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FLM1000-2016 Classicismo F. V. Silva 27. 04.

2016

WILHELM MEISTERS LEHRJAHRE


Seit 1776 konzipiert
erst 1795/6 neubearbeitet und veröffentlicht

Zwei große literarische Unternehmungen Goethes:


Faust (ca. 60 Jahre)
Wilhelm Meister-Zyklus (ca. 50 Jahre)
WMLJ in der Geschichte des Romans
■ ein Markstein in der Geschichte der Gattung (Brüder Schlegel, Hegel,
Lukács, Auerbach, Bakhtin, Marcuse, Moretti, usw.)
■ Kühle Rezeption vom deutschen Lesepublikum
■ “Ein Roman für Schriftsteller”. Kollegenautoren rezipierten das Werk sehr
intensiv. Sehr einflussreich unter späteren Autoren also –
■ Der Roman der Romantik ist nicht ohne WMLJ zu denken
– Novalis. Heinrich von Ofterdingen, 1800
– Tieck. Franz Sternbalds Wanderungen, 1798
– Brentano. Godwi, 1801
– Hoffmann. Lebens-Ansichten des Katers Murr, 1819/21
– Eichendorff. Aus dem Leben eines Taugenichts, 1822/3
– + Charles Dickens, Charlotte Brontë, Stendhal, Th. Mann usw.
Friedrich Schlegel. Über Goethes Meister (1798)
■ “Diese wunderbare Prosa ist Prosa
und doch Poesie. Ihre Fülle ist zierlich,
ihre Einfachheit bedeutend und
vielsagend [...] der Dichter selbst
[scheint] die Personen und die
Begebenheiten so leicht und so launig
zu nehmen, den Helden fast nie ohne
Ironie zu erwähnen, und auf sein
Meisterwerk selbst von der Höhe
seines Geistes herabzulächeln [...], als
sei es ihm nicht der heiligste Ernst.”
„Wilhelm Meister: die schönsten Dinge
von der Welt abwechselnd mit den
lächerlichsten Kindereien.”
Friedrich Nietzsche, Nachgelassene
Fragmente, 1884.

- In der Tat ernsthaft, obwohl ironisch erzählt


- Prosaisch (trivial) und doch poetisch (es geht um große Themen)
Gespräch mit Eckermann, Riemer u. Rehbein, 18/01/1825
(Gespr. Bd. 5, S. 134)

■ Es gehört dieses Werk übrigens zu den incalculabel-


sten Productionen, wozu mir fast selbst der
Schlüssel fehlt. Man sucht einen Mittelpunkt, und
das ist schwer und nicht einmal gut.

– Man kann es nicht rational ganz fassen. Der Autor kann sein
eigenes Werk nicht konkret kontrollieren.
– Der Schlüssel zu einem Werk war etwas Wesentliches im
Roman des 18. Jhs.
Was soll incalculabel heißen?
■ Beispiel: Wilhelm Meister und Mariane

Buch 1 Buch 2 Buch 3 Buch 4 Buch 5 Buch 6 Buch 7 Buch 8

Buch 7, Kap. 8
Mariane stirbt. Vergleich mit Gretchen
Buch 5, Kap. 15
Er glaubt, sie bei Philine zu sehen

Buch 5, Kap. 8
Buch 2, Kap. 7 Meister erinnert sich an sie
Mariane ‘verschwindet’
Begegnung mit Marianes Stiefvater
Buch 1
Mariane ist eine zentrale Figur

Ver citações centrais no handout


Aber es gibt ungefähr 45 Figuren im Roman

■ Wie wichtig ist jede von ihnen? Es kommt darauf an, wie man
interpretiert das Werk.

■ Buch 1, Kap. 9
“Er glaubte den hellen Wink des Schicksals zu verstehen, das ihm
durch Marianen die Hand reichte, sich aus dem stockenden,
schleppenden bürgerlichen Leben herauszureißen, aus dem er
schon so lange sich zu retten gewünscht hatte. [...] Seine
Bestimmung zum Theater war ihm nunmehr klar; [...]" (Goethe-HA
Bd. 7, S. 35)
– Das ist aber falsch! (siehe auch Buch 4, Kap. 1)

■ “Dynamik des Lebens”


Buch 1. drei Hauptkonflikte

– Generationskonflikt. Streit gegen bestehende soziale


Konventionen
– Erfahrung der Liebe. Vergleich mit Faust-Gretchen-Beziehung
– Leidenschaft versus Pflicht. Wilhelm ist ein Kaufmannssohn

■ Alle drei sind im Roman eng verknüpft


Ironisierender Erzähler
"Wilhelm ist freilich ein armer Hund, aber nur an
solchen lassen sich das Wechselspiel des Lebens und
die tausend verschiedenen Lebensaufgaben recht
deutlich zeigen, nicht an schon abgeschlossenen
festen Charakteren" (Brief an Kanzler Müller,
22/01/1821; Goethe-Gespr. Bd. 4, S. 77).

Meister als ein deutscher Quijote [Adam Müller, 1806/7]


■ Verschiedene Funktionen des Erzählers
■ Das Triviale als Thema der Hochliteratur
– Siehe Handout
Ironisierender Erzähler
“Auf diese Weise hatte Wilhelm eine Zeitlang sehr emsig
fortgelebt und sich überzeugt, daß jene harte Prüfung vom
Schicksale zu seinem Besten veranstaltet worden. Er war froh,
auf dem Wege des Lebens sich beizeiten, obgleich
unfreundlich genug, gewarnt zu sehen, anstatt daß andere
später und schwerer die Mißgriffe büßen, wozu sie ein
jugendlicher Dünkel verleitet hat. Denn gewöhnlich wehrt sich
der Mensch so lange, als er kann, dem Toren, den er im Busen
hegt, einen Hauptirrtum zu bekennen und eine Wahrheit
einzugestehen, die ihn zur Verzweiflung bringt” (II-2).
[In Kapitel II-3 geht er aber zurück zum Theater]
Bücher 2 bis 5. WMLJ als Theaterroman

■ Die Liebesgeschichte wird zum Theaterroman


■ Der Roman als Spiegel der Gesellschaft: realistische Darstellung
des Theaterlebens um 1800 (siehe auch K. P. Moritz. Anton
Reiser, 1785/6)
■ Nationaltheater nach Lessing, Schröder usw. Ideal der
Generation Goethes
■ Weimarer Hoftheater unter Goethe (1791-1817)
– 601 Stücke
– J. W. Goethe. Regeln für Schauspieler, 1803
– Walter Hinck. Goethe: Mann des Theaters, 1982
Schicksal
■ Glaube an Schicksal entpuppt sich als Trugbild
■ Bildungsroman?
■ “[...] esse mundo [do romance] não está absolutamente livre de
perigo. Há que se ver sucumbir fileiras inteiras de homens
graças à sua incapacidade de adaptação, e outros ressequir e
murchar em virtude de sua capitulação precipitada e
incondicional perante toda a realidade, a fim de avaliar o perigo
a que todos se expõem e contra o qual existe, certamente, um
caminho de salvação individual, mas não de redenção
apriorística.” (LUKÁCS, G. Teoria do Romance, Editora34, p. 142)
■ Gegenbeispiele: Mignon, Mariane, Harfner, Werner, Aurelie,
Laertes, die schöne Seele, usw.
Bildungsroman
pt. Romance de formação, en.“Coming-of-age novel”
■ Die Hauptfigur sucht ihre Stelle in der Welt. Sie ist aber von der
finanziellen oder emotionalen Unterstützung durch die Familie
abhängig. Sie benötigt zugleich Selbstsicherheit und sehnt sich nach
neuen Erfahrungen im Unbekannten.

■ Drei Bestandteile eines Bildungsromans:


■ 1) Trennung: Der Protagonist rebelliert gegen bestehende Normen
und somit entfremdet er sich von Jugendfreunden und Verwandten
(z.B. Wilhelm Meister und Werner). Er braucht “Luftveränderung”–
eine Reise ist normalerweise die Art und Weise, wie er seine heiß
ersehnte Wandlung erreichen soll.
Bildungsroman

■ 2) Probe: der Protagonist durchlebt eine Mut- oder


Charakterprobe. Sie wirkt so wie ein Initiationsritual ins
autonome Leben.

■ 3) Wiedereingliederung in die Gemeinschaft: der


Protagonist baut neue Beziehungen oder sogar eine Familie
auf, und erkennt, wieviel er gelernt hat. Traditionelle
Bildungsromane enden immer mit einem Happy End.
Bildungskonzept bei Goethe

■ „Bildung kann nicht gradlinig laufen. Bildung muss


über Irrwege ablaufen und dann aus den
unterschiedlichen Erfahrungen, die jemand da und
dort macht, später zu dem zu kommen, was einem
gemäß ist“ (Albert Meier).
■ SW. Notwendiger Irrtum und Entsagung.
– Anmerkung: Faust entsagt nie.
Mignon
■ Androgyn: keine fixe Identität, romantische Figur.
Sie wächst auf plötzlich, usw.
■ Auf Französisch bedeutet mignon ‘der Kleine’;
mignonne wäre die weibliche Form dazu [Zitat]
■ Ideal, Kunst.
■ Ganz spontan, aber unpraktisch.
■ Mignon überlebt nicht. Keine Platz in der Welt für
eine solche Figur.
■ Nachgeahmt durchs ganze 19. Jh.
Mignon, von Ary Scheffer, 1836
(Dordrechts Museum)
Mignon
■ "[Wilhelm Meister] gedachte des guten
Mignons neben dem schönen Felix auf das
lebhafteste [...]" (d.h. Mignon = maskulin
oder neutrum).
■ Das ist kein Druckfehler; das ist von Goethe
so hingesetzt als beabsichtigte
Formulierung.

Mignon, von Ary Scheffer, 1836


(Dordrechts Museum)
Kennst du das Land... (Buch 3, Kap. 1)
Lieder und Gesänge aus 'Wilhelm Meister', Op.98a (Robert Schumann)

■ Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,


Im dunklen Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?
Kennst du es wohl?
Dahin, dahin
Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!
■ Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach.
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?-
Kennst du es wohl?
Dahin, dahin
Möcht ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn!
■ Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg.
In Hoehlen wohnt der Drachen alte Brut.
Es stuerzt der Fels und über ihn die Flut.
Kennst du ihn wohl?
Dahin, dahin
Geht unser Weg.
O Vater, lass uns ziehn!
1. Italienische Landschaft
■ Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunklen Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Deutschland (kalt, dunkel)
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?
Kennst du es wohl?
Dahin, dahin Italien/Griechenland (warm, hell)
Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!
2. Italien als Land der klassischen Erbe / Zivilisation

■ Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach.


Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?-
Kennst du es wohl?
Dahin, dahin
Möcht ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn!
3. Der Schweiz als Mittelpunkt

■ Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?


Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg.
In Hoehlen wohnt der Drachen alte Brut.
Es stuerzt der Fels und über ihn die Flut.
Kennst du ihn wohl?
Dahin, dahin
Geht unser Weg [nach Italien]
O Vater, lass uns ziehn!
Fazit
■ Buch 1. Liebesgeschichte
■ Bücher 2-5. Theaterroman. Mignon u. Harfner sind Figuren
aus der Tradition des Schauerromans.
■ Bücher 2-4. Gesellschaftsroman. Adelige vs. Bürger.
■ Bücher 7-8. Geheimbundsroman. Turmgesellschaft.

■ Wilhelm Meisters theatralische Sendung (1776-1785)


■ Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795-6)
■ Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821, neubearbeitet 1829)
Zur Debatte

■ 1) Wie klassisch sind die Themen und die Form des


Romans?
■ 2) Was verbindet Faust mit Meister? Welches sind die
allgemeinen Aspekte ihrer Lebensläufe?

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