Sie sind auf Seite 1von 31

I.

Allgemeine Merkmale und


literaturgeschichtliche Position

Ihrem historischen Selbstverständnis nach sahen sich die Früh-


romantiker am Anfang eines Neubeginns in der europäischen
Literatur stehen. Genauer gesprochen zeichnet sich die Ge-
schichte der modernen Literatur für sie in drei großen Zyklen
ab, was sich mit dem deutlichen Gefühl verbindet, am Anfang
der dritten oder am Übergang zur dritten Bildungsstufe zu stehen
(KFSA l, 355). Der erste Zyklus wurde von den sogenannten
„altern Modernen", vor allem von Dante eingeleitet. Shakespeare
ist „Anfang, Gipfel und Ende des zweiten Zyklus" (KFSA 16,
158). Von dieser Höhe ist die europäische Poesie dann aber in
einen über zweihundert Jahre währenden Tiefstand herunterge-
sunken, bis sich gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts die
Anzeichen zum Erwachen eines neuen Zyklus bemerkbar ma-
chen. Diese Periodisierung findet in Friedrich Schlegels Beobach-
tungen zur Geschichte des europäischen Romans noch eine be-
deutende Ergänzung. Zweifellos war für ihn Cervantes der Gipfel
der bisherigen Romankunst, der in dieser Gattung das repräsen-
tierte, was Dante und Shakespeare in anderen Gattungen dar-
stellten. Vom Gesichtspunkt der drei Zyklen aus wäre Cervantes
dem zweiten zuzurechnen und neben Shakespeare zu stellen.
Aber neben „jenen Großen" stand in der Geschichte der moder-
nen Literatur noch eine ganze Reihe anderer Autoren, die wegen
der von ihnen zum Ausdruck gebrachten „Originalität der Phan-
tasie" Interesse verdienen, da schließlich der Strom der Poesie
nicht zu allen Zeiten und in allen Ländern gleich üppig fließt.
Im Bereich des Romans gilt dies vor allem für Swift, Sterne,
Fielding, Diderot und Jean Paul. Nicht von Natur als große
Dichter begabt und „von der eigentlichen Kunst noch sehr ent-
fernt", ja den „eigentlichen Ständen der Prosa", d. h. den „so-
genannten Gelehrten und gebildeten Leuten" eher zugehörig als

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position 31

der reinen Dichtung (KFSA 2, 331), haben sie Mühe aufwenden


und kapriziöse Techniken entwickeln müssen, um sich in die
Kunst des Romanschreibens einzuarbeiten, wobei noch zu be-
rücksichtigen ist, daß zu ihrer Zeit der Roman vom Bereich der
Dichtung ausgeschlossen war und einer populären Prosakunst
zugerechnet wurde. Tritt die Poesie in ein „unphantastisches
Zeitalter" ein, dann nehmen sich die Sachverständigen ihrer an
und suchen zu zeigen, was die Phantasie vermag (ib.) Gegen
Ende dieses zweiten Zyklus erhebt sich aber Goethe als „Mor-
genröte" für einen neu anbrechenden Tag echter Poesie in der
Geschichte der Modernität (KFSA l, 260).
In diesem dr-eigestuften Rhythmus hat Friedrich Schlegel den
Verlauf der modernen Poesie wiederholt dargestellt und auch im
Athenäum den „großen Dreiklang der modernen Poesie" mit
Dante, Shakespeare und Goethe repräsentiert (KFSA 2, 206). In
seinem frühen Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie
ergänzte er dies Bild noch mit der Beobachtung, daß dies drei-
fache Erblühen der „Nationalpoesie der Modernen" in „drei
großen Evolutionen" des öffentlichen Lebens seine Entsprechung
findet, nämlich „im Zeitalter der Kreuzzüge, im Zeitalter der
Reformation und Entdeckung von Amerika, und in unserem
Jahrhundert", d. h. in der Französischen Revolution (KFSA l,
356). Goethe wird von ihm in dieser frühen Schrift auf beinahe
apokalyptische Weise eingeführt: „Der Charakter der ästheti-
schen Bildung unsres Zeitalters und unsrer Nation verrät sich
selbst durch ein merkwürdiges und großes Symptom" (KFSA l,
259 — 60). Goethe erscheint als ein Künstler, der die „Aussicht
auf eine ganz neue Stufe der ästhetischen Bildung" eröffnet, die
es bislang noch nicht gegeben hat (KFSA l, 192).
Diese drei Zyklen der europäischen Literatur entsprechen auch
drei Stufen in der Ausbildung der ästhetischen und poetischen
Theorie in Europa. Zwei dieser Stufen sind bereits überschritten.
Die erste entspricht der Periode der erwachenden romantischen
Poesie, in der sich die moderne Literatur hauptsächlich durch
„gigantische Kraft und phantastisches Leben" äußerte, aber noch
wenig Tendenz zum Theoretisieren zeigte. In der zweiten Periode
konzentrierte man sich in der Theorie auf die Nachahmung der
Alten, wobei man sich freilich meist nur mit der äußeren Form

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
32 Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position

beschäftigte (KFSA l, 257, 355). In dieser Phase des Klassizismus


erhoben sich die „dogmatischen Systeme der rationalen und
empirischen Ästhetik". Die „Antinomie" zwischen diesen Theo-
rien führte zum „ästhetischen Skeptizismus" und damit in die
„Krise des Übergangs von der zweiten zur dritten Periode" (KFSA
l, 355). In theoretischer Hinsicht sahen sich die Frühromantiker
genau auf dieser Übergangsschwelle von der zweiten zur dritten
Epoche, wobei sie der dritten durch Theorieentwürfe, Kritik,
Polemik, oder durch ihre eigene Dichtung Gestalt zu geben
versuchten. Wenn hier von dritter Periode oder Epoche gespro-
chen wird, darf dies nicht im Sinne eines Dreistadiendenkens
den Eindruck erwecken, als träte die Entwicklung nun in ein
Endstadium ein, in dem die Vollkommenheit erreicht werden
würde. Viele Formulierungen des frühen Studium-Aufsatzes, wie
diese Schrift abkürzend genannt wird, über die Vereinigung des
Interessanten und Objektiven, des Philosophischen und Ästheti-
schen, des Charakteristischen und Schönen auf dieser Stufe und
in dieser Periode legen eine solche Interpretation nahe. Friedrich
Schlegel selbst kommt an eine solche Konzeption manchmal sehr
dicht heran (KFSA l, 261-62, 355-56). Jedoch ist bereits der
Studium-Aufsatz nach der Idee der unendlichen Perfektibilität
konzipiert 1 , für die es in keiner Epoche ein „absolutes Maxi-
mum" geben kann (KFSA l, 218). In der Sprache des Athenäums
handelt es sich um einen Prozeß der Poesie, der „ewig nur
werden, nie vollendet sein kann" (KFSA 2, 183).
In der zweiten Phase der europäischen Literaturtheorie kommt
es jedenfalls zu einer „wahren ästhetischen Heteronomie" (KFSA
l, 270), ja „Anarchie" (KFSA l, 221). Novalis hat später in
seinem Roman Heinrich von Ofterdingen die Zeiten des Kampfes
zwischen Poesie und Unpoesie die „Geburtszeiten des Dichters"
genannt (NO 1,284) und dabei ein ähnliches Selbstverständnis
wie Friedrich Schlegel entwickelt, obwohl für ihn das Denken in
Gesamtzusammenhängen der europäischen Literatur nicht so
eigentümlich wie für Friedrich Schlegel war. Dieser lebte in der

Siehe Ernst Behler, Unendliche Perfektibilität. Europäische Romantik


und Französische Revolution (Paderborn: Schöningh 1988),
265 - 292.

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position 33

von ihm als Krise empfundenen Zeit mit einer sicheren Hoffnung
und fand es „wahrhaft wunderbar, wie in unserm Zeitalter das
Bedürfnis des Objektiven sich allenthalben regt" (KFSA l, 269).
Auf der einen Seite war in dieser zweiten Periode von den
„Anhängern der Korrektheit" in der vermeintlichen Nachfolge
des Aristoteles das System des Klassizismus aufgestellt worden.
Diese Kritiker waren durch den „orthodoxen Glauben" be-
stimmt, „daß es eine Wissenschaft gebe, die allein zureichend
sei, schöne Werke zu verfertigen", und verlangten deshalb auf
despotische Weise eine „unbedingte Unterwerfung auch unter
ihre willkürlichsten, offenbar törichsten Gesetze" (KFSA l, 264,
221). Ihnen stehen die Parteigänger einer titanischen Kunstauf-
fassung, also die Vertreter der Geniebewegung entgegen, die von
der Renaissance bis in die Zeit des Sturm und Drang hineinrei-
chen. Diese Schule „vergötterte in mystischen Orakelsprüchen
das Genie, machte eine künstliche Gesetzlosigkeit zum ersten
Grundsatz, und verehrte mit stolzem Aberglauben Offenbarun-
gen, die nicht selten zweideutig waren" (KFSA l, 221). Eine
weitere, im Zeitalter der Aufklärung vorherrschende Sehweise
der Kunst bestand darin, daß die Kunst keine „selbständige
Existenz" oder „eigentümliche Bestandheit" habe und als „sinn-
bildliche Kindersprache" bloß der „jugendlichen Menschheit"
angehöre. Sobald sich das Licht der Erkenntnis zu verbreiten
beginnt, schrumpft nach dieser Auffassung die Dämmerung im-
mer mehr zusammen. Bei dem angebrochenen „hellen Mittag
der Aufklärung" erscheint die Poesie dann wie eine „artige Kin-
derei", die „für das letzte Jahrzehnt unsres philosophischen Jahr-
hunderts nicht mehr anständig" sei (KFSA l, 266). Diese ästhe-
tische Welt sollte durch die frühromantische Revolution aus
den Angeln gehoben werden. Schlegel meint zuversichtlich: „Der
Augenblick scheint in der Tat für eine ästhetische Revolution
reif zu sein" (KFSA l, 269). Er war überzeugt, daß es zum
Übergang in diese neue Phase „einer völligen Umgestaltung, eines
totalen Umschwunges, einer Revolution" bedürfe (KFSA l, 270).
Ein weiteres wichtiges Element im historischen Selbstverständ-
nis der Frühromantiker hat in der Philosophie des Idealismus
bestanden. Das kommt bereits deutlich im Studium-Aufsatz zum
Ausdruck, in dem Kant, vor allem auf Grund seiner Kritik der

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
34 Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position

Urteilskraft, die wichtige Position der „Anfänge der dritten Epo-


che" zugesprochen wird (KFSA l, 357), Fichte aber als der
eigentliche Wegbereiter der dritten Epoche erscheint, deren Auf-
gabe damals noch in einem „objektiven System der praktischen
und theoretischen ästhetischen Wissenschaften" erblickt wurde
(KFSA l, 358). Diese Aufgabe wird aber schon bald von den
Frühromantikern selbst übernommen und ändert sich dann zu
einer flexibleren, von der Ironie durchdrungenen und sich in
Fragmenten ausdrückenden Ästhetik. Die Beziehung zur Philo-
sophie und zum Idealismus wird aber auch dann aufrecht erhal-
ten, obgleich dieser nicht mehr in der Philosophie Fichtes, son-
dern mehr in der frühromantischen Umbildung derselben besteht.
Aber die Neubegründung des Selbstbewußtseins aus der Refle-
xion darüber, wie Fichte sie in Gang gesetzt hatte, bleibt der
Ausgangspunkt für diesen neuen Ansatz. So heißt es über den
Idealismus in der Rede über die Mythologie^ daß mit ihm „in
der Geisterwelt ein fester Punkt konstituiert" sei, „von wo aus
die Kraft des Menschen sich nach allen Seiten mit steigender
Entwicklung ausbreiten kann" und daß „alle Wissenschaften und
Künste" von dieser „großen Revolution" ergriffen werden (KFSA
2, 312 — 13). Noch im Aufsatz Literatur, der bereits im Jahre
1803 in Paris verfaßt wurde, bezeichnet Friedrich Schlegel den
„Idealismus" als den „Mittelpunkt und die Grundlage der deut-
schen Literatur". Ohne ihn wäre eine „das Ganze der Natur
umfassende Physik" nicht möglich gewesen, und die „höhere
Poesie" sei nur „ein andrer Ausdruck derselben transzendentalen
Ansicht der Dinge" (KFSA 3,5). Nachdem Fichte das menschliche
Bewußtsein in seiner Tiefe erschüttert hatte, „indem er das freie
Selbstdenken zu einer Kunst organisierte", seien von hier die
wohltätigsten Auswirkungen auf alle Tätigkeiten des menschli-
chen Geistes ausgegangen (KFSA 3, 6). In den Schriften über
Lessing von 1804 sagte Schlegel rückblickend über sein Verhältnis
zur Französischen Revolution: „Mir schien sie in der Einsamkeit
der Spekulation nicht sehr bedeutend, wenigstens bei weitem
nicht so wichtig, als eine andre, größre, schnellere, umfassendere
Revolution, die sich unterdessen im Innersten des menschlichen
Geistes selbst ereignet hat." Das war für ihn „die Erfindung des
Idealismus", dessen Wesen darin besteht, „daß der Mensch sich
selber entdeckt hat" (KFSA 3, 96).

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
Das Bewußtsein literarischer Modernität 35

1. Der Streit der Alten und Modernen und


das Bewußtsein literarischer Modernität

Ein wichtiger Aspekt für das historische Selbstverständnis der


Frühromantik ergibt sich aus der querelle des anciens et des
modernes, dem Streit zwischen den Anhängern der klassischen
und der modernen, zeitgenössischen Literatur. Dabei handelt es
sich um eine für den Ursprung des Modernitätsbewußtseins
grundlegende literarische Debatte, die im siebzehnten und An-
fang des achtzehnten Jahrhunderts vor allem in Frankreich und
England, gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts auch in
Deutschland geführt wurde. Inspiriert von der Bedeutung des
Zeitalters Ludwigs XIV. und der Größe seiner Dichter Corneille
und Racine, oder überzeugt von der Einzigartigkeit des drama-
tischen Genies Shakespeares, suchten Kritiker wie Perrault, Fon-
tenelle und Saint-Evremond, oder Dryden und Hume die über-
wältigende Last der klassischen Antike für das moderne Litera-
turbewußtsein abzuschütteln und der Moderne Recht auf Eigen-
ständigkeit und Selbstvertrauen zu vermitteln. Bei diesen Ausein-
andersetzungen wurde der Nachweis versucht, daß das moderne
Zeitalter nicht nur über die Physik des Aristoteles hinausge-
wachsen war, sondern ebenfalls künstlerische Schönheiten ge-
schaffen hatte, von denen in seiner Poetik nichts zu finden war.
Nun wurden die Ideen des Fortschritts und der Perfektibilität,
die man zur Charakterisierung der Neuzeit in den Naturwissen-
schaften und der Philosophie verwandt hatte, auch für die Dich-
tung und die anderen Künste in Betracht gezogen. Die meist als
Vergleiche zwischen den Alten und Modernen verfaßten Ab-
handlungen verbanden sich natürlicherweise mit der Idee des
Fortschritts innerhalb der Menschheitsgeschichte und der dann
im achtzehnten Jahrhundert machtvoll hervortretenden Idee der
Perfektibilität.
Trotz dieser Ansätze hat sich aber das Bewußtsein selbstge-
wisser Modernität in der Poesie und in den Künsten bis spät ins
achtzehnte Jahrhundert nicht durchsetzen können. Während der
Gang der Wissenschaften und der Philosophie als unendlich
angesehen wurde, hat man für die Poesie und Künste einen durch

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
36 Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position

die stets gleichbleibende Menschennatur festgesetzten Punkt der


Vollkommenheit (point de perfection) angenommen, über den
die künstlerische Schöpferkraft nicht hinauszugelangen ver-
mochte. In bezug auf den historischen Status der Wissenschaften
und Künste, den Bereich der Vernunft und der Einbildungskraft,
macht sich in der Sehweise des europäischen Klassizismus ein
charakteristischer Antagonismus bemerkbar, insofern für die
Wissenschaften eine unabschließbare Vorwärtsbewegung ange-
nommen wurde, während für die Künste die Voraussetzung galt,
daß diese in der Bewegung des Kreislaufs immer wieder in den
Zustand des guten Geschmacks und der richtigen Normen zu-
rückkehren würden, von dem sie in Perioden der Entartung und
Barbarei abgewichen waren. Die prominenteste Formulierung
dieser ästhetischen Kreislauftheorie findet sich in der Einleitung
zu Voltaires Schrift Das Zeitalter Ludwigs XIV. von 1751. Vol-
taire sieht dies Zeitalter als letzten Höhepunkt in einer Folge
von vier Zeitaltern (äges) der Menschheitsgeschichte. Das erste
ist das des klassischen Athen; das zweite das des klassischen
Rom; das dritte das der Medici und des Ruhmes von Italien;
und das vierte jenes, das man „das Zeitalter Ludwigs XIV."
genannt hat und das von allen der Vollkommenheit am nächsten
kommt. 2 Aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts stammend
kann diese Ansicht verdeutlichen, wie lang die Vorstellung einer
kreislaufhaften Gleichförmigkeit in der Entwicklung der Künste
vorherrschend war.
Selbst wenn in diesem Kreislaufgeschehen der Moderne ein
Vorzug vor den Alten und eine größere Vollkommenheit zu-
erkannt wird, geschieht dies meist auf ambivalente Weise. Diese
Autoren wollten sich offensichtlich nicht so ausdrücklich als
modern erklären wie ihre Zeitgenossen in den Wissenschaften
und der Philosophie dies taten.3 Sie verwandten deshalb eine
verfeinerte, doppelbödige, skeptische Ausdrucksweise, welche die

2
Voltaire, Le siede de Louis XIV, in Oeuvres completes (Kehl: Im-
primerie de la Societe Litteraire — Typographique 1785), Bd. 20,
189-91.
3
Siehe Ernst Behler, Irony and the Discourse of Modernity (Seattle:
University of Washington Press 1990), 43.

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
Das Bewußtsein literarischer Modernität 37

Klassik in ihrer Normativität nicht antastete, aber dem eigenen


Zeitalter einen der Klassik kommensurablen Rang einräumte, ja
dieses in einzelne Gattungen, z. B. der Tragödie, sogar über die
klassische Antike stellte. Drydens Essay über die dramatische
Poesie (1668, revidierte Version von 1684) ist ein gutes Beispiel
für dieses verfeinerte Modernitätsbewußtsein aus dem englischen
„quarrel between the ancients and the moderns". Vier geistreiche
und gebildete Gesprächspartner, die auf einem Boot die Themse
hinunterfahren, beginnen eine Unterhaltung über kritische Ge-
genstände der Dichtung, die sich schon bald auf den Unterschied
zwischen den Alten und den Modernen auf dem Gebiet des
Dramas konzentriert und nicht nur das französische Theater,
sondern ebenfalls die Entwicklung der englischen Bühne von
Beaumont, Fletcher und Jonson bis zu Shakespeare einschließt.
Unter den Gesprächspartnern entdeckt man bald die Stimme von
Dryden (Neander). Er sieht in Shakespeares Dramen eine neue
Ausdrucksform der Literatur, die sich nicht mehr auf Regeln und
Etikette, sondern auf Lebensfülle, Humor, Leidenschaft und
„Witz" gründet. Er bezeichnet Shakespeare als den „Homer oder
Vater unserer dramatischen Dichter", als denjenigen unter den
alten und modernen Poeten, der die „größte und umfassendste
menschliche Seele" hatte. Aber als die vier Freunde in Somerset
Stairs landen, haben sie sich über nichts verständigt. Jeder hat
seine Meinung geäußert und Offenheit gegenüber den Argumen-
ten des anderen gezeigt. Dryden hob später die skeptische, iro-
nische Stimmung hervor, welche diese Unterhaltung beherrschte,
und verglich sie mit der Argumentationsweise in Platons Dialo-
gen. Er sagte: „Mein ganzer Diskurs war skeptisch, in der Art
der Gedankenführung, die von Sokrates, Platon und den alten
Akademikern verwandt wurde." Er fügte hinzu: „Wie man sieht,
ist es ein Dialog, der von Personen verschiedener Meinung ge-
führt wird, deren Meinungen alle im Zweifel belassen sind und
von den Lesern entschieden werden müssen."4

4
John Dryden, „An Essay of Dramatic Poesy", in Essays of John
Dryden. Herausgegeben von W. P. Ker (New York: Rüssel and Rüssel
1961), 124.

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
38 Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position

Aber selbst diejenigen Kritiker, welche mit Deutlichkeit die


Überlegenheit der Modernen über die Alten in der Literatur und
Dichtung vertraten, lehnten es ab, die Ideen des Fortschritts und
der Perfektibilität auf diesen Bereich anzuwenden. Der Grund
für ihr Widerstreben bestand darin, daß sie sich selbst schon
nicht mehr als Teil der großen Blütezeit der Literatur und Künste
sahen, die zum Beispiel das Zeitalter Ludwigs XIV. gekennzeich-
net hatte, sondern sich bereits auf der Seite des Niedergangs
fühlten. Dies veranlaßte Perrault zu dem ihm Freude bereitenden
Gedanken, „daß wir wahrscheinlich unsere Nachkommen um
wenig zu beneiden haben".5 Voltaire nannte das Zeitalter Lud-
wigs XIV. das „Zeitalter des Genies", wohingegen in seinem
Zeitalter „bloß über das Genie vernünftelt" wird. 6 Mit seiner
Schrift Das Zeitalter Ludwigs XIV. wurde er zum Historiogra-
phien dieser Epoche, der bereits außerhalb dieser Zeit steht und
ihr nicht mehr angehört. Diderot sah sich als einen Dichter, dem
die Philosophie die Saiten seiner Leier zerschnitten hatte.7 Im
Salon von 1767 schrieb er: „Die alten Straßen sind mit erhabenen
Vorbildern besetzt, die man sich nur mit Verzweiflung nachzu-
ahmen getraut. Man schreibt Poetiken; man erfindet neue Gat-
tungen; man wird sonderlich, bizarr, maniriert." 8 Solche Über-
legungen waren von Spekulationen über den Ursprung der Spra-
che begleitet, nach denen die ersten Stufen in einer imaginierten
Ursprungsgeschichte der Sprache konkret, metaphorisch und
poetisch waren, während die nachfolgenden zunehmend farblos,
künstlich, abstrakt und philosophisch wurden.

s
Charles Perrault, Parallele des Anciens et des Modernes en ce qui
regarde les arts et les sciences. Herausgegeben von Hans-Robert Jauß
(München: Kindler 1964), Bd. l, 99.
6
Voltaire, Defense du siede de Louis XIV in Oeuvres completes de
Voltaire. Nouvelle edition par Louis Moland, 52 Bde. (Paris: Garnier
1877-1885), Bd. 28, 338.
7
Franz Hemsterhuis, Lettre sur l'homme et ses rapports. Avec le
commentaire inedit de Diderot. Herausgegeben von George May
(New Haven: Yale University Press 1964), 85.
8
Salon. Herausgegeben von Jean Seznek und Jean Adhemar, Bd. 3,
Salon de 1767 (Oxford: Oxford University Press 1964), 336.

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
Das Bewußtsein literarischer Modernität 39

Der Grund für den Niedergang der Literatur wurde also in


einem Übergreifen der Philosophie und Reflexion auf deren Ge-
biet erblickt. Der „Preis des Fortschritts" und der Teilhabe der
Literatur an der Entwicklung der Ideen erschien als Auflösung
der klassischen Schönheit durch die Philosophie.9 Das „Wachsen
der Vernunft auf Kosten der Einbildungskraft" wurde als Nie-
dergang der Künste interpretiert. In Frankreich wie in England
verwandten die einflußreichsten Kritiker ein Schema, „in dem
die Einbildungskraft im Konflikt mit der Vernunft steht, deutlich
von Vernunft und Urteilskraft unterschieden ist und von der
Vernunft nicht nur behindert, sondern sogar bedrückt wird".10
Von einem selbstgewissen Modernitätsbewußtsein wird man in
dem Augenblick sprechen können, in dem die Beziehung zwi-
schen Einbildungskraft und Vernunft, Poesie und Philosophie
positiv gesehen und sogar ihre Vereinigung gefordert wird. Dies
geschah zum erstenmal in der Frühromantik. Hier wurde ein
Poesiebegriff entwickelt, der den kritischen, reflexiven Diskurs
mit der dichterischen Schöpfung unlösbar verknüpft. Damit
wurde die Dichtung gleichzeitig aus der kreisförmigen Bahn der
Wiederholung in die Bewegung der Progression überführt und
zur „progressiven Universalpoesie" (KFSA 2, 182) erklärt.
Durch Herder gelangte der Streit zwischen den Alten und
Modernen auch nach Deutschland. Doch fand diese Debatte erst
beträchtlich später als in Frankreich und England statt und hatte
auch nicht die in diesen Ländern vorherrschende Note einer
Apologie der eigenen Nationalliteratur, weil es diese zu diesem
Zeitpunkt in Deutschland noch gar nicht in einem ausgeprägten
Sinne gab. Der damit zusammenhängende Pluralismus und Kos-
mopolitismus der Herderschen Literaturkonzeption schuf ein
historisches Bewußtsein, das sich vom geschichtlichen Denken,
wie es in Frankreich und England im Verlauf dieser Debatte
hervorgetreten war, auf eine markante Weise unterscheidet. Auf
Grund seines kulturphilosophischen Relativismus ist Herder auch

9
Siehe Rene Wellek, „The Price of Progress in Eighteenth-Century
Reflections on Literature", Studies in Voltaire and the Eighteenth
Century 151 - 155, 2265 - 2284.
10
Rene Wellek, 2277.

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
40 Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position

nie in die Versuchung geraten, „das klassische Griechenland zum


Kanon alles Wahren, Guten und Schönen zu erheben"11, wie dies
viele seiner Landsleute unter dem Einfluß Winckelmanns taten,
während in der französischen Tradition und in anderen Ländern
meist die Römer zu den vornehmsten Mustern der Alten erklärt
worden waren.
Bereits der 1772 von Herder verfaßte Aufsatz Shakespeare
kann als Beitrag zu dieser Debatte interpretiert werden, obwohl
kein Wort über den Streit der Alten und Modernen darin vor-
kommt. Das Recht der Modernen auf ihre eigene Poetik und
Dramatik wird hier aus dem großen historischen Wandlungspro-
zeß hergeleitet, dem alle menschlichen Dinge unterliegen. Diese
historische Verwandlung einer Sache, in diesem Falle des Dramas,
geht so weit, „daß sie gar nicht mehr dieselbe bleibt" (HE 5,
210). Das Drama des Sophokles und das Shakespeares sind zwei
Dinge, „die in gewissem Betracht kaum den Namen gemein
haben" (HE 5, 209). Herder läßt keinen Zweifel daran, daß er
ein Moderner ist und erklärt kurz und bündig: „...ich bin Shake-
speare näher als den Griechen" (HE 5, 219). Seine zukunftsorien-
tierte Sehweise bekundet sich auch in der abschließenden melan-
cholischen Meditation, daß der mit dem Fortschritt der Ge-
schichte notwendig verbundene Prozeß des Alterns und Veraltens
auch diesen „großen Schöpfer von Geschichte und Weltseele"
erfassen werde (HE 5, 231).
In der siebten und achten Sammlung seiner Briefe zur Beför-
derung der Humanität von 1796, einer Altersschrift, hat Herder
das Verhältnis von Antike und Moderne erneut und in größeren
Zusammenhängen aufgegriffen und sich dabei auch direkt auf
den „berühmten Streit" in Frankreich bezogen (HE 18, 5). Er
gibt eine Fülle von Hinweisen auf den Geist der modernen
Dichtung Europas, sieht es aber als ein äußerst schwieriges
Unterfangen an, den grundlegenden Unterschied zwischen der
antiken und modernen Dichtung auf einen Nenner zu bringen.
„Alles in der Welt hat seine Stunde", meint er achselzuckend

" Hans-Georg Gadamer, „Herder und die geschichtliche Welt", in


Hans-Georg Gadamer, Kleine Schriften 111: Idee und Sprache (Tü-
bingen: J.C.B. Mohr 1977), 103.

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
Das Bewußtsein literarischer Modernität 41

(HE 18, 7), oder er begnügt sich mit der Feststellung: „Die Poesie
ist ein Proteus unter den Völkern" (HE 18, 134). Angesichts
dieser Vielfalt und Schnelligkeit historischen Wechsels wird selbst
der Begriff der Poesie für Herder ein solch „abgezogener, so
vielfassender Begriff, daß wenn ihm nicht einzelne Fälle deutlich
untergelegt werden, er wie ein Trugbild in den Wolken schwin-
det" (HE 18, 135). Letztlich will er es keiner Nation versagen,
daß sie sich ihren eigenen Lieblingsdichtern hingibt. Auch hier
besteht kein Zweifel daran, daß Herder auf der Seite der mo-
dernen Literatur steht. Freilich ist er für seine lockere, unsyste-
matische Weise zu denken oft von seinen Zeitgenossen gerügt
worden. Mit leichtem Tadel vermerkt auch Friedrich Schlegel,
daß es Herders Vorgangsweise sei, „jede Blume der Kunst, ohne
Würdigung, nur nach Ort, Zeit und Art zu betrachten". Er meint,
dies würde am Ende auf kein anderes Resultat führen, „als daß
alles sein müßte, was es ist und war" (KFSA 2, 54).
Schillers Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung
(1794 — 96) läßt sich ebenfalls als eine Schrift aus dem Umkreis
dieses Streites über den Wert der alten und modernen Poesie
interpretieren. Unter diesem Gesichtspunkt führt der Text zu
einer Rechtfertigung des modernen, sentimentalen Dichters ge-
genüber dem alten, naiven Poeten, obgleich dieser historische
Gesichtspunkt in Schillers Schrift nicht im Vordergrund steht.
Schiller sagt über die Einheit von Mensch und Natur, wie sie
angeblich in der klassischen Antike geherrscht haben soll: „Sie
liegt hinter dir, sie muß ewig hinter dir liegen" (FS 20, 428). Das
Ideal des modernen, aus der Kultur lebenden Menschen ist im
Unterschied hierzu unendlich und kann nie voll erreicht werden.
Aber es ist für Schiller klar, „daß das Ziel, zu welchem der
Mensch durch Kultur strebt, demjenigen, welches er durch Natur
erreicht, unendlich vorzuziehen ist". So war es auch keine Frage
für ihn, „welchem von beiden in Rücksicht auf jenes letzte Ziel
der Vorzug gebührt" (FS 20, 438).
Als Schüler Winckelmanns und Leser der Schrift Über die
Nachahmung der griechischen Werke scheint Friedrich Schlegel
in diesem „Streit" am entschiedensten die Bevorzugung der Alten
gegenüber den Modernen vertreten zu haben. Schiller verwandte
in einem bekannten Xenion Begriffe wie „Fieber" und „Gräko-

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
42 Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position

manie", um Schlegels Haltung gegenüber den Griechen zu be-


schreiben und scheint damit den Charakter seiner Schrift Über
das Studium der Griechischen Poesie gut getroffen zu haben.
Jedoch wird bei der genaueren Lektüre schon bald klar, daß
diese Schrift größere historische Zusammenhänge umspannt und
die moderne Literatur gleicherweise in die Betrachtung einbe-
zieht. Schlegel bemüht sich um ein literarisches Modernitätsbe-
wußtsein, das die klassische Antike nicht einfach hinter sich
zurückläßt oder sich von dieser abscheidet, sondern eine dyna-
mische Beziehung zwischen diesen beiden Bereichen, eine Wech-
selwirkung und eine Wechselbeziehung zwischen ihnen herstellt.
Bereits am 27. Februar 1794 hatte er seinem Bruder geschrieben:
„Das Problem unsrer Poesie scheint mir die Vereinigung des
Wesentlich-Modernen mit dem Wesentlich-Antiken; wenn ich
hinzusetze, daß Goethe, der erste einer ganz neuen Kunst-Periode,
einen Anfang gemacht hat, sich diesem Ziele zu nähern, so wirst
Du mich wohl verstehen" (KFSA 23, 185). Schlegel hielt daran
fest, daß die griechische Poesie den „höchsten Gipfel freier Schön-
heit" wirklich erreicht hatte. Aber er beschränkte diese Leistung
auf das Höchste, was in dieser Sphäre möglich war, auf ein
„relatives Maximum", wohingegen das „absolute Maximum" in
„keiner Geschichte wie in keiner Zeit" vorkommen kann (KFSA
l, 634). „Die Kunst", sagt Schlegel, „ist unendlich perfektibel
und ein absolutes Maximum ist in ihrer steten Entwicklung nicht
möglich: aber doch ein bedingtes, relatives Maximum, ein un-
übersteigliches fixes Proximum" (KFSA l, 288). Damit löst sie
sich aber nicht von der Vergangenheit ab, sondern setzt sich, um
das Vollendungsstreben am intensivsten zu gewährleisten, in
einen lebendigen Bezug zur klassischen Antike. „Der Gipfel der
natürlichen Bildung der Kunst", heißt es mit direkter Bezug-
nahme auf die höchsten Leistungen der Alten, „bleibt daher für
alle Zeiten das hohe Urbild der künstlichen Fortschreitung"
(KFSA l, 293).
Das von Friedrich Schlegel vertretene Verhältnis zu den Grie-
chen läßt sich ebenfalls mit seiner Theorie der Nachahmung
dieser poetischen Welt bestimmen. Dabei handelt es sich nicht
um die Nachahmung des „Buchstabens", d. h. der formalen
Aspekte der alten Poesie, die im Klassizismus im Vordergrund

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
Antagonismus von Weimarer Klassik und Jenaer Frühromantik 43

standen, sondern um die des „Geistes" (KFSA l, 346 — 47), der


Idee der Schönheit, ohne daß man sich dabei in seiner Eigentüm-
lichkeit beschränken läßt (KFSA l, 274). Diese wahre Nachah-
mung der Griechen läßt sich überhaupt nur von einem hoch
ausgebildeten Bewußtsein literarischer Modernität leisten, aber
erst durch sie, d. h. durch die lebendige Wechselwirkung mit den
Griechen, rückt dies Bewußtsein zur avanciertesten Spitze lite-
rarischer Modernität auf. Dieser Wechselbezug zwischen der
alten und neuen Welt fehlt in der französischen und englischen
Version des Streites der Alten und Modernen, aber auch bei
Herder und Schiller, und zeigt eine enge Verbindung mit der
Denkweise Nietzsches. Diese Haltung ist es, die Schlegel später
als „Wiederbelebung und Einverleibung der großen Ideen des
Altertums in unser eigenes Wesen" bezeichnet (KFSA 3, 64), oder
die er im Athenäum mit den Worten ausdrückt: „klassisch zu
leben, und das Altertum praktisch in sich zu realisieren" (KFSA
2, 188). Dabei ist offensichtlich, daß es sich um das Bildungs-
programm eines Modernen, eines „Neuern" handelt. Freilich
beherrschte Schlegel diesen Standpunkt zur Zeit des Studium-
Aufsatzes noch nicht voll. Erst nach der Beendigung dieser Arbeit
löste sich sein Gebanntsein von der klassischen Antike. Von da
an war er „nicht mehr passiv und aus Natur" klassisch, sondern
er konnte sich nun „frei klassisch stimmen" und sich „willkürlich
bald in diese, bald in jene Sphäre wie in eine andre Welt, nicht
bloß mit dem Verstande und der Einbildung, sondern mit ganzer
Seele versetzen" (KFSA 2, 185).

2. Der Antagonismus von Weimarer Klassik und


Jenaer Frühromantik

Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt für die literaturgeschicht-


liche Bestimmung der Frühromantik besteht in ihrem Verhältnis
zur Weimarer Klassik, der Welt Goethes und Schillers. Die Be-
ziehung zwischen diesen beiden Autorengruppen ist häufig un-
tersucht worden und hat die unterschiedlichsten Bestimmungen
erfahren. Eine oft vertretene und bereits im neunzehnten Jahr-

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
44 Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position

hundert bemerkbare Sehweise dieses Verhältnisses besteht darin,


die frühromantische Theorie und Dichtung als extreme, extra-
vagante Steigerung der von Goethe und Schiller vertretenen Po-
sitionen zu bestimmen, die jedoch von ihren Vorbildern nicht
wesentlich abgewichen ist.12 Eine andere Charakterisierung die-
ses Verhältnisses ergibt sich mit der bekannten Bezeichnung
„Vollendung" (Weimarer Klassik) und „Unendlichkeit" (Jenaer
Romantik), der aber bereits die Vorstellung einer „gesunden"
und einer „kranken" Ausprägungsform der deutschen Literatur
zugrunde liegt.13 Im Anschluß an Hegel und die Vertreter des
Jungen Deutschland wurde auch die radikalere Ansicht entwik-
kelt, mit der Frühromantik erfolge der Abweg von den Prinzipien
der Aufklärung und der Klassik zugunsten einer irrationalisti-
schen Regression ins Mittelalter.14 Dagegen erscheint außerhalb
Deutschlands der Unterschied zwischen den Frühromantikern
einerseits und Goethe und Schiller andererseits als so minimal,
daß der Name „romantisch" häufig als gemeinsame Bezeichnung
für beide Gruppen verwandt wird. Auch in der gegenwärtigen
deutschen Literaturgeschichtsschreibung spricht man „trotz
wichtiger Unterschiede" gern von einer „klassisch-romantischen
Literaturtheorie". Dabei geht es ausdrücklich um das „klassisch-
romantische Jahrfünft" vor der Wende zum neunzehnten Jahr-
hundert, also genau um den hier behandelten Zeitraum, der als
„widerspruchsvolle Einheit" von Klassik und Romantik begriffen
werden soll.15 Wendet man sich zeitgenössischen Äußerungen zu,

12
Hermann Hettner, Die romantische Schule in ihrem inneren Zusam-
menhang mit Goethe und Schiller (Braunschweig: Vieweg 1850).
13
Fritz Strich, Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und
Unendlichkeit, 4. Aufl. (Bern: Francke 1949).
14
Georg Lukacs, Kurze Skizze einer Geschichte der deutschen Literatur
(Neuwied: Luchterhand 1975).
15
Karl Robert Mandelkow, „Kunst- und Literaturtheorie der Klassik
und Romantik", Europäische Romantik, Bd. 1. Herausgegeben von
Karl Robert Mandelkow (Neues Handbuch der Literaturwissen-
schaft, Bd. 14. Wiesbaden: 1982), 49-82; Karl Robert Mandelkow,
Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Bd. l
(München: Athenaion 1950).

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
Antagonismus von Weimarer Klassik und Jenaer Frühromantik 45

so findet ein solcher Versuch im Selbstverständnis dieser Zeit


durchaus seine Entsprechung. So hat Goethe diesen knappen
Zeitraum vor der Jahrhundertwende zurückblickend als eine
ungemein fruchtbare Zeit im deutschen Geistesleben gepriesen,
wobei er die Frühromantiker ausdrücklich einschloß. Er bezog
sich dabei, wie er es formulierte, auf „jene für mich so bedeutende
Epoche, das letzte Zehend des vergangenen Jahrhunderts", das
er „wo nicht darzustellen, doch anzudeuten, zu entwerfen"
wünschte und in dem seiner Ansicht nach eine „ganz neue
Ästhetik" entstanden war (GOE 16, 876-77).
Um diese Beziehung zwischen „Romantikern und Klassikern"
aus der zeitgenössischen Perspektive in den Blick zu bekommen,
muß man davon ausgehen, daß sich die Frühromantiker gar nicht
mit dem distanzierenden Namen Romantiker bezeichneten, son-
dern bestenfalls als Repräsentanten der „neuen Schule" sahen.
Entsprechend haben sie Goethe und Schiller nicht als „Klassiker"
aufgefaßt, sondern einen dynamischen Begriff der Klassik ent-
wickelt, der diese letztlich auflöste und in die Bewegung der
unendlichen Perfektibilität mit einbezog. In seinem Aufsatz Ge-
org Forster von 1797, der den Untertitel „Fragment einer Cha-
rakteristik der deutschen Klassiker" trägt, ironisiert Friedrich
Schlegel den traditionellen Begriff des Klassischen, den sich die
meisten seiner Zeitgenossen nicht denken konnten „ohne Mei-
lenumfang, Zentnerschwere und Äonendauer" (KFSA 2, 92) und
sah das wahrhaft Klassische durch hermeneutische Unausschöpf-
barkeit gekennzeichnet. „Alle klassischen Schriften werden nie
ganz verstanden, müssen daher ewig wieder kritisiert und inter-
pretiert werden", sagte er in einem Fragment von 1797 (KFSA
16, 141), oder in einer anderen Version desselben Gedankens:
„Eine klassische Schrift muß nie ganz verstanden werden können.
Aber die, welche gebildet sind und sich bilden, müssen immer
mehr daraus lernen können" (KFSA 2, 149). Aufgrund dieser
unendlichen Verstehenspotenz verbindet sich dieser Begriff des
Klassischen aufs engste mit der Aktivität des Interpreten und
verliert dadurch die Aura des Vorgegebenen, Vorbildhaften und
ewig Gültigen, insofern der Kritiker in einem unendlichen Prozeß
die Klassizität der betreffenden Werke immer wieder neu zu
realisieren hat. Damit wird freilich in letzter Konsequenz der

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
46 Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position

Begriff des Klassischen aufgehoben, ja „vernichtet". In der Tat


sagt Schlegel: „Alles Alte wird neu durchs Studium des Klassi-
schen, und alles Neue sei alt, d. h. klassisch, und wird alt, d. h.
übertroffen, antiquiert" (KFSA 18, 26). In dem genannten Essay
Georg Forster heißt es sogar direkt: „Schlechthin unübertreffliche
Urbilder beweisen unübersteigliche Grenzen der Vervollkomm-
nung. In dieser Rücksicht könnte man wohl sagen: der Himmel
behüte uns vor ewigen Werken" (KFSA 2, 79-80).
Goethe und Schiller haben sich selbst auch keineswegs als
Klassiker aufgefaßt, obwohl sich Goethe mit der Frage nach
klassischen Autoren in der neueren deutschen Literatur direkt
befaßte. In dem Aufsatz Literarischer Sansculottismus, der 1795
in den Hören erschien, kam er aber zu dem Ergebnis, „daß kein
deutscher Autor sich selbst für klassisch hält", weil nämlich „die
Forderungen eines jeden an sich selbst strenger sind", als es die
Verwendung dieses Ausdrucks zulassen würde (GOE 14, 180).
Wenn man Schillers Unterscheidung der naiven und sentimen-
talischen Dichtung in diesen Zusammenhang stellt, dann hat
Schiller sich auf die unklassische Seite der sentimentalischen
Poesie gestellt, Goethe aber eine Position innerhalb der naiven
Poesie zuerkannt, was Goethe selbst freilich abgelehnt hätte.
Jedenfalls ist diesen beiden Autoren die Vorstellung von zwei
Seite an Seite wirkenden Klassikern fremd gewesen, die im Bild
der Weimarer Klassik enthalten ist. In einer nicht ganz genauen
Erinnerung sagte Goethe am 21. März 1830 zu Eckermann über
die Entstehungsgeschichte von Schillers Schrift: „Ich hatte in der
Poesie die Maxime des objektiven Verfahrens und wollte nur
diese gelten lassen. Schiller aber, der ganz subjektiv wirkte, hielt
seine Art für die rechte, und um sich gegen mich zu wehren,
schrieb er den Aufsatz über naive und sentimentale Dichtung"
(GOE 24, 405). Goethe betonte mit Bezug auf Schiller die „un-
geheure Kluft zwischen unseren Denkweisen" ebenfalls in dem
autobiographischen Aufsatz Glückliches Ereignis von 1817, der
später den Titel Erste Bekanntschaft mit Schiller erhielt. Er
bestimmte in dieser Studie sein ursprüngliches Verhältnis zu
Schiller als das von „Geistesantipoden, zwischen denen mehr als
ein Erddiameter die Scheidung" macht und sah den grundlegen-
den Unterschied zwischen ihnen darin, daß Schiller das „Evan-

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
Antagonismus von Weimarer Klassik und Jenaer Frühromantik 47

gelium der Freiheit" predigte, während er selbst die „Rechte der


Natur" nicht verkürzt wissen wollte (GOE 16, 876-77).
Ebensowenig haben Goethe und Schiller die Frühromantiker
als Romantiker gesehen. Mit Novalis unterhielt Schiller bereits
im Jahre 1791 eine enge persönliche Beziehung, die von Novalis
mit einer grenzenlosen Verehrung Schillers beantwortet wurde
(NO 4, 93 — 94) und von der späteren frühromantischen Wendung
gegen Schiller unbeeinträchtigt blieb. Wenn Schiller auch Fried-
rich Schlegel aus Abneigung gegen dessen Schriftstellertum die
Mitarbeit an den Hören versagte, so reihte er August Wilhelm
Schlegel wie selbstverständlich in die Gruppe der dort vertretenen
Autoren ein. Obwohl Goethe zuerst auf Grund der republika-
nischen Vergangenheit seiner Frau Caroline befürchtete, August
Wilhelm Schlegel möchte wohl „einige demokratische Tendenz"
haben, sprach er über ihn bald von „geistiger Nachbarschaft",
von „Ähnlichkeit der Gesinnung" (GOE 19, 343), ja er bezeich-
nete den älteren Schlegel als „Gleichgesinnten" (GOE 19, 446)
und schrieb ihm am 5. März 1800: „Mit Verlangen erwarte ich
was Sie und Ihre Geistesverwandten uns Neues zubereiten" (GOE
19, 397). Auch Friedrich Schlegel wurde, anfangs sogar von
Schiller, in diesem Sinne als „Mann der neueren Generation"
und als Verbündeter gegen die Feinde aus dem Lager der Auf-
klärung begrüßt (GOE 20, 144). Freilich änderte sich dies Ver-
hältnis auf Seiten Schillers bereits im Sommer 1797, als er wegen
seiner literarischen Fehde mit Friedrich Schlegel, an der August
Wilhelm Schlegel versteckt beteiligt war, dem letzteren die wei-
tere Zusammenarbeit aufkündigte. Von nun an zeigt sich auf
seilen Schillers manchmal eine starke Animosität gegen die Früh-
romantiker, von der Novalis aber ausgenommen war und die
sich hauptsächlich gegen die Brüder Schlegel richtete. Diese be-
antworteten Schillers Feindschaft dadurch, daß sie ihn in ihren
Schriften von nun an nicht mehr erwähnten, wozu sie schon
dadurch gezwungen wurden, daß Goethe keine weiteren litera-
rischen Feindseligkeiten gegen Schiller duldete. Goethe äußerte
sich dagegen weiterhin anerkennend über die von ihm so be-
nannten „Dioskuren" und erfreute sich an den „brüderlichen
Schlegeln", den „frechen Vögeln" (GOE 2, 424). Nachdem sich
der Kreis der Frühromantiker im Jahre 1801 aufzulösen begann,

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
48 Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position

unterhielt Goethe mit den Brüdern Schlegel noch lange darüber


hinaus ein „tätiges mitteilendes Verhältnis" (GOE 11, 679). Gegen
den Widerstand der Weimarer Gesellschaft führte er die Dramen
Jon von August Wilhelm Schlegel und Alarcos von Friedrich
Schlegel auf. Er vermittelte August Wilhelm Schlegels Verbindung
mit Frau von Stael, stand mit Friedrich Schlegel während dessen
Aufenthalt in Paris in Kontakt (GOE 11, 714; 19, 447) und zeigte
sich in den folgenden Jahren von den Calderon-Übersetzungen
August Wilhelm Schlegels tief beeindruckt (GOE 22, 314, 317).
Um den Zusammenhang der Frühromantik mit Goethe und
Schiller in seiner historischen Komplexität in den Blick zu be-
kommen, empfiehlt es sich also, eine ganze Reihe von Vorstel-
lungen und Begriffen zu vermeiden, die im Verlauf der Litera-
turgeschichtsschreibung eingeführt worden sind und bei der Deu-
tung dieser Vorgänge unwillkürlich ins Spiel treten. Für den
Charakter der frühromantischen Literaturtheorie ist es dabei von
großer Wichtigkeit, daß sie zu Anfang in enger Anlehnung an
Goethe und Schiller entstand. Es wurde bereits gezeigt, daß
Goethe als Neuanbruch echter Poesie, als „Morgenröte echter
Kunst und reiner Schönheit" von Friedrich Schlegel begrüßt
worden war und zusammen mit Dante und Shakespeare den
„großen Dreiklang der modernen Poesie" bildete. Ganz ähnlich
sagte Novalis über Goethe in den Blutenstaub-Fragmenten, daß
dieser „jetzt der wahre Statthalter des poetischen Geistes auf
Erden" sei (NO 2, 495). August Wilhelm nannte Goethe den
„Wiederhersteller der Poesie in Deutschland" (AWS V 2). Dabei
bezogen sich die Frühromantiker in erster Hinsicht auf Goethes
Romankunst, vor allem auf seinen Roman Wilhelm Meisters
Lehrjahre. Der Grund für die hohe Anerkennung der poetischen
Qualität des Wilhelm Meister lag in Goethes ausgebildeter Er-
zähltechnik, mit der er durch Spiegelungen, Korrespondenzen,
Kontrastierungen, Antizipationen, Symbolisierungen, Steigerun-
gen, Retardationen und Ironie dem Werk eine poetische Einheit
verlieh, die von der prosaischen Erzählweise der Romane aus
dem achtzehnten Jahrhundert wie durch eine Kluft getrennt war.
Es ist charakteristisch für Friedrich Schlegels berühmte Rezension
des Wilhelm Meister, daß sie sich strukturalistisch und forma-
nalytisch auf die innere Organisation des Werkes, seine „Voll-

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
Antagonismus von Weimarer Klassik und Jenaer Frühromantik 49

ständigkeit der Verknüpfung" konzentriert und einer Erörterung


des im vierten Band entwickelten Bildungs- und Humanitäts-
ideals ausweicht. Dies Erwachen der Poesie in der Prosagattung
des Romans machte einen derartigen Eindruck auf Friedrich
Schlegel, daß er nicht zögerte, die neue Romanpoesie mit den
höchsten Errungenschaften der klassischen griechischen Literatur
auf eine Ebene zu rücken und den Roman damit als das charak-
teristische Medium der modernen Literatur herauszuarbeiten
(KFSA 2, 335). August Wilhelm leitete den tief poetischen Cha-
rakter des Wilhelm Meister aus dem Erzählrhythmus seiner
Sprache ab, den er mit dem „oratorischen Numerus" der klas-
sischen Prosakunst verglich. Er erblickte darin das wichtigste
Mittel, einen „Roman durchaus poetisch zu machen, obgleich
die Schreibart rein prosaisch bleiben muß", wobei er hinzufügte:
„und im Wilhelm Meister scheint dies wirklich ausgeführt zu
sein" (AWS SW 11, 220}. Novalis sah eine „merkwürdige Eigen-
heit" Goethes als Dichter in den „Verknüpfungen kleiner, unbe-
deutender Vorfälle mit wichtigern Begebenheiten" und charak-
terisierte dies als einen „artigen Kunstgriff", die „Einbildungs-
kraft, auf eine poetische Weise, mit einem mysteriösen Spiel zu
beschäftigen" (NO 2, 424), was für ihn ebenfalls eine hohe
Manifestation des poetischen Talentes war.
Schiller ist für die geschichtsphilosophische Komponente im
frühromantischen Denken und das ausgeprägte Modernitätsbe-
wußtsein der Frühromantiker von Bedeutung gewesen, vor allem
für die Bestimmung des Verhältnisses von Antike und Moderne,
Klassik und Romantik, wie sie von Friedrich Schlegel im Stu-
dium-Aufsatz vorgenommen wurde. Wie Friedrich Schlegel in
der Einleitung zu diesem Essay sagt, hatte Schillers Abhandlung
nicht nur seine Einsicht in den Charakter der modernen Poesie
erweitert, sondern ihm auch „über die Grenzen des Gebiets der
klassischen Poesie ein neues Licht gegeben" (KFSA l, 209). Schil-
ler hatte damit die Haltung entscheidend gefördert, die nach der
Veröffentlichung dieser Schrift als die für die Frühromantik cha-
rakteristische Einstellung gegenüber der antiken und modernen
Poesie ins Spiel kommt, selbst wenn diese von Schillers eigener
Position verschieden ist.

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
50 Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position

Eine genauere Untersuchung dieser Verhältnisse zeigt aber


bald, daß die poetische Kritik und Reflexion, die in der Früh-
romantik am Werk ist, keineswegs bei der europäischen Klassi-
zistik und bei deutschen Autoren wie Jacobi, Wieland oder
Herder einhielt, sondern in unaufhaltsamer Konsequenz auf
Schiller und sogar auf Goethe übergriff, ja einen Begriff von
absoluter Poesie aufstellte, vor dem kein Werk des achtzehnten
Jahrhunderts und der eigenen Zeit, nicht einmal die eigenen
bestehen konnten. Im Falle Schillers war diese entstehende Ge-
gensätzlichkeit stark durch persönliche Animositäten bestimmt,
richtete sich aber bald schon gegen den entscheidenden Punkt in
Schillers Geschichtsdenken und seine Theorie der Modernität.
Dieser bestand in dem Gedanken sich voneinander abscheidender
Phasen der Geschichte im Sinne der naiven und sentimentalen
Poesie. Indem er sich auf den Begriff des Naiven konzentriert,
bezeichnet Friedrich Schlegel im Athenäum dieses als „was bis
zur Ironie oder bis zum steten Wechsel von Selbstschöpfung und
Selbstvernichtung natürlich, individuell oder klassisch ist". Das
von Schiller beschriebene Naive hat es hiernach nie gegeben oder
es ist nur „kindlich, kindisch, oder albern". Wäre es bloße
Absicht, „so entsteht Affektation": „Das schöne, poetische, idea-
lische Naive muß zugleich Absicht, und Instinkt sein" {KFSA 2,
172 — 73). Schon früher hatte er Schillers Einteilung mit dem
Vorschlag verspottet, diese „auch auf die Kunsturteile" anzu-
wenden und die Schrift des Autors indirekt mit einbezogen, als
er schrieb: „Es gibt sentimentale Kunsturteile, denen nichts fehlt
als eine Vignette und ein Motto, um auch vollkommen naiv zu
sein. Zur Vignette, ein blasender Postillion. Zum Motto eine
Phrasis des alten Thomasius beim Schluß einer akademischen
Festrede" (KFSA 2, 150). August Wilhelm Schlegel sagte direkter,
daß Schillers Dichotomie aus der Perspektive des Sentimentalen
entworfen sei und fragte: „Für wen könnte das sogenannte Naive
wohl naiv sein als für den Sentimentalen?"
Die Kritik an Goethe richtete sich zum großen Teil auf dessen
Romanpoesie, in der gleichzeitig seine größte dichterische Lei-
stung erblickt wurde. Aber man braucht nur Romanwerke wie
Tiecks Franz Sternhalds Wanderungen und Novalis' Heinrich
von Ofterdingen dem Wilhelm Meister gegenüberzustellen, um

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
Das Verhältnis zum transzendentalen Idealismus 51

den grundlegenden Unterschied des frühromantischen Romans


von Goethes Kunstwerk sichtbar zu machen, obwohl diese Ro-
mane häufig als bloße Nachahmungen von Goethes Werk miß-
verstanden worden sind. Noch schärfer zeichnen sich diese Un-
terschiede in der Romantheorie der Frühromantik ab. Der zen-
trale Punkt in dem sich ausbildenden Antagonismus der Jenaer
Frühromantik und Weimarer Klassik hat aber in der Konzeption
der absoluten Poesie bestanden, wie sie Friedrich Schlegel und
Novalis zur Zeit der Jahrhundertwende auf je verschiedene Weise
ausgearbeitet haben und der schließlich kein Autor des acht-
zehnten Jahrhunderts, auch Goethe nicht, genügen konnte. Von
diesem Standpunkt aus erschien Novalis der Wilhelm Meister
schließlich im höchsten Grade als unpoetisch, als eine „Satire
gegen die Poesie" und so undichterisch, daß man nach seiner
Lektüre keinen anderen Roman mehr lesen möchte (NO 3,
646 — 47). Diese Entwicklung zeigt, daß das literarische Selbst-
bewußtsein der Frühromantiker zwar bei poetischen Leistungen
und poetologischen Ansichten Goethes und Schillers ansetzte,
diesen aber durch die romantische Revolution eine Potenz verlieh,
mit der jede Klassik aufgehoben wurde und bestenfalls eine
„grenzenlos wachsende Klassizität" übrigblieb (KFSA 2, 183).

3. Das Verhältnis zum transzendentalen Idealismus


Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich in der Beziehung der Früh-
romantik zum transzendentalen Idealismus. Es wurde bereits
darauf hingewiesen, daß die Frühromantiker für die von ihnen
erstrebte Dichtung wie für die Theorie den Idealismus als „Mit-
telpunkt und Grundlage der deutschen Literatur" ansahen und
das, was sie als „höhere Poesie" bezeichneten, nur „ein anderer
Ausdruck derselben transzendentalen Ansicht der Dinge" für sie
war (KFSA 3, 5). Diese hervorragende Bedeutung für die früh-
romantische Theorie wurde bereits Kant zuerkannt, der eine
ganz neue Ansicht von der Natur des Schönen einführte und
damit der Ästhetik eine andere Richtung wies, ja sie auf eine
höhere Stufe führte. Das bezog sich vor allem auf die Kritik der
Urteilskraft, in der diese Theorie des Schönen in Verbindung mit

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
52 Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position

einer neuen Sehweise der Einbildungskraft in Erscheinung getre-


ten war. Auf Grund dieser Einsichten wurde Kant der Philosoph,
wie Rene Wellek es formulierte, „der auf klare und entschiedene
Weise die Besonderheit des ästhetischen Bereichs" herausarbei-
tete. Wie man die Verhältnisse auch beurteilen will, sagt Wellek:
„Erst bei Kant findet man die These entwickelt, daß der ästhe-
tische Bereich von den moralischen, utilitären und wissenschaft-
lichen Bereichen verschieden ist, weil sich der Zustand der ästhe-
tischen Erfahrung tiefgreifend von unserer Perzeption des An-
genehmen, Nützlichen, Wahren, Guten unterscheidet." Wellek
fahrt mit Bezug auf die Kantische Theorie fort: „Der ästhetische
Bereich ist der der Einbildungskraft, und zwar der dargestellten,
objektivierten, symbolisierten, distanzierten, kontemplierten Ein-
bildungskraft." 16
Hier soll es darum gehen, jene Punkte der Kantischen Ästhetik
hervorzuheben, die für die Frühromantiker von besonderer Wich-
tigkeit geworden sind. In der Begegnung mit dichterischen Ge-
genständen im ästhetischen Zustand, so könnte man Kants Ar-
gument formulieren, beziehen wir uns nicht mit dem Verstand
auf das Objekt zum Zweck der Erkenntnis desselben, sondern
wir beziehen uns durch die Einbildungskraft auf das empfindende
Subjekt und „das Gefühl der Lust oder Unlust desselben" (KA
5, 204). Es geht hier also nicht um Erkenntnis, um Logik, sondern
um die Erfahrung der Kunst, um Ästhetik, die nur subjektiv sein
kann und zur objektiven Erkenntnis eines Gegenstandes nichts
beiträgt. Dieser freie Zustand des ästhetischen Wohlgefallens
wird von Kant auch mit dem bekannten Ausdruck umschrieben,
daß er „ohne alles Interesse" ist, daß es sich dabei um ein
„interesseloses Wohlgefallen" handelt, bei dem er, Kant, von
einem realen Interesse an dem Gegenstand, z. B. von militaristi-
schen Erwägungen, frei sei (KA 5, 211). Freilich stelle er sich
diesen Zustand nicht nur als seinen eigenen, sondern als den
eines „allgemeinen Wohlgefallens" für alle Menschen vor, der
für jedermann gelten soll und den er zwar nicht mit der Kraft

16
Rene Wellek, „Immanuel Kant's Aesthetics and Criticism", Rene
Wellek, Discriminations. Further Concepts of Criticism (New Haven:
Yale University Press 1970), 124-126.

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
Das Verhältnis zum transzendentalen Idealismus 53

apodiktischer Gewißheit, auch nicht mit der eines moralischen


Postulates, wohl aber mit der Überzeugung eines ästhetischen
Geschmacksurteils vertreten kann, mit dem er auf „jedermanns
Einstimmung" abziele und jedermann diese Einstimmung „an-
sinne" (KA 5, 215). Aus diesen Formulierungen ging unter an-
derem die frühromantische Theorie des „Kunsturteils" hervor,
bei dem es nach Friedrich Schlegel im wesentlichen darauf an-
kommt, „einen Widerschein des Werks selbst zu geben, seinen
eigentümlichen Geist mitzuteilen, den reinen Eindruck so dar-
zustellen, daß der Gehalt der Darstellung schon das künstlerische
Bürgerrecht ihres Urhebers beglaubigt". Schlegel fügt hinzu:
„nicht bloß ein Gedicht über ein Gedicht, um eine Weile zu
glänzen; nicht bloß den Eindruck, welchen das Werk gestern
oder heute auf diesen oder jenen macht oder gemacht hat,
sondern den es immer auf alle Gebildeten machen soll" (KFSA
l, 499).
Bei der Bestimmung der Einbildungskraft, die von gleicher
Bedeutung für die Kantische Ästhetik wie für die frühromantische
Theorie ist, machen sich dagegen große Diskrepanzen bemerk-
bar. Für Kant hat die Einbildungskraft nicht den hohen Status
wie in der Frühromantik, wo sie fertige Kunstwerke hervorzu-
bringen vermag. Hier herrschte der Eindruck vor, daß Kant trotz
seines machtvollen Eintretens für die Autonomie der Kunst ihrem
eigentlichen Organ, nämlich der Einbildungskraft, nicht genü-
gend Eigenständigkeit zuerkannt hatte, indem er sie mit dem
Verstand oder der Vernunft verkoppelte, bzw. diesen Vermögen
einfach unterordnete. So kam in seine Lehre eine falsche Note
hinein, die es zu berichtigen galt, indem man die Einbildungskraft
in ihrer vollen Potenzialität und spezifischen Wirkungsweise
herausarbeitete. Wenn man die Einbildungskraft als ein beson-
deres Vermögen herausarbeiten wollte, so könnte man dieses
Argument entwickeln, dann unterscheidet sie sich von der Ver-
nunft durch ihre ungemein individuelle, subjektive, persönliche
Art zu empfinden. Indem er aus besonderen Gründen an dieser
Stelle das Wort Poesie für Einbildungskraft verwandte, sagt
Friedrich Schlegel zu Beginn seines Gesprächs über die Poesie:
„Die Vernunft ist nur eine und in allen dieselbe; wie aber jeder
Mensch seine eigne Natur hat und seine eigne Liebe, so trägt

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
54 Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position

auch jeder seine eigne Poesie in sich." (KFSA 2, 284). Unter


diesem Gesichtspunkt könnte man die Einbildungskraft sogar als
eine Erkenntnisform ansehen, die freilich auf eine viel individu-
ellere Weise verfährt, als die nach transzendentalen Begriffen und
Gesetzen operierende Vernunft. Schlegel scheint anzunehmen,
daß die Einbildungskraft das primäre Vermögen in unserer Welt-
begegnung ist und die Vernunft erst zu wirken beginnt, nachdem
sich dieser poetische Bezug zur Welt eingestellt hat. Die Welt
erscheint wie ein Kunstwerk, wie ein Gedicht, wie „der Reichtum
der belebenden Natur an Gewächsen, Tieren und Bildungen jeder
Art, Gestalt und Farbe", wie eine „bewußtlose Poesie, die sich
in der Pflanze regt, im Lichte strahlt" (KFSA 2, 285). Wir ver-
mögen diese ursprüngliche Poesie unmittelbar zu vernehmen und
in eine „Poesie der Worte" umzuformen, „weil auch ein Teil des
Dichters, ein Funke seines schaffenden Geistes in uns lebt" (ib.).
Selbst vom Modus des Erkennens ergibt sich hier die irreduzible
Eigenständigkeit der Phantasie gegenüber der Vernunft. Denn
während die Vernunft zu einer Vereinheitlichung ihrer Erkennt-
nisgegenstände tendiert, zeichnet sich die Einbildungskraft durch
eine Hinneigung nicht nur zur größtmöglichen Fülle und Man-
nigfaltigkeit aus, sondern ebenfalls durch die Einbeziehung der
komischen, drolligen, koboldhaften Züge des Lebens, welche die
Vernunft zu eliminieren trachtet. Schlegel verwendet für diese
Sehweise der Welt gern Wörter wie „Spielwerk" oder „Musik"
des Lebens und spricht davon, daß die Poesie „die Musik des
Lebens phantasieren soll" (KFSA 2, 282-83). Damit hatte er
sich aber weit aus der Welt der Kantischen Vermögenslehre
hinausbewegt.
Die Beschäftigung mit Fichte nahm einen viel intensiveren
Verlauf als die mit Kant. Während die Auseinandersetzung mit
Kant hauptsächlich von den Brüdern Schlegel in Angriff genom-
men wurde, wobei August Wilhelm Schlegel noch eine ein-
gehende Kritik der Kantischen Ästhetik erstellte (AWS V l,
228 — 51), war die Philosophie Fichtes vornehmlich das Interesse
von Friedrich Schlegel und Novalis und wurde auch zum großen
Teil von ihnen gemeinschaftlich diskutiert. Als Friedrich Schlegel
im Sommer 1796 nach Jena übersiedelte und bei seinem Freund
in Weißenfels einen Besuch machte, fand er diesen in einem

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
Das Verhältnis zum transzendentalen Idealismus 55

intensiven Fichtestudium vor. Novalis hatte ihm dies in seinem


Einladungsbrief bereits angekündigt und geschrieben: „Mein
Lieblingsstudium heißt im Grunde wie meine Braut. Sofie heißt
sie — Philosophie ist die Seele meines Lebens und der Schlüssel
zu meinem eigenen Selbst." Über Fichte fügte er hinzu: „Er ists,
der mich weckte und indirekte zuschürt" (NO 4, 188). Schlegel
hatte bereits seine erste Schrift in den Druck gegeben, in der er
über Fichte sagte, daß dieser „das Fundament der kritischen
Philosophie" entdeckt hätte (KFSA l, 358). Während dieses Auf-
enthaltes erörterten die Freunde in stundenlangen Unterhaltun-
gen ihre Entdeckungen, und Schlegel bezog sich auf diese Ge-
spräche, als er am 5. Mai 1797 an Novalis schrieb: „Wie schön
wäre es, wenn wir so allein beisammen sitzen könnten ein paar
Tage und philosophierten, oder wie wirs immer nannten —
fichtisieren!" (KFSA 23, 363). Wenn man freilich den Inhalt ihres
Fichtisierens zu diesem Zeitpunkt zu bestimmen hätte, würde
dieser in einer kritischen Erhebung über die von ihnen wahrge-
nommenen Grenzen der Fichteschen Philosophie bestanden
haben, um damit die reflektierende und selbstkritische Tätigkeit
des Geistes vor jeder disziplinären (Philosophie) und systemati-
schen (Wissenschaftslehre) Fixierung zu bewahren.
Dieser Prozeß der Auseinandersetzung mit dem Philosophen
läßt sich an den Fichte-Studien des Novalis gut ablesen. Dabei
handelt es sich um tagebuchmäßig aufgezeichnete Lesereaktionen
des Novalis auf Fichtesche Texte.17 Auf welche Stelle er sich
konkret bezieht, läßt sich gewöhnlich schwer ausmachen. Das
zentrale Thema ist offensichtlich das der Philosophie, die aber
für Novalis keineswegs der einzige Bereich der geistigen Erfah-

17
Der Text entstammt einer Gruppe von Handschriften, die Aufzeich-
nungen des Novalis über zeitgenössische Philosophen enthalten, ins-
besondere zu Kant, Fichte und Hemsterhuis. In der als Fichte-Studien
bezeichneten Gruppe kommt die Auseinandersetzung des Novalis mit
Fichte zum Ausdruck, ohne daß Fichte jedoch immer im Vordergrund
der Überlegungen steht und man diese Aufzeichnungen ebensogut
als Denküberlegungen im Bereich der Philosophie bezeichnen könnte,
die sich des Mediums der Fichteschen Denkweise bedient: NO 2,
104-274.

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
56 Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position

rung ist wie für Fichte, sondern innerhalb eines größeren Rah-
mens steht, in dem Glaube, Liebe, Poesie, Religion dieselbe
Existenzberechtigung haben. In dieser Hinsicht lassen sich diese
Fichte-Studien als Versuche beschreiben, die „Tätigkeiten des
Geistes" auf eine umfassendere Weise zu analysieren als dies bei
Fichte geschieht. Novalis konzentriert sich dabei auf die Theorie
des Ich, die er mit dem für ihn typischen Personbegriff in Bezie-
hung bringt. Er sucht eine Theorie der Einbildungskraft zu
entwickeln, die dichterische Kraft im Gegensatz zur philosophi-
schen zu bestimmen und überhaupt den Umkreis des Fichteschen
Denkens zu sprengen, indem er die Wissenschaft durch den
Glauben, die Liebe, die Religion ergänzt — gemäß dem Aus-
spruch: „Spinoza stieg bis zur Natur — Fichte bis zum Ich, oder
der Person. Ich bis zur These Gott." Novalis versucht Begriffs-
klärungen, die den „Erfordernissen einer allgemeingültigen Phi-
losophie" entsprechen („Leben" — „was" - „Nichts"), den Ge-
fühls- und Reflexionstrieb voneinander abzuheben, die „intellek-
tuelle Anschauung" mit der „intellektuellen Sehkraft" zu ver-
gleichen und überhaupt alles, was ihm merkwürdig erscheint,
aufzuzeichnen und in seine eigene Sprache und Auffassungsweise
zu übersetzen. Hier schreibt nicht einer, der sich aus einer über-
legenen Kenntnis mit der Fichteschen Philosophie von außen
auseinandersetzt, wie Friedrich Schlegel, sondern jemand, der
aus einem wirklichen Verständnisbedürfnis in diese einzudringen
sucht und dabei nicht nur mit Fichte, sondern mit der Philosophie
überhaupt ins klare kommen möchte. Dies verleiht den Aufzeich-
nungen des Novalis einen diskursiven Charakter, manchmal eine
dialogische Art der Formulierung.
Ein besonderes Thema, das in diesen Fichte-Studien hervor-
tritt, betrifft die Beziehung der Philosophie zur Poesie, der den-
kerischen zur dichterischen Kraft. Fichte vertrat in bezug auf
diese Frage den absoluten Primat der Philosophie, bei ihm
schrumpften alle Fragen auf philosophische Fragen zusammen.
Novalis gelangt im Verlauf seiner Aufzeichnungen zu einer ent-
schiedenen Relativierung der Philosophie oder besser zu einer
Autonomisierung anderer Erfahrungsbereiche, insbesondere aber
der Dichtung. Mancher Interpret dieser Texte hat deshalb das
Resultat der Aufzeichnungen in der Absolutheitserklärung der

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
Das Verhältnis zum transzendentalen Idealismus 57

Poesie erblickt, wie sie sich in einem späteren Fragment aus-


drückt: „Die Poesie ist das echt absolut Reelle. Dies ist der Kern
meiner Philosophie. Je poetischer, je wahrer" (NO 2, 647). Jedoch
scheint Novalis, was das Verhältnis von Philosophie und Poesie
anbetrifft, eher von einer sich ergänzenden Wechselbeziehung
zwischen den beiden Kräften überzeugt zu sein, wie sie auch von
anderen Vertretern der Frühromantik angenommen wurde und
im Athenäum in dem bekannten Postulat einer Vereinigung von
Philosophie und Poesie Ausdruck fand. Folgendes Fragment des
Novalis scheint diesen Standpunkt am besten zu umreißen: „Das
Poem des Verstandes ist Philosophie - Es ist der höchste
Schwung, den der Verstand über sich selbst gibt — Einheit des
Verstandes und der Einbildungskraft. Ohne Philosophie bleibt
der Mensch in seinen wesentlichen Kräften uneins — Es sind
zwei Menschen — Ein Verständiger und Ein Dichter. Ohne
Philosophie unvollkommner Dichter — ohne Poesie unvoll-
kommner Denker - Urteiler" (NO 3, 531). An anderer Stelle
heißt es über dies Wechsel Verhältnis: „... der Philosoph wird
zum Dichter. Dichter ist nur der höchste Grad des Denkers, oder
Empfinders etc. (Grade des Dichters.) Die Trennung von Poet
und Denker ist nur scheinbar - und zum Nachteil beider - Es
ist ein Zeichen einer Krankheit - und krankhaften Konstitution"
(NO 3, 406). Dieser Gedanke wird dann in den verschiedensten
Zusammenhängen formuliert: „Die Poesie ist der Held der Phi-
losophie. Die Philosophie erhebt die Poesie zum Grundsatz. Sie
lehrt uns den Wert der Poesie kennen. Philosophie ist die Theorie
der Poesie. Sie zeigt uns was Poesie sei, daß sie eins und alles
ist" (NO 2, 591).
Im Frühling 1797 hatten die beiden Freunde die Fichtesche
Philosophie hinter sich zurückgelassen. Novalis wandte sich
Schelling zu (NO 4, 226). Friedrich Schlegel hatte bereits im
September des vorigen Jahres, kurz nach seinem Eintreffen in
Jena, geäußert, daß er mit dem „Wissenschaftslehrer" Fichte,
d. h. mit dem an einem System und an einer Neubegründung der
Philosophie arbeitenden Denker, fertig war (KFSA 23, 333, 343).
Statt dessen hielt er sich an den Menschen Fichte, den er „immer
lieber" gewann (KFSA 23, 363). Was von der Philosophie Fichtes
für ihn übrigblieb, bezeichnete er gern als ihren „Geist" anstelle

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
58 Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position

ihres „Buchstabens" (die Lehrinhalte des Systems) und charak-


terisierte diesen Geist damit, daß Fichte „die richtige Methode
in der Philosophie ganz allein und zuerst entdeckt und aufgestellt,
und das freie Selbstdenken zu einer Kunst organisiert hat; ein
Verdienst, welches allein hinreichend wäre, ihm die Unsterblich-
keit zu sichern" (KFSA 3, 6). In diese Zeit fiel auch die schwere
Krankheit der Braut des Novalis, Sophia von Kühn, die am 19.
März 1797 starb (KFSA 23, 352). „Auch jetzt noch sind die
Wissenschaften das Hauptinteresse was ich an der Welt nehme",
schrieb Novalis am 13. April 1797 an Schlegel, aber Fichte begann
aus seinem Gesichtskreis zu treten. Am 14. Juni 1797 heißt es in
einem weiteren Brief an den Freund: „Fichte kann nicht aus der
Wissenschaftslehre heraus, wenigstens nicht ohne eine Selbstver-
setzung, die mir unmöglich scheint." Etwas später fügte er in
demselben Brief hinzu: „Mit Fichten hast Du unzweifelhaft recht
— ich rücke immer mehr in Deinen Gesichtspunkt der Wissen-
schaftslehre hinein." Was es mit Schlegels Gesichtspunkt der
Wissenschaftslehre auf sich hat, wird etwas später gesagt: „Du
bist erwählt gegen Fichtes Magie die aufstrebenden Selbstdenker
zu schützen. Ich habe es in der Erfahrung, wie sauer dieses
Verständnis wird - Manchen Wink, manchen Fingerzeig, um
sich in diesem furchtbaren Gewinde von Abstraktion zurecht-
zufinden, verdank ich lediglich Dir und der mir vorschwebenden
Idee Deines freien, kritischen Geistes." (NO 4, 230). Sucht man
einen genaueren Zeitpunkt für die Beendigung des Interesses an
Fichte, so ist dieser mit dem Tod Sophia von Kühns verbunden,
der die gesamte Tätigkeit und Persönlichkeit des Novalis grund-
legend veränderte. Dementsprechend kann die bekannte Tage-
bucheintragung vom 29. Mai 1797: „Zwischen dem Schlagbaum
[von Tennstedt] und Grüningen hatte ich die Freude den eigent-
lichen Begriff vom Fichteschen Ich zu finden" (NO 4, 42), als
Beendigung seines Interesses an Fichte angesehen werden. Ihr
entspricht die Eintragung vom 17. Mai 1797: „Meine Hauptauf-
gabe sollte sein — Alles in Beziehung auf ihre [Sophias] Idee zu
bringen" (NO 4, 37). Im August 1797 besuchte Novalis den
Philosophen in Jena, befand sich aber nicht mehr mit ihm im
selben Verständnismedium (NO 4, 236).

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
Das Verhältnis zum transzendentalen Idealismus 59

Schelling ist auf Grund seiner Philosophischen Briefe über


Dogmatismus und Kritizismus, mit denen seine Überwindung
der Fichteschen Ichphilosophie und die Zuwendung zur Natur-
philosophie begann, von den Frühromantikern zunächst enthu-
siastisch begrüßt worden. Friedrich Schlegel kündigte diese Briefe
Schellings als „eine der merkwürdigsten Erscheinungen der neue-
ren deutschen Literatur" an und bestimmte die „Seele seiner
Philosophie" als „jener Sinn, jene Begeistrung für ganzes, freies
Sein, welche von jeher die Größten der merkwürdigen Menschen-
art, die wir Philosophen nennen, charakterisierte" (KFSA 8, 24).
Novalis schrieb am 14. Juni 1797 an Schlegel: „Mit Schelling
such ich je eher, je lieber bekannt zu werden. In einem Stücke
entspricht er mir mehr, als Fichte" (KFSA 123, 372). Bei ihrer
Begegnung mit Schelling gingen die beiden Freunde aber ver-
schiedene Wege. Schlegel war an dem absoluten Idealismus der
Identität von Subjekt und Objekt, Geist und Natur interessiert,
von dem aus er selbst in seinen Arbeiten operierte. Seit 1798 war
es für ihn eine ausgemachte Sache, daß nicht nur der Idealismus
durch den Realismus, das Subjekt durch das Objekt, Fichte durch
Spinoza zu ergänzen seien, sondern daß sich beide Pole „wech-
selweise möglich, notwendig und wirklich machen" müssen. Er
meinte über diesen Standpunkt: „Dies dürfte über Fichte hinaus
sein; Schelling ahndets" (KFSA 18, 66). Novalis operierte von
der Basis eines „magischen Idealismus" aus und wollte mit seiner
Auffassung des Zusammenhanges von Natur und Geist Schelling
weit „überfliegen" (NO 4, 255). Er wollte die Welt als einen
„Universaltropus" oder ein symbolisches Bild des menschlichen
Geistes deuten, wobei die diesseitige Welt und die jenseitige,
Innen und Außen, Mensch und Natur in eins verschmelzen.
Die Trennung von Schelling erfolgte bei den beiden Freunden
wie im Falle Fichtes aus Gründen der Autonomie und Eigenge-
setzlichkeit der Poesie und der Kunst gegenüber der Philosophie.
Das mag in bezug auf einen Denker wie Schelling sonderbar
klingen, der in seinem System des transzendentalen Idealismus
von 1800 die Superiorität der Kunst gegenüber der Philosophie
erklärt hatte und deshalb häufig der frühromantischen Schule,
jedenfalls während dieses Zeitraums, zugerechnet wurde. Aber
den Frühromantikern ging es nicht um eine Superiorität der

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM
60 Allgemeine Merkmale und literaturgeschichtliche Position

Kunst gegenüber der Philosophie, nicht um eine Umkehrung der


üblichen Verhältnisse, sondern um eine gleichberechtigte Wech-
selbeziehung und Wechselwirkung von Kunst und Wissenschaft,
die eine nochmalige Umkehrung zugunsten der Philosophie, die
kurze Zeit danach bei Schelling wirklich stattfand, von vornher-
ein ausschloß. Außerdem erschien die Kunsttheorie Schillings im
System des transzendentalen Idealismus als „Deduktion eines
allgemeinen Organs der Philosophie oder: Hauptsätze der Phi-
losophie der Kunst nach den Grundsätzen des transzendentalen
Idealismus", was sie als wenig geeignet für den frühromantischen
Diskurs erscheinen läßt.
Hier zeigt sich die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit, die in
der Frühromantik wirksame Kritik und Reflexion in einen di-
rekten Bezug zur idealistischen Philosophie zu bringen und das,
was sich etwa als frühromantische Poetologie und Theorie der
Poesie bezeichnen ließe, als Ausbildung von Anregungen anzu-
sehen, die von der Philosophie Kants, Fichtes und Schellings
ausgegangen sind. Hegel hat diesen Bezug immer wieder einzu-
schärfen versucht und darauf bestanden, daß die frühromantische
Form der „Subjektivität" eine extravagante Form der Fichteschen
Reflexionsphilosophie war (HEG 20, 415). Grundsätzlich hat
aber die frühromantische Reflexion und Kritik mit der Kanti-
schen Ästhetik und der Fichteschen Ichphilosophie nicht mehr
zu tun als mit der Weimarer Klassik von Schiller und Goethe
und auch nicht mehr darin gefunden als Ansatzpunkte für das
eigene Reflektieren, das aus diesen historischen Bezügen heraus-
bricht, obgleich sich der Diskurs ständig in diesen historischen
Namen und Bezügen artikuliert.

Brought to you by | Stockholms Universitet


Authenticated
Download Date | 11/26/15 12:15 PM

Das könnte Ihnen auch gefallen