinnere hier | weiter an die Menippea
Senecas, und dort etwa an die Augustusrede53, oder an die Szene, da Claudius
die Unterwelt betritt. Wenn Augustus angesichts des Tölpels zunächst keine
Worte findet und seiner Empörung durch eine Aposiopese Luft macht (omnia
infra indignationem verba sunt), dann Claudius' willkürliche Todesurteile,
besonders die Verwandtenmorde, aufzählt (apocol. 10, 2/4; 11,5), wenn spä-
ter die Schar der Ermordeten dem Neuankömmling im Hades entgegenzieht
und auf die Frage des Trottels: "Wie seid denn ihr hierher gekommen?" einer
der Schatten sich zum Sprecher macht und antwortet: quid dicis, homo
crudelissime ... (ebd. 13, 4/6), so sind das Szenen, auf die sich Heinrichs
Begriff des 'comicotragicum' durchaus anwenden ließe. Und vielleicht sagte
er in solcher Anwendung mehr als der Begriff des σπουδογέλοιον, den wir
gewöhnlich auf die Satire allgemein beziehen. Man könnte sich für eine solche
Begriffsbildung, die allerdings sachlich von der 'tragicomoedia' im Prolog des
plautinischen Amphitruo54 ebenso zu scheiden wäre wie von modernen Ideen
einer Tragikomödie55, sogar auf die Autoren selbst stützen. Denn Juvenal sieht
51 Vgl. auch das Lob auf ihn Mart, epigr. 7, 97, 7f.: Nam me diligit ille (i.e. Caesius
Sabinus) proximumque Turni nobilibus legit libellis. Der Frage, inwieweit die
Satiriker der Kaiserzeit hierin die Art des Lucilius fortsetzten, gehe ich nicht nach; Beachtung
verdient jedenfalls, daß Lucilius bei Juv. sat. 1, 19f. 165f. in Bildern vorgeführt wird, die an
den hohen Stil und an das Epos denken lassen.
52 Σ Juv. sat. 1, 71 p. 8 Wessner (FPLp. 134 Morel, p. 166 Büchner). In der emendierten
Fassung, die das Scholion des Probus Vallae bietet (bei Wessner ebd. unter dem Text), lauten
die Zeilen: Ex quo Caesareas soboles Locusta cecidit, Horrendum curas dum liberal atra
Neronis (den ersten Vers hielt Leo fiir richtig hergestellt: Jahn-Bücheler-Leo, Ausgabe des
Persius und Juvenal, Berlin "1910,286, er erscheint auch so in den Ausgaben; zur Textherstellung
s. im übrigen A. La Penna, Maia 7, 1955, 135f.; A. Mazzarino, Orpheus 3, 1956, 81f.). Die
Verse lassen jedenfalls einen Atem spüren, wie er uns aus Juvenals Satiren anweht.
53 Zur Augustusrede s. O. Zwierlein, Rhein. Mus. 125 (1982), 162/75. Ein Versuch aus
neuerer Zeit, die Rede als Zeugnis versteckter Kritik an Augustus selbst zu deuten, ist von R.
Jakobi, Gnomon 60 (1988), 202/09, überzeugend zurückgewiesen worden. Vgl. auch U. Knoche,
Das Bild des Kaisers Augustus in Senecas Apocolocyntosis, Ausgewählte kleine Schriften, hrsg.
von W.-W. Ehlers, Frankfurt a.M. 1986 (= Beiträge z. Klass. Philol. 175), 394/413, bes.
402f.; H. Horstkotte, Die 'Mordopfer' in Senecas Apocolocyntosis, ZPE 77 (1989), 113/43.
54 Zum Wort tragicomoedia im Prolog des plautinischen Amphitruo s. W. Schwering,
Indog. Forsch. 37 (1916), 139/41. Gemeint ist hier ein Stück, in dem Götter, Könige (wie in der
Tragödie) und Sklaven (wie in der Komödie) auftreten.
55 Der Begriff schillert überhaupt in so bunten Farben, daß man ihm nicht noch weitere
Geltung verschaffen möchte. Vgl. H. Günther, Art. 'Tragikomödie', Reallex. der deutschen
Literaturgeschichte 4, 2 1984, 523/30 (mit Lit.). Innere Zusammenhänge moderner Theorie des
Dramas mit dem, was der römische Satiriker beabsichtigte, können sich vielleicht dort ergeben,
wo die Stilmischung zur angemessenen Darstellung der Wirklichkeit eingesetzt werden soll;
vgl. die Hinweise ebd. 523f.
[162/163] XI. Satura tragica 247
7.
Schaut man nun von hier aus auf Prudentius, auf sein Gedicht Contra
Symmachum, dann wird mit einem Mal klar, worin die Ähnlichkeit eigentlich
besteht. Wesentliche Züge der 'satura tragica', das Schauerliche, Jammervolle
und die Empörung, finden sich hier wieder. Nur in einer neuen Vertiefung. Es ist,
als ob erst jetzt die Gründe solcher Sicht des Lebens aufgingen, als ob Juvenals
Sehweise erst jetzt gerechtfertigt sei. Bei Prudentius ist der Grund des Elends
und des Grauens die falsche Religion, die Herrschaft der Dämonen57, die frei-
lich nur durch die Verblendung der Menschen möglich wurde. Und Prudentius
zeigt den Ausweg, die Befreiung. Bei Juvenal liegt Resignation über allem: bei
größter Empörung sieht er doch keine Besserung. Das Elend ist aus seiner
Sicht sozial begründet, wenn auch nicht ausschließlich. Es gibt auch für ihn
eine Torheit der Menschen, die aber im Grunde unbegreiflich bleibt. Juvenal
hat auch kein echtes Ideal, kein Dogma, für das er sich begeistern könnte. Die
alte Zeit bildet nicht den Idealzustand, weil sie ihm im Lichte der Primitivität
erscheint - das ist Poseidonios' Erbe58. Was er tatsächlich empfiehlt, die übli-
56 Claudian. in Eutr. 1,298f. Neben den luctus cothurni wird hier auch das foedum (μιαρόν)
der Tragödie ins Auge gefaßt, vgl. ebd. 287ff.: Nil adeo foedum, quod non exacta vetustas
Ediderit... (Tragödienstoffe folgen). All das überbietet der Eunuch als Consul: er ist ein Mon-
strum und doch zugleich Gegenstand des Gelächters wie ein verkleideter Affe (ebd. 303/07).
57 Vgl. Prud. c. Symm. 1, 524/43, bes. 533ff.: errabant hostes per templa, per atria
passim ... eqs.
58 Vgl. Juv. sat. 6, 1/13, und dazu Poseidonios bei Sen. epist. 90, 5/10. Ob Poseidonios
selbst das Goldene Zeitalter mit den Zügen der Primitivität ausstattete oder nicht vielmehr zwei
Phasen unterschied, erörtert B. Gatz, Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen,
Hildesheim 1967 (Spudasmata 16), 158.
248 Prudentiana II. Exegetica [163/164]
che Lehre von Tugend und Seelenruhe (sat. 10, 354ff.), klingt verhalten59,
wird ohne das Feuer | vorgetragen, das wir sonst an ihm kennen, bildet jeden-
falls nicht das Mittel, das eine Änderung im Großen könnte erwarten lassen.
Durch Prudentius' Gedicht dagegen weht ein frischer Geist, Grund und Mög-
lichkeit der Freiheit sind erkannt. Eine Aufbruchsstimmung herrscht, der gro-
ße Atem der frühen Kirche durchweht das Werk. Die grellen Sittengemälde,
die er voranschickt, dienen dem Protreptikos, der mit der Theodosiusrede
einsetzt (1,415ff.), dem Aufruf zur Bekehrung und damit zur großen kulturel-
len Erneuerung. Jene Eindrücke juvenalischer Satura werden herübergenom-
men, weil sie wahr sind. Aber warum sie wahr sind, sieht man erst jetzt. Es
sind also verdunkelte Einsichten, die der Christ nutzt, und indem er sie nutzt,
werden sie durchsichtig auf die volle Wahrheit hin, die zuvor in ihnen nicht
erkennbar war. Zugleich treten die Züge der 'satura tragica' bei Prudentius in
den Dienst eines großen weltanschaulichen Kampfs und eines geschichtlichen
Entwurfs. Dargestellt wird nicht die Unmoral der eigenen Zeit und der eige-
nen Kultur schlechthin, sondern die der heidnisch geprägten, nichtchristlichen
Kultur, und es wird der Versuch unternommen, diese Verhältnisse in ihrer
geschichtlichen Entwicklung zu betrachten und zu erklären60.
Juvenalische 'miseratio' offenbart sich auch bei Prudentius durch Aus-
drücke des Jammers, reicht insgesamt aber tiefer. Die Nachfahren, heißt es,
kamen nicht los vom Brauchtum ihrer einfältigen Ahnen: longum miseris
processit in aevum Mos patrius (1, 153f.). Heu miserih der Ausruf begleitet
die Erwähnung des Janusfests an den Januarkaienden (1, 239). Beim Anblick
der noch immer götzendienerischen Stadt seufzt Theodosius vor Mitleid: in-
gemuit miserans (415). Elend und unwürdig sei es, hält er der Roma vor,
wenn sie sich in der Religion nicht von den wilden Völkern unterscheide:
indignum ac miserum est... (1, 458). Hier, wie auch sonst, verbindet sich mit
dem Jammer der Ausdruck des Unwillens. Der Sonnenkult, meint der Dich-
ter, sei noch irgendwie erträglich {hoc tarnen utcumque est tolerabile), was
aber soll man zum Kult der Unterirdischen sagen (1, 354f.)? Wendungen wie
quid sibi vult (sc. ars inpia ludip. nonnepudet...? (1, 382. 390) und einge-
59 Den berühmten Vers 10, 356: orandum est, ut sit mens sana in corpore sano, hat M.D.
Reeve, Class. Rev. 20 (1970), 135f., für unecht erklärt (Hinweis O. Zwierlein). Seine Gründe
sind überzeugend. Zum Ganzen vgl. J. Adamietz, Juvenal, in: Die römische Satire, hrsg. von
dems., Darmstadt 1986, 231/307 (238/43).
60 Die Mittel dazu liefert der antike Weltaltermythos, die Depravationstheorie und der
Euhemerismus: das alles zu einem neuen Faden zusammengewirkt zu haben, der von der Urzeit
her bis in die römische Kaiserzeit fortläuft, darin liegt die kompositorische Leistung des Dich-
ters im ersten Buch c. Symm.; vgl. o. Anm. 13.
[164/165] XI. Satura tragica 249
streute Interjektionen, heu (1, 381. 393), ecce (402), en (408), erneuern den
Ton der Entrüstung. Auch der Eindruck des Schauderhaften fehlt nicht. Er
steigert sich mitunter bis zur Wirkung des Furchtbaren, so im zweiten Buch
beim Rückblick auf die Verfolgungszeit. Decius und andere Christenverfolger
brannten darauf, klagt Roma, ihre Mordlust zu stillen | Undantesque meum in
gremium defundere mortes (2, 676). Ein unübersetzbarer Vers, etwa: "Mas-
sen blutüberströmter Leichen mir in den Schoß zu legen".
8.
61 Hierzu verweise ich im voraus auf den Artikel 'Humor* im RAC (G. Luck): [s. unten S.
569f.].
62 Sie sei dem väterlichen Verhältnis, in dem Ausonius zu ihm (zu Paulinus) stehe, nicht
angemessen: Paulin. Nol. carm. 10, 260/64 (CSEL 30, 36): midta iocispateant, liceat quoque
ludere fictis. Sed lingua mulcente gravem interlidere dentem, Ludere blanditiis urentibus et
male dulces Fermentare iocos satirae mordacis aceto Saepe poetarum, numquam decet esse
parentum. Es läßt sich wohl kaum verkennen, daß damit überhaupt der Gebrauch bissiger Scherze
für den Christen eingeschränkt wird. Über den Charakter der Satire als einer Mischung aus Süß
und Bitter (melxmdfel) vgl. Auson. epist. 11, 1/10 (p. 236f. Peiper) = epist. 9, 1/10 (p. 245f.
Prete). Wo sonst christliche Dichter der Satire sich nähern (vor allem Ps.Paulin. carm. 32, 19/
150 [CSEL 30, 330/35], dann auch Ps.Cyprian, Ad quendam senatorem [CSEL 23,227/30] und
der Verfasser des Carmen contra paganos: Anthologia lat. 1/1, p. 17/23 Shackleton Bailey), tun
sie es in gleicher Sache wie Prudentius. Über Verfasserschaft und Datierung s. die Literaturhin-
weise bei Döpp (o. Anm. 21).
63 Augustinus warnt die Gegner davor, seine ersten Bücher De civitate Dei durchzuhecheln
garrulitate inpudentissima et quasi satyrica vel mimica levitate (civ. 5, 26, p. 241, 19ff. Dom-
bart-Kalb5). Zur erweiterten Bedeutung des 'Satirischen' in der Spätantike s. K.M. Abbott,
Satira and Satiricus in Late Latin: Illinois Class. Stud. 4 (1979), 192/99.
250 Prudentiana II. Exegetica [165/166]
Rhetorik zog, wenn sie furchtbare Verbrechen ebenso wie großes Elend von
einer scherzhaften Behandlung durch den Redner ausschloß64. |
Aber gerade in der Anwendung des 'ridiculum' hatte Juvenal dem christ-
lichen Dichter eine Möglichkeit eröffnet. Denn wenn auch Juvenals Heiterkeit
sehr verschiedene Töne kennt, darunter auch recht feine und gedämpfte65, so
sind doch seine Satiren weithin von dem geprägt, was er selbst dierigidicensura
cachinni nennt (sat. 10, 31). Der Ausdruck fällt innerhalb eines Vergleichs der
beiden Weisen Heraklit und Demokrit, des weinenden und des lachenden Phi-
losophen. Demokrits Lachen empfindet der Satiriker als angemessene und
natürliche Äußerung angesichts des menschlichen Treibens (ebd. 28ff.). Da-
raus ist kein Widerspruch zu den Zügen des Elends und Grauens bei Juvenal
abzuleiten; die 'satura tragica' mischt eben die Elemente, und als ehernes
Gesetz dürfen wir jene Verse nicht nehmen. Aber es ist eben doch bezeich-
nend, welches Lachen der juvenalische Demokrit hören läßt.
Auch Seneca hat nämlich den Vergleich der beiden Weisen, und auch er
stellt Demokrits Lachen ganz entschieden über das Weinen Heraklits. Aber
Seneca empfiehlt ein heiter-gelöstes Lachen, das dem Ideal der tranquillitas
animi nahekommt: die Schlechtigkeit der Menge darf uns nicht zum Gram
verleiten, sie soll uns nicht verhaßt sein, sondern lächerlich vorkommen; wie
Lappalien (ineptiae) sollen uns die Laster anmuten, nicht wie Äußerungen des
Elends (miseriae); das Lachen ist vorzuziehen, weil es nur einen "sehr milden
Affekt" erregt, weil es Zeichen eines Geistes ist, der "nichts von all dem
Getriebe für bedeutend, nichts für ernst, noch nicht einmal für elend hält"66.
Der Abstand zur rigidi censura cachinni Juvenals, "zur Rüge durch streng-
richtendes Gelächter"67 ist groß, denke ich, noch größer freilich zu jeder Äu-
ßerung christlicher Weltsicht68. Vom Demokrit Senecas führt kein Weg zu
64 Cie. de or. 2, 237f.: narrt nec insignis improbitas et scelere iuneta nec rursus miseria
insignis agitata ridetur: facinerosos [enim] maiore quadam vi quam ridiculi vulnerari volunt;
miseros inludi nolunt, nisi se forte iactant... itaque ea facillime luduntur, quae η e que ο di ο
magno ne que mi s er i c or di a maxima di g na sunt. Es gilt als Beweis der
persönlichen Eigenart großer Redner, wenn Cicero an C. Julius Caesar Strabo rühmt, er habe
"tragische Stoffe beinahe komisch" behandelt (ebd. 3,30: quis umquam res praeter hunc tragicas
paene cornice, tristes remisse, severas hilare, forertses scaenicaprope venustate tractavit...?).
65 Diesen Feinheiten geht jetzt Susan H. Braund nach: Beyond Anger. Α Study of Ju-
venal's third Book of Satires, Cambridge 1988. Sie sucht Andersons These (s. den Exkurs u. S.
260/62 [176f.]) genauer zu fassen.
66 Sen. tranquill. 15, 1/5; vgl. de ira 2,10,5/8. Vgl. C.E. Lutz, Democritus and Heraclitus,
Class. Journ. 49 (1953/54), 309/14.
67 Der Ausdruck läßt keinen Zweifel an der Art des Gelächters, vgl. etwa Juvenal selbst,
sat. 11, 91f.: rigidique severos Censoris mores.
68 Vgl. unten S. 260/62 [176f.], Exkurs.
[166/167] XI. Satura tragica 251
Prudentius, wohl aber vom Demokrit Juvenals. | Der Dichter selbst gibt uns
einen Hinweis darauf. Nach einer brillanten Versreihe (2, 393ff.), welche die
Annahme der Existenz eines genius urbis geißelt - wie, fragt der Dichter, soll
man sich die Entstehung eines solchen Schutzgeistes der Stadt Rom vorstellen:
ist er aus dem Gesäuge der Wölfin geflossen, als sie die Zwillinge nährte?
Flatterte er als Luftgebilde mit Romulus' Geiern umher? usw. - , schließt er
mit dem Ruf (2, 403): quae quis non videat sapientum digna cachinno? Die
Anspielung auf Juvenal und seinen Demokrit scheint bisher nicht bemerkt
worden zu sein, sie ist aber doch deutlich69. Prudentius hat dasselbe Wort wie
Juvenal, cachinnus70, das übrigens auch der Satiriker Persius auf sich selbst
anwendet (sat. 1, 1 If. tunc, tunc ... cachinno, "muß ich lachen"). Das ist ein
klarer Bezug auf das Programm der juvenalischen Satire. Und Prudentius hat
ihn sogar noch einmal wiederholt. Nicht im Gedicht gegen Symmachus, an-
dernorts zwar, aber in gleichem Zusammenhang: in Abwehr der Torheiten
heidnischer Superstition. Der Märtyrer Romanus führt sie bei seiner Verneh-
mung vor (per. 10, 166ff.), weist darauf hin, daß der Richter selbst sich im
Theater über die Liebesabenteuer der Götter amüsiere (ridesque et ipse, 224),
ja sich vor Lachen ausschütte (per cachinnos solveris, 226), und dann, nach-
dem er die ländlichen Gottheiten, die Fauni, Priapi und Nymphen, der Lächer-
lichkeit preisgegeben hat (241/45), folgert er:
Wie der Heide im Theater, bricht der Christ allenthalben in Gelächter über die
Götter aus. Und das ist eben wieder der satirische cachinnus. Die Frage |
69 Stella Marie (o. Anm. 15) 46 erwähnt die Juvenalstelle nur in anderem Zusammenhang; in
Bergmans 'Index imitationum' fehlt sie ebenso wie in den anderen Ausgaben (Arevalo, Lavarenne).
70 Die Wortbedeutung erhellt aus dem Lob, das Hieronymus dem jungverstorbenen Nepotian
spendet (Hier, epist. 60, 10): gaudium risu, non cachinno intellegeres. Daher heißt es im
252 Prudentiana II. Exegetica [168]
nonne pulmonem movet Derisus ...? ruft das Gelächter des juvenalischen
Demokrit in Erinnerung (perpetuo risupulmonem agitare solebat, sat. 10,33).
Die Ausgaben verzeichnen den Anklang auch hier nicht, aber es kann kaum
zweifelhaft sein, daß Prudentius auch diesmal an Juvenal dachte. Die beiden
Stellen (c. Symm. 2, 403 und per. 10, 248f.) ergänzen einander und stützen
zusammen diesen Eindruck.
9.
Wir fassen darin ein Merkmal der bewußten Nutzung juvenalischer Satura
- nicht nur dem Worte, sondern dem Geiste nach71. In dieser Art erkannte der
christliche Dichter etwas Brauchbares, andere Formen des Lächerlichen wä-
ren es nicht gewesen. Und eben darin offenbart sich für uns ein Grundzug
christlicher Chresis überhaupt: das Prinzip der Unterscheidung, der energischen,
zielgerichteten Auswahl. Erleichtert wurde ihm die Aufgabe gewiß dadurch, daß
große Polemiker unter den Vätern wie Tertullian gelegentlich Töne anschla-
gen, die an das zensorische Gelächter Juvenals anklingen oder doch hinsicht-
lich Empörung und Bitterkeit (indignatio und fei) an den Satiriker erinnern72.
Freilich gibt das Lachen nur eine Grundstimmung an. Demokrits Geläch-
ter ist mehr Symbol als literarische Wirklichkeit. Denn eine Satire entsteht
nicht, indem man lacht, sondern indem man schreibt oder spricht. Wenn wir
mit literarischen, d.h. mit rhetorischen Begriffen treffen wollen, was der cachin-
nus bei Juvenal und Prudentius ausdrückt, müssen wir auf die Lehre von den
Tropen schauen. Denn durch sie wird die verschiedene Tönung der irrisio
faßbar. Und wir brauchen uns auch nicht lange umzusehen, um das Passende
Juvenaltext auch (sat. 10, 33): perpetuo risu pulmonem agitare solebat, wodurch der cachinnus
(31) erklärt wird.
71 Recht gute Bemerkungen zur Sache finden sich bei Stella Marie (o. Anm. 15), die über
die wörtlichen Übereinstimmungen hinaus einen gemeinsamen Geist beider Dichter zu erfassen
sucht; sie sieht auch richtig die Unterschiede (50. 52), aber ihr fehlt der Gesichtspunkt der
χρήσις, unter dem sich erst der Einsatz der juvenalischen Mittel als diakritische Anwendung
und voll bewußte Umorientierung erschließt. Wie sich das Element des Lächerlichen bei beiden
Autoren mit der Götterkritik verbindet, zeigt der Vergleich Juv. sat. 6, 533f. und Prud. c.
Symm. 1, 630: s.o. Anm. 17 und Stella Marie 49.
72 Bezeichnend, wie Tertullian den Ersten Korintherbrief las (Tert. pud. 14,4/8): animadver-
tamus autem totam epistulam primam, ut ita dixerim, non atramento, sed feile conscriptam,
tumentem, indignantem, dedignantem, comminantem, invidiosam ... Vgl. dazu Boughner (o.
Anm. 14) 23ff.
[168/170] XI. Satura tragica 253
zu entdecken. Denn es ist ohne Zweifel der σαρκασμός, der hier dem harten
Lachen des Satirikers entspricht: exacerbatio | oder locus cum amaritudine
heißt er lateinisch73. Diomedes definiert74: sarcasmos est plena odio atque hostilis
inrisioperfiguram enuntiata. Diese Definition erinnert daran, daß der Sarkas-
mus eigentlich zu den Wortfiguren gehört, zunächst also mit dem Bedeutungs-
spiel einzelner Wörter verbunden wird. Aber was für die Ironie gilt, gilt auch
für den Sarkasmus: er neigt zur tropischen Gedankenfigur, da oft schon die in
einem Wort enthaltene irrisio dem weiteren Zusammenhang die Farbe gibt75.
Ja, vielleicht darf man den Begriff sogar aus der Zwangsjacke der rhetori-
schen Figurenlehre befreien und ihn in einem weiteren Sinne auf solche Reden
anwenden, die aus ernster Absicht heraus das Verkehrte cum mordaci irrisione
anprangern76.
10.
Was nun der Sarkasmus wirklich ist, wie sich in ihm iocus und amaritudo
verbinden, welchen Platz er in der christlichen Polemik einnimmt, das lehrt
besser als alle Regeln ein Beispiel aus der Korrespondenz des hl. Augustinus.
In der Stadt Calama war es aus Anlaß eines heidnischen Fests zu Ausschreitungen
gegen die Christen gekommen. Strafe stand zu befürchten, und so wandte sich
ein angesehener Bürger der Stadt namens Nectarius an den Bischof von Hippo.
Nectarius bat um Fürsprache für die Mitbürger: er sei doch schon alt und
wolle seine Vaterstadt "blühend" hinterlassen77. An | diesen Begriff heftet
73 Vgl. ThLL 5,2, 1131,45ff. s.v. exacerbatio; ferner Serv. Aen. 2, 547 (1 p. 302 Thilo):
'referes ergo haec' sarcasmos est, iocus cum amaritudine ... astismos autem est urbanitas sine
iracundia... eqs.
74 Diom. ars (GL 1, 462, Z. 32ff.): nach Diomedes ist der Sarkasmus eine der sieben
Arten (species) des Tropus der Allegorie, wie ironia, astismos etc.; vgl. Charis., GL 1, 276, Z.
25ff. Quintilian bezeugt (inst. 8, 6, 58), daß manche Theoretiker in σαρκασμός, άστεισμός
etc. nicht Arten der Allegorie sahen, sondern selbständige Tropen.
75 H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, 303 § 585; R. Volk-
mann, Die Rhetorik der Griechen und Römer, Leipzig 21885 ( = Hildesheim 1963) 432f. Zur
Ironie als Gedankentropus (simulatio, dissimulatio) s. Lausberg 446/50 §§ 902/04.
76 So machte einst Augustinus als Rhetoriklehrer zu Carthago die Leidenschaft für die
Zirkusspiele lächerlich und brachte dadurch, ohne es zu wissen, den Freund Alypius zur Besin-
nung: Aug. conf. 6, 7, 12. Es ist eben dieser Ton, den der Christ gegenüber den Verkehrtheiten
heidnischen Götterkults anschlägt: lugenda risit numina, sagt Ennodius (carm. 1, 12, 21, CSEL
6, 543) von Cyprian und drückt damit auf pointierte Weise die Verbindung von luctus und iocus,
d.h. den Ernst solchen Spotts aus.
77 Nectar. Aug. epist. 90 (CSEL 34/2; 426, 8/10) vom Juni/Juli 408 (oder 409?).
254 Prudentiana II. Exegetica [170]
Der Passus bietet ein Muster des Sarkasmus, der über die ganze Umgebung
sein Licht verbreitet79. Indem Augustinus, auf die Brandschatzungen des Pö-
bels in Calama abzielend, die beiden indirekten Fragesätze gegeneinander aus-
spielt (non tarn experti sumus ... quam), das "Brennen" wörtlich faßt und das
Ganze in Form der 'correctio' (immo vero ...) schärft, schließlich mit einem
Ausruf (o flores ...) die wahre Art jener "Blüten" enthüllt, liefert er ein mehr-
fach abgestuftes Beispiel für den iocus cum amaritudine. Aber nicht allein
deswegen verdient der Fall besondere Beachtung. Das Besondere liegt darin,
daß die beiden Korrespondenzpartner später noch einmal auf diese Äußerung
zurückkommen und dabei den Sarkasmus gleichsam nach den beiden Seiten
seines Wesens hin entfalten. Nectarius sucht ihn zu verharmlosen, indem er
ihn als bloßen Scherz wertet: nam illud, quod ioculariter \ dignatus es dicere
...80. Augustinus seinerseits verwahrt sich gegen solche Mißdeutung, wobei
die Zurückweisung selbst wieder im Tone der exacerbatio erfolgt: ... iocari
me putasti. hoc scilicet in malis tantis libeat! ita est prorsus! fumant adhuc
ruinae incensae ecclesiae et in ea causa nos iocamurHier zeigt sich also,
daß der Sarkasmus doch etwas ganz anderes ist als locus (iocari): eine ernste,
bitterernste Äußerung, auf eigenartige Weise mit dem Element des Witzes
vermischt. Den Versuch, die Aussage auf dieses eine Element zu reduzieren,
das eigentümlich Sarkastische aufzulösen, weist der Autor zurück, weil so
seine Absicht verzerrt, der angesichts des scelus notwendige Ernst ausgelöscht,
das Gefühl der Trauer und Empörung ins Gegenteil verkehrt würde. Der Sar-
kasmus also fügt sich bestens zum Ernst christlicher Polemik in Prosa und
Poesie, und mit ihm tritt eine weitere innere Gemeinsamkeit zwischen Juvenal
und Prudentius zutage.
11.
Wenn ich nun eine Versreihe nennen sollte, die auf knappem Raum
vorführt, was Prudentius aus der 'satura tragica' gemacht hat, ein Stück also,
das Züge des Schauderhaften und Jammervollen zeigt und zugleich etwas von
jenem rigidus cachinnus vernehmen läßt, dann würde ich auf jene Passage des
ersten Buchs verweisen, die in einem Teil der Handschriften den Titel führt:
'De simulacro Liviae uxoris Augusti' ("Über das Götzenbild", d.h. die
götzendienerische Verehrung, "der Livia, der Frau des Augustus")· Die be-
treffende Partie dürfte auch aus anderem Grunde Interesse erregen, denn sie
zeigt uns die Gestalt des Kaisers Augustus in einem Lichte, in dem wir sie
kaum je zu sehen bekommen, und ich wage die Vermutung, daß in den Bü-
80 Nectar. Aug. epist. 103, 2 (ebd. 580, 2ff.). Unklar äußert sich zur Stelle H. Huisman,
Augustinus' Briefwisseling met Nectarius, Diss. Amsterdam 1956, 123. Es ist richtig, daß
Nectarius absichtlich die Äußerung Augustins herunterspielen will, aber man muß auch bemer-
ken, welchen Ansatz ihm hierfür der Sarkasmus bot.
81 Aug. epist. 104, 17 (ebd. 594, 9/13).
256 Prudentiana II. Exegetica [171/172]
ehern zum 'saeculum Augustum', welche uns die neuere Forschung geschenkt
hat, einschließlich des Katalogs der Berliner Ausstellung, die unlängst zu be-
wundern war, die folgenden Prudentiusverse nirgendwo erscheinen82. Bevor
wir sie lesen, müssen wir uns freilich einen wichtigen Umstand | klarmachen.
Es geht dem Dichter hier nicht um eine Würdigung der historischen Bedeu-
tung des Princeps oder seiner Ära - was er dazu zu sagen hatte, bringt er
andernorts im gleichen Gedicht vor, wo er die Entstehung der Monarchie
unter Augustus rühmt (2, 430/35) und die providentielle Bedeutung der Eini-
gung der Völker unter Roms Herrschaft entwickelt (2, 586/625). Die gleich
vorzuführende Versreihe verfolgt ein anderes Ziel. Hier geht es dem Dichter
darum, auf bildhafte, eindrückliche Weise darzustellen, daß Menschen wie
Octavian und Livia unmöglich das sein können, wofür sie jahrhundertelang
dem römischen Staat galten: Götter. Er will zeigen, wie falsch es war, sie
dafür zu halten, und wie ruinös in moralischer Hinsicht die Consecration sol-
cher Menschen sein muß. Und zu diesem Zweck entwirft er sein Bild 'Livias
Hochzeit'. Er tut es mit dem guten Recht jeder gesunden Polemik, das darin
besteht, den falschen Einschlag im Gewebe dort sichtbar zu machen, wo er
sich am deutlichsten zeigt. Zu diesem Zweck greift er gewisse biographische
Fakten auf, die Sueton in knappen Worten mitteilt: "(Unmittelbar nach der
Scheidung von Scribonia) führte er (Augustus) Livia Drusilla aus der Ehe mit
Tiberius Nero fort, und das, obwohl sie schwanger war". Die Verbindung,
lesen wir weiter, provozierte Gerüchte und einen Spottvers83. Durch Tacitus
erfahren wir noch, daß zuvor über die Rechtmäßigkeit solcher Heirat ein Gut-
achten der Pontifices eingeholt wurde - doch nur zum Hohn (per ludibrium),
wie der Autor meint84. Was hat nun Prudentius aus den Fakten gemacht? Hö-
ren wir ihn selbst! Nachdem er die Apotheose des Princeps behandelt hat, geht
er zu Livia über (1, 25Iff.):
82 Ich nenne die Ausstellung hier nur, weil durch sie die Gestalt und ihre Epoche in das
Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt wurde: 'Kaiser Augustus und die verlorene Republik',
Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz 1988. Vgl. auch A. Wlosok (Hrsg.), Römi-
scher Kaiserkult, Darmstadt 1978, 377/422; D. Kienast, Augustus, Darmstadt 1982, 202/14
('Herrscherkult'); G. Binder (Hrsg.), Saeculum Augustum Π, Darmstadt 1988, 21/170. Er-
wähnt werden die Prudentiusverse aber von Ilona Opelt, Augustustheologie und Augustustypologie,
JbAC 4, 1961, 44/57 (456); vgl. unten Anm. 91.
83 Suet. Aug. 62; vgl. Suet. Claud. 1,1:... statim certe vulgatus est versus: τοις εύτυχοΰσι
καν τρίμηνα παιδία. Zum Zusammenhang solcher Spottverse s. G. Cupaiuolo, Le pasquinate
in versi nell'antica Roma e la reazione del potere: Hestiasis. Studi di tarda antichitä offerti a
Salvatore Calderone (Studi Tardoantichi 5), Messina 1989, 1/105, bes. 39f.
84 Tac. ann. 1, 10, 5; ebenso Cass. Dio 48, 44, 2.
[172/173] XI. Satura tragica 257
"Hinzu fügten sie einen Kult, durch den aus Livia eine Juno wer-
den sollte, sie, deren Brautlager ebenso abscheulich war wie das
der Saturntochter, als sie im Bett des Bruders erglühte. Noch
hatte sie nicht den mütterlichen Leib durch die Geburt entleert,
noch trug sie das Kind, das sie von ihrem Mann empfangen hatte,
erwartete sie ihre Niederkunft, da wird schon eine Brautführerin
für die Schwangere besorgt und ein Hochzeitsbett85. Das Kind
85 Geniale gehört τα fulcrum, s. S. Blomgren, Eranos 38 (1940), 109/11. Ich folge in Vers
255f. der Interpunktion bei HJ. Thomson, Prudentius, 1, London-Cambridge, Mass. Ί949,
370. Bergman und Lavarenne ziehen pronuba zu paritura und verstehen pronuba als Appel-
lativum (gleich Iuno, vgl. 251): "cette Protectrice des mariages [ = Iuno pronuba] portait un
rejeton d'homme, qu'elle avait coniju et allait enfanter" (M. Lavarenne, Prudence, 3, Paris
2
1963, 145). Über Livia als νέα "Ηρα s. Wissowa, Religion und Kultus der Römer, München
2
1912, 93. Ob der Dichter allerdings hier daran denkt, scheint zweifelhaft. Vgl. F. Arevalo zu
Vers 251 (PL 60, 141 C): "... nam verba poetae solum innuere videntur, Liviam deam esse
factam more gentilium, et honores consecutam qui Iunoni tribuebantur". Ihre offizielle Apo-
theose erfolgte erst unter Claudius i. J. 42; vgl. Tac. ann. 5, 2; Suet. Claud. 11,2; Cass. Dio
60, 5, 2.
258 Prudentiana II. Exegetica [173/174]
springt im Leib der Braut, und schon lädt der Bräutigam seine
Freunde ein. Er kann sicher sein: die Verlobte wird nicht unfrucht-
bar bleiben. Der Stiefvater, brennend vor Leidenschaft, kommt
der zu langsamen Geburt des Stiefsohns zuvor, der das Licht der
Welt noch nicht erblickte. Dann wird dem neuvermählten Ehe-
mann, unter den Hochzeitsscherzen, das Kind eines anderen ge-
boren. Solche Weisung erteilten die Orakel der Götter, die Grotte
Apollons. Niemals, so lautete ihr Bescheid, gehe eine Heirat bes-
ser aus, als wenn eine schwangere Braut vermählt werde! Sie hast
du, Roma, dir zur Göttin erwählt, durch Ehrentitel und Kult für
immer geweiht - inmitten solcher Gestalten wie Flora und Venus.
Kein Wunder. Denn welcher vernünftige Mensch hätte gezwei-
felt, daß jene Frauen als Menschen von Menschen stammend ge-
lebt haben, daß sie dank ihrer Reize durch | Liebschaften glänz-
ten und in ihrer Schönheit erstrahlten, bis ihr guter Ruf vernichtet
war?"
Für den Gedankengang ist die Folgerung wichtig, die mit nec mirum
(267) eingeleitet wird, die aber durch die Gleichung Livia - Juno und durch
die Erwähnung der Florae und Veneres schon vorbereitet, dem Leser über-
haupt schon aus dem ganzen Zusammenhang heraus vertraut ist: Livias Apotheo-
se kann nicht verwundern, sie hat nichts Ungewöhnliches an sich, denn die
ganze heidnische Götterwelt ist ja auf solche Weise zustande gekommen. Diesem
Ziel dient die Darstellung, in diesen Dienst wird das Juvenalische genommen. |
12.
Ich fasse zusammen. Was hier vor sich geht, die Aufnahme und Verarbei-
tung juvenalischer Kunst, gehört in einen großen Zusammenhang. Die Merk-
male des Umgangs der Kirche mit den Gütern der nichtchristlichen Kultur
lassen sich auch an diesem Vorgang beobachten. Was gut ist, wird nicht zer-
stört, sondern gebraucht. Indem es gebraucht wird, auf einen neuen Zweck
hin orientiert wird, tritt das Gute reiner hervor, wird sein Sinn vollständiger
erhellt. Auf unseren Fall angewandt (auf die Nutzung Juvenals) und auf unser
Beispiel (Livias Hochzeit bei Prudentius) scheint die Behauptung vielleicht
seltsam. Und doch öffnet sich erst so der Zugang zum Verständnis dessen, was
der christliche Dichter leisten wollte, ganz gleich, wie wir den Erfolg seiner
Bemühungen beurteilen. Ja, meint Prudentius: Jammer und Grauen, aber auch
die Enthüllung des Unwürdigen und Lächerlichen sind am Platze! Ja, die Mit-
tel der Satura, all dem Ausdruck zu geben, sind brauchbar, sie können und
müssen eingesetzt werden! Und indem das geschieht, zeigt sich erst der Wert
jener Gattung antiker Literatur, die partielle Wahrheit ihrer Kunstauffassung,
das angemessene Ziel ihrer Wirkung.
Exkurs
Was oben S. 250/52 [166f.] über das demokritische Lachen bei Seneca und
bei Juvenal bemerkt wurde, spricht gegen eine weitreichende These aus jünge-
rer Zeit, welche die Unterschiedlichkeit der juvenalischen Satiren erklären
soll. W.S. Anderson behauptet (Anger in Juvenal and Seneca, Berkeley-Los
Angeles 1964,127/95 = Essays on Roman Satire, Princeton N.J. 1982, 293ff.,
bes. 340ff.: "Juvenal's Democritean Satirist"), in den ersten sechs Satiren
nehme Juvenal einen Standpunkt ein, wie ihn der adversarius bei Seneca De ira
[176/177] XI. Satura tragica 261
vertrete: der vir bonus müsse dem Laster zürnen (de ira 2, 6, 1, mit Berufung
auf Theophrast ebd. 1, 14,1), in sat. 7/9 finde ein Übergang statt, und ab sat. 10
vertrete Juvenal eine moralphilosophische Auffassung nach der Art Senecas
selbst: als angemessene Haltung dem Laster gegenüber werde nun nicht Zorn,
sondern Lachen empfohlen, Vorbild dafür sei Demokrit - ganz wie bei Seneca
(vgl. Sen. de ira 2, 10, 5/8; tranquill. 15, 1/5; Juv. sat. 10, 28/53). Anderson
sucht also ein Problem, das einst Ribbeck auf dem Wege der Echtheitskritik
lösen wollte (s. oben S. 239 [155]) und das andere biographisch lösen, auf der
Ebene des Literarischen zu erklären: Juvenal spiele als Literat verschiedene
Haltungen durch, jede biographische Deutung sei abzulehnen. Diese These
fand nicht überall den nötigen Widerspruch92 und konnte daher weiter wir-
ken93. Von anderem abgesehen: | Die These stützt sich auf einen untauglichen
Zeugen. Der Demokrit Senecas und der Demokrit Juvenals sind nicht dersel-
be. Nur bei oberflächlicher Betrachtung der Texte läßt sich behaupten: "The
Democritus of Satire 10 is as schematically pictured as Seneca's Democritus"
(Anderson 179 bzw. 345). Der lachende Philosoph ist er zwar hier wie dort,
aber sein Lachen ist nicht dasselbe: hier ist es ein zensorisches, dort ein nach-
sichtiges. In Juvenals Demokrit ersteht uns ein strenger Sittenrichter, hartes
Gelächter läßt er hören (10, 31), er schüttelt sich ständig vor Lachen (10, 33):
und dies ist die Haltung, die der Satiriker empfiehlt. In Senecas Demokrit
haben wir einen heiteren Mann vor uns, ausgezeichnet durch Milde gegenüber
den Torheiten der Menschen: omnia ista tarn propitius aspiciet quam
aegros suos medicus (Sen. de ira 2,10,7). Und nun lese man daraufhin Juvenals
zehnte Satire durch und prüfe, unter welchem Blickwinkel die Dinge ange-
schaut werden! Soll etwa die gräßliche Schilderung der Altersmolesten, die
dazu dient, die Torheit des Wunsches nach langem Leben bloßzustellen (sat.
10, 188/288), aus der - stoisch gefärbten - εύθυμίη Demokrits geflossen
sein, wie sie Seneca vorschreibt? Daß sich die Thematik der zehnten Satire
Juvenals mehrfach mit Senecas Moralphilosophie berührt, stützt nicht die The-
se Andersons94. Parallelen solcher Art lassen sich auch aus anderen Satiren
beibringen, auch aus denen des ersten und zweiten Buchs (sat. 1/6). Mit ande-
92 Abgewiesen wird sie von J. Adamietz, Hermes 112 (1984), 483 und a.O. (o. Anm. 59)
298.
93 So bei F. Bellandi, Etica diatribica e protesta sociale nelle satire di Giovenale, Bologna
1980 (ich folge dem Referat L. Brauns im Gnomon 53, 1981, 486/88) und bei Braund, Beyond
Anger (o. Anm. 65), lf. u.ö.
94 Wie B.F. Dick, Seneca and Juvenal 10, Harv. Stud, in Class. Phil. 73 (1969), 237/46
(237 4 ) annimmt.
262 Prudentiana II. Exegetica [177]
ren Worten: Juvenal hat sich einen Demokrit nach seinem Geschmack ge-
schaffen, und dieser Demokrit ist die programmatische Gestalt seiner Satiren,
auch und gerade der e r s t e n Satiren, nicht der Demokrit Senecas. Deshalb
stellt er seinen Demokrit auch höher als Seneca den seinen. Denn bei Seneca
steht Demokrit dem Weisen nur nahe, das Ideal verkörpert er nicht; besser sei
es, lehrt Seneca (tranquill. 15, 5), die Laster gelassen aufzunehmen (placide
accipere), also noch über Demokrit hinauszugelangen und auch jenen gelinden
Affekt abzulegen. Nichts davon bei Juvenal! Für ihn zählt Demokrit einfach
zu den summi viri (10,49), ihm gilt der Abderite ohne jede Einschränkung als
Beispiel innerer Freiheit gegenüber den Leidenschaften und den Drohungen
der Fortuna (10, 51/53). Es ist also nicht richtig, was Anderson schreibt:
"Juvenal... in his later Satires created a new satirist in close conformity with
the Senecan ideal" (173). Gelegenheit, dies zu berichtigen, hätte etwa Ε.
Courtney im Juvenalkommentar (London 1980) gehabt, wo aber (449) ohne
Kritik auf Anderson verwiesen wird. Der Ansatzpunkt ist übrigens nicht ganz
neu: schon Ribbeck (o. Anm. 28) verglich die Juvenalstelle mit Sen. tranquill.
15 und stellte eine "auffallende Ähnlichkeit" fest. Näheres Zusehen hätte auch
ihn eines Besseren belehren müssen, aber er war zu sehr damit beschäftigt, die
philosophischen Neigungen des "unechten Juvenal" zu beweisen. Immerhin
hat er den Vergleich nicht zu einem Hauptargument seiner These gemacht.
XII.
1. Vorbemerkung, S. 263. - 2. Der Text, S. 266. - 3. Die Curie als Tempel, S. 270.
- 4. Die Kaiserrede, S. 274. - 5. Das Bildnis der Victoria, S. 276. - 6. Der Ursprung
des Kultbilds aus der Malerei, S. 282. - 7. Attis und Hippolytus in der Malerei,
S. 292. - 8. Victoria als Personifikation, S. 299. - 9. Omamenta deorum, S. 304. -
10. Ausblick, S. 312.
1. Vorbemerkung
* Frühmittelalterliche Studien 25, 1991, 1/44. Die Ausarbeitung der folgenden Studie
wurde durch einen Aufenthalt im Deutschen Archäologischen Institut in Rom gefördert: seinem
Direktor, Bernard Andreae, sei dafür gedankt! Die hier vorgelegte Fassung des Texts war für
mündlichen Vortrag bestimmt. - In den Anmerkungen werden folgende Abkürzungen verwandt:
CCL = Corpus Christianorum, Series Latina; CSEL = Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum
Latinorum; GCS = Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte;
PW = Pauly-Wissowa, Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft; RAC =
Reallexikon für Antike und Christentum.
ι Die Daten zur Statue bei Stefan Weinstock, Art. Victoria (Nachträge) Nr. 14, in: PW 8
A (1958) Sp. 2521f. und H.A. Pohlsander, Victory: The story of a statue, in: Historia 18 (1969)
S. 588/97. Ebd. weitere Literatur.
2 Vgl. Tonio Hölscher, Victoria Romana, Mainz 1967, S. 6/47.
264 Prudentiana II. Exegetica [1/2]
auf den Kaiser. So blieb es über dreihundertfünfzig Jahre lang, bis Kaiser
Constantius im Jahr 357 zum ersten Mal die alte Hauptstadt betrat3. Er bewun-
derte die Monumente Roms, und obwohl er erst im Jahre zuvor alle heidni-
schen Opfer verboten und die Schließung der Tempel verfügt hatte, ergriff er
in Rom keine | weiteren Maßnahmen gegen den heidnischen Kultus. Nur an
der Victoria im Senat nahm er Anstoß. Er ließ sie, und zwar wahrscheinlich
den Altar mitsamt der Statue, entfernen. In den folgenden Jahrzehnten blieb
die Victoria Gegenstand der geistigen und religionspolitischen Auseinander-
setzungen jener Epoche. Der Kampf um ihren Platz im Senat erreichte einen
Höhepunkt, wenn auch noch nicht seinen Endpunkt, im Jahre 384. Im Som-
mer dieses Jahres wurden im kaiserlichen Consistorium zu Mailand drei Re-
den verlesen, die Berühmtheit erlangten bis auf den heutigen Tag. Die Auto-
ren sind Q. Aurelius Symmachus, damals der Stadtpräfekt Roms, und Ambro-
sius, der Bischof von Mailand. Symmachus führte das Wort für die heidnische
Partei des Senats. Er verlangte vor dem jungen Kaiser Valentinian II. die
Wiederaufstellung des Altars und der Statue, die Kaiser Gratian zwei Jahre
zuvor hatte abermals fortschaffen lassen, und die Annullierung der gratiani-
schen Gesetze, die dem römischen Staatskult die finanziellen Grundlagen ent-
zogen. Ambrosius wirkte der Petition entgegen und hatte Erfolg. Die Ausein-
andersetzung wurde auf hohem literarischen Niveau geführt. Symmachus' Rede,
die berühmte dritte Relatio, galt ihrer Zeit als Muster lateinischer Eloquenz4;
andere stellten Ambrosius' Erwiderungen, den 17. und vor allem den 18.
Brief (alter Zählung), sogar noch höher5. In dieser Auseinandersetzung und in
den Dokumenten, die sie hervorgebracht hat, sind Grundfragen jener Über-
gangsepoche konzentriert, die bis zu gewissem Grade überzeitliche Bedeutung
haben: etwa die Fragen nach dem Verhältnis von Staat und Religion, Tradition
und Fortschritt, christlicher Verkündigung und kulturellem Erbe. Es ist daher
verständlich, daß der Kampf um die Victoria seit eh und je zu den Lieblings-
3 Überblick über die Ereignisse bei Otto Seeck, Art. Symmachus Nr. 18, in: PW 4 (1931)
Sp. 1146/58; genauer in der Praefatio seiner Symmachus-Ausgabe (De Symmachi vita) (MGH
A.A. 6, 1) Berlin 1883, S. XXXIX/LXXffl. Ferner Domenico Vera in der Einführung des
Kommentars zur dritten Relatio: "La polemica De ara Victoriae" (Commento storico alle Re-
lationes di Quinto Aurelio Simmaco, Pisa 1981, S. 12/23), mit neuerer Literatur.
4 Prud. c. Symm. 1, 648f., im Zusammenhang des ganzen Stücks 632f.: Ο linguam miro
verborum fontefluentem ...
5 Außer dem Urteil des Biographen Paulinus (v. Ambros. 26, 2, S. 86 Bastiaensen: Qua
relatione accepta [i.e. Symmachi] praeclarissimum libellum conscripsit, ut contra nihil umquam
auderet Symmachus vir eloquentissimus respondere) verdient Ennodius' Epigramm 'De epistula
Domni Ambrosii..." (carm. 2, 142: CSEL 6, S. 605) Beachtung: Dicendipalmam Victoria tollit
amico. Transit ad Ambrosium: plusfavet ira deae.
[2/3] XII. Die Statue der Victoria 265
themen der modernen Forscher gehört, die sich mit der Spätantike befassen.
Er wurde neuerdings (1984) sogar in den Kreis derjenigen Ereignisse einbezo-
gen, an die man durch Jubiläen glaubt erinnern zu dürfen6.
Um so auffälliger erscheint es, daß in der gelehrten Diskussion ein wei-
teres, wohlbekanntes Zeugnis jener Auseinandersetzung nur gleichsam am
Rande mitgefühlt wird: Prudentius' Gedicht Contra Symmachum. Es ist im
Jahre 402 oder 403 verfaßt bzw. abgeschlossen, steht mithin zu den Ereignissen
des Jahres 384 in einem Abstand von fast zwanzig Jahren. Außerdem fußt
Prudentius dort, wo er die Linie der allgemeineren apologetischen Argumen-
tation verläßt und sich der Relatio des Symmachus zuwendet, im zweiten der
beiden Bücher seines hexametrischen Gedichts, auf den primären Urkunden,
die auch wir besitzen, eben auf der Relatio und auf Ambrosius' Entgegnung.
So scheint der Quellenwert seiner Verse gering. Den Historiker oder den histo-
risch interessierten Philologen reizen an dem | Gedicht allenfalls weitere, ideen-
geschichtliche Fragen, dazu bestimmte Probleme, die sich mit der Ausgangs-
lage der prudentianischen Darstellung verbinden: was veranlaßte den Dichter,
noch nach so vielen Jahren die Rede des heidnischen Senators zu widerlegen?
Und vor allem: weshalb stellt Prudentius den Vorgang so dar, als habe er sich
gar nicht vor Valentinian II., sondern vor den Theodosiussöhnen, den Kaisern
Honorius und Arcadius, abgespielt, als sei Symmachus mit seiner Relatio nicht
im Jahre 384 hervorgetreten, sondern erst zur Zeit der Abfassung des Ge-
dichts? Auf diese Fragen ist meines Erachtens noch keine völlig befriedigende
Antwort gefunden worden7. Ich meine aber, daß das Gedicht auch abgesehen
6 Vgl. Francis Paschoud (Hg.), Colloque Genevois sur Symmaque ä l'occasion du mille
six centime anniversaire du conflit de l'autel de la Victoire ..., Paris 1986. In diesen Rahmen
fügt sich jetzt das gefällige Bändchen, besorgt von Fabrizio und Luciano Canfora, Simmaco.
Ambrogio. L'altare della Vittoria, Palermo 1991.
7 Vgl. dazu unten S. 312 [40ff.]. Neuere Literatur bei Danuta Shanzer, The Date and
Composition of Prudentius' Contra orationem Symmachi libri, in: Rivista di Filologia Classica
117 (1989) S. 442/62. Nicht genannt wird allerdings Wolf Steidle, Die dichterische Konzeption
des Prudentius und das Gedicht Contra Symmachum, in: Vigiliae Christianae 25 (1971) S. 241/
81; wieder in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, Amsterdam 1987, S. 261/301. Die Verfasserin
selbst meint, das erste Buch sei größtenteils zu Theodosius' Lebzeiten i.J. 394 abgefaßt und
später i.J. 402/03 notdürftig dem zweiten Buch angepaßt worden. Dieses Ergebnis ist durch eine
überspitzte Analyse einzelner Stellen gewonnen und überzeugt daher nicht. Shanzer sieht zu
wenig auf das Ganze. Vom Ganzen, besonders von der Komposition des ersten Buchs, hat sie
eine geringe Meinung, die jedoch nirgends bewiesen, vielmehr allenthalben als Prämisse ihrer
Analysen vorausgesetzt wird (z.B. S. 443: "The yoking together of the two such different books
is in itself odd, as is the structure of Book 1"). In Wahrheit ist die Darstellung des ersten Buchs
auch im apologetischen Hauptteil (für Shanzer "Proto-c. Symm. 1") sehr genau und fein auf die
direkte Auseinandersetzung mit Symmachus in Buch II abgestimmt. Der Zusammenhang der
266 Prudentiana II. Exegetica [3/4]
von solchen Grundfragen des Ganzen und abgesehen von seinem literarischen
und ideengeschichtlichen Wert für viele sachliche, besonders antiquarische
Details bemerkenswerte Auskünfte erteilt. Wer diese Auskünfte erhalten will,
darf freilich vor einer philologischen Durcharbeitung des anspruchsvollen Texts
nicht zurückschrecken. Ich möchte das anhand derjenigen Passage zeigen, die
sich mit der Forderung nach Wiederaufstellung der Statue befaßt.
2. Der Text
Es handelt sich um die ersten 66 Verse des zweiten Buchs. Der Dichter
gibt zunächst das Thema des Buchs an, läßt dann den Gegner mit seinem
Petitum in direkter Rede zu Worte kommen, worauf die beiden Kaiser in einer
längeren Rede ihren Widerspruch formulieren. Die Verse können hier nicht
im Stile eines Kommentars durchgesprochen werden, ich hebe vielmehr einige
Einzelfragen heraus, deren letzte noch einmal zu der eben berührten histori-
schen Problematik des Gedichts zurücklenken wird. Hier zunächst der Text
nach Johan Bergman (CSEL 61,1926, S. 246/49) bzw. Maurice P. Cunningham
(CCL 126, 1966, S. 211/14) - in der Interpunktion folge ich Bergman: |
beiden Bücher ist noch enger und vielfältiger als selbst Siegmar Döpp dies vorführt (Prudentius'
Contra Symmachum eine Einheit?, in: Vigiliae Christianae 40 (1986) S. 66/82, bes. S. 77f.), den
Shanzer deshalb besonders attackiert. Mancherlei Hinweise gibt auch Steidle, passim, z.B. S.
263 (bzw. S. 283); S. 275 (bzw. S. 295). Nähere Ausführungen dazu muß ich mir hier ersparen.
Eine vorläufige Bemerkung: Christian Gnilka, Satura tragica. Zu Juvenal und Prudentius, in:
Wiener Studien 103 (1990) S. 145/77, S. 150 mit Anm.12 [in diesem Bande S. 235, Anm. 12].
[4/5] XII. Die Statue der Victoria 267
— ν
Messung sic ... sic innerhalb derselben Zeile wohl noch nicht einmal als späte
Wirkung hellenistischer Spielerei erklären (vgl. Mart, epigr. 9, 11, 14f. und
Gow zu Theocr. id. 6, 19), ist doch die Behandlung von sie als Kürze bzw.
aneeps ohne Beispiel (vgl. Lucian Mueller, De re metrica, Petersburg - Leip-
zig 21894, S. 426). Cunningham entscheidet sich daher für die schwächer
bezeugte, aber metrisch einwandfreie Version: Sic unum sectantur iter, sic
cassafiguris Somrtia concipiunt... Schon Nicolaus Heinsius bevorzugte sie.
Es fragt sich aber doch, ob nicht diese Fassung bereits dem Versuch ent-
sprang, jene prosodische Unregelmäßigkeit zu beseitigen, also emendatorische
Interpolation darstellt. Cassa figuris somrtia betont das Gestalthafte der
Götterphantasien (vgl. c. Symm. 1, 299 über die Heidengötter: per varias
formata elementafiguras; von der Seele des Träumenden cath. 6,3 lf.: variasque
perfiguras, Quae sunt operta, cernit). Aber gerade die Aussage, daß alle drei
Kräfte gleichermaßen und jede für sich (et Homerus et acer Apelles et Numa)
G e s t a l t e n konzipieren, paßt nicht genau zum Gedanken der Verse 39/
44: vgl. dazu unten S. 284 [17f.]. Inania rerum somnia dagegen besticht durch
die Klarheit und Angemessenheit des Ausdrucks (der Genitiv rerum zu inania).
Ich greife daher die alte Konjektur et (statt sie) auf: ...et inania rerum somnia
(vgl. F. Arövalo z.St.: Migne, PL 60, Sp. 183 C/D). Die irrationale Längung
iter vor der Caesur entspricht bester Tradition (Norden, Aen. VI, S. 450ff.;
Mueller, De re metr., S. 408f.), konnte aber leicht die eingängige Anapher
von sie provozieren, ebenso wie etwa Aen. 6, 254 die Längung super in allen
alten | Handschriften durch Interpolation (superque) beseitigt ist (Norden
S. 203f.). V. 47 cognatumque ν ο lunt (Bergman mit Β) ist kühn (substan-
tiviertes Neutrum cognatum nur hier: Thesaurus Ling. Lat. 3, Sp. 1482, 81),
stimmt aber gut zu: unum sectantur iter (45). Es geht um die Gemeinsamkeit
in Streben und Absicht der drei Mächte. Bei Aufnahme der Variante
cognatumque malum ergibt sich ein undurchsichtiges Gefüge: Cognatum-
que malumpigmenta, camenae, idola. Convaluit... (Cunningham). Hier stört
der Singular malum statt mala; der elliptische Satz tritt zudem hart zwischen
die Prädikate sectantur, concipiunt, convaluit. N. Heinsius' Emendationsver-
such: Cognatumque malum, pigmenta, camenas (statt camenae), idola, Con-
flavit (dies v. 1. für convaluit)... verfehlt den Sinn. Malum neben cognatum ist
typische Simplifikation. Über die interessante Ersatzinterpolation Phedra statt
Musa in V. 54 s. unten S. 294f. [26]. <Zur Athetese der beiden Verse 59/60,
die schon N. Heinsius beargwöhnte, s. Prudentiana 1281/90 und unten S. 289/
91. 300. 303.>
270 Prudentiana II. Exegetica [6]
8 Zur Formulierung vgl. etwa die vergilischen Versschlüsse dicta refellam (Aen. 12,644),
dicta refello (Aen. 4, 380), verzeichnet bei Mahoney (wie Anm. 29) S. 108; ferner Juvencus 1,
394: Reddidit his Christus dictis contraria dicta.
9 Ambras, epist. 73 (18 Maur.), 2 (CSEL 82/3, S. 34): hoc sermone relationis assertioni
respondeo.
ίο Augustinus äußert sich dazu c. Petil. 2, 1, 1 (CSEL 52, S. 23f.); vgl. retract. 2, 51, 1
(CSEL 36, S. 161); epist. ad cath. 1, 1 (CSEL 52, S. 231f.).
π Vgl. Aug. c. Petil. (wie Anm. 10): ... tamquam, cum ageremus, a notariis excepta sint.
12 Vgl. Aug. retract, (wie Anm. 10).
13 Maurice P. Cunningham: CCL 126 (1966); hierzu Klaus Thraede, in: Gnomon 40 (1968)
S. 682 Aran. 4.
[6/7] XII. Die Statue der Victoria 271
durch wird das feine Gewebe des Dichtertexts zerrissen, | denn die dichte-
risch bearbeiteten Einlagen aus der Symmachusrede, die Prudentius selbst gibt,
bilden Teile eines wohlberechneten und durchdachten Ganzen und dulden kei-
ne Dubletten in Prosa. Prudentius überträgt die Prosa in seine Dichtersprache,
betont gewisse Gedanken, wählt aus, wechselt zwischen direkter und indirek-
ter Wiedergabe. Aber damit nicht genug. Auch dort, wo er Symmachus in
direkter Rede zu Wort kommen läßt, behandelt er den Grundtext teilweise
sehr frei. Denn ihm liegt daran, die Anschauungen des Heiden so vorzutragen,
daß darin bereits die wahren Absichten hervortreten, seine Sätze so zu for-
men, daß die in ihnen enthaltenen Konsequenzen sichtbar werden. Dafür ein
Beispiel. Der wohl berühmteste Satz der Relatio lautet: uno itinere non potest
perveniri ad tarn grande secretum: 'auf einem einzigen Wege kann man nicht
zu einem so großen Geheimnis (zur Wahrheit, zur Gottheit) gelangen'14. Pruden-
tius gibt den Satz dreimal wieder, aber stets so, als habe Symmachus von
vielen, ja zahllosen Wegen zur Wahrheit gesprochen15. Er will sofort deutlich
machen, welche Konsequenz sich ergibt, wenn man, dem Gegner folgend, den
Wahrheitsanspruch der christlichen Religion ablehnt. Es gibt dann gleichsam
kein Halten mehr. Alle Kulte, alle Lehren sind dann 'Wege'. Es wäre unpas-
send, hier von Fälschung zu reden. Die Relatio war kein vergessenes Akten-
stück, das in den kaiserlichen Archiven schlummerte; Prudentius durfte nicht
hoffen, mit einer Fälschung durchzudringen, sie wäre sofort auf den Urheber
zurückgeschlagen. Er wollte das auch gar nicht, er trägt vielmehr dazu bei,
den rednerischen Ruhm der Relatio zu mehren16. Aber er will gleichsam die
glatte Oberfläche der geschickten Formulierungen des Gegners aufbrechen,
auf daß durch die Fugen die ganze Glut seiner heidnischen Überzeugung her-
vorlodern könne.
In diesem Lichte muß auch schon die erste Paraphrase des Symma-
chustexts betrachtet werden. Ich lege den Finger auf den Satz: ...templum
dea virgo sacratum Obtineat vobis regnantibus\ (V. 13f.). Nirgendwo hatte
Symmachus davon gesprochen, daß Victoria einen Tempel erhalten oder wie-
14 Symm. rel. 3, 10 (MGH A.A. 6, 1 [1883] S. 282; CSEL 82/3 [1982] S. 27).
15 Prud. c. Symm. 2, 87/90; 773/77; 843/46 (CSEL 61 [1926] S. 250, 275, 277). Zum
Ganzen verweise ich auf meinen Aufsatz: Die vielen Wege und der Eine. Zur Bedeutung einer
Bildrede aus dem Geisteskampf der Spätantike, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 31 (1990)
S. 9/51 [in diesem Bande S. 474/521].
16 Vgl. Prud. c. Symm. 1, 632ff. Symmachus' Beredsamkeit wird über die Ciceros ge-
stellt, der Relatio fortdauernder Ruhm gegönnt: Inlaesus maneat Uber excellensque volumen
Obtineat partem, dicendi fulmine famam (ibid. 648f.).
272 Prudentiana II. Exegetica [7/8]
dererhalten solle. In die Curie sollte sie zurückkehren. Er hatte gesagt: or-
namentis saltern curiae decuit abstinerv. 'man hätte wenigstens von den
Schmuckstücken der Curie die Hände lassen sollen'17. Natürlich kann sich der
Dichter, der eben noch verkündete, er wolle die gegnerische Schrift Wort für
Wort widerlegen, nicht gleich zu Anfang in offenkundigen Widerspruch zu
seinem Programm bringen. Es bleibt nur eine Lösung: templum meint das
Senatshaus. Prudentius schärft das Petitum des Präfekten und spitzt es so zu,
daß das zum Vorschein kommt, was sein eigentlicher Kern ist - oder das, was
sich als tatsächliche Wirkung aus der Erfüllung seiner Bitte ergäbe: die Curie
wäre dann wieder ein Tempel der Victoria mit Kultbild, Altar und Opfern. Hat
nun Prudentius durch solche Unterstellung die Absicht des Gegners verfälscht,
wie manche | meinen18? Durchaus nicht. Im Gegenteil. Hellsichtig hat er die
Empfindung erfaßt, die das gebildete Heidentum der Victoria im Senat entge-
genbrachte. Claudian richtet in einem Gedicht, das er zu Anfang des Jahres
400 in Rom rezitierte, ein inbrünstiges Gebet an Victoria, wobei er für die
Curie den Ausdruck aedes sacra (im poetischen Plural: sacras ... aedes) ge-
braucht - und das, obwohl der Altar anscheinend nicht mehr dort stand19. Die
Ausdrucksweise hat einen modernen Claudianforscher zu dem Irrtum verlei-
tet, der Dichter meine hier tatsächlich einen Victoriatempel20. Aber die Stelle
ist zusammenzunehmen mit einer anderen in einem späteren Claudiangedicht,
wo sich ähnliche Formulierungen ohne allen Zweifel auf das Senatshaus bezie-
hen. Dort wird geschildert, wie Kaiser Honorius vor den Senatoren in der
curia Bericht erstattet. Dann geht es so weiter21:
π Symm. rel. 3, 4.
18 Maurice Lavarenne, Prudence, tome III, Paris 21963, S. 209 (Anm. 4 zu S. 160):
"Prudence ddnature la demande de Symmaque ..." etc. Dieser Vorwurf würde im übrigen auch
Ambrosius treffen, der Symmachus' Satz über die ornamenta curiae (rel. 3, 4) so wiedergibt:
sed vetera, inquit, reddendo sunt altaria simulacris, ornamenta delubris . Den oben skiz-
zierten Grundzug prudentianischer Darstellung verkennt am ärgsten Marianne Kah in ihrem
Prudentiusbuch, dessen gefühlvoller Haupttitel: Die Welt der Römer mit der Seele suchend ...,
Bonn 1990, leicht irreführen kann. Mit einer "plumpen Fiktion" verletzt der Dichter, so Kah
(S. 140f.), "die Grenzen des guten Geschmacks und muß sich den Vorwurf unfeiner Verleum-
dung gefallen lassen", ja er "verspielt... letztlich wohl die Sympathien all derer, die sich eine
faire Auseinandersetzung erhoffen". Wer sich zu diesem Autor so wenig hingezogen fühlt,
sollte ihn nicht erklären wollen. Daß sich die Verfasserin bei alledem auf ihre Erfahrung als
Altphilologin (S. VIII) und auf die historisch-kritische Methode (S. 363) beruft, ist schwer
erträglich <zu diesem Buch s. unten S. 457/73 >.
19 Claudian. Stil. 3, 202ff.
20 Alan Cameron, Claudian, Oxford 1970, S. 238. Vgl. dazu Christian Gnilka, in: Gnomon
49 (1977) S. 26/51, bes. S. 39f.
21 Claudian. VI. cons. Hon. 597/99. Das Gedicht wurde im Januar 404 in Rom rezitiert,
vgl. die 'Chronologia Claudianea' bei Cameron (wie Anm. 20) S. XVf.
[8/9] XII. Die Statue der Victoria 273
Claudians Begeisterung beweist aufs schönste die innere Wahrheit der pru-
dentianischen Auffassung. Man darf nicht einwenden, die Curie sei doch ein
Profanbau gewesen: zwar inauguriertes templum im technischen Sinne der
Auguraldisziplin, nicht jedoch aedes sacra22. Auch daß der Altar sonst vor
dem Tempel steht, nicht im Tempel, wäre hier kein zulässiges Bedenken23.
Sakralrechtliche oder bauliche Gesichtspunkte bleiben außer Betracht. Beide
Dichter bewegen sich auf einer idealen Ebene. Daß mit templum bei Pruden-
tius wirklich die Curie gemeint ist, geht | im übrigen auch aus dem Pruden-
tiustext selbst zweifelsfrei hervor. Denn wenn der Dichter später in den Schluß-
versen der Kaiserrede (V. 61/66), welche die Abweisung des gegnerischen
Petitum (V. 12/16) enthalten, die Herrscher sagen läßt, Roma solle ihren
S e n a t (V.61: senatum) lieber mit Trophäen schmücken und die ornamenta
deorum - zu dieser Wendung s. unten S. 304ff. [33ff] - zerbrechen, dann ist
ja klar, daß die Kaiser (bei Prudentius) die Forderung des Symmachus (bei
Prudentius) richtig verstanden, templum auf die Curie bezogen haben. Die
beiden allerletzten Verse der Rede lauten:
'Dann hast du (Roma) nicht nur auf Erden den Sieg errungen,
sondern auch über den Sternen wird dir Victoria mitten im Tem-
pel (media ... aede, i.e. media aede sacra) bewahrt'.
22 Vgl. Varro bei Gellius 14, 7, 7 und Georg Wissowa, Religion und Kultus der Römer,
München 21912, S. 472, 528.
23 Vgl. Hölscher (wie Anm. 2) S. 7f., der selbst aber auf Claudian verweist (Anm. 23).
274 Prudentiana II. Exegetica [9/10]
Der Sieg über das Heidentum ragt also in die Dimension des Überirdischen,
Himmlischen, Ewigen hinein, er stellt ein bleibendes Verdienst vor Gott dar24.
Victoria schwebt hier zwischen abstrakter Bedeutung und Personifikation, und
der Ausdruck: media ... aede ist so gewählt, daß darin der Gedanke an einen
Tempel der Victoria aufgegriffen, die Erinnerung an die Statue, die 'mitten im
Senat' stand25, geweckt, jedenfalls dem Anliegen des Symmachus auf unge-
ahnte Weise doch noch entsprochen wird: ist das Victoriabild in der Curie
zerbrochen, hat der Senat die Bekehrung vollzogen, dann ist die Victoria
Romana inmitten des Himmelstempels aufgehoben. Dem Gedanken und dem
Bilde nach verwandt sind Prud. per. 2,555: aeternae in arce curiae (sowie der
ganze Zusammenhang dort26) und der Tempelbau am Schluß der Psychomachie,
der auch eine eschatologische Bedeutung besitzt. Prudentius zieht also die
Linie weit aus: Curie, Victoriatempel, Himmelstempel mitsamt der Victoria. Da-
raus ergibt sich auch, daß die Vorstellung der Curie als Tempel für die ganze
Partie wesentlich ist. Auf ihr ruht Symmachus' Petitum (V. 12/14), sie nehmen
die Kaiser zu Beginn ihrer Antwort auf (V. 27/29: s. dazu unten S. 280 [14] mit
Anm. 50), zu ihr kehren sie abschließend (V. 65f.) zurück. Die klare Erkenntnis
dieser Linie hilft, mancherlei Mißverständnisse der Prudentiusverse abzuweisen27. |
4. Die Kaiserrede
Prudentius gestaltet die erste Partie des Buchs als Wechselrede zwi-
schen Symmachus und den Kaisern28. Er setzt gleichsam eine kaiserliche Ant-
wort voraus und nimmt sie durch eine an die Spitze gerückte Kaiserrede in das
24 Etwa in dem Sinne, wie literarischer Ruhm ewig sein kann, vgl. Iuvencus praef. 17f.: ...
Nobis certafides aeternae in saecula laudis Inmortale decus tribuet meritumque rependet. Vgl.
Antonius Johannes Vermeulen, The Semantic Development of Gloria in Early-Christian Latin
(Latinitas Christianorum Primaeva 12), Nijmegen 1956, passim, bes. S. 50f., 82f. zu Augustinus.
25 Herodian. 5, 5, 7: έν τω μεσαιτάτω της συγκλήτου τόπφ. Vgl. hierzu Mazzarino
(wie Anm. 129) S. 339/51 in Auseinandersetzung mit Alfonso Bartoli, Curia Senatus. Lo scavo
e il restauro, Rom 1963, S. 57f. und anderen Arbeiten desselben Gelehrten. Ebenso wie
σύγκλητος bei Herodian geht auch senatus bei Prudentius (V. 61) auf das Senatshaus, vgl.
Mazzarino, S. 343 mit Belegen.
26 Vgl. Vinzenz Buchheit, Christliche Romideologie im Laurentiushymnus des Prudentius,
in: Das frühe Christentum im römischen Staat, hg. von Richard Klein, Darmstadt 2 1982, S. 455/
85, bes. S. 482f.
27 Etwa die Vermutung, Prudentius habe das Bildnis der Victoria nicht selbst gesehen,
"denn er redet von einem Tempel, in dem es sich befinde" (Jelle Wytzes, Der letzte Kampf des
Heidentums in Rom [fitudes preliminaires aux religions orientales dans 1'empire Romain 56]
Leiden 1977, S. 269).
28 Offizielle Eingaben, auch die dritte Relatio, waren an die regierenden Kaiser des West-
und Ostreichs gerichtet, selbst wenn sie sich praktisch nur an einen Herrscher wandten. Auch
[10] XII. Die Statue der Victoria 275
Werk selbst auf. Damit stellte sich der Dichter eine Aufgabe, die durch seine
Vorlagen nicht gelöst war. Einerseits bot sich ihm so die Möglichkeit, seiner
Darstellung ein gewisses psychologisches Interesse zu geben. Andrerseits hat-
te die Sache ihre Schwierigkeit: der Gesandte erbittet für Victoria den Tempel,
und er bekommt zu hören, er solle das Götterbild vernichten - wie sollte eine
solche Rede ausfallen? Dem Rang des Bittstellers war ebenso Rechnung zu
tragen wie der Milde des Kaisers, und doch duldete die Sache keine Halbhei-
ten. Durch placidissima ... ora (V. 17f.) werden wir auf den Ton nachsichti-
ger Überlegenheit eingestimmt. Er bildet Kontrast zur voraufgehenden Rede
des Senators, die ja, so stellt es Prudentius dar (V. 10f.), ganz darauf zielte,
die beiden jungen, ehrgeizigen Herrscher aufzuhetzen. Man erwartet daher
eine affektische Antwort, etwa eine Zornrede oder sonst eine Äußerung ju-
gendlicher Unbedachtheit. Stattdessen: placidissima ora. Die Wendung zeigt
bereits an, daß die Psychologie des Redners falsch war. Ein schönes Kompli-
ment liegt darin. Die beiden jungen Männer reden tatsächlich wie Kaiser.
Auch bei Vergil gibt es eine Gesandtschaft, die in einer Sache der ita-
lischen Völker vorstellig wird und abschlägigen Bescheid erhält. Es ist die
Gesandtschaft der Latiner an Diomedes, die um Hilfe im Kampf gegen Aeneas
bittet. Und auch Diomedes antwortetplacido... ore (Aen. 11,251). Die Scho-
lia Danielis bemerken dazu: habitumfiiturae orationis ostendit. Ebenso äußert
sich Ti. Donat29. Liest man Vergil mit seinem Kommentar, treten überhaupt
ähnliche Grundzüge beider Reden hervor: die Ablehnung der Bitte, nicht aus
diesem oder jenem Grunde, sondern aus der Erkenntnis, daß sie im Kern
verfehlt, ja verderblich sei; die Anteilnahme am Schicksal der Irrenden; die
Absicht, sie zur Umkehr zu bewegen; der Versuch, die Empörung gegen den
göttlichen Willen zu zeigen, die in der Bitte enthalten sei. Darauf, daß Prudentius
Prudentius läßt Symmachus die Form wahren, was ihn wiederum zwang, die Antwort beiden
Theodosiussöhnen in den Mund zu legen. Die Situation erhält so etwas Unwirkliches. Denn die
zwei können nicht auf einmal reden, und Symmachus konnte sie nicht zugleich in Mailand oder
Ravenna und in Konstantinopel hören. Aber indem Prudentius die Reden derart aus der kon-
kreten Situation löst, gibt er ihnen zugleich etwas Allgemeines, was sich auch in den wechseln-
den Apostrophen der Kaiserrede ausdrückt. Die Herrscher wenden sich über die Person des
legatus (V. 17) hinaus an alle, die er vertritt: auf die Anrede des virfacundissimus selbst (V. 19)
folgen die Vokative: miles (V. 31), gerttilis ineptia (V. 57), ditissima Roma (V. 61).
29 Bd. 2, S. 446, 5ff. Georgii. Bei Albertus Mahoney, Vergil in the Works of Prudentius
(Patristische Studien 39) Washington 1934, S. 111 wird die Übereinstimmung (Prud. c. Symm.
2, 17f.: reddunt placidissima fratrum Ora ducum - Verg. Aen. 11, 251: haec placido sie
reddidit ore) unter der Rubrik der 'possible imitations' gefiihrt, über die der Verfasser einlei-
tend bemerkt (S. XII): "Possible imitations are more than mere verbal coincidences; there is
some ground for believing that they reflect Vergil". Die Junkturplacido... ore hat Vergil auch
Aen. 7, 194 (Rede des Latinus an die Gesandten der Trojaner).
276 Prudentiana II. Exegetica [10/11]
sich die Diomedesrede zum Vorbild genommen habe, möchte ich nicht unbe-
dingt pochen, aber dem Interpreten bringt es Gewinn, | wenn er sich hier ein
wenig von dem antiken Vergilerklärer führen läßt. Donat charakterisiert die
Diomedesrede als Suasorie, als dissuasio und persuasioi0, und er stellt fest,
der Rat diene dem Heil der Verirrten, ja Diomedes gebe durch seinen Rat
mehr, als er durch Erfüllung der Bitte hätte geben können: ... se benivolum
docet, cum tutiore consilio errantis revocat ad salutem plus conlaturus quam
rogabatur efficere31. Der Satz trifft auch vollkommen den Charakter der
prudentianischen Rede. Auch die Kaiser bei Prudentius haben das wahre Wohl
der Bittsteller im Auge, freilich ihr übergeschichtliches, ewiges Heil; auch sie
sichern gerade durch Zurückweisung des konkreten Anliegens dessen größere
Erfüllung (vgl. V. 65f.), ganz wie Donat von Diomedes sagt: petitionem ipsam
consilio regit32. Und hier wie dort treten dieselben Mittel in den Dienst der
wohlwollenden Abmahnung: Lob, Jammer, Schelte und Beweis (laus, miseratio,
obiurgatio, probatio)33, wenn auch die obiurgatio benivola bei Prudentius bis-
weilen eine Schärfe annimmt, die der vergilischen Rede fehlt.
Die Antwort der Kaiser läßt einen dreiteiligen Aufbau erkennen. Der
erste Teil (V. 18b/38) wird eröffnet, indem die beiden ihre Kompetenz in
solcher Sache erklären: sie berufen sich auf die Ausbildung beim Vater, der
die Söhne in der Kunst des Siegens unterwiesen habe. Das ist ein Motiv des
Herrscherlobs, das Prudentius schon vorher angeschlagen hatte (V. 7/9). Auf
den Vater Theodosius wendet es Pacatus in seinem Panegyricus an34, auf den
Sohn Honorius bezieht es Claudian in seinen frühen Preisgedichten. Er zeigt
30 Vgl. Bd. 2, S. 446, 20f; 447, 17; 454, 25 Georgii: concluditpersuasionem suam. Man
darf allerdings Vergil nicht von rhetorischen Regeln abhängig machen: Richard Heinze, Virgils
epische Technik, Leipzig 31915, S. 431ff.
31 Bd. 2, S. 446, 17f. Georgii.
32 Bd. 2, S. 446, 19f. Georgii.
33 Vgl. Donat Bd. 2, S. 446, 5/447, 20 Georgii und weiter, etwa S. 448, 16f.; 452, 23f;
454, 4. Auch die Art, wie Prudentius die Kaiser mit einer lobenden Anrede des Gesandten
beginnen läßt: Ausoniae virfacundissime linguae (V. 19), erinnert von ferne an den Beginn der
Rede bei Vergil (Aen. 11, 252f.): Ofortimatae gentes, Saturnia regna, Antiqui Ausonii ...,
wozu Donat die schöne Bemerkung macht (S. 446, 24f. Georgii): coepit ergo a Latinarum
gentium laude partibus miserationis admixtis.
34 Paneg. lat. 2 (12), 8,3/5: cumpatre divino castrense collegium. Die historischen Exempla
sind Alexander, Hannibal und Scipio Africanus minor: Theodosius übertrifft sie alle.
[11/12] XII. Die Statue der Victoria 277
zugleich, wie weit ein antiker Lobredner in diesen Dingen gehen durfte. Der
Kaisersohn, so Claudian, habe im Lager zwischen den Lanzen der Soldaten
seine Wiege gehabt, sei als Kleinkind über Schilde gekrochen usw., bis ihn
der Vater schließlich in harte Zucht genommen habe35. Prudentius übt mehr
Zurückhaltung, aber er verzichtet nicht auf diesen Kunstgriff 6 . Er braucht
ihn, weil er junge, unerfahrene Männer in einer Sache, die Erfahrung erfor-
dert, vor einem Manne reifen Alters reden läßt.
Ihre erste Weisung bringt den grundlegenden Gedanken, daß die Ver-
ehrung der Victoria zwecklos sei, weil ein Sieg immer nur der soldatischen
Tüchtigkeit | und dem allmächtigen Gott verdankt werde37. Es ist derselbe
Gedanke, den schon Arnobius eingeschärft hatte: Victoria besitzt weder das
Wesen einer Gottheit noch eigene Gestalt (forma), sie ist nichts weiter als die
Leistung des Siegers38. Oder noch kürzer, mit den Worten des hl. Augustinus:
(Victoria) nulla substantia est39. Aber der einfache Gedanke wird vom Dichter
in bildlicher Sprache vorgetragen, und so fallen Äußerungen, die auch für die
bekämpfte Vorstellung: für die Göttin und ihre Statue, allerlei hergeben. Daß
Victoria den Sieg verkörpert, ohne etwa selbst zu kämpfen; daß sie sich durch
Opfer herbeirufen läßt; daß ihr Nahen den Sieg bringt, ihre Abwesenheit Nie-
derlage bedeutet; daß sie beflügelt das siegreiche Heer umschwebt; daß sie die
Waffen lenkt, ohne doch selbst eine Schlachtenjungfrau zu sein nach Art der
Athena Promachos; daß sie Glanz und Glück des vollendeten Sieges darstellt,
nicht die Mühe des Ringens darum40: all das bringt Prudentius heraus, teils
35 Claudian. m cons. Hon. 10/38 (bes. 16f., 22f.) und 39/62, vgl. ferner diepatriapraecepta
IV cons. Hon. 212ff„ bes. 320b/52a.
36 Vgl. etwa die hyperbolische Wendung: inter castra patris genitos (V. 8), und dazu
Claudian. ΠΙ cons. Hon. 11 f.: strictis quemftdgidatelis Inter laurigeros aluerunt castra triumphos.
37 "Unverändert" aus der heidnischen Polemik gegen die Götterbilder (Hermann Funke,
Art. Götterbild, in: RAC 11 [1981], Sp. 784) kann das schon deshalb nicht genommen sein, weil
der 'allmächtige Gott' (V. 36) weder mit den Göttern noch mit Juppiter noch mit einer All-
gottheit identisch ist. Ähnlichkeit wie Unterschiede zeigen die von Johannes Weitz (Prudentius-
ausgabe, Hanau 1613, S. 750) zu V. 24 angeführten Sätze aus Sallusts Catilina (52, 29): non
votis neque suppliciis muliebribus auxilia deorum parantur; vigilando, agundo, bene consulendo
prospere omnia cedunt. ubi socordiae te atque ignaviae tradideris, nequiquam deos implores:
irati infestique sunt. Die Art, wie 'die Rechte' bei Prudentius emphatisch hervorgehoben und
neben Gott genannt wird (V. 35f.), erinnert ein wenig an Verg. Aen. 11, 118 (Worte des
Aeneas): vixet (sc. Turnus), cui vitam deus aut sua dextra dedisset.
38 Arnob. adv. nat. 4, 2 (CSEL 4, S. 142) über den Kult vergöttlichter Personifikationen,
darunter auch der Victoria: nihil horum sentimus et cernimus habere vim numinis neque in
aliqua contineri sui generis forma, sed esse virtutem viri... victoris victoriam ...
39 Aug. civ. 4, 17 (Bd. 1, S. 166, 16 Dombart/Kalb5).
40 Vgl. Hölscher (wie Anm. 2) S. 173/75 mit Belegen aus der lateinischen Literatur; die
schöne Prudentiusstelle läßt er sich entgehen - ebenso Hans Heiander, The Noun victoria as
Subject (Acta Universitatis Upsaliensis. Studia Latina Upsaliensia 14) Uppsala 1982, S. 25ff.
278 Prudentiana II. Exegetica [12/13]
indem er die heidnische Anschauung dem Ausdruck nach aufnimmt (V. 30),
teils indem er sie direkt zurückweist (V. 23f., 33f.), teils aber eben auch
dadurch, daß er an die Darstellung der Victoria in der bildenden Kunst erin-
nert (V. 27b/29, 36b/38).
Diese letzteren Züge sind es nun, die besondere Aufmerksamkeit bean-
spruchen. Dürfen wir sie auf die Statue im Senat beziehen? Ihr Typos ist aus
Münzbildern und archäologischem Material erschlossen. Literarische Angaben
über ihr Aussehen besitzen wir sonst kaum, denn aus Claudian erfahren wir
nur, daß sie Flügel hatte. Da wäre Prudentius ergiebiger. Daß er tatsächlich
die berühmte Statue im Auge habe, vermutete schon der alte Erklärer Arevalo41.
Doch die ausführlichste Untersuchung, die dem Gegenstand gewidmet ist,
Hölschers Buch 'Victoria Romana', würdigt Prudentius keines Wortes42. In
einem einschlägigen Aufsatz, der Nachweise | erbringen will, "wie die Statue
ausgesehen hat", wird hierfür wohl Claudian herangezogen, nicht aber Pruden-
tius, obwohl es scheint, als kenne die Verfasserin das Stück43. In anderen
Arbeiten wird kurzerhand behauptet, Prudentius "beschreibe" die Statue, wo-
bei aber die Wiedergabe der deskriptiven Details bisweilen recht ungenau aus-
fällt44. Unlängst hat Danuta Shanzer mit unseren Versen eine recht weitreichende
Theorie zur Datierung der Psychomachie verknüpft, und auch für sie steht
fest, daß Prudentius die Statue im Senatshaus beschreibe45.
Vorab wird man zugeben müssen, daß der Dichter hier in einer ge-
wissen Verallgemeinerung von Victoria spricht. Zwar ist von einer Statue die
Rede, aber es wird mehr der allgemeine Gedanke betont, daß ein wertvolles
Kultbild nichts nütze (V. 27b/29) und daß es eine verkehrte und unwürdige
Annahme sei, den Sieg einer Mädchengestalt zuzuschreiben (V. 35b/38). An-
drerseits wäre es gewiß unnatürlich, wenn diese Feststellungen nicht auch im
Hinblick auf das berühmte Bildnis sollten getroffen worden sein, um das es
hier geht; wenn nicht die allgemeinen Angaben auch dem konkreten Fall ange-
paßt wären; wenn der Dichter die Kaiser so reden ließe, als wüßten sie gar
nicht, wie die Statue im Senat aussieht. Daher werden wir zwar von Pruden-
tius keine vollständige Beschreibung erwarten können, wie sie sich der Ar-
chäologe wünscht, aber wir werden annehmen dürfen, daß alles, was tatsäch-
lich gesagt wird, zu dem Bilde stimmt, um das man damals kämpfte46. In
dieser Erwartung werden wir auch nicht enttäuscht. Vergleicht man nämlich
die Prudentiusverse mit der Bronzestatuette in Neapel, in der man eine Wie-
dergabe des Bildnisses in der Curie vermutet47, oder auch mit der Statuette aus |
Fossombrone, die heute in Kassel steht48, so erkennt man sogleich die Überein-
stimmungen: das wohlfrisierte Haar (im Text V. 36: pexo crine), das flattern-
de Gewand (vgl. fluitante sinu), das Busenband (vgl. strofioque recincta), die
schwellenden Formen jugendlicher Weiblichkeit (tumidaspapillas), das Schwe-
ben auf nacktem Fuß (vgl. nudo suspensa pede) und natürlich auch die geöff-
neten Flügel (im Text V. 27ff.: quamvis... pinnas explicet). Fortgelassen hat
Prudentius dagegen gerade das eigentümlichste Detail: den Globus, auf dem
sie stand. Und auch die Frage, welches Attribut Victoria in der Hand hielt -
war es ein Lorbeerkranz, ein Palmzweig, ein Vexillum oder ein Tropaion? -,
c. Symm. 2 , 2 7 f f . ) Prudentius describes the actual statue of Victory in the Senate House ..." etc.
Daß Prudentius seiner Spes goldene Flügel gebe (psych. 305f.), um eine Art christliches Gegen-
bild zur paganen Victoria zu schaffen (Shanzer, S. 356f.), ist ein netter Einfall - aber kaum
mehr. Als Argument für die Datierung der Psychomachie ist derlei jedenfalls untauglich.
46 Die Frage, ob Prudentius selbst die Statue während seines Aufenthalts in Rom gesehen
hat oder nicht, ist ohne Belang; s. oben S. 274 [9] Anm. 27.
47 Adolphe Reinach, Notes tarentines I: Pyrrhus et la Nike de Tarente, in: Neapolis 1
(1913) S. 19/29. Vgl. Pohlsander (wie Anm. 1) S. 590f., hier auch eine Abbildung (Fig. 1) <vgl.
Prudentiana I, Tafel ΙΠ a und b> . Zu den Bronzestatuetten dieses Typs insgesamt s. George
MacDonald, Note on some fragments of imperial statues and of a statuette of Victory, in: The
Journal of Roman Studies 16 (1926) S. 1/16, bes. S. 12ff.; Hölscher (wie Anm. 2) S. 34f.
48 Vgl. Prudentiana I, Tafel IV a und b. Beschreibung des Stücks, Hinweise auf die moder-
nen Ergänzungen, die Datierung (2. Jh. n. Chr.) und weitere Literatur bei Ursula Höckmann,
Antike Bronzen (Kataloge der Staatlichen Kunstsammlungen Kassel 4) Kassel 1972, S. 31 Nr. 61
mit Tafel 18. Ergänzt sind vor allem der rechte Flügel, der linke Fuß und der Globus. Über das
Attribut, das der berühmten Statue in der Curie beigegeben war, s. Hölscher (wie Anm. 2) S. 39.
280 Prudentiana II. Exegetica [14/15]
findet im Text keine Antwort. Der Dichter gibt eben nicht eigentlich eine
Beschreibung, sondern eine knappe Skizze des Wesentlichen, d.h. dessen,
was er für wesentlich erachtet. Und das Wesentliche ist ihm in diesem Fall das
Weibliche (in den Versen 36ff.), daneben auch das Kostbare (in den Versen
27ff.). Das Weibliche wird betont, um die feminea forma (vgl. V. 32) in schar-
fen, satirischen Kontrast zu den harten Mannestugenden zu bringen, das Kost-
bare der vergoldeten, vielleicht recht hohen Statue49 wird hervorgehoben, um
die Zwecklosigkeit solchen Aufwands zu brandmarken, und in diesem Zusam-
menhang erfüllt auch der Ausdruck marmoreo in templo (V. 28) seine Auf-
gabe50. Er nimmt die Formulierung des Bittstellers auf (V. 13), obschon der
Bezug auf das Senatshaus hier zunächst etwas unbestimmt bleibt, um der Aus-
sage das Allgemeingültige zu lassen. Wie es also falsch ist, die Prudentiusverse
einfach als Beschreibung der Statue auszugeben, so ist es andrerseits sicherlich
ein Mangel, bei Behandlung des Bildnisses die Stelle gar nicht zu beachten51.
Hat nun auch Prudentius seine Skizze der Victoria gewiß aus der An-
schauung heraus entworfen, so hat er ihr doch zugleich, scheint es, eine be-
stimmte literarische | Tönung gegeben. Es scheint, sage ich, weil darüber
hier, wie so oft, kaum vollkommene Sicherheit zu gewinnen ist. Denn die
Dichter lieben es, ihre literarischen Vorbilder anzudeuten, und sie malen nicht
immer mit dickem Pinsel. Prudentius zeichnet das Victoriabild, aber man hat
den Eindruck, als wecke er zugleich die Erinnerung an eine berühmte Mädchen-
49 Die divergierenden Ansichten hierüber bei Pohlsander (wie Anm. 1) S. 591, der meint,
die Angaben bei Claudian (Stil. 3, 203: totis exsurgens arduapennis) und Prudentius (V. 27ff.:
quamvis ... multis surgat formata talentis) ließen auf respektable Größe schließen. Alföldis
Vermutung (wie Anm. 43) S. 26, die Statue habe auf einer Säule gestanden, wird abgelehnt von
Pohlsander, zustimmend aufgegriffen von Hölscher (wie Anm. 2) S. 40. Multis ... talentis ist
übrigens nicht im Sinne einer Preisangabe zu verstehen (wie etwa bei den Erzkolossen Plin. n.h.
34, 39/41); das Wort hat bei Prudentius weitere Bedeutung, vgl. per. 11, 188 (von der Ausstat-
tung der Hippolytosgruft): Addidit (sc. dives manus) ornando clara talenta open·, per. 12, 48
(von der Paulsbasilika): Lusitque (sc. prineeps bonus) magnis ambitum talentis.
50 Mahoney (wie Anm. 2 9 ) S. 11 Iff. verweist auf die vergilische Wortverbindung templum
de marmore (georg. 3, 13; vgl. Aen. 4, 457; 6, 69). Aber dem Ausdruckswert nach steht Juv.
sat. 4, 112 näher: Fuscus marmorea meditatus proelia villa. Der Gegensatz zwischen dem schö-
nen Marmorbau, in dem Victoria steht bzw. der Krieg geplant wird, und der rauhen Wirklich-
keit des Kampfs ist beiden Stellen gemeinsam. Der Senatssaal war natürlich durch Marmor-
inkrustation geschmückt; s. etwa Armin von Gerkan, in: Fritz Krischen, Antike Rathäuser,
Berlin 1941, S. 34/44.
51 Wenn die Angaben des Dichters vielen Darstellungen der Victoria gerecht werden, so
muß man auch bedenken, daß jene Statue tatsächlich einen verbreiteten Typos repräsentierte.
Jedenfalls bleibt die Vorstellung, die wir uns von dem berühmten Bildnis machen können,
überhaupt, vom Globus abgesehen, auf allgemeine Züge beschränkt; vgl. Hölscher (wie Anm.
2) S. 35, 40.
[15] XII. Die Statue der Victoria 281
gestalt der Literatur. Catull schildert (64, 60ff.) die verlassene Ariadne, wie
sie, gerade erwacht, am Strande dem Theseus nachblickt:
Der Dichter vergleicht sie zuvor mit einer Statue, zwar mit dem Marmor-
bildnis einer Mänade (saxea ut effigies bacchantis), aber eben doch mit einer
S t a t u e , und man mag sich denken, daß der christliche Dichter, wofern er
wirklich seine Victoria an Catulls Ariadne wollte erinnern lassen, eben durch
diesen Umstand angeregt ward. Auf ihre Toilette achtet die Verlassene aller-
dings nicht: ihr Haar ist aufgelöst, das Strophion und das flatternde Gewand
{vgl. fluitantis amictus), das wir an Victoria sehen, hat Ariadne achtlos fallen
lassen. Aber abgesehen davon, daß sich in unserer Vorstellung diese Unord-
nung wie von selbst zur Ordnung ergänzt, weil sie ja den Gegensatz zum
augenblicklich aufgelösten Zustand bildet, macht gerade die dreifach wiederholte
Negation ( n i c h t das Haar mit der Mitra gerafft, n i c h t die Brust bedeckt,
n i c h t mit dem Strophion gegürtet) einen Eindruck, der trotz des anderen
Sinnes den Versen des Prudentius nahekommt (nonpexo crine virago, nec...
recincta, nec ... vestita), weil ja derlei Ähnlichkeiten nicht bloß durch Ver-
stand und Einbildungskraft, sondern auch durch Gehör und Klang wahrge-
nommen werden. Den deutlichsten Anklang vernimmt man aus dem Vers: non
tereti strophio lactentis vincta papillas, obschon man auch auf solche Gleich-
heiten nicht unbedingt bauen mag. Aber immerhin erfaßten ihn zwei moderne
Gelehrte unabhängig voneinander, und das mag vielleicht dafür sprechen, daß
ihn auch ein antiker Kenner erfassen konnte und sollte. Antonio Salvatore
bespricht den ganzen Fall, in der Annahme, er sei unbemerkt geblieben52.
Aber mindestens die Ähnlichkeit der beiden Versschlüsse vincta papillas und
52 Antonio Salvatore, Studi Prudenziani, Napoli o. J. [1958], S. 27/29. Gerade die Tatsa-
che aber, daß Ariadne zur Bildsäule erstarrt ist, beachtet er merkwürdigerweise nicht. Prudentius
behandelt übrigens auch seinerseits das Thema der verlassenen Ariadne: c. Symm. 1, 135/44;
dazu Salvatore, S. 39f.
282 Prudentiana II. Exegetica [15/16]
vestita papillas war schon Carl Weyman aufgefallen, der sie in einer unveröf-
fentlichten Prudentiusstudie verzeichnet53. Vielleicht liegt also tatsächlich be-
wußte Anspielung vor, die der christliche Dichter, das Prinzip antiker | Imita-
tionskunst nutzend, anbringt: non subripiendi causa, sedpalam mutuandi, hoc
animo, ut vellet agnosci54. Man muß ja bedenken, daß solche Zierstücke dich-
terischer Formgebung hier zugleich einen panegyrischen Zweck erfüllen, inso-
fern sie der literarischen Bildung der beiden jungen Kaiser, die Prudentius
reden läßt, ein schönes Zeugnis ausstellen, und wir dürfen voraussetzen, daß
die Kaiserrede auch in dieser Hinsicht besonders sorgfältig gearbeitet ist.
53 Carl Weyman, Similia zu den Gedichten des Prudentius. Das Manuskript gelangte dank
der Freundlichkeit Frau Carola Weymans, der Tochter des Gelehrten, in meine Hände. Die
Arbeit ist durch das Erscheinen der Bergmanschen Prudentiusausgabe (1926) angeregt und er-
gänzt deren Index imitationum.
54 Sen. suas. 3, 7 mit Bezug auf Ovid und Vergil. Vgl. Willy Schetter, Drei Epigramme
über die Rettung der Aeneis, in: Beiträge zur Ikonographie und Hermeneutik. Festschrift Niko-
laus Himmelmann, Mainz 1989, S. 445/51, ebd. S. 449.
55 In V. 46f. tritt neben die Repräsentanten der Poesie und der Malerei (zu Apelles vgl.
etwa Stat. silv. 5, 1,5) Numa als Begründer der römischen Religion, ohne Rücksicht darauf,
daß gerade er Götterbilder verboten haben soll (Plut. Num. 8, wohl nach Varro, s. unten Anm.
[16/17] XII. Die Statue der Victoria 283
Poesie und Malerei, noch darin, daß die Künste als Förderinnen des Kults
erscheinen. Wenn Arevalo feststellt, die Verwandtschaft der Dichtung mit der
Malerei sei offenkundig und bedürfe keines Beweises, die eigene Leistung des
Prudentius beruhe darauf, "daß er den Aberglauben mit diesen Künsten der
Phantasie auf geistvolle Weise verknüpfte"56, so hat er im ersten Punkte gewis-
sermaßen recht, aber im zweiten ist er jedenfalls ungenau. Für das erste braucht
man sich nur an das berühmte Dictum des Simonides zu erinnern, | die Male-
rei sei eine stumme Poesie und die Poesie eine redende Malerei57, und wer
weiter bedenkt, welchen Kampf Lessing im 'Laokoon' gegen die unkritische,
ausufernde Anwendung dieses Grundsatzes führt58, wird sich nicht wundern,
daß auch der Prudentiuserklärer des 18. Jahrhunderts in der Sache nichts wei-
ter als eine bloße Evidenz zu erblicken vermag ("nihil est cur probemus, cum
satis pateat"). Aber auch das Zweite, so wie es Arevalo ausdrückt, ist nichts
Neues, das man dem Prudentius zugute schreiben dürfte. Man schlage die christ-
lichen Apologeten auf: gibt es irgendeinen, der heidnische Superstition nicht
aus Dichtung und Kunst die Nahrung ziehen läßt? Jede Art der bildenden
Kunst (omnis ars), sagt Tertullian59, ist zur Quelle des Götzendiensts gewor-
den. Nicht in solcher Lehre also kann das Erfinderische oder Geistvolle lie-
gen, das Arevalo lobt, ohne es klar zu bezeichnen. Es liegt vielmehr darin,
daß Prudentius an dem Bündnis der trügerischen Mächte nur e i n e Gattung
der bildenden Kunst beteiligt und damit dieser einen, der Malerei, eine gleich-
62). Der gemeinsame Punkt ist auch ein anderer: alle drei Mächte arbeiten auf die Schaffung
falscher Götter hin. Vorsorglich sei betont, daß Prudentius' 'dreifache Macht' klar zu scheiden
ist von der berühmten Dreiteilung der Theologie bei Varro u.a. (vgl. Burkhart Cardauns, M.
Terentius Varro. Antiquitates rerum divinarum, Wiesbaden 1976, frgg. 6ff. und dazu S. 139ff.;
Godo Lieberg, Die 'theologia tripertita' in Forschung und Bezeugung, in: Aufstieg und Nieder-
gang der römischen Welt 1.4, Berlin-New York 1973, S. 63/115), wenn sich auch sachliche
Berührungen - etwa in der Kritik an den Dichtern - ergeben.
56 Ardvalo zu V. 48 (Migne, PL 60, Sp. 184 D): "Poesin autem cum pictura quamdam
inter se cognationem et similitudinem habere nihil est cur probemus, cum satis pateat. Hoc
proprium est Prudentii, quod superstitionem his fingendi artibus ingeniöse coniunxerit."
57 Simonides bei Plut. glor. Athen. 3 (moral. 346 F), aufgenommen sogar in Georg Büch-
manns 'Geflügelte Worte', Frankfurt/Main-Berlin-Wien "1981, S. 252. Lionardo bemerkte
dazu: "Heißest du die Malerei eine stumme Dichtung, so kann auch der Maler die Poesie eine
blinde Malerei nennen. Nun sieh zu, wer der schadhaftere Krüppel sei, der Blinde oder der
Stumme!" (Lionardo [wie Anm. 63] I 19, S. 31 Ludwig).
58 Hier in der "Vorrede" der Hinweis auf die "blendende Antithese des griechischen Vol-
taire".
59 Tert. idol. 3, 2 (CCL 2, S. 1103), und hierzu Jan Hendrik Waszink - Jacobus Cornells
Maria van Winden, Tertullianus: De idololatria, Leiden 1987, S. 107/09. Die philosophische
Götterkritik urteilte nicht anders, vgl. etwa Arthur Stanley Pease im Kommentar zu Cie. nat.
deor. 1, 42 und 1, 77 (Bd. 1, Cambridge/Mass. 1955, S. 280ff. und 396f.).
284 Prudentiana II. Exegetica [17/18]
sam führende Rolle zuteilt. Er zieht die beiden Gedanken zusammen: den der
Verschwisterung von Malerei und Poesie einerseits und den des Zusammen-
hangs von Poesie, Kunst und Kultus andrerseits. Diese Stränge werden so
miteinander verwirkt, daß die Malerei hervortritt, indem sie allein unter allen
bildenden Künsten als schöpferische Kraft erscheint und als ebenbürtige Macht
sich mit Religion und Poesie zu jener unheilvollen Trias zusammenschließt.
Prudentius ist in diesem Punkte sehr entschieden. Entweder, meint er, liegt
der Anfang ganz und gar bei den Malern, haben sie mit dem Rechte freier
Phantasie, das ihnen wie auch den Dichtern zugestanden wird (iurepoetarum) 60 ,
Phantasiegestalten wie Victoria erdacht und dargestellt und eben dadurch erst
gelehrt, eine Gottheit zum Bilde hinzuzudenken (numen componere). Oder
aber - man muß achtgeben, diesen zweiten Teil der Alternative recht zu erfas-
sen: oder aber sie fanden einen Tempel schon vor (und natürlich auch eine
Gottheit und einen Kult), aber der Tempel war leer: erst die Malerei, unter-
stützt von der Poesie, gab dem numen eine Gestalt. Prudentius drückt sich hier
mit schöner Unbestimmtheit aus: aut lepida ex vestro sumpsitpictura sacello,
quod ... duceret infaciem. Was Lavarenne | nicht übel übersetzt: "ou bien
c'est ä votre culte que l'aimable peinture a emprunte des concepts ..." etc.61
Zugrunde liegt die Lehre vom bildlosen Kult der Frühzeit, die sich durch
Varro verbreitete. Prudentius konnte davon bei Tertullian lesen: sola templa et
vacuae aedes erant62. Aber ganz gleich, ob die Gottheit überhaupt erst aus
dem Gemälde abgeleitet wurde oder ob das numen im anikonischen Kult vor-
gegeben war: in jedem Fall ist die Victoriastatue, ist jede Skulptur später als
das malerische Produkt. Zwar vergleicht Prudentius Malerei und Plastik nicht
ausdrücklich, aber der Vergleich ist in dem, was er sagt, impliziert. Er geht
60 Außer Hör. ars 9f. vgl. Lucian. pro imag. 18 und - für Prudentius besonders interessant
- Hermot. 72: έπε! δ γε νΰν επραττες και έπενόεις, ούδέν των Ίπποκενταύρων και.
Χιμαιρών και Γοργόνων διαφέρει, και δσα αλλα δνειροι και ποιηται και γραφείς
έλεύθεροι οντες άναπλάττουσιν οΰαε γενόμενα πώποτε οΰτε γενέσθαι δυνάμενα (einen
gemeinsamen Hintergrund vermutet Brink im Kommentar zu Horazens ars poetica [wie Anm.
79] S. 91). Das Neue, das sich bei Prudentius durch die enge Syzygie dieser beiden Künste, der
Dichtung und der Malerei, ergibt, zeigt sich deutlich, wenn man vergleicht, was Cotta bei Cie.
nat. deor. 1, 77 Uber den Bilderkult und seine Ursachen sagt: auxerunt autem haec eadem
poetae, pictores, opifices. Aus der Beiordnung der drei Künste wird bei Prudentius eine Unter-
ordnung der letzten unter die beiden ersten.
61 Lavarenne (wie Anm. 18) S. 161. Vgl. auch H.J. Thomson in der Prudentiusausgabe
der Loeb Library, Bd. 2 (London-Cambridge/Mass. 1953), S. 9: "... or the painter's pretty art
has taken from your shrine s o m e t h i n g to copy ..." etc. Grammatisch falsch wäre es, zu
quod (V. 42) aus Vers 40 numen zu ergänzen - der Sache nach trifft es ungefähr.
62 Tert. idol. 3, 1; vgl. apol. 25, 12f.; Varro bei Aug. civ. 4, 31 = RDI frg. 18 Cardauns
(mit dem Kommentar S. 146ff.); Clem. Alex, protr. 46, Iff. (GCS 12, S. 35).
[18/19] XII. Die Statue der Victoria 285
von einem vollplastischen Bildwerk aus und beansprucht seine Erfindung für
Malerei und Poesie, lehrt also indirekt, aber deutlich die Priorität der einen
Kunstgattung (der Malerei) vor den anderen (vor scalptura, statuaria,
πλαστική). Das ist nun in der Tat eine eigenwillige Anschauung. Vielleicht
hätte Lionardo daran seine Freude gehabt. Denn durch ihre Verallgemeine-
rung und durch ihre - wie sich zeigen wird - apologetisch begründete Spitze
gegen die Plastik erhält die prudentianische Verbindung von Poesie und Male-
rei eine Ausrichtung, die gewisse Reflexionen der Neuzeit über den Vorrang
der einen oder der anderen Kunstgattung vorwegzunehmen scheint. Lionardos
Buch von der Malerei rühmt den Erfindungsreichtum (abbondantia d'inven-
tione) dieser Kunst: sie zeige mehr Phantasie als die Bildhauerei, kommandie-
re mit ihren Linien den Bildhauer bei Vollendung seiner Statuen63. Man braucht
nur die Sache von der schlechten Seite her zu betrachten und wird sich so-
gleich auf einen Standpunkt versetzt finden, der von dem des frühchristlichen
Dichters nicht weit abzuliegen scheint. Trotzdem hätte Prudentius Lionardos
Zustimmung wohl kaum erhalten. Denn darin wäre der Meister mit unserem
Autor höchst unzufrieden gewesen, daß er die Dichtung - auch sie nur eine
Kunst di poca fantasia, wie Lionardo meint64 - neben die Malerei zu stellen
wagt. Vielleicht hätte Prudentius eher bei dem einen oder anderen Archäolo-
gen Beifall finden können. Adolf Michaelis äußerte einst die Überzeugung,
"daß durch den größten Theil der griechischen Kunstgeschichte hindurch die
Malerei der Plastik vorangegangen und ihr gewissermaßen | den Weg gewie-
sen hat, sozusagen die führende Kunst gewesen ist"65. Wie passend zu
Prudentius! Aber da diese Ansicht längst als "Irrlehre der philologischen Ar-
chäologie des 19. Jahrhunderts" (Ernst Pfuhl)66 erkannt und zurückgewiesen
63 Lionardo da Vinci, Das Buch von der Malerei, herausgegeben, übersetzt und erläutert
von Heinrich Ludwig, 3 Bde (Quellenschriften für Kunstgeschichte, hg. von R. Eitelberger v.
Edelberg 15/17), Wien 1882, hier Teil 1, Nr. 15 (am Ende), S. 24; Nr. 38 W, S. 100; Nr. 23,
S. 46. Ferner der ganze Vergleich zwischen Malerei und Bildhauerei, ebd. Nr. 35/45, S. 72/101
(la povertä della scoltura: Nr. 40, S. 88). Vgl. Anthony Blunt, Kunsttheorie in Italien 1450/
1600, München 1984 (Oxford Ί940). bes. S. 18f., 34ff. Ebd. weitere Literatur.
64 Lionardo (wie Anm. 63) Nr. 19, S. 32f. Zum weiteren Hintergrund s. Karl Borinski,
Die Antike in Poetik und Kunsttheorie 1, Leipzig 1914, S. 96f., 167ff., 183ff. Auch Lionardo
begründet übrigens den Rang der Malerei mit ihrer Wirkung in der Religion: sie fördert die
Verehrung der Götter. Aber sie schafft selbst Bilder, die verehrt werden, und ist eben deshalb
der Poesie überlegen (ebd. Nr. 8, S. 12; Nr. 14, S. 20; Nr. 25, S. 50). Gerade das hätte ein
frühchristlicher Apologet, auf antike Verhältnisse blickend, nicht sagen können.
65 Adolf Michaelis, Die Zeitbestimmung des Silanions, in: Historische und philologische
Aufsätze. Ernst Curtius ... gewidmet, Berlin 1884, S. 105/14, ebd. S. 114.
66 Ernst Pfuhl, Malerei und Zeichnung der Griechen 1, Berlin 1923, S. 3; dazu die ganze
Auseinandersetzung auf S. 3/5. Aber "die alte Göttergabe des griechischen Geistes, die
286 Prudentiana II. Exegetica [19/20]
ist, will ich sie nicht wiederbeleben. Fragen wir uns lieber, wie Prudentius
sich jene Anschauung bildete! Welche Absicht verfolgte er, und woher nahm
er sich das Recht, derlei zu behaupten - ja mehr noch: den regierenden Herr-
schern in den Mund zu legen?
Zunächst das erste: die Absicht. Sie ist unschwer zu erkennen. Pruden-
tius betrachtet die Victoria im Senat als Kultbild, mit Recht, denn sie hatte
einen Altar. Und wie sie waren alle Kultbilder der Antike rundplastische Wer-
ke. Die Tempel mochten noch so sehr mit Gemälden ausgeschmückt werden,
niemandem wäre es eingefallen, eines davon kultisch zu verehren. Denn etwas
bloß Gemaltes konnte nicht eine Gottheit sein67. Die Statuen aber waren Göt-
ter. Alle gelehrte Bemühung, Philosophie und Bilderkult zu versöhnen, die
Statuen zu irgendwelchen Symbolen der Götter oder einer Allgottheit zu ma-
chen68, hat jene andere Auffassung niemals zu verdrängen vermocht, ja sie ist
immer die herrschende geblieben und durch den Neuplatonismus auch unter
den Gebildeten wieder belebt worden. Eusebius berichtet, das heidnische Volk
habe sich erst dann von der Torheit des Götterkults überzeugen lassen, als
man die Statuen öffnete und ihnen vorzeigte, was sich darinnen befand: Kno-
chen oder Heu und Stroh, kein Gott oder Dämon69. Auch | in der Polemik der
mythenschöpferische [!] Phantasie" hebt auch Pfuhl an der Malerei hervor (2, S. 735) - und das
ist die innere Wahrheit, die man auch den Prudentiusversen nicht absprechen kann.
67 Valentin Müller, Art. Kultbild, in: PW Suppl. 5 (1931) Sp. 472/511, hier Sp. 473, 40ff.:
"Der Antike sind Kultbilder, die nicht rundplastisch wären, mit wenigen Ausnahmen gänzlich
fremd ... Im Gegensatz zu anderen Epochen war der Antike die Wirkung eines Götterbildes in
Malerei oder Relief nicht intensiv oder real genug, sie verlangte die volle tatsächliche Körperlich-
keit." Vgl. auch Georg Lippold, Art. Malerei, in: PW 14,1 (1928) Sp. 881/98, hier Sp. 886,62ff.
68 Vgl. hierüber Johannes Geffcken, Der Bilderstreit des heidnischen Altertums, in: Ar-
chiv für Religionswissenschaft 19, 1916/19, S. 286/315.
69 Euseb. v. Const. 3, 57 (GCS 7, S. 104); vgl. Ludwig Friedländer, Darstellungen aus
der Sittengeschichte Roms 3, Leipzig l01923, S. 198/202, wo freilich die Vermengung mit
Äußerungen christlicher Volksfrömmigkeit stört. Daher, aus dem Glauben an die Identität von
Bild und Gottheit, rührt auch der Sprachgebrauch, die Götterbilder einfach mit den Namen der
Gottheiten zu bezeichnen, also etwa von Pallas oder Ceres zu reden, wo ihre Kultbilder gemeint
sind. Bei gewissen Gottheiten ist dieser "Eigennamen-Typus" der herrschende geblieben: bei
Penaten, Laren, Hermen. Vgl. Daut (wie Anm. 72) S. 14/31. Arnobius adv. nat. 1, 39 bekennt,
er habe noch unlängst, d.h. vor seiner Bekehrung, jedes öltriefende Steinidol verehrt tamquam
inesset vis praesens. Über ähnliche Stimmen aus dem Neuplatonismus, in dem volkstümliche
Auffassung der Bilder und Versuche ihrer symbolischen Erklärung wechseln oder einander
durchdringen, s. Geffcken (wie Anm. 68) S. 304ff. Wie damals "die Philosophie beim Volks-
glauben in die Schule ging" (ebd. S. 305), zeigen etwa Porphyrios in seiner Orakelphilosophie
(bei Euseb. praep. ev. 5, 12f.: GCS 43, 1, S. 245/47) und Kaiser Julian in der Rede auf die
Göttermutter (or. 8 [5], 2, 160 A/61 A, S. 104ff. Rochefort). Solche Äußerungen zieht Fried-
rich Hochreiter, Die Relatio des Symmachus für die Wiedererrichtung des Altares der Viktoria
und die Gegenschriften des Ambrosius und Prudentius, Diss. Innsbruck 1951 (masch.), S. 52f.
mit Recht heran, um den weiteren Hintergrund auszuleuchten, vor dem Symmachus' Eintreten
"für Altar und Kultbild" zu sehen ist.
[20] XII. Die Statue der Victoria 287
Kirchenväter wird immer vorausgesetzt, daß das Idol ein plastisches Werk ist.
Wenn Tertullian an der zitierten Stelle alle Künste, auch die Malerei, ja sogar
die Textilkunst für die Verbreitung des Götzendiensts verantwortlich macht,
geht er von einem weiteren Begriff der Idololatrie aus70. Aber ein 'Gott' ent-
steht nicht durch Stift und Pinsel, er ist ein deus ligneus oder aereus, argenteus,
lapideus, wie Minucius Felix sagt71, ein Gott aus Stein, Gips, genieteten Bronze-
platten, wie es bei Prudentius heißt72. Und Myron, Polyklet, Phidias: Bildhau-
er also (denen er allerdings auch den Toreut Mentor zuzurechnen scheint),
gelten ihm als diejenigen Künstler, welche 'Götter' herstellten und daher 'Vä-
ter der Götter' (parentes numinum) heißen dürfen73. Da nun Prudentius an
unserer Stelle ganz darauf aus ist, die Götter als Nichtse zu erweisen, kam ihm
die Malerei gerade recht. Denn der Maler wie der Poet bringen von sich aus,
jeder in seiner Gattung, nichts hervor, was angebetet wird; sie schaffen Kunst,
70 Tert. idol. 3, 2 (CCL 2, S. 1103): neque enim interest, an plastes effingat, an caelator
exculpat, an phrygio detexat, quia nec de materia refert, an gypso, an coloribus.an
lapide, an aere, an argento, an filoformetur idolum. Vgl. Sap. Sal. 15, 4, wo aber eher die
Bemalung der Statuen (aus Stein, Holz, Ton usw.: ebd. 14, 21; 15, 8) gemeint zu sein scheint.
Auch Lactanz inst. 1,11, 26/29 zieht den Kreis weiter (vgl. ebd. 26: pictores ... fictoresque
imaginum), aber er verfährt so, weil er ein besonderes Ziel verfolgt: er will aus der Überein-
stimmung der bildenden Kunst mit der Poesie die partielle Wahrheit der dichterischen Aussagen
über die Götter erweisen. Darum schließt er malerische Darstellungen mit ein. Tatsächlich
kann, in freierer Weise, Arnobius (wie Anm. 69) sagen, er habe u.a. Gemälde (picturas) und
Tänien an alten Bäumen verehrt. Lehrreich ist in dieser Hinsicht der Olympikos des Dio
Chrysostomus (or. 12). Hier werden ebenfalls alle bildenden Künste zusammen als eine der
Quellen der Gottesvorstellung aufgefaßt (or. 12, 44); sie treten als solche neben die Poesie, und
zwar so, daß diese die frühere und führende bleibt (ebd. 45 fin.; 46). Die Synkrisis freilich, die
dann Phidias in den Mund gelegt wird (ebd. 55ff.), vergleicht bezeichnenderweise Poesie und
Bildhauerkunst (ebd. 55ff.), weil das Thema, soweit es die Kunst betrifft, eben doch eigentlich
lautet: περί άγαλμάτων ιδρύσεως, δπως δει ίδρΰσθαι (ebd. 84). Zu Dions Olympikos, auch
im Verhältnis zu Lessings 'Laokoon', s. Hans Schwabl, Dichtung und bildende Kunst, in:
ΑΡΧΑΙΟΓΝΩΣΙΑ 4 (1985/86) Athen 1989, S. 59/75.
71 Min. F e i . 24, 5/8.
72 Prud. c. Symm. 1, 435/41. Vgl. Funke (wie Anm. 37) Sp. 786f. 'Götter' aus Gips auch
schon in der varronischen Bilderkritik: Varro RD I frg. 22 Cardauns: dii veri neque desiderant
ea (sc. sacra) neque deposcunt, ex aere autem facti, testa, gypso vel marmore multo minus haec
curant... Vgl. Raimund Daut, Imago. Untersuchungen zum Bildbegriff der Römer, Heidelberg
1975, S. 86.
73 Prud. per. 10, 266/300. Winckelmann sah diesen Unterschied zwischen Malerei und
Bildhauerei und erblickte mit Recht gerade darin einen der Gründe für das frühere Reifen der
Bildhauerei vor der Malerei: "... denn da die Bildhauerei den Götterdienst erweitert hat, so ist
sie wiederum durch diesen gewachsen. Die Malerei aber hatte nicht den gleichen Vortheil ..."
usw. (Johann Joachim Winckelmann's Geschichte der Kunst des Altertums ..., hg. von Julius
Lessing, Heidelberg 21882, S. 104). Er gelangte also, von demselben Befund ausgehend, der
jedem Menschen der Antike, auch dem spätantiken Dichter, vor Augen stand (vgl. ebd.: "Aber
die Werke der Maler scheinen bei den Griechen kein Vorwurf heiliger zuversichtlicher Ver-
ehrung und Anbetung gewesen zu sein"), zu umgekehrter, historisch richtiger Folgerung.
288 Prudentiana II. Exegetica [20/21]
nicht 'Götter'. Darum waren die Idole als Wahngebilde des Menschen ent-
larvt, wenn sie als Erfindungen dieser Künste durchgingen, wenn die Linie
ihrer Herkunft dort ansetzte, wo es keinesfalls 'Götter' gibt, sondern nur Phan-
tasien.
Man wird kaum erwarten dürfen, für Prudentius' Kombination eine
Vorlage zu entdecken, die alle Teile seiner Konstruktion in gleicher Weise
vereint. Die | antike Kunsttheorie hat zwar den Begriff der schöpferischen
Phantasie entwickelt und aus ihr gerade die Erfindung der Götterbilder erklärt
und gerechtfertigt, aber sie hat dabei nicht zwischen Plastik und Malerei un-
terschieden74. Es fehlt dort also gerade das Eigentümliche der prudentianischen
Auffassung. Dies läßt sich auch aus der Fachschriftstellerei nicht herleiten.
Denn die Nachrichten über die Erfindung der Malerei weisen solchen Weg
nicht75. Die scalptura zumindest, die Arbeit in Stein, galt als die ältere Kunst,
und ihre ersten Meister wurden auch gleich mit Götterbildern in Verbindung
gebracht76. Es wäre aber überhaupt verkehrt, wollte man sich den Dichter in
antiquarischer Literatur kramend vorstellen. Solche Quellen hätten ihm nichts
genützt. Seine Vorlagen mußten Vorbilder sein, Autoritäten, die dazu taugten,
das Heidentum zu überführen. Und solche Autoritäten konnten nur diejenigen
Schriftsteller sein, die das spätrömische Heidentum selbst als Autoritäten aner-
kannte, die Männer wie Symmachus als Repräsentanten ihrer eigenen Kultur
und Bildung gelten ließen. Dies wiederum waren in besonderer Weise die
alten Dichter, die Klassiker der Schule, Vergil vor allem, aber auch andere.
Es scheint bisher kaum bemerkt worden zu sein, daß die Kaiserrede nach
74 Das Paradebeispiel ist vielmehr der Zeus des Phidias, vgl. Ella Birmelin, Die kunst-
theoretischen Gedanken in Philostrats Apollonios, in: Philologus 88 (1933) S. 392/414 (ausge-
hend von Philostr. v. Apollon. 6, 19 S. 230ff. Kayser). Das hindert natürlich nicht, daß der
Vorzug der φαντασία sonst auch an Malern gelobt wird: vgl. Quintil. inst. 12, 10, 6 (in der
Malergeschichte) und dazu R.G. Austin im Kommentar, Oxford 21954, S. 145.
75 Pfuhl (wie Anm. 66) 1, S. 496ff.; Heinrich Brunn, Geschichte der griechischen Künst-
ler 2, Stuttgart21889, S. 3ff. Die Nachricht über den Maler Euchir (Aristoteles bei Plin. n. h. 7,
205 = Aristot. frg. 382 Rose) reicht immerhin bis in mythische Zeit hinauf.
76 Plin. n. h. 36,15 über die Marmorplastik: non omittendum harte artem tanto vetustiorem
fitisse quampicturam aut statuariam...; vgl. ebd. 9f. über die Kreter Dipoenus und Scyllis bei
den Sikyoniern. Plinius betont zwar (n.h. 35, 54f.) gegenüber seinen griechischen Quellen das
frühe Aufblühen der Malerei (dazu August Kalkmann, Die Quellen der Kunstgeschichte des
Plinius, Berlin 1898, S. 1/37, bes. S. 22ff.), aber auf ein höheres Alter der Malerei im Verhält-
nis zu anderen Gattungen der bildenden Kunst konnte daraus kaum geschlossen werden. Zur
Malergeschichte bei Plinius s. ferner Franz Studniczka, Antenor der Sohn des Eumares und die
Geschichte der archaischen Malerei, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 2
(1887) S. 135/68, bes. S. 148ff.; vgl. auch die Hinweise im Kommentar der neuen Bud6-
Ausgabe: Jean-Michel Croisille (1985) S. 139 zu Plin n. h. 35, 15 und S. 170 zu 35, 54; Agnes
Rouveret (1981) S. 135f. zu Plin. n. h. 36, 15.
[21/22] XII. Die Statue der Victoria 289
Horaz gearbeitet ist, und zwar nach berühmter Stelle. Horaz eröffnet die 'Ars
poetica' mit einer seltsamen Vision, die seitdem viele im Gedächtais trugen -
auch Symmachus, wie aus einem seiner Briefe zu entnehmen ist77. Sie stellt
uns ein Gemälde vor, das ein monstrum zeigt78 ähnlich den Mischwesen des
Mythos, nur noch phantastischer gebildet: mit schönem Frauenkopf, Pferde-
hals, buntem Gefieder, Fischschwanz. Ihm ähnele, meint Horaz, das Gedicht,
das keine Einheit zustandebringt, sondern nur lose Wahngebilde schafft wie
Träume eines Fieberkranken. Die Freiheit dichterischer und malerischer Er-
findung anerkennt auch er, doch läßt er sie vor dem Monstruosen ihre Grenze
finden: |
<Hier konnte Prudentius die Idee der engen Verbindung von Poesie und Ma-
lerei finden sowie die Lehre, daß beiden Künsten das Recht zustehe, im Reich
der Phantasie frei zu schalten. Daß er wirklich diese berühmte Versreihe vor
Augen hatte, deuten gewisse Ähnlichkeiten in der Wortwahl an: inania rerum
Somnia (Prud. 45f.) - velut aegri somnia, vanae Fingentur species (Hör. 7f.);
fallendi trina potestas | (Prud. 48) - audendi... aequa potestas | (Hör. 10);
simulatisfingere membris (Prud. 58) - undique conlatis membris (Hör. 3). Die
Anklänge sind verhalten, genügten aber offenbar, um den Redaktor, der die
Verse [59/60] einfälschte, auf die Spur zu setzen, die der Dichter verfolgt
hatte. Denn auch diese beiden Zeilen scheinen in Wort und Gedanke auf die
ars zurückzuweisen: Victoria wird hier als chimärenhafte Fehlschöpfung auf-
gefaßt, als Vogelweib, ähnlich dem fiktiven Gemälde, das Horaz uns vorstellt,
und die Junktur plumis obducere (Ps.Prud. 59) erinnert an inducere plumas
bei Horaz (2)79. Aber damit leistete sich der Interpolator einen Mißgriff, der das
anmutige Bild der puella pinnigera zerstört. Ausgelöst wurde er vermutlich
durch die Junktur adsimulatis ... monstris im Prudentiustext (39f.). Prudentius
meint mit monstra "Wahngebilde", nicht "Ungeheuer" - solche Vorstellung
ist bei ihm schon durch den Charakter der lepida ... pictura ferngehalten (41).
Aber der Pseudo-Prudentius faßte, angeregt wohl durch das horazische Flair
der Passage, den Begriff des Monstruosen anders und erfand das Geierweib
(vgl. Ps.Prud. 60: avis mulier - Hör. 4: mulier formosa superne\ Hör. 12f.:
non ut Serpentes avibus geminentur). Man muß sich wundern, daß die
horazische Färbung der Verse, der echten wie der unechten, von Seiten der
Prudentiuserklärung fast gar nicht beachtet wurde, wo doch sonst die moderne
Philologie selbst leisesten Anklängen im Formalen emsig nachgeht80. In Berg-
mans 'Index imitationum' steht nichts davon, und auch die anderen Ausgaben
und die Arbeiten, die Prudentius' Verhältnis zu Horaz behandeln oder berüh-
ren, geben, soweit ich sehe, keinen Hinweis81. Über das merkwürdige Interpola-
79 Bei Otto Keller - Alfred Holder, 2, Jena 21925, S. 284 im Similien- bzw. Testimonien-
apparat notiert, bei Brink in einem speziellen exegetischen bzw. textkritischen Zusammenhang
(anläßlich plumas) und mit Zurückhaltung: "Prud. c. Symm. II 57 ff. may recall this passage
..." (Charles Ο. Brink, Horace on Poetry 2. The'Arspoetica', Cambridge 1971, S. 86 zu V. 2).
Übrigens ist inducere bei Horaz Terminus für das Auftragen der Farben (Brink ebd.), obducere
bei Ps.Prudentius hat weiteren Sinn; vgl. etwa Prud. per. 10, 1084f.: Insignis auri lammina
ob due it cutem, Τ e git ur metallo, quod perustum est ignibus; psych. 601: virides obdueta
aerugine rtummos\ <ferner Prudentiana 1148, Anm. 174>.
80 Darüber Christian Gnilka, Rez. zu Jean-Louis Charlet, La Creation podtique dans le
'Cathemerinon' de Prudence, Paris 1982, in: Gnomon 59 (1987) S. 299/310, bes. 306f., 309.
So ist auch innerhalb unseres Stücks zu V. 55: volucri... curru der Anklang an Hör. carm. 1,
34, 8 volucremque currum bei Bergman S. 463 (nach Breidt [wie Anm. 81] S. 41) festgestellt -
obschon Verg. Aen. 10, 440 volucri curru im Zusammenhang mit dem vergilischen Muster
dieser Verse (Aen. 7, 778/80) eher in Frage kommt: s. dazu unten S. 296 [27] - , nicht aber die
wichtigere Benutzung der 'Ars poetica'. Hierzu finde ich nur einen knappen Hinweis in der
Ausgabe von Jos6 Guill6n - Isidora Rodriguez, Obras completas de Aurelio Prudencio, Madrid
1950, S. 413 Anm. 40.
81 Vgl. Hermann Breidt, De A. Prudentio demente Horatii imitatore, Diss. Heidelberg
1887; Salvatore (wie Anm. 52) S. 59/77: "Christianorum Flaccus"; Ilona Opelt, Prudentius und
Horaz, in: Forschungen zur römischen Literatur. Festschrift Karl Büchner, Wiesbaden 1970, S.
206/13 = Dies., Paradeigmata Poetica Christiana, Düsseldorf 1988, S. 130/37; Otto Wein-
reich, Horatius Christianus, in: Universitas 2, 1947, S. 1441/53; hier die schöne, auf unseren
[22/23] XII. Die Statue der Victoria 291
ment [59/60] ist im ersten Band eingehend gehandelt82, wo auch die sprachli-
che Schwierigkeit des Zweizeilers erörtert wird. Hier mag die knappe Korrek-
tur der Darstellung, die ich an diesem Platze früher gab, genügen. Prudentius
begreift Victoria als Phantasiegestalt, nicht als Mißgestalt, und als Phantasie-
gestalt der Dichter und Maler war gerade sie längst erkannt. > | Das bezeugt
uns ein Text, der weit abzuliegen scheint, der aber zu Prudentius vielleicht
nicht nur in zeitlicher Nähe steht83. In dem schon erwähnten Panegyricus auf
Theodosius lesen wir, Dichter und Maler hätten dank ihrer verwandten Einfal-
le etwas Sinnvolles zustande gebracht, indem sie die Victoria geflügelt dar-
stellten: recte profecto germana illa pictorum poetarumque commenta Victoriam
finxere pinnatam, quod hominum cum fortuna euntium non cursus est sed
volatus84. Das ist nun freilich ein Lob, aber daß pure Erfindung der verschwi-
sterten Künste vorliege, wird doch klar ausgesprochen. Welch schöner Ge-
danke, wenn der Dichter hier die Söhne aus der Lobrede schöpfen ließ, die
einst auf den Sieg des Vaters (am Frigidus) gehalten ward, da sie ihn doch
gleich eingangs als ihren Lehrmeister im Siegen nennen! Welche Huldigung
aber auch ihrer christlichen Weisheit, wenn er sie zugleich zurückweisen und
berichtigen ließ, was der paganisierende Rhetor falsch gemacht hatte! Ob nun
Prudentius an diese Rede dachte oder nicht: die Ansicht, daß die geflügelte
Victoria ein Geschöpf der Dichter und Maler sei, war ihm vermutlich vorge-
geben85. Und so werfen wir einen Blick in seine Werkstatt, aber vor allem
Fall passende Bemerkung, Prudentius habe "horazische Gedanken und Prägungen aufgenom-
men und mit neuer Sinngebung umgelautet, so daß man sagen konnte, er hat das Heidentum
durch einen seiner größten Dichter selbst bekämpfen lassen" (ebd. S. 1442).
82 < Prudentiana 1281/90>.
83 Vgl. Guglielmo Zappacosta, De Prudentii libro I Contra Symmachum et L. Pacati Drepanii
Panegyrico Theodosio Augusto dicto, in: Latinitas 15 (1967) S. 277/92. Prudentius habe im
ersten Buch bewußt gegen den Panegyricus Stellung bezogen. Stimmt das, so könnte man die
Äußerung über den Ursprung des Victoriabildes aus Poesie und Malerei einbeziehen: Pacatus
lobt die Erfindung des Flügelwesens, Prudentius weist sie ab. Daß Prudentius den Panegyricus
auf den Kaiser, den er selbst so hoch stellt und dessen Söhne er hier reden läßt, kannte, scheint
jedenfalls naheliegend. Vielleicht hat schon Pacatus' Erwähnung der Victoria einen zeitgeschicht-
lichen Bezug gehabt, vgl. Friedrich Grinda, Der Panegyrikus des Pakatus auf Kaiser Theodosius,
Diss. Straßburg 1916, S. 70f.
84 Paneg. lat. 2 (12), 39, 1. Die Stelle bringt auch Weitz (wie Anm. 37) S. 750 zu Vers 28.
Alles Nötige - Horaz, Prudentius und Pacatus - hatte bereits Franjois Juret in seiner Ausgabe
der Symmachusbriefe (Paris 1604) zusammen. Seine Notiz ist abgedruckt in dem kompilatorischen
Kommentar von Wolfgang Jäger, Panegyrici veteres, Nürnberg 1779, Bd. II, S. 386f. Juretus
macht auch auf die Ähnlichkeit aufmerksam, die in den Verbindungen: germana commenta und
cognatum malum (v.l. statt: c. volunt, s. dazu oben S. 269 [6]) liege. Der ganze Fall beweist
den Wert alter Bücher.
85 Man muß allerdings damit rechnen, daß die Zusammenstellung der Dichter gerade mit
den Malern - statt mit Bildhauern usw. - ohne tieferen Grund geschieht, so wohl bei Cicero
Tusc. 1, 11: quid negotii est haec poetarum et pictorum portenta convincere? (Alliteration!).
292 Prudentiana II. Exegetica [23/24]
deshalb, weil er selbst es uns erlaubte, weil er an Horaz jedenfalls hat erinnern
wollen, damit man sehe, welche Linien er korrigierend nachzieht. |
Man sollte erwarten, wer den Ursprung des Victoriabildnisses aus Poe-
sie und Malerei sichern wolle, der werde ähnliche Gegenstände und Gestalten
anführen, die sich mit gleicher Wahrscheinlichkeit aus der künstlerischen Phanta-
sie ableiten lassen. Der geflügelte Amor hätte ein passendes Gegenstück zur
Victoria abgegeben. Denn als malerische Erfindung denkt ihn sich schon
Properz86, wenn er die Hände rühmt, die solch sinnreiche Gestalt geschaffen
(2, 12, Iff.):
Zu unserer Überraschung bringt Prudentius (V. 49ff.) aber ganz andere Be-
lege: die Selbstentmannung der Cybelepriester und die Vorschrift, Pferde vom
Hain der Diana (zu Aricia) fernzuhalten87. Das geht gar nicht mehr auf Statu-
en, das sind Riten und Kultsatzungen: sacra, wie der Dichter selbst sagt (V. 49).
Mit den Beweisen also, die er anfuhrt, tut er zugleich einen großen Schritt
über das hinaus, was es zu beweisen galt. Wer die Gesetze der Rede im Auge
hat, wird sagen, Prudentius biete eine Argumentation 'ex maiore ad minus'.
Aber er gibt doch mehr. Er entfaltet die Dynamik, die in dem Ausdruck des
Erstarkens jener dreifachen Macht (convaluit) angedeutet war, indem er ihre
86 Max Rothstein im Kommentar z.St. (Berlin 21920, S. 286f.) bemerkt richtig, daßpinxit
bei Properz 2 , 1 2 , 1 auf ein Gemälde gehe; aber das ist zu wenig: V. 3 (primum vidit) zeigt, daß
Properz an den Erfinder der Gestalt Amors denkt und daß dieser seines Erachtens Maler war.
H.E. Butler - E.A. Barber, The Elegies of Propertius, Oxford 1933 (Hildesheim 1964), S. 210
verweisen auf Eubulos bei Athen. 13, 562 ( = frg. 40: Poetae Comici Graeci 5, S. 213): τις fjv
ό γράψας πρώτος άνθρώπων άρα 'Ή κηροπλαστήσας Έρωθ' ύπόπτερον; ... κτλ.
87 Vgl. Wissowa (wie Anm. 22) S. 249; Kurt Latte, Römische Religionsgeschichte, Mün-
chen 1960, S. 170.
[24/25] XII. Die Statue der Victoria 293
Wirkung über die Götterbilder hinaus auf die Kulte sich erstrecken läßt: auch
Kulte, nicht nur die Kultbilder, sind durch die mit Religion und Poesie verbün-
dete Malerei angeregt. Denn allein auf die Malerei geht wiederum die Wen-
dung ex tabulis cerisque (V. 50), die Lavarenne und Thomson mißverstehen:
jener, indem er cerae auf Schreibtafeln bezieht, dieser, indem er sich darunter
Wachsfiguren vorstellt88. Das hieße eng Verbundenes gewaltsam trennen: ex
tabulis cerisque ist echtes Hendiadyoin und steht im gleichen Sinne wie V. 42
ceraque liquentP9, also von enkaustischer Malerei90, oder besser: von | Male-
rei überhaupt, denn so allgemein wird cerae schon in der Silbernen Latinität
gebraucht91. Der Dichter führt uns in wenigen, energischen Zügen zu der Ein-
sicht, daß seine Erklärung der Götterbilder richtig sein müsse, weil das Mär-
chen der Dichter92 'aus den Malereien' weit mehr geliefert habe als nur die
Statuen: an die knappe Aufforderung, im Falle des Widerspruchs zur erteilten
Belehrung Rede und Antwort zu stehen (V. 49a: haec si non ita sunt, edatur
...), reihen sich drei Fragesätze, alle drei anaphorisch durch cur eröffnet und
dem Gesetz der wachsenden Glieder gehorchend (V. 49b/56); die erste Frage
zielt auf den Befund im allgemeinen, die zweite - ebenso wie die folgende
88 In ihren Übersetzungen (wie Anm. 61) S. 161 (mit Anm. 4) bzw. S. 11. Durch Lava-
renne ließ sich offenbar Lieberg (wie Anm. 95) S. 153 beeindrucken: "... Kultriten, die von
Gemälden und Schreibtafeln herstammen". Vgl. dagegen Reinach (wie Anm. 106): "S'il n'en
est pas ainsi, pourquoi la fable podtique vous pr6sente-t-elle des seines saerdes [falsch!]
empruntees aux tableux peints ä la cire [richtig!] ?".
89 Dieselben Begriffe stehen bei Paul. Nol. epist. 30, 6 (CSEL 29, S. 266) zusammen,
beide für (Tafel-)Gemälde: gratias autem Domino, quodperenni magis et vivente pictura nostras
non in tabulis putribilibus neque c er i s liquentibus, 'sed in tabulis carnalibus
cordis tui' (2 Cor. 3, 3) pinxit ...
90 Hugo Blümner, Technologie und Terminologie der Gewerbe und Künste 4, Leipzig
Ί886, S. 442/57, bes. S. 443 Anm 1. Vgl. etwa Plin. n.h. 35, 122 ceris pingere ac picturam
innrere, dazu die Stellen im Thesaurus Ling. Lat. 3, Sp. 850, 63ff. s.v. cera\ 'in pictura quam
dicunt encausticam'.
91 Friedrich Vollmer zu Stat. silv. 1, 1, 100 (S. 230 in der kommentierten Ausgabe, Leip-
zig 1898). Pictorum ... manus (39), pictura (41), ceraque liquenti (42), coloratis... fiicis (44),
Apelles (46), pigmenta (47), tabulis cerisque (50), paries... versicolors (56): alle diese Wörter
und Juniauren sind Variationen des einen Begriffs 'Malerei'! In diesen Bereich fallen auch die
Verben ludere (44) und adumbrare (56). Ersteres steht ohne negativen Beigeschmack, vgl.
Prud. per. 11, 130 und per. 12, 48. Letzteres weist wie per. 11, 125 liquidis... umbris auf die
Bedeutung des Schattens für die Malerei (Plin. n.h. 35, 11, 29: Blümner [wie Anm. 90] 4, S.
424 Anm. 3 und Andreas Rumpf, Malerei und Zeichnung der Klassischen Antike, München
1953, S. 16); vgl. etwa Quintil. inst. 7, 10, 9: quis pictor omnia, quae in rerum natura sunt,
adumbrare didicitt Weitere Belege im Thesaurus Ling. Lat. 1, Sp. 885, 32ff. Zu versicolorus
(56) im Sinne von multicolor (Prud. per. 11, 124) s. etwa Plin. n. h. 36,44 und 46: versicolores
... maculas (des Marmors).
92 Poeticafabula (V. 50) abschätzig, wie bei Minucius Felix 22,4 in gleicher Sache: prop-
ter hanefabulam Galli earn (i.e. Cybelam) et semiviri sui corporis supplicio colunt.
294 Prudentiana II. Exegetica [25/26]
durch einen cum-SaXz erweitert - bringt das Beispiel aus dem Cybelekult, die
dritte das Exempel aus Sage und Kult des Hippolytus, wobei hier zum Schluß
(V. 56) noch einmal die entsprechende Darstellung als Wandgemälde in Erin-
nerung gebracht wird. So geht der Hauptgedanke: die Verbindung der beiden
Künste, nicht verloren.
Denn daran kann kein Zweifel sein, daß Prudentius an beiden Beispie-
len beide Künste beteiligt sah. Er erwähnt zwar ausdrücklich nur Hippolytus-
Gemälde, aber der Zusammenhang erfordert den Gedanken an Malerei auch
im Falle des Attis93. Es ist allein das Streben nach Kürze bzw. Stufung des
Umfangs, das ihn davon abhält, beide Male beides zu sagen. Auch der deut-
lich parallele Bau der Sätze: cum pulchrum poesis castraverit Attin (V. 52),
und: cum Musapudicum Raptarit iuvenem (V. 54f.) leidet es nicht, die beiden
Beispiele verschieden aufzufassen. Mag auch durch die Kühnheit des Aus-
drucks - 'die Poesie' kastriert den Attis, 'die Muse' schleift den Hippolytus -
besonderes Gewicht auf die schöpferische Kraft der Dichtung fallen, so darf
doch diese Redeweise nicht so gepreßt werden, als wolle der Dichter hier nun
plötzlich der Malerei geringeren Anteil an der Erfindung geben. Was er her-
ausbringen will, das ist nicht so sehr das Übergewicht der Poesie gegenüber
der Malerei, als vielmehr der Gegensatz zwischen Phantasie und Wirklichkeit.
Prudentius gibt aitiologische Erklärungen, aber er betont, daß das Aition je-
weils in der Kunst liegt, nicht in der Geschichte, in menschlicher Einbildung,
nicht in tatsächlicher Begebenheit94. Das ist der Punkt, der durch die kühne |
Art des Ausdrucks (poesis castrat, Musa raptat) scharf genommen werden
soll. Sie erinnert an die bekannte Erscheinung, daß in poetischer Sprache bis-
weilen der Dichter oder Sänger an die Stelle seiner Personen oder wirkenden
Mächte tritt und tut, was eigentlich diese tun, wie etwa der Silen in seinem
Liede bei Vergil (buc. 6, 6Iff.):
93 Richtig verstanden von Arevalo, wie seine Paraphrase beweist (Migne, PL 60, Sp.
184 D/85 B): "... cur sacerdotes Cybeles seipsos castrant, nisi quia fabula poetica Attin fingit
exsectum sive castratum, idque etiam picturae exhibent? Simile est in aliis sacris ..." etc.
94 Also anders als etwa bei Ov. fast. 4,243f. über Attis und auch sonst bei den Vätern, vgl.
Lact. inst. 1, 17, 1 und Michele Pellegrino im Kommentar zu Min. Fei. 22, 4 (Turin Ί947) S.
168. Hier wird eine gewisse Verschiebung der Perspektive gegenüber der euhemeristischen
Darstellung des ersten Buchs c. Symmachum erkennbar. Aber Prudentius hat öfters verschie-
dene Ansätze nebeneinander gelten lassen (vgl. Christian Gnilka, Palestra bei Prudentius, in:
Illinois Classical Studies 14, 1989, S. 365/82, bes. S. 373f. [= Prudentiana 1 167/86, bes. 176/
78]). Alles, was Prudentius hier in Sachen des heidnischen Kults vorbringt, fällt unter den
Begriff der inania rerum somnia (V. 45f.).
[26/27] XII. Die Statue der Victoria 295
95 Hierüber Godo Lieberg, Poeta creator. Studien zu einer Figur der antiken Dichtung,
Amsterdam 1982, S. 152/54.
96 Vgl. Ar6valo (Migne, PL 60, Sp. 185 D) zu V. 54: "Grangaeus [Isaac de la Grange]
interpretatur Phaedram fiiisse causam cur raptaretur Hippolytus ..." etc.
97 Ps.Paul. Nol. carm. 32, 88ff. (CSEL 30, S. 332f.): Nunc quoque semiviri mysteria
turpia plangunt ...; Aug. civ. 7, 26 (S. 307, U f f . Dombart-Kalb5): (molles Matri Magnae
consecrati) usque in hesternum diem... per plateas vicosque Carthaginis etiam a propolis unde
turpiter viverent exigebant ... Die Zeugnisse aus dem 4. Jh. sammelt Hugo Hepding, Attis -
seine Mythen und sein Kult (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 1), Gießen 1903,
S. 45ff. Vom Corpus cultus Cybelae Attidisque (CCCA), hg. von Maarten J. Vermaseren, liegt
der erste, Kleinasien betreffende Band vor (Leiden 1987). Bei Prudentius ist per. 10, 154/60;
196/200; 1006/85, bes. 1061/76 (über die kultische Selbstkastration)zu vergleichen; s. dazu
Robert Duthoy, The Taurobolium. Its Evolution and Terminology (Etudes pr61iminaires aux
religions orientales dans l'empire Romain 10) Leiden 1969, S. 104f. und Maarten J. Vermaseren,
Cybele and Attis, London 1977, S. 96ff. Zu den Taurobolienaltären vgl. auch Stefan Karwiese,
Attis in der antiken Kunst, Diss. Wien 1967 (masch.), Nr. 14, 21, 22, 1901, 1902. Eine Minia-
tur im Cod. Voss. Lat. Q. 79 (9. Jh.) soll auf ein Vorbild des 4. Jh. zurückgehen, vgl. Nr. 154
im Katalog.
296 Prudentiana II. Exegetica [27]
Prudentius erledigt das auf ebenso knappe wie deutliche Weise, indem er die
antike Imitationskunst nutzt und unmißverständlich auf Vergil (Aen. 7, 778ff.)
verweist:
98 Vgl. Mahoney (wie Anm. 29) S. 120f., 195f. zu Prud. c. Symm.; der Fall Prud. psych.
1 ~ Verg. Aen. 6, 56 ist behandelt in dem Aufsatz: Christian Gnilka, Interpretation früh-
christlicher Literatur, in: Impulse fur die lateinische Lektüre, hg. von Heinrich Krefeld, Frank-
furt a.M. 1979, S. 138/80, ebd. S. 150/52 [in diesem Bande S. 32/90, ebd. S. 58/61].
99 Wenn Lieberg (wie Anm. 95) S. 153 schreibt, "eins der zahlreichen Wandgemälde, von
denen K. Schefold ... handelt", bringe diese tragische Begebenheit (gemeint ist die Schleifung
des Hippolytus) zum Ausdruck, so weiß ich nicht, worauf er sich bezieht. Bei Karl Schefold,
Die Wände Pompejis, Berlin 1957, finde ich davon nichts (vgl. ebd. S. 369 im Index der
Bildmotive s.v. Hippolytos). Auch nicht bei Walter Bogsch, Nachweis der Sagenmotive der
Wandgemälde Pompejis, o.O. 1965 (masch.); S. 49 s.v. Phaedra verzeichnet er drei Gemälde
im Nationalmuseum in Neapel, dazu vier zerstörte Malereien, aber eine Schleifung ist offenbar
nicht darunter. Paulette Ghiron-Bistagne, Ί1 motivo di Fedra' nelP iconografia e la Fedra di
Seneca, in: Dioniso 52 (1981) S. 261/306, ebd. S. 282f. vermutet, das berühmte Gemälde des
Antiphilos (s. folgende Anmerkung) habe einige Darstellungen auf italischer Keramik inspiriert;
Pfuhl (wie Anm. 66) 2, S. 771 freilich urteilte: "gänzlich ausdruckslose unteritalische Vasen-
bilder zu vergleichen, hat wenig Zweck". Zu den Vasenbildern s. A.D. Trendall - Thomas B.L.
Webster, Illustrations of Greek Drama, London 1971, S. 88f.
100 Plin. n.h. 35, 114. Über Antiphilos s. Pfuhl (wie Anm. 66) 2, S. 769/71, § 843/45.
[27/28] XII. Die Statue der Victoria 297
Gemälde, das Hippolytus zeigte, wie er sich vor dem Stier des Poseidon ent-
setzte (Hippolytum tauro emisso expavescentem); der ältere Philostrat beschreibt
in den 'Imagines' ein Gemälde - wenn es denn ein wirkliches Bild war! - , das
durch Züge eines gewissen 'Verismus' auffällt: die zerrissenen, zerschlagenen
Glieder und das beschmutzte Haar des Geschleiften, aber noch Atmenden waren
zu sehen, Naturpersonifikationen standen als Trauernde umher101. Die Beschrei-
bung hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem | Wandgemälde, das Prudentius in
der Hippolytus-Gruft an der Via Tiburtina sah und im elften Märtyrerlied
beschreibt. Darauf war der Tod des römischen Märtyrers Hippolytus darge-
stellt; der Legende nach hatte man ihm eine Marter in absichtsvoller Analogie
zur Todesart der gleichnamigen Gestalt des Mythos ausgesucht. Die Ekphrasis
bei Prudentius läßt sich nicht ganz scharf vom Untergrund der Erzählung lö-
sen, die Bildbeschreibung wächst aus der Schilderung des Martyriums hervor
und kehrt wieder zu ihr zurück, ohne daß sich die Ränder der descriptio scharf
abhöben102. Was auf jenem Gemälde tatsächlich zu sehen war, was der dichte-
rischen Schilderung zuzurechnen ist, läßt sich daher nicht genau begrenzen.
Aber daran, daß es dieses Gemälde wirklich gab, und daß es Prudentius über
dem Altar und dem Grab in der Krypta erblickte, ist ein Zweifel nicht erlaubt.
Die Verhältnisse werden jetzt auch in der neuen archäologischen Bearbeitung
des ganzen Komplexes, die Gabriel Bertoniere vorgelegt hat, sehr vernünftig
beurteilt103. Daß es eine 'veristische' Darstellung gewesen sein muß, steht eben-
101 Philostr. imag. 2 , 4 . Ein Vergleich mit dem Gemälde, das Prudentius per. 11 beschreibt
(s. folgende Anmerkung), scheint nicht angestellt worden zu sein. Immerhin erwähnt Sam Eitrem,
in: PW 8, 2 (1913) Sp. 1871, 4ff. beide zusammen. Zur Diskussion über die Möglichkeit
solcher 'veristischer' Darstellung s. die Literaturhinweise in der Tusculum-Ausgabe von Otto
Schönberger (München Ί968) S. 387. Die Verwandtschaft von Malerei und Poesie hebt übri-
gens auch Philostrat von seinem Standpunkt aus hervor: όστις μή ασπάζεται την ζωγραφίαν,
αδικεί την άλήθειαν. άδικεΐ και σοφίαν, όπόση ές ποιητάς ήκει, φορά γάρ ϊση άμφοΐν ές
τά των ήρώων έργα και είδη (imag.l, 1). Vgl. Birmelin (wie Anm. 74) S. 149/80; 392/414,
bes. S. 408f.
102 Der Hinweis auf das Wandgemälde setzt mit per. 11, 123 ein: exemplar sceleris paries
habet inlitus ..., die Beschreibung reicht mindestens bis V. 134 (incl.), da hier noch ausdrück-
lich von dem, was Künstlerhand geschaffen hat, die Rede ist: addiderat (sc. docta manus) caros
... Danach geht die Beschreibung wieder unmerklich in die Erzählung über, die spätestens mit
V. 147ff. erreicht ist. Auch nach oben hin ist die Begrenzung unsicher. Wieviel war von den
Pferden und der Schleifung selbst (V. 111/18) zu sehen? Aus V. 124: multicolor fucus digerit
omne nefas muß man wohl schließen, daß der gesamte Vorgang kenntlich war.
103 Gabriel Bertonifcre, The Cult Center of the Martyr Hippolytus on the Via Tiburtina
(British Archaeological Reports, International Series 260), Oxford 1985, S. 33/43, bes. S. 41/
43 (die divergierenden Meinungen über die Existenz eines solchen Bildes: S. 42 Anm. 97).
Auch Anne-Marie Palmer, Prudentius on the Martyrs, Oxford 1989, S. 273/75 verteidigt jetzt
(offenbar ohne Kenntnis der neuen Untersuchung) die Glaubwürdigkeit der Angaben des Dich-
298 Prudentiana II. Exegetica [28/29]
falls fest: die Blutspuren auf Gestrüpp und Gestein des landschaftlichen Hin-
tergrunds waren zu sehen, die zerrissenen Gliedmaßen, wie sie verstreut um-
herlagen, dazu die trauernden Gläubigen, die der Schleifspur durch die Wild-
nis folgten, um die Reliquien zu sammeln104. Es wäre gewiß zu gewagt, wollte
man annehmen, die Christen hätten | ein heidnisches Bild über dem Märtyrer-
grab angebracht. Auch der Text spricht dagegen105. Aber es ließe sich sehr
wohl denken, daß jene frühe Martyriumsdarstellung der Hippolytuskatakombe
ikonographische Vorlagen verwertete, die im Bereich der malerischen Bear-
beitung des Hippolytus-Mythos zu suchen sein könnten. Damit wäre, auf indi-
rektem Wege, eine weitere Stütze der Angabe in Vers 56 unseres Texts gewon-
nen, und beide Prudentiusstellen wären in die Quellensammlungen zur antiken
Malerei aufzunehmen: die Beschreibung aus dem Märtyrerhymnus für Hippo-
l y t s , die Verse aus Contra Symmachum für Hippolytus und für Attis106.
ters über das Gemälde. In der Tat wäre es ganz unsinnig anzunehmen, der Dichter habe seinem
Heimatbischof (vgl. per. 11,2. 233) in solcher Sache einen Bären aufbinden wollen und seine
Anregung, das Hippolytusfest in Spanien einzuführen (ebd. 23Iff.), mit einer Unwahrheit ver-
bunden, die jeder der zahllosen Pilger, die an dieser Stätte zusammenströmten (ebd. 189/214),
leicht hätte aufdecken können. Es paßt durchaus zur Art des Prudentius, daß er auch dieser
Bildbeschreibung eine literarische Tönung gibt (vgl. oben S. 280/82 [14/16]). Hier ist es der
Botenbericht in Senecas Phaedra (99Iff., bes. 1068ff.), den er als Vorlage benützte (vgl. G.
Sixt, Des Prudentius Abhängigkeit von Seneca und Lucan, in: Philologus 51 (1892) S. 501/06,
S. 502). Aber der Vergleich zeigt schön, wie er die Sache christlich vertiefte, indem er dem
Sammeln der leiblichen Überreste Erfolg und Sinn gab. Dazu einige gute Bemerkungen bei
Palmer, S. 189/91, die freilich - in seltsamem Widerspruch zu ihrer Überzeugung von der
Existenz des beschriebenen Gemäldes - annimmt, Prudentius selbst habe Mythos und Martyri-
um zusammengebracht. Ebensowenig erfunden ist das Gemälde, das Prudentius über dem Grab
des hl. Cassianus von Imola (Forum Cornelii) sah: per. 9, 9ff.
104 Davon ist in den Versen per. 11, 127/34 die Rede, die ohne Zweifel zur Bildbeschrei-
bung gehören. Vgl. im übrigen Carl Weyman, Beiträge zur Geschichte der christlich-lateini-
schen Poesie, München 1926, S. 74f., der - in Ergänzung der Ausführungen Paul Friedländers,
Johannes von Gaza und Paulus Silentiarius. Kunstbeschreibungen justinianischer Zeit, Leipzig-
Berlin 1912, S. 93 - auf gewisse Ähnlichkeiten in der Beschreibung des Martyriums der hl.
Euphemia bei Asterius von Amaseia aufmerksam macht: auch in dieser Ekphrasis wird die
Leistung des Malers in der wirklichkeitsgetreuen Darstellung der Blutstropfen hervorgehoben
(Ast. Am. hom. 11: Migne, PG 40, Sp. 337 B; vgl. Prud. per. 11, 129f.). Weyman entdeckt
darin einen Zeitgeschmack, an der Existenz des von Prudentius beschriebenen Gemäldes zwei-
felt er aber nicht.
105 Wenigstens wenn man per. 11, 137f. noch zur Beschreibung zieht, da der Jüngling
Hippolytus kein schneeweißes Greisenhaupt (caput niveum) gehabt haben kann wie der Mär-
tyrer Hippolytus.
106 Nur auf Prud. c. Symm. 2, 56 (Hippolytus) verweisen August Kalkmann, Über Darstel-
lungen der Hippolytos-Sage, in: Archäologische Zeitung 41 (1883) S. 37/80; S. 105/54 (hier S.
43) und Adolphe Reinach, Textes grecs et latins relatifs ä l'histoire de la peinture ancienne 1,
Paris 1921, S. 385 zu Nr. 514 - ersterer zu vorsichtig ("Auf die durch die scheue Wuth der
Rosse herbeigeführte Schleifung selbst scheinen [!] als Gegenstand von Wandbildern Bezug zu
haben die Verse des Prudentius contr. Symm. II 53 ff. ..." usw.), letzterer zu kühn ("Prudence
[29/30] XII. Die Statue der Victoria 299
voyait encore ce sujet sur le mur d'un temple [!]"). Johannes Overbeck, Die antiken Schrift-
quellen zur Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen, Leipzig 1868 (Hildesheim-New
York 1971) verzeichnet Prudentius nicht. Daß das Gemälde, welches Prudentius in der
Hippolytusgrulit sah, ein Vorbild in der antiken Kunst hatte, hielt Sixt (wie Anm. 103) S. 502
Anm. 6 für "unzweifelhaft".
107 Wenn Isidora Rodriguez-Herrera, Poeta Christianus, (Diss. München), Speyer 1936, S.
105 schreibt: "Als Beispiele der fallenditrinapotestas bringt der Dichter Attis V. 51f.; Hippolytus
53ff., Metamorphosis 57ff." [Sperrung von mir], so dürfte bei ihm die alte, in den
'Glossae veteres' des Iso von St. Gallen gegebene Fehldeutung (bei Ar6valo unter dem Text:
Migne, PL 60, Sp. 186 A) nachwirken: "Fertur avis: multos et viros et mulieres legimus in
fabulis versos in α ν e s ..." <vgl. Prudentiana I 283 >. Daran ist hier nicht gedacht.
Auch nicht an den "Anthropomorphismus" der heidnischen Götter schlechthin, wie Döpp (wie
Anm. 7) S. 68 meint. Erst recht nicht daran, daß "die Römer endlich den christlichen Glauben
an Gott als eine res incorporea in sich aufnehmen ..." (ebd.).
108 Cie. nat. deor. 2, 61; dazu Arthur Stanley Pease im Kommentar Bd. 2 (Cambridge,
Mass. 1958) S. 692/98 z.St. Vgl. ibid. 3, 47: quae cogitatione nobismet ipsispossumusfingere·,
leg. 2, 28: quodsi fingenda nomina, Vicaepotae potius ... rerumque expetendarum nomina,
Salutis, Honoris, Opis, Victoriae.
109 Arnob. adv. nat. 4, 1 (CSEL 4, S. 142); vgl. auch oben S. 277 [12].
300 Prudentiana II. Exegetica [30/31]
hl. Paulinus sagt110, welche die Heiden in ihrer Torheit zu Göttern machen: ...
cassa nomina, tamquam ideo numina quoque sintu\ in speciem cor-
p ο r at am stultis cogitationibus fingunt stultiusque, quam finxerint,
donant honore divino. Also die Personifikationen sind gemeint, und damit
wird, wie gesagt, von den Allgemeinheiten und mythischen Beispielen wieder
auf Victoria zurückgelenkt. <Der Dichter erteilt der körperhaften Auffassung
des Abstraktums eine scharfe Absage: die Personifikation wird der gentilis
ineptia (57) zugeschrieben. Der Interpolator vergröbert die Schelte noch, in-
dem er Victoria als Geierweib schmäht112, in Erinnerung vielleicht nicht nur an
jenes horazische Monstrum, sondern auch an Vergils Harpyien113. Aber auch
ohne diesen plumpen Ausfall stimmt das Verdikt, das hier über die Darstel-
lung der Victoria simulatis membris (58) verhängt wird, nachdenklich. > Denn
| im Lichte dieser Verse werden gewisse weitreichende Behauptungen zwei-
felhaft, die modernen Betrachtern leicht von den Lippen gehen: "Ihren gött-
lichen Charakter verlor sie (Victoria) so sehr, daß die Christen an ihrer G e -
s t a l t keinen Anstoß nahmen und nur dagegen einschritten, daß ihr geopfert
wurde"114. Kann man das sagen, wenn man liest, was bei Prudentius die christ-
lichen Kaiser sagen? Oder so: "Vom christlichen Standpunkt aus ist also
n i c h t s gegen ein Symbol [der Victoria] - und man wird hinzufügen dürfen,
gegen eine S t a t u e des Symbols - einzuwenden, solange niemand glaubt,
110 Paul. Nol. epist. 16, 4 (CSEL 29, S. 117f.). Paulinus macht auch die simulacra solcher
Gottheiten lächerlich, u.a. der Occasio mit dem kahlen Hinterkopf und der Fortuna auf der
Kugel (globus). Einen Kommentar dazu (mit schiefer Kritik am Autor) gibt Werner Erdt, Chri-
stentum und heidnisch-antike Bildung bei Paulin von Nola (Beiträge zur Klassischen Philologie
82) Hamburg 1976, S. 104/11.
111 Dasselbe Wortspiel - aber mit anderer, ja entgegengesetzter Spitze! - bei Symmachus
rel. 3, 3: reddalur saltern nomini honor, qui numini denegatus est. multa Victoriae debet Ae-
ternitas vestra...
112 Die Frage, warum der <Pseudo-> Dichter die Victoria gerade mit einem Geier ver-
gleiche, beschäftigte die alten Erklärer (s. Ardvalo, Migne, PL 60, 186 CIO); Shanzer meint
jetzt (wie Anm. 45) S. 354 Anm. 52, es solle auf den Aasvogel angespielt werden (vgl. Prud.
per. 10, 807). Aber das bleibt schon deshalb zweifelhaft, weil vultur in Zusammenhang mit Sieg
und Krieg auch ganz andere Assoziationen hervorruft; der Geier gehört zu den aves augurales
(Wissowa [wie Anm. 22] S. 530 Anm. 3; Wolfgang Speyer, Art. Geier, in: RAC 9 [1976] Sp.
430/68, ebd. Sp. 446/51; vgl. Prud. per. 10, 612 primum ... omen vulturum; das Zeichen des
Romulus, in satirischem Kontext, auch c. Symm. 2, 397f.). Mir scheint, daß hier so weit nicht
gedacht ist, sondern nur das Allgemeine (avis) durch das Spezielle (vultur) variiert und geschärft
werden soll, dies allerdings in abschätzigem Sinne. Dem Gehalt nach ähnlich 2, 566f.: Quid sibi
vult virtus, quid gloria, si Corvinum Corvus Apollineus pinna vel gutture iuvit?
113 Vgl. Verg. Aen. 3, 216 vi r g ine i volucrum voltus; 242f. sedneque vim ρ lumi s
ullam nec volnera t er go A c c i ρ i u η t ...; 262 sive de a e seu sint dirae obscenaeque
volucres.
114 Hölscher (wie Anm. 2) S. 171; ähnlich schon S. 21.
[31/32] XII. Die Statue der Victoria 301
daß das Symbol oder sein Abbild göttliche Macht besitzt ..." ll5 . Gewiß, aber
hier liegt ein Problem. Es bleibt immer eine Frage, ob sich Kunst und Symbo-
lik von Religion und Kultus wirklich trennen lassen. Die Frage mußte auch in
diesem Fall gestellt und beantwortet werden. Wir wissen, wie sie im ganzen
und auf Dauer beantwortet wurde: Victoria erscheint tatsächlich in der
frühchristlichen Kunst116. Aber darf man behaupten: "(In portraying the triumph
of Christianity) it was a p e r f e c t l y n a t u r a l thing to make use of the
traditional personification of Victory"117? Der usus iustus, den die Christen
übten, als Dichter, als Redner, als Philosophen, als Künstler, ist niemals etwas
bloß Natürliches oder Selbstverständliches, etwas, das sich sozusagen von selbst
ergibt, ganz ohne Überlegung und ohne Kampf. Er mag in dem einen Falle
leichter sein als in dem anderen, mag sich hier rascher durchsetzen und weiter
verbreiten als dort, aber niemals läßt er nur weiterfließen, was auf ihn zu-
strömt. Auch wenn sich mit Victoria jene Anschauung verband, die St. Augusti-
nus in dem zitierten Kapitel des 'Gottesstaats' gegen die heidnische absetzt118,
so war doch die künstlerische Nutzung ihrer Gestalt nicht nur natürlich, leicht
und selbstverständlich. In dieser Hinsicht eben ist Prudentius' Polemik lehr-
reich. Er bekämpft sehr wohl die Gestalt, das Bildnis, die Darstellung: weil
sich darin das Wesen der Gottheit | ausdrückt, weil sich das numen mit der
Gestalt verbindet. An anderer, berühmter Stelle des Gedichts empfiehlt Pru-
115 Alfoldi (wie Anm. 43) S. 30. Die Feststellung fallt deshalb besonders auf, weil sie
gerade durch ein Zitat aus unserem Prudentius-Passus gestützt werden soll, so daß der Dichter,
was Victoria anlangt, zum Zeugen einer Ansicht gemacht wird, die er gerade hier und gerade in
diesem Falle nicht vertrat. Die allgemeine Erkenntnis dagegen, daß die Kirche oft antike Tradi-
tionen übernimmt, "nur alles mit grundlegend anderem Sinn erfüllt" (ebd.), trifft ins Schwarze.
116 Vgl. etwa Weinstock (wie Anm. 1) Sp. 2540f.; Konrad Hoffmann, Art. Victoria, in:
Lexikon der christlichen Ikonographie 4, Sp. 457/59. In einen weiteren Zusammenhang sucht
Wolfgang Christian Schneider die Übernahme der Victoria zu stellen: Victoria sive angelus
victoriae, in: Reformatio et Reformationes. Festschrift für Lothar Graf zu Dohm, hg. von
Andreas Mehl und Wolfgang Christian Schneider, Darmstadt 1989, S. 29/64. Zwei Victorien,
ein gerahmtes Kreuz tragend, und zwei weitere mit einem Lorbeerkranz, der ein Kreuz um-
schließt, sind auf der Basis der Säule des Arcadius (!) in Konstantinopel (begonnen 403) zu
sehen; wahrscheinlich befanden sich Victorien auch auf der Theodosius-Säule (errichtet 386):
Josef Strygowski, Die Säule des Arcadius in Konstantinopel, in: Jahrbuch des kaiserl. archäol.
Instituts 8 (1893) S. 230/49, bes. S. 242ff. mit Taf. 8. Vgl. jetzt J.H.W.G Liebeschuetz, Barbarians
and Bishops, Oxford 1990, S. 273/78 ("The Column of Arcadius").
in Gunnar Berefelt, Α Study on the Winged Angel, Stockholm 1968, S. 31. Vgl. dagegen
etwa Schneider (wie Anm. 116) S. 40 zur Münzprägung unter Constantius.
118 Aug. civ. 4, 17 (S. 166, l l f f . Dombart-Kalb5): nicht Juppiter schickt Victoria, sondern
Gott schickt seinen Engel (!), und Er läßt siegen, wen Er will; Victoria ist keine 'Substanz':
derlei gehört zu den Erfindungen der Dichter (figmenta poetarum), die als Wahngebilde
(deliramenta) wohl erkannt, aber dennoch in Tempeln verehrt werden; s. oben S. 277.
302 Prudentiana II. Exegetica [32]
dentius - auch dort durch Kaisermund die vom Opferblut gereinigten, also
dem Kult entzogenen Statuen als Kunstwerke zum Schmuck Roms aufzu-
stellen119. Hier, an unserer Stelle, lautet die Anweisung völlig anders: frange
...foeda ornamenta deoruml Ganz gleich, wie man die konträren Vorschriften
in demselben Gedicht zu erklären sucht: historisch, werkanalytisch oder inter-
pretatorisch, am Ende beweist der Befund doch vor allem das eine: daß die
Nutzung eines Götterbilds niemals etwas Harmloses ist. Welche religiöse In-
brunst löst das Bildnis bei Claudian aus120!
Ist also schon die Übernahme der Victoria in die christliche Kunst nicht
selbstverständlich, so ist es erst recht nicht die schöpferische Nutzung, die aus
Victorien Engel machte. Auch auf diesen Vorgang fällt von Prudentius her
Licht: von seiner Darstellung des Mädchens aus (V. 36b/38). Das alle schöp-
ferischen Leistungen christlicher Chresis durchwaltende Prinzip der Reini-
gung des Übernommenen: der Ausscheidung des spezifisch Heidnischen oder
doch dessen, was sich der neuen christlichen Sinngebung nicht fügt121, läßt
sich in einfacher, aber eben darum musterhafter Weise an den Gestalten der
geflügelten Engel ablesen: sie ähneln den Victorien, haben eben vor allem die
Flügel mit ihnen gemein, aber sie sind keine Frauen. Es gibt vielleicht kein
besseres Mittel, den Unterschied ans Licht zu heben, als dies: die Prudentius-
verse über die forma feminea als Kommentar zu lesen. Man wird hier an
Victoria das betont finden, was den Engeln fehlen mußte122. |
119 Prud. c. Symm. 1, 501/05 (Rede des Kaisers Theodosius). Zu dieser vielzitierten Stelle
vgl. unten S. 307f. [36] und Gnilka (wie Anm. 98) S. 143 [in diesem Bande S. 44f.].
120 Vgl. oben S. 272f. [8f.]. Der neuerliche Versuch Wolfgang Kirschs (Die lateinische
Versepik des 4. Jahrhunderts, Berlin 1989, S. 170/74), das Element des Religiösen in Claudians
Dichtung seinem Kultur- und Traditionsbewußtsein derart einzuordnen, daß es faktisch aufhört
zu existieren, weil gar keine religiöse Überzeugung mehr übrig bleibt, wirkt nicht besser als die
früheren Bemühungen gleicher Art. Religion ist im antiken Heidentum Uberall eng mit der
Kultur verbunden, und Kult von Überzeugung zu scheiden, ist oft unmöglich. Diese kann aus
dem allgemeinen Üntergrund der konservativen Gesinnung plötzlich doch sichtbar emporflammen
- wie das in Claudians Gebet an Victoria der Fall ist.
121 Hierzu s. Christian Gnilka, Missiologische Probleme der frühen Kirche, in: Musicae
sacrae ministerium 25 (1988) S. 37/58; vgl. auch dens., ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter
im Umgang mit der antiken Kultur I, Basel-Stuttgart 1984, passim, bes. S. 52, 78.
122 Vgl. Berefelt (wie Anm. 117) S. 23: Victorien, auch in der christlichen Kunst, sind
weiblich und haben das Strophion. Der (männliche) geflügelte Engel ist Beispiel der "Transfor-
mation": Oskar Wulff, Altchristliche und byzantinische Kunst, München 1914, S. 136. Erst in
Renaissance und Barock verzichtete man auf dieses Ergebnis frühchristlicher Chresis und statte-
te auch die Engel mit den tumidae papillae der Victorien aus. Gelegentliche Abschwächungen
typischer Merlanale der Victorien auch in frühchristlicher Zeit ändern nichts an dem prinzipiel-
len Unterschied: David John Magdziarz, Angel vs. Victory. The Confusion of the Two Motifs,
in: Journal of the Society of Ancient Numismatics 10 (1979) S. 61/63.
[33] XII. Die Statue der Victoria 303
<In der gelehrten Erörterung darüber, wann und weshalb die geflügel-
ten Engel des Victoriatyps in der christlichen Kunst aufkamen, sind die Pruden-
tiusverse, wenn ich recht sehe, niemals herangezogen worden123. Die allerer-
sten Belege für geflügelte Engel stammen vom Ende des vierten Jahrhunderts124,
und noch im fünften hatte sich der geflügelte Typus nicht völlig durchgesetzt.
Auch die Polemik gegen das Victoriabild bei Prudentius deutet vielleicht da-
rauf, daß sich geflügelte Engel zu seiner Zeit nicht oder nur höchst selten dem
Auge darboten125. Eine Bestätigung dafür lieferten die Verse [59/60], wofern
man sie dem Dichter zuerkennen dürfte. Denn sie höhnen gerade das Misch-
wesen aus Mensch und Vogel. Aber den Verfasser dieser Zeilen kennen wir
nicht. Er ist sicherlich ein Mann des fünften Jahrhunderts, aber er ist nicht
unser Dichter, der christlichen Kunstwerken viel Aufmerksamkeit schenkt,
der Bilder und Basiliken beschreibt, der Bildbeischriften dichtet, und deswe-
gen ist seine Stimme für uns von vornherein ohne Gewicht. Die Beobachtung,
wie leichtfertig sich die Interpolatoren mitunter über die tatsächlichen Verhältnis-
se hinwegsetzen (vgl. Prudentiana I 750 s.v. Irrtümer), macht sein Zeugnis
zumindest zweifelhaft. Und die Tatsache, daß er die wahrheitsgetreue Schilde-
rung des Bildnisses, die Prudentius gibt, in einem wesentlichen Punkte ver-
schieß, insofern er von plumae fabelt, die den Rücken Victorias überzögen
(vgl. V. [59]), statt von pinnae, die sie entfaltet (vgl. V. 28f.), beweist, daß er
nicht aus der Anschauung heraus urteilt, diskreditiert ihn also vollends (Pruden-
tiana I 284). >
123 In der Literatur, die Theodor Klauser zum Art. Engel X im RAC 5 (1960) Sp. 258/322,
ebd. Sp. 321f. angibt, findet sich kein Hinweis auf Prudentius. Schneider (wie Anm. 116) S. 45
erwähnt ihn, wertet die Verse aber nicht weiter aus.
124 Klauser (wie Anm. 123) Sp. 309/15; die frühesten Beispiele sind die Nummern 28 und
29 seines Katalogs (Sp. 264): der sog. 'Prinzensarkophag' in Istanbul (um 380) und eine Dar-
stellung auf der Holztür von S. Ambrogio in Mailand ("ein vielleicht nicht viel jüngeres Bei-
spiel", Klauser ebd.); vgl. Adolf Goldschmidt, Die Kirchentür des Heiligen Ambrosius in Mai-
land, Straßburg 1902, S. 45f. mit frg. 27.
125 Fliegend erscheinen Engel allerdings in der Literatur (veranlaßt wohl durch Apc. 14, 6),
auch bei Prudentius cath. 4, 55/63 (der Engel trägt den Propheten Habakuk mitsamt den Brot-
körben zu Daniel in die Löwengrube): iussus nuntius advolare terris ... Vgl. Georg Stuhlfauth,
Die Engel in der altchristlichen Kunst (Archäologische Studien zum christlichen Altertum und
Mittelalter 3) Freiburg-Leipzig-Tübingen 1897, S. 50/54; er macht darauf aufmerksam, daß
Hieronymus, Johannes Chiysostomus und Ps.Dionysius Areopagita sogar über die Bedeutung
der Flügel reflektieren. Ein Beispiel aus früherer Zeit läßt sich nachtragen: bei Juvencus ent-
schwindet der Erzengel Gabriel, nachdem er Zacharias seine Botschaft überbrachte, durch die
Lüfte: Haec ait et sese teneris inmiscuit auris (Juvenc. 1,42). Was vielleicht den Auftritt Mercurs
bei Vergil verarbeitet (Aen. 4,278): Etprocul in tenuem ex oculis evanuit auram. Aber von hier
bis zur Darstellung der Engel mit Schwingen auf dem Rücken ist doch noch ein weiter Schritt.
304 Prudentiana II. Exegetica [33/34]
9. Ornamenta deorum
Kostbare Statuen also und Kunstwerke, die einst Tempel in den reichen Grie-
chenstädten Asiens schmückten126, bringt man dem Geschädigten, der solchen
Ersatz freilich gar nicht nötig hat. Der Juvenalvers 3, 218: Haec (sc. dabit)
Asianorum vetera ornamenta deorum wurde von Prudentius sicher absichts-
voll benutzt: Frange repulsorum foeda ornamenta deorum (V. 64). Beide Ver-
se prägen sich durch den gleichen Schluß und die auffällige Gliederung ein
(die männliche Hauptcäsur findet keine Stütze, da der Platz hierfür durch das
viersilbige Wort ornamenta absorbiert wird). Auch ist hier wie dort von der-
selben Sache die Rede. Aber Prudentius ersetzt das Adjektiv vetera durch
foeda·, < womit freilich kein ästhetisches Urteil gesprochen ist, sondern ein
religiöses>127. Die 'arte allusiva' antiker Dichtung tritt hier abermals in den
126 Der Text an der Versspitze 218 {haec Asianorum) ist allerdings unsicher; vgl. den Ap-
parat in Ulrich Knoches Ausgabe (München 1950) S. 21 und E. Courtney im Kommentar (Lon-
don 1980) S. 184 z.St.
127 <Vgl. Prudentiana 1289>. In diesem Zusammenhang verdient auch die unten S. 309f.
[38] besprochene Formulierung bei Ambrosius (epist. 73 [18 Maur.], 10) Erwähnung: sed
[34/35] XII. Die Statue der Victoria 305
Dienst der christlichen Apologetik. Zugleich soll man erkennen, daß im Bü-
cherschrank der beiden kaiserlichen Brüder auch ein Juvenal steckte: nach
Catull, Horaz, Vergil nun auch der Satiriker, der damals Lieblingsautor der
römischen Aristokratie war128.
Der Prudentiusvers (V. 64) hat aber größere Bedeutung; sie reicht über
den Passus, ja über das Gedicht insgesamt hinaus. Denn durch diesen Vers
wird eine historische Sachfrage berührt. Es ist seit langem umstritten, ob der
Kampf damals nur um den Altar der Göttin geführt wurde oder um Altar u n d
Statue: ob also zuerst im Jahr 357, dann im Jahr 382 und wohl noch ein drittes
Mal im Jahr 394 (nach Theodosius' Sieg über Eugenius) jeweils nur der Altar
fortgeschafft wurde oder beides: Altar u n d Kultbild. Ein prominenter Ver-
fechter der letzteren Auffassung ist S. Mazzarino129, erstere wird z.B. von D.
Vera vertreten130. Vera und seine | Vorgänger legen besonderes Gewicht auf
die Tatsache, daß in den wichtigsten Urkunden: in der Relatio selbst und in
den beiden Ambrosiusbriefen, ausdrücklich nur von der ara Victoriae die Rede
sei, nicht vom Bildnis, und zwar in solchen Formulierungen, daß man anneh-
men müsse, der ganze Fall sei unter diesem Begriff (ara Victoriae) bekannt
gewesen131. Mazzarino wandte ein, Altar und Bildnis stellten eine kultische
Einheit dar, und brachte Belege dafür, daß mit dem Begriff des 'Altars' beides
erfaßt werden könne132. Er wies auch bereits auf unseren Prudentiusvers hin.
In der Tat erlaubt der Vers keinen Zweifel daran, wie der Dichter den Aus-
druck ornamenta im Symmachustext auffaßte: er verstand darunter das Bildnis
der Victoria und im weiteren Sinne die Götterbilder überhaupt - daß er den
Altar bzw. die Altäre im Ganzen wie selbstverständlich miteinschloß, geht aus
Vers 23 (ans) hervor. Im Grunde bedürfte es freilich gar nicht dieses einen
Worts ornamenta, um klar zu machen, worum die Auseinandersetzung bei
vetera, inquit (sc. Symmachus), reddendo sunt altaria sirmäacris, ornamenta delubris.
Vielleicht stieg dem Dichter durch das Studium des Ambrosiustexts die Erinnerung an Juvenal
auf, dessen Wortverbindung ( v e t e r a ornamenta deorum) er dann freilich veränderte.
128 Ammian. 28,4, 6. Hierzu Gnilka (wie Anm. 7) S. 147f. [in diesem Bande S. 232f.] mit
den weiterführenden Angaben.
129 Santo Mazzarino, Antico, tardoantico ed £ra costantiniana, 1, [Bari] 1974, S. 339/77,
bes. S. 351/57.
130 Vera (wie Anm. 3) S. 30f. Vera stellt etwa dieselben Überlegungen an wie Pio Grat-
tarola, Ara Deae. La prima rimozione dell'altare della Vittoria dalla curia romana e il suo
ristabilimento, in: Istituto Lombardo. Rendiconti. Classe di Lettere e Scienze Morali e Storiche
112, Mailand 1978, S. 21/31, bes. S. 21/26.
131 Prudentius wird von Vera (wie Anm. 3) S. 31 unterschätzt: "Dalle fonti non emerge
alcuna esplicita testimonianza sulla questione". Das Zeugnis gibt Prudentius in wünschens-
werter Klarheit.
132 Mazzarino (wie Anm. 129) S. 352/55; vgl. unten Anm. 154.
306 Prudentiana II. Exegetica [35/36]
liehe Edikt vom 29. Januar 399, das die Ausstattung der staatlichen Bauten vor
Plünderung und Zerstörung bewahren will, beginnt mit den Worten139: sicut
sacrificiaprohibemus, itavolumuspublicorumoperum ornamenta servari.
Das ist, gewiß zu Recht, auf den Schutz der Götterbilder bezogen und mit
jenen berühmten Prudentiusversen in Zusammenhang gebracht worden140, wel-
che die Bewahrung der 'gereinigten' Kultbilder als ornamenta patriae empfeh-
len (c. Symm. 1, 501/05):
Hier, im ersten Buch, redet Kaiser Theodosius I. Die Anweisung seiner Söhne
zu Beginn des zweiten Buchs lautet anders141, gilt aber wiederum den Götter-
bildern als ornamenta, wenn diese auch, dem Zusammenhang entsprechend,
foeda (nicht pulcherrimaY) und ornamenta deorum (nicht patriael) heißen. Im
Edikt und an b e i d e n Prudentiusstellen geht also das Wort ornamenta, wie
sonst auch, auf Bildnisse, und es erscheint, wie gesagt, höchst gewaltsam,
diesen Bezug im Symmachustext fernzuhalten, so daß man sich unter den
ornamenta hier gerade das nicht vorstellen dürfte, was doch sonst überall da-
mit gemeint ist, und stattdessen hier nur an das denken sollte, was sonst nie
damit gemeint ist. Denn der Altar gehört nicht zum ornamentum eines Heilig-
tums oder einer Gottheit, sondern zum instrumentum1*2. Und selbst wenn man
es damit nicht so genau nehmen oder sich ausmalen wollte, der Altar sei in
diesem Fall ein besonders aufwendiges Stück gewesen und dürfe deswegen
dem Schmuck des Baus zugerechnet werden143: der Bezug des Ausdrucks |
ornamenta auf den Altar a l l e i n , "al solo altare", wie Vera fordert144, blie-
be dennoch pure Willkür, welche die wahren Verhältnisse geradezu auf den
Kopf stellte.
Man mag dagegen einwenden, daß ja auch Kultbilder nicht ornamenta
seien, sondern eben "die Götter selbst"145, daß folglich auch Victoria, die ja
Symmachus zweifellos als Kultbild auffaßt und verehrt wissen will, nicht so,
d.h. eben als ornamentum bzw. ornamenta}*6, von ihm hätte bezeichnet wer-
den können oder dürfen. Aber dieser Einwand läßt sich leicht entkräften, so-
bald man auf den Kontext blickt. Der Redner hatte erklärt (rel. 3, 3), niemand,
der den Sieg wünsche, dürfe der Siegesgöttin die Verehrung verweigern. Und
er fährt fort (rel. 3,4): quodsi huius ominis non esset iusta vitatio, ornamentis
saltern curiae decuit abstineri. Der Satz erinnert an eine andere Formu-
lierung, die kurz zuvor (rel. 3, 3) gewählt war: reddatur saltem nomini
honor, qui numini denegatus est. Der Gedanke ist hier wie dort ähnlich: wenn
man schon nicht die Gottheit als solche anerkenne und ehre, solle man wenig-
stens ihren Namen ehren! Und ebenso: wenn man nicht das böse Omen fürch-
te, das in der Mißachtung der Victoria liege - eben weil man einen Zusam-
menhang des Kults und der Sache leugne dann hätte man ihr Bildnis wenig-
stens als Schmuck des Senatshauses stehen lassen sollen147. In beiden Fällen
cose che adornavano la curia". In diesem Bereich darf man nicht ohne weiteres eine "weitere
Bedeutung" ("accezione vasta") des Worts ornamentum annehmen. Denn so werden Unter-
schiede der sakralen Terminologie wie des allgemeinen Sprachgebrauchs mißachtet.
144 Vgl. die vorige Anmerkung. Ähnlich schon Grattarola (wie Anm. 130) S. 23. Er läßt
unsere Prudentiusverse (bes. c. Symm. 2,61/66) außer acht, zitiert nur den Passus c. Symm. 1,
501/05, weshalb ihm entgeht, was Prudentius unter den ornamenta curiae (Symm. rel. 3, 4)
verstand. Daß übrigens der Satz des Symmachus: sed plurimum valet ad metum delinquendi
etiam praesentia numini s urgueri (rel. 3, 5) gerade auf das I d o l der Gottheit zielt,
erkennt auch Grattarola, S. 24, wenngleich er der natürlichen Konsequenz, die sich daraus
ergibt, auszuweichen sucht.
145 Zu dieser Unterscheidung vgl. etwa Livius 26, 30, 9: certe praeter moenia et tecta
exhaustaurbisetrefractaacspoliatadeumdelubra, dis ipsis omamentisqueeorumablatis,
nihil relictum Syracusis esse; Liv. 38, 43, 6:... templa tota urbespoliata ornamentis, simulacra
deum, de os immo ip sos convulses ex sedibus suis ablatos esse. Die Scheidung zwischen
simulacra (gleich di ipsi) und ornamenta (gleich donaria, decora etc.) liegt auch der oben Anm.
137 zitierten Äußerung Ciceros prov. 7 zugrunde. Vgl. ferner die bei Daut (wie Anm. 72) S. 76
erwähnten Inschriften CIL 14, 61 und 13, 3101.
146 Daß der Plural ornamenta bei Symmachus auf den Schmuck der Statue (mit ägyptischen
Spolien: Cass. Dio 51, 22, 2) ziele, wie Mazzarino (wie Anm. 129) S. 356 Anm. 46 erwägt,
halte ich für möglich - vgl. auch Prud. c. Symm. 2, 29 (quamvis) multis surgatformata talentis
- , aber nicht für nötig. Ambrosius geht in seiner Verallgemeinerung noch weiter, s. unten Anm.
151.
147 Saltem dem Beziehungswort einmal vorangestellt, einmal nachgestellt, wie auch sonst:
saltem normrü - ornamentis saltem.
[37/38] XII. Die Statue der Victoria 309
findet der Redner einen Grund für die Gewährung seines Anliegens auf einer
niederen Ebene der Argumentation, die unterhalb des eigentlich kultischen
Bereichs liegt. Es gibt Gründe, meint Symmachus, die auch denjenigen beein-
drucken sollten, der an Existenz und Macht der Göttin nicht glaubt. Der Prä-
fekt macht sich also bereits hier in dem Satz über die ornamenta curiae, sozu-
sagen für einen Augenblick, den Standpunkt zu eigen, den später das Edikt des
Jahres 399 und die Theodosiusrede bei Prudentius proklamieren, freilich ohne
daß der Heide ernsthaft daran dächte, die Voraussetzung zu erfüllen, auf der
die christliche Achtung der Kunstwerke ruht: ihre Reinigung, d.h. ihre all-
gemeine und vollkommene Lösung vom Kultus148. Die Victoria zu den
ornamenta zu rechnen und wenigstens als Schmuck der Curie unangetastet zu
lassen: das ist in seinen Augen sozusagen eine Mindestforderung, die sich an
jeden | richtet. Ihre Erfüllung soll den Kult keineswegs überflüssig machen,
sondern nur den Gegnern des Kults Grund und Pflicht seiner Duldung sein.
Die Art, wie Ambrosius die Äußerung des Senators referiert, spricht
nicht gegen diese Erklärung, wie Vera meint, d.h. gegen den Bezug der orna-
menta auf die Statue, sondern umgekehrt, sie spricht dafür: sed vetera, inquit
(sc. Symmachus), reddenda sunt altaria simulacris, ornamenta delubrisU9. Vera
schreibt dazu150: "... qui la contrapposizione e tra cose rimosse e cose ancora
in situ; tra altari allontanati e statue tuttora nella curia, al pari delle migliaia di
statue ovunque presenti (Ep. 18, 31)". Aber so wäre nicht nur zweimal dassel-
be gesagt, die Gleichsetzung der altaria mit den ornamenta wäre hier doppelt
hart, weil ja eben die Bilder fast in einem Atemzuge mitgenannt werden151.
Das Natürliche ist doch dies: Ambrosius entfaltet und erklärt den Satz des
Symmachus nach Art einer Anadiplose, allerdings mit Variation des wieder-
holten Begriffs: die Altäre sollen den Bildern, die Bilder (gleich ornamenta)
den Tempeln zurückgegeben werden. Ornamenta variiert simulacra - ganz im
Sinne des Gegners, der sich ja an der entsprechenden Stelle auch die Freiheit
148 Unter diesem Gesichtspunkt ist die Prudentius-Passage in meinen oben erwähnten Ar-
beiten behandelt: Gnilka (wie Anm. 98) S. 143 [in diesem Bande S. 44f.]; Missiologische
Probleme (wie Anm. 121) S. 47f.
149 Ambros. epist. 73 (18 Maur.), 10: CSEL 82/2, S. 39.
150 Vera (wie Anm. 3) S. 31.
151 Ambrosius verallgemeinert übrigens in rhetorischer Weise und bringt daher die ganze
Aussage in den Plural, setzt außerdem delubris statt curiae (vgl. oben Anm. 18). Mit der tatsäch-
lichen Lage, die Ambrosius selbst dann später (epist. 73 [18 Maur.], 31) zeichnet, darf diese
verallgemeinernde Wiedergabe des gegnerischen Petitum nicht gleichgestellt werden; sonst wa-
ren ja eben damals, i.J. 384, die Altäre ebensowenig aus den Tempeln entfernt worden wie die
Statuen: omnibus in templis arae, ara etiam in templo victoriarum (Ambros. ebd.). Veras Hin-
weis auf dieses spätere Kapitel des Ambrosiusbriefs führt irre.
310 Prudentiana II. Exegetica [38/39]
genommen hatte, wie wir sahen, den Unterschied von Kultbild und Kunstbild
einmal zu unterdrücken. Aber Ambrosius läßt das nicht ohne Korrektur hinge-
hen, er bringt bei seiner Wiedergabe der gegnerischen Forderung das Wort
für 'Götzenbilder' mit in den Text, auf daß sich die Begriffe {simulacra -
ornamenta) gegenseitig beleuchteten und gleich klar würde, was unter den
'Schmuckstücken' zu verstehen sei. Ich meine also: der Bischof hat den Prä-
fekten, der Dichter den Präfekten u n d den Bischof richtig verstanden. Alle
drei liegen auf derselben Linie, alle drei verstehen unter ornamenta dasselbe.
Die Vorstellung, man habe nur den Altar, nicht auch das Kultbild ab-
räumen lassen, hat überdies etwas Lebensfremdes. Das Götterbild ist ja eben
die Gottheit oder wird doch als mit ihr verbunden gedacht. Gewiß haben wir in
dem Edikt des Jahres 399 und in den zitierten Prudentiusversen (c. Symm. 1,
501/05) Zeugnisse dafür, daß man die Götterbilder als Kunstwerke zu erhalten
strebte. Aber es ist doch sehr die Frage, ob man Constantius und Gratian im
Falle der Victoria solche Unterscheidung zutrauen darf 52 . Es wäre wohl auch
zu erwarten, daß Symmachus, hätten jene Kaiser dem Altar und der Statue
gesonderte Behandlung widerfahren lassen, daraus für seine Sache irgendwie
Kapital geschlagen hätte, etwa um die weise Beschränkung solcher Maßnahme
zu loben, die sie um so leichter reversibel | mache, oder um die partielle Aner-
kennung der Victoriagestalt hervorzuheben, die durch die Duldung ihres Bil-
des in der Curie zum Ausdruck komme. Aber von alledem lesen wir nichts.
Nahm man erst einmal an dem Kult an derart hervorragendem Platze Anstoß,
wird man kaum das Götzenbild als Kunstwerk geehrt und geschont haben.
Vera153 beruft sich für die Unterscheidung von Altären und Statuen auf ein
Edikt vom 15. Nov. 408 (407); aber gerade dieser Text spricht nicht für seine
Auffassung der Vorgänge im Falle der Victoria. Hier wird zwar nur für die
Altäre die Zerstörung angeordnet, aber über die Götterbilder heißt es: simulacra,
si qua etiam nunc in templis fanisque consistunt et quae alicubi ritum vel acce-
peruntvelaccipiuntpaganorum, suis sedibus evellantur ...l54. Nicht
als ob man annehmen dürfte, dieser Erlaß habe direkt mit der Victoria im
Senat zu tun: er bezeugt nur, wie sehr man allenthalben auch die Bildnisse
152 So auch Mazzarino (wie Anm. 129) S. 357. Anders, doch ohne neue Argumente und
ohne Erwähnung Mazzarinos: Grattarola (wie Anm. 130) S. 22/25. Er sucht im übrigen nachzu-
weisen, daß Constantius' Maßnahme noch unter demselben Kaiser (nicht unter Julian) durch
eigenmächtiges Handeln des Senats rückgängig gemacht worden sei (S. 26/31).
153 Vera (wie Anm. 3) S. 31 (Ende des Absatzes).
154 Cod. Theod. 16, 10, 19.
[39/40] XII. Die Statue der Victoria 311
beargwöhnte, die kultisch verehrt wurden oder einst Verehrung erhalten hat-
ten (quae ... ritum vel acceperunt [!] vel accipiunt). Es wird noch in diesem
späten Edikt befohlen, solche Bildnisse nicht 'in situ' zu belassen, und inso-
fern hätte sich Vera auf diesen Text gerade nicht berufen sollen.
Daß bei Symmachus und Ambrosius nur der Altar der Victoria aus-
drücklich genannt, ja emphatisch hervorgehoben wird (vgl. Symm. rel. 3, 5:
illa ara ... illa arä), erkläre ich mir auf dieselbe Weise wie Mazzarino: das
Kultbild gehört einfach dazu. Es ist ja auch in der Tat nicht einzusehen, wes-
halb die Fasti Maffeiani zum 28. August die Weihung der Victoria mit den
Worten vermerken: hoc die ara Victoriae in curia dedicata est, wenn es nicht
üblich war, die ganze Anlage, Altar und Bild, so zu bezeichnen155. Als ob man
nur auf Stein so schreiben dürfe, nicht auf Papyrus oder Pergament! Man muß
auch die Kürze des Symmachustexts berücksichtigen, wo dieser Punkt über-
haupt nur in wenigen Sätzchen (rel. 3/5) verhandelt wird156. Bei Ambrosius
begegnen immerhin Wendungen, die den Vorgang derart ins Allgemeine erhe-
ben, daß man sie kaum anders denn als gängige Ausdrücke der Errichtung von
Altar und Kultbild auffassen kann: aram simulacris statuere, aram simulacris
facereiS1. Und wenn schließlich Ambrosius einwendet, es gebe doch in allen
Thermen, | Säulenhallen, auf allen Plätzen Götterbilder {simulacra), es soll-
ten doch daher wenigstens im Senat gleiche Verhältnisse für Christen wie
Heiden herrschen, christliches Empfinden und Gewissen nicht durch heidni-
sche Opfer und Eide verletzt werden: wie ist das anders zu verstehen, als daß
155 Inscr. Ital. 13, 2 S. 79. Hier sind natürlich Altar u n d Kultbild gemeint, wie umge-
kehrt Cassius Dio dort, wo er von der Aufstellung des Victoriabildes (αγαλμα) im Senat redet
(51, 22, 1), wie selbstverständlich auch den Altar miteinschließt. Mazzarino (wie Anm. 129) S.
355 wies auf diese Belege hin. Ich sehe nicht, wie man sie entkräften könnte.
156 Es erscheint mir darüberhinaus sehr wohl denkbar, daß Symmachus bewußt den
idololatrischen Charakter des Kults hat mildern wollen, indem er simulacrum mied, das Idol
unter dem unverfänglichen Namen der Siegesgöttin und harmloseren Wörtern wie ara (Victoriae),
numen, caerimoniae, cultus dezent verbergend; denn alles dies kennt auch die christliche Reli-
gion, und deshalb kann Ambrosius der ara Victoriae die ara Christi entgegensetzen (epist. 73
[18 Maur.], 10; vgl. 72 [17 Maur.], 14).
157 Vgl. Ambros. epist. 72 (17 Maur.), 9: CSEL 82/2, S. 14f.: si hodie gentilis aliquis,
imperator, quod absit, aram statueret simulacris ...et in ea curia sententiam diceret, ubi iurati
ad aram simulacri in sententiam cogerentur...; ebd. 14 (CSEL 82/2, S. 17f.): quid
respondebis sacerdoti dicenti tibi: munera tua non quaerit Ecclesia, quia templa gentilium
muneribus ad ο r na s t i ? ara Christi dona tua respuit, quoniam aram simulacris fecisti.
Die Wendung muneribus adomare erinnert an die ornamenta. Grattarola (wie Anm. 130) S. 23
deutet solche Ausdrücke wie aram simulacris statuere auf nachträgliches Hinzusetzen des Altars
- zu spitz und zu künstlich. Der ganze Ausdruck meint jeweils die Errichtung von Altar und
Kultbild.
312 Prudentiana II. Exegetica [40]
es eben sowohl ara als auch simulacrum im Senatshaus, anders als an den
genannten Plätzen der Stadt, damals n i c h t gab und auch, nach dem Willen
des Bischofs, nicht wieder geben durfte158?
10. Ausblick
Die Einsicht in den behandelten Tatbestand kann vielleicht auch auf den
äußeren Gang der Ereignisse etwas Licht werfen: auf das Schicksal der Victoria
Romana unter den Theodosiussöhnen und auf den Anlaß des prudentianischen
Gedichts. Damit lenke ich nochmals zu der eingangs aufgeworfenen Hauptfra-
ge nach der Aktualität der Bücher contra Symmachum zurück. Daß dieses
Gedicht über seine allgemeine geistige und kulturpolitische Aktualität hinaus
auch eine bestimmte zeitgeschichtliche besitzt, also durch ein Ereignis aus der
Zeit des Dichters hervorgerufen ist, steht mir fest159. Und zwar aus einem sehr
einfachen Grunde: weil der Dichter selbst es sagt. Nicht irgendwo, sondern
gleich zu Beginn des Werks. Obwohl Kaiser Theodosius, heißt es da, die Stadt
Rom von der alten Krankheit des Heidentums geheilt habe160, sei die Seuche
wider Erwarten erneut ausgebrochen und gefährde das Wohl der Römer (1,5f.
... renovata luis turbare salutem Temptat Romulidum). Das kann im
Zusammenhang des Gedichtganzen zwanglos nur auf einen erneuten Vorstoß
in Sachen der Victoria bezogen werden, nicht auf etwas Allgemeines161, und
schon gar nicht auf den Sieg über die Goten bei Pollentia, der einer modernen
These zufolge den Anlaß des Gedichts bilden soll162: denn ein Sieg ist doch
158 Ambras, epist. 73 (18 Maur.), 31: CSEL 82/2, S. 50: non illi (sc. Symmacho) satis sunt
lavacra, nonporticus, nonplataeoccupatae simulacris ?etiamneincommuniilloconcilio
non erit communis conditio? Auch dieses Argument bereits bei Mazzarino (wie Anm. 129) S.
355f.
159 Anders Steidle (wie Anm. 7) S. 262/81 (bzw. S. 282/301), bes. S. 268f. (bzw. S. 288f.),
der im übrigen den Charakter des Werks als einer grundlegenden Auseinandersetzung mit dem
Heidentum überzeugend herausarbeitet.
160 Nur Theodosius kann der hier ( 1 , 4 ) genannte princeps sein.
161 Vgl. Döpp (wie Anm. 7) S. 74: "die Gesamtheit der heidnischen Aktivitäten". Aber so
wird die Verbindung mit Symmachus und der konkreten Sache gelöst, die das Gedicht prägt.
Mir scheint es, wie oben bemerkt, zu modern gedacht, wenn man den äußeren Rahmen derart
leicht nimmt, daß man glaubt, seine Erfindung allein in das Subjekt des Dichters verlegen zu
dürfen (dies auch gegen Steidle [wie Anm. 7] S. 280f. bzw. S. 301f.).
162 Vgl. Siegmar Döpp, Prudentius' Gedicht gegen Symmachus. Anlaß und Struktur, in:
Jahrbuch fiir Antike und Christentum 23 (1980) S. 65/81. Döpp versucht, Steidles Anschauung,
das Gedicht biete ein "idealtypisches Bild" der Verhältnisse (Steidle [wie Anm. 7] S. 270f. bzw.
S. 290f.), mit einem Ansatz von T.D. Barnes zu verbinden, der auf Prudentius* Preis des Siegs
[40/41] XII. Die Statue der Victoria 313
jedenfalls etwas anderes als eine renovata luis. Man bedenke auch folgendes:
| Prudentius schließt die Praefatio zum ersten Buch, an Christus sich wen-
dend, mit einer Fürbitte für Symmachus (1 praef. 80ff.). Er erfüllt damit das
Gebot der Feindesliebe (Mt. 5, 44; vgl. Act. 7, 60) und entschuldigt den
Gegner, wie Christus am Kreuz diejenigen entschuldigte, die Ihn gekreuzigt
hatten: Spirat sacrilegisflatibus inscius Erroresque suos indocilis
fovet (ebd. 86f., vgl. Lc. 23, 34)163. Symmachus verharrt also in seiner Verir-
rung, bringt seine lästerlichen Irrtümer weiter vor, und diese errores können
nichts anderes sein als die Sätze der Relatio, die Prudentius später widerlegt.
Wenn es nun unmittelbar danach (1, Iff.) so weitergeht, daß der Autor die
Erneuerung der heidnischen Krankheit (1,5: renovata luis) beklagt, und wenn
er im zweiten Buch den Heiden an die regierenden Kaiser sich wenden läßt (2,
5ff.), dann wäre dies alles als Hirngespinst des Dichters doch ebenso gottlos
und lästerlich wie töricht und lächerlich. Als ob der Dichter den Senator habe
zum Kaiser schicken können, wenn jener in Wahrheit gar nicht daran dachte,
hinzugehen, dieser nie mit der Sache befaßt war und der Autor selbst solchen
gefährlichen Plan nur ersann und verbreitete, weil er einen literarischen An-
haltspunkt für sein Gedicht suchte! Und als ob der christliche Dichter es oben-
drein noch hätte wagen dürfen, angesichts solcher Unterstellungen ein Gebet
vorzubringen, auf daß dem Verstockten das ewige Feuer möge erspart bleiben
(1 praef. 88f.)164.
Die näheren Umstände dieser neuerlichen Aktion der heidnischen Partei
liegen für uns freilich ganz im dunkeln, und es sieht nicht so aus, als würden
sie sich jemals aufklären lassen, da hierfür eben nur das Prudentiusgedicht als
Quelle zur Verfügung steht. Wo aber Hypothesen herrschen, ist es vielleicht
erlaubt, eine Vermutung anzubringen, die sich aus dem Gang unserer Betrach-
tungen ergibt165. Diejenigen Forscher, die mit einer erneuten Demarche unter
bei Pollentia (2,696/759) besonderes Gewicht legt (The Historical Setting of Prudentius' Contra
Symmachum, in: American Journal of Philology 97 (1976) S. 373/86). Die Annahme, ein mili-
tärisches Ereignis habe den Autor zu seinem Gedicht animiert, das (im zweiten Buch) haupt-
sächlich um die zentralen, philosophischen Kapitel der Relatio (rel. 3, 8/10) kreist, erscheint
mir von vorneherein nicht recht plausibel, wenn ich auch die Bedeutung jener panegyrischen
Passage innerhalb des Ganzen keineswegs verkenne.
163 Hierzu etwas mehr: Gnilka (wie Anm. 7) S. 153 Anm. 24 [in diesem Bande S. 238,
Anm. 24],
164 Derlei Ungeheuerlichkeiten passen eigentlich nur in das Prudentiusbild Marianne Kahs,
die ihrem Dichter nahezu jede Niedertracht zutraut (vgl. oben Anm. 18). Sie übernimmt denn
auch (S. 148 Anm. 249) ohne weiteres die "sententia communior" (sie), d.h. die Ansicht Steidles
und Döpps (wie Anm. 7 bzw. 162).
165 Mit Recht eröffnete schon Leocadia Malunowicz, De ara Victoriae in Curia Romana
quomodo certatum sit, Wilno 1937, ihre diesbezüglichen Erörterungen mit dem Satz: "... ad
314 Prudentiana II. Exegetica [41/42]
Kaiser Honorius rechnen, nehmen an, ihr erklärtes Ziel sei, wie einst, die
Wiederaufstellung des Altars und der Statue, also die Wiedereinführung des
Kults, gewesen166. Aber es erscheint doch fraglich, ob selbst Symmachus sich
unter den veränderten Verhältnissen der Jahre um 400 von einer solchen Peti-
tion hätte Erfolg versprechen können167. Wie aber, wenn damals eine getrenn-
te Rechnung aufgemacht wurde: wenn man | tatsächlich das unmittelbare An-
liegen auf das Bildnis der Göttin beschränkte? Das kaiserliche Edikt vom Janu-
ar 399 forderte: sicut sacriflcia prohibemus, ita volumus publicorum operum
ornamenta servari168. Man braucht nur wenig Phantasie, um sich vorzustellen,
mit welchen Gefühlen und Hoffnungen diese Verfügung im Kreise jener Män-
ner mag aufgenommen worden sein, deren kulturpolitisches Manifest schon
fast zwanzig Jahre vorher das Petitum enthalten hatte: ornamentis saltern curiae
decu.it abstineri (Symm. rel. 3, 4). Eröffnete sich damit nicht die Möglichkeit,
die Wiederaufstellung wenigstens der Statue zu reklamieren? Als pures ornamen-
tum, versteht sich, ohne Altar. Wieviel mußte auch das noch jenen Männern
bedeuten, die doch allenthalben nach Mitteln suchten, für die alten Götter zu
werben169! So würde vielleicht auch noch besser verständlich, weshalb Prudentius
bei seiner Polemik gegen Victoria gerade ihr Bild so scharf ins Visier nimmt.
Setzen wir weiterhin den Fall, das Unternehmen habe Erfolg gehabt, damals
also wäre, und zwar zum ersten Mal im Auf und Ab dieses Kampfs, dem
Bildnis allein, getrennt vom Altar, eine gesonderte Behandlung widerfahren:
dann würde sich auch erklären, warum Claudian ein Jahr später die Victoria
coniecturas nobis descendendum est". Dem Gedankengang der Verfasserin zu folgen, ist im
übrigen recht aufschlußreich. Durch den Prudentiustext selbst wird sie zu folgender Einsicht (S.
102) gebracht: "Itaque, si ad rem cognoscendam Prudentium auctorem adhibuerimus, ponendum
nobis erit Symmachum conata sua apud Honorium quoque renovavisse." Aber ihre eigenen
Conjekturen führen sie zu dem entgegengesetzten Schluß (S. 103/07).
166 Vgl. aus jüngerer Zeit etwa Barnes (wie Anm. 162) samt der Kritik bei Vera (wie Anm.
3) S. 23 Anm. 41: die Nachrichten über Symmachus' Reise nach Mailand i.J. 402 enthalten
keinen Hinweis auf die Sache der Victoria. Auch Shanzer (wie Anm. 7) S. 461f. scheint jetzt
wieder die Historizität der Vorgänge vorauszusetzen; jedenfalls rechnet sie mit einer letzten
Gesandtschaft zu Honorius bzw. zu Stilicho.
167 Das betont besonders Steidle (wie Anm. 7) S. 269 bzw. S. 289; vgl. Döpp (wie Anm.
162) S. 72.
168 Vgl. obenS. 306f. [36],
169 Man denkt hier sogleich an die berühmten Geschenkmünzen: Andreas Alföldi, Die
Kontorniaten. Text, Leipzig 1943, S. 48ff. Auch wenn sie nicht geradezu als heidnisches
Propagandamittel angesehen werden können (vgl. etwa das abgewogene Urteil Santo Mazzarinos
in der Enciclopedia dell'arte antica 2 (1959) S. 784/91, bes. S. 790f.), lassen sie doch ahnen,
welche Bedeutung den Darstellungen dann zukommen konnte, wenn sich mit ihnen die entspre-
chende Auffassung verband. Im Falle der Victoria-Statue mochte es sich ganz ähnlich verhalten.
[42/43] XII. Die Statue der Victoria 315
im Senat begeistert feiert, ohne des Altars zu gedenken. Daß Prudentius die
Sache so darstellt, als habe Symmachus auch diesmal wieder alles gefordert,
daß er überhaupt die ganze Relatio des Jahres 384 seinem Gedicht zugrunde
legt, ist solcher Erklärung nicht geradezu hinderlich. Der Dichter verfuhr im
Ganzen ebenso wie im Einzelnen: er erkannte die wahre, tiefere Absicht auch
in der gemäßigten Form der Forderung, sah, daß es in Wahrheit doch nicht
bloß um das Bild ging, sondern eben um eine Aktion, an deren Ende nur
dasselbe Ziel stehen konnte wie einst. Und so nahm er sich die berühmte Rede
vor, die nach wie vor die gültige Begründung jedes Vorstoßes zugunsten der
Victoria bilden mußte. Paulinus, der Biograph des hl. Ambrosius, berichtet,
nach der Gegenschrift des Bischofs habe es Symmachus nie mehr gewagt,
seinerseits einen neuen Text vorzulegen170. Sieht man die Sache von der ande-
ren Seite an, dann darf man wohl sagen, daß die Verteidiger der alten Religion
in der Relatio des Jahres 384 alles so vollständig und so meisterlich ausge-
drückt fanden, daß daran nichts zu bessern war. Die Relatio blieb eben auch
fürderhin ihre gültige Urkunde.
Ernster zu nehmen ist eine andere Schwierigkeit, eine Seltsamkeit, die,
mag sie auch an und für sich bestehen, doch gerade dann hervortritt, wenn
man sich die Dinge derart zurechtlegt, wie wir dies eben versuchten: Claudian
bezeugt, daß | die Victoria zu Beginn der Jahre 400 und 404 im Senat stand;
Prudentius dagegen läßt in seinem Gedicht, das im Jahr 402 oder 403 abge-
schlossen wurde, die regierenden Kaiser ein entsprechendes Gesuch ablehnen.
Wie reimt sich das? Das Problem ist bisher nicht wirklich gelöst worden, auch
von Mazzarino nicht, der ansonsten in den historischen Fragen, welche die
Sache umgeben, scharfes Urteil beweist. Mazzarino gelangt mit seiner Erörte-
rung just bis zu diesem Punkt, nicht weiter. Er sieht, daß beide Dichter ver-
schiedene Situationen voraussetzen, aber eben an dieser Stelle, da man ge-
spannt darauf wartet, eine Aufklärung über den Grund solchen Widerspruchs
zu erhalten, wird man mit dem folgenden vagen Hinweis abgespeist171: "Questo
170 Paulin. v. Ambros. (wie Anm. 5). Auch bei den späteren Vorstößen in Sachen der
Victoria, zwei erfolglosen (vor Valentinian II. und vor Theodosius: vgl. Ambros. epist. 57, 4
und 5) und einem erfolgreichen (vor Eugenius: vgl. Paulin. v. Ambros. 26, 3), wird der illustre
Text des Symmachus das Dokument gewesen sein, auf das man sich irgendwie berief. Und
nichts hindert die Annahme, daß das auch noch einmal unter Honorius könne der Fall gewesen
sein.
171 Mazzarino (wie Anm. 129) S. 372f.
316 Prudentiana II. Exegetica [43/44]
contrasto tra i due autori e un aspetto delle contraddizioni inerenti all' 'umane-
simo cristiano', ed a quello che e stato chiamato 'the Western revival'". Damit
wird der Gegensatz in der Darbietung der äußeren Tatsachen überraschender-
weise auf die Ebene des Innerlichen verlagert und aus den verschiedenen gei-
stigen Standpunkten der beiden Autoren abgeleitet, deren jeder wiederum als
in sich widerspruchsvoll und schillernd vorgestellt wird. Derlei Reflexionen
taugen aber eher dazu, den urkundlichen Wert der Texte überhaupt zu zerstö-
ren, als dazu, die historischen Probleme zu lösen, die sie aufgeben.
Der bezeichnete Widerspruch mildert sich vielleicht etwas, wenn man
auf den Charakter der Darstellung im zweiten Buch contra Symmachum achtet
- ohne daß man freilich behaupten dürfte, er verschwinde dadurch völlig. Die
Kaiserrede, die wir uns vornahmen, bietet nicht die dichterische Wiedergabe
eines rechtskräftigen Bescheids der Herrscher. Wäre sie als Edikt gemeint,
wäre die Sache sogleich beendet und mit ihr das Gedicht, noch bevor es so
recht in Gang kam. Die Kaiser geben vielmehr eine Suasorie, sie erteilen
einen Rat, wie Diomedes den Latinern bei Vergil172. Und ein Rat kann mißach-
tet werden, wie er ja in der Tat von den Latinern mißachtet wurde. Ebenso von
Symmachus. Denn nachdem die Kaiser geendigt haben, fügt er sich nicht etwa,
wie es notwendig und natürlich wäre, hätte er eine bindende Entscheidung
entgegengenommen, sondern er fährt fort, ja steigert sogar seine Wortgewalt:
Prosequitur magnisque tubam concentibus inflat (2, 68). Dieselbe Abfolge
wiederholt sich später. Roma überzeugt durch eine Rede (2, 655/768) ihre
Schützlinge, d.h. die beiden jungen Kaiser, den Gesandten abzuweisen, weil
sein Anliegen unzulässig sei (ebd. V. 769/72). Aber der gibt sich wiederum
nicht geschlagen: persistit tarnen ... (V. 773). Das heißt: Prudentius hat, um
seiner Darstellung mehr Autorität und Farbe zu geben, die Entgegnung nicht
nur in eigener Person vorgebracht, sondern hat sie stückweise auf die Kaiser,
auf Gott selbst (V. 123b/60 und V. 184b/269) und auf die personifizierte Roma
verteilt, hat diesen Sprechern gleichsam Rollen in einem fingierten Dialog
angewiesen173. | Daraus folgt nicht etwa, daß auch die gesamte Ausgangslage
des Gedichts erfunden sein müsse. Aber die Kaiser erscheinen doch mehr als
Partner eines Dialogs, in überlegener Machtvollkommenheit zwar und Wür-
de, aber nicht eigentlich in Ausübung ihrer Macht. Vielleicht müssen wir sie
uns auch als Adressaten einer leisen Mahnung seitens des Autors vorstellen,
wie das dem Wesen eines antiken Panegyricus durchaus entsprechen würde174.
Der Gegensatz zur tatsächlichen Situation, wie sie uns Claudians Zeugnisse
anzunehmen zwingen, wird, wie gesagt, dadurch nicht aufgehoben, aber wohl
doch entschärft.
wünscht, wie Symmachus die vorangegangene Rede Gottes aufnehme: Scire velim praecepta
Patris quibus auribus haec tu Accipias, Italae censor doctissime gentis. Die Rede ist Ausdruck
des christlichen Glaubens (vgl. 2, 92 Fides·, 104 fidei via; 120 fides), ihre Annahme setzt den
Glauben voraus, gießt ihn in die Form der direkten Rede um. Hier ist jedenfalls die Situation
eines wirklichen Gesprächs oder einer Verhandlung im kaiserlichen Consistorium weit überstie-
gen.
174 Vgl. Johannes Straub, Vom Herrscherideal in der Spätantike, Stuttgart 1939, S. 197f.
Man muß wohl auch bedenken, daß Prudentius die Kaiser den K u l t ablehnen läßt. Ging Pru-
dentius, wie wir vermuteten (s. oben S. 314f. [42]), auf diese Weise dem Anliegen des Gegners
auf den Grund und ließ er ihn daher mehr aussprechen, als dieser damals tatsächlich verlangte,
so verschaffte er sich zugleich auch den Freiraum, eine dermaßen weitgehende Petition durch
die Kaiser in seinem Gedicht ablehnen zu lassen. Denn damit verlangte Symmachus ja unbedingt
non admittenda (vgl. 2, 770).
XIII.
Angeregt durch die falsche Übersetzung der letzteren Strophe in einem neuen
deutschen Prudentiusbuch - das ich hier am liebsten ungenannt ließe, um ihm
nicht unverdiente Ehre zu erweisen, indem ich vielleicht den Eindruck erwek-
ke, es seien s o l c h e Fehler, die es dort zu verbessern gelte1! - schlug ich die
gängigen Leseausgaben und Lavarennes 'Etude' auf und stellte fest, daß auch
hier der Sinn der Zeilen nicht richtig erfaßt ist. Das dreifache quod ist weder
Alle Instrumente und Stimmen ertönen zum Lobe Christi, sogar die stumme
Natur erhält Sprache durch das Saitenspiel des frommen Sängers6: die Klänge
selbst also bilden den Lobpreis; alles, was sie hören lassen, ist Lob Christi -
2 Kah a.O. 60: "Weil der Atem in meinem Innern warm ist, weil... und weil... , sei es
mir immer angelegen, den höchsten Gott zu loben". Die kleineren Flecken - die falsche Über-
setzung von superi Patris und das Fehlen eines Äquivalents für resonam im Deutschen - kann
jeder leicht für sich verbessern.
3 M. Lavarenne, Etude sur la langue du po&e Prudence, Paris 1933, p. 295 § 819.
4 M. Lavarenne, Prudence, tome 1, Paris 19723, p. 15.
5 H.J. Thomson, Prudentius, vol. 1, London/Cambridge, Mass. 1949', p. 25.
6 Vers 391f. omnia ... loquuntur ist zu verstehen im Sinne etwa Augustins conf. 5, 1:
non cessat nec tacet laudes Tuas universa creatura Tua nec spiritus omnis per os conversum ad
320 Prudentiana II. Exegetica [384/385]
nicht die bloße Tatsache, daß sie ertönen. Quod (389. 390) führt quidquid fort
(386. 387. 388 bis), steht also relativisch7, und die Pronomina bilden teils
Inhaltsakkuative (386 quidquid tuba remugit = mugitus, quem tuba remugit),
teils äußere Objekte (390 quod reddunt antra) oder halten sich in der Schwebe
zwischen beiden Funktionen8, wie ja auch der Name Christum (391) in beider-
lei Weise zu den Verben tritt (Christum sonat wie etwa per. 2, 516 hymnis
resultat martyrem, sc. populus Romanus). Hier zeigt sich, daß die Häufung
der Pronomina bei großen Stilisten einer Absicht dient, und Gleiches wird
man auch für jenes dreifache, in kunstvoller Variation angeordnete quod for-
dern müssen, von dem wir ausgingen. Die Forderung ist erfüllt, wenn quod
dort ebenso wie quidquid, quod an der Parallelstelle im verallgemeinernden
Sinne den Begriff der Totalität schärft9.
Denn von diesem Gedanken sind die beiden ausgeschriebenen Strophen
erfüllt: a l l e Zeit (86/90) soll a l l e s im Menschen (91/95) Gott loben! Am
Morgen, am Mittag und am Abend soll Gottes Lob erschallen - nostra harmonia
(90) leitet schon zum Folgenden über10: Atem, Herzschlag, Reden sollen Lob
des himmlischen Vaters sein! Zwar unterscheidet sich die erstere Strophe durch
den Hymnenstil von der nächsten, aber der gleiche Bau unterstreicht die Pa-
rallelität der Gedanken: je drei Angaben (86/89 und 91/94), welche den Be-
griff des Ganzen der Zeit bzw. der Person umschreiben, treten so vor die
Imperativische Schlußzeile (90 canet; 95 laus esto), daß sich ihre Aufteilung
auf die Verse | wiederholt: die erste und die zweite füllt je einen Vers (86. 87
und 91. 92), die dritte jeweils zwei (88/89 und 93/94) - entsprechend ihrer
Te nec animalia nec corporaliaper os considerantium ea ... eqs. Daß im übrigen die genann-
ten Instrumente nicht tatsächlich im christlichen Gottesdienst verwandt wurden, betont J. Qua-
sten, Musik und Gesang in den Kulten der heidnischen Antike und christlichen Frühzeit, Mün-
ster 1930 = Liturgiegeschichtliche Quellen und Forschungen 25, 106. Vgl. Ch. Gnilka,
Missiologische Probleme der frühen Kirche: Musicae Sacrae Ministerium 25, 1988, 37/58, bes.
Anm. 58.
7 Leumann-Hofmann-Szantyr, Lat. Gramm. II p. 563 oben verweisen auf Tib. 2 , 4 , 55ff.:
Quidquid habet Circe, quidquid Medea veneni, Quidquid et herbarum Thessala terra gerit, Et
quod... eqs.
8 Zum Nebeneinander von äußerem und innerem Objekt sei an den berühmten Juvenalvers
sat. 2, 3 erinnert: Qui Curios simulant et Bacchanalia vivunt. Courtney ζ.St. zitiert Min. Fei.
38, 6: non eloquimur magna, sed vivimus. Vgl. auch Plaut, mil. 645f.: meae oraiionis iustam
partempersequi Et meampartem itidem tacere ... eqs. (dieses Beispiel bei Leumann-Hofmann-
Szantyr, Lat. Gramm. II p. 46 unten).
9 Nicht aber dann, wenn bloß dieselbe Konjunktion dreimal hintereinander zu stehen kommt:
s. etwa Leumann-Hofmann-Szantyr a.O. p. 821 unten.
10 Dies besonders dann, wenn man harmonia hier in tieferem Sinne nehmen dürfte: nicht
nur vom Gesang, sondern vom Einklang aller Kräfte des Menschen; vgl. Aug. civ. 22, 30 (p.
631, lf. Dombart-Kalb): omnes quippe illi... harmoniae corporalis numeri.
[385] XIII. Verkanntes quod 321
Bedeutung; denn der Abend ist die wichtigste Zeit für den hymnus ante cibum11,
und die Sprache die höchste Äußerung des Gotteslobs für den Hymnensänger.
Die fragliche Strophe ist also folgendermaßen zu verstehen:
Auffallen kann hier höchstens, daß im dritten Relativsatz (93f.) das transi-
tive Verbum pulsat neben dem Inhaltsakkusativ quod noch ein äußeres Objekt
(caveam) zu sich nimmt. Aber man wird durch die beiden einfacheren quod-
Sätze (91. 92) richtig geleitet, und ohne Beispiel sind solche doppelten Kon-
struktionen keineswegs. Der Kühnerschen Grammatik entnehme ich die fol-
genden Fälle12: Plaut. Poen. 911 numquid aliud me morare, Milphio ?(= num-
quidaliam moram me moraris?)·, Cie. dom. 59 quid enim vos uxor mea misera
violarat? (= quam violationem vos uxor mea violarat?)·, Cie. ad Att. 13,22, 5:
illud accuso, non te sed illam, ... eqs.; ferner: Ter. haut. 982; eun. 150. Die
Belege ließen sich vermehren, vgl. etwa Aug. civ. 3, 18 (p. 127, 31 f. Dom-
bart-Kalb): civitatem ... quid contra illas aquas flammasquepoterant (sc. di)
adiuvare? Eine gewisse Kühnheit bleibt vielleicht bei Prudentius in diesem
Punkte bestehen, aber man ist, wie gesagt, darauf vorbereitet.
Den Gehalt der Verse hat Rodriguez-Herrera schön gewürdigt13, und
die von ihm und Guillen besorgte Ausgabe bietet - allein, soweit ich sehe -
eine sinngemäße Übersetzung14:
11 Es mag sein, daß Prudentius hier (cath. 3, 86/90) an die drei apostolischen Stunden -
Terz, Sext, Non - gedacht hat, wie Aug. Rosier, Der katholische Dichter Aurelius Prudentius
Clemens, Freiburg i.B. 1886, 84/86 annimmt. Aber wenn er das tat, dann setzte er die drei alten
Gebetszeiten, die ja den prudentianischen Liederzyklus nicht bestimmen - einen Hymnus für die
Zeit des Mittags (cath. 3, 87) gibt es darin überhaupt nicht für die Gesamtheit des Tages.
12 Kühner-Stegmann, Lat. Gramm. II 1 p. 279f.
13 I. Rodriguez-Herrera, Poeta Christianus. Prudentius' Auffassung vom Wesen und von
der Aufgabe des christlichen Dichters, Diss. München, Speyer 1936, 39f., wo Benutzung Cice-
ros (nat. deor. 2, 138) angenommen wird.
14 J. Guill6n - I. Rodriguez, Obras completas de Aurelio Prudencio, Madrid 1950, 39.
XIV.
I.
1.
Als Christus vor Pilatus stand, wurde Er gefragt, ob Er der König der
Juden sei. Er antwortete mit "Ja", und die Synoptiker betonen, dies sei über-
haupt das einzige gewesen, was Er gesagt habe, worüber sich der Procurator
sehr gewundert habe1. Durch dieses "Ja" anerkannte der Angeklagte, daß die
gegen Ihn erhobene Anklage etwas Richtiges enthalte und die Bezeichnung
"König" in gewissem Sinne auf Ihn zutreffe2. In welchem Sinne sie freilich
zutraf, das erkannte der römische Beamte nicht, und so lagert über dem Wort-
wechsel die Wolke des Mißverständnisses. Bei Johannes hören wir die Erklä-
rung3: 'Mein Reich ist nicht von dieser Welt'. Schon die alten Exegeten beobach-
teten den genauen Wortlaut und betonten, daß Christi Königtum sehr wohl auch
hier, in dieser Welt, bestehe, aber eben nicht von hier, von dieser Welt sei4. Es
* Frühmittelalterliche Studien 26, 1992, 32/64. Die folgenden Seiten bieten den Text
eines Vortrags, der am 24. April 1991 vor einem Hörerkreis des Graduiertenkollegs 'Schriftkul-
tur und Gesellschaft im Mittelalter* an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster gehal-
ten wurde. Als Teil einer Ringvorlesung stand der Vortrag unter dem Titel: 'Martyrium und
spätantike Schriftkultur'. Auf Berührungen mit der Darstellung Walter Berschins (wie Anm.
16) macht mich Heinz-Lothar Barth, Bonn, aufmerksam. Sie sind in den Anmerkungen bezeich-
net. Folgende Abkürzungen werden verwendet: CCL = Corpus Christianorum, Series Latina;
CSEL = Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum; GCS = Die griechischen christlichen
Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte; PG = Migne, Patrologia Graeca; PL = Migne,
Patrologia Latina; PW = Pauly-Wissowa, Real-Encyklopädie der Classischen Altertums-
wissenschaft.
1 Mt. 27, 11/14; Mc. 15, 2/5; vgl. Lc. 23, 2f. Dieses Schweigen erfüllt, was über das
Leiden des Gottesknechts im Alten Testament gesagt ist: Is. 53, 7; vgl. Ps. 37, 14f.; 38, 10.
2 Orig. in Mt. comm. ser. 118 (GCS 38, 251): τό δέ "ob λέγεις" (Mt. 27, 11) τω
Πιλάτω την άπόφασιν αύτοΰ κυροΐ. Vgl. auch Cyrill. Alex, in loh. XII18, 36 (PG 74, 620
D): άπολογούμενος δέ προς ταΰτα Χριστός τό μέν είναι βασιλεύς ούκ ήρνήσατο, λέγειν
γάρ έδει τό άληθές ... κτλ.
3 Joh. 18, 36.
4 Aug. in Joh. tract. 115,2 (CCL 36, 644); er verweist auch auf das Mißverständnis des
Herodes (Mt. 2). Vgl. Joh. Chrys. in loh. hom. 83, 4 (PG 59, 453): Christi Königtum ist eine
größere, Himmel und Erde umfassende Realität. Ähnlich Cyrill. Alex, in loh. XII19, 12 (PG
74, 644 B/C). Dazu Thomas v. Aquin, Super ev. Ioann. lectura, lect. 6, 8 (2358), ed. R. Cai,
[32/33] XIV. Der neue Sinn der Worte 323
gehört, wie Pascal sagt, einer anderen Ordnung an5. | Auf die wiederholte
Frage erhält der Richter abermals eine bejahende Antwort: "Du s a g s t e s ,
daß ich ein König bin"6. Augustinus sah darin eine wohlabgewogene Formu-
lierung: Christus leugne weder, König zu sein, noch gebe Er zu, das zu sein,
was Pilatus darunter verstehe7. Der Sache nach trifft diese Erklärung sicher
zu. Man könnte sagen, daß Christi Königtum zu dem, was der Römer mit
'König' meint, in einem analogischen Verhältnis steht, daß es eine wesentliche
Beziehung gibt zwischen dem, was im allgemeinen Sprachgebrauch 'König'
bedeutet, und dem, was das Königtum Christi ist, und daß diese Beziehung
durch das wiederholte "Ja" des Religionsstifters ausdrücklich anerkannt und
gutgeheißen wird. Aber auch im Johannesevangelium wird kein Zweifel daran
gelassen, daß diese Beziehung dem Procurator ganz dunkel bleibt. Denn gera-
de nach den Worten über die Wahrheit, die bei Johannes dem wiederholten
"Ja" hinzugesetzt werden und die hinführen zum Wesen des Königtums, das
der Befragte für sich beansprucht8, bricht Pilatus das Verhör mit jener be-
rühmten Frage ab, die den typischen Skeptizismus des gebildeten Römers of-
fenbart9: "Was ist Wahrheit?" Das Unverständnis setzt sich dann in der Ver-
höhnung des Angeklagten durch die Soldaten auf grausame Weise in die Tat
Turin-Rom 21972, S. 440: {Dominus) ita responsionem suam temperavit ut nec manifeste
confiteretur se esse regem, cum rex non esset eo modo quo Pilatus intelligebat; nec negaret, cum
spiritualiter esset Rex Regum. Thomas unterscheidet dann genauer die Auffassung des König-
tums Christi bei Augustinus (Christus König über die Gläubigen) und bei Johannes Chrysostomus
(Christus König aufgrund göttlicher Macht): ebd. 6, 9 (2359), .S. 440f.
5 Pascal, Pens6es, Fragment 793, S. 373f. in Wasmuths Übersetzung (Blaise Pascal, Über
die Religion, übertragen und herausgegeben von Ewald Wasmuth, Heidelberg 51954).
6 Joh. 18, 37: σύ λέγεις δτι βασιλεύς είμι.
7 Aug. in Joh. tract. 115, 3 (CCL 36, 645): Non quia regem se timuit confiteri; sed 'tu
dicis' ita libratum est, ut neque se regem neget (rex est enim cuius regnum non est de hoc
mundo), neque regem talem se esse fateatur, cuius regnum putetur esse de hoc mundo. Vgl.
Theodor Zahn, Das Evangelium des Johannes, Leipzig 1908, S. 627: "Du sagst es, daß ich ein
König bin d.h. du selbst sagst es und sprichst damit recht, wenn du es richtig verstehest."
8 Joh. 18, 37f. Vgl. Alfred Wikenhauser, Das Evangelium nach Johannes, Regensburg
2
1957, S. 325. Dazu die schöne Erklärung Kyrills: Christus sei Mensch geworden und in diese
Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen, 'das heißt: um die Lüge aus der Welt
zu schaffen und die lügnerische Tyrannei des Teufels zu unterwerfen und um dadurch zu zeigen,
daß die Wahrheit über alles herrsche (ίνα ... βασιλεύουσαν των δλων έπιδείξη την άλήθειαν),
nämlich die wahrhaft und von ihrem Wesen her königliche Wesenheit (την άληθώς τε και
φυσικώς βασιλίδα φύσιν). Sie hat sich das Vermögen zu herrschen und die Herrschaft über
Himmel und Erde, kurzum über alles, was ins Dasein tritt, nicht aufgrund des Strebens nach
Ausweitung der Macht erst verschafft, besitzt das nicht als etwas Hinzugekommenes, als etwas
von außen her: es eignet ihr vielmehr dem Wesen und der Natur nach' (Cyrill. Alex, in loh. XII
18, 37f.: PG 74, 621 C/D).
9 Richtig Marie-Joseph Lagrange, 6vangile selon Saint Jean, Paris 1927, S. 477.
324 Prudentiana II. Exegetica [33/34]
um10. Allerdings redet Pilatus selbst in den Verhandlungen mit den Juden so
beharrlich vom 'König (der Juden)', von 'eurem König'11, daß man, wie Augu-
stinus sagt, den Eindruck bekommen kann, die Wahrheit selbst, die er befragt
hatte, was Sie sei, habe ihm dies wie eine Inschrift ins Herz geschrieben12. Und in
der Weigerung des Pilatus, den Text des Kreuzestitulus zu ändern: Quod scripsi,
scripsin, erkannte derselbe Exeget die geheimnisvolle Wirkung einer inneren
Stimme, die dem Römer still und doch laut zurief, was lange zuvor in den
Psalmen angekündigt ward: Ne corrumpas tituli inscriptionemV41
2.
gen, die aus dem Kern der christlichen Religion hervorwuchsen, und vieles
andere ließe sich hinzufügen. Aber die umfassendste, weil alle Bereiche der
Rede durchdringende Veränderung ist doch jene eigentümliche Vergeistigung
der Sprache. Ich meine nicht das, was die holländische Schule unter der christ-
lichen Sondersprache versteht16. Es geht nicht um "eine, auf sozialer Differen-
zierung beruhende, umgangssprachliche Erscheinungsform" des Lateinischen
oder des Griechischen17, nicht um fremde und neue Wörter, um Meidung und
Bevorzugung bestimmter Ausdrücke, um Termini der Kultsprache, um 'tech-
nische' Bedeutungen religiösen Sinnes oder gar um Erscheinungen der Syn-
tax. Es geht um etwas Allgemeines, Weiteres. Es geht darum, daß vieles, ja
vielleicht alles in menschlicher Rede gleichsam durchsichtig werden kann auf
höhere Realitäten hin, zu denen die sichtbaren Dinge und gewöhnlichen Ver-
richtungen in einer Art Vergleichsverhältnis stehen. Zwar war der Anspruch,
die wahre Bedeutung der Wörter ans Licht zu bringen, auch innerhalb der
Antike selbst nicht unerhört. Man mag sich an Horaz erinnern: die Tugend
gewöhnt es den Menschen ab, die Wörter falsch zu | gebrauchen: (Virtus)
populumque falsis Dedocet uti Vocibus ... eqs. König, lehrt sie, ist nicht
derjenige, der auf dem Thron des Großkönigs sitzt, sondern wer die Habsucht
bezwungen hat18. Das ist stoische Lehre. Die Stoa wollte den Wörtern reich,
glücklich, frei ihre wahre Bedeutung zurückgeben19. Nur der Weise sei frei,
glücklich, reich - und eben auch König: μόνος ό σοφός βασιλεύς. Denn nur
er ist im festen Besitz der Erkenntnis des Guten, ganz frei von Leidenschaften,
befähigt zu herrschen und somit wahrer Herrscher und König, selbst wenn er
christlichen Religion, der im Heidentum keine Parallele hat. Zum Ganzen vgl. auch die Bemer-
kungen in dem unten (Anm. 77) genannten Aufsatz (S. 242f. [in diesem Bande S. 207]).
16 Obwohl ich nicht leugnen möchte, daß es vielfache Überschneidungen gibt. Die wichtig-
sten Literaturhinweise bei Johann Baptist Hofmann - Anton Szantyr, Lateinische Syntax und
Stilistik, München 1965, S. 45". Einen Rückblick gibt Christine Mohrmann, Nach vierzig Jah-
ren: Etudes sur le latin des chrätiens 4, Rom 1977, S. 111/40. In diesem Band S. 367ff. ist auch
die 'Charta' der Schule von Nijmegen wieder abgedruckt: Josef Schrijnen, Charakteristik des
Altchristlichen Latein (Latinitas Christianorum Primaeva 1), Nijmegen 1932. Überschneidun-
gen ergeben sich, kurz gesagt, daraus, daß auch diese Forschungsrichtung die christliche Spiri-
tualität als treibende Kraft bei der Bildung der 'Sondersprache' anerkennt. Vgl. Mohrmann, S.
114f. Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter 1, Stuttgart 1986,
S. 44f. scheint die Beispiele der "semantischen Verschiebung" aus den Märtyrerakten als "Grenz-
fälle" dem weiteren Bereich sondersprachlicher Phänomene zuordnen zu wollen. Oben im Text
ist gesagt, weshalb ich mir diese Auffassung nicht zu eigen machen kann.
17 So die Definition bei Mohrmann (wie Anm. 16) S. 136.
18 Hör. carm. Π 2, 17ff.
19 In diesem Sinne schrieb Chrysipp Περι του κυρίως κεχρήσθαι Ζήνωνα τοΐς όνόμασιν:
Diog. L. 7, 122 = Hans von Arnim, Stoicorum veterum fragmenta 3, Leipzig 1903 (Nach-
druck: Stuttgart 1979), S. 158 f., Nr. 617.
326 Prudentiana II. Exegetica [35/36]
die Herrschaft nicht ausübt20. Aber man braucht diese Sätze nur kurz zu berüh-
ren, um sofort zu erkennen, daß sie fast nichts gemein haben mit jener Spiri-
tualisierung der Sprache, welche das Christentum gebracht hat. Diese ist nach
Grund, Art und Wirkung etwas ganz anderes. Für den Stoiker erhalten die
Wörter ihren wahren Sinn, wenn sie auf einen Menschen, und zwar auf den
Idealmenschen, angewandt werden, womit zugleich die Reichweite solchen
Sprachgebrauchs in mehrfacher Hinsicht eingeengt erscheint. Für den Chri-
sten gründet die tiefere Bedeutung der Worte darin, daß Gott sich aus Güte
herabgelassen hat, Seine Offenbarung in menschlicher Rede zu geben, Sein
Wort dem Menschenwort anzupassen21. Daher ist die Rede der Hl. Schrift
erfüllt von Sinnbildern: 'denn, was Gottes ist, ist unausdrückbar, es konnte
nicht anders gesagt werden' (Pascal)22. So werden die Worte der Schrift gleich-
sam durchsichtig, indem sie Ausblicke auf das Wesen Gottes und Seine Ver-
heißung eröffnen. Und da der Religionsstifter mit dem Anspruch auftrat, diese
Verheißungen zu erfüllen und das Göttliche in Seiner Person sichtbar zu ma-
chen, konnte Er sagen: Ich bin das Brot des Lebens, die Auferstehung und das
Leben, die Tür, der gute Hirte, die Wahrheit und das Leben - und so auch:
βασιλεύς είμι. Wer das Neue Testament liest, ist mit dieser Redeweise ver-
traut; und wer gar in der christlichen Literatur, besonders im exegetischen
Schrifttum späterer Jahrhunderte, bewandert ist, wird sich kaum vorstellen
können, daß es eine Zeit gab, der solche Sprache fremd, ja unverständlich
klang. Diesen Dienst aber leisten uns die Märtyrerakten, daß sie uns ins Be-
wußtsein rufen, wie sehr die antike Welt von der geistlichen, mystischen Re-
deweise23 der neuen Religion überrascht wurde. Die Verhöre der Märtyrer
zeigen uns nicht den Ursprung der semantischen Revolution, aber sie zeigen
uns, daß es sie gab: durch das Zusammenprallen der verschiedenen Bedeutun-
gen desselben Worts und durch | das Mißverständnis des neuen, christlichen
20 Von Arnim (wie Anm. 19) S. 158f., Nr. 617/22. Vgl. Max Pohlenz, Die Stoa, Göttin-
gen 31964, S. 155ff.
21 Joh. Chrys. in Gen. hom. 17, 1 (PG 53, 134), zitiert Cone. Vat. II, Dei verbum 13. Vgl.
Christian Gnilka, Die vielen Wege und der Eine. Zur Bedeutung einer Bildrede aus dem Geistes-
kampf der Spätantike, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 31 (1990) S. 9/51, hier S. 20/22
[in diesem Bande S. 486/89],
22 Pascal (wie Anm. 5), Fragment 687, S. 315. Eine schöne Ausformung dieses Gedan-
kens, gerade im Hinblick auf das 'Königtum' Christi bietet Gregor v. Nyssa, De professione
Christiana: Gregorii Nysseni opera, ed. W. Jaeger, 8, 1, Leiden 1952, S. 134, Z. 6ff.
23 Mysterium nennen die Väter des öfteren den geistlichen Sinn der Hl. Schrift; vgl. etwa
Sedulius op. paschal. 5, 17 (CSEL 10, 286, Z. 21): mysterium (gleich ratio sacramenti) über
den Kreuzestitulus Rex Iudaeorum.
[36] XIV. Der neue Sinn der Worte 327
Sinnes seitens des Heiden. Der Zusammenprall ist verursacht durch die Situa-
tion. Der Bekenner vor dem Richterstuhl will oftmals mehr sprechen als das
bloße Bekenntnis: 'ich bin Christ'. Er will sagen, was das heißt: Christsein. Er
will seine Religion verteidigen, den Richter womöglich gewinnen, die Umher-
stehenden stärken oder belehren. Aber der Beamte läßt sich nur selten und
dann auch nur ein Stück weit auf einen Disput ein, und gerechterweise muß
man sagen, daß er von seinem Standpunkt aus auch kaum anders verfahren
kann. Eine Gerichtsverhandlung ist kein philosophischer Disput. Und so muß
es eben dabei bleiben, daß der Angeklagte durch seine Antworten die Bälle
auffängt und zurückspielt, die ihm der Richter durch seine Fragen zuwirft.
Die Konfrontation der Begriffe ist meist die einzige Möglichkeit der Verteidi-
gung und Belehrung, die der Christ vor Gericht hat. Daher konzentriert sich in
dieser Konfrontation der Begriffe der Gegensatz des Denkens.
3.
Ich greife zuerst ein Beispiel heraus, das jenes Verschieben der Sinn-
ebenen gleich in einer gewissen Verdeutlichung zeigt, was darauf zurückzu-
führen sein mag, daß der betreffende Passionsbericht, das 'Martyrium S. Pionii',
bereits eine gewisse künstlerische Formung erkennen läßt. Dem Märtyrer, der
unter Decius zu Smyrna litt24, versuchte der Tempelwächter der Nemesis zu-
sammen mit einigen anderen Leuten gut zuzureden: "Schön ist es, zu 1 e b e η
(τό ζην) und dieses L i c h t zu schauen." Darauf Pionius: "Ja, auch ich sage,
daß das L e b e n (τό ζην) schön ist, aber besser ist das Leben, nach dem wir
verlangen; auch das L i c h t ist schön, aber schöner ist das wahre Licht"25.
Hier zeigt sich das typische Verfahren der Wiederaufnahme der Begriffe. Pionius
setzt dem irdischen Leben das ewige entgegen, dem Licht der Sonne das Licht
des Heils, wobei τό φως τό άληθινόν an den Prolog des Johannesevangeli-
ums erinnert26. Seine heidnischen Ratgeber verstehen das nicht und können
24 Zur historischen Kritik verweise ich - für diesen und für alle anderen Fälle - auf die
knappen Angaben in der Einleitung bei Herbert Musurillo, The Acts of the Christian Martyrs,
Oxford 1972. Zum Martyrium S. Pionii s. ebd. S. XXVfflff. Der Text ist bei Hippolyte Delehaye,
Les Passions des martyrs et les genres littiraires, Brüssel 1921, S. l l f f . besonders ausführlich
behandelt. Über den frischen Charakter des Ganzen s. ebd. S. 37.
25 Mart. Pion. 5, 3f. (S. 142 Musurillo).
26 Joh. 1, 9. Vgl. A. Hilhorst in der von Antoon A.R. Bastiaensen u.a. veranstalteten
Ausgabe: Atti e Passioni dei Martiri, Milano 1987, S. 460 z. St.: "Nel riprendere i medesimi
termini dei suoi interlocutori, Pionio Ii impregna di contenuti cristiani..." etc.
328 Prudentiana II. Exegetica [36/37]
das wohl auch nicht verstehen, weshalb es seinen guten Sinn hat, daß Pionius
einem besonders zudringlichen unter ihnen entgegnet: Hör du mir lieber zu!
"denn was du weißt, weiß ich auch; was ich aber weiß, weißt du nicht"27.
Damit ist die Situation durchaus getroffen. Alle Verhöre und Dialoge der
Passionsliteratur zeigen immer wieder dasselbe Verhältnis: der Christ versteht
beide Sprachen, der Heide nur die seine. So hat auch hier jener Ratgeber des
Pionius nicht begriffen, was 'leben' im christlichen Sinne meint, denn kurz
darauf bemerkt | er: "Was nützen diese eure Reden, wenn es nicht möglich
ist, daß ihr 1 e b t ? (όπότε ουκ εξεστιν ΰμας ζην;)"28. Man muß auch darauf
achten, daß aus dem Zusammenprall der Begriffe bisweilen der Funke eines
gewissen Witzes sprühen kann. Pionius wünscht, er könne die Heiden bekeh-
ren. Da lachen sie laut und erwidern: "Du kannst keinesfalls erreichen, daß
wir uns l e b e n d i g (ζώντες: bei lebendigem Leibe) verbrennen lassen".
Darauf Pionius: "Viel schlimmer ist's, verbrannt zu werden, wenn man tot ist
(άποθανόντας καυθήναι)". Und diesmal ist die Christin Sabina, die Gefähr-
tin des Pionius, an der Reihe zu lächeln29. Denn sie hat das Bedeutungsspiel,
das in dem Ausdruck: άποθανόντας καυθήναι liegt: den doppelten Bezug
auf Leichenverbrennung und Höllenstrafe, verstanden30. Die antike Rhetorik
hätte diesen Fall unter der Rubrik des iocus cum amaritudine, des Sarkasmus,
eingeordnet, der zu den Wortfiguren gehört und eben auf dem Bedeutungs-
spiel einzelner Wörter beruht. Diese Art des Witzes färbt weithin die literari-
sche Auseinandersetzung mit dem Götterkult31 und hat hier, in dem Dictum
des Pionius, einen geradezu klassischen Ausdruck gefunden. Der Umgang mit
den Ambivalenzen, der den Wortwechsel prägt, geht hier einmal in den Be-
reich der exacerbatio über. Während der Folter wird der Märtyrer vom Pro-
consul Quintillianus aufgefordert, Vernunft anzunehmen. Pionius erwidert:
"Ich bin nicht unvernünftig, sondern ich fürchte den l e b e n d i g e n Gott
(ζώντα Θεόν)". Darauf wiederum der Proconsul: "Viele andere haben geop-
27 Mart. Pion. 6, 1 (S. 144 Musurillo). Es ist daher nicht richtig, wenn Berschin (wie
Anm. 16) S. 42 im Hinblick auf den Wortwechsel in den 'Acta Scillitanorum' bemerkt: "Man
redet bewußt aneinander vorbei."
28 Ebd. 6, 5 (S. 144 Musurillo).
29 Ebd. 7, 3/5 (S. 144 Musurillo).
30 Nicht aber, wie es scheint, Hilhorst (wie Anm. 26) S. 461. Das ewige Straffeuer im
Gegensatz zum Tod durch Feuer: mart. Polycarp. 11, 2 (S. 10 Musurillo).
31 Christian Gnilka, Satura tragica. Zu Juvenal und Prudentius, in: Wiener Studien 103
(1990) S. 145/77, bes. S. 168ff. [in diesem Bande S. 230/62, bes. S. 252ff.].
[37/38] XIV. Der neue Sinn der Worte 329
fert und l e b e n und sind bei gesundem Verstand (και ζώσι και σω-
φρονοΰσιν)" 32 . Pionius hatte natürlich vom 'lebendigen Gott' in dem vollen
und tiefen Sinne der Hl. Schrift gesprochen, er hatte an den Gott gedacht, der
von Ewigkeit zu Ewigkeit lebt, an den wahren und lebendigen Gott im Gegen-
satz zu den Idolen, an den Gott, der das ewige Leben gibt und der Christus
zum Richter über Lebende und Tote eingesetzt hat33. Aber der Beamte kann
sich unter 'Leben' nur das irdische Dasein denken, unter dem 'lebendigen'
Gott nur einen, der das irdische Leben garantiert und den man allenfalls des-
wegen fürchten müsse, weil er die Macht hat, das irdische Leben zu beenden.
Bis zum Schluß des Verhörs zieht sich der Gegensatz hin: "Weshalb eilst du in
den Tod?", fragt der Richter, und der Gefolterte antwortet: "Nicht zum Tod,
sondern zum Leben". Aber der Beamte nimmt davon keine Notiz mehr. Er
beendet die Untersuchung mit dem Satz: "Da du in den Tod eilst, wirst du
lebendig verbrannt". Und entsprechend lautet der Urteilsspruch, der latei-
nisch formuliert und verlesen wird34. Die tiefere Bedeutung des Worts 'Leben'
bildet also hier einen Angelpunkt der Auseinandersetzung mit den Heiden,
und in diesem Punkte besteht durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Ver-
hör vor Pilatus, das um den Begriff 'König' kreist. Hier wie dort wird auch
das Dunkel des Mißverständnisses nicht erhellt. Pilatus bricht mit einer | weg-
werfenden Bemerkung ab, Quintillianus verharrt unbeweglich in seinen Denk-
gewohnheiten. In einem anderen Passionsbericht, in den 'Acta Apollonii',
kommt es wenigstens zu klarer Erkenntnis und Feststellung des mangelnden
Verständnisses. Nach einem ähnlichen Wortwechsel über den Sinn von 'Le-
ben' erklärt dort der Proconsul rundheraus: "Ich verstehe nicht, was du sagst",
und von einem Philosophen, allerdings einem Kyniker, muß sich der Märtyrer
die Bezeichnung σκοτεινόλογος gefallen lassen35. Das mag uns überraschen,
darf aber vielleicht als Hinweis darauf genommen werden, daß die hohe Spra-
che der Philosophie das allgemeine Sprachbewußtsein doch nicht so geprägt
hatte, wie das etwa die Lektüre Piatons erwarten lassen könnte: denn Philoso-
phie ist eben nicht Religion.
4.
Nicht immer sind die Dialoge derart durchwirkt von dem begrifflichen
Gegensatz. Öfters kommt er nur an einer einzelnen Stelle zum Vorschein.
Wohl unter M. Aurel litten die drei Märtyrer von Pergamon. Einer von ihnen,
Papylos, wurde gefragt36: "Hast du K i n d e r ? (τέκνα εχεις;)". Papylos
antwortete: "Ja, viele, Gott sei Dank! (και πολλά δια τον Θεόν)". Der Mär-
tyrer hätte dem Proconsul wohl immer als kinderreicher Familienvater gegol-
ten, wäre nicht unter den Zuschauern einer gewesen, der es besser wußte und
sich durch einen Zwischenruf bemerkbar machte: "Seinem Glauben, dem Glau-
ben der Christen gemäß, sagt er, er habe K i n d e r (κατά την πίστιν αΰτοΰ
των Χριστιανών λέγει τέκνα εχειν)!" Das heißt: das Wort τέκνα besitzt
einen neuen, vom alltäglichen Sprachgebrauch abweichenden, christlichen
Sinn37. Papylos spricht von 'Kindern' wie der Apostel, der die Galater anre-
det: "Meine Kinder (τεκνία μου), wieder leide ich um euch Geburtswehen,
bis Christus in euch Gestalt gewinnt"38. Der Proconsul, der das Verhör leitet,
ist zwar durch den Zwischenruf darauf aufmerksam geworden, daß die Ant-
wort des Christen nicht in dem Sinne gegeben wurde, in dem die Frage gestellt
war, aber er versteht die Antwort dennoch nicht oder läßt sich zumindest nicht
auf diese Aussage ein. Er bezichtigt den Märtyrer der Lüge: "Warum lügst du
und sagst du, daß du K i n d e r hast?" Papylos verteidigt sich: "Willst du
wissen, daß ich nicht lüge, sondern die Wahrheit sage? In jeder Provinz, in
jeder Stadt habe ich K i n d e r in Gott | (τέκνα κατά Θεόν)". Wir würden
wenig Verständnis für das Wesen christlicher Märtyrerfrömmigkeit beweisen,
wollten wir solchen Wortwechsel nur als müßiges Spiel auffassen, durch das
der Bekenner den geduldigen Richter hinhalte und langweile39. Denn wenn der
Christ vor dem heidnischen Richter steht, dann spricht nicht er, sondern der
Geist Gottes in ihm. So hatte es Christus verheißen40, und so wurde das Be-
kenntnis des Märtyrers in der Alten Kirche aufgefaßt. Allen seinen Worten,
mochten sie nun im Gerichtssaal gesprochen sein oder auf der Folterbank,
wurde ein Wert zuerkannt, den die ultima verba selbst des größten Tugendhel-
den für die vorchristliche Antike nie besessen hatten41. Deshalb hat es auch
seinen vollen Sinn, wenn Papylos darauf besteht, die Wahrheit gesagt zu ha-
ben: sein Kinderreichtum ist eben eine Tatsache, eine geistige, aber darum
nicht eine, die einen geringeren Grad an Wahrheit und Wirklichkeit besitzt,
und wenn er sich entschließt, seine Antwort 'in jener Stunde' auf die höhere
Realität zu beziehen und sie zu einem freudigen Bekenntnis zu nutzen und zu
einer besonderen Ermutigung für alle, die ihn verstehen, dann ist das jeden-
falls viel mehr als ein spitzfindiges Wortspiel. Dabei braucht sich die Frage,
ob wir den authentischen Wortlaut des Verhörs besitzen, zunächst gar nicht in
den Vordergrund zu drängen: der Text, ganz gleich, von wem er stammt, will
so gelesen werden.
5.
39 Musurillo (wie Anm. 24) S. XV zu unserer Stelle: "Papylus ... gratuitously annoys the
patient proconsul by an ambiguous answer". Besser Berschin (wie Anm. 16) S. 44 mit Bezug
auf dasselbe Beispiel: "Die christliche Verkündigung hat gebräuchliche Wörter mit neuem Sinn
erfüllt, hintergründig und unfest gemacht".
40 M t . 10, 19f.
41 Christian Gnilka, Ultima verba, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 22 (1979) S.
5/21, bes. S. 7f. In Auseinandersetzung mit Adolf von Harnack, Das ursprüngliche Motiv der
Abfassung von Märtyrer- und Heilungsakten in der Kirche, in: Sitzungsber. Akad. Berlin,
Philos.-hist. Kl. 7 (1910) S. 106/25, der die Entstehung der Akten überhaupt aus diesem Gedan-
ken ableiten wollte, hat Delehaye (wie Anm. 24) S. 153ff. seine Bedeutung zu stark einge-
schränkt. Daß er bei Cyprian keine Rolle spiele (ebd. S. 155), ist jedenfalls falsch.
42 Euseb. mart. Pal. 11, 9/13 (GCS 9, 2, 937ff.).
332 Prudentiana II. Exegetica [39/40]
43 Gal. 4,26; Hebr. 12,22. Vgl. Mt. 23,9: και πατέρα μή καλέσητε ύμών έπΐ της γης,
εΐς γάρ έστιν ύμών ό πατήρ ό ουράνιος.
44 Schön ausgedrückt von Friedrich Klingner, Rom als Idee: Römische Geisteswelt, Mün-
chen 51965, S. 665. Diese Umorientierung soll nicht nur die Liebe zu Rom, sondern auch die
Liebe zur Heimat im engeren Sinne, etwa zur afrikanischen Kleinstadt Calama, erfassen: vgl.
Aug. epist. 91, 1 (CSEL 34, 2, 427).
[40/41] XIV. Der neue Sinn der Worte 333
6.
45 Zu dieser Frage s. jetzt Hans Armin Gärtner, Die Acta Scillitanorum in literarischer
Interpretation, in: Wiener Studien 102 (1989) S. 149/67 mit weiterer Literatur. Nach Gärtner
formte ein gebildeter Christ das Verhör, indem er den Protokollstil zu paränetischem Zweck
benutzte. Aber daß er sich hierfür Material aus dem Archiv des Proconsuls besorgte, wird
zumindest für möglich gehalten (S. 166). Vgl. hierzu Berschins Bemerkung (wie Anm. 16) S.
39 über die "authentische Martyrerakte, die die historische Wissenschaft in einem jahrhunderte-
langen Aussiebungsprozeß suchte, der nahe an den Nullpunkt gefuhrt hat": die Einsicht, daß es
diese Akte nicht gebe, wird hier allerdings als befreiend empfunden (S. 41).
46 Act. Scill. 1/5 (S. 86 Musurillo).
47 Vgl. mart. Conon. 3, 2f. (S. 188 Musurillo): έ γ ώ γαρ πείθομαι τ φ μεγάλφ βασιλεΐ
Χριστώ. Im griechischen Text der 'Acta Scillitanorum' wird innerhalb der erweiterten Schluß-
partie (S. 117, Z. 19f. Robinson) der Gedanke der βασιλεία Gottes noch deutlicher betont, ein
Zeichen dafür, daß der Redaktor einen Wesenszug des originalen Texts erfaßt hat und das
Bedürfnis fühlte, ihn jedermann einzuprägen! Vgl. Berschin (wie Anm. 16) S. 42.
334 Prudentiana II. Exegetica [41/42]
mir ruhig zuhörst, werde ich dir das Geheimnis der E i n f a c h h e i t künden
(... dico myStenum simp lie it at is)". Im Munde des Heiden hatte simplex
trivialen Sinn: leicht durchzuführen. Zwei kultische Akte werden verlangt,
das ist alles48. Der Christ verbindet my Stenum und simplicitas zu einem Oxy-
moron, die beiden Momente der Einfachheit und der Tiefe darin sammelnd.
Die griechische Version bietet den Text: έρώ τό της άληθοΰς άπλότητος
μυστήριον. Eine der beiden jüngeren lateinischen Fassungen lautet: dicam
myStenum christianae simplicitatiS^. Das sind Versuche der Verdeutlichung.
Man könnte etwa so paraphrasieren: 'Ja, es gibt eine Einfachheit der Religion,
aber eine Einfachheit ganz anderer Art, als du meinst; eine Einfachheit, die du
nicht kennst, in die man eingeweiht werden muß'. Wir dürfen annehmen, daß
Speratus hauptsächlich den Gegensatz von Monotheismus und Polytheismus
im Auge hat; denn auf das Bekenntnis des Einen Gottes ist in den 'Acta
martyrum' alles abgestellt50. Im Vergleich zu den verschlungenen Pfaden der
Vielgötterei mit ihren zahllosen Kulten und Regeln ist aber der Glaube an den
Einen Gott von befreiender Einfachheit. So setzt etwa Lactanz der via multi-
plex | des Götzendienste die via simplex des Evangeliums entgegen51. Der
Gedanke, daß schon die Erkenntnis der Einzigkeit der Gottheit eine Verkür-
zung und Vereinfachung (compendium) aller religiösen Bemühungen bedeu-
tet, ist später auch ein Element der augustinischen Polemik gegen den Poly-
theismus geworden52. Vielleicht schwingt in dem Ausdruck, den Speratus wählt,
auch noch anderes mit: der Gegensatz zwischen Weltweisheit und Offenba-
rung53, der Gedanke an die Kraft des Glaubens und an die Menschwerdung
48 Die Gesinnung interessiert den Proconsul herzlich wenig. Die Stelle beweist, wie irre-
führend die heute beliebten Dezenzperiphrasen: 'Altgläubige' (statt: Heiden), 'die beiden Kon-
fessionen', 'die beiden Glaubenssysteme' (statt: Heidentum und Christentum) sind.
49 Der jüngere lateinische Text bei Theodoricus (Thierry) Ruinart, Acta martyrum, Re-
gensburg 1859, S. 132/34; der griechische bei J. Armitage Robinson, Texts and Studies 1, 2,
Cambridge 1891, S. 113/17.
50 Öfters kehren die Worte über den Einen Schöpfergott Act. 4,24 wieder; vgl. Bastiaensen
(wie Anm. 26) S. XXXVI. Gärtner (wie Anm. 45) S. 163 erinnert an 1 Tim. 3,9: τό μυστήριον
της πίστεως; ebd. 3, 16: τό μυστήριον της εύσεβείας und versteht den Ausdruck in den
Akten als Zusammenfassung christlichen Glaubensinhalts.
51 Lact. inst. 6, 7, 9 (CSEL 19, 507): Haec autem via, quae est veritatis et sapientiae et
virtutis et iustitiae, quorum omnium fons unus est, una vis, una sedes, et simplex est, quo
paribus animis summaque concordia unum sequamur et colamus Deum, et angusta ... eqs. Vgl.
dazu Gnilka (wie Anm. 21) S. 28/34 [in diesem Bande S. 496/98].
52 Aug. civ. 4, bes. 21/25 (<compendium: S. 171, 29; 173, 9/10 Dombart-Kalb).
53 Mt. 11, 25; vgl. Mt. 5, 3. An den Gegensatz zwischen Christiana simplicitas und Philo-
sophie (vgl. etwa Hier. c. Pelag. 3, 7: PL 23, 604 A) wird hier allerdings wohl kaum gedacht
sein.
[42/43] XIV. Der neue Sinn der Worte 335
7.
54 Dies ein Hauptgedanke in Augustins Brief an Volusianus (Aug. epist. 137, 12: CSEL
44, 111/14).
55 Act. Scill. 12 (S. 88 Musurillo): Saturninus proconsul dixit: Quae sunt res in capsa
vestral Speratus dixit: Libri et epistulae Pauli viri iusti. Hier kann et kaum anders denn als
explikativ aufgefaßt werden. Anders und dem Leser jede Denkarbeit ersparend die beiden spä-
teren Redaktionen: quatuor Evangelia Domini nostri Iesu Christi et Epistolas sancti Pauli apostoli
et omnem divinitus inspiratam Scripturam (S. 120 Robinson; ähnlich die andere Version S. 133
Ruinart). Auch der griechische Redaktor suchte, wenngleich zurückhaltender, Klarheit zu schaffen:
αί καθ' ημάς βίβλοι καν ai προσεπιτούτοις έπιστολαί Παύλου τοΰ οσίου άνδρός (S. 115,
Ζ. 26f. Robinson).
56 Vgl. Bastiaensen (wie Anm. 26) S. 410 z. St.
57 Gärtner (wie Anm. 45) S. 163 versteht das Verbum im technischen Sinne: 'in den Mysterien-
kult einweihen'. Man sagt allerdings gewöhnlich: initiare Cereri, Bacchis, mysteriis etc. (ThLL
7, 1, 1649, 79ff.; 1650, 59ff.), während hier der Akkusativ steht. Man käme also mit der weiteren
Bedeutung 'einfuhren', 'beginnen' aus (ThLL 7, 1, 1651, 73ff.), vgl. z.B. Min. Fei. 7, 2 (,maiores
nostros) initiasse ritus omnium religionum; Cypr. epist. 76, 2 (CSEL 3, 2, 829, Z. 4): initiastis
confessionis vestrae religiosaprimordia. Die griechische Fassung (S. 113, Z. 18f. Robinson) und
die beiden jüngeren lateinischen (S. 118f. Robinson) glätten in diesem Sinne: έναρξαμένου σου
πονηρά λέγειν, incipienti tibi dicere malum (dicente te de mysterio non inferam mala).
336 Prudentiana II. Exegetica [43]
Manche Begriffe, 'Leben' etwa oder 'Kaiser' (Imperator), bilden häufiger Kri-
stallisationspunkte des geistigen Gegensatzes, andere, wie 'Kinder' oder 'Va-
terland', erhalten plötzlich solche Rolle zugeteilt, weil der Gang des Gesprächs
den Wechsel zur geistigen Ebene gerade an solchem Punkte nahelegte oder
weil eben der Sprecher bzw. der Autor hier eine Möglichkeit oder Notwendig-
keit erblickte, einen Gegensatz zu schaffen. Stand ein Soldat vor dem Richter,
hatte er reiche Gelegenheit, seine Absage an die heidnische Welt auf die knappste
Art auszudrücken, indem er die militia Christi dem Dienst im Heere entgegen-
stellte. Die Acta des Soldatenmärtyrers Maximilian, der am 12. März 295 zu
Tebessa verhört wurde, zeigen, wie der junge Mann sein Bekenntnis und seine
Weigerung, Kriegsdienst zu leisten, in kurzer und zugleich ausdrucksstarker
Weise zu begründen weiß, indem er, den Fragen des Proconsuls sich anpas-
send, dieselben Wörter benutzt, ihnen tieferen Sinn gibt und so die unsichtbare
Realität gegen die sichtbare, den geistlichen Sinn gegen den alltäglichen setzt:
non milito saeculo, sed milito Deo meo; tion accipio signaculum, iam habeo
signum Christi Dei meiSi. Man darf hier nicht bloße Bildrede erkennen. Denn
für den Christen war die darin enthaltene Analogie etwas Wirkliches, das er
lebendig empfand59. So deutlich, wie das überhaupt nur möglich ist in einem
Text, der ein gerichtliches Verhör wiedergibt oder doch ein Protokoll nachbil-
det, bringt das der folgende Satz heraus: Ego Christianus sum, non licet mihi
plumbum collo portare post signum salutare Domini mei Iesu ChristifiliiDei v/v/,
quem tu ignoras... eqs.40 Die Realität des Siegels, das der Christ bei der Taufe
empfängt, ist keine geringere als die der Kennmarke, die der Soldat um den
Hals trägt61. Und es kommt viel darauf an, will man diese Texte recht verste-
hen, die mystische Realität, auf die sich solche Rede bezieht, gelten zu lassen.
58 Act. Maxim. 2, 1. 4 (S. 244. 246 Musurillo). Weitere Beispiele aus den Akten der
Soldatenmärtyrer bei Berschin (wie Anm. 16) S. 42f.
59 Adolf von Harnack, Militia Christi, Darmstadt 21963, S. 35: "Man kann hier nicht mehr
von einem bloßen Bilde sprechen: Tertullian und die lateinischen Christen mit ihm empfinden
sich wirklich und förmlich als Soldaten Christi".
60 Act. Maxim. 2, 6 (S. 246 Musurillo). Bastiaensen (wie Anm. 26) S. XXXV schreibt
diese "mini-catechesi" dem Redaktor zu - für uns ist diese Frage hier von zweitrangiger Bedeu-
tung.
61 Vgl. Bastiaensen (wie Anm. 26) S. 492 zu: signetur und S. 493 zu: post... vivi, jeweils
mit Literatur. Er versteht unter dem christlichen Siegel näherhin das Kreuzzeichen, das der
Katechumene beim Eintritt ins Katechumenat auf der Stirn empfing. An die Taufe denken
Musurillo (wie Anm. 24) S. 247 Anm. 5 und Enrico di Lorenzo, Gli Acta S. Maximiliani
Martyris, Napoli 1975, S. 45.
[43/44] XIV. Der neue Sinn der Worte 337
II.
1.
Wir müssen hier unseren Gedankengang verlassen und uns einigen all-
gemeineren Überlegungen zuwenden. Die Märtyrerakten, die als historisch
glaubwürdig angesehen werden, bilden eine verhältnismäßig kleine Gruppe
vielgestaltiger Texte, die Briefe, Prozeßakten, Aufzeichnungen der Märtyrer
selbst, Erzählungen u.a. enthält62. Ihre Vielgestaltigkeit beweist, daß sie nicht
nach einem äußeren Plan | entstanden sind, sondern sozusagen von innen
heraus: aus dem Wunsch, das Gedächtnis des Märtyrers zu erhalten und über
den Ort des Martyriums hinaus zu verbreiten, auf daß durch die Vergegenwär-
tigung der Ereignisse, wie es in der 'Passio Perpetuae' heißt, Gott geehrt und
der Mensch gestärkt werde63. Und auch die Verlesung der Akten ist in diesem
Text bereits bezeugt64. Daß die Verfasser außerdem noch an einer bestimmten
Literaturform der vorchristlichen Antike Maß genommen hätten, läßt sich nicht
erweisen. Die alte These, die exitus illustrium virorum, eine Sonderform
historiographischer Schriftstellerei der frühen Kaiserzeit, hätten als Vorbild
gedient, scheint heute zurückgedrängt65. Die These verdient nur insofern Er-
wähnung, als gerade ein Seitenblick auf diese Literatur bzw. auf das in ihr sich
offenbarende Interesse über die Eigenständigkeit der Märtyrerakten belehrt.
Von jener Literatur selbst haben wir zwar nichts; allenfalls gewisse Sterbesze-
nen bei Tacitus und einige Pliniusbriefe mögen einen Eindruck davon geben.
Aber schon die bloße Bezeichnung: exitus illustrium virorum genügt uns66. In-
teressant ist für den antiken Literaten und sein Publikum nicht, wie ein alter Soldat
stirbt oder ein junger Rekrut oder eine Sklavin. Interesse finden die mortes
solcher Männer, die im L e b e n etwas Besonderes waren, deren Tod die Auf-
merksamkeit verdient, weil ihr Rang, ihre Persönlichkeit im L e b e n bemer-
62 Vgl. zum Folgenden bes. Delehaye (wie Anm. 24) S. 150ff.; einen Überblick (mit Lit.)
gibt Bastiaensen (wie Anm. 26) in der Einleitung der italienischen Ausgabe S. IXff.
63 Pass. Perp. 1, 1 (S. 106 Musurillo). Vgl. Pass. Marian. 1, 3 (S. 194 Musurillo) und
Euseb. h. e. 5, 2 (GCS 9, 1, 400) über den Zweck seiner eigenen (verlorenen) Sammlung der
Märtyrerakten.
64 Pass. Perp. 1, 5 (S. 106 Musurillo). Vgl. Baudouin de Gaiffier, La lecture des actes des
martyrs dans la priöre liturgique en Occident, in: Analecta Bollandiana 72 (1954) 134/66. Ferner
s. unten 340f. mit Anm. 78.
65 Gegen sie wandte sich schon Delehaye (wie Anm. 24) S. 159f.; sie lebte aber fort: s.
Gnilka (wie Anm. 41) S. 5f. und Bastiaensen (wie Anm. 26) S. X/XII.
66 Vgl. Plin. epist. 8, 12, 4 über Titinius Capito: scribit exitus illustrium virorum.
338 Prudentiana II. Exegetica [44/45]
kenswert waren. Nehmen wir an, unter den Opfern Neros hätte sich ein gänz-
lich unbekannter junger Mann aus irgendeinem Nest in Numidien befunden:
würde wohl jener C. Fannius, der über das Ende der von Nero Verbannten
und Ermordeten schrieb, seinen Tod auch nur eines Worts gewürdigt haben67?
Doch sicher nicht! Was ist an dem jungen Maximian, das die Aufmerksamkeit
eines antiken Schriftstellers hätte erregen können, was an Perpetua und Felicitas?
Wieviele unter den Märtyrern sind nicht einfache Menschen, über deren Le-
ben wir fast gar nichts wissen und die nur durch den Tod Bedeutung erlangten!
Für sie alle gilt, was Angelus Silesius sagt68:
Wie also ein Held der stoischen resistance stirbt, ist interessant, weil er im
Leben berühmt war. Wie ein christlicher Märtyrer stirbt, ist interessant, ob-
wohl er im Leben völlig unbedeutend war. Der Unterschied betrifft keine
Kleinigkeit. Darin zeigt sich die ganze andere Auffassung von der Bestim-
mung des Menschen. Die Passionsliteratur ist also ihrem Wesen nach etwas
Neues, teilweise auch der Form nach. Dies darf wohl im Hinblick auf die Ge-
richtsprotokolle gesagt werden, deren Gestalt durch einige Texte recht getreu
bewahrt wird. Denn die gerichtlichen acta oder gesta gehören auch nach an-
tiker Auffassung ins Archiv, nicht vor das Publikum, mag auch der Protokoll-
stil gelegentlich bewußt aufgegriffen worden sein69. Die Wiedergabe so vieler
67 Vgl. Plin. epist. 5, 5, 3: scribebat... exitus occisorum aut relegatorum a Nerone et iam
tres libros absolverat subtiles et diligentes et Latinos atque inter sermonem historiamque medios
... eqs.
68 Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann 4, 106 ('Von den Märtyrern'). Zum
Ausdruck "schöner Tod", den man recht verstehen muß, ist Prudentius per. 1, 28: pulchra res
und per. 13,46: pulchrae necis zu vergleichen, außerdem per. 1,25: hoc genus mortis decorum;
1, 51: dulce tunc iustis cremari, dulceferrum perpeti\ 13, 73: decus egregium. Mit Horazens
dulce et decorum pro patria mori (carm. 3, 2, 13) - derartige Sätze waren der Jugend nach dem
Kriege verhaßt, und sie sind es wohl auch heute noch - dürfen solche Aussagen nicht ohne
weiteres gleichgesetzt werden, wenn auch anzunehmen ist, daß Prudentius römisches Wert-
gefühl bewußt nutzt und umorientiert; <dazu in diesem Bande S. 440/42 >.
69 Hierüber s. Gärtner (wie Anm. 45) S. 150/57. Das vielverhandelte Problem der sog.
'Acta Alexandrinorum', die auf Papyrus sehr bruchstückhaft erhalten sind, lasse ich hier beisei-
te. Vgl. Delehaye (wie Anm. 24) S. 161ff. und die kommentierte Ausgabe von Herbert A.
Musurillo, deren Titel: 'The Acts of the Pagan Martyrs' (Oxford 1954 [Teubneriana: Leipzig
1961]) allerdings irreführt - dazu meine Bemerkung (wie Anm. 41) S. 6 Anm. 11; einen Über-
blick gibt wiederum Bastiaensen (wie Anm. 26) S. XVI/XX.
[45/46] XIV. Der neue Sinn der Worte 339
2.
70 So lassen sich etwa die typischen Motive diaskeuastischer Tätigkeit: Vereinfachung und
Verdeutlichung, in musterhafter Weise der griechischen Übersetzung und den beiden jüngeren
lateinischen Fassungen der 'Acta Scillitanorum' entnehmen; vgl. oben S. 334 und Anm. 55. 57.
71 Aug. epist. 29': CSEL 88 (ed. Johannes Divjak: 1981) S. 137f. Der Editor setzt den
Brief ins Jahr 422, kurz vor das Erscheinen der Ambrosiusvita Paulins (ebd. S. LXVIIf.). In der
neueren Ausgabe der Briefe plädiert Yves-Marie Duval für ein Datum nach der Vita, die aber
ins Jahr 412 zu setzen sei: (Euvres de Saint Augustin 46 B. Lettres Γ-29', Nouvelle Edition du
texte critique et introduction par Johannes Divjak. Traduction et commentaire par divers auteurs
(Etudes Augustiniennes 1987) S. 574.
72 Zu den Termini gesta, acta vgl. Jürgen Scheele, Buch und Bibliothek bei Augustinus,
in: Bibliothek und Wissenschaft 12 (1978) S. 14/114, hierS. 39f.; im allgemeinen Egon Weiss,
Art. Gesta, in: PW Suppl. 6 (1935) Sp. 73f.; 7 (1940) Sp. 207f.; Dieter Medicus, Art. Gesta,
in: Kleiner Pauly 2 (1979) Sp. 785.
340 Prudentiana II. Exegetica [46]
über die Sache geführt habe, mißverstanden haben. Er habe sein Interesse für
solche Angaben geäußert, die in den gesta forensia nicht zu finden seien.
Derartige zusätzliche Hinweise, welche das Wissen über die Märtyrer in er-
freulicher Weise ergänzten, habe Ambrosius geben können, und auch der un-
bekannte Redaktor der Cypriansakten habe mit Einzelzügen aufwarten kön-
nen, die in den gesta forensia fehlten73. Dazu sei er selbst nicht in der Lage.
Und er wiederholt: "Wenn ich nur mit eigenen Worten das nacherzähle, was
ich in den gesta publica lese, werde ich es eher entstellen als erhellen (decolorare
idpotius quam illustrare conabor)"1*. So hoch also schätzte der große Rhetor
und Literat den nüchternen Bericht der amtlichen Protokolle!
3.
Wir dürfen andrerseits nicht sehr überrascht davon sein. Nicht nur, daß
wir Augustinus über den Mangel an gesta martyrum klagen hören, die zu den
Märtyrerfesten hätten verlesen werden können, wie dies das Konzil von Hippo
im Jahre 393 ausdrücklich erlaubte75! Auch sonst offenbart sich seine Neigung
zu authentischen Dokumenten. So ließ er alljährlich zur Zeit des vierzigtägigen
Fastens die Akten des Religionsgesprächs (gesta collationis) verlesen, das im
Jahre 411 mit den donatistischen Bischöfen geführt worden war. Zweck dieser
Lesungen war es, die ehemaligen Anhänger der Donatisten, die zur katholi-
schen Kirche zurückkehrten, in ihrer Entscheidung zu bestärken. Wiederum
einer der neugefundenen Briefe, gerichtet an Bischof Novatus von Sitifis, ver-
sorgt uns mit wertvollen Nachrichten über Einzelheiten76. Wir erfahren, daß
diese Lesungen von der Liturgie streng getrennt waren. Sie wurden zwar in
der Kirche abgehalten, aber nur deswegen, weil der Kirchenraum viele Men-
73 Es ist nicht bekannt, welche Ambrosiusschriften Augustinus im Auge hat. Aus den
Cypriansakten nennt er als Beispiel eine Anweisung des Märtyrerbischofs, die von der unge-
minderten Hirtensorge während der letzten Nacht zeugt: Act. Cypr. 2, 5 (S. 170f. Musurillo).
Vgl. dazu Duval (wie Anm. 71) S. 576/79, zum Text des Briefs an dieser Stelle Schäublin (wie
Anm. 74) S. 59.
74 Aug. epist. 29*. 3 , 2 (CSEL 88,138). Dazu s. Christoph Schäublin, Zwei Bemerkungen
über Literatur in den neuen Augustinus-Briefen, in: Museum Helveticum 47 (1984) S. 54/61,
hierS. 57/61.
75 Aug. serm. 315, 1 (PL 38, 1426); Cone. Hippon. a. 393 (CCL 149, 21, Z. 45f.); vgl.
breviarium Hippon. 36 d (ebd. 43, Z. 207f). Vgl. Duval (wie Anm. 71) S. 574f.
76 Aug. epist. 28', 2f. (CSEL 88, 134f.). Über die Datierung (418) und den Adressaten
(Novatus oder Novatius?) s. Divjak S. LXVII der Einleitung, ferner Serge Lancel in der franzö-
sischen Ausgabe (wie Anm. 71) S. 568/73, der für ein etwas früheres Datum (zwischen 415 und
417) eintritt.
[46/47] XIV. Der neue Sinn der Worte 341
sehen faßte und dort Gläubige beiderlei Geschlechts als Hörer zugelassen wa-
ren - Frauen in Rezitationssälen dürfen wir uns also nicht denken77. Aber
sonst geschah alles so, als fänden die Lesungen in einem Privathaus | statt
(tamquam siprivatim in domo legerentur, sc. gestä), d.h. Lektor und Gemein-
de durften sitzen, der Lektor brauchte nicht seinen erhöhten Platz einzuneh-
men und seinen Kapuzenmantel (casula) abzulegen. Der Abstand zur Lesung
der kanonischen Schriften sollte auf diese Weise festgehalten werden, wie
denn auch Augustinus betont, daß diese Lesungen den Lesungen aus der Hl.
Schrift und der Feier des Sakraments voraufgingen. Die Angaben in dem neu-
en Brief erklären vielleicht auch, wie wir uns die Rezitationen der Märtyrer-
akten vorzustellen haben, die wohl, wie man schon früher annahm, von der
Schriftlesung und der liturgischen Feier abgesetzt waren78. Augustinus ermun-
tert den Adressaten, die Praxis solcher Lesungen, die damals in Carthago, in
Hippo und in einigen anderen Städten geübt wurde und von der er wünschte,
sie möge sich in ganz Afrika durchsetzen, in seiner Bischofsstadt einzuführen:
die gesta collationis, aber auch alle anderen Schriften, die dem angestrebten
Ziel dienlich sein könnten, empfahl er zur Lesung, wie er denn selbst die
Erfahrung gemacht hatte, daß der Vortrag seiner Spezialschrift zur Sache (Ad
Donatistas post collationem liber unus), die im Anschluß an die gesta zur
Verlesung kam, bei der Gemeinde allergrößten Beifall fand. Wir beobachten
hier also, wie ein Schrifttum, das einen - wenn auch durch Redaktion korri-
gierten79 - Abdruck amtlicher Mündlichkeit wiedergibt, durch den Vortrag
vor dem Kirchenvolk neu belebt wird, aus den Archiven in den Bereich der
Rede zurückkehrt, eine Bedeutung erhält, wie sie nur aus dem dogmatischen
Charakter der neuen Religion erklärlich ist, und eine Verbreitung unter den
Massen, wie sie protokollarisches Material in der Antike niemals hatte und
auch nicht haben konnte.
77 Insofern liefert der Brief vielleicht auch einen indirekten Hinweis darauf, wo die Rezita-
tion der Gedichte Paulins v. Nola stattfand. In diesem Sinne sind meine Bemerkungen: 'Züge
der Mündlichkeit in spätlateinischer Dichtung', in: Strukturen der Mündlichkeit in der römi-
schen Literatur, hg.von Gregor Vogt-Spira, Tübingen 1990, S. 237/55, hier S. 254f. [in diesem
Bande S. 220f.j zu ergänzen.
78 Vgl. Bastiaensen (wie Anm. 26) S. XX/XXIV in Auseinandersetzung bes. mit Giuseppe
Lazzati, Gli sviluppi della letteratura sui martiri nei primi quattro secoli, Torino 1956; zum
Ganzen s. auch Hans Urner, Die außerbiblische Lesung im christlichen Gottesdienst, Göttingen
1952, S. 39/42.
79 Vgl. Serge Lancel in der Einleitung zur Ausgabe der 'Gesta collationis': Actes de la
conference de Carthage en 4 1 1 , 1 (Sources Chr6tiennes 194) Paris 1972, S. 346/53, mit der dort
angeführten Literatur. In dem Augustinusbrief könnte statt der Schrift Ad Donatistas post
collationem vielleicht auch der Breviculus conlationis gemeint sein: s. Lancel in der französi-
schen Ausgabe der Briefe (wie Anm. 71) S. 407 Anm. 6.
342 Prudentiana II. Exegetica [47/48]
4.
Jahres 425 wurde Paulus plötzlich, als er die Schranken der Stephanus-Memoria
zu Hippo berührte, von seinem Leiden befreit, und die ganze Gemeinde, die
zum Gottesdienst am Ostermorgen versammelt war, brach in Jubel aus. Au-
gustinus fand, in diesem Falle ersetze der Anblick des Geheilten den Bericht
über die Heilung (libellus huius aspectus est)89, versprach aber am Ostermon-
tag dennoch für den folgenden Tag die Rezitation eines libellus, die auch wirk-
lich stattfand90. Dieser libellus, der über die düstere Vorgeschichte der Er-
krankung unterrichtet, ist unter den Predigten Augustins erhalten. Er mag
nach Diktat des Geheilten niedergeschrieben worden sein91. Während der Le-
sung am Dienstag nach Ostern standen die Geschwister beide auf den Stufen
der Exedra: Paulus gesund auf festen Beinen, Palladia noch immer am ganzen
Leibe schlotternd. Aber unmittelbar nach der Rezitation, während der Bischof
noch predigte, wiederholte sich das Wunder auch an ihr92. Hier greifen Schrift-
lichkeit und Mündlichkeit auf seltene Weise ineinander, und wir erleben aber-
mals, wie aus dem Wesen der Religion ein Schrifttum entsteht, das ganz auf
Authentizität gerichtet ist. Denn die Verlesung der libelli sollte selbstverständ-
lich die Verehrung der Märtyrer stärken, deren Sinn Augustinus in der Nach-
ahmung der Heiligen erblickt93. Darüber hinaus zeigt der Zusammenhang, in
dem die Sache | im 'Gottesstaat' besprochen wird, daß das Unternehmen der
Bischöfe tief im Dogma gründet. Denn Augustin sieht in den Heilungswundern
und Totenerweckungen wertvolle, wenn auch nicht geradezu notwendige Be-
weise für die Auferstehung Christi und für die Lehre von der leiblichen Aufer-
stehung94. Auch muß sich die landläufige Ansicht, derlei Berichte verdankten
ihre Verbreitung der Wundersucht des Volks, ziemliche Abstriche gefallen
lassen. Denn was der Bischof von Hippo beklagt, ist die Tatsache, daß solche
Wunder meist unbekannt blieben und daß sogar die Existenz jener libelli und
ihre Verlesung dem Mißstand kaum abhelfen könnten95.
5.
96 Vgl. hierzu Gnilka (wie Anm. 41) S. 6 mit Anm. 7 und besonders Rainer Henke,
Studien zum Romanushymnus des Prudentius, Frankfurt a.M. 1983, S. 74/81.
97 Is. 65, 1 LXX; vgl. Basil, hom. 18, 3 (PG 31, 497 B).
98 Basil, ebd.: έξεβόησε (ό Γόρδιος) την φωνήν έκείνην, ής μέχρι τοΰ νΰν είσί τίνες
οί άκούσαντες ... κτλ.
[50] XIV. Der neue Sinn der Worte 345
dunkle Kunde' (άμυδρά τις φήμη) der Vorgänge erhalten". Gerade darum
betont der Bischof einleitend den Wert wahrheitsgetreuer Berichterstattung.
Er vergleicht seinen Versuch, über das Martyrium des Gordios zu predigen,
mit der Aufgabe solcher Maler, die Bilder nach Bildern malen und so vom
Original weit abkommen. Auch für sich selbst sieht er die große Gefahr, er
könne, weil er nicht aufgrund eigener Anschauung der Tatsachen rede, der
Wahrheit schaden100. Trotzdem scheut er sich durchaus nicht, dem Märtyrer
im Laufe seiner Darstellung weitere direkte Reden (an den Richter, die Folter-
knechte, die Mitbrüder) in den Mund zu legen, ja zum Schluß läßt er ihn sogar
eine Ansprache halten, die zwei Migne-Spalten füllt101. Hier geht offenbar die
Predigt des Bischofs in die Predigt des Märtyrers über - oder umgekehrt, ohne
daß Basilius selbst oder seine Gemeinde empfunden hätten, es könne damit
etwa jene Akribie der Berichterstattung verletzt werden, die eingangs gefor-
dert ward102. Oder als stünde solches Verfahren im Gegensatz zu der Ankündi-
gung: "Ich will sagen, was ich weiß (soviel ich weiß)": εϊπωμεν οσα οιδαμεν103.
Wie Thukydides seine Personen so reden läßt, wie es die Situation erfordert
und wie es dem Gesamtsinn dessen entspricht, was wirklich gesagt wurde104,
so bringt auch Basilius, das Verfahren der antiken Historiographie nutzend,
die ξύμπασα γνώμη heraus, die er in dem ganzen Martyrium erkannte. Aber
die Verpflichtung zur Wahrheit ist für den christlichen Autor eine ungleich
höhere als für den antiken Historiker; denn sie gründet nicht nur in der Ver-
antwortung gegenüber den historischen Tatsachen und dem Publikum, das
über sie belehrt werden soll, sondern darüber hinaus in der Verantwortung
gegenüber Christus, der mit dem Märtyrer leidet, und gegenüber dem Hl.
Geist, der aus ihm spricht. Die Erfüllung dieser Verpflichtung setzt wiederum
den Beistand Gottes voraus. Und auf ihn sieht sich der Hagiograph besonders
dann angewiesen, wenn er vor einer schwierigen Aufgabe steht105.
6.
Wie Basilius blickten viele Autoren der Zeit nur auf eine dunkle Kunde
zurück, wenn sie über die Märtyrer berichteten. Oft lagen Jahrhunderte zwi-
schen ihnen und den Ereignissen; die Akten, falls es sie gegeben hatte, waren
verschollen oder vernichtet106; die Erzählungen waren von Mund zu Mund
gegangen, hatten | sich vermischt und sagenhafte Überlieferung gebildet. Aus
diesem dunklen Grund steigen seit Beginn des Kirchenfriedens allenthalben
die Legenden empor. Der Übergang in das Schrifttum vollzieht sich an ver-
schiedenen Stellen und aus unterschiedlichen Anlässen: in Predigten und Viten
etwa oder in Hymnen und Epigrammen107. Am unmittelbarsten zeigt er sich
uns in den Damasus-Inschriften, vor allem in den originalen Marmortafeln,
deren sich einige ganz oder teilweise erhalten haben108. Hier ist der kühne
Schritt heraus aus der Unsicherheit und Veränderlichkeit mündlichen Erzählguts
hin zur Festigkeit und Verbindlichkeit eines monumentalen Schrifttums in sel-
tener Klarheit faßbar, hier ist die Märtyrerfrömmigkeit auf sinnfällige Weise
in den Bereich der spätantiken Schriftkultur erhoben. Mit den Versen des
Papstes, die sein Freund Furius Dionysius Filocalus in herrlichen Lettern mei-
ßelte109, hat die römische Schriftkunst den verehrten Heiligen ihr Bestes gege-
ben. Und doch ist der Kontrast zwischen dem Hell und Dunkel der monumen-
talen Schriftlichkeit und der mündlichen Tradition auf diesen Tafeln nicht völ-
lig gelöscht. Es hat einen eigenartigen Reiz, ein feierliches Elogium auf Stein
zu betrachten, das mit den Worten beginnt110: FAMA REFERT, oder in der
letzten Zeile eines solchen Denkmals zu lesen111: HAEC AVDITA REFERT
DAMASVS PROBAT OMNIA XPS. Zwar verfügte Damasus über das päpstliche
Archiv, das er besonders pflegte und baulich verschönerte112, aber eben auch
106 Vgl. Prud. per. 1, 73ff.: Ο vetustatis silentis obsoleta obliviol Invidentur ista nobis,
fama et ipsa extinguitur, Chartulas blasfemus olim nam satelles abstulit, ... eqs.
107 Zur genaueren Beschreibung der Vorgänge, insbesondere zur Scheidung zwischen volks-
tümlicher Überlieferung und Arbeit der Hagiographen s. Hippolyte Delehaye, Les Ligendes
hagiographiques, Brüssel 41955, S. 12ff. 57ff.
108 Epigrammata Damasiana, recensuit et adnotavit Antonio Ferrua, Rom 1942.
109 Hierüber Ferrua (wie Anm. 108) praef. S. 21ff. Der Name des Steinmetzen: Epigr.
Damas. 18 und 27, wo er sich cultor adque amator des Papstes nennt. Vgl. auch Theodor
Mommsen, Über den Chronographen vom Jahre 354, in: Abhandlungen der Königlich Sächsi-
schen Gesellschaft der Wissenschaften, Philolog.-hist. Kl. 1, Leipzig 1850, S. 547/693, hier S.
607ff. Ders., Chronica minora (MGH AA 9, 1, Berlin 1892 [1961]) S. 15ff.
110 Epigr. Damas. 37, 1 (auf die hl. Agnes). Die Tafel ist erhalten und ist an der Wand
unterhalb der Treppe zu S. Agnese fuori le Mura angebracht. Vgl. 48,1: Iam dudum, quodfama
refert... eqs.; 35, 1: Hippolytusfertur ... eqs.
111 Epigr. Damas. 35, 8 (Elogium S. Hippolyti), auf Stein nur fragmentarisch erhalten.
112 Epigr. Damas. 57 (Titulus Archivorum).
[51/52] XIV. Der neue Sinn der Worte 347
dort war offenbar nicht alles zu holen. In einem Fall gibt er uns selbst seine
Quelle an: der Scharfrichter hatte einst dem späteren Papst, als er noch Knabe
war, von der Hinrichtung der Märtyrer Petrus und Marcellinus erzählt und
den Platz ihres Grabes bezeichnet. Auch das setzte der Papst auf Stein113. So
heben diese Epigramme die mündliche Tradition wie auch die verborgene
schriftliche ans Licht und verleihen ihr Dauer. Auf der anderen Seite werden
sie für die folgenden Jahrhunderte zur Quelle der Märtyrerverehrung114, wie
überhaupt dem Inschriftenbestand in dieser Hinsicht besondere Bedeutung zu-
kommt. Pilger steigen in die Grüfte Roms hinab, suchen nach Inschriften,
studieren und kopieren sie115. Unter ihnen ragt der größte Dichter des christli-
chen Altertums hervor, der um das Jahr 400 nach Rom kam. In schönen | Ver-
sen, an den Bischof seiner spanischen Heimat sich wendend, berichtet Prudentius
vom Reichtum Roms an Märtyrergräbern und Inschriften116: wie er die Inschrif-
ten durchmusterte, ob er von den alten Monumenten etwas Neues erfahren
könne, und wie er so zum Hippolytusgrab gelangte, wo er ein Gemälde sah
und gewiß auch, wie wir annehmen dürfen, die Damasustafel las. Aber da er
weder Sammler war noch Maler, sondern Dichter, kopierte er nicht, sondern
machte aus beidem seine eigene Poesie: das elfte Gedicht der 'Märtyrerkränze'.
III.
1.
Hier ist der rechte Ort, den Faden wieder aufzunehmen, den wir vorhin
liegen ließen. Denn jetzt stehen wir vor der Frage, wie sich der semantische
Konflikt, den wir anhand der 'Passions historiques'117 beobachteten, in der
legendenhaften Tradition niederschlägt. Wenn dieser Konflikt wirklich einen
2.
118 Epigr. Damas. Nr. 33 Ferrua fiir die Basilica in agro Verano (S. Lorenzo fiiori le
Mura), dazu der Zweizeiler Nr. 58 Ferrua für die Kirche S. Laurentii martyris ad theatnm
Pompeium (S. Laurentius in prasino), die jetzt im Hof der Cancelleria ausgegraben ist. Vgl.
noch Nr. 33' Ferrua.
119 Ambras, off. 2, 140f. Ich zitiere - mit zwei Abweichungen (s. unten Anm. 120) - nach
der neuen Ausgabe von Maurice Testard, Saint Ambroise, Les Devoirs, 2 Bde, Paris 1984 und
1992: die Stelle hier Bd. 2, S. 72f. Im ersten Buch des Werks (Ambros. off. 1, 205/07: Bd. 1,
S. 196f. Testard) erscheinen Papst Sixtus (II.) und sein Diakon unter den exempla fortitudinis,
wobei ihnen der bekannte fromme Redestreit (contentio) in den Mund gelegt und auch das
Scherzwort des hl. Laurentius auf dem Rost erwähnt wird. Ambrosius erklärt, durch die Liebe
des Diakons zum Bischof werde die opferbereite Freundschaft zwischen Orestes und Pylades,
die im Theater lebhaften Beifall fand (er denkt an die Nachricht über Pacuvius bei Cie. Lael.
24), überboten. Ich zweifle sehr, ob man dies als Beleg dafür nehmen darf, "daß der dramati-
sche Gehalt der römischen Passio unmittelbar verstanden wurde", so Berschin (wie Anm. 16) S.
84. Die Vergleichspunkte sind andere. Der rauschende Beifall im Theater wird nur erwähnt, um
zu zeigen, wie sehr Sixtus und Laurentius alles der vorchristlichen Antike bekannte und vorstell-
bare Maß der Freundschaft und Tapferkeit übertrafen.
[53] XIV. Der neue Sinn der Worte 349
120 So suche ich zu fassen: in quibus Christi fides est: Also fides Christi gleich 'Verspre-
chen, Garantie Christi'. Der Name wird allerdings hier nur durch eine, wenn auch keineswegs
verächtliche, Handschrift bezeugt. Testard drucla: in quibus fides est und übersetzt (Bd. 2, S.
72): "en qui la foi est pr6sente". Fides meint dann Grund und Gegenstand des Glaubens, eben
Christus; vgl. Ambros. off. 1, 142 (Bd. 1, S. 163 Testard): fides enim omnium Christus. Im
folgenden: (Ioachim) et aurum vidit eripi et se in captivitatem deduci behalte ich das Pronomen
bei, das Testard in den Apparat verweist. Die Antithese umgreift die persönlichen Schicksale:
Jojachin wurde in Gefangenschaft geführt, Laurentius gekrönt.
121 Paulus spricht vom Licht der Gotteserkenntnis, das Gott in den Herzen der Glaubens-
boten entzündet hat. Es ist ein Schatz in irdenen Gefäßen, d.h. in schwachen, zerbrechlichen,
unwürdigen Menschen, auf daß die Fülle der Kraft, die vom Evangelium ausgeht, Gott zuge-
schrieben werde und nicht den Menschen. Das Zitat wird von Ambrosius in freier Weise aufge-
nommen, steht aber doch nicht unpassend, da gerade von den Armen, d.h. von den Geringsten,
die Rede ist und von Christus in ihnen.
350 Prudentiana II. Exegetica [53/54]
habt ihr mir getan'. Welche besseren Schätze hat Jesus als die, in
denen Er selbst gerne gesehen werden will? Diese Schätze zeigte
Laurentius und siegte, weil sie auch der Verfolger nicht wegneh-
men konnte. Daher mußte Jojachin, der das Gold | während der
Belagerung aufbewahrte und nicht zur Beschaffung von Lebens-
mitteln ausgab (4 Reg. 24, 8ff.), erleben, wie das Gold geraubt
und er selbst in Gefangenschaft geführt wurde. Laurentius, der
das Gold der Kirche lieber für die Armen aufwenden wollte als
für den Verfolger aufheben, empfing zum Lohn für d i e e i n -
z i g a r t i g e K l u g h e i t s e i n e r D e u t u n g die heilige
Krone des Martyriums."
3.
122 Joh. Chrys. hom. in Mt. 50, 3 (PG 58, 508), vgl. auch das Folgende: ebd. 4 (509). Aus
dieser Predigt zitiert die Fastenbotschaft des Papstes: L'Osservatore Romano, dt. Ausg., 21. Jahrg.
Nr. 7 vom 15. Febr. 1991, S. 1. Die Kirchenväter verstehen unter den Hungernden, Dürstenden
usw. (nach Mt. 25,35ff.) vorzugsweise die armen und demütigen B r ü d e r , d.h. Mitchristen.
Den Ausschlag gab Mt. 25, 40: Amen, dico vobis, quamdiu fecistis um ex his fratribus
meis minimis, mihi fecistis, in Kombination mit Mt. 5, 3: beati pauperes spiritu ... eqs. So
ausdrücklich Hier, in Mt. comm. IV 25, 40f. (PL 26, 197 A/B), der hierin wohl dem Origenes
[55] XIV. Der neue Sinn der Worte 351
"Willst du den Leib Christi ehren? Dann übersieh ihn nicht, wenn
er nackt ist! Ehre ihn nicht hier (in der Kirche) mit seidenen Ge-
wändern123, während du draußen zusiehst, wie er vor Frost und
Blöße zugrunde geht. Denn der, der sagte: 'Dies ist mein Leib'
(Mt. 26, 26) und d u r c h d a s W o r t d i e S a c h e b e -
s t ä t i g t e (τω λόγω τό πραγμα βεβαιώσας), der sagte auch
(vgl. Mt. 25, 42): 'Ihr saht mich hungern, und ihr habt mir nicht
zu essen gegeben', und (Mt. 25, 45): 'Was ihr einem von diesen
Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch nicht mir getan'."
Die Sätze des griechischen Kirchenvaters bezeugen, daß wir jeden Ge-
danken an ein bloßes Wortspiel fernhalten müssen. Chrysostomus zögert nicht,
diejenigen Worte, die im Zentrum der christlichen Religion und ihres Kults
stehen, heranzuziehen, um den Bezug auf eine Realität (πραγμα) einzuschär-
fen, der in beiden Herrenworten vorliegt - ohne daß man freilich daraus fol-
gern dürfte, er habe die Realitäten nicht unterschieden! Eben deshalb kann
sich auch Christus selbst dem hl. Martin in dem Gewandstück zeigen, das
dieser dem nackten Armen am Tor von Amiens gegeben hatte. Die Vision ist
ein besonderes Mittel, jene Realität sichtbar zu machen. So wird die Sache
folgt. Christus wird gespeist, getränkt, gekleidet usw. in den darbenden 'Heiligen' (d.h. Chri-
sten), in den 'Gläubigen', in Seinen 'Schülern': Orig. in Mt. comm. ser. 1 (GCS 38, 2, Z.
16ff.); 68 (ebd. 160, Z. lOff.); 72 (168, Z. 24; 169, Z. 13f.); 73 (172, Z. 23; 174, Z. 5/13); in
loh. comm. 1, 68 (GCS 10, 16, Z. 28f.); de or. 11, 2 (GCS 3, 322, Z. 23/27); in Ier. hom. 14,
7 (Sources Chr6t. 238, 80). In diesem Sinne auch Hil. in Mt. comm. 28, 1 (PL 9, 1063 C/D);
vgl. in Ps. 138, 31 (CSEL 22, 766); s. ferner Cyprian, de opere et eleem. 23 (CCL 3 A, 70f.,
Z. 491ff.); Clem. Alex, quis dives s. 30, 1 (GCS [17] 3, 179, Z. 25f.). Der Unterschied wird
aber nicht immer gemacht. Ausdrücklich auf alle Notleidenden bezieht Valerian. Cemel. hom.
7, 2 (PL 52, 713f.) das Herrenwort, ebenso Greg. M. in ev. 40, 10 (PL 76, 1310 B): omnes
ergo (sc. pauperes) venerandi sunt tantoque necesse est, ut omnibus te humiliare debeas, quanto
quis eorum sit Christus ignoras. Besonders voll und tief erfaßt ist der ganze Gedanke bei Petrus
Chrysol. serm. 14, 3f. (CCL 24, 89f.). Später stellte man beide Möglichkeiten vor: άδελφοϋς
δέ έλαχίστους καλεί (Mt. 25, 40) ή τους αύτοΰ μαθητάς ή πάντας άπλώς τους πένητας,
πας γαρ πένης άδελφός έστι τοΰ ΧριστοΟ κατ' αύτό τοότο, έπεΐ και ό Χριστός έν πενίςκ
δνηγαγεν (Theophyl. Bulg. in Mt. 25, 41/46: PG 123, 432 Β). In diesen Gedanken liegt zu-
gleich der wesentliche Unterschied zwischen weltlicher Wohltätigkeit und christlicher Barmher-
zigkeit: Leo M. serm. 45, 3 (CCL 138 A, 266f.): mundana benivolentia in iis quos adiuvat
habet fitiem, Christiana pietas in suum transit auctorem. Das Zweite Vaticanum hat das Lehr-
stück aufgenommen: Cone. Vat. Π, Const, dogm. de Ecclesia, Lumen gentium 8: Acta Apostolicae
Sedis 57 (1965) S. 12 = Das Zweite Vatikanische Konzil, Teil 1 (Lexikon für Theologie und
Kirche) Freiburg-Basel-Wien J1967, S. 172: (Ecclesia) omnes infirmitate humana afflictos amore
circumdat, imo in pauperibus et patientibus imaginem Fundaloris sui pauperis et patientis agnoscit
... eqs (imago widerspricht nicht der Realität, die in dieser Analogie zum Ausdruck kommt).
123 Die Homilie richtet sich gegen Habsucht und (falschen) Aufwand der Priester.
352 Prudentiana II. Exegetica [55/56]
auch an der berühmten Stelle der Martinsvita aufgefaßt: 'Martin, obwohl noch
Katechumene, hat m i c h mit diesem Gewand bekleidet', spricht der Herr zu
den Engeln124. Hier wird deutlich, daß die Wörter neue Bedeutungen anneh-
men, weil neue Sachen auftreten. Beim Bibeldichter Juvencus fmdet sich ein
Vers, der als Motto über diesem ganzen Kapitel der Sprach- und Geistesge-
schichte stehen könnte: Accipite ergo, novis quae sit sententia rebus™. Und
mit diesem Vers könnten auch viele Märtyrerreden überschrieben werden:
denn das wollen sie sagen, das ihren Richtern künden. Wie Speratus, der
Wortführer der Scillitanischen Märtyrer, eine Wendung des Proconsuls auf-
nehmend, vom mysterium simplicitatis spricht, so hätte sich auch Laurentius
bzw. Ambrosius auf das Geheimnis des (wahren) Schatzes oder auf das mySte-
num paupertatis berufen können126.
4.
Und doch merken wir dem Bericht bei Ambrosius, so knapp und sach-
lich er auch ausfällt, eine Eigentümlichkeit an, die, obwohl sie gerade das
Wesentliche des semantischen Konflikts hervortreten läßt, dennoch den Ein-
druck späterer Gestaltung solchen Konflikts erweckt: die Auseinandersetzung
über den Sinn der Worte wirkt hier handlungsbildend. Der Märtyrer wird auf
sein Versprechen hin, | die Schätze herbeizuschaffen, zunächst entlassen und
führt dann tatsächlich die Armen vor. Schwer vorstellbar, daß derlei während
der valerianischen Verfolgung im Jahre 258 sollte möglich gewesen sein! Man
ist versucht, sich die Sache bequemer zurechtzulegen, als Ausgangspunkt der
Legende etwa eine bloße Antwort des Märtyrers anzunehmen, wie wir sie aus
anderen Akten kennen. Aber das wäre müßige Vermutung127. Fest steht jeden-
124 Sulp. Sev. vita S. Martini 3, 3f. (Sources Chrdt. 133, S. 258). Der Bezug auf Mt. 25, 40
wird ausdrücklich hergestellt. - An dieses wichtige Zeugnis erinnert mich Heinz-Lothar Barth,
Bonn.
125 Juvenc. 2, 213 (CSEL 24, 51), in Ergänzung der Herrenrede an Nicodemus (zwischen
Joh. 3 , 1 2 und 3, 13). Auch sie setzt ja an dem Mißverständnis eines Worts an, das fur eine neue
Sache steht ('Wiedergeburt').
126 Vgl. oben S. 334 und Hil. in Ps. 138, 31 (CSEL 22,766): occultum igiturhoc mysterium
pit, quod esset Christus in nobis... revelation autem est Christum esse in nobis, in pauperibus
spiritu ... eqs. Letzterer Ausdruck (nach Mt. 5, 3) ist Hilarius' Interpretament zu Mt. 25, 40 (s.
Anm. 122).
127 Daß überhaupt die Pretiosen der kirchlichen Gemeinschaft sollten konfisziert werden,
paßt zur diokletianischen Verfolgung, nicht aber zur valerianischen; s. Pio Franchi de' Cavalieri,
S. Lorenzo e il supplizio della graticola, in: Römische Quartalschrift 14 (1900) S. 159/76, hier
S. 169f.; Hippolyte Delehaye, Recherches sur le 16gendier Romain, in: Analecta Bollandiana 51
[56/57] XIV. Der neue Sinn der Worte 353
5.
Ambrosius hat das Vorführen der Schätze auch seinem Laurentiushymnus
{Apostolorum supparem) verwoben130. Die Szene mußte hier kurz ausfallen,
sie | beansprucht aber immerhin drei von acht Strophen und enthält alle we-
sentlichen Momente. Befremden kann hier, daß das Betragen des Märtyrers
als 'List' aufgefaßt wird:
(1933) S. 34/98, hier S. 49 (S. 80ff. auch eine kritische Ausgabe der 'Passio SS. Xysti et
Laurentii')· Daß jedoch die Legende einzelne historisch wahre Züge bewahrt haben könne, hebt
Wilhelm van Gulik, in: Römische Quartalschrift 18 (1904) S. 286 in Auseinandersetzung mit
de' Cavalieri hervor, ähnlich Uga Boscaglia, La 'Passio S. Laurentii' di Prudenzio e le sue
fonti, Udine 1938, S. 20f.; hier S. 7/13 zur Datierung des Martyriums insgesamt.
128 Vgl. oben S. 332. Die Dramatik in der Laurentiuspassion betont auch Berschin (wie
Anm. 16) S. 82/84. Wenn er allerdings schreibt: " R e i n e s T h e a t e r [Sperrung von mir]
ist die berühmte Erzählung von der Suche nach den Schätzen der römischen Kirche", so ver-
deckt diese pointierte Formulierung den inneren - und nicht bloß literarischen - Strang, der
diesen legendären Bericht mit den Verhörszenen der früheren Akten verbindet.
129 Vgl. Ambros. epist. 75a (21a), 33 (CSEL 82,105): habeo aerarios, aerarii meipauperes
Christi sunt, hunc novi congregare thesaurum ... eqs. Zum Gedanken, daß man den Reichtum
rettet, indem man ihn für die Armen ausgibt, vgl. Aug. civ. 1, 10 (S. 18, 26ff. Dombart-Kalb)
mit dem Beispiel des hl. Paulinus von Nola.
130 Ambros. hymn. 14 bei Arthur Sumner Walpole, Early Latin Hymns, Cambridge 1922
(Nachdruck: Hildesheim 1966) = hymn. 13 bei Walther Bulst, Hymni latini antiquissimi LXXV.
354 Prudentiana II. Exegetica [57]
Unmöglich kann eine Handlung, die pie erfolgt - ganz gleich, ob man
dabei an die Verpflichtung gegenüber Gott denkt oder an die den Armen oder
dem bereits getöteten Papst Sixtus gegenüber131 - , etwas Böses sein, wenn man
denn überhaupt erwarten dürfte, in einem Hymnus derlei über den Geehrten
zu hören. Gewiß wird dem gierigen Verfolger der Gewinn entzogen, und in
diesem Sinne heißt es kurz darauf: avarus inlusus dolet. Andrerseits ist
bei Ambrosius nicht davon die Rede, daß der Diakon erst während der Verfol-
gung die Schätze eilends ausgebe oder daß er gar die ihm zugestandene Frist
dazu benütze, die Kirchenschätze an die Armen zu verteilen. Dieser Zug kommt
erst in der späteren Tradition hinzu132. Die römische Gemeinde besitzt gar
keine Reichtümer, weil sie die Bedürftigen immerfort unterstützt - das ist bei
Ambrosius vorausgesetzt. Die 'List' liegt demzufolge nicht in der eiligen Geld-
ausgabe, sondern allein darin, daß Laurentius sich Gelegenheit verschafft,
sein großes Lehrstück in Wort und Tat aufzuführen. Daher geht es in der
folgenden Strophe mit diesen Zeilen weiter:
21 spectaculum pulcherrimum!
egena cogit agmina
inopesque monstrans praedicat:
'hi sunt opes ecclesiae'.
Psalmi III, Heidelberg 1956. Die Echtheitsfrage ist erneut geprüft und positiv beantwortet von
Gerard Nauroy, Le martyre de Laurent dans l'hymnodie et la pr6dication des I V e et V e siecles
et Γ authenticate ambrosienne de l'hymne 'Apostolorum supparem', in: Revue des Etudes
Augustiennes 35 (1989) S. 44/82. Der Hymnus ist bezeugt durch Ps.Maximus v. Turin (Maxim.
Taur. hom. 74: PL 57, 409 A); dazu Nauroy, S. 64f. 70f. (wohl vor 450 n.Chr.).
131 In letzterem Sinne Walpole (wie Anm. 130) S. 103: "as in duty bound to Xystus".
132 Vgl. die Passio 13f., S. 83 bei Delehaye (wie Anm. 127): Xystus übergibt vor seinem
Tod dem Diakon den Kirchenschatz, der ihn unter die Armen verteilt, bevor er selbst gefaßt
wird. Hierzu s. Boscaglia (wie Anm. 127) S. 53f.
133 Vgl. oben S. 334.
134 Mart. Polyc. 10, 1 (S. 10 Musurillo).
[57/58] XIV. Der neue Sinn der Worte 355
Lehre des Christentums kennenlernen willst, gib mir einen Tag und höre zu!"
Sie hatten nicht erreicht, was sie wollten. Der Wunsch, die eigene Überzeu-
gung darzustellen, wurde in den historischen Akten nie wirklich erfüllt. Es
blieb bei Rede und Gegenrede, bei der Antithese der Begriffe. Aber die Legende
gibt dem römischen Diakon die Gelegenheit zur Lehre in Wort und Tat. Er
selbst verschafft sie sich: das ist der Zweck seiner 'List'. Er entzieht sich ja
der Verurteilung nicht, täuscht auch den Richter | nicht wirklich. Er benützt
vielmehr die Frist, um ein Lehrstück zu inszenieren, das gerade die wirklichen
Schätze darstellen soll. Und deswegen schleift Ambrosius diese Spitze des
Gedankens weiter zu:
Der Ausgang des Dramas ist dann wieder der gleiche, den wir längst kennen.
Der Heide begreift nichts, das Mißverständnis wird nicht überwunden, die
Schwelle zwischen den beiden Sinnebenen ist zu hoch.
6.
Durch Ambrosius wird eine Tradition, die wohl über Generationen hin
von Mund zu Mund gewandert war, im Gedicht künstlerisch geformt und
schriftlich festgehalten; durch ihn kehrt sie aber auch, ihre Wirkung vertiefend
und verbreiternd, im gesungenen Lied zum Volk zurück135; und durch ihn
steigt sie andrerseits weiter zur höchsten Literatur empor. Denn durch die
Kirchenlieder des Bischofs sind die kunstvollen Hymnen des Prudentius ange-
regt. Sein Laurentiushymnus ist in der ambrosianischen Strophe gehalten, über-
trifft aber mit 584 Versen den Umfang des normierten ambrosianischen Hymnus
mit seinen achtmal vier Zeilen um ein Vielfaches136. Der größere Raum des
135 Vgl. Santo Mazzarino, Storia sociale del vescovo Ambrogio (Problemi e ricerche di
storia antica 4), Roma 1989, S. 100: "Egli (Ambrogio) sentiva che questa era dunque, almeno in
un certo senso, poesia 'popolare'". Im gleichen Zusammenhang spricht er von "democratizzazione
della cultura".
136 Prud. per. 2 (CSEL 61,296/317). Über die Frage, welche Quellen Prudentius außer den
ambrosianischen Texten benützt haben könnte, stellt Boscaglia (wie Anm. 127) S. 55f. Vermu-
356 Prudentiana II. Exegetica [58/59]
Kunstlieds gestattet es dem Autor, die Dramatik des Geschehens nach allen
Richtungen hin voll zu entfalten. Die Sache beansprucht hier mehr als siebzig
Strophen137. Prudentius schafft zunächst die Voraussetzungen für einen regel-
rechten Zweikampf, indem er dem Märtyrer in der Person des Stadtpräfekten
ein wirkliches Gegenüber gibt. Geldgier und Ehrgeiz des Präfekten bringen
von Anfang an Spannung und Bewegung in das Ganze. Die erste Rede, mit der
er die Herausgabe der Kirchenschätze verlangt, ist in ihrer Art ein Muster-
stück der Psychologie138. Kult und Leben der Christen werden gesehen 'ex
persona praefecti'. Wahres vermengt sich mit Falschem. Alte Vorwürfe gegen
das Christentum klingen an, aber doch so, daß die offene Anklage vermieden |
wird139; denn der Präfekt will ja die Schätze. Argwohn und Heuchelei, Über-
heblichkeit und Ironie, versetzt mit dunkler Kenntnis christlicher Religion,
bilden eine schillernde, gefährliche Mischung. Unter Berufung auf das Her-
renwort: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist!"140 fordert der Präfekt die
Herausgabe des Geldes und schließt mit dem Ansinnen: Nummos libenter reddite
Estote verbis divitesw. Die Antwort des Diakons ist darauf hin angelegt,
die Behauptung des Reichtums der Kirche zu bestätigen142: reicher als selbst
der Kaiser sei sie. Die Namen für allerlei Schätze werden gehäuft, die Erwar-
tungen gesteigert. Der zeitliche Rahmen des Geschehens, der durch die Tradi-
tion vorgegeben war143, wird nicht gesprengt, aber doch prall gefüllt. Drei
tungen an. Tino Alberto Sabattini, Storia e leggenda nei Peristephanon di Prudenzio 2, in:
Rivista di Studi Classici 20 (1972) S. 187/221, hier S. 192 neigt der Ansicht zu, beide, Ambro-
sius wie Prudentius, hätten aus der mündlichen Tradition geschöpft. Vermutungen, der
ambrosianische Hymnus könne vom prudentianischen abhängen, tritt Nauroy (wie Anm. 130) S.
57/60 entgegen.
137 Prud. per. 2, 37/356 (ab 329ff. leitet der Präfekt zur Strafe auf dem Rost über).
138 Prud. ebd. 57/108. Treffend erkannt und beschrieben von Boscaglia (wie Aran. 127) S.
73/76; hier S. 51 ff. ein Vergleich mit dem Bericht bei Ambrosius und mit der (späteren) Passio
(s. Anm. 169).
139 So schimmern durch die Zeilen 65/72 die Mißverständnisse des christlichen Kultmahls,
vgl. etwa Min. Fei. 9, 5 mit dem Kommentar bei Michele Pellegrino, M. Minucii Felicis
Octavius, Turin 1967, S. 95f.; ferner Wolfgang Speyer, Zu den Vorwürfen der Heiden gegen
die Christen, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 6 (1963) S. 129/35 = Ders., Frühes
Christentum im antiken Strahlungsfeld, Tübingen 1989, S. 7/13. Wie der Heide bei Minucius 9,
3 aus der sagaxfama, so schöpft auch hier der Präfekt aus Gerüchten: ferunt (69). Die ganze
Rede verdiente eine gründliche Erklärung.
140 Mt. 22, 20f.: Prud. per. 2, 93/108.
141 Prud. ebd. 107f.; vgl. dazu unten S. 360.
142 Prud. ebd. 113/32.
143 Bei Ambrosius kündet Sixtus seinem Diakon an: post triduum me sequeris (Ambros. off.
1, 206), also übermorgen, nach römischer Rechenweise. Und so geschieht es auch (Ambros.
off. 1, 207). Aber um die Armen zusammenzuholen, braucht Laurentius anscheinend nur einen
Tag: sequenti diepauperes duxit (Ambros. off. 2, 140), also am Tage nach dem ersten Verhör.
[59/60] XIV. Der neue Sinn der Worte 357
Tage beträgt die Frist, drei Tage läuft Laurentius durch die Stadt144. Die ganze
Zeit also zwischen Sixtus' Tod, der auch bei Prudentius seinem Diakon vor-
aussagt: Post hoc sequeris triduum}*5, und dem abermaligen Erscheinen vor
dem Präfekten sammelt Laurentius - was natürlich infolge der aufgewandten
Zeit auf die Masse der Armen führt146. Auch bei Prudentius ist nicht etwa
daran gedacht, daß der Märtyrer erst jetzt das Geld ausgibt. Er holt die Ar-
men, Kranken und Gebrechlichen zusammen, die er kennt, weil er sie schon
immer aus den Mitteln der Kirche speiste147! Schließlich wird die Zeit knapp,
auch der dritte Tag ist schon fast vorüber, da hat er sie alle endlich vor der
Kirche aufgestellt, ihre Namen verzeichnet148. Er holt den Präfekten, verspricht
ihm, jetzt werde er die | Säulenhallen gefüllt mit Schätzen sehen. Damit ist die
Spannung aufs äußerste gestiegen. Der Präfekt eilt herbei - und erstarrt.
Bittgeschrei der Bettler empfängt ihn. Er richtet seine zornigen Blicke auf
Laurentius149, aber noch ehe er die Sprache wiedergefunden hat, nutzt der
Märtyrer die Gelegenheit für seine Predigt150. Es ist eine Missionspredigt. Die
theologische Begründung: die Gleichsetzung der Armen mit Christus, tritt da-
her zurück. Dem heidnischen Richter derlei zuzumuten, wäre ein psychologi-
scher und künstlerischer Mißgriff gewesen151. Stattdessen bringt Laurentius
Gedanken vor, die dem Heiden aus der paganen Moralphilosophie vertraut
In diesem Punkte schließt sich Prudentius enger mit dem ambrosianischen Hymnus zusammen,
vgl. Ambros. hymn. 14 [13], 17f.: Post triduum iussus tarnen Census sacratosprodere ... eqs.
(die Zeitangabe post triduum gehört zu prodere). Das Vorführen der Armen und die Hinrichtung
fallen hiernach, wie bei Prudentius, auf ein und denselben, nämlich den dritten Tag. Der vorge-
gebene Zeitraum (triduum) zwischen dem Tod des Bischofs und dem des Diakons ist also in
beiden Hymnen anders gefüllt als im Prosawerk, wo sich die drei Ereignisse: erstes Verhör,
Vorführung der 'Schätze' und Martyrium auf jeweils einen Tag verteilen. Bei Nauroy (wie
Anm. 130) S. 54f. wird die Sache nicht recht klar.
144 Prud. per. 2, 137/44.
145 Prud. ebd. 28.
146 Prud. ebd. 145/56. Bei Augustinus (serm. 302, 9; 303, 1: PL 38, 1389. 1394) sind es
viele Wagenladungen voller Armer (vehicula), die Laurentius anfahren läßt.
147 Prud. ebd. 157/60: Talesplateisomnibus Exquirit, adsuetos ali Ecclesiaematris
penu, Quos ipse promus noverat. Die Sache berührt den spirituellen Kern des inszenierten
Lehrstücks, vgl. Anm. 122.
148 Prud. per. 2, 161ff.; die Angabe 164 pro templo verstehe ich mit Faustinus Ar6valo (PL
60, 307 C/D) als Bezeichnung einer christlichen Basilika. Für Prudentius selbst hat solcher
Sprachgebrauch nichts Ungewöhnliches, vgl. per. 10, 46; 11, 215.
149 Prud. ebd. 169/84.
150 Prud. ebd. 185/312.
151 Da der Dichter sein Recht gebrauchte, den Wortwechsel zwischen dem Christen und
dem Heiden in voller Freiheit zu gestalten, mußte er auch die Pflicht auf sich nehmen, die
Erklärung des Märtyrers dem Fassungsvermögen des Richters anzupassen - soweit dies eben
möglich war.
358 Prudentiana II. Exegetica [60/61]
sein mochten, stellt sie aber in einen neuen, christlichen Zusammenhang, der
ihnen anderen, tieferen Sinn gibt. Dieser Zusammenhang wird gleich eingangs
angedeutet, wenn Laurentius, an die Sprache des Neuen Testaments sich an-
lehnend, sagt, das wahre Gold sei "das Licht und die Menschheit" (.Lux est et
humanum genus) und die Armen seien "die Kinder des Lichts" (Hi sunt alumni
luminisY52. Auf diese Grundlage werden dann alte Motive gestellt: (1) Wertlo-
sigkeit und Gefährlichkeit des Goldes153; (2) die geistlichen Vorteile körperli-
cher Schwäche154; (3) die Leidenschaften als Krankheiten der Seele155. Aber
auch im Aufbau der alten Teile zeigt sich das Neue: (1) in den Kranken des
Leibes und den Kranken der Seele stehen sich Christen und Heiden gegen-
über156; (2) die wahre Schönheit der einen und die wahre Häßlichkeit der ande-
ren wird offenbar, wenn der Leib mit allem Irdischen abgestreift ist157; (3) die
geweihten Jungfrauen und keuschen Witwen treten als Zugabe des Diakons
hinzu: sie sind das Geschmeide, das die bräutliche Kirche Christus als Mitgift
bringt158. In darstellerischer Hinsicht erreicht die Rede durch ihren Motiv-
schatz große Farbigkeit, in gedanklicher Hinsicht zeigt sie die christliche Nut-
zung des Alten, in dramatischer Hinsicht bildet sie ob ihrer Länge - sie füllt 32
Strophen - ein schweres retardierendes Moment, das die Spannung fortdauern |
läßt. Wenn Laurentius zum Schluß an den Präfekten appelliert, diese Schätze
anzunehmen und die Stadt Rom, den kaiserlichen Fiskus, ja sich selbst damit
zu bereichern159, ahnt man, daß der lang angestaute Wutausbruch des Christen-
verfolgers unmittelbar bevorsteht.
152 Prud. per. 2,203ff. Den Hintergrund bildet sicher der Prolog des Johannesevangeliums;
vgl. Eph. 5, 8: utfilii lucis ambulate; 1 Thess. 5, 5: omnes enim vosfilii lucis estis etfilii diei.
Die Verbindung: lux... et humanum gems (205) fasse ich als eine Art Hendiadyoin: das Gold
sind eben die alumni luminis (die Menschen, die Söhne des Lichts heißen dürfen!). Ebenso
Boscaglia (wie Anm. 127) S. 61: "L'aurum verius ... sono gli esseri umani illuminati dalla
fede"
153 ' Prud. ebd. 185/204.
154 Prud. ebd. 205/16. Vgl. etwa Plin. epist. 7, 26 und dazu Hans-Peter Bütler, Die geistige
Welt des jüngeren Plinius, Heidelberg 1970, S. 50. 71. Zum weiteren (stoisch-kynischen) Hin-
tergrund s. Fridolf Kudlien, Art. Gesundheit, in: Reallexikon für Antike und Christentum 10
(1978) Sp. 902/45, hier Sp. 913/15.
155 Prud. per. 2,217/64; vgl. Fridolf Kudlien, Krankheitsmetaphorik im Laurentiushymnus
des Prudentius, in: Hermes 90 (1962) S. 104/15.
156 Vgl. Prud. per. 2, 225 nostri, opp. vestri (229).
157 Prud. ebd. 265/92.
158 Prud. ebd. 293/312: Goldmünzen (293ff.) und Geschmeide (297ff.), zusammengefaßt
in der Schlußstrophe (309ff.): Eccum talenta, suscipe ... eqs. Zu dieser Bildlichkeit bringt
Alfred Hermann, Art. Edelsteine, in: Reallexikon für Antike und Christentum 4 (1959) Sp. 505/
52, hier Sp. 546/49 verschiedene Belege.
159 Prud. per. 2, 309/12.
[61] XIV. Der neue Sinn der Worte 359
7.
Es ist aber nun höchst bezeichnend, auf welche Weise sich sein Zorn
entlädt: er fühlt sich durch Wortspielereien genarrt160! Was wir den semanti-
schen Konflikt nannten, findet hier bei Prudentius seinen vollen, künstleri-
schen Ausdruck:
'"Man verlacht uns', ruft der Präfekt, rasend vor Wut, 'narrt uns
auf wunderliche Weise durch so viele Wortfiguren - und er lebt
noch, dieser tolle Kerl! Ungestraft, glaubst du, Galgenstrick, hast
du mit komödiantenhafter Fopperei so viele Listen geknüpft, wäh-
rend du als Schelm dein Stück aufführtest? Feiner Witz schien's
dir, mich mit Späßen zu traktieren, hab' ich, dem Gelächter feil-
geboten, eine nette Nummer abgegeben?'"
Alles atmet hier den Geist des Mimus. Der Präfekt sieht den Märtyrer als
spielführenden Witzbold, sich selbst in der Rolle des Dümmlings161. Das myste-
160 Vgl. inlusus, sc. avarus bei Ambrosius (oben S. 355) und ähnliche Feststellungen in der
späteren Tradition: illususpersecutor (Aug. serm. 303, 1: PL 38, 1394; vgl. Ps.Petr. Chrysol.
serm. 135, 2: CCL 24 B, 822), praedo frustratus (Leo M. serm. 85, 3: CCL 138 A, 536).
Dieses Moment greift Prudentius auf.
161 Des stupidus, vgl. Ludwig Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms 2,
Leipzig l01922, S. 114f.; Hermann Reich, Der Mimus 1, Berlin 1903,578ff. Acroma (άκρόαμα)
360 Prudentiana II. Exegetica [61/62]
rium paupertatis | ist für ihn keine Realität, das Drama infolgedessen eine Far-
ce162. Zwar hat er verstanden, daß die Dinge eine andere Bedeutung erhalten
sollen, aber die Verschiebung des Sinnes begreift er nur als sprachlichen Trick.
Das Spiel mit den doppelten Bedeutungen der Wörter zählte damals wie heute
zu den beliebtesten Arten des Witzes, im alltäglichen Leben, in der kunst-
gemäßen Rede und erst recht auf der Bühne163. Daher besteht die kluge geist-
liche Hermeneutik, die Ambrosius an dem Heiligen rühmte, für den römi-
schen Stadtpräfekten nur aus einer Serie von absichtsvollen Metaphern und
listigen Ambivalenzen, wie er sie aus dem komischen Spiel seiner Zeit kennt.
Hatte er zuvor verlangt, die Christen sollten ihren Besitz auf ihren allerseits
bekannten Reichtum an Worten beschränken164, so sieht er selbst sich nun als
Opfer solchen Wortreichtums. Der Konflikt der Bedeutungen, den wir aus den
Protokollen der historischen Verhöre kennen, ist bei Prudentius sozusagen voll
ausgespielt. An einem einzigen Punkt entzündet sich die Gegensätzlichkeit der
Weltanschauungen und lodert zu heller Flamme empor165. Man könnte viel-
leicht gegen den Dichter einwenden, daß er dem Mißverständnis zwischen
Richter und Märtyrer die Unmittelbarkeit nehme, weil die verschiedenen Be-
deutungen der Worte hier nicht wie lebendige Funken aus dem harten Zusam-
ist der 'Ohrenschmaus', dann auch die unterhaltende Person selbst: der Possenreißer, vgl. Cie.
Verr. 4, 49 in gleicher Wortverbindung: hic tamquam festivum acroama ... eqs. Ich greife die
Übersetzung auf, die Maurice Lavarenne bietet (Prudence, 4, Paris 21963, S. 41): "... j'ai fait un
η u m έ r ο tr&s dröle?". Der Tanz (dum scurra saltas fabulam) ist zwar eigentlich das Aus-
drucksmittel des Pantomimus, aber auch zum Mimus gehörten Tänze; vgl. Friedländer (wie
oben). Zum Schimpfwort fureifer s. Ilona Opelt, Die lateinischen Schimpfwörter und verwandte
sprachliche Erscheinungen, Heidelberg 1965, S. 200. 203. 212 u.ö. (vgl. Reg. S. 271 s.v.).
162 Vielleicht verdient aber Beachtung, daß Laurentius später vom Präfekten mysteriarches
tituliert wird (per. 2, 350), woraus doch wohl die dunkle Ahnung fremder Religiosität sprechen
soll (das Wort nur hier!).
163 Die rhetorische Theorie beschäftigt sich mit dem ambiguum als einem Mittel des Scher-
zes: vgl. Cie. de or. 2, 253/56; Quintil. inst. 6, 3, 47/52; dazu den Kommentar von Anton D.
Leeman - Harm Pinkster - Edwin Rabbie, M. Tullius Cicero, De oratore libri ΙΠ, Bd.3, Heidel-
berg 1989, S. 172ff., bes. 270ff. Zur Dichtung vgl. etwa Ursula Joepgen, Wortspiele bei Martial,
Diss. Bonn 1967, S. 40f.
164 Vgl. oben S. 356 zu per. 2,108: Estate verbis divites. Der Vers nimmt seinerseits Bezug
auf das, was der Präfekt zuvor über den Religionsstifter sagte: Praecepta sed verbis dedit Inanis
a marsuppio (103f.)· Das alles wird dem Christenfeind sicher auch im Hinblick auf das bevor-
stehende Erscheinen der Armen in den Mund gelegt: denn sie sind eben nicht nur 'Worte'. Aber
der Präfekt macht diese Gedankenbewegung nicht mit.
165 Hier greife ich Formulierungen Kudliens (wie Anm. 155) S. 106 auf: er erkennt, daß
das lange Gedicht zu einem wesentlichen Teil aus diesem scharfgenommenen Punkt heraus
entwickelt ist. Berschin (wie Anm. 16) S. 83 gleitet darüber hinweg, obwohl er Prud. per. 2,
317/20 zitiert und übersetzt. Die innere Verbindung mit dem semantischen Konflikt früherer
Passionsberichte (vgl. Berschin selbst S. 41/46) scheint hier, in dem Kapitel über die "dramati-
sche Passio" (S. 74ff.), ganz vergessen.
[62/63] XIV. Der neue Sinn der Worte 361
8.
Wie wir durch Augustinus wissen166, wurde zu Carthago am Fest des hl.
Laurentius Cyprians Traktat Ad Fortunatum ('De exhortatione martyrii') ver-
lesen, weil Akten dieses Märtyrers damals fehlten. Aber Augustin trug keine
Bedenken, in seinen Festpredigten die Tradition zu behandeln, freilich als
solche gekennzeichnet: opes Ecclesiae ab illo a persecutore quaerebantur,
sicut traditur167. Die Tradition wird von den Vätern des fünften Jahrhunderts
weitergegeben168, in den späteren Akten ausgestaltet169 und im Mittelalter wei-
166 Aug. serm. Denis 13, 2 (ed. Germanus Morin: Miscellanea Agostiniana 1, Rom 1930,
S. 56).
167 Aug. serm. 302, 8 (PL 38, 1388); vgl. auch oben Anm. 146.
168 Durch Ps.Petrus Chrysologus, Leo Magnus (s. oben Anm. 160) und Ps.Maximus v.
Turin hom. 74. 75 (PL 57, 409f.; 411 C ) - d i e beiden echten Predigten auf Laurentius: Maxim.
Taur. serm. 4 (CCL 23, 13ff.) und serm. 24 (CCL 23, 93ff.) berühren die Sache nicht. Es ist
übrigens bemerkenswert, daß in diesen Predigten, auch bei Augustinus, der Gedanke der Gleich-
setzung der Armen mit Christus zurücktritt und nur der Gedanke an die 'himmlischen Schätze',
die man in die Armen investiert und so bewahrt, stehen bleibt: s. dazu oben S. 353.
169 Passio Polychronii etc. 24, S. 89 bei Delehaye (wie Anm. 127). Über die Ausgaben
dieses Texts s. Berschin (wie Anm. 16) S. 82 Anm. 112. Zum dramatischen Aufbau der Acta
und ihrer Gestaltung nach der Passion Christi s. Boscaglia (wie Anm. 127) S. 27/34. Hier tritt
362 Prudentiana II. Exegetica [63/64]
ter gepflegt, besonders in der Hymnendichtung170. Und wir sind nicht über-
rascht, wenn wir schließlich Laurentius mit seinen Armen das Theater betre-
ten sehen. Das französische Mirakelspiel des 14. Jahrhunderts hat ihn auf die
Bühne gebracht171. Die Vorlage der dramatischen Behandlung bildete die
'Legenda Aurea'172, aber schon die Dramaturgie des altchristlichen Dichters
hatte solcher Behandlung vorgearbeitet. Wenn wir die Entwicklung recht be-
trachten, dann ist sie im Grunde nichts anderes als die Entfaltung des einen
"Ja", das der Religionsstifter vor seinem Richter gesprochen hatte: "Ja, ich
bin ein König". Natürlich nicht in dem Sinne, als ob dieses eine Herrenwort
überall direkt | gewirkt hätte! Ja noch nicht einmal unbedingt deswegen, weil
die Passion Christi immer das Vorbild jeden Martyriums blieb! Aber die Si-
tuation war immer oder doch oft ähnlich, das Bekenntnis nur möglich durch
einen neuen Gebrauch der Sprache. Das Aufeinanderprallen der Bedeutungen,
vernehmlich aus den Protokollen der Verhöre oder durch Erzählung zur Le-
gende gestaltet, wird durch die spätantike Schriftkultur festgehalten, ausgear-
beitet, mit literarischen Mitteln dargestellt, kehrt aber durch die Funktion sol-
cher Darstellung: durch Predigt und Kirchenlied, wieder zum Volk zurück.
Geboren aus der Religion, also dem Wesen nach durchaus unliterarisch und
überliterarisch, aufgestiegen in die Schriftkultur und dort gepflegt, bleibt die
Vergeistigung der Sprache doch ein Merkmal christlichen Denkens, Sprechens
und Schreibens im weitesten Sinne.
schön hervor, auf welcher Bedingung das Verständnis der neuen, geistlichen Realitäten aufbaut.
Der Gefängniswärter will ebenfalls, wie schon zuvor Kaiser und Präfekt, die Schätze sehen.
Laurentius verspricht ihm das, wenn er an Jesus Christus g l a u b e und sich taufen lasse. Nach
der Taufe berichtet der Wärter: Vidi animas innocentium laetas gaudere - was wohl die Erfül-
lung des erhaltenen Versprechens bedeuten soll. Der Christenverfolger jedoch begegnet später
der Erklärung, die Armen und Kranken seien die 'ewigen Schätze', mit der empörten Frage:
Quid variaris per multal Dieselbe Darstellung bei Aelfric serm. 29 (Benjamin Thorpe,
The Homilies of the Anglo-Saxon Church I 1, London 1844/46, S. 423) und in der 'Legenda
Aurea' (s. Anm. 172).
170 Vgl. in den Analecta hymnica Medii Aevi (hrsg. von Guido Maria Dreves - Clemens
Blume - Marriott Bannister, Leipzig 1886/1922; Nachdruck: Frankfurt a.M. 1961) etwa die
folgenden Stücke: AH 10, 229 Nr. 304; 19, 173 Nr. 301; 26, 240 Nr. 82 (In 2 Nocturne,
Responsoria); 29, 158 Nr. 298. 299; 39, 200 Nr. 225; 41a, 138 Nr. 55; 51, 193f. Nr. 172; 54,
87 Nr. 61; 55, 246 Nr. 217, Strophe 9f. (Adam von S. Victor). Weiteres bei Lavarenne (wie
Anm. 161) S. 28/31.
πι Vgl. Petit de Julleville, Histoire du theatre en France, torn. 1: Les Mystferes, vol. 2,
Paris 1880 (Nachdruck: Genf 1968) S. 326/29, Nr. 38 - zitiert bei Lavarenne in der Einleitung
zu dem Prudentiusgedicht (wie Anm. 161) S. 30. Drei Personen vertraten in diesem Stück die
Schar der Armen.
172 Vgl. Iacobus a Voragine, Legenda aurea 117, ed. Johann Georg Theodor Graesse, Re-
gensburg 3 1890 (Nachdruck: Osnabrück 1965), S. 491.
[64] XIV. Der neue Sinn der Worte 363
Postscriptum
1.
Die Einrichtungen des spätantiken Staats und das Zeremoniell des kaiserlichen
Hofs boten den christlichen Künstlern nachkonstantinischer Zeit - denen des
Worts und denen des Bildes - vielfältige Möglichkeiten, die Anbetung Gottes
auszudrücken, Seine Majestät darzustellen und entsprechende Bilder, welche
schon die Hl. Schrift enthielt, auszuschmücken. Ein schönes Zeugnis davon
gibt Prudentius in den ersten Strophen seines Hymnus auf die Achtzehn Märtyrer
von Saragossa (per. 4). Er eröffnet das Gedicht mit einer eigenartigen Vision:
am Jüngsten Tag ziehen die Städte der weiten Welt - als Personen gedacht -
dem Herrn entgegen, um Ihm ihre Gaben darzubringen, nämlich die Gebeine
der Märtyrer, die sie aufbewahrten; keine aber bietet reichere Gabe als die
Stadt Saragossa, die achtzehn Märtyrer auf einmal bringt. Henri Leclercq urteilte
über diese Szene: "Cette conception est une des plus grandioses et des mieux
ordonnees de toute la poesie chretienne"1. Das gerühmte Stück hat allerdings
* Iconologia Sacra. Mythos, Bildkunst und Dichtung in der Religions- und Sozialgeschichte
Alteuropas, Festschrift Karl Hauck, hrsg. von Hagen Keller und Nikolaus Staubach, Berlin-
New York 1994 = Arbeiten zur Frühmittelalterforschung Bd. 23, S. 25/67. Der Beitrag wird
hier in überarbeiteter Gestalt geboten, weshalb die Seitenzahlen der Erstpublikation n i c h t
wiederholt werden. Zu berücksichtigen waren vor allem die Ergebnisse der im ersten Bande
(Prudentiana I 386/409) geübten Echtheitskritik: fünf der sechzehn - unten S. 410/12
ausgeschriebenen - Strophen (per. 4, 1/76) sind u n e c h t . Außerdem wurde die Darstellung in
Einzelheiten erweitert und durch Angaben zu neuerer Literatur ergänzt. Die Zitierweise des
Originaldrucks wurde größtenteils beibehalten. Verweise aus dem ersten Band der Prudentiana
sind durch eine Konkordanz am Schluß (unten S. 427) entschlüsselt.
l Henri Leclercq, Art. Hymnes: Dictionnaire d'arch6ologie chr6tienne et de liturgie 6, 2
(1925) Sp. 2826/928, hier Sp. 2909. Es spricht für die Kraft der dichterischen Erfindung, daß
ihr trotz der schweren interpolatorischen Störung solches Lob gespendet werden konnte.
XV. Der Gabenzug der Städte 365
sonst nur wenig Beachtung gefunden, gar keine von Seiten der frühchristlichen
Archäologie oder Kunstgeschichte, der es hätte durchaus nützen können2.
Prudentius gestaltet in jener Szene zwei Grundmotive der Märtyrerverehrung
zu einem Bilde. Obgleich der Heilige immer, auch in Angelegenheiten des
täglichen Lebens, angerufen werden darf und soll - der Dichter selbst berichtet
von einer solchen Gebetserhörung3 bittet der Christ doch besonders darum,
daß die Fürsprache des Märtyrers ihm bei Gott Vergebung der Sünden erwirken
möge, und es ist natürlich, wenn dabei seine Gedanken weitergehen und sich
auf den Tag richten, da Christus Gericht halten wird: auf die künftige Auferste-
hung also und die zweite Parusie des Herrn4. Das ist sozusagen das zeitliche,
oder besser gesagt: das endzeitliche Motiv. Hinzu kommt ein gleichsam 'ört-
liches'. Der Schutz des Märtyrers wird besonders in der Nähe des verehrten
Grabes erlangt, an dem man betet, das man schmückt, berührt, küßt, mit
Tränen netzt5. Zwar weiß Prudentius natürlich, daß er die Fürsprache des hl.
Laurentius ebenso in der spanischen Heimat erlangen kann wie in Rom, da nur
der Leib des Märtyrers dort ruht, seine Seele im Himmel weilt6, aber er ist
doch durchdrungen von der Überzeugung, daß die Verehrung der Reliquien
durch besonderen Schutz belohnt wird und daß infolgedessen die Bewohner
einer Stadt, die ein Grab jederzeit besuchen und ehren können, einen großen
Vorzug genießen. Dieser Vorzug ist auch nicht etwa ein zufälliger oder auf bloßer
Einbildung beruhender. Denn es ist Gott selbst, der einer Stadt solche Gunst
erweist, indem Er sie als Heimstätte eines Märtyrergrabs auserwählt7. Die
2 Etwa gleichzeitig mit diesem Aufsatz legte Pierre Dufraigne seine umfängliche Darstellung
vor: Adventus Augusti, adventus Christi. Recherche sur Γ exploitation i<16ologique et litt6raire
d'un cdrimonial dans l'antiquit6 tardive, Paris 1994 = Collection des Etudes Augustiniennes,
S6rie Antiquit6 141. Sie enthält (S. 436/39) eine knappe Behandlung der besprochenen
Gedichtpartie.
3 Prud. per. 9, 99/106.
4 Vgl. bes. die Schlußstrophen unseres Gedichts (per. 4, 193ff.) und per. 6, 157ff.; 10,
1136ff. Dazu Ernst Lucius, Die Anfänge des Heiligenkults in der christlichen Kirche, Tübingen
1904 S. 124/29.
5 ' Prud. per. 3, 211ff.; 4, 193ff.; 9, 99f.; 11, 193f.; vgl. auch per. 5, 555f. Reiches
Material bei Lucius a.O. (vorige Anm.) S. 136ff.
6 Prud. per. 2, 545/52; diese Tatsache wird auch sonst betont: per. 3, 21 Iff.; 5, 521/24;
13, 86.
7 Prud. per. 1, 4/6; 115/17; 4, 141/44; 6, 4/6; 7, 1/5; vgl. Paul. Nol. carm. 19, 45ff.
Wenn in der Eingangsszene des vierten Gedichts die Städte die Schenkenden, nicht die Be-
schenkten sind, liegt nicht etwa eine andere "concezione agiologica" vor als bei Paulinus: so
Rosalba Ficarra, Nota al De virginitate (Vm, 3, 129-176) di Venanzio Fortunata (Confronto
con Paul. Nol. C. XIX e Prud. Per. IV): Bollettino di Studi Latini 8 (1978) S. 273/75. Von
"Autonomie" gar (der gabenbringenden Städte) darf man erst recht nicht sprechen. Prudentius
stünde dann im Widerspruch mit sich selbst. Zur Sache s. unten S. 388, zu Paulinus carm. 19
unten S. 401.
366 Prudentiana II. Exegetica
Märtyrer werden daher als Stadtpatrone aufgefaßt8, wie umgekehrt die Stadt,
welche die Gebeine beherbergt, zu den Märtyrern im Verhältnis einer Hüterin
und Bewahrerin des ihr anvertrauten Guts steht9. Diese beiden Momente also,
das endzeitliche und das 'örtliche', hat Prudentius zur Anschauung gebracht,
indem er die Städte bei der Parusie Christi zu einem Gabenzug aufbrechen
läßt. Es geht hier zunächst darum, die Hauptlinien des Bildes nachzuziehen.
2.
Unter Berufung auf ein Herrenwort schreibt Paulus 1 Thess. 4, 15ff., bei der
Parusie des Herrn würden die dann noch lebenden Christen den "in Christus
Verstorbenen" nichts voraushaben; denn diese würden, wenn der Befehlsruf
ergehe und der Herr, von der Stimme des Erzengels und dem Schall der Posaune
Gottes begleitet, vom Himmel herabsteige, zuerst auferstehen: έπειτα ήμεις
oi ζώντες οί περιλειπόμενοι αμα συν αύτοΐς άρπαγησόμεθα έν νεφέλαις
εις άπάντησιν του κυρίου είς αέρα (4, 17) - deinde nos qui vivimus cum
Ulis rapiemur in nubibus obviam domino Christo [in occursum domini] in aerem
(VL). Es ist also gesagt, daß alle Christen zusammen, die lebenden und die
verstorbenen, auf Wolken in die Luft entrückt bzw. getragen werden, um dort
dem zur Erde herabsteigenden Christus zu begegnen. Erik Peterson suchte
diese schwierige Stelle zu erklären, indem er sie mit dem antiken Brauch der
'Einholung' eines Herrschers oder Magistrats in Zusammenhang brachte10:
bei der Ankunft der hochgestellten Persönlichkeit zieht die Bevölkerung oder
auch eine Abordnung vor die Stadt hinaus, um den Ankommenden feierlich zu
begrüßen und in die Stadt zu begleiten. Der Brauch kommt in hellenistischer
Zeit auf und hält sich die ganze römische Kaiserzeit über bis in die Spät-
8 Vgl. Prud. per. 4, 175f.: Urbis unius regimen tenentes Iure sepulcri (über die Achtzehn
Märtyrer von Saragossa). Sie sind πολιούχοι "aufgrund des Grabrechts". Ferner per. 6, 145/
47: Exultare tribus libet patronis , Quorum praesidio fovemur orrmes Terrarum populi
Pyrenearum. In noch weiterem Sinne (Patrone der Welt): per. 1, 12.
9 Das Verhältnis wird als inniges, ja zärtliches verstanden, vgl. per. 7, 3/5: Urbis moenia
Sisciae Concessum sibi martyrem Conplexu patriofovent; ähnlich in unserem Gedicht per. 4,
93/96 und 3, 194f.; s. auch unten S. 420f. zu per. 4, 50ff. ipignus). Umgekehrt umfängt auch
der Stadtpatron seine Schützlinge mit väterlicher und mütterlicher Fürsorge: per. 2, 570/72.
10 Erik Peterson, Die Einholung des Kyrios: Zeitschrift für systematische Theologie 7
(1930) S. 682/702.
XV. Der Gabenzug der Städte 367
antike11. Der Terminus für die Ankunft ist παρουσία oder έπιφάνεια bzw.
adventusn, für das Entgegengehen άπάντησις (ύπάντησις, άπανταν,
ύπανταν) bzw. occursus (obviam ire, occurrere)13. Der Brauch gehörte in
Rom zu den Formen gesellschaftlicher Höflichkeit, bestand aber andrerseits
als offizielle Ehrung, der ein formlicher Beschluß vorausgehen mußte. So
berichtet etwa Livius, daß der städtische Magistrat zu Capua vor der versam-
melten Bevölkerung verfügte, daß alle mit Kind und Kegel Hannibal entgegen-
zögen14, und Augustus erwähnt in den Res gestae, der Senat habe ihm bei
seiner Rückkehr aus dem Osten i J. 19 die unerhörte Ehre erwiesen, die höchsten
Beamten samt dem Consul Q. Lucretius bis nach Campanien entgegenzu-
schicken15. Alle wichtigen Begriffe sind in dem Sätzchen vereint, das Plinius
an Trajan schrieb: Obviam iturus, quo maturius, domine, exoptatissimi adventus
tui gaudio frui possim, rogo permittas mihi quam longissime occurrere tibi16.
Den offiziellen Einzug des Kaisers feiert er dann im Panegyricus17, wie denn
überhaupt die "Einholungsschilderungen" (Peterson) zum Bestand des Enko-
mions gehörten18. Eine besonders ausführliche gibt Pacatus im Panegyricus
auf Theodosius. Über den Empfang, den die Stadt Laibach (Haemona) i.J. 388
dem Kaiser bereitete19, sagt er: Nec pia Haemona cunctantius, ubi te adfore
nuntiatum, impulsis effusa portis obviam provolavit, et, ut est omne desiderium
U Neuerdings dargestellt von Dufraigne (wie Anm. 2) passim, z.B. S. 35/87, dann in
mehr systematischer Weise von Joachim Lehnen, Adventus principis. Untersuchungen zu
Sinngehalt und Zeremoniell der Kaiserankunft in den Städten des Imperium Romanum, Frankfurt
am Main 1997 = Prismata 7, bes. S. 128/56 zum occursus. Lehnen gibt auch (S. 17/27) einen
Überblick über die früheren Arbeiten, die diesen Gegenstand behandeln oder berühren.
12 Vgl. Adolf Deissmann, Licht vom Osten, Tübingen 41923, S. 314/20; E. Pax, Art.
Epiphanie: Reallexikon für Antike und Christentum 5 (1962) Sp. 832/909, bes. Sp. 845f, Epiphanie
der Gottheit und Adventus des Kaisers sind zwar zu unterscheiden, doch ergeben sich Übergänge;
vgl. Dagmar Stutzinger, Der Adventus des Kaisers und der Einzug Christi in Jerusalem, in:
Spätantike und frühes Christentum. Ausstellung im Liebighaus, Frankfurt am Main 1983, S.
284/307; Lehnen (wie Anm. 11) S. 62/65.
13 Cicero gebraucht im Colloquialstil der Atticusbriefe gelegentlich den griechischen
Terminus: Cie. ad Att. 8, 16, 2; vgl. 9, 1, 3 (iter qua maxime άναπάντητον esset)·, daneben
obviam ire, occurrere·. ad Att. 2, 1,5; 8, 16, 1. Weitere Belege im Thesaurus 9, 2, Sp. 405, Iff.
s.v. occursus·, vgl. Lehnen (wie Anm. 11) S. 57.
14 Liv. 23, 7, 9.
15 Mon. Ancyr. 12; vgl. Veil. 2, 89, 1; Lehnen (wie Anm. 11) S. 128f. 135/37.
16 Plin. epist. 10, 10, 2.
17 Plin. paneg. 22f.
18 Peterson (wie Anm. 10) S. 697f. mit Bezug auf den Rhetor Menander: Rhet. Graec. 3,
381 Spengel = Donald A. Russell - Nigel G. Wilson, Menander rhetor, Oxford 1981, S. 100,
zum έπιβατήριον; vgl. Lehnen (wie Anm. 11) S. 145/47 und Dufraigne (wie Anm. 2) S. 200/
11 über die Panegyriker.
19 Vgl. J. SaSel, Art. Emona: PW Suppl. 11 (1968) Sp. 540/78, hier Sp. 569, 42ff.
368 Prudentiana II. Exegetica
"Denn wenn ein König in eine Stadt einzieht, gehen alle, die
Ämter und Würden innehaben und großes Vertrauen zu ihm be-
sitzen, vor die Stadt hinaus ihm entgegen (προ της πόλεως
έξελθόντες άπαντώσιν), die Frevler aber und die Schuldigen
26 Das heißt: bis in die Mitte der zwischen der Erde und dem Äther gelagerten Luftschicht.
27 Joh. Chrys. in 1 Thess. hom. 8, 1 (PG 62, 440); Theodoret. in 1 Thess. 4, 16 (PG 82,
649 C); vgl. Peterson (wie Aran. 10) S. 700f.; Kantorowicz (wie Anm. 22) S. 224f. Die
interessante Partie aus Ps.Joh. Chrys. in illud Ev. (Joh. 7, 15), 4 (PG 59, 649f.) ist dagegen
nicht ganz passend, weil die άπάντησις nicht ausgedrückt wird. Wohl aber Ps.Athanas. quaest.
in Script. 116 (PG 28, 765 B), wo geradezu gesagt wird, daß die Gerechten den Herrn wie einen
König beim Einzug in die Stadt "empfangen" werden (δέξονται).
28 Aug. serm. 155,10 (PL 39, 2051f.), angeführt von Kantorowicz (wie Anm. 22) S. 224,
Anm. 107, vergleicht zwar die Parusie Christi mit dem Adventus eines Königs in einer Stadt,
doch fehlt auch hier gerade der occursus.
29 Es geht um das Problem, ob die zum Zeitpunkt der Parusie noch Lebenden erst sterben
müssen, bevor sie zur Unsterblichkeit gelangen: Hier, epist. 59, 3 (Bd. 3, S. 87 Labourt); 119,
2 (ebd. Bd. 6, S. 99f.); Aug. civ. 20, 20; epist. 193, 9/12 (CSEL 57, 172/75). Hier, epist. 119,
10 (Bd. 6, S. 117f. Labourt) schließt seine Erörterung mit einer allegorischen Erklärung der
Stelle. Den Unterschied zwischen den Gläubigen, die Christus entgegengetragen werden, und
den Ungläubigen, die zurückbleiben müssen, macht Ambr. exc. Sat. 2,76 (CSEL 73,291); vgl.
in Luc. 10, 2 (CCL 14, 346) zu Lc. 20, 44.
370 Prudentiana II. Exegetica
(ιaera). Der Anklang war auch schon Carl Weyman aufgefallen30, und jetzt
sind in der Beuroner Vetus Latina-Ausgabe die Verse per. 4, [38/40] mit
Recht zu 1 Thess. 4,17 beigeschrieben31, zu Unrecht freilich unter dem Namen
des Dichters. Der Bezug auf 1 Thess. 4, 17 wird dann noch einmal durch die
Anrede an Saragossa per. 4, 57f. verstärkt: Sola in occursum numerosiores
Marty rum turbos domino parasti... eqs. Also: εις άπάντησιν του κυρίου,
der Hinweis auf die Paulusstelle konnte auch hier kaum überhört werden.
Zugleich fällt zum zweiten Mal (nach V. 14: obviam ibit) ein Wort, das technisch
den antiken Brauch bezeichnet. Prudentius hat also die Parusie Christi (per. 4,
9/12) nicht von sich aus mit dem occursus verbunden, sondern sein Bild tatsäch-
lich auf dem Hintergrund der Hl. Schrift gemalt, und indem er dies erkennen
ließ, deutete er an, welche tiefere Berechtigung seine poetische Erfindung
besitzt.
Das Zeremoniell des occursus gibt sich bei Prudentius auch in Einzel-
zügen der Darstellung zu erkennen. Schon daß jede Stadt dem Herrn e i l e n d s
entgegengehen wird (V. 14 obviam Christo properanter ibit), ist in solchem
Zusammenhang typisch, ich erinnere nochmals an Theodosius' Einzug in Lai-
bach32: (Haemona) obviamprovolavit, und: festinavit occursare venturo. Ebenso
konnten die Römer den Einzug Vespasians nicht abwarten, wie Josephus
schreibt33: άλλα πορρωτάτω της 'Ρώμης αϋτώ προεντυχεΐν εσπευδον, und
auch die Bevölkerung Antiochiens hielt es nicht in den Mauern, als Titus
herannahte: εσπευδον ... έπι την ΰπάντησιν 34 . Mit demselben Verbum bringt
der zweite Petrusbrief (2 Petr. 3, 11) die Sehnsucht nach der Ankunft des
Herrn zum Ausdruck: (δει υμάς) υπάρχει ν έν άγίαις άναστροφαΐς και
εύσεβείαις προσδοκώντας και σπεύδοντας την παρουσίαν της του θεοΰ
ημέρας (properantes in adventum [ad praesentiam, VL] diei Domini)3S. Wie
das Ganze der Szene, so findet eben auch das Einzelne seinen Platz sowohl auf
der Ebene des Bildes als auch auf der des Sinnes. Die Züge des äußeren
Geschehens leuchten allenthalben in den tieferen Farben der Religion. Das gilt
auch für die Haltung der Frauen: hocherhobenen Haupts (V. 13: caput excitata)
schreitet jede Stadt dem Christkönig entgegen. Darin äußert sich freudige
Zuversicht. Man mag zunächst an die Mahnung des Evangelisten denken (Lc.
21,28): his ... fieri incipientibus respicite et levate capita vestra36. Gemeint ist
jedoch hier, im Zusammenhang mit der eiligen Bewegung des Gabenzugs, das
Vertrauen auf den kommenden Richter: die παρρησία, die den Christen am
Tage des Gerichts erfüllen soll (vgl. 1 Joh. 4, 17: ... ϊνα παρρησίαν εχωμεν
έν τη ήμερα της κρίσεως)37. Es ist diese παρρησία (fiducia), die Prudentius
in der ganzen Szene abbildet. Das Vertrauen zu dem Weltenrichter, die
παρρησία, bildet bei Johannes Chrysostomus geradezu das Merkmal, das die
Gerechten von den Sündern unterscheidet, und das Motiv, das sie zur Begegnung
mit ihm aufbrechen läßt38. In einer anderen Predigt wird aus Anlaß der Parusie
Christi der Vergleich mit Darstellungen antiker Triumphalkunst gezogen: un-
terworfene Barbaren und Begleiter des Kaisers fallen vor dem Herrscher nieder,
aber die einen tun es gezwungen und in Fesseln, die anderen treten heran μετά
παρρησίας; ihre Proskynesis ist Gebärde freier Verehrung39. Man wird sich
auch der Worte des Apostels entsinnen, der davon spricht (2 Tim. 4, 8), daß
ihm an jenem Tage der gerechte Richter die Krone der Gerechtigkeit geben
werde: non solum autem mihi, sed et iis, qui diligunt adventum eius (πασι
τοις ήγαπηκόσι τήν έπιφάνειαν αύτοΰ). Bei Prudentius hat allerdings die
Zuversicht der Städte noch einen besonderen Grund: sie beruht auf den Gaben,
die sie bringen. So wird sich Barchinon (Barcelona) zu dem Gabenzug erhe-
ben40 claro Cucufate f r et a (V. 33f.), und von Tarraco (Tarragona) sagt der
Dichter an anderer Stelle dasselbe wie hier (V. 13) mit demselben Bilde: wegen
ihrer Märtyrer erhebt die Stadt das diademgeschmückte Haupt (attollit caput)*1.
36 In der Vetus Latina-Ausgabe (wie Anm. 31) wird zu Prud. per. 4, 13f. auf diese Stelle
(Lc. 21,28) verwiesen. Das Erheben der Köpfe ist hier allerdings Ausdruck der Aufmerksamkeit.
37 Vgl. Heinrich Schlier, Art. παρρησία, παρρησιάζομαι: Theologisches Wörterbuch
zum Neuen Testament, begründet von Gerhard Kittel, Bd. 5, 1954, S. 869/84, bes. 879f.
38 Vgl. oben S. 368f. Zur Bedeutung des Begriffs bei den griechischen Vätern, besonders bei
Gregor von Nyssa, s. Ulrike Gantz, Gregor von Nyssa: Oratio consolatoria in Pulcheriam, Basel
1999 = ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur 6, S. 178f.
39 Ps.Joh. Chrys. a.O. (wie Anm. 27).
40 V. 34 surget. Da in diesem Gedicht jedes Wort mit Bedacht gesetzt ist, wird man an
Eph. 5, 14 denken dürfen: surge qui dorrms et exsurge a mortuis, et illuminabit te Christus,
wohl auch an Mt. 25, 6f.: Ιδού ο νυμφίος, έξέρχεσθε εις άπάντησιν· τότε ήγέρθησαν
(surrexerunt) πάσαι αν παρθένοι έκεΐναι ... κτλ. Denn von hier aus gehen die Gedanken
leicht zur Einholung des Kyrios: Peterson (wie Anm. 10) S. 699f.; vgl. Cyrill. Hierosol. cat. 15
(De secundo Christi adventu), 21 (PG 33, 897 C): άρχάγγελος προσφωνεί καΐ λέγει τοις
π α σ ι ν έγείρεσθε εις άπάντησιν τοΰ κυρίου. Ferner Ps.Athanas. (wie Anm. 27), wo die
Worte: έγείρεσθε, ήλθεν ό νυμφίος (vgl. Mt. 25, 6f.) als Ruf der Engel bei der Wiederkunft
des Herrn aufgefaßt und mit dem Bilde der άπάντησις verbunden werden.
41 Prud. per. 6,1/3; vgl. ebd. 142ff. über die drei Stadtpatrone: Ο triplex honor, ο triforme
culmeti Quo nostrae caput excitatur urbis Cunctis urbibus eminens Hiberis]
372 Prudentiana II. Exegetica
Solche Zuversicht muß aber hier aus dem Gegensatz zur allgemeinen Furcht
verstanden werden, welche die Menschen beim Zusammenbruch des Kosmos
befällt (Lc. 21, 25f.), wie denn auch der Dichter selbst betont (V. 6): Non
timet mundifragilis ruinam (sc. Caesaraugusta). Die freudige Erwartung, sonst
ein gewöhnlicher Zug des staatlichen Zeremoniells und seiner enkomiastischen
Schilderungen, erscheint im Rahmen dieser erschreckenden Ereignisse folg-
lich als erstaunliches Faktum, das eben auf den besonderen Grund lenken soll.
Es gibt noch weitere Übereinstimmungen. Bei der άπάντησις erscheinen
die Teilnehmer b e k r ä n z t 4 2 , und so dürfte es sich erklären, daß Saragossa,
also diejenige Stadt, der Prudentius die Hauptrolle im Festzug zuteilt, bekränzt
auftritt (V. 55f.). Daß es ein Ölzweig ist, den sie trägt, macht gewiß besonde-
ren Sinn, aber offenbar hat der Dichter durch das Symbol des Friedens nur
eine vertiefende Sinngebung des allgemeinen Brauchs angestrebt, wie er eben
aus solchem Anlaß üblich war; denn natürlich kann hier kein anderer Friede
gemeint sein als der, den allein Christus, der Empfänger des Gabenzugs, verleiht
(vgl. Joh. 14, 27)43. Vielleicht darf man auch die w e i ß e G e w a n d u n g
der Märtyrer, die in der letzten der ausgeschriebenen Strophen (V. 74ff.)
erwähnt wird, noch mit dem ganzen Zeremoniell in Verbindung bringen. Zwar
trägt diese Strophe bereits überleitenden Charakter, und so ist dort nicht mehr
von den gabenbringenden Städten die Rede, sondern von den Märtyrern selbst,
die weißgekleidet zum Himmel auffahren - gewiß doch deshalb, weil sie ihre
Gewänder im Blute des Lammes weiß gewaschen haben (Apc. 7, 14, vgl.
Prud. per. 5, 9/12). Da es aber nun gerade weiße Togen sind, die dieser
himmlische Senat trägt44, und da der Nachhall der großen Eröffnungsszene
nicht so rasch verklingt, kann man kaum den Eindruck fernhalten, daß selbst
hier noch eine für den staatlichen Brauch geltende Vorschrift beachtet wurde45.
Es mag genügen, wieder Pacatus zu Wort kommen zu lassen46: Quid ego referam
42 Peterson (wie Anm. 10) S. 695 mit den Hinweisen auf die Nummern seiner Textsammlung;
vgl. Lehnen (wie Anm. 11) S. 121f.
43 Nicht der trügerische Friede, wie die Welt ihn gibt: der Kranz aus Olivenzweigen gehört
auch zur Maskerade der Discordia (Prud. psych. 687)! Vgl. Christian Gnilka, Studien zur Psy-
chomachie des Prudentius, Wiesbaden 1963 = Klassisch-philologische Studien 27, S. 44f.
44 Vgl. per. 4, 145/48. Diese Bildlichkeit tritt per. 2, 553/60 noch stärker hervor, s.
Vinzenz Buchheit, Christliche Romideologie im Laurentius-Hymnus des Prudentius, in:
Polychronion. Festschrift für Franz Dölger, hrsg. vonP. Wirth, Heidelberg 1966, S. 121/44 =
Richard Klein (Hrsg.), Das frühe Christentum im römischen Staat, Darmstadt 1971 (Wege der
Forschung Bd. 267) S. 455/85, hier S. 482/84. Belege zum Bildwort senaius bei Gnilka (wie
Anm. 43) S. lOlf.
45 Vgl. Peterson (wie Anm. 10) S. 695; dazu jetzt Lehnen (wie Anm. 11) S. 124.
46 Paneg. lat. 2 (12), 37, 4.
XV. Der Gabenzug der Städte 373
47 Liv. 31, 14, 12 (Empfang Attalos' I. in Athen) = Nr. 1 bei Peterson (wie Anm. 10) S.
692; Übertreibung kann dabei natürlich im Spiel sein, s. Lehnen (wie Anm. 11) S. 130.
48 Vgl. oben S. 367f.
49 Prud. c. Symm. 2, 393ff. Gerade Adventus-Darstellungen in der bildenden Kunst zeigen
Roma mit dem Genius populi Romani und dem Genius senatus. Bekannte Beispiele aus der
Reliefkunst bei Ronald Mellor, in: Hildegard Temporini - Wolfgang Haase (Hrsgg.), Aufstieg
und Niedergang der römischen Welt I, Bd. 17, 2, Berlin-New York 1981, S. 950/1030, hier S.
1013/15 mit plate II und IV.
50 Ebd. 1, 219/22. Prudentius ist der letzte Autor der Spätantike, der den Bau erwähnt, s.
Cornelius C. Vermeule, The Goddess Roma in the Art of the Roman Empire, London 1960, S.
42. Daß Venus und Roma zur Zeit der Abfassung des Gedichts noch kultische Verehrung genossen,
geht übrigens aus dem Text trotz des gewählten Tempus (Präsens) nicht unbedingt hervor.
51 Ebd. 2, 443: Romam dico viros ... eqs.
52 Ebd. 1, 598f.: Adtamen in paucis ... Nec persona sita est patriae nec curia constat... eqs.
53 Ebd. 1, 569/72: Sipersona aliqua est out si status urbis ... eqs.
54 Ebd. 2, 649ff.: Si vocem simulare licet... eqs.
374 Prudentiana II. Exegetica
unseres Gedichts zugrunde: die Städte stehen jeweils für die gesamte Bür-
gerschaft, weshalb denn auch der Dichter den Hymnus mit einer Aufforde-
rung schließen kann, die der ganzen civitas zu Saragossa gilt (V. 197ff.)55:
Sterne te to tarn generosa sanctis Civitas mecum tumulis, deinde Mox
resurgentes animas et artus Tot a sequeris56. Von hier aus fällt noch einmal
Licht zurück auf die Eingangsszene, ohne daß doch die dichterische Kraft jener
Erfindung durch nachträgliche Tüftelei geschwächt würde. Gestützt wird die
Erfmdung zudem durch das Auftreten der Stadtpersonifikationen in der Hl.
Schrift. Man denkt an Jerusalem bei Ezechiel (Ez. 16) oder an Babylon in der
Apokalypse (Apc. 17, 3/6), vor allem aber an die Wehrufe des Herrn über die
unbußfertigen Städte (Mt. 11, 20/24; Lc. 10, 12/15). Denn wenn es auch ab-
schreckende Beispiele sind, die dort genannt werden, ist doch dem Dichter die
Idee, Städte έν ημέρα κρίσεως als Personen aufziehen zu lassen, durch sie ebenso
nahegelegt wie das Bild der άπάντησις durch das Herrenwort bei Paulus.
Man wüßte freilich gerne, wie Prudentius auf den Gedanken kam, die
Paulusstelle mit dem Zeremoniell des occursus zu verbinden, d.h. ob er etwa
für diese Auffassung ein bestimmtes Vorbild hatte. Sicherheit darüber wird
sich wohl kaum gewinnen lassen. Er mag durch exegetische Literatur dazu
gelangt sein oder sonst auf irgendeinem Wege, den wir nicht kennen57. Es
bleibt ja zu bedenken, daß der Brauch des occursus dem Neuen Testament
auch sonst nicht fremd ist. Christus wurde schon auf Erden so empfangen.
55 Ihre innere Berechtigung erhält solche Totalität aus der völligen Christianisierung der
Stadt, die sich als Folge des Martyriums jener Achtzehn ergab: per. 4, 65/72.
56 D.h.: die Bürger Saragossas werden, wofern sie jetzt die Reliquien verehren, einst den
Leibern u n d den Seelen ihrer Patrone folgen, dann nämlich, wenn sich Leib und Seele bei der
Auferstehung vereinen.
57 Aus den lateinischen Vätern hat sich mir bei Durchsicht des in der Beuroner Ausgabe
der Vetus Latina (wie Anm. 31) S. 249/56 gesammelten Materials zu 1 Thess. 4, 17, abgesehen
von der gleich zu nennenden Versreihe bei Paulinus Nolanus, keine weitere Parallele ergeben.
Wie leicht sich aber überhaupt der Gedanke an jenes Zeremoniell einstellte, zeigt Hil. in ps. 58,
6 (CSEL 22, 184f.): Exsurge in occursum mihi... eqs. Hier ist es allerdings die Einholung des
in den Himmel zurückkehrenden Sohnes und der Gerechten aus allen Völkern durch Gottvater,
die mit dem Brauch des occursus erklärt wird: et dignumfuit reditum eius ambitione occursus
caelestis ornari, ne ingressuro caelos dignatio patema deesset. Der Text beweist, daß der Terminus
(occursus) fest in der Sprache saß, da er sechsmal hintereinander innerhalb des exegetisch-
theologischen Zusammenhangs vorkommt. Auch der Seele des hl. Felix eilte die Schar der
Frommen frohlockend entgegen und empfing ihn "in den himmlischen Wolken": (illum) laeta
piorum Turba per aetherias susceperat obvia nubes (Paul. Nol. carm. 18, 138/40: CSEL 30,
103); Engelchöre, die ihm gleichfalls aus allen Toren der Himmelsstadt entgegengezogen waren,
trugen ihn im Triumph vor das Angesicht des "Königs" (ebd. 141/44: a.O. 103f.). Zu dieser -
gleichsam umgekehrten - Einholung in die Himmelsstadt vgl. P. Athanas Recheis, Engel, Tod
und Seelenreise, Roma 1958 = Temi e testi 4, S. 64/66 (Hinweis R. Stichel).
XV. Der Gabenzug der Städte 375
Seinen Einzug in Jerusalem schildert Johannes (Joh. 12, 12/19) als feierliche
Einholung durch die Menge, die, Palmzweige in den Händen, dem Ankom-
menden vor die Stadt hinaus entgegenzog (Joh. 12,13: έξήλθον εις ύπάντησιν
αύτω - processerunt obviam ei) und Ihn mit Jubelrufen als K ö n i g Israels
begrüßte58. Natürlich steht die Szene den Exegeten der Alten Kirche, aber
auch den Dichtern und Künstlern vor Augen59, und sie konnte eine entsprechende
Auffassung der Stelle aus dem ersten Thessalonicherbrief begünstigen. Immerhin
darf eine weitere Möglichkeit nicht ganz außer Betracht bleiben. Ausgerechnet
ein anderer lateinischer Dichter, Paulinus von Nola, spricht, auf 1 Thess. 4,17
Bezug nehmend, wiederholt von der Einholung des K ö n i g s 6 0 , und zwar
einmal, in der ersten der beiden Versepisteln an Ausonius, mit solcher
Deutlichkeit, daß der Schluß, er habe die Brücke zu jenem staatlichen Brauch
geschlagen, unausweichlich scheint. Vielleicht wäre auch darauf noch nicht
viel zu geben, hätte er nicht gerade in diesem Gedicht die spanische Erde
gegen arge Verwünschungen, die Städte Spaniens gegen abschätzige Bemer-
kungen des Ausonius61 in Schutz genommen und dabei gerade Saragossa, neben
Barcelona und Tarragona, besonders hervorgehoben62. Es ist verlockend, sich
vorzustellen, der spanische Dichter habe sich bei Abfassung dieses "Hymnus
der Vaterlandsliebe"63 durch die Apologie der antiken Kultur Spaniens anregen
58 Vgl. auch Mt. 8, 34 über die Einwohner von Gerasa: και Ιδού πάσα ή πόλις έξήλθεν
εις ύπάντησιν τώ Ιησού ... κτλ.; sie baten Ihn allerdings fortzugehen. Dazu Dufraigne (wie
Anm. 2) S. 348f.'
59 Vgl. Erich Dinkier, Der Einzug in Jerusalem. Ikonographische Untersuchungen im An-
schluß an ein bisher unbekanntes Sarkophagfragment, Opladen 1970 = Arbeitsgemeinschaft für
Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Bd. 167, passim (S. 48/50 zur Textgrundlage);
Dufraigne (wie Anm. 2) S. 133/35; 349/74; 363/69 (zu Juvencus, Sedulius, Proba).
60 Paul. Nol. carm. 24, 913f.: (Divites) portare tenera non valebunt nubila Ad regis
occursumDei; ebd. 935f.: Sponsique regis obviam vectos (sc. vos) Deus Fulgoreperfundat suo
... eqs. Hier ist 1 Thess. 4, 17 mit Mt. 25, 6 kombiniert, vgl. oben Anm. 40.
61 Auson. epist. 29, 51/61 (S. 287f. Peiper) = epist. 21, 51/61 (S. 251 Green [ed. min.,
Oxford 1999]). Die Stellen aus Prudentius, Ausonius und Paulinus sind mit einigen erklärenden
Angaben abgedruckt in den Fontes Hispaniae Antiquae 8, ed. Roberto Grosse, Barcelona 1959,
S. 369ff„ bes. S. 372. 380/84.
62 Paul. Nol. carm. 10, 202b/38 (CSEL 30, 33/35), bes. 231/33. Calagurris, vielleicht im
engsten Sinne die Heimat des Prudentius (s. unten S. 416f.), wird hier als unbedeutende Stadt
genannt, ein Zugeständnis, das sich aus der Art des Angriffs ergab (vgl. Auson. epist. 29, 56/
59: S. 288 Peiper), aber selbst einen glühenden Patrioten kaum hätte stören können, da der
Verteidiger gleichzeitig jede Kritik von der Seite, von der sie gekommen, zurückweist. Vgl.
Jose Martinez Gäsquez, Paulino de Nola e Hispania: Boletin del Instituto de estudios helenicos
7, 2 (Barcelona 1973) S. 27/33, bes. S. 33.
63 Wie ihn Isidora Rodriguez-Herrera nennt: Poeta Christianus, Diss. München (Speyer
1936) S. 91.
376 Prudentiana II. Exegetica
lassen, die Paulinus, von Spanien aus, an Ausonius richtete64. Paulinus jedenfalls
schließt, den Emst der geistigen Auseinandersetzung mit dem verehrten Lehrer
betonend, seinen Brief mit folgendem Ausblick auf die Parusie des Christkönigs
(carm. 10, 304ff.):
Paulinus bringt hier die Entrückung in die Luft mit den Bildern der
Seelenflügel65 und der Last irdischer Sorgen in Verbindung, gibt also, mora-
lisch interpretierend, dem Vorgang einen Sinn, der bei Prudentius fehlt66. Aber
an das Zeremoniell der άπάντησις hat auch er zweifellos gedacht. Darauf
führen schon die terminologischen Wendungen: huius (sc. regis, iudicis) in
adventum (V. 304), regis ad occursum (V. 309), darauf weisen weiter die
64 Die Möglichkeit besteht, da das Paulinusgedicht ins Jahr 393 gehört, so Pierre Fabre,
Essai sur la Chronologie de l'oeuvre de Saint Paulin de Nole, Paris 1948, S. 106; vgl. den
Überblick bei Andrea Ruggiero, Paolino di Nola. I carmi, Roma 1990, S. 139/42. Allerdings
hält es Salvatore Costanza, Rapporti letterari tra Paolino e Prudenzio, in: Atti del convegno
XXXI cinquantenario della morte di S. Paolino di Nola (431-1981), Roma o.J. [1983], S. 25/65,
hier S. 41f., für wenig wahrscheinlich, daß Paulinus diese Epistel sehr privaten Charakters, wie
der Verfasser meint, habe in die Öffentlichkeit gelangen lassen. Die Ähnlichkeit in der Sache
zwischen Paul. carm. 10, 304ff. und Prud. per. 4, Iff. hat er nicht bemerkt, wohl aber Duiiraigne
(wie Anm. 2) S. 436/40, der beide Passagen nacheinander bespricht. Unter den wörtlichen
Anklängen an Paulins zehntes Gedicht, die Costanza S. 41 bei Prudentius insgesamt verzeichnet,
fällt auf: Paul. Nol. carm. 10, 203f.: Vasconiae saltus et ninguida Pyrenaei j ... hospitia
(Auson. epist. 29 [21], 51f. Vasconis ... saltus et ninguida Pyrenaei \ Hospitia; vgl. epist. 27,
69 [24, 61] bimaris iuga ninguida Pyrenaei \ ) - Prud. per. 2, 537/40: Nos Vasco Hiberus
dividit | ... | trans et Pyrenas ninguidos.
65 Vgl. Pierre Courcelle, Art. Flügel der Seele I: Reallexikon für Antike und Christentum
8 (1972) Sp. 29/65.
66 Ein ähnliches Bild bei Prud. ham. 802/23, vgl. Roberto Palla, Prudenzio. Hamarti-
genia, Pisa 1981, S. 287f.
XV. Der Gabenzug der Städte 377
'Honoratioren', die den Zug bilden (V. 310), weisen vor allem Ziel und Zweck
des occursus: die Verehrung des Himmelskönigs gleichsam auf halbem Wege
(V. 314) und die Vereinigung des angebeteten Christus mit der lichten Schar
der Heiligen, die Ihm entgegengingen (V. 315).
3.
Prudentius hat nun allerdings mit dem Empfang des Kyrios die Darbringung
der Geschenke verbunden, hat den occursus zu einem Gabenaufzug gestaltet.
Für seine Zwecke war diese Kombination wichtig, denn die Heiligenreliquien,
welche hier die Gaben bilden, stellen ja den Zusammenhang mit dem
Hauptthema des Gedichts und der ganzen Gedichtsammlung her. Da es aber
sonst keineswegs zum Herrscherempfang gehört, dem Ankommenden die
Gebeine der Stadtpatrone als Geschenk entgegenzutragen67, milderte Prudentius
den Eindruck des Fremden, der in solcher Erfindung liegen mochte, indem er
für die Gaben zum Teil bildhafte Bezeichnungen wählte, die zum Zeremoniell
passen und die Einheit des Gesamtbildes stärken. Zunächst mag man darin
nichts weiter sehen als die Entfaltung dichterischer Variationskunst. Sie war ja
auch in diesem Falle besonders nötig, um die katalogartige Aufzählung zu
beleben, und zu ihr gehört eben ein gewisser Wechsel der Einzelbilder, der
nicht als Mangel empfunden wird, weil es mehr auf die Deutlichkeit der Im-
pression im Ganzen als auf die Einheitlichkeit der Einzelzüge ankommt. So
tragen die personifizierten Städte ihre Gaben teils im Gewandbausch (V. 7:
sinu), teils in Körben (V. 16: canistris). Die Gaben wiederum sind bald die
Gebeine der Märtyrer (V. 17: ossa\ V. 30: artubus) bzw. die Märtyrer selbst
(V. 19. 31f. 33. 36. 51. 53. 58), bald aber auch Kränze (V. 20) und ein
edelsteinbesetztes Diadem (V. 21/24), wobei im einen Falle jeder Kranz, im
anderen jeder Edelstein im Diadem für jeweils einen der Märtyrer steht. Die
Variation im Ausdruck wird auch in den interpolierten Strophen Χ, XI und XII
weiter verfolgt, allerdings nicht immer mit gleichem Geschmack. Ich verweise
67 Etwas anderes ist es, wenn man bei der άπάντησις Kultgegenstände, in christlicher Zeit
das Kreuz, mitträgt, vgl. Peterson (wie Anm. 10) S. 696. Und wieder etwas anderes, wenn die
Reliquien der Heiligen selbst feierlich eingeholt werden: Kantorowicz (wie Anm. 22) S. 212
Anm. 28; Nikolaus Gussone, Adventus-Zeremoniell und Translation von Reliquien. Victricius
von Rouen, De laude sanctorum: Frühmittelalterliche Studien 10 (1976) S. 125/33; Dufraigne
(wie Anm. 2) S. 297/318.
378 Prudentiana II. Exegetica
dazu auf die Behandlung der Verse [37/48] im ersten Bande (Prudentiana I
393/404, bes. 398f.). Zunächst waltet hier allenthalben, wie gesagt, das einfache
Streben nach Variation, kenntlich etwa auch durch den wechselnden Ausdruck
für den Begriff des Darbringens: offerenda (munera), portans, promet, dabit,
offeres, exhibebit, gestabit, habebit, \porriget, ferre iuvabit], revehes. Aber
der Wechsel im Wort bietet zugleich ein schönes, dichterisches Mittel, das
unter den Bildern der Geschenke, der Kränze, des Diadems, der Edelsteine
eigentlich Gemeinte immer wieder, aber ohne lehrhafte Pose, in Erinnerung
zu rufen. Man beachte nur, wie klug die Kranzdarbringung eingeführt wird!
In der ersten Strophe ist klar ausgesprochen, worum es geht: eben um die
Reliquien, die in dem Polyandrium zu Saragossa ruhen; die zweite Strophe
redet von den vielen "Gaben", welche die Stadt in ihrem Schöße trage, um sie
dem Herrn bei Seiner Wiederkunft darzubringen; die vierte Strophe steigert
die Bildhaftigkeit, indem sie die Personifikationen erst recht Gestalt annehmen
läßt: hocherhobenen Haupts eilt jede einzelne Stadt dem Weltenrichter entgegen,
"wertvolle Gaben in Körben tragend" - es sind diese Verse, die uns Bilder
nach Art der Miniaturen der Notitia dignitatum (Tafel VII a und VII b) vor
Augen führen68. Aber bevor die Bildersprache sich weiter entwickelt, Kränze
und edelsteinbesetztes Diadem vorgestellt werden, steigt der Dichter durch die
schlichte Angabe ossa und durch einfache Namensnennung zweier Märtyrer
noch einmal von der Bildebene herab und kehrt zur sachlichen Bedeutung der
68 Die zur Abbildung (Tafel VII a) gewählte Seite der Pariser Handschrift cod. lat. 9661
(= P, 15. Jh.) zeigt die Diözesen Macedonia und Daria mit gefüllten Körben nach links schreitend:
Bibliothfeque Nationale (H. Omont), Notitia dignitatum Imperii Romani, Reproduction rdduite
des 10S miniatures du manuscrit latin 9661 de la Biblioth&que Nationale, Paris o J . (1911) S.
18. Die Seite ist jetzt auch abgebildet bei Santo Mazzarino, Storia sociale del vescovo Ambrogio,
Roma 1989, tav. IX. Ähnliche Miniaturen - Gestalten oder Brustbilder mit gefüllten Körben -
zeigen die Seiten 37/43 und 83f. der Facsimile-Ausgabe. Die Seite mit den drei körbetragenden
Gestalten der Diözesen Italia, Illyricum, Africa auch bei Konrad Hoffmann, Das Herrscherbild
im "Evangeliar Ottos III" (clm 4453): Frühmittelalterliche Studien 7 (1973) S. 324/41, Abb.
69, dazu im Text S. 328. Die Miniaturen der Pariser Handschrift stehen dem Original, das dem
fünften Jahrhundert angehört haben dürfte, allerdings ferner als die Bilder des Münchener Codex
(Bayer. Staatsbibliothek, clm. 10291 = M2, 16. Jh.), die Otto Seeck in der Ausgabe der Notitia
(Berlin 1876) als Umrißzeichnungen wiedergibt (hier S. 9 die unserer Abbildung [Tafel VII b]
entsprechende Zeichnung). So sind die Mauerkronen der Personifikationen im Parisinus nach
gothischem Geschmack überarbeitet. Über den Speyerer Codex - die verlorene Vorlage (10.
Jh.) der erhaltenen Kopien (15./16. Jh.) - und alle weiterführenden Fragen s. Ingo G. Maier,
The Barberinus and Munich Codices of the Notitia Dignitatum omnium: Latomus 28 (1969) S.
960/1035. Die kunstgeschichtliche Seite beleuchtet J.J.G. Alexander, The illustrated manuscripts
of the Notitia Dignitatum, in: R. Goodburn - P. Bartholomew (Hrsgg.), Aspects of the Notitia
Dignitatum. Papers presented to the conference in Oxford December 13 to 15, 1974 = British
Archaeological Reports, Suppl. Ser. 15 (1976) S. 11/25 mit Abb.; vgl. bes. plate 22.
XV. Der Gabenzug der Städte 379
Bilder zurück. Umgekehrt klingt dann nach der kühnen Strophe über das Diadem
und die Edelsteine (V. 21/24) das Bildthema langsam aus: die Wortverbindungen
Felicis de cu s, artubus sanctis locuples Gerunda, Paulo speciosa
Narbo halten den Eindruck der Kostbarkeit wach, der in der Strophe über die
tarraconensischen Märtyrer erzeugt ward, ohne uns doch durch weitere
Einzelheiten den Geschmack am Bilde der Kranzdarbringung zu verderben.
Erst wieder eine fremde Hand hat durch die lästige Strophe VII [V. 25/28] das
Kranzbild kleinlich ausgeführt (s. Prudentiana I 390/93).
Von diesem Höhepunkt bildhafter Kraft und Erfindung verbreitet sich
aber nicht nur ringsumher ein glänzendes Licht, welches die Gaben aus Asche
und Gebein dichterisch veredelt und verklärt, zugleich wird auch der Zusam-
menhang erhellt, der das Motiv der Einholung mit dem des Gabenzugs verbindet:
das verbindende Glied ist eben die Kranzspende, die zum ganzen Zeremoniell
gehört. Denn seit alters war es üblich, daß Städte dem Kaiser goldene Kränze
darbrachten. Die Sitte hatte sich, aus dem griechischen Osten kommend, auf
das römische Reich fortgeerbt69. Eigentlich bildete das Kranzgold (aurum
coronarium, στεφανικόν, στεφανωτικόν) eine freiwillige Ehrengabe, welche
Fürsten und Städte bei besonderer Gelegenheit, etwa aus Anlaß eines Sieges,
der Thronbesteigung, eines Regierungsjubiläums, dem Herrscher darbrachten.
Aber die Anlässe häuften sich leicht, rasch wurde aus der Ehrengabe eine
Zwangsleistung, aus dem Geschenk eine Steuer, wie freilich auch umgekehrt
der Machthaber auf die Kranzspende verzichten oder sie für immer erlassen
konnte. So schlug etwa Augustus das aurum coronarium der italischen Städte
aus70. Aber obwohl das Kranzgold immer mehr zu einer Einnahmequelle des
Staats wurde, ging der Charakter der freiwilligen Ehrung, welcher dem Brauch
ursprünglich eignete, nie ganz verloren, ja Kaiser Julian suchte ihn auf dem
Wege des Gesetzes einigermaßen wiederherzustellen71: Als Synesios i.J. 399
69 Sie ist erschlossen vor allem durch Theodor Klauser, Aurum coronarium: Mitteilungen
des Deutschen Archaeologischen Instituts, Roemische Abteilung 59 (1944) S. 129/53 =
Gesammelte Arbeiten zur Liturgiegeschichte, Kirchengeschichte und christlichen Archäologie,
Münster 1974 = Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 3, 1974, S. 292/309.
Vgl. dens., Art. Aurum coronarium: Reallexikon für Antike und Christentum 1 (1950) Sp.
1010/20; ebd. die ältere Literatur; s. ferner Klaus Wessel, Kranzgold und Lebenskronen:
Archäologischer Anzeiger 65/66 (1950/51) Sp. 103/14; ders., Art. Aurum coronarium und
oblaticium: Reallexikon zur Byzantinischen Kunst 1 (1966) Sp. 448/52; Michael Blech, Studien
zum Kranz bei den Griechen, Berlin-New York 1982 = Religionsgeschichtliche Versuche und
Vorarbeiten 38, S. 159f. mit Anm. 258.
70 Mon. Ancyr. 21.
71 Vgl. Johannes Karayannopulos, Das Finanzwesen des frühbyzantinischen Staates,
München 1958 = Südosteuropäische Arbeiten 52, S. 144/47.
380 Prudentiana II. Exegetica
vor Kaiser Arcadius trat, um die anläßlich der Kranzdarbringung übliche Rede
zu halten, gebrauchte er die schönen Worte72: έμέ σοι πέμπει Κυρήνη,
στεφανώσοντα χρυσω μεν την κεφαλήν, φιλοσοφίςχ δέ την ψυχήν, πόλις
Έλληνίς ... κτλ. Für Prudentius ist es nun aber von besonderer Bedeutung,
daß Anlaß für die Kranzspende auch die Parusie des Herrschers geben konnte.
Nachricht darüber erhalten wir schon durch einen Papyrus des 3. Jh. ν. Chr.73,
und noch Zosimos erzählt, wie die Bevölkerung des syrischen Edessa Kaiser
Julian mit einem Kranz empfing74: ... ΰπαντήσαντες Έδεσηνοι πανδημει
στέφανόν τε προσέφερον και μετ' ευφημίας εις την σφών πόλιν έκάλουν.
Hier ist das Kranzgeschenk deutlich mit der ύπάντησις verbunden, und es
besteht kein Zweifel, daß auch Prudentius diesen Zusammenhang voraussetzte.
Denn wenn er von "Kränzen" spricht (V. 20), denkt er natürlich an Goldkränze,
wie ja auch Zosimos dafür einfach στέφανος sagt. Die folgende Strophe über
das edelsteinbesetzte Diadem läßt keinen anderen Schluß zu. Auch sonst stellt
sich Prudentius unter den Märtyrerkränzen keineswegs etwa Laubkränze vor,
vielmehr Goldkronen und edelsteinverzierte Stirnreifen75, wie sie uns oft die
frühchristliche Kunst zeigt (Tafel VIII)76. Nur in der Psychomachie werden die
72 Synes. or. de regno 3 (ed. Nicolaus Terzaghi, Rom 1944, Bd. 2, S. 7). Vgl. Christian
Lacombrade, Le Discours sur la royaut6 de Syndsios de Cyrfcne ä l'empereur Arcadios, Paris
1951, S. 17. Kranzreden wurden auch bei Übergabe des aurum oblaticium - des dem aurum
coronarium entsprechenden Geschenks der Senatoren - gehalten, s. die Angaben bei Klauser
(wie Anm. 69) S. 141 und 143 bzw. 301 und 302.
73 Vgl. Deissmann (wie Anm. 12) S. 315. Auch inschriftlich ist solcher Anlaß bezeugt,
vgl. das Ehrendekret der Stadt Elaia für Attalos ΠΙ. bei Wilhelm Dittenberger, Orientis Graecae
Inscriptiones Selectae, Bd. 1, Leipzig 1903 (Nachdruck: Hildesheim 1960), Nr. 332, S. 514, Z.
7f. (der Text auch bei Stutzinger [wie Anm. 12] S. 285 mit Anm. 8; in deutscher Übersetzung
bei Lehnen [wie Anm. 11] S. 60f.). Sonstige inschriftliche Belege für das Kranzgold aus der
Diadochenzeit bei Klauser (wie Anm. 69) S. 134f. bzw. 295f., dazu etwa noch Dittenberger
ebd. Nr. 248, S. 403, Z. 32 und Ders., Sylloge Inscriptionum Graecarum, Bd. 1, Leipzig
2
1898, Nr. 202, S. 338, Z. 43/45.
74 Zosim. 3, 12, 2; vgl. Klauser (wie Anm. 69) S. 140 bzw. 300.
75 Prud. per. 2, 556 (an Laurentius): Gestas cor ο η am civicam, und dann weiter 557f.:
Videor videre inlustribus Ge mm is coruscantem virum ... eqs. Vgl. per. 14, 119f. über den
doppelten Kranz des Martyriums und der Jungfräulichkeit für die hl. Agnes: Cingit c ο ro ni s
interea Deus Frontem duabus martyris innubae, erklärt wiederum durch die folgenden Verse
126f.: Intende nostris conluvionibus Vultum gemello cum diademate ... eqs. Golden sind
auch die Kronen der Seligen, welche die Verdammten von ferne schauen: ham. 925f.:... nec
setius aurea dona Iustorum dirimente chao rutilasque coronas Emirms ostendi poenarum carcere
mersis. Die 6. und die 14. Strophe unseres Gedichts (V. 21ff. bzw. 53ff.) sind im Zusammenhang
mit dem Kranzbild ausgeschrieben bei Anne-Marie Palmer, Prudentius on the Martyrs, Oxford
1989, S. 127f.
76 S. Apollinare Nuovo, Ravenna, Mosaik des untersten Wandstreifens im Mittelschiff,
links (um 560): Kranzprozession der Märtyrerinnen (Ausschnitt), Inst. Neg. 58616 = Tafel 135
bei Friedrich Wilhelm Deichmann, Frühchristliche Bauten und Mosaiken von Ravenna, Baden-
Baden 1958. Vgl. dazu unten S. 385/87. Märtyrerkränze in Form edelsteingeschmückter Kronen
XV. Der Gabenzug der Städte 381
Märtyrer einmal mit Blütenkränzen belohnt77, vielleicht weil der Dichter gerade
dadurch an den "unverwelklichen Kranz der Herrlichkeit" (1 Petr. 5, 4) hat
erinnern wollen. Prudentius hat also auch bei der Bezeichnung der Gaben den
Blick nicht von dem Zeremoniell des occursus abgelenkt, das seiner dichte-
rischen Vision den Rahmen gibt. Möglich, daß sich ihm auch diese Verbindung
der Motive aus der Hl. Schrift ergab. Denn gerade an die Thessalonicher sich
wendend spricht der Apostel (1 Thess. 2, 19) von seinem Ruhmeskranz bei
der Ankunft des Herrn - in Worten, die der Dichter sehr gut seinen Personifika-
tionen hätte in den Mund legen können, wenn er sie hätte zu den Stadtpatronen
sprechen lassen wollen: quae est enim nostra spes aut gaudium aut corona
gloriae? nonne vos ante Dominum nostrum Iesum Christum estis in ad-
ventu eius (έν τη αύτοΰ παρουσίς*)? vos enim estis gloria nostra et gaudium.
Schon Adolf Deissmann brachte das Pauluswort mit der Kranzspende bei der
Parusie des Königs in Zusammenhang78.
Schaut man nun aufs Ganze, zeigt sich weiterhin, daß sein Entwurf der
Szene Darstellungen der bildenden Kunst voraussetzt. Für eine Einzelheit, für
die körbetragenden Personifikationen, wurde schon auf das entsprechende
Bildmotiv hingewiesen. Wenn ältere Prudentiuserklärer aus den Körben Särge
machen und die Gabenbringerinnen mit Sarkophagen aufmarschieren lassen79,
zeigt schon die Katakombenmalerei, s. Karl Baus, Der Kranz in Antike und Christentum, Bonn
1940 (1965) = Theophaneia 2, S. 187f. Berühmte Beispiele bieten die Kränze der 24 Ältesten
auf dem Triumphbogen in S. Paolo fuori le mura (zwischen 442 und 4S0, restauriert) sowie auf
der Apsisstirnwand in SS. Cosma e Damiano, Rom (Ende des 7. Jh.?, fragmentarisch), wiederholt
in S. Prassede, Rom (zwischen 817 und 824): vgl. Renate Pillinger, Die Tituli historiarum oder
das sogenannte Dittochaeon des Prudentius, Wien 1980 = Österreichische Akad. d. Wiss.,
Philos.-hist. Kl., Denkschriften 124, S. 116f. (zu Prud. tit. 48 = V. 193/96), Abb. 76 und 77;
Rotraut Wisskirchen, Das Mosaikprogramm von S. Prassede in Rom, Münster 1990 = Jahrbuch
für Antike und Christentum, Ergänzungsband 17, S. 60/62, Abb. 49. 53, Falttafel 1 - jeweils
mit Literatur.
77 Prud. psych. 38f. Bemerkenswert, daß die Miniaturen zu dieser Szene trotzdem bald
Kränze zeigen, bald Kronen: Richard Stettiner, Die illustrierten Prudentiushandschriften, Diss.
Straßburg (Berlin 1895) S. 242f. In den Acta Tryphonis et Respicii 5 (S. 210 Ruinart) setzt ein
Engel den Märtyrern Kränze auf, die mit Blumen u n d Edelsteinen geschmückt sind: (coronas)
gemmis etfloribus omatas. Hier könnten sog. 'Blütenkronen' gemeint sein, vgl. Jutta Rumscheid,
Kranz und Krone. Zu Insignien, Siegespreisen und Ehrenzeichen der römischen Kaiserzeit,
Tübingen 2000 = Istanbuler Forschungen 43, S. 62/78. Auch die beiden Lorbeerkränze des hl.
Vinzenz (Prud. per. 5, 539f.) braucht man sich ebensowenig als Laubkränze vorzustellen wie
etwa die Lorbeerkränze, die der Kaiser trug, bevor das Diadem üblich geworden war (seit Kon-
stantin): vgl. Baus (wie Anm. 76) S. 201 und Brandenburg (wie Anm. 145) S. 174 mit Literatur.
78 Deissmann (wie Anm. 12) S. 315, wo er auch noch die oben S. 371 angeführte Stelle
2 Tim. 4, 8 dazunimmt.
79 Die Glossae veteres (Remigius von Auxerre) erklären: "canistris, sarcophagis" (PL 60,
360 A, zu V. 16), Faustinus Ardvalo (Prudentiusausgabe, Rom 1788-1789, abgedruckt bei
Migne: PL 59 und 60) denkt an Sarkophage in Form von Körben (PL 60, 359 D zu V. 16). Und
382 Prudentiana II. Exegetica
so liegt das offenbar daran, daß ihnen die Anschauung mangelte. Derselbe oder
ein ähnlicher Grund mag übrigens dazu geführt haben, daß die Strophe (V. 13/
16) in gewissen Codices fehlt: die Vorstellung der Körbe mit den Gebeinen
schien wohl einem Späteren gar 2x1 fremd, so daß er kurzerhand die ganze
Strophe strich80. Aber nicht nur jenes Detail, die Szene als ganze: der Gabenzug
der F r a u e n verrät das Medium der bildenden Kunst, die dem Dichter gleich-
sam vorgearbeitet hatte. Denn obgleich er, der Gouverneur zweier Provinzen
und hohe Beamte der kaiserlichen Kanzlei, gewiß mit offenen Augen durchs
Leben ging, konnte er doch bei Hofe oder sonst irgendwo nur die Abgesandten
der Städte sehen, wie sie die Goldkränze überbrachten: die Prozessionen gaben-
bringender Frauen dagegen kannte er von den Denkmälern her - und ebenso
sein Publikum, für das er schrieb81. Es sind längst festgelegte Ausdrucksformen
der bildenden Kunst, deren sich die dichterische Phantasie bedient, indem sie das
Zeremoniell in seiner ikonographischen Formulierung zur Anschauung bringt.
Ein solcher Gabenzug war auf dem Sockel der Arkadiussäule in Kon-
stantinopel (errichtet 401-421) zu sehen, dessen Reliefs durch Zeichnungen
des 16. Jh. bekannt sind82. Der unterste Bildstreifen auf der Südseite (Tafel
XVI) zeigt zwei Prozessionen gabenbringender Frauen, die sich von den Seiten
her zur Mitte hin bewegen: die ersten mit weitausholenden Schritten und in
der leicht vornübergebeugten Haltung, wie sie für die Gestalten der Gaben-
bringer in der römischen Triumphalkunst üblich ist83. Sie tragen Mauerkronen,
es sind also die Städte oder Provinzen der beiden Reichsteile, die selbst durch
noch J.P. Silbert, Aurelius Prudentius Clemens, Feyergesänge, heilige Kämpfe und Siegeskronen,
Wien 1820, S. 179 übersetzt: "Und in S ä r g e n köstliche Gaben bringend".
80 Vgl. Johan Bergman, De codicum Prudentianorum generibus et virtute, Wien 1908 =
Sitzungsber. Akad. Wien, Philos.-Hist. Kl. 157, 5, S. 47: "Eximie pulchros illos versus qui
delevit, sine dubio offensus erat eo, quod de canistris ossa martyrum servantibus et deo pro dono
oblatis dicit poeta nimis terrenam et in die iudicii minus dignam pietatis formam figurans; itaque
totam hanc stropham, quae sine sententiae detrimento omitti poterat, sustulit."
81 Die Vermutung, auch Frauen oder Jungfrauen seien als Abgesandte der Städte mit dem
Goldkranz bei Hofe erschienen, vorgebracht von Gerhard Steigerwald, Christus als Pantokrator
in der untersten Zone der Langhausmosaiken von S. Apollinare Nuovo zu Ravenna, in: Tortulae.
Studien zu altchristlichen und byzantinischen Monumenten, Festschrift Johannes Kollwitz, hrsg.
von Walter Nikolaus Schumacher, Rom-Freiburg-Wien 1966 = Römische Quartalschrift,
Supplementheft 30, S. 272/84, hier S. 281, hat wenig für sich.
82 Publiziert durch E.H. Freshfield, Notes on a Vellum Album containing some original
sketches of public buildings and monuments, drawn by a German artist who visited Constantinople
in 1574: Archaeologia or Miscellaneous Tracts relating to Antiquity 72 (1922) S. 87/104, plate
XV-XXIII. Die Zeichnungen sind seitdem öfters wiedergegeben worden, s. unten Anm. 86.
Nach Freshfield, plate XVII, auch unsere Abbildung [Tafel XVI], Inst. Neg. 37. 118. Auf die
Arcadiussäule verweist auch Dufraigne (wie Anm. 2) S. 437f. zu Prudentius.
83 Vgl. Klauser (wie Anm. 69) passim, bes. S. 146f. bzw. 305.
XV. Der Gabenzug der Städte 383
84 in der Beschreibung folge ich Josef Kollwitz, Oströmische Plastik der theodosianischen
Zeit, Berlin 1941 = Studien zur spätantiken Kunstgeschichte 12, S. 54f. Er nennt bereits fast
alle Parallelen, die im folgenden angeführt werden.
85 Vgl. Klauser (wie Anm. 69) passim, z.B. S. 129. 136f. 142 bzw. 292. 297f. 301.
86 Kollwitz (wie Anm. 84) S. 35/53, Beilagen 5-7; Andre Grabar, L'empereur dans l'art
byzantin, Paris 1936 (London 1971), S. 54f. pl. ΧΕΠ-XV; Klauser (wie Anm. 69) S. 144f. bzw.
303.
87 Greg. Naz. or. 4 (contra Julianum), 80: Sources Chretiennes 309, S. 204. Vgl. Alois
Kurmann, Gregor von Nazianz. Oratio 4 gegen Julian. Ein Kommentar, Basel 1988 =
Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft 19, S. 273 z.St.; er verweist auf die
Arcadiussäule. Bemerkenswert auch, daß Eusebius dort, wo er von Gabenzügen barbarischer
Völker spricht, die allerlei Geschenke, darunter Goldkränze und Diademe aus Edelsteinen,
darbringen, sogleich einfiigt: "so wie man es auf Gemälden sieht" (Euseb. v. Const. 4, 7: GCS
7, 120). Die Stelle ist ausgeschrieben bei Klauser (wie Anm. 69) S. 142 bzw. 301.
88 Zwei weibliche Gestalten, die dem Kaiser Kränze bringen, zeigt das Diptychon des
Probianus (auf dem Bildnisständer), zwei Züge Mauerkronen tragender Gestalten mit Kränzen
das Veroneser Diptychon (auf dem Sitzkasten): Richard Delbrueck, Die Consulardiptychen und
verwandte Denkmäler, Berlin-Leipzig 1929 = Studien zur spätantiken Kunstgeschichte 2, S.
252/56, Nr. 65, bes. S. 254f.; S. 126, Nr. 19; Wolfgang Fritz Volbach, Elfenbeinarbeitender
Spätantike und des frühen Mittelalters, Mainz 3 1976 = Römisch-Germanisches Zentralmuseum
zu Mainz. Kataloge, Bd. 7, S. 54f., Nr. 62, Taf. 34; S. 36 f., Nr. 20, Taf. 9; Alexander (wie
Anm. 68), plate 21 (Probianus).
384 Prudentiana II. Exegetica
zur Rechten89. Auch in der stadtrömischen Malerei des 4. Jh. hat das Motiv
Spuren hinterlassen90. Seine Beliebtheit in der Antike wird schließlich durch
sein Fortleben im Mittelalter erwiesen. Frauengestalten mit Füllhörnern, Körben
und anderen Gaben gehören zum Herrscherbild mittelalterlicher Buchmalerei,
wie es uns vor allem in Miniaturen der Reichenauer Schule aus der Zeit Ottos
III. und Heinrichs II. entgegentritt91. So enthält das "Evangeliar Ottos III." ein
Doppelbild, dessen rechte Seite den thronenden Kaiser zeigt, während auf der
linken Seite vier gabenbringende Frauen aufziehen (Tafel IX): durch Beischrift
sind die Personifikationen bezeichnet92; sie verkörpern die beherrschten Völker,
wobei jedoch statt Italia bedeutungsvoller Weise Roma an die Spitze des Zuges
gestellt wurde93. Das Kaiserbild der Bamberger Apokalypse (Tafel XI) scheint
ein darstellerisches Prinzip spätantiker Kunst widerzuspiegeln: der doppelte
Gabenzug, repräsentiert durch jeweils zwei von links und rechts herantretende
Frauengestalten, schreitet zur Mitte hin, während der Empfänger der Gaben in
dem darüber befindlichen Bildstreifen thront94. Das Schema erinnert an die
(1985) S. 177/208, hier S. 197f. Vgl. Kuder (wie Anm. 92) S. 210/18, Abb. 20; ebd. S. 199/
201 zur parallelen Darstellung im Perikopenbuch Heinrichs II. (Abb. 17). Hinzuzunehmen ist
jetzt der Katalog: Gude Suckale-Redlefsen - Bernhard Schemmel (Hrsgg.), Das Buch mit den 7
Siegeln. Die Bamberger Apokalypse, Ausstellung der Staatsbibliothek Bamberg, Luzern 2000;
hier zum Herrscherbild (Tafel XXXIV) bes. Bernd Schneidmüller (S. 11/30), Martina Pippal
(S. 143/48) sowie die Beiträge der Herausgeberin passim, bes. S. 95. Uber die drei hier erwähnten
Handschriften und Miniaturen s. auch Hartmut Hoffmann, Buchkunst und Königtum im
ottonischen und frühsalischen Reich, Stuttgart 1986 = Schriften der Monumenta Germaniae
Historica 30, 1, S. 39 Nr. 12. 13 und 14 bzw. S. 309. 310 und 333. Weitere Zusammenhänge
eröffnet Joachim Ott, Krone und Krönung, Mainz 1998. - Für wertvolle Hinweise danke ich
Herrn Dipl.-Bibliothekar Dr. Werner Taegert, Staatsbibliothek Bamberg.
95 Vgl. Myrtilla Avery, The Exultet Rolls of South Italy II, Princeton-London-Den Haag
1936, plate XXXIII. Farbige Abbildung in dem Katalog der Ausstellung: Civiltä del Manoscritto
a Gaeta. Exultet e Corali dal X al XVII secolo, Gaeta, Palazzo De Vio, Agosto-Ottobre 1982,
Tafel auf S. IX, dazu S. 32/34. Die Köpfe der Frauen sind hier von einem Umhang bedeckt.
96 Vgl. Sigrid Müller-Christensen, Das Gunthertuch im Bamberger Domschatz, Bamberg
1984 = Veröffentlichungen des Diözesanmuseums Bamberg Bd. 2, S. 10; Birgitt Borkopp -
Marcell Restle in dem Katalog: Rom und Byzanz. Schatzkammerstücke aus bayerischen
Sammlungen (Bayer. Nationalmuseum München), hrsg. von Reinhold Baumstark, München
1998, Nr. 64, S. 106/10 mit farbigen Abbildungen; hier am Schluß weitere Literatur.
97 Vermutlich gehörten auch die karolingischen Stuckfiguren zweier Frauen im Corveyer
Westwerk, deren Vorzeichnungen sich erhalten haben, in diesen Zusammenhang: "Sie standen
mit vorgestreckten, wohl verhüllten Händen, in denen sie allem Anschein nach einen Gegenstand
hielten": Hilde Claussen, Karolingische Stuckfiguren im Corveyer Westwerk. Vorzeichnungen
und Stuckfragmente: Kunstchronik 48 (1995) S. 521/34, hier S. 523.
386 Prudentiana II. Exegetica
98 Klauser (wie Anm. 69) S. 147/53 bzw. 305/09; Baus (wie Anm. 76) S. 190/201; s. auch
oben Anm. 76.
99 Die beiden Prozessionen sind später entstanden (um 560) und ersetzen Mosaiken aus der
Zeit Theoderichs; sie bilden trotzdem mit den Darstellungen des thronenden Christus und der
thronenden Gottesmutter eine Einheit: Friedrich Wilhelm Deichmann, Ravenna. Hauptstadt des
spätantiken Abendlandes 1, Wiesbaden 1969, S. 199f. Mit der Szene bei Prudentius vergleichen
sie auch Dufraigne (wie Anm. 2) S. 438 und Michael Roberts, Poetry and the Cult of the
Martyrs, Ann Arbor 1993, S. 33f.
100 Das kann aus der - heute gleichfalls zerstörten - Mosaikinschrift geschlossen werden
(ILCV 976), die Papst Xystus III. (432-440) an der inneren Fassadenwand anbringen ließ: vgl.
Theodor Klauser, Rom und der Kult der Gottesmutter Maria: Jahrbuch für Antike und Christentum
15 (1972) S. 120/35, hier S. 131/34, wo auch ein weiteres Beispiel für eine Prozession
kranztragender Märtyrer (Apsis der Kirche des hl. Priscus in Alt-Capua) besprochen ist: S. 133
mit Abb. 2.
ιοί Noch dem 4. Jh. gehört ein Sarkophag an, der kranzbringende Apostel neben dem
thronenden Christus zeigt: Friedrich Wilhelm Deichmann - Giuseppe Bovini - Hugo Brandenburg,
X V . Der Gabenzug der Städte 387
Repertorium der frühchristlich-antiken Sarkophage 1, Wiesbaden 1967, Nr. 193. Eine Darstellung
kranztragender Heiliger nimmt Josef Engemann, Zu den Apsis-Tituli des Paulinus von Nola:
Jahrbuch für Antike und Christentum 17 (1974) S. 21/46, hier S. 28f. mit Abb. 5, für das
Apsismosaik in Fundi (Anfang des 5. Jh.) an.
102 Vgl. Nordström (wie Anm. 89) S. 83 f. und vor allem Steigerwald (wie Anm. 81)
passim, bes. S. 282. Dagegen betont Deichmann (wie Anm. 99)2, 1 S. 150, "ein unmittelbarer
Zusammenhang" der Prozessionen in S. Apollinare mit den kaiserlichen Ehrensäulen sei nicht
anzunehmen. Allgemeine Übereinstimmungen hinsichtlich gewisser Darstellungsprinzipien
anerkennt auch er: ebd. S. 38f. zum Kuppelmosaik im Baptisterium der Kathedrale und zu den
Reliefs der Arcadiussäule.
103 Otto G. von Simson, Sacred Fortress. Byzantine Art and Statecraft in Ravenna, Princeton,
N. J. Ί 9 4 8 (21987) S. 98/101. Widerspruch bei Nordström (wie Anm. 89) S. 83.
104 Steigerwald (wie Anm. 81) S. 278/81, bes. S. 281: "Analog zu den Provinzen auf der
Südseite der Arcadiussäule bzw. den Städten auf den anderen Denkmälern bringen die Jungfrauen
in S. Apollinare Nuovo den Kranz im Auftrag der Städte und Provinzen des west- und oströmischen
Reiches dem Christkönig ..." usw. Scharf zurückgewiesen wird diese Interpretation von
Deichmann (wie Anm. 99) 2, 1 S. 150. Steigerwald berief sich auf Ven. Fort. carm. 8, 3 (De
virginitate), bes. 139/76 (MGH a.a. 4, 1, S. 184f.), wo die Märtyrer als Gesandte bzw. als
Geschenke der Städte zur himmlischen Versammlung geschickt werden. Das Gedicht dürfte
Prud. per. 4 voraussetzen (vgl. oben Anm. 7), aber es fehlt gerade das Motiv des K r a n z e s .
Mit mehr Recht hätte sich daher Steigerwald auf Prudentius stützen können.
105 Diesen Gang der Entwicklung betont Klauser (wie Anm. 69) S. 151 bzw. 308; zurück-
haltender Baus (wie Anm. 76) S. 194 oben.
388 Prudentiana II. Exegetica
Wie dem aber auch sei, der Vergleich der Poesie und der Kunst läßt
einen gemeinsamen Punkt hervortreten, von dem aus man den unendlichen
Abstand erahnen kann, der zwischen dem aurum coronarium (oder oblaticium)
für den Kaiser und dem Kranzgold für Gott liegt: zwischen der Kranzdar-
bringung bei Hofe und der im Himmel, zwischen dem irdischen Zeremoniell
und jener größeren Realität, auf die es bildhaft weisen soll. Die Stadt Tarraco,
die bei Prudentius dem ankommenden Christus ihr "schönes Diadem" dar-
bringt (per. 4, 21/24), hat es doch selbst von Gott erhalten (per. 6, 1/6), und so
erscheint auch der Märtyrer in der Kunst als Empfänger und als Bringer des
Goldkranzes, denn er schenkt Gott nur, was er von Ihm erhalten hat106. Er wird
von Gott zum Martyrium auserwählt und im Leiden gestärkt, ja Christus selbst
leidet im Märtyrer, so daß Er den Kranz zugleich gibt und empfängt107. Man sieht
daran, daß die Bilder, weil es eben nur Bilder sind, nur Versuche, die höheren,
alle sichtbare Welt übersteigenden Tatsachen abbildhaft darzustellen, notwen-
digerweise nebeneinander bestehen und in ihrer Bedeutung einander überlagern
müssen, und es wäre purer Unverstand, hier gleichsam Ordnung schaffen zu
wollen, wo doch die Bilder gerade das Mittel sein sollen, das Beschränkte des
ordnenden Menschenverstands zu überwinden, indem sie das Mysterium des
Zusammenwirkens von Gnade und Verdienst anschaulich entfalten.
4.
Die antiken Dichter lieben es, ihre Kunst an schwierigen und spröden Stoffen
zu zeigen, und sicher gehört die poetische Bewältigung langer Namensreihen
zu den schwierigen Aufgaben. Aber wir dürfen annehmen, daß das antike Publi-
106 Vgl. Andre Grabar, Martyrium. Recherches sur le culte des reliques et l'art chrdtien
antique 2, Paris 1946, S. 56f. Wenn auch hierzu die spätantike Kaiserideologie etwas Ähnliches
enthält - die Siege des Feldherrn in der Schlacht und des Wagenlenkers im Hippodrom sind
Siege des Kaisers (Grabar ebd.) so kann auch dies, vom Standpunkt christlicher Religion aus
betrachtet, kaum mehr sein als eine schattenhafte Andeutung des Verhältnisses, das zwischen
Christus und dem Märtyrer besteht.
107 Grabar (wie vorige Anm.) verweist auf Cyprian epist. 10, 4 (CSEL 3, 2, S. 494): ...
ipse luctatur in nobis, ipse congreditur, ipse in certanüne agonis nostri et coronat pariter et
coronatur. Über entsprechende Gedanken bei Prudentius s. Rainer Henke, Studien zum Roma-
nushymnus des Prudentius, Frankfurt-Bern-New York 1983 = Europ. Hochschulschriften, Reihe
15, Bd. 27, S. 97f.
XV. Der Gabenzug der Städte 389
108 Wenn auch das Empfinden für die Trockenheit eines Katalogs nicht fehlte; vgl. Marion
Lausberg, Epos und Lehrgedicht. Ein Gattungsvergleich am Beispiel von Lucans Schlangen-
katalog: Würzburger Jahrbücher fiir die Altertumswissenschaft N.F. 16 (1990) S. 173/203, hier
S. 188 mit Anm. 71 (zu Macrob. Sat. 5, 16, Iff.).
109 Vgl. J. Gassner, Kataloge im römischen Epos (Vergil, Ovid, Lucan), Diss. München
1972, S. 5ff. Weitere Literatur bei Lausberg a.O. (wie vorige Anm.).
110 Benutzung des Katalogs Verg. Aen. 7, 641/817 nimmt Christian Schwen, Vergil bei
Prudentius, Diss. Leipzig 1937, S. 50f. für den Katalog der Feindvölker (nach Jos. 11, 3 bzw.
24, 11) bei Prud. ham. 409/23 an. Vgl. etwa noch den Edelsteinkatalog psych. 851/67 und dazu
Gnilka (wie Anm. 43) S. 107/14. Das einen Pilgerkatalog enthaltende Gedicht per. 11 ist im
elegischen Distichon abgefaßt und trägt insgesamt anderen Charakter als per. 4. Es gehört nicht
zu denjenigen Stücken der Sammlung, welche die Situation des Festlieds wahren. Vgl. Salvatore
Costanza, II catalogo dei pellegrini: confronto di due tecniche narrative (Prud. Per. XI189-213;
Paolino di Nola Carm. XIV 44-85): Bollettino di Studi Latini 7 (1977) S. 316/26.
i" Pind. Isthm. 5, 30/35; Hör. carm. 4, 14; Mart, epigr. 1, 61; vgl. Ov. am. 3, 15, 7f. Zu
diesem Typ der Priamel s. Walter Kröhling, Die Priamel beispielreihung) als Stilmittel in der
griechisch-römischen Dichtung, Greifswald 1935, S. 53/56. Kritik an den Definitionen der
Priamel übt William H. Race, The Classical Priamel from Homer to Boethius, Leiden 1982 =
Mnemosyne Suppl. 74, S. 1/17. Weiteres bei R.G.M. Nisbet - Margaret Hubbard, A Commentary
390 Prudentiana II. Exegetica
on Horace: Odes. Book 1, Oxford 1970 (1980) S. 3 und S. 92. Bemerkenswert Mart, epigr. 4,
55, wo dem Lob berühmter Griechenstädte (4, 55, 4/7: mit Bezug auf Hör. carm. 1, 7, 1:
claram Rhodon) die Namen der keltiberischen Heimat entgegengesetzt werden. Auch für die
Bewältigung vieler Namen im Maß der sapphischen Strophe gibt Horaz das Vorbild: carm. 1,
12, bes. 33/48.
112 Ein Interpolator verlängerte sie noch um vier Strophen und setzte zwei neue Namen
hinzu: s. unten Anm. 115.
XV. Der Gabenzug der Städte 391
tius durch die bedeutende Länge seines Hymnus, die den Umfang horazischer
Oden erheblich übertrifft113. Dadurch bot sich ihm die Möglichkeit, die beiden
Kataloge weit voneinander zu trennen. Er schob das Lob des hl. Vinzenz (V.
89/108) und das der hl. Encratis (V. 109/44) ein und bewirkte so ausreichenden
Abstand, indem er die gedrängte Namensfolge des Anfangs erst einmal abklingen
und, bevor er zum zweiten Katalog ansetzte, die Aufmerksamkeit auf zwei
Personen ruhen ließ. Die beiden Zwischenstücke bilden aber nicht nur äußerlich
tragende Glieder in der Architektur des Gedichts, sie stehen auch in innerer
Verbindung mit dem ganzen Baukörper. Zunächst einmal steigert der Dichter
den Ruhm der Stadt Saragossa, da er ihr zwei weitere Märtyrer vindiziert.
Darüber hinaus erfüllt jedoch jeder der beiden Teile noch eine besondere Auf-
gabe, die aus dem tieferen Gedankenzusammenhang erwächst und eine inner-
liche Verknüpfung zu den umgebenden Gedichtteilen herstellt. Im Stück über
Vinzenz zeigt der Dichter, wie die Blutsaat der Achtzehn aufging; ihre Frucht
war nämlich die Heiligkeit der ganzen Stadt (V. 65/76), die dann wiederum
einen Märtyrer wie Vinzenz hervorbringen konnte. Der Sieg des Märtyrers
erscheint so, indem seine Bindung an Saragossa von der bloßen Zufälligkeit,
wie sie in der lokalen Herkunft liegen könnte, befreit wird, als ein wahrer Sieg
der Stadt (V. 101/08)114. Einen anderen Gesichtspunkt faßt der Dichter in den
Strophen über Encratis ins Auge. Ihre Zugehörigkeit zu Saragossa war zwei-
felsfrei, da sie, anders als Vinzenz, dort gelitten hatte und dort begraben ward
(V. 109f.). Aber indem Prudentius ihre Martern und anhaltenden Schmerzen
schilderte, die sie als Folgen der Folter zu erdulden hatte, hob er die Heilige
nicht nur über den Stand der Bekennnerin hinaus"5, sondern brachte auch mit
der Darstellung des Leidens ein wesentliches Element des Märtyrertums zur
Geltung, auf dessen Behandlung der Dichter auch in den anderen Märtyrer-
liedern kaum je verzichtete116. Es durfte in diesem großen Hymnus nicht fehlen.
Da solche Schilderung aber Details erforderte, die kaum mit der Vielzahl
verschiedener Personen zu verbinden waren, wie sie in den beiden Katalogen
Revue passieren, ist es diese eine Gestalt, die gleichsam stellvertretend für die
heroischen Tugendleistungen (vgl. V. 109f.) aller anderen eintritt"7. Von hier
aus ergibt sich die innere Verbindung zum Preis der Achtzehn Märtyrer, den
Prudentius folgen läßt (V. 145ff.). Denn um den feierlichen Hymnenstil er-
neut zu beleben, der in den mehr erzählerischen Zwischenstücken gedämpft
worden war, gibt er dem Katalog diesmal die Form lebhafter Aufforderung
zum Lob der Achtzehn Blutzeugen, worunter er aber eben nicht bloße Anrufung
ihrer Namen verstanden wissen will, sondern gerade die rühmende Darstellung
der Art und Größe ihrer Leiden (V. 153/60) - Beweis dafür, daß er hierin ein
Grunderfordernis des Hymnus erblickte, das er selbst in den voraufgehenden
Strophen über Encratis erfüllt hatte. Mit dem 'Katalog'- man scheut sich fast,
den trockenen Terminus auf solche hochdichterische Partien anzuwenden -
setzt der volle Klang des Festlieds wieder ein (V. 145ff.): Ergo ... Perge
conscriptum tibimet senatum Pangere psalmis\ Prudentius hat also darauf
hingearbeitet, die Kataloge zu Höhepunkten der lyrischen Stimmung zu machen,
zu Schwungrädern der hymnischen Bewegung und Zentren poetischer Kraft.
Und allein daher wird verständlich, weshalb er es wagte, seinem Gedicht gleich
zwei Kataloge zuzumuten118.
Sieht man freilich genauer zu, wird man der Mühe gewahr, die der
Dichter aufwandte, um diese Wirkung zu erzielen. Mit Recht hat man gerade
die Anlage der Eingangspartie, der wir uns nun wieder zuwenden wollen,
gerühmt119. Man erkennt nach und nach, welche Mittel der Autor einsetzte,
um seinen Gabenzug so zu ordnen, daß jeglicher Eindruck eintönigen Katalo-
gisierens ferngehalten wird. Eine Schwierigkeit lag schon darin, die Namen
überhaupt in die sapphische Strophe zu bringen. In einigen Fällen war das
Persecutor's Envy and the Rise of the Martyr Cult: Peristephanon Hymns 1 and 4: Vigiliae
Christianae 45 (1991), S. 327/46, hier S. 336. 341.
in Doch die Strophe XXXV [ = V. 137/40], die zur Folterschilderung der Strophe XXX
( = V. 121/24) zurückkehrt, ist, wie ich jetzt sehe, interpoliert; s. unten S. 586/88.
us Das hat zu oberflächlicher Beurteilung des Gedichts gefuhrt, vgl. Clemens Brockhaus,
Aurelius Prudentius Clemens in seiner Bedeutung für die Kirche seiner Zeit, Leipzig 1872
(Wiesbaden 1970) S. 111: "Dem ganzen Charakter nach ist der Hymnus von geringerm poetischen
Werthe, wenn schon anzuerkennen ist, daß er den spröden Stoff eines Heiligenkatalogs mit
grosser Mannichfaltigkeit der Farben behandelt". Das Urteil erschien wohl immer noch recht
milde, so daß es sich sogar der eifrige Apologet des Prudentius zu eigen machen konnte: Augustin
Rosier, Der katholische Dichter Aurelius Prudentius Clemens, Freiburg i.B. 1886, S. 180.
119 Vgl. oben S. 364.
XV. Der Gabenzug der Städte 393
unmöglich. Von den Namen der drei Märtyrer aus Tarraco, die Prudentius im
sechsten Hymnus feiert, war nur einer, Fructuosus (V. 23), dem Metrum
fügsam, Augurius und Eulogius hätten im Elfsilbler wegen der daktylischen
Silbenfolge nicht Platz finden können, ohne daß der Vers zu einer caesurlosen
Fehlgeburt mißriet, und für den Adoneus, den Prudentius bisweilen durch ein
einziges Wort füllt120, fehlte diesen Namen eine Silbe. Man sieht daran, daß
das Bild des edelsteinbesetzten Diadems, das es erlaubt, die Namen zu ersetzen
(V. 21/24), verstechnische Probleme löst. Aus denselben Gründen mußte auch
der Pseudo-Prudentius, der die zehnte Strophe einfälschte [V. 37/40], sowohl
den Namen der Provinzhauptstadt Emerita (vgl. per. 3,186) als auch den ihrer
Märtyrerin Eulalia (vgl. per. 3, 1 u.ö.) umschreiben - davon war schon im
ersten Bande (Prudentiana I 396) die Rede. Dagegen ergab es sich glücklich,
daß gerade der Name Saragossas eine Silbenfolge aufweist, die den Hende-
kasyllabus bis zur Caesur füllt: V. 3 Caesaraugustam vocitamus urbem; V. 54
Caesaraugusta studiosa Christo·, V. 142 Caesaraugustae dedit ipse Christus.
Es scheint überhaupt, als habe der Dichter bisweilen seine Metra auch im
Hinblick auf die Namen gewählt, die es hauptsächlich zu feiern galt121. Nur
vor den Namen der beiden Soldatenmärtyrer seiner Heimat Calahorra kapitu-
lierte er fast vollständig. Chelidönius, anapästisch beginnend, erscheint einmal
im Hexameter (per. 11,237: Chelidöni, Gen.), Emeterius, mit gleicher Silben-
folge, steht niemals im Vers122. Hier jedenfalls, im sapphischen Gedicht (V.
3 lf.), mußten die Namen des Brüderpaars als bekannt vorausgesetzt werden123,
120 Fünfmal in cath. 4, die interpolierten Zeilen [188] und [192] nicht gerechnet; einmal in
den zwanzig Strophen des Gedichts cath. 8; Vgl. auch unten Anm. 170.
121 Die Behandlung der Eigennamen überlegt sich der Dichter natürlich, bevor er an die
Arbeit geht. Für ein griechisches Epos über den Dakerkrieg Trajans, das Caninius Rufus plante,
bildete der Tribrachys im Namen Δεκέβαλος samt der anderen barbara et fera nomina eine
beträchtliche Schwierigkeit, die Plinius dem Freunde gegenüber zur Sprache bringt: Plin. epist.
8, 4, 3f.
122 Nur in der Uberschrift zu per. 1, die auch die beiden spätantiken Codices des 6. Jh.
haben (A und Β in den Ausgaben). Bei Chelidönius = Χελιδόνιος ist zu beachten, daß Prudentius
die im Griechischen akzenttragenden Silben öfters lang mißt, andere kürzt, vgl. Maurice
Lavarenne, Etude sur la langue du pofcte Prudence, Paris 1933, Bd. 1, S. 79/83, § 141/49 (wo
allerdings nicht klar wird, inwieweit der griechische Akzent wirkt). Daher in unserem Gedicht
auch V. 36 sancte Genesi (Γενέσιος).
123 Die fünfsilbigen Wörter reichten für die sechs Silben nach der Caesur des Hendeka-
syllabus nicht aus, selbst wenn Prudentius diesen Versteil durch ein Wort hätte füllen wollen
(wie in V. 195: retinaculorum). Nur mit schließendem Monosyllabon hätten sich die Namen in
den Vers bringen lassen, wie das später Walahfirid Strabo im Falle eines anderen fünfsilbigen
Namens wagt (carm. 77, 2: MGH, Poetae Lat. Aevi Carolini 2, S. 415): ... Januarius mox |
(mit Kürzung der ersten Silbe).
394 Prudentiana II. Exegetica
ja selbst in dem Lied, das dem besonderen Lobpreis der beiden gewidmet ist
(per. 1), konnten ihre Namen nicht fallen124, und unbequem wären sie auch
dann geblieben, wenn Prudentius für jenen Hymnus ein anderes Metrum als
das trochäische gewählt hätte. Aber indem er dort die Schwierigkeit, statt sie
irgendwie verlegen zu umkreisen, sofort entschieden ins Auge faßte und gleich
eingangs betonte, die Namen der beiden Märtyrer stünden im Himmel ge-
schrieben, d.h. im Himmelsbuch, Christus habe sie da mit goldenen Lettern
adnotiert125 und den irdischen Landen in der Schrift des Bluts überantwortet,
hob er ihre Namen, ohne sie zu nennen, so hoch empor wie nur irgend möglich,
ja machte ihre Nennung im Gedichte geradezu überflüssig. Denselben Gedanken
nutzte er in unserem Hymnus, an späterer Stelle (V. 165/72), nur gleichsam in
umgekehrter Weise. Hier setzt er den ungefügen Namen der Säturnini kühn in
den Vers (163), solche Kühnheit zwar begründend, aber nicht witzig umspie-
lend, wie das etwa Ovid und Martial aus ähnlichem Anlaß tun126: die Liebe zu
den "goldenen Namen", erklärt Prudentius, achtet die Gesetze des Metrums
gering, und vollkommen kunstgemäß ist es, diejenigen Namen im Hymnus
Christus vorzutragen, die im Himmelsbuch stehen, das einst zur rechten Zeit
wird aufgeschlagen werden (vgl. Apc. 20, 12). Damit hat der christliche Dichter
ein konventionelles Motiv neu und tief erfaßt127 und die metrische 'Lizenz'
eigentlich erst ernsthaft gerechtfertigt, indem er nicht den Namen der Kunst
unterordnete, sondern umgekehrt: die Kunst dem Namen128. Und nach diesem
124 Prudentius läßt in den 120 trochäischen Septenaren dieses Gedichts (per. 1) keine Auflö-
sungen zu, in den 114 Septenaren des Christushymnus (cath. 9) nur zwei. Daß Prudentius
übrigens in diesem Metrum eine "tonalite militaire" gehört habe - so Jean-Louis Charlet, La
Creation poetique dans le Cathemerinon de Prudence, Paris 1982, S. 38 - scheint im Hinblick
auf cath. 9, Iff. zumindest zweifelhaft: Da, puer, plectrum, choraeis ut canamfidelibus Dul c e
carmen et melodum ... eqs.
125 Per. 1, 2 adnotavir. Christus führt nicht eigentlich Buch - das besorgt nach per. 10,
1121/30 ein Engel er sieht die himmlischen Regesten durch und zeichnet sie aus, wie ein
(literarischer) Rezensor bestimmte Stellen adnotiert, vgl. Gell. 17,2, 1: (recensere), quae in eo
libro scripta essent in utrasque existimationes laudis aut culpae adnotamentis digna. Allerdings
besteht die Adnotation hier offenbar doch in der Verzeichnung der Namen selbst (vgl. per. 4,
169f.: adnotatas Nominumformas). Auch das Verlesen vor dem Richter übernimmt ein Engel
(per. 4, 173f.; vgl. 10, 1131/35). Zum Ganzen s. Leo Koep, Das himmlische Buch in Antike
und Christentum, Bonn 1952 = Theophaneia 8, wo auch die Prudentiusstellen besprochen sind
(S. 51f. 79f. 121f.).
126 Ov. epist. ex Ponto 4, 12, 5/16; Mart, epigr. 9, 11, 10/17.
127 Rudolf Kassel, Quod versu dicere non est: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik
19 (1975) S. 211/18 = ders., Kleine Schriften, hrsg. von Heinz-Günther Nesselrath, Berlin-
New York 1991, S. 131/37.
128 Prudentius wagt nicht, den heiligen Namen zu entstellen (vgl. Ov. epist. ex Ponto 4, 12,
15 vitiis ... corrumpere nomeri), indem er die erste Silbe fälschlich kürzt, sondern er setzt sich
über das Versmaß hinweg, indem er die lange erste Silbe des Namens Saturninus an einer Stelle
XV. Der Gabenzug der Städte 395
Vorbild handelte ein Späterer, Sidonius Apollinaris, als er den Namen eines
anderen Saturninus, des Märtyrerbischofs von Toulouse (St-Sernin), an gleicher
Stelle in den sapphischen Elfsilbler setzte: die Lizenz wie ein Zitat gebrau-
chend129. Denn über diesen einen Fall hinauszugehen, lehnt er ausdrücklich
ab, womit er das Verfahren des Vorgängers genau einhält130. In der Tat ließ sich
solche Freiheit nicht beliebig ausdehnen, ohne die Kunst aufzulösen. Einmal
durften die carminis leges (vgl. V. 165) außer Kraft gesetzt werden, zumal die
eine Ausnahme gleich vieren der Achtzehn Märtyrer von Saragossa zugute
kam131, aber sonst mußte doch auf andere Art Abhilfe geschaffen werden. Im
Eingangsteil des Hymnus war die Unterdrückung unbequemer Namen auch
leichter zu verantworten als später bei Aufzählung jener Achtzehn. Denn hier
ging es eigentlich gar nicht so sehr um die Namen, und an Vollständigkeit der
Namensliste war erst recht nichts gelegen; vielmehr kam es darauf an, den
Eindruck der Gabenfülle zu erwecken und die Gabe der einen Stadt Saragossa
dennoch als die reichste zu erweisen (V. 57/60). Da es nun aber um Gaben
gleichen Werts ging, mußten sie zwar alle genau gezählt, nicht aber unbedingt
benannt werden, und es konnte daher nur vorteilhaft wirken, wenn der Katalog
des Verses beibehält, wo das Metrum eine Kürze erfordert - und das ist k e i n Fehler: V.
166f. (loquendi curd) vitiosa non est ... eqs. Er faßt die Lizenz also nicht als prosodische,
sondern als metrische. Auch Martial schämt sich nicht der nomina duriora seiner Heimat (vgl.
Mart, epigr. 4, 55, 8ff.; 12, 18, 12: nomina crassiora terns), aber der christliche Dichter hat
dafür ganz andere Gründe, weshalb er auch, in einem Falle, verlangen kann, daß der Vers sich
dem Namen fügt.
129 Sidon. epist. 9, 16, v. 77 (MGH a.a. 8, S. 172 Luetjohann; 3, S. 182 Loyen). Daß etwa
der Name des Bischofs von Toulouse anders gemessen worden sei als der gleiche Name der
spanischen Märtyrer bei Prudentius, also kurze Anfangssilbe gehabt hätte, ist so gut wie ausge-
schlossen, zumal Papst Damasus sein Epigramm auf den römischen Märtyrer Saturninus aus
Carthago mit dem Vers beschließt: Saturnine tibi martyr mea vota rependo (epigr. Damas. 46,
12 Ferrua). Vielmehr bildet der stille Hinweis auf Prudentius, den man im Kreise des Sidonius
wie einen Klassiker las und neben Horaz stellte (Sidon. epist. 2 , 9 , 4 : S. 31 Luetjohann; 2, S. 64
Loyen) eine literarische Feinheit, wie man sie gerade in einem Gedicht, das Angriffe der Neider
abwehrt (V. 9ff.), erwarten darf. Das haben die Herausgeber des Sidonius offenbar übersehen.
Prudentius erscheint nicht unter den "Loci similes auctorum Sidonio anteriorum" S. 383 bei
Luetjohann, auch nicht in den erklärenden Fußnoten der Ausgabe von Andre Loyen, tome 3,
Paris 1970, S. 182. Vgl. auch Prudentiana 1409, Anm. 45.
130 Sidon. ebd. v. 81ff.: er möchte nach Saturninus auch die anderen Heiligen, deren Schutz
er erfahren habe, im Liede feiern, könne sie aber "jetzt" nicht mit Nennung der Namen
(nuncupatim) in den Vers bringen: Quos tarnen chordae nequeunt sonare, Corda sonabunt.
Also dem sapphischen Metrum waren die Namen, an die er dachte, nicht fügsam. Vgl. zu dem
Gedicht auch unten S. 403f.
131 Eugenius von Toledo bringt alle achtzehn Namen in verschiedenen Metra (carm. 9, 15/
20: MGH a.a. 14, 240), Saturnini hat er nicht, dafür aber die folgenden vier Namen, die bei
Prudentius fehlen: Cassianus, Januarius, Matutinus, Faustus. Und statt der lulia (per. 4, 151)
nennt er einen Iulius (ebd. 17).
396 Prudentiana II. Exegetica
132 Es sind das Faustus, Ianuarius und Martialis aus Cordoba, deren Akten Ruinart (wie S.
409) S. 556f. abdruckt.
133 Ich setze hier wieder die Ergebnisse der im ersten Bande (Prudentiana I 390/404) be-
gründeten Echtheitskritik voraus.
XV. Der Gabenzug der Städte 397
phen nur vier Personen unter (1/2/1). So wird der Eindruck der rasch dahinwal-
lenden, dichten Menge geschwächt und der Charakter bloßer Reihung erzeugt
(vgl. Prudentiana 1403). Gewiß genügt dieser grobe Überblick nicht, um die
Feinheit der poetischen Durcharbeitung zu zeigen. Sie kommt ja erst durch die
Variation in der Wahl und Stellung der Wörter, in ihrem Klang sowie im
Wechsel der Bilder so recht zum Ausdruck, aber es ist nicht nötig, das alles
auszusprechen. Nur auf den Einsatz der Apostrophe sei noch besonders
aufmerksam gemacht. Vocative gehören zum enkomiastischen und hymnischen
Stil, sind oft metrisch bequem134 und dienen seit jeher dazu, katalogartige Reihen
zu beleben135. Aber der Meister zeigt sich in der Art, wie er das Instrument,
das alle kennen und benützen, handhabt. Wie schön heben sich die begei-
sterten Anreden an Saragossa, die der Dichter in den Versen 53ff. mehrfach
erneuert, von den ruhigen Eingangsstrophen (V. 1/8) ab, die doch sachlich
fast dasselbe sagen! Aber hier wird die Stadt erst vorgestellt, der Sachverhalt
nur beschrieben, dort hat der Dichter inzwischen aus dem Katalog und dem
für Saragossa rühmlichen Vergleich (V. 49/60) großen Atem gezogen und
schwingt sich mit der mehrfachen Apostrophe zum Ton hymnischer Begei-
sterung auf. Auch innerhalb des Katalogteils selbst wird das Mittel mit Be-
dacht eingesetzt. Gleich zu Beginn wird so Cyprian hervorgehoben, der über-
haupt eine Sonderstellung einnimmt (V. 17f.). In feinem Wechsel folgt dann,
nach der Anrede an eine Person, die Anrede an eine Stadt, diesmal aber die
ganze Strophe prägend (V. 21/24). Strophe IX wird wieder durch die Apostrophe
eines Märtyrers geschlossen (V. 35f.). Der Du-Stil lockert also ab und zu die
Sätze auf, wird aber so sparsam gebraucht, daß der großen, feierlichen Anrede
an Saragossa (V. 53ff.) nicht vorab die Wirkung genommen ist.
Die Städte, die zum Vergleich mit Saragossa herangezogen werden,
sind in der Mehrzahl spanische Städte, wodurch das Ganze eben den Charak-
ter eines Preislieds auf die Heimat annimmt. Insgesamt ziehen, Caesaraugusta
mitgerechnet, neun Städte auf, darunter sechs spanische. Fünf gehören zur
provincia Tarraconensis, der engeren Heimat des Dichters: außer Caesaraugusta
noch die Provinzhauptstadt Tarraco, ferner Gerunda, Calagurris und Barchinon.
Der Dichter zieht kühn einen Bogen von Carthago über Corduba zu den Städten
134 Eduard Norden, P. Vergilius Maro. Aeneis Buch VI, Darmstadt "1957, S. 126, mit
Rücksicht auf die Verhältnisse im Hexameter. Aber es wird auch bei Prudentius kein Zufall
sein, daß er etwa den Namen Tarraco nur im Vocativ (per. 4, 23; 6, 158) bzw. Nominativ (per.
6, 1) gebraucht.
135 Im Völker- und Heldenkatalog bei Vergil Aen. 7, 641/817 vgl. die Verse 733f. 744f.
759f. 797. Weitere Beispiele in meinen "Studien" (wie Anm. 43) S. 113 zu Prud. psych. 864f.
398 Prudentiana II. Exegetica
136 Außer den weiter unten im Text zitierten Versen aus Prudentius' Passio Cypriani (per.
13) vgl. Prud. per. 11, 237f., wo Cyprian neben den spanischen Blutzeugen Chelidonius und
Eulalia genannt und denjenigen Heiligen zugerechnet ist, deren Fest in der spanischen Heimat
des Dichters regelmäßig begangen wird. Ferner Greg. Naz. or. 24, 6 (Sources Chret. 284, 50):
οΰτος εκείνος, τό μέγα ποτέ Καρχηδονίων όνομα, νδν δέ της οικουμένης άπάσης, und
ebd. 12 (a.O. 66): οΰτω Κυπριανός ημέτερος γίνεται.
137 Ps. 71 (72), 8/11 (Robert Weber, Le Psautier Romain, Roma 1953, S. 166), in
Zusammenhang mit der Gabendarbringung auch angeführt von Klauser (wie Anm. 69) S. 133
bzw. 295. Vgl. Apc. 21, 24 und unten S. 420.
138 Die eingfalschte Strophe XVI sucht der Städteparade noch größere Weite zu geben,
indem Carthago nocheinmal erwähnt und als volkreiche Metropole der punischen Welt mit der
herrscherlich thronenden Roma zusammengestellt wird; s. dazu Prudentiana 1404/09 und unten
S. 422/25 zu V. [61/64],
XV. Der Gabenzug der Städte 399
Heiligen zu suchen, ist gewagt139. Der Interpolator allerdings, der die Strophen
X/XII verfaßte, könnte ein eigenes Ordnungsprinzip verfolgt haben (vgl. Pru-
dentiana I 404). Denn mit jeder seiner drei Städte Emerita, Complutum und
Tingis tritt eine weitere spanische Provinz ins Bild, so daß es scheint, als habe
er die im Festzug des Dichters vertretenen Provinzen Baetica und Tarraconensis
durch die Lusitania, die Carthaginiensis und die Mauretania Tingitana ergänzen
wollen; auch die Mauretania Tingitana gehörte ja verwaltungsrechtlich zur
Diözese Spanien140. Der echte Text läßt ein politisches Prinzip nicht erkennen.
Gewiß, Prudentius hebt die Provinzhauptstadt Tarraco durch das Bild des Dia-
dems und den Umfang einer ganzen Strophe hervor, und es hat etwas Verlocken-
des, sich vorzustellen, Tarragona sei eine der beiden urbes nobiles, in denen
der Dichter nach eigener Aussage als Statthalter seinen Amtssitz hatte141. Aber
beweisen läßt sich der hübsche Einfall nicht.
Dagegen verdient Beachtung, daß Prudentius auch solche Städte in seine
Reihe aufnimmt, deren äußere Bedeutung zu seiner Zeit gering war. Im Falle
Gerundas hebt er selbst diesen Punkt hervor: die Kleinstadt (vgl. V. 29f. Parva
... Gerunda) ist reich durch die Gebeine des hl. Felix. Womit zugleich gesagt
ist, worauf ihre Bedeutung beruht! Nicht anders dürfte es mit Calagurris
stehen142. Der Punkt ist wichtig, weil er den weiten Abstand zum antiken Städte-
lob bezeichnet. Denn zunächst mag man sich ja vielleicht durch den prudentiani-
schen Katalog an Ausonius' Ordo urbium nobilium erinnert fühlen143. Auso-
139 Rosier (wie Anm. 118) S. 179/89 versucht, die beiden Kataloge unseres Gedichts in
liturgiegeschichtlicher Hinsicht auszuwerten, doch abgesehen davon, daß die notwendige Echt-
heitskritik die Basis solcher Überlegungen erschüttert, muß hier auch schon aufgrund der
Quellenlage wohl mancherlei unsicher bleiben. Immerhin führt Röslers Versuch auf einen
Gesichtspunkt, der dem Dichter wichtig war. Die Bereicherung des Festkalenders seiner Heimat
bildet ja ein Movens seiner Märtyrerdichtung, vgl. oben Anm. 136, ferner per. 9, 106; 12, 65f.
Andrerseits wird man in der Dichtung ein festes Ordnungsprinzip solcher Reihen ebensowenig
fordern dürfen wie in der Kunst. Auch die Prozessionen der Heiligen in S. Apollinare Nuovo
lassen es, aufs Ganze gesehen, vermissen; vgl. Deichmann (wie Anm. 99) S. 199.
140 Vgl. Franz Braun, Die Entwicklung der spanischen Provinzialgrenzen in römischer Zeit,
Berlin 1909 = Quellen und Forschungen zur alten Geschichte und Geographie 17, S. 126f.;
Thilo Ulbert, Art. Hispania I: Reallexikon fur Antike und Christentum 15 (1991) Sp. 607/46,
hier Sp. 615f. Zur Auswahl der Städte bei Prudentius s. auch Italo Lana, Due capitoli Prudenziani,
Roma 1962, S. 4/6, der das Fehlen einer Stadt aus der Provinz Gallaecia mit dem dort herrschenden
Priszillianismus erklärt.
141 Prud. praef. 16f.: Bis legum moderamine Frenos nobilium reximus urbium. Vgl. Rosier
(wie Anm. 118) S. 184.
142 Vgl. oben Anm. 62, im übrigen Antonio Tovar, Iberische Landeskunde, Teil 2, Bd. 3
(Tarraconensis), Baden-Baden 1989, S. 380f. (Calagoris Nasica); 449f. (Gerunda).
143 Auson. opusc. 11 (S. 144/54 Peiper) = 24 (S. 189/95 Green [ed. min., Oxford 1999]).
400 Prudentiana II. Exegetica
144 Vgl. Hanna Szelest, Die Sammlung "Ordo urbium nobilium" des Ausonius und ihre
literarische Tradition: Eos 61 (1973) S. 109/22, bes. 121; dazu R.P.H. Green, The Works of
Ausonius, Oxford 1991, S. 569/71.
145 Die beiden Städte, die er als Gouverneur verwaltete, nennt er im allgemeinen Sinne
urbes nobiles (vgl. oben Anm. 141). Aber wie er die Gewichte in Wahrheit verteilt, lehren die
Verse über Lusitanien und seine Hauptstadt Emerita per. 3, 8/10: {Locus) urbepotens, populis
locuples, Se d ma g e sanguine martyrii Virgineoque potens titulo. In diesem Sinne ist auch
etwa das Attributpraepollens, das Arles in unserem Gedicht erhält (V. 35), zu verstehen. Einen
großen Sonderfall des Städtelobs bildet Rom im Gedicht Contra Symmachum, worauf ich hier
nicht weiter eingehe. Ich verweise nur auf das Bild ebd. 1, 412/22: das Haupt der Roma, mit
goldenem edelsteinbesetztem Diadem gekrönt, aber von den Rauchschwaden des Götzendienste
verfinstert! Zugrunde liegt wohl die Darstellung der Büsten edelsteingeschmückter Personifika-
tionen nach Art der Trierer Deckengemälde; vgl. Hugo Brandenburg, Zur Deutung der
Deckenbilder aus der Trierer Domgrabung: Boreas 8 (1985) S. 143/89, bes. S.172ff.
146 Dies muß ich gegen Carl Joachim Classen bemerken: Die Stadt im Spiegel der
Descriptiones und Laudes urbium in der antiken und mittelalterlichen Literatur bis zum Ende
des zwölften Jahrhunderts, Hildesheim-New York 1980 = Beiträge zur Altertumswissenschaft
2, S. 36 und 66. Den "grundstürzenden Wandel" des Städtelobs, den Classen beim Übergang
zum Christentum vermißt, sehe ich sehr wohl, und auch Roberts (wie Anm. 99) S. 30 scheint
XV. Der Gabenzug der Städte 401
ihn zu sehen: "Much in Pe. 4 responds to analysis as a laus urbis, though the traditional topoi
are thoroughly Christianized".
147 Paul. Nol. carm. 19, 45/163 (CSEL 30, S. 120/24).
148 Ebd. 45/53 (a.O. S. 120).
149 Vgl. Prudentiana 1428.
150 Zur Wortfügung Lusitanorum caput oppidorum Urbs [V. 37f.] s. Prudentiana I 396f.,
zu den Metropolen Carthago und Rom im interpolierten Katalog [V. 61/64] ebd. S. 408f. und
unten S. 422/25. Ob im Bilde der thronenden Roma [V. 62] der Gedanke an den Primat
einbeschlossen ist, bleibt unklar; s. unten S. 424f. Prudentius selbst sagt per. 2,461/64 über die
beiden Apostelfürsten: Alter vocator gentium, Alter cathedram possidetis Ρ r imam (v.l.
primus; primas) recludit creditas Aeternitatis ianuas. Auch bei Aufnahme der Variante primus
ergäbe sich ungefähr derselbe Sinn, den auch cathedra Petri allein (per. 11, 32) hat. Doch
entscheiden sich die modernen Editoren für primam.
151 Ven. Fort. carm. 8, 3 (De virginitate), 129/76. Vgl. Anm. 7.
402 Prudentiana II. Exegetica
5.
Unser Prudentiusgedicht steht wie alle Hymnen dieses Dichters in der Nachfolge
der ambrosianischen Hymnodie, die ja auch Preislieder auf Märtyrer einschloß.
Aber Prudentius suchte die für den Volksgesang bestimmte Poesie des Bischofs
literarisch zu heben, und so goß er diesen Hymnus in die Form der sapphischen
Strophe. Catull hatte sie in die römische Poesie eingeführt, Horaz sie zu einer
der Hauptformen seiner Lyrik erwählt. Gedichte im sapphischen System sind
über alle vier Odenbücher Horazens verteilt und fassen ungefähr sämtliche
Themen horazischer Poesie: Liebe und Lebensgenuß, Moral und Staatsge-
schick, mancherlei persönliche Erlebnisse und Hoffnungen, besonders aber
Religion und Kultus. Denn gerade Götterhymnen erklingen im sapphischen
Metrum, und, was dem Dichter wohl noch mehr bedeutete, der Preis des
Princeps wird im Sapphicum gesungen152. Als es daher galt, das Kultlied des
augusteischen Rom zu dichten, wählte Horaz die sapphische Ode, und in diesem
Maß hörte man den Hymnus bei der Säkularfeier auf dem Palatin und auf dem
Kapitol. Die Knaben und Mädchen, die ihn vortrugen, mahnte der Dichter:
Lesbium servate pedem, sie zugleich an ihre hohe Aufgabe erinnernd und das
Festlied mit seinem Namen siegelnd (carm. 4, 6, 3Iff.). Doch hielt sich die
sapphische Ode nicht in diesen Höhen, weder bei Horaz selbst noch bei den
Späteren. Nach dem Carmen saeculare und weiteren Gedichten (4,2. 6), welche
die erhabensten Gegenstände zu gestalten suchen, die in horazischer Geisteswelt
existieren: die Größe des Dichtergotts Apollo, die Gewalt pindarischer Poesie
und die Taten des Augustus, schließt der alternde Dichter die Reihe seiner
sapphischen Oden mit einer gemütvollen Einladung an das Mädchen Phyllis
(4, 11). Nicht viel ist aus der nachklassischen Poesie zu nennen. In Senecas
Medea tauchen sapphische Elfsilbler und Adoneen, vierzeilig und neunzeilig
strophiert, als düsteres Chorlied auf 53 , erfüllt von bösen Ahnungen und Erinne-
rungen an Götterzorn und Strafe. Statius formt den Glückwunsch an einen
Freund, dem ein Söhnlein geboren war, in der sapphischen Strophe, wobei er
freilich auch vollere Töne anschlägt154. Wo das sapphische Gedicht in der
152 Mit dem Götterhymnus sich verbindend: vgl. Hör. carm. 1,12, ein Gedicht in pindarischer
Höhenlage, dem die späte Ode 4, 2 in gewisser Weise nahesteht. Auch das Gedicht 3, 14, das
die Heimkehr des Augustus feiert, gehört hierher. Vgl. Karl Nürnberger, Inhalt und Metrum in
der Lyrik des Horaz, Diss. München 1959, S. 53.
153 Sen. Med. 579/606 und 607/69 (hier in der erweiterten Form).
154 Stat. silv. 4, 7.
XV. Der Gabenzug der Städte 403
155 Auson. opusc. 2, 1 (S. 5f. Peiper, S. 6f. Green [ed. min., Oxford 1999]); 5, 7. 8 (S.
56f. Peiper) = 11, 7. 8 (S. 53/55 Green [ibid.]).
156 Paul. Nol. carm. 17 (CSEL 30, 81/96). Ein Seitenblick auf das horazische Geleitgedicht
3, 27 im gleichen Metrum, das Paulinus kannte und benutzte, offenbart auch hier sogleich den
vielfachen Unterschied, der freilich durch eine vorwiegend formgeschichtliche Betrachtungsweise
(Reinhart Herzog, Probleme der heidnisch-christlichen Gattungskontinuität am Beispiel des
Paulinus von Nola, in: Christianisme et formes litt6raires de 1' antiquit6 tardive en Occident,
Genfcve 1977 = Entretiens sur l'antiquitd classique 23, 1976, S. 373/423, hier S. 390/400)
kaum angemessen erfaßt werden kann. Vgl. Felix Jäger, Das antike Propemptikon und das 17.
Gedicht des Paulinus von Nola, Diss. München, Rosenheim 1913, bes. S. 47ff. und vor allem
Vinzenz Buchheit, Sieg auf dem Meer der Welt (Paul. Nol. c. 17, 105ff.): Hermes 109 (1981)
S. 235/47. Einen neuen Kommentar legt jetzt Robert Kirstein vor: Paulinus Nolanus, Carmen
17. Text, Einleitung, Kommentar, Basel 2000 = ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter im
Umgang mit der antiken Kultur VIII.
157 In per. 4 ist der Charakter des Festlieds durch die Schlußstrophe (197/200), aber auch
durch die Form des Katalogs der Achtzehn Märtyrer (145/60) betont; ebenso wahren auch
andere Lieder der Sammlung auf die eine oder andere Weise die Situation des Fests (vgl. per. 1,
118ff.; 3, 201ff.; 5, 1/8 und 561ff.).
158 Sidon. epist. 9, 16, v. 37/39 (MGH a.a. 8, 171; 3, 180 Loyen).
404 Prudentiana II. Exegetica
von Toulouse, zugleich ein Beispiel dafür liefernd, wie er die Dichtung künftig
überhaupt noch gebrauchen, und deutlich darauf weisend, welchem Vorbild er
hierin folgen will159. Auch wenn das Sapphicum noch danach, bei Ennodius,
Venantius und Eugenius, das Gefäß für allerlei Gelegenheitsgedichte bildete160,
so lag seine große Zukunft dennoch in der Hymnenpoesie, für die es Prudentius
gewonnen hatte. Die Poeten der karolingischen Zeit, Alcuin, Walahfrid Stra-
bo, Sedulius Scottus und andere, dichten Hymnen im sapphischen Metrum161,
und eine kaum überschaubare Zahl liturgischer Gesänge reiht sich später an162.
Freilich ist die Verstechnik doch nicht ganz dieselbe geblieben. Horaz
strebt danach, die Sätze und Satzglieder über die Versgrenzen hinweggleiten
zu lassen, ja über die einzelnen Strophen hinauszuziehen. Er hat infolgedessen
bisweilen Synalöphe zwischen den Versen und Wortbrechung zugelassen, aber
den Hiat an der Versgrenze eingeschränkt163. Bei Prudentius liegen die Verhält-
nisse fast umgekehrt. Synalöphe zwischen den Elfsilblern oder zwischen dem
dritten Vers und dem Adoneus kommt bei ihm nie vor, geschweige denn Wort-
brechung. Dagegen ist er mit dem Hiat freier umgegangen - jedenfalls im
Märtyrerlied (per. 4), im Fastenhymnus (cath. 8) stehen die Dinge anders164:
zwar hat er den Hiat vor dem Adoneus nicht geduldet165, aber zwischen den
Elfsilblern läßt er ihn öfters zu und ohne der Bedingung zu achten, die bei
Horaz gilt166, hierin allein dem Paulinus vergleichbar167. Ihren Grund hat diese
Eigenheit in der Neigung des Dichters, die Verse und die Strophen jeweils als
selbständige Elemente zu fassen. Daher liebt er es auch, Versende und Kolon-
ende zusammenfallen zu lassen und den Satz mit der Strophe zu schließen.
Letzteres bildet im Märtyrerhymnus geradezu die Regel, von der es nur eine
oder zwei begründete Ausnahmen gibt168, so daß hier hinter der Strophe regel-
mäßig schwere Interpunktion liegt. Enjambement über die Strophengrenze hin-
weg gibt es also in diesem Lied nie169, von einem Hendekasyllabus zum anderen
öfters, aber bei weitem nicht so häufig wie bei Horaz. Diese Technik wird
man zunächst als Folge der stärkeren Normierung zu verstehen haben, der die
sapphische Strophe in der nachklassischen Dichtung unterworfen wurde170. Sie
165 Der Pseudo-Prudentius läßt ihn einmal zu: per. 4, [27f.] duorum Igne corusco, also Hiat
vor dem Adoneus nach -m, wie bei Horaz carm. 1, 2, 47f.; 1, 22, 15f. Vgl. Ladislaus Strze-
lecki, De Horatio rei metricae Prudentianae auctore: ders., Commentationes Horatianae 1, Krakau
(Acad. Polon. litt, et scient.) 1935, S. 36/49, hier S. 44.
166 Nämlich lange auslautende Silbe wie z.B. Hör. carm. 1,2, 6f. questae, Omne, ebd. 41f.
figura Ales. Prudentius läßt in den insgesamt 164 (echten) Versen zehnmal Hiat zu, ohne auf die
Quantität zu achten (nach kurzer Silbe per. 4, 13f. excitata Obviam; 17f. ossa Ore; 173f.
decemque Angelus; 174f.filioque Urbis; dazu drei Fälle nach -m wie 21f. pulchrum Offeres). In
den 36 interpolierten Versen begegnet Hiat viermal [26f. 37f. 38f. 61f.]. Das Verhältnis verschiebt
sich um zwei Fälle (78f. 137f.), wenn man dem unten S. 584/88 geäußerten Verdacht gegen
zwei weitere Strophen nachgibt.
167 Bei Paulinus zähle ich Hiat in 39 Fällen auf seine 340 überlieferten Verse, wobei aller-
ding die Ergebnisse der notwendigen Echtheitskritik, die Kirstein (wie Anm. 156) übt, nicht
berücksichtigt sind. Auch Paulinus achtet nicht streng auf die Quantität der Schlußsilbe: zwischen
den Elfsilbern läßt er Hiat gelegentlich wie Prudentius auch nach kurzer offener Silbe zu (82f.
217f. 253f. 318f.), doch Hiat vor dem Adoneus hat unter gleicher Bedingung nur der Pseudo-
Paulinus in der - sicher unechten - vorletzten Strophe: [335f.] erile Accola templi; Paulinus
duldet ihn hier auch einige Male, aber nur nach langer Schlußsilbe (115f. 203f. 259f. 271f.)
bzw. nach -m (33 If.). Seneca und Ausonius erlauben Hiat zwischen den sapphischen Versen nur
nach langer Silbe (wie Horaz) oder nach -m (wie Horaz vor dem Adoneus). In dem Statiusgedicht
gibt es Hiat gar nicht.
168 In dem einen Fall (per. 4, 9/16) füllt der Nebensatz (cum-Satz) die eine, der Hauptsatz
die andere Strophe, wobei solche Verteilung des Satzgebildes auf zwei Strophen hier durch die
starke inhaltliche Spannung bedingt ist, welche nach Beschreibung der Parusie im temporalen
Nebensatz (9/12) auf eine Auflösung im Hauptsatz (13/16) drängt. In dem anderen Fall (per. 4,
153/60) läuft innerhalb des Katalogs die Reihe der indirekten Fragen weiter. Im Fastenhymnus
(cath. 8) greifen die Sätze mehrmals freier über die Strophengrenzen hinaus.
169 Vgl. dagegen etwa Hör. carm. 1, 2, 48f.; 12, 20f.; 2, 2, 20f.; 10, 16f.; 16, 36f.; 3, 14,
8f.; 20, 12f.; 27, 40f. 64f.; 4, 11, 4f. Im Carmen saeculare aber gibt es derlei auch nicht.
170 Daß darüber hinaus noch besonderer Einfluß des Ausonius auf Prudentius vorliege, wie
Jean-Louis Charlet, L'Influence d'Ausone sur la po6sie de Prudence (Aix-en-Provence/Paris
1980) S. 87/89 annimmt, läßt sich nicht erkennen. Abgesehen von den Echtheitheitsproblemen
leidet sein Versuch, anhand der Bildung des Adoneus den Einfluß des Ausonius nachzuweisen,
406 Prudentiana II. Exegetica
zeigt sich auch in der Binnengliederung des Elfsilblers, die auf die Caesur
nach der fünften Silbe beschränkt bleibt171. Doch darf man über alledem den
Zusammenhang mit dem ambrosianischen Hymnus nicht vergessen. Ambrosius
schrieb Texte für den Wechselgesang des Kirchenvolks, und so war es natür-
lich und notwendig, daß die einzelnen Verse trotz der Kürze des iambischen
Dimeters gewisse syntaktische Einheiten boten172, daß mitunter nach zwei Ver-
sen, immer aber am Ende der vierzeiligen Strophe ein Sinnabschnitt gesucht
ward173. Diese Eigenart hat Prudentius in seinen ambrosianischen Hymnen
durchaus beibehalten: wenn auch seine Gedichte viel länger und anspruchsvoller
sind als die Hymnen des Erfinders, so hat er doch diese aus dem Volksgesang
erklärliche Struktur nicht verwischen wollen. So liegt es nahe zu vermuten,
daß ihm dieselben Grundlinien auch bei Behandlung der klassischen Odenform
willkommen waren, daß er also das Sapphicum gerne dem Ambrosianum
anglich, zumal ihm die Nachfolger Horazens in dieser Hinsicht schon den
von vorneherein daran, daß die Basis solchen Vergleichs zu schwach ist - was der Verfasser
übrigens selbst zugibt (S. 240 Anm. 90): den 70 Adoneen im überlieferten Prudentiustext stehen
nur 16 bei Ausonius gegenüber. Außerdem verwirrt Charlet seinen Leser, indem er - wider
besseres Wissen - in seiner Tabelle S. 88 mit den 280 Versen und 70 Adoneen der beiden
Prudentiusgedichte nur ebensoviele Verse und Adoneen bei Horaz vergleicht, eine willkürliche
Beschränkung, die er von Emory Bair Lease, A Syntactic, Stilistic and Metrical Study of
Prudentius, Diss. Baltimore 1895, S. 61f. übernimmt, obwohl ihre bedenklichen Folgen schon
von Strzelecki (wie Anm. 165) S. 43/45 aufgedeckt worden waren. Auch sonst scheinen seine
Angaben nicht immer zu stimmen: Adoneus, durch ein Wort gebildet, zählt Lease bei Horaz
einmal, Charlet (S. 240, Anm. 91) zweimal; ich finde vier Fälle (Hör. carm. 4, 11, 28 Bellero-
phontem und drei Fälle vom Typ Fabriciumque: 1, 12,40; 1, 30, 8; 2, 6, 8). Catulls sapphische
Gedichte (carm. 11 und 51) haben nicht 36 Verse (so Charlet in seiner Tabelle), sondern
glücklicherweise 39 (ohne den verlorenen Vers 51,8).
171 Und nie durch Synaloephe geschwächt wird, so richtig Strzelecki (wie Anm. 165) S. 45
Anm. 3 gegen Lease zu per. 4, [62] (wo allerdings die Versgliederung hart wirkt: ipsa vix Roma
in | solio locata). Caesur nach der sechsten Silbe findet sich noch einmal bei Auson. opusc. 1,
23 (S. 6 Peiper), ist aber sonst verschwunden.
172 Jedenfalls dann, wenn man annimmt, daß die beiden Sängergruppen von Vers zu Vers
einander abwechselten. Allerdings hat man auch an Wechsel von Strophe zu Strophe gedacht:
Wilhelm Meyer, Gesammelte Abhandlungen zur mittellateinischen Rythmik 2, Berlin 1905, S.
120. Für die erstere Möglichkeit könnte die Anlage der ambrosianischen Hymnen bei Prudentius
sprechen: er duldet in dreien dieser sechs Gedichte (cath. 1.2. 11. 12; per. 2. 5) ungerade Stro-
phenzahl (cath. 1. 11. 12), darunter auch in dem Lied, das am deutlichsten den Anschluß an
Ambrosius bekundet (cath. 1). Trotz der größeren Länge dieser Hymnen scheint es wenig
glaubhaft, daß ihr Autor einen Wesenszug der ambrosianischen Hymnodie derart gröblich hätte
mißachten sollen. Dann nämlich, wenn er Texte schuf, die für den Wechselgesang zweier Chöre
von vorneherein untauglich gewesen wären. Zur Frage des antiphonischen Gesangs im Ganzen
s. in diesem Bande S. 187/91.
173 Die Strophen sind in den Handschriften oft als zwei Langzeilen geschrieben. Bisweilen
läßt sich auch eine Gliederung des achtstrophigen Hymnus in vier Strophenpaare beobachten, so
im Hymnus Aeterne rerum conditor (= Nr. 2 Walpole, Nr. 1 Bulst, Nr. 1 Fontaine): vgl. Meyer
(wie vorige Anm.) S. 119 Anm. 1.
XV. Der Gabenzug der Städte 407
Weg geebnet hatten174. Aber der auffälligste Unterschied zu Horaz tritt doch
im Umfang der Gedichte zutage. Das zwanzigstrophige Tageslied (cath. 8)
hält sich noch ungefähr in der Größenordnung horazischer Gedichte175, aber
der Hymnus per. 4 übertrifft mit seinen einundvierzig echten Strophen176 den
Umfang des neunzehnstrophigen Carmen saeculare und der gleichlangen Horaz-
ode 3, 27 um mehr als das Doppelte und ist damit viel länger als jedes horazi-
sche Gedicht gleichen Metrums, ja überhaupt länger als jede horazische Ode.
Das Prudentiusgedicht überschreitet das Maß der klassischen Odendichtung
ebenso deutlich wie die feste Norm des achtstrophigen ambrosianischen Hym-
nus. Noch weiter steigert Paulinus den Umfang seines sapphischen Gedichts177.
Beide Gedichte sind mithin trotz des Metrums schon ihrer äußeren Erscheinung
nach durchaus unklassische und eigenartige Gebilde.
Und doch: die Wahl der klassischen Strophenform für ein Festlied, das
sich der Dichter vom Chor gesungen denkt oder wenigstens als Anregung zu
Chorgesang verstanden wissen will178, mußte wohl unweigerlich Erinnerungen
wachrufen, wie sie Isidora Rodriguez-Herrera ausdrückt, wenn er vom "schönen
Carmen saeculare der Stadt Saragossa" spricht179. Die Ähnlichkeiten entziehen
sich freilich, vom Metrum abgesehen, dem sicheren Zugriff, weil sie nicht in
sprachlichen Formen, ja nicht einmal in bestimmten Gedanken bestehen180,
174 Auf die Frage, ob und wie dem Gesang des Knaben- und des Mädchenchors in der
Anlage des carmen saeculare Horazens Rechnung getragen ist, gehe ich nicht ein. Jedenfalls
handelte es sich hierbei nicht um Volksgesang, sondern um einstudierten Vortrag.
175 Daß es auch in Einzelheiten horazischer Technik näherzustehen scheint, wurde schon
bemerkt: s. oben Anm. 164. 168. Formale Ähnlichkeiten in der Wortwahl entdeckt Antonio
Salvatore, Studi Prudenziani, Napoli o.J. [1958] S. 71/77.
176 Noch 39 Strophen bleiben es immerhin, falls die unten S. 584/88 vorgetragene Skepsis
gegenüber der Echtheit der Strophen XX und XXXV berechtigt ist.
177 Die Reihe der 85 Strophen in der handschriftlichen Überlieferung muß sich freilich
erhebliche Verkürzung gefallen lassen, s. Kirstein (wie Anm. 156).
178 Vgl. bes. V. 153: Publiumpangat chorus ... eqs.
179 Rodriguez-Herrera (wie Anm. 63) S. 72.
180 Weshalb man auch im Index imitationum bei Bergman (wie Anm. 115) S. 466 zu Prud.
per. 4 vergeblich nach einer Parallele zum Carmen saeculare sucht. Doch ist die Zurückhaltung
gegenüber formalen Gleichheiten für die Horazbenutzung des christlichen Dichters überhaupt
bezeichnend; vgl. Ilona Opelt, Prudentius und Horaz, in: Forschungen zur römischen Literatur.
Festschrift Karl Büchner, Wiesbaden 1970, S. 206/13, hier S. 206 = dies., Paradeigmata Poetica
Christiana, Düsseldorf 1988, S. 130/37, hier S. 130; Peter L. Schmidt, Art. Horaz, in: Reallexikon
fiir Antike und Christentum 16, 1994, Sp. 491/524, hier Sp. 518. Sie paßt im übrigen durchaus
in den Rahmen antiker Imitationskunst, vgl. Marion Lausberg, Lucan und Homer, in: Hildegard
Temporini - Wolfgang Haase (Hrsgg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II, Bd.
32, Berlin-New York 1985, S. 1565/1622, hier 1615/17. Zu einer kaum beachteten Übernahme
aus Horaz s. in diesem Bande S. 288/92, zur Bewertung eines anderen, bekannten Falls S. 103,
Anm. 24, ferner unten S. 440/42 und die Addenda S. 526 (zu S. 37) und S. 529 (zu S. 53f.).
408 Prudentiana II. Exegetica
6.
Im folgenden gebe ich den Text der ersten neunzehn Strophen des Gedichts
(Prud. per. 4, 1/76) nach den Ausgaben von Johan Bergman (CSEL 61,1926,
S. 326/29) bzw. Maurice P. Cunningham (CCL 126, 1966, S. 286/88). Die
Strophen sind in römischen Zahlen durchnumeriert, die unechten in eckige
Klammern geschlossen. Zur Begründung der Athetesen verweise ich hier
nochmals auf den ersten Band (Prudentiana I 386/409). Mit nachträglichen
Erweiterungen ist besonders in katalogartigen Partien zu rechnen, wie gerade
unser Gedicht auch noch an anderer Stelle beweist (Prudentiana I 409/33),
ohne daß sich doch die kritische Aufmerksamkeit auf solche Teile beschrän-
ken dürfte (s. unten S. 584/88): Alter und Einhelligkeit der handschriftlichen
Überlieferung machen die Echtheitskritik keineswegs entbehrlich. Zur hand-
schriftlichen Bezeugung der Strophe IV s. oben S. 382. In den anschließenden
Erläuterungen ist fortgelassen, was schon im ersten Bande und auf den
vorstehenden Seiten (einschließlich der Anmerkungen) zur Sprache kam. Sie
wollen im übrigen dem unmittelbaren Textverständnis dienen. Das Gedicht ist
181 Beobachtungen entsprechender Art stellt Salvatore (wie Anm. 175) zum Carmen saeculare
und zu Prud. cath. 8 an, wobei er allerdings von äußerlichen Übereinstimmungen ausgeht. Er
schließt seinen - sonst durchaus reizvollen - Vergleich mit der seltsamen Bemerkung (S. 77),
das prudentianische Gedicht (cath. 8) sei geeignet gewesen, neubekehrte Christen über An-
wandlungen des Heimwehs nach dem "verlorenen Apollo" ("eventuali nostalgie ... per Γ Apollo
perduto") hinwegzutrösten - und zwar über ästhetische wie spirituelle Nostalgie! So werden
freilich Sinn und Zweck der Umorientierung horazischer Formen und Gedanken durch den
christlichen Dichter nicht recht begriffen.
XV. Der Gabenzug der Städte 409
noch fast unerklärt. Als durchgehender Kommentar steht nur die Ausgabe von
Faustinus Ar6valo (Rom 1788-1789) zur Verfügung, die bei Migne, Patrologia
Latina 59 und 60 abgedruckt ist (PL 60, Sp. 357/77: per. 4). Hinzu treten
verstreute Hinweise bei Johannes Weitz, Prudentiusausgabe, Hanau 1613, S.
595/97 (samt der beigebundenen Sylloge aus noch älteren Erklärungen) und
die spärlichen Fußnoten in den Ausgaben von Theodor Obbarius, Tübingen
1845, S. 217/23 und Albert Dressel, Leipzig 1860, S. 340/49 sowie in den
modernen Handausgaben, die auch Prosa-Übersetzungen bieten: Maurice
Lavarenne, Prudence, tome IV, Paris 21963, S. 62/70; H.J. Thomson,
Prudentius, vol. II, London-Cambridge/Mass. (The Loeb Classical Library)
1
1953, S. 156/69; Jose Guillen-Isidoro Rodriguez, (Biblioteca de Autores
Cristianos) Madrid 1950, S. 538/51; Luis Rivero Garcia, Prudencio. Obras,
vol. Π, Madrid 1997, S. 158/66. Außerdem gibt es drei metrische Übersetzungen
unseres Gedichts, darunter zwei deutsche: Sister Μ. Clement Eagan, The Poems
of Prudentius, Washington 1962 = The Fathers of the Church, vol. 43, S. 137/
45; J.P. Silbert, Aurelius Prudentius Clemens, Feyergesänge, heilige Kämpfe
und Siegeskronen, Wien 1820, S. 179/88 (seine Übersetzung zu per. 4 auch
bei Pius Bonifatius Gams, Die Kirchengeschichte von Spanien, Bd. 1,
Regensburg 1862 [Graz 1956] S. 320/24); Johann Gottlob Dölling, Die erste
und vierte Hymne aus den Siegeskronen des Prudentius, Plauen: Jahresbericht
über das Gymnasium zu Plauen, Schuljahr 1845-1846, S. 11/18. Silberts
Übersetzung löste allerdings bei Joh. Kayser, Beiträge zur Geschichte und
Erklärung der ältesten Kirchenhymnen, Paderborn 1881, S. 174, Anm.l den
Wunsch aus, sie wäre nie gedruckt worden (zustimmend Rosier [wie Anm.
118] S. 7, Anm. 4). Die hagiographischen Fragen, die das Gedicht aufgibt,
habe ich hier wie auch schon in den voraufgehenden Kapiteln nur gelegentlich
leicht gestreift (s. unten S. 421 zu V. 57ff.). Die nötigsten Angaben dazu
finden sich bei Theodoricus (Thierry) Ruinart, Acta martyrum, der das ganze
Gedicht mit einigen Fußnoten abdruckt (S. 494/97 der von mir benützten Aus-
gabe, Regensburg 1859). Für die meisten Heiligen ist Prudentius der älteste
Zeuge. Vgl. dazu C. Garcia Rodriguez, El culto de los santos en la Espana
romana y visigoda, Madrid 1966 und jetzt vor allem Pedro Castillo Maldonado,
Los märtires hispanorromanos y su culto en la Hispania de la Antigüedad
Tardia, Granada 1999, bes. 85/109 ("Prudencio"), ferner die Bemerkungen
bei Anne-Marie Palmer (wie Anm. 75) S. 255/68. Zum (späteren) inschrift-
lichen Material s. Yvette Duval, Projet d'enquete sur l'epigraphie martyriale
en Espagne romaine, visigothique (etbyzantine), in: Antiquite Tardive 1,1993,
S. 173/206, etwa S. 175 Anm. 15 und 16; hier auch die Hinweise auf die
älteren Sammlungen.
410 Prudentiana II. Exegetica
V.
Afra Carthago tua promet ossa,
orefacundo Cypriane doctor,
Corduba Acisclum dabit et Zoellum
20
tresque coronas.
Erläuterungen
Die vier ersten Strophen sind paarweise gruppiert. Strophe I stellt die
Stadt und ihren Märtyrerreichtum feierlich vor, Strophe II leitet zum Thema
der Gabendarbringung am Weltenende über. In den beiden folgenden (III/IV)
wird die Situation bei der Parusie genauer dargestellt; ausnahmsweise sind
beide Strophen syntaktisch verbunden, Neben- und Hauptsatz auf beide
Strophengebilde verteilt (über die Gründe s. oben S. 405, Anm. 168). Es folgt
der Katalog (V - VI - VIII - IX), dessen Ergebnis resümiert wird (XIII). Das
weckt einen zweistrophigen Lobgesang auf die Stadt Caesaraugusta (XIV/XV),
der die Aussage der beiden Eingangsstrophen (I/II) erneuert und steigert. Die
Strophen XVII/XIX beleuchten die segensreichen Wirkungen der achtzehn
Martyrien für die Stadt und leiten zum folgenden Teil über, der den heiligen
Vinzenz feiert. Zum Aufbau des ganzen Lieds vgl. die Hinweise oben S. 390/92.
V. 1: Bis novem... sub uno (sepulcro). Durch Verteilung der Zahlwörter
auf die betonten Versstellen und Sperrung (sub uno |... sepulcro \) wird der
Gegensatz: achtzehn in einem Grab, herausgebracht. Vgl. EugeniusTol. carm.
9, 4 (MGH a.a. 14, 239) über dasselbe Polyandrium: Unica tersenos continet
urna viros. Der eingeschobene Ausdruck: nosterpopulus zeigt die heimatliche
Verbundenheit des Dichters mit der Stadt Caesaraugusta sogleich zu Beginn
an (s. unten zu V. 31: nostra ... Calagurris); aber auchpopulus (servat) hat
XV. Der Gabenzug der Städte 413
seinen Sinn, insofern es auf die Verbindung von Volk und Märtyrer, auf die
'Volkstümlichkeit' der Märtyrerverehrung weist, vgl. z.B. 3, 214f. (Eulalia)
populosquesuos ...fovet, 6,146f. Quorumpraesidiofovemuromnes Terrarum
populiPyrenearum; 11,191f. Conglobat... Permixtimpopulosreligionisamor.
V. 4: Res cui tanta est. Die Pronominalform hier und V. 23. [41] pyrrhichisch,
um die Doppelkürze im Adoneus bzw. im Hendekasyllabus zu füllen, vgl. in
diesem Bande S. 268. Das allgemeine Wort res hat schönen Ausdruckswert,
weil es, fast παρά προσδοκίαν gesetzt, ein gewisses Pathos annimmt: "Besitz",
"Habe", aber nicht in dem alltäglichen Sinne wie Hör. epist. 1, 18, 29 tibi
parvola res est, sondern in einem weiteren, wie er etwa auch carm. saec. 47f.
zugrunde liegt: Romulae genti date (sc. di) remque prolemque Et decus
omne. V. 5: Plena magnorum domus angelorum. Die Soldatenmärtyrer
Emeterius und Chelidonius dienen im Heer der Engel (per. 1, 66), Vinzenz
gilt den Engeln als sodalis (per. 5, 288; vgl. ebd. 9: angelorumparticeps), sie
sind also tatsächlich ΐσάγγελοι (Lc. 20, 36), aber kaum mehr. Die Bezeichnung
der Märtyrer als magni angeli muß daher auffallen. Möglich ist sie, quia et
homines angeli, quicumque adnuntiant Christum et in angelorum adscisci
videntur locum (Ambr. sacr. 1, 2, 6: CSEL 73, 18, mit Berufung auf Mt. 11,
10 und Mal. 2,7); vgl. auch Antoon Bastiaensen, Les Martyrs Esprits C61estes
selon Victrice de Rouen: Instrumenta Patristica 28 (1996) S. 181/85. Ob
außerdem noch ein Bezug auf die "Engel" der sieben Gemeinden (und Städte!)
Asiens anzunehmen ist (Ape. 1, 20), muß offen bleiben. Angelus wird später
Anredeform, bes. für Bischöfe; vgl. J. Svennung, Anredeformen, Lund 1958
= Acta Societatis Litt. Human. Regiae Upsaliensis 42, S. 89f. Domus,
"Heimstatt", weil sie dort ihre Ruhestätte gefunden haben; mit dieser Nuance
wohl auch die Periphrase per. 14, 1: Agnes sepulcrum est Romulea in domo.
Daß die Märtyrer auch aus Saragossa stammten bzw. dort lebten, braucht
nicht ausgeschlossen zu werden (vgl. per. 13, 2: inde domo Cyprianum, sc.
Punica terra tulit). Beides scheint jedenfalls für Encratis zu gelten, vgl. V.
143f. (Caesaraugusta) iuge viventis domus ut dicata Martyris esset. V. 9f.:
Cum deus dextram quatiens coruscam Nube subnixus veniet rubente. Der
Herr kommt auf den Wolken, mit den Wolken (des Himmels): Mt. 24, 30; 26,
64; Mc. 13, 26; 14, 62; Ape. 1, 7 (vgl. Dan. 7, 13) bzw. auf der Wolke, wie
hier: in nube (Lc. 21, 27). Und Seine Ankunft erleuchtet wie ein Blitz den
ganzen Himmel: Mt. 24, 27; Lc. 17, 24. Dieses Bild hat Prudentius mit
Farbtupfen von der Palette der antiken Dichter versehen: Hör. carm. 1, 2, Iff.
(Sapphicum!) Iam satis terris nivis atque dirae Grandinis misit pater et
414 Prudentiana II. Exegetica
rubente D ext era sacras iaculatus arcis Terruit urbem; Verg. Aen.
7, 141/43 Hie pater omnipotens ... Intonuit radiisque ardentem lucis et auro
Ipse manu quatiens ostendit ab aethere nubem; georg. 1, 328f. Ipse pater
media nimborum in nocte co ruse a Fulmina molitur d extra (Servius
ad loc. zieht corusca fulmina zusammen, vgl. aber auch Ambr. in Luc. 8, 46
[CCL 14, 314]: Christus autem sicutfulgur coruscansper universum mundum
luminis sui globos spargit... eqs., wohl gleichfalls mit vergilischem Flair, s.
Verg. georg. 1, 473 flammarumque globos); Sen. Phaedr. 155f. quidille, qui
mundum quatit Vibrans corusca fulmen Aetnaeum manul Die
Anklänge sind längst bekannt, vgl. zuletzt Palmer (wie Anm. 75) S. 192. Es
kommt aber darauf an, den Sinn solcher Fälle dichterischer Chresis zu erfassen:
zur Darstellung des gewaltigen Ereignisses werden die erhabensten, feierlichsten
Analogien aufgeboten, welche die klassische Poesie bereithält: das ist Pflicht
des christlichen Dichters, deren Erfüllung jenen poetischen Elementen erst
Ernst und Wahrheit verleiht. Denn die blitzschleudernde Rechte Jupiters gibt
es nicht, wohl aber die des Menschensohns, der auf weißer Wolke sitzt, mit
einer scharfen Sichel in der Hand (Apc. 14,14), der das zweischneidige Schwert
führt (ebd. 2, 12) und in seiner Rechten die sieben Sterne hält (ebd. 1, 16).
Vgl. Prud. per. 5, 189/92 über das Flammenschwert (romfea) beim Jüngsten
Gericht. Auch wenn Prud. cath. 7, 93/95 schildert, wie sich Gott zur Strafe an
Ninive anschickt (Jon. 1, lf.), erhält das Dichterische einen anderen, neuen
Grad der Realität: Dextramperarmat romfeali incendio ... eqs. Hier an unserer
Stelle muß man das Detail aber wohl auch im Zusammenhang mit der
"Adventusgeste" römischer Kaiser, d.h. mit dem Gestus der erhobenen Rechten,
verstehen; s. Lehnen (wie Anm. 11) S. 149/56. Es scheint, daß diesem Gestus
von Prudentius hier eine bestimmte, biblische Begründung gegeben wird. Bei
nube ... rubente wird man sich des rötlichen Gewölks auf altchristlichen
Apsismosaiken erinnern dürfen, vgl. Paul. Nol. epist. 32, 17, v. 16 (CSEL
29, 292) über das Apsismosaik zu Fundi: (agnum) rutila genitor de
nube coronat. Zu unseren Versen paßt das (zeitlich spätere) Mosaik in SS.
Cosma e Damiano, Rom; s. F. van der Meer, Maiestas Domini, Roma-Paris
1938 = Studi di antichita cristiana 13, S. 180ff. (zum Gestus der erhobenen
Rechten Christi ebd. S. 182). Über das Thema der Parusie in der Kunst vgl.
auch Beat Brenk, Tradition und Erneuerung in der christlichen Kunst des ersten
Jahrtausends. Studien zur Geschichte des Weltgerichtsbildes, Wien 1966 =
Wiener byzantinistische Studien 3, S. 55/70. An der Parallelstelle Prud. cath.
11, lOlf. sind Blitz und Wolken zu einem Bildausdruck gefügt: Peccator in-
XV. Der Gabenzug der Städte 415
Behandlung der ganzen Frage in der Ausgabe (wie oben S. 409) S. 4*/17*,
hier S. 7*f. Vielmehr schließen sich Caesaraugusta und Calagurris deswegen
zusammen, weil Calagurris als einzige unter allen hier genannten Städten zum
conventus Caesaraugustanus gehörte, vgl. Tovar (wie Anm. 142) S. 8/10;
380f. Prudentius stammte also jedenfalls aus diesem Sprengel. Eine Entschei-
dung zugunsten einer der beiden Städte ist nicht möglich. Der Dichter wird
hier wohl überhaupt an das heimatliche Land am Ebro gedacht haben, ohne
auf eine genauere Angabe der eigenen Herkunft nach Stadt oder Stamm Wert
zu legen. Dafür scheinen auch die Wendungen his terns (V. 90), terris ...
nostris (V. 114) zu sprechen, sogar der Context per. 1, 116f. legt das nahe:
(salvator) membra no str ο consecravit ο ρ ρ i do , Sospitant quae nunc
colonos, quo s Η ib er us alluit. Dagegen mag Tarraco in dem sechsten
Gedicht (per. 6) tatsächlich nur als Provinzhauptstadt "unsere Stadt" heißen.
Weiter führt der Gebrauch des Pronomens nicht. Argumente für Calagurris (Cala-
horra) auch bei Italo Lana, Due capitoli Prudenziani, Roma 1962, S. 6/10 und
Palmer (wie Anm. 75) S. 21 f., im wesentlichen nach Rodriguez. Dieses Gedicht
(per. 4) ist im übrigen ganz von der Warte der Stadt Saragossa aus geschrieben
(vgl. den Gebrauch des Pronomens hinc V. 97, hie V. 109 und danach [78f.
179]), der Prudentius sich allenthalben zugehörig fühlt. V. 35f.: Teque, praepottens
Arelas, habebit, Sancte Genesi. Obwohl damals die Praefektur Galliens von
Trier nach Arles verlegt wurde (um 395 oder i.J. 407? vgl. Jean Guyon, Art.
Arles: RAC, Suppl. 1 [1986] Sp. 595/614, hier Sp. 601, mit Lit.; Mommsen:
MGH a.a. 9, S. 553f.) und die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt stieg, geht
praepollens, wie schon oben (Anm. 175) bemerkt wurde, nicht auf die irdische
Macht, sondern auf den Schutz des hl. Genesius. Man darf nicht vergessen,
daß ebenso ein Heiligenkatalog wie ein Städtekatalog geboten werden soll und
daß schon deswegen die Städte nicht nach ihrer politischen oder wirtschaft-
lichen Bedeutung ausgesucht werden konnten. Solche Wertung ist erst durch
die spätere Redaktion des Gedichts eingeführt worden; s. oben S. 401. Arles
ist für Prudentius in erster Linie die Stadt des Hl. Genesius, vgl. Ps.Paul. Nol.
pass. Genes. 1 (CSEL29,425f.): proprium atque indigenam Arelatensis urbis
beatissimum Genesium martyrem, alumnum eiusdem iure nascendi, patronum
virtute moriendi, celebrare iam a principio atque extollere omnia fidelium stu-
dia... debuerunt... eqs. Über die Bauten, die zu Ehren des Märtyrers entstan-
den, s. Guyon 608f. mit weiteren Angaben. Zu Genesius und seiner Verehrung
in Arles vgl. auch William E. Klingshirn, Caesarius of Arles, Cambridge
4994 (Nachdruck 1995) S. 95f. u.ö. [V. 37/48]: Die drei unechten Strophen
418 Prudentiana II. Exegetica
Χ, XI, XII sind im ersten Bande (Prudentiana I 393/404) behandelt. Nur die
Erörterung der zwölften Strophe greife ich hier nochmals auf. [V. 45/48]:
Ingeret Tingis sua Cassianum, Festa Massylum monumenta regum, Qui
cinis ... eqs. Das Possessivum sua steht betont in Bezug auf den obliquen
Casus (Cassianum) wie Cie. fam. 6, 13, 2 (eum) etiam sua natura mitiorem
facit; har. 8 etiam sua contio risit hominem; Verg. georg. 4, 190 fessosque
sopor suus occupat artus (Beispiele nach Kühner, Lat. Gram. 2, 1, S. 604).
Ebenso weiter unten V. 93f. velut ipsa membra Caespes includat suus. Der
Text bereitet Schwierigkeiten. Arevalo (PL 60, 365 B) bekennt: "Mihi locus
nonnihil obscurus est", während Lavarenne, sonst nur allzu bereit, dem Dichter
dunkle Stellen zu attestieren (gerade auch in diesem Gedicht: p. 69, note 1),
hier sich ausschweigt, also kein Problem sah. Gemeinhin wird monumenta
(Nom.) als Apposition zu Tingis gezogen, und zwar im Sinne von sepulcra. So
Bergman in den Indices der Ausgabe S. 492. 538 s.v. Entsprechend lautet die
Übersetzung in den Handausgaben: "Mausolee solennel des rois massyliens"
(Lavarenne). Über Tingis als Grablege numidischer Könige - Massy Ii heißen
alle Numidae seit Vergil (vgl. Norden, Komm, zu Aen. VI, 41957, S. 141 zu
Aen. 6, 59), auch die Völker des äußersten Westens (vgl. Aen. 4, 480ff., bes.
483: Massylae gentis) - wissen wir nichts; vgl. Michel Ponsich, Tanger antique,
in: Hildegard Temporini - Wolfgang Haase (Hrsgg.), Aufstieg und Niedergang
der römischen Welt II, Bd. 10,2, Berlin-New York 1982, S. 787/816. Immerhin
beeindrucken die numidischen Pfeilergräber und Grabtumuli; vgl. Friedrich
Rakob, Numidische Königsarchitektur in Nordafrika, in: Die Numider (Kata-
log der Ausstellung im Rhein. Landesmuseum Bonn 29.11.1979 - 29.2.1980)
Bonn 1979, S. 119/71, bes. S. 142/45 mit Anm. 38 zu den späten mauretani-
schen Mausoleen. Aber h i e r , neben den Gräbern und Reliquien der Heili-
gen, wäre die Erwähnung numidischer Königsgräber seltsam, ja unerträglich.
Wo doch jede Stadt aus keinem andern Grunde als wegen ihrer Märtyrergrä-
ber gepriesen wird und allein um solchen Vorzugs willen ihren Platz im Katalog
verdient! Und dazu noch festa monumental Als ob hier irgendwelche Feier
oder Festesfreude sich mit den königlichen Mausoleen verbinden könnte! Der
Kult der maurischen Könige galt einst als Muster heidnischer Verirrung -
Tert. apol. 24, 8 unieuique etiam provinciae et civitati suus deus est, ut ...
Mauretaniae reguli sui (ferner: Min. Fei. 24, 1; Cypr. idol. 2; Arnob. nat. 1,
36; Lact. inst. 1, 15, 6f. 8), s. dazu Bertil Axelson, Das Prioritätsproblem
Tertullian - Minucius Felix, Lund 1941, S. 46f.; Stefan Weinstock, Art. Mau-
retania: PW 14, 2 (1930) Sp. 2362, 58ff. - , und daran erinnert sich auch noch
XV. Der Gabenzug der Städte 419
10,29f. (S. 48 Bulst, S. 457 Fontaine): Sed reddiderunt (sc. martyres) hostias,
Rapti quadrigis corpora ... eqs.; ähnlich Prud. per. 1, 96: credis in deum
relatos hostiarum spiritus? Der Genitiv hostiarum (pignere) ist explikativ: die
Märtyrergebeine bilden das Pfand; vgl. Suet. Aug. 21,2 marumpignera (opp.
feminae). Functae (pignere) erklärt sich aus dem weiten Anwendungsbereich
des Worts (vgl. stipendio, dapibus, aevo functus etc.), steht aber hier mit dem
deutlichen Ausdruck ordnungs- und pflichtgemäßer Erfüllung, vgl. Prud. per.
1, 62: (vita) debitumpersolvit omnefuncta rebus Caesaris; weiteres im ThLL
6,1, Sp. 1588,66ff. (fungi "i.q. praebere, solvere, praestare"). Strenggenom-
men ist also die Stadt bis zum Ende der Zeiten Gott gegenüber Pfandgläubi-
gerin (Max Käser, Das röm. Privatrecht 2, München 21975, S. 313f.). Die
Junktur pignoribus fungi begegnet bei Ulp. dig. 46, 5, 7. Prudentius selbst
sprach als Statthalter Recht: praef. 18 Ius civile bonis reddidimus, terruimus
reos. Mißverstanden ist die Stelle bei J. Petruccione, The Martyr Death as
Sacrifice. Prudentius, Peristephanon 4. 9-72: Vigiliae Christianae 49 (1995)
245/57, hier S. 255, Anm. 20 (prius hostiarumpignorefiinctae = "a surety or
guarantee consisting in sacrifices that they offered long ago"). V. 55f.: (Caesar-
augusta) verticem flavis oleis revincta, Pads honore. Obwohl die Stadt wegen
der Teilnahme am Festzug bekränzt und der Kranz aus Olivenzweigen als
Symbol des Friedens aufgefaßt ist (s. oben S. 372 mit Anm. 43), stellt sich
doch auch leicht der Gedanke an den agonalen Kranz ein, da die Personifika-
tionen ja zugleich Märtyrerkränze darbringen (V. 20. 21/24: dazu oben S.
379/81). Die Bilder überlagern sich. Dazu stimmen die vergilischen Farben:
Aen. 5, 308f. tres praemia primi Accipient flavaque caput nectentur
oliva; 494 viridi Mnestheus ev inet us oliv a ; denn hier ist von Sie-
geskränzen im Wettkampf die Rede (vgl. 1 Cor. 9,24). Schwen (wie Anm. 110)
S. 74; Mahoney (wie S. 415 zu V. 15 f.) S. 161. V. 57ff.: Sola in occursum
numerosiores Martyrum turbas Dominoparasti, Sola ... eqs. Aus der allge-
meinen, pluralischen Ausdrucksweise: numerosiores ... turbas ... parasti zu
schließen, der Dichter habe hier außer den Achtzehn, später (V. 145ff.) nament-
lich genannten, Blutzeugen von Saragossa noch weitere, ungenannte Märtyrer
derselben Stadt im Auge gehabt (vgl. die Bemerkungen bei Ruinart S. 495
Anm. 12; Arevalo PL 60, 365 D), erlaubt der Zusammenhang nicht. Inwie-
weit aber diese Dichterstelle (vielleicht in Verbindung mit V. 81/84) die Bildung
solcher Tradition befördert haben könnte, soll hier nicht gefragt werden; vgl.
Gams (wie oben S. 409) S. 327; Petruccione (wie Anm. 116) S. 345 Anm. 37.
V. 59f.: Solapraedivespietate multa Luce frueris. Der Gedanke einer Rang-
422 Prudentiana II. Exegetica
Vatikan, abgebildet bei Mellor (wie Anm. 49) plate VII! Vgl. im übrigen
Michelangelo Cagiano De Azevado, La Dea Barberini: Rivista dell'Istituto
Nazionale d'archeologia e storia dell'arte, N.S. 3 (1954) S. 108/41; J.M.C.
Toynbee, Roma and Constantinopolis in Late-Antique Art from 312 to 365:
The Journal of Roman Studies 37 (1947) S. 135/44; ders., Roma and Constanti-
nopolis in Late-Antique Art from 365 to Justin II, in: Studies presented to
D.M. Robinson, Bd. 2, Saint-Louis/Mo. 1953, S. 261/77. Das christliche
Rom ist auch für Prudentius (c. Symm. 1,496) egregium caput orbis; vgl. per.
2, 417f.: Qui (sc. deus) sceptra Romae in vertice Rerum locasti, ... eqs.; per.
9, 3: te, rerum maxima Roma (nach Verg. Aen. 7, 602f.), wobei der tiefe
Unterschied zur paganen Romideologie beachtet werden muß, s. Friedrich
Klingner, Rom als Idee, in: Römische Geisteswelt, München 51965, S. 645/
66, bes. S. 658ff.; Buchheit (wie Anm. 44) passim. Weshalb aber h i e r das
Bild der thronenden Roma gewählt ist, wird nicht recht klar. Im vorliegenden
Zusammenhang gleitet der Gedanke leicht zum Stuhl Petri (s. oben Anm. 150)
und überhaupt zu den Aposteln, zu ihrem Martyrium und ihren Gräbern in
Rom; vgl. etwa Ambrosius in dem Hymnus Apostolorum passio (Nr. 13
Walpole, Nr. 12 Bulst, Nr. 12 Fontaine), wo der Primat Roms ebenfalls in
bildhafter Sprache ausgedrückt ist: Hinc Roma celsum verticem Devotionis
extulit... eqs. (V. 2Iff.). Aber gerade solche Gedankenverbindung stört hier.
Denn so erscheint Roma auf gleicher Ebene als überlegene Konkurrentin Sara-
gossas, was zum Anliegen des Dichters in diesem Hymnus ebensowenig paßt
wie zur Aussage der interpolierten Strophe selbst. [V. 63f.]: (Ipsa vix Roma)
te, decus nostrum, superare in isto Munere digna est. Deiphobus zu Aeneas,
nachdem die Sibylle zur Eile mahnte: I decus, i, nostrum: melioribus utere
fatis (Verg. Aen. 6, 546). "Innere Gründe sprechen für Anlehnung", so das
Lemma der Rubrik bei Schwen (wie Anm. 110) S. 87. Das Pathos wirkt ähnlich,
d.h. die Liebe zur Ruhmeszier des eigenen Volks, vgl. decus nostrum .
Darum ist Vergil hier auch näher als Horaz carm. 1, 1,2: Ο etpraesidium et
dulce decus me um . Angeregt wurde das Possessivum wohl durch noster
populus (V. 1), nostra ... Calagurris (V. 31); decus ist beliebt, s. oben S. 416
zu V. 29. V. 65ff.: Omnibusportis sacer inmolatus Sanguis exclusitgenus
invidorum Daemonum ... eqs. Da die Dämonen nicht die Stadttore brauchen,
um Einlaß zu finden, macht es besseren Sinn, den Ablativ omnibus portis
lokativ zu verstehen und mit inmolatus, sc. sanguis, zu verbinden (Lavarenne:
"Le sang sacre immol6 ä toutes les portes") statt als Separativus zu exclusit zu
ziehen (Thomson: "The sacrifice of holy blood has shut out the race of malign
426 Prudentiana II. Exegetica
devils from all thy gates ..." etc.)· Die Hinrichtungen fanden ringsumher statt:
omnibus portis, natürlich extra muros. Man denkt an Rom. Das Ergebnis ist
freilich dasselbe. Vielleicht hat Exod. 12, 21/23 gewirkt: Oberschwelle und
Türpfosten, mit dem Blut des geopferten Passahlamms besprengt, lassen den
Todesengel (percussorem) nicht in die Häuser eintreten. Petruccione (wie oben
S. 421 zu V. 55ff.) ist auf denselben Gedanken gekommen (S. 246) und
vergleicht die Strophe mit gewissen Äußerungen bei den Vätern; die beste
Parallele findet er bei Origenes in Joh. 6, 53 (GCS Orig. 4, 162). V. 69: Nullus
umbrarum latet intus horror. Prudentius gebraucht umbrae fur die heidnischen
Götter, d.h. für die Dämonen (z.B. apoth. 474; c. Symm. 1, 423), weil sich in
diesem einen Wort die Begriffe des Körperlosen und des Finsteren, d.h. des
Bösen, treffen. Darum ist auch cath. 5, 135 umbrarum populus, gesagt von
den S e e l e n , und zwar von den Seelen der V e r d a m m t e n (gleich spiritus
nocentes, vgl. ebd. 125), unbedingt gegenüber der Variante fiinctorum p.
vorzuziehen; so im Ergebnis richtig, aber mit unzureichender Begründung
Marion M. van Assendelft, Sol ecce surgit igneus. A Commentary on the
Morning and Evening Hymns of Prudentius, Groningen 1976, S. 184. Der
Ausdruck umbrarum populus bildet einen Musterfall der christlichen Nutzung
klassischer Dichtersprache und vorchristlicher Gedanken. Zum ganzen
Zusammenhang hier vgl. etwa Paul. Nol. carm. 19, 164ff. über die Reinigung
Nolas vom Götzendienst; weiteres bei Vinzenz Buchheit, Prudentius über
Gesittung durch Eroberung und Bekehrung: Würzburger Jahrbücher für die
Altertumswissenschaft, Neue Folge 11 (1985) S. 189/223, bes. S. 207.
7.
die bildliche Anschauung, in der die spätantike Kunst diese Bestandteile ihrer
Kultur vermittelte, um auszudrücken und auszuschmücken, was in jenen
Vorgaben seiner Religion enthalten ist; er gebraucht die alte poetische Form
der Beispielreihung und die 'Technik', mit Namenskatalogen fertig zu werden,
welche in der antiken Dichtung entwickelt worden war, und läßt doch, an
entscheidender Stelle, erkennen, daß die Namen der Heiligen eine Würde
besitzen, die sie von den Gesetzen des Verses unabhängig macht; er gibt dem
Städtelob, das in seiner Zeit auch dichterisch gestaltet wurde, neuen und tiefen
Sinn, indem er es auf die christlichen Grundgedanken des Lieds hin ausrichtet;
er stellt das horazische Metrum in den Dienst des christlichen Hymnus, reinigt
es gewissermaßen, indem er es dem Götterkult entzieht und auf Den hin
umorientiert, Dem alle Schönheit zurückgegeben werden muß; und mit dem
Metrum nimmt er ungezählte Elemente der Sprache und des Stils gefangen,
um sie dem neuen Zusammenhang zu unterwerfen; ja auch gewisse verdunkelte
Züge der christlichen Wahrheit, die Horazens Carmen saeculare anzudeuten
scheint, erleuchtet er im Lied auf die Stadtpatrone seiner Heimat. Dies alles
nun so vereint zu haben, daß die Tatsachen seiner Religion, von denen er
ausgeht, nicht angetastet und getrübt, sondern entfaltet und dargestellt werden,
daß aber doch aus den vorgegebenen Gedanken und aus den vielen dienenden
Teilen ein künstlerisches Ganzes entsteht, das macht die besondere Leistung
des Dichters aus, die sich, sind die unechten Strophen abgelöst, in voller Reinheit
zu erkennen gibt.
KONKORDANZ
der Verweise aus Band 1385/433 auf die unveränderten Teile dieses Aufsatzes
(dort angegebene Seitenzahlen des Originaldrucks hier in Klammern):
Den Grund für die Verderbnis der Schöpfung nach dem Sündenfall se-
hen die Kirchenväter in dem Fluch Gottes über die Schlange: sie solle fortan
auf dem Bauche kriechen (Gen. 3, 14), und über den Acker: er solle Dornen
und Unkraut sprießen lassen (ebd.). Merkwürdigerweise erwähnt Prudentius in
der Hamartigenia, wo er die Depravation der Natur schildert (206ff.), den Fluch
Gottes mit keinem Worte. Stattdessen stellt er den Hergang so dar, daß die eigene
Bosheit den Leib der Schlange krümmt und ihre Zunge spaltet (195/202),
worauf sie den Menschen verdirbt (203/05) und zuletzt die ganze Schöpfung:
(Pisa 1981, 180: "Le parole di condanna proferite da Dio nei confronti di
Adamo ... sono alia base di questi versi...", vgl. ebd. 181 unten) verfehlen
den entscheidenden Punkt. Prudentius nimmt eine Art sympathetischer Reak-
tion der Natur auf das Böse an, vielleicht besser: eine Art analogischer Wir-
kung, die vom sündigen Menschen als dem Herrn der Schöpfung auf die Schöp-
fung ausgeht. Solche Sicht der Dinge widerspricht der Bibel nicht geradezu,
denn in ihr kann Gottes Fluch sehr wohl miteinbeschlossen sein. Aber Prudentius
umschifft eine Klippe: er wollte in dem gegen dualistische Häresien gerichte-
ten Lehrgedicht jeglichen Anschein meiden, als sei Gott der Urheber des Bö-
sen. Deswegen wird auch der Strafandrohung Gottes an die Stammeltern und
ihrer Vertreibung aus dem Paradiese weder hier noch ham. 697/719 bei Be-
handlung des Sündenfalls gedacht (außerhalb des antihäretischen Lehrgedichts
war solche Rücksicht unnötig, vgl. Prud. cath. 3,12Iff.). Denn Markion rech-
nete derlei Strafen zu den Beweisen grausamer Strenge des Schöpfergotts (vgl.
Tert. adv. Marc. 2, 11, lf. saevitia), und der Manichäismus sorgte dafür, daß
das Problem nicht ruhte (vgl. Ambr. parad. 74: Schlange; Aug. nat. bon. 36:
Unkraut).
Soweit etwa ist die Sachlage bereits im Gnomon 58 (1986) 33 beschrieben,
wo auch noch einige weitere Überlegungen angestellt werden. Was dort fehlt,
ist die Quelle oder wenigstens eine Parallele bei den Vätern. Ich vermutete sie
in der Genesisexegese, und diese Vermutung hat sich mir bei Durchsicht des
Buchs von J.-L. Charlet (La Creation poötique dans le Cathemerinon de Pru-
dence, Paris 1982) bestätigt. Charlet berührt darin die Partie ham. 216ff. Er
verkennt zwar den springenden Punkt ebenfalls1, führt aber in der Anmerkung
neben anderen, weniger passenden Parallelen auch Theophil, ad Autol. 2, 17
an2. Theophilus behandelt 2,12ff. die Weltschöpfung nach den einzelnen Schöp-
fungstagen. Anläßlich des sechsten Tages | bespricht er, bevor er sich der
Erschaffung des Menschen zuwendet, die symbolische Bedeutung der Tiere:
die vierfüßigen und die wilden Tiere (θηρία) sind Typen der Sünder. In die-
sem Zusammenhang kommt er auf die Frage, weshalb es wilde und schädliche
Tiere überhaupt gibt (2, 17 [ed. Robert M. Grant, Oxford 1970, p. 54]):
ι Charlet a.O. 109: "En se fondant sur la malediction de la Genese [Gen. 3, 17/18] ... il
ddcrit [sc. Prudence] la corruption de la nature ä la suite du p6ch6 originel".
2 Daß er Theophilus neben Tert. adv. Marc. 2,11, 1 einordnet: statim et terra maledicitur
... eqs., zeigt, daß er das Problem nicht sah. Daher hatte er auch keinen Anlaß, in seiner
Rezension (JbAC 25, 1982, 191/95) den italienischen Kommentator in diesem Punkte zu ver-
bessern.
430 Prudentiana II. Exegetica [165]
Gleich ist das Beweisziel: die Abwehr der Irrlehre, Gott sei Schöpfer
des Bösen; gleich ist der Gedanke, die Störung der Ordnung habe vom Men-
schen auf die ihm unterstellte Schöpfung (bei Theophilus: auf die Tiere) überge-
griffen; hier wie dort wird der Vergleich des Menschen mit dem Herrn des
Hauses gebraucht und der Fluch Gottes übergangen. Die Theophilus-Stelle
bezeugt, daß Prudentius den Gedanken der analogischen Wirkung der Sünde
auf die Schöpfung und seine Veranschaulichung durch jenen Vergleich bereits
als Bestandteile der antihäretischen Argumentation vorfand. Das Besondere
des Gedankens erkennt man gut auf dem Hintergrund der Apostelworte Rom.
8, 20: τη γάρ ματαιότητι ή κτίσις ύπετάγη, ούχ έκούσα, άλλά διά τον
ύποτάξαντα ... κτλ. Eben dieses Moment unterdrücken sowohl Theophilus
als auch Prudentius - und beide aus demselben Grunde. Bei der Erklärung des
Dichters sollte daher der Passus des Apologeten beachtet werden. Für das Bild
des Hausherrn ergab sich mir aus dem umfangreichen und gelehrten Artikel
"Haus III (Metapher)" im Reallexikon für Antike und Christentum3 keine wei-
tere Parallele. Die allgemeine Grundlage bildet natürlich Gen. 1, 28.
1.
Die beiden Verse wurden neuerdings so übersetzt1: "Jetzt endlich liegt das
pannonische Volk, das dreißig Jahre lang uns zu verderben drohte, am Boden
zerstört darnieder und zahlt seine Strafe". Pannonien war für viele Jahre an
die Goten verloren, und die Bevölkerung konnte die festen Städte nicht verlas-
sen (Claudian. in Ruf. 2, 45ff.; Stil. 2, 191ff.), aber deswegen wird doch nicht
etwa aus den Goten "das pannonische Volk"! Man wußte natürlich, wann sie
über die Donau gekommen waren; eben darauf bezieht sich ja hier die (runde)
Zahl der dreißig Jahre (vgl. Claudian. bell. Get. 488ff.). Bei Claudian (Stil.
I.e.) tritt der pannonische Bauer - Pannonius potorque Savi - als der Befreite
zu den Feinden gerade in Gegensatz: er kann endlich wieder in seine Hütten
zurückkehren, sein verrostetes Feldgerät schleifen und die Landarbeit aufneh-
men. Die Übersetzerin ist einem Beziehungsfehler aufgesessen, den sich Lava-
renne leistet: "ce peuple de la Pannonie" (Prudence III, Paris 19632, 183; vgl.
auch seine Etude sur la langue du poete Prudence, Paris 1933, S. 392, §1125);
* Studies in Honor of Miroslav Marcovich, vol. 2 = Illinois Classical Studies 19, 1994,
253/60.
ι Marianne Kah, "Die Welt der Römer mit der Seele suchend...", Bonn 1990 = Hereditas
3, 186. Über dieses Buch s. Historische Zeitschrift 258 (1994) 397/415 [in diesem Bande S.
457/73],
432 Prudentiana II. Exegetica [253/254]
2 Die spanische Übertragung verbindet richtig Pannoniae poenas, scheint freilich einen
subjektiven Genitiv vorauszusetzen und wird überdies durch einen seltsamen Lapsus verunziert:
"Alli pagö, aquella gente trashumante [= exitiabilis?] desde hacia treinta aflos el castigo de la
Panonia" (J. Guill6n -1. Rodriguez, Obras completas de Aurelio Prudencio, Madrid 1950, 449).
3 Vgl. Leumann-Hoftnann-Szantyr, Lat. Gramm. 2, 825 (unten).
4 Zur Sache s. D.R. Shackleton Bailey, Cicero. Epistulae ad familiares, vol. 2, Cam-
bridge 1977, p. 404 zu Nr. 237, 1.
[254/255] XVII. Verkannte Genitive 433
Der Fall ist dem unseren besonders ähnlich: pro capillo statt etwa pro capillo
caeso, detonso (vgl. Ps.Verg. Ciris 185f.), absciso (vgl. Anonym, in Verg.
georg. 1, 405: 3, 2, 267, Z. 14 Thilo-Hagen). Und so auch bei Prudentius:
Pannoniae statt Pannoniae vastatae (vgl. c. Symm. 2, 701). In der Ciris 52f.
wird die prägnante Ausdrucksweise Vergils zunächst wörtlich nachgeahmt, im
darauffolgenden Vers aber eine vollere Wendung mit Partizip gewählt:
2.
Die erste Zeile leidet unter einem Mißverständnis der Konstruktion. Pellegrino
sträubt sich dagegen, die Wendung dulcis iuventae als Genitivus qualitatis zu
ephebum zu ziehen6 - mit Recht; denn exitu stünde so allein, ohne Attribut:
exitu... raptum wäre unschön, die Wortstellung überdies gekünstelt. Die Diä-
rese nach dem zweiten Metrum des trochäischen Tetrameters drückt sich bei
Prudentius stets auch syntaktisch aus7: meist markiert sie Satz- oder Kolon-
ende, ist dies nicht der Fall, wie oben in Zeile 44, sorgen deutliche Sperrungs-
figuren für den nötigen Zusammenhalt8. Man wird also schon durch den Vers-
bau darauf geführt, den ganzen Ausdruck: exitu dulcis iuventae zusammenzu-
nehmen. Pellegrino übersetzt: "rapito sul termine della dolce giovinezza",
faßt also iuventae als Genitivus subiectivus, zu exitu gehörig, und exitu als
Ablativus temporis, wofür er sich auf Thomson und Colombo beruft9. Aber
dem Sinne nach ist das Ergebnis ein Curiosum. Νεανίσκε, adulescens (VL,
Vulg.), iuvenis (VL) redet der Herr den Jüngling an (Lc. 7, 14), und wenn
hier etwas zu betonen war, dann natürlich die Tatsache, daß der Sohn der
Witwe in voller Jugendblüte stand, nicht etwa der seltsame Umstand, daß die
Blüte gerade | welkte - so als sei sein Tod gar nicht im rechten Sinne eine
mors immatura gewesen, als sei er verstorben vergente iam iuventute10. Dann
wäre er eher πάρηβος zu nennen, kaum έφηβος, und der Eindruck der Wun-
dertat wäre nicht gesteigert, sondern gemindert. Pellegrino blieb eine Erklä-
rung schuldig, aber längst vor ihm schien sie B. Rehm im Thesaurus V 2,
1535, 50 s.v. exitus liefern zu wollen, indem er den Prudentiusvers mit Sen.
epist. 12, 4 zusammenstellte:
Aber es mutet mehr als fraglich an, ob das, was hier über die pueritia gesagt
wird, ohne weiteres über die iuventas sich sagen ließe; ob man behaupten
7 Daher kann aus Gründen der Raumersparnis die Langzeile auch aufgelöst werden, so
daß eine sechszeilige Strophe entsteht, in der zweimal ein akatalektischer trochäischer Dimeter
mit einem katalektischen wechselt. Diese Anordnung, bekannt aus den Gebetbüchern, wird
später, etwa im Pange lingua des hl. Thomas v. Aquin, auch durch Reime erleichtert.
8 Attribut und Substantiv vor der Diärese bzw. am Versende, wie in V. 44, auch V. 9. 18.
25. 30. (48). 51. 53. 55. u.ö.
9 HJ. Thomson, Prudentius, vol. 11949 (1962), 79: "He saw a young man cut off just at
the passing of sweet youth..." etc. Die Ausgabe von S. Colombo, Aurelio Prudenzio Clemente.
Le odi quotidiane (Cathemerinon liber), Torino 1932 war mir nicht zugänglich.
10 Porphyr. Hör. carm. 2, 5, 13/15.
[256/257] XVII. Verkannte Genitive 435
dürfte, daß sich der Reiz der Jugend zum Ende hin ebenso steigere wie die
Schönheit der Knaben! Zwar ist Seneca selbst auf Verallgemeinerung aus,
aber er hat die Beispiele, die seine Maxime (quod in se iucundissimum omnis
voluptas habet, infinem sui differt) stützen sollen, sorgfältig gewählt. Es kommt
ihm auf die Verteidigung des Greisenalters an: gerade diejenige Phase des
Lebens, die dem Ende zuneige, biete vollen, ja höchsten Genuß, wie denn
überhaupt jedwede Annehmlichkeit am meisten erfreue, kurz bevor sie zu
Ende gehe: die reifsten Früchte schmecken am besten; die Knaben, die schon
fast keine Knaben mehr sind, besitzen den größten Reiz11; der Becher Wein,
den man als letzten leert, bevor der Genuß in der Trunkenheit vergeht, mundet
am meisten. Wie gesagt: es erscheint zweifelhaft, ob Seneca einen ebenso
einleuchtenden Beweis seines Satzes lieferte, wenn er uns an das Ende der
Jugend erinnerte. Er tat es jedenfalls nicht. Aber selbst wenn man darüber
hinwegsehen und annehmen wollte, Senecas Reflexion schließe eine entspre-
chende Folgerung auch für die iuventas (adulescentia) ein, so bliebe noch
immer die weitere Frage, ob solche Anschauung derart verbreitet war, daß
Prudentius sie einfach als bekannt voraussetzen konnte, also sicher sein durfte,
daß man verstehe, warum er die Altersangabe des Evangeliums gerade mit
solcher Pointe versah. Diese Frage wird sich kaum bejahen lassen, zumal
dann nicht, wenn man den speziellen Zusammenhang bei Seneca bedenkt. Im
Grunde | widerrät ja schon das Attribut dulcis, sc. iuventae, solche Auffassung12.
Es gilt der Jugendzeit schlechthin: wie kann also Tod am Ende "der süßen
Jugend" etwas besonders Schlimmes sein? Etwas Schlimmeres als in der Mitte
"der süßen Jugend" - oder am Anfang "der süßen Jugend"? Der ganze Aus-
druck wäre verquer, Enallage adiectivi (exitu dulci iuventae) pure Künstelei,
ja unverständlich.
Rehm hat die Stellen zu Unrecht zusammengerückt. Iuventae ist Genitivus
obiectivus zum Ablativus instr. (causae) exitu (sc. raptum) und steht nach dem
Muster excessus (discessus) vitae, corporis etc., "Scheiden aus dem Leben,
aus dem Körper" usw., wie sonst excessus e vita, e corpore: der Sprachge-
brauch deutet sich schon bei Cicero an: Cie. Tusc. 1, 27: neque excessu vitae
11 Seneca hat Tatsachen im Sinn, wie sie auch Horaz vorschweben, wenn er, an Sestius
gewandt (carm. 1, 4, 19f.), über einen schönen Knaben sagt: Nec tenerum Lycidan mirabere,
quo calet iuventus Nunc omnis et mox virgines tepebunt. Ungefähr in die gleiche Richtung weist
die erotische Altersskala in dem Epigramm Anthol. Pal. 12, 4 (Hinweis E. Eyben), ohne daß
man doch bei Seneca ein derart derbes Motiv erkennen dürfte; vgl. E. Eyben, De jonge Romein,
Verhandelingen van de Koninklijke Academie voor Wetenschappen, Letteren en Schone Künsten
van Belgie, IGasse der Letteren, Brüssel 1977 = Jaargang 39, Nr. 81, 475, Anm. 19.
12 Die Junktur ist horazisch: carm. 1, 16, 23: in dulci iuventa.
436 Prudentiana II. Exegetica [257/258]
sic deleri hominem, utfunditus interiref, vgl. Tert. res. 22, 1, Z. 3f. (CCL 2,
947): (scripturae non sinunt resurrectionem) ab excessu statim vitae vindicari\
Prob. Verg. georg. 1, 14 (3, 2, 351, Z. 18 Thilo-Hagen): (Aristaeus) post ex-
cessum vitae ... relatus in numerum deorum; Vulg. II Macc. 4, 7: sedpost
Seleuci vitae excessum·, deutlicher Ruf. hist. 4, 15, 5 (GCS 9, 1, Euseb. 2,
1, 339, Z. 2): (Germanicum martyrem) iniquae huius vitae ultro velocem
expetisse discessum; Cassian. conl. 1, 14, 7 (CSEL 13, 23, Z. 24ff.): nec
...in nihilum eas (sc. animas defunctorum) resolvi post huius commorationis
excessum; Verecundus in cant. 5, 4 (CCL 93, 120, Z. If.): non enim nos
possunt post excessum corporis ultra defuncti videre; in anderem Zusam-
menhang etwa Ruf. hist. 3, 6, 11 (GCS 9, 1, Euseb. 2, 1, 203, Ζ. 20):
Iudaeis vero cum egressu urbis omnis pariter spes excludebatur und wohl
auch Paul. Nol. epist. 5, 19 (CSEL29, 37, Z. 18f.): quodsiforteproficiscens
cogitata carorum hominum vel adsuetorum locorum divulsione lacrimaveris
... eqs. "Nach den Verbalsubstantiven der Bewegung ist der Gen. obi. leicht
begreiflich dort, wo das zugrundeliegende Verbum die entsprechende Akk.-
Konstruktion kennt"13. Das trifft auf exire/exitus ebenso zu wie auf excedere/
excessus, discedere/discessus, egredi/egressus. Beispiele für transitives exire
finden sich seit Terenz; man sagt exire Urnen, fores, fines senectae und (im
gleichen Sinne) exire iuventutem, und daher verbindet sich der Genitivus obi.
auch mit exitus, bei Prudentius ebenso wie bei Filastrius 26, 6, Z. 41 (CCL 9,
228): (ut homines) diversis ... post exitum corporis poenis et cruciatibus
pessumdentur. Prudentius gebraucht dieselbe Ausdrucksweise, nur in einer
besonderen, den Umständen angepaßten Variation: exitu dulcis iuventae (statt:
exitu e dulci iuventa) raptum ephebum viderat, "Er hatte einen Jüngling er-
blickt, durch Abscheiden aus der süßen Jugend hingerafft". Daß das Verbal-
substantiv exitu so zum Passiv raptum tritt, mag vielleicht etwas überraschen,
muß aber hingenommen werden. Es herrscht schon der Gedanke, daß der Tote
durch s e i n Fortgehen der M u t t e r genommen ist. Die | nächste Zeile
macht das vollends klar. Der sterbende Germanicus sagt bei Tacitus ann. 2,
71: sifato concederem, iustus mihi dolor etiam adversus deos esset, quod me
parentibus, liberis, patriae intra iuventampraematuro exitu raperent... eqs.
In der kühneren Konstruktion unseres Dichters lautete der Vorwurf: quod me
13 Leumann-Hofmann-Szantyr, Lat. Gramm. 2, 67. Hier auch die meisten der angeführten
Beispiele außerhalb des Prudentius.
[258] XVII. Verkannte Genitive 437
3.
Nascendi (exitus) in V. 600 hält Lavarenne fälschlich für einen Genitivus obi.
- der Genitiv des Gerundiums hat finale Bedeutung15 - , aber ingressum vitae
liefert ein passendes Beispiel, nicht vermerkt bei Lavarenne und nicht beachtet
von den Kommentatoren Stam und Palla16: die Schar der jungen Schlangen
erkämpft sich "den Eintritt ins Leben". Vgl. etwa Cie. Phil. 5, 9: ingressio
fori·, de or. 1, 98: rerum aditus·, Liv. 27, 30, 7: litorum adpulsus. Hierher
gehört auch Prud. psych. 665f.:
Denn wie limen intrare (z.B. Cie. Phil. 2, 45), Urnen exire (Ter. Hec. 378)
sagt man auch limen (domum, portam) introire (Salv. gub. 8,11, ferner Hugen-
schmidt: ThLL VII2, 74, Z. 66ff.; 76, Z. 30ff.), so daß der objektive Genitiv
neben introitus nichts Auffälliges an sich hat, vgl. besonders Sen. benef. 6,
34, 1: proprium (sc. est) superbiae magno aestimare introitum ac tactum sui
liminis·, ferner: Plin. nat. 33, 56: primo introitu urbis\ | Mela 3, 82: in ipso
introitufinium\ Filastr. 107, 3, Z. 15 (CCL 9,270): usque ad terraepromissae
introitum".
Unzweifelhaft ist die Art des Genitivs auch in folgendem Falle (Prud. c.
Symm. 2, 989ff.):
"Durch Hinausgehen über das Maß", "durch Abweichen vom Maß". Sinnge-
mäß übersetzt Thomson18: "by getting out of control", ganz falsch Lavarenne19:
"par suite du peche de l'element directeur". Der Ausdruck excessus modera-
minis, gebildet nach den üblichen Junkturen excedere modum, mensuram etc.,
nimmt auf, was zuvor in V. 973f. über die Elemente gesagt war: (elementa) de
legitimo discussa modo plerumque feruntur ... eqs., und er variiert die unmit-
telbar vorhergehende Wendung (990f.): nec in ordine recto Perstat (sc. nostri
corporis usus). Richtig erklärt M. Leumann im Thesaurus (V 2, 1230, Z.
23f.): "excessu moderaminis (i.e. α modo)", und auch bei Georges s.v. excessus
steht das Richtige: "Das Abgehen, Abweichen von einer Sache" (gleichfalls
mit Bezug auf unsere Stelle).
Lavarenne, der dieses Beispiel für bemerkenswerten Gebrauch des Geniti-
vus obi. verkannt hat, zieht eine andere Stelle hierher (Prud. c. Symm. 2,902ff.):
17 Alle diese Stellen im Thesaurus VII 2, 78 s.v. introitus (Hugenschmidt), wo aber der
Beleg aus Prudentius fehlt.
18 Thomson, Prudentius, vol. II 85.
19 Lavarenne, Prudence, tome ΙΠ 191.
[259/260] XVII. Verkannte Genitive 439
Lavarenne20: "celui qui guide vers la nuit de l'enfer". In der Tat stündepraevius
(sc. diabolus) nicht gut allein - im Falle, daß man den Genitiv infernae noctis
zu avia zöge. Und noch wandeln ja Symmachus und die anderen obstinaten
Heiden nicht i η der Hölle. Der Teufel geht ihnen vielmehr voran über die
verschlungenen Pfade des Götzendiensts, über die unwegsamen Gefilde ab-
seits der Wahrheit (dies alles meint: perplexaper avia) : "in die höllische Nacht".
Die Worte: praevius infernae... noctis gehören jedenfalls zusammen21. Genitivus
subi. wäre hier vielleicht möglich, aber weniger sinnvoll. Vgl. Ambr. off. 1,
18, 70 über Paulus: primam hanc (sc. modestiam) et quasipraeviam vult esse
orationis futurae. | Hier heißt die Bescheidenheit praevia, weil sie Vorläufe-
rin der späteren Rede (orationis fiiturae: Gen. subi.) sein, ihr im zeitlichen
Sinne vorausgehen soll. Auf die Aussage der Prudentiusverse läßt sich dieses
Verhältais kaum übertragen. Lavarenne wird also wohl Recht haben. Man
darf sich hier auch an gewisse Verbindungen erinnern, die schon in klassi-
scher Prosa gelegentlich auftauchen: Caes. bell. civ. 1, 4, 5: (legiones) ab
itinere Asiae Syriaeque ad suam potentiam ... converterat (sc. Pompeius),
"vom Marsch nach Asien und Syrien"; Cie. ad Quint. 1,1, 15: viaspecuniae,
"Wege zum Geld", Tib. 1, 3, 50: leti viae, "Wege in den Tod"22.
DOLCE ET DECOR UM *
Der berühmte Horazvers: Dulce et decorum est pro patria mori (carm.
3,2,13) hat in jüngster Zeit wieder Aufmerksamkeit erregt. Nisbet suchte den
Anstoß, den die Süße des Sterbens für manche moderne Leser bildet, durch
Konjektur zu beseitigen1: Dulci decorum est pro patria mori. Der Vorschlag
löste beim Horaz-Colloquium der Fondation Hardt eine Diskussion aus2, S.J.
Harrison wies dort auf seinen im Druck befindlichen Artikel hin, der in dieser
Zeitschrift (136, 1993, 91/93) erschien. Harrison verteidigt hier Wortlaut und
Sinn des überlieferten Texts. Das inkriminierte Element: dulce (est) vermag er
allerdings nur durch eine entlegene Parallele bei dem griechischen Roman-
schriftsteller Achilleus Tatios zu stützen: καλός ό κίνδυνος, γλυκύς ό θάνατος
- gemeint ist der Tod, den man für den Freund erleidet3. Näher hätte es gele-
gen, an den "perpetuus (magnus) Flacci imitator" zu erinnern4. Prudentius
feiert im ersten Gedicht der Sammlung Peristephanon zwei Soldatenmärtyrer
seiner spanischen Heimat: Emeterius und Chelidonius aus Calahorra (Calagur-
ris). Darin heißt es (per. 1, 25ff.) über das Martyrium:
Hier haben wir das eine der beiden horazischen Elemente: hoc genus mortis
decorum ... eqs. (25), sehr prononciert, wie in Abwehr falschen Anspruchs
auf solchen Wert. Später folgt das Element des dulce in anaphorischer Beto-
nung, gesagt vom Tod durch Flammen und vom Tod durch das Schwert (per.
1,49/51):
5 Der neue Sinn der Worte: Frühmittelalterliche Studien 26 (1992) 32/64, hier 4468 [in
diesem Bande S. 338, Anm. 68].
6 Anne-Marie Palmer, Prudentius on the Martyrs, Oxford 1989, 144ff., bes. 148f. Ihre
Erörterung (149") der vermeintlichen Varianten in per. 1, 27 und ihre Entscheidung für den
Wortlaut: morte mortem vincere beruht auf falscher Lesung des Apparats bei J. Bergman (CSEL
61, 1926,292). Derselbe Fehler schon bei M. Lavarenne (Prudence 4, Paris 1963 2 ,23), richtig-
gestellt von M. Cunningham (CCL 126, 1966, 252, im App. zu V. 27).
7 Μ. Roberts, Poetry and the Cult of the Martyrs. The Liber Peristephanon of Prudentius,
Ann Arbor 1993, 49f. Er zitiert auch (ebd. 50 Anm. 29) Ven. Fort. carm. 2, 14, 8: (dogmate
Pauli) nomine pro Christi dulcius esse mori, was auf Phil. 1, 21. 23; 2, 17 zielen dürfte.
8 Vgl. Bentley zu Hör. carm. 2, 2, 15.
442 Prudentiana II. Exegetica [95]
Partikeln der göttlichen Wahrheit und Schönheit, die, indem er sie übernimmt
und in den neuen christlichen Zusammenhang einfügt, zugleich gereinigt, er-
hellt und verwandelt werden9. Auch die 'Süße' des Todes erhält eine neue
Begründung durch die Märtyrerfrömmigkeit. Der Märtyrer stirbt in der festen
Überzeugung, durch sein Leiden Christus ähnlich zu werden, den schönsten
Sieg zu erlangen und den höchsten Siegespreis: die ewige Seligkeit. Darum
wird für Prudentius jenes horazische dulce, umgewandt auf das Sterben der
'milites Christi', zugleich auf eine neue, ungeahnte Weise wahr, ja erst jetzt
überhaupt glaubwürdig und verständlich. Prudentius würde, auf die Römer-
ode blickend, etwa folgendes sagen: "Ja, es gibt wirklich eine Art des Todes,
die süß ist und ehrenvoll, und es stimmt, daß solchen Tod ein Soldat stirbt, der
sein Leben läßt unter dem Schwert des Feindes, und es gibt eine virtus, die den
Himmel erschließt, wie Horaz verkündet10 - dies alles sah der alte Dichter
richtig, und schön drückte er es aus. Aber seine getrübte, bruchstückhafte
Erkenntnis muß erleuchtet und geheilt werden, damit die nur in ungewisser
Ahnung erfaßte Wahrheit in vollem Glanz sich zeigen kann". Solches Verfah-
ren setzt aber ein Maß an Reflexion voraus, das auch dem Zeugnis für den zu-
grundeliegenden Horaztext Gewicht verleiht.
9 Hierzu verweise ich auf meine Studien ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter im
Umgang mit der antiken Kultur I. Der Begriff des "rechten Gebrauchs" (Basel 1984) und Π.
Kultur und Conversion (Basel 1993) passim. Mittels der beigegebenen Wortregister ist die Her-
kunft der Begriffe, die ich oben verwende, leicht zu ermitteln. "Christian reinterpretation"
(Roberts a.O. 50) meint ungefähr das Richtige, gibt aber nicht genau das wieder, was die
christlichen Autoren tun wollten.
10 Hör. carm. 3, 2, 21ff.; vgl. Prud. per. 1, 83; ja auch die Ertüchtigung durch den
irdischen Heeresdienst (Hör. ibid. Iff.) nimmt Prudentius auf (ibid. 31/33), als Vorbereitung
für die Härte der 'militia Christi*. Vgl. dazu Ilona Opelt, Prudentius und Horaz: Paradeigmata
Poetica Christiana, Düsseldorf 1988 = Kultur und Erkenntnis 3, 130/37, hier 135.
XIX.
Die bildende Kunst spricht ihre eigene Sprache. Sie sagt Dinge, die nur
sie sagen kann, aber sie sagt vieles nicht, was wir gerne wüßten. Wir wüßten
gerne, warum ein Künstler oder sein Auftraggeber ein bestimmtes Thema wähl-
te, weshalb er dafür gerade diesen oder jenen Platz aussuchte, welche beson-
dere Aussage er mit dem Kunstwerk verband. Das Werk selbst redet davon
nicht oder doch nur in einer andeutungshaften Sprache, und darum ist es ein
besonderer Glücksfall, wenn Texte hinzutreten, welche die Anschauung stüt-
zen und lenken. Für die altchristliche Kunst stellen die Briefe und Gedichte des
hl. Paulinus, seit 409 Bischof von Nola in Campanien, einen solchen Glücks-
fall dar. Der hochgebildete Mann hatte auf seine unermeßlichen Reichtümer
verzichtet und sich im Jahr 395 am Grabe des hl. Felix vor den Toren der
Stadt niedergelassen. Dort, zwischen Vesuv und Appennin, führte er, der einsti-
ge Verwaltungschef der Provinz Campanien, ein asketisches Leben, das er
auch als Bischof fortsetzte. Und zugleich schuf er, inmitten der Gotenstürme,
die das Land heimsuchten, ein Zentrum geistlichen und künstlerischen Stre-
bens. Er verschönerte die Basilika des hl. Felix, die dort bereits bestand, fügte
eine neue, größere hinzu, baute überhaupt den ganzen Komplex zu einem
Pilgerheiligtum aus. Gemälde und Mosaiken entstanden nach seinen Entwür-
fen, die er durch metrische Bildbeischriften erläuterte. Wir kennen die Epigram-
me, den Bildschmuck, die Bauten, weil er das alles in seinem literarischen
Werk festhielt, und die Reste des Heiligtums, die sich bis heute erhalten ha-
ben, reden zu uns, deutlicher als andere Ruinen, eben durch die Literatur. In
einem seiner Gedichte schildert der Autor, wie durch ein wunderbares Feuer
häßliche Hütten beseitigt wurden, welche die Frontseite des Heiligtums ver-
unstalteten. Danach lädt er den Leser zu einem Rundgang ein. Er spricht da-
von, daß drei Räume mit Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament
geschmückt waren, und zwar in der Weise, daß das Neue Testament im Alt-
bau, das Alte Testament im Neubau - oder genauer: in zwei Neubauten - zu
sehen war. Er dürfte auf jeden Fall die Basilica Vetus und die Basilica Nova
* Boreas 18, 1995, 175/84. Vortrag, gehalten am 3. März 1995 auf Einladung der K.U.
Leuven. Der Vortrag, der im Rahmen einer Vorlesungsreihe des Kollegs "Mentaliteitsgeschie-
denis van de Grieks-Romeinse oudheid" stand, gab mir Gelegenheit, ein früher ausführlich
behandeltes Thema (s. unten Anm.4) mit einigen neuen Akzenten zu versehen.
444 Prudentiana II. Exegetica [175/176]
ι Vgl. Tomas Lehmann, Paulinus Nolanus und die Basilica Nova in Cimitile/Nola, Diss.
Münster 1994. Mit Erlaubnis des Verfassers benützte ich das Manuskript. Ebd. weitere Lite-
ratur. Zurückgewiesen wird hier u.a. die anderslautende Deutung bei R.C. Goldschmidt, Paulinus'
Churches at Nola, Amsterdam 1940, 182.
2 Paul. Nol. carm. 28, 167/79 (CSEL 30, 298f.).
[176] XIX. Das puer sene,c-Ideal 445
Die Verse beweisen, daß auch die Texte, welche erklären wollen, was im
Medium der bildenden Kunst ausgedrückt sein soll, nicht selten eine schwieri-
ge Sprache sprechen, und zwar gerade dann, wenn sie ihrerseits künstleri-
schen Rang erstreben: wenn also Kunstwerk neben Kunstwerk tritt. Hören wir
aber genauer hin, bemerken wir, daß die innerste Schwierigkeit dieser Zeilen
nicht eigentlich in den Worten liegt, sondern in den Gedanken. Wir können
leicht die Probe machen. Wir mögen die Verse selbst übersetzen, wir mögen
sie in der englischen oder italienischen Sprache lesen, in die sie übersetzt
wurden3: sie bleiben schwierig. Das rührt daher, daß sie einen Gedanken enthal-
ten, der uns fremd ist. Der Autor selbst hat alles getan, um diesen Gedanken
klar herauszubringen. Fünfmal hat er ihn in den fünf Versen 175/79 zu treffen
gesucht, jedes Mal einen ganzen Hexameter gefüllt, um in steter Variation
immer denselben Gedanken einzufangen: daß wir zugleich jung sein sollen
und alt. Wenn er zunächst bemerkt (V. 174/75), daß das Neue im Alten und
das Alte im Neuen für uns eine "nützliche Zier" darstelle (decus utile), so ist
der Gedanke erst allgemein umschrieben. Das Wort decus wahrt noch den
Zusammenhang mit dem Bilderschmuck der Kirchen, nimmt gleichwohl schon
tiefere Färbung an, insofern es im doppelten Sinn des aesthetisch und sittlich
Schönen schimmert. Auch die Wörter novitas und vetustas (V. 175) erleich-
tern den gleitenden Übergang von der äußeren Verschränkung des Alten und
Neuen in Bildern und Bauten hin zu dem moralischen Prinzip, das dann in dem
langen Finalsatz: ut simul... eqs. (V. 176/79) entfaltet wird: zur Vereinigung
der Vorzüge von Alt und Neu, Alt und Jung, Kind und Greis. Diese Moral
sollen wir aus dem Verhältnis zwischen Architektur und Malerei ziehen. Und
es ist diese Idee, die wir in ihrer Entstehung, Entwicklung und Bedeutung
erfassen müssen, um die Verse Paulins zu verstehen4.
Wir leben in einer Zeit, der die Jugend am höchsten steht. Jeder will
jung sein, nicht alt. Die Sprache legt Zeugnis davon ab. Denn "Greis" und
"Greisenalter" sind im Deutschen heute verpönte Wörter; man spricht von
3 Goldschmidt a.O. 81; P.G. Walsh, The Poems of St. Paulinus of Nola, New York 1975
= Ancient Christian Writers 40, 300; Andrea Ruggiero, Paolino di Nola. I carmi, Roma 1990
= Collana di testi patristici diretta da Antonio Quacquarelli 85, 410f.
4 Im folgenden stütze ich mich vor allem auf die eigene Darstellung: Aetas Spiritalis. Die
Überwindung der natürlichen Altersstufen als Ideal christlichen Lebens, Bonn 1972 = Theo-
phaneia 24. Vgl. die Zusammenfassung: RAC 12 (1983) 995/1094, hier 1072/78, s.v. Greisen-
alter. Die Verse Paulins sind, soweit ich sehe, in diesem Zusammenhang noch nicht betrachtet
worden, auch nicht in der Spezialarbeit von Guttilla (s. unten Anm. 32). Helena Junod-Ammer-
bauer, Les constructions de Nole et l'esthdtique de saint Paulin: Rev. Et. Aug. 24 (1978) 22/57
zitiert (33) zwar carm. 28, 167/75, bricht aber dann unmittelbar vor den auf die Altersmischung
bezüglichen Versen ab.
446 Prudentiana II. Exegetica [176/177]
Senioren, nicht von Greisen. Das Lateinische muß als Ersatz herhalten, aber
eben deswegen, weil das Fremdwort eine Distanz zum Begriff des Alters schafft.
Es würde uns gewiß höchst seltsam anmuten, wenn wir einem jungen Mann
bescheinigen sollten, er verfüge über den Verstand eines Greises. Aber Aischylos
trug keine Bedenken, einem Helden solches Zeugnis auszustellen: γέροντα
τον νουν, σάρκα δ' ήβώσαν φέρει (Septem 622). Und die ganze Antike
hindurch | erklingen ähnliche Stimmen5; besonders seit hellenistischer und
römischer Zeit melden sie sich immer häufiger. Das hat wohl seinen Grund in
der hellenistischen Philosophie6. Denn solche Äußerungen leben aus einer eigen-
tümlichen Spannung gegensätzlicher Anschauungen. Einerseits wird das Grei-
senalter aufgrund bestimmter Vorzüge wie Weisheit und Erfahrung als Norm-
wert anerkannt, andrerseits wird die Gültigkeit dieser Norm zugleich einge-
schränkt, insofern der Besitz des Werts auch dem jungen Menschen zuerkannt
wird. Aus der Tiefe schimmert hier allenthalben das Problem der Zeit hervor,
genauer gesagt: die Frage, inwiefern die Zeit und die Dauer des Lebens zur
geistigen und sittlichen Vollendung eines Menschen beitragen. Diese Frage
wurde von den beiden ethischen Systemen des Hellenismus berührt, ihre Lö-
sung dort in bestimmte Richtung gelenkt. Denn obwohl Stoa und Kepos das
höchste Gut inhaltlich verschieden festlegten, waren sie sich doch darin einig,
daß die Eudaimonie durch die Zeitdauer keine Steigerung erfahre. Damit ver-
band sich eine starke Abwertung der Zeit, wie sie etwa bei Seneca hervortritt,
der die Lebensdauer immer wieder in den Bereich der Adiaphora verweist.
Zwar liegt in der Lehre, daß zeitliche Erstreckung die Glückseligkeit des Weisen
nicht mehre, noch nicht notwendig der weitere Schritt beschlossen, daß Ju-
gend zur Vollkommenheit des Alters fähig sei; aber dieser Schritt wurde leicht
getan, wenn sich der passende Anlaß bot. Und solcher Anlaß war immer dann
gegeben, wenn es galt, einen jungen Menschen zu loben. Daher kommt es,
daß wir etwa in Trostschriften und Grabepigrammen von der frühen Vollen-
dung Jungverstorbener hören7. Gerne werden dabei paradoxe Formulierungen
gewählt, die das Greisenalter als Normwert festhalten: senilis prudentia zählt
zu den Vorzügen, die Seneca an einem jungen Mann rühmt, und er ruft der
Mutter des Verstorbenen zu: incipe virtutibus ilium, non annis aestimare: satis
diu vixit (ad Marciam 23, 3; 24, 1). Hier fassen wir den Übergang des Gedan-
5 Aetas Spir. 50f. et passim. Das Thema berührt auch Thomas Wiedemann, Adults and
Children in the Roman Empire, London 1989, z.B. 75f. 98.
6 Aetas Spir. 55/65.
7 Aetas Spir., Reg. s.v. Grabinschriften, Consolatio, Totenlob.
[177/178] XIX. Das puer senex-Ideal 447
In der englischen Übersetzung von Sister Clement M. Eagan lauten die Verse":
Hier ist einmal im Gedicht ausgesprochen, worin das christliche Ideal gründet,
zugleich wird durch das Wimmern der Kleinkinder (vagitibus) das zarteste
Alter und damit gleichsam der äußerste Fall früher Vollendung angedeutet.
Über die Jahrhunderte hinweg mag man einige Verse bei Angelus Silesius
vergleichen; denn wenn auch der Dichter des 17. Jahrhunderts in weitem zeit-
lichen Abstand zur Alten Kirche steht, haben seine Verse doch etwas im christ-
lichen Sinne Zeitloses. Er beschließt ein Trostgedicht an den Vater einer jung
verstorbenen Tochter mit den folgenden Zeilen12:
Der christliche Consolator hat den trauernden Eltern mehr zu sagen als Seneca
mit seinen harten Worten: satis diu vixit. Er eröffnet den Ausblick auf eine
ganz andere Realität.
Aber wir sind immer wieder überrascht, wenn wir das Ideal früher Voll-
endung in der Weise ausgedrückt finden, daß dem jungen Menschen oder gar
dem Kinde greisenhafte Reife zugesprochen wird. Und doch legen es die
altchristlichen Autoren gerade auf dieses Paradoxon an. Im Hymnus auf die
heilige Eulalia rühmt Prudentius (per. 3, 24f.) die Kindheit der Märtyrerin.
Sie habe keine Freude an Spielzeug, Blumen, Schmuck gehabt: ernst sei sie
gewesen und züchtig:
Ihr Sinnen und Trachten entsprach also schon im zarten Alter der Art betagter
Grauköpfe. Ähnliche Stimmen vernehmen wir oft, auch aus den christlichen
Grabinschriften, die Kindern "wunderbare | Weisheit" oder "greisenhaften
12 Angelus Silesius, Trostgedicht an Joh. Gg. Dietrich von Burgk anläßlich des Todes
seiner Tochter (letzte Strophe): Angelus Silesius, Sämtliche poetische Werke in drei Bänden,
hrsg. von Hans Ludwig Held, Bd. 2, München 21924, 24f. Die Sammlung bei E.R. Curtius,
Knabe und Greis-Greisin und Mädchen, in: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter,
Bern 21954, 108/15 ergänzt durch nachantike Belege R. Kassel, Zur Neuedition der Lingua des
Erasmus: Prometheus 16 (1990) 88/90, hier 88.
[179] XIX. Das puer renec-Ideal 449
Emst" nachrühmen13. Der moderne Betrachter mag darin Unnatur finden oder
Unaufrichtigkeit. Aber beide Vorwürfe dürfen wir nicht leichtfertig erheben.
Was den Vorwurf der Unnatur angeht, belehrt uns Ambrosius eines
Besseren. In seiner Abhandlung De virginibus, mit deren Niederschrift er am
Festtag der hl. Agnes begann, hebt er einleitend (1,2, 5/9) das jugendliche
Alter dieser Heiligen hervor14. Sie soll erst zwölf Jahre alt gewesen sein, als
sie das Martyrium erlitt (ebd. 7). Der Bischof weiß sehr wohl, wie sonst Mäd-
chen dieses Alters gewöhnlich sind: daß sie schon finstere Blicke der Eltern
nicht ertragen können und über Nadelstiche weinen, als seien es Wunden. Daß
sich also die Märtyrerin, da sie Folter, Kerker und Henker nicht fürchtete, in
einer Weise verhielt, die der Norm ihres Alters ganz und gar nicht entsprach,
sieht der Prediger durchaus, ja er schärft das Ungewöhnliche ihres Betragens
ein, stellt es uns in paradoxen Gegensätzen vor: noch war sie zu klein für die
Marterwerkzeuge, paßten ihr nicht die Ketten, und schon war sie reif für den
Sieg; noch war sie zu jung, um Lehrerin zu sein, und schon füllte sie das
Lehramt der Tugend aus; noch war sie nicht mündig vor dem Gesetz, und
doch schon Zeugin für Gott (ebd. 7/8). Aber diese Paradoxa sollen nicht zei-
gen, daß das, was Agnes tat, gegen die Natur war, sondern daß es über die
Natur hinausging: devotio supra aetatem, virtus supra naturam, das
sind ihre Vorzüge (ebd. 5)! Das Ideal des puer senex und der puella anilis ragt
hinein in das Geheimnis von Natur und Gnade. Solche frühe Vollkommenheit
ist nicht unnatürlich - etwa in dem üblen Sinne, den 'Altklugheit' im Deut-
schen hat - und schon gar nicht widernatürlich. Sie ist supra naturam, sie
reicht über die Grenzen der Natur hinaus, geht aber auf den Schöpfer zu, ja ist
ohne Ihn gar nicht möglich. Das meint Ambrosius, wenn er mit Blick auf die
zwölfjährige Agnes sagt: quod ultra naturam est, de auctore naturae est (ebd.
8). Deshalb sind auch Ausdrücke wie transire aetatem (virtutibus), transcendere
annos (moribus) dem angenommenen Sachverhalt besonders angemessen15,
und wenn die Kirchenväter sagen: aetatem vincere, annos vincere, naturam
vincere meinen sie nichts anderes16. Sie preisen ja nicht ein Verhalten 'contra
naturam', als ob man etwas loben könne, was sich gegen Gott und seine Schöp-
fung richtet; sondern sie rühmen ein Überschreiten der Grenzen auf den Schöpfer
hin, der über der Natur steht: die Transzendenz vollzieht sich stets im Bereich
des Glaubens und der christlichen Tugenden und niemals ohne die Gnade Got-
tes. Es ist daher klar, daß überall dort, wo in christlichem Context die Reife
eines jungen Menschen durch Bezug auf sein geistliches Greisenalter ausge-
drückt wird, diese Bezugsgröße doch anderen Sinn annimmt als im vorchrist-
lichen Schrifttum. Sie steht für eine Vollkommenheit im Sinne des Evangeli-
ums, und zwar selbst dann, wenn scheinbar neutrale Vorzüge wie prudentia
und gravitas genannt werden.
Sobald ein Wertbegriff anerkannt und zu fester Form geprägt ist, kann
es leicht geschehen, daß er umläuft wie eine billige Münze, aber ebenso leicht
kann er wieder tieferen Glanz annehmen, wofern er in die richtigen Hände
kommt. So mag man auch mit dem Prädikat geistlicher Altersreife damals
großzügig umgegangen sein, aber es ist doch nie ganz zu kalter Form erstarrt.
Überall finden sich Zeugnisse seiner warmen Lebendigkeit. Ich greife eine
kleine Erzählung aus der Welt des frühen Mönchtums auf 7 : |
Die Haltung des Schülers bewies, daß er den Sinn christlicher Lehre verstan-
den hatte, sich zu eigen gemacht hatte und danach handelte. Er besaß die
Tugend der Demut in so vollkommenem Maße, wie man das eigentlich von
dem erfahrenen Mönch hätte erwarten dürfen. Und der wiederum besaß die
Gabe der Unterscheidung, die ihn befähigte, den Vorzug des anderen zu er-
kennen und zu ehren. Die Geschichte lief auch in einer ausführlicheren Fas-
sung um: Ein greiser Eremit war neidisch auf einen anderen, dem er eine
leerstehende Zelle zur Verfugung gestellt hatte. Er schickte seinen Schüler zu
dem unliebsamen Gast, um ihn aufzufordern, die Zelle zu verlassen; schließ-
lich ließ er ihm sogar drohen. Aber der Schüler richtete nicht aus, was ihm
aufgetragen war. Er erkundigte sich vielmehr liebevoll nach dem Befinden des
π Apophthegmata Patrum, Romanus 2 (PG 65, 389 A/B); Übersetzung nach W. Nyssen -
Bonifaz Miller, Weisung der Väter = Sophia 6, Trier 2 1980, Nr. 800, S. 265.
[180] XIX. Das puer senex- Ideal 451
fremden Mönchs, der erkrankt war, und tat so, als sei dies sein Auftrag. Da
griff der Lehrer wutentbrannt zum Stock, um den Fremden selbst zu ver-
treiben. Doch der Schüler lief ihm voraus, meldete den Besuch und bat den
anderen, dem Lehrer entgegenzugehen und ihm zu danken, weil er aus Liebe
komme. So wurde der zornige Alte auf eine Art empfangen, die er nicht ahnen
konnte. Im Augenblick der Begrüßung erkannte er seinen furchtbaren Fehler,
und nachdem er vom Schüler den Hergang der Sache erfahren hatte, zögerte
er nicht, die Konsequenz zu ziehen: "Vom heutigen Tage an bist du mein
Vater und ich dein Schüler ..." usw.18. Der Junge hatte gehandelt, wie der
Alte hätte handeln sollen; der Schüler hatte dem Lehrer eine Lektion in Demut
und Liebe erteilt, und diese christlichen Tugenden machen seine geistliche
Reife aus, befähigen ihn zum Lehrer und bewirken jenen 'Rollentausch'.
Niemals aber hätte sich das Ideal greisenhafter Frühreife durchsetzen
können, hätte man es nicht in der Heiligen Schrift vorgefunden. Immer wieder
entdecken die kirchlichen Exegeten in der Bibel bestimmte Zeugnisse, welche
auf die Überlegenheit geistiger Reife hinweisen19. Es bilden sich biblische
Exempla heraus, die das Leitbild festigen und einprägen20: Jakob, der das
Gewand des älteren Bruders erhielt (Gen. 27, 15); Joseph, der vom Vater
mehr geliebt wurde als seine älteren Brüder (Gen. 37, 2/3); Samuel, der, ob-
gleich jung, den greisen Lehrer Heli unterwies (nach 1 Reg. 3); David, der in
jungen Jahren von Gott erfüllt, mit seinem Saitenspiel den bösen Geist aus
Saul vertrieb (1 Reg. 16, 23); Salomon, der erst zwölf Jahre alt war, als er den
Thron bestieg (3 Reg. 2, 12 LXX) und seine wunderbare Weisheit vor aller
Welt bewies; Jeremias, der sich mit dem Hinweis auf seine Jugend der Beru-
fung zum Propheten entziehen wollte, aber von Gott ermahnt wurde: "Sage
nicht: ich bin zu jung!" (Jer. 1, 6/7); Daniel, der jugendliche Richter der
Susanna-Erzählung, und schließlich der zwölfjährige Jesus selbst, der im Tempel
die Lehrer in Erstaunen versetzte (Lc. 2, 46/47). Der Evangelist schließt die-
ses Kapitel mit dem Satz: Et Jesusproficiebat sapientia et aetate et gratia apud
Deum et homines (Lc. 2, 52 Vulg.). Es ist bemerkenswert, wie dieser Satz bei
einem Autor wiedergegeben wird, der das puer senex-Ideal einprägen woll-
te21. Der Bibeldichter Juvencus schreibt (1, 278ff.): |
18 Vitae Patrum 3, 26 (PL 73, 754f.) = Apophthegmata Nr. 1090, S.370/72 bei Nyssen -
Miller.
19 Aetas Spir. 87/115. Ebd. 75/87 zur allegorischen Bibelexegese Philons, dessen Ansätze
die Kirchenväter fortführen.
20 Zum folgenden Aetas Spir. 223/44.
21 Die kirchlichen Autoren haben sich andrerseits gescheut, die Kindheit Jesu mit wunder-
baren Zügen auszustatten. Über die (dogmatischen) Gründe s. Aetas Spir. 241.
452 Prudentiana II. Exegetica [181]
Aus dem Fortschritt (proflcere) in Weisheit und Alter ist hier ein rasches Vor-
auseilen der Weisheit (praecurrere.praevenire) geworden: die Weisheit über-
holt das Lebensalter. Es ist klar, daß das Ideal vorzeitiger Reife des Menschen
dadurch, daß man es in der Hl. Schrift vorgegeben fand, für den Christen
einen Wert erhielt, den es für den Heiden nicht hatte und niemals hätte haben
können. Es war durch die Offenbarung Gottes sanktioniert. Und daher erklärt
sich auch die praktische Wirkung dieses Ideals. Wir fassen sie besonders deut-
lich in der Regula Benedicti22, die ausdrücklich verfügt, daß sich die Rangfol-
ge im Kloster nicht nach dem Lebensalter richten dürfe: quia Samuhel et Da-
niel pueri presbyteros iudicaverunt (RB 63, 6/7).
Wir sprachen davon, daß die frühe Kirche, indem sie die wahrheitshal-
tigen Elemente vorchristlicher Geisteswelt in ihr eigenes Glaubenssystem auf-
nahm, diesen Elementen ihren rechten Platz anweisen, sie läutern und erhellen
wollte. Und wir sahen, daß daspuer senex-ldeal ein Beispiel für solche Trans-
formation antiken Geistesguts abgibt. In diesem Fall vollzog sich die Um-
wandlung dadurch, daß dem Leitbild ein neuer Grund, ein neues Ziel, ein
neuer Inhalt und eine neue Legitimation gegeben wurde, aber auch dadurch,
daß es in wesentlicher Weise ergänzt und erweitert wurde. Denn die Antike
kannte nur eine Vorwegnahme der Altersreife in Kindheit und Jugend, eine
Rückwendung des alten Menschen zur Kindheit war ihr so gut wie unbekannt23.
Das gilt auch für die Bibelexegese des hellenistischen Judentums. Philon von
Alexandrien hatte zwar den Kirchenvätern in der allegorischen Erklärung des
Alten Testaments vorgearbeitet und die vergeistigende Deutung der Lebensal-
ter stark entwickelt24. Wenn wir das puer se/iet-Ideal als Ergebnis der Nut-
zung antiker Anschauungen auffassen, so ist das aber trotzdem gerechtfertigt.
Denn gerade die philonische Exegese erfüllte eine vermittelnde Aufgabe, inso-
fern sie die stoische Entwertung der Zeit und der Lebensdauer aufnahm und
mit jüdischer Frömmigkeit zu verbinden suchte. Aber eben auch Philon kann-
te nicht das Ideal geistlicher Kindheit. Die Begriffe "Kind" und "jung" haben
bei ihm stets pejorativen Sinn. Das änderte sich, seit Jesus ein Kind in die
Mitte der Jünger gestellt, Kindesart als vorbildhaft empfohlen und Kindern das
Himmelreich verheißen hatte (Mt. 18, 2/4 par.; 19, 14). Seitdem zielt die Al-
terstranszendenz nicht mehr nur auf die Vorwegnahme der typischen Vorzüge
späterer Lebensalter, sondern ist jetzt auch gewissermaßen rückwärts ausge-
richtet. Die geistige Bewegung des praecurrere (senectutem) wird nicht aufge-
hoben, aber ergänzt durch die gegenströmige Bewegung des redire (ad pueri-
tiam). Bei Origenes heißt das "Angleichung an die Kinder" (ή προς τά παιδία
όμοίωσις). Leo der Große spricht von "wunderbarer Umkehr"25. Sein Aus-
druck: mira conversio ist gewählt im Hinblick auf Mt. 18, 3: Amen dico vobis,
nisi conversi fueritis et efficiamini sicut parvuli, non intrabitis in regnum
caelorum. Gegen etwaiges Mißverständnis solcher Conversion führt Leo das
Apostelwort aus dem ersten Korintherbrief an (1 Cor. 14, 20): Fratres nolite
pueri effici sensibus, sed malitia parvuli estote. Demut, Unschuld, rasche Ver-
söhnlichkeit, Freiheit von Ehrgeiz usw. werden als Vorzüge kindlichen We-
sens angegeben26. Erst | jetzt, erst seit der Ergänzung des puer sene;c-Ideals
durch die umgekehrte Forderung nach geistlicher Kindheit, wird das Leitbild
vollständig, indem es Gültigkeit für das ganze Menschenleben erhält: es wird
zu einer Formel, in der die christliche Ethik in ihrer praktischen Bedeutung
für jedes Lebensalter ausgedrückt ist. Den kirchlichen Autoren ist diese Syn-
these auch durchaus bewußt. Besondere Tiefe erreicht der Gedanke in einer
Osterpredigt des Bischofs Maximus von Turin. Der schöne Text will als Gan-
zes gelesen und durchdacht sein27. Der Autor geht aus von der Bedeutung
pascha gleich transitus, und sieht darin den Übergang vom Greisenalter der
Sünde zur Kindheit der Unschuld angedeutet. Aber er weiß, daß die gnaden-
hafte infantia des Christen mehr ist als die natürliche, weil diese auf Unwissenheit
oder Schwäche beruht, jene auf Tugend, Gnade und dem Sakrament der Wie-
dergeburt. Denn passend zur Osterfeier, der die Taufe der Katechumenen
voraufgeht, verbindet er mit der moralischen Rückkehr zur Kindheit die sakra-
mentale Verjüngung in der Taufe28. Da er aber auch die andere Linie auszieht
und die Forderung nach der senectus morum - unter Bezug auf eine überaus
25 Leo M. tract. 37, 3f. (CCL 138, 202f.). Diese Stelle trage ich hier nach.
26 Leo ebd. 4: Ut autem plene valeamus agnoscere quomodo adprehendi possit tarn mira
conversio, et in puerilem gradum qua nobis mutatione redeundum sit, doceat nos beatus Paulus
et dicat: 'Nolite pueri effici sensibus, sed malitia parvuli estote' (1 Cor. 14, 20). Non ergo ad
ludicra infantiae et ad inperfecta nobis primordia revertendum est, sed aliquid quod etiam graves
annos decent, inde sumendum est... eqs.
27 Maxim. Taur. serm. 54, lf. (CCL 23, 218f.). Einiges zu dieser Stelle Aetas Spir. 208f.
250 mit Anm. 14.
28 Dem Verhältnis von Alterstranszendenz und (sakramentaler) Erneuerung bzw. Verjün-
gung ist Aetas Spir. 244/54 ein eigenes Kapitel gewidmet.
454 Prudentiana II. Exegetica [182]
Kindheit und Greisenalter sind also für diesen Autor nicht nur Namen äußerer,
natürlicher Lebensalter, sondern auch Bezeichnungen für verschiedene geisti-
ge und moralische Vorzüge (merita). Es sind Altersnamen und Tugendnamen.
Senectus heißt: "Greisenalter", aber zum Beispiel auch: "Verstand" (sensus);
infantia heißt "Kindheit", aber zum Beispiel auch "Unschuld" (innocentia).
Die geistige | (metaphorische) Bedeutung der Altersbezeichnungen ist einer-
seits aus einer festen Typologie der Lebensalter gewonnen - der Greis ist
weise, das Kind ist unschuldig - , andrerseits läßt eben die Möglichkeit ihrer
Übertragung auf solche Menschen, die dem äußeren Alter nach der entgegen-
gesetzten Altersstufe angehören, erkennen, daß jene altersspezifischen Tugen-
den gerade nicht an dasjenige Lebensalter gebunden sind, von dem sie ihre
Namen haben. Norm und Überschreitung der Norm sind gleichermaßen in
den geistigen Altersstufen enthalten. Sie sind sozusagen Chiffren für Wert und
Unwert der Zeit. Ja, wir können noch einen Schritt weiter gehen: nicht nur
kann äußeres Alter mit einem entgegengesetzten inneren verbunden werden -
dann etwa, wenn ältere Männer wie die Apostel "Kinder" heißen - , auch
verschiedene geistige "Lebensalter" können in einem Menschen zusammentref-
fen. Denn da die aetates spiritales losgelöst und frei vom natürlichen Alter
existieren, können sie auch in einunddemselben Menschen vereint auftreten.
Das meint Augustinus, wenn er sagt: "Euer Greisenalter sei kindlich und eure
Kindheit greisenhaft, das heißt: eure Weisheit sei ohne Hochmut, eure Demut
nicht ohne Weisheit"30. So mag etwa ein Christ, der weder Kind ist noch
Greis, durchaus die typischen Vorzüge dieser beiden Lebensalter besitzen, ja
wir sollen immer die Tugenden aller Lebensalter in uns sammeln, denn darin
besteht die Zeitüberlegenheit des Christen, seine Unabhängigkeit von Zeit und
Alter, die auf die Ewigkeit vorausweist, in der es Altersunterschiede nicht
mehr geben wird, in der wir alle zum "Vollmaß des Alters Christi" (Eph. 4,
13) gelangen werden31.
Wenden wir uns jetzt noch einmal zur Versreihe bei Paulinus zurück,
von der wir ausgingen, so brauchen wir nicht mehr viele Worte zu machen.
Die Verse bieten eine mehrfach gestufte und variierte Wiedergabe der Idee, die
wir verfolgten. Die Wendung temperies mentis (vgl. V. 178) bezeichnet schön
die wohlabgestimmte Mischung aus Kindheit und Alter, die das Christenleben
30 Aug. inPs. 1 1 2 , 2 ( C C L 4 0 , 1631): Sit senectus vestra puerilis et pueritia senilis, idest,
ut nec sqpientia vestra sit cum superbia nec humilitas sine sapientia ... eqs.
31 Uber die Aufhebung der Altersunterschiede im Jenseits und die Alterstranszendenz als
Annäherung an den Zustand nach der Auferstehung s. Aetas Spir. 148/62.
456 Prudentiana II. Exegetica [183/184]
prägen soll. Der Autor hat dieses Ideal auch sonst in seinen Gedichten gefeiert
und dabei zu kühnen Formulierungen gegriffen32. Doch stehen diese sorgfältig
zugeschliffenen Verse stets im Dienst der Gedanken, indem sie den geheim-
nisvollen, durch Gottes Gnade bewirkten Sachverhalt angemesenem Ausdruck
zu bringen suchen. Die Mittel der Rhetorik, die Tradition der rhetorisch feinge-
bildeten Dichtersprache werden genutzt, um das Wunderbare der Aufhebung
natürlicher Altersgrenzen immer wieder in paradoxen Fügungen der Worte zu
treffen33. Wenn der Dichter innerhalb einer ähnlichen Betrachtung ausruft:
mirabile magni Munus opusque Dei\M, dürfen wir ihn nicht Lügen strafen, son-
dern müssen, wollen wir ihn verstehen, ernst nehmen, was er ernst nahm, und
auch in demselben Maße35. Erstaunen | mag vielleicht, daß sich dem Dichter
der Gedanke an die geistliche Altersmischung aus dem Verhältnis von Architek-
tur und Malerei seiner Bauten ergab36. Aber wir dürfen darin wohl auch ein
Zeugnis für die Beliebtheit des Ideals erblicken, das jener Zeit so nahe stand,
daß sie es im Spiegel solcher Analogien erkannte.
32 Vgl. bes. carm. 21, 210/19 (CSEL 30, 165); 24, 891/96 (ebd. 236) und dazu Giuseppe
Guttilla, Etä fisica e etü spirituale nei "carmi" di Paolino di Nola: Civilü classica e cristiana 11
(1990) 171/81. Auf diese Studie macht mich dankenswerterweise Tomas Lehmann aufmerksam.
33 Guttilla a.O. 177 zitiert carm. 21, 211: aetate puerum, sensibus carnis senem. Aber
carnis, beargwöhnt schon von v. Härtel, der cordis erwägt (im Apparat: CSEL 30, 165), ist
sinnwidrig. Gerhard Wiman: Eranos 32 (1934) 119 konjiziert überzeugend: canis, mit Verweis
auf Sap. 4 , 9 (s. oben S. 454, zitiert bei Paul, epist. 13,6). Unterstützt wird die Konjektur durch
Sven Blomgren: Eranos 76 (1978) 117f. Vgl. noch Cassian. coli. 14, 13, 5 canities sensuum;
Ennod. epist. 2, 10, 3 canus iam in puero sensus. Bei Paulin selbst stehen canus, canities im
vergeistigten Sinne carm. 24, 893; 25, 218; 28, 176; epist. 4, 3 (CSEL 29, 22, Z.l). Leider ist
Wimans Konjektur auch in der neuen Übersetzung von Ruggiero (oben Anm. 3) 278 nicht
berücksichtigt: "fanciullo di anni, vecchio nei sensi del corpo (!)".
34 Carm. 25, 215f. (CSEL 30, 245).
35 Guttilla a.O. (Anm. 32) betont stark den rhetorischen Charakter der Äußerungen in den
Carmina und bringt sie in gewissen Gegensatz zu entsprechenden Selbstaussagen Paulins im
ersten Brief an Augustinus (Paul. Nol. epist. 4, 3: CSEL 29, 21f.): "Una volta transferiti nei
carmi, questi motivi perdono buona parte della loro ragione d'essere" (175). Solche Bewertung
ist willkürlich.
36 Über die Zusammengehörigkeit des Alten Testaments und des Neuen sowohl nach den
Texten der frühen Kirche als auch nach ihren Bildern handelt Antonio Quacquarelli, L'unitä dei
due Testament! nell'iconografia del Π e ΠΙ secolo: Vetera Christianorum 18 (1981) 253/74.
XX.
Die Frage, wie sich die frühe Kirche gegenüber den Bildungsgütern der
spätantiken Kultur verhielt, ist eine Kernfrage der historischen Erforschung je-
ner Epoche und zudem eine Frage, der auch außerhalb der geschichtlichen For-
schung heute immer stärkere Beachtung geschenkt wird, erhofft man sich doch
von ihrer Beantwortung auch allgemeinere Einsichten, welche die Haltung des
Christentums zu den nichtchristlichen Kulturen begründen könnten. Im weiten
Rahmen dieser Fragestellung wird immer dem Dichter Prudentius (Prud.) be-
sondere Bedeutung zukommen, weil sein Werk ein großes und vielfältiges Do-
kument des christlichen Umgangs mit dem reichen Erbe einer reifen Kultur
darstellt. Erasmus v. Rotterdam, einer der vielen Bewunderer dieses Dichters,
sah in seiner Person die Verbindung von Theologie und Poesie verwirklicht1 und
rechnete ihn zusammen mit Kirchenvätern wie Basilius, Gregor von Nazianz,
Laktanz und Ambrosius zu denjenigen Autoren, deren Beherrschung der Spra-
che und "eleganteren Bildung" deswegen keinen Anstoß errege, quia servivit
pietati1. Aber Erklärer unserer Zeit finden gerade in diesem Punkt eine große
Schwierigkeit. Als vor etlichen Jahren ein amerikanischer Philologe die Spuren
Vergils bei Prudentius verfolgte, konnte er sich den Gebrauch, den der christli-
che | Dichter in Wort und Gedanke vom Werk des Heiden macht, nur durch die
Annahme erklären, das Vergilische sei in dem neuen Zusammenhang "ironisch"
zu verstehen, also in Wahrheit "anti-vergilisch"3. Überflüssig zu sagen, in wel-
che Schwierigkeiten er mit dieser Annahme geriet4. Die Verfasserin des vorlie-
* Historische Zeitschrift 258, 1994, 397/415. Rezension zu: Marianne Kah, "Die Welt der
Römer mit der Seele suchend ...". Die Religiosität des Prudentius im Spannungsfeld zwischen
'pietas Christiana' und 'pietas Romana', Bonn 1990 = Hereditas, Studien zur Alten Kirchen-
geschichte, Bd. 3.
1 Erasmus, Apolog. de In principio erat sermo, in: Desiderii Erasmi Roterodami opera
omnia. Tom. 9, Leiden 1706 (Ndr. Hildesheim 1962), col. 118 B.
2 Erasmus, Adagia 4, 5, 1, in: ebd. Tom. 2, Leiden 1703 (Ndr. Hildesheim 1961), col.
1052 C.
3 Macklin Smith, Prudentius' Psychomachia. A Reexamination, Princeton/N.J. 1976.
4 Vgl. meine Besprechung in: Anzeiger f. d. Altertumswiss. 32, 1979, 89/93.
458 Prudentiana II. Exegetica [398/399]
(S. 191) usw.5. Geirrt hat sich also Balderich, Bischof von Utrecht, der Erzie-
her Bruns, des Erzbischofs von Köln, da ihm der Dichter sich darstellte et fide
intentioneque catholicus et eloquentia Verität e que precipuus et metrorum
6
librorumque varietate elegantissimus . Geirrt hat sich auch sein Schüler, eben
Brun von Köln, Bruder Kaiser Ottos I., der das Werk des Dichters immer in den
Händen hielt und es allen Kirchen schenkte7. Geirrt haben sich all jene, die den
Dichter zum Schulschriftsteller der mittelalterlichen Jugend machten, seine Hym-
nen gleichsam ins Gesangbuch des Klerus aufnahmen, auch jene, die ihn als
Lehrer der Jugend bis ins 16. Jh. beibehielten8; die es duldeten, daß seine Gedichte
das protestantische Kirchenlied befruchteten und in Teilen des Römischen Bre-
viers bis heute sich behaupteten. Geirrt haben sich viele Jahrhunderte und viele
einzelne, darunter auch Herder, der feststellte: "Schwerlich wird jemand seyn,
der z.B. im Gesänge des Prudentius: lam moesta quiesce querella, nicht von
rührenden Tönen sein Herz ergriffen | fühlte ... "9; darunter auch Gelehrte unse-
rer Zeit, etwa Jacques Fontaine, als er unlängst den "außergewöhnlichen Wert
des dichterischen Schaffens des Prudentius" hervorhob und sein Werk pries als
"den Höhepunkt lateinisch-christlicher Dichtung der Antike", als "ohne Zwei-
fel das wertvollste Erbe, das (Spanien) der christlichen Kultur des Mittelalters hin-
terließ"10. Alle haben sie geirrt. Wir haben es nämlich, folgen wir Κ., mit einem
grandiosen, die Epochen umgreifenden Irrtum zu tun, von dem uns jetzt die
Freiburger Theologin befreien will. Beschwichtigende Feststellungen werden
gelegentlich eingestreut (z.B. S. 362 unten), erzeugen aber im Ganzen kein
milderes Licht.
5 Daß solche Urteile der Behandlung des Symmachustexts (rel. 3) durch Prudentius (c.
Symm. 2) nicht gerecht werden, habe ich andernorts begründet: Prudentius über die Statue der
Victoria im Senat, in: FMSt 25, 1991, 1/44, bes. 7f. [in diesem Bande S. 263/317, bes. S. 272].
6 Ruotger, Vita Brunonis 4, in: MGH Scriptores rerum Germanicarum, NS. 10, 1951, S.
5, Z. 15/17, zit. bei K., S. 9 Anm. 46.
7 Faustinus Arövalo, Aurelii Prudentii carmina, Rom 1788/89, abgedr. bei J.-P. Migne,
Patrologia Latina. Tom. 59/60, Paris 1862, hier Tom. 59, col. 754 Α (nach Georg Fabricius).
8 Rosier in seinem gleich zu nennenden Buch (wie Anm. 11) S. 259. 260. 266. Das ganze
Kapitel "Das Leben des Prudentius in der Geschichte" (S. 253ff.) sollte man zur Ergänzung der
Angaben bei K., S. 8f. heranziehen.
9 Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, 7. Sammlung, Nr. 82:
"Christliche Hymnen", in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 18, hrsg. von Bernhard Suphan, Berlin
1883 (Ndr. Hildesheim-New York o.J.), 15. Herder bietet hier (S. 22) auch den Text dreier
Strophen (Prud. cath. 10, 117/20. 125/28 und 137/40) und verweist in der Anmerkung auf
"unseren alten Gesang 'Hört auf mit Klagen'", eine Nachahmung des Prudentius.
10 Jacques Fontaine, Art. "Hispania II (literaturgeschichtlich)", in: Reallexikon fur Antike
und Christentum. Bd. 15, Stuttgart 1991, 647/87, hier 663f. Viel tiefer noch und voller klingt
die schöne Würdigung, die einst Pius Bonifacius Gams, Die Kirchengeschichte von Spanien.
Bd. 2/1, Regensburg 1864 (Ndr. Graz 1956), 355f. dem Dichter schrieb.
460 Prudentiana II. Exegetica [400/401]
11 P. Augustin Rosier, Der katholische Dichter Aurelius Prudentius Clemens. Ein Beitrag
zur Kirchen- und Dogmengeschichte des vierten und fünften Jahrhunderts, Freiburg im Breis-
gau 1886 ("mit Approbation des hochw. Herrn Erzbischofs von Freiburg ..." usw.).
12 Clemens Brockhaus, Aurelius Prudentius Clemens in seiner Bedeutung für die Kirche
seiner Zeit, Leipzig 1872 (Ndr. Wiesbaden 1970).
[401/402] XX. Die frühe Kirche und die antike Kultur 461
werden, ja seine gesamte Existenz als Dichter wäre dann ein einziger großer
Widerspruch, wie das K. auch wirklich glauben machen möchte. Aber die Aus-
gangslage stimmt eben nicht. Sie soll u.a. aus folgenden Versen gewonnen wer-
den (praef. 40f.): Conculcet (sc. animä) sacra gentium, Labem, Roma, tuis
inferat idolis. Der Dichter spricht hier von den Zielen seiner eigenen Poesie.
Sacra heißt "Kulte", idola "Götzenbilder": der Idololatrie also will Prud. ein
Ende bereiten. Daß er hier außerdem Tendenzen erkennen ließe, "heidnisch-
antike Elemente" aus seiner Dichtung "auszuklammern" (K., S. 12), daß mithin
von "heidnischem Gedankengut" bei ihm eigentlich nichts mehr übrig bleiben
dürfe (S. 13), könnte den zitierten Versen nur dann entnommen werden, wenn
sacra und idola dasselbe wären wie "heidnisch-antike Elemente", "heidnische
Ideenwelt", "heidnisches Gedankengut", d.h. wenn man die vorchristliche Kul-
tur in allen ihren Äußerungen für | heidnisch im idololatrischen Sinne halten
müßte - was nicht die Ansicht des Prud. und seiner Kirche war. K. verschiebt
und verallgemeinert das Dichterwort in unzulässiger Weise. Dasselbe Verfahren
ist allenthalben zu beobachten. Ich greife eine einzige Seite des Buchs heraus (S.
38): Der Hymnus Ad galli cantum (cath. 1) soll die "theoretische Distanzierung
von den [!] Inhalten der heidnischen Poesie" und die völlige Unvereinbarkeit
heidnischer und christlicher "Sprachkunst" (S. 37f.) bezeugen - aber davon ist
in jenem Hymnus überhaupt nicht die Rede: die Wortverbindung: convolutis
artubus geht auf die Haltung des Schlafenden und hat mit "rhetorischen Verren-
kungen" (K., S. 38 Anm. 184) nichts zu tun. In den Versen c. Symm. 2, 45/48
werden zwar Poesie und Malerei als lügnerisch angeprangert - aber nur inso-
fern, als diese Künste Entstehung und Ausbreitung der Idololatrie begünstig-
ten13, nicht im Sinne einer prinzipiellen Verdammung antiker "Sprachkunst"
oder einer pauschalen Abweisung "der" Inhalte antiker Poesie, also aller in ihr
jemals vorgebrachten Gedanken. Schlimmer noch ergeht es den Versen c. Symm.
2, 640b/48. Das Textstück wird so verstümmelt, daß es gar nicht recht verständ-
lich ist. Aber davon abgesehen, die verallgemeinernde Folgerung: "Nicht nur
die Dichtkunst, auch die Kunst der Rede baut also auf Lügen auf' (K., S. 38), ist
unstatthaft. Denn Prud. handelt hier nicht über "die" Kunst der Rede, sondern
über ein bestimmtes Dokument, eben über die dritte Relatio des Symmachus,
und auch über sie nicht im allgemeinen: er wendet sich gegen Symmachus'
Personifikation der Roma und gegen die Worte, die er ihr in den Mund legt.
K. 's Vergröberungen trüben den Blick für Tatsachen, die weit über Prud. hinaus
Geltung haben.
13 Vgl. dazu Gnilka, Prudentius (wie Anm. 5), 16ff. [in diesem Bande S. 282/92],
462 Prudentiana II. Exegetica [402/403]
Als Paulus vor den Athenern predigte: "Denn in Ihm leben und weben
und sind wir", fügte er hinzu: "wie auch einige von euren D i c h t e r n gesagt
haben" und zitierte ein Versstück aus dem Prooem des Lehrdichters Arat (Act.
17, 28). Damit war nicht nur ein formales Element antiker Poesie aufgegriffen,
sondern ein gedankliches. Es war anerkannt, daß in heidnischer Dichtung wahr-
heitshaltige Keime schlummern, die der Verkündigung dienen können, wofern
sie nur von den falschen Beimengungen gereinigt und in das Licht der Offenba-
rung gerückt werden. In diesem Sinne formuliert Justinus Martyr unter aus-
drücklichem Bezug auf Philosophie, D i c h t u n g | und Geschichtsschrei-
bung: "Was also bei allen gut und schön (καλώς) gesagt worden ist, das gehört
uns Christen" (apol. Π 13, 4). Und auf dieser Grundlage haben die kirchlichen
Denker und Künstler fortgearbeitet. Es war ihre Überzeugung, daß es Pflicht
des Christen sei, die Elemente des Wahren, Guten und Schönen, die in ihrer
Kultur ruhten, recht zu gebrauchen. Augustinus hat das durch die berühmte
Exegese der spolia Aegyptiorum (nach Exod. 3, 22; 11, 2; 12, 35f.) verdeut-
licht, die schon vor ihm gefunden war, aber vor allem durch ihn weiterwirkte
(Aug. doctr. ehr. 2, 40, 60f.). Ich habe diesen ganzen Zusammenhang in einer
Studie dargestellt14 und in einer weiteren zu zeigen versucht, wie die allgemei-
nen Grundsätze in der Dichtung des Prud. wiederzuerkennen sind15. K. hat bei-
de Sachen unbeachtet gelassen. Sie hätte den passenden Schlüssel freilich auch
alleine finden können. Wenn sie nur den Dichter recht beim Wort genommen
hätte! Denn er präsentiert den Schlüssel, wenn auch auf eine der Dichtung ange-
messene, d.h. bildhafte, Weise. So etwa gegen Ende des ersten Buchs Contra
Symmachum (1, 632/42). Hier preist er die rednerische Begabung des Heiden
aufs höchste, stellt sie sogar über die Ciceros, bedauert aber, daß der Redner,
statt Gott zu loben, die "schmutzigen Scheusale" (sordida monstra), d.h. die
Götzen, vorgezogen habe. Er vergleicht ihn mit einem Manne, der morastigen
Boden mit elfenbeinernen oder goldenen Hacken bearbeite und ihre glänzende,
wertvolle Schneide beschmutze. K. (S. 68f.) entdeckt hier eine "großartige
Rehabilitierung des Rhetors", "uneingeschränkte Hochachtung", "Glorifizie-
rung". Aber diese Urteile treffen nicht. K. hätte einen Gedanken betonen müs-
sen, den sie nur streift: "Er (Symmachus) wäre geradezu perfekt, würde er mit
14 Ders., ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur. Bd.
1: Der Begriff des "rechten Gebrauchs", Basel-Stuttgart 1984.
is Ders., Interpretation frühchristlicher Literatur. Dargestellt am Beispiel des Prudentius,
in: Heinrich Krefeld (Hrsg.), Impulse für die lateinische Lektüre. Von Terenz bis Thomas
Morus, Frankfurt am Main 1979, 138/80 [in diesem Bande S. 32/90],
[403/404] XX. Die frühe Kirche und die antike Kultur 463
seiner Rhetorik nicht falschen Zielen dienen" (S. 69). Denn auf diesen Punkt
kommt es an. Prud. unterscheidet die Fähigkeit, die Symmachus besitzt, und
den Gebrauch, den er von ihr macht. Durch diese Unterscheidung wird die
Beredsamkeit (eloquium, facundia) als etwas Wertvolles - im Bilde: Elfenbein
und Gold - gerühmt, aber ihre verkehrte Anwendung - im Bilde: Graben im
Schlamm und Schmutz - | ebenso deutlich verurteilt. Das Ganze ist eine bild-
hafte Darstellung des Prinzips des usus iustus. Der Rhetor selbst wird keines-
wegs "rehabilitiert", aber die Gelegenheit rechten Gebrauchs, die er hätte, wird
gezeigt und damit auch seine Domäne, ein bedeutender Bezirk antiker Bildung,
hinsichtlich der ihr inhärenten Möglichkeiten anerkannt. Die Verse haben hohe,
allgemeine Bedeutung, sind keineswegs taktisch motiviert (vgl. dagegen K., S.
68). Ebenso steht es mit den berühmten Zeilen c. Symm. 1, 501/05 (Schluß der
Theodosiusrede): der Kaiser befiehlt, die Kultbilder Roms vom Blut der Opfer-
tiere zu reinigen, auf daß "die Werke großer Künstler" als Schmuckstücke das
christliche Rom zierten "und nicht ein verkehrter Gebrauch {decolor usus) die
Denkmäler besudle und die Kunst zum Bösen wende!". Das ist ein symbolhafter
Ausdruck des usus iustus, hier bezogen auf Werke der bildenden Kunst, aber
doch von prinzipieller Bedeutung. Zu Recht fand man darin die Art des Um-
gangs mit der antiken Kultur getroffen, die Prud. selbst einhielt16, ja die Kirchen-
väter überhaupt beobachteten17. Aber K. hat den Schlüssel nicht entdeckt, ja man
muß wohl sagen: sie hat ihn versteckt. Gewiß ist es richtig, daß der Dichter nicht
nur Formen, sondern auch Gedanken nutzt, aber das ist keine neue Erkenntnis.
Die allgemeine Verirrung der Prudentiusdeutung, die K. annimmt, soll offenbar
die Vorstellung erregen, als sei die Aufdeckung vorchristlicher Gedankenele-
mente bei Prud. eine Neuigkeit, der auch eine neue Bewertung seiner Dichtung
folgen müsse: so soll aus dem Christen ein verkappter Heide, aus seinem Chri-
stentum ein Synkretismus, aus seinem Programm eine Lüge, aus seinem Kampf
gegen die heidnische Religion Anmaßung werden und wieder Lüge. Überall
Halbheit, Zerrissenheit, Fiktion und Unaufrichtigkeit. Der Schlüssel: der Grund-
satz des rechten Gebrauchs und der dadurch bewirkten Conversion der tradi-
tionellen Elemente, wird so eben nicht gezeigt, sondern verborgen. Ab und zu
blitzen richtige Erkenntnisse der grundlegenden Tatsachen auf (z.B. S. 35f. 61
Anm. 276), sie hinterlassen aber keine Wirkung, weil K. immer wieder zu ihrer
gegen den Autor gerichteten Linie der Interpretation zurückzufinden sucht. |
16 Jacques Fontaine, Le melange des genres dans la po6sie de Prudence, in: Forma Futuri.
Studi in onore del Cardinale Michele Pellegrino, Turin 1975, 755/77, hier 769f.
17 Vgl. Joseph Mausbach, Die Ethik des heiligen Augustinus. Bd. 1, Freiburg 2 1929, 305f.
(über Augustinus).
464 Prudentiana II. Exegetica [405/406]
Vom schiefen Grunde aus, den K. legte, schießt sie dann (S. 42ff.) ihre
Pfeile gegen den Autor ab. Die Nutzung einer vergilischen Seesturmschilderung
etwa, aber auch der Gebrauch der Epitheta omnipotens und tonans werden zu
Zeugnissen des vermeintlichen "Widerspruchs" beim Dichter. Doch handelt es
sich um Ausdrucksmittel, die dem Wesen christlicher Poesie keineswegs wider-
streiten. Der neue Zusammenhang verleiht ihnen vielmehr volleren Sinn.
Omnipotens ist biblisch und Bestandteil des Symbolum. Pater omnipotens Deus
sagt Hilarius in einem Augenblick, da er gerade dabei ist, all seine Fähigkeit, zu
denken und zu reden, in den Dienst Gottes zu stellen18. Vergils Sturmschilderung
im ersten Aeneisbuch hatte längst vor Prud. sein Landsmann, der Bibeldichter
Juvencus, für seine Darstellung genutzt, und er war es auch, der Tonans (für
Deus) in die christliche Dichtersprache einführte19. Wenn spätere Dichter auf
diesem Gebiete allzu frei verfahren sind, so darf man doch für solche "Unbe-
kümmertheit" (K., S. 43 Anm. 207) nicht ohne weiteres Prud. verantwortlich
machen, sondern muß eben die Versuche, die antike Dichtersprache in den Dienst
der christlichen Religion zu nehmen, von Fall zu Fall unterscheiden: sonst hätte
Prud. auszubaden, was etwa Pietro Bembo und andere paganisierende Poeten
der Renaissance sich glaubten leisten zu dürfen20, und "dieses ganze renaissan-
zistische Spiel, wobei man Mythologie und biblische Tradition untereinander
mischte" (Mohrmann), würde ihm aufs Konto gesetzt. Das wäre ungerecht -
und verwirrend. Denn man verstünde gewisse Vorgänge der Rezeptionsgeschichte
nicht mehr. Es wäre nicht einzusehen, weshalb in der Humanistenzeit die Dich-
tungen eines Pontanus oder die Hymnen eines Marullus wegen ihres heidnischen
Charakters bekämpft oder entschuldigt und weshalb ihnen gerade Prud. gegen-
übergestellt wurde: At ego malim unam Odam Prudentii modulantis Jesum quam \
navem onustam versibus Pontanicis ..., schrieb Erasmus21. Wie man auch diese
Urteile aufnehmen mag22: sie zeigen, daß es große Unterschiede gibt, die man
18 Hil. trin. 1, 37, in: Corpus Christianorum, Series Latina 62, 1979, 35; vgl. Aug. civ. 5,
10 (1, 208, Z. 28f. Dombart-Kalb): recte quippe omnipotens dicitur, qui tarnen mori et falli non
potest.
19 Wie das Wort Tonans vom christlichen Standpunkt aus zu verstehen ist, kann Min. Fei.
32, 4 lehren: in operibus enim eius (sc. Dei) et in mundi omnibus motibus virtutem eius
semper praesentem aspicimus, cumtonat, fulgurat, fulminat, cumserenat. Vgl. Rom. 1,20.
20 Christine Mohrmann, Etudes sur le Latin des Chrdtiens. Tom. 1-4, Rom 1961-77, hier
Tom. 2, 55f.
21 Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami, ed. P.S. Allen, Tom. 7, Oxford 1928, Nr.
1885, S. 194, Z. 127ff.
22 Zum ganzen Hintergrund s. jetzt Walther Ludwig, Antike Götter und christlicher Glau-
be, Göttingen 1992 = Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissen-
schaften, Jg. 10, H. 2, 5/24 und 119/31.
[406/407] XX. Die frühe Kirche und die antike Kultur 465
vom Standpunkt der neuen Kritikerin aus kaum noch recht wahrnehmen kann.
Selbst die protestantischen Theologen der Reformationszeit, die mit dem alt-
christlichen Dichter in dogmatischer Hinsicht nicht immer zufrieden waren23,
hatten doch, scheint es, gegen jene Elemente der alten Dichtersprache in seinen
Versen nichts einzuwenden. Jedenfalls lobte Lukas Oslander, Sohn des Andreas
Oslander, des 'Reformators Nürnbergs', gerade die von heidnischen Beimengungen
reine Sprache des Prud. (sancta phrasis) als vorbildlich24. Auch die Anrufung
der geistlichen Muse unter dem alten Namen der camena (Prud. cath. 3,26/30),
die K. als "Anbiederung an den Geschmack des Publikums", als "Buhlen um
die Gunst dieser heidnischen Schutzgöttinnen der Dichtkunst" anprangert (S. 44
mit Anm. 213), stimmte offenbar durchaus zum Eindruck der sancta phrasis,
der sich bei Oslander bildete. Und mit Recht: denn jeder Unbefangene, der diese
Strophe des Tischgebets - eine der schönsten im ganzen Hymnenbuch - liest,
wird sofort erkennen, wie Prud. seine christliche Poesie der heidnischen gerade
entgegensetzt und sich himmelhoch über jeglichen paganen Musenkult erhebt.
Es mag in der Konsequenz der falschen These liegen, daß diejenigen
Äußerungen des Dichters, die seine persönliche Frömmigkeit bekunden, abge-
wertet und ausgehöhlt werden müssen; denn wenn Prud. irgendwie ähnlich emp-
finden soll wie Goethes Iphigenie im Taurerlande, darf er ja keinesfalls der
Religion, der er dient, aus Überzeugung anhangen. "Wieviel Ehrlichkeit kön-
nen wir ... von ihm erwarten?", lautet die Frage, die eingangs gestellt (S. 13
Anm. 74), öfters wiederholt und immer auf die eine oder andere Weise negativ
beantwortet wird. Natürlich dürfte sich dem Leser gar bald die Gegenfrage
aufdrängen, woher denn die moderne Theologin die Kriterien der Beurteilung
von Ehrlichkeit oder Unehrlichkeit des altchristlichen Dichters nimmt. Die Lö-
sung lautet aber sehr einfach, | sie läßt sich in einem einzigen Wort zusammen-
fassen: "Topos"! Reue, Demut, Bekenntnis der eigenen Schwäche: all das ist
"topisch" - und das heißt für K. "klischeehaft". Es ist nicht ernst gemeint und
darf nicht ernst genommen werden. Erkannten ältere Gelehrte in der Demut die
dem Dichter eigentümliche Tugend - virtutem proprium PrudentiP5 - , findet K.
23 Vgl. Ar6valo, Aurelii Prudentii carmina (wie Anm. 7), proleg. 122/29 (Migne, Patrologia
Latina 59, 660/64).
24 Zitat nach ebd. proleg. 129 (Migne, Patrologia Latina 59, 664 A).
25 Ebd. proleg. 46 (Migne, Patrologia Latina 59, 597f.) mit Hinweis auf Kaspar von Barth
(1587-1658). Vgl. Gams, Kirchengeschichte (wie Anm. 10), Bd. 2/1, 355: "Die Schriften des
Prudentius machen auf den Leser den unabweisbaren Eindruck, daß der Dichter alles selbst in
innerster Seele gefühlt, was er so seelenvoll und so innig beschreibt, daß er all' das im Leben
mitgelebt und vollbracht habe, was er so gläubig, so d e m ü t h i g, so kräftig und gewaltig
schildert" (Hervorhebung Chr. Gn.).
466 Prudentiana II. Exegetica [407/408]
allenthalben nur "Demutsphrasen" (S. 32), "Pflichtübung" (S. 29), "die übliche
'Inferioritätstopik'" (S. 63f.). K. fußt hierbei auf den Arbeiten Klaus Thraedes,
der die von Ernst Robert Curtius begründete Toposforschung auf Prud. zu über-
tragen suchte und bereits ähnliche Wertungen vornahm. Oft genügen ihr Hin-
weise auf die Seitenzahlen dieser Arbeiten, um die erhabensten und schönsten
Dichterworte gleichsam abzubuchen. Die entscheidende Frage, ob denn eine
Äußerung allein schon dadurch unwahr werde, daß sie oft, daß sie von vielen,
daß sie in bestimmten Zusammenhängen getan wird, hat K. nirgendwo gestellt.
Es ist aber diese Frage, die an solche Toposforschung zu richten ist. Wenn etwa
Prud., den Schluß des Johannesevangeliums aufnehmend (Joh. 21, 25), sagt, er
wolle von den unzähligen Wundern Christi, welche die ganze Welt nicht fassen
könne, nur einige wenige schildern, und auch diese nur knapp (apoth. 704f.);
wenn er hierauf, nach Beschreibung der Brotvermehrung (apoth. 706/40: Mc.
6, 38ff.), zum nächsten Wunder mit der Frage überleitet: "Aber was schildere
ich dies mit stammelnder Stimme, ich, der ich unwürdig bin, Heiliges zu besin-
gen?" (apoth. 741 f.): kann man daraus mit K. (S. 41) schließen, diese Aussa-
gen, falls man sie ernst nähme, bedeuteten "das Todesurteil für christliche
Schriftstellerei"? Die Unmöglichkeit und die Unfähigkeit, das Wesen und die
Werke Gottes angemessen auszudrücken, entbinden den Christen nicht von der
Pflicht, die göttlichen Geheimnisse und Wunder immer wieder im Denken, Spre-
chen, Schreiben zu umkreisen und zu verkünden. Ob die Freiburger Theologin
je das Prooem der Confessiones Augustins gelesen hat? Oder den Beginn der
Traktate über das Johannesevangelium, wo eben die Unfähigkeit des | Men-
schen, sogar des inspirierten Evangelisten, über Gott und Göttlichkeit angemes-
sen zu reden, und die Pflicht, dennoch von Gott zu reden, klar ausgedrückt
sind26. Alle menschliche Unvollkommenheit in Wort und Gedanke, schreibt Basi-
lius an Gregor v. Nazianz27, rechtfertigt nicht das Schweigen über göttliche
Dinge. Wenn also der Hymnendichter im Lobpreis Gottes und Seiner Gaben den
würdigsten Dienst erkennt, den die menschliche Seele ihrem Schöpfer erweisen
kann (Prud. cath. 3, 31/35), so liegt darin nicht der geringste Widerspruch zur
Einsicht in die menschliche Beschränktheit und Sündhaftigkeit, die es ihm unmög-
lich machen, der Größe Gottes in Worten gerecht zu werden. K. jedoch kom-
mentiert: "Da ist nichts mehr wiederzuerkennen von dem von Selbstzweifeln
26 Aug. in Joh. tract. 1, 1, in: Corpus Christianorum, Series Latina 36, 1954,1.
27 Basil, epist. 7, in: Saint Basile, Lettres, ed. Yves Courtonne, Tom. 1, Paris 1957, 22.
[408/409] XX. Die frühe Kirche und die antike Kultur 467
geplagten Verseschmied" (S. 41). Hat sich unter den Verantwortlichen in Frei-
burg, Köln, Tübingen und Bonn niemand gefunden, der bemerkt hätte, wie tief
die Verfasserin hier unter ihren Gegenstand absinkt?
Noch tiefer schneidet die Kritik an einem anderen Punkte: "Die Dichtung
des Prud. ist einer in sich gekehrten, an den Belangen der Umwelt nicht mehr als
oberflächlich interessierten Haltung entsprungen, die ... mitunter der Gefahr
narzißtischer Konzentration auf die eigene Person erliegt" (S. 96). Man muß
Bücher aufschlagen wie das von Walter F. Otto, Der Geist der Antike und die
christliche Welt (Bonn 1923), um solche Urteile zu finden - dort gleich über die
ganze "christliche Ichreligion". Aber das Buch wurde später auf Wunsch des
Verfassers nicht mehr aufgelegt28. Auch an ihn dürfte Rudolf Pfeiffer gedacht
haben, als er von dem "im Grunde primitiven Paganismus" sprach, "der seit
Winckelmann bis in unsere Tage nicht ganz unbedeutende Teile des philologi-
schen Schrifttums in mitunter seltsamer Weise färbte"29. Daß nun ausgerechnet
eine katholische Theologin mit ähnlichen Vorwürfen gegen einen der großen
Autoren ihrer eigenen Religion aufwartet, darf jedenfalls verwundern. Schon
bei Besprechung der Praefatio kreidete | K. dem Dichter an, daß es ihm "in-
teressanterweise" nicht "um den Nutzen für die Gemeinschaft oder den Staat
oder die Mitmenschen" gehe, sondern "allein < u m > sein eigenes Seelenheil"
(S. 31). Zu Unrecht. Denn der Begriff des utile (praef. 6) als des Nutzens für das
eigene Seelenheil (praef. 28/30) schließt die Erfüllung des christlichen Hauptge-
bots wie selbstverständlich ein, ohne daß der Dichter das ausführen müßte. Sei-
ne Dichtung, durch die er sich bescheidenes Verdienst zu erwerben hofft, ist
Dienst an der Gemeinschaft im höchsten Sinne. Das gilt auch für die lyrischen
Gedichte. Die "introvertierte Motivation christlicher Poesie", die K. ihrem Au-
tor anlastet (S. 65), hat immerhin dazu geführt, daß seine Hymnen Jahrhunderte
hindurch gebetet und gesungen wurden. Die Frage liturgischer Verwendung der
Texte braucht damit gar nicht verbunden zu werden. Schließt denn der Gedan-
ke, Dichtung sei Opfer für Gott "eine bedauerliche Flucht aus der verantwortungs-
vollen Einbindung in die Gesellschaft" (S. 65) in sich? Flüchtet man aus der
Gesellschaft, wenn man nicht das Publikum anredet, sondern Gott? Wenn ja:
was ist dann mit Augustins Confessionen, die ein einziges Gebet an Gott sind
und doch, nach dem erklärten Willen ihres Autors, ein Liebesdienst an den
Brüdern sein sollen? Und was ist erst mit den prudentianischen Märtyrerliedern?
28 Vgl. Walter F. Otto, Das Wort der Antike. Hrsg. v. Kurt von Fritz, Stuttgart 1962, 383,
Nr. 17 der Bibliographie.
29 Rudolf Pfeiffer, Philologia perennis, Festrede (Bayer. Akademie), München 1961, 21.
468 Prudentiana II. Exegetica [409/410]
30 Prud. c. Symm. 1, 541/43, erinnert absichtsvoll an die Voraussage Jupiters über die
immerwährende Herrschaft Roms bei Verg. Aen. 1,278f. Das Neue: die eschatologische Ausrich-
tung der Gedanken, wird vonK. zunächst (S. 114/16) unterdrückt, dann (S. 223f.) durch Annä-
herung an die vergilische Auffassung geschwächt. Man vergleiche hierzu Friedrich Klingner,
Rom als Idee, in: ders., Römische Geisteswelt, München 51965, 645/66, bes. 660.
[410/411] XX. Die frühe Kirche und die antike Kultur 469
fern also: "dehnt er seine Herrschaft weiter aus, erfüllt von dem Wunsch, in der
künftigen Zeit (aevo posteriore: im späteren Leben, in der Ewigkeit) den Seinen
das Heil zu sichern". - K. (S. 141) zu Prud. c. Symm.l, 390f.: "Mit dieser
provozierenden Frage, die in ihrer kritischen Haltung gegenüber Theodosius
eine gewisse Sonderstellung einnimmt..." usw. Von Theodosius ist hier über-
haupt nicht die Rede. Vermutlich wurde der Ausdruck: nonnepudet regempopu-
lum ... eqs.? mißverstanden (rex steht adjektivisch). - Über eine ganze Seite
hin rätselt K. (S. 157), warum Prud. im Rahmen eines historischen Überblicks,
der die allmähliche Ausbreitung des Götterkults vorführen soll, das Zeitalter des |
Augustus als docilis iam aetas kennzeichne: "Die Erwähnung der 'docilitas' will
dazu nicht recht passen ..." usw. Im Gegenteil! Sie paßt genau. K. hat ihren
Dichter nur nicht verstanden: docilis ist pejorativ gemeint, im Sinne Juvenals
gesprochen: dociles imitandis Turpibus acpravis omnes sumus (sat. 14, 40f.).
Die Vorfahren haben den Ianus vergottet und einen Monat nach ihm benannt (c.
Symm. 1, 237ff.): dasselbe tat die Nachwelt mit Augustus docili iam aetate (1,
245ff.), d.h. das spätere Geschlecht hatte von den Alten gelernt, es war, infolge
der schlechten Gewöhnung, nunmehr "gelehrig" geworden34. Auch auf diesem
Mißverständnis wird fortgebaut (S. 130. 166f. 235). - Auf S. 165 wird Prud. c.
Symm. 2, 430ff. zitiert: ... tandem deprendere rectum Doctus iter... eqs. Der
Leser erfährt weder, welches Substantiv zu doctus gehört - es fällt der Verkür-
zung des Zitats zum Opfer (429f.: geniusve animusve Publicus) - , noch kann er
erraten, was K. sich denkt, wenn anschließend übersetzt wird: "Endlich wußte
sie [!] den rechten Weg zu gehen ..." usw. - Wenn der Fatalismus der Astrologie
gelten soll, sind Strafgesetze sinnlos und ungerecht: (reos) ferrea fata Cogunt
adfacinus et inevitabile mergunt (c. Symm. 2, 463f.). Hier steht inevitabile als
Adverb bzw. 'inneres' Objekt zu mergunt, K. aber zitiert (S. 168) mit Bezug auf
diesen Vers die Junktur^aanws inevitabile, hat also die Konstruktion verkannt
oder mißachtet. - Es könnte ein Druckfehler sein, daß der sarkastische Ausruf: Ο
pietas, ο sancta fides! (c. Symm. 2, 503) falsch und unmetrisch so wiedergegeben
wird: Ο pietas! Ο sancta pietas (Κ., S. 169). Aber da das Zitat von der Bemerkung
umschlossen wird: "Die 'pietas' ist von Seiten der Götter aufgekündigt... ein [!]
Grundelement der römischen Religionsvorstellung mit Füßen getreten", wird
man den Fehler kaum dem Setzer ankreiden dürfen. - Prud. c. Symm. 2,591f.:
nec enimfit copula Christo Digna, nisi inplicitas societ mens unica gentes. K.
34 Zu dieser Stelle s. Christian Gnilka, Notizen zu Prudentius, in: RhM 109, 1966, 84/94,
hier 84/87 [in diesem Bande S. 9/12],
472 Prudeatiana II. Exegetica [413/414]
läßt den Vers 592 auf mentes enden statt auf gentes (wie einhellig überliefert)
und übersetzt (S. 174): "denn es gibt keine Gemeinschaft, die Christus würdig
wäre, es sei denn ein einziger Geist könnte die Vielfalt [!] der Gesinnungen [!]
einen". Hier ist nicht nur das falsche Wort mentes in die Übersetzung einge-
gangen ("Gesinnungen"), sondern auch inplicitas mißverstanden ("Vielfalt"):
das Partizip prädikativ zu societ gestellt, stärkt den Begriff der engen Zu-
sammengehörigkeit ('Verknüpfung') der Völker. -K., S. 178: "Die 'urbsanimae'
wird für Gott bewohnbar, weil der [!] 'mens' in ihr als 'frenator' [!]... gewirkt
hat". Es ist schon schlimm, das Geschlecht von mens so deutlich verkannt zu
sehen. Schlimmer noch, daß sich derlei wiederholt (K., S. 183). - Nicht selten
wirken Übersetzungen wie textferne Variationen des Originals (z.B. S. 175.
176). Zahlreich sind Ungenauigkeiten, etwa mihi ... irtculcant: "mir ... anla-
sten" (S. 185) - statt "einprägen", "aufdrängen"; claustra: "Stadtmauern" (S.
186) - gemeint sind die Riegel (an den Toren); triste sacrum·, "verdrießliches
Opfer" (S. 199) - gesagt vom Tode des Gladiators in der Arena! Prud. c. Symm.
2, 835f. redet nicht von "Kerkern", "Gefängnissen" und "Baracken" (K., S.
194), sondern von Kerkern, Kloaken und Bordellen. - Aeolus und Neptunus
(bei Verg. Aen. 1, 124ff.) werden verwechselt (S. 43). Die Liste solcher Män-
gel ließe sich leicht fortsetzen. Auch sachliche Angaben fuhren nicht selten irre. |
Gleich eingangs (S. 7) liest man: "In der Spätzeit des Reiches wurde Spanien
geradezu zu einem Refugium für die römische Literatur, da es sich am längsten
der Barbareneinfälle erwehren konnte. So überrascht es nicht, daß gerade Sevil-
la mit Isidor den letzten abendländischen Kirchenvater hervorbrachte". Die
Sueben, Silingen und Vandalen, die Spanien schon zu Beginn des 5. Jh. durch-
zogen, scheint die Theologin ebenso zu übersehen wie die Tatsache, daß Isidor
im Westgotenreich lebte: K. hat hier Angaben in Altaners Patrologie entstellt. -
Prud. war nicht magister memoriae (S. 3 Anm. 11), sondern hatte den Proximat
inne, wohl im scrinium libellorum; kurz darauf ist bei K. (Anm. 14) plötzlich
auch vom proximus die Rede: die ganze Sache ist wohl nicht verstanden, son-
dern aus der Studie Italo Lanas35 flüchtig kompiliert. - Die eversores bei Aug.
conf. 3 , 3 , 6 sind jugendliche Vorlesungsstörer und haben mit der kirchlichen
Stellung zur Literatur (K., S. 22 Anm. 114) nicht das mindeste zu tun. - Die
ungleichmäßige Beachtung der Spezialliteratur hat auch im einzelnen nachteilige
Folgen. Auf S. 340f. wird die mystifizierende Deutung der Strophe cath. 5,
117/20, die sich J. Fontaine erdachte, aufgegriffen und im Sinne "einer tieferen
35 Italo Lana, Due capitoli Prudenziani, Rom 1962 = Verba Seniorum, NS., 2, 10/16
[414/415] XX. Die frühe Kirche und die antike Kultur 473
36 Hugo Beikircher, Spezereien aus dem Paradies, in: Wiener Studien 20, 1986, 261/66.
37 Aug. div. quaest. 83, qu. 35,2, in: Corpus Christianorum, Series Latina, 44 A, 1975,52.
38 Congregatio de Institutione Catholica. Instructio de Patrum Ecclesiae studio in sacerdotali
institutione (10. Nov. 1989), in: Acta Apostolicae Sedis 82, 1990, 607/36, hier 625, Nr. 39.
39 Rosier, Aurelius Prudentius Clemens (wie Anm. 11), 276.
40 Aug. de utilitate credendi 6, 13, in: Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 25,
1891, 18.
XXI.
1.
ausführt3. Ein großer Autor, sagt Newman, ist einer, der ausdrückt, "was alle
fühlen, aber alle nicht sagen können"; in seinen Worten finden die Gleichgesinn-
ten "eine Darstellung ihrer eigenen Empfindungen, eine Wiedergabe ihrer
eigenen Erfahrungen und eine Stütze ihrer eigenen Urteile". Er besitzt, be-
merkt Newman weiter, nicht nur copia verborum: "er ist einer, der etwas zu
sagen hat und der weiß, wie er es zu sagen hat". Gedankentiefe, Weite des
Blicks, Philosophie, Scharfsinn, Lebenserfahrung und Kenntnis der menschli-
chen Natur, all das seien nicht seine wesentlichen Vorzüge - obwohl er sie
besitzen könne und er um so größer sei, je mehr er davon besitze: seine cha-
rakteristische Gabe, so Newman, ist die Fähigkeit des Ausdrucks ("the faculty
of expression") im weitesten Sinne. Daß Symmachus diese Fähigkeit besaß,
spüren wir heute weniger als seine Zeitgenossen. Seine Reden üben nicht mehr
denselben Zauber aus wie einst, ausgenommen vielleicht die eine, die berühmte-
ste: das Manifest des sterbenden Heidentums, das excellens volumen, als das
es selbst sein christlicher Gegner feiert4, jene Rede also, mit der Symmachus
i.J. 384 als Gesandter der heidnischen Minderheit des Senats vor den jugend-
lichen Kaiser Valentinian II. trat5.
Diese Rede wahrt trotz ihrer Stilkunst den Charakter einer gewissen
amtlichen Kürze, aber gerade darauf beruht der Eindruck der Frische, den sie
noch heute macht: bestimmt dazu, als Bittschrift vor dem kaiserlichen Consisto-
rium verlesen zu werden, ist sie knapp gehalten, im Ganzen wie im Einzelnen.
Der Umfang ist mäßig, der Satz überschaubar. Alles besitzt Kürze und Wucht6.
Dazu tritt der bewegende Anlaß dieser Relatio. Sie berührt uns weniger durch
die konkreten Forderungen, die darin erhoben werden: Altar und Statue der
3 John Herny Cardinal Newman, The Idea of a University (1852), edited with an Introduction
and Notes by Martin J. Svaglic (Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press 1982)
219f. Newman kannte die Klassiker, und so darf man annehmen, daß in seinen Sätzen die
Erörterung nachhallt, die Cicero große römische Redner über das Wesen der Beredsamkeit und
das Ideal des Redners führen läßt, vgl. Cie. de or. 1, 48/51; 1, 64; 1, 213.
4 Prud. c. Symm. 1, 648.
5 Der Text bei O. Seeck: MGH a.a. 6, 1 (1883) 280/83 und Michaela Zelzer: CSEL 82,
3,21/33; dazu der Kommentar von D. Vera (Commento storico alle relationes di Quinto Aurelio
Simmaco, Pisa 1981, 12/53). Mit deutscher Übersetzung der Dokumente: R. Klein, Der Streit
um den Victoriaaltar (Darmstadt 1972); J. Wytzes, Der letzte Kampf des Heidentums in Rom
(Leiden 1977) = Etudes pr61iminaires 56, 200/318 (kommentiert).
6 Vgl. die Charakteristik bei G. Boissier, La Fin du paganisme 2 (Paris 18911) 333, der
allerdings bei seinem stilistischen Vergleich Ambrosius zu schlecht wegkommen läßt (ebd. 334);
s. unten S. 482f. Die Untersuchung von G. Haverling, Studies on Symmachus' Language and
Style (Göteborg 1988) = Studia Graeca et Latina Gothoburgensia 49 wendet sich sprachlichen
Einzelbeobachtungen zu.
476 Prudentiana II. Exegetica
Göttin Victoria, die Gratian zwei Jahre zuvor aus dem Senatshaus in Rom
hatte entfernen lassen, sollten wiederaufgestellt, seine Gesetze, die dem heid-
nischen Kult die finanziellen Grundlagen entzogen, annulliert werden. Diese
Dinge haben für uns nur historisches Interesse. Aber das allgemeinere Anlie-
gen, das hinter den einzelnen Forderungen sichtbar wird, die Sorge um den
Erhalt der politischen und kulturellen Größe Roms: sie sichert dem Autor eine
lebendige Anteilnahme, zumal er von der Position des Schwächeren aus spricht
und jeder leicht für den Partei ergreift, der gegen die Staatsmacht ein begrün-
detes Anliegen zu verteidigen scheint. So breitet sich ein verklärendes Licht
über die Person dieses Mannes, die geradezu als "tragische Gestalt" verstan-
den wird7. Vielleicht wäre seine Rede aber trotzdem nur ein Stück Geschichte
oder Literaturgeschichte, erweckte sie nicht den Eindruck, als enthalte sie, in
ihrem zentralen Teil, solche Gedanken, die heute viele Menschen bewegen,
schiene sie nicht diesen Ideen vollendeten Ausdruck zu verleihen, so daß in
den Sätzen des spätantiken Redners jeder sich selbst wiederzufinden glaubt,
der diese Ideen in sich trägt; so daß sich eben heute noch - oder heute wieder -
das Wesen jeder echten literarischen Kunst, wie es Newman definierte, an
diesen Sätzen zu offenbaren scheint: die Fähigkeit zu sagen, was andere emp-
finden, auszudrücken, was andere anerkennen als "an interpretation of their
own sentiments".
2.
Ich spreche von den Kapiteln 8 bis 10 der dritten Relatio. Hier gibt der
Autor so etwas wie eine theoretische Begründung seines Anliegens, freilich
ohne philosophische Weite oder Tiefe für sich in Anspruch zu nehmen8. Er
erklärt zunächst etwa folgendes: Jedes Volk besitzt seine eigene Tradition (mos),
sein eigenes religiöses Brauchtum (ritus) - wir können vielleicht sagen: seine
eigene Kultur. Dies ist so verfügt von der "göttlichen Vernunft", die den
einzelnen Städten verschiedene Kulte als "Wächter" zuteilt; denn wie die Einzel-
menschen bei der Geburt die Seelen, so erhalten die Völker bei ihrer Entste-
hung Schutzgeister, die ihr Schicksal bestimmen (fatales genii). Aber da jed-
wede Erklärung des Wesens der Götter im dunklen liegt, erkennt man sie am
besten im Rückblick auf die Geschichte und auf die Erfolge, die ihre Vereh-
rung einbrachte. Tradition und Alter verschaffen also den Religionen Autori-
tät. Und dann weiter wörtlich9:
"Es ist billig, all das, was Menschen verehren, für ein und dassel-
be zu halten. Zu den gleichen Sternen schauen wir empor, ge-
meinsam ist uns der Himmel, dasselbe Weltall umhüllt uns: was
macht es da für einen Unterschied, nach welcher Lehre ein jeder
die Wahrheit sucht? A u f e i n e m e i n z i g e n W e g e k a n n
m a n n i c h t zu e i n e m so e r h a b e n e n G e h e i m n i s ge-
langen."
Manchem mag es bei Lektüre der Sätze ergehen wie dem Ausonius, als
er Symmachus' Brief las. Läßt er das Buch sinken, kommen ihm Bedenken;
beginnt er wieder zu lesen, ist er erneut wie gefangen. Und die Wirkung wird
umso stärker sein, je lieber er hört, was der Autor sagt, je mehr die eigenen
Anschauungen, die er in sich trägt, dem zu entsprechen scheinen, was er ver-
nimmt. Ja, die Wirkung kann so stark sein, daß er nicht mehr wahrhaben will,
wie sehr ihm geschmeichelt wird. Was er eigentlich wissen müßte, weiß er auf
einmal nicht mehr - oder besser: will er nicht mehr wissen. Derart war die
Wirkung der Rede, als sie zum ersten Mal gehört wurde, im kaiserlichen
Consistorium zu Mailand, als ihr alle zunächst beistimmten, Heiden wie Chri-
sten - nur nicht der junge Kaiser selbst10. Und so blieb ihre Wirkung für viele,
so ist sie, jedenfalls in der zitierten Partie, bis auf den heutigen Tag geblieben
für alle, die ihre Überzeugungen in den Worten des großen Autors wiederzuer-
9 Symm. ebd. Die folgenden Sätze spricht Symmachus in eigener Person, obwohl sie in
der Wiedergabe bei Prudentius c. Symm. 2, 85/90 der direkten Rede zugeschlagen werden, die
Symmachus der personifizierten Roma in den Mund legt. Zur Abtrennung dieser Rede im Sym-
machustext s. Hermes 118 (1990) 464/70 [in diesem Bande S. 222/29],
10 Er wird deswegen von St. Ambrosius mit Daniel verglichen: Ambr. de obitu Valentiniani
19 (CSEL 73, 340).
478 Prudentiana II. Exegetica
kennen glauben. Namentlich der letzte der zitierten Sätze galt modernen Den-
kern als Muster und Motto religiöser Toleranz. Uno itinere nonpotestperveniri
ad tarn grande secretum: der Religionswissenschaftler Friedrich Heiler, der
Philosoph und Staatsmann Radhakrishnan und andere, auch Vertreter unseres
eigenen Fachs, bekannten sich zu diesem Satz wie zu einem Leitwort11. Der
Historiker Arnold J. Toynbee beschließt sein Buch "Christianity among the
Religions of the World" mit Worten der Begeisterung für Symmachus und
seine Sache12. Symmachus habe sich geschlagen geben müssen, aber nicht
durch Argumente. Sein Satz, man könne nicht auf einem Wege zu dem großen
Geheimnis gelangen, sei damals unbeantwortet geblieben, weshalb er auch
heute noch Gültigkeit besitze. Ich hebe diese Bemerkungen des englischen
Historikers hier hervor, nicht etwa deswegen, weil ich sie in sich für beson-
ders gut begründet oder beachtenswert hielte, sondern eher aus umgekehrtem
Grunde: weil sie deutlich zu erkennen geben, welche Vorsicht zu üben ist,
sooft der Satz des alten Redners als Parole eines modernen Toleranzdenkens
ausgegeben wird.
3.
Möglich ist das überhaupt nur dann, wenn man den Satz ganz oder
teilweise aus seinem textlichen und historischen Zusammenhang löst. Denn er
hat durchaus dogmatische Grundlagen: daß nämlich alle Kulte Ein und Dem-
selben gelten; daß dieses Eine sich nicht offenbart hat, sondern verborgen ist,
ein Geheimnis darstellt; daß es schicksalhafte Genien gibt, Untergötter sozusa-
11 Hierzu s. J. Dörmann, Die eine Wahrheit und die vielen Religionen (Abensberg: J. Kral
1988) = Respondeo, hrsg. von J. Bökmann, Bd. 8, 176. Nachweise bei G. Rosenkranz, Der
christliche Glaube angesichts der Weltreligionen (Bern/München 1967) 313 (Anm. 99 zu S.
187). Aus der Klassischen Philologie hier nur eine Stimme: U. Knoche preist Symmachus' Rede
als "glänzende Fürsprache für Toleranz und Großzügigkeit in kultischen und in Glaubensdingen"
(U. Knoche, Ein Sinnbild römischer Selbstauffassung, in: Symbola Coloniensia Iosepho Kroll
... oblata, Köln 1949, 143/62, ebd. 143 = ders., Vom Selbstverständnis der Römer, Heidelberg
1962 [Gymnasium Beiheft 2] 125/43, ebd. 125).
12 Arnold J. Toynbee, Das Christentum und die Religionen der Welt [deutsche Überset-
zung] (Gütersloh 1959) 121f. Vgl. dens., Α Study of History 7 (Oxford 19552) 442. In diesem
Werk hat Toynbee aber auch seinen Kritiker M. Wight ausführlich zu Wort kommen lassen
(ebd. 77, 737/48), der, gestützt u.a. auf J. Danidlou, Le Mystöre de l'Avent (Paris 1948), eine
glänzende Darstellung des kirchlichen Standpunkts bietet, ohne freilich Toynbee überzeugen zu
können (vgl. ebd. 10, 238). Die Auseinandersetzung der beiden hat an Aktualität in wahrhaft
ungeheuerlichem Maße zugenommen.
XXI. Die vielen Wege und der Eine 479
gen, die über die Völker gebieten. Was sind diese Annahmen - schon für sich
betrachtet - anderes als dogmatische Voraussetzungen? Sie haben aber auch
einen philosophischen Hintergrund13. Zwar ist auch dieser Passus der Rede
auf Wirkung berechnet, weniger auf Feinheit der Argumentation. Dennoch
müssen wir alle diese Äußerungen ernstnehmen. Denn es sind nicht Gedan-
kenblitze, die nur für einen Augenblick aufzucken. Die Lehre, daß die Wahr-
heit verborgen sei, ist platonisch. Latet omne verum, sagt Porphyrios (bei
Macrobius): die Seele hat bei ihrem Abstieg in die Körper das Wissen über die
göttlichen Dinge, das sie einst im Himmel besaß, mehr oder weniger verloren;
daraus erklären sich die unterschiedlichen Auffassungen der Menschen von
der Gottheit, und deswegen ist auf Erden nur Vermutung (δόξα, opinio) über
die Wahrheit möglich14. Auch die Anschauung, die einzelnen Völker seien
verschiedenen "Genien" unterstellt, ist platonisch15. Zur Zeit, da Symmachus
mit seiner Rede auftrat, war es gerade erst zwanzig Jahre her, daß Julianus
Apostata diese Lehre in seiner antichristlichen Schrift (Κατά Γαλιλαίων)
vertreten hatte. Und das zeigt uns nicht bloß, woher diese Lehren kommen,
sondern auch, gegen wen und gegen was sie sich richten. Die Beobachtung der
Verschiedenheit der Nationen nach ihren körperlichen Merkmalen, nach ihrer
völkischen Eigenart und nationalen Kultur bildete ein Hauptargument Julians,
mit dem er die Vielheit nationaler Gottheiten erklärte und rechtfertigte16. Sein
Hauptvorwurf gegen das Christentum und nahezu sein einziger Vorwurf ge-
13 Dazu Vera im Kommentar a.O. (oben Anm. 5) 41; Klein a.O. (oben Anm. 7) 84/88,
jeweils mit Literatur, jetzt auch A. Demandt, Die Spätantike (München 1989) = Handbuch der
Altertumswiss. III, 6, 415f. Kleins Versuch, die Partien 8 und 10 in ihrer Bedeutung für
Symmachus und die Bittschrift herabzustimmen, ist nicht überzeugend. Richtig urteilt Vera
a.O. 15, daß das Stück 8/10 den "zentralen Teil der Relation" ausmacht und daß hier der
"Abgrund" ("l'abisso") sichtbar wird, der die beiden "religiösen Welten" trennt. Vgl. auch
unten S. 484 zu Prudentius.
14 Macr. somn. 1 , 3 , 18; 1, 12, 9; dazu M. Regali, Macrobio. Commento al Somnium
Scipionis, Libro I (Pisa 1983) 238f. 327.
15 Nach Kelsos wurden von der obersten Gottheit Dämonen als "Aufseher" über die ein-
zelnen Völker gesetzt. Die nationalen Kulturen (Gesetze und Religion) sind unter ihrem Einfluß
zustande gekommen und müssen daher als Teile der göttlichen Weltordnung gewahrt bleiben:
Orig. c. Cels. 5, 25/28; vgl. 7, 68; 8, 28 (Sources Chrdt. 147, 74/84; 150, 170/74; 150, 234).
Hierüber und über Origenes' eigene Lehre von den Völkerengeln s. J. Ratzinger, Die Einheit
der Nationen (Salzburg/München: Bücherei der Salzburger Hochschulwochen 1971) 41/68, bes.
42 mit Lit. (Anm. 35 und 36).
16 Julian, c. Gal. frgg. 25/28 bei Emanuela Masaracchia, Giuliano Imperatore. Contra
Galilaeos (Roma 1990) = Testi e commenti - Texts and Commentaries 9, 120/24. Zusammen
mit den Antworten, die St. Kyrill v. Alexandrien erteilte: Cyrill. Alex. c. Julian. 4: PG 76, 717
A/732 A. Die Parallelen aus der griechischen Philosophie sammelt Masaracchia 213/16. Das
Material ist vielschichtig - Symmachus erscheint in dem neuen Kommentar übrigens nicht - und
macht die 'Quellenfirage' schwierig, vgl. Masaracchia in der Einleitung 16/20.
480 Prudentiana II. Exegetica
gen das Judentum betraf das Erste Gebot: Moses, sagte er, habe es gewagt,
einen der nationalen Sondergötter (μερικοί θεοί), die der obersten Gottheit
unterstellt sind, zum Einzigen Gott zu machen, und darin erblickte er sozusa-
gen den Sündenfall der jüdischen und der christlichen Religiosität17.
Auch wenn Symmachus es begreiflicherweise vermeidet, in seiner Bitt-
schrift an den christlichen Kaiser die Spitze jener Gedanken direkt gegen das
Christentum zu kehren, steht er doch eben unzweifelhaft auf demselben geisti-
gen Boden wie Julian. Die modernen Toleranzbegriffe treffen daher nicht recht.
Von einer inhaltlichen (dogmatischen) Toleranz kann kaum die Rede sein;
ebensowenig von einer formalen (praktischen). Denn natürlich verlangen jene
nationalen Gottheiten, die über die Völker gebieten (θεοί έθνάρχαι), die ihr
Schicksal bestimmen und ihnen Schutz gewähren, stete Anerkennung und kul-
tische Verehrung. Symmachus denkt gar nicht daran, in dieser Hinsicht ir-
gendwelche Konzessionen zu machen. Selbst innerhalb seiner kleinen Rede
wird das deutlich, etwa dann, wenn er über die Göttin Victoria spricht18: Wo
sollen wir schwören, fragt er, wenn der Altar der Victoria nicht in der Curie
steht? Durch welche religiöse Scheu wird eine Falschaussage verhindert {qua
religione mens falsa terrebitur... eqs.)? Zwar sei alles von der Gottheit erfüllt
und für einen Meineidigen gebe es nirgendwo einen sicheren Platz: sedplurimum
valet ad metum delinquendi etiam praesentia numinis urgueri19. Altar, Götter-
bild und Kult gewährleisten also die Gegenwart der Gottheit. Man versteht,
daß St. Ambrosius in seiner Erwiderung gerade auf diese durch und durch
heidnische und idololatrische Auffassung des Victoriakults hinweist und für
den Fall, daß christliche Senatoren gezwungen würden, unter solchen Voraus-
setzungen ihren Eid abzulegen, den Vergleich mit einer Christenverfolgung
zieht20. Im Chor der modernen Stimmen scheint mir die von Gaston Boissier
beachtenswert, und zwar gerade deshalb, weil er von einem liberalen Stand-
17 Julian, c. Gal. frg. 28 (p. 124, Z. 8ff. Masaracchia); vgl. frg. 21 (113f.) und hierzu die
Stellensammlung bei Masaracchia 207/10.
18 Symm. rel. 3, S. Daher hat auch Prudentius den berühmten Satz des Heiden gewiß
richtig erfaßt, wenn er, die Äußerungen rel. 3, 8 und 10 zusammenziehend, dichtet (c. Symm.
2, 89f.): suus est mos cuique genti, Per quod iter properem eat ad tarn grande profundum.
Es geht dem Verteidiger des Staatskults vor allem um die verschiedenen Wege der einzelnen
V ö l k e r ! Die individualistische Note fehlt freilich nicht, und auch sie bringt Prudentius (2,
843ff.) scharf heraus; dazu s. unten S. 498/502.
19 Mit Seeck a.O. (oben Anm. 5) 281 entscheide ich mich für die Lesart: praesentia numi-
nis. M. Zelzera.O. (oben Anm. 5)25 nimmt praesentia religionis in den Text. Vgl. auch Vera
a.O. (oben Anm. 5) 34f.
20 Ambr. epist. 72 (17 Maur.), 9 (CSEL 82, 3, 14f.).
XXI. Die vielen Wege und der Eine 481
punkt aus urteilt21. Man dürfe sich, meint Boissier, von den großen Ideen des
Symmachus-Texts nicht täuschen lassen: "sie schmeicheln", wie er wörtlich
sagt22, "in einzigartiger Weise unserem religiösen Dilettantismus". Tatsäch-
lich werde in jener Auseinandersetzung die Freiheit des Gewissens von St.
Ambrosius geschützt, nicht von Symmachus. Was Symmachus fordere, sei
nicht die Duldung des heidnischen Kults, sondern seine Herrschaft.
4.
Nur dann also kann der Satz, den wir ins Auge faßten, eine moderne
Sicht der Religionen stützen, wenn er aus seiner Verankerung gerissen wird.
Aber man mag einwenden, daß es nicht unbedingt einer Zustimmung zu allen
historischen Voraussetzungen jener Äußerung bedürfe, um sie als glückliche
Formulierung moderner Ideen zu übernehmen, solcher Ideen nämlich, die denen
des römischen Senators irgendwie ähneln, die sich mit ihnen teilweise über-
schneiden, ohne doch geradezu deckungsgleich mit ihnen zu sein. Der Satz
bietet ja, für sich genommen, eine eingängige, bildhafte und doch weite For-
mulierung, die durchaus, so mag man argumentieren, in den Dienst verwand-
ter Ideen treten darf. Etwa der Ideen des alten Liberalismus: daß keine Religi-
on allein den Anspruch erheben dürfe, im Vollbesitz der Wahrheit zu sein, daß
jedes Credo gleichermaßen zu achten sei23. Oder gewisser Ideen moderner
Theologie: daß die Religionen legitime, d.h. von Gott gewollte, Heilswege
seien, daß die Menschen in ihnen verharren sollten, daß die nichtchristlichen
Völker die Evangelisation im Grunde nicht brauchten. In der Tat ist nicht zu
leugnen, daß solche Gedanken eine gewisse Ähnlichkeit mit Symmachus' Stand-
punkt besitzen und daß sie sich deshalb nicht ganz zu Unrecht in seine Worte
kleiden können. Gerade darum wird man sich nun aber fragen müssen, ob die
frühe Kirche wirklich die Antwort auf jenen berühmten Satz des Redners schul-
dig geblieben sei, ob es stimmt, daß sie dem Wegebild des Heiden nichts
entgegensetzte oder etwa gar nichts entgegenzusetzen hatte. Man muß danach
fragen, weil zu erwarten steht, daß in ihrer Antwort an Symmachus auch jene
verwandten modernen Ideen getroffen oder berührt würden, von denen eben
die Rede war. Und davon zu erfahren, kann eigentlich niemandem gleichgül-
tig sein, der die Dinge mit Aufrichtigkeit behandelt.
1.
Hohe kirchliche Autorität besitzen die beiden Schreiben, die der Bi-
schof von Mailand in dieser Sache an den Kaiser richtete (Ambr. epist. 17. 18
Maur.). Sie verhinderten einen Erfolg der Petition. Aber beide Briefe behan-
deln die Stelle, um die es uns geht, nur allgemein. Die erste Erwiderung ist
noch ohne Kenntnis des genauen Wortlauts der Eingabe verfaßt. St. Ambrosi-
us beginnt sie mit der wesentlichen Klarstellung, die den tiefen Unterschied
der Positionen sofort sichtbar macht24: es gibt nur einen wahren Gott, das ist
der Gott der Christen; Ihn müssen alle verehren (nur dann besteht Aussicht auf
Wohlfahrt für den Staat), denn "die Götter der Heiden sind Dämonen" (Ps.
95, 5). Diese Sätze enthalten die Absage an den Polytheismus, aber auch an
jedwede Skepsis und dogmatische Toleranz. Genauer, mit Bezug auf den Text
der Relatio, antwortet er dann im zweiten Brief25:
ihr durch Vermutungen sucht, das wissen wir zuverlässig aus der
Weisheit Gottes selbst und aus der Wahrheit. Daher gibt es keine
Übereinstimmung zwischen uns und dem, was ihr tut (non con-
gruunt igitur vestra nobiscum)."
Unter Berufung auf die Offenbarung wird hier abermals die Skepsis
zurückgewiesen, der Anspruch auf Besitz der Wahrheit erhoben, die Kluft
aufgerissen: non congruunt igitur vestra nobiscum. Allerdings fällt auch diese
Zurückweisung recht knapp aus. Denn Ambrosius' Schriftstücke suchen eben-
falls das Gesetz einer gewissen amtlichen und zugleich würdevollen Kürze zu
wahren, das sein Gegner meisterlich gehandhabt hatte. Daher sagt er nichts
über jene Genien der Völker, die Symmachus annimmt, bemerkt er nichts
über den Vergleich mit den gemeinsamen Sternen, dem Himmel, dem All,
setzt er nichts dem Bild der vielen Wege entgegen, das bis heute so großen
Eindruck macht. Aber wir besitzen eine ausführliche Widerlegung der Relatio
des Symmachus, die nicht deswegen geringgeachtet werden darf, weil sie von
einem Dichter stammt.
2.
Denn ihr Verfasser, Prudentius, ist ganz erfüllt von katholischer Spiri-
tualität und daher, obwohl Dichter, ein beachtenswerter Interpret kirchlicher
Lehre. Erasmus von Rotterdam rechnete diesen Dichter unter die Theologen26
und stellte ihn in eine Reihe mit St. Basilius, St. Gregor von Nazianz, St.
Ambrosius und Lactantius27. Auch seine Erwiderung auf Symmachus ist eine
Stimme geistiger Autorität, nicht nur ästhetischen Reizes. Er vollendete das
hexametrische Gedicht Contra Symmachum etwa zwanzig Jahre, nachdem Sym-
machus seine Rede gehalten hatte (i.J. 402 oder 403). Der zeitliche Abstand
ist, gemessen an antiken Verhältnissen, nicht sonderlich groß, wenn wir beden-
26 Erasmus apolog. de In princip. erat sermo: LB IX 118 Β (Leidener Ausgabe der Opera
omnia 1703, repr. Hildesheim 1961): "sed quid vetat eundem et Theologum esse et Poetam?
Certe Prudentius tantum spirat sanctimoniae, tantum eruditionis Theologicae, ut Ecclesia huius
Hymnos, veluti sacros, mysticis choris admiscuerit."
27 Als Muster dafür, wie man die literarische Bildung der Antike der christlichen Religion
dienstbar machen könne: Erasmus Adagia 4, 5, 1: LB Π 1052 C. Vgl. Eccles. 2 (LB V 857 C)
und Annot. in NT (LB VI 398 F): "Prudentius vir quovis etiam seculo inter doctos numerandus."
484 Prudentiana II. Exegetica
ken, daß Origenes auf die antichristliche Schrift des Kelsos erst etwa sechzig
Jahre später antwortete, St. Kyrill auf die Julians erst ungefähr achtzig Jahre
später. Die politischen Verhältnisse hatten sich zwar seit 384 zugunsten des
katholischen Christentums gefestigt, aber der Ruhm der Symmachus-Rede war
zur Zeit, da Prudentius schrieb, noch keineswegs verblaßt28, das Heidentum
überhaupt noch lebendig. Weshalb sonst hätte St. Augustinus sein großes apolo-
getisches Hauptwerk verfaßt (De civitate Dei, vollendet 426), St. Kyrill die
dreißig Bücher gegen Julian geschrieben (um 440), Theodoret die zwölf Bü-
cher seiner "Heilung von den heidnischen Krankheiten" herausgebracht (zwi-
schen 427 und 437)? Diese Autoren blickten auf tatsächliche Verhältnisse in
Rom, Alexandrien, Antiochien, besonders auf das durch den Neuplatonismus
gestärkte Heidentum der Gebildeten29, und es genügt die kurze Besinnung auf
ihre Werke, um auch die Aktualität des prudentianischen Gedichts zu sehen.
Prudentius steht mit dem Werk Contra Symmachum nicht am Endpunkt der
christlichen Apologetik: er schaut zurück auf die Apologien der ersten Jahrhun-
derte, eröffnet aber seinerseits die Apologetik der ersten Hälfte des fünften
Jahrhunderts.
Sein Gedicht umfaßt zwei Bücher. Das erste, kürzere, schildert, wie der
Götzendienst entstand, wie er sich ausbreitete und wie Rom zum Christentum
überging. Das zweite, fast doppelt so lange, will die Relatio des Symmachus
Wort für Wort widerlegen (V. 4: Nunc obiecta legam, nunc dictis dicta refellam).
Dabei konzentriert sich der Dichter besonders auf die Kapitel 8 bis 10 der
gegnerischen Schrift, also eben auf den zentralen Teil der Rede, dessen grundle-
gende Bedeutung fürs Ganze er erkannt haben muß. Selbstverständlich hatte
er auch die Ambrosiustexte vor Augen, aber es ist klar, daß die Sätze des
Gegners in einem Gedicht von über elfhundert Versen mit einer ganz anderen
Ausführlichkeit durchgenommen werden können, als dies dem Bischof zuvor
möglich war. Eben das macht das Prudentiusgedicht so wertvoll, und mir
scheint, daß es noch längst nicht die gebührende Beachtung gefunden hat. Ein
28 Vgl. Prud. c. Symm. 1, 648f.: Inlaesus maneat liber excellensque volumen Obtineat
partam dicendifulntine famam. Zu der vielerörterten Frage, ob das Prudentiusgedicht über seine
allgemeine, geistige Aktualität hinaus auch noch eine besondere, zeitgeschichtliche besitze: ob
es etwa durch einen erneuten Vorstoß in Sachen der Victoria angeregt sein könnte, s. Früh-
mittelalterliche Studien 25 (1991) 1/44, bes. 40/44 [in diesem Bande S. 263/317, bes. 312/17].
29 Zu Theodoret und Kyrill vgl. die Einleitungen der Ausgaben von P. Canivet (Sources
Chr6t. 57, 1958, 31/37) bzw. P. Burguifcre - P. ßvieux (ebd. 322, 1985, 15/20). Für Augustin
genügt es, auf die Angaben des Autors selbst (civ. I passim und retract. 2, 43: CCL 57, 124) zu
verweisen.
XXI. Die vielen Wege und der Eine 485
Kommentar fehlt, und die meisten Studien, die das Gedicht betreffen, gelten
historischen oder literarhistorischen Fragen. Sein Wert als große Apologie,
die selbständig nacharbeitet und ergänzt, was St. Ambrosius vorbrachte, ist
noch nicht recht gewürdigt. Auch das Wegebild des Heiden greift der Dichter
auf. Er wendet eine Versreihe von über sechzig Zeilen auf, um es zu widerle-
gen30. Hier ist also die direkte Antwort erteilt, die der vorhin genannte Gelehr-
te vermißte. Hier ist die Instanz gefunden, von der wir Aufschluß darüber
erwarten dürfen, was die frühe Kirche von den vielen Wegen, die zur Gottheit
führen sollen, hielt. Bevor wir uns Prudentius zuwenden, müssen wir aber
zunächst einige andere Texte ins Auge fassen, auf denen seine Darstellung
aufbaut.
3.
Im Alten Testament ist oft vom "Weg " oder von den "Wegen" Gottes
(des Herrn) die Rede, die der Mensch gehen soll. Gemeint ist stets der Weg,
den Gott befohlen hat, ein Wandel des Menschen nach dem Gebot Gottes.
Daher nähert sich "Weg" der Bedeutung "Gebot"31, und da die Erfüllung des
Ersten Gebots die Bedingung für alles weitere darstellt, wundert es nicht, wenn
der Abfall zum Götzendienst schlechthin als Abweichen von Gottes Weg be-
zeichnet wird. Auf dem Sinai sprach Gott zu Moses32: "Geh, steig hinab, denn
verbrecherisch handeln deine Leute, die du aus dem Land der Ägypter heraus-
geführt hast! Zu eilig sind sie von dem W e g abgewichen, den Ich ihnen
gewiesen habe. Sie haben sich ein Kalb gegossen ..." usw. Vor dem Tode
erhält Moses die Offenbarung, das Volk werde sich wieder mit fremden Göt-
tern abgeben, und so kündet er es den Leviten an33: "Nach meinem Tode
werdet ihr ganz frevelhaft handeln und von dem W e g e , den ich euch an-
befehle, abweichen ..." usw. Der falsche Prophet, der das Volk verführt,
anderen Göttern nachzulaufen, soll sterben, denn "er brachte dich ab von dem
W e g e , auf dem der Herr, dein Gott, dir zu wandeln gebot"34. Der Weg
30 Prud. c. Symm. 2, 843/909 (CSEL 61, 277/80). Das Prudentiuskapitel bei Klein, a.O.
(oben Anm.7) 140/60 verlangt einen sehr kritischen Leser.
31 W. Michaelis, Art. όδός: Kittel, Theol. Wörterb. zum NT 5 (1954) 42/101, ebd. 51.
Dazu die Literatur-Nachträge 10, 2 (1979) 1197f.
32 Exod. 32, 7f.; vgl. Dtn. 9, 12. 16.
33 Dtn. 31, 29.
34 Dtn. 13, 6.
486 Prudentiana II. Exegetica
Gottes oder der "gute Weg", der "gerechte", "gerade", der "Weg der Wahr-
heit", die "Wege der Weisheit" - all das sind verschiedene Wendungen für
dieselbe Sache - haben eben die Treue zu dem Einen Gott Israels zur Voraus-
setzung, und wo die Bundestreue verletzt wird, ist der Weg Gottes unbedingt
verlassen. Alle die genannten Ausdrücke sind auf Gegensätze hin angelegt,
auch wo das nicht ausgesprochen wird: dem Weg Gottes stehen die "schlech-
ten Wege" gegenüber: die Wege der Gottlosen, der Sünder, der Toren, die
"eigenen Wege" der Menschen. Es fehlen aber auch nicht Stellen, an denen
die Antithese durchgeführt wird, und dann entstehen Formulierungen, die sich
einem Zwei-Wege-Bild nähern. Belege hierfür bieten die Psalmen und Sprü-
che35. Auch das Deuteronomium enthält eine verwandte Äußerung. Gott
spricht36:
"Seht, Ich lege euch heute Segen und Fluch vor: den Segen, wenn
ihr gegen den Herrn, euren Gott, gehorsam seid, den Fluch aber,
wenn ihr den Befehlen des Herrn nicht Folge leistet, sondern ab-
weicht von dem W e g , den Ich euch heute anbefehle, und ande-
ren Göttern nachlauft, die ihr nicht kennen dürft."
4.
Das sind einige Züge des Bildes, auf das der Begründer der christlichen
Religion schaute, als Er in der Bergpredigt mahnte38:
35 Ps. 1, 6; 138, 24; Prov. 2, 13; 4, 10/19; 12, 28; 15, 19.
36 Dtn. 11, 26/28.
37 H.L. Strack - P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch
1 (München 1922) 460/64.
38 Mt. 7, 13/14; vgl. Lc. 13, 24. Dazu Michaelis a.O. (oben Anm. 31) 71/77.
XXI. Die vielen Wege und der Eine 487
"Tretet ein durch die enge Pforte! Denn weit ist die Pforte und
breit ist der Weg, der ins Verderben führt, und gar viele gehen
ihn. Eng dagegen ist die Pforte, und schmal der Weg, der zum
Leben führt, und nur wenige finden ihn."
Hier wird das große Entweder-Oder gelehrt, die Notwendigkeit der Ent-
scheidung für Christus, die äußerste Konsequenz der Entscheidung im einen
wie im anderen Fall. Zugleich geht es um die Schwierigkeit, Christi Jünger zu
sein, denn das bedeutet der schmale Weg. Aber der Weg wird nicht in seinem
Verlauf gezeigt. Es wird nicht davon gesprochen, daß er etwa anfangs beschwer-
lich, später leicht sei; dieser Gedanke liegt ganz fern. Der Weg wird als Ein-
gang verstanden, deswegen tritt auch das Bild des Tores hinzu. Man hat sich
kaum vorzustellen, daß das Tor den Zugang zum Weg eröffne oder umgekehrt
der Weg zum Tor hinführe. Vielmehr treten zwei Bilder zu einem Doppelbild
nebeneinander, dergestalt, daß die Aussage in dem genannten Sinne geschärft
wird. Einzelne Teile der ganzen Bildrede lassen sich im Alten Testament, in
den Pseudepigraphen und im rabbinischen Schrifttum nachweisen, aber eine
vollständige Parallele fehlt. Es wird wohl so sein, daß der Religionsstifter ein
Bild, das Ihm die Tradition Seines Volks bot, aufgriff und gebrauchte, um
Seinen einzigartigen Anspruch, den Er an die Menschen richtete, auf eine
Weise auszudrücken, die einerseits verständlich war und erfüllte, was über
Gottes Weg zuvor gelehrt ward, andrerseits doch etwas ganz Neues ankündete.
So viel etwa dürfen wir sagen, wenn wir die Sache von außen ansehen.
Betrachten wir sie aber von innen her, wie es notwendig ist, wenn wir uns mit
kirchlichen Autoren befassen, betrachten wir sie also vom Standpunkt des
Glaubens aus, dann müssen wir mehr sagen. Es ist hier freilich nicht möglich,
den weiten und tiefen theologischen Zusammenhang auszuleuchten, in den
jene Bildrede sich stellen läßt39. Nur eine gewissermaßen 'philologische' Über-
legung, die aber sehr wohl einen Teil des theologischen Kontexts ausmacht,
sei knapp gestreift. Für die Kirche ist die Heilige Schrift Gottes Wort. Das
39 Vgl. dazu A. Gros, Je suis la route. Le th&me de la route dans la bible (Lille 1961).
Diese Studie rückt die biblischen Bildreden vom "Weg" in einen großen historischen und theo-
logischen Zusammenhang: er umfaßt das Umherirren des Menschen nach dem Sündenfall (Gen.
4, 12; 11,9; Is. 53,6), Abrahams Auszug ins Land Kanaan und die Geschichte des Volks Israel,
besonders die Exodus aus Ägypten, dann aber auch die seit den Propheten sich entwickelnde
Vergeistigung der historischen Ereignisse und ihre "Ritualisation" in den jüdischen Festen,
schließlich die Erfüllung der Exodus durch Christus, der die Befreiung des Menschen (von der
Sünde) und die Rückkehr (ins himmlische Vaterland) vollendet, wobei auch der sakramentale
Charakter des "Wegs" (die vom einzelnen verlangte Verwirklichung des Wegs mit Hilfe der
"Wegzehrung" in der Hl. Eucharistie) in den Blick genommen wird.
488 Prudentiana II. Exegetica
bedeutet, daß Gott sich aus Güte und Rücksicht auf die menschliche Natur
wunderbarerweise herabließ, Sein Wort dem Menschenwort anzupassen, ohne
daß doch Wahrheit und Heiligkeit der göttlichen Weisheit dadurch Einbußen
erlitten hätten. St. Johannes Chrysostomus spricht in diesem Zusammenhang
von der συγκατάβασις Gottes40, das Zweite Vatikanische Konzil - im An-
schluß an Chrysostomus - von condescensio und attemperatio ("Anpassung")
und vertieft den Gedanken durch eine erhabene Analogie: "Gottes Worte, in
Menschenzungen ausgedrückt, sind der menschlichen Rede ähnlich gewor-
den, ebenso wie einst das Wort des Ewigen Vaters, indem Es das Fleisch
menschlicher Schwachheit annahm, den Menschen gleich ward"41. Wenn das
für den ganzen inspirierten Text gilt, so gilt es sicher in besonderer Weise für
jene Worte der Hl. Schrift, die als Worte des Gottmenschen selbst überliefert
sind, und unter diesen wiederum besonders für jene Aussagen des Herrn, in
denen Er Begriffe und Bilder menschlicher Rede42 gebrauchte, um das eigene
Wesen und die eigene Sendung zu bezeichnen: "Ich bin das Brot des Lebens";
"Ich bin die Auferstehung und das Leben"; "ja, ich bin ein König"43 und so
eben auch: "Ich bin die Tür", und44:
"Ich bin der W e g, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt
zum Vater als durch mich."
Man wird nicht behaupten wollen, daß all dies auf einer Ebene liege:
Ich bin das Brot, Ich bin die Auferstehung, Ich bin ein König, Ich bin das Leben,
die Wahrheit, die Tür, der Weg. Aber man wird doch zumindest sagen dürfen,
daß das Bildwort "Weg" zu denjenigen Elementen menschlicher Rede gehört,
denen Er es gestattete, direkte Durchblicke auf Sein göttliches Wesen zu eröff-
nen; die Er als besondere Analogien anerkannte und heiligte45.
40 Joh. Chrys. in Gen. hom. 17, 1 (zu Gen. 3, 8): PG 53, 134.
41 Cone. Vat. Π, Const, dogm. de Divina Revelatione, Dei Verbum 13: Acta Apostolicae
Sedis 58 (1966) 824 = Das Zweite Vatikanische Konzil, Teil Π, Freiburg/Basel/Wien 1967
(Lexikon für Theologie und Kirche2) 556/59. (Verbum) honünibus simile factum est: "gleich
ward"; in der Sprache der Kirchenväter kann similis "gleich" bedeuten: vgl. W. Blümer, Rerum
eloquentia. Christliche Nutzung antiker Stilkunst bei St. Leo Magnus (Frankfurt a.M./Bem/
New York/Paris 1991) = Europäische Hochschulschriften, Reihe 15, Bd. 51, 99.
42 Auf semantische Probleme und solche des Übergangs von der eigentlichen Bedeutung
zur übertragenen, wie sie sich etwa im Hebräischen ergeben (s. Gros a.O. [oben Anm. 39] 15/
33), bin ich bewußt nicht eingegangen. Sie scheinen mir für die Sache, um die es im Rahmen
dieser Untersuchung geht, nicht erheblich.
43 Joh. 6, 35; 11,25; 18, 37.
44 Joh. 10, 9; 14, 6.
45 Vgl. Ed. Schweizer, EGO ΕΙΜΙ... Die religionsgeschichtliche Herkunft und theologi-
sche Bedeutung der johanneischenBildreden ... (Göttingen 19652) = Forschungen zur Religion
XXI. Die vielen Wege und der Eine 489
Auch das Bild des Weges bezeugt somit, und zwar in besonderem Maße,
jene "wunderbare Herablassung der ewigen Weisheit"; durch sie erhält es,
wenn wir kirchlicher Lehre folgen, eine hohe Würde, ähnlich wie die mensch-
liche Natur durch die Inkarnation des Logos. Eine hohe Würde und eine neue
Realität. Denn wie das alte Bild des Todesschlafs eine neue Wirklichkeit er-
hielt, als Er sagte46: "Das Mädchen ist nicht tot, es schläft nur" und es auf-
weckte, so auch das Bild des Weges, als Er sagte47: "Ich gehe, euch eine Stätte
zu bereiten", "Ich komme wieder", "Ich werde euch zu mir nehmen", "Ich
bin der Weg" und durch die Auferstehung bewies, daß Er die Macht hatte, das
zu sagen. Mit diesem Zentrum der Religion ist das Wort des Hebräerbriefs
über unsere Hoffnung auf "Eintritt in das Allerheiligste" und den "neuen,
lebendigen Weg" verbunden, "den Er uns durch den Vorhang hindurch, näm-
lich durch Sein Fleisch, erschlossen hat"48. In der Apostelgeschichte steht das
blanke Wort "Weg" für die christliche Lehre49, und der Wahrsagegeist zu
Philippi bezeugt über die Apostel: "Sie verkünden euch den Weg des Heils
(όδόν σωτηρίας, viam salutis)"50.
5.
Christus hatte sich in Leben und Lehre der Kultur und Sprache Seines
Volks bedient, und eine ähnliche Aufgabe stellte sich der Kirche, als sie die
antike Welt zu durchdringen begann. Sie mußte die Mittel der griechisch-
römischen Kultur gebrauchen, um ihre Lehre zu entfalten. Für die bildliche
und Literatur des Alten und Neuen Testaments, N.F. 38, 112/38, bes. 122/24. Der Verfasser
kommt (im Anschluß an frühkirchliche Exegeten) zu dem Ergebnis, daß in jenen Bildreden
("Ich bin ...") weder Metapher noch Allegorie vorliege, sondern der einzigartige Anspruch, im
wahren, vollen Sinne das zu sein, wofür die 'Bildworte' stehen; der Anspruch werde absichtlich
polemisch gegen andere Ansprüche aus der religiösen Umwelt formuliert: "Mit diesem 'Ich bin'
werden die alten Götter entthront..." usw. (ebd. 126).
46 Mt. 9, 24; Mc. 5, 39; Lc. 8, 52. Zum Bild des Todesschlafs vgl. M.B. Ogle, The sleep
of death: Memoirs of the American Academy in Rome 11 (1933) 81/117.
47 Joh. 14, 2. 3. 6. Auch Christi 'Königtum' ist mehr als eine Metapher: J.H. Newman,
Discussions and Arguments on Various Subjects (London 1872) 374/80, bes. 376f. Vgl. dazu:
Der neue Sinn der Worte: Frühmittelalterliche Studien 26 (1992) 32/64, bes. 32/36; 63f. [in
diesem Bande 322/63, bes. 322/27; 362].
48 Hebr. 10, 19/20.
49 Act. 9, 2; 19, 9. 23; 22, 4; 24, 14 (κατά την όδόν fjv λέγουσιν, sc. oi 'Ιουδαίοι,
αΐρεσιν); 24, 22. Vgl. Michaelis a.O. (oben Anm. 31) 93/95.
50 Act. 16, 17.
490 Prudentiana II. Exegetica
Rede über Weg und Wege schienen die Verhältnisse besonders günstig zu
liegen. Denn abgesehen davon, daß solche Bildrede, wie vieles im Evangeli-
um, ein Stück Menschheitsweisheit ist, hatte sie sich gerade im Denken und in
der Literatur der Antike seit den ältesten Zeiten stark ausgeprägt. Insofern war
es leicht, das biblische Zwei-Wege-Bild, das wir fortan besonders im Auge
haben müssen, bei der Evangelisierung der griechisch-römischen Welt beizu-
behalten. Leicht, und doch auch wieder schwer. Denn hier, wie so oft, ergab
sich das Problem von Wahrheit und Ähnlichkeit oder: von Ähnlichkeit und
Gleichheit. Die Zwei-Wege-Bilder, welche die vorchristliche Antike kannte,
waren dem neutestamentlichen ähnlich, aber nicht gleich. Indem sie durch die
vorchristliche Poesie und Philosophie hindurchgingen, jahrhundertelang heidni-
sches Denken durchzogen, nahmen sie Bedeutungen an, die weder zu den
Wegemetaphern des Alten Testaments stimmen noch zum Bild des Evangeli-
ums; wurden sie zu Trägern solcher Aussagen, die dem Herrenwort in dieser
oder jener Hinsicht ähneln, in anderer Beziehung ihm widersprechen, insge-
samt seinen Sinn niemals erreichen, ja, mehr noch: die seine gläubige Annah-
me vielleicht gar gefährden, weil solche Mischung der Wahrheit immer ge-
fährlich ist.
Hier eben lag die Aufgabe: dieselbe Aufgabe, die allenthalben zu erfül-
len war, im Großen und im Kleinen, auf allen Gebieten der Literatur, der
Philosophie und der bildenden Kunst. Ich kann sie nicht besser bezeichnen als
durch folgendes Zitat51:
"Was immer an Wahrheit und Gnade schon bei den Heiden sich
durch eine Art verborgener Gegenwart Gottes fand, befreit sie
(die Missionstätigkeit der Kirche) von den Ansteckungen des Bö-
sen (a contagiis malignis liberat) und gibt es ihrem Urheber Chri-
stus zurück ([restituit), der die Herrschaft des Teufels zerschlägt
und die vielfältige Bosheit übler Taten in Schranken hält. Was
immer an Gutem in Herz und Sinn der Menschen oder in den
jeweiligen Bräuchen und Kulturen der Völker keimhaft angelegt
sich findet (quidquid boni... seminatum invenitur), wird folglich
51 Cone. Vat. II, Decr. de activitate missionali Ecclesiae, Ad Gentes Divinitus 9: Acta
Apostolicae Sedis 58 (1966) 958 = Das Zweite Vatikanische Konzil, Teil ΙΠ, Freiburg/Basel/
Wien 1968 (Lexikon für Theologie und Kirche2) 44f. [Das Zitat und die folgenden Sätze auch
oben S. 230/32],
XXI. Die vielen Wege und der Eine 491
Dieser Text stammt aus dem Jahre 1965, er könnte freilich auch im
Jahre 400 verfaßt sein. Er enthält keinen Gedanken und kaum einen Ausdruck,
abgesehen von der Wendung "missionalis activitas", der nicht auch damals
hätte vorgebracht werden können. Denn was die Konzilsväter hier sagen, ist
ganz aus dem Geist der Kirchenväter gesagt. Hier werden aus moderner Sicht
Grundlage, Methode, Ziel des christlichen Umgangs mit den Gütern nicht-
christlicher Kulturen formuliert, aber diese Formulierung gilt ebenso für das
Verfahren der Kirche in den ersten Jahrhunderten; hier geht es um Gegenwart
und Zukunft kirchlicher Mission in der modernen Welt, aber ohne die durch-
dachten, entwickelten, erprobten Grundsätze frühkirchlicher Evangelisierung
der Antike hätten solche Sätze kaum niedergeschrieben werden können, wenn
man auch zugeben muß, daß die Väterliteratur keine so knappe und zugleich
vollständige, alle wesentlichen Gesichtspunkte der Sache zusammenfassende
Formulierung hervorgebracht hat, ausgenommen vielleicht die eine oder an-
dere Partie bei St. Augustinus52. Die Lehre von den "Samen" des Guten in der
vorchristlichen Kultur, die zuerst St. Justinus mit Hilfe stoischer Begrifflichkeit
zu entfalten versuchte; die Zusammenschau innerer und äußerer, persönlicher
und kultureller Conversion, die bei den Kirchenvätern allenthalben anzutref-
fen ist; ihr theozentrischer Aspekt jeder missionarischen Nutzung der Güter,
welche die Ehre Gottes zu verfolgen hat; der bekannte Grundsatz der Väter,
daß alles Gute dem Schöpfer gehört und Ihm zurückerstattet werden muß, daß
der Christ also im Zuge der Aufnahme und Verarbeitung der Elemente des
Guten und Wahren nichts Fremdes sich aneignet, sondern nur nimmt, was ihm
als dem Verehrer des wahren Gottes zukommt; die auf Erfahrung gegründete
Überzeugung der kirchlichen Autoren, daß der rechte Gebrauch vorchristli-
cher Kulturgüter immer das Prinzip der Reinigung und Befreiung in sich schließt,
weil die Teile des Guten und Schönen bei heidnischen Völkern nur in Verbin-
dung mit bösen und unreinen Beimengungen vorkommen; die Anschauung
überhaupt, daß christliche Chresis dynamisch ist in Hinsicht ihrer Wirkung
gegen das Böse; und schließlich die Erkenntnis, daß die versprengten Elemen-
52 Im Konzilsdokument selbst (a.O. 95852 bzw. 4452) wird auf Aug. civ. 19, 17: PL 41,646
(2, 385, Z. 26ff. Dombart-Kalb) verwiesen. Vgl. dazu Chresis Π 133/135.
492 Prudentiana II. Exegetica
te des Guten, indem die Kirche sie sammelt und auf Christus hin ausrichtet,
nicht nur bewahrt, sondern "geheilt, erhöht, vollendet" oder, wie das Konzil
an anderer Stelle sagt53, "erhellt" werden: alles das sind Leitgedanken der
frühkirchlichen Chresis54, und sie sind allesamt in dem zitierten Text enthal-
ten, sei es andeutungshaft, sei es expressis verbis55.
6.
Wenn nun jemand fragte: wo sind die Beweise dafür, daß die Väter dies
alles beobachteten? Wenn er verlangte: man zeige mir ein deutliches Beispiel,
das ihre Methode praktisch und faßlich vorführt, ein Beispiel, das sich zu ihrer
Theorie verhält wie ein Mustersatz zur grammatischen Regel, dann würde ich
ihn auf Lactanzens Behandlung des Zwei-Wege-Bilds verweisen56. Nicht als
ob Lactanz die bestehenden Ähnlichkeiten zuerst bemerkt hätte57 oder ihre
Erörterung durch ihn sonderliche Tiefe erreichte! Seine Institutiones wollen
eine Einführung in die christliche Lehre geben, Biblisches wird in Wort und
Gedanke zurückgehalten58: die Wahrheit sollte zunächst durch die paganen
Autoren sprechen. Daß daraus nur eine Art praeparatio evangelica werden
konnte, hat der Autor selbst gewußt59. Seiner Behandlung der Zwei Wege ist
denn auch nicht unbedingt anzumerken, daß sie am Evangelium Maß nimmt,
obschon man das voraussetzen darf®0. Aber vielleicht gerade darum sieht er
53 Ad Gentes Divinitus 11 (a.O. 960 bzw. 50); ut... discant (sc. Christi discipuli), quas
divitias Deus munificus Gentibus dispensaverit; simul vero istas divitias luce evangelica co l-
lustrare, liberare, et in Dei Salvatoris dominium reducere conentur.
54 Chresis I, passim. Zum Begriff des "Befreiens" ebd. 93242, zum "Reinigen" 52f. 78.
55 Weiteres aus den Konzilsdokumenten: Chresis II 165/76.
56 Lact. inst. 6, 3, 1/6, 4, 24 (CSEL 19, 485/94); vgl. epit. 54 (59), 1/3 (a.O. 734f.).
57 Clemens Alex, ström. 5, 31, If. (GCS Clem. Alex. 2, 346) notiert sie ausdrücklich: er
stellt Mt. 7, 13f. und Ps. 1, 1 mit der Fabel des Prodikos und einer Äußerung des Pythagoras
zusammen; die Parallelen sollen die Abhängigkeit der Griechen (im Sinne des Altersbeweises)
dartun. Aber er sieht doch auch andere, tiefere Gründe der Übereinstimmung: vgl. unten Anm.
64. In apologetischer Verwendung erscheint die Prodikosfabel schon bei Justin (apol. 2, 11).
58 Vgl. seine Kritik an Cyprian (inst. 5,1, 26): hic tarnenplacere ultra verba sacramentum
ignorantibus nonpotest, quoniam mystica sunt, quae locutus est... eqs.
59 Lact. inst. 1, 1,21f.: er will die Menschen nur auf den rechten Weg zurückrufen und auf
"den übervollen Quell der Lehre" (d.h. die Heilige Schrift) hinleiten. Vgl. K.Th. Schäfer, Art.
Eisagoge: RAC 4 (1959) 862/904, bes. 886f. zur Gattung der Institutio.
60 Ich sehe zumindest keinen Grund, der das ausschlösse. Für die Parallelstelle inst. 7, 1,
20f. hat dies auch J. Alpers, Hercules in bivio (Diss. Göttingen 1912) 72 angenommen. Die alte
These, Lactanz sei durch die sog. Apostellehre (Didache bzw. Doctrina apostolorum) angeregt,
XXI. Die vielen Wege und der Eine 493
bespricht P. Monat, Lactance et la Bible I (Paris: Iitudes Augustiniennes 1982) 249/52 in Aus-
einandersetzung mit neuerer Literatur, bes. mit W. Rordorf: Recherches de science religieuse
60 (1972) 109/28. Beachtung verdient, daß der Bibelepiker Juvencus (1, 679/89: CSEL 24, 36)
das Herrenwort über die Zwei Wege Mt. 7, 13f. in einer Weise wiedergibt, die an Lactanz
erinnert. Er nutzt die brauchbaren Züge der überkommenen Bildlichkeit, fast wie nach Anwei-
sung Lactanzens, vor allem den Gegensatz von rechts und links (ebd. 680: limite laevo), von
steinigem, steilem Weg der Tugend und ebenem (schlüpfrigem), aber jäh abfallendem (ebd.
681 -.praeruptum... iter) des Lasters. Sedulius (carm. paschal. 2,279/97: CSEL 10, 62/64; vgl.
opus paschal. 2: ebd. 229, Z. 6/16) kombiniert die vorletzte Vaterunser-Bitte (et ne nos inducas
in temptationem: Mt. 6, 13) mit dem Herrenwort von den Zwei Wegen Mt. 7, 13f. und reichert
die Darstellung ebenfalls durch Züge des Wegebilds bei Vergil Aen. 6, 540/43 an.
61 Xen. mem. 2, 1, 21/34 (ebd. 33); Hes. erg. 287/92. Der hesiodeische Gegensatz τό
πρώτον ... έπειτα kehrt wörtlich wieder bei Silius 15, 102/08: principio ... mox. Vgl. zum
Ganzen Alpers a.O. passim, bes. 4/30; E. Panofsky, Hercules am Scheidewege (Leipzig/Berlin
1930) = Studien der Bibliothek Warburg 18, 42/52; H. Hommel, Der Weg nach oben: ders.,
Symbola 1 (Hildesheim/New York 1976) = Collectanea 5, 274/89; W. Harms, Homo viator in
bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges (München 1970) = Medium Aevum. Philologische
Studien 21, 40ff.; weitere Literatur auch bei P. Courcelle, Connais-toi toi-m&ne de Socrate ä
Saint Bernard (Paris: £tudes Augustiniennes 1974) 45490; Michaelis a.O. (oben Anm. 31) 447.
62 Verg. Aen. 6, 540/43; vgl. Plat. Gorg. 524 A; rep. 10, 614 C; Cie. Tusc. 1, 72. Zum
philosophischen und religionsgeschichtlichen Hintergrund s. F. Cumont, Lux perpetua (Paris
1949) 278/81. Hier, in Eccl. 10,2f. (CCL 72,333f.) zitiert die Vergilverse und weist auf Lactanzens
erschöpfende Behandlung der Sache hin; weiteres bei Courcelle a.O. (vorige Anm.) 455f.
494 Prudentiana II. Exegetica
aber sie irrten wiederum darin, daß sie diese Wege Wege der Toten sein ließen,
während doch die Wege selbst auf das Leben und nur ihr jeweiliges Ende auf
den Tod zu beziehen seien. So folgert er für beide, Philosophen und Dichter63:
utrique ergo vere, sed tarnen utrique non recte\
Wahr und doch nicht wahr! Darin liegt sein Gesamturteil über die be-
sten Früchte vorchristlichen Denkens beschlossen. Es läßt sich auf viele Gegen-
stände übertragen, und unter den Kirchenvätern ist keiner, der es nicht unter-
schrieben hätte64. Diese Grundanschauung der Verhältnisse verlangt nach ei-
ner diakritischen Methode der Reinigung und Heilung, und Lactanz exerziert
sie uns vor. Seine Darstellung gerät zu einer großen Musterung des beliebten
Bildes. Er dehnt seine Kritik auf weitere Punkte aus65: 1) die Philosophen
sahen nicht, welchen Führer es auf den Zwei Wegen gibt (Gott und den Teu-
fel)66; 2) sie legten die Entscheidung zwischen den beiden Lebenswegen zeit-
lich auf die Jugend fest, während das Christentum Menschen jeden Alters
(jeden Geschlechts, jeder Herkunft) auf den Weg zum Himmel bringt67; 3) der
63 Lact. inst. 6, 3, 9.
64 Für Clemens Alex, ist die Prodikos-Fabel ein Beweis dafür, daß die Philosophen, "in-
dem sie gewissermaßen 'der richtigen Sehergabe ihres Inneren' (Plat. leg. 7, 792 D) folgten,
nicht ohne Gottes Hilfe in manchem mit Worten der Propheten übereinstimmten" und daß sie
"eine Ahnung von dem mit der Wahrheit Verwandten gewonnen hatten" (ström. 5, 29, 3/6:
GCS Clem. Alex. 2, 344f.). Clemens betont hier die gute Seite jener Ähnlichkeiten, die Kehr-
seite kannte er aber sehr wohl. Er deutet sie an: die Philosophie sei wie Kerzenlicht, es werde
überstrahlt durch das Sonnenlicht des Evangeliums (der Vergleich, sehr fein ausgearbeitet, be-
tont zugleich das Abgeleitete, den Diebstahl des Feuers und Kerzenlichts; vgl. oben Anm. 57).
65 Lact. inst. 6, 3, 14/17.
66 Die Kritik, sie nähmen nur einen Führer auf dem rechten, nicht auf dem linken Wege
an, und zwar: quemlibet doctorem bonae artis, dürfte darauf zielen, daß in der späteren Lite-
ratur der Gegensatz von Tugend und Laster zugunsten anderer Gestalten und anderer Wahl-
möglichkeiten, entsprechend dem fachlichen Interesse des jeweiligen Autors, aufgelöst wur-
de, also in den Bereich der Berufswahl hinüberspielt. In ähnlichem Kontext tritt die Prodikos-
Fabel schon bei Cicero off. 1, 118 auf. Vgl. Alpers a.O. (oben Anm. 60) 40/43. Daß die
beiden "unsterblichen Führer", die Lactanz meint (ebd. 14), Gott und der Teufel sind - nicht
ein guter und ein böser Engel wie im Pastor Hermae (mand. 6, 2, 1; vgl. epist. Barn. 18) und
bei Basilius (hom. in Ps. 1, 5: PG 29, 221 C/D), s. C. Taylor: The Journal of Philology 21
(1893) 243/58, bes. 243/45; 248 - folgt etwa aus inst. 6, 7, 3/9. Das Problem der menschli-
chen Freiheit berührt in diesem Zusammenhang B. Snell, Die Entdeckung des Geistes (Ham-
burg 19553) 320/32: "Das Symbol des Weges" (hier 330). Seine Darstellung hat berechtigte
Kritik durch Harms a.O. (oben Anm. 61) 1876 gefunden; aber auch in der modifizierten
Fassung (Göttingen 19754. 19805, hier 229) ist Snell der Bedeutung des Wegebildes im Chri-
stentum nicht gerecht geworden.
67 Vgl. Prodikos bei Xen. mem. 2, 1, 21 und Cie. off. 1, 118 (Hercules) cum primum
pubesceret, quod tempus α natura ad deligendum, quam quisque viam vivendi sit ingressurus,
datum est ... eqs. Der Punkt ist keineswegs nebensächlich: die altersmäßige Mischung der
christlichen Gemeinden wurde - gerade im Vergleich zum philosophischen Schulbetrieb - von
XXI. Die vielen Wege und der Eine 495
Buchstabe Ypsilon (die littera Pythagorae) ist als Symbol dieser Zwei Wege
untauglich, weil die beiden Wege nicht wie die oberen Linien des Buchstabens
auseinandergehen (das heißt: in einem spitzen Winkel), sondern diametral ent-
gegengesetzten Zielen zustreben: dem Sonnenaufgang und dem Sonnenunter-
gang zu, dem ewigen Licht und der ewigen Finsternis entgegen68. Schließlich
entwirft der Autor sein eigenes, christliches Wegebild69. Dabei legt er allen
Nachdruck darauf, daß die beiden Wege jeweils gleich bleiben: der ebene,
reizvolle, der Weg der Bequemlichkeit und des Lasters bricht mit dem Tode
jäh ab, so daß man unversehens in die Tiefe stürzt; der steile, rauhe, der Weg
der Tugend und der Mühsal strebt immer weiter empor, bis zur höchsten Höhe
- womit im Bilde die verschiedenen Ziele auch räumlich wiedergegeben wer-
den70. Gemeint ist, daß die Vergeltung, die Umkehrung in Freude bzw. in
Leid, erst für das Leben nach dem Tode erwartet werden darf, erst am Ende
der gesamten Strecke des Weges71.
Lactanz hat sich bei Ausgestaltung seines Bildes reichlich alter Details
bedient, aber auch in der Ausmalung des Schemas treten die neuen Farben
hervor, etwa durch die Züge der Armut, der Schande, der Verachtung und des
Hasses seitens der Welt, die er dem Weg der Gerechten gibt - Lactanz schrieb
unter dem Eindruck der schlimmsten Christenverfolgung. Seine Chresis er-
füllt die Grundbedingungen der Methode: Bewahrung des Brauchbaren und
Heiden wie Christen als Besonderheit vermerkt und hängt eng mit dem Wesen der christlichen
Verkündigung, mit der Gleichheit aller Menschen vor Gott, zusammen. Vgl. Ch. Gnilka, Aetas
spiritalis (Bonn 1972) = Theophaneia 24, 115/19.
68 Die Nachrichten, Pythagoras habe den Buchstaben als Symbol des Menschenlebens er-
funden, stammen aus späterer, lateinischer Literatur. Vgl. Pers. sat. 3, 56f. mit dem dazugehö-
rigen Scholion und A. Brinkmann: Rhein. Mus. 66 (1911) 616/25; C. Pascal: Miscellanea
Ceriani (Milano 1910) 59/67; F. De Ruyt: Rev. Beige de Philologie et d'Histoire 10 (1931) 137/
44; M.-A. Dimier: Le Moyen Age 60 (1954) 403/18; Harms a.O. (oben Anm. 61) 40ff., bes. 45
mit den Bemerkungen (nach Panofsky) zu einer Grabstele des 1. Jahrhunderts n. Chr. Daß
übrigens Lactanzens Kritik die Aufnahme der littera Pythagorae ins christliche Denken nicht
verhinderte, wohl sogar beförderte, zeigt Harms im Rahmen seiner weitausgreifenden Untersu-
chung 158ff. und 186ff. Schon Hieronymus benutzt das Symbol (epist. 66, 11; 107, 6: Bd. 3,
177; Bd. 5, 151 Labourt; in Eccl. 4, 13/16: CCL 72, 289), obwohl er die Darstellung bei
Lactanz sehr wohl kennt: s. oben Anm. 62.
69 Lact. inst. 6, 4, 1/2.
70 Auch darin nutzt der christliche Autor vorgegebene Züge, vgl. Panofsky a.O. (oben
Anm. 61) 47/49. Bei Hesiod erg. 290f. (nicht bei Prodikos) wohnt die Tugend auf der Höhe.
71 Dieses Moment: der Gegensatz von Diesseits und Jenseits, Zeit und Ewigkeit ist auch
bei Basilius (hom. in Ps. 1,5: PG 29,221 B/224 C) das Neue, das seiner Chresis der Prodikosfabel
die Richtung gibt. Sie ruht auf der Grundlage des Herrenworts Mt. 7, 13f. und zeigt doch auch
Spuren der hesiodeischen Verse (221 C/D). Dagegen ist es für den propädeutischen Zweck
seiner Schrift Ad adulescentes bezeichnend, daß hier (5, Zeile 9ff. bzw. 55ff. Boulenger) die
496 Prudentiana II. Exegetica
7.
Bildrede Hesiods und die Prodikosfabel einfach als Beispiele dafür stehen, daß gewisse Unter-
weisungen auch heidnischer Autoren ethisch wertvoll sein können. Aber das andere Ziel christ-
lichen Lebens wird doch auch in diesem Büchlein am Anfang und am Schluß eingeschärft (2, Z.
Iff.; 10, Ζ. Iff.), so daß alles Einzelne wie in einen neuen Rahmen gespannt erscheint, die neue
Orientierung des Übernommenen andeutungshaft sich zu erkennen gibt. Zu dieser Schrift s.
auch Chr&is Π 168 Anm. 130.
72 Lact. inst. 6, 4, 2.
73 Theodoret. graec. äff. cur. 1, 125/27 (Sources Chr6t. 57, 136) im Zusammenhang mit
dem Bild der Bienenarbeit, vgl. Chrösis 1130f.
74 Lact. inst. 6, 7, 1/9. Übrigens ist die Zweiteilung auch bei Greg. Naz. carm. 2, 2, 5,
123/57 (PG 37, 1530/33) faktisch nicht aufgegeben, obwohl er drei Wege annimmt. Denn sein
"mittlerer Weg" bezeichnet den Weg des Weltmenschen: er hebt sich zwar vom Weg des voll-
kommenen, asketischen Christen ab, führt aber zu bescheidenem Lohn (V. 134f.), ist also
XXI. Die vielen Wege und der Eine 497
Nebenwegen vor: multos tramites habet. Das sind die verschiedenen Lehren,
Neigungen, Lebensformen der Menschen, aber auch die vielen Götter, die sie
verehren. Lactanz begründet auch, warum das so sein muß: die blanke Bos-
heit, die pure Unwahrheit hätten nicht irreführen können, sie mußten jeweils
Ähnlichkeit mit dem entgegengesetzten Guten und Wahren haben; der Betrü-
ger, der auf dem Weg des Todes und des Verderbens voranschreitet, mußte
den Menschen viele verwirrende Ähnlichkeiten (veri similia) vorführen75. Er
sagt76:
"Der Führer auf diesem Wege (des Verderbens und Todes), der
Lügner und Betrüger, leitet - damit es so aussehe, als gäbe es da
irgendeinen Unterschied von Falsch und Wahr, Böse und Gut -
die genußsüchtigen Menschen über den einen, die sogenannten
Braven über den anderen Pfad; über den einen die Ungebildeten,
über den anderen die Gebildeten; über den einen die Schlaffen,
über den anderen die Tatkräftigen; über den einen die dummen,
über den anderen die Philosophen: u n d n i c h t e i n m a l s i e
auf e i n e m e i n z i g e n Weg (non uno tramite)\ ... Dennoch
sind alle jene Wege, die den Anschein erwecken wollen, als seien
es gute Wege, nicht verschiedene Wege, sondern Seitenpfade und
Fußsteige (deverticula et semitae), die scheinbar von der gemei-
nen Straße nach rechts abweichen, aber schließlich doch allesamt
auf ein und dasselbe Ende zulaufen. Denn eben dort vereint sie
ihr Führer alle, wo sich die Guten von den Bösen, die Tüchtigen
von den Trägen, die Weisen von den Toren hätten trennen müs-
zutiefst geschieden vom bösen Weg, der ins Verderben stürzt. Gregor hat sonst auch das Bild
der Zwei Wege, und auch bei ihm läßt sich beobachten, wie er, auf dem Neuen Testament
fußend, die alte Bildlichkeit christlich nutzt. Das Material bei K. Sundermann, Gregor v. Nazianz.
Der Rangstreit zwischen Ehe und Jungfräulichkeit (Carmen 1,2, 1, 215-732), Paderborn usw.
1991 = Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums, N.F. 2. Reihe, Bd. 9, S. 141f. zu den
Versen 466/68 des Gedichts; hier auch weitere Literaturhinweise.
75 Gott hat dies zugelassen (ebd. 3f.), ja mehr noch: er hat Seinen Weg mit vermeintlichen
Übeln und Schändlichkeiten ausgestattet, damit die Menschen, welche die Wahrheit ohne einen
Führer suchten, in die Irre gingen und gerade dem verfielen, was sie vermeiden wollten. Deus
enim, ut immortale illud arcanum Eius in operto esset, posuit in via Sua quae homines pro malis
et turpibus aspernarentur ... eqs.: damit ist also etwas ganz anderes gemeint als mit dem Satz
des Symmachus rel. 3, 8 nam cum ratio omnis in operto sit... eqs. (s. oben S. 476/81). Der
Christ anerkennt eine Offenbarung und Einen Weg.
76 Ebd. 5/8.
498 Prudentiana II. Exegetica
8.
Als Lactanz schrieb, war der Kampf um den Victoria-Altar noch lange
nicht in Sicht. Aber es scheint fast, als habe er zu Beginn des Jahrhunderts
vorausgeahnt, was Symmachus etliche Jahrzehnte später vorbringen würde,
als habe er bereits die Antwort zurechtgelegt, die Prudentius erteilen sollte.
Man glaubt zu spüren, mit welcher Bewegung das der Dichter erkannt haben
muß, der hier deutlich seiner Vorlage folgt. Die ganze Bildlichkeit, die einst
Lactanz entwickelt hatte, greift er auf, um sie gegen Symmachus zu wenden78.
Der Griff wirkt verblüffend einfach. Der Satz des Symmachus und sein Bild
77 Ebd. 9, vgl. 4 (viam multiplicem). Auch für den Epikureer ist der Weg "einfach", aber
aus anderem Grunde und in anderem Sinne: weil das höchste Gut, das Freisein von Schmerz,
leicht zu erreichen ist. Darum ruft der Epikureer bei Cicero fin. 1, 57: ο praeclaram beate
vivendi et apertam et simplicem et directam viam! Darum preist Lucrez den Meister, daß er den
kurzen (nicht schmalen!) Weg wies (6, 26ff.): (Epicurus) Exposuitque bonum summum, quo
tendimus omnes, Quidforet, atque viam monstravit, tramite parvo Qua possemus ad id recto
contendere cursu ... eqs. (zur Sache C. Bailey im Kommentar, Bd. 3, Oxford 19502, p. 1557f.,
zum Ausdruck tramite parvo H.A. J. Munro, Ausgabe, Bd. 2, Cambridge 18864, p. 353). Lactanz,
der Lucrez gut kannte, zitiert diese Verse (inst. 7, 27, 6: hier limite parvo statt tramite parvo,
ohne Unterschied der Bedeutung) und wendet sie auf Christus, zugleich einen wesentlichen
Punkt korrigierend (ebd. 7): nec monstravit tantum (sc. Christus), sed etiampraecessit, ne quis
difficultatis gratia iter virtutis horreret. Zu dieser christlichen Nutzung des Epikurlobs bei Lactanz
vgl. W. Schmid, Art. Epikur: RAC 5 (1962) 681/819, ebd. 812f. = Ausgewählte philologische
Schriften, hrsg. von H. Erbse und J. Küppers (Berlin/New York 1984) 261f. Einen neuerlichen
Überblick über Lactanz und die Klassiker gibt E. Heck: Philologus 132 (1988) 160/79.
78 Prud. c. Symm. 2, 843/909.
XXI. Die vielen Wege und der Eine 499
sind zurückgewiesen, aber nicht bloß unterdrückt. Die Beobachtung der Mehr-
zahl möglicher Wege wird aufgenommen, aber zugleich berichtigt. Das, was
Lactanz sagte, erhält eine neue Aktualität. Hatte Symmachus, klug die Worte
wägend, davon gesprochen, daß man "nicht auf einem Wege" zu dem großen
Geheimnis gelange, so gibt Prudentius den Satz derart wieder, als sei von
vielen, ja unzähligen Wegen die Rede gewesen79. Er verfährt also dem Grund-
text gegenüber recht frei, aber dennoch nicht wahrheitswidrig. Er löst nur die
dezente Formulierung des Redners auf, zeigt, was sich in Wahrheit hinter ihr
verbirgt, nimmt ihr das Bestrickende und legt schon in der Wiedergabe der
gegnerischen Ansicht deren Folgen und wahre Natur bloß. Dieser so auf ihr
Wesen hin scharf genommenen Lehre stellt er dann das Zwei-Wege-Bild lactan-
zischer Prägung entgegen. Longe aliud verum est, leitet er die Erwiderung ein:
es ist ganz anders80! In Wahrheit gibt es zwei Wege: einer ist einfach ohne
Abzweigungen und Verästelungen, auf ihm führt Gott; einer ist vielfach gespal-
ten und hat ungezählte Seitenwege, auf ihm führt der Teufel: altera (via)
multifida est, at simplex altera et una81. Prudentius wendet also Lactanzens
Antithese der via simplex und der via multiplex an, um dem von Symmachus
bemerkten Tatbestand gewissermaßen den rechten Platz anzuweisen. Der Ge-
gensatz der Bilder wird kraftvoll herausgearbeitet, und man fühlt, was die
reife lateinische Poesie in der Darstellung des bizarren Themas zu leisten ver-
mag, allein schon durch die Fülle der Ausdrücke, die sie für das Wegegewirr
bereithält82, oder durch die landschaftliche Szenerie, die sie den Bildern gibt83.
79 Das 'Doppelargument' aus Symm. rel. 3, 10: eadem spectamus astra (a) und uno itinere
nonpotestperveniri ad tarn grande secretum (b) wird bei Prudentius zuerst referiert: 2, 85/90,
dann noch einmal: 2, 773/80 (in umgekehrter Reihenfolge: b, a); hierauf wird zuerst a widerlegt
(781/842), sodann b abermals wiederholt (843/46) und anschließend ebenfalls zurückgewiesen
(847/909). Man sieht, wie ernst der Dichter diese Äußerungen nahm: Satz b wird in Abständen
dreimal paraphrasiert, durch Variation verdeutlicht und in Erinnerung gebracht.
80 Prud. c. Symm. 2, 847.
81 Ebd. 854. Der Ausdruck via simplex begegnet in dem Text dreimal (849. 854. 882),
dazu gratia simplex (906), vgl. die unten S. 502 ausgeschriebene Versreihe. Zu via multiplex s.
die folgende Anmerkung. Vgl. auch Prud. apoth. praef. 5/16: das Wegegewirr der Irrlehren im
Gegensatz zum engen, aber geraden Heils weg.
82 Sparsis... tramitibus (844f.), centenos... Calles (845), ambago viarum (847), anfractus
dubios, multis anfractibus (848 . 896), diverticulum (850), divortia (856), quadriviis (865),
multifida, sc. via (854), multiplici, sc. viae (889), centifidum ... iter (890), iter ... multifidum
variumque (773f.), devia (898. 899), avia (904), dazu andere Wörter fiir "Weg" wie conpetum
(776 conpeta), orbita (845), semita (874), clivus (884 clivö). Freilich sind das alles nur Brok-
ken, die den Eindruck der fein gearbeiteten Versreihen nicht wiedergeben können. Vgl. auch V.
Buchheit: Philologus 134 (1990) 6186 zu Prud. cath. 8, 35f.
83 Vgl. bes. 873/75: Waldesdickicht. Anders als bei Lactanz und Juvencus (s. oben Anm.
60), anders auch als an der Parallelstelle bei Prudentius selbst (ham. 789ff.) wird hier (885/88)
500 Prudentiana II. Exegetica
Darin zeigt sich der Dichter der Vorlage gegenüber selbständig, aber
auch in anderer Hinsicht gelangt er über sie hinaus: er setzt die dichterischen
Mittel ein, um die mannigfaltigen Formen des Götzendiensts in ihrer Buntheit
zu zeigen - eine lohnende und angemessene Aufgabe für einen Meister der
Sittenschilderung84, aber auch eine notwendige Klärung der Tatsachen, die
Symmachus durch seine metaphorische Redeweise vornehm umschreibt. Denn
was sind die "Wege", die er meint, tatsächlich? Wofür steht sein Bild? Welche
Wirklichkeit entspricht ihm? Einer der Wege zu dem "großen Geheimnis",
wie er es nennt, bestand etwa darin, festlich gewandet in eine Grube zu stei-
gen, die mit durchlöcherten Brettern gedeckt war, und den ganzen Körper,
Haupt, Antlitz, Mund dem Blut eines frisch geschlachteten Stieres darzubie-
ten, das von oben herabtropfte. So glaubte man eine Art Reinigung zu erfah-
ren85. Vettius Agorius Praetextatus, einer der Granden Roms, ausgemachter
Heide wie Symmachus, sein enger Freund und Mitstreiter, hatte diese "Stier-
bluttaufe" der Großen Mutter empfangen - wohl auf dem ager Vaticanus ge-
genüber der Peterskirche, wo man, kaum ohne Absicht, den Kult im vierten
Jahrhundert übte86 - und ließ das auf seinem Grabstein vermerken, der heute
eine Änderung des anfangs rauhen und beschwerlichen Wegs angenommen: Prima viae facies
inculta, subhorrida, tristis, Difficilis, sedfine sui pulcherrima et amplis Praedita divitiis
et abundans luceperermi ...eqs. Der alte hesiodeische Gegensatz τό πρώτον ... έπειτα bleibt
gewahrt, erhält jedoch anderen Sinn: die schöne Wegstrecke ist kein Teil mehr des irdischen
Lebens. In der Sache ergibt sich also kein Widerspruch zu Lactanz.
84 Ein Kenner urteilt: "Der Realismus des antiken Lebens tönt aber nicht nur aus diesen
genialen Sittenschilderungen Petrons kräftig an unser Ohr, er wird auch noch von ganz anderer
Seite her bemerkbar. Für die spätere, schon christlich gewordene Zeit bieten die Apologeten des
Christentums in dieser Beziehung einen sehr bedeutenden Stoff, und unter ihnen, soweit ihre
Werke zugleich auf einen Kunstwert Anspruch erheben, nimmt der aus Spanien gebürtige Dich-
ter Prudentius die führende Stellung ein. Er hat in seinem zwei Bücher umfassenden Gedicht
gegen Symmachus ein Werk hinterlassen, das einzig in seiner Art dasteht. Mit solch tiefem
sittlichen Ernste und einer so glänzenden Beweisführung sind nur wenige Apologeten verfah-
ren. Heute noch ist der Ernst seiner Auffassung, der Reichtum in der dichterischen Erfindung
und die Kraft der Gestaltung zu bewundern.": M. Manitius, Mären und Satiren aus dem Latei-
nischen (Stuttgart: Bücher der Weisheit und Schönheit, hrsg. von J.E. v. Grotthuss, o.J.
[1905]) 3.
85 Beschreibung des Ritus (taurobolium) bei Prud. per. 10, 1006/50. Vgl. R. Duthoy, The
Taurobolium. Its Evolution and Terminology (Leiden 1969) = Iitudes präliminaires aux religions
orientales dans l'empire Romain 10, 55f. (Text) und dazu 104f. (Prudentius' Beschreibung sei
im wesentlichen korrekt). Zu dem Phrygianum am Vatikanischen Hügel s. M.J. Vermaseren,
Cybele and Attis. The Myth and the Cult (London 1977) 45/51; ebd. 101/07 zum Taurobolium,
mit den Prudentiusversen und einer Zeichnung der Opferszene (= fig. 30). Weitere Hinweise in
den Frühmittelalterlichen Studien 25 (1991) 26" [in diesem Bande S. 295, Anm. 97].
86 So Boissier a.O. (oben Anm. 6) 272f.; vgl. aber K. Latte, Römische Religionsgeschich-
te (München 1960) 3532.
XXI. Die vielen Wege und der Eine 501
noch in Rom zu sehen ist87. Indem also Prudentius die Vielheit der Kulte schil-
dert, zeigt er, was die "vielen Wege" wirklich sind, tut er auf seine Weise und
als Dichter, was heute Religionswissenschafitler tun, die gegenüber gewissen
Thesen moderner Theologie auf die Realitäten verweisen, etwa auf die Tatsa-
chen des sozialen Lebens, die durch die Religionen bestimmt werden88. Pru-
dentius führt durch die Fülle des Dichterworts aus der blassen Theorie in die
bunte Wirklichkeit einer heidnisch geprägten Kultur. Seitenpfade des einen
Irrwegs, sagt er, gibt es so viele, wie es Götzenbilder in den Tempeln gibt, so
viele, wie es Dämonen gibt, heidnische Kulte, Mysterien und Feste89. Er bietet
eine Aufzählung, die von der Höhe der Abstraktion in die Niederungen des
praktischen Kults und Lebens führt, also eben in die Wirklichkeit. Eine Schilde-
rung, die zeigt, was Heidentum tatsächlich ist oder doch sein kann90: die Rase-
rei der Kastraten im Cybelekult, Verehrung tiergestaltiger Gottheiten Ägyp-
tens und anderes, aber auch Fatalismus, Astrologie, Magie, Zukunftsdeutung
aller Art, ja sogar Philosophie, Reichtum, Macht91. Er schärft ein, es sei eine
Täuschung zu glauben, daß die heidnischen Kulte zu Gott führen, daß Chri-
sten wie Heiden zu guter Letzt allesamt am selben Ziel anlangen92: der Götzen-
dienst in seinen vielfältigen Erscheinungsformen führt doch nur zu einem,
freilich dem Leben entgegengesetzten Ende: zum (endgültigen, ewigen) Tod.
Andere Religionen, lehrt Prudentius ausdrücklich, sind keine "Heilswege";
87 CIL 6, 1779; vgl. W. Heibig, Führer durch die öffentlichen Sammlungen klassischer
Altertümer in Rom 2 (Tübingen 19664) S. 76, Nr. 1223: tauroboliatus, ebenso war seine Frau
tauroboliata: CIL 6, 1780, vgl. 1779b.
88 Dörmann a.O. (oben Anm. 11) 24/31, bes. 26f.
89 Prud. c. Symm. 2, 856fF.: Et tot sunt eius (sc. itineris) divortia, quot templorum Signa... eqs.
90 Daß er sich hierbei solcher Züge bedient, die schon in der voraufgehenden Apologetik,
etwa wieder bei Lactanz, verwandt worden waren, ja bereits in der philosophischen Kritik an
der Volksreligion (vgl. Marion Lausberg, Untersuchungen zu Senecas Fragmenten [Diss. Mün-
ster 1969] = Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 7, 1970, 211/25 zu Sen. de
superst. firg. 34, 35), wird nur derjenige als Zeichen der Unlebendigkeit nehmen, der 'Topos*
und Wirklichkeit als Widersprüche auffaßt. Die Lebensnähe seiner Schilderung wird dadurch
nicht gemindert. Man braucht nur zu vergleichen, was Augustinus als Augenzeuge über kartha-
gische Verhältnisse berichtet, z.B. über die Exzesse beim Fest der Virgo Caelestis oder über die
widerlichen Umzüge der Bettelpriester, die sich im Kult der Magna Mater selbst entmannt haten
(Aug. civ. 2, 26; 7, 26).
91 Prud. c. Symm. 2, 890f.: (dux daemon) CerUifldum confundit iter: trahit inde sophistas.
Barbatos, trahit hinc opibus vel honore potentes. Ähnlich Lact. inst. 6, 7, 5f.: der Teufel hat
sich vielerlei Nebenwege zum Abgrund erdacht, für jeden einen passenden. Den sophistae barbati
(der Bart gehört zur Philosophentracht) entsprechen hier die Philosophen, besonders diejenigen,
qui out virtutem sequi volunt aut contemptum rerum profitentur: sie zieht (trahit) der Teufel auf
einen zerklüfteten, steilen Weg, der aber dennoch kein guter ist (Lact. ebd. 6). Zu opes und
honor (Vers 891) vgl. Eph. 5, 5; Col. 3, 5: Habsucht (Laster) ist Götzendienst.
92 Ebd. 896/900; vgl. 820f.: Non facit ergo pares in religione tenenda Aeris et caeli
communio (in Erwiderung auf die entsprechende Feststellung bei Symm. rel. 3, 10).
502 Prudentiana II. Exegetica
denn der Dämon, der auf dem verzweigten Wege des Heidentums den Führer
macht, ist von der Art: qui non sinat ire salutis Ad Dominum, sed mortis iter
per devia monstraf3. Und er schließt mit der Aufforderung:
9.
Das ist die Stimme der Väter. Sie mag uns gefallen oder nicht gefallen:
es ist ihre Stimme, die Stimme der frühen Kirche. Nicht als ob jeder von ihnen
das, was Prudentius zu sagen hatte, genauso gesagt hätte wie er! Seine Darstel-
lung ist, wie die eines jeden großen Autors, eine persönliche Leistung, eine
Äußerung besonderen Geists und eigener Gestaltungskraft, die auch der Sa-
che, die dargestellt wird, ihr eigentümliches Gepräge gibt. Stimme der Väter:
das kann auch nicht bedeuten, daß nichts anderes und nicht mehr zur Sache
gesagt wurde oder daß sich überhaupt nicht mehr zur Sache sagen ließe, als
Prudentius sagte, es bedeutet auch nicht, daß man immer und unter allen Um-
ständen solche Worte gewählt hätte. Wir müssen bedenken, daß Prudentius in
dem Gedicht gegen Symmachus vor allem die Repräsentanten des gebildeten
93 Ebd. 897f.
XXI. Die vielen Wege und der Eine 503
Heidentums bekämpft; die Aristokraten, die sich weigerten, den Glauben anzu-
nehmen, den schon fast ganz Rom angenommen hatte; Menschen also, die
hartnäckig, d.h. vom Standpunkt der Religion aus: schuldhaft, das Evangeli-
um ablehnen. Wenn wir in seinen Versen die Stimme der Väter vernehmen, so
deshalb, weil das, was er sagt, auch sie sagen oder sagen könnten; weil sie ihm
nicht widersprechen, vielmehr anerkennen würden, daß er eine passende Ant-
wort erteilte, daß er das Wegebild in einer angemessenen und treffenden Wei-
se entwickelte. Wie St. Ambrosius erklärte: non congruunt igitur vestra nobis-
cum94, so erklärt Prudentius: "es gibt keine Wegegemeinschaft zwischen euch
und dem Volk Gottes (consortia nulla viarum Sunt vobis cum plebe Dei)".
Der Dichter ist nicht etwa 'toleranter' als der Bischof95. St. Ambrosius stimmt
mit Prudentius, Prudentius mit Lactanz überein, und wir könnten leicht andere
Stimmen hinzufügen, um diesen Einklang zu bereichern. Nicht lange nach
Prudentius verglich ein anderer Dichter, Sedulius, das Heidentum, besonders
die griechische Bildung, mit dem Wegegewirr des kretischen Labyrinths und
nahm sich vor, durch sein Werk dazu beizutragen, die Verirrten auf den siche-
ren "Heilsweg" zu geleiten96. Eine weitere Stimme also im Chor der anderen!
Auch sie bringt wieder einen neuen Klang hinzu, ohne doch die Harmonie zu
stören. Aber die schönste Bereicherung, der wertvollste Gewinn für unser
Thema liegt darin, daß der größte Theologe der frühen Kirche das Wegebild
ebenfalls mit eigener Hand nachgezogen hat, daß wir auch von ihm eine Ant-
wort erhalten auf das, was Symmachus mit diesem Bilde sagen wollte. Nicht,
daß er sich tatsächlich gegen Symmachus selbst wendete! Seine Antwort gilt
einem anderen, trifft aber auch Symmachus.
10.
der Heimat des Nectarius, war es bei einem heidnischen Fest des Jahres 408
(oder 409?) zu schweren Ausschreitungen gegen die Christen gekommen. Man
hatte Strafe zu fürchten, zumal die Feier heidnischer Feste eben erst durch
kaiserlichen Erlaß verboten worden war98. Da wandte sich Nectarius an den
Bischof von Hippo und bat um Fürsprache. St. Augustinus lobt seine Liebe
zur Heimat, verhehlt freilich nicht, daß er solche Treue noch lieber der himm-
lischen patria (civitas) dargebracht sähe - Gedanken des augustinischen Haupt-
werks durchziehen schon diesen Brief99. Nectarius glaubt zu verstehen: sicher
sei jene Stadt gemeint, wo "der große Gott" und die Seelen derer wohnen, die
sich um den irdischen Staat Verdienste erwarben (der Ort, von dem bei Cicero
im Somnium Scipionis die Rede ist100), und er fügt hinzu101:
98 Cod. Theod. 16, 10, 19; const. Sirmond. 12: vgl. Goldbacher a.O. TP.
99 Aug. epist. 91 (CSEL 34,2,427/35). Vgl. Serafino Prete, La cittä di Dio nelle lettere di
Agostino (Bologna 1968) 80/89.
100 Cie. rep. 6, 13.
101 Nectar. Aug. epist. 103, 2 (CSEL 34, 2, 579).
XXI. Die vielen Wege und der Eine 505
dagegen einer eingehenden Besprechung gewürdigt102. Was man aus ihr ge-
winnt, das ist zunächst eine Bestätigung der Erkenntnis, daß Philologie nicht
notwendig Pedanterie sein muß, daß vielmehr philologische Genauigkeit bis
zu gewissem Grade eine Bedingung jeder geistigen Auseinandersetzung dar-
stellt. Der Bischof greift aus der Formulierung des Korrespondenten ein Wort
heraus, das seines Erachtens treffend gewählt ist und dennoch zugleich den
ganzen Gegensatz ihrer Anschauungen enthüllt. Dieses Wort macht er zum
Ansatzpunkt einer Kritik, die sich dadurch auszeichnet, daß sie die Gemein-
samkeit soweit wie möglich reichen läßt, ohne doch die tiefe Kluft zuzudek-
ken, die beide trennt. Seine Erwiderung ist der Art, daß man nichts Besseres
tun kann als sie ganz anzuhören.
11.
Den Übergang findet er durch ein Zitat aus der vierten Ecloge Vergils103:
Christus dürfe man wahrhaft mit den Worten anreden, die Vergil verkehrterweise
an einen vornehmen Römerrichtete:Te duce si qua manent sceleris vestigia nostri
Inrita perpetua solvent formidine terras·, denn durch Ihn würden die Sünden
gelöst und vergeben, und auf diesem Wege gelange man unter Seiner Führung
ins himmlische Vaterland (hoc enim duce ... hac via ad caelestem patriam
pervenitur). Damit ist das Stichwort 'Weg' gegeben. St. Augustinus fährt fort104:
102 Aug. epist. 104, 12 (CSEL 34, 2, 590f.). Auch die Auseinandersetzung Augustins mit
dem philosophisch interessierten Longinian (epist. 234. 235: CSEL 57,519/23) gewinnt scharfe
Konturen durch das Wegebild. Der Bischof hatte dem Heiden gegenüber offenbar auf Christus
als den Weg zum Vater (Joh. 14, 6) hingewiesen (vgl. epist. 234, 3: a.O. 520, Z. 21ff.),
Longinian entwickelt darauf seine platonischen Vorstellungen vom Weg zur Gottheit (ebd. 2:
a.O. 520, Z. lOff.); Augustin wiederum wünscht Aufklärung darüber, wie das gemeint sei,
besonders, welche Bedeutung die traditionellen Kulte (sacra) nach Ansicht des Korrespondenten
besäßen (epist. 235, 2: a.O. 522, Z. 16ff.). Denn sie hatte Longinian bezeichnenderweise in
seine Darstellung des "Weges" eingebracht (epist. 234, 2: a.O. 520, Z. 18/20; vgl. epist. 235,
1: a.O. 522, Z. 12/15).
103 Aug. epist. 104, 11 (a.O. 590): Verg. buc. 4, 13f. Daß die Wahrheit dieser Verse
aufleuchte, sobald man sie auf Christus beziehe, bemerkt Augustin auch civ. 10, 27 (1, 444f.
Dombart-Kalb); epist. 137, 12 (CSEL 44, 114); epist. 258, 5 (CSEL 57, 609f.). Vgl. D.
Comparetti, Virgilio nel Medio Evo (18962), Nuova edizione a cura di G. Pasquali 1 (Firenze
o.J. [1946]) 124; K.H. Schelkle, Virgil in der Deutung Augustins (Stuttgart/Berlin 1939) =
Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft 32,16/22; H. Hagendahl, Augustine and the Latin
Classics (Göteborg 1967) 367. 444. Aus Augustins Sicht bildet die vierte Ecloge allerdings
insofern einen Sonderfall, als er annahm, das Gedicht beruhe auf echter Prophetie der Sibylle;
dazu ChrSsis Π 182f. mit weiteren Literaturangaben.
104 Aug. epist. 104, 12 (a.O. 590f.).
506 Prudentiana II. Exegetica
Dieser Text klingt anders als die bisher zitierten. Er ist weniger pole-
misch. Aber nicht allein dadurch hebt er sich von den anderen ab. Vielmehr
wird darin auch ein neuer Gedanke entfaltet und mit dem Wegebild verbun-
den: dem Heidentum und allen seinen "Gesetzen", seinen vielen "Wegen"
wird ausdrücklich das Streben nach dem himmlischen Vaterland zuerkannt,
das Verlangen, die Sehnsucht danach. Wie bei Lactanz und Prudentius sind
hier auch bei St. Augustinus die anderen, falschen Wege die Wege des Heiden-
tums, aber diese Wege werden nicht nur nach dem Ende beurteilt, das sie
XXI. Die vielen Wege und der Eine 507
erreichen, sondern auch nach dem, das sie erreichen m ö c h t e n . Das allein
macht den Unterschied. Gewiß ist der Kirchenvater weit entfernt von der An-
sicht, als genüge es, den Himmel (Gott, die Wahrheit, das Glück) zu suchen
oder als könne man das alles überhaupt nur suchen oder gar als müßten es der
Christ und der Nichtchrist gemeinsam suchen oder als dürfe es jeder mit glei-
chem Recht auf eigenem Wege suchen. Wie der andere Kirchenvater, den wir
zitierten105, dem Symmachus entgegenhielt: "Was ihr durch Vermutungen sucht,
das wissen wir zuverlässig . . . s o läßt auch St. Augustinus weder einen Zwei-
fel daran, daß es Einen Weg gibt, der tatsächlich dorthin führt, wohin alle
anderen nur streben, noch daran, welcher dieser Weg ist. Es besteht kein
Widerspruch zwischen den beiden Kirchenlehrern, auch nicht in der Anerken-
nung des Suchens der anderen, sozusagen in der positiven Bilanz des Heiden-
tums; denn vom Suchen spricht auch St. Ambrosius. Aber indem St. Augustinus
das Verbum appetere aufgreift und die ganze Aussage des heidnischen Wege-
bilds gelten läßt, soweit sie eben reicht, legt er doch einen neuen Nachdruck
auf den Punkt, entfaltet er einen Gedanken, der in den anderen Dokumenten,
die wir heranzogen, nicht oder nicht voll entwickelt war. Daß er damit dem
Text des Nectarius Gewalt antut, wird man nicht behaupten dürfen. Das Wort
appetere fällt dort zweimal hintereinander, und St. Augustinus hat mit feinem
Gespür für das, was Worte wert sind, herausgefühlt, daß die Wortwahl keine
zufällige ist, daß in ihr sich der Standort des anderen verrät106. Er geht nur
insofern über den Text hinaus, als er dem Korrespondenten klar zu machen
versucht, welche wahren, ihm selbst vielleicht nicht bewußten, Folgerungen
sich daraus ziehen lassen: es ist wahr zu sagen, daß alle auf verschiedenen
Wegen zum Glück streben, wahr deshalb, weil wirklich alle danach streben,
und deshalb, weil mit dieser Aussage nicht ausgeschlossen wird, daß es Einen
Weg gibt, auf dem man das Ziel auch erreicht.
So nimmt St. Augustinus die Formulierung des Heiden: sein Wegebild
und den Begriff appetere, zum Symbol der Sehnsucht der Menschen nach
Gott. Von ihr spricht er auch in den berühmten Sätzen zu Beginn der Con-
fessionesim: ... fecisti nos ad Te et inquietum est cor nostrum donee requiescat
in Te. Und dort findet sich das schöne Bild, das ausdrückt, was der Verfasser
selbst erlebte, als er von der Lektüre der neuplatonischen Schriften zu den
Paulusbriefen überging108:
"Und ein anderes ist es, von waldiger Höhe aus die Heimat des
Friedens zu s e h e n und d e n Weg dorthin n i c h t zu fin-
den und vergeblich sich zu mühen in unwegsamer Wildnis (frustra
conari per invia), da ringsum Entlaufene auf ihrer Flucht im Hin-
terhalt liegen und lauern mit ihrem Häuptling 'Löwe und Drache'
(Ps. 90, 13) - ein anderes aber, d e n W e g dorthin e i η ζ u-
h a l t e n , den die Liebessorge des himmlischen Herrschers ge-
bahnt hat, wo keine Wegelagerer ihr Unwesen treiben, die vom
himmlischen Kriegsdienst ausgerissen sind; denn die meiden ihn
wie Folterqual."
Wie die Sehnsucht nach Gott in den heidnischen Kulten einen verkehr-
ten und vergeblichen Ausdruck findet, ist in einem anderen Brief festgestellt,
den der Bischof von Hippo an den jungen Proconsul der Provinz Africa, Volu-
sianus, richtete109. Man mag sich in diesem Zusammenhang der Bildrede eines
kirchlichen Texts aus moderner Zeit erinnern; denn dasselbe, Sehnsucht und
Unvermögen zugleich, sucht auch die Adhortatio Pauls VI. "Evangelii Nun-
tiandi" (1975) durch ein Bild zu treffen: die anderen Religionen, heißt es
dort110, können nicht wirklich einen wahren und lebendigen Verkehr mit Gott
herstellen, "auch wenn sie sozusagen ihre Arme zum Himmel zu erheben
scheinen".
108 Ebd. 7, 21, 27. Übersetzung nach J. Bernhart, Augustinus, Confessiones (München
19804) 359. Parallelen bei W. Theiler, Porphyrios und Augustin (Halle 1933) = Schriften der
Königsberger Gelehrten-Gesellschaft, Geisteswiss. Kl. 10, 1, S. 64. Das Bild beruht auf christ-
licher Chresis platonischer Gedanken (Streben der Seele nach ihrem Vaterland). Es kehrt in der
Auseinandersetzung mit den Piatonikern civ. 10, 29 (1, 448, Z. 3ff. Dombart-Kalb) wieder:
itaque videtis utcumque, etsi de longinquo, etsi acie caligante, patriam in qua manendum est,
sed viam qua eundum est non tenetis.
109 Aug. epist. 137, 12 (CSEL 44, 112f.). Vgl. dazu ChrSsis Π 177ff.
no Paulus VI, Adhort. Ap. Evangelii Nuntiandi, 8. dec. 1975, η. 53: Acta Apostolicae
Sedis 68 (1976) 42: ... Ecclesia hoc sibi proprium habere putat ... per nostram religionem
reapse cum Deo institui commercium, verum nempe vivumque, quod aliae religiones instituere
nequeunt, etiamsi sua, ut ita dicamus, brachia ad caelum attollere ipsae videantur.
XXI. Die vielen Wege und der Eine 509
12.
111 Aug. epist. 104, 12f. (CSEL 34,2, 591). Zum folgenden vgl. Clem Alex, ström. 1, 38,
6 (GCS Clem. Alex. 2, 25): "Da aber Gott in seiner Güte auf vielerlei Weise Rettung bringt,
gibt es viele und verschiedeiiartige Wege zur Gerechtigkeit, und sie münden in den Hauptweg
und fähren zum Haupttor" (Übersetzung nach O. Stählin: Bibliothek der Kirchenväter, Zweite
Reihe, Bd. 17, München 1936, 41). Dieses Tor nennt der Autor weiter den "königlichen und
wirklich gültigen Eingang" (βασιλικήν τε καν αύθεντικήν εϊσοδον), wobei er sich seinerseits
an 1 Clem. 48, 2/4 und die dort zitierten Psalmworte (Ps. 117, 19f.) hält. Die Stelle ist in
passendem Zusammenhang angeführt bei N. Brox, Der Glaube als Weg (Salzburg/München:
Bücherei der Salzburger Hochschul wochen 1968) 81.
510 Prudentiana II. Exegetica
13.
"Daß man zur Vereinigung mit der Weisheit nicht auf einem ein-
zigen Wege gelange: das klingt nicht gut. Als ob es noch einen
anderen Weg gäbe außer Christus, der gesagt hat: 'Ich bin der
Weg' (Joh. 14, 6)! Ich hätte es also vermeiden sollen, frommen
Ohren dieses Ärgernis zu bereiten, mag auch der allgemeine Heils-
weg iilla universalis via) das eine, das andere jene Wege sein,
von denen wir im Psalm singen: 'Deine Wege, Herr, zeige mir
und Deine Pfade lehre mich' (Ps. 24, 4)."
Wie diese Bemerkungen zu verstehen sind, kann man der vorhin zitier-
ten Partie des Briefs an Nectarius entnehmen. Sie bietet - zusammen mit dem
gleich noch zu besprechenden Kapitel aus dem "Gottesstaat" - den nötigen
Kommentar. Der Autor will auch hier nicht etwa die "Wege" des Psalmisten
von der via universalis abtrennen, denn er betont ja nachdrücklich, es gebe
nur Einen Weg: Christus. Er deutet nur an, daß es auch seinen guten Sinn
haben könne, von "Wegen" in der Mehrzahl zu reden. Es ist also nicht ein
tatsächlicher Lehrirrtum jener Frühschrift, den der Bischof zurücknimmt, son-
dern eben nur eine mißglückte Formulierung, die bei den Gläubigen Anstoß
erregen könnte: non bene sonat. Aber gerade das verdient Beachtung. Hier
zeigt sich nämlich wieder, wie sorgfältig die Kirchenlehrer ihre Worte setzten.
Zweifellos hatte der Autor erkannt, daß sein Ausdruck an die Bildrede der
Platoniker anklang113 - man braucht sich wieder nur Symmachus' Satz ins
Gedächtnis zu rufen: uno itinere non potestperveniri ad tarn grande secretum.
112 Aug. retr. 1, 4, 3 (CCL 57, 14f.); vgl. solil. 1, 13, 23 (CSEL 89, 35).
113 Vgl. P. Courcelle, Anti-Christian Arguments and Christian Platonism: from Arnobius
to St. Ambrose: The Conflict between Paganism and Christianity in the Fourth Century, Essays
ed. by A. Momigliano (Oxford 1963) 151/92, bes. 157f. und 175f.
512 Prudentiana II. Exegetica
Und schon die bloße Assonanz erschien ihm gefährlich. So sorgfältig ging
man mit den Worten um, so genau zog man die Grenze, so sehr fürchtete man
den Irrtum!
14.
Wir haben die Texte in der Reihenfolge vorüberziehen lassen, in der die
christlichen Schriftsteller den nichtchristlichen antworten: Lactanz den klassi-
schen Autoren, Prudentius dem Symmachus, St. Augustin dem Nectarius. Wenn
wir die Sache von der anderen Seite her betrachtet und gefragt hätten, wo sich
eine kritische Stimme zum christlichen Gebrauch des Wegebildes melde; oder
auch dann, wenn wir die Reihe nach Zeit, Rang und Wirkung der Opponenten
des Christentums hätten ordnen wollen, im einen wie im anderen Falle hätten
wir früher einsetzen müssen: mit Porphyrios114. Er hat gegen das Herrenwort
eingewandt115: Wenn Christus von sich sagt, Er sei der "Heilsweg", warum
kam Er so spät? Was wird aus den unzähligen Seelen der Menschen, die vor
ihm lebten? Und er erklärte weiter116: eine Lehre, die einen allgemeinen Weg
(universalem viam) zur Befreiung der Seele enthalte, sei ihm nicht bekannt
geworden, weder seitens "irgendeiner sehr wahren Philosophie " noch durch
indische Lebenszucht oder chaldäische Mysterien. St. Augustin hat beide Sät-
ze ausführlich beantwortet, letzteren am Schluß des zehnten Buchs des Got-
tesstaats117. Schon der Platz im Werk, den er der Auseinandersetzung anweist,
offenbart die Bedeutung, die er ihr beimaß, zeigt auch wohl die Kraft, die er
dem Wegebild zuerkannte: es faßt alles zusammen, was in dem ersten großen
Werkteil zu sagen war. Die ersten zehn Bücher, die der Widerlegung des
114 Vielleicht hat er schon in der Erörterung des Wegebilds bei Lactanz Spuren hinterlas-
sen, vgl. Courcelle a.O. (oben Anm. 61) 455M. Bei Lactanzens Lehrer Arnobius ist mit Porphyrios-
Kenntnis zu rechnen, darüber P.F. Beatrice, Un oracle antichr6tien chez Arnobe: M6morial
Dom Jean Gribomont (Rom 1988) = Studia Ephemeridis Augustinianum 27, 107/29, mit Lite-
ratur.
lis Porph. adv. Christian, firg. 81 Harnack (A. v. Harnack, Porphyrius, "Gegen die Chri-
sten": Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jahrg. 1916,
Philos.-hist. Kl., Nr. 1, Berlin 1916, 94f.), bei Aug. epist. 102, 8 (CSEL 34, 2, 551f.). Hier
wird Joh. 14, 6 (vermischt mit Joh. 1, 17) platonisch als Rückkehr der Seelen gedeutet.
116 Porph. de regressu animae frg. 12 Bidez (J. Bidez, Vie de Porphyre, Gand/Leipzig
1913, p. 42*f.), bei Aug. civ. 10, 32 (1, 455, Z. 3/9 Dombart-Kalb).
117 Aug. epist. 102, 8/15 (CSEL 34,2,551/58); civ. 10, 32 (1,454/60 Dombart-Kalb). Zur
Frage, warum die katholische Religion so spät in der Geschichte aufgetreten ist, vgl. auch die
Erwägungen bei J.H. Newman, Die Geheimnisse der Natur und der Gnade: Predigten aus der
katholischen Zeit, deutsche Übertragung von F. Zimmer (Mainz 1924) = Ausgewählte Werke,
hrsg. vonM. Laros, Bd. 6, 143/63, ebd. 151.
XXI. Die vielen Wege und der Eine 513
Es hat etwas Begeisterades und Zwingendes, wie der Autor seine Theologie
und die Bildlichkeit seiner Sprache geradezu philologisch aus der Hl. Schrift
heraus entwickelt125: Christus ist der "universale Weg", den Isaias voraus-
sagte126: erit in novissimis diebus manifestos mons Domini ...et venient ad eum
universae (!) gentes et ingredienturnationes multae etdicent: venite, ascendamus
in montem Domini et in domum Dei Iacob; et adnuntiabit nobis viam (!) suam
... eqs. Abseits von diesem Wege, wiederholt der Kirchenlehrer127, gibt es
niemals eine Befreiung: praeter hanc viam... nemo liberatus est, nemo liberatur,
nemo liberabitur. "Weg" steht schließlich in diesem Augustinuskapitel, wie
einst in der Apostelgeschichte, für "christliche Lehre" schlechthin128.
1.
125 Aug. ebd. p. 457f. Ich bemerke dies, um der Auffassung zu begegnen, als handele es
sich bei den Zitaten um "bloß christlich-biblische Außenformulierung (!)": Theiler a.O. (oben
Anm. 108) 57.
126 Is. 2, 2f.
127 Aug. ebd. 459, Z. 5/8.
128 Ebd. 460, Z. 13: in huius viae scripturis (i.e. in Sacris Scripturis).
129 Vera a.O. (oben Anm. 5) 41. Übrigens erwähnt weder Vera noch Wytzes a.O. (oben
Anm. 5) 277f. Prudentius' Erwiderung auf das Wegebild.
130 Cone. Vat. II, Deel, de libertate religiosa, Dignitatis Humanae 1: Acta Apostolicae
Sedis 58 (1966) 930 = Das Zweite Vatikanische Konzil, Teil II (s. oben Anm. 41) 714: Primum
XXI. Die vielen Wege und der Eine 515
itaque profitetur Sacra Synodus Deum Ipsum vi am generi humano notam fecisse per quam,
Ipsi inserviendo, homines in Christo salvi et beati fieri possint. Hanc unicam veram
Religionem subsistere credimus in catholica et apostolica Ecclesia ... eqs.; Decr. de activitate
missionali Ecclesiae, Ad Gentes Divinitus 8 (a.O. [oben Anm. 51] 957 bzw. 42), vgl. ebd. 13
(a.O. 962 bzw. 54); Const, dogm. de Ecclesia, Lumen Gentium 14: Acta Apostolicae Sedis 57
(1965) 18 = Das Zweite Vatikanische Konzil, Teil I (19662) 198: Unus enim Christus est
Mediatorac via salutis.
131 Deel, de Ecclesiae habitudine ad religionesnon-christianas, Mwira,4efafe 2: Acta Aposto-
licae Sedis 58 (1966) 741 = Das Zweite Vatikanische Konzil, Teil Π (s. oben Anm. 41) 488/91.
132 Ebd.: ... via docetur, qua homines ...ad summam illumiruitionem pertingere valeant.
Ich fasse valeant als finalen Konjunktiv. Zu quaerunt, nituntur in diesem Text vgl. Lumen
Gentium 16, a.O. 20.
133 Vgl. oben S. 505/08. Vollkommen richtig urteilte Paul Hacker: "If we analyze these
texts carefully, we find that they refer to the anthropological aspect of religion. They describe
r e l i g i o u s e f f o r t s undertaken by men of various religions and they approve of the fact that
men thus seek God; b u t t h e y r e m a i n s i l e n t r e g a r d i n g t h e p o s s i b i l i t y
o f r e a c h i n g t h e g o a l t h r o u g h t h e s e e f f o r t s , nor do they say anything about
whether the myths contain truth or whether the rites and practices are in conformity with the will
of God" (Hervorhebungen von mir): P. Hacker, Theological Foundations of Evangelization, St.
Augustin 19832 = Veröffentlichungen des Instituts für Missionswissenschaft der Westf. Wil-
helms-Universität Münster, hrsg. von J. Dörmann, Heft 15, 73.
516 Prudentiana II. Exegetica
nung der vielen, verschiedenen Wege, auf denen das Ziel erstrebt, und die
Verkündigung des Einen, auf dem es erreicht wird? Aber wie auch immer:
muß man nicht den Text eines Konzils, das seinen Willen erklärt hat134, "die
heilige Tradition und Lehre der Kirche zu erforschen, woraus es immer Neu-
es hervorholt, das mit dem Alten in Einklang steht", jedenfalls zuerst im Lichte
ebendieser Tradition betrachten? Wie kann man wissen, was mit dem Alten überein-
stimmt, wenn man das Alte nicht kennt oder nicht kennen will? Darf man über
eine Stelle wie die vorhin zitierte überhaupt reden, ohne die lebhafte Erörterung
des Problems der vielen Wege und des Einen, welche die Denker der Frühen
Kirche geführt haben, ständig und aufmerksam im Auge zu behalten135?
2.
IV. Rückblick
Die Ansicht, daß die Völker bei der jeweiligen Religion ihrer Kultur
bleiben sollten, war den Vätern nicht unbekannt. Es ist durchaus nicht so, als
stelle diese Anschauung eine Art Fortschritt des modernen Denkens dar, der
zur Zeit der Alten Kirche noch unmöglich gewesen wäre. Vielmehr handelt es
sich um eine Auffassung, die damals sehr prominente Vertreter hatte. Ihre
Vertreter waren allerdings nicht die Kirchenväter, nicht Origenes, St. Kyrill
oder St. Ambrosius, sondern die erbittertsten Feinde des Christentums wie
Kelsos, Kaiser Julian und Symmachus. Nicht also in Unkenntnis solcher An-
sichten, sondern in hartem Kampf gegen sie setzten die Missionare der frühen
Kirche die Bekehrung der vielen Völker durch - und die Christianisierung der
antiken Kultur. Treffend urteilt G.K. Chesterton im Hinblick auf diese Tatbe-
stände139: "Nobody understands the nature of the Church, or the ringing note
of the creed descending from antiquity, who does not realize that the whole
world once very nearly died of broad-mindedness and the brotherhood of all
religions".
Der Wert des Bildes, das wir verfolgten, liegt darin, daß es einen Schlüssel
in die Hand gibt, der auch den Einblick in gewisse moderne Theorien eröffnet.
Nicht nur Begriffe, auch Bilder können wie passende Schlüssel sein. Mit ihrer
Hilfe tut sich das Unzugängliche auf, alles scheint plötzlich einfach. Man mag
noch so viel reden, noch so viele Hindernisse aufbauen, ein undurchdringli-
ches Dickicht der Spekulationen schaffen: das Wegebild bringt alles auf einen
einfachen Nenner, ohne doch die Dinge unbedingt zu vergröbern oder die
Tatsachen zu verdunkeln. Es zwingt zur Klarheit und zur Entscheidung. Gibt
es außer dem Einen Heilsweg noch andere Heilswege - die Frage gestellt in
bezug auf die Systeme: die Religionen, Kulte, Philosophien? Wenn ja, dann ist
der Boden der kirchlichen Tradition verlassen, und das alte Heidentum erhebt
wieder sein Haupt. Weil das Bild der vielen Wege und des Einen in den Grundli-
nien so klar ist, so bestimmt und festumrissen, läßt es sofort erkennen, wo es
entfaltet, weiter ausgestaltet oder feiner differenziert wird und wo es aufgege-
ben, durchbrochen oder in sein Gegenteil verkehrt wird, wo Entwicklung vor-
liegt oder Fortschritt und wo Bruch oder Perversion der Tradition. Man darf
gewiß sagen, daß das, was Lactanz zum Bild der Zwei Wege vorbringt, eine
Entfaltung des Herrenworts aus dem Evangelium darstellt. Ob sie in allen
Punkten tief genug reicht und die Möglichkeiten ausschöpft, darüber mag man
verschiedener Ansicht sein. Aber im Ganzen ist es der Versuch einer Entfal-
tung. Dasselbe gilt für Prudentius, erst recht für St. Augustinus, obschon sein
Ansatz, wie wir sahen, ein anderer ist. Aber die Struktur des christlichen
Bildes, die sich aus dem scharfen Kontrast des Einen Weges und der vielen
Wege ergibt, wird auch von ihm keineswegs verändert oder verdeckt. Alle
diese Texte bieten unzweifelhafte Beispiele, vielleicht nicht besonders kühne
und erregende, aber jedenfalls klare Beispiele für jene gesunde Entwicklung
christlicher Lehre, die Vinzenz von Lerinum mit dem natürlichen Wachstum
des menschlichen Körpers verglich140.
140 Vincent. Ler. comm. 23, 4/9 (CCL 64, 178). Vgl. G.K. Chesterton, Der heilige Tho-
mas von Aquin. Nach der ersten englischen Auflage (London 1933) ins Deutsche übertragen
von Dr. E. Kaufmann (Salzburg/Leipzig o.J.) 20f.: "Aber es scheint eine ganz sonderbare
Unwissenheit nicht nur über die fachmännische, sondern auch über die natürliche Bedeutung des
Wortes Entwicklung zu herrschen. Die Kritiker der katholischen Theologie glauben anschei-
nend, es handle sich da nicht so sehr um eine Entfaltung als vielmehr um ein Ausweichen,
XXI. Die vielen Wege und der Eine 519
Wie aber reimt es sich, wenn wir plötzlich lesen, man dürfe die nicht-
christlichen Religionen "in einem echten Sinne als Heilswege bezeichnen"?
Wenn wir hören, sie - die anderen Religionen - seien "die ordentlichen Heilswe-
ge", die Kirche sei dagegen "der außerordentliche"? Daß dies ihr "providen-
tieller (d.h. von Gott gewollter) Sinn" sei? Wenn der Kirche die Aufgabe
zugeteilt wird zu bezeugen, "wohin die ordentlichen Heilswege (d.h. die nicht-
christlichen Religionen) führen" - eben zum Heil? Wenn der Weg der Religio-
nen, wohlgemerkt: der nichtchristlichen Religionen, als "allgemeiner Heils-
weg" proklamiert wird141? Wem, der sich bei den Kirchenvätern umgesehen
hat, der sie liebt und achtet, fiele da nicht mit Schrecken St. Augustinus ein
und seinen ganz andere Sicht der via universalis'? Doch genug. Es lag mir nur
daran zu verdeutlichen, inwiefern wir unser Bild als Schlüssel bezeichnen dür-
fen und was Fortschritt ist und was Traditionsbruch. Selbstverständlich dürfen
wir eine motiv- oder begriffsgeschichtliche Studie nicht als Leistung theologi-
schen Rangs ausgeben. Aber die Theologie, so hoch sie auch über der Philolo-
gie steht, kann sich dennoch niemals frei über die Sprache erheben. Zentrale
Begriffe, wichtige Bilder werden immer Knotenpunkte des Denkens bleiben.
Ich will noch weiter gehen. Was ist das Ergebnis, auf das unsere Überlegun-
gen zum Wegebild wie von selbst zulaufen? Doch dies: daß der Kampf von
damals nicht ausgekämpft ist, vielmehr heute mit größter Stärke von neuem
entbrennt. Newman schrieb142: "Die Zeit ist schlimm, in der das Bekenntnis
bestenfalls um eine Anpassung. Sie bilden sich ein, daß diese 'Entwicklung' letzten Endes auf
eine Kapitulation hinauslaufe. Aber das ist nicht die wahre Bedeutung des Wortes Entwicklung.
Wenn wir von einem Kinde sagen, es sei gut entwickelt, dann meinen wir, daß es aus eigener
Kraft größer und stärker geworden, nicht daß es mit geborgten Kissen ausgepolstert ist und auf
Stelzen geht, um größer auszusehen. Wenn wir sagen, ein junger Hund entwickelt sich zum
ausgewachsenen Hund, dann meinen wir nicht, er entwickle sich allmählich zur Katze, sondern
wir meinen, daß er mehr und nicht weniger Hund wird. Entwicklung ist die Entfaltung aller
Möglichkeiten einer Lehre, all dessen, was sie in sich birgt, wenn es an der Zeit ist, diese
Möglichkeiten zu unterscheiden und herauszustellen." Zu Vinzenz von Lerinum und seiner
Bedeutung in kirchlichen Verlautbarungen neuerer Zeit s. H.-L. Barth, Überlegungen zum ka-
tholischen Traditionsbegriff: Una-Voce-Korrespondenz 19 (1989) 309/24, bes. 314/17.
141 Verfasser und Titel der theologischen Schriften, denen diese Zitate entnommen sind,
werden im Literaturwissenschaftlichen Jahrbuch 31 (1990) 48, Anm. 138 und 139 genannt. Ich
wiederhole sie hier nicht. Nur um die Verbreitung solcher Meinungen zu belegen, verweise ich
auf folgenden Sammelband: J. Hick - P.F. Knitter (Hrsgg.), The Myth of Christian Uniqueness.
Toward a Pluralistic Theology of Religions, New York: Orbis Books, Maryknoll (The Catholic
Foreign Mission Society of America) 1987 und hier etwa auf die Seiten VII. XI. 33. 37. 42.
173/75. 193f. 196f. 213f.
142 Newman a.O. (oben Anm. 3) 294, deutsch nach der Übersetzung Else Gutermuths: John
Henry Kardinal Newman, Kirche und Wissenschaft (Idea of a University), Mainz 1927 =
Ausgewählte Werke, hrsg. von Μ. Laros, Bd. 4, S. 364.
520 Prudentiana II. Exegetica
eines Mannes zum Katholizismus keine Bürge für seine Rechtgläubigkeit ist,
und in der ein Lehrmeister der Religion zugleich innerhalb der Grenzpfähle
der Kirche und dennoch außerhalb ihres Glaubens leben kann". Und er schätz-
te sich glücklich, nicht in einer solchen Zeit zu leben. Es scheint sehr zweifel-
haft, ob er heute dasselbe sagen könnte. Aber es sind diese Umstände, die dem
Studium der antiken Texte einen besonderen Sinn geben, ja eine neue Aktua-
lität und Dringlichkeit.
Ja es mag sein, daß die Notwendigkeit, aus dem Studium der Väter
Klarheit zu gewinnen, noch zunehmen wird. Der Autor jedenfalls, den wir
eben hörten, würde solcher Prognose wohl zustimmen. Als Newman die vier
Predigten veröffentlichte, die unter dem Titel "The Patristical Idea of Anti-
christ" berühmt wurden (1838), fugte er ein Postscriptum hinzu. Es enthält ein
längeres Zitat aus einem Brief des anglikanischen Bischofs Samuel Horsley143.
Newman fand, daß "die bemerkenswerte Passage" seine eigene Abhandlung
beleuchte. Er ließ das Zitat auch bei späterer Publikation abdrucken (1872),
maß ihm also weiterhin eine Bedeutung bei, die solche Hervorhebung recht-
fertigte. Es lautet144:
143 Manuscript Letters of Bishop Horsley, Letter V. To the Author of "Antichrist in the
French Convention": The British Magazine, May 1834, p. 517/23. Der Briefwechsel stammt
aus dem Jahre 1797. Über Samuel Horsley s. den Artikel in der Encyclopedia Britannica 11
(196214) 772 - die Neuauflage von 1986 führt ihn seltsamerweise nicht mehr!
144 The British Magazine a.O. 520; vgl. J.H. Newman, The Patristical Idea of Antichrist:
Tracts for the Times 83: vol. 5 (1838) 53f.; ders., Discussions and Arguments on Various
Subjects (London 1872) 107f. Newmans einführende Sätze enthalten hier die Worte: "The above
expositions ... are illustrated by the following remarkable passage ..." usw. Ich gebe das Zitat in
der Form der Erstpublikation (s. vorige Anm.); Newman nahm einige geringfügige Änderungen
in Ausdruck, Orthographie und Zeichensetzung vor.
XXI. Die vielen Wege und der Eine 521
Als diese Zeilen nach dem Tode ihres Verfassers zuerst ans Licht traten,
war nicht nur Newman beeindruckt. Dem Editor des Manuskripts schienen sie
"fast mit der Feder der Inspiration" geschrieben145.
145 Der Sohn Horsleys (Η. H.) im British Magazine a.O. 524, gerade mit Bezug auf diesen
Passus: "... parts of the correspondence ... appeared to me to have been written almost with the
pen of inspiration".
XXII.
ADDENDA
S. 1, Anm. 1:
S. 2f.:
S. 3:
Den weiteren Rahmen, in den das Urteil über Julianus Apostata (apoth.
449/59) gehört, gibt Heinz-Günther Nesselrath, Kaiserlicher Held und Christen-
feind: Julian Apostata im Urteil des späteren 4. und des 5. Jahrhunderts n.Chr.,
in: Balbina Bäbler - Heinz-Günther Nesselrath (Hrsgg.), Die Welt des Sokra-
tes von Konstantinopel, Festschrift Christoph Schäublin, München/Leipzig
2001, 15/43.
S. 6:
lacte nutricis errorem suxisse videamur. Beide Stellen rückt auch Α. Otto, Die
Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, Leipzig 1890,
183 s.v. lac, Nr. 3 zusammen. In gleichem Zusammenhang bei Aug. in Ps.
64, 6 (CCL 39, 827, Z. 9ff.): quid faceret puer natus inter paganos, ut non
coleret lapidem, quando illum cultum insinuaveruntparentes ? inde prima verba
audivit, illum errorem cum lacte suxit. Doch auch der Christ kann so von sich
sprechen, vgl. Aug. conf. 3, 4, 8: hoc nomen salvatoris mei ...in ipso adhuc
lacte matris tenerum cor meum pie biberaf, s. Carl Weyman: Archiv für lat.
Lexikographie 13 (1904) 386 (= Reinhard Häussler [Hrsg.], Nachträge zu A.
Otto ..., Hildesheim 1968,275). Hinter der Redensart stecken vielleicht tiefer-
reichende Anschauungen über die Wirkung der Milch auf den Säugling; s.
Hans Herter, Amme oder Saugflasche: Mullus, Festschrift Theodor Klauser,
Münster 1964 = Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 1,
168/72, hier 171.
S. 7f.:
S. 14/16:
Den Gebrauch von exterior, der für Prud. ham. 12 anzunehmen ist, hat
gerade Otto Hiltbrunner, Exterior homo: Vigiliae Christianae 5 (1951) 55/60
beleuchtet, wenn er auch die Prudentiusstelle im Thesaurus anders einordnete.
524 Prudentiana II. Exegetica
S. 16f.:
Bereits Friedrich Klingner sah, daß Boethius I.e. die aktive Bedeutung
von conspicuus aus Prud. ham. 864f. (visus cortspicuos) übernimmt: De Boethii
consolatione philosophiae, Berlin 1921 = Philologische Untersuchungen 27,
54f. Auf Klingner verweist Roberto Palla im Kommentar zur Stelle (Prudenzio,
Hamartigenia, Pisa 1981, 300).
S. 17/19:
Die hier vorgetragene Deutung des Titels Apotheosis ist von Kurt Smolak,
Exegetischer Kommentar zu Prudentius, Apotheosis (Hymnus, Praefatio,
Apotheosis 1-216), Diss. Wien (maschinenschriftl.) 1968, S. XIV/XVIII in
allen wesentlichen Zügen bestätigt worden. Er weist daraufhin (S. XVI), daß
auch Edward Kennard Rand, Prudentius and Christian Humanism: Transactions
and Proceedings 51 (1920) 71/83, hier 73, die richtige Auffassung vertrat.
S. 25f.:
S. 31:
Zu dem Mosaik in Pavia (Tafel I) vgl. Adriano Peroni, Pavia. Musei civici
del Castello visconteo, Bologna 1975 = Musei d'Italia meraviglie d'Italia 7,
S. 86f. (mit Literaturhinweis). Die Zerstückelung der Discordia ist auch ein
Thema der Psychomachie-Illustrationen, wobei die Szene von den mittelalter-
lichen Künstlern immer drastischer gestaltet wurde; vgl. Richard Stettiner, Die
illustrierten Prudentiushandschriften, Diss. Straßburg (Berlin 1895) 379/81.
S. 33 mit Anm. 1:
S. 37:
Die von Smith bekämpfte Anschauung lebt wieder auf bei Joseph Pucci,
Prudentius' Readings of Horace in the Cathemerinon ·. Latomus 50 (1991) 677/
90. Er verkündet (677): "I bring to this project the idea of mediation, viewing
Prudentius a mediator..." etc. Und weiter: "Prudentius was, rather, a 'middle-
man', a mediator" (678). Zugrundeliegt solcher Terminologie eine bedenkli-
che Auffassung der Sache: "(Prudentius) was e q u a l l y fond of his Christi-
an faith and his vocation as a poet" (690, Sperrung von mir). Die Annahme
solcher "Gleichheit" ("equality", ebd.) verschiebt die Gewichte. Denn inner-
stes Movens prudentianischer Poesie ist und bleibt die Religion. Darin hatte
Smith, wie gesagt, durchaus Recht. Die schiefe Perspektive verhindert freilich
nicht überall richtige Einsichten, und mit einer richtigen Erkenntnis stellt sich
dann gelegentlich auch das richtige Wort ein. Zu Horaz carm. 1, 24, 5f.:
perpetuus sopor urget und Prudentius cath. 10, 60: (omnia) Quae nunc gelidus
sopor urget bemerkt Pucci (686): "Prudentius was better able to contrast and
to make stark the meaning embodied in that older image" - jawohl! Und eben
dieser Gebrauch, "this kind of usage" (686) ist das, was die Väter den usus
iustus nannten. Andere Interpretamente überzeugen nicht. Wenn ich (im er-
sten Bande S. 148) über die Strophe Prud. praef. [25/27], besonders über die
Metapher nix capitis [27], voraussagte, das bizarre Gebilde werde weiterhin
seine Liebhaber finden, so sehe ich mich durch Pucci bestätigt: "Mx capitis is
a fundamental image for Prudentius" (684). Bedenklicher noch sind die Phan-
tasien, die der Ausdruck bei Antonio V. Nazzaro, Art. Prudenzio: Enciclopedia
Oraziana 3 (1998) 59/61, hier 60, hervorruft.
S. 39/55:
Zur Geschichte des Begriffs der χρήσις όρθή (des usus iustus), zu Grund-
lagen und Zielen der Methode kann ich jetzt auf zwei ausführlichere Studien
verweisen: ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der anti-
ken Kultur I. Der Begriff des "rechten Gebrauchs", Basel/Stuttgart 1984;
ΧΡΗΣΙΣ II. Kultur und Conversion, Basel 1993; hier S. 27f. 41/45. 108/13.
146/55 zu Prudentius. Auch für das Verständnis anderer Dichter hat sich die
Chresis als hermeneutischer Schlüssel bewährt: Marion Lausberg, Parcere
subiectis. Zur Vergilnachfolge in der Johannis des Coripp: Jahrbuch für Anti-
ke und Christentum 32 (1989) 105/26; Michael Mazzega, Sedulius, Carmen
XXII. Addenda 527
paschale, Buch III, Basel 1996 = ΧΡΗΣΙΣ V passim, bes. 9/51; Matthias
Skeb, Christo vivere. Studien zum literarischen Christusbild des Paulinus von
Nola, Bonn 1997 = Hereditas 11,86/196; Robert Kirstein, Paulinus von Nola,
Carmen 17, Basel 2000 = ΧΡΗΣΙΣ VIII passim, bes. 14/19 und 267 s.v.
Nutzung. Meiner Betrachtung prudentianischer Poesie hat es auch sonst nicht
an Zustimmung gefehlt. Vinzenz Buchheit hält sie für "den einzig angemesse-
nen Weg", den man gehen müsse, um "Prudentius angemessen in den schöp-
ferischen Prozeß der Auseinandersetzung von Christentum und Antike einzu-
ordnen" (Paulus und Christus als Gesitter der Heiden: Würzburger Jahrbücher
N.F. 21 [1996/97] 319/28, hier 319). Aber sie ist auch auf Unverständnis
gestoßen. Dafür zwei Beispiele: 1) Jean-Louis Charlet schreibt (Enciclopedia
Virgiliana 4, 1988, 336 s.v. Prudenzio): "Gnilka ... insiste sul concetto di
'utilizzazione' del modello classico a fini cristiani ... Noi riteniamo che
P(rudenzio) stabilisca con V(irgilio) un d i a 1 ο g ο culturale, al termine del
quale tutte le risorse della poesia virgiliana sono 'convertite' alla spiritualita
cristiana ..." etc. (Sperrung von mir). Charlet bevorzugt einen Terminus, der
heute in aller Munde ist, und er meint, daß er damit etwas anderes ausdrückt
als den usus iustus, von dem die Väter sprechen. Aber wenn das Ergebnis des
"Dialogs" tatsächlich die totale Conversion vergilischer Poesie ist, dann sind
"Dialog" und Chresis dasselbe, d.h. Charlet weist ab, was er nicht kennt.
Über Conversion als Begriff der Chresis vgl. Chresis 1 19. 60. 135 sowie 150
s.v. convertere, vor allem aber Chresis II ("Kultur und Conversion") passim,
bes. 93/127 und 191 s.v. Conversion. Auch die Annahme "zweier Kulturen",
einer antiken (heidnischen) und einer biblischen (christlichen), versperrt den
Einblick in das Wesen des Vorgangs; vgl. die Kritik im Gnomon 59 (1987)
299/310, hier 309f. - 2) Willy Evenepoel verteidigt den beliebten Ausdruck
"Einfluß": Prudentius sei beeinflußt vom Ambiente der griechisch-römischen
Kultur, übernehme gewisse Dinge mechanisch, unbewußt usw. Er erinnert an
die Prudentiusverse über die Bewahrung der 'gereinigten' Götterbilder c. Symm.
1, 501/05 und kritisiert meine diesbezüglichen Bemerkungen (Sperrung von
mir): "Selon Gnilka cette position de Prudence n'a rien ä voir avec son amour
de Γ art ou avec son patriotisme culturel, mais tout avec sa volonte d'utiliser
les Beaux-Arts en l'honneur de Dieu. II suppose ä tort que le poete et l'artiste
sont caracterises par la meme attitude h y p e r r a t i o n e l l e qui marque le
chercheur perspicace Gnilka" (L'Etude de la poesie latine chretienne de l'an-
tiquite: Acta selecta Octavi Conventus Academiae Latinitati Fovendae [Lovanii
et Antverpiae, 2-6 Augusti MCMXCIII], Romae 1995, 637/49, hier 648f.).
Der erste Satz beruht auf einem einfachen Mißverständnis, wie jeder feststel-
528 Prudentiana II. Exegetica
len kann, der liest, was ich schrieb (oben S. 44f. [143]). Nur auf den Vorwurf
des Rationalismus antworte ich hier, und zwar mit den Worten John Henry
Newmans (Sperrungen wieder von mir): "In a word, there was no barrier, no
cloud, no earthly object, interposed between the soul of the primitive Christian
and its Saviour and Redeemer. Christ was i n h i s h e a r t , and therefore all
that came f r o m h i s h e a r t , his thoughts, words, and actions, savoured
of Christ" (Sermons Bearing on Subjects of the Day, New Edition: London,
Oxford, and Cambridge 1879,281). Newman trifft, was Prudentius sagt (cath.
3, 9Iff. - die Verse sind oben S. 318/21 erklärt):
Autoren, die so denken, fühlen und leben, dichten nicht christlich, weil sie
alles Gedachte, Gefühlte und Erlebte durch das Sieb vernünftelnder Kritik
gießen, sondern weil sie alles in das Licht ihres Glaubens stellen. Wenn sie
daher gebrauchen, was ihrer Religion dient, und abwehren, was ihr wider-
spricht, handeln sie aus dem tiefsten Grund ihres Wesens heraus, und wir
müssen uns hüten, die läuternde, verwandelnde Kraft ihrer Überzeugung zu
unterschätzen, weil ihnen das Herz brennt (vgl. Lc. 24, 32) - und uns vielleicht
nicht; weil sie das Hauptgebot erfüllen (Mt. 22, 37) - und wir vielleicht nicht.
Aber Aristobul zitiert die Aratverse mit der Interpolation θεός statt Zeus
- also gleich zu Anfang: Έκ θεοΰ άρχώμεσθα statt Έκ Διός άρχώμεσθα - ,
wozu er sich ganz offen bekennt: so komme die διάνοια besser heraus (Euseb.
praep. ev. 13, 12, 7: GCS 43, 2 [Euseb. 8, 2] 195, Z. 4/7)!
S. 42/45:
S. 53 f.:
Im Gedächtais der Gebildeten hafteten nicht nur die Szenen, die einst
die Phantasie des jungen Augustinus beschäftigten - das hölzerne Pferd, Didos
unglückliches Ende usw. - , sondern auch (besonders interessant für die
Psychomachie!) die Kampfschilderungen des Epos. Denn Cassian klagt, daß
ihm beim Psallieren oder Beten bisweilen die Vorstellung kämpfender Helden
(quasi bellantium heroum ... imago) störend vor Augen trete, weil ihm derlei
während der Schulzeit eingetrichtert worden sei (coli. 14,12: CSEL 13,414).
Sein Seelenführer rät ihm, dieselbe Energie, die er auf die weltlichen Studien
verwandte, auf Lektüre und Betrachtung der geistlichen Schriften zu übertra-
gen (ad spiritalium scripturarum ... lectionem meditationemque transferre):
"denn gänzlich ohne alle Gedanken kann der menschliche Geist nicht sein, und
daher muß er, solange er nicht mit geistlichen Studien befaßt ist, in den Dingen
befangen bleiben, die er einstmals lernte ..." usw. (14, 13: ebd. 414). Man darf
vielleicht sagen, daß unter solchem Gesichtspunkt auch ein psychagogischer Sinn
der Psychomachie kenntlich wird. Die Phantasie wird auf Kämpfe anderer, spiri-
tueller Art gelenkt. Kurios freilich der Einfall, die Psychomachie solle dem
Christen die Crudelitäten des Amphitheaters ersetzen! So Paula James, Pru-
530 Prudentiana II. Exegetica
dentius' Psychomachia. The Christian arena and the politics of display, in:
Richard Miles (Hrsg.), Constructing Identities in Late Antiquity, London/New
York 1999,70/94. Die Verfasserin ignoriert die epische Tradition, die genutzt
und umorientiert wird.
S. 61/69:
Drei andere Vorschläge zur Interpretation der Verse psych. 21/27 hat
Vinzenz Buchheit gemacht (Glaube gegen Götzendienst: Rhein. Mus. 133 [1990]
389/96); sie überzeugen mich jedoch nicht: 1) Den Ablativ agresti turbida
c u l t u faßt Buchheit kausal, der Sache nach versteht er darunter den Götzen-
dienst "als Zeichen roher Unvernunft": Fides sei erregt wegen des bäurischen
Kults. Aber das wäre hier dunkel. Auch würde so der plötzliche Auftritt (ecce,
28) der veterum C u 11 u r a deorum, die ja - der Anschauung nach -
überhaupt nicht agrestis ist, sondern mit Opferbinden geschmückt (30), selt-
sam vorweggenommen. Meines Erachtens darf agresti... cultu (modal) nicht
von den unmittelbar folgenden deskriptiven Gliedern (intonsa comasl) getrennt
werden. 2) Buchheit hält Eph. 6, 11/17 für den "Leittext" zur Stelle: induite
vos armaturam Dei... eqs. Aber dann hätte Fides gerade nicht unbewaffhet
auftreten dürfen (vgl. Eph. 6, 16: in omnibus sumentes scutum fldei), denn
Paulus und Prudentius bewegen sich ja gleichermaßen auf der Ebene des B i l -
d e s . Mir scheint daher, daß hier doch eher die oben S. 67f. genannten Bibel-
stellen die fehlende Wappnung der Fides erklären. 3) Nicht der Etrusker
Herminius bei Vergil (Aen. 11, 640/45) sei das epische Vorbild der unbewaff-
neten Fides, sondern die amazonenhafte Gestalt der Camilla Vergils und der
Roma Claudians. Daß Fides als "amazonenhafte Kämpferin" erscheine, ist
auch oben S. 62 festgestellt. Aber die Amazonen lassen, weil sie mit dem
Bogen schießen, e i n e Brust frei, und zwar die rechte: Amazon, Unum
exserta latuspugnae, pharetrata Camilla (Verg. Aen. 11,648f.). Nackte Schul-
tern, wie sie Herminius und Fides zeigen, sind doch, meine ich, etwas ande-
res. Die Beschreibung der Roma bei Claudian Prob. 85/99 fällt zwar durch
eine wörtliche Gleichheit auf (vermerkt schon bei Bergman im Index imitationum
der Ausgabe p. 460): Dextrum nuda latus, niveos exerta lacertos, Audacem
retegit mammam ... eqs. (vgl. psych. 23, Versschluß), aber von anderem ab-
gesehen: für Herminius fällt ins Gewicht, daß seine Blöße ebenso wie die der
Fides gerade die mangelnde Wappnung anzeigt, nicht eine besondere kriegeri-
sche Tracht.
XXII. Addenda 531
S. 66/68:
Wie auf dem Schlachtfeld gibt es auch bei der Passion zwei Schlacht-
reihen. Aber die Märtyrer sind unbewaffhet, ungedeckt ("nackt"), die Christen-
532 Prudentiana II. Exegetica
S. 67f.:
S. 72:
Den Barbaren in solcher Rolle zu zeigen, bleibt auch in der Spätzeit ein Ziel
der Kunst und Literatur. Für die Kunst sei hier nur an den großen Ludovisischen
Sarkophag erinnert (Museo Nazionale Romano, Palazzo Altemps, zweite Hälfte
des dritten Jahrhunderts, abgebildet auf einer zweiseitigen Tafel bei Bernard
Andreae, Römische Kunst, Freiburg/Basel/Wien 1973, Abb. 144); in der Li-
teratur bietet Pacatus im Panegyricus auf Theodosius ein deutliches Beispiel.
Er schildert den grausigen Tod der als Staatsfeinde (Höstes) aufgefaßten Trup-
pen des Usurpators Maximus und unterstellt sogar den Sterbenden noch die
Bewunderung des Siegers (paneg. 2, 36, 2):
Der Panegyricus hält ebenso wie die Reliefkunst nur fest, was dem Volk beim
Triumph durch Schaugerüste vorgeführt wurde. Flavius Josephus berichtet
über den Triumphzug nach der Eroberung Jerusalems (bell. lud. 7, 5, in der
deutschen Übersetzung von Otto Michel - Otto Bauernfeind, Flavius Josephus,
De bello Judaico. Der jüdische Krieg, Darmstadt 1969, 101):
Daß die ethische Bewertung des Schlachtensiegs und Feindestods in der Psycho-
machie genutzt ist, beweist die Anwendung der Bezeichnung barbarus auf die
Gegner der Tugenden und der christlichen Religion: psych. 133 heißt Ira b a r -
b ar a bellatrix\ nach dem Sieg hält Concordia im Lager eine adlocutio an die
siegreiche Truppe und sagt (psych. 752f.): Extincta est multo certamine saeva
534 Prudentiana II. Exegetica
Barbaries ... eqs. Den ganzen Kontext muß man beachten: wie die Werte
der publica requies (755) und der pax (769ff.) ins Geistliche, Religiöse erho-
ben werden - aber doch so, daß darin eine wahrnehmbare Verklärung römi-
schen Anspruchs liegt (vgl. auch 750: gloria). Schon in der vorausweisenden
Skizze des Geschehens, welche die Praefatio des Gedichts entwirft, fällt das
Wort "Barbaren": (Abram auditpropinquum) servire duris barbarorum
vinculis (psych, praef. 21). Die Fremdvölker weisen hier präfigurierend auf
die Laster. Die römische Bewertung von Niederlage und Tod des Gegners
sowie die aus solcher Bewertung resultierende Berechtigung, das grausame
Sterben darzustellen, werden auf den geistlichen Kampf und seine poetische
Illustration übertragen.
Auch diesen Zug hat Prudentius seiner Dichtung eingewebt: die barbaries
ist den Kräften des Guten niemals gewachsen. Sieg und Triumph der Mächte
der Ordnung, welche die Pax sichern, werden vorgeführt. Ebenso verhält es
sich bei der Darstellung römischer Kämpfe gegen die Barbaren auf den großen
Staatsmonumenten: auf den Triumphbögen, Säulen usw., auch auf den römi-
schen Schlachtsarkophagen. Trotz ihrer furchterregenden Wildheit und un-
bändigen Kraft erscheinen die bärtigen Barbaren immer als gefesselte oder
unter den Hufen der Pferde sich windende Gestalten, als Gefangene oder
Bittflehende, Verwundete oder Sterbende. Sie sind schreckliche, aber die sieg-
reiche Truppe niemals ernstlich gefährdende Gegner. Als Beispiele können
etwa die großen trajanischen Reliefs an den Schmalseiten und im Durchgang
des Konstantinsbogen dienen (Tafel XIV und XV; der ganze Schlachtfries in
einer Montage bei Andreae a.O., Abb. 421. 422. 423. 424). Ebenso, wie
gesagt, Prudentius: Vine endi praesens ratio est... eqs., so eröffnet er die
Schilderung der Kämpfe (psych. 18ff.). Dieser Zug der Psychomachie unter-
scheidet das allegorische Gedicht von der Aeneis. Denn wenn auch Aeneas
der vom Schicksal bestimmte Sieger und Gründer des Imperiums ist, so wird
doch sein Sieg durch viel Schmerz und Tod auf beiden Seiten errungen und zu
einem bewegenden Abbild menschlichen Leids gestaltet. Die Grausamkeit des
Kriegs und viele Einzelzüge konnte Prudentius hieraus entnehmen, die Hal-
tung des stets überlegenen Triumphs einer Partei ist dem Epos fremd, aber
dennoch römisch, römischem Denken immer gegenwärtig. Es ist das eine gei-
stige und politische Haltung, die eben ihren deutlichsten Ausdruck in der bil-
denden Kunst findet. Sieht man also nicht auf die Form und Motivik der Einzel-
kämpfe, sondern auf Geist und Charakter des Ganzen, dann ist es römisches
Empfinden der Überlegenheit gegenüber den Barbaren, ist es römisches Be-
XXII. Addenda 535
Christus ist der Fels (1 Cor. 10, 4), der uns in der Wüstenhitze dieser
Welt, wo wir nach Gerechtigkeit dürsten, mit süßem Trank erfrischt, ne
carnalium cupiditatum aestibusperuramur (Paul. Nol. epist. 42, 4: CSEL 29,
362, Z. 21). Der Fels, gleich Christus, als Rettung vor der Glut der fleischli-
chen Lüste: vielleicht gibt das einen Hinweis darauf, warum Pudicitia ausge-
rechnet mit einem saxum die Fackelstöße der Libido abwehrt. Ungefähr in
solche Richtung muß man jedenfalls gehen, um die Lösung jenes exegetischen
Problems zu finden.
S. 74f.:
Bei Lactanz inst. 1, 16, 2f. folgt der Wendung: religionum (!) capite
destructo in kurzem Abstand das Lucrezzitat: religionum (!) animos nodis
exsolvere pergo (Lucr. 1, 932: animum codd. Lucr.), wobei die Bedeutung
der religiones bei dem Christen in charakteristischer Weise auf die heidni-
schen Religionen verschoben wird. Aber vom Haupt der Religion bzw. der
Religionen sprechen, hieß offenbar an Lucrez denken. Daß jedenfalls Prudentius
die Stelle über die religio aus Lucrezens erstem Buch kannte, wird noch durch
die Verse c. Symm. 1, 280/86 bestätigt:
S. 75:
"Auch die Binden, welche die veterum Cultura deorum an ihrem Kopf
trägt (psych. 30: falerataque tempora vittis) weisen sie als Opfertier' aus",
meint Carolin Oser-Grote (Virtus Romana und Virtus Christiana. Die Rezepti-
on und Transformation eines römischen Wertbegriffs bei Prudentius, in: Zur
Rezeption hellenistischer Philosophie in der Spätantike, Akten der 1. Tagung
der Karl-und-Getrud-Abel-Stiftung vom 22.-25. September 1997 in Trier, hrsg.
von Therese Fuhrer und Michael Erler in Zusammenarbeit mit Karin Schup-
bach, Stuttgart 1999 = Philosophie der Antike 9, S. 213/28, hier 221, Anm.
39). Aber die vittae gehören nicht nur zum Opfertier, sondern (nach Verg.
Aen. 2, 221; 3, 81; 10, 538) auch zur priesterlichen Tracht. Und in dieser
Funktion sind sie hier vorgestellt (wie Maurice Lavarenne, Prudence. Psycho-
machie, Paris 1933, 218 richtig erklärt). Denn die Unholdin verkörpert als
XXII. Addenda 537
Cultura die Ausübung des Opferkults; vgl. apoth. 464f.: Iamque insertato
reserarat viscera cultro Vitt at us de more [!] senex\ per. 2, 525f.: Vit-
tat us olimpontifex Adscitur in signum crucis·, per. 10,1013: Mire infulatus
(sc. summus sacerdos) festa vitti s tempora Nectens; per. 10, 1045: (pon-
tifex ostentat) vittas madentes. Die Verfasserin des zitierten Aufsatzes hat
sich im übrigen durch die Angabe: ora cruore De pecudum satiata (psych.
31 f.) zu merkwürdigen Assoziationen anregen lassen (a.O. 221).
S. 76f.:
S. 77:
Claudian steht mit dem Anruf der unterirdischen Götter in der Nachfol-
ge Vergils (Aen. 6,264/67). Vgl. Norden, Aen. VI, S. 209 über das Gebet an
die Meeresgötter bei Oppian hal. 1, 73ff.
S. 83/89:
S. 91, Anm. 1:
S. 93f.:
Greg. Naz. or. 44,11 (PG 36,620 B) nach einer Darstellung der Bienen-
arbeit: ώς οφελόν γε και ημείς, ό Χρίστου μελισσών, και τοιούτο λαβόντες
σοφίας και φιλοπονίας υ π ό δ ε ι γ μ α Basilius gebraucht τύπος, εν-
δειγμα, υπόδειγμα, ύπογραμμός: vgl. Chresis 169 mit Anm. 164.
S. 94/102:
non dubia, sed certa conscientia, domine, amo te. percussisti cor
meum verbo tuo, et amavi te, sed et caelum et terra et omnia,
quae in eis sunt, ecce undique mihi dicunt, ut te amem, nec cessant
dicere omnibus, 'ut sint inexcusabiles' (Rom. 1, 20). altius autem
tu misereberis, cui misertus eris, et misericordiam praestabis, cui
misericors fiieris: alioquin caelum et terra surdis locuntur laudes
tuas.
Das ganze Kapitel muß hinzugenommen werden (conf. 10, 6, 8/10). Es um-
kreist, auf der Grundlage augustinischer Gnadenlehre, das Geheimnis von Gnade
und freiem Willen. Vgl. dazu Marta Cristiani - Aim6 Solignac in der doppelspra-
chigen Ausgabe Sant'Agostino, Confessioni, vol. IV: Fondazione Lorenzo
Valla 1996 (Testo criticamente riveduto ... a cura di Manlio Simonetti, tradu-
zione di Gioacchino Chiarini), S. 189.
S. 95:
S. 97:
"Der ständig sich vor unseren Augen vollziehende Wechsel von Wer-
den und Vergehen in der Natur ist dauerndes Zeichen der einen Auferste-
hung": vgl. Paul. Nol. carm. 31,241f. (nach einer Darstellung solcher Analo-
gien): Quod semel estfacturus homo, cui subdita mundi Corpora, subcaelo
cuncta frequenter agunt.
S. 101 (unten):
S. 102/38:
Nicht nur einzelne Dinge, auch ganze Kulturgüter werden unter dem
Gesichtspunkt ihres symbolischen Werts betrachtet: vgl. etwa Basilius über
die Medizin (Chresis I 69f.), Paulinus Nolanus über die Landwirtschaft (s.
unten zu S. 112).
XXII. Addenda 541
Roberto Palla, der meine Prudentiana nicht für lesenswert hält, führt als
einzige Stütze seiner Kritik - in einer Anmerkung - diese meine Anmerkung
an (Variazioni cristiane su Orazio: il caso di Prudenzio, in: Atti del convegno
nazionale di studi su Orazio, Torino, 13-14-15 aprile 1992, a cura di Renato
Uglione, Torino 1993, 241/58, hier 258, Anm. 59). Meinerseits muß ich be-
kennen, daß ich gerade diese meine Sätze nach wie vor mit besonderer innerer
Zustimmung lese und bei Roberto Palla nichts entdecke, was mich veranlassen
könnte, sie zu ändern.
S. 104:
Diesen doppelten Zweck der Schöpfung, die dem irdischen Nutzen des
Menschen dient und ihm doch zugleich geistliche Unterweisung erteilt, stellt
Paulinus Nolanus epist. 39, 2 (CSEL 29, 335f.) ausdrücklich fest: cum enim
haec universa mundi possessio propter hominem constitute hominique subiecta
videatur, quis ambigat in omni loco mundi, in omni parte naturae utilitates
humano <generi> paratas, e quibus non solum carnalia emolumenta capiamus,
sed multo magis [!] spiritaliaperlegamus. Es folgen Belege aus der Hl. Schrift,
die auf geistliche Lehren der Landwirtschaft und des Landlebens verweisen.
S. 112:
Wie die gläubige Naturbetrachtung durch die Hl. Schrift gelenkt wird
und ihrerseits das Schriftverständnis zum Erlebnis macht, zeigt der seelsorger-
liche Rat, den Paulinus Nolanus epist. 39, 3 (CSEL 29, 336, Z. 16ff.) erteilt:
542 Prudentiana II. Exegetica
igitur cum in agro es et rus tuum spectas, te quoque ipsum Christi agrum esse
cogita et in te sicut in agrum tuum respice. qualem agri tui speciem fieri a
vilico tuo postulas, talem deo domino cordis tui redde culturam ... eqs. Die
Analogie wird weiter ausgeführt. Vorhergehen etliche Hinweise auf entspre-
chende Schriftstellen, vgl. das Addendum unten zu S. 116.
Die Deutung der Berge auf die Hochmütigen ergibt sich dem hl. Augusti-
nus auch aus Psalm 143, 5: tange montes et fumigabunt, vgl. Aug. en. in Ps.
143, 12 (CCL 40, 2082f.); conf. 8, 2, 4 und dazu Georg Nicolaus Knauer,
Psalmenzitate in Augustins Konfessionen, Göttingen 1955, 62.
Den Herd des Mißverständnisses bildet die Strophe 85/88, genau genommen
Vers 87: Si forte non cedat deo. Lavarenne übersetzt (1, 11): "Cette allegorie
nous enseigne que l'homme envelopp6 de t6nebres, s'il vient ä resister ä Dieu,
perd ses forces rebelles". Er denkt an einen Widerstand gegen Gott im bösen
Sinne ("resister ä Dieu"), eine Fußnote des Übersetzers macht das ganz klar
(1, 11, note 1): "lutter contre l'envoye de Dieu etait un peche". Die Folge
solcher Auffassung ist freilich die, daß man mit der folgenden Strophe 89/92
nicht mehr ins Reine kommt, was Lavarenne mit der Bemerkung quittiert: "...
cette strophe est assez obscure" (1, 11, note 2). In der Tat, wie sollte aus
einem Kampf gegen Gott, verstanden im Sinne einer Auflehnung gegen Gott,
die (ewige) Seligkeit resultieren? Denn so lautete ja das Ergebnis solcher Er-
klärung: der θεομάχος verliert im Kampf gegen Gott die rebellischen Kräfte,
und dadurch wird er selig (89: Erit tarnen beatior ... eqs.). Barer Unsinn,
dazu noch Blasphemie. Als müsse man sich nur recht gottesfeindlich betragen,
um schließlich in den Himmel zu kommen! Kein Wunder, daß die Kommenta-
torin des Gedichts nach einem Ausweg suchte. Er endet leider in einer Sack-
gasse. Marion van Assendelft (wie oben S. 91, Anm. 2) dreht im Acl der
Verse 85/88 das Verhältnis von Subjekt und Objekt um: "These figures teach
us that if a man beset by darkness perchance does not yield to God, the forces
of sinful rebellion destroy him" (119). Der Subjektsakkusativ ist jetzt vires,
hominem das Objekt, perdere erhält die Bedeutung "zerstören". Daß die sinn-
volle, ja notwendige Parallele der Aussagen in V. 80: Culpae vigoremperdidit
und in V. 88: Vires rebelles perdere so aufgehoben wird, weil perdere jeweils
in verschiedenem Sinne steht, ist nicht das Ärgste. Viel schlimmer, daß nun
dem Bibeltext eine Lehre entnommen werden soll, die er nie und nimmer erteilen
kann. Denn Jakob hat sich dem Engel nicht ergeben, und nur deswegen kann ihm
das Zeugnis ausgestellt werden: ένίσχυσας μετά θεοΰ (Gen. 32, 29 LXX),
544 Prudentiana II. Exegetica
invaluisti cum deo, convaluisti adversus deum (VL), contra deum fortis fiiisti
(32, 28 Vulg.), und selbst wenn er sich ergeben hätte, wie könnte daraus
gefolgert werden, daß er im Falle des Widerstands von seinen eigenen (!)
bösen Kräften wäre zugrunde gerichtet worden? Trotzdem trägt Thraede sol-
che Exegese weiter: "Dieser allegorisch zu verstehende Text... lehrt uns, daß
den vom Dunkel umfangenen Menschen, falls er nicht Gott weicht, seine feind-
lichen Begierden, jene vires rebelies ... umbringen" (Klaus Thraede, Art.
Jakob und Esau: Reallexikon für Antike und Christentum 16 [1994] 1118/
1217, hier 1198). Er opfert anderthalb Spalten des Lexikons den Prudentius-
versen, gelangt aber nicht zur Klarheit.
Dabei wies schon Arövalo (PL 59, 794 C zu cath. 2,73) auf die Ambro-
siusstelle hin, die hier wirklich alles klärt; sie taucht auch bei Reinhart Herzog
auf (Die allegorische Dichtkunst des Prudentius, München 1966 = Zetemata
42, S. 57 Anm. 31), ja sogar bei van Assendelft selbst (115). Aber die Paral-
lele zu Prudentius ist von Herzog (57) nur undeutlich gezogen, von der Kommen-
tatorin jedenfalls verkannt worden. Ambrosius sagt (Iac. 2,7, 30: CSEL 32/2,
49):
Ambrosius denkt hier griechisch. Er versteht den Ringkampf als Teil der
gymnischen Kämpfe, als άγών (certamen). Das hat er von Philon (vgl. bes.
praem. 47f.; somn. 1, 130/32). Jakob ist der Athlet, der "den wahrhaft heili-
gen Agon um den Besitz der Tugend" siegreich besteht (vgl. migr. Abr. 200).
Man muß - mit Philon und Ambrosius - von der Idee des Wettkampfs ausge-
hen, dann versteht man auch Prudentius sofort. Es ist nicht gemeint, daß man
sich Gott fügen müsse (cedere deo), sondern es wird gelehrt, daß man es mit
Gott aufnehmen müsse (non cedere deo) - dies verstanden im Sinne der imitatio
dei, wie bei Ambrosius. Er spricht den Gedanken auch an anderer Stelle aus: (ad
viam ecclesiae) qui venit, luctetur cum deo, ut ad imitationem eius se exerceat,
XXII. Addenda 545
Eine Übersetzung der Strophe 85/88 müßte also etwa lauten "Diese
Bilder lehren uns, daß der Mensch, wenn er vor Gott nicht weicht (es mit Gott
aufnimmt), die widerspenstigen Kräfte verliert (loswird)". In si forte (cum
coniunctivo) schwingt der Gedanke der Hoffnung mit (Leumann - Hofmann -
Szantyr, Lat. Grammatik 2, 666), perdere nimmtperdidit (80) auf. Tarnen zu
Beginn der folgenden Strophe: erit tarnen beatior (89) nähert sich begründen-
der Bedeutung {tarnen gleich nam: Prudentiana I 492, Anm. 9), obschon ein
leichter Gegensatz zu perdere wohl noch gefühlt wird. Auch der Komparativ
beatior ist nicht ganz entwertet (Leumann - Hofmann - Szantyr ebd. 169;
Lavarenne, Etude § 456 mit Beispielen aus Prudentius): trotz des Verlusts
seiner widerspenstigen Kräfte wird er glücklicher sein (als derjenige, der sie
nicht loswird). Dagegen steht vilior (82) statt des Superlativs (Lavarenne, Etude
§ 458).
Daß Nachahmung sich zum Wettkampf steigert, imitatio zur aemulatio
tendiert, ist antikem Denken überhaupt geläufig. Zum Bilde kann man etwa
Ps.Isokrates Dem. 12 vergleichen: ήγοΰ δέ μηδενι των άθλητών ούτω
προσήκειν έπι τους άνταγωνιστάς άσκεΐν, ώς σοι σκοπεΐν, οπως
ένάμιλλος γενήσει τοις του πατρός έπιτηδεύμασιν, zur Formulierung die
Vita Antoni in der anonymen lateinischen Übersetzung proleg. 1 (ed. Barte-
link: Vita dei Santi a cura di Christine Mohrmann 1, 1974, p. 4): bonum
certamen constituistis vobis contra monachos qui sunt in Aegypto, ut aut
similes sitis Ulis aut, si fieri potest hoc, superaretis studio virtutum vestrarum.
Der Satz zeigt, daß auch ein contra dem Gedanken des Wettstreits nicht zuwi-
derläuft: vgl. Gen. 32,28: quoniam si contra Deum fortisfuisti... eqs. (Vulg.).
S. 113f.:
"In das ganze menschliche dasein ist diese Verehrung des lichtes verwebt.
Die grundzüge derselben sind allen gliedern der indoeuropäischen völkerfamilie
gemeinsam, ja sie reichen viel weiter; bis heute sind wir, vielfach unbewusst,
davon beherrscht. Aus dem halbtod des schlafs erweckt uns das licht des tages
zum leben..." usw.: Hermann Usener, Götternamen, Frankfurt am Main 19483
(Frankfurt am Main 20004), 178; es folgt eine Kette verschiedenartiger Belege
(178/90); das Johannesevangelium, Psalmen- und Prophetenworte sind darin
nur Glieder. Gerade darum aber bezeugt die Sammlung - vom christlichen
Standpunkt aus betrachtet - Wahrheit und Wirkung, d.h. den objektiven Cha-
rakter, der Symbolik des Lichts. Unter dem Gesichtspunkt der Wirkung sei
XXII. Addenda 547
Euripides frg. 524, 2 hervorgehoben: "das licht legt den zwang auf sittsam zu
sein" (Usener 179); dazu noch Piaton Phil. 65e/66a: ήδονάς δέ γέ που και
ταΰτα σχεδόν τάς μεγίστας ... αυτοί τε αίςχυνόμεθα και άφανίζοντες
κρύπτομεν οτι μάλιστα, νυκτι πάντα τά τοιαύτα δίδοντες ώς φως ου
δέον όραν αυτά (Usener 179, Anm. 8 verweist auf Joh. 3, 19/21).
Vgl. Paul. Nol. epist. 39, 2 (CSEL 29, 336, Z. llff.) zum Gleichnis
vom Sämann (Mt. 13,18/23): itaque nos agrum suum dixit seque ipsum ostendit
in nobis vitae nostrae satorem, et animarum discrimina variis terrarum expressit
ingeniis, ne sterilis sit caveamus ... eqs.
S. 118:
Zur Frage der Komposition des Liber Cathemerinon sowie der einzel-
nen Cathemerina habe ich in Auseinandersetzung mit Jean-Louis Charlet Stel-
lung genommen: Gnomon 59 (1987) 299/310, bes. 300/03.
S. 119 unten:
S. 120:
Zur 19. Strophe (Prud. cath. 1,73ff.): Iam iam quiescant inproba, Iam
culpafiirva obdormiat... eqs. vgl. außer Ambr. hymn. 5 (Deus creator omnium)
2If.: Dormire mentem ne sinas, Dormire culpa noverit, ... eqs. auch Ennodius
im Abendhymnus (carm. 1, 10, 21f.): Hostisprocul sit callidus, Quod laedit,
illud d ο r mi at.
S. 136:
Zum ersten Satz s. oben S. 100, Anm. 18. Gerade weil Minucius sonst mit
Metaphern sparsam umgeht (vgl. Hans von Geisau, Art. M. Minucius Felix:
PW Suppl. 11 [1968] 952/1002 und 1365/78, hier 980, Z. 24ff.), fällt auf, wie
er sich hier zu kühner Bildlichkeit emporschwingt.
S. 137f.:
Die ersten beiden Strophen zeigen die dichterische und rhetorische Kühnheit
im Gebrauch des sprachlichen Mittels: dulci funere für somno und bustum
soporis. Aber der Dichter scheint sich hier noch auf der natürlichen Ebene zu
halten. Erst im Gebetsanruf an Christus gibt er den geistlichen Sinn von Licht,
Schlaf, Nachtzeit und Finsternis zu erkennen. An den beiden folgenden Ver-
sen (13f.) wird man nichts ändern wollen (mortis statt noctis in V. 14 vermutet
Wilhelm Härtel: CSEL 6, 540 im Apparat); absichtlich setzt der Autor das
Geistliche gegen das Natürliche, die Bedeutung gegen den Bedeutungsträger:
"keine Nacht", d.h. keine Sünde, möge uns unterwerfen in noctis atrae tegmine,
d.h. zur Nachtzeit (vgl. V. lf.: nigrante tectam pallio ... noctem). Thematisch
hat das Gedicht Verwandtschaft mit Ambrosius, Deus creator omnium (vgl.
oben zu S. 120) und mit Prud. cath. 6 (Hymnus ante somnum).
Anm. 11), indem er sich auf die Diskussion bei Umberto Eco, Semiotics and
the Philosophy of Language, London 1984, 87/129, bes. 104/06 beruft. Die-
sen Rettungsversuch kann ich schon deswegen nicht gelten lassen, weil sich
meine Einwände gegen den üblichen Gebrauch des Worts richten, wie er sich
nun einmal eingebürgert hat, und wie er durch die rhetorische Begrifflichkeit
seit der Antike festgelegt ist (kritisiert bei Eco 89f.). Zwar wird die Metapher
auch deswegen empfohlen, weil sie bisweilen treffender, deutlicher sei als das
nomenproprium (Quint, inst. 8, 6, 4: transfertur ergo nomen ... quia signi-
ficantius est; vgl. Cie. de orat. 3,158), aber abgekürzter Vergleich, der sie
ist, bleibt sie immer ein Element der Sprache, ohne daß die similitudo (Cie. de
orat. 3, 155/58; Quint, inst. 8, 6, 8) in einer Ontologie fest gegründet wäre.
Auf solcher Grundlage ruht aber das analogische Denken der Väter, und ich
kann nicht finden, daß sie durch die moderne Semiotik aufgehoben würde.
Vgl. jetzt Friedrich Ohly, Ausgewählte und neue Schriften zur Litera-
turgeschichte und zur Bedeutungsforschung, hrsg. von Uwe Ruberg und Diet-
mar Peil, Stuttgart/Leipzig 1995, S. 727/844 ("Zum Buch der Natur"), S. 845/
88 ("Das 'Buch der Natur' bei Jean Paul"). Das große Thema ist von verschie-
dener Seite beleuchtet worden, vgl. noch Ernst Robert Curtius, Das Buch als
Symbol: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München
19542 (198410), S. 306/52; Erich Rothacker, Das "Buch der Natur". Materia-
lien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte, aus dem Nachlaß heraus-
gegeben und bearbeitet von Wilhelm Perpeet, Bonn 1979 (entstanden in kri-
tischer Auseinandersetzung mit Curtius); Wolfgang Harms - Heimo Reinitzer
(Hrsgg.), Natura loquax. Naturkunde und allegorische Naturdeutung vom Mit-
telalter bis zur frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1981; Hans Blumenberg,
Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1981. Eine ebenso knappe wie
tiefe Begründung des Bildes aus christlicher Sicht gibt der hl. Franz v. Sales,
Traite de la predication, cap. 3 (in der von mir benützten Ausgabe: Oeuvres
completes de Saint Francois de Sales, tome 2, Paris 1839, p. 8):
Er läßt dann Schriftbelege folgen, beginnend mit Rom. 1, 20: invisibilia Dei
per ea quae facta sunt intellecta conspiciuntur; vgl. dazu den oben zu S. 94/
102 zitierten Aufsatz (Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 25) S. 52. Aus der
griechischen Patristik bringt Johann Caspar Suicerus in seinem Thesaurus
Ecclesiasticus, Amsterdam 17282, col. 689, s.v. βιβλίον, βίβλος II 3 einige
Belege (Hinweis Rainer Stichel). Ich füge hinzu Joh. Chrys. in 1 Cor. hom. 7,
4 (PG 61, 60): die Seele gelangt nicht von sich aus zu richtigen Einsichten;
bevor sie durch den hl. Geist erleuchtet wird, hat sie die Schöpfung άντί
βιβλίου vor sich: verläßt sie den ihr von Gott befohlenen Weg (nämlich durch
die Schönheit der sichtbaren Dinge den Schöpfer zu erkennen), stützt sie sich
auf ihre eigenen Schlüsse, dann gerät sie in ein Meer der Gottlosigkeit und
geht darin unter.
S. 140:
Das Wasser, das per. 12, 39 "glashell" heißt, ist im übrigen nicht das
Wasser "in einem Taufhaus", sondern das Wasser in einem Sammelbecken
zur Versorgung des Baptisteriums (von St. Peter); die Stelle ist im ersten Ban-
de behandelt: Prudentiana 1666/68.
S. 141:
19. 21). Die weitreichenden Thesen wirken umso herausfordernder, als sie,
nur von vagen Gedanken begleitet, ohne wirkliche Begründung bleiben: "Das
Christentum ... verdankt seinen Erfolg ... auch der Tatsache, daß es als ein
Kind zur Welt kam, das kulturell hellenistisch, politisch römisch war, in ei-
nem Wort: 'antik' im traditionellen Sinn dieses Wortes" (S. 10); "das Chri-
stentum ist von Geburt her antik" (S. 11); "schon das älteste Christentum (war
geprägt) von einer 'spätantiken Mentalität'" (S. 13); eine "Osmose" habe statt-
gefunden (S. 12, vgl. S. 20f.), eine "Symbiose" (S. 15. 20); "Bekehrung der
antiken Kultur" zum Christentum und "Bekehrung der Kirche zur antiken
Kultur" seien Thesen, die einander weniger widersprächen, als daß sie sich
ergänzten (S. 14 mit Anm. 28). Den Apologeten Minucius Felix sieht daher
Fontaine als Vertreter "eines harmonischen Dialogs" (S. 13). Bisweilen macht
Fontaine gewisse Konzessionen, aber nur, um sie gleich wieder durch gegen-
sätzliche Feststellungen auszuhöhlen. So heißt es etwa (S. 14): die Hauptfra-
ge, die sich dem Christentum stellte, war die: "durch die von alters über-
kommenen 'antiken' Ausdrucksformen hindurch, in denen seine Botschaft aus-
gedrückt und mitgeteilt war, das Wesentliche der Botschaft (Kerygma) zu be-
wahren" . Schön! Das klingt, als habe den Verfasser eine Ahnung der Chresis
überkommen. Aber weiter geht es so: "Und dies selbst, wenn es richtig ist,
daß man sich der Besonderheit des Christentums erst spät und allmählich,
zumindest auf der Ebene der Theorie, bewußt geworden ist". Was soll das
heißen? Von wem ist hier die Rede? Wer ist "man"? Was bedeutet "Theorie"?
Von solchen teils rätselhaften, teils ungeheuerlichen Behauptungen ist die gan-
ze Darstellung durchsetzt. Sie scheint dennoch Einfluß auf das Forschungs-
zentrum gewonnen zu haben, das Dölgers Ansätze fortzuführen und in gros-
sem Maßstab zu verwirklichen sucht. Denn in einer repräsentativen Veröf-
fentlichung, die das Unternehmen des F.J. Dölger-Instituts vorstellt, wird der
"Forschungsgegenstand" in Sätzen beschrieben, die stark an die Studie Fon-
taines erinnern: "In Verbindung mit dieser gezielten Auseinandersetzung, aber
durchaus davon zu unterscheiden, kam es zu einem viel breiteren, erheblich schwe-
rer faßbaren Verschmelzungsprozeß, indem beide Seiten in alltäglichen Be-
gegnungen unreflektiert und spontan Lebensweisen, Glaubensformen und Ein-
richtungen der je anderen übernahmen". Das klingt noch so, als seien bloß
Äußerlichkeiten, eben nur "Formen" gemeint. Aber kurz darauf heißt es, F.J.
Dölger habe sich nicht um die grundsätzliche Frage gekümmert, "in welchem
Sinne s c h o n d e r a p o s t o l i s c h e G l a u b e , wenn auch nicht gänzlich aus
der Antike abzuleiten, so doch ebenfalls n o c h A n t i k e w a r " . Und
schließlich erfährt man: "... neben dem dramatischen Entweder-Oder geziel-
XXII. Addenda 553
S. 146f.:
Tert. apol. 14,1: non dico qualessitis in sacrificando ..., cum deopimis
et integris supervacua quaeque truncatis ...: laudo magis sapientiam, quod
de ρ er dito aliquid eripitis (Carl Becker, Tertullian, Apologeticum, Mün-
chen 19612, 109: "... ich lobe es vielmehr, daß ihr vernünftig genug seid, der
V e r g e u d u n g etwas zu entreißen"); vgl. Justin, apol. 1,13, 1: Gott braucht
keine Blut-, Trank- und Rauchopfer, nach christlicher Überzeugung ist die
einzige Ehrung Gottes (aufgrund solcher Güter) τό τά ύπ' εκείνου εις δια-
τροφήν γενόμενα ού πυρι δ α π α ν ά ν, άλλ' έαυτοΐς και τοις δεομένοις
προσφέρειν. Zur Sache auch Aug. epist. 91, 5 (CSEL 34,430): haec mala ...
si... inpopulis ferveant, adorentur in templis, rideantur in theatris, cum his
victimasimmolant, vasteturpecusetiampauperum..., civitatesfloreredicuntur?
Prudentius steht also mit diesem Gedanken in einer apologetischen Tradition,
und die Verben perdere, perire begegnen in solchem Zusammenhang bei
Tertullian, Lactanz und Prudentius.
554 Prudentiana II. Exegetica
S. 147f.:
S. 150/52:
Vgl. auch Lact. inst. 5, 9, 17: (non de nostro, sed ex illorum numero
semper existunt) qui ne vitae quidem suae parcant, sed extinguendas publice
animas suas vendant... Das Simplexparare (gleich comparare, ital. comprare)
hat Juvenal öfters (vgl. E. Courtney, A Commentary on the Satires of Juvenal,
London 1980, 185 zu Juv. 3, 224). Compositum und Simplex gehören zur
Sprache der altchristlichen Inschriften, vgl. ILCV 3, 498. 564.
S> 157f.:
Allerdings wüßte ich unter den erhaltenen Fabeln keine, in der der Wolf das
Kalb mit einer Schmeichelrede zu betören versucht. Ähnlich immerhin ist fab.
XXII. Addenda 555
Aesop. Nr. 162 Hausrath (λύκος και αϊξ): der Wolf gibt sich besorgt um die
Ziege. Unpassende Assoziationen löste vitulus bei Carla DeSantis aus: Pru-
dentius' St. Vincent: a Study of Peristephanon 5: Collection Latomus 254
(2000) = Studies in Latin Literature and Roman History 10,443/63, hier 450:
mit der bugonia in Vergils Georgica hat der Tod des hl. Vinzenz nichts zu tun.
S. 160f.:
Alles fällt in sich zusammen, die Idole werden unter den Trümmern des Götzen-
tempels begraben: absichtsvoll setzt der Autor aras, statuas zwischen tigna
und caementum, saxa, metallum.
S. 162f.:
Die Verse Juv. 1, 85f. tilgt James Willis (Teubneriana 1997) nach dem
Vorgang A. Scholtes (1873) - womit ein weiterer Beweis dafür gegeben wäre,
daß die spätantiken Dichter einen interpolierten Juvenal lasen (vgl. oben zu S.
1). Verteidigt wird das Verspaar wiederum von Christine Schmitz (wie oben
zu S. 1) 36f. Nicht nur Prudentius, auch Dracontius kannte es, vgl. Drac.
satisf. 15f.:
556 Prudentiana II. Exegetica
Friedrich Vollmer notiert hierzu Juvenal (MGH a.a. 14, 114), F. Speranza
Juvenal und Prudentius (Blossi Aemili Draconti satisfactio una cum Eugeni
recensione, ed. Felicianus Speranza, Roma o.J. [1978] = Biblioteca di Helikon.
Testi e Studi 9,6). Auch Dracontius füllt, wie (Ps.?)Juvenal, nach dem Hemiepes
quidquid agunt homines den Vers durch eine viergliedrige Asyndetareihe. Das
hier aufgeworfene Problem hat allgemeine Bedeutung und betrifft auch die
Prudentiuskritik. Es ist für die Klassikertexte längst erwiesen, daß auch die
interpolierten Passagen in den Strom der Rezeptionsgeschichte eintauchen.
Aus der Tatsache, daß etwa Prudentius unechte Vergil- oder Juvenalverse
aufgreift, wird niemand ohne weiteres einen Beweis der Echtheit dieser Zeilen
machen wollen (s. Prudentiana 1668 zu 223). Dasselbe gilt nun aber auch für
den interpolierten Prudentius selbst. Denn für die Nachfahren ist der Gesamt-
bestand des überlieferten Texts mit der Autorität des Vorbilds ausgestattet.
Dafür liefert Eugenius ein merkenswertes Beispiel (Hinweis M. Mülke). Er
benutzt die Eingangsworte des pseudo-prudentianischen Hymnus de trinitate
(= apoth. praef. 1, verdächtigt übrigens auch von Johan Bergman, Prudentius.
Der größte christliche Dichter des Altertums I, Dorpat 1921, 70: "vielleicht
eine Interpolation"), um seinen epigrammatischen Lobpreis des Friedens zu
pointiertem Abschluß zu bringen (carm. 4, 13f.: MGH a.a. 14, 235):
Vollmer zitiert mit Recht im Similienapparat Prud. apoth. praef. 1, [1]: Est
tria summa deus ... eqs. Eugenius rückt die Junktur tria summa zwischen pax
und deus, so daß sich eine Art geschlossener Stellung ergibt, und wiederholt
das ganze Wortgefüge in der zweiten Pentameterhälfte, schließt also mit ei-
nem echoischen Distichon. Offenbar gefiel ihm die Paradoxie der Verbindung
der singularischen Formen pax und deus mit der pluralischen tria summa.
Aber die Bedenken, die sie in theologischer Hinsicht auslöst (s. Prudentiana I
468/70), werden durch die Nachahmung des Bischofs von Toledo nicht ge-
löscht, wie sie denn, aus angegebenem Grunde, für die Echtheitskritik nichts
besagt. Der Fall des Eugenius ist deswegen interessant, weil wir die Absichten
und die Möglichkeiten seiner Kritik dank der Redaktion, die er am Dracontius-
XXII. Addenda 557
text vornahm, beobachten können. Hier zeigt sich zunächst, daß Echtheits-
kritik ganz außerhalb seines Gesichtskreises lag. Die Frage, ob echt oder un-
echt, spielt für seine Rezension des Dracontius gar keine Rolle, davon ist dort,
wo er die Prinzipien seiner Textbearbeitung entwickelt, in der prosaischen
und in der metrischen Praefatio (MGH a.a. 14, 27), nicht die Rede. Erst recht
nicht wird er solchen Maßstab an den Prudentiustext angelegt haben, und da
der Hymnus de trinitate schon in der spätantiken Überlieferung festsitzt, deren
erhaltene Zeugen etwa hundert Jahre älter sind als Eugenius, darf hier ein
echtheitskritischer Zweifel von seiner Seite nicht im mindesten erwartet wer-
den. An theologisch bedenklichen Passagen bei Dracontius hat er gelegentlich
Anstoß genommen (s. Prudentiana I 658 zu 121), ohne doch in dieser Bezie-
hung konsequent zu verfahren.
S. 163 f.:
S. 164f.:
S. 166f.:
Paul. Nol. carm. 31, 505/08 (in Anwendung der Geschichte vom armen
Lazarus):
S. 167f.:
S. 176f.:
Und dementsprechend heißt es bei Prud. cath. 9,5: (David Christum adfiiturum)
concinebat voce, corda et tympano. Aber natürlich nicht gleichzeitig. Ennodius
versucht, das zu erklären: er will das Tamburin betätigen conpositis... cordis,
d.h. das gestimmte Saiteninstrument schon bereit halten. Anders Wolfgang
Dieter Lebek: Deklamation und Dichtung in der Dictio Ennodi diaconi quando
de Roma rediit, in: Glenn W. Most - Hubert Petersmann - Adolf Martin Ritter
(Hrsgg.), PHILANTHROPIA KAI EUSEBEIA, Festschrift Albrecht Dihle,
Göttingen 1993, 264/99, hier 290f.
Das Material findet man am besten bei Johannes Quasten, Musik und
Gesang in den Kulten der heidnischen Antike und christlichen Frühzeit, Mün-
ster 1930 (Aalen 1964, Münster 1973) = Liturgiegeschichtliche Quellen und
Forschungen 25, 78/110; 186/89. Das Problem des usus proprius ist Chresis
II 155/65 in größerem Zusammenhang dargestellt; zur Instrumentalmusik ebd.
159/62 (hier auch weitere Literatur).
S. 177/79:
Über den Gesang als Ausdruck der κοινωνία, ομόνοια vgl. auch Qua-
sten (wie oben zu S. 177) 114f., Wille (wie oben zu S. 91) 372f. und die
Textsammlung, die James McKinnon (in englischer Übersetzung) vorgelegt
hat: Music in Early Christian Literature, Cambridge 1987'; hier etwa Nr. 131
(S. 65f.), Nr. 276 (S. 126f.), Nr. 284 (S. 129) - diese zu stark verkürzt (der
Text in vollerem Umfang oben S. 178).
S. 179/81:
S. 181:
Zur Athetese des Verses psych. 309 und zum Bilde der im Himmel woh-
nenden Tugenden s. Prudentiana 1675/77. Aus den zitierten Versen psych. 642f.
XXII. Addenda 561
darf nicht gefolgert werden, daß den T u g e n d e n erst jetzt der Himmel offen
stehe: famuli (psych. 643: famulis) sind die Christen, vgl. psych. 55f.: Nec
iam mortiferas audebis spargere flammas Infamulos famulasque dei... eqs.
(Pudicitia spricht, über Libido triumphierend); das ist übliche Ausdrucksweise
(Bergman, Ausgabe der Psychomachie, Upsala 1897, ad loc.: "solita de
christianis expressio"), s. cath. 3, 171; 8, 7; 10, 18. (166); per. 3, 27 sowie
per. 6, 119 und per. 11, 61 (von Märtyrern), tituli 34 (von den Israeliten).
Christus öffnet seinen D i e η e r n, die im Gefolge der Tugenden den Sieg
erfochten haben, den Himmel (patrium ... profundum, i.e. profundum Patris,
s. Lavarenne, Etude § 904).
S. 182, Ziffer 3:
S. 183/85:
S. 195/98:
S. 198:
S. 198:
S. 199:
S. 203:
Anders als praef. 36 (voce, opp. mentis) lautet der Gegensatz im Schluß-
gebet der Psychomachie (psych. 889ff.):
Die Zeilen geben ein ernstes Zeugnis der 'Mündlichkeit' des Gebets. Nicht
bloße Lippenfrömmigkeit wird empfohlen: der Gegensatz von os und cor ent-
springt dem demütigen Bekenntnis der Sündenschuld. Nur das os darf pium
heißen, weil nur die Worte des Betenden rein sind.
Lactanz behandelt innerhalb einer Darstellung der fünf Sinne und ihrer
voluptates die Poesie und die Kunstprosa unter der Rubrik der voluptas aurium
(inst. 6, 21, 1/12). Wir würden erwarten, daß er hier besonders der Musik
Rechnung trägt. Aber die Instrumentalmusik, d.h. Blas- und Saiteninstrumen-
te, macht er kurz ab (6, 21, 3). Alles, was ohne Worte klingt, scheint ihm
ungefährlich: nam ilia omnia quae verbis carent, id est aeris et nervorum
suaves soni possunt facile contemni, quia non adhaerent neu scribi pos-
s unt. carmen autem compositum et oratio cum suavitate decurrens capit
mentes et quo voluerit inpellit. Ein starkes Zeugnis für die Lauthaftigkeit der
antiken Literatur!
Daß ich "das rhetorische Umfeld" der Praefationes Claudians nur an-
deutete, kritisiert Fritz Felgentreu, Claudians praefationes. Bedingungen, Be-
schreibungen und Wirkungen einer poetischen Kleinform, Stuttgart/Leipzig
1999 = Beiträge zur Altertumskunde 130, S. 8, Anm. 21. Er verfolgt die
Entwicklung der praefatio, wobei besonderer Wert auf die rhetorische προλαλιά
gelegt wird (39/57). Vgl. dazu auch Wolfgang Kirsch, Die lateinische Versepik
des 4. Jahrhunderts, Berlin 1989 = Schriften zur Geschichte und Kultur der
Antike 28, S. 86, Anm. 121.
S. 214:
Wie der Sprechvortrag in den Gesang übergehen konnte, zeigt die Wech-
selwirkung zwischen Predigt und Hymnos in der kirchlichen Liturgie; s. Rai-
ner Stichel, Homiletik, Hymnographie und Hagiographie im frühbyzantinischen
Palästina, in: Wolfram Hörandner - Johannes Köder - Otto Kresten (Hrsgg.),
ΑΝΔΡΙΑΣ. Festschrift Herbert Hunger, Wien 1994 = Jahrbuch der Österrei-
XXII. Addenda 565
chischen Byzantinistik 44, 389/406, bes. 402 mit der weiterführenden Litera-
tur in den Anmerkungen.
Auch Lactanz setzt die Partikeln ergo und igitur ein, um nach einem
Zitat den eigenen Text weiterzuführen, s. Marion Lausberg, Untersuchungen
zu Senecas Fragmenten, Berlin 1970 = Untersuchungen zur antiken Literatur
und Geschichte 7, 187f. mit Anm. 5 (Belege). Bei Seneca selbst vgl. etwa das
ergo, mit dem dial. 2, 6, 8 der Autor nach der fingierten Rede Stilbons wieder
das Wort an sich nimmt.
566 Prudentiana II. Exegetica
S. 229:
Daß dort, wo nach dem Auftritt einer Personifikation der Autor wieder
das Wort ergreift, der Wechsel der Person weniger auffällt als zu Beginn der
Einlage, zeigt Ps.Sall. rep. 2, 13: quodsi tecum patria atque parentes possent
loqui, scilicet haec tibi dicerent: ο Caesar, no s te genuimus ... eqs. (13, 1).
Der Schriftsteller kommt wieder mit den beiden letzten Sätzen zu Wort: quae
mihi utilissima factu visa sunt... perscripsi. ceterum deos immortales optestor,
ut... eqs. (der Wechsel im Numerus vollzieht sich hier, durch die Mehrzahl
der fingierten Redner bedingt, anders als in der Relatio des Symmachus - s.
oben S. 225 - vom Plural zum Singular). Diese beiden Sätze sind bei Alfons
Kurfess (Teubneriana 19626) durch Absatz hervorgehoben. Mit Recht. Denn
zuvor bringen sich die Redenden noch einmal selbst in Erinnerung (13, 6:
quodsi tibi bona lubido fueritpatriaeparentibusque gratificandi... eqs.), und
auch den Ruhm können in solchem Ausmaß (ibid.: super omnes mortales gloriam
agitabis) nur höhere Autoritäten verheißen. Und doch sind die Ermahnungen
(13,4/7) so sehr im Sinne des Verfassers gesprochen, daß, nachdem die letzte
Pluralform verklungen (13, 3: ... a te ... ρ e t i m u s ... utei libertatem
eversam restituas), die Umrisse der Gestalten verschwimmen.
S. 233, Anm. 6:
Mehrere Passagen aus Prudentius, darunter auch einige aus dem ersten
Buch c. Symm., zitiert Arthur H. Weston, Latin Satirical Writing subsequent
to Juvenal, Diss. Yale University, Lancaster/Pa. 1915, 43/56. Das Buch
Peristephanon hält er für unergiebig (43) - nicht ganz zu Recht; vgl. auch
oben S. 251 f., unten zu S. 253 und Robert Levine, Prudentius' Romanus: The
Rhetorician as Hero, Martyr, Satirist, and Saint: Rhetorica 9, 1 (1991) 5/38,
XXII. Addenda 567
bei dem freilich "the ludic element" eine ungebührlich große, schwer faßliche
Rolle spielt; der Verfasser mischt Dinge, die nicht vergleichbar sind.
James Willis hat für seine Teubneriana Juvenals (1997) eine Sammlung
der "Testimonia Juvenaliana" erstellt, die jedoch, von der Ausgabe getrennt,
noch immer der Publikation harrt.
Scaligers Begriff der 'satura tragica* wurde auch von Ludwig Friedlän-
der im Juvenalkommentar, Leipzig 1895 (Darmstadt 1967) 47f. und von Knoche
(wie oben S. 233, Anm. 6) 94 beifällig aufgenommen. Christine Schmitz (wie
oben zu S. 1) 38/50 verfolgt jetzt den Gesichtspunkt in einem Kapitel über
"Juvenals satura cothurnata".
Zur Kritik am tumor tragicus in der Komödie (Gell. 2, 23, 21) und umge-
kehrt zum Tadel der μετάβασις εις τό άλλο γένος in der Tragödie s. Rainer
Jakobi, Die Kunst der Exegese im Terenzkommentar des Donat, Berlin-New
York 1996 = Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 47, 127/32.
Nachdem Cotta bei Cicero nat. deor. 3, 67 durch Zitate aus Accius die
Verbrechen der Medea, des Atreus und des Thyestes in Erinnerung gebracht
hat, fährt er fort (3, 69): nec vero scaena solum referta est his sceleribus, sed
multo vita communis paene maioribus.
S. 245:
Daß das Affektische bei Juvenal auf Berechnung beruhe und sich oft in
Lächerlichkeit auflöse, betont auch Jürgen Baumert, Identifikation und Di-
568 Prudentiana II. Exegetica
stanz. Eine Erprobung satirischer Kategorien bei Juvenal, in: Wolfgang Haase
(Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, II 33, 1, Berlin-New
York 1989, 734/69, hier 755f. Aber er räumt ein (755): "Scaligers Wort von
den satirae tragicae ist nicht falsch". Dagegen sucht Warren S. Smith, Heroic
Models of the Sordid Present. Juvenal's View of Tragedy (im gleichen Sam-
melband 811/23, hier 811/15), der juvenalischen Satire den 'tragischen' Cha-
rakter zu nehmen. Aus den Versen Juv. 6, 634/37 - zitiert oben S. 242 - hört
er nur eine Ablehnung (812: "a disclaimer") der Tragödie heraus. Was jedoch
Juvenal dort ablehnt, ist der Vorwurf der poetischen E r f i n d u n g seiner
Themen. Daß die Themen an die Tragödie erinnern, leugnet er gerade nicht:
der Vorwurf, er spiele den Sophokles, ist nicht aus der Luft gegriffen. Die
Verse Pers. 5, 1/21, die Smith (813) vergleicht, sind in diesem Punkte nicht
vergleichbar.
Jürgen Blänsdorf (FPL 19953, p. 336) fügt noch - aus Serv. georg. 3,
325 - einen Vers hinzu ( = Turnus frg. 2), der zwar für den 'juvenalischen'
Charakter nichts ergibt, doch hohe Stillage andeutet: et matutinis lucentes roribus
herbae.
S. 247/53:
S. 247/49:
Vgl. Aug. doctr. christ. 4, 19, 38 (106 Green: CSEL 80, 146f.): at si
non colatur (sc. Deus) aut cum illo vel etiam prae illo colantur idola sive
daemonia sive quaecumque creatura, quantum hoc malum sit atque ut ab hoc
malo avertantur homines, debet utique granditer dici.
S. 247f.:
Der Artikel ist inzwischen erschienen: Georg Luck, Art. Humor: Real-
lexikon für Antike und Christentum 16 (1994) 753/73, zu den Vätern 767/70.
Er zeugt von der Schwierigkeit, das schillernde Thema in lexikographischer
Arbeit zu erfassen. Vgl. auch Willy Evenepoel, Saint Paulin de Nole, carm.
18, 211-468: Hagiographie et humour, in: La narrativa cristiana antica, XXIII
Incontro di studiosi dell'antichitä cristiana, Roma 5-7 maggio 1994, Roma
570 Prudentiana II. Exegetica
S. 250f. 261f.:
Zum Sarkasmus bei Tertullian s. die Hinweise bei Luck (wie oben zu S.
249) 767f.
S. 253:
Ein Muster des σαρκασμός bei Prudentius selbst ist die Rede des Schü-
lers, der die Folter des Lehrers als Erfüllung seiner eigenen Anweisungen
deutet: per. 9, 69/82. "Hagiographische Komik" ist das nicht - so Magdalen
Bless-Grabher, Cassian von Imola, Bern 1978 = Geist und Werk der Zeiten
56, 57 - , wohl aber eben "Sarkasmus" in Reinform (auch dieses Wort bei
Bless-Grabher a.O.).
XXII. Addenda 571
S. 258:
S. 260/62:
S. 269:
Längung ob caesuram ist auch bei Horaz carm. 1, 13, 6 beseitigt wor-
den: Tum nec mens mihi nec color Certa sede manet (manent, v.l.), umor et in
genas Furtim labitur ... eqs. Zu manet/manent (der Plural gegen den lateini-
schen Sprachgebrauch) vgl. Bentley ad loc.: "Mutatum est ab eruditulis: qui
tarnen nesciebant brevem syllabam in versus caesura potestatem longae habere
posse. Carm. 2, 13, 16 Caeca timet aliunde fata"; s. ferner Prudentiana I
253f., Anm. 90, wo auf c. Symm. 2, 45 Bezug genommen wird.
572 Prudentiana II. Exegetica
S. 273f.:
S. 281:
S. 286f.:
Der sog. "Identitätsfrage", d.h. der Frage, ob Gottheit und Bild iden-
tisch seien, geht Tanja S. Scheer nach: Die Gottheit und ihr Bild. Untersu-
chungen zur Funktion griechischer Kultbilder in Religion und Politik, Mün-
chen 2000 = Zetemata 105, bes. 44/130. Die Verfasserin sammelt Belege, die
für die Identität sprechen, führt dann gegenteilige Momente an, vor allem die
offenkundige Materialität des Bildnisses. Sie löst das Aporem (115/30) durch
"das Modell einer zeitweiligen Präsenz der Gottheit in ihrem Bild" (120), für
sie ein "schlüssiges Modell" (304). Das ist es auch, ich würde es befürworten,
wenn es darum ginge, den Götterkult wieder einzuführen.
XXII. Addenda 573
Prudentius muß also Gemälde gesehen haben, die Attis zeigten "in dem
tragischen Moment seiner Entmannung": Maarten J. Vermaseren - Margreet
B. De Boer, Art. Attis: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae
(LIMC), Bd. 3,1, Zürich 1986, S. 22/44, hier S. 43. Zu vergleichen sind Nr.
312/18, etwa die Marmorstatue des liegenden Attis im Vatikan (Nr. 312) und
das Marmorrelief aus Ostia (Nr. 316); die Abbildungen Bd. 3, 2, S. 36 bzw.
37. Auch eine Terrakotta-Statue aus Zypern gehört hierher (Nr. 141: "Attis
stehend mit Genitalien und Messer in den Händen"). Ein Hinweis auf die
Prudentiusverse und damit auf die Behandlung des Themas in der Malerei
fehlt im Lexicon.
S. 295:
S. 297f.:
Für die Existenz des Gemäldes stimmt auch Jean-Louis Charlet, Les
poemes de Prudence en distiques elegiaques, in: Giuseppe Catanzaro (Hrsg.),
La poesia cristiana latina in distici elegiaci = Atti del convegno internazionale,
Assisi 20-22 marzo 1992, Assisi 1993,135/66, hier 148/50. Zuletzt wurde die
passio Hippolyti samt der εκφρασις besprochen von Geraldine Viscardi, La
vision du martyre de saint Hippolyte ou la mortification transfigure: Prudence,
Peristephanon 11: Latomus 56 (1997) 360/81. Leider hat die Willkür hier
geradezu Methode. Die Methode besteht darin, gleiche oder ähnliche Wörter,
Ausdrücke, Motive aus verschiedenen Zusammenhängen zu kombinieren, um
dadurch dem behandelten Text symbolischen Sinn zu unterlegen: der furor der
scheuenden Pferde (112), vom Dichter in insgesamt acht Versen auf natürliche
Ursachen zurückgeführt (89/94 und 107f.), wird mit dem Wüten des götzendie-
574 Prudentiana II. Exegetica
nerischen Präfekten assoziiert und soll daher dämonisch sein (S. 372); das
unwegsame Gelände, durch das sie rasten, symbolisiert für Geraldine Viscardi
die Abwege der Sünder - wie im Zwei Wege-Bild c. Symm. 2, 847/909 (S.
372); in der Art der Passion erblickt die Verfasserin eine talionsähnliche Stra-
fe: der Dichter selbst freilich, weit entfernt von solcher Theorie eines "chätiment
emblematique" (S. 373), rühmt das Martyrium als hohe Auszeichnung und
herrlichen Lohn (21 f.). Bei Prudentius hat die Junktur liquidis ... umbris (125)
technische Bedeutung für die Malerei (s. oben S. 293, Anm. 91), aber Viscardi
fühlt sich an eine Feststellung über das Seelenauge erinnert: Liquidis videndis
aptus est animae liquor (per. 10, 438) und wähnt in solcher Kombination den
Schlüssel zum Verständnis der Bildbeschreibung gefunden zu haben, ja mehr:
"la clef de cet univers esthetique" (S. 379). Den falschen Grund für ihre Spe-
kulationen hat sich die Verfasserin gleich eingangs (S. 363) durch willkürliche
Annahme einer Ambivalenz des Ausdrucks multicolorfucus (124) gelegt. Wenn
aufgrund solcher Textanalysen schließlich auch die Realität des beschriebenen
Kunstwerks in Frage gestellt wird, wird das niemanden mehr wundern (S.
378). Viscardi beruft sich für ihre Interpretation wiederholt auf John Francis
Petruccione, Prudentius' Use of Martyrological Topoi in Peristephanon, Diss.
University of Michigan 1985, aber auch - mit Einschränkungen (S. 371, Anm.
56) - auf das entsprechende Kapitel in dem Buch von Martha A. Malamud, A
Poetics of Transformation. Prudentius and Classical Mythology, Ithaca/Lon-
don 1989, 79/113 ("A mythical martyr"), auf Michael Roberts (wie oben zu
S. 137) und auf andere: mit welchem Recht, soll hier nicht gefragt werden. Ich
sage nur: gehen wir in dieser Richtung weiter, werden wir den Boden unter
den Füßen verlieren.
Einzelne Übernahmen aus Senecas Phaedra sind vermerkt auch bei Rai-
ner Jakobi, Der Einfluß Ovids auf den Tragiker Seneca, Berlin/New York
1988 = Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 28, 86/88 zu
XXII. Addenda 575
Zum Tod des Hippolytus in der bildenden Kunst s. jetzt Pascale Linant
de Bellefonds, Art. Hippolytos I: Lexicon iconographicum mythologiae classicae
(LIMC), Bd. 5, 1, Zürich 1990, S. 445/64, hier S. 457/59, dazu die Abbildun-
gen Bd. 5, 2, S. 325/27. Zu den apulischen Vasen des 4. Jh. v.Chr. und
etruskischen Urnen des 2. Jh. ν. Chr. kommen Fragmente attischer Sarkopha-
ge des 3. Jh. n.Chr. (Nr. 117/20). Außer dem Gemälde des Antiphilos (Nr.
106) und dem bei Philostrat beschriebenen (Nr. 115) erhalten auch die
Prudentiusverse eine eigene Nummer (Nr. 116): "Peinture mentionnee par
Prud. c. Symm. 2, 49-56" - nicht ganz zu Recht, weil der Dichter hier nicht
von einem bestimmten Gemälde spricht, sondern von malerischer Behandlung
des Themas im allgemeinen. Denselben Fehler beging Reinach (s. oben S.
298, Anm. 106), begeht die Verfasserin eines neueren Prudentiusbuchs:
"Prudentius himself describes a similar painting of Hippolytus from the temple
of Diana Trivia in the Contra Symmachum ..." (Malamud [wie oben zu S.
297f.] 87), begeht auch Charlet (wie oben zu S. 297f.) 149, Anm. 37: "Prudence
fait allusion ä une repr6sentation figuree de la mort d'Hippolyte en C. Symm.
2, 53-56".
576 Prudentiana II. Exegetica
Man darf nicht vergessen, daß Prudentius selbst das gleiche Wortspiel
anwendet, und zwar im Hinblick auf die hier (c. Symm. 2, 61) angeredete
Roma (c. Symm. 1, 220): nomenque loci ceu numen habetur, vgl. Prudentiana
I 193 mit Anm. 24. Daraus folgt auch, daß hier die Anrede ditissima Roma
den Sinn des Numinosen abgestreift hat und etwa in der c. Symm. 1, 569/72
definierten Bedeutung zu verstehen ist; s. darüber oben S. 373.
S. 304/12:
Zustimmend zu der Auffassung, daß Altar und Bild der Victoria stets
ein gemeinsames Schicksal hatten, äußern sich Döpp (wie unten zu S. 312f.)
298, Anm. 3 und Willy Evenepoel, Ambrose vs. Symmachus. Christians and
Pagans in AD 384: Ancient Society 29 (1998-99) 283/306, hier 284, Anm. 3.
S. 312f.:
se Kommunikation - Formen und Praxis vor der Neuzeit. Stätten und Formen
der Kommunikation im Altertum VI, Trier 1997 = Bochumer Altertums-
wissenschaftliches Colloquium 26, 271/300. Auch Döpp löst den Anlaß des
Gedichts von der Person des Symmachus; er bezieht die renovata luis auf
Aktivität der heidnischen Opposition (277), rechnet aber auch mit einem "kon-
kreten Geschehen" (286). Die Weichen rechten Verständnisses werden vom
Dichter gleich eingangs gestellt: im Übergang von der ersten Praefatio zum
ersten Hauptgedicht. Praefatio I und Prooem zu Buch I verlangen eine kom-
plementäre Interpretation. Die Praefatio nennt den Gegner, der den Anschlag
auf den Glauben verübt, das Prooem legt das Geschehen zeitlich fest. Der
Angreifer ist S y m m a c h u s , das Aufleben des Heidentums gehört in die Zeit
n a c h den theodosianischen Edikten gegen das Heidentum (c. Symm. 1,1/8).
Man darf diese Angaben nicht trennen. Die prudentianischen Praefationes sind
jeweils sehr genau auf das Hauptgedicht zugearbeitet. Und folgerichtig wird
die Linie ausgezogen. Buch I führt Entstehung und Entwicklung des Götzen-
dienstes vor und mündet in die Darstellung der Bekehrung Roms, die sich
dank der Gesetze des Theodosius vollzieht (506ff.). Am Schluß (622ff.) kehrt
der Autor wieder energisch zu Symmachus zurück: er erwähnt das ihm von
Theodosius gewährte Konsulat (622f.); preist seine Rednergabe (632ff.); be-
kennt, ihr nicht gewachsen zu sein (643ff.); lobt sein berühmtes Buch (648f.:
die sog. dritte Relatio); erklärt aber, die Verteidigung des Glaubens aufneh-
men zu wollen (650/55): Nam si nostra fides saec lo i am tut a qui et ο
Viribus infestis hostilique arte petita est, Cur mihi fas non sit... eqs.? (652/
54). Das saeclum quietum kann nach der langen voraufgehenden Schilderung
nur die Ära des Theodosius sein bzw. die Epoche der durch ihn und seine Ge-
setze erreichten Sicherung des christlichen Glaubens. Damit ergibt sich ein
fester, geschlossener Rahmen des Ganzen: am Ende wie am Anfang des ersten
Buchs wird festgestellt, daß der Angriff vorgetragen wurde, n a c h d e m
Theodosius durch seine antiheidnischen Maßnahmen gewirkt hatte. Und am
Ende des Buchs wie in der Praefatio wird S y m m a c h u s als der Ruhestörer
und Attentäter gekennzeichnet. Vollkommene Fortsetzung findet diese Linie
dann, wenn zu Beginn des zweiten Buchs - nachdem die zweite Praefatio
wieder die übermächtige Redegewalt des Gegners vorgestellt hatte (44/66) -
Symmachus vor die S ö h n e des Theodosius tritt (7/66), wenn Roma unter
Hinweis auf den Sieg bei Pollentia die Abweisung des heidnischen Gesandten
fordert (769/72) und das ganze Gedicht mit einer Paränese an Honorius schließt,
das Werk des Vaters zu vollenden (1114ff.). Gewiß: Prudentius führt eine
prinzipielle Auseinandersetzung. Gewiß: er entwickelt einen christlichen Rom-
578 Prudentiana II. Exegetica
gedanken. Gewiß: das Heidentum lebt nicht nur in dem einen Symmachus
fort. Gewiß: Prudentius mischt Literarisches und Historisches (Symmachus
kann zum Beispiel - wie oben S. 274, Anm. 28 bemerkt - nicht realiter vor
beiden Kaisern erscheinen, diese können ihm nicht aus einem Munde antwor-
ten). Das alles bestreitet ja auch niemand! Aber man darf den historischen
Faden, der das ganze Gedicht von Anfang bis Ende durchwirkt, nicht an einer
Stelle abreißen. Symmachus selbst muß - wie immer man sich das im Fakti-
schen vorzustellen hat, welche Rolle der Text der Relatio des Jahres 384 dabei
gespielt haben mag - unter Honorius nochmals im Sinne seiner Sache tätig
geworden sein. Die weitergehenden Vermutungen, die ich oben S. 313/17
dazu äußerte, erscheinen mir immer noch plausibel. Den Einwand Döpps (285),
der Angelegenheit des Victoria-Altars "seien nur etwa drei Prozent der Verse
(60 von 1944) gewidmet", kann ich nicht gelten lassen; seine eigene Vermu-
tung jedenfalls, Prudentius habe sich vielleicht Sorgen gemacht, "daß ein Mann
wie Claudian ... von Honorius als Hofdichter nach Mailand berufen worden
sei" (286f.), hat null Prozent der Verse für sich. Das prudentianische Gedicht
ist eine historische Quelle: die einzige in diesem Falle, gewiß, aber eben doch
eine Q u e l l e . Letzten Endes steht hier die Glaubwürdigkeit des Dichters und
seines kulturpolitischen Manifests auf dem Spiel.
S. 320, Anm. 8:
Min. Fei. 38, 6: non eloquimur magna, sed vivimus wird aufgenommen
von Cyprian patient. 3: non loquimur magna, sed vivimus. Vgl. auch Prud. c.
Symm. 2, 121f.: quod sumus et quod Vivimus.
Vgl. auch Cassiod. anim. 18 (CCL 96, 575, Z. 49f.): tempera, bone
artifex, Organum corporis nostri ut harmoniae mentispossit aptari... eqs.
XXII. Addenda 579
S. 321:
Hier (573ff.) ist quod teils inneres Objekt, teils äußeres (574. 579), und in vier
Gliedern der Reihe tritt zum inneren Objekt quod ein äußeres hinzu: flumina
quod mittunt fontes (576), quod pelagi trahit unda fretum, quod litora tundit
(577), murmure quod ventiflantes vaga marmorn crispant (578). Vgl. auch
laud, dei 2, 6 (innerhalb ähnlicher Aufzählung): pendula quod tremula vibrant
face sideraflammas.
S. 327:
S. 327/36:
S. 328:
und ihre Sehnsucht nach dem Märtyrertod aus der römischen und stoischen
Hochschätzung des Selbstmords [!] her - in Verkennung der ganz anderen
(religiösen) Grundlagen solchen Wunsches: G.W. Bowersock, Martyrdom and
Rome, Cambridge 1995, 59/74, bes. 59f. Ebenso vermißt man bei Curtius
(wie oben zu S. 137) 425/28 ("Hagiographische Komik") den Blick für Grund
und Wesen christlicher Heiterkeit. Auch das berühmte Distichon des hl. Lau-
rentius auf dem Rost (Ambr. off. 1, 41, 207: assum est, versa et manduca;
vgl. Prud. per. 2, 397/408 - im Zusammenhang mit der folgenden Strophe
409/12!) wird erst aus solcher Tiefe verständlich.
S. 331f.:
Basil, hom. 19 (in quadraginta martyres), 2 (PG 31, 509 B/C): μάλλον
δέ τί δει τάς χαμαι κειμένας (sc. πατρίδας) περιζητεΐν, εξόν την νυν
αυτών πόλιν, ήτις εστίν, έννοεΐν. πόλις τοίνυν μαρτύρων ή πόλις έστι
του Θεοΰ· ής τεχνίτης και δημιουργός ό Θεός, ή ανω 'Ιερουσαλήμ ή
ελευθέρα, ή μήτηρ Παύλου (Gal. 4, 26) και των έκείνω παραπλήσιων.
Vgl. auch Cypr. mortal. 26 (CCL 3 A, 31f.); Greg Nyss. vita Greg. Thaum.
(GNO 10, 1, p. 5, 5/7): τω δέ καθ' ήμας λόγω μία τετίμηται πατρίς, ό
παράδεισος ή πρώτη του γένους τών άνθρώπων έστία, μία πόλις, ή
επουράνιος ή δια τών Ζώντων λίθων συνωκισμένη, ... κτλ. Den ganzen
Ernst solcher Äußerungen begreift man erst im Zusammenhang mit dem oben
S. 332, Anm. 43 zitierten Herrenwort (Mt. 23, 9). Cyprian domin. orat. 9
(CCL 3 A, 94) kombiniert es mit einem anderen: ... Dominus in evangelio suo
praecepit (Mt. 23, 9) ne vocemus nobis patrem in terra, quod sit scilicet nobis
unus pater qui est in caelis. et discipulo qui mentionem defuncti patris fecerat
respondit (Mt. 8,22): 'sine mortui mortuos suos sepeliant'. dixerat enimpatrem
suum mortuum, cum sit credentium pater vivus. Vor diesem Hintergrund wird
deutlich, daß jener ägyptische Märtyrer, von dem Eusebius erzählt, nicht etwa
aus purem Trotz bei seiner Antwort blieb.
S. 336:
Ein gutes Beispiel bietet auch der Wortwechsel zwischen dem Praefekten
Maximus und dem Veteranen Julius (pass. Iul. 3,2f.: p. 262 Musurillo): Iulius
respondit: Si hoc meruero pati, perpetua me laus manebit. Maximus dixit:
582 Prudentiana II. Exegetica
S. 340f.:
S. 348/52:
S. 356:
chael Hillgruber, Die Kunst der verstellten Rede. Ein vernachlässigtes Kapitel
der antiken Rhetorik: Philologus 144 (2000) 3/21, bes. 14/16. Das Eigentümli-
che liegt aber hier darin, daß der verhüllte Sinn vom Redner selbst später
aufgedeckt wird und daß darin überhaupt der Zweck seiner figürlichen Rede-
weise besteht: eine reale Analogie zum Ausdruck, ja zur Anschauung zu brin-
gen (s. oben S. 350).
S. 359:
Zu per. 2, 318 cavillo mimico vgl. Poetae Comici Graeci, edd. R. Kas-
sel et C. Austin, vol. I, Berlin/New York 2001, Sophron, test. 12, p. 189.
S. 360f.:
S. 365f.:
Vgl. Gennaro Luongo, Paolino testimone del culto dei Santi, in: ders.
(Hrsg.), Anchora Vitae, Atti del II convegno Paoliniano, Napoli/Roma 1998
= Strenae Nolanae 8, 295/347.
Die eingeschaltete Strophe stört den Rückbezug der Aussage: hunc novum ...
titulum ... eqs. (14 Iff.) auf die Verse 135f.: plena te ... utperemptam Poena
coronat. Sie lenkt zurück auf Details der Folterschilderung und greift den
Gedanken auf, daß die Märtyrerin ihren eigenen Tod überlebt habe (vgl. 115f.:
Sola tu morti propriae superstes Vivis in orbe). Dabei wird jedoch die frühere
Aussage so seltsam zugespitzt und verschoben, daß die Darstellung Falten
wirft: mors habet.. aliquid tuorum (139), vgl. dagegen: (vivis) carnis ... caesae
spolium r e t e η t a η s (118). Und wenn der abgerissene Teil der Leber dem
bleichen Tode gehören soll - aliquid tuorum kann ja nur die pars iecoris sein
XXII. Addenda 587
- wird dem Leser im Hinblick auf V. 133f. eine peinliche Frage aufgedrängt.
Denn daß papilla ab scisa (vgl. 123) und pars iecoris revuls α (vgl. 137)
dasselbe seien, wie Lavarenne (Ausgabe, tome 4, p. 681), die Unstimmigkeit
fühlend, mutmaßt, mag man nicht glauben. Im ersten Bande nahm ich diese
Strophe gegen eine - allerdings pauschale - ästhetische Kritik in Schutz (Pru-
dentiana 1421 mit Anm. 67), aber das Beweisziel des Autors rechtfertigt nicht
das nachträgliche Schwelgen in blutrünstiger Kleinmalerei. Seinem Ziel hat
Prudentius durch die voraufgehende Schilderung vollkommen gedient, ja dem
schrecklichen Detail: Pectus abscisa patuit papilla Corde sub ipso (123f.)
kann durch die Hinzufügung eines weiteren, andersartigen: Vidimus partem
iecoris revulsam ... longe iacuisse [137f.] keinesfalls mehr Wirkung gegeben
werden. Überhaupt vidimusl Diese Affektation der Augenzeugenschaft ist in
den Passionsschilderungen bei Prudentius ohne Parallele. Dagegen erfreut sie
sich bei den Fälschern auffallender Beliebtheit, und auch Passionsberichte wer-
den durch vorgetäuschte Autopsie beglaubigt (s. Wolfgang Speyer, Die litera-
rische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum, München 1971 =
Handbuch der Altertumswissenschaft 12, 50/56, bes. 54). Röslers Erklärung,
der Dichter spreche hier im Namen seiner Landsleute (Augustin Rosier, Der
katholische Dichter Aurelius Prudentius Clemens, Freiburg im Breisgau 1886,
180, Anm. 2), leuchtet mir jetzt nicht mehr ein. Meine frühere Zustimmung
(wie oben S. 364*) 44, Anm. 107 nehme ich zurück. Denn in solches vidimus
schließt sich der Redende selbst ein, vgl. Cie. Verr. II 3,177: vidimus huic
ab aerariopecurtiam numerari quaestori..., vidimus paucispostmensibus
et exercitum et consulem spoliatum\ Cie. Cael. 10: at enim postea seimus
et vidimus esse hunc in illius (i.e. Catilinae) amicis; Cie. Marceil. 16f.:
quo gratior tua liberalitas, C. Caesar, nobis, qui ilia vidimus, debet esse
... vidimus tuam victoriam proeliorum exitu terminatam: gladium vagina
vacuum in urbe no η vidimus·, Cie. Scaur, 3,1: < ilia > audiv imus,
hocvero meminimus ac paene vidimus... P. Crassum... seipsum
interemisse; Verg. Aen. 1, 584f.: Unus abest, medio influctu quem vidimus
ip si Submersum; 3, 567: Ter spumam elisam et rorantia vidimus astra\
Hor. carm. 1 , 2 , 1 3 f f . : V i d i m u s flavum Tiberim ...Ire deiectum monumenta
regis Templaque Vestae\ sat. 2, 8, 91: Vidimus et merulas poni et sine
clune palumbis; Sen. dial. 2, 17, 1: in senatuflentem vidimus Fidum
Cornelium, Nasonis Ovidi generum (anders, im Namen der ganzen Christen-
heit gesprochen, ist das vidimus bei Prud. apoth. 218; vgl. psych. 291). Man
müßte daher annehmen, die Heilige habe erst unter Julianus Apostata gelitten,
den Prudentius noch als Junge erlebte (vgl. apoth. 449f.). Aber mit solcher
Annahme setzte man sich in Widerspruch zum Dichter. Denn Encratis bildet
588 Prudentiana II. Exegetica
ein Beispiel dafür, daß die Stadt Saragossa durch die Stürme der Verfolgungen
in a l t e r Zeit (per. 4, 81 antiquis ... procellis) hart mitgenommen worden
sei. Wer also den Autor beim Wort nimmt, der muß schon im Hinblick auf das
allererste Wort der Strophe an der Echtheit des Ganzen irre werden. Es bringt
den Geschmack fürs Abstruse in Erinnerung, durch den sich eingefälschte
Zeilen mitunter verraten (vgl. Prudentiana 1525/31 und 748 s.v. "Geschmack").
Den 'militärischen' Charakter der Trochäen bringt jetzt auch Kurt Smolak
(wie oben zu S. 180) 216f. in Anschlag. Er betont die Mischung epischer und
lyrischer Züge im Charakter des Gedichts; durch das trochäische Maß kom-
me, wie in per. 1, das Epinikion als Komponente der Gattungsmischung hinzu.
S. 399:
S. 401:
S. 420, zu V. 50ff.:
Die Brüder wollen die sterblichen Überreste des Märtyrers Fructuosus, Asche
und Gebein (130/32), nach Hause schaffen oder b e i s i c h t r a g e n {gestare
sinu). F.J. Dölger: Antike und Christentum 3 (1932) 108 erfaßt das richtig,
drückt sich aber ungenau aus: "Prudentius sagt einmal [per. 6, 135] von den
Märtyrerreliquien, die sich die Gläubigen anhängen [!] wollen, sie sollten für
sie ein fidele pignus sein". Das gibt der Ausdruck nicht her, es ist nur ein Bei-
sich-Tragen gemeint; vgl. etwa Mart, epigr. 2,6, 7f.: Haec sunt, singula quae
sinuferebas Perconvivia cuncta ... eqs. Zu sinus s. auch Prud. per. 11, 136:
(cari) inplebant... sinus visceribus laceris (hier vom Aufsammeln der Teile
des zerfetzten Leibes). Dölgers Ergebnis, fidele pignus sei per. 6, 135 nicht
590 Prudentiana II. Exegetica
nur als Unterpfand des Heils, sondern auch als φυλακτήριον aufgefaßt - er
vergleicht Paul. Nol. epist. 31,1: munimentum praesentis et pignus aeternae
salutis - wird von der Korrektur im Sprachlichen nicht berührt.
S. 429f.:
Die Tragödien Senecas sind von dem Gedanken durchzogen, "daß die
Verletzung der sittlichen Gesetze eine Auflösung der Naturgesetze zur Folge
hat": Christine Schmitz, Die kosmische Dimension in den Tragödien Senecas,
Berlin/New York 1993 = Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte
39, 2 (dazu die ganze Einleitung 1/15); vgl. die Worte der Furie im Thyestes
48/51: non sit a vestris malis Immune caelum ... eqs. (von Schmitz als Motto
gewählt). Die Erklärung solcher Denkweise aus der stoischen Physik wird von
der Verfasserin skeptisch beurteilt (6f. 234f.). Aber nur von dieser Seite her
könnte sich ein Zusammenhang zwischen Seneca tragicus und dem früh-
christlichen Apologeten Theophilus bzw. Prudentius ergeben. Vielleicht bildet
doch eine Popularisierung stoischer Dogmatik die gemeinsame Grundlage.
Wenn übrigens Dracontius laud, dei 1, 270/91 die Tiere aus der Erde entstan-
den sein läßt und damit die impia terra (277) auch für die Existenz der Löwen
und anderer gefährlicher Tiere verantwortlich macht, scheint ebenfalls die
Absicht zu wirken, jeden Verdacht, Gott sei Urheber des Bösen, auszuräumen.
S. 431f.:
S. 432:
S. 434:
In Christi Anrede an den Jüngling (Lc. 7, 14) liegt ein Hinweis auf die
Jugendblüte: ό γαρ νεανίαν ειπών τό άνθος είπε της μαρανθείσης ώρας;
wegen der jugendlichen Schönheit des Verstorbenen ist sein Tod besonders
schmerzvoll: Greg. Nyss. op. hom. 25 (PG 44, 220 A/B).
S. 438f.:
"But this was only the first step that Agnes took towards the court of heaven;
then she was granted a second ascent" (Thomson 2,341). Die Variante accensus
statt ascensus (63) - in den Text genommen von Ar6valo, Obbarius, Dressel
(... mox alius datur [sc. gradus]. Accensus iram nam furor incitat) - verein-
facht den gewählten Ausdruck alius ... ascensus, der primum ... gradum vari-
iert. Eine ähnliche Formulierung hat Nazarius im Panegyricus auf Constantin
(paneg. 4 [10], 27, 5): hie primus fuit liberandae urbis gradus et victoriam
facilis ascensus\ der objektive Genitiv auch bei Nepos Them. 2, 1: primus ...
gradus fuit capessendae rei publicae hello Corcyraeo. Diese beiden Stellen
bringt Ulrich Knoche im Thesaurus 6, 2 s.v. gradus, 2151, 36ff. ("Nota: cum
gen. obiect."); Prud. per. 14,61f. könnte dort hinzugefügt werden. Zupraevius
in der Bedeutung "rei petendae, parandae praevius" verweist Friedrich Spoth
(ThLL 10, 2, fasc. 7, 1115, 66) auf Paul. Nol. carm. 24, 880: (filius) vestrae
salutispraevius; Arator act. 1,870: sacrifontis (i.e. baptismatis)praevius und
- mit einem 'fortasse' - auf Ambr. in Luc. 7, 122 (CCL 14, 255, Z. 1272):
misericordia ... caelestium dux et praevia mansionum. Prud. c. Symm. 2,904
wird zitiert (ebd. 1117,18f.), aber wohl anders aufgefaßt. Vielleicht ist objek-
tiver Genitiv auch bei Rut. Nam. 1, 439 anzunehmen: Processu pelagi iam se
Capraria tollit. Doblhofer übersetzt sinngemäß: "bei der Weiterfahrt durch
das Meer", spricht aber im Kommentar von "Metonymie" ("denn nicht das
Meer, sondern die Schiffe machen Fahrt"), d.h. er nimmt subjektiven Genitiv
592 Prudentiana II. Exegetica
an: Rutilius Claudius Namatianus, De reditu suo sive iter Gallicum, hrsg. ...
von Ernst Doblhofer, Bd. 1, Heidelberg 1972, 121; Bd. 2, Heidelberg 1977,
201. Ilse Reineke: ThLL 10, 2, fasc. 10 s.v. processus, 1527, 22f. verweist
auf Doblhofer.
S. 440/42:
S. 443:
S. 459:
of the poet in mediaeval times: his catholicism and orthodoxy in faith and
argument, his eloquence and truth, the elegance and great variety of the contents
and forms of his writings, and the great sweetness of his poetry". Ein Schluß-
kapitel der Arbeit ist der Zeit nach 1300 gewidmet. Auf protestantischer Seite
ragt Fabricius als Prudentiusverehrer hervor, vgl. Walther Ludwig, Christli-
che Dichtung des 16. Jahrhunderts - Die Poemata sacra des Georg Fabricius:
Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Philologisch-
Historische Klasse, Jahrgang 2001, Nr. 4, 276/350. Im Hinblick auf den Plan
einer Ausgabe altchristlicher Dichter (erschienen 1564 in Basel) schreibt
Fabricius an den Wittenberger Theologieprofessor Paul Eber: "Piacebit tibi
certo scio summopere illorum sanctissimorum virorum sapiens et pius labor,
quem ego exosculor et non satior lectione" (Ludwig a.O. 281). Eröffnet wird
die Sammlung mit Prudentius (vgl. Prudentiana 1674 zu 319), den der Editor
andernorts als "suavissimus ac gravissimus poeta" rühmt (Ludwig a.O. 321).
Das eigene Werk des Humanisten ist auf verschiedene Weise von Prudentius
geprägt, s. Ludwig a.O. passim, bes. 297f. 301f. 304/09. 321f. 338f.; hier
auch Hinweise auf neue Untersuchungen zur humanistischen Prudentius-Re-
zeption (277f. mit Anm. 10; 281, Anm. 28).
Wenn also christliche Dichter das Epitheton Tonans verwenden (z.B. Paul.
Nol. cärm. 22, 149: cane grandia coepta Tonantis ... eqs.), geschieht das
nicht unbedingt gedankenlos: es wird Dem "zurückgegeben", dem es gehört
(zu diesem Terminus s. Chresis Π 79/81; Skeb [wie zu S. 39/55] 297 s.v.
"Rückerstattung"). Vers 122 deutet die neutestamentliche Grundlage an, vgl.
Mt. 5, 45; Act. 14, 17; die Übernahme aus Vergil gibt zu erkennen, daß die
Rückerstattung eine Läuterung in sich schließt. Iarbas hadert mit Juppiter (Aen.
4, 208ff.):
594 Prudentiana II. Exegetica
Die Machtfülle des wahren Gottes wird bei Paulinus bejaht (121 nec inania
murmura miscet), doch die Schrecklichkeit ihr genommen, stattdessen sogleich
Gottes Güte betont (122).
S. 464f.:
S. 469:
459f. werden die Barbaren als immanes populi de moreferino und als nulla ...
rüdes ratione bezeichnet. Die Ratio als menschliches Spezifikum wird ihnen
damit abgesprochen". Pietsch kürzt den Text stark. Die Verse 1,455ff. lauten
(Theodosius spricht zur Roma):
Beklagt wird ein MißVerhältnis: Rom hat die wilden Sitten zivilisiert, steht
aber in Sachen der Religion auf der Stufe rohester Barbaren. Ambrosius sagt
dasselbe (epist. 73 [18 Maur.], 7): hoc solum habebam (sc. Roma) commune
cum barbans, quia deum antea nesciebam. Prudentius schärft den Gedanken
im Sinne des Protreptikos, indem er die negative Formulierung (deum ...
nesciebam) aufgibt und die Gemeinsamkeit in ihrer äußersten Konsequenz sicht-
bar macht: in Auffassung und Ausübung der Religion (in religione tenenda)
denkt Roma - soweit noch heidnisch - , was wilde Völker 'denken' de more
ferino und roh ohne Vernunft befolgen. Die Aussage ist definiert durch die
Angabe in religione tenenda (derselbe Ausdruck c. Symm. 2, 820); die präposi-
tionale Wendung de moreferino dürfte adverbiell zu fassen sein (zu sapiunt),
kaum attributiv (einige Beispiele dafür ThLL 8, 1528, 14/18), zumal populi
schon ein Attribut bei sich hat; sapere (sapiunt) schimmert in der Vielfalt
seiner Bedeutungen (schmecken: Geschmack, Empfindung, Verstand, Urteil
haben usw.). Sachlich weist der Relativsatz 459f.: inmanes populi... quod...
sequuntur auf die vorhergehenden Verse 449/54 zurück. Der ferinus mos meint
vor allem die Omophagie, den sanguinolentus edendi mos (452f.), d.h. die
wüsten Kultmahlzeiten barbarischer Völker. Die Feststellung: (quod) nulla
rüdes ratione sequuntur darf nicht gelöst werden von der Aussage der Verse
450/52, die das Motiv barbarischer Frömmigkeit angeben: diesen Völkern ist
alles heilig, was die A n g s t sie fürchten lehrte, unheilvolle Zeichen ζ w in-
g e η sie an schreckliche Götter zu glauben. Ratio bildet Gegensatz zu formido.
Die Ratio "als menschliches Spezifikum" will der Dichter auch den Barbaren
nicht absprechen - das wäre das Ende jeder Mission, deren Erfolg bei den
einst wildesten Völkern der Dichter apoth. 426/34 feiert - , und von einer
"Gleichsetzung" gar des Nicht-Römers und des Nicht-Christen (also etwa auch
596 Prudentiana II. Exegetica
des Symmachus) mit dem Tier kann keine Rede sein. Prudentius will natürlich
auch nicht behaupten, daß die heidnische Aristokratie Roms tatsächlich jenen
barbarischen Kulten fröne, er meint aber, daß Heidentum schließlich gleich
Heidentum sei. Dahinter steht die Auffassung, daß jedwede Form heidnischer
Religiosität eine negative Qualität besitze und letzten Endes auf dasselbe böse
Ziel zulaufe (s. oben S. 498. 501). Man darf die ausgeschriebenen Zeilen nicht
mit der anderen Stelle (c. Symm. 2, 816/19) in der Weise kombinieren, daß
sich als Resultat jene ominöse "Gleichsetzung" von Heide, Barbar und Tier
ergibt. Der Standpunkt, den Prudentius einnimmt, ist jeweils ein anderer. Und
so erklärt es sich auch, daß in dem einen Fall der weite Abstand zwischen
Römer und Barbar ins Blickfeld rückt, im anderen Fall beide, insofern Hei-
den, gleichgestellt werden. Die Notwendigkeit, die Dichterverse stets in ihren
wechselnden Argumentationszusammenhängen zu betrachten, ist Chresis II
104/13, bes. 111/13, gerade im Hinblick auf das hier erörterte Problem be-
sprochen. Zum Text der Verse c. Symm. 816/19 s. Prudentiana 1251/53, zur
Sache Vinzenz Buchheit, Prudentius über Gesittung durch Eroberung und Be-
kehrung: Würzburger Jahrbücher N.F. 11 (1985) 189/223, bes. 194/96.
S. 474:
Cie. Att. 9, 6, 5: (tuas epistulas) cum lego, minus mihi turpis videor,
sed tarn diu dum lego, deinde emergit rursum dolor et αισχρού φαντασία.
S. 478f.:
Hans Schwabl verweist mich auf Artem. 1, 8, p. 14, 4ff.: κοινά μεν
οΰν έθη ταΰτα· θεούς σέβεσθαι και τιμαν ουδέν γαρ έθνος άνθρώπων
άθεον ώσπερ ουδέ άβασίλευτον, άλλοι δέ άλλους τιμώσι θεούς, άλλ'
έπι τό αύτό την άναφοράν έχουσι πάντες. Vgl. Hans Schwabl, Weitere
Kleinigkeiten zu Artemidor: Wiener Studien 101 (1988) 127/80, hier 144f.
S. 497f.:
Schon vor Lactanz hatte Tertullian das Bild von den vielen Wegen und
dem Einen benutzt, um das Verhältais zwischen Häresie und Orthodoxie dar-
zustellen (apol. 47, 9): ex horum (sc. philosophorum) semine etiam nostram
XXII. Addenda 597
S. 511:
Den Satz aus den Soliloquia: sed non ad earn (sc. sapientiam) una via
pervenitur (Aug. solil. 1, 13, 23) hält O'Donnell für einen Anklang an den
Wortlaut der Relatio selbst (Symm. rel. 3, 10: uno itinere non potestperveniri
ad tarn grande secretum) und macht außerdem auf Aug. vera relig. 28, 51
aufmerksam: (qui) pie diligenterque pertractant divinarum et humanarum rerum
tarn bonum et tarn grande secretum. Vgl. James J. O'Donnell, Augustine.
Confessions, vol. II, Commentary on Books 1-7, Oxford 1992, 321: "There
are curious echoes of S.'s relatio in A. ..." etc.
S. 514/17:
versus Dei Regnum eschatologicum coeuntes ("... insofern sie mit dieser zum
eschatologischen Reich Gottes konvergierten": Verlautbarungen des Apostoli-
schen Stuhls 148 [6. August 2000] S. 29)".
S. 514:
CORRIGENDA ZU BAND I
I. Stellen
1. Bibel
a. Altes Testament
15,20 176.180.558
21 183
Gen. 32, 7f. 485
1,28/30 579
28 430 Lev.
3,14 428
4,12 48739 25, 23 169
11, 9 487 3 '
14 176
14, 12ff. 36 Num.
19, 26 159
22, 18 513 13, 24f. 156
27, 15 451 28 156
32, 22/32 112". 542/46 14, 8 156
37, 2/3 451 20, 17 (LXX) 513'"
Exod. Dtn.
3, 2 107 9, 12 485
5 107 16 485
22 41. 462 11,26/28 486
11, 2 41.462 13, 6 485
12,21/23 426 21, 10/13 42f.
35f. 41.462 31,29 485
13, 21f. 107
14 175. 182f.
15, 1/19 18641 Jos.
1 176
19 183 11, 3 389"°
20f. 18641 24, 11 389110
600 Prudentiana II. Exegetica
1 Reg. Prov.
3 451 2, 13 486
16, 23 451 4,10/19 486
12, 28 486
15,19 486
2 Reg.
6, 5 558f. Sap.
2, 12 (LXX) 451
Is.
4 Reg. 1, 3 547
2, 2f. 514
24, 8ff. 350 10,17 107
34, 4 588
53, 6 487"
lob 7 322'
65, 1 (LXX) 344
12,7/9 131"
lerem.
Ps.
1, 6/7 451
1, ι 492"
6 486
18, 2 131". 145 Ez.
21, 14 157
24, 4 511 16 374
10 510
37, 14f. 322'
38, 10 322' Dan.
42, 4 180
49, 14 180 7,13 413
50, 15 510
57, 1 324
66, 2f. 513 Ion.
71 (72), 8/11 398
85, 11 510 1, lf. 414
117, 19f. 509'"
138, 24 486
143, 5 542
149, 3 55 8f.
Register I. Stellen 601
5, 39 489
Mt. 6,38ff. 466
43 147
2,11 386 9,43/47 158
3,16 560 13,26 413
5, 3 334. 350'22. 352126 14,62 413
29f. 158 15, 2/5 322
44 238". 313 26 160
45 593
6,13 492»
19ff. 353 Lc.
7,13f. 486f. 492". 492 60 .495"
8,26 560 2,46f. 451
29 124. 12454 52 (Vulg.) 451
34 375" 7, 11/17 433
9,24 489 14 434. 591
35 555 8,52 489
10, 19f. 33,40
10, 12/15 374
29 151 13,24 486f.
11,10 413 15,11/32 177f.
20/24 374 16,20 166
25 334 24 166
30 420 17,24 413
13,18/30 157 28/30 162
18/23 547 34f. 368
18, 2/4 452/54 20, 36 413
19, 14 452/54 21, 25f. 372
21 562 27 413
21,42 104 28 370f.
22,20f. 356 23, 2f. 322'
37 528 34 23 824. 313
23, 9 332.581 24,32 528
24,27 413
30 413
25, 6 371 40 375 60
Joh.
35ff. 350 I2J
35 349f.
1 107. 358132
40 349f. 350122. 352126
9 327
42 351
3, 5 454
45 351
12 352125
26,26 351
13 352125
64 413
20 113f.
75 128f.
6,35 488
27,11/14 322
602 Prudentiana II. Exegetica
Col. lac.
1 Thess. 1 Petr.
1, 5 67
5, 4 68.85.380f.
2,19 381 8 157
4,15ff. 366
17 366/77
5, 5 358152 2 Petr.
6f. 114
1, 4 140
3,11 370
1 Tim.
3, 9 33450
33450 1 Joh.
16
4,17 371
2 Tim.
Ape.
2, 20 82". 197
21 4426
1, 7 413
4, 8 371. 38Γ 8
16 414
20 413
Tit. 2,12 414
4, 4 386
1,12 42 9 329
10 386
5, 8 386
Phil. 7,14 372
13, 2 152
1,21 44Γ 14, 6 303'"
23 44 Γ 14 414
2, 17 44 Γ 20, 12 394
21 181
8 7278
Hebr. 24ff. 420
24 422
4,12 113" 27 72n
22, 15 72"
604 Prudentiana II. Exegetica
2. Prudentius
(Unechte Verse sind in Fettdruck gesetzt und in Klammern gerückt)
14 13573 12 11336
16 93f. 112 13/20 10832
18 12353. 134 16 113
21/24 13472 17ff. 113/16
23 123. 13574 25 116
25/36 119. 123. 131. 136 27 116
25 f. 11 Of. 547 45 ff. 35«
26 93f. 49ff. 13574
27 947. 132. 136 73/92 1123S. 542/46
28 123". 136 76 545
29f. 129. 137 80 543. 545f.
29 13573 81/84 545
32ff. 137f. 82 546
35 137f. 85/88 543/46
37/72 119f. 120/22 85 112
37/48 122/25. 130 89/92 543/46
37 130 105 ff. 1133'
Register I. Stellen 605
142ff. 3 7 1 4l
1131/35 394125
3. Andere Autoren
in Auswahl
in Luc. Anaxagoras
2, 43 547
7,237f. 177/79
8, 46 414 59 Β 21aD.-Kr. 145
in psalm.
1, 9 177. 189". 19051
11 177 Apophthegmata Patrum
36,15 116f. Romanus
off. 2 450
1, 38 196
70 439
349120
142 Apul.
143/74 196
205/07 348'". 356'« apol.
207 581 54 2s
2, 140f. 348/50. 356143 met.
parad. 10,2 24447
74 429
sacr.
1,2,6 413 Arat.
spir.
1,140/50 107 phain.
virg. 5 39f. 462
1, 2,5/9 449f.
2, 17 180
Arator
Cie.
Carm. c. pag. 24962
Att.
9,6,5 596
Carm. ad senat. 249" Cato
84 169
Register I. Stellen 621
fam. in VI cons,
6, 7,1 432 praef. 1/20 21 If.
fin. 21/26 212f.
1,57 498" 22 212
Hort. frg. 597/99 272f.
30 78" Gild.
Lael. 28/127 225"
47 717«
Eutr. 237
nat. deor. 1, 298f. 247
1, 77 28460 311 173"
2, 61 299 Stil.
138 32113 3,202ff. 272.280 4 '. 302
3, 69 567 rapt. Pros.
off. 1,20ff. 77. 537
1,118 494
opt. gen.
1 24344
de orat. Claud. Don.
1, 70 213
2, 237f. 25064 Aen.
3, 30 250 M prooem. p. 4, 24ff. 214
prov. 2, 44 p. 153, 4f. 21434
6/7 306137. 48 p. 153,22ff. 21434
p. red. in sen. 11,251 p. 446, 5ff. 275f.
12 432
32 432
rep. 1 Clem.
6, 13 504
Tusc. 24f. 95.97
1,11 29185 42,3 67
72 493" 48,2/4 509'"
3, 2 522f.
Verr.
II4,49 359'"
Clem. Alex.
paed.
Claud. 2,19,3 156
3,62, 3 149
Prob. protr.
85/99 530 73,1 46
Ruf. 237 strom.
2,351/53 172f. 1, 38,6 509111
382 1734 91 46
407/20 26. 28 4,141,4 93s
in III cons. 5, 29,3/6 494«
10/38 276f. 31, If. 492"
1 If. 27736 6, 47,1 72. 7280
622 Prudentiana II. Exegetica
48, 1 346"°
Curt. 58 348
6,11,8 29
Democr.
ad Donat.
7 151
8 241 Demetr.
domin. orat.
9 581 eloc.
eleem. 130 24035
3 198
epist.
10,4 388107 Dio Chrys.
hab. virg.
15 149 or.
patient. 12, 44ff. 28770
3 578
unit. eccl.
23 30 23
Dion. Hal.
ant.
Cyrill. Alex. 2, 34, 2 173
comp.
in Joh. 14, 54 204
12, 18,36 3222 Lys.
37f. 323» 13 24035
19,12 322" Pomp.
21 f. 32414 3,21 240"
c. Julian. 479". 484
Register I. Stellen
Don. Eugen.
Eus.
Enn.
dem.
ann. 7, 1 157
292f. 137f. hist. eccl.
2,17 1853'
5, 2 337"
mart. Pal.
Ennod. 11,9/13 33If. 352f.
praep. ev.
carm. 13,12, 3ff. 40". 528
1, 4,29/52 404 vita Const.
6, 33 558 3,57 286
7,49/68 404
9 praef. 565
10 548. 548f.
21f. 548 Faust. Rei.
12,21 25376. 569
2,142 264s epist.
epist. 3,9 15
2, 10, 3 456"
Filastrius
Epiphan.
26,6 436
panar. haer.
62,1,4/7 143
624 Prudentiana II. Exegetica
Greg. M.
Herodian.
in evang.
40,10 350122 5, 5,7 274"
carm. erg.
1,2, 1,527 181 2 ' 287/92 493". 495™
2,1,45,231/66 6151 theog.
2,1,92, 5f. 6151 38 77
2,2, 5,123/57 49674
epist.
57 156
or. Hier.
4, 80 383
24, 6 398'" in Dan.
12 3 9 8 136 5,4 554
43, 11 89f. in Eccl.
44,11 538 4,13/16 495"
10, 2f.
in Eph. 49362
3,5,14
Greg. Nyss. epist. 391«
70, 4 4325
1, 2 , 1 5 419
5 45f. 46 2 ' 41f. 405164
107, 6 495«
47f. 405165
hom. de nativitate D. 4,19f. 435"
p. 528,153ff. 99" 7, 1 389'"
adv. Rufin. 12 389'". 402152
1, 16 5947 13, 6 571
in Tit. 16,23 43512
1, 12ff. 39" 19, 13/16 7/8
tract, in psalm. 22,15f. 405165
82, 7, 8 194 24, 5f. 526
vir. ill. 34, 8 29080
84 46 2 ' 2, 2,17ff. 325f.
3, 2, Iff. 442'°
13 338". 440/42. 592
Hil. 21ff. 442.442 1 0
14 402152
hymn. 27 403 1M . 407
1,9/12 208' 4 4, 2 402
in psalm. 5 60 4 '
58, 6 374 s7 5 10324
138,31 352 , M 6 402
trin. 11 402
1,19 144 14 389
37 464 carm. saec. 402.407f.
4,17/21 78" 47f. 413
12, 20 233' sat.
1, 4, 45/62 24344
2, 1, 13/15 532
epist.
Hom. 1,18,29 413
19,11 148
II. 2, 1, 1/17 259"
14,231 13876 ars
22, 391 1737 1/13 288/92
Od. 2 290
10,512 13877 3 289
4 290
7f. 289
Hor. 9f. 284 60
10 289
carm. 12f. 290
1, 1, 2 425 89/91 243
2, Iff. 413f. 93 ff. 243"
6f. 405'" 138 242«
626 Prudentiana II. Exegetica
Ignatius Joseph.
Isid. Julian.
244 1, 42 303125
2,159
304 278/80 45 If.
3,215/19
218 304f. 335f. 560
4926O 499«3
5,156/60 244 679/89
2,213 352
4,112 28050
245 10s
6, 1/24 23513
1/13 398 566
247
523 582
236
532/34 23617
533f. 25271
534 23617. 566 Lact.
599 258
631 199 inst.
634/39 242f. 1, 1, 21f. 492
634/37 568 7, 4 78"
636 242«. 243 11,26/29 28770
64 Iff. 24343 15, 2 23512
645 243 16, 2f. 535
7, Iff. 238" 21,20 23617
8, 160 169 5, 1,10 194
215ff. 24241 14 193f.
10, 28ff. 250. 261 26 492"
3 Iff. 26 If. 9,17 554
31 250 22,21 579
33 25170. 252 6, 1, 3/6,4,24 492/96
51/53 262 7, 1/9 496/98
[54] 1.522 494«
3/9
[55] 1/3. 522 5f. 501"
66/89 23" 9 334
188/288 26 If. 12,39 152
354ff. 247f. 13, If. 562
[356] 24859 20, 28 241
11, 14 150 21, 1/12 564
91 f. 25067 7, 1,20f. 49260
12, 88 7 .3 27, 6f. 49877
115/27 24241 ira
14, 40f. 471 18,11 24138. 244«
256ff. 24241. 247
284/87 24241
15, 27ff. 246f.
Leo M.
29ff. 24241
epist.
15,15 1953
Juvenc.
serm.
praef. 54f. 14.1 157
27424 18.2 81"
17
628 Prudentiana II. Exegetica
Liv.
Macr.
1,16, 4 25
46, 3 241
Sat.
25,40, 1 306
145 1,24, 5 213JO
26,30, 9 306138. 308 I42
23 3,11, 6 3 0 7
27.37, 13 180
4, 2, 1 245
28,21, 2 151
5, 1, 1/18 214
31, 14, 12 373
3,16 51
38,43, 6 306138. 308"
somn.
39,13, 5 28"
1, 3 , 1 8 479
45.38, 2 25 12, 9 479
12 173
Μ anil.
Lucian.
4,225 151
Hermot.
60
72 284
pro imag.
18 284 60 Mart.
1,61 389f.
4,55 389"
Lucr.
4/7 389"
5,64, 2 148
1/43 535f.
7,97, 7f. 246"
2 Iff. 77
8, 3 , 1 5 213f.
62/67 74/76. 535f.
9,11,10/17 394
75 75 f. 14f. 269
78f. 75f.
10, 4 241
84/101 75f. 11,10, 1 245f.
133 137f.
75 If. 145
932 535
936/42 Mart. Carpi
192/95
2, 112/24 145
28/32 330
3, 1017 161
Register I. Stellen 629
Mon. Ancyr.
Mart. Pion.
12 367
21 379
5,3f. 327
24,1 306 133
6,1 328
5 328
7, 3/5 328
4f. 580 Orig.
12,4 330"
20, 2f. 328f. c. Cels.
5/7 329 5,25/28 479"
epist. ad Greg.
2 4122
Mart. Polycarp. in Joh.
6,53 426
f in Mt. comm. ser.
10, 1 3
118 3222
inPs.
118,171 561
Max. Taur.
serm.
Ov.
54,1 453/55
am.
3, 5,6 10
Maxim. fast.
4, 13 11/12
eleg. 243f. 294 M
1,115 592 lb.
165/72 23.23"
met.
2,198 199
Min. Fei.
711/13 415
9, 3 356139 8.670 Vs
5 ,sfi,39 Pont.
4,12,5/16 394.39412«
630 Prudentiana II. Exegetica
trist. 24 361'
3, 3, 82 ΙΟ5
Paul. Med.
Palladius
vita Ambr.
dial. 13,3 190f.
20 77» 26,2 2645. 315170
3 315170
Paneg.
Paul. Nol.
8, 3/5 276
11, 3/7 225 carm.
6 259" 10, 119ff. 593
12,1 225 202/38 375f.
36,2 533 203f. 376M
37, 1 367f. 260/64 24962
2/4 368 304/15 376f.
4 372f. 12/16 215. 219/21
38, 2/4 22512 14,109 560
39, 1 291 15, 26/49 21741
44, 1 29 114 584
11, 1/4 225" 16, 89f. 16
17 403. 405167
82f. 405167
115f. 405167
Pass. Iul.
203f. 405147
217f. 405167
3 58 If.
253f. 405" 7
7,4f. 580 405167
259f.
27 If. 405167
318f. 405167
Pass. Mar. lac. 33 If. 405167
[335f.] 405167
1,3 337" 18/21 215.219/21
8 422 18 21638. 21741
8f. 216
44/48 21741
62/64 216
Pass. Perp.
70 21741
138/44 374"
1, 1 337
211/16 216
5 337
21 If. 216
Register I. Stellen
18,260/62 60 epist.
19, 10 589 4, 3 456 3 3 .456"
45/163 401 5,19 436
45fT. 3657. 589 16 47f. 51.72 80
164ff. 426 4 299f.
354f. 420 11 47". 48. 5142
365 420 14 299f.
385/88 219 29,14 220
20, 27 216f. 21740 30, 6 293 8 '
64 216" 31, 1 420. 589f.
21 216" 32, 3 carm. 1, 3ff. 196f.
210/19 456 2,9/12 196f.
211 45633 8, v. 1 420
281/83 18025 11, v. 3 420
672/703 21V 1 17, v. 16 414
792f. 21741 39, 2 541. 547
22, 149 593 3 54 If.
157ff. 48/53 42, 4 535
23 215.219/21
1/44 217f.
27/44 217/19 Ps.Paul. Nol.
99f. 21639
266f. 216" carm.
24, 880 591 32,19/150 24962
891/96 456 88ff. 295"
893 456" Pass. Genes.
913f. 375 1 417
24, 935f. 375
25, 215f. 456
218 45 633
223 586 Paul. Petric.
238 584
26/29 215.219/21 Mart.
26 219 2,396ff. 555
27, 192f. 216 3 '
241 f. 216 3 '
542/95 219f. Pentad.
28, 167/79 444/56
174f. 445 anth.
175/79 445/56 235, 21 f. 592
176 45633
31,231/50 101"
23 If. 10018 Pers.
233/36 134
24 If. 540 1,1 If. 251
505/08 557 67f. 245
107
3,60 85
632 Prudentiana II. Exegetica
Petron. Plat.
Plin.
Phaedr.
nat.
1,21, 3f. 157f. 35,114 296f.
4, 6, 10 554 36, 15 288
7 24345
Plin.
Philo
epist.
agricult. 5, 5 , 3 33 867
79/82 186f. 7,26 358154
praem. 8, 4,3f. 393.21
47f. 544f. 12,4 337"
somn. 10, 10,2 367
1, 130/32 544f. 96,7 18950
vita contempl. paneg.
83/88 185. 18539 22f. 367
52, 4f. 26
68, 1 22512
Philostr.
her. Plut.
9,6
imag. Caes.
2,4 297. 297"" 68 25
Marcell.
8,4 1737
Pind. moral.
79C/D 85 io.
Porphyr. Sail.
Prop. rep.
2, 13 566
2,12, 1/6 292. 29286
27,10 199
Sedul.
Sen.
Rufin.
apocol. 19
hist. 10,2/4 246
6,4,1 26" 11,5 246
Orig. in Rom. 13,4/6 246
2,1 7Γ 4 dial.
3,1 71" 3, 2, 2 25
4, 2, 6 260f.
10 260f.
35f. 80f.
Rut. Nam. 6,23, 3 446f.
24, 1 446f.
1,439 59 If. 9,15, 1/5 250. 262
603f. 24550 epist.
12, 4 434f.
634 Prudentiana II. Exegetica
epist. carm.
36, lOf. 97 9,266 24550
59, 6f. 80f. 136 epist.
24758 395.29
90, 5/10 2, 9,4
de matrimonii) 9, 16, v. 37/39 403f.
frg. 66/67 244 61ff. 404
Med. 77 394f.
579/669 402.405167 81ff. 395
953/57 243«
Phaedr.
155f. 414
99 Iff. 297103 574f Sil.
1068ff. 574f.
1105/07 10, 354/56 165
575
Phoen.
448 28
de superst. Socr.
frg. 34 236"
35 23617 hist. eccl.
6,8 18950. 190"
Ps.Sen.
Sozom.
Here. O.
133 25990 hist. eccl.
Oct. 3,20, 8 190"
794/800 524f. 8, 8,1/5 187. 190"
Sen. Stat.
suas. silv.
3,7 282 4,7 402. 405167
Serv. Suet.
georg. Aug.
2, 337 144 62 256
Aen. Cal.
2,547 25373 2 25
4,514 199 Claud.
5, 560 174f. 1,1 25683. 25 8f.
9,479 21434
Register I. Stellen
Iul. Tat.
17,2 25
Nero ad Graec.
47,2 26 23, 1 151
Mart. apol.
3,3f. 35 If. 9,9 241
14.1 553
24.8 418
Symm. 34 19
47.9 596f.
epist. 48,7 95. 539f.
1, 4 , 3 289 cult. fem.
31 4741 2,5,2 149
4,34, 3 2337 idol.
rel. 3,1 284
3 234.264/66. 270/74. 2 283. 287
308. 311.461. 475f. adv. Marc.
3 300'" 2,11, If. 429
4 272. 304. 308.311. 4,18,9 10425
314 praescr.
5 308144. 311.480 42 1521
8/10 312162. 476/85 pudic.
8 225.497 75 14,4/8 25272
9/11 222/29 resurr.
10 271.499™. 50192.511. 12f. 95/100
565. 596. 597 13.2 11
14,1 947
13 225
Synes. Theocr.
Tac.
Theodoret
ann.
1,10,5 256. 259 graec. aff. cur. 484
3, 14 25 1,125/27 496
dial. 2, 32 195
4, 2 213 hist. eccl.
10, 4 213 2, 24,8f. 187. 18950
636 Prudentiana II. Exegetica
variari 361169
votes Dei 48*. 50. 52
venalis 150f.
veneficium - beneficium 2021
verbum {verba) 47. 213. 564, ultima v. 331,
s. dives
Verbum Deus, Dei 217. 550f.
versicolors (versicolor) 293"
vertere 48*. 72·°
veterum Cultura deorum 6253. 74f. 530. 536f.
vetustas 445
via "Lehre" 514, via (iter) salutis 489. 517.
597, regalis 513. 513"», vgl. 509'", sim-
plex - multiplex 498. 498 π . 499. 499".
509f., universalis 511/14. 519, viae ordi-
nariae - extraordinariae 516, via pecuniae,
leti 439, s. iter
videre (vidimus) 587
vincere aetatem, annos, naturam 449
virtus T7V*. 442.470, = δύναμις 152f. 464"
vis 109. 125f. 125s7. 165f. 27738. 286"
visus, Subst. 16
vitreus 140f.
vittae, vittatus 536f.
vituperatio (rhet.) 22816
vivere 582
vultur 300112
ZU DEN ABBILDUNGEN
Tafel I
Tafel Π
Tafel ΙΠ
Codex Bernensis (s. zu Tafel Π), p. 69, Bild vor psych. 30: Fides tötet die
Gegnerin. - Vgl. S. 65, Anm. 57; S. 73, Anm. 84.
Copyright: Burgerbibliothek Bern
Tafel IV
Codex Bernensis (s. zu Tafel II), p. 70, Bild vor psych. 36: Fides bekränzt die
Märtyrer; Bild vor psych. 40: De Pudicitia et <Libidine> estparagoge (Bei-
schrift). - Vgl. S. 65, Anm. 57.
Copyright: Burgerbibliothek Bern
Tafel V
Tafel VI
Codex Sangallensis 135 (saec. XI), p. 426, Bild vor psych. 667: Rückkehr des
siegreichen Tugendheeres. - Vgl. S. 172.
Photo: Stiftsbibliothek St. Gallen
Tafel V n a
Codex Parisinus Latinus 9661, Notitia dignitatum (saec. XV), p. 18: die Diö-
zesen Macedonia und Dada. - Vgl. S. 378 mit Anm. 68.
Photo nach der Facsimile-Ausgabe der Biblioth&jue Nationale, Paris
Tafel V n b
Tafel Vni
Tafel IX
Codex Latinus Monacensis (Clm) 4453, "Evangeliar Ottos III." (um 1000),
fol. 23v: gabenbringende Frauen (Personifikationen). - Vgl. S. 384 mit Anm. 92.
Photo: Bayerische Staatsbibliothek München
Tafel X
Staatsbibliothek Bamberg, Msc. Class. 79 (um 1000), fol. l v und lar: gabenbrin-
gende Frauen (Personifikationen) und Kaiserbild. - Vgl. S. 384 mit Anm. 92.
Photo: Staatsbibliothek Bamberg
648 Prudentiana II. Exegetica
Tafel XI
Tafel ΧΠ
Tafel ΧΙΠ
Tafel XIV
Tafel XV
Tafel XVI
«κ glMMH
Prudentiana II Tafel III
Ii. a s i W Cf &
^ v a s j J · •
Um-rimf"moenilni/'
τ lern
C*«prrocCttltTim ητττι Ltmatrti fxl>j
Prudentiana II Tafel VII
Tafel VIII Prudentiana II
Prudentiana II Tafel IX
Tafel Χ Prudentiana II
Prudentiana II Tafel XI
Tafel XII Prudentiana II
Prudentiana II Tafel XIII
Tafel XIV Prudentiana II
Prudentiana II Tafel XV
Tafel XVI Prudentiana II
-immmmmmmi ι β β ρ ι
S