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von ihm als Krise empfundenen Zeit mit einer sicheren Hoffnung
und fand es „wahrhaft wunderbar, wie in unserm Zeitalter das
Bedürfnis des Objektiven sich allenthalben regt" (KFSA l, 269).
Auf der einen Seite war in dieser zweiten Periode von den
„Anhängern der Korrektheit" in der vermeintlichen Nachfolge
des Aristoteles das System des Klassizismus aufgestellt worden.
Diese Kritiker waren durch den „orthodoxen Glauben" be-
stimmt, „daß es eine Wissenschaft gebe, die allein zureichend
sei, schöne Werke zu verfertigen", und verlangten deshalb auf
despotische Weise eine „unbedingte Unterwerfung auch unter
ihre willkürlichsten, offenbar törichsten Gesetze" (KFSA l, 264,
221). Ihnen stehen die Parteigänger einer titanischen Kunstauf-
fassung, also die Vertreter der Geniebewegung entgegen, die von
der Renaissance bis in die Zeit des Sturm und Drang hineinrei-
chen. Diese Schule „vergötterte in mystischen Orakelsprüchen
das Genie, machte eine künstliche Gesetzlosigkeit zum ersten
Grundsatz, und verehrte mit stolzem Aberglauben Offenbarun-
gen, die nicht selten zweideutig waren" (KFSA l, 221). Eine
weitere, im Zeitalter der Aufklärung vorherrschende Sehweise
der Kunst bestand darin, daß die Kunst keine „selbständige
Existenz" oder „eigentümliche Bestandheit" habe und als „sinn-
bildliche Kindersprache" bloß der „jugendlichen Menschheit"
angehöre. Sobald sich das Licht der Erkenntnis zu verbreiten
beginnt, schrumpft nach dieser Auffassung die Dämmerung im-
mer mehr zusammen. Bei dem angebrochenen „hellen Mittag
der Aufklärung" erscheint die Poesie dann wie eine „artige Kin-
derei", die „für das letzte Jahrzehnt unsres philosophischen Jahr-
hunderts nicht mehr anständig" sei (KFSA l, 266). Diese ästhe-
tische Welt sollte durch die frühromantische Revolution aus
den Angeln gehoben werden. Schlegel meint zuversichtlich: „Der
Augenblick scheint in der Tat für eine ästhetische Revolution
reif zu sein" (KFSA l, 269). Er war überzeugt, daß es zum
Übergang in diese neue Phase „einer völligen Umgestaltung, eines
totalen Umschwunges, einer Revolution" bedürfe (KFSA l, 270).
Ein weiteres wichtiges Element im historischen Selbstverständ-
nis der Frühromantiker hat in der Philosophie des Idealismus
bestanden. Das kommt bereits deutlich im Studium-Aufsatz zum
Ausdruck, in dem Kant, vor allem auf Grund seiner Kritik der
2
Voltaire, Le siede de Louis XIV, in Oeuvres completes (Kehl: Im-
primerie de la Societe Litteraire — Typographique 1785), Bd. 20,
189-91.
3
Siehe Ernst Behler, Irony and the Discourse of Modernity (Seattle:
University of Washington Press 1990), 43.
4
John Dryden, „An Essay of Dramatic Poesy", in Essays of John
Dryden. Herausgegeben von W. P. Ker (New York: Rüssel and Rüssel
1961), 124.
s
Charles Perrault, Parallele des Anciens et des Modernes en ce qui
regarde les arts et les sciences. Herausgegeben von Hans-Robert Jauß
(München: Kindler 1964), Bd. l, 99.
6
Voltaire, Defense du siede de Louis XIV in Oeuvres completes de
Voltaire. Nouvelle edition par Louis Moland, 52 Bde. (Paris: Garnier
1877-1885), Bd. 28, 338.
7
Franz Hemsterhuis, Lettre sur l'homme et ses rapports. Avec le
commentaire inedit de Diderot. Herausgegeben von George May
(New Haven: Yale University Press 1964), 85.
8
Salon. Herausgegeben von Jean Seznek und Jean Adhemar, Bd. 3,
Salon de 1767 (Oxford: Oxford University Press 1964), 336.
9
Siehe Rene Wellek, „The Price of Progress in Eighteenth-Century
Reflections on Literature", Studies in Voltaire and the Eighteenth
Century 151 - 155, 2265 - 2284.
10
Rene Wellek, 2277.
(HE 18, 7), oder er begnügt sich mit der Feststellung: „Die Poesie
ist ein Proteus unter den Völkern" (HE 18, 134). Angesichts
dieser Vielfalt und Schnelligkeit historischen Wechsels wird selbst
der Begriff der Poesie für Herder ein solch „abgezogener, so
vielfassender Begriff, daß wenn ihm nicht einzelne Fälle deutlich
untergelegt werden, er wie ein Trugbild in den Wolken schwin-
det" (HE 18, 135). Letztlich will er es keiner Nation versagen,
daß sie sich ihren eigenen Lieblingsdichtern hingibt. Auch hier
besteht kein Zweifel daran, daß Herder auf der Seite der mo-
dernen Literatur steht. Freilich ist er für seine lockere, unsyste-
matische Weise zu denken oft von seinen Zeitgenossen gerügt
worden. Mit leichtem Tadel vermerkt auch Friedrich Schlegel,
daß es Herders Vorgangsweise sei, „jede Blume der Kunst, ohne
Würdigung, nur nach Ort, Zeit und Art zu betrachten". Er meint,
dies würde am Ende auf kein anderes Resultat führen, „als daß
alles sein müßte, was es ist und war" (KFSA 2, 54).
Schillers Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung
(1794 — 96) läßt sich ebenfalls als eine Schrift aus dem Umkreis
dieses Streites über den Wert der alten und modernen Poesie
interpretieren. Unter diesem Gesichtspunkt führt der Text zu
einer Rechtfertigung des modernen, sentimentalen Dichters ge-
genüber dem alten, naiven Poeten, obgleich dieser historische
Gesichtspunkt in Schillers Schrift nicht im Vordergrund steht.
Schiller sagt über die Einheit von Mensch und Natur, wie sie
angeblich in der klassischen Antike geherrscht haben soll: „Sie
liegt hinter dir, sie muß ewig hinter dir liegen" (FS 20, 428). Das
Ideal des modernen, aus der Kultur lebenden Menschen ist im
Unterschied hierzu unendlich und kann nie voll erreicht werden.
Aber es ist für Schiller klar, „daß das Ziel, zu welchem der
Mensch durch Kultur strebt, demjenigen, welches er durch Natur
erreicht, unendlich vorzuziehen ist". So war es auch keine Frage
für ihn, „welchem von beiden in Rücksicht auf jenes letzte Ziel
der Vorzug gebührt" (FS 20, 438).
Als Schüler Winckelmanns und Leser der Schrift Über die
Nachahmung der griechischen Werke scheint Friedrich Schlegel
in diesem „Streit" am entschiedensten die Bevorzugung der Alten
gegenüber den Modernen vertreten zu haben. Schiller verwandte
in einem bekannten Xenion Begriffe wie „Fieber" und „Gräko-
12
Hermann Hettner, Die romantische Schule in ihrem inneren Zusam-
menhang mit Goethe und Schiller (Braunschweig: Vieweg 1850).
13
Fritz Strich, Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und
Unendlichkeit, 4. Aufl. (Bern: Francke 1949).
14
Georg Lukacs, Kurze Skizze einer Geschichte der deutschen Literatur
(Neuwied: Luchterhand 1975).
15
Karl Robert Mandelkow, „Kunst- und Literaturtheorie der Klassik
und Romantik", Europäische Romantik, Bd. 1. Herausgegeben von
Karl Robert Mandelkow (Neues Handbuch der Literaturwissen-
schaft, Bd. 14. Wiesbaden: 1982), 49-82; Karl Robert Mandelkow,
Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Bd. l
(München: Athenaion 1950).
16
Rene Wellek, „Immanuel Kant's Aesthetics and Criticism", Rene
Wellek, Discriminations. Further Concepts of Criticism (New Haven:
Yale University Press 1970), 124-126.
17
Der Text entstammt einer Gruppe von Handschriften, die Aufzeich-
nungen des Novalis über zeitgenössische Philosophen enthalten, ins-
besondere zu Kant, Fichte und Hemsterhuis. In der als Fichte-Studien
bezeichneten Gruppe kommt die Auseinandersetzung des Novalis mit
Fichte zum Ausdruck, ohne daß Fichte jedoch immer im Vordergrund
der Überlegungen steht und man diese Aufzeichnungen ebensogut
als Denküberlegungen im Bereich der Philosophie bezeichnen könnte,
die sich des Mediums der Fichteschen Denkweise bedient: NO 2,
104-274.
rung ist wie für Fichte, sondern innerhalb eines größeren Rah-
mens steht, in dem Glaube, Liebe, Poesie, Religion dieselbe
Existenzberechtigung haben. In dieser Hinsicht lassen sich diese
Fichte-Studien als Versuche beschreiben, die „Tätigkeiten des
Geistes" auf eine umfassendere Weise zu analysieren als dies bei
Fichte geschieht. Novalis konzentriert sich dabei auf die Theorie
des Ich, die er mit dem für ihn typischen Personbegriff in Bezie-
hung bringt. Er sucht eine Theorie der Einbildungskraft zu
entwickeln, die dichterische Kraft im Gegensatz zur philosophi-
schen zu bestimmen und überhaupt den Umkreis des Fichteschen
Denkens zu sprengen, indem er die Wissenschaft durch den
Glauben, die Liebe, die Religion ergänzt — gemäß dem Aus-
spruch: „Spinoza stieg bis zur Natur — Fichte bis zum Ich, oder
der Person. Ich bis zur These Gott." Novalis versucht Begriffs-
klärungen, die den „Erfordernissen einer allgemeingültigen Phi-
losophie" entsprechen („Leben" — „was" - „Nichts"), den Ge-
fühls- und Reflexionstrieb voneinander abzuheben, die „intellek-
tuelle Anschauung" mit der „intellektuellen Sehkraft" zu ver-
gleichen und überhaupt alles, was ihm merkwürdig erscheint,
aufzuzeichnen und in seine eigene Sprache und Auffassungsweise
zu übersetzen. Hier schreibt nicht einer, der sich aus einer über-
legenen Kenntnis mit der Fichteschen Philosophie von außen
auseinandersetzt, wie Friedrich Schlegel, sondern jemand, der
aus einem wirklichen Verständnisbedürfnis in diese einzudringen
sucht und dabei nicht nur mit Fichte, sondern mit der Philosophie
überhaupt ins klare kommen möchte. Dies verleiht den Aufzeich-
nungen des Novalis einen diskursiven Charakter, manchmal eine
dialogische Art der Formulierung.
Ein besonderes Thema, das in diesen Fichte-Studien hervor-
tritt, betrifft die Beziehung der Philosophie zur Poesie, der den-
kerischen zur dichterischen Kraft. Fichte vertrat in bezug auf
diese Frage den absoluten Primat der Philosophie, bei ihm
schrumpften alle Fragen auf philosophische Fragen zusammen.
Novalis gelangt im Verlauf seiner Aufzeichnungen zu einer ent-
schiedenen Relativierung der Philosophie oder besser zu einer
Autonomisierung anderer Erfahrungsbereiche, insbesondere aber
der Dichtung. Mancher Interpret dieser Texte hat deshalb das
Resultat der Aufzeichnungen in der Absolutheitserklärung der