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1
Vgl. diesbezüglich meine Ausführungen über »Eine systematische Stiltypologie
als Antwort auf einen dichtungsfremden Systemzwang«, Jahrbuch für Internatio-
nale Germanistik XII 1 (1980), S. 8 - 1 8 .
Í
2 Klaus Weissenberger
2
Friedrich Sengle, Die literarische Formenlehre. Vorschläge zu ihrer Reform. Dich-
tung und Erkenntnis I. Stuttgart: Metzler, 1967.
3
Rolf Tarot, »Mimesis und Imitatio. Grundlagen zu einer neuen Gattungspoetik«,
Euphorion 64 (1970), S. 125-142.
Einleitung 3
nung entscheidet allein über die Zugehörigkeit der Gattungsarten zur nicht-
fiktionalen Kunstprosa. Dadurch kommt es, daß die Trennungslinie zwi-
schen nicht-fiktionaler Kunstprosa und zweckgebundener nicht-fiktionaler
Prosa quer durch die in diesem Band behandelten Gattungsarten hindurch-
läuft. Außerdem gibt es natürlich Gattungsarten der nicht-fiktionalen Pro-
sa, die sich von vornherein gegen eine derartige Vermittlung sperren oder
aufgrund dieser Vermittlung ihre Identität aufgeben; so können Aufsatz
oder Feuilleton sich zum Essay erweitern, Korrespondenz zum Brief, Nach-
ruf und Portrait zur Biographie, Glosse zu Aphorismus oder Fragment und
Causerie zum Dialog.
Allen Gattungsarten der nicht-fiktionalen Kunstprosa ist auch ein be-
tonter Wahrheitsgehalt gemeinsam, da es ja keine Fiktionalisierungsele-
mente gibt. Jeder Ansatz zu diesem wäre bereits eine Lüge. Doch halten
sich Aussagesubjekt und Aussageobjekt derart die Waage, daß sie sich
gegen eine Vermittlung zwischen sinnlicher Wahrnehmung und objektiver
Verallgemeinerung im besonderen als zentraler erkenntnis-theoretischer
Kategorie des Ästhetischen sperren. Die Gattungsarten zeichnen sich statt
dessen gerade durch die Darstellung dieses Konflikts aus, und was Gerhard
Neumann diesbezüglich konstitutiv für den Aphorismus hält, trifft auf alle
Gattungsarten der nicht-fiktionalen Kunstprosa zu: »er insistiert vielmehr
gerade auf dieser Darstellung des Konflikts zwischen dem Einzelnen, Beob-
achteten, Bemerkten, sinnlich Aufgenommenen einerseits und seiner Auf-
hebung im Allgemeinen, Merksatzhaften, Reflektierten, durch den Geist
Abstrahierten andererseits. Individuelle Erfahrung und Denksystem, Ge-
fühls- und Denkordnung, detaillierendes und abstrahierendes Vermögen
stellen sich im Aphorismus in ihrer unauflöslichen Auseinander-Setzung
dar.« 4
Der Unterschied zwischen den Gattungsarten der nicht-fiktionalen
Kunstprosa beruht auf der Art und Weise, wie sie sich von erkenntnistheo-
retischer Seite gegen die Vermittlung sperren. Man könnte ein System ent-
werfen mit einer Mittelachse, auf der sich die Form oder der Grad dieses
Widerstands gegen die Vermittlung abtragen ließe. Auf dem einen Pol wäre
die antithetische Zuspitzung dieser Spannung in der durch »Witz« und
»Einfall« erfolgenden Beschränkung oder Raffung des Aphorismus, wäh-
rend auf dem anderen Brief und Tagebuch die Spannung bis zur vollkom-
menen Formlosigkeit zu leugnen scheinen und sie dann in dem implizierten
Gegenüber von Empfänger oder alter ego latent einlösen. Beim Essay han-
4
Gerhard Neumann (Hsg.), Der Aphorismus. Zur Geschichte, zu den Formen und
Möglichkeiten einer literarischen Gattung. Wege der Forschung Bd. 356. Darm-
stadt: Wiss. Buchges., 1976, S. 5.
4 Klaus Weissenberger
sierung der kopernikanischen Wende, die erst in der Mitte des 18. Jahrhun-
derts das allgemeine Bewußtsein erfaßt und die Emanzipation des Ich bis
zur vollkommenen Loslösung aus einem religiös verankerten Weltbild wei-
tergeführt hat. Diesbezüglich nennt Fritz Martini die Epoche vom 16. Jahr-
hundert bis zu Goethes Faust »die Epoche des sich selbst bis in alle Tiefen
erfahrenden, des sich gewaltig entfaltenden und erschüttert erleidenden
individuellen Selbstbewußtseins«. 5 Erst der derart nach seiner Autonomie
verlangende Individualismus schafft so die Voraussetzung auch in der deut-
schen Literatur für den Essay, das Tagebuch, den Reisebericht, den Apho-
rismus, das Fragment, aber zugleich auch fördert er einen erhöhten künstle-
rischen Anspruch, da nur das Ästhetische als säkularisierte Gotteskind-
schaft den »Verlust der Mitte« ersetzen kann. Daher kommt es, daß, wie
Heinrich Küntzel nachgewiesen hat, die Anfänge des deutschen Essays auf
das engste mit den Bemühungen um eine originelle Prosa verknüpft sind. 6
Und obwohl Goethe als der neuzeitliche Kanoniker der Gattungstrias von
Lyrik, Epik und Dramatik gilt, indem er sie auf »Naturformen« zurück-
führt, liefert gerade er den schlagendsten Beweis für eine vierte Gattung
der nicht-fiktionalen Kunstprosa; denn in seinem Beitrag zu den Gattungs-
arten von Aphorismus, Autobiographie, Brief, Essay, Reisebericht und
Tagebuch geht er noch viel stärker »vom Einzelnen aus, und bezieht es
überall aufs Unendliche«, als es Schlegel an Forster gepriesen hat.
Während im 19. Jahrhundert der Wahrheitsanspruch der Naturwissen-
schaften wieder ein gesichertes Weltbild impliziert und demzufolge ein opti-
mistischeres Lebensgefühl verbreitet hat, die die Etablierung des emanzi-
pierten Ich und dementsprechend die der Gattungsarten der nicht-fiktiona-
len Kunstprosa zur Folge hatten, hat die Krise der Moderne im 20. Jahrhun-
dert, ausgelöst durch die Relativierung der naturwissenschaftlichen Er-
kenntnismöglichkeiten und die damit parallel laufende politische, ökonomi-
sche und geistige Krise, die Emanzipation des Ich bis zu dessen Fragmentie-
rung getrieben. Kunst war nicht mehr Bestätigung des Ich, sondern wurde
zur existentiellen Wahrheitssuche, und wie die zunehmende Integration von
fiktionaler Kunstprosa in die jetzt nur mehr als Präsentationsformen gülti-
gen Gattungen des Lyrischen, Epischen und Dramatischen demonstriert,
fiel den Gattungsarten der nicht-fiktionalen Kunstprosa gerade in ihrer
Mittlerstellung zwischen echter und fingierter Wirklichkeitsaussage die
5
Fritz Martini, Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegen-
wart. Kröner Taschenausgabe Bd. 196. Stuttgart: Kröner, 161972, S. 110.
6
Vgl. Heinrich Küntzel, Essay und Aufklärung. Zum Ursprung einer originellen
deutschen Prosa im 18. Jahrhundert. München: Fink, 1969; auf die Ergebnisse
dieser Untersuchung wird im Beitrag über den Essay noch gesondert einge-
gangen.
6 Klaus Weissenberger
Funktion der Daseinsbewältigung zu, als auch die Literatur und Dichtung
erneut existentiell zu rechtfertigen. Nicht von ungefähr läßt Robert Musil
seinen Protagonisten dieser existentiellen Rechtfertigung, Ulrich, gerade in
dem Gegenüber von echter Wirklichkeitsaussage und poetischer Wirklich-
keitsaussage reflektieren: »Ein Mann, der die Wahrheit will, wird Gelehr-
ter; ein Mann, der seine Subjektivität spielen lassen will, wird vielleicht
Schriftsteller; was aber soll ein Mann tun, der etwas will, was dazwischen
liegt?« 7 Und Musil gewinnt vornehmlich aus den Beispielen, »die »dazwi-
s c h e n liegen«, eine erneute existentielle Rechtfertigung, allerdings jenseits
aller Institutionalisierung oder Klassifizierung: »Man nennt etwas, was we-
der eine Wahrheit noch eine Subjektivität ist, zuweilen eine Forderung« (S.
254). Der Literaturkritik, die dieser »Forderung« gerecht werden will,
bleibt allerdings nur die Möglichkeit, sich einer letztlich inadäquaten Be-
grifflichkeit zu bedienen und sollte sich dessen immer bewußt bleiben:
»Und so wenig man aus den echten Teilen eines Essays eine Wahrheit
machen kann, vermag man aus einem solchen Zustand eine Überzeugung
zu gewinnen; wenigstens nicht, ohne ihn aufzugeben, so wie ein Liebender
die Liebe verlassen muß, um sie zu beschreiben« (S. 255).
In diesem Sinne möchte der vorliegende Band keine vorschnellen und
einseitigen Kategorisierungen und Klassifizierungen vornehmen, sondern
die Gattungsfrage der nicht-fiktionalen Kunstprosa und ihrer Gattungsar-
ten erneut und, von einer hoffentlich fruchtbaren Perspektive her, zur Dis-
kussion stellen. Abschließend sei auch noch allen Mitarbeitern für ihre
bereitwillige und gewissenhafte Mitarbeit gedankt, ohne die der vorliegen-
de Band nicht zustande gekommen wäre.
7
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Gesammelte Werke in Einzelaus-
gaben, hg. von A . Frisé. Hamburg: Rowohlt, 1952, S. 254.
D E R APHORISMUS
Franz H . M a u t n e r
D e r Aphorismus ist wohl die einzige literarische Gattung, über deren Ab-
grenzung als solche, als G a t t u n g mit bestimmten Erfordernissen innerer
und ä u ß e r e r Form, gegen nicht- und kaum-literarische Aussage-Formen im
Deutschen bis in unser Jahrhundert hinein weitgehende Unklarheit bestand
(und oft noch besteht), trotz des Vorhandenseins von Sammlungen meister-
licher A p h o r i s m e n durch deren A u t o r e n und ihren eindeutigen, das Wesen
der G a t t u n g charakterisierenden Ä u ß e r u n g e n .
Die weit zurückreichenden Ursachen dieses Zustandes und zugleich sei-
ne Anzeichen sind historisch entstandene Doppel- und Mehrdeutigkeiten
des Wortes >Aphorismus< und besonders des Plurals >Aphorismen< sowie
anderer Bezeichnungen, die für diese literarische Aussageform angewendet
wurden. Dies galt weithin, und gilt noch manchmal, nicht nur f ü r den
Sprachgebrauch der den Angelegenheiten der Literatur mehr oder weniger
Fernstehenden, sondern auch f ü r Benennungen durch geformtem Schrift-
tum durchaus Ergebene. Die Werke der Meister der im Deutschen noch im
19. J a h r h u n d e r t so gut wie neuen Gattung, einschließlich der »Fragmente«
der R o m a n t i k e r , wurden entweder >Aphorismen< genannt, eine Bezeich-
nung, die bis dahin anderes bedeutet hatte, oder weiterhin >Sentenzen<,
>Maximen<, >Reflexionen<, wörtliche Übersetzungen der Titel der ein-
drucksvollen französischen Aphorismen-Werke des 17. u n d 18. Jahrhun-
derts — Larochefoucaulds, Chamforts, Vauvenargues' — Bezeichnungen,
die im Deutschen keineswegs charakteristisch f ü r entscheidende Merkmale
der G a t t u n g sind, teils zu eng, teils zu weit, teils überhaupt nicht zutreffend.
>Sentenzen< hießen bis dahin bündige Aussprüche über Allgemeines, oft in
V e r s f o r m , vorwiegend über Angelegenheiten der Ethik, hauptsächlich zur
Ausschmückung oder Zusammenfassung von Monologen oder Dialogen im
D r a m a verwendet (Schiller!), >Maximen< Lehrsätze moralischer oder bloß
praktischer A r t , die als Leitlinien f ü r das tägliche L e b e n gelten sollten,
>Reflexionen< einfach Überlegungen. D a ß diese Termini im Gegensatz zu
den so bezeichneten französischen W e r k e n meistens n u r zum geringsten
Teil oder gar nicht das Wesentliche des Aphorismus als Prosaform betrafen,
hat zu der Verwirrung ebenso Entscheidendes beigetragen wie die Vorge-
schichte auch d i e s e s , erst spät zur zugleich intellektuellen und ästheti-
schen B e d e u t u n g ausgereiften Wortes.
8 Franz H . Mautner
seine Leser waren sich dessen bewußt, daß er eine im Deutschen neue
Gattung pflegte; waren doch seine Aphorismen nur für ihn selbst bestimmt,
als Tagebuch-Notizen und als Material für künftige Werke. Sie wurden erst
1800 und 1801 als Teil der Vermischten Schriften aus dem Nachlaß veröf-
fentlicht, unter dem Titel Bemerkungen vermischten Inhalts, mit der ent-
schuldigenden Erklärung im Vorbericht, die Sammlung enthalte »nur . . .
einzelne Gedanken . . . über ganz verschiedene Gegenstände. . . . Hier blieb
[für den Herausgeber] kein anderer Ausweg übrig; man konnte nur dieses
dem Publikum mitteilen, oder nichts« (S. IV).
Die einzelnen Teile der von den Herausgebern unter dem Titel Maxi-
men und Reflexionen zusammengestellten monumentalen Sammlung der
Aphorismen Goethes — ein Titel, den er selbst nur für einen dieser Teile
gewählt hatte - begannen erst 1809 als Ganzes, mit Goethes Überschriften
für die Quellen, zu erscheinen: »Aus Ottiliens Tagebuch«, gefolgt von »Ei-
genes und Angeeignetes« (seit 1821), »Einzelnes« (seit 1824), »Betrachtun-
gen im Sinne der Wanderer« und »Aus Makariens Archiv« (1829). Der
umfangreiche Rest wurde erst aus dem Nachlaß veröffentlicht.
Zwei Schriftsteller hatten zu dieser Zeit bereits den Begriff einer weitge-
hend neuen spezifischen Prosagattung — einer Untergruppe dessen, was wir
heute >Aphorismus< nennen - proklamiert und gepflegt: 1797,4 17983 und
18036 Friedrich Schlegel, 1798 (1846 aus dem Nachlaß ergänzt) Novalis, 7
beide unter der Bezeichnung »Fragmente«. In den letzten Jahrzehnten des
19. Jahrhunderts kam der Aphorismus zur Blüte und erlangte Ruhm durch
Nietzsche und Marie von Ebner-Eschenbach. Wenn auch die »Fragmente«
und die ihnen zugrunde liegende Theorie aufs engste mit der Philosophie
und Ästhetik der Romantik verknüpft sind, so haben doch diese Werke erst
der neuen Kunstform als solcher Aufmerksamkeit und zum Teil Verständ-
nis auch außerhalb des Kreises der Romantiker und der Anhänger Nietz-
schescher Philosophie verschafft. Die neue Gattung konnte nun entweder
einer gestaltenden D a r s t e l l u n g von Gedanken dienen, nicht nur ihrer
bloßen Mitteilung, oder einer A n d e u t u n g komplexer Gedanken in trüge-
risch einfacher Form. Nietzsche war sich dieser neuen Rolle des Aphoris-
mus durchaus bewußt und hat für ihre Anerkennung Entscheidendes gelei-
stet durch sein Wort »Der Aphorismus, die Sentenz sind Formen der >Ewig-
keit<«.8 Der Plural »Formen« scheint zwar anzuzeigen, daß diese beiden
ihm nicht dieselbe Gattung bezeichneten; in anderen Zusammenhängen
verwendet er aber »Sentenz« offenkundig synonym mit »Aphorismus«,
4
»Kritische Fragmente« im Lyceum.
5
»Fragmente« im Athenäum.
6
»Ideen«, ebd.
7
Blütenstaub-Fragmente, ebd.
8
Streifzüge eines Unzeitgemäßen (1888), Nr. 51.
10 Franz H. Mautner
9
Nr. 129 der vorsichtig »Vermischte Meinungen und Sprüche« [!] betitelten Abtei-
lungen I von Menschliches Allzumenschliches II (1877/1879).
10
Dies ist das Zentralmotiv des hauptsächlich mit den philosophischen Aspekten
des Aphorismus befaßten tiefschürfenden Werks von Gerhard Neumann Ideen-
paradiese. Aphoristik bei Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe
(1976).
" Vgl. hierzu auch »Lob der Sentenz ..., das Unvergängliche inmitten des Wech-
selnden«. Vermischte Meinungen und Sprüche, Nr. 158. •
12
Über diese Art des Wortspiels (im Gegensatz zu der auf bloßem Gleichklang
beruhenden) vgl. F . H . Mautner, Das Wortspiel und seine Bedeutung. DVjs IX
(1931), 619ff. Musils Klammern.
Der Aphorismus 11
als Widerstand an der Ichform? Was als Lockung? Wie dazwischen die
Aphoristiker?« 14 - kommt aber resigniert zu keiner Antwort. Der Begriff
des »echten, gehämmerten Aphorismus« war ihm nur allmählich aufgegan-
gen. Vorher hatte er das Wort »Aphorismus« nur in dem mehrdeutigen
Sinn »isolierte Notiz« verstanden und, nach Klarheit strebend, nur mit
Antipathie gebraucht; noch 1938/1939 hatte er geschrieben: »Aphorismus.
Nicht Fisch und nicht Fleisch. Nicht Epigramm und nicht Entdeckung. Es
fehlt ihm anscheinend an der Ganzheit, Einprägsamkeit [!], Reduzierbar-
keit odgl. Bloß Bewegung ohne Ergebnis, Knotenpunkt [= Pointe, Be-
stimmtheit?] usw. Darum die Abneigung gegen ihn. . . . Bewegt-Neuange-
regtseinwollende Zeiten lieben Aphorismen. So Nietzsche und die Moder-
ne.« 15 Zwischen 1939 und 1942 offenbar der Mehrdeutigkeit des Wortes,
besonders im Plural, bewußt geworden, hatte Musil daran gedacht, sein
»Konzept- oder Schmierbuch« — auch wohl eine in Anlehnung an Lichten-
bergs »Sudelbücher« gewählte Benennung - bestehend, in Musils eigenen
Terminologie, aus »Bemerkungen« und »Entwürfen aller Art«, mit dem
Titel Aphorismen zu bezeichnen, der Benennung, die er in seinen schriftli-
chen Selbstgesprächen für diese Sammlung gebraucht, »aber ich wage das
heute so wenig wie damals zu tun und einige andere Überschriften wie
>Gedankensplitter< . . . sind mir widerlich«. 16 Der Aufgabe, Musils Frage
»Was ist ein Aphorismus?« zu beantworten, ist der folgende Teil unserer
Untersuchung gewidmet. 17
!4
Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, hg. A. Frisé (1955), S. 558.
15
Ebd., S. 423.
16
- »Gedankensplitter« betitelte Rubriken waren in Zeitungen, Zeitschriften und
Witzblättern sehr häufig geworden. Wohl darum wählte Peter Altenberg in sei-
nen Notizen- und Reflektionen-Sammlungen Fechsung (1915) und Nachfechsung
(1916) für die immer wieder eingeschobenen Gruppen echter Aphorismen die
ungewöhnliche Überschrift »Splitter« (übrigens ja eine wörtliche Übersetzung
von »Fragmente«).
17
Ich bin ihr in meinen Schriften Der Aphorismus als literarische Gattung, Zs. für
Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft XXVII (1933), S. 132-175; Der
Aphorismus als Literatur, Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und
Dichtung, Darmstadt (1969) S. 5 1 - 7 1 ; und Maxim(e)s, Sentences, Fragmente,
Aphorismen, Proceedings of the IVth Congress of the International Comparative
Literature Association 1964 (1966) nachgegangen. Seither ohne w e s e n t l i c h e
neue Einsichten, anderer oder eigene, mit Ausnahme derer von Gerhard Neu-
mann (s. oben, A n m . 10), kann ich, in Publikationen und Korrespondenzen
freundlicherweise bald als »Vater der Aphorismenforschung«, bald als ihr »Doy-
en« bezeichnet, angesichts der vorgeschriebenen Begrenzung des Umfangs der
Beiträge zum vorliegenden Band nicht umhin, zum größeren Teil schon dort
Gesagtes in gedrängter Form zu wiederholen, mit einigen neuen Beispielen und
in revidierter Formulierung da und dort. Dasselbe Erfordernis macht es auch
notwendig, auf Betrachtungen über die Werke nicht-deutscher Aphoristen fast
völlig zu verzichten.
Franz H . Mautner
12
18
Vgl. Albrecht Schöne, Aufklärung aus dem Geiste der Experimentalphysik. Lich-
tenbergs Konjunktive (Mühchen 1982, 2 I983).
19
Zweifellos meint Ähnliches Novalis mit seiner isoliert vorgebrachten Bemerkung
über das, was er »die wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen« nennt: Sie
seien »philosophische Bonmots. Das sind sie durch die überraschende Zufällig-
keit ihrer Entstehung, durch'das Combinatorische des Gedankens [...].« (Athe-
näumsfragment 220 in der Fassung der Charakteristiken und Kritiken, 1801.)
Der Aphorismus 13
20
Maximen und Reflexionen 1, hg. Max Hecker, Nr. 562.
21
Menschliches Allzumenschliches, I, Nr. 303.
22
Unschuld des Werdens. Nachlaß, hg. A . Bäumler, I, Nr. 1251.
23
Richard von Schaukai, Zeitgemäße deutsche Betrachtungen (1960), S. 130.
14 Franz H. Mautner
24
Siehe oben S. 12, Z . 12ff.
25
Vgl. Nietzsche über das Widersprechen (oben S. 13).
26
Richard M. Meyer, Deutsche Stilistik (1906).
27
Nietzsche, Vermischte Meinungen und Sprüche, Nr. 236.
Der Aphorismus 15
gen, einen Werth für sich zu haben.« 2 8 Eine solche Haltung nimmt auch den
Vorwurf der Dunkelheit auf sich: »Die Dunkelheit gewisser Maximen 29 ist
relativ: nicht alles ist dem Hörenden deutlich zu machen, was dem Aus-
übenden einleuchtet.« 30 Ohne dieses Selbstbewußtsein wäre ja das Vertrau-
en auf den Wert eines Ausspruchs nicht denkbar, der es wagt, a l l e i n
aufzutreten, ohne sichtbar einem größeren Zusammenhang zu dienen. Man
erinnere sich Nietzsches selbstbewußten Satzes, der dem Autor einer »Sen-
tenz« Anmaßung zubilligt (s. oben). Dunkelheit kann ja für den Verständi-
gen sogar einen gewissen Reiz haben; immer wieder wird sie in den Apho-
rismen der Romantik gepriesen; z.B. »Ein einziges analytischen Wort [ . . . ]
kann den vortrefflichsten witzigen Einfall, dessen Flamme nun erst wärmen
sollte, nachdem sie geglänzt hat, unmittelbar löschen.« 31 Es erschlägt die
witzige Pointe, das wirksamste, für Friedrich Schlegel das unentbehrliche
Mittel, 32 dem Fragment die G e s c h l o s s e n h e i t eines künstlerischen Orga-
nismus von kleinstem Ausmaß zu geben. Man erinnert sich seiner Forde-
rung: »Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke . . . in sich
selbst vollendet sein wie ein Igel.« 33
Kurz, die äußere Form - B ü n d i g k e i t - ist hier aufs deutlichste mit
der inneren, dem >Charakter< des Aphorismus verknüpft. Er lebt von der
Befolgung des Gesetzes »Es gehört zur ästhetischen Kontemplation, daß
wir durch ein Minimum von Reizen zu einem Maximum von Vorstellungen
angeregt werden.« 3 4 Auch wird Konzision mit Selbstverständlichkeit von
den beiden Haupttypen seiner inneren Form erwartet: Knappheit bestätigt,
daß entweder »Einfall« oder »Klärung« im Spiel sind, allerdings ohne daß
sie dies »beweisen« könnte, da sie ja auch für die Vorformen und Randgat-
tungen kennzeichnend ist: für den wissenschaftlichen »Aphorismus« im
weiteren Sinn, das Sprichwort, den Prosa-»Spruch«, das Epigramm, die
Sentenz, den Sinnspruch (Gnome) und den französischen Aphorismus, die
Maximes Larochefoucaulds letzten Endes, wenn auch deren gleichgerichte-
te Formtendenzen zum Teil anderen Ursprung haben. Sind doch Geschlos-
senheit und Bündigkeit zugleich fortwirkende Formgesetze der französi-
schen Klassik, die ja kristallklares I n - s i c h - B e r u h e n anstrebt. Die stilisti-
28
Athenäumfragment 23.
29
»Maxime« meint hier sowohl die Form wie den Inhalt der Aussage.
30
Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr. 1068, in der Abteilung »Aphorismen,
Freunden und Gegnern zur Beherzigung«.
31
Lyzeumfragment 22.
32
Ebd. 105. Friedrich Schlegel über die Pointe: »Nur durch die schärfste Richtung
auf einen Punkt kann der einzelne Einfall eine Art von Ganzheit erhalten.« (Ebd.
109)
33
Athenäumfragment 206.
34
Zitiert von Ernst Meumann, System der Ästhetik (1914), S. 122.
16 Franz H . Mautner
35
Lichtenberg, Aphorismen, hg. Leitzmann, B 383.
36
Goethe, Maximen u. R. Nr. 90.
37
Schnitzler, Buch der Sprüche und Bedenken [= »Maximes et Réflexions!«],
S. 114.
38
Über das Entstehen der grammatischen Formen und ihren Einfluß auf die Ideen-
entwicklung. In: Abhandlungen der Berliner Akademie der Wissenschaften,
Phil.-Hist. Klasse, 1822/1823, S. 410.
Der Aphorismus 17
frei von jedem Mechanismus, aus dem inneren Leben des Gegenstandes hervor-
geht. . . . Der Satz, in den ein lebendiger Gedankenzusammenhang sich einordnet
[ist] ebenso sehr die sinnliche Gestaltgebung des Gedankens, als auch die einzige
geistige Genugthuung desselben. . . . Der Gedanke tritt durch den Satz in das
Gebiet der Anschauung, und so wird der Stil die eigentliche Plastik des Denkens.
. . . Auf der vollendetsten Stufe der Darstellung ist das logische Element der
Ordnung . . . zugleich eins geworden mit dem Plastischen. . . . D e r Satz . . . soll
keine . . . Umschreibung seines Gedankens sein, sondern eine konkrete Gestal-
tung desselben. (S. 119f.)
Als sehr aufschlußreich und beispielhaft in diesem Sinne vergleichen wir die
französische Fassung eines Aphorismus aus der anonymen Sammlung
Esprit des Esprits mit der deutschen Übersetzung von Friedrich Schultz
{Aphorismen aus der Menschenkunde und Lebensphilosophie, . . . 1793).
Die durch sprachliche Änderungen in ihrer Funktion zerstörten Stellen sind
kursiv gedruckt:
Durch den Wegfall des überaus wichtigen »passent«, das in seiner durativen
Bedeutung und durch den gedehnten Vokal wohl auch im Wortklang ein
(oder d a s ) Motiv dieses Aphorismus ist, sowie durch die Variation »prépa-
rarer, procurer« ist hier die deutsche Fassung weniger anschaulich und ge-
danklich straffer; doch liegt gerade im weggefallenen Wort seine Wurzel,
die im Französischen weniger gedanklich als vorstellungshaft ist. Und was
an Schlagkraft so gewonnen wurde, wird eingebüßt dadurch, daß die wichti-
ge Schluß-Pointe »tristes« durch die Stellung des entsprechenden deutschen
Adjektivs nicht zur Geltung kommt und völlig aufgehoben wird durch das
nachklappende »an«. Der ganze Satz wird erst durch die Partikel verständ-
lich und die Pointe (»tristes«) ist kraftlos geworden: statt den Satz abzu-
schließen und einen Ausblick zu èrôffnen, verlangt sie erst einen Rückblick
auf den ganzen Satz. 39 Umgekehrt ist Goethes Satz »Ein jeder, weil er
s p r i c h t , glaubt, auch über die S p r a c h e sprechen zu können« 4 0 seines
wesentlichen, an die Wort-Variation »sprechen : Sprache« gebundenen Ge-
dankens beraubt durch die Übersetzung »Un chacun, parce qu'il parle, croit
aussi pouvoir parler du langage«.41 Aus solchen Fällen erhellt sich deutlich
das Verpflichtetsein des Aphorismus gegenüber der Sprache und die Ver-
führung, die sie für ihn werden kann. Der oben (S. 14) zitierte Aphorismus
39
Ähnliches gilt für das Hilfszeitwort. Nietzsche darüber: »Wer in der deutschen
Sprache Sentenzen bildet, hat die Schwierigkeit, daß sie gerade am E n d e nicht
scharf . . . abgeschliffen werden können, sondern daß Hilfszeitwörter hinterdrein
stürzen, wie Schutt . . . einem rollenden Steine« (Nachlaß, XI, 58).
40
Aus: Über Kunst und Altertum, V/1, 1824.
41
Goethe, Pensées, Traduites de l'Allemand . . . par A. Hérenger (1931).
Der Aphorismus 19
von Karl Kraus ist selbst entweder eine halbe Wahrheit oder anderthalb -
infolge des »nie«.
Von einiger Bedeutung für die Entstehung der Stilform ist das soziologi-
sche Moment: Entstammen die Pensées Pascals noch durchwegs echter ein-
samer Bewegung des Geistes, so kommen seit Larochefoucauld zur Gestal-
tung innerer Form die Ansprüche einer durch die Salons forcierten beinahe
sinnentleerten Spiellust hinzu, 42 bei Friedrich Schlegel zum Wunsch,
Grundeinsichten auszudrücken, die Gewißheit, durch den symphilosophie-
renden Geist verstanden zu werden, und das Vergnügen, den Spießbürger
aufzurütteln und zu verstören.
Zur Lust des Spielens und Verblüffens steigt in Zwischenstufen der
gleichermaßen vom Inhalt wie vom Formideal - bald des Paradoxen, bald
der Symmetrie - getriebene Gestaltungswille hinab. Hier droht die stärkste
Kompromittierung der Gattung; als Zerreißen von Gehalt und Form durch
Umkehrung ihres Verhältnisses: Mechanisierung des Formtriebes durch
Aneignung der traditionellen Formensprache ohne zur Sprache drängenden
Gehalt. So kann sie zur leeren Hülse werden und der Aphorismus sinkt vom
>echten< ab in die Ebene rein formaler Möglichkeiten. »Schüttle ein Apho-
risma, so fällt eine Lüge heraus und eine Banalität bleibt übrig.« 43 Gewisse
Satz-Schemata erweisen sich als so fruchtbar, daß sie zur geistigen Zwangs-
handlung werden können. Die witzige zweite Hälfte des Lyzeumfragments
spiegelt einen zur Gewohnheit gewordenen Denkvorgang: »Wer etwas
Unendliches will, der weiß nicht, was er will. Aber umkehren läßt sich
dieser Satz nicht.«
Lanson hat einige Grundformen von Larochefoucaulds Maximes be-
schrieben; 44 daß sie als Rezepte zur Aphorismen-Fabrikation verwendet
werden können, besagt nicht, daß sie notwendigerweise bloße Rezepte
sind. Solcher Zwecke bedienen sich, häufig zum Zweck der Schein-Defini-
tion a , mit Vorliebe auch die deutschen Aphoristiker: verblüffender Verglei-
che, besonders seelischer Vorgänge mit denen der Sachwelt b , des Schemas
der Parallelität, oder der mathematischen Proportion (A:B = C:D) C , Wort-
oder Wortstamm-Wiederholung und Herstellung neuer (ernsthafter oder
scherzender) Bezeichnungen zwischen ihnen d ; die Sprachwelt bietet immer
neue Reizquellen - sei es das Bewußtsein eines ursprünglichen Wortsinns 6 ,
oder ein banal gewordenes Wort, Sprichwort oder Zitat'. Alle diese Sche-
42
»Je ne sais si vous avez remarqué que l'envie de faire des sentences se gagne
comme le rhume; il y a ici des disciples de M. de Balzac qui [ . . . ] ne veulent pas
faire autre chose.« (Larochefoucauld an die Marquise de Sablé am 5. XII. 1660
(Oeuvres, ed. Gilbert, III, 136).
43
Schnitzler, a . a . O . , Kleine Sprüche, Nr. 51.
44
L'Art de la Prose, 1900, S. 134ff.
20 Franz H. Mautner
mata haben gemeinsam, daß die Form allgemeiner Gültigkeit die Subjekti-
vität meist verdeckt (die ja zum Wesen der Gattung gehört, vgl. S. 14): » . . .
toutes les propositions générales ont leurs exceptions. Si on n'a pas pris soin
ici de les marquer, c ' e s t p a r c e q u e l e g e n r e d ' é c r i r e q u e l ' o n a
c h o i s i n e le p e r m e t p a s . « (Vauvenargues in der Vorrede zu den Para-
doxes, mêlés de Réflexions et de Maximes).
a) Witz ist eine Explosion von gebundenem Geist. 45
Der Aberglaube ist die Poesie des Lebens. .. . 46
Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält. 47
Gesellschaft ist ein Ränkespiel, dessen Reiz auf der Sicherheit beruht, die
man darin zu erreichen bestrebt ist.48
b ) D e r Stoltz des Menschen ist ein seltsam Ding, es läßt sich nicht sogleich unter-
drücken, und guckt, wenn man das Loch A zugestopft h a t . . . , zu einem andern
Loch B wieder heraus und hält man da zu, so steht er hinter dem Loch C usw. 49
Die Ereignisse sind Wellen, die den Geist bedrohen, aber auch tragen. 5 0
Man kehrt nur dann vor fremder Bewußtseinsschwelle, wenn man's zuhau-
se schmutzig hat. 51
Wir alle neigen dazu, unsern Harnisch für unser Fleisch zu halten. 52
c) La bonne grâce est au corps ce que le bon sens est à l'esprit. S3
Das Druckenlassen verhält sich zum Denken wie eine Wochenstube zum
ersten Kuß. 5 4
d) Unsere Eigenschaften müssen wir cultivieren, nicht unsere Eigenheiten. 5 5
Über keinen Gegenstand philosophieren sie seltner als über Philosophie. 56 Ich
kenne eine Bureaukratie, die auf Eingebungen weniger hält als auf Eingaben. 5 7
Schaukals Spiel mit »EinfalLAusfall« S. 13.
e) Il est plaisant que le mot, connaître une femme, veuille dire, coucher avec une
femme, et cela dans plusieurs langues anciennes, dans les moeurs les plus
simples, les plus approchantes de la Nature; comme si on ne connaissait point
une femme sans cela. 58
Il est plus facile de légaliser certaines choses que de les légitimer. 59
Je größer der Stiefel, desto größer der Absatz, 6 0 [»Stiefel« bedeutet im
Österreichischen »Unsinn«].
45
Fr. Schlegel, Lyzeumfragment 82.
46
Goethe, Maximen und Reflexionen Nr. 171.
47
Karl Kraus, Nachts (1924), S. 80.
48
Schaukai, Gedanken, S. 147.
49
Lichtenberg, Aphorismen, B. 119.
50
Hofmannsthal, Buch der Freunde (1922), S. 55.
51
Karl Kraus, Nachts (1924), S. 80.
52
Ludwig Strauss, Wintersaat, S. 17.
53
Larochefoucauld, Maximes et R. 67.
54
Friedrich Schlegel, Athenäumfragment 62.
55
Goethe, Maximen 356.
56
Friedrich Schlegel, Athenäum 1.
57
Karl Kraus, Nachts, S. 209.
58
Chamfort, Maximes et Pensées, p. 147, (Oeuvres, L'an III, T. IV).
59
Ebda., 57.
60
Karl Kraus, Beim Wort genommen (1955), S. 155.
Der Aphorismus 21
f) Nichts unmenschliches ist dem Menschen fremd. 6 ' (Variation des [meist als
»Nihil humani . . . « zitierten] »Humani nihil a me alienum puto« aus Terenz.)
61
Schaukai, a.a.O., S. 157.
62
Vgl. z . B . Anrn. 68.
63
Vgl. A n m . 12.
64
Pensées, ed. Brunschvigg, sect. III, no. 209.
22 Franz H . Mautner
»Le dernier acte est sanglant, quelque belle que soit la comédie en tout le
reste: on jette enfin de la terre sur la tête, et en voilà pour jamais.« 65 Und
wenn Friedrich Schlegel — um eines der ohne Erörterung seiner Gedanken-
welt noch begreiflichsten Paradoxa wiederzugeben - notiert: »Auch in der
Poesie mag wohl alles Ganze halb und alles Halbe doch eigentlich ganz
sein« (Lyzeumfragment 14), so ist dies die bündigste Form für die romanti-
sche nur scheinbar paradoxale Überzeugung vom Fragmentarischen aller
Poesie, vom Universellen eines jeden poetischen »Fragments«. Dabei se-
hen wir ganz davon ab, daß ja Paradoxic die auch theoretisch herausgestell-
te Grundform Schlegelschen Denkens ist, 66 wie es überhaupt einen bewuß-
ten Verzicht unserer Ausführungen bedeutet, daß sie von individuellen und
zeitgeschichtlichen Antrieben und Hintergründen möglichst absehen und
bloß Gemeinsamkeiten aphoristischen Schaffens herausheben können, da-
durch oft sich an einer künstlich abgerissenen Oberfläche bewegend: » P a -
r a d o x i e n d e s A u t o r s . — Die sogenannten Paradoxien des Autors, an
welchen ein Leser Anstoß nimmt, stehen häufig gar nicht im Buche des
Autors, sondern im Kopfe des Lesers.« 67 Sie können blitzartig ein psycholo-
gisches oder ethisches, häufig an eine bestimmte Situation gebundenes Pro-
blèm erhellen: »Oft ist es leichter das Schwere zu tun als das Leichte.« (L.
Strauss, Wintersaat, S. 46) Allerdings, wie jedes Merkmal eines Ursprüngli-
chen und Typischen sich in traditionsgebundenen Erscheinungen veräußer-
licht, so auch das Paradoxale aphoristischen Wesens, und umso mehr, wenn
es dem Witz dient; wie erst, wenn dieser selbst bloß stilistisches, nicht
gehaltliches Merkmal eines Satzes ist und ihn so bloß formal zum Aphoris-
mus umschafft. Witz und Esprit, als rein gedanklich-schöpferische wie als
spielerisch-ästhetische Äußerungsform, haben an seiner Tradition mitge-
schaffen. Immer stärker wird so der Aphorismus ins überwiegend oder rein
Ästhetische hinübergelenkt und der Begriff des echten, des geistig-künstle-
rischen Aphorismus, der ebenso Teil hat an der ursprünglichen Zeugeform
des Einfalls oder der Klärung wie an seiner künstlerischen Gestaltwerdung,
ist nun flankiert von seinen vor- und nachgebornen Brüdern: den »Aphoris-
men« als Terminus bloßer Aufzeichnungsart und dem Aphorismus als Ter-
minus einer gewissen oft leeren Schablone von stark spielerischer Eigenart.
Die scheinbar zufällige Entstehung von Aphorismen, besonders jener
der Spielart »Einfall«, aus (oft tatsächlich) zufälligen Reizen der Ding-, der
Geist- und der Sprachwelt, ihre auf eindeutige Begriffe, Begriffserläuterun-
gen und Beweise verzichtende Subjektivität, die Möglichkeit, gehaltlos,
65
Ebd. 210.
66
Z . B . »Moralität ohne Sinn für Paradoxic ist gemein.« {Ideen, 76).
67
Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches, I, Nr. 185. Er bezieht sich hier zwei-
fellos auf seine eigenen Aphorismen.
Der Aphorismus 23
68
Die nüchterne Verurteilung des Aphorismus als unernst ist ersichtlich etwa aus
Bindings Erinnerung an Nietzsche in seiner Selbstbiographie, die Verurteilung
des scheinbar bloß Intellektuellen, lebensfremd-Unaktiven: »Hat man ihn [Nietz-
sche] denn damals schon erkannt?« fragte ich. . . . »Daß er ein geistreicher Kerl
war, merkte natürlich jeder . . . « antwortete mein Vater. »Aber einer, der nur in
Aphorismen redete - so was galt damals nichts r e c h t e s . . . « (Erlebtes Leben 1928,
S. 12). - »Ich habe ihre Aphorismen satt«, sagte Johanna. . . . Man greift in lauter
Glassplitter . . . wenn Sie reden.« (L. Feuchtwanger Erfolg) (1930,1. S. 212) »Oft,
wenn er die Seiten Krügers las mit ihrem Lack und Glanz, wenn Tüverlin ihm mit
einem Blender und Aphorismus zu Leibe rückte, spürte er stark die Versuchung,
sich auf ein Gebiet zu retten, wo er sich besser wehren konnte.« (a.a.O. II, 267).
69
»Fragwürdig« ist hier offenbar im ursprünglichen gleichzeitig mit dem gegenwär-
tigen Wortsinn gemeint, was selbst wieder für aphoristischen Stil charakteristisch
ist. Vgl. S. 19 und 15.
70
Maximen u. Reflexionen, ed. Hecker (Schriften der Goethe-Gesellschaft, XXI).
24 Franz H. Mautner
und so setzt auch Larochefoucauld seinen Maximes ein Motto voran, das
auf ihre einheitliche Auffassung vom Menschen hinweist/Kundgebungen
einer mehr oder weniger bewußten einheitlichen Schau- und Denkweise
sind aphoristische Werke ja stets, wenn auch eine vereinzelte Äußerung
ohne einen dem Leser bekannten gedanklichen Hintergrund (oder spezifi-
sche Beziehung) nie mit Sicherheit verstehbar ist. 71
Kurz, die >Widersprüche< der Aphorismen erklären sich ebensosehr aus
der Einheit des individuellen geistigen Organismus wie aus ihrer Entste-
hungsweise. Oft aus einmaligen Reizen und Gelegenheiten entstanden, be-
ziehen sich die einzelnen Einfälle unausgesprochen auf die verschiedensten
Erlebniskomplexe, und ihre Tendenzen sind so überhaupt nicht ohne weite-
res auf einander beziehbar:
Es ist dies die erste von Chamforts Maximes et Pensées! Oft genug ist auch
die vorausgehende Kenntnis des Aufbaus der geistigen Welt eines Autors
oder seines spezifischen ihm eigenen Wortgebrauchs nötig, um den Sinn
und Platz des einzelnen Aphorismus in ihr zu erfassen: »Pour décider qu'un
auteur se contredit, il faut qu'il soit impossible de le concilier« - die letzte
[!] der »Réflexions et Maximes« in Vauvenargues Introduction à la connais-
sance de l'esprit humain ... (1746). Den Erfolg solchen Forschens verbürgt
erst die Antithese; sie klärt einen Begriff durch sein Gegenteil, kann ihn
aber auch als Scheinantithese entstellen. Traditionell scheint sie deshalb aus
beiden Gründen für den Aphoristen einen besonderen Reiz zu haben 7 2 und
birgt besondere Gefahr für bloße Formtalente: »Die Antithese ist die enge
Pforte, durch welche sich am liebsten der Irrtum zur Wahrheit schleicht.« 73
Kurz, das Problem, inwiefern eine geistige Einheit >Widersprüche< auf-
weisen könne, ist kein anderes als das des Verstehens überhaupt. Darauf
71
Vgl. Goethes Bemerkung über das »originale Wahrheitsgefühl«. Anm. 20.
72
Kreisamtmann Just an Novalis, 17. u. 24. Nov. 1798 über die Blütenstaub-Frag-
mente: »Daß Sie so ein Freund von Antithesen sind, hatte ich vorher noch nicht
bemerkt. Ich weiß aber schon, daß sie . . . von jungen witzigen Köpfen gemeinig-
lich gesucht und gelobt werden.« (Novalis, Briefe und Tagebücher, hg. Samuel,
in Schriften, hg. Kluckhohn, IV, 246).
73
Nietzsche, a . a . O . , Nr. 187.
Der Aphorismus 25
Aber wie oft ist nicht solches blitzendes Formen- und Gedankenspiel Tar-
nung irrationaler Fragen und Zweifel, irrationalen Vermutens oder Glau-
bens, wie oft m u ß nicht architektonische Anordnung der Wörter, ihre dop-
pelte Verwendung in nicht ganz gleichem Sinn den logischen Sprung verber-
gen! Esprit dient dem »klassischem, d. h. lange Zeit typischen Aphorismus,
seinen tiefer-liegenden Wurzeln, nicht der Aphorismus dem Esprit.
Damit stoßen wir schließlich, nach dem Versuch, die geistigen Momente
herauszufinden, aus denen seine Form entspringt, beide in ihrer Eigenart zu
beschreiben und aufeinander zu beziehen, zur Frage vor, ob etwa dem vom
Autor vorgezogenen Gattungs- ein bestimmter Persönlichkeitstypus ent-
spreche — eine Frage, zu der heute aus methodischen Prinzipien die Stirn
gerunzelt wird. Ihre Beantwortung auf Grund rein deskriptiver Untersu-
chung der Gattung scheint uns jedoch deren Wesen zwingend zu erhellen.
Nur von vagen, aber unleugbaren Gemeinsamkeiten im geistigen Bild der
Meister des Aphorismus könnte dabei natürlich die Rede sein. Die auffal-
lendste ist eine besonders straffe, schwebende Polarität zwischen rationa-
lem und emotionalem, ja oft mystischem Denken. Überraschend häufig
(beruflich oder in einem Teil ihres Lebenswerks) rationale »Denken mit
dem Hang zum Irrationalen in Form des Religiösen, des Regelwidrigen, der
Mystik der Natur oder der Sprache — seien sie nun Mathematiker oder
Naturforscher, Philologen oder Kulturkritiker — sind die Aphoristen zu-
gleich einem starken Formtrieb ausgeliefert, ohne daß dieser zur Gestal-
74
Die Bedeutung des Wortes >Maxime< als Formbezeichnung ist hier von der älte-
ren, bloß inhaltsbezogenen nicht mit Sicherheit zu trennen.
26 Franz H. Mautner
tung von Menschen oder Vorgängen völlig ausreicht oder in diese Richtung
zielt. So befriedigt er sich in der über die bloße Mitteilung hinausgehenden
sprachlichen Gestaltung des Gedankens. Der Denkreize ausstrahlende, iso-
lierte gestalthafte Satz hält gerade die Mitte zwischen dem der beweisenden
— etwa philosophischer, psychologischer, sozialkritischer — Darlegung die-
nenden Glied eines Ganzen und dem in sich beruhenden, derartige Deu-
tung einladenden figürlichen Vorgang oder Gebild der >Dichtung<.
D I E AUTOBIOGRAPHIE
Rolf Tarot
Autobiographie: Definitionen
Autobiographie: literarische Darstellung des eigenen Lebens. 3
Problematisch ist diese Definition des Duden wegen des nicht näher be-
stimmten Literaturbegriffs. 4 Die Definition im Duden-Fremdwörterbuch
macht die Schwierigkeit sichtbar:
1
Georg Misch, Geschichte der Autobiographie. Bd. IV. 1. Frankfurt a. M. 1967,
S. 777.
2
Zu weiteren Vertretern der sog. >literarischen Autobiographie« vgl. Klaus-Detlef
Müller, Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der
Goethezeit. Tübingen 1967, S. 183-242.
3
Duden. Rechtschreibung. Mannheim, Wien, Zürich ls 1980.
4
Das Stichwort »Literatur« wird im Duden nicht erläutert.