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Levinas
von
Andreas Gelhard
RECLAM
L E 1 P Z 1 G
Das Denken von Emmanuel Levinas ( 1906-199 5)
kreist um »den Anderen«, es versteht sich als »Phäno-
menologie der Beziehung zum Anderen«. Auf die
Grundlinie dieser Phänomenologie konzentriert sich
daher auch die Einführung von Andreas Gelhard. Er
stellt Levinas' Philosophie als eine Philosophie der
Freiheit vor, die geprägt ist durch ein tiefes Misstrauen
gegen jede Form integrativer und kriegerischer
Gewalt, aber auch gegen die latente Gewalttätigkeit
einer Autonomie, die taub ist für den Anspruch des
Anderen. Dem entspricht ein Verständnis von Ethik,
das nicht auf das Befolgen verbindlicher Normen
setzt, sondern auf das Entstehen von Verbindlichkeit
in der Beziehung zum anderen Menschen.
Einleitung 7
Anmerkungen 113
Kommentierte Bibliografie 127
Schlüsselbegriffe 133
Zeittafel 137
Einleitung
7
»Phänomenologie der Beziehung zum Anderen« treibt die
Phänomenologie an ihre Grenze, sie entdeckt den Anderen
in der »Zweideutigkeit des Phänomens und seines Ausblei-
bens« (JS 201 /114).
Der Gestus, mit dem Levinas in der Überschreitung des
phänomenologischen Denkens am programmatischen Titel
einer Phänomenologie festhält, ist insgesamt charakteris-
tisch für ein Denken, in dem traditionelle Termini nicht
einfach »verabschiedet«, sondern neu gedacht werden. Das
macht die Lektüre schwierig, aber auch ertragreich. Denn
Levinas' Schreiben versucht eine Erneuerung des philosophi-
schen Vokabulars, die den Gang des Denkens nicht nur
bereichert, sondern ihm eine neue Richtung gibt. Folgt man
dem Urteil Jean Luc Marions, so ist dies im Frankreich des
20. Jahrhunderts nur zwei Denkern gelungen: Henri Bergson
(1859-1941) mit der ihm eigenen »Eleganz und Geschmei-
digkeit<< und Emmanuel Levinas mit einer gewissen »Härte
und Gewalttätigkeit«. 1 Diese Charakterisierung trifft den Duk-
tus von Levinas' Denken sehr genau und wird vor allem von
Lesern der späten Schriften kaum bestritten werden. Doch
wird auch dem oberflächlichsten Leser nicht entgehen, welch
enormen Spannungen ein Denken ausgesetzt ist, das sich mit
nicht unbeträchtlicher Härte gegen jede Ideologie der »harten
Wirklichkeit« richtet. Ein solches Denken zieht seine rhe-
torische Gewalttätigkeit aus der Erkenntnis, dass ein kon-
sequenter Pazifismus nicht nur gut gemeint sein darf 2 ; und
es erweist seine Härte mitunter darin, dass es allgemein als
»weich« empfundene Begriffe wie Passivität oder Schwanger-
schaft zu philosophischen Grundbegriffen erhebt. 0
Entsprechend bringen nicht nur ungewohnte Termini, son-
dern auch und vor allem Begriffe, von denen man intuitiv
schon »weiß«, was sie bedeuten, die Lektüre immer wieder ins
Stocken. Denn Levinas konfrontiert uns mit einem »Gesicht«
ohne Züge, mit einer »Freiheit« ohne Selbstbestimmung und
mit einer »Ethik«, die weder Werte und Normen formuliert
noch sich etymologisch auf den »Aufenthalt« des Menschen in
8
der Welt zurückführen lässt. Das ist umso gravierender, als
die Formel »Ethik als erste Philosophie« zum meistzitierten
Schlagwort von Levinas' Denken geworden ist. 4 Es gilt also von
vornherein festzuhalten, dass der Ausdruck »Ethik<< bei Levi-
nas keine derjenigen philosophischen Disziplinen bezeichnet,
die Heidegger zufolge erst aufkommen, »sobald das ursprüng-
liche Denken zu Ende geht« 5 . Levinas selbst bemerkt, die
»ethische Situation«, die im Zentrum seines Denkens steht,
lasse sich »nicht von der Ethik her verstehen« (JS 268/154).
Das Adjektiv »ethisch«, das die Beziehung zum anderen Men-
schen charakterisiert, bleibt in Levinas' Schriften letztlich ein
Adjektiv. Er selbst bedient sich einmal der deutschen Sprache,
um das substantivierte Adjektiv vom Titel der philosophi-
schen Disziplin zu unterscheiden: das »Ethische« von der
»Ethik« (D 81/228). In demselben Zusammenhang bietet er
eine kurze Charakterisierung des Ethischen, die zu einer
ersten Orientierung über seinen Gebrauch des Ausdrucks
dienen kann. In ausdrücklicher Abgrenzung gegen Traditio-
nen, die das Charakteristikum des Ethischen im Gebrauch von
Regeln der Klugheit, in der Universalisierung von Handlungs-
maximen oder in der Orientierung an Wertehierarchien
sehen, rekurriert Levinas auf einen elementaren Begriff des
Ethischen, wie ihn die Dialogphilosophie formuliert hat: »Das
Ethische beginnt im Ich-Du des Dialogs« (D 81/228). Dabei
sieht er die Notwendigkeit, auch hinter dieses »Ich-Du« noch
zurückzugehen, sofern es mit Martin Buber (1878-1965) als
eine symmetrische Beziehung unter Gleichen gedacht bleibt. 6
Die Analyse der Fremderfahrung entdeckt im »Dia des Dia-
logs« eine untilgbare »Dissymmetrie«, eine Infragestellung der
Souveränität und Selbstgenügsamkeit des Ich durch das
Fremde (D 78/225, 82/230). Entsprechend heißt es in Totalität
und Unendlichkeit: »Die Fremdheit des Anderen, der Um-
stand, daß er nicht auf mich, meine Gedanken und meinen
Besitz zurückgeführt werden kann, vollzieht sich nur als
Infragestellung meiner Spontaneität, als Ethik (L'etrangete
d'Autrui - son irreductibilite a Moi - a mes pensees et a mes
9
possessions, s'accomplit precisement comme une mise en
question de ma spontaneite, comme ethique)« (TU 51/13).
Um den Sinn und die Tragweite solcher Formulierungen ohne
unnötige Umwege zu erschließen, konzentrieren sich die
folgenden Seiten auf Levinas' philosophischen Grundgedan-
ken und verfolgen dessen Ausarbeitung in einer weitgehend
chronologischen Lektüre der philosophischen Hauptschriften
von Die Zeit und der Andere (1948) über Totalität und Unend-
lichkeit (1961) bis zu Jenseits des Seins oder anders als Sein
geschieht (1974). Dabei gilt es immer die konkreten Fragen
gegenwärtig zu halten, denen dieser Gedanke entspringt und
an denen er sich bewähren muss, wenn er nicht eine bloße
philosophische »Position« bleiben soll. Es wird also zu fragen
sein, wie sich die Grundlinien des Denkens verschieben, wenn
Sterblichkeit, Begehren, Sprache, Geschichte, Gewalt und Ver-
antwortung im Rahmen einer »Phänomenologie der Bezie-
hungen zum Anderen« gedacht werden. Dabei wird die Dar-
stellung durchgehend Jacques Rollands Einsicht folgen, dass
sich der Gehalt von Levinas' Denken nicht »stromabwärts«, im
Ausgang von seinen moralischen und religiösen Konsequen-
zen erschließen lässt, sondern nur »stromaufwärts«: im Nach-
vollzug seiner philosophischen Argumente. 7
Ich danke allen, die direkt und indirekt zur Entstehung dieses
Buches beigetragen haben, vor allem Thomas Bedarf und
Bernhard Waldenfels für ihre Anregungen und ihre Kritik.
10
Vom Sein zum Anderen
11
Seiende, das mit dem Vermögen des Verstehens ausgestattet
ist und das Heidegger »Dasein« nennt, prägt Levinas nicht. Da-
her ist zu beachten, dass nur sehr selten von Sachen, in den
weitaus meisten Fällen aber vom Menschen die Rede ist, wenn
Levinas vom »Seienden« spricht. Levinas' »Seiendes« ist - wie
Heideggers »Dasein« - der nicht anthropologisch, sondern
ontologisch verstandene Mensch. In der kurzen Vorlesungs-
reihe Die Zeit und der Andere, die Levinas noch gegen Ende
der siebziger Jahre als den »ursprünglichen Entwurf« seines
Denkens bezeichnet (ZA 8/8), heigt es dazu lakonisch: »Die
Analysen, die wir anstellen werden, sind keine anthropologi-
schen, sondern ontologische. Wir glauben in der Tat an die
Existenz ontologischer Probleme und Strukturen« (ZA 17 /17).
Sein (i! y a)
12
(EU 27 /28). Diese sehr elementare Form der philosophischen
Gehörbildung fand in Heideggers Freiburger Vorlesungen
statt. Levinas hat sie später auf die Formel gebracht, Ontologie
sei fortan als »das Verstehen des Verbs >sein<« zu begreifen:
>>Man spricht üblicherweise vom Wort Sein (etre), als wäre es
ein Substantiv, obwohl es das Verb schlechthin ist. Auf fran-
zösisch sagt man l'etre (das Sein} oder un etre (ein Seiendes).
Mit Heidegger ist die >Verbalität< des Wortes Sein wieder-
erweckt worden, das, was in ihm Ereignis, was in ihm >Ge-
schehen< des Seins ist« (EU 27 /28). In dieser Hinsicht bleibt
Sein und Zeit für Levinas immer »das eigentliche Modell der
Ontologie« (EU 30/32). Noch in den achtziger Jahren bemerkt
er, Heidegger habe sich in seinen Augen »von der Schuld an
seiner Beteiligung am Nationalsozialismus nie befreit«, zu-
gleich sei es aber unmöglich, im 20. Jahrhundert zu philoso-
phieren, ohne »die Philosophie Heideggers zu durchqueren«
(EU 3lf./33).
Auch Levinas beginnt also mit der grundlegenden Unterschei-
dung zwischen Sein und Seiendem. In der Schrift Die Zeit und
der Andere heißt es dazu:
»Diese Unterscheidung Heideggers ist für mich das Tiefste in Sein und
Zeit. Doch bei Heidegger gibt es nur Unterscheidung, keine Trennung.
Das Sein wird im Seienden ergriffen, und für das Seiende, das der
Mensch ist, drückt der Heideggersche Ausdruck der Jemeinigkeit ge-
nau die Tatsache aus, daß das Sein immer von jemandem besessen
wird. Ich glaube nicht, daß Heidegger ein Sein ohne Seiendes zugeste-
hen könnte; das würde ihm absurd erscheinen. Dennoch hat er einen
Begriff. die Geworfenheit - nach Jankelevitch >Ausdruck eines be-
stimmten Heideggen -. den man gewöhnlich durch >dereliction< oder
>delaissement< übersetzt. Man insistiert damit auf einer Konsequenz
der Geworferiheit. Man muß Geworfenheit durch >/e (ait-d 'etre-jete-
dans ... /'existence< übersetzen. So, wie wenn das Seiende (l'existant)
nur in einem Sein (l'existence) erschiene, das ihm vorangeht, wie
wenn das Sein vom Seienden unabhängig wäre, so, wie wenn das
Seiende, das sich in das Sein geworfen findet. seiner niemals Herr
13
werden könnte. Genau deswegen gibt es Verlassenheit und Preisgabe.
So entsteht die Idee eines Seins, das sich ohne uns, ohne Subjekt, voll-
zieht, eines Seins ohne Seiendes« (ZA 22/25).
14
heit im ersten umfassenden Entwurf seiner eigenen Philo-
sophie zukommt. Die sehr restriktive Interpretation der Je-
meinigkeit als Besitzverhältnis bildet den Hintergrund, vor
dem die Grundeinsicht von Heideggers Analysen der »Gewor-
fenheit« umso deutlicher zutage tritt: die Einsicht in die
anfängliche Unverfügbarkeit des Seins.
Schon in dem frühen Aufsatz »De l'evasion« (»Vom Aus-
bruch«) reformuliert Levinas Heideggers Gedanken der Ge-
worfenheit, indem er die »elementare Wahrheit« hervorhebt,
die das )>Spiel« des Lebens in »Ernst« umschlagen lässt: »Die
elementare Wahrheit, dass es Sein gibt - Sein, das gilt und
lastet« (E 94 f.). Es ist hier von nichts anderem die Rede als
von dem in Sein und Zeit so genannten »Lastcharakter« des
Daseins, der gerade darin besteht, dass die eigene Existenz
nicht spielerisch zur Disposition steht, sondern gilt und
als solche übernommen werden muss. Der in der Stimmung
erfahrene »Lastcharakter des Daseins« lässt »das Sein des
Daseins als nacktes >Daß es ist und zu sein hat< aufbrechen« 7 .
In der Unausweichlichkeit dieses Zu-sein-Habens - und nur
dort - liegt die Last. Denn die Geworfenheit fordert, was das
Dasein nicht kann; es soll das Sein als »Grund« seiner selbst
»übernehmen«- und kann seiner doch »nie mächtig werden« 8 .
Hier schließt Levinas an, wenn er fordert, das Sein so zu
denken, »wie wenn das Seiende, das sich in das Sein gewor-
fen findet, seiner niemals Herr werden könnte«; und er ver-
selbstständigt die in »De l'evasion« gebrauchte Wendung
)>qu'il y ade l'etre« zu dem Terminus »il y a«.
Dieser Begriff des )>il y a« bleibt ein Grundbegriff des levi-
nasschen Denkens bis in die spätesten Schriften. In dem Werk
Die Zeit und der Andere führt er ihn in zwei Schritten ein, wo-
bei der erste von einem Grundmotiv der Phänomenologie
Husserls ausgeht, während der zweite an Heideggers Fun-
damentalontologie anschließt. Levinas schreibt: »Wie sol-
len wir uns diesem Sein ohne Seiendes annähern? Stellen wir
uns die Rückkehr aller Dinge, Seienden und Personen ins
Nichts vor. Werden wir dann auf das reine Nichts treffen?
15
Es bleibt nach dieser imaginären Vernichtung aller Dinge
nicht etwas, sondern die Tatsache des Es gibt (le fait qu'il y a)«
(ZA 22/25 f.).
Mit diesem Gedankenexperiment formuliert Levinas eine
Variante der von Husserl so genannten Epoche: der gedank-
lichen Ausschaltung aller »Stellungnahmen zur vorgegebenen
objektiven Welt«. Wie Rene Descartes (1596-1650) zu Beginn
seiner Meditationen zunächst alle Gewissheiten in Zweifel
zieht, um sich zu derjenigen letzten Gewissheit leiten zu las-
sen, die dem Zweifel widersteht, so muss das »meditierende
Ich« des Phänomenologen zunächst alle vorgegebene Welt-
kenntnis »einklammern«, um den »reinen Strom« des Be-
wusstseinslebens als eigentliches Untersuchungsfeld aller
phänomenologischen Analysen hervortreten zu lassen. In den
Cartesianischen Meditationen bezeichnet Husserl dieses
Bewusstseinsleben als den transzendentalen »Seinsboden«,
den der »natürliche Seinsboden« der alltäglichen Welt jeder-
zeit voraussetzt. 9 Die - einigermaßen drastische - Rede von
einer »Vernichtung« der Welt findet sich in den Ideen zu einer
reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie;§ 49 des Buches trägt den Titel »Das absolute Bewußtsein
als Residuum der Weltvernichtung«. 10 Von einer solchen Sus-
pendierung aller alltäglichen Weltbezüge - und nicht von
irgendeinem Ende der Tage - ist die Rede, wenn Levinas die
Beziehung zum il y a als eine »Situation des Weltendes« be-
zeichnet (VS 22/26).
In seiner Schrift Die Zeit and der Andere folgt Levinas zu-
nächst Husserls Logik des »Residuums«, indem er das il y a als
ein Sein bestimmt, »das zurückkehrt, durch welche Negation
man es auch immer beseitigen mag<< (ZA 23/26). Wie Husserls
absolutes Bewusstsein, so muss das il y a als ein Geschehen
begriffen werden, das in jeglicher Negation am Werk ist und
daher selbst nicht weiter negiert werden kann. Doch spricht
Levinas zufolge nichts dafür, ihm bereits Züge von Bewusst-
sein zuzusprechen. Das Bewusstsein bedarf vielmehr der He-
rausbildung einer »privaten Domäne«, eines Ich, das ihm er-
16
laubt, sich aus der unmittelbaren Teilhabe am Seinsgeschehen
zurückzuziehen und in einer Distanz zur Welt einzurichten
(ZA 24/27). Die Beziehung zum il y a ist nicht Wahrnehmung
von Welt, sondern Ausgesetztheit an ein Sein, das sich auf-
drängt, ohne sich je als »dieses und jenes« fassen zu lassen. Sie
ist Erfahrung der bloßen Unerbittlichkeit und Unausweich-
lichkeit - der »irremissibilite« - des Seins (ZA 23/26).
Das Gedankenexperiment der Weltvernichtung reicht also
nicht aus. Es bedarf eines zweiten Anlaufs, um diese Erfah-
rung genauer zu bestimmen. Levinas beginnt ihn wie folgt:
»Nähern wir uns der Situation von einer andern Seite. Nehmen wir die
Schlaflosigkeit. Diesmal handelt es sich nicht um eine imaginäre Er-
fahrung. Die Schlaflosigkeit besteht aus dem Bewußtsein, daß es nie
mehr enden wird, das heißt, daß es keinerlei Mittel mehr gibt, sich aus
der Wachsamkeit (vigilance), zu der man verpflichtet ist, zurückzu-
ziehen. Wachsamkeit ohne irgendein Ziel. [... ] Nur die von außen
kommenden Geräusche, die für die Schlaflosigkeit so kennzeichnend
sein können, führen Anfänge in diese Situation ohne Anfang und
Ende ein, in diese Unsterblichkeit, der man nicht entrinnen kann, die
ganz dem il y a ähnlich ist, dem unpersönlichen Sein, von dem wir so-
eben gesprochen haben« (ZA 23 f./27).
Die Erfahrung, von der Levinas hier spricht, hat nicht mehr
den Charakter einer Meditation, die sich, Descartes' Vorbild
folgend, in »ungestörter Muße« und zu einem selbst gewählten
Zeitpunkt vollziehen ließe. 11 Das Gedankenexperiment der
Weltvernichtung wird vielmehr an eine Erfahrung zurück-
gebunden, die jedem zugänglich ist, ohne dass sie willentlich
herbeigeführt werden könnte. Auch darin folgt Levinas Hei-
degger, und zwar insbesondere seinen Ausführungen in der
Vorlesung Was ist Metaphysik?, die in Frankreich lange zu den
einflussreichsten Texten Heideggers gehörte.
Die Grundfrage von Heideggers Vorlesung ist die »Frage nach
dem Nichts«. Es soll nun nicht im Einzelnen dargelegt werden,
inwiefern diese Frage für Heidegger einen privilegierten Fall
17
des metaphysischen Fragens darstellt. Entscheidend ist im
vorliegenden Zusammenhang nur, dass das Nichts sich nicht
»als ein Seiendes« vorstellen lässt und dass es unmöglich ist,
sich »durch eigenen Beschluss und Willen« vor dieses Nichts
zu bringen. 12 Das Nichts ist kein Gegenstandwissenschaft-
licher Was-ist-Fragen und es lässt sich nicht mittels beliebig
einsetzbarer Methoden erfassen. Es erschließt sich vielmehr
einer »Grunderfahrung«, die ständig in unserem Alltag ge-
schieht und die jeder theoretischen Distanz entbehrt. 13 Hei-
degger nimmt hier diejenigen Analysen von Sein und Zeit auf,
die der Geworfenheit des Daseins gewidmet sind. Die in Frage
stehende Grunderfahrung ist nicht die Erfahrung »von etwas«,
sondern die Erfahrung, »wie einem ist«, die Erfahrung des »Es
ist mir unheimlich« in der Stimmung der Angst. 14
Die Stimmung der Angst unterbricht jeden Bezug zu den
je einzelnen und bestimmbaren Seienden, sie bringt »das
Seiende im Ganzen zum Entgleiten« 15 . Heideggers bekannte
Unterscheidung zwischen der »Furcht«, die sich immer »vor
diesem und jenem bestimmten Seienden« fürchtet, und der
Angst, bei der es unbestimmt und unbestimmbar bleibt, »wo-
vor und worum wir uns ängstigen« 16 , antwortet letztlich auf
die Frage nach der Möglichkeit einer vortheoretischen, in der
alltäglichen Erfahrung vollziehbaren Epoche. Heidegger fin-
det diese Möglichkeit in der Grundstimmung der Angst;
Levinas findet sie in der Erfahrung der Schlaflosigkeit. Da-
bei betont Levinas vor allem den anonymen, vorpersonalen
Charakter des schlaflosen Starrens in die Nacht und des Hor-
chens, dem die Stille zum Geräusch wird. Im Wachen besteht
eine Beziehung zum Sein, die diesseits des Bewusstseins liegt,
an der das Bewusstsein nur teilhat, ohne mit ihr identisch zu
sein. Denn für Levinas ist Bewusstsein nur als Bewusstsein
eines Ich denkbar, während das Wachen wesentlich »anonym«
ist: »Es wacht«, heißt es in der Schrift Vom Sein zum Seienden:
»c;:a veille« (VS 80/111).
Daraus folgt, dass der erste Schritt von Levinas' Ontologie - der
von ihm selbst so genannte »fundamentale Schritt im ontolo-
18
gischen Abenteuen< (VS 124/ 172) - nicht der Schritt eines
Subjekts sein kann. Die anfängliche Beziehung zum Sein, wie
sie die Analyse der Schlaflosigkeit erschließt, »hat kein Sub-
jekt« (VS 79/110). Der erste Schritt, der die anonyme Be-
ziehung zum Sein unterbricht, der das endlose Wachen
beendet und eine Beziehung des Bewusstseins zur Welt
ermöglicht, kann nicht der Schritt eines Subjekts sein, son-
dern nur ein Schritt der Subjektivierung, er ist »Setzung eines
Subjekts« (VS 80/111).
19
Bedingungen des aufkommenden Totalitarismus. So ana-
lysiert Levinas unter dem Titel »Die Philosophie des Hitle-
rismus« eine Haltung, die sich nicht auf »elementare Gefühle«
reduzieren lässt, die vielmehr den ersten Versuch darstellt, mit
dem europäischen Freiheitsgedanken radikal zu brechen. Ge-
gen die Philosophien der Freiheit etabliert sie ein Denken der
»Erbschaft« und des »Blutes«, das die biologischen Bindun-
gen des Menschen nicht als zu überwindende darstellt, son-
dern als den »Grund seines Seins selbst«. Die »Philosophie
des Hitlerismus« sieht das Wesen des Menschen nicht in der
Freiheit, sondern »in einer Art von Fesselung« (IH 28-30).
Angesichts dessen versucht Levinas in dem wichtigsten Auf-
satz dieser Zeit - »De l'evasion« -, an die »legitimen Ansprüche
des Idealismus« anzuschließen, ohne dessen »Fehlen< zu wie-
derholen (E 127}. Die »legitimen Ansprüche des Idealismus«
bestehen für Levinas nicht in der Tendenz, das Einzelne als
Moment eines Ganzen zu denken und das Andere dem Selben
zu integrieren. Er verortet sie im Protest gegen jede Form von
Verschmelzung und distanzloser Teilhabe, wie er sie vor allem
in der Kunst und in bestimmten Formen mystischer Religio-
sität findet. 17 Darin liegt ein Grundzug von Levinas' Denken,
den er in seinen Studien zum Judentum deutlicher herausstellt
als in seinen philosophischen Hauptwerken, der jedoch bei der
Lektüre seiner Schriften niemals vergessen werden darf: Levi-
nas' Philosophie ist eine Philosophie der Freiheit und geprägt
durch ein tiefes Misstrauen gegen jede Form integrativer Ge-
walt, die Distanzen zerstört, Unterscheidungen verwischt und
den Einzelnen im Ganzen aufgehen lässt. Auch sein Verständ-
nis des Judentums ist durch diese Haltung geprägt. So schreibt
er in Schwierige Freiheit:
>>Das Judentum hat die Welt entzaubert, hat sich von [der] angeb-
lichen Entwicklung der Religion aus dem Enthusiasmus und dem Hei-
ligen abgehoben. Dem Judentum steht jede offensive Rückkehr dieser
Formen menschlicher Erhebung fern. Es sieht in ihnen das Wesen des
Götzendienstes.
20
1>.is N11111inose oder Heilige [ ... ] hebt die Beziehungen zwischen den
l'!·rs1111l'fl auf, indem es die Menschen, und sei es in der Ekstase, an
l'i rH·111 1lrama teilhaben läßt, das diese Menschen nicht gewollt haben,
!'111t ·r Ordnung, in der sie zugrunde gehen. Diese in gewisser Weise
.111
Von t•iner anderen Spielart dieser Gewalt ist im ersten Satz von
»Lk l'evasion« die Rede, wo es heißt: »Die Revolte der traditio-
1wlll'n Philosophie gegen die Idee des Seins entspringt dem
Missverhältnis zwischen der menschlichen Freiheit und dem
brutalen Faktum des Seins, das diese verletzt.« Levinas wird
dt'n Ausdruck »Revolte« auch im Rahmen seines eigenen onto-
logischen Entwurfs aufnehmen, der programmatisch zumin-
dest die Möglichkeit ankündigt, »dem Sein zu entkommen«.
Wenn er dabei aber einen »neuen Weg« einschlagen muss, der
sich nicht auf die von ihm so genannte traditionelle Philo-
sophie stützen kann, so liegt das Levinas zufolge daran, dass
ihre Revolte von einer falschen Konfliktlage ausgeht. Der
zweite Satz des Textes lautet: »Der Konflikt, von dem sie aus-
geht, setzt den Menschen der Welt entgegen und nicht den
Menschen sich selbst« (E 91). 18
Levinas richtet sich hier auf einer sehr allgemeinen Ebene
gegen eine Auffassung der Freiheit als reine Selbstgenüg-
samkeit, als Freiheit von allen natürlichen und sozialen Bin-
dungen. Diese Befreiung-von-Sein folgt weiterhin der Lo-
gik des Seins, indem sie das Subjekt als »Identität« und bloße
»Beziehung-auf-sich« denkt. Das Subjekt wiederholt in sei-
ner freien Selbstgenügsamkeit das Muster reiner Selbstiden-
tität, von dem er sich doch zu befreien sucht (E 91-93). Die
von Levinas so genannte traditionelle Philosophie erklärt
also zum Wesen der Freiheit, was sich der ontologischen
21
Analyse als die »radikalste, die unerbittlichste Fesselungii des
Menschen offenbart: »die Tatsache, dass das Selbst es selbst
ist« (E 98).
Diese frühe Diagnose erhält in der Schrift Vom Sein zum Seien-
den ihre Begründung aus einer ontologischen Analyse der
Setzung. Die Weise, in der Levinas diese Analyse beginnt, ist
für sein frühes Denken doppelt charakteristisch. In einem
ersten Schritt exponiert er Heideggers Unterscheidung von
Sein und Seiendem, um in einem zweiten Schritt unmittel-
bar zu zeitphilosophischen Überlegungen überzugehen. 19 Er
schreibt, die Unterscheidung zwischen dem bloßen Gesche-
hen des Seins (»le pur verbe d'etre«) und einzelnen, durch
Substantive bezeichneten Seienden dränge sich dem Denken
auf, sie sei aber auch immer schon im Verschwinden begrif-
fen, weil die philosophische Reflexion dazu neige, vom Ge-
schehen zur Sache überzugehen und das Sein dem Seienden
zu assimilieren. Und er fährt fort:
22
Levinas wird die genannte Frage mit »ja« beantworten, sie aber
in einem wichtigen Detail revidieren; denn das Seiende macht
sich zum Herrscher über ein Sein, das schlechterdings nicht
zu beherrschen ist. Das Selbst ist, wie es in den bereits zitier-
ten Passagen von Sein und Zeit heißt, seines Seins »von Grund
auf nie mächtig«. Heideggers Gedanke der Geworfenheit, des-
sen Bedeutung Levinas in seinem Werk Die Zeit und der
Andere herausstreicht, grundiert auch die Gedankenführung
in der Schrift Vom Sein zum Seienden. Die phänomenolo-
gischen Analysen des Buches sind durchweg Situationen
gewidmet, in denen »das Sein als eine zu übernehmende Last
erscheint« (VS 20/19).
Dabei betont Levinas weit deutlicher als Heidegger die Be-
deutung der Leiblichkeit für das Geschehen der Subjekti-
vierung. Der Leib ist für ihn nicht nur untrennbar mit dem
Geschehen der Setzung verbunden, er »ist die Setzung« selbst
als ein gelebtes »Hier«, eine anfängliche »Lokalisierung« im
anonymen Strom des Seins (VS 87 /122). Dieses Hier kann nie-
mals endgültig eingerichtet, es muss immer neu erobert wer-
den, wie Levinas vor allem in seinen Analysen der Anstren-
gung und der Arbeit zeigt. Diese Analysen begreifen Arbeit
nicht als ein Tun, in dem sich der Mensch als ein endliches
Abbild des Schöpfers erweist. Levinas hegte stets Misstrauen
gegenüber Ideologien, die das Ideal der arbeitenden Natur-
beherrschung mit den Themen »Freude an der Arbeit« und
»Freiheit durch Arbeit« verbinden. Während seiner Zeit in
deutscher Kriegsgefangenschaft müssen sie ihm endgültig
unerträglich geworden sein. Entsprechend exponiert Vom
Sein zum Seienden nicht das Kultivieren der Natur und nicht
die Produktion von Werken als Grundzug der Arbeit, sondern
die leibliche »Spannung der Anstrengung<<. Diese Spannung
löst sich nicht im einmal vollbrachten Resultat; sie ist »eine
Weise, dem Werk, das sich realisiert, Schritt für Schritt zu fol-
gen«. Das gilt auch für das Hören einer Melodie, das zentrale
Beispiel in Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des
inneren Zeitbewußtseins. 20 Doch kennt die Melodie keinen
23
Augenblick in dem von Levinas exponierten Sinn. Der musi-
kalische Augenblick geht in der Kontinuität der Dauer auf und
unter. Der Ton wird wahrgenommen als Moment der Melodie:
»der einzelne Augenblick zählt nicht« (VS 37 /46). In der An-
strengung dagegen zählt nur der Augenblick: der Stand, der
Stillstand des Augenblicks, in dem sich die Beziehung von Sein
und Seiendem knüpft.
24
»Last« der je eigenen Existenz; sie kann die Bindung ans Sein
nur verwandeln, nicht zerreißen. So vollzieht sich im Akt der
Setzung selbst eine »Rückkehr des il y a«; die Bindung des
Seienden ans Sein wiederholt und festigt sich »als Einsam-
keit, als das Endgültige der Fesselung eines Ich an sein Sich«
(VS 103/142f.).
Die einsame und selbstgenügsame Freiheit der Hypostase
muss demnach als eine Art von Gefangenschaft begriffen
werden, sie ist nur »erste Freiheit«, die als zweiten Schritt
fordert, »das Definitive der Hypostase« selbst »ZU sprengen«
(ZA 31/38). Diese zweite Befreiung eröffnet erst die Transzen-
denz des Ich und damit die Möglichkeit dessen, was Levinas in
seinen späteren Schriften »ethische Beziehung« nennen wird.
Sie ist nicht Befreiung eines Ich von allen äußeren Bindungen,
sie ist Befreiung des Ich von sich: »la liberation du moi captif de
soi« (ZA 38/47). Diese Befreiung ist nicht in einsamer Souve-
ränität, sondern nur in der Beziehung zum anderen Menschen
möglich. Der Übergang von der ersten Freiheit zur voll be-
stimmten Freiheit in Levinas' Sinne verlangt also zunächst
eine nähere Analyse der Beziehung zum Anderen. 21
25
als das Geschehen der Zeitigung selbst. Der Text beginnt mit
der programmatischen Erklärung: »Das Ziel dieser Vorlesung
besteht darin zu zeigen, daß die Zeit nicht das Faktum eines
isolierten und einsamen Subjektes, sondern das Verhältnis
des Subjektes zum anderen ist (qu'il est la relation meme du
sujetavecautrui)« (ZA 17/17).
In dem zitierten Interview findet sich auch eine metho-
dologisch sehr aufschlussreiche Kritik an Husserls Zeit-
philosophie, die latent bereits in der Schrift Die Zeit und der
Andere Gültigkeit hat. Levinas bemerkt: »Die Konstitution
der Zeit bei Husserl ist noch eine Konstitution der Zeit im
Ausgang von einem Bewußtsein, das die Gegenwart in ihrem
Vergehen und ihrer >Retention< und in ihrem Bevorstehen und
ihrer Vorwegnahme vollzieht - Vergehen und Bevorstehen,
die bereits voraussetzen, was konstituiert werden soll, ohne
daß es irgendeinen Hinweis auf die besondere empirische
Situation gäbe, an die diese Modi des Vergehens in die Vergan-
genheit und des Bevorstehens in der Zukunft gebunden wä-
ren« (ZU 277 /245).
Levinas kritisiert in Husserls Zeitphilosophie also die man-
gelnde Rückbindung der Analysen an »besondere« - für die
Frage nach der Zeitlichkeit besonders aufschlussreiche -
»empirische Situationen«. Und er hebt in der Folge vor allem
zwei Autoren hervor, in deren Schriften er eine solche Rück-
bindung findet: Martin Heidegger und Franz Rosenzweig
(1886-1929). Über Rosenzweig wird im folgenden Kapitel zu
sprechen sein. Zu Heideggers Philosophie der Zeit heißt es in
dem genannten Interview:
26
schon<; das Faktum eines Zugriffs auf die Dinge, ihre Nähe im Vorstel-
len oder Verstehen - Ekstase der Gegenwart; das Faktum des Seins-
zum-Tode - Ekstase der Zukunft« (ZU 277 /245).
27
bindet, deren Radikalität in ihrem neutralen und anonymen
Charakter liegt: an die »Fremdheit« des Todes (ZA 53/72). Die
Fremdheit des Todes liegt in seiner unaufhebbaren Zukünftig-
keit. Schon Heidegger betont, der Tod lasse sich nicht ange-
messen denken, indem man ihn als ein Ereignis begreift, das
irgendwann »eintreten« wird, das uns aber »vorläufig« noch
erspart bleibt. Der Tod ist nicht das faktische »Ableben« des
Daseins, das irgendwo in der Zukunft liegt; er ist ein »Noch-
nicht«, zu dem sich das Dasein jetzt und solange es ist, »ver-
hält«.23 Mit dem »Ableben« des Daseins erlischt jede Möglich-
keit, sich zu Zukünftigem zu verhalten, und folglich das Sein
zum Tode selbst. Levinas bringt das auf die Formel: »Der Tod
ist niemals jetzt« (ZA45/59).
Wenn die Beziehung zum radikal Fremden als eine Beziehung
begriffen werden muss, in der sich mir das Fremde absolut
entzieht, so ist die Beziehung zum Tod das Muster einer Be-
ziehung zum Fremden; der Tod ist als absolut Zukünftiges
»unergreifbar<< (ZA 44/59). Diese Unergreifbarkeit sieht Levi-
nas in Heideggers Analysen aber durch den Umstand gemil-
dert, dass das Sich-Verhalten zum Tod als ein »Verstehen« ge-
dacht wird. Die Stoßrichtung seiner Kritik ist hier dieselbe wie
im Falle der Jemeinigkeit. Entgegen der Einsicht, das Dasein
könne seines eigenen Grundes »nie mächtig werden«, und
entgegen der Bestimmung des Todes als das »äußerste Noch-
nicht« behält das Verstehen als das ursprüngliche »Sein-
können« des Daseins in Sein und Zeit immer die Oberhand. 24
Sowohl das alltäglich-indifferente »Man stirbt« als auch das
eigentliche »Sein zum Tode« bezeichnen Möglichkeiten, sich
»verstehend« zum Tod zu verhalten. »Man stirbt« bedeutet:
Der Tod trifft irgendjemanden, aber (noch) nicht mich. Das
»man« bezeichnet also nicht die Anonymität des natürlichen
oder physischen Todes, sondern ein »ausweichendes« Verste-
hen des Todes. Das eigentliche Sein zum Tode dagegen kann
vor der Möglichkeit des Todes »nicht ausweichen«; darin grün-
det sein eigentliches »Verstehen des Todes«. 25 In diesem Ver-
stehen wird das Jeden-Augenblick-möglich-Sein des Todes
28
»als Möglichkeit verstanden«, und das heißt: »als Möglichkeit
ausgehaltem<. 26 Der Tod, der sich dem Verstehen als die Un-
möglichkeit jedes Daseins aufdrängt, ist als verstehbarer folg-
lich eine »Seinsmöglichkeit«, die das Dasein »zu übernehmen
hat«: »Der Tod ist die Möglichkeit der schlechthinnigen Da-
seinsunmöglichkeit. «27
Gegen diese Verkehrung des Fremden ins Eigene - des Todes
in eine Möglichkeit, die das Dasein verstehend übernehmen
kann - wendet sich Levinas' bekannte Formel, der Tod sei
nicht die »Möglichkeit der Unmöglichkeit«, sondern die »Un-
möglichkeit der Möglichkeit« (ZA 44/92, Anm.). Die Fremd-
heit des Todes ernst zu nehmen bedeutet für Levinas, ihn als
schlechterdings unverständlich zu denken und die Beziehung
zum Tod als »Beziehung zum Geheimnis« (ZA 43/56). Erbe-
streitet nicht, dass sich das Selbst jederzeit und gegenwärtig
auf den Tod bezieht; er bestreitet nur die Möglichkeit, den Tod
verstehen und letztlich noch die Möglichkeit, sich zu ihm
verhalten zu können. Ausgangspunkt seiner Ausführungen
zum Tod ist daher nicht das Ende oder das Nichts, vielmehr
setzt er bei der konkreten Situation des körperlichen Schmer-
zes an, d. h. bei einer Situation, die durch eine grundlegende
»Passivität« gekennzeichnet ist (ZA 43 /57).
Schon hier handelt es sich um jene Passivität der Beziehung
zum Fremden, die Levinas in seinen späteren Schriften immer
wieder diesseits der Unterscheidung aktiv - passiv ansiedeln
wird; um die Passivität einer Existenz, die geboren oder ge-
schaffen ist, die bei Anderem beginnt und Anderem ausgesetzt
bleibt. In der Situation des Leidens - und insbesondere des
Schmerzes, »den man leichthin den physischen nennt« - zeigt
sich diese Passivität als Unmöglichkeit, sich vom Schmerz zu
befreien. »Es gibt im Leiden eine Abwesenheit jeder Zuflucht.
Sie ist der Sachverhalt, direkt dem Sein ausgesetzt zu sein. Sie
ist gebildet aus der Unmöglichkeit zu entfliehen und aus-
zuweichen. Die ganze Schärfe des Leidens liegt in der Un-
möglichkeit des Ausweichens« (ZA 42/55).
In der Analyse des Leidens stößt Levinas also erneut auf die
29
Einsamkeit der Hypostase: Der körperliche Schmerz ist der
unausgesetzte Versuch, dem Sein zu entkommen, und zu-
gleich die )}Unmöglichkeit zu entfliehen«. Doch dieselbe Pas-
sivität und Ausgesetztheit, die es dem Leidenden nicht er-
laubt, aus eigener Kraft zu entkommen, eröffnet auch die
Möglichkeit, die Einsamkeit zu sprengen. Denn im Leiden ist
das Selbst nicht nur dem Sein ausgesetzt; es erfährt auch das
)}Nahen des Todes«, dessen Fremdheit sich keiner noch so
tiefen Einsamkeit assimilieren lässt: »Dieses Nahen des To-
des zeigt an, daß wir in Beziehung sind mit etwas absolut
anderem (que nous sommes en relation avec quelque chose
qui est absolument autre), mit etwas, das die Anderheit (l'alte-
rite) nicht wie eine vorläufige Bestimmung trägt[ ... ], sondern
mit etwas, dessen Existenz als solche aus Anderheit gebildet
ist (quelque chose dont l'existence meme est faite d'alterite).
Meine Einsamkeit wird dergestalt durch den Tod nicht bestä-
tigt, sondern durch den Tod gebrochen (brisee par la mort)«
(ZA47/63).
Die Grunderfahrung, in der sich die Ausgesetztheit an das
Sein und die Einsamkeit der Hypostase erschloss, war die
Schlaflosigkeit; die Grunderfahrung, in der sich diese Einsam-
keit auf Fremdes öffnet, ist die »Nähe des Todes« im Schmerz.
Nur wer in seiner Einsamkeit in ein »Verhältnis zum Tod«
gelangt, ist offen für das ))Verhältnis zum Anderen«. Dieses
Andere lässt sich aber absolut nicht auf das Eigene reduzieren,
weil sich das Zukünftige nicht auf das Gegenwärtige redu-
zieren lässt. Die »authentische Zukunft« ist nicht der spätere
Zeitpunkt, dem ich in meinen Plänen und Wünschen vor-
greife; »die Zukunft ist das, was nicht ergriffen wird, was uns
überfällt und sich unserer bemächtigt. Die Zukunft, das ist
das andere« (ZA 48/64).
Nun scheint sich Levinas in seiner Betonung der absolu-
ten Unergreifbarkeit des Anderen jede Möglichkeit zu neh-
men, überhaupt noch von einem »Verhältnis« zum Ande-
ren zu sprechen. Selbst das Verhältnis zwischen Gegenwart
und Zukunft erscheint als ein Abgrund, den nichts zu über-
30
brücken vermag (ZA 51/68). Dieses Problem zeigt sich schon
in dem prekären »Zugleich«, das die Beziehung zwischen der
Einsamkeit der Hypostase und der Nähe des Todes stiftet. Von
beiden hieß es im Verlauf der Analysen, sie seien »noch nicht
die Zeit«: die Hypostase als Gegenwart ohne Beziehung zur
Zukunft (ZA 27 /32), der Tod als Zukunft ohne Beziehung
zur Gegenwart (ZA 51/68). Diese Beziehung muss allerdings
gedacht werden, wenn von so etwas wie einem »Vollzug« der
Zeit überhaupt die Rede sein soll. Wie kann sie aber gedacht
werden, ohne den Tod letztlich doch noch als eine Möglichkeit
zu begreifen, die das Selbst existierend übernimmt? »Wie
kann das Ereignis, das nicht ergriffen werden kann, mir über-
haupt noch widerfahren?« »Wie kann das Ich gleichwohl den
Tod übernehmen, ohne ihn doch als eine Möglichkeit zu
übernehmen?« (ZA 49/65 f.)
Levinas' Antwort auf diese Fragen konzentriert sich in dem
Titel eines zentralen Abschnitts seiner Vorlesung: »Anderes
und Anderer« - »Autre et autrui« (ZA 49/65). Dieser Titel mar-
kiert das entscheidende Problem eines Übergangs von der ano-
nymen Fremdheit des Todes (I'autre) zur Fremdheit des ande-
ren Menschen (autrui) .28 Levinas schreibt: »Das Verhältnis zur
Zukunft, die Anwesenheit der Zukunft in der Gegenwart,
scheint sich allerdings zu vollziehen in der Situation des Von-
Angesicht-zu-Angesicht mit dem Anderen (dans le face-a-face
avec autrui). Die Situation des Von-Angesicht-zu-Angesicht
wäre der eigentliche Vollzug der Zeit; das übergreifen der
Gegenwart auf die Zukunft ist nicht die Tat eines einsamen
Subjekts, sondern das intersubjektive Verhältnis. Die Bedin-
gung der Zeitlichkeit liegt im Verhältnis zwischen mensch-
lichen Wesen oder in der Geschichte« (ZA 51 /68 f.).
Zwischen den beiden Beziehungen, die »noch nicht die Zeit«
vollziehen - zwischen der Ausgesetztheit an das Sein und
dem Nahen des Todes -, situiert Levinas den »eigentlichen
Vollzug der Zeit« in der persönlichen Beziehung zum An-
deren, im »Von-Angesicht-zu-Angesicht«, das dem Ich er-
laubt, »die durch die Hypostase erworbene Freiheit zu be-
31
wahren« (ZA 50/67). Diese Möglichkeit muss gewahrt blei-
ben, denn ohne die anfängliche Freiheit des einsamen Ich
gäbe es auch keine Beziehung zum anderen Menschen, in der
dieser mich aus meiner Einsamkeit befreit (ZA 63/87).
Die Beziehung zum anderen Menschen ist also eine, in der die
Selbstständigkeit und Freiheit des Subjekts nicht schlechter-
dings vernichtet wird, sondern in der dieses die Beziehung
zum fremden »überlebt«. Den Prototyp einer solchen Bezie-
hung findet Levinas in der Liebe oder im Eros: »Da, wo alle
Möglichkeiten unmöglich sind, da, wo man nicht mehr kön-
nen kann, ist das Subjekt noch Subjekt durch den Eros. Die
Liebe ist nicht eine Möglichkeit, sie verdankt sich nicht der
Initiative, sie ist ohne Grund, sie überfällt uns und verwundet
uns und dennoch überlebt in ihr das Ich (et cependant Je je
survit en lui)« (ZA 59/81 f.).
Levinas' Überlegungen variieren hier eine Figur, die aus der
Philosophie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831)
bekannt ist: die Figur eines überlebbaren Todes in der Bezie-
hung zum Anderen. So hernt es in der Phänomenologie des
Geistes über die »Entäußerung« des Individuums in die Spra-
che, es vollziehe in ihr eine »Aufopferung« seiner Innerlich-
keit, in der es sich »so vollkommen als im Tode hingibt, aber in
dieser Entäußerung ebensosehr erhält« 29 . Dabei handelt es
sich um nichts anderes als Hegels berühmte Figur der Auf-
hebung, in der das Individuum seine Selbstständigkeit ver-
liert, das »Aufgehobenwerdern< aber gleichwohl »überlebt«. 30
Die Aufhebung beseitigt und bewahrt. Und wie dieser »gedop~
pelte Sinn« der Aufhebung 31 bei Hegel von einer »gedoppelten
Bedeutung« des Todes 32 abhängt, so führt die Logik des über-
leb baren Todes auch bei Levinas zu einer Verdopplung der
Begriffe: hier zu einer Verdopplung des »Geheimnisses«.
Das »Geheimnis« bezeichnet zunächst die Unerkennbar-
keit des Todes. Der Tod entzieht sich dem Zugriff des Ich
in eine Zukunft, die sich nicht in Gegenwart verwandeln
lässt. Was »niemals jetzt« ist, kann auch nicht »erscheinen«,
es ist als äußerstes Noch-nicht »widerständig gegen jedes
32
Licht« (ZA 47 /63). Dieses Geschehen des zeitlichen Entzugs
bestimmt Levinas zufolge aber auch die Beziehung zum an-
deren Menschen in seiner Fremdheit. Das zeigt sich besonders
deutlich in der Liebe, die ganz auf die Vereinigung der Gelieb-
ten ausgerichtet scheint und die den Anderen doch als An-
deren begehrt. Daher vollzieht sich die Liebe nicht in Zugriff
und Aneignung, sondern in der Liebkosung, einer Berührung,
die in der sinnlichen Gegenwart den Entzug des Anderen
erfahrbar macht:
»Die Liebkosung ist eine Seinsweise des Subjekts, in der das Subjekt
in der Berührung mit einem anderen über diese Berührung hinaus-
geht. Soweit die Berührung Empfindung ist, hat sie Teil an der Welt
des Lichtes. Aber das, was liebkost wird, wird, im eigentlichen Sinne,
nicht berührt. Es ist nicht das Samtweiche oder die angenehme
Wärme dieser in der Berührung gegebenen Hand, die von der Lieb-
kosung gesucht wird. Dieses Suchen in der Liebkosung stellt gerade
dadurch, daß die Liebkosung nicht weiß, was sie sucht, ihr Wesen dar.
Dieses >nicht wissen<, dieses grundlegende Nicht-hingeordnet-sein-
auf ist das Wesentliche an ihr. Sie ist wie ein Spiel mit etwas, das sich
entzieht, ein Spiel, das absolut ohne Entwurf und Plan ist, ein Spiel
nicht mit dem, was das Unsrige und was zu einem Wir werden kann,
sondern mit etwas anderem, etwas immer anderem, immer Unzu-
gänglichem, immer Zu-Kommenden (quelque chose d'autre, toujours
autre, toujours inaccessible, toujours a venir). Die Liebkosung ist die
Erwartung dieser reinen Zukunft, dieser Zukunft ohne Inhalt (La
caresse est I' attente de cet avenir pur, sans contenu)« (ZA 60/82).
33
die Hypostase mit dem Selbst-Stand des Subjekts ermöglicht,
ist la virilite: Männlichkeit oder Mannhaftigkeit (ZA 47 /62).
Die nicht assimilierbare Fremdheit des anderen Menschen
dagegen ist la feminite; eine Fremdheit, die nicht formal, son-
dern im Ausgang von einer konkreten Erfahrung der Alterität
gedacht ist (ZA 13/14). Dabei wird das konkrete Erlebnis der
Liebe ebenso auf seinen ontologischen Gehalt hin überschrit-
ten wie die Erfahrungen der Schlaflosigkeit und des Schmer-
zes. Die Beziehung zum il y a besteht nicht nur im Moment tat-
sächlicher Schlaflosigkeit, die Nähe des Todes nicht nur im
Moment des physischen Schmerzes und die Beziehung zum
Anderen nicht nur in einer realen Liebesbeziehung. Dennoch
ist es in keinem der genannten Fälle unerheblich, von welcher
Grunderfahrung die einzelnen Analysen ihren Ausgang neh-
men. Das gilt in besonderem Maße für die erotische Bezie-
hung, in der die entscheidende Konstellation aller weiteren
Schriften Levinas' vorgeprägt ist. 33 Levinas kann sie auf onto-
logischer Ebene nicht als eine Beziehung darstellen, in der die
Differenz von Männlichem und Weiblichem unbestimmt
bleibt, wenn er nicht die wesentliche Asymmetrie der Bezie-
hung zum Fremden auflösen will, die die Pointe seiner Über-
legungen darstellt. Wer seine Rede von der Mannhaftigkeit der
Hypostase und dem Geheimnis des Weiblichen aber als Aus-
sagen über die gesellschaftliche Rolle von Mann und Frau ver-
steht, der wird zu ähnlich absurden Schlussfolgerungen gelan-
gen wie Simone de Beauvoir (1908-1986), die behauptet,
Levinas spreche den Frauen das Bewusstsein ab. 34 Levinas
reagiert offenbar auf solche Missverständnisse, wenn er gegen
die Tendenz, »die Menschheit in zwei Gattungen (oder Ge-
schlechter) zu teilen«, die alte Einsicht hervorhebt, dass »die
Teilhabe am Männlichen oder Weiblichen das Eigentümliche
jedes menschlichen Wesens ausmacht« (EU 52 f./71).
Levinas bahnt in seinen Analysen der erotischen Beziehung
den Weg, den er in seinen großen Werken der sechziger und
siebziger Jahre fortsetzen wird. Zugleich entzieht er sich auf
einer elementaren Ebene der Logik des hegelschen Denkens,
34
indem er zeigt, dass die erotische Beziehung sich weder der
Unterscheidung zwischen Einzelnem und Allgemeinem fügt
noch als ein Widerspruch zu begreifen ist (ZA 56/77 f.). Ein
Denken, das seine Kraft aus der Logik des Widerspruchs zieht
und voranschreitet, indem es das Einzelne im Allgemeinen
aufhebt, findet in dieser Beziehung keinen Anhalt. Zudem ent-
zieht sich die immer ausstehende Zukünftigkeit des Fremden
jeder möglichen Idee eines »Ganzen«, das die einzelnen Seien-
den als seine »Momente« umfasst.
Auf einer anderen Ebene sieht sich Levinas allerdings mit einer
Schwierigkeit konfrontiert, die Hegel wohl vertraut war: mit
der Gefahr, die soziale Beziehung auf die geschlechtliche
Liebe zu reduzieren. 35 Der Versuch, eine Vorstellung der Ge-
meinschaft zu überwinden, in der sich die Einzelnen »um
etwas Gemeinsames herum« versammeln, auf das sie wie auf
einen »dritten Bezugspunkt« hin ausgerichtet sind, droht
seinerseits in der Zweisamkeit des »Ich-Du« stecken zu blei-
ben (ZA64/88f.).
Levinas wird auf diese Schwierigkeit reagieren, indem er die
Instanz eines Dritten einführt, der nicht als abstrakter Bezugs-
punkt und nicht als allgemeines Medium sozialer Beziehun-
gen gedacht werden kann, sondern nur als der Dritte, als
jemand, der in der Beziehung zum anderen Menschen mit
begegnet. Doch zunächst wird er die Analysen der Beziehung
zum Anderen neu aufnehmen und das sie tragende Begehren
von solchen Begriffen absetzen, die es zu stark an die Zwei-
samkeit der Liebenden und an die sexuelle Lust zurück-
binden. Dieser neue Begriff des Begehrens - das »metaphysi-
sche Begehren« - markiert den Übergang von der erotischen
zur ethischen Beziehung. 36
Mit den frühen Analysen der erotischen Beziehung ist der Weg
vom Sein zum Anderen ein erstes Mal durchschritten. Er
zeichnet eine Grundkonstellation des levinasschen Denkens,
die sich eingehender nur im Zusammenhang einer Reihe von
Problemen erläutern lässt, mit denen sich Levinas in immer
35
neuen Anläufen auseinander gesetzt hat: Begehren und
Fruchtbarkeit, Geschichte und Gewalt, Verantwortung und
Gerechtigkeit. Doch bevor diese Fragen näher erörtert werden
können, sind noch einige Bemerkungen zum Charakter des
»Weges« nötig, der uns bis an die Schwelle von Levinas' Ethik
geführt hat. Der Titel des vorliegenden Kapitels zitiert einen
Titel aus Levinas' Aufsatzsammlung Eigennamen: »Vom Sein
zum Anderen«. Dieser Titel bringt auf eine kurze Formel, was
Levinas andernorts als den »Weg« seines Denkens beschreibt:
den »Weg, der vom Sein zum Seienden führt und vom Seien-
den zum Anderen« (DL 407; En 110). Die Vorstellung eines
solchen Weges erleichtert eine Einführung in Levinas' Grund-
gedanken, die immer ein gewisses Nacheinander von Schrit-
ten verlangt. Entsprechend verlief die Darstellung des Kapitels
vom Sein über das Seiende zum Anderen. Dieses didaktische
Nacheinander ist unvermeidlich und Levinas selbst hat es oft
praktiziert. Es kann aber auch schwerwiegende Missverständ-
nisse hervorrufen, wenn das Verhältnis zwischen Sein, Seien-
dem und Anderem auch sachlich als ein Weg aufgefasst wird,
auf dem es Fort- und Rückschritte geben kann. Denn der
»neue Weg« aus der Gefangenschaft im Sein, den Levinas im
letzten Satz von »De l'evasion« ankündigt, ist keiner, den man
ein für alle Mal zurücklegen könnte, und die soziale Be-
ziehung zum Anderen ist keine, in der man sich endgültig
halten kann. Auch und gerade für die Beziehung zum anderen
Menschen, die im folgenden Kapitel als ethische Beziehung
behandelt werden wird, sind alle »Stationen« des bislang
zurückgelegten Weges konstitutiv. Wer den Weg vom Sein
zum Anderen auffasst, als zeichnete er eine Entwicklung von
der Ontologie zur Ethik vor oder als ginge es darum, die Ein-
samkeit des Seienden zu verlassen, um sich endgültig in der
Beziehung zum anderen Menschen einzurichten, der pädago-
gisiert und moralisiert Levinas' Philosophie auf eine Weise,
die dem Philosophen selbst ganz fern liegt. Er verfehlt aber
auch sein grundlegendes zeitphilosophisches Argument. We-
der die Zeitlichkeit der Hypostase noch die Zeitlichkeit des
36
Todes folgen einem chronologischen Muster, und der Grund-
gedanke einer nichtchronologisch oder dia-chronisch ver-
fassten Zeitlichkeit wird in den späteren Schriften ständig
an Bedeutung gewinnen. Es gibt also gar keine homogene
Ordnung des Nacheinander, in der der Weg vom Sein zum
Anderen durchschritten werden könnte.
Wie eng die Beziehung zwischen Sein und Anderem ist, wer-
den allerdings erst die Analysen der Subjektivität in Jenseits
des Seins in vollem Maße zeigen (s. Kapitel »Subjektivität und
Sprache«). Die erste Ausarbeitung von Levinas' Ethik in To-
talität und Unendlichkeit steht zunächst ganz im Zeichen der
absoluten Fremdheit des Anderen.
37
Ethik und Fremderfahrung
38
jede konsequente Theorie der Fremderfahrung aufwirft; denn
der Fremde als Fremder droht in der Analogiebildung verloren
zu gehen und auf das Eigene reduziert zu werden. Husserls
Überlegungen nehmen daher immer wieder eine Richtung,
die Levinas in seiner »Phänomenologie der Beziehung zum
Anderen« konsequent zu Ende gehen wird: die Richtung auf
ein Begegnen des Anderen von sich her.
39
Er markiert so den Grundgedanken, der in der Phänomeno-
logie selbst über die Vorstellung eines selbstgenügsamen Sub-
jekts, das auf die eine oder andere Weise Beziehungen zur
Außenwelt unterhält, hinaustreibt. Das intentionale Bewusst-
sein ist, wie es in§ 20 der Cartesianischen Meditationen heißt,
ein »Über-sich-hinaus-Meinen«; es sprengt die »klassische
Relation zwischen Subjekt und Objekt« (SpA 128f./129f.).
Darauf legt Levinas bereits in seiner frühesten Schrift zur
phänomenologischen Philosophie großen Wert. Der drei-
zehnte Abschnitt seines 1929 erschienenen Aufsatzes Ȇber
die >Ideen< von E. Husserl« trägt den Titel »Das Wesen des Be-
wusstseins: die Intentionalität«. Im vorangehenden Abschnitt
resümiert Levinas die bereits erwähnte Lehre von der phäno-
menologischen Reduktion, wonach alle Setzungen des na-
türlichen Bewusstseins eingeklammert oder ausgeschaltet
werden müssen, um »das setzende Bewusstsein selbst« zum
Gegenstand der Untersuchung machen zu können (IH SOL).
In dem genannten dreizehnten Abschnitt erläutert er dann
die intentionale Struktur des Bewusstseins im Ausgang von
Busserls berühmtem Diktum, jedes Bewusstsein sei Bewusst-
sein von etwas4 :
»Unter dem Titel des Bewusstseins fasst Husserl die Sphäre des >co-
gito< im cartesianischen Sinne des Wortes: ich denke, ich vernehme,
ich verstehe, ich verneine, ich will, ich will nicht, ich imaginiere, ich
fühle etc. Der Grundzug dieser gesamten Sphäre des Bewusstseins
[... ]besteht darin, >Bewusstsein von etwas< zu sein: jede Wahrneh-
mung ist Wahrnehmung des >Wahrgenommenen<, jedes Begehren ist
Begehren des >Begehrten< etc. Diese grundlegende Eigenschaft des
Bewusstseins nennt Husserl Intentionalität.
Aber die Intentionalität - und das will wohl verstanden sein - ist nicht
eine Beziehung zwischen zwei psychologischen Größen, deren eine
der Akt und die andere das Objekt wäre, noch eine Beziehung zwi-
schen dem Bewusstsein auf der einen Seite und dem realen Objekt auf
der anderen. Die große Originalität Husserls besteht in der Einsicht,
dass die >Beziehung zum Objekt< nichts ist, was sich zwischen das
40
Bewusstsein und das Objekt fügt, sondern dass die >Beziehung zum
Objekt< das Bewusstsein selbst ist. Das ursprüngliche Phänomen ist
die Beziehung, und nicht ein Subjekt und ein Objekt, die erst in Be-
ziehung treten müssten« (IH Slf.).
41
Diese »egologische« Formulierung der phänomenologischen
Philosophie, die durch den Rekurs auf den Begriff der Mo-
nade - wie ihn Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) entwi-
ckelt hat - einen starken Akzent auf die Selbstgenügsamkeit
des Subjekts legt, steht im Hintergrund, wenn Levinas in sei-
nen frühen Schriften von Bewusstsein spricht. Er unterschei-
det die Vollzüge des Bewusstseins vom Akt der Hypostase, aus
dem die Monade des Ich hervorgeht, betont aber, das Bewusst-
sein bedürfe dieser Monade, um nicht in der distanzlosen
Teilhabe am Sein aufzugehen. Der »Strom« des Seins ist von
sich aus kein »Erlebnisstrom«. 9 Er wird zu einem solchen
erst, wenn ein Seiendes diesen Strom zu seinem macht, indem
es die Herrschaft über das Sein erringt und sich eine >>private
Domäne« schafft, in die es sich aus dem end- und grenzen-
losen Wachen zurückziehen kann (ZA 24/27).
Vor diesem Hintergrund teilt Levinas Sartres Ansicht, die
phänomenologische Bewusstseinstheorie sei gegen die Ein-
wände eines »intelligenten Solipsisten« nicht hinreichend
geschützt. 10 Die Intentionalität richtet uns in einer Distanz zu
den Dingen ein, die verhindert, dass das einsame Ich unmit-
telbar zu sich zurückkehrt; sie verwandelt die Beziehung zum
Sein in eine Beziehung zur Welt und dehnt die Bindung des
Ich an sich zu einem »Intervall«, ohne sie doch ganz lösen zu
können (ZA 36/45 f.). Grundlage aller intentionalen Bezie-
hungen bleibt die »erste«, »einsame« Freiheit der Hypostase,
deren »Ausgang von sich« sich immer auch als »Rückkehr zu
sich« vollzieht (ZA 30/36); die Intentionalität lässt »den Solip-
sismus nicht verschwinden« (ZA 39/48).
Aus Levinas' Perspektive muss das auch für Sartres Radika-
lisierung der Bewusstseinsphilosophie gelten, die sich die
Überwindung des Solipsismus gerade vom Prinzip der Inten-
tionalität erhofft. Sartres Grundargument lautet, das Bewusst-
sein bedürfe der einheitsstif tenden Funktion eines Ich nicht,
weil seine Einheit in der Intentionalität selbst liege; durch die
Intentionalität »transzendiert es sich selbst, vereinigt es sich,
indem es sich selbst entgeht« 11 • Doch dieses Argument be-
42
deutete für Levinas, sich vorschnell bei einer Transzendenz
zu beruhigen, die nach dem Muster der Rückkehr zu sich ge-
dacht bleibt. Das Transzendieren der Intentionalität ist noch
nicht jenes »Transzendieren ohne Rückkehr zum Ausgangs-
punkt«, das die Beziehung zum anderen Menschen eröffnet
(ZA 39/49).
Transzendenz, die ihren Namen verdient, ist für Levinas nur
als Ex-zendenz denkbar, als Ausbruch aus der Identität mit
sich und Aussetzen der Setzung. Daher kritisiert er auch nicht
den Gedanken eines monadischen Egos, sondern würdigt
Husserls »Monadologie« als einzigen Weg, dem Monismus zu
entgehen (ZA 20/22). Die Einsamkeit und Geschlossenheit
des Ich muss in aller Schärfe gedacht werden, wenn die Be-
ziehung zum anderen Menschen sich nicht in einem großen
Ganzen verlieren soll, in dem immer schon alle vergemein-
schaftet sind. Levinas denkt die Beziehung zum Anderen
nicht aus der Erfahrung einer Gemeinschaft, die alle ihre
»Mitglieder« in einem universalen Medium - der Sprache, der
Vernunft, verwandtschaftlicher Beziehungen, staatlicher
Institutionen - vereint, er geht vielmehr von der Erfahrung
des Anderen in seiner »absoluten Fremdheit« aus. Dabei zielt
die Rede vom Absoluten (Unabhängigen, Losgelösten) auf
eine Fremdheit, die sich nicht von mir her erschließen lässt,
sondern die sich in der Beziehung zu mir aus dieser Be-
ziehung löst. In diesem Sinne »absolut« kann aber niemals
ein unvertrauter Gegenstand erscheinen, sondern nur ein
Wesen, das sich in der Begegnung mit mir als frei erweist;
»absolut fremd« in diesem starken Sinne ist mir immer »nur
der Mensch« (TU 100/46).
Levinas zufolge hat Husserl dieser Einsicht den Weg bereitet,
ohne sie in aller Konsequenz zu Ende zu denken. Einer seiner
Grundeinwände gegen Husserls Theorie der Fremderfahrung
lautet, sie ziele zwar auf eine Erfahrung des radikal Fremden,
bleibe in ihren Analysen aber dem Muster der Dingwahrneh-
mung verhaftet. Husserl beginne mit einer Analyse des Be-
wusstseins und seiner intentionalen Leistungen und versuche
43
dann in einem zweiten Schritt, die Beziehung zum Anderen
aus diesen Analysen abzuleiten. Dadurch verwechsle er je-
doch immer wieder »die Objektkonstitution mit der Bezie-
hung zum Anderen« (TU 90/39) .12
Es muss hier genügen, diese Kritik an einem zentralen
Abschnitt der Cartesianischen Meditationen plausibel zu ma-
chen. Der § 50 des Buches trägt den Titel: »Die mittelbare
Intentionalität der Fremderfahrung als >Appräsentation< (ana-
logische Apperzeption)«. Die Rede von einer »mittelbaren« In-
tentionalität entspringt dabei der Einsicht, dass der andere
Mensch mir zwar leibhaftig erscheint, dass er mir als ein ande-
res Ich aber nicht in »direkter Weise zugänglich« sein kann,
wenn er nicht »bloß Moment meines Eigenwesens« und letzt-
lich mit mir selbst »einerlei« sein soll. 13 Die Frage nach der
Beziehung zum Fremden stellt sich für Husserl als Frage nach
der »bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugäng-
lichen«14, und er beantwortet sie in dem genannten Para-
graphen mit der Auskunft, was nicht in direkter Weise zugäng-
lich sei, müsse es eben mittelbar sein. Leibhaftig - und in
diesem Sinne unmittelbar - gegenwärtig ist der Andere mir nur
als ein »Körper« unter anderen, nicht als ein anderes »Ich
selbst«. Die Weise, in der mir das Ich des Anderen in seinem
Leib begegnet, ist ein »Mit-da«, das sich niemals in ein »Selbst-
da« verwandeln lässt; es handelt sich von meiner Seite also
um »eine Art des Mitgegenwärtig-Machens, eine Art >Apprä-
sentation< «15 .
Diese elementare Konstellation erläutert Husserl am Beispiel
der Dingwahrnehmung, wobei er die Grenzen des Beispiels
unmissverständlich markiert. Auch ein wahrgenommenes
Ding hat mir abgewandte oder verdeckte Seiten, die ich mit-
wahrnehme und in meinem Umgang mit ihm berücksichtige.
Ich »weiß« wahrnehmend, ohne dass es dazu eines gesonder-
ten Denkaktes bedürfte, dass der Sessel vier Beine hat, obwohl
ich nur zwei von ihnen sehe, und dass das Muster der Tapete,
vor der er steht, sich hinter ihm fortsetzt. Auf eine ähnlich in-
direkte Weise »weiß« ich um das »Ich selbst« des anderen
44
Menschen, ohne dass sich seine leibliche Gegenwart aller-
dings umkehren oder wegrücken ließe, um dieses l>lch selbst«
direkt sichtbar zu machen. Bei einem Ding kann man die
Rückseite zur Vorderseite machen, bei einem anderen Ich ist
das »a priori ausgeschlossen« 16 •
Wie ist also die »intentionale Leistung« zu erklären, die es mir
erlaubt, den mir begegnenden Menschen nicht nur als Körper-
Ding wahrzunehmen, sondern als Leib eines anderen Ich?
Husserl zufolge ist die Antwort schon in der Frage nach dem
anderen Ich oder dem Alter Ego enthalten, sofern »ich selbst«
das »Ego« bin, von dem in dieser Formel die Rede ist. Das Kör-
per-Ding wird zum Leib eines anderen Ich durch eine analo-
gisierende »Übertragung von meinem Leib her«; das Unbe-
kannte erschließt sich vom Bekannten her. 17
Auch diese Form der Analogiebildung begreift Husserl nach
dem Muster der Dingwahrnehmung, wo ein erstmals begeg-
nender Gegenstand häufig einem bereits bekannten Typus
entspricht und so die »analogisierende Übertragung eines ur-
sprünglich gestifteten gegenständlichen Sinnes auf den neuen
Fall« gestattet. Und obwohl er auch hier betont, mein mir
durchgängig gegenwärtiger Leib sei etwas anderes als ein
früher einmal wahrgenommenes Ding und der Andere könne
in der analogisierenden Übertragung niemals »original ver-
wirklicht werden«, bleibt die Dingwahrnehmung doch deut-
lich das Muster, von dem sich seine Analysen der Appräsen-
tation leiten lassen. 18
Levinas zufolge bleibt das auch unvermeidlich, solange die
Beziehung zum anderen Menschen als »intentionale Leis-
tung« gedacht wird. 19 Auf Busserls Frage, wie das »intentio-
nale Hineinreichen« des Anderen in die »absolut abgeschlos-
sene Einheit« meines Egos zu denken sei2°, antwortet Levinas:
als ein Einbruch des Anderen, der über jedes Maß hinausgeht
und das Prinzip der Intentionalität sprengt. 21
45
Die Idee des Unendlichen in uns
46
bezieht sich Descartes dann auf die Unendlichkeit der Gottes-
idee. Gemäß dem Prinzip, dass eine Wirkung nie vollkom-
mener sein kann als ihre Ursache, folgert er, die Idee des voll-
kommensten Wesens könne nicht durch den Menschen selbst
hervorgebracht sein: Da ich selbst ein endliches und unvoll-
kommenes Wesen bin, bin ich genötigt anzunehmen, dass die
Idee Gottes »durch eine wirklich unendliche Substanz in mich
gelegt worden« ist. 26 Dieser Gedanke ist nicht nur im Rahmen
des Gottesbeweises von Bedeutung, er ist für Descartes auch
der einzige, der sicherstellt, dass »ich nicht allein in der Welt
bin<<. Denn nur wenn es eine Idee gibt, von der mit Gewissheit
zu sagen ist, dass »ich selbst nicht die Ursache dieser Idee sein
kann«, habe ich ein Argument, das »mich der Existenz irgend-
einer von mir verschiedenen Sache versichert« 27 . Die Idee des
in einem Höchstmaß von mir verschiedenen Wesens ermög-
licht also erst die je einzelnen Ideen von mir verschiedener
Dinge; und sie erlaubt mir darüber hinaus, mich als ein begeh-
rendes Wesen zu begreifen, das - im Unterschied zu Gott -
fortwährend nach Dingen strebt, die ihm mangeln. Descartes
fasst diese Einsicht in die Formel, dass »der Begriff (notion)
des Unendlichen in mir in gewisser Weise dem Begriff des
Endlichen vorausgeht« 28 . Der Gedanke der Unendlichkeit
Gottes erfasst also nicht nur etwas, was vollkommener ist als
ich selbst, sondern auch etwas, was alle meine Beziehungen
zu den Dingen und mir selbst erst ermöglicht. Der Gedanke
des Unendlichen erfasst so überhaupt nicht »etwas«, und er
denkt mehr, als er erfassen kann. Die Idee des Unendlichen >)in
mir« ist nur als Überschreitung jedes »in« zu denken, und
gerade darin liegt ihr Modellcharakter für Levinas' Analysen
der Beziehung zum anderen Menschen.
Einen ersten Umriss dieses Modells entwirft Levinas in dem
1957 erschienenen Aufsatz 1>Die Philosophie und die Idee
des Unendlichen« (SpA 185-208/165-178). Dieser Aufsatz
enthält zugleich einen der ersten konsequenten Versuche,
»Erfahrung« nicht mehr als Geschehen der Aneignung und
der Rückkehr zu sich zu denken, sondern als Bewegung »hin
47
zum Fremden« (SpA 185/165). Die Idee des Unendlichen er-
öffnet die Möglichkeit einer solchen Erfahrung, sofern sie
in uns und doch nicht unsere ist. Levinas gebraucht hier die-
selben Worte wie Descartes in der französischen Ausgabe der
Meditationen: »Sie ist in uns hineingelegt.« - »Elle a ete mise
en nous« (SpA 197 /172). Die Idee des Unendlichen kehrt also
die Ordnung um, in der das seiner selbst mächtige Subjekt
sein Wissen wahrnehmend an die Dinge heranträgt oder
ihnen verstehend einen Sinn unterlegt. Sie lässt sich nur emp-
fangen und eröffnet so »eine Erfahrung im einzig radikalen
Sinne des Wortes«: »eine Beziehung mit dem Außen, mit
dem Anderen, ohne daß dieses Außerhalb dem Selben in-
tegriert werden könnte« (ebd.).
Das Unendliche erweist sich als »das radikal, das absolut
Andere«, indem es sich jedem Versuch der Integration ent-
zieht. Levinas zufolge begegnet es aber nicht nur im Versuch,
Gott zu denken, sondern in jeder Erfahrung, die sich in der
Beziehung zum Anderen vollzieht: »Die Idee des Unendlichen
ist die soziale Beziehung« (SpA 197f./172). Entsprechend
betont Levinas, die besagte Erfahrung sei »nicht notwendig
religiös«, sie lasse sich auch strikt philosophisch denken
(SpA 196/171). Zugleich wahren seine Ausführungen den
Kontakt zu einer Einsicht, die er in seinen Versuchen zum
Judentum immer wieder formuliert hat: Die Beziehung zu
Gott vollzieht sich in der Beziehung zum anderen Menschen.
Im Judentum kann es Levinas zufolge keinen Konflikt zwi-
schen Laizismus und Religion, zwischen der Universalität des
Menschlichen und den Partikularismen des Glaubens geben,
weil die Religion selbst in ihrem Kern laizistisch ist: »Im Juden-
tum kann dieser Konflikt nicht aufkommen, weil sich die
Bezieh11ng z11 Gott hier niemals außerhalb der Beziehung mit
den Menschen begreifen lässt. Das Heilige verzehrt nicht, es
erhebt nicht den Gläubigen und überlässt sich nicht der
wundertätigen Liturgie. Es zeigt sich nur dort, wo der Mensch
den Anderen erkennt und empfängt« (IH 160).
Levinas spricht der Erfahrung des Unendlichen in der sozialen
48
Beziehung nun eine Reihe von Zügen zu, die sie offenbar von
Husserls Analysen der Fremderfahrung abrücken sollen. Wo
Husserl versucht, einen »mittelbaren« Zugang zu dem an-
deren »Ich selbst« zu finden, das in der Wahrnehmung nicht
direkt gegeben sein kann, insistiert Levinas auf der Unmittel-
barkeit der Beziehung zum Anderen; wo Husserl die symme-
trische Beziehung zwischen Ego und Alter Ego untersucht, be-
tont Levinas, die soziale Beziehung sei nur als asymmetrische
zu denken, in der der Andere »Gott näher [ist] als ich« (SpA
200/ 174). 29 Hinreichend begründen lassen sich solche Bestim-
mungen nur, wenn man berücksichtigt, dass Levinas die Be-
ziehung zum anderen Menschen als eine wesentlich sprach-
liche Beziehung denkt. Wenn er das Begegnen des Anderen als
»Epiphanie des Gesichts« begreift, so handelt es sich hier um
ein Gesicht, das weder beschreibbare Züge noch eine angeb-
bare Augenfarbe hat: »Die Epiphanie des Gesichts ist ganz
Sprache« (SpA 199/173).
Levinas versteht Sprache nicht vom Aussagen, sondern vom
Antworten her. Er folgt so der Einsicht, dass niemand jemals
auch nur ein erstes Wort über eine Sache äußerte, wenn es nie-
manden gäbe, an den er seine Rede adressieren kann; und
dass dieses Ansprechen des Anderen nicht einfach in meinem
Belieben steht, sondern immer auf den Anspruch antwortet,
der vom Anderen in seiner Fremdheit ausgeht. Vor der Frage,
worüber wir sprechen, stellt sich die Frage, worauf wir antwor-
ten.30 Daraus folgt aber, dass ich mich schon dort in einem
sprachlichen Verhältnis zum Anderen befinde, wo ich mich
ihm schweigend zuwende. Eine Antwort kann auch in bloßer
Aufmerksamkeit bestehen, in einem Blick oder einer Geste,
die sich an den Anderen richtet.'t
Nur in diesem Zusammenhang ist es zu verstehen, wenn Le-
vinas das »Von-Angesicht-zu-Angesicht« der sozialen Be-
ziehung als das Unmittelbare begreift und erläutert: >>Das
Unmittelbare ist der Anruf und, wenn man so sagen kann,
der Imperativ der Sprache (L'immediat est l'interpellation et,
si l'on peut dire, l'imperatif du langage)« (TU 65/23). Die Rede
49
von der Unmittelbarkeit behauptet hier nicht, es gebe in der
Ordnung der Wahrnehmung einen direkten Zugang zum an-
deren »Ich selbst«; sie markiert vielmehr das sprachliche Ge-
schehen, in dem mich der Anruf des Anderen - ungemildert
durch gesellschaftliche Institutionen oder Diskurskonventio-
nen und ohne dass ich ihm ausweichen könnte - trifft. In der
Unausweichlichkeit dieses Anrufs liegt aber die genannte
Asymmetrie begründet. Der unmittelbare Anruf ist Anspruch,
er ist nicht nur an mich adressiert, sondern er fordert mich
auch auf, ihm zu antworten: eine Forderung, die ich nicht
nicht erfüllen kann, da auch das Verweigern der Antwort eine
Antwort bedeutet. Dieser unausweichliche Anspruch des an-
deren Menschen eröffnet Levinas zufolge erst das Feld, auf
dem sich sinnvoll von »Ethik« sprechen lässt. Die »ethische
Epiphanie« des Gesichts besteht darin, »eine Antwort zu for-
dern (a solliciter une reponse)« (TU 328/201).
50
Das Begehren des Anderen, in dem sich dessen Andersheit be-
zeugt, rückt hier in größtmögliche Distanz zu allen Spielarten
des Strebens nach Selbsterhaltung. Es zielt weder auf den
Erhalt des eigenen Lebens noch auf den der Gattung; es ist
weder ein Hunger noch ein sexuelles Verlangen, das sich
befriedigen ließe. Weil die erotische Beziehung aber immer
auch durch ein solches Verlangen getragen ist, besteht ihre
Eigenart in der Gleichzeitigkeit von Bedürfnis und Begehren.
In Totalität und Unendlichkeit nennt Levinas das Begehren
ohne Befriedigung »metaphysisches Begehren« und bestimmt
es als eigentliche Eröffnung der »Dimension des Hohen«
(TU 38/5). Die Abgründigkeit eines radikal fremden, dessen
latente Beziehung zur anonymen Fremdheit des Todes in dem
Werk Die Zeit und der Andere nie ganz aufgelöst wurde,
weicht hier einer Emphase der »Höhe«, die den Bezug zum
Anderen nicht einfach als ein übersteigen der Möglichkeiten
des Ich fasst, sondern als einen Über-Aufstieg zur Höhe des
Anderen: als )>Trans-aszendenz« (TU 39 / 5).
Dabei widmet Levinas der Abgrenzung des Begehrens vom
Bedürfnis weitaus mehr Aufmerksamkeit als der Abgrenzung
von der Liebe. Denn der Gebrauch des Ausdrucks »desir« ist
auch im Frankreich der späten fünfziger und frühen sechziger
Jahre noch geprägt durch Alexandre Kojeves berühmte Aus-
führungen zur »Begierde« in Hegels Phänomenologie des
Geistes. 32 Aus Levinas' Sicht bleibt die von Kojeve (1902-1968)
mit »desir« übersetzte »Begierde« Hegels aber wesentlich jener
Ordnung verhaftet, die er selbst als Ordnung des l>besoirn< oder
des »Bedürfnisses« fasst. Vor allem die für Kojeves marxis-
tische Hegel-Lektüre so wichtige »gehemmte Begierde«, in der
das »formierende Tun« der »Arbeit« gründet 33 , folgt einer
Logik der Aneignung und Verwandlung der Dinge, die mit
dem Begehren des Unendlichen unvereinbar und geradezu
das Gegenteil einer Beziehung zum absolut Zukünftigen ist:
Die »Zeit der Arbeit« ist nicht Beziehung zu einer unergreif-
baren Zukunft, sondern »Beziehung zu einem anderen, das
seine Andersheit aufgibt« (TU 162/89).
51
In diesem Zusammenhang sei zunächst nur festgehalten, dass
die hegelsche Begierde eine gewisse Sublimierung des Be-
dürfnisses zum Begehren impliziert, während Levinas das
Begehren als Voraussetzung des Bedürfnisses denkt: »Im
Bedürfnis habe ich Zugriff auf das Reale, ich kann mich be-
friedigen, das Andere angleichen. Im Begehren dagegen
liegt kein Zugriff auf das Sein, keine Sattheit, sondern gren-
zenlose Zukunft vor mir. Der Grund dafür ist, dag die Zeit,
die vom Bedürfnis vorausgesetzt wird, aus dem Begehren
kommt. Das menschliche Bedürfnis beruht schon auf dem
Begehren« (TU 163/89 f.). Wenn es dennoch so etwas wie eine
Erfüllung des Begehrens gibt, so liegt sie nicht in der Be-
seitigung eines Mangels oder in der Verwirklichung eines
Zwecks, sondern in der Eröffnung der »unendlichen Zeit« der
Fruchtbarkeit (vgl. TU 395/247). Im Abschnitt über »Gene-
rativität und Vergebung« wird noch ausführlicher darüber
zu sprechen sein.
Das Grundgeschehen des Bedürfnisses, an dem auch seine
sublimierten und nicht mehr unmittelbar auf Selbsterhaltung
zielenden Spielarten noch teilhaben, ist das Verzehren von
Dingen. Das Grundgeschehen des Begehrens ist das Anspre-
chen des anderen Menschen, genauer: das Antworten auf sei-
nen Anspruch. Das metaphysische Begehren ist l>responsives
Begehren«. 34 Es richtet sich nicht auf Dinge, sondern auf das
Gesicht des Anderen; auf ein Gesicht, das, wie bereits be-
merkt, ganz Sprache ist (SpA 199 /173).
Die Unanschaulichkeit von Levinas' Philosophie erreicht in
diesem Begriff des Gesichts ihren Gipfelpunkt. Nirgendwo
sonst zeigt sich so deutlich, dass die Analyse konkreter Situ-
ationen der Existenz ihre Angemessenheit nicht dadurch
unter Beweis stellt, dass sie unser intuitives Vorverständnis
dieser Situationen bestätigt. Denn das Gesicht ist so unauf-
löslich mit der Vorstellung bestimmter Gesichtszüge verbun-
den, dass es als Gewaltakt erscheinen muss, es von dieser
Vorstellung zu lösen. Ebendas verlangt aber Levinas. Das
Gesicht in dem von ihm eingeführten emphatischen Sinne
52
»durchstößt die Form, von der es gleichwohl eingegrenzt
wird(<; es öffnet »in der sinnlichen Erscheinung« eine »neue
Dimension«. Das Gesicht - darauf laufen auch in Totalität
und Unendlichkeit alle Bestimmungen des Begriffs hinaus -
»Spricht« (TU 283/172).
Levinas' Darstellung dieses Gedankens in Totalität und
Unendlichkeit ist oft polarisierend und lässt immer wieder
vergessen, dass sich die Transzendenz des Gesichts »in der
sinnlichen Erscheinung« bekundet. Diese wesentliche Zwei-
deutigkeit des Gesichts, das in der Welt begegnet, ohne je in
ihr aufzugehen, hat Levinas in späteren Schriften stärker be-
tont; sie spielt aber auch in Totalität und Unendlichkeit bereits
eine tragende Rolle. 35 Vor allem im Zusammenhang mit dem
noch näher zu erläuternden Begriff des ethischen Widerstan-
des erscheint das Gesicht als ein »lebendiger Widerspruch«,
dessen Zweideutigkeit sich auf alles überträgt, was zu ihm in
Beziehung tritt. Doch gilt es hier zunächst die programma-
tischen Entgegensetzungen zu erläutern, in denen Levinas
den Begriff entwickelt.
Levinas' Transformation des Gesichts mit sichtbaren Zügen in
ein Gesicht, das »spricht«, ist geleitet von einer sehr scharfen
und stilisierten Unterscheidung zwischen Sehen und Sagen.
Dabei geht es nicht einfach um die Unterscheidung verschie-
dener Sinnesbereiche, sondern um die Grundverfassung des
philosophischen Denkens insgesamt. In Husserls Phänome-
nologie war Levinas schon früh ein Denken begegnet, das mit
einem emphatischen Bekenntnis zum Sehen einsetzt. Echte
Wissenschaft kann nach Husserl nur in »originär gebenden
Anschauungen« gründen; in einem Sehen, das nicht bloß das
»sinnliche, erfahrende Sehen« umfasst, sondern das >1Sehen
überhaupt als originär gebendes Bewufstsein welcher Art im-
merw"6. Heidegger führt diesen »merkwürdigen Vorrang des
>Sehens<« über Augustinus (354-430) und Aristoteles bis auf
Parmenides (515/510 bis nach 450 v. Chr.) zurück, um selbst
ausdrücklich an diese Tradition anzuschließen: »Um den
Zusammenhang mit ihr zu wahren, kann man Sicht und Sehen
53
so weit formalisieren, daß damit ein universaler Terminus
gewonnen wird, der jeden Zugang zu Seiendem und zu Sein
als Zugang überhaupt charakterisiert. « 37
Levinas zufolge ist die von Heidegger dargestellte Traditions-
linie die einer wesentlich ontologisch ansetzenden Philo-
sophie. Das Grundmuster dieser Philosophie lautet: Das Se-
hen gewahrt »Etwas« in einem Medium, das wesentlich kein
»Etwas« ist und nur an diesem mit zur Erscheinung kommen
kann; das Sehen gewahrt ein Ding im Licht und das Licht am
Ding (TU 271/164). Dieses »ontologische« Muster nivelliert
aber einen Unterschied, ohne den eine »ethische« Beziehung
zum anderen Menschen gar nicht denkbar ist: den Unter-
schied zwischen dem Anderen als Thema und dem Anderen,
der mich angeht. Dieser Unterschied entstammt, so Levinas,
wesentlich der Rede: »In der Rede tut sich unvermeidlich ein
Abstand auf zwischen dem Anderen als meinem Thema und
dem Anderen als Gesprächspartner« (TU 279/169). Zwar be-
steht auch ein Unterschied zwischen dem bloßen Sehen und
dem Ansehen des Anderen. Doch handelt es sich für Levinas
bei einem adressierten Anblicken ebenso um eine strukturell
sprachliche Beziehung, wie umgekehrt das Aussagen tradi-
tionell als ein optisches Geschehen begriffen wurde: als apo-
phansis oder »Sehenlassen« ihres Gehalts. 38 Was der Ordnung
des Sehens und was der Ordnung des Sagens angehört, ist für
Levinas' Philosophie des Sagens ebenso wenig von den real
betätigten Sinnesorganen abhängig wie für die Philosophien
des Sehens von Parmenides bis Heidegger. Levinas bezweifelt
also Heideggers philosophiegeschichtliche Erzählung vom
Vorrang des Sehens nicht; er bestätigt sie vielmehr, indem er
versucht, den Zusammenhang aufzulösen, den Heidegger
ausdrücklich zu wahren sucht. Dabei fasst Levinas den Begriff
des Sprechens so weit, dass er sich dem »universalen Termi-
nus« des Sehens entgegensetzen lässt. Der Begriff des Spre-
chens oder der Rede bezeichnet in diesem Zusammenhang
jede Form von adressiertem Verhalten, auch die stumme
Geste, mit der ich mich an den Anderen richte, oder den Blick,
54
mit dem ich auf seinen Blick antworte. In diesem sehr weiten
Sinne des Begriffs erlaubt nur die Rede eine Beziehung zu
dem, »was wesentlich transzendent bleibt« (TU 279 /169). Die
Beziehung zum Gesicht als Beziehung zum Unendlichen oder
als »Trans-aszendenz« zu denken bedeutet, sie als Rede zu
denken. Die Beziehung des Subjekts zum Anderen ist »Ant-
wort auf das Seiende, das im Gesicht zu ihm spricht und das
nur eine persönliche Antwort zuläßt: einen ethischen Akt«
(TU 318/195).
Wenn die Antwort auf den Anspruch des Gesichts als ethi-
scher Akt begriffen wird, so kennzeichnet das Attribut
»ethisch« hier einen Akt, der sich weder als regelgeleitet noch
als autonom begreifen lässt. Die Antwort, die ich gebe, muss
sich ihre Regel und ihr Gesetz vom Anderen vor-geben lassen,
wenn sie als Antwort vernehmbar sein soll. Stünde sie vor der
Begegnung mit dem Anderen bereits fest, handelte es sich um
eine bloße Aussage. Der Anspruch des Anderen offenbart hier
also seinen imperativischen Charakter, ohne dass er mir aus-
drücklich mitteilte, was ich »tun soll«. Der Aufforderungs-
charakter des Anspruchs liegt im Geschehen des Ansprechens
selbst und nicht in seinem semantischen Gehalt; und er ge-
winnt seine Verbindlichkeit nicht aus einer allgemein gültigen
Vernunftordnung, sondern aus der Vor-Gabe, die mir dieser
Andere in unserer Begegnung macht. »Ethisch« meint in die-
sem Zusammenhang nicht das Befolgen verbindlicher Nor-
men, sondern das Entstehen von Verbindlichkeit in der Be-
ziehung zum anderen Menschen; und der imperativische
Charakter des Anspruchs erweist sich als ein Grundmodus der
Rede, ohne den ein ausdrücklicher und kategorischer Impera-
tiv gar nicht formuliert werden könnte. Es kann Levinas mit-
hin nicht um eine neue Grundlegung der Ethik und schon gar
nicht um einen Katalog neuer Werte gehen. Es geht ihm viel-
mehr um eine Phänomenologie derjenigen konkreten Situa-
tionen, denen die in philosophischen Ethiken behandelten
Fragen entstammen: um eine »Phänomenologie der Bezie-
hung zum Anderen« (DL 410; En 112). Die programmatische
55
Rede von der Ethik als »erster Philosophie« (TU 442/281) ist in
diesem Zusammenhang eher geeignet, zu verdecken, worum
es Levinas in seiner Ethik eigentlich geht: um eine Erfor-
schung des »Ethos in statu nascendi«. 39
Letztlich zwingt Levinas' Denken dazu, jeden programma-
tischen Titel fallen zu lassen oder zumindest als vorläufig zu
betrachten: auch den einer »Phänomenologie der Beziehung
zum Anderen«. Denn ob er der bewusstseinstheoretisch an-
setzenden Phänomenologie Husserls eine Phänomenologie
des Fremden entgegensetzt oder ob er die Berechtigung des
Terminus »Phänomenologie<< insgesamt infrage stellt, hängt
ganz von dem Zusammenhang ab, in dem er spricht. So ant-
wortet er auf die Frage nach seiner ))Phänomenologie des
Gesichts« in Ethik und Unendliches:
56
fremdliche dieses Gesichts liegt nicht darin, dass es sich aus
der Beziehung zum menschlichen Körper löste, sondern
darin, dass »mehr oder weniger der ganze menschliche
Körper« Gesicht sein kann, sofern er mir als »Ausdruck des
Anderen« begegnet (EU 74/94). So bemerkt Levinas in einem
Interview zu einer Passage aus Wassilij Grossmans Leben und
Schicksal: »Grossman erzählt[ ... ], wie in Moskau in der >Ljub-
janka<, vor dem berühmten Schalter, wo man für die wegen
>politischer Delikte< verhafteten Verwandten oder Freunde
Briefe oder Pakete abgeben oder Nachrichten über sie ein-
ziehen konnte, die Menschen Schlange standen - wobei jeder
im Nacken des Menschen vor ihm die Gefühle der Hoffnungen
und des Elends ablesen konnte. [... ) Grossman sagt zwar
nicht, daß der Nacken ein Gesicht sei, aber daß sich an ihm die
ganze Schwäche, die ganze Sterblichkeit des Anderen ablesen
ließ. Er sagt es nicht so, aber das Gesicht kann Bedeutung aus-
drücken auf dem Gegenteil des Gesichtes« (ZU 276/244).
Ein Nacken ist nicht das, was man sich unter einem Gesicht
vorstellt, doch er ist ebenso leiblicher Ausdruck, ebenso Rede
in dem von Levinas gebrauchten weiten Sinn. Und gerade weil
er sich dem Hintermann schutzlos darbietet, eignet ihm jene
Verletzlichkeit und Ausgesetztheit, die Levinas in seinen Aus-
führungen über das Gesicht immer wieder betont: »Zunächst
gibt es da die eigentliche Geradheit des Gesichts, seine direkte,
schutzlose Ausgesetztheit. Die Haut des Gesichts ist die, die in
höchstem Maße nackt, in höchstem Maße entblößt bleibt. In
höchstem Maße nackt, obgleich von dezenter Nacktheit. Auch
in höchstem Maße entblößt: Im Gesicht gibt es eine wesent-
liche Armut. Der Beweis dafür liegt in dem Versuch, diese Ar-
mut zu maskieren, indem man Posen, eine bestimmte Haltung
annimmt. Das Gesicht ist exponiert, bedroht, als würde es uns
zu einem Akt der Gewalt einladen. Zugleich ist das Gesicht
das, was uns verbietet, zu töten« (EU 64 f./80).
Das Gesicht ist nicht einfach Ausdruck dessen, was transzen-
dent bleibt, sondern leiblicher, verletzlicher Ausdruck von
Transzendenz, und das heißt: zugleich dem Mord ausgesetzt
57
und Verbot zu töten. Diese Bestimmungen sind zentral für die
Analysen der ethischen Beziehung in Totalität und Unend-
lichkeit, sie überschreiten aber endgültig den Umkreis dessen,
was sich noch einseitig von der »Idee des Unendlichen« her
entwickeln lässt. Es gilt nun also, zumindest in einigen exem-
plarischen Ausschnitten, den Gesamtaufriss des Buches in
den Blick zu nehmen, der sich erst im Verhältnis zwischen
Totalität und Unendlichkeit erschließt.
58
Totalität der Geschichte und Unendlichkeit
der Zeit
»In der Kritik, die gerade in der Verbindung dieser beiden Wörter ent-
halten ist, gibt es einen Bezug zur Geschichte der Philosophie. Diese
Geschichte kann als Versuch einer universellen Synthese interpretiert
werden, als Reduzierung aller Erfahrung, alles Sinnvollen auf eine
Totalität, in der das Bewußtsein die Welt umfaßt, außerhalb seiner
selbst nichts übrig läßt und auf diese Weise absolutes Denken wird.
Das Bewußtsein von sich ist zugleich Bewußtsein des Ganzen. Gegen
59
diese Totalisierung hat es in der Geschichte der Philosophie wenig
Proteste gegeben. Was mich betrifft, so habe ich zum ersten Mal eine
radikale Kritik der Totalität in der Philosophie von Franz Rosenzweig,
die wesentlich eine Diskussion über Hegel ist, gefunden« (EU 57 /69 f.).
Der Bezug auf Hegel ist für Levinas weit weniger entscheidend
als für Rosenzweig. Der Kern der Totalitätskritik von Totalität
und Unendlichkeit liegt in der Auseinandersetzung mit einem
Grundgedanken der neuzeitlichen Philosophie, der seit Tho-
mas Hobbes (1588-1679) immer wieder variiert, aber selten
konsequent infrage gestellt worden ist: mit dem Gedanken
einer ursprünglichen, wilden, zerstörerischen Gewalttätig-
keit des Menschen, die sich nur durch eine zweite, rational
begrenzte, legitime Gewalt eindämmen lässt. Die Macht die-
ses Gedankens weist weit über Hobbes und andere Theo-
retiker des ursprünglichen Krieges hinaus. Denn auch wo die
60
Einsetzung staatlicher Gegengewalt nicht als erster Schritt
in der Herausbildung der menschlichen Kultur angesehen
wird oder wo dem Einzelnen ein mehr als rudimentäres
Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt eingeräumt wird,
bleibt die Logik einer unausweichlichen Gewaltsamkeit un-
angetastet .1
Es ist also schwer, diesem gedanklichen Mainstream der neu-
zeitlichen Philosophie zu entkommen; und es ist Levinas zu-
folge unmöglich, ihm in einem philosophischen Diskurs zu
entkommen, der von den Protagonisten dieser Strömung noch
als philosophisch anerkannt würde. Die Philosophien des
unausweichlichen Krieges haben das ganze Pathos der »har-
ten Wirklichkeit« auf ihrer Seite. Vom Frieden hingegen »kann
es nur eine Eschatologie geben« (TU 24 f./XII f.). Das dieser
Einsicht entsprechende Motiv einer »Eschatologie des mes-
sianischen Friedens« (TU 21 /X} bildet den Rahmen von Tota-
lität und Unendlichkeit. Levinas entwickelt es im Vorwort des
Buches und nimmt es gegen Ende des vierten Kapitels wieder
auf, um zu konstatieren, dass die Frage nach einer messia-
nischen »Vollendung der Zeit« den Rahmen seiner Untersu-
chung übersteigt (TU 416/261). Doch bleibt die Ausrichtung
auf ein Jenseits der Totalität, das als eschaton ein »Jenseits der
Geschichte« darstellt (TU 22/XI), als Grundmotiv in allen Ana-
lysen des Buches wirksam. 2
Levinas' Anschluss an Rosenzweig ist folglich ebenso an der
»Ekstase« der Zukunft orientiert wie seine Fortsetzung der
zeitphilosophischen Überlegungen Heideggers. Wie er in sei-
ner Schrift Die Zeit und der Andere Heideggers Analysen des
Seins zum Tode aufgenommen hat, so orientiert sich seine
Entgegensetzung von Totalität und Unendlichkeit an Rosen-
zweigs Ausführungen über das Verhältnis von Geschichte und
Erlösung. Dieses Verhältnis behandelt Rosenzweig vor allem
im dritten Teil des Sterns der Erlösung, in dem er Judentum
und Christentum als zwei komplementäre Existenzweisen
einführt, die nicht aufeinander zurückführbar und in ihrer
Bedeutung für das Erlösungsgeschehen nicht gegeneinander
61
austauschbar sind. Levinas betont diesen Punkt in einem
Vortragstext über Rosenzweig, der nur wenige Jahre nach dem
Erscheinen von Totalität und Unendlichkeit entstanden ist:
»Das Christentum, dem er sich nicht verschreibt, ist diesem
Juden zufolge zur Erlösung einer der Gewalt ausgelieferten
Welt ebenso notwendig wie das Judentum<< (AS 102/72).
Judentum und Christentum erscheinen in diesem Zusammen-
hang nicht als zwei >>Religionen« (dieses Wort kommt im Stern
der Erlösung nicht vor), sondern als zwei »Kategorien« oder
»Modalitäten der Existenz«, deren Differenz sich vor allem in
ihrer unterschiedlichen Stellung zur »Weltgeschichte« aus-
drückt.3 Im Anschluss an die jüdische Apologetik des 19. Jahr-
hunderts charakterisiert Rosenzweig die christliche Existenz-
weise durch die Verbreitung des Glaubens in der Welt und die
Verwirklichung der Erlösung in der Geschichte. 4 Die Ausrich-
tung des Christentums auf die Zukunft hat die Gestalt eines
Weges, der nur in seinem Anfangs- und Endpunkt die Ge-
schichte übersteigt. Demgegenüber bildet das Judentum eine
Seinsweise, in der »die Ewigkeit vorweggenommen« ist und
die im Kreislauf ihrer Feste eine rituelle Zeit begründet, an der
sich die Macht der Weltgeschichte »bricht«. 5
Die in diesen Ausführungen vorausgesetzte Interpretation der
jüdischen Feiertage kann hier nicht eingehend behandelt
werden. Es sei nur zitiert, was Levinas zusammenfassend über
die Komplementarität von Judentum und Christentum im
Stern der Erlösung schreibt:
62
den Nationen abgetrennt ist. lebt es gemeinsam mit allen. Es ist der
FriedenderWelt. [... ]
Während das Judentum )mit dem Ende beginnt<, nimmt das Christen-
tum im Gegenteil die Chronologie der Welt ernst. Es steht immer am
Anfang. Seine Ewigkeit ist nicht in sich geschlossen, sondern ausge-
dehnt in der Zeit. Nur sein Anfangs- und Zielpunkt stehen über der
Geschichte. Es ist das Strahlen, das vom inneren Glühen des Sterns
ausgeht. Die Ewigkeit des Christentums besteht in einem ewigen
Weg, der ewigen Wanderung, der ewigen Mission. Das Christentum
durchzieht die Welt, als unwiderstehliche Ausdehnung, unfähig an-
zuhalten, von der Inkarnation bis zur Parusie [Wiederkunft Christi
beim Jüngsten Gericht], verwandelt es die heidnische in christliche
Gesellschaft, unterwirft es Institutionen und Personen, begründet es
Kulturen und Staaten« (AS 114 f./82 f.).
63
Zu der Zeit, als er den Stern der Erlösung schrieb, lehnte Ro-
senzweig die Assimilation und den Zionismus gleichermaßen
ab. 7 Das Judentum bedeutete ihm das Andere der Nationen,
das nicht einfach in eine andere Nation verwandelt werden
kann, ohne dass seine Stellung jenseits der Weltgeschichte in-
frage gestellt würde. Für Levinas ist es aber unmöglich, das
Ideal einer solchen Distanz zur Geschichte aufrechtzuer-
halten. In dem bereits zitierten Vortragstext betrachtet er Ro-
senzweig nahezu uneingeschränkt als seinen Zeitgenossen
(AS 103 /7 3), fügt in einer Anmerkung jedoch hinzu: »Rosen-
zweig kennt nicht die Bedeutung eines jüdischen Staates für
viele Juden, die sich keine Illusionen über den Nationalismus
machen, die aber wollen, daß der jüdische Staat kein Staat wie
alle anderen sei, und die diesen Staat in der Zeit nach der natio-
nalsozialistischen Auslöschung entstehen sehen« (AS 121 /82).
Levinas nimmt Rosenzweigs Denken in einer historischen
Situation auf, die es doppelt unmöglich macht, die Totalitäts-
kritik des Sterns umstandslos zu erneuern. Denn einerseits
wiederholt Rosenzweigs idealtypische Charakterisierung des
Judentums auf der Ebene der Gemeinschaft, was die Einlei-
tung des Sterns auf der Ebene des }}Einzelmenschen« vorzeich-
nete: den Protest des in seiner Singularität »unverdaulichen«
Individuums gegen die Gewalt des Ganzen. 8 Dieses Vertrauen
in die Widerstandskraft des Einzelnen ist nach der Shoah
nicht wieder herzustellen. Zudem ist mit der Gründung des
Staates Israel auch der Rückzug ins Außergeschichtliche ab-
geschnitten, dessen Intention es gleichwohl zu wahren gilt. Im
Hinblick auf die zitierte Anmerkung heißt das: Man muss
darauf beharren, dass »der jüdische Staat kein Staat wie alle
anderen sei«, ohne sich Illusionen über die Tatsache zu
machen, dass er als Staat bereits ein Staat wie alle anderen
geworden ist. Levinas' Bekenntnis zum Zionismus ist daher
ein klares, aber kein begeistertes. Denn die spezifisch jüdische
Freiheit, wie er sie unter dem Titel »Der Sinn der Geschichte«
charakterisiert, besteht darin, »das Gesetz der Gerechtigkeit
niemals dem unerbittlichen Lauf der Dinge zu unterstellen
64
und diesen, wenn es sein muss, als widersinnig und verrückt
anzuklagen«. Diese Freiheit sieht Levinas allerdings durch die
Neigung gefährdet, »sich Hals über Kopf in die Geschichte zu
stürzen, in ihr nach Handlungsanweisungen zu suchen und
zugleich eine Seele zu verlieren, die stärker ist als die Gefahren
des Augenblicks<<; eine Neigung, die er allen Existenzweisen
des Judentums der vorausgegangenen 150 Jahre attestiert,
»die zionistische eingeschlossen« (DL 317 f.).
Es sind also nicht nur methodologische Probleme, die Levinas
veranlassen, Rosenzweigs Idee eines Friedens jenseits der
Geschichte sehr deutlich zu modifizieren. Doch treten diese
Probleme im Vorwort von Totalität und Unendlichkeit in den
Vordergrund. Die Frage, wie das »Mehr«, das die Totalität der
Geschichte übersteigt, sich »innerhalb der Totalität und der
Geschichte« zeigen kann (TU 22/XI), ist für Levinas hier
gleichbedeutend mit der Frage, wie sich die Eschatologie des
Friedens in die Sprache der Philosophie übersetzen lässt,
ohne die ))philosophische Evidenz« des Krieges bloß durch
die eschatologische Hoffnung auf Frieden zu »ergänzen«
(TU 21 /X). In der Beantwortung dieser Frage zeigt sich aber,
dass Levinas' Erneuerung von Rosenzweigs »Widerstand
gegen die Idee der Totalität« in der Durchführung der ein-
zelnen Analysen »alles der phänomenologischen Methode«
verdankt (TU 31/XVI). Denn wenn Levinas darauf insistiert,
das »Mehr, das immer außerhalb der Totalität liegt«, oder das
>»Jenseits< der Totalität<< müsse sich gleichwohl »innerhalb
der Totalität und der Geschichte, irrnt>rhalb der Erfahrung<<
aufweisen lassen (TU 22/XI), so klingt darin deutlich der
Duktus Husserls wider, der in seinen Analysen der Fremd-
erfahrung auf den »Überschuss« des nicht Wahrnehmbaren
irz der Wahrnehmung zielt und betont, die Wahrnehmung
enthalte immer »mehr« als das, was sie »jeweils >wirklich<
präsent macht« 9 •
Die Möglichkeit des Friedens muss demnach im Kreislauf
von Gewalt und Gegengewalt aufweisbar sein, der jedes
unmittelbare Reden von Moral zur »Naivität« verurteilt und
65
die Moral letztlich insgesamt »lächerlich« macht (TU 19 /IX).
Dabei begreift Levinas den Krieg zunächst nicht vorrangig
als ein Geschehen, das den Einzelnen in seiner Leiblichkeit
verletzt und tötet, sondern als ein Geschehen, das durch seine
»Totalität« gekennzeichnet ist. Die Gewalt des Krieges be-
steht in dieser Hinsicht nicht so sehr in der Zerstörung, »sie
besteht vielmehr darin, die Kontinuität der Personen zu
unterbrechen, ihnen Rollen zuzuweisen, in denen sie sich
nicht wiederfinden, sie zu Verrätern nicht nur an ihren
Pflichten, sondern an ihrer eigenen Substanz zu machen«
(TU 20/IX). Diese Gewalt richtet sich nicht nur gegen den, der
im Kampf »getroffen« wird, sie richtet sich gegen alle am
Kriegsgeschehen Beteiligten; es ist die Gewalt einer Ordnung
ohne Außen.
Aus diesen Überlegungen darf nun nicht geschlossen werden,
Levinas sei blind für die leibliche Dimension von Gewalt und
er veranschlage den Verlust der Freiheit in der Totalität höher
als die Verletzungen der Opfer des Krieges. In späteren Pas-
sagen des Buches wird er gerade diese Dimension in den
Vordergrund rücken und in Jenseits des Seins wird er das Für-
den-anderen-Sein des Menschen ganz von seiner »lebendigen
Leiblichkeit« her verstehen: als sich darbietende Haut oder
»Verwundbarkeit<< (JS 123 f./65 f.). Im Vorwort von Totalität
und Unendlichkeit geht es aber zunächst so wenig um leib-
liche Verletzungen, wie es in der Kritik des Sehens um das
blickende Auge ging; es geht, auch hier, um die vom Gedan-
ken der Totalität beherrschte abendländische Philosophie
(TU 20/X). Diese Philosophie wird die Eschatologie des Frie-
dens immer in die Sphäre bloßer Meinungen und Illusionen
verbannen, wenn sich nicht zeigen lässt, dass sie selbst auf
eine Situation zurückverweist, »die nicht mehr in der Sprache
der >Totalität< gesagt werden kann«. Der Versuch, ebendas zu
zeigen, weist der »Idee des Unendlichen« aber erst ihren
eigentlichen Ort in Levinas' Denken zu: »Ohne die Philosophie
durch die Eschatologie zu ersetzen, ohne philosophisch die
eschatologischen >Wahrheiten< zu >beweisen< - kann man von
66
der Erfahrung der Totalität auf eine Situation zurückgehen, in
der die Totalität zerbricht, während diese Situation die Tota-
lität selbst bedingt. Eine solche Situation ist das Erstrahlen der
Exteriorität oder der Transzendenz im Gesicht des Anderen.
Der Begriff dieser Transzendenz, wenn er genau auseinander-
gelegt wird, findet seinen Ausdruck in dem Terminus des
Unendlichen« (TU 25/XIII).
Die anfängliche Situation, die nicht mehr in der Sprache der
Totalität gesagt werden kann, weil sie die Totalität zugleich be-
dingt und bricht, ist die Beziehung zum »Gesicht« oder zum
»Unendlichen«. Das bedeutet aber: Sie ist die in jedem Augen-
blick bereits vorausgesetzte Situation des Sprechens selbst.
Auch die philosophische Sprache der Totalität spricht, ohne
dass sie dieses Geschehen des Sprechens zugleich zu ihrem
Thema machen könnte. Betrachtet man Sprache aber nicht im
Hinblick auf ihren Gehalt, sondern im Hinblick auf ihren Voll-
zug, so bedeutet Sprechen immer ein Ansprechen. Indem
Sprache über etwas spricht, richtet sie sich immer schon an je-
manden, zu dem sie spricht. Die Sprache der Totalität ist somit
als Sprache ebenfalls auf Anderes bezogen, auf ein »Mehn<,
das jede denkbare Totalität überschreitet.
Zudem ist sie gekennzeichnet durch eine ursprüngliche Ge-
waltlosigkeit, wenn Gewalt sich so definieren lässt, wie Levi-
nas es in einem seiner Versuche über das Judentum tut: »Ge-
waltsam ist jede Handlung, bei der man handelt, als wäre man
allein« (DL 18; SF 15). Denn »Sprache« bedeutet in Levinas'
Gebrauch des Wortes nichts anderes als das Aufbrechen des
Alleinseins. Die Sprache »stellt eine Beziehung her zu dem,
was wesentlich transzendent bleibt«; und eben darin erweist
sie sich als »das eigentliche Vermögen, die Kontinuität des
Seins oder der Geschichte zu durchbrechen« (TU 278 f./169).
Nicht von begütigenden Worten oder Friedensverhandlungen
ist also die Rede, wenn man mit Levinas konzediert, dass die
Möglichkeit des Friedens im Sprechen liegt, sondern von der
Beziehung zum Anderen, die in jedem Gewaltakt und in je-
dem Angriff vorausgesetzt bleibt. Ein Gewaltakt ist etwas
67
anderes als das Gebrauchen oder das Zerbrechen eines Dings,
er richtet sich wesentlich auf ein Seiendes, das »transzendent
bleibt«. Die best~indige Rivalität mit dem Anderen und die
latente Allergie gegen das Fremde, die unsere soziale Wirk-
lichkeit bestimmen und in ihr die permanente Möglichkeit des
Krieges offen halten, bedürfen des Anderen und Fremden, den
sie zurückstoßen. Nur in diesem Sinne kann Levinas schrei-
ben: »Der Krieg setzt den Frieden voraus, die vorgängige und
nichtallergische Gegenwart des Anderen« (TU 286/ 174).
Dass es in diesen Überlegungen nicht um die Utopie eines
ewigen Friedens gehen kann, die auch für Levinas eine Utopie
der Friedhofsruhe bedeutete, ist deutlich. Es geht nicht da-
rum, den Zustand eines wie auch immer institutionalisier-
ten Friedens herzustellen, sondern gegenüber der »ständigen
Möglichkeit des Krieges« die ständige Möglichkeit des Frie-
dens offen zu halten und als die ursprünglichere aufzuweisen.
Denn nur wenn es ein Diesseits des Krieges gibt, lässt sich der
Zirkel von Gewalt und Gegengewalt durchbrechen. In Jenseits
des Seins schreibt Levinas: »Das eigentliche Problem besteht
für uns Abendländer nicht mehr so sehr darin, die Gewalt
abzulehnen, als vielmehr darin, uns zu fragen, wie wir die
Gewalt so bekämpfen sollen, daß wir - ohne in der Wider-
standsverweigerung gegenüber dem Bösen zu verkümmern -
die Institutionalisierung der Gewalt infolge ebendieses Kamp-
fes verhindern können« (JS 378/223). Darin liegt bereits eine
gewisse Verschiebung der Tonlage gegenüber Totalität und
Unendlichkeit. Die Grundfrage ist aber in beiden Büchern
dieselbe: Wie lässt sich ein )>Widerstand« denken, der die
Gewalt, der er sich widersetzt, nicht fortsetzt und potenziert?
Wie lässt sich ein Widerstand denken, der nicht Gegengewalt
ist? In Totalität und Unendlichkeit versucht Levinas eine
Antwort unter dem Titel des »ethischen Widerstands«.
68
Ethischer Widerstand (Das Gesicht, II)
69
liches in der Welt begegnet und radikal transzendent bleibt,
auf »ein Seiendes, das gleichzeitig faßbar ist und sich jedem
Zugriff entzieht« (TU 324/198).
Diese Zweideutigkeit des Gesichts, dessen Transzendenz sich
»in der sinnlichen Erscheinung« bekundet, wird in der Kon-
frontation mit dem Gewalttäter in ihre Extreme hervorgetrie-
ben: Sie ist die Zweideutigkeit zwischen einem Leib in der
Welt, dessen Widerstand gegen den Mord )>gleichsam null« ist,
und dem »unendlichen Widerstand« der Transzendenz, der
sich als unüberwindbar erweist (TU 285/173). Maurice Blan-
chot (1907-2003) bringt diese Zweideutigkeit auf die Formel:
»Der Mensch ist das Unzerstörbare, das zerstört werden
kann.« 11 Levinas selbst erläutert sie wie folgt:
»Der Andere, der mir souverän Nein sagen kann, setzt sich der Spitze
des Schwertes oder der Revolverkugel aus, und die ganze unerschüt-
terliche Härte seines >Für-sich< mit diesem kompromißlosen Nein, das
er entgegensetzt, erlischt, wenn das Schwert oder die Kugel die Herz-
kammern oder den Herzhof getroffen hat. Im Zusammenhang der
Welt ist er quasi nichts. Aber er kann sich mir kämpfend entgegen-
stellen; d. h., er kann der Kraft, die ihn trifft, nicht eine Widerstands-
kraft entgegensetzen, sondern die Urworhersehbarkeit seiner Reak-
tion. Auf diese Weise setzt er mir nicht eine größere Kraft entgegen -
eine Energie, die bewertbar ist und sich infolgedessen darstellt, als
sei sie Teil eines Ganzen -, sondern die eigentliche Transzendenz
seines Seins im Verhältnis zu diesem Ganzen; nicht irgendeinen
Superlativ an Macht, sondern gerade die Unendlichkeit seiner Trans-
zendenz. Diese Unendlichkeit, die stärker ist als der Mord, widersteht
uns schon in seinem Gesicht, ist sein Gesicht, ist der ursprüngliche
Ausdruck, ist das erste Wort: >Du wirst keinen Mord begehen.< Das
Unendliche paralysiert das Vermögen durch seinen unendlichen
Widerstand gegen den Mord; der Widerstand, hart und unüberwind-
bar, leuchtet im Gesicht des Anderen, in der vollständigen Blöße
seiner Augen ohne Verteidigung, in der Blöße der absoluten Offen-
heit des Transzendenten. Hier liegt nicht eine Beziehung mit einem
sehr großen Widerstand vor, sondern mit etwas absolut Anderem:
70
der Widerstand dessen, was keinen Widerstand leistet - der ethische
Widerstand« (TU 285f./173).
Levinas zufolge kann der Mord nur auf den Menschen als
Menschen zielen. Ich kann niemand anderes töten wollen als
den Anderen in seiner Unabhängigkeit, doch diese Unab-
hängigkeit besteht gerade darin, sich der Ordnung physischer
Gewaltakte zu entziehen. In der Wehrlosigkeit gegen den
Mord bekundet sich das, was jeglichem Mordversuch wider-
steht; in der physischen Verletzlichkeit bekundet sich die
»ethische Unverletzlichkeit« (TU 279/169). Der Ausdruck des
Anderen im Gesicht sagt immer auch: »Du wirst keinen Mord
begehen.« 12
In der genannten Unvorhersehbarkeit liegt aber die zeitliche
Transzendenz des Anderen, die sich auch im Krieg bekunden
kann, sofern er auf das Grundgeschehen des Kampfes zurück-
geführt wird. Paradigma der Beziehung zum Anderen bleibt
die in der Schrift Die Zeit und der Andere herausgestellte Zu-
künftigkeit des Todes, oder wie es nun heißt, der >>unvorher-
sehbare Charakter« des Todes (TU 341/210). Im Kampf stoße
ich nicht nur auf einen physischen Widerstand, sondern auch
auf den »moralischen Widerstand des Gesichts gegen die Ge-
walt des Mordes« (TU 326 f ./200 f.). Der Andere weicht nicht
nur anderswohin aus, sondern entzieht sich mir als transzen-
denter absolut. Dabei folgt Levinas einer elementaren Ein-
sicht, die sich auch in den Jahrzehnten nach dem Erscheinen
von Totalität und Unendlichkeit immer wieder - und mit stei-
gendem technischem Aufwand immer deutlicher - bestätigt
hat: Die Totalität des organisierten Kriegsgeschehens lässt
sich nicht vom elementaren Akt des Mordes ablösen, der im-
mer mit der Unvorhersehbarkeit des Anderen konfrontiert
bleibt: »Keinerlei Logistik garantiert den Sieg« (TU 323/ 198).
Levinas' Rede vom Schwert und von der Revolverkugel mögen
archaisch erscheinen, sie tragen aber nur dem Umstand Rech-
nung, dass jeder Krieg virtuell »Handgemenge« bleibt, in dem
der eine dem anderen nach dem Leben trachtet. Im »Hand-
71
gemenge« gibt es aber keine Objekte, die durch Eingriffe ent-
fernt werden, sondern nur den Gegner, der auch in hoffnungs-
loser Unterlegenheit »unvorhersehbar, d. h. transzendent«
bleibt (TU 327/200f.).
Angesichts der leiblichen Verletzlichkeit des Anderen macht
sich die Betonung seiner ethischen Unverletzlichkeit des
Zynismus verdächtig oder setzt sich zumindest dem Einwand
aus, demjenigen, der tatsächlich von der »Revolverkugel« be-
droht ist, nur einen schwachen Trost zu bieten. Die zitierte
Formel Blanchots verweist auf dieses Problem, indem sie die
ethische Unverletzlichkeit unmittelbar mit der Verletzlichkeit
des Körpers konfrontiert: »Der Mensch ist das Unzerstörbare,
das zerstört werden kann.« Doch steht diese Formel im Zu-
sammenhang einer Lektüre von Robert Antelmes Das Men-
schengeschlecht, die zeigt, dass auch der Begriff des ethischen
Widerstands in der Erfahrung verankert bleibt. Antelme be-
richtet im Menschengeschlecht von seiner Gefangenschaft im
deutschen Arbeitslager Gandersheim während des Zweiten
Weltkriegs. Er gibt Zeugnis von einer leiblichen Ausgeliefert-
heit, die jeden Einzelnen auf die elementaren Bedürfnisse
nach Nahrung und Kleidung zurückwirft, die ihn letztlich auf
sich zurückwirft und zu einer >>Quasi-Einsamkeit« verdammt,
weil jede Solidarität ein Mindestmaß an Kraft und Gesundheit
voraussetzt. 13 Wenn der Widerstand dennoch ungebrochen
bleibt, so zeigt er sich im Essen, im Kampf ums nackte über-
leben, in der Weigerung zu sterben, weil »jeder Tote ein Sieg
der SS ist« 14 • Dabei insistiert Antelme schon im Vorwort da-
rauf, dass der eigentliche Angriff der SS, so wie er ihn »un-
mittelbar und ununterbrochen« empfunden hat, nicht auf den
Körper der Gefangenen, sondern auf ihr Menschsein gerichtet
war, auf ihre ))Zugehörigkeit zur Gattung« 15 • Das macht die
besondere Niedertracht, aber auch die ganze Vergeblichkeit
dieses Angriffs aus. Denn indem er nicht den bloßen Körper,
sondern den Menschen als Menschen zu treffen sucht, richtet
er sich auf das, was ihm wesentlich unerreichbar bleibt. Die
Gewissheit dieser Unerreichbarkeit ist Kern dessen, was An-
72
telme in seinem Buch als »Widerstand« bezeichnet; und die-
sen Zug von Antelmes Bericht hebt Blanchot entschieden
hervor. Er versucht zu zeigen, dass der »auf das Irreduzible
reduzierte Mensch« auf seine Transzendenz reduziert ist, und
das heißt auf das, was man mit Levinas seine ethische Un-
zerstörbarkeit nennen kann. Was die unauflösliche Zuge-
hörigkeit zur Gattung Mensch in diesem Zusammenhang aus-
zeichnet, ist nicht ein bestimmtes Können, ein bestimmtes
Vermögen, das ihn von anderen Wesen unterscheidet, son-
dern eine Transzendenz, die jedem Können und Vermögen
eine absolute Grenze setzt. 1c' Für Antelme war dieser Gedanke
eines unzerstörbaren Menschseins nicht bloß ein schwacher
Trost, sondern tatsächlich der Antrieb zum überleben, die Be-
dingung des Widerstands. Er schreibt, die SS-Leute seien den
Gefangenen gegenüber »ohnmächtig«, weil ihre Macht bloß
die »Macht des Mordes«, bloß die »Macht des Henkers« ist, für
den gilt: »Er kann einen Menschen töten, aber er kann ihn
nicht in etwas anderes verwandeln.« 17 Nichts anderes besagt
Levinas' Begriff des ethischen Widerstands.
Im Rahmen der Totalitätskritik des ersten Hauptwerkes
kommt diesem Begriff eine zentrale Bedeutung zu, weil er es
erlaubt, einen Widerstand zu denken, der nicht gewalttätig ist
und die Möglichkeit offen hält, den endlosen Kreislauf von
Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen. Was den philoso-
phischen Aufweis dieser Möglichkeit angeht, so sei hier aber
zumindest ein Text genannt, der Levinas' Argumentation auf
einer sehr grundsätzlichen Ebene infrage stellt: der 1964
erschienene Essay »Gewalt und Metaphysik« von Jacques
Derrida (1930-2004). is Derrida zielt darin vor allem auf das
Problem des Sprechens, das als ein wesentlich gewaltloses
Geschehen verstanden werden muss, wenn die Beziehung
zum Anderen als gewaltlose Beziehung, oder, wie Levinas es
ausdrückt, als »nichtallergische Gegenwart des Anderen«
denkbar sein soll. Er wendet ein, dass Sprache auch dann,
wenn sie primär als Antwort auf den Anspruch des Anderen
gedacht wird, artikuliert bleiben muss. Das Geschehen der
73
Artikulation ist aber nichts anderes als jenes Geschehen des
Unterscheidens, das seit Heraklit als p6lemos gedacht wird: als
Geschehen des Zwistes oder des Streits. In diesem Sinne
spricht Derrida von einer »ursprünglichen Polemik«, der nicht
zu entrinnen ist, wenn Sprache noch als solche erkennbar
bleiben soll; als artikulierte ist Sprache ursprünglich gewalt-
sam. 19 Derrida versucht also als unvermeidlich zu erweisen,
was Levinas zu vermeiden sucht: »Weil der Diskurs von An-
fang an gewaltsam ist, kann er folglich nur sich Gewalt antun,
sich verneinen, um sich zu behaupten, dem Krieg, der ihn
instituiert, den Krieg zu erklären.« Die Möglichkeit des Frie-
dens offen zu halten bedeutet in diesem Zusammenhang, »die
geringstmögliche Gewalt einzusetzen«, um »die schlimmste
Gewalt im Zaume zu halten« 20 .
Derrida formuliert so in idealtypischer Weise das Prinzip einer
unausweichlichen >>Gewalt gegen Gewalt«, das Levinas im
ethischen Widerstand durchbrochen sieht. 21 Dabei teilt er
aber Levinas' Einsicht, dass der Krieg die - sprachliche - Bezie-
hung zum Anderen voraussetzt, weil Gewalt es nur »auf ein
Gesicht absehen« kann. 22 Die Konfrontation spitzt sich also zu
auf die Frage, ob Sprache auch oder wesentlich gewaltsam ist;
ob es ein Sagen diesseits der Artikulation gibt, das die Mög-
lichkeit artikulierten Sprechens allererst eröffnet. Dieses
Sagen findet Levinas in der stummen Adressiertheit des Ge-
sichts, in einem bloßen Sich-an-den-Anderen-Wenden, das er
als »Ausdruck« oder als »Bedeuten« des Gesichts begreift. Das
Bedeuten des Gesichts ist nicht artikuliert in dem Sinne, dass
es aus der Entgegensetzung oder der Opposition von Zeichen
hervorginge, die innerhalb eines bestimmten Kontexts eine
bestimmte Bedeutung generieren. Das Bedeuten des Gesichts
ist vielmehr ein Sich-Loslösen aus der Totalität, das kein Ver-
hältnis des »gegen«, sondern ein Verhältnis des »ohne« stiftet:
ein »Bedeuten ohne Kontext« (TU 23/XII).
74
Generativität und Vergebung
75
ankündigte: Erst in der Fruchtbarkeit wird die Kluft zwischen
Gegenwart und Zukunft überbrückt, ohne die Transzendenz
des Anderen zu zerstören; erst in der Fruchtbarkeit »vollzieht
sich die Zeit«. Im letzten Abschnitt der frühen Vorlesung fin-
den sich bereits alle entscheidenden Aspekte dieses Gedan-
kens, den die Schlusspassagen von Totalität und Unendlich-
keit aufnehmen und vertiefen:
76
schwerwiegendste Bestimmung bereits im ersten Satz, der die
Beziehung zum Kind als eine Beziehung zum Fremden be-
greift, das den Umkreis meines Könnens und Besitzens über-
steigt, ohne aber meine Freiheit als Ich zu zerstören. Der Satz
beantwortet die Frage, wie die Beziehung zu einer Fremdheit
zu denken sei, die mich weder als ein anonymes »Ereignis«
überfällt noch auf ein »Analogon« meiner selbst reduzierbar
ist. Zudem vermeidet er das - vor allem in Totalität und Unend-
lichkeit häufig naheliegende - Missverständnis, die Beziehung
zum Fremden sei als Beziehung eines »fertigen« und auch
außerhalb dieser Beziehung bestehenden Ich zu einem an-
deren Ich zu begreifen. Das Kind ist nicht »mein« Kind, es ist
ich. »Mein Kind«, schreibt Levinas in Totalität und Unend-
lichkeit, »ist ein fremdes, das aber nicht einfach meines ist,
weil es ich ist. Es ist ich-mir-fremd (C'est moi etranger a soi)«
(TU 391/245).
Die Logik der Generativität ist keine Logik der Beziehung Ich-
Anderer, sondern eine Logik der ))alteration«, oder wie es in
der deutschen Übersetzung treffend heißt, der »Veranderung«
des Ich (TU 394/246). Diese Veranderung bedeutet in tempo-
raler Interpretation die >lUnendlichung (l'infinition)« der Zeit
selbst (TU 410/257}. Die Zeitlichkeit der Fruchtbarkeit voll-
zieht sich als »unendliche Zeit, die durch die Diskontinuität
der Generationen hindurchgeht« (TU 393/246); sie vollzieht
sich als »Drama«, in dem »der folgende Akt jeweils den Knoten
des vorhergehenden löst« (TU 415/260). Dadurch wiederholt
sie den Akt der Hypostase, ohne die fatale Bindung des Ich an
sich zu reproduzieren. Von der anfänglichen Setzung des
Subjekts im Sein hieß es, sie nehme den Augenblick auf
sich, »indem sie den Faden der Zeit zerreißt und neu knotet«
(VS 38/48). Dieses unaufhörliche Neu-Knoten, das das ein-
same Ich an sich fesselt, verdoppelt sich nun um ein unaufhör-
liches Lösen des Knotens, der das Ich »verandert« und in der
Beziehung zum Kind die l>Unendlichung« der Zeit vollzieht.
Die »erste Freiheit« des selbstgenügsamen Ich öffnet sich der
unausgesetzten »Befreiung des Ich von sich« (TA 63/87).
77
Diesen zentralen Punkt der Jevinasschen Argumentation gilt
es nun in zwei Schritten zu erläutern: im Hinblick auf die
Frage der Geschichtlichkeit und im Hinblick auf das Problem
der Freiheit.
Was die Geschichtlichkeit angeht, so bereichern die Ausfüh-
rungen zur Fruchtbarkeit die polemische Entgegensetzung
von Totalität und Unendlichkeit um einen wichtigen Aspekt,
indem sie betonen, das Kind sei, obwohl es durch mich ge-
zeugt ist, nicht »mein Werk« (TU 391/245). Diese Bemerkung
fand sich bereits in der Schrift Die Zeit und der Andere, sie
steht in Totalität und Unendlichkeit aber in einem sehr viel
weiteren Zusammenhang. Denn dort ist das Werk - neben
dem Krieg - der Inbegriff historischer Totalität. 23 In deut-
lichem Anklang an Hegels Überlegungen zur Dialektik des
Werkes begreift Levinas die Geschichte als ein Geschehen, in
dem sich der Wille des Einzelnen verwirklichen muss: »Wil-
lenssubjekte ohne Werke konstituieren keine Geschichte. Es
gibt keine rein innere Geschichte.« Indem der Wille die Sphäre
seiner Innerlichkeit überschreitet und sich ins Werk ver-
äußert, setzt er sich aber dem Bemächtigungsdrang der an-
deren Willen aus: »das Werk trennt sich von seinem Autor,
seinen Absichten und seinem Besitz, und es bemächtigt sich
seiner ein anderer Wille«. Auf diese Weise setzt die Logik der
Ver-werklichung des Willens die Logik des Krieges in Frie-
denszeiten fort: Sie lässt den Willen zur »Rolle« gerinnen, »die
aufgrund ihres Werkes gedeutet wird« (TU 330 f./202 f.).
Es ist nun alles andere als selbstverständlich, Geschichte als
einen Prozess der Verwirklichung des Willens in Werken zu
verstehen. Doch war diese Deutung im Frankreich der frühen
sechziger Jahre durch die von Kojeve angestoßene franzö-
sische Hegel-Rezeption durchaus üblich. 24 Denn auch diejeni-
gen Schüler Kojeves, die die produktive Arbeit des Knechts
nicht zum Motor des geschichtlichen Prozesses erklärten - wie
der Übersetzer der Phänomenologie des Geistes Jean Hyppo-
lite (1907-1968) -, folgten ihm in der Interpretation der Auf-
hebung als eine »Verwandlung des gegebenen Seins in ein
78
durch die negierende Tat erschaffenes Werk«. Kojeves Ab-
handlung über Hegels »Dialektik der Wirklichkeit« schließt
mit den Worten: »daß es Totalität oder Vermittlung oder Auf-
hebung gibt, besagt, daß es außer dem gegeben-Sein auch
schöpferische-Tat gibt, die zu einem Werk führt« 25 .
Kojeve formuliert hier affirmativ und mit Emphase einen
Begriff der Totalität, wie ihn Levinas in Totalität und Unend-
lichkeit zu überwinden sucht. Die Totalität ist das Werk der
Geschichte, und dieses Werk wird von einem Menschen her-
vorgebracht, der nicht nur arbeitet, sondern wesentlich
»kämpft und arbeitet« 26 . Die in Levinas' Begriff der Totalität
vereinten Ordnungen des Werkes und des Krieges hängen also
schon in Kojeves Hegel-Kommentar eng miteinander zu-
sammen: in seiner Auszeichnung des Knechts als Träger des
weltgeschichtlichen Prozesses wie auch in seiner Kritik am
Intellektuellen, der sich nicht am Bau des »historischen Ge-
bäudes« beteiligt und »über den Schlachten« schwebt. 27
Die spezifische Zeitlichkeit dieser Geschichte ist der auf seine
zukünftige Verwirklichung im Werk gerichtete »Entwurf«. 28
Diese Zeitlichkeit der Verwirklichung setzt Levinas zufolge
aber die Zeitlichkeit der Veranderung voraus, die Unend-
lichung der Zeit im Wechsel der Generationen, die einen
Bezug zur Zukunft allererst eröffnet. Die unendliche Zeit
vollzieht sich nicht in der Beziehung des Arbeiters auf sein
Produkt, sondern in der Beziehung der Eltern zum Kind; und
das Natürliche erscheint in ihr nicht als ein zu bearbeitendes
Material, sondern als eine konkrete Situation, in der sich eine
allgemeine Struktur des menschlichen Zusammenlebens
abzeichnet. »Die biologische Struktur der Fruchtbarkeit«,
heißt es auf den letzten Seiten von Totalität und Unendlich-
keit, >>ist nicht auf den biologischen Sachverhalt beschränkt. In
dem biologischen Sachverhalt der Fruchtbarkeit zeichnet
sich der Grundriß einer allgemeinen Fruchtbarkeit als Be-
ziehung von Mensch zu Mensch und des Ich mit sich selbst
ab« (TU 446/283).
Im Hinblick auf das Problem der Freiheit ist es nun von größter
79
Bedeutung, dass Levinas von einer befreienden »remission«
spricht: »Die Rückkehr des Ich zu sich, die mit der Hypostase
beginnt, ist also dank der durch den Eros eröffneten Perspek-
tive der Zukunft nicht ohne Erlaß (remission). Anstatt diesen
Erlaß durch die unmögliche Auflösung der Hypostase zu er-
halten, vollzieht man ihn durch den Sohn« (ZA 62/86). Der
Ausdruck »remission« kann in der Wendung »sans remission«
mit »ohne Unterlass« übersetzt werden, er bedeutet aber im-
mer auch »Erlass« im Sinne von Verzeihen oder Vergebung
der Sünden (»la remission des peches«). In der Schrift Die
Zeit und der Andere ist die Beziehung dieser Vergebung zur
Befreiung nur so vage angedeutet, dass sie in diesem Zu-
sammenhang dunkel bleiben muss. 29 Doch spricht Levinas
schon hier ganz aus der jüdischen Tradition, deren höchster
Feiertag der Jom Kippur- der Versöhnungstag- ist.
Bereits in dem frühen Aufsatz über die »Philosophie des Hit-
lerismus« deutet Levinas ein spezifisch jüdisches Verständnis
der Freiheit an: »Die wahre Freiheit, der wahre Anfang, for-
derte eine wahre Gegenwart, die, immer auf der Spitze des
Schicksals, dieses ewig neu anfängt. Das Judentum bringt
diese großartige Botschaft. Der Gewissensbiss - schmerz-
hafter Ausdruck der radikalen Unfähigkeit, das nicht wieder
Gutzumachende wieder gutzumachen (de reparer l'irrepa-
rable) - kündigt die Reue an, die die Vergebung hervorbringt;
die Vergebung macht wieder gut. In der Gegenwart findet der
Mensch das, womit er die Vergangenheit modifizieren, womit
er sie auslöschen kann. Die Zeit verliert ihre Unumkehrbar-
keit« (IH 24). 10
Ein angemessener Kommentar dieser Passage verlangte einige
ausführlichere Bemerkungen über die Bedeutung des Rituals
- und insbesondere des Jom Kippur - für Levinas' Denken. Im
vorliegenden Zusammenhang sei nur ein wichtiger Punkt
hervorgehoben: Der Ritus bindet Gottes Vergebung der Ver-
gehen gegen den anderen Menschen an die Vergebung durch
diesen anderen Menschen zurück. »Sünden zwischen Mensch
und Gott sühnt der Versöhnungstag; [Sünden] zwischen dem
80
Menschen und seinem Nächsten sühnt der Versöhnungstag
erst, wenn einer seinen Nächsten besänftigt hat« (Mischna
Joma 8,9). 31
Das Problem der Vergebung ist also ebenso einer philosophi-
schen Lektüre zugänglich wie die Idee des Unendlichen; denn
das Versprechen der Vergebung durch Gott erreicht mich
zunächst als Aufforderung, die Vergebung des Mitmenschen
zu suchen; und diese Aufforderung kann mir nirgendwo sonst
begegnen als im Gesicht des anderen Menschen selbst. In der
Struktur der Vergebung, wie sie der zitierte Aufsatz darstellt,
konzentriert sich aber die zeitphilosophische Aporie des
Freiheitsproblems. Denn die »Unfähigkeit, das Irreparable
zu reparieren«, ist nichts anderes als die Unmöglichkeit, in
einer Welt, die bereits begonnen hat, erneut zu beginnen.
Jeder Schritt in dieser Welt ist schwer von Vergangenheit und
gebunden an zahllose Dinge, die unabänderlich geschehen
sind.
Die Idee der Freiheit ist aber untrennbar verbunden mit der
Idee des Anfangs. Entsprechend denkt Levinas die erste, ein-
same Freiheit der Hypostase als »Freiheit des Anfangs«
(ZA 29/34). Dabei geht es allerdings nicht um ein Vermö-
gen, in der endlosen Kette natürlicher Ursachen und Wir-
kungen eine eigene Kausalreihe »von selbst anzufangen« und
so eine »Kausalität durch Freiheit« zu stiften. 32 Es geht nicht
um ein subjektives Anfangenkönnen, sondern um den An-
fang jeglichen Könnens in der Setzung des Subjekts. Die
»Freiheit des Anfangs« ist »Freiheit, die in jedem Subjekt
enthalten ist, in der Tatsache als solcher, daß es ein Subjekt
gibt« (ZA29/34).
Angesichts dessen wäre nun zu vermuten, dass die zweite und
eigentliche Freiheit in der bewussten Aneignung und Ausge-
staltung der ersten liegt; im verstandesgeleiteten Gebrauch
des gewonnenen Vermögens, in der Selbstgesetzgebung oder
Autonomie. Doch ist diese Idee der Freiheit für Levinas durch
die Geschichte ihrer Verwirklichung diskreditiert. Aus der
Selbstgesetzgebung der Vernunft war kein Einspruch gegen
81
den Mord zu gewinnen. Zu Beginn des Aufsatzes »Huma-
nismus und An-archie« schreibt Levinas über die »gewaltigen
verfehlten Unternehmungen« der westlichen Zivilisation: »In
diesen verfehlten Unternehmungen laufen Politik und Tech-
nik schließlich auf die Negation der Projekte hinaus, von
denen Politik und Technik doch angeführt werden. Die in den
Kriegen und in den Vernichtungslagern ohne Bestattung
gebliebenen Toten verschaffen der Idee eines Todes ohne
Zukunft Geltung und erweisen die Sorge um sich selbst als
tragikomisch und den Anspruch des animal rationale auf
einen privilegierten Platz im Kosmos [ ... ] als illusorisch«
(HM 61 f./67).
Levinas kommt in diesem Zusammenhang zu einer ähnlichen
Diagnose wie Max Horkheimer (1895-1973) und Theodor
W. Adorno (1903-1969) in ihrer Dialektik der Aufklärung.
Das allgemeinste Muster der Freiheit durch Autonomie ist ihm
die »Freiheit des Forschers«, der sein Vermögen niemals nur
als ein unschuldiges Können, sondern immer auch als ein
Machtmittel einsetzt: »Die Eroberung des Seins durch den
Menschen im Laufe der Geschichte - das ist die Formel, in der
sich die Freiheit, die Autonomie, die Reduktion des Anderen
auf das Selbe zusammenfassen lassen« (SpA 186/166).
Im Anspruch auf Autonomie liegt also ein latent gewalttätiger
Zug der Freiheit, der so unvermeidlich ist wie die Hypostase
selbst, der aber manifest gewalttätig wird, wenn man sich
nicht von dem anfänglichen Gewaltakt zu distanzieren ver-
mag, der darin besteht, als Ich einen Platz in der Welt einzu-
nehmen und zu behaupten. Die Gewalt gegen den Anderen, so
lautet eine der grundlegenden und in ihren Konsequenzen
sehr weitreichenden Einsichten von Levinas' Philosophie,
liegt schon in »meiner Struktur als Ego« (DL 32; SF 28). In der
Geburt des Ich liegt bereits jenes »Das ist mein Platz an der
Sonne«, mit dem Blaise Pascal (1623-1662) zufolge »die wider-
rechtliche Inbesitznahme der ganzen Erde« beginnt. 33 Levinas
zitiert dieses Diktum Pascals wiederholt in seinen Schriften.
In einem seiner späten Aufsätze schreibt er dazu: »Ist mein
82
>In-der-Welt-Sein< oder mein >Platz an der Sonne<, mein Zu-
hause, nicht bereits widerrechtliche Inbesitznahme von
Lebensraum gewesen, der Anderen gehört, die ich schon
unterdrückt oder ausgehungert, in eine Dritte Welt vertrieben
habe: ein Zurückstoßen, ein Ausschließen, ein Heimatlos-
Machen, ein Ausplündern, ein Töten?« (GD 250/3!3 4 )
Es liegt nahe, solche Fragen als lähmend zu empfinden. Und
darin liegt auch ihr Sinn. Denn die anfängliche, verdrängende,
ausschließende Gewalt des Ich ist so unvermeidlich wie der
Akt der Hypostase selbst; die ungebrochene Wiederholung
dieses Gewaltaktes in jeder einzelnen Handlung lässt sich aber
nur verhindern, wo das Bedürfnis entsteht, ihn zu rechtfer-
tigen.35 »Die Moral beginnt<<, heißt es in Totalität und Unend-
lichkeit, »wenn sich die Freiheit, statt sich durch sich selbst
zu rechtfertigen, als willkürlich und gewalttätig empfindet«
(TU llSf./56).
Es hängt nun alles davon ab zu begreifen, inwiefern die Ein-
sicht in die Gewalttätigkeit der eigenen Freiheit keine Sack-
gasse bedeutet, die die Selbstbestimmung im schlechten
Gewissen erstarren lässt, sondern ganz im Gegenteil die Er-
möglichung eines neuen Anfangs. Denn soll eine zweite Frei-
heit denkbar sein, die den Namen verdient, so muss sie weiter-
hin als Anfang gedacht werden, allerdings als Anfang, der vom
Anderen her geschieht. Diese Möglichkeit eines zweiten An-
fangs findet Levinas nicht in der reinen, von jedem Bedürfnis
gereinigten Beziehung zum Gesicht, sondern »jenseits des
Gesichts«, in der Existenz eines Seienden, »das im Verhältnis
zum Sein Abstand wahrt, während es doch gleichzeitig an das
Sein gebunden bleibt« (TU 410/257). Die Beziehung zum
Gesicht verliert damit ihre absolute Entgegensetzung zum
>>il y a«. Sie verhindert, dass die Bindung ans Sein »in Schicksal
umschlägt«, und verdoppelt diese Bindung in jedem Augen-
blick durch ihre »Lösung<< (TU 411/258).
Dies ist einer der Punkte, an denen sich die erstaunliche Kon-
tinuität der Grundmotive von Levinas' Denken zeigt. Denn
schon in dem frühen Aufsatz über die »Philosophie des Hit-
83
lerismus« sah er die eigentümliche Struktur der Vergebung in
jener »Umkehrbarkeit der Zeit«, die Levinas in Totalität und
Unendlichkeit als Charakteristikum der Vergebung hervor-
hebt. Die Vergebung ist nicht Vergessen, sie gibt dem Schul-
digen nicht seine Unschuld zurück. Doch ermöglicht sie das
Paradox eines Neuanfangs in einer Welt, in der schon unend-
lich viele Dinge unwiderruflich geschehen sind. Darin koin-
zidiert sie mit der Fruchtbarkeit (TU 413/259).
Es ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich, dass
Levinas die Freiheit des Neubeginns als die einer »freien
Deutung (interpretation)« des Vergangenen begreift (TU
413/259). Denn denkt man die »Veranderung« als Grund-
zug einer generativen Geschichtlichkeit, so besagt das: Ge-
schichtlich ist, was sich wesentlich, strukturell, generativ auf
Anderes bezieht, sich in Anderes verwandelt und als Ande-
res fortlebt. Geschichtlich sind also zum Beispiel die Eltern
im Verhältnis zu den Kindern; geschichtlich sind aber auch
Texte, die zitiert, übersetzt und fortgeschrieben werden, die,
kurz gesagt, immer andere sind als sie selbst und (sich) in
anderen Texten überleben. 36 Diese unabschließbare Verviel-
fältigung und Veranderung der Texte in der Exegese hat Le-
vinas selbst als Grundzug der jüdischen Geschichte hervor-
gehoben. Wenn das Judentum die biblische Lehre nur durch
den Talmud erhält, so empfängt es diese Lehre nur in einer
Kette von Interpretationen, die wesentlich »die Vielfalt und
die Konfrontation« fordert; die Thora »lebt in der Forschung
der Lehrer, der Rabbis, die sie in jeder Epoche neu aufneh-
men« (IH 156f.).
Entsprechend zieht Levinas an zumindest einer Stelle von
Jenseits des Seins die Möglichkeit einer »Geschichte vor aller
Historiographie« in Erwägung: dort, wo er den geschicht-
lichen Ort seines eigenen Diskurses bedenkt. Diese Ge-
schichte vollzieht sich aber in der »Auslegung (exegese)« der
Texte, die nicht nur die »unauflösbare Mehrdeutigkeit« der
Sprache offen hält, sondern auch das Gesagte »von Einern zum
Anderen« weiterreicht und ihm so seine »Referenz auf den
84
Gesprächspartner« zurückerstattet. Die »Unterbrechungen
des Diskurses«, die sich nicht in ihm aussagen lassen, bleiben
ihm so eingeschrieben als »Spur« einer unaufhebbaren Un-
gleichzeitigkeit; sie ȟberleben so gleichsam in den Knoten
eines wiederangeknüpften Fadens« (JS 367 ff./215 f.).
Nichts anderes als eine solche Geschichte vor jeder Historio-
grafie exponieren die Analysen der Fruchtbarkeit und der Ver-
gebung in Totalität und Unendlichkeit.
85
Subjektivität und Sprache
86
die ethische Transzendenz bereits durch die Zweideutigkeit
des Eros kontaminiert ist. Betont man die Bedeutung dieser
Ausführungen hingegen - wie es im vorliegenden Buch ge-
schehen ist -, so liest man das erste Hauptwerk bereits im
Lichte des zweiten und unterstreicht Kontinuität zwischen
beiden Texten. Eine solche Lektüre lässt sich aber nicht nur
im Vorgriff auf Jenseits des Seins rechtfertigen, sondern auch
im Rückgriff auf das Buch Die Zeit und der Andere, wo der
Vollzug der Zeit in der Fruchtbarkeit tatsächlich den Zielpunkt
der Argumentation bildet.
Doch soll die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität
zwischen den beiden Hauptwerken hier nicht eingehender
diskutiert werden, als es für die Zwecke einer Einführung in
Levinas' Grundgedanken nötig ist. Tatsächlich provozieren
viele Passagen von Totalität und Unendlichkeit noch das
Missverständnis, der Andere betreffe die Subjektivität nicht
in ihrer Grundstruktur selbst, sondern trete gleichsam in
einem zweiten Schritt zu einem vollständig konstituierten
Subjekt hinzu. Diesem Missverständnis begegnet Levinas in
Jenseits des Seins, indem er die Subjektivität als »Verstrickung
des Anderen im Selben (intrigue de l'Autre dans le Meme) «
bestimmt (JS 69/3lf.). Dabei rückt die Subjektivität von der
Ebene des »Ich (Moi)«, auf der sie in den frühen Schriften
als »Setzung des Subjekts« behandelt wurde, auf die Ebene
des »Sich (Soi)«. Die Subjektivität, um die es Levinas in Jen-
seits des Seins zu tun ist, steht nicht im Nominativ eines sich
behauptenden und selbstgenügsamen Subjekts, sondern im
Akkusativ - im Anklagefall - eines immer schon durch den
Anderen »vorgeladenen« Sich. Diese Subjektivität sagt nicht
»Ich«, sondern sie antwortet »hier, sieh mich (me voici)«
(JS 42/14; 320/186).
87
Die Zeitlichkeit des Sagens
88
Levinas gesteht also zu, dass es unmöglich ist, über das Jen-
seits des Seins zu sprechen, ohne es der Logik der Aussage und
des thematisierenden Sprechens zu unterwerfen. Er räumt
ein, dass sein eigener Diskurs als philosophischer notwendig
der »Sprache der Totalität« zugehört, von der er im Vorwort
von Totalität und Unendlichkeit spricht. Zugleich insistiert er
aber auf der Einsicht, dass der philosophische Diskurs auf eine
Situation zurückverweist, die »nicht mehr in der Sprache der
>Totalität< gesagt werden kann« (TU 25/XIII). Dass der Andere
mich angeht und dass ich mich an ihn wende, ist in jeder Aus-
sage bereits vorausgesetzt, ohne dass es sich zugleich in ihr
aussprechen ließe.
Die Differenz zwischen den beiden Hauptwerken besteht
also nicht darin, dass Levinas die - sprachliche oder proto-
sprachliche - Beziehung zum Anderen neu bestimmte. Diese
Beziehung, die er nun Sagen (Dire) nennt, bleibt als ein an-
fängliches Antworten auf den Anspruch des Anderen ge-
dacht, das noch unterhalb der Ebene möglicher Sprechakte
geschieht, weil es durch eine tiefe Passivität gekennzeichnet
ist und sich auch wortlos vollziehen kann. Neu hingegen ist
die Aufmerksamkeit, mit der Levinas die unausweichliche
Verfestigung des anfänglichen Sagens zum Gesagten (Dit) be-
denkt und auf den philosophischen Diskurs bezieht, den er
selbst »in diesem Moment« niederschreibt (JS 31/7).
Die methodologischen Konsequenzen dieser Einsicht sind an
der Sprache von Jenseits des Seins deutlich ablesbar. Die
Weise, in der sich Levinas in der oben zitierten Passage der
Figur der correctio bedient, in der er das Jenseits-des-Seins
»zur Ontologie zurückkehren und nicht zurückkehren«, »Zum
Sinn des Seins werden und nicht werden« lässt, ist charakteris-
tisch für den Duktus des gesamten Buches. Die Rhetorik des
Ausbruchs aus dem Sein und des Durchbrechens der Totalität,
die den Charakter der früheren Texte prägte, weicht einer
Rhetorik der Zweideutigkeit, in der das Jenseits-des-Seins er-
fahrbar und zugleich verraten wird. Levinas selbst spricht von
der Notwendigkeit eines unausgesetzten Widerrufens des
89
Gesagten, eines beständigen dedire, das in seinen späten
Schriften zu einem »eigenen Modus des Philosophierens<<
wird (EU 82/103f.).
Die im beständigen Sichwiderrufen bezeugte Zweideutigkeit
ist in der zitierten Passage vor allem eine temporale: eine Zwei-
deutigkeit von Ungleichzeitigkeit und Vergleichzeitigung, von
Diachronie (des Sagens) und Synchronisierung (im Gesag-
ten). Dabei unterscheidet sich die Verwendung der Ausdrücke
»Diachronie« und »Synchronie« deutlich von dem Sprach-
gebrauch, der aus Ferdinand de Saussures Grundlagen der All-
gemeinen Sprachwissenschaft in die Texte der so genannten
Strukturalisten übergegangen ist. Saussure (1857-1913) unter-
scheidet eine synchrone »Achse der Gleichzeitigkeit« (eines
sprachlichen Systems) von einer diachronen >>Achse der Auf-
einanderfolge« (auf der die Systeme sich wandeln). 5 Levinas
hingegen denkt die Diachronie aus dem »Dia-« einer uneinhol-
baren Ungleichzeitigkeit. In der Zweideutigkeit von Synchro-
nie und Diachronie erweist sich die Zeit als »die Zweideutig-
keit von Sein und Anders-als-Sein<c Die Diachronie entzieht
sich der Synchronie in eine »vor-ursprüngliche und anarchi-
sche Vergangenheit«, die »jeder Gegenwart gegenüber fremd«
bleibt. Sie entgeht mithin auch der Vergegenwärtigung im
Gedächtnis oder in den Texten der Geschichtsschreibung, die
das Vergangene in die Gegenwart einfügen (JS 37 f./11).
Diese Bestimmung der Diachronie zeigt deutliche Ähnlichkei-
ten mit den Analysen des Todes und der erotischen Beziehung
in der Schrift Die Zeit und der Andere, die den unüberbrück-
baren Abgrund zwischen Zukunft und Gegenwart betonen.
Und Levinas selbst bezeichnet das Verhältnis zum Tod, zum
Weiblichen und zum Kind im 1979 erschienenen Vorwort zur
zweiten Auflage der frühen Vorlesung als »konkrete Modalitä-
ten der Diachronie« (vgl. ZA 12/13). Dagegen fällt in Jenseits
des Seins zunächst auf, dass die Dimension der Zukunft na-
hezu vollständig zugunsten der Vergangenheit ausgeblendet
bleibt; eine auffällige Einseitigkeit, die bereits mit dem 1963
erschienenen Aufsatz »Die Spur des Anderen« einsetzt. Levi-
90
nas begreift darin das unmittelbare Durch-sich-selbst-Bedeu-
ten des Anderen als »Bedeuten der Spur« und fährt fort: »Das
Gesicht ist in der Spur des absolut verflossenen, absolut ver-
gangenen Abwesenden, zurückgezogen in etwas, das P. Valery
das >tiefe Einst, niemals genügende Einst< nennt (profond
jadis, jadis jamais assez)« (SpA 228/198). Dieses Zitat von
Paul Valery (1871-1945) kehrt in Levinas' zeitphilosophischen
Überlegungen der Folgezeit sehr häufig wieder. Auch das
»tiefe Einst« der oben zitierten Passage übersetzt Valerys »pro-
fond jadis<(. 6 Die Diachronie ist Beziehung zu einer nicht er-
innerbaren, nicht zu vergegenwärtigenden, unvordenklichen
Vergangenheit, und es mag zunächst scheinen, als sei sie nur
in Bezug auf die Vergangenheit zu denken.
Dass dem nicht so ist, zeigen spätere Texte, in denen die Dia-
chronie gleichermaßen in Bezug auf Vergangenheit und Zu-
kunft bestimmt wird. Der 1985 erschienene Aufsatz »Diachro-
nie und Vergegenwärtigung« widmet je einen Abschnitt der
»unvordenklichen Vergangenheit« und der »reinen Zukunft«
(ZU 208/176; 211/179); und in einem Interview von 1988 resü-
miert Levinas die Zeitlichkeit der Diachronie in der doppelten
Formel: »Beziehung zu einer Vergangenheit, die nie Gegen-
wart war« - »Beziehung zu einer Zukunft, die niemals meine
Gegenwart sein wird« (ZU 278/246).
Worin liegt nun das Motiv für die anfängliche Konzentration
auf die Vergangenheit? Und wie ist die Struktur des Anderen-
im-Selben zu denken, wenn sie nicht besagt, dass sich das An-
dere »appräsentativ« im Selben konstituiert? Wenn es also
nicht um eine »Vergegenwärtigung« des Anderen im Selben
gehen kann? Gibt es eine Beziehung zum Anderen, die diesen
nicht vergegenwärtigt und die dennoch Beziehung bleibt?
Eine erste Antwort auf diese Fragen findet sich in einem Satz
von Jenseits des Seins, der im Deutschen nur sehr schwer
wiederzugeben ist: »Le prochain me frappe avant de me frap-
per comme si je l'avais entendu avant qu'il ne parle.« - »Der
Nächste trifft (schlägt, betrifft) mich, bevor er mich trifft
(mich schlägt, mir auffällt), als hätte ich ihn vernommen, be-
91
vor er spricht« (JS 198/112). 7 Dieser Satz trägt eine zeitliche
Verschiebung schon in das Geschehen des Sagens ein, in dem
mir der Andere begegnet: Der Andere begegnet mir, bevor er
mir begegnet, er betrifft mich, bevor er mich trifft. Zugleich
verleiht er der Begegnung die elementare Gewalt eines Schla-
ges, dem ich ausgesetzt bin, bevor ich ihn parieren kann. Levi-
nas bezeichnet diesen Schlag wegen seiner irreduziblen Vor-
zeitigkeit als »Trauma« der Begegnung mit dem Anderen
(JS 274f./158). Der zeitliche Verzug der Diachronie bezeich-
net so die nicht zu behebende Ungleichzeitigkeit zwischen
dem »Schlag« der Begegnung mit dem absolut Fremden, der
mir widerfährt, bevor ich mich abwenden kann, und meiner
Antwort, die das absolut Fremde in jemand Fremdes verwan-
delt, zu dem ich in Beziehung trete. Diese Antwort kommt, im
Hinblick auf die irreduzible Vorzeitigkeit der Begegnung mit
dem Anderen, »immer zu spät« (JS 330/192). Doch lässt nur
sie den Anderen zu Wort kommen, macht nur sie vernehmbar,
was mich zunächst als »Schlag« des Anderen trifft.
In dieser »diastatischen<< Struktur der Subjektivität, die stän-
dig »ZU sich selbst im Rückstand ist«, liegt der Kern aller Analy-
sen von Jenseits des Seins (JS 255/147). Das }>im« in der Formel
»der-Andere-im-Selben« besagt nicht, dass sich der Andere
»in« meinem Bewusstsein konstituiert, sondern dass sein
Anspruch mich in einer Vorzeitigkeit trifft, die niemals Ge-
genwart war, und dass er folglich erst »in meiner Antwort«
vernehmbar wird (JS 328/191; Hervorh. A. G.). Der Anspruch,
auf den ich antworte, kann in meiner Antwort aber nicht in
gleicher Weise »gegenwärtig« sein wie ein Thema, über das ich
spreche. Der Anspruch des Anderen kann nur in meiner Ant-
wort mitsprechen und seine Stimme in meiner laut werden
lassen. Daher begreift Levinas das Sich bekunden des Anderen
in mir auch als ein inspiriertes Sprechen; »der-Andere-im-
Selben, Inspiration« (JS 330/ 192).
Um die Radikalität dieses Begriffs der Inspiration zu ermes-
sen, gilt es zu verstehen, warum man streng genommen nicht
von vornherein von einem »Anspruch« des Anderen sprechen
92
kann. Ein »Schlag«, der mich in einer uneinholbaren Vor-
vergangenheit trifft, ist noch nicht der Appell einer fremden
Stimme; er trifft mich zunächst in der Anonymität eines
bloßen Widerfahrnisses. 8 Von dieser Anonymität des Wider-
fahrnisses muss aber auch der Anspruch des Anderen noch
gezeichnet bleiben, wenn dieser nicht als bloßer Gesprächs-
partner gedacht werden soll, sondern in seiner »absoluten
Fremdheit«. Darauf hat nach dem Erscheinen von Totalität
und Unendlichkeit vor allem Maurice Blanchot hingewiesen.
Denn in seinem ersten Hauptwerk neigt Levinas noch dazu,
dem »Abstieg« in die Anonymität des »il y a« (TU 130/94) den
»Über-Auf stieg« oder die »Trans-aszendenz« zum anderen
Menschen entgegenzusetzen (TU 39 /24). Diese Entgegen-
setzung verbietet es Blanchot zufolge jedoch, die Fremdheit
des anderen Menschen so radikal zu denken, wie Levinas es
will. Die Emphase der Trans-aszendenz verhindert die Ein-
sicht, dass der andere Mensch in seinem radikalen Anderssein
»immer auch Gefahr läuft, das Andere als der Mensch zu sein:
dem nah, was mir nicht nah sein kann, nah dem Tod, nah der
Nacht und gewiß ebenso abstoßend wie alles, was aus diesen
Gegenden ohne Horizont zu mir kommt« 9 .
Indem er die Nähe des Anderen zum Tod betont, erinnert
Blanchot an die Analysen von Die Zeit und der Andere, die
die Beziehung zur Fremdheit des Todes als Voraussetzung
jeder Beziehung zum absolut Fremden verstehen. Die Nacht
dagegen ist die Nacht der Schlaflosigkeit, durch die Levinas
in seinen frühen Schriften die Beziehung zum il y a kenn-
zeichnet. Blanchot insistiert also darauf, dass die Ausgesetzt-
heit an den Anderen immer etwas von der Ausgesetztheit an
das il y a behalten muss, dass der persönlichen Beziehung ein
untilgbarer Rest von Anonymität eingeschrieben sein muss,
wenn sie als eine Beziehung zum radikal Anderen denkbar
sein soll.
Blanchot hat das Sprechen dieses Anderen immer wieder als
ein anonymes »Murmeln« oder »Rauschen« gefasst, das die
Dichtung zum Schweigen bringt, indem sie es zur Sprache
93
kommen lässt; als ein bloßes Geschehen des Sagens, das in
den artikulierten Sätzen eines literarischen Textes zugleich
ausgesprochen und entstellt wird. Dieses Sprechen-des-Ande-
ren-im-Selben behandelt Blanchot schon in den fünfziger Jah-
ren unter dem Titel der »lnspiration«. 10 Zudem inszeniert er
das inspirierte Sprechen in einer Reihe von dia- oder polylo-
gisch verfassten Texten, deren Widerständigkeit gegen jede
Interpretation von ihren Lesern immer wieder hervorgehoben
wird. Einern dieser Texte - Warten Vergessen - hat Levinas
1966 einen Aufsatz gewidmet, in dem er den Terminus der In-
spiration aus Blanchots literaturkritischen Schriften aufgreift
und zum Leitfaden seiner Lektüre macht. Er betont dort, das
Problem der Inspiration gewinne »außerordentlich an Ge-
wicht«, wenn man sich frage, »ob Enthusiasmus oder Beses-
senheit nicht am Grund jeder Tätigkeit und noch unter der
uranfänglichen Tätigkeit der Sprache und des Bewußtseins
verborgen sind; ob das Denken nicht von einem Delirium
getragen wird, das tiefer als das Denken ist; ob die Sprache, die
sich als Handlung und Ursprung ausgibt, [... ] nicht eine tief-
verwurzelte Passivität ist« (SB 30; En 42).
Bedenkt man, mit welcher Entschiedenheit Levinas in frühe-
ren Schriften die Gewalt des Enthusiasmus zurückgewiesen
hat, so begegnet man hier einer nicht unbeträchtlichen Ver-
schiebung des Tonfalls, die nicht erst in dem zitierten Text
beginnt, die in der Auseinandersetzung mit Blanchot aber eine
deutliche terminologische Prägung erfährt. Diese Prägung
bleibt auch dort erhalten, wo Levinas das Geschehen der In-
spiration in ein religiöses Vokabular übersetzt und die un-
tilgbare Anonymität des absolut Anderen einem »Gott« zu-
schreibt, dessen Transzendenz sich in der Neutralität eines
»Er auf dem Grund des Du (Il au fand du Tu)<< bekundet. Denn
auch die ))Illeität« 11 dieses Gottes - Levinas leitet diesen Be-
griff vom französischen Pronomen ))il« (»er« oder »es«) ab -
wahrt ihre Beziehung zu der anfänglichen Anonymität des
»il y a«. Im Übergang vom »Tu« zum »II« steigert sich die Trans-
zendenz Gottes zur Transzendenz dessen, der in keine Be-
94
ziehung eintritt, der immer schon vorbeigegangen und ver-
gangen ist, »transzendierend bis zur Abwesenheit, bis zu sei-
ner möglichen Verwechslung mit dem rastlosen Umherziehen
des il y a (jusqu'a sa confusion possible avec le remue-menage
de l'ilya)« (GP 11S/107f.). 12
Diese Einführung des frühen ontologischen Begriffs in das
Zentrum des ethischen Denkens selbst kann hier nicht in allen
ihren Konsequenzen erörtert werden. Festzuhalten ist die ent-
scheidende Struktur eines anfänglichen Auseinandertretens
von »Du« und »Er/Es«, in der der diastatische Charakter der
Subjektivität gründet. Denn der Anspruch, auf den ich ant-
worte, wird erst in meiner Antwort zum Appell, den ein »Du«
an mich richtet; in seiner irreduziblen Vorgängigkeit bleibt er
aber immer auch der »Schlag« eines »Er« oder »Es«, der mich
schon getroffen hat, bevor ich ihn empfangen kann. Nur dieser
diachronische Riss in der Beziehung zum Anderen erlaubt es,
ein Anderes in mir zu denken, das nicht »im<~ Subjekt ver-
gegenwärtigt und dem Selben assimiliert wird. Daher betont
Levinas in Jenseits des Seins, das Subjekt sei »die Diachronie
selbst« und seine »Zeitigung« könne »nicht als sein«, sie müsse
vielmehr »als Sagen gedacht werden« (JS 137 /73; 38/ 11). Die
Zeitlichkeit des Sagens ist die gegenwärtige Antwort auf das,
was niemals Gegenwart war, das Auseinandertreten von »TU«
und »II«, das den uneinholbaren Verzug zwischen der Vorzei-
tigkeit des Schlages und der Nachträglichkeit der Antwort in
die Struktur der Subjektivität selbst einschreibt.
Diese Lektüre verschiebt in gewissen Grenzen das Ungleich-
gewicht zwischen der sehr starken Betonung des anfänglichen
Schlages und der sehr zögerlichen Behandlung der Antwort,
wie sie für Jenseits des Seins charakteristisch ist. Bernhard
Waldenfels hat dieses Ungleichgewicht in Levinas' Darstel-
lung kritisiert und gefordert, »die Frage nach dem Übergang
vom Wovon des Widerfahrnisses zum Worauf des Antwor-
tens« deutlicher zu stellen. 13 Das ist auch mit Levinas zwang-
los möglich. Die Einsicht, dass das, »wovon wir getroffen
sind«, erst in der »Antwort auf« es »als solches zutage« tritt 14 ,
95
findet sich bei Levinas vor allem in den Ausführungen zum -
intransigenten, schlagenden - »Anruf« des Anderen, der erst
»in der Antwort verstehbar wird« (JS 327 f./190). Levinas'
Terminus für diese diastatische Struktur des Sagens ist »In-
spiration«.
Vieles spricht dafür, dass erst die skizzierte Logik des In-
einanders (von Anderem und Selbem) einlöst, was das erste
Hauptwerk bereits entwarf, in der ihm eigenen Rhetorik des
Gegeneinanders (von Totalität und Unendlichkeit) aber nur
unzureichend formulieren konnte: eine »Verteidigung der
Subjektivität«, die sich nicht im Gestus eines »bloß egois-
tischen Protestes gegen die Totalität« erschöpft (TU 27 /XIV).
Dennoch erweckt es zunächst Unbehagen, wenn die klaren
Grenzen des früheren Buches durchlässig werden und Be-
griffe wie der des il y a im Herzen der ethischen Beziehung
selbst zurückkehren. Doch ist es ernst zu nehmen, wenn Le-
vinas das il y a in Jenseits des Seins als eine »Modalität«
der ethischen Beziehung bestimmt. Im fünften Kapitel des
Buches heißt es: »[Die] Absurdität des il y a - als Modalität des
der-Eine-für-den-Anderen, als ertragene Absurdität-bedeutet.
Die Bedeutungslosigkeit seiner objektiv fortwährenden
Wiederkehr[ ... ] ist der Überschuß der Sinnlosigkeit über den
Sinn, wodurch für das Sich die Sühne möglich wird - Sühne,
die sich gerade bedeutet. Das il y a - ist so die ganze Last, die
die ertragene Anderheit wiegt, ertragen durch eine Sub-
jektivität, die nicht die Gründerin dieser Anderheit ist«
(JS 356 f./208 f.).
Ohne die anfängliche Ausgesetztheit an das il y a wäre die
Beziehung des Tragens und Ertragens, die hier die Beziehung
zum Anderen ausmacht, offenbar nicht möglich. Um die
Implikationen dieser Einsicht genauer zu verstehen, muss
aber zumindest ansatzweise geklärt werden, inwiefern sich
96
das »Andere-im-Selben« der Subjektivität als ein »der-Eine-für-
den-Anderen« oder als »Stellvertretung« verstehen lässt.
Der Begriff der »Substitution« oder der »Stellvertretung« mar-
kiert eines der Momente, in denen das zweite Hauptwerk
besonders deutlich über die Konzeption von Totalität und
Unendlichkeit hinausweist. Levinas selbst bezeichnet das ein-
schlägige Kapitel von Jenseits des Seins als die Quelle, aus der
das gesamte Buch hervorgegangen ist (JS 219/125 Anm.). zu-
gleich handelt es sich um einen der schwierigsten Begriffe, die
in Levinas' Schriften überhaupt zu finden sind.
Setzen wir bei der einfachsten Bestimmung an: »Stellver-
tretung - die Möglichkeit, sich an die Stelle des Anderen zu
setzen (substitution - la possibilite de se mettre a la place
de l'autre)« (JS 261/150). Diese Möglichkeit wurde und wird-
mit wechselndem theoretischem Erfolg- als )>Empathie« oder
>>Einfühlung« beschrieben. Sich an die Stelle des Anderen zu
setzen bedeutet in diesem Zusammenhang, sich in ihn hinein-
zuversetzen, nachzuempfinden, was er empfindet, und mit-
zuleiden, wenn er leidet. So fasst Jean-Jacques Rousseau
(1712-1778) das Mitleid als ein »Gefühl, das uns an die Stelle
des Leidenden versetzt (un sentiment qui nous meta la place
de celui qui souffre)«. Rousseau sieht in diesem Gefühl die
»einzige natürliche Tugend« des Menschen, die sich spontan
und ohne Abwägung von Vorteilen äußert; die Wurzel der
Moralität findet er nicht in der »Überlegung«, sondern in
dem »angeborenen Widerwillen, seinesgleichen leiden zu
sehen« 15 .
Nun wäre nichts unangemessener, als Levinas zu einem
Mitleidsethiker zu erklären. Das Mitleid begründet nicht
die Möglichkeit, sich an die Stelle des Anderen zu setzen, es
setzt diese Möglichkeit voraus. Levinas betont das sehr deut-
lich, wenn er die Stellvertretung als »Quelle allen Mitleids«
bezeichnet (JS 361/212). Doch darf die Furcht vor dem
Missverständnis nicht dazu verleiten, mit dem Begriff des
Mitleids auch die konkrete Grunderfahrung aus dem Blick
zu rücken, von der Rousseau und Levinas gleichermaßen
97
ausgehen. 16 So schreibt Levinas im Anschluss an eine sehr
allgemeine Charakterisierung der »Verantwortung für den
Anderen«: »Diese Abstraktion ist uns dennoch im empi-
rischen Ereignis der Verpflichtung gegenüber dem Ande-
ren vertraut als die Unmöglichkeit - eine Unmöglichkeit,
die nicht auf einem Versagen beruht -, angesichts des Un-
glücks und der Mängel des Nächsten gleichgültig zu bleiben«
(GP 116/109f.).
Levinas beschreibt diese Unmöglichkeit, gleichgültig zu blei-
ben, nicht in einem Vokabular der Empfindung und des Mit-
gefühls, sondern in einem Vokabular der Verpflichtung und
der Verantwortung. Darin zeigt sich, dass sein Misstrauen ge-
gen alle Formen der Teilhabe und distanzlosen Anteilnahme
auch in den späten Schriften ungebrochen bleibt. Levinas
denkt die Verpflichtung gegenüber dem Anderen nicht an-
thropologisch, sondern ethisch, nicht von einer angeborenen
Gefühlsdisposition, sondern vom Anspruch des Anderen her.
In dieser Perspektive kann eine Verpflichtung, die einem Ge-
fühl entspringt, nicht den Rang der ersten und einfachsten
obligation beanspruchen. Die wahrhaft elementare Verpflich-
tung der Verantwortung für den Anderen ist nicht in einer
emotionalen Bindung zu suchen, sie liegt vielmehr im Sagen.
Sie besteht darin, dass der Andere mich angeht, dass er mich
trifft, bevor ich ihm antworten kann, und dass ich folglich
schon für ihn verantwortlich bin, indem ich ihm antworte. Le-
vinas' Begriff der Verantwortung ist ganz aus diesem Gesche-
hen des Antwortens gedacht, das repondre de (verantwortlich
sein für) aus dem repondre a (antworten auf). Meine Ver-
pflichtung gegenüber dem Anderen - die Unmöglichkeit,
angesichts seines Leidens gleichgültig zu bleiben - bekundet
sich nicht in einem Gefühl, sondern in der »Antwort der Ver-
antwortung (reponse de la responsabilite) « (JS 311/180). 17
Erweist sich die Verantwortung damit als die Grundstruk-
tur der Subjektivität, so liegt sie auf der Ebene des »Sich« und
ist folglich noch nicht Verantwortung eines »Ich«, das sich
durch Zuschreibung (imputatio) als Urheber einer Handlung
98
dingfest machen ließe. Zu beginnen, indem ich auf den An-
spruch des Anderen antworte, bedeutet, »daß ich verpflich-
tet bin, ohne daß diese Verpflichtung in mir begonnen hätte«
(JS 46/15 f.). Levinas suspendiert also den Grundzug traditio-
neller Verantwortungsbegriffe, indem er die Verantwortung
vom Verursacherprinzip löst. Dadurch lässt sie sich aber auch
nicht mehr auf meine, prinzipiell endliche, durch die Reich-
weite meiner Handlungen begrenzte Verantwortung ein-
schränken.18 Verantwortung wird zur Conditio der Subjek-
tivität selbst, sie bedeutet eine »Ausgesetztheit den Anderen
gegenüber, die jeder Entscheidung vorausgeht« (JS 310/180).
Als solche kann sie allerdings niemals abgegolten werden,
ganz im Gegenteil, sie »wächst in dem Maße, in dem sie über-
nommen wird« (JS 44/14).
Solche Formulierungen legen es nahe, von einer Überforde-
rung des Subjekts zu sprechen. Doch folgen sie nur in aller
Strenge aus der Einsicht, dass Verantwortung immer schon zu
spät kommt, wenn sie als bloße »Option« eines souveränen Ich
erscheint, das sich für oder gegen sie entscheiden kann. Auf
der Ebene der Subjektivität gibt es noch gar kein Ich, das Ver-
antwortung »übernehmen«, sie »ablehnen« oder durch sie
»überfordert« sein könnte. Der Andere betrifft mich bereits,
bevor ich »Ich« sagen kann, er hat bereits l>in der >Vorge-
schichte< des für sich gesetzten Ich« das Wort. Nur unter der
Voraussetzung eines solchen »für sich gesetzten Ich«, das be-
reits unabhängig von den Anderen besteht und sich anfäng-
lich »nur um sich sorgt«, stellt sich aber die Frage: l>Warum be-
trifft mich der Andere?<< Und nur unter dieser Voraussetzung
stellt sich auch die Frage, wie es trotz des anfänglichen Ego-
ismus - und der daraus folgenden Unausweichlichkeit des
Krieges - Frieden, Solidarität und Verantwortung für den
Anderen geben kann. Levinas' Misstrauen gegenüber Theo-
rien des Mitleids ist also auch darin begründet, dass sie die
Voraussetzung eines anfänglichen Egoismus teilen (wobei es
unerheblich ist, ob dieser Egoismus als glücklicher oder ge-
waltsamer verstanden und ob der unvermeidliche Krieg aller
99
gegen alle als eine »frühe« oder eine »späte« Etappe in der
hypothetischen Geschichte menschlicher Gemeinschaften ge-
dacht wird). Das Mitleid gehört zu jenen »Gefühlsübertragun-
gen, durch die die Theoretiker, die vom ursprünglichen Krieg
und vom ursprünglichen Egoismus ausgehen, die Entstehung
der Großzügigkeit erklären<' (JS 260f./l 50 f.).
Ein Denken, das die Verpflichtung den Anderen gegenüber
nur als Zutat zu einem ursprünglich selbstgenügsamen Ich
versteht, lässt sich aber nur unterlaufen, wenn es gelingt, die
Subjektivität selbst als Verpflichtung gegenüber dem Anderen
zu denken. Darauf zielt Levinas' Begriff eines »Subjekts«, das
nicht »Ich« ist, sondern »Sich1<. Dieses Subjekt ist nicht Grund
aller seiner weiteren Bestimmungen, sondern hat seinen
Grund nur in der Unmöglichkeit, »sich der Verantwortung,
der Sorge und des Einstehens für den Anderen zu entziehen«
(JS48/17).
Darin zeigt sich, wie tief Levinas' Denken noch im Extrem sei-
ner ethischen Analysen dem ontologischen Anfang verpflich-
tet bleibt, den es in dem Werk Die Zeit und der Andere nahm.
Denn noch in der Unausweichlichkeit der ursprünglichen
Verantwortung bleibt jene Struktur der »Geworfenheit« er-
kennbar, die Levinas· frühe Texte im Ausgang von Heidegger
analysierten. Die Geworfenheit Heideggers ist das Überant-
wortetsein an die eigene Existenz, die das Dasein als »Last« zu
übernehmen hat. 19 Wird dieses Überantwortetsein aber als ein
Antwortemnüssen gedacht, als Ver-Antwortung für den An-
deren, die das Subjekt »vor der erinnerbaren Zeit >sich zuge-
zogen hat«< {JS 129/69), so wird der Andere selbst zur »Last«
(JS 262/ l 5 l). Levinas setzt so fort, was er in seiner Schrift Vom
Sein zum Seienden begann: eine Analyse von Situationen der
Existenz, in denen ))das Sein als eine zu übernehmende Last
erscheint1< (VS 20/19). Auch die »bodenlose Passivität« der Be-
ziehung zum Anderen vollzieht sich als ein Tragen und Er-
tragen des Anderen (JS 3 56 f./209) und gerade darin liegt die
Möglichkeit ihrer )>Verwechslung« mit der Ausgesetztheit an
das il y a. Die Rückkehr des il y a in der ethischen Beziehung
100
besagt, dass ich in meine Verantwortung geworfen bin und
dass Subjektivität entsteht, wo das Überantwortetsein an die
eigene Existenz nicht mehr scharf von dem Antwortenmüssen
auf den Anspruch des Anderen zu trennen ist.
Entsprechend gibt Levinas auch die programmatische Ent-
gegensetzung von >>Geworfenheit« und »Jemeinigkeit« auf, die
seine frühe Heidegger-Lektüre leitete. In einem Gespräch, das
er 1975 an der Universität Leiden führte, erläutert Levinas sei-
nen Begriff der Stellvertretung wie folgt (der Kursivsatz mar-
kiert deutsche Ausdrücke im französischen Original):
»[Die] Individuation als Ich, das, wodurch es Selbstheit ist, das, wo-
durch es einmalig ist, ohne diese Einmaligkeit von einer ausschließ-
lichen Eigenschaft her zu beziehen, besteht darin, daß es zur Stell-
vertretung bezeichnet (dessigne) oder vorgeladen (assigne) ist, ohne
sich dem entziehen zu können. Durch diese unabwendbare Vor-
ladung entreißt sich dem >Ich< im allgemeinen, dem )Ich< als Begriff,
derjenige, der in der ersten Person antwortet - ich oder sogar von
vornherein im Akkusativ: >Hier sieh mich< (>Me voici<). Von diesem Ge-
danken her habe ich sogar bestimmte Passagen bei Heidegger besser
verstanden. (Heidegger Respekt zu bezeugen fällt mir nicht leicht, wie
Sie wissen; und zwar nicht, das werden Sie auch wissen, aufgrund
seiner unbestreitbaren Genialität.) Im§ 9 von >Sein und Zeit< wird das
Dasein in seiner Jemeinigkeit vorgestellt. Was bedeutet diese Jemei-
nigkeit? Dasein bedeutet, daß das Dasein zu sein hat. Aber diese
>Verpflichtung< zu sein (cette )Obligation< a etre). diese Weise zu sein,
ist eine Ausgesetztheit daran, zu sein (une exposition a etre). die so
direkt ist, daß es dadurch zu meinem wird! Es ist die Emphase dieser
Direktheit, die durch den Begriff Jemeinigkeit ausgedrückt wird. Die
Jemeinigkeit ist das äußerste Maß jener Weise, in der das Dasein dem
Sein unterworfen ist. Einige Zeilen weiter sagt Heidegger: weil das
Dasein Jemeinigkeit ist, deshalb ist es ein Ich. Er sagt keineswegs, daß
das Dasein Jemeinigkeit ist, weil es ein Ich ist; im Gegenteil, er gelangt
zum Ich von der Jemeinigkeit her, zu mir vom >Superlativ< oder der
Emphase dieser Unterworfenheit her, dieser Ausgeliefertheit an das
Sein« (GD 117f./146).
101
Die »Unterworfenheit«, die Levinas hier als »Ausgeliefertheit«
ins Deutsche übersetzt - und die er ebenso gut mit »Über-
antwortetsein« übersetzen könnte-, ist »l'assujettissement«:
die »Subjektivierung«. Das »Sub-« dieser Subjektivierung, die
nicht als ein Akt der Selbstermächtigung, sondern als Auf-
sieh-Nehmen einer Last gedacht ist, findet sich auch in dem
französischen Ausdruck »Substitution«. Dieser Anklang geht
in dem deutschen Ausdruck »Stellvertretung« verloren, muss
in ihm aber immer mitgehört werden. »Das Sich ist Sub-jec-
tum: es findet sich unter der Last des Universums - für alles
verantwortlich« (JS 256/147) .20
Levinas' später Rückgang auf die Subjektivität erschließt also
einen Bereich, in dem die »ganze Last des Seins« zu überneh-
men ist, in dem diese Last jedoch »im Anderen getragen und
ertragen wird« (JS 241/138, Anm.). Dabei gebraucht er die
Metapher des Tragens auf so vielfältige Weise, dass hier nur
zwei Grundrichtungen angegeben werden können, die von
einer eingehenderen Lektüre zu verfolgen wären.
Zu nennen sind zunächst Levinas' Ausführungen zur Schuld,
die unmittelbar Heideggers Gedanken eines »ursprünglichen
Schuldigseins« des Daseins aufnehmen, die Analyse dieses
Schuldigseins allerdings vor dem Hintergrund biblischer Texte
fortsetzen, in denen das Tragen als ein Tragen der Schuld der
Anderen erscheint. 21 Vor allem dem Motiv des Gottesknechts
im Buch Jesaja kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. So
heißt es im vierten Gottesknecht-Lied (Jesaja 53,4 in der
Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig):
102
je »eigenen« Schuld von Gott verhängt wird, sondern dass
auch und gerade der Gerechte für die Anderen leiden kann,
wird von den Kommentatoren immer wieder als ein Akt der
Befreiung gewürdigt, der den fatalen Kreislauf von Schuld und
Vergeltung durchbricht. 22 Entsprechend ist die strategische
Bedeutung der Überlegungen zu Schuld und Stellvertretung in
Jenseits des Seins mit derjenigen des ethischen Widerstandes
in Totalität und Unendlichkeit vergleichbar. Wie Levinas in
seinem ersten Hauptwerk versucht, den Kreislauf von Gewalt
und Gegengewalt zu durchbrechen, indem er einen nicht
gewalttätigen Widerstand denkt, so suspendiert er in Jenseits
des Seins den Kreislauf von Schuld und Vergeltung, indem er je
»mich« die Schuld aller tragen lässt. Alltagspraktisch heißt
das: Er suspendiert vor allem »mein« Recht, andere moralisch
zu beurteilen und abzuurteilen. 23 Dabei vergisst er nicht, dass
das Urteilen möglich bleiben muss, wenn es um die Einrich-
tung funktionierender gesellschaftlicher Institutionen geht.
Auf diesen Punkt wird im letzten Abschnitt zurückzukommen
sem.
Der zweite Hinweis betrifft ein Ensemble von Analysen, das
die Ausführungen zur Fruchtbarkeit aus Totalität und Unend-
lichkeit wieder aufnimmt und die Unausweichlichkeit der Ver-
antwortung in der Leiblichkeit des Subjekts verankert. Welche
Bedeutung diesen Analysen für das Verständnis der Subjekti-
vität in Jenseits des Seins zukommt, spricht Levinas sehr deut-
lich aus, indem er ein leibliches »Tragen« als »das Tragen
schlechthin« auszeichnet: die »Mutterschaft (maternite)«, die
»Schwangerschaft des Anderen im Selben (gestation de l'autre
dans lememe)« (JS 170f./95). 24
Wie der Begriff der Vaterschaft in Totalität und Unendlichkeit,
so ist auch dieser Begriff der Mutterschaft kein biologischer
Begriff. Er entspringt vielmehr einem Denken, das die Leib-
lichkeit als eine wesentliche Dimension der Subjektivität ernst
nimmt und die Verantwortung für den Anderen bereits auf
dieser elementaren Ebene einsetzen lässt: in der leiblichen
»Unmöglichkeit, sich zu entziehen« (JS 243/139). Lässt sich
103
die leibliche Dimension von Heideggers Geworfenheit als Ge-
borensein begreifen, so erweitert Levinas diese Dimension
um eine nicht weniger grundlegende Schwangerschaft des
Subjekts. Diese Schwangerschaft nimmt das Geschehen der
Veranderung, das Totalität und Unendlichkeit im Verhältnis
zwischen Vater und Sohn beschrieb, in das Subjekt selbst zu-
rück. Die nicht biologisch, sondern ethisch gedachte Schwan-
gerschaft ist der leibliche Musterfall einer Beziehung zum
Anderen-in-mir. Zugleich markiert sie das Extrem einer Ver-
antwortung für den Anderen, die beginnt, bevor ich siebe-
wusst übernehme, und deren ich mich nicht nach Gutdünken
entledigen kann. In dieser Unausweichlichkeit der Verant-
wortung liegt eine eigene Qualität, die Levinas sehr drastisch
betont, indem er den Anderen als den »Verfolger« bezeichnet,
für den ich auch als »Verfolgter« noch verantwortlich bin. So in
der folgenden Erläuterung des intransitiven, ethischen »Be-
deutens« der Verantwortung: »In der Mutterschaft bedeutet
die Verantwortung für den Anderen, die bis zur Stellvertretung
für die Anderen geht und bis zum Leiden sowohl unter dem,
was die Verfolgung bewirkt, als auch unter dem Verfolgen
selbst, an dem der Verfolger zugrunde geht. Die Mutterschaft -
das Tragen schlechthin - trägt auch noch die Verantwortung
für das Verfolgen des Verfolgers« (JS 171 /95).
Solche Formulierungen sind schon im Rahmen einer rein im-
manenten, ganz auf den philosophischen Gehalt gerichteten
Lektüre schockierend genug. Diesseits aller Bilder vom Mut-
terglück heben sie ganz auf den Ernst einer Beziehung ab, in
der der Andere mich mit der ganzen »Last der Bedürftigkeit
und Schwäche« belagert (JS 56/22). Dabei bleibt zu betonen,
dass es an keiner Stelle um die reale Beziehung irgendeiner
Mutter zu ihrem Kind geht. Der Status der Schwangerschaft in
Jenseits des Seins ist derselbe wie der der Schlaflosigkeit in der
Schrift Die Zeit und der Andere oder der der Vaterschaft in
Totalität und Unendlichkeit. Es geht um die unhintergehbare
Verantwortlichkeit der Subjektivität, und Levinas betont das
sehr deutlich, wenn er diese Verantwortlichkeit als eine Be-
104
ziehung zum Anderen beschreibt, in der ich diesen, auch
wenn ich ihn real »weder in meinem Schoß getragen noch
zur Welt gebracht habe«, immer schon »auf dem Hals« habe
(JS 204/ 115). 25
Die ganze Abgründigkeit der Rede von der Verfolgung durch
den Anderen liegt aber darin, dass es in Jenseits des Seins un-
möglich ist, sie nicht auch auf die Verfolgung der Juden durch
die Nationalsozialisten zu beziehen. Das Buch ist den Opfern
der nationalsozialistischen Verfolgung gewidmet 26 , ohne dass
diese Verfolgung auch nur in einem Satz zum Thema seines
philosophischen Diskurses gemacht würde. Damit zieht es
die Konsequenz aus der Einsicht, dass die überlebenden
nicht vom Schicksal der Ermordeten zeugen können, indem
sie schlichtweg »für sie« sprechen. Das Buch ist vielmehr
durchweg in einer Sprache verfasst, die dazu auffordert, in der
Verknüpfung von Subjektivität und Verfolgung und in der
Diachronie einer traumatischen Vorvergangenheit ein Zeug-
nis für jene Unterbrechung der Geschichte zu sehen, die Le-
vinas andernorts als einen »Tumor« in seinem Gedächtnis
bezeichnet (En 102). 27
Das macht die Lektüre von Jenseits des Seins zu einer Zumu-
tung, die sich durch keine einführende Erläuterung mildern
lässt. Liest man Begriffe wie »Verfolgung« und »Trauma« als
Strukturmomente der Subjektivität, so beraubt man sie ihrer
historischen Konnotationen und läuft Gefahr, die erlittene Ge-
walt, die in ihnen bezeugt wird, zu neutralisieren, indem man
sie zu einer quasi transzendentalen Bedingung von Subjekti-
vität erhebt. Liest man die Begriffe hingegen ausschließlich im
Liebte der Widmung, so verflüchtigt sich der Gehalt der philo-
sophischen Argumentation, die von sich her keinen Anhalts-
punkt für eine solche Leseweise bietet. Diese aporetische Situ-
ation kann in der Lektüre nicht aufgelöst, sie kann nur
ausgehalten werden. In ihr liegt die eigentümliche Geschicht-
lichkeit dieser Schrift, die das Vergangene nicht zum Thema
philosophischer Sätze macht, sondern in diesen Sätzen den
Anspruch des Vergangenen vernehmbar werden lässt, auf den
105
sie antworten. Zwischen der Erledigung des Vergangenen im
historischen »Wissen« und dem Verstummen angesichts des
Unsagbaren bleibt nur der Versuch, den Anspruch des Ver-
gangenen an die Gegenwart vernehmbar zu halten - oder aller-
erst vernehmbar zu machen. 28
Durch diese kalkulierte Mehrdeutigkeit sperrt sich Jenseits
des Seins stärker als andere philosophische Texte gegen eine
»konsistente« und geschlossene Interpretation. Da es aber
nicht der letzte Zweck philosophischer Texte ist, interpretiert
und in ihren Interpretationen bewahrt zu werden, wird sich
jeder, der den Gedankengang des Werkes aufnimmt, mit
der Frage auseinander setzen müssen, wie sich die Struktur
der Stellvertretung weiterdenken lässt, ohne eine Schreib-
weise zu imitieren, die niemand schlichtweg übernehmen
kann, der Levinas' Versuch des Zeugnisablegens ernst nimmt.
Dabei bietet der Ausgang vom Problem des Mitleids, das in den
religiösen und aufklärerischen Diskursen der abendlän-
dischen Philosophie gleichermaßen verbreitet ist, eine - wie
immer provisorische - Möglichkeit. Es sei hier also, eher ab-
brechend als abschließend, eine Passage des Kapitels zur
Stellvertretung zitiert, die den Ausgangspunkt unserer Über-
legungen ins Gedächtnis ruft: »[Die] Bedingung - oder die
Unbedingung - des Sich beginnt nicht in der Selbstaffektion
eines souveränen Ich, das nachträglich für den anderen >Mit-
leid empfindet<. Ganz im Gegenteil: Die Einzigkeit des ver-
antwortlichen Ich ist nur möglich in der Besessenheit vom
Anderen, im Trauma, das ich diesseits jeder Selbstidentifi-
kation erleide, irz einem nicht zu vergegenwärtigenden Zuvor«
(JS 274f./158).
106
Gerechtigkeit (Der Dritte)
107
der das »Von-Angesicht-zu-Angesicht« auf ein bloßes »Seite-
an-Seite« reduziert (ZA 64/88 f.).
Der erste und einfachste Einwand gegen diesen Gedanken ist,
dass der Andere konkret immer unter Anderen erscheint. 12 Die
reine Zweierbeziehung ist eine Fiktion. Darüber hinaus kann
die Notwendigkeit politischer Institutionen und rechtlicher
Instanzen, die eine grundlegende Gleichheit vor dem Gesetz
verlangen, nicht einfach mit dem Hinweis auf die unvergleich-
liche Singularität des Anderen zurückgewiesen werden. Die-
ser Einsicht folgt auch Levinas, indem er nicht das Singu-
läre dem Universalen entgegensetzt, sondern versucht, ))die
Universalisierung im Ausgang von der absoluten Singulari-
tät« zu denken. Als ))Dritter« wird der singuläre Andere selbst
zu einer Instanz, die die Gleichheit des Unvergleichlichen
ermöglicht. Diese Gleichheit nennt Levinas in der zitier-
ten Passage aus »Sprache und Nähe« auch »Brüderlichkeit«
(SpA 287 /232).
Die Brüderlichkeit ist zweifellos derjenige Teil der Losung
Liberte, Egalite, Fraternite, dem die geringste Wirkung be-
schieden war und der oft als ein untergeordnetes Moment von
Freiheit und Gleichheit betrachtet worden ist. 33 In Totalität
und Unendlichkeit markiert er hingegen die singulär-univer-
sale Beziehung, aus der allein sich eine nicht neutrale Gleich-
heit begründen lässt. »Entweder ereignet sich die Gleichheit
da, wo der Andere den Selben bestimmt«, heißt es im dritten
Kapitel des Buches, »oder die Gleichheit ist nur eine abstrakte
Idee und ein Wort« (TU 310/189).
Dabei bestimmt der Bezug auf den Monotheismus und der
Gedanke der Erwählung des Volkes Israel offenbar die ge-
schlechtliche Festlegung auf den Vater und die Brüder. Doch
ist diese geschlechtliche Festlegung kein wesentlicher Zug des
Arguments. 34 Denn es geht hier in letzter Konsequenz um jene
Beziehung des Kindes zu den Eltern, die immer eine einzig-
artige ist und es zugleich als Gleiches unter Gleiche stellt: »das
gezeugte Ich existiert gleichzeitig einzig auf der Welt und als
Bruder unter Brüdern« (TU 408/256). Das heißt aber: Mutter
108
oder Vater sind immer zugleich der Andere, der mich in seiner
Einzigkeit angeht, und der Dritte, der mich als Gleicher unter
Gleichen gerecht behandelt. Der Dritte ist nicht eine Figur, die
von irgendwoher zu der ethischen Zweierbeziehung »hinzu-
träte«; er ist eine Weise, in der mir der Andere begegnen kann
und ständig begegnet. In dem bereits zitierten Abschnitt über
»Den Anderen und die Anderen« heißt es: »In den Augen des
Anderen sieht mich der Dritte an - die Sprache ist Gerechtig-
keit<< (TU 307f./188).
Die Gerechtigkeit ist auch der leitende Gesichtspunkt, unter
dem Levinas den Dritten in Jenseits des Seins behandelt; und
auch dort betont er, der »Eintritt« des Dritten sei ein »fortwäh-
render Eintritt<<, der »nicht im empirischen Sinne« verstanden
werden dürfe (JS 348 f./204). Der Eintritt des Dritten ist nicht
das Hinzutreten einer realen Person, sondern eine Störung der
ethischen Zweierbeziehung, die der Forderung nach Gerech-
tigkeit entspringt. Denn wenn Gerechtigkeit möglich sein soll,
bedarf es der »gemeinsamen Gegenwart auf gleicher Ebene«,
des Vergleichs, der Gleichzeitigkeit, der Thematisierung, des
Urteils und insgesamt der »Gleichheit, wie vor einem Gericht«
(JS 343/200). Die Forderung nach Gerechtigkeit führt also zu
einem Umschlag der Diachronie in Synchronie, des Sagens ins
Gesagte und des Singulären ins Universale. Sie bewirkt eine
)>unablässige Korrektur« der Asymmetrie der ethischen Bezie-
hung und ermöglicht den »Umschlag des unvergleichlichen
Subjekts zum Mitglied der Gesellschaft« (JS 345/201 f.).
Die Forderung nach Gerechtigkeit provoziert den unausge-
setzten Eintritt des Dritten und markiert so den Übergang
vom Ethischen zum Politischen. Zugleich beh~ilt sie aber als
Forderung eine ethische Qualität und bindet das Universale an
das Singuläre zurück. Denn die Forderung, die es ermöglicht,
dass der Andere als »Gesicht unter Gesichtern« erscheint,
kann als Forderung nur vom Anderen ausgehen, sofern er
»einzigartiges Gesicht« ist. Das gesuchte Urteil verlangt die
Reduktion der Einzelnen auf ihre Taten, die gegeneinan-
der abgewogen und verglichen werden können. Doch dieser
109
Vergleich bleibt ein »Vergleich der Unvergleichlichen«, weil
er nicht durch sich selbst gerechtfertigt ist, sondern nur
»vom Anderen her« (JS 344 f. /201).
Entsprechend oszilliert Levinas' Argumentation zwischen
zwei widerstreitenden Bewegungen, die gleichursprünglich
und nicht weiter reduzierbar sind: zwischen dem »Eintritt des
Dritten«, der jegliche Universalität - nicht nur das gerechte
Urteil, sondern auch jede andere Form von urteilendem
Sprechen und jede wissenschaftliche Objektivität - ermög-
licht, und der Forderung des singulären Anderen, die diesen
Eintritt hervorruft. So unvermeidlich die singuläre Beziehung
zum Anderen in die Gleichheit vor dem Gesetz umschlägt, und
das ethische Sagen in das verstehbare, diskutierbare und
notierbare Gesagte des philosophischen Diskurses, so not-
wendig muss im gerechten Urteil und im philosophischen
Satz der Anspruch vernehmbar bleiben, der sie hervorrief.
»Die Gleichzeitigkeit der Vielen«, heißt es in einer der zen-
tralen Passagen des fünften Kapitels, »baut sich auf um die
Diachronie von Zweien: Die Gerechtigkeit bleibt Gerechtig-
keit nur in einer Gesellschaft, in der zwischen Nahen und
Femen nicht unterschieden wird, in der es aber auch unmög-
lich bleibt, am Nächsten vorbeizugehen; in der die Gleichheit
aller getragen ist von meiner Ungleichheit« (JS 347 /203).
Es kommt hier alles darauf an, die Simultaneität des »aber
auch« ernst zu nehmen, wenn Levinas' weitere Ausführungen
nicht missverstanden werden sollen. Denn seine Überlegun-
gen zum Dritten halten sich nicht nur in größtmöglichem
Abstand zu allen Theorien, die das Entstehen gesellschaft-
licher Ordnungen als einen Übergang von der »Natur« zur
»Kultur« fassen, der mit einer anfänglichen Eindämmung
triebhafter Sexualität und ungezügelter Gewalttätigkeit ein-
hergeht. Sie vermeiden es auch, diesem neuzeitlichen Mythos
einen anderen Mythos entgegenzusetzen. 35 Die Forderung
nach einer »Menschlichkeit ohne Mythen«, die Levinas zu den
wichtigsten Forderungen des Judentums zählt (DL 75), bleibt
auch in seinen späten Schriften in Kraft. Dort, wo Levinas sich
110
unmittelbar von den Theoretikern des ursprünglichen Krieges
absetzt, färbt deren Logik aber mitunter auf seinen eigenen
Diskurs ab. So kann der Eindruck entstehen, es ginge ihm
um eine alternative Ursprungserzählung, wenn er in unmit-
telbarem Anschluss an die oben zitierte Stelle schreibt, es
sei »nicht ganz unwichtig zu wissen, ob der egalitäre und
gerechte Staat[ ... ] aus einem Krieg aller gegen alle hervorgeht
oder aus der irreduziblen Verantwortung des einen für alle«
(JS 347 /203).
Es ist indessen kein Zufall, dass Levinas seine Rede vom Ein-
tritt des Dritten gerade nach dieser Passage zum »fortwähren-
den Eintritt des Dritten« präzisiert (JS 348/204). Der Dritte
begegnet nur im Gesicht des Anderen und der Andere immer
auch als Dritter. An der zitierten Stelle ist aber die Versuchung
besonders groß, die unauflösliche Zweideutigkeit von An-
derem und Drittem - von Verantwortung und Gerechtigkeit -
in das Nacheinander einer philosophischen Ursprungserzäh-
lung aufzulösen. Dieses Missverständnis gilt es zu vermeiden.
Indem Levinas den Eintritt des Dritten an die Forderung nach
Gerechtigkeit zurückbindet, die ihn - fortwährend - hervor-
ruft, formuliert er keine Hypothese über den »Anfang<< der
Gesellschaft, sondern versucht, Gerechtigkeit so zu denken,
dass die Gewalt, die zu ihrer Durchsetzung notwendig ist,
durch den Anspruch selbst begrenzt wird, der die Ordnung
der Gerechtigkeit hervorruft. In einem Gespräch aus dem Jahr
1982 formuliert Levinas diese doppelte Notwendigkeit der
Gerechtigkeit und ihrer Begrenzung wie folgt 36 :
»Es gibt ein gewisses Maß notwendiger Gewalt von seiten der Justiz;
aber wenn man von Justiz spricht, muß man Richter zulassen, muß
man Institutionen samt dem Staat zulassen; in einer Welt von Staats-
bürgern leben und nicht in der Ordnung des Von-Angesicht-zu-An-
gesicht. Doch im Gegenzug kann man nur vonseiten der Beziehung
zum Angesicht [... ] von der Legitimität oder Nicht-Legitimität des
Staates sprechen. Ein Staat, in dem die interpersonelle Beziehung
unmöglich ist, wo sie von vornherein durch den dem Staat eigenen
111
Determinismus dirigiert wird, ist ein totalitärer Staat. Es gibt also eine
Grenze für den Staat. Während man in der Vision von Hobbes - in
der der Staat nicht aus der Begrenzung der Liebe (limitation de la
charite), sondern aus der Begrenzung der Gewalt (limitation de Ja
violence) hervorgeht - für den Staat keine Grenze festsetzen kann«
(ZU 134f./115).
112
Anmerkungen
Einleitung
113
halten ist, war eine ausführliche Rezension von Husserls Ideen I
(vgl. IH 37-80).
3 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 17. Aufl., Tübingen 1993, S. 183.
4 Ebd., S. 8.
5 Ebd., S. 212.
6 Ebd., S. 42.
7 Ebd., S. 134.
8 Ebd., S. 284.
9 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in
die Phänomenologie, 2. durchges. Aufl„ Hamburg 1987, § 8, S. 22 f.
Ich zitiere den Text nach der von Elisabeth Ströker herausgege-
benen Einzelausgabe unter Angabe der Paragraphen- und Sei-
tenzahl, um den Abgleich mit der Ausgabe der Husserliana zu
erleichtern.
10 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phä-
nomenologischen Philosophie, 5. Aufl., Tübingen 1993, S. 91. Ich
zitiere auch diesen Text nach der gut zugänglichen Einzelausgabe
mit Paragraphen- und Seitenzahl (Kurztitel: Ideen I).
11 Vgl. Husser1, Cartesianische Meditationen, § 1.
12 Heidegger, Wegmarken, S. 106 f. und 118.
13 Ebd., S.109.
14 Vgl. ebd., S. 110 f. und den§ 40 von Sein und Zeit.
15 Ebd.,S.112.
16 Ebd., S. 111.
17 Levinas' »Denken des Anderen<< formuliert also nicht nur eine
Kritik der »Philosophie des Selben((, sondern wendet sich auch mit
dieser gegen jedes Denken der bloßen >>Teilhabe {participation)«,
»gegen die protestiert zu haben der Philosophie des Selben das un-
sterbliche Verdienst zukommt<<. Emblem dieser »Teilhabe« ist an
der zitierten Stelle die »Beziehung [ ... ], in der der vom Feuer an-
gezogene Schmetterling sich im Feuer verzehrt, wie die Mystiker
sagen« (SpA 197 /172).
18 Wiederaufnahme des Ausdrucks »revolte«: E 95; »sortir de l'etre
par un nouvelle voie((: E 127.
19 Vgl. hierzu das Nachwort der deutschen Ausgabe von Wolfgang
Nikolaus Krewani: ))Der versteinerte Augenblick. Zur Einführung
in E. Levinas, Vom Sein zum Seienden«, in: VS 127-171.
20 Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren
Zeitbewußtseins, Tübingen 1980 (unveränderter Nachdruck der
114
1. Aufl. von 1928). Das Beispiel der Melodie durchzieht von den
ersten Paragraphen an die gesamte Vorlesung.
21 Eine Darstellung dieser Analysen wird im folgenden Abschnitt be-
gonnen; um Überschneidungen zu vermeiden, kann das Problem
der Freiheit aber erst in der Lektüre der Schlusspassagen von To-
talität und Unendlichkeit wieder aufgenommen werden: s. u., »Ge-
nerativität und Vergebung«.
22 Heidegger, Sein und Zeit, S. 329.
23 Heidegger, Sein und Zeit, S. 250; zum »Ableben« vgl. ebd., S. 247.
24 Zur Bestimmung des Verstehens als »Seinkönnen« vgl. ebd.,
S.143.
25 Ebd., S. 260.
26 Ebd., S. 261.
27 Ebd„ S. 250.
28 Eine sehr hilfreiche Erläuterung der Besonderheiten des französi-
schen Ausdrucks »autrui« findet sich in Pascal Delhoms Studie
Der Dritte. Levinas' Philosophie zwischen Verantwortung und Ge-
rechtigkeit, München 2000, S. 78-81.
29 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes,
Hamburg 1988, S. 334f.
30 Ebd., S. 131.
31 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Die
Lehre vom Sein (1832}, Hamburg 1990, S. 101: »Aufheben hat in der
Sprache den gedoppelten Sinn, daß es soviel als aufbewahren, er-
halten bedeutet und zugleich soviel als aufhören lassen, ein Ende
machen.«
32 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhe-
tik I, Frankfurt a. M. 1986, S. 451: »Denn der Tod hat eine gedop-
pelte Bedeutung: einmal ist er das selbst unmittelbare Vergehen
des Natürlichen, das andere Mal der Tod des nur Natürlichen und
dadurch die Geburt eines Höheren, des Geistigen.«
33 Vgl. in diesem Zusammenhang die umfassende Studie von Sabine
Gürtler: Elementare Ethik. Alterität, Generativität und Geschlech-
terverhältnis bei Emmanuel Levinas, München 2001. Gürtler re-
sümiert das Thema der erotischen Beziehung in dem Werk Die
Zeit und der Andere mit den Worten: »Wie in einer Nußschale
findet sich das Denken von Levinas in diesen locker aneinander-
gefügten Vorlesungen versammelt« (206} und: »Die Spuren
dessen, was ihm später als wesentlich für die Beziehung zum
115
Anderen gelten wird, versammelt sein frühes Philosophieren im
>Geheimnis des Weiblichen<« (S. 208).
34 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der
Frau, übers. von Uli Aumüller und Grete Osterwald, Reinbek 1992,
S. 901 (Anmerkung zur Einleitung des Buches). Vgl. zu dieser
Stelle: Gürtler, Elementare Ethik, S. 210.
35 Vgl. Gürtler, Elementare Ethik, S. 269.
36 In Totalität und Unendlichkeit kommt es dabei zu einer deutlichen
Verschiebung in der Darstellung der erotischen Beziehung, die
nun nicht mehr als Inbegriff der sozialen Beziehung erscheint,
sondern in den Verdacht einer »asozialen« Privatheit gerät. Ent-
sprechend geht das Attribut der Einsamkeit, das in der frühen Vor-
lesung der Selbstgenügsamkeit des »mannhaften« Ich vorbehalten
war, an die Liebesbeziehung über: die erotische Beziehung ist
»Einsamkeit zu zweit, geschlossene Gesellschaft, das Nicht-
öffentliche schlechthin« (TU 387 /242). Diese Bestimmung mar-
kiert ein zentrales theoretisches Problem jedes Versuchs, die ge-
schlechtliche Liebe zum Paradigma sozialer Beziehungen zu
erheben. Wenn Levinas aber im unmittelbaren Anschluss an die
zitierte Stelle fortfährt: »Das Weibliche ist das Andere, das sich
gegen die Gesellschaft wehrt ... «, so deutet sich darin jener
Umschlag der Perspektive an, der Totalität und Unendlichkeit zum
bevorzugten Ziel feministischer Kritik gemacht hat. Sabine Gürt-
ler resümiert: »In den frühen Vorlesungstexten wurde das Weib-
liche als Ausgangspunkt der ethischen Alteritätserfahrung vor-
gestellt und mit der Begründung, daß die erotische Begegnung die
Unenthaltbarkeit des Anderen offenbare, gleichsam erhöht. In
Totalität und Unendlichkeit findet sich das Weibliche durch eine
Ungleichheit erniedrigt, die wiederum in der erotischen Begeg-
nung am deutlichsten hervortritt. Auf dem gleichen Schauplatz
kommt Levinas also zu ganz entgegengesetzten Resultaten«
(Elementare Ethik, S. 298 f.).
116
Ethik und Fremderfahrung
117
heit des Fremden und die Fremderfahrung«, in: Matthias Fi-
scher/Hans-Dieter Gondek/ Burkhard Liebsch (Hg.), Vernunft im
Zeichen des Fremden. Zur Philosophie von Bernhard Waldenfels,
Frankfurt a. M. 2001, S. 13-4S.
13 Husserl, Cartesianische Meditationen,§ SO, S. 111.
14 Ebd., S. 117; vgl. Bernhard Waldenfels' Erläuterung dieser Formel
in: Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt a. M. 1995,
S. S8.
1S Husserl, Cartesianische Meditationen,§ SO, S. 112.
16 Ebd.
17 Ebd., §SO, S. 112 f.
18 Ebd., § 51, S. 114-116.
19 Ebd.,§SO,S.112.
20 Ebd., § 56, S. 132.
21 Die Ökonomie der Darstellung verlangt hier eine Beschränkung
auf Levinas' dominante Haltung zum Begriff der Intentionalität,
die die frühen mit den späten Schriften verbindet. Dabei müssen
diejenigen Texte unberücksichtigt bleiben, in denen er versucht,
den Begriff der Intentionalität so weit auszudehnen, dass er auch
die Beziehung zum radikal fremden noch umfasst. Das gilt vor
allem für einige Schriften der späten fünfziger Jahre und einige
Passagen von Totalität und Unendlichkeit. Auch in seinen späte-
ren Texten würdigt Levinas immer wieder die Momente von Hus-
serls Analysen, die den Primat der Anschauung und des Wissens
unterlaufen, beharrt aber auf seiner Kritik, Husserl wende auch
die nicht objektivierenden Intentionalitäten letztlich immer »ins
Theoretische« (SpA 276/226). Auch die »axiologische« oder »prak-
tische« Intentionalität behält in Levinas' Augen immer den Cha-
rakter der »Erkenntnis« (SpA 282/229). Eine differenzierte Dar-
stellung des Problems im Durchgang durch alle Schaffensphasen
Levinas' gibt Jacques Rolland unter dem Titel »Les aventures de
l'intentionalite<< in: Parcours de l'autrement, S. 323-353.
22 Husserl, Cartesianische Meditationen,§ 44, S. 96. Vgl. zu dieser
Stelle Waldenfels, Deutsch-Französische Gedankengänge, S. 61:
»Der Ertrag der Husserlschen Konstitutionslehre hängt davon ab,
wie das Über dieser Überschreitung zu verstehen ist. Erreicht der
Aufbau der Anderen >mit den Mitteln des Eigenen< wirklich eine
Transzendenz, die nicht nur immanent ist, sondern meine eige-
nen Möglichkeiten definitiv übersteigt?<<
118
23 Ebd., § 52, S. 118; Hervorh. A. G.
24 Ebd., § 1, S. 3.
25 Vgl. zu diesem Motiv: Thomas Wiemer, Die Passion des Sagens.
Zur Deutung der Sprache bei Emmanuel Levinas und ihrer Rea-
lisierung im philosophischen Diskurs, Freiburg/München 1988,
S. 37-44. Stephane Moses, »L'idee de l'infini en nous«, in: Jean
Greisch/Jacques Rolland (Hg.), Emmanuel Levinas. L'ethique
comme philosophie premiere, Paris 1993, S. 79-101.
26 Rene Descartes, Meditationen. Dreisprachige Parallelausgabe La-
tein - Französisch - Deutsch, hg. von Andreas Schmidt, Göttingen
2004, S. 129. Die zitierte Formulierung findet sich nur im franzö-
sischen Text der Meditationen (in der von Adam und Tannery
herausgegebenen Standardausgabe der Werke Descartes, Bd. IX,
S. 36). Die deutsche Übersetzung der zitierten Ausgabe folgt dem
lateinischen Text der Meditationen, vermerkt die Abweichungen
des französischen Textes aber im Anmerkungsapparat.
27 Ebd„ S. 121.
28 Ebd„ S. 129.
29 Zur Asymmetrie der sozialen Beziehung vgl. z.B. TU 67 /24 und
311/190.
30 Bernhard Waldenfels bezeichnet diese zentrale Unterscheidung
zwischen dem Was der Aussage und dem Worauf der Antwort als
»responsive Differenz«: vgl. Antwortregister, Frankfurt a. M. 1994,
S.242.
31 Vgl. Wiemer, Die Passion des Sagens, S. 39: »Dem Anderen begeg-
nen heißt, selbst da, wo noch kein Wort gewechselt wäre, sich in
einer spachlichen Beziehung finden.<<
32 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 135.
33 Alexander Kojeve, Hegel. Kommentar zur Phänomenologie des
Geistes, übers. von !ring Fetscher und Gerhard Lehmbruch, Frank-
furt a. M„ 1975.
34 Zum Begriff eines responsiven Begehrens vgl. Waldenfels, Ant-
wortregister, S. 345. Zum Antwortcharakter des Begehrens bei
Levinas vgl. auch folgende Bemerkung von Ludwig Wenzler
(der »desir« mit »Verlangen« übersetzt): »Um die Eigenart des
Verlangens zu verstehen, muß man vielleicht ausdrücklicher, als
dies bei Levinas selbst geschieht, darauf hinweisen, daß das
Verlangen ganz und gar eine Bewegung des Antwortens ist, nur auf
den Anspruch des Anderen hingeordnet« (»Nachwort«, in: Emma-
119
nuel Levinas, Die Zeit lLnd der Andere, Hamburg 1995, S. 67-92,
Zitat: S. 79).
35 Vgl. zur Zweideutigkeit des Gesichts und zur Verankerung dieses
Konzepts in einer Phänomenologie der Leiblichkeit: Bernhard
Waldenfels, »Levinas and the face of the other«, in: Simon Critch-
ley /Robert Bernasconi (Hg.), The Cambridge Companion to Levi-
rws, Cambridge 2002, S. 63-81, vor allem 63, 65 und 71.
36 Husserl, Ideen I. § 19, S. 36.
37 Heidegger, Sein und Zeit, S. 147 und 171.
38 Vgl. ebd„ § 33, S. 154-160.
39 Vgl. zum »Versuch, die Verbindlichkeit des Nomos aus dem
Heteron eines fremden Anspruchs zu gewinnen<<, und zu Levinas'
Freilegung eines »Ethos in statu nascendi«: Waldenfels, Deutsch-
Französische Gedankengänge, S. 312 und 322.
120
hinter sich gelassen hat. Das eigentliche Erbe des Glaubenskrieges
tritt das Christentum an, dem die jüdische Unterscheidung zwi-
schen dem »politischen« Krieg gegen »sehr ferne Völker« und dem
Glaubenskrieg gegen die benachbarten »sieben Völker Kanaans<<
verlören gegangen ist: »Dem keine Grenzen duldenden Geist des
Christentums gemäß gibt es keine >sehr fernen< Völker. Was das jü-
dische Recht staatsrechtlich scheiden konnte, Glaubenskrieg und
Staatskrieg. das mischt sich in eins.« Gegenüber diesem »ständi-
gen Leben im Glaubenskrieg« erscheint der Jude als der »einzige
echte Pazifist«. Er hat ))seinen Glaubenskrieg in mythischer Ver-
gangenheit hinter sich liegen« und ist, so Rosenzweig, ))der einzige
Mensch in der christlichen Welt. der den Krieg nicht ernst nehmen
kann« (Der Stern der Erlösung, S. 367 f.).
7 Vgl. zu dieser doppelten Ablehnung von Assimilation und Zio-
nismus (und zu ihrer Wandlung in den Jahren nach dem Erschei-
nen des Stern): Moses, System und Offenbarung, S. 165.
8 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 12. Vgl. zu Rosenzweigs Re-
kurs auf die Souveränität des einzelnen Menschen und die ge-
nannte Parallele zum Judentum: Stephane Moses, »Rosenzweig et
Levinas: Au-dela de Ja guerre«, in: Archivio di Filosofia, Nr. 1-3
(1996), S. 785-797, hier: S. 791und794.
9 Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen,§ 55, S.125.
10 Auf diese paradoxe Situation des Krieges und auf die Schwierig-
keiten ihrer Darstellung in Totalität und Unendlichkeit weist be-
sonders Stephane Moses hin: vgl. ))Geschichte und Messianität«,
S. 52 f.
11 Maurice Blanchot, Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch
über Sprache. Literatur und Existenz, übers. von Hans-Joachim
Metzger und Bernd Wilczek, München/Wien 1991, S. 195.
12 Eine ausführliche Erläuterung dieses Satzes, die sowohl biblische
als auch literarische Texte einbezieht, bietet Werner Stegmaier, Le
vinas, Freiburg i. B. 2002, S. 129-177.
13 Robert Anleime, Das Menschengeschlecht, übersetzt von Eugen
Helmle, München/Wien 1987, S. 180.
14 Ebd„ S. 91.
15 Ebd„ S. 10.
16 Vgl. Blanchot, Das Unzerstörbare, S. 198 f.
17 Anleime, Das Menschengeschlecht, S. 305 f.
18 Jacques Derrida, »Gewalt und Metaphysik<~. in: Die Schrift und die
121
Differenz, übers. von Rodolphe Gasehe, Frankfurt a. M. 1976,
S. 121-235. Vgl. in diesem Zusammenhang: Hirsch, Recht auf
Gewalt?, S. 326 f.
19 Ebd., S.167 und 177.
20 Ebd., S.197.
21 Ebd., S.179.
22 Vgl. Hirsch, Recht auf Gewalt?, S. 332 f.
23 Dieser Begriff des Werkes ist nicht mit demjenigen zu verwech-
seln, den Levinas nur wenig später in der Spur des Anderen dar-
legt und als eine Form der »Beziehung zum Anderen« begreift
(vgl. SpA 216 f.).
24 Das zeigt schon die Tatsache, dass sich neben Totalität und Un-
endlichkeit noch eine zweite bedeutende Neuerscheinung des
Jahres 1961 polemisch auf diesen Begriff der Geschichte bezieht:
Michel Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft. Vgl. hierzu meinen
Aufsatz: »Unvernunft, Un-wahrheit, Unzeit: Blanchot, Foucault
und die Geschichte des Wahnsinns«, in: Internationale Zeitschrift
für Philosophie l /2000, S. 48-62.
25 Kojeve, Hegel, S. 46, 170 und 216.
26 Ebd., S. 216.
27 Ebd., S. 50.
28 Ebd., S.125.
29 Wolfgang Nikolaus Krewani macht auf eine ganze Reihe entspre-
chender Stellen in Levinas' frühen Schriften aufmerksam, betont
aber, dass sie in diesen Texten »philosophisch« noch »nicht aus-
gewiesen« sind. Vgl. Krewani, »Der versteinerte Augenblick« (in:
VS), S. 168 f.
30 Die Übersetzung folgt - nur geringfügig modifiziert - der Überset-
zung Krewanis (ebd.).
31 Zit. nach Günter Stemberger, Jüdische Religion, München 1995,
S. 84 (vgl. insgesamt zum Versöhnungstag: S. 83-86). Eine bedeu-
tende philosophische Auslegung des Ritus findet sich im zwölften
Kapitel von Hermann Cohens Religion der Vernunft aus dem Geiste
des Judentums, Leipzig 1919 (den zitierten Text des Babylonischen
Talmud kommentiert Cohen auf S. 259 f.).
32 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956,
B477undB472.
33 Blaise Pascal, Pensees, Paris 1953, V, 295.
34 Die Seitenzahl des französischen Textes bezieht sich hier nicht
122
auf De Dieu qui vient a l'idee, sondern auf den Aufsatz »De l'Un a
l'Autre«, in: Archivio di Filosofia, Nr. 51 ( 1983), S. 21-38.
35 Vgl. zu diesem Punkt: Delhom, Der Dritte, S. 257-268 und S. 273-
286.
36 Vgl. zu diesem gesamten Komplex: Werner Hamacher, »Intensive
Sprachen«, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.), Übersetzen: Wal-
ter Benjamin, Frankfurt a. M. 2001, S.174-235, vor allem: S.183,
185 und 204.
123
S. 54-60 und S. 99-109. Von der Kritik an Levinas, die sich bei
Waldenfels mit dieser Unterscheidung verbindet, wird noch zu
sprechen sein.
9 Blanchot, Das Unzerstörbare, S. 130.
10 Vgl. vor allem: Maurice Blanchot. L'espace litteraire, Paris 1955,
Kap. V: ))L'inspiration«. Zum Hintergrund der folgenden Über-
legungen verweise ich auf meine eingehendere Studie Das
Denken des Unmöglichen. Sprache, Tod und Inspiration in den
Schriften Maurice Blanchots, München 2005, vor allem Kap. III.3
und IV.4.
11 In Ethik und Unendliches verweist Levinas zur Erläuterung des
Begriffs der »Illeität« auf ein »Merkmal der jüdischen Mystik«: »In
bestimmten, sehr alten Gebeten, die durch die Autoritäten der
Antike festgelegt worden sind, beginnt der Gläubige damit, zu
Gott >DU< zu sagen und beendet den begonnenen Satz, indem er
>Er< sagt, so als wäre im Verlauf der Annäherung an das >Du<
dessen Transzendenz in >Er< erfolgt. Das ist es, was ich in meinen
Beschreibungen die >Illeität< des Unendlichen genannt habe«
(EU 81/ 102).
12 Den im Deutschen nur sehr schwer wiederzugebenden Ausdruck
»le remue-menage«, der das Umstellen der Möbel, aber auch allge-
mein Unordnung und Verwirrung bezeichnet, zitiert Levinas an
anderer Stelle als eine »Metapher Blanchots«: vgl. VS 12/ 10.
13 Vgl. Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, S. 98 und S. 147-149.
14 Ebd„ S. 58.
15 Jean-Jacques Rousseau, »Abhandlung über den Ursprung und
die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen«, in: Sozial-
philosophische und Politische Schriften, Zürich 1989, S. 37-161;
Zitate: S. 83 f. Vgl. Jean Jacques Rousseau, Discours sur l 'origine et
!es fondements de l'inegalite parmi les hommes, hg. von Jean
Starobinski, Paris 1969, S. 84 f. Die Frage nach dem Verhältnis der
zitierten Passage zu anderen Stellen in Rousseaus Schriften, die
dem Mitleid eine stärkere Abhängigkeit von der Überlegung
zuschreiben, muss hier ausgeklammert bleiben. Vgl. dazu die
Anmerkung des Herausgebers der französischen Ausgabe, ebd.,
S.217f.
16 Susanne Sandherr bemerkt ganz zutreffend, dass das Kernkapitel
von Jenseits des Seins auch »als Versuch einer Antwort auf das Rät-
sel des Mitleids gelesen werden kann« (Die heimliche Geburt des
124
Subjekts. Das Subjekt und sein Werden im Denken Emmanuel
Leuinas', Stuttgart/Berlin/Köln 1998, S. 164).
17 Vgl. zu diesem Punkt und zu dem vorliegenden Abschnitt insge-
samt: Bernhard Waldenfels, »Antwort der Verantwortung«, in:
Dentsch-Französische Gedankengänge, S. 322-345.
18 Vgl. hierzu Gürtler, Elementare Ethik, S. 149 und 166.
19 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 134 f.
20 Vgl. hierzu Wiemer, Passion des Sagens, S. 105-107.
21 Vgl. z.B. JS 248/142: »Die Einzigkeit des Sich besteht genau da-
rin: die Schuld der Anderen zu tragen.« Zu Heideggers Gedanken
eines ursprünglichen Schuldigseins vgl. § 58 von Sein und Zeit.
22 Vgl. z.B. Bernd Janowski, Stellvertretung. Alttestamentliche Stu-
dien zu einem theologischen Grundbegriff, Stuttgart 1997, vor al-
lem S. 17 f. und 67 f.
23 Eine sehr treffende Erläuterung dieses Gedankens unter Berück-
sichtigung der Parallelen zwischen Levinas und Nietzsche findet
sich bei Stegmaier, Leuinas, S. 164 f.
24 Zur Bedeutung des Begriffs der Mutterschaft in Jenseits des Seins
vgl. Gürtler, Elementare Ethik, Kap. 8 (S. 319-396) und Sandherr,
Die heimliche Geburt des Subjekts, Kapitel 6 (S. 161-186).
25 Vgl. zur Bedeutung dieser Stelle: Gürtler, Elementare Ethik, S. 395.
26 Der Text der Widmung lautet: »Dem Gedenken der nächsten Ange-
hörigen unter den sechs Millionen der von den Nationalsozia-
listen Ermordeten, neben den Millionen und Abermillionen von
Menschen aller Konfessionen und aller Nationen, Opfer desselben
Hasses auf den anderen Menschen, desselben Antisemitismus.«
27 Vgl. zu diesem Problemkomplex: Elisabeth Weber, Verfolgung und
Trauma. Zu Emmarwel Leuinas' »Autrement qu'etre au au-dela de
l'essence«, Wien 1990, vor allem Kap. 6 (S. 187-214).
28 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen zum »einge-
denkenden Schreiben« in: Wiemer, Die Passion des Sagens, S. 145-
154.
29 Vgl. zu diesem Punkt und zum Folgenden: Stegmaier, Levinas,
Kap. 7 (S. 201-211).
30 Eine Darstellung, die die Bedeutung des Dritten in zahlreichen
Aspekten von Levinas' Philosophie aufweist und auch eingehend
die Frage nach Levinas' Beitrag zur politischen Philosophie disku-
tiert, bietet Delhom, Der Dritte. Eine breitere sozial philosophische
Diskussion des Dritten, die neben Levinas auch Simmel, Freud,
125
Lacan und Sartre zu Wort kommen lässt, findet sich bei Bedarf,
Dimensionen des Dritten.
31 Eine Interpretation des Dritten, die alle drei Texte berücksichtigt,
bietet Robert Bernasconis Aufsatz »Wer ist der Dritte? Überkreu-
zungen von Ethik und Politik bei Levinas«, in: Bernhard Walden-
fels/ Iris Därmann (Hg.), Der Anspruch des Anderen. Perspekti-
ven phänomenologischer Ethik, München 1998, S. 87-110. Der
Aufsatz »Ich und Totalität« findet sich in ZU.
32 Das bemerken zum Beispiel Wiemer, Die Passion des Sagens,
S. l 17f., und Rolland, Parcours de l'autrement, S. 40.
33 Thomas Bedarf beginnt seine Ausführungen zum Problem der
Brüderlichkeit bei Sartre und Levinas mit dem Satz: »Die Ge-
schichte des Begriffs der Brüderlichkeit ist die Geschichte eines
Verlierers.« (»Andro-Fraternozentrismus - Von der Brüderlichkeit
zur Solidarität und zurück«, in: Thomas Bedorf/ Andreas Cremo-
nini (Hg.), Verfehlte Begegnung - Levinas und Sartre als philoso-
phische Zeitgenossen, München 2005). Bedorf behandelt sehr ein-
gehend, was hier nur angedeutet werden kann, die Lektüre seines
Aufsatzes sei also nachdrücklich empfohlen.
34 Delhom zieht daraus die Konsequenz, von »Eltern« und »Ge-
schwisterlichkeit« zu sprechen, um die Struktur des Arguments
nicht den Assoziationen bestimmter Geschlechterrollen zu opfern
(vgl. Der Dritte, S. 280-286). Bedarf weist dagegen sehr deutlich
auf die Gefahr einer »schleichenden Biologisierung« hin, der Levi-
nas zwar nicht erliegt. von der er sich aber zu schwach absetzt
(vgl. »Andro-Fraternozentrismus«, Abschnitt »Universalität«).
35 Vom »Mythos« des Krieges aller gegen alle spricht zum Beispiel
Hirsch, Recht auf Gewalt?, S. 63.
36 Vgl. zu dieser Stelle: Stegmaier, Levinas, S. 168 f. Die Übersetzung
folgt den Zitaten Stegmaiers.
37 Theodeor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem be-
schädigten Leben, Frankfurt a. M. 1987, S. 74 f.
38 Vgl. Robert Bernasconi, »Ethische Aporien: Derrida, Levinas und
die Genealogie des Griechischen«, in: Hans Dieter Gondek/Bern-
hard Waldenfels (Hg.), Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von
Jacques Derrida, Frankfurt a. M„ S. 345-384, hier: S. 350.
126
Kommentierte Bibliografie
127
IH Les irnprevus de l'histoire, Montpellier 1994 {hier zitiert nach
der Ausgabe der »biblio essais«).
JS Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. von
Thomas Wiemer, 2. Aufl., Freiburg/München 1998; frz.: Autre-
ment qu'etre ou au-dela de l'essence, Den Haag 1974.
SB Sur Maurice Blanchot, Montpellier 1975.
SF Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, übersetzt von
Eva Moldenhauer, Frankfurt a. M. 1992 (Teilübersetzung von
DL).
SpA Die Spur des Anderen, übers. von Wolfgang Nikolaus Krewani,
3. Aufl., Freiburg/München 1992; frz.: En decouurant l'exis-
tence avec Husserl et Heidegger, 5. Aufl., Paris 1994 (1. Aufl.
1949; 2., erw. Aufl. 1967}.
TU Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität,
übers. von Wolfgang Nikolaus Krewani, 2. Aufl., Freiburg/
München 1993; frz.: Totaliteet infini. Essai sur l'exteriorite, Den
Haag 1961.
VS Vom Sein zum Seienden, übers. von Anna Maria Krewani und
Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München 1997; frz.: De
l 'existence a l'existant, Paris 1981 ( 1. Aufl. 1947).
ZA Die Zeil und der Andere, 3. Aufl., übers. von Ludwig Wenzler,
Hamburg 1995; frz.: Le temps et l'autre, Paris 1983 (1.Aufl.
1948).
ZU Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen,
übers. von Frank Miething, München/Wien 1995; frz.: Entre
nous. Essais sur /e penser-aJautre, Paris 1991.
Diese Auswahl ist sehr begrenzt, mit einem starken Schwerpunkt auf
deutschsprachigen Titeln der letzten Jahre. Eine ausführliche Biblio-
grafie bietet Roger Burggraeve, Emmanuel Levinas. Une bibliographie
primaire et secondaire, Löwen 1990.
128
Seins. Dabei kommen Georg Simmel, Sigmund Freud, Jacques Lacan
und Jean-Paul Sartre ausführlich zu Wort. Der Zugriff auf Levinas'
Schriften ist selektiver als in monografisch angelegten Interpretatio-
nen, erlaubt es aber, die analysierten Gedankenfiguren auf einem sehr
breiten sozialphilosophischen Feld darzustellen und zu diskutieren.
129
sehen Denkens, die sonst nur selten im Hinblick auf den Dritten be-
handelt werden. Das Buch schließt mit einem Kapitel, das den Spuren
eines Denkens des Politischen in Levinas' Schriften nachgeht.
130
von Levinas' Ethik mit einem längeren Exkurs zur Beziehung zwi-
schen Levinas und Kant; der zweite bietet eine kurze und prägnante
Darstellung des Grundgedankens von Totalität und Unendlichkeit, die
die Eigenständigkeit des Buches betont und zeigt, dass sich auch und
gerade das erste Hauptwerk für ein Denken der Geschichte fruchtbar
machen lässt.
131
Wiemer, Thomas: Die Passion des Sagens. Zur Deutung der Sprache
bei Emmanuel Levinas und ihrer Realisierung im philosophischen
Diskurs, Freiburg/München 1988. - Die Monografie des Übersetzers
von Jenseits des Seins. Eine sehr elaborierte und nach wie vor grund-
legende Einführung in die Sprachphilosophie des zweiten Haupt-
werks, die auch Levinas' zwiespältiges Verhältnis zur Literatur aus-
führlich berücksichtigt.
132
Sch 1üssel begriffe
Der Dritte (le tiers) Die Instanz des Dritten markiert den Übergang
von der ethischen Zweierbeziehung zur sozialen Triade, in der
Gleichheit und Gerechtigkeit möglich werden. Er tritt nicht von außen
zur ethischen Beziehung hinzu. sondern begegnet im Gesicht des
Anderen.
133
gewaltsame Selbstverständlichkeit, mit der das freie Ich seinen Platz
in der Welt behauptet, und erzeugt das Bedürfnis, die eigene Freiheit
zu rechtfertigen.
134
Generativität siehe: Fruchtbarkeit
135
Diese Struktur lässt sich nicht in einem Vokabular des Fühlens und
des Mitleids fassen, sondern in einem Vokabular der Verpflichtung
und der Verantwortung. Das Subjekt steht von Anfang an in einer
Verantwortung für den Anderen, die es ))sich zugezogen« hat. bevor es
sich für oder gegen sie entscheiden konnte (siehe Verantwortung).
136
Zeittafel
137
1952 Erste Reise nach Israel. In den späten siebziger und frü-
hen achtziger Jahren wird Levinas noch einige Male
nach Israel reisen, seine Anerkennung als eigenstän-
diger philosophischer Denker bleibt hier aber aus.
1960 Beginn der Talmudlesungen, mit denen Levinas künftig
die - von ihm mit begründeten - »Kolloquien der Jüdi-
schen Intellektuellen französischer Sprache« schließen
wird.
1961 Totalität und Unendlichkeit. Das Buch war ursprünglich
nicht als akademische Arbeit geplant, Levinas reichte es
aber, auf Anraten Jean Wahls, für sein doctorat d'etat
ein. Er beginnt seine Universitätslaufbahn mit fünfund-
fünfzig Jahren.
1963 Schwierige Freiheit (2„ vermehrte Aufl. 1976).
1964-1976 Professur für Philosophie an der Universität Poitiers.
1967 Wechsel an die Universität Paris-Nanterre, 1973 an
die Universität Paris IV (Sorbonne), wo er bis zu seiner
Emeritierung im Jahr 1976 lehrt.
1974 Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht.
1982 Wenn Gott ins Denken einfällt.
1991 Zwischen uns.
1995 Levinas stirbt in der Nacht vom 24. auf den 25. De-
zember.
138