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Horst Dieter Rauh

Heilige Wildnis
Naturästhetik von Hölderlin bis Beuys

Wilhelm Fink Verlag


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Gedruckt mit Unterstützung der Johanna und Fritz Buch-Gedächtnisstiftung
Hamburg
034
Umschlagabbildung: Joseph Beuys, Hirsch (1956). Wasserfarbe
(Sammlung van der Grinten, Museum Schloß Moyland)

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahme

Rauh, Horst Dieter:


Heilige Wildnis : Naturästhetik von Hölderlin bis Beuys / Horst
Dieter Rauh. - München : Fink, 1998
ISBN 3-7705-3344-5

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der
Übersetzung, vorbehalten Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner
Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf
Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG
ausdrücklich gestatten
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l München J

ISBN 3-7705-3344-5
© 1998 Wilhelm Fink Verlag, München
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderborn
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INHALT

Vorwort

1. Landschaft mit stürzendem Ikarus 9

2. Ausgänge aus der Geschichte. Von Kant zu Levi-Strauss 37

3. Natur statt Geschichte. Sakralisierungsprozesse 64

4. Wildnisse - Von Hölderlin bis Beuys 99

5. Die Sphinx Natur oder Auf Rätselsuche 132

6. Das illuminierte Chaos 150

7. Baum der Erkenntnis, Wälder des Begehrens 183

8. Das Feuer und die Wunde. Rot bei Matisse und Kafka 222

9. Gott-Opfer und heilige Jagd 236

10. Vergänglichkeitszauber 267

11. Das ferne Land 297

12. Sinnhonzont Natur. Ästhetische Rettungsversuche 325

Bibliographie 354

Personenregister 365
Vorwort
Unübersehbar bahnt sich am Ausgang der Moderne ein Paradigmenwechsel
an: von der Fortschrittsgeschichte, deren Aporien zutage treten, hin zum
Sinnhorizont Natur. Dem Legitimationsschwund der Geschichtsphiloso-
phien, diskreditiert von der Geschichte selbst, entspricht das Vordringen eines
im weitesten Sinne naturreligiösen Denkens. Mit wachsender Beherrschung
der Natur wird nach Ausgängen aus der Geschichte gesucht. Seit der Roman-
tik konstituiert sich - gegenläufig zum Prozeß der Zivilisation - eine eigene
Naturästhetik, die sich auf „Epiphanien", auf die Erfahrung von Sakralität
noch im Chaotischen, Gewaltsamen, Wilden beruft. Im Fortgang der Säkulari-
sierung von Kultur bietet sich Natur, verdichtet zur „Wildnis", als letzte Zu-
flucht des Heiligen dar. Solche Sakralisierungsprozesse setzen mit Hölderlin
ein, der das Schlüsselwort „heilige Wildnis" prägte, und reichen über
Nietzsches Dionysos-Komplex bis hin zur Remythisierung von Natur bei
Joseph Beuys. Angesichts der planetarischen Herrschaft der Technik, deren
Signaturen Ernst Jünger beschrieb, ist Natur nur noch ästhetisch zu bewah-
ren. So greift der Motivkreis der „heiligen Wildnis" moderne Entfremdungs-
erfahrungen und Sinnbedürfnisse auf. Dem Vanitasblick von Leopardi über
Benn bis zu Zanzotto, der Natur als verfallende wahrnimmt, begegnet die
Utopie des „fernen Landes". In solcher Rückkehr des Paradiesmotives erlebt
Natur ihre ästhetische Rettung.
Das Thema gewann Gestalt durch mein Akademiekolloquium
mung der Natur. Von der Romantik bis %ur Gegenwart im Dezember 1991 in
Nettetal. Germanisten, Kunsthistoriker und Philosophen diskutierten den
Langzeitprozeß einer Neubewertung von Natur seit Goethe und Nietzsche,
den Wolfgang Frühwald (München) dort auf den Begriff „ästhetisches Ver-
trauen" brachte. Weitere Klärung schuf das Seminar Hölderlin — Mythologie der
Natur mit Bernhard Böschenstein (Genf) im Juli 1993, wieder in Nettetal,
der mich auf P.J.Jouve hinwies. Das Erlebnis, Yves Bonnefoy in Aachen
lesen zu hören, bewog mich, ihn als Gewährsmann aufzunehmen. So er-
gaben sich vielerlei Inspirationen. Auch berechtigter Dank ist abzustatten: an
Prof. Dr. Detlef Kremer (Münster), geschätzter Referent auf meinen Lite-
turtagungen, der das Manuskript freundschaftlich-kritisch las, als Gutachter
für Druckkostenzuschuß sorgte und beim Thema nicht nur die immanente
Kritik der Moderne, sondern auch die Rückkehr zu einer Ästhetik des Erha-
benen wahrnahm; ebenso an Frau Marieluise Labrie M.A. (Aachen) für ihre
Mühe bei Textherstellung und Formatierung. Widmen möchte ich das Buch
dem Gedächtnis meines Vaters, der mir Geschichte und Natur erschloß.
Deshalb Piae memoriae patris.

Aachen, im Juni 1998 Horst Dieter Rauh


Und es wurzelt vielesbereitend heilige Wildnis.

Hölderlin, Die Titanen

O let them be left, wildness and wet;


Long live the weeds and the wilderness yet.

G.M.Hopkins, Inversnaid
1. Kapitel
Landschaft mit stürzendem Ikarus

Tu meno esperto che quando l'uccello fa il nido.

A.Zanzotto, Loghion

Daß Natur zum Reservat des Heiligen wird, daß eine Mythologie der Ver-
nunft die Wiedergeburt der Religion einleitet, daß eine radikale Ästhetik der
Natur ihre eigene Sinnordnung konstituiert, imstande, die Sinninstanz Ge-
schichte abzulösen, gehört zu den Paradoxien der Moderne. Denn Entmo-
dernisierung ist selbst ein Produkt der gealterten Neuzeit. Diese, obschon
politisch, technisch und ästhetisch im Zeichen des Fortschritts verfaßt, trieb
aus sich selbst — seit Nietzsche — den antihistorischen Affekt heraus. Er fin-
det sich bei so verschiedenen Geistern wie Benn, Levi-Strauss und Ernst
Jünger. Sie haben auf eine antibürgerliche Ästhetik gesetzt, auf den Vorrang
der Natur vor der Geschichte, auf jene Kreativität, die in den Spielen des
Mythos sich spiegelt. Selbst Beuys, der einflußreichste Künstler des ausge-
henden 20Jahrhunderts, hat diesen Antihistorismus, wenn auch verdeckt,
gepflegt und seine Naturästhetik wie ein Schamane verkündet.
Der Vorgang, der den tradierten Begriff der Geschichtlichkeit im Hori-
zont der Natur selbst auf die Probe stellt, kommt einer Umwertung aller
Werte nah; er wäre ohne Hölderlin und Nietzsche so nicht denkbar. Beide
wirkten mit an jener tiefgehenden Transformation des Griechischen und
Christlichen, die aller Säkularisierung zum Trotz ein religiöses Potential am
Leben hielt, ja neue mythopoetische Energien entband. In beiden begegnen
sich Dionysos und Christus — ein Widerspruch, wie er nicht fruchtbarer und
zerreißender sein könnte. Seit Hölderlin und Nietzsche gehört das Wilde zu
den Metamorphosen und Masken des Heiligen. Das Heilige aber liebt die
Verhüllungen; als Manifestes könnte es gar nicht „hervortreten". Bei
Hölderlin wird dies Hervortreten primär im Symbolraum Natur wahr-
genommen, doch in befremdender, nicht in vertrauter Natur; so entstand
die Ästhetik der „heiligen Wildnis".
Angelegt ist sie bereits in der Bibel und in den griechischen Mythen. Als
Erscheinungsraum des Gottes füngiert die numinose Landschaft. Sie ist der
Ort des Undomestizierten. Im Alten Testament ist dies zuerst der üppig und
unschuldig wuchernde Garten Eden, danach die Wüste, der brennende
Dornbusch, der heilige Berg. In den Mythen, die um Dionysos kreisen, ist es
die von den Bacchanten durchschwärmte Bergwelt außerhalb der Polis, ein
10

Raum ritueller Gesetzlosigkeit, wo die Gotterfüllten wilde Tiere zerreißen


und verzehren. So wie der biblische Gott der Lebendige ist, Herr aller
Mächte und Gewalten, unbezähmbar in seinem Eifer und seiner Schöpfungs-
lust, gekommen, um Feuer auf diese Erde zu werfen (Lukas 12,49), so ist
Dionysos — mit dem Beinamen Zagreus, der „lebendig Fangende" - der
heilig wilde Gott, das „Urbild unzerstörbaren Lebens" 1 .
Aber das Göttliche kennt nicht nur Epiphanien. Es ist auch eines, das
sich verbirgt und gesucht werden will. Natur, als transzendent erlebt und
wahrgenommen, wird zum sakralen Raum, durch den Passion und Opfer,
Tod und Auferstehung ihre Spuren ziehen. Der griechische Physisbegnff
verdichtet sich in jenem berühmten Fragment Heraklits, das Heidegger
kommentiert hat: „Natur liebt es, sich zu verbergen" 2 . Heideggers Deutung
verbindet Physis, gemeinhin mit Natur, von ihm jedoch mit Wachstum über-
setzt, mit einem Sein, das im Entbergen sich verbirgt: „Physis ist das aufge-
hende In-sich-zurück-Gehen" 3 . Dieses Wechselspiel von offenbarer und
verborgener Sinnpräsenz hat Hölderlin im Bilde des Meeres poetologisch
erfaßt

Es nehmet aber
Und gibt Gedächtnis die See,
Und die Lieb' auch heftet fleißig die Augen,
Was bleibet aber, stiften die Dichter.4

Das Ebben und Fluten des Meeres in Andenken, die Doppelbewegung eines
Unendlichen, enthält das natürliche Pathos einer unstillbaren Unruhe, die
zugleich unstillbare Aktivität ist. Das Meer, ein sonst bei Hölderlin seltenes
Bild, bezeichnet hier Ausgriff ins Weite, Wagnis und Gefahr. Diese See ist
der schwankende Spiegel der Psyche, die fasziniert ist von der dionysischen
Gewalt der Elemente, doch zwischen Selbstgewinn und Selbstverlust keinen
Halt hat. Die nächste Entsprechung zum Fasziniertsein am Rande des
Scheiterns, am Rande des „mare mundi", ist C..D.Friedrichs Mönch am Meer6.
Der Mönch am Meer aber — das ist um 1800 ein melancholischer Ikarus vor
seinem Sturz. Kein Zufall, daß Hölderlin, Zeitgenosse eines ikarischen Hö-
henflugs der autonomen Vernunft, das Sinnbild des Meeres wählt, ja ein Da-
sein am Rande des Scheiterns suggeriert. Was bleibt, ist nicht der Aufbruch
ins ewig Ungewisse, sondern das Werk der Dichter — ein Posthumes. Auch

1
Kerenyi 63 - 68; Girard 187-210
2
Heraklit, Fragm.123 (Snell 36): (puoic. KpunteoSat (plAet (physis kryptesthai philei)
Dazu Heidegger, Wegmarken 370f.
3
Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung 56. Vgl. Vattimo, Jenseits vom
Subjekt 109f.
4
Hölderlin, Andenken V. 56-59 (Gedichte 392)
5Hamlinl27. 136
11

wenn die Liebe fleißig Ausschau hält: was das Gedächtnis rettet, sind Reli-
quien. Vom Fluge des Ikarus bleiben die Verse Ovids.
Anders Goethe. Sein Euphorion huldigt zwar dem schönen Eskapis-
mus, aber der Dichter selbst hat ästhetisches Zutrauen zum Hin und Her des
Meeres, weil er darin das lebenspendende Geschenk, ja mit Thaies eine Welt-
formel erkennt: „Alles wird durch das Wasser erhalten, / Ozean gönn' uns
Dein ewiges Walten" 6 . An diesem Ozean geht auch der Absturz Euphorions
spurlos vorüber. Vergeblich warnen Faust und Helena, zusammen mit dem
Chor, den Übermütigen. Daß er ein Kind der Liebe ist, rettet ihn nicht. Ihm
wird das hypothetisch lockende „Dorthin!" zum kategorischen Imperativ des
Abenteurers: „Dorthin! Ich muß! Ich muß! / Gönn't mir den Flug"7. Dem il-
luminierten Triumph des Augenblicks im Reich der Freiheit folgt der meteo-
rische Absturz ins Reich der Notwendigkeit. Am Ende holt sich der Mythos
das Seine, die Illusion beendend: „Ikarus! Ikarus! / Jammer genug" 8 . Goethe,
bei aller Anteilnahme solch byroneske Abenteuer aus sicherer Entfernung
kommentierend, beläßt es bei dieser Warnung im klassischen Genre.
Hölderlins Poetik des Dionysischen bricht mit den Paradigmen des Er-
habenen, mit aufgeklärter Naturfrömmigkeit: sie spannt das Wilde mit dem
Heiligen zusammen. „Die Natur als erhaben über die ganze onentalisch-
hesperische Geschichtsfolge bringt in ihrem Erwachen etwas zum Vor-
schein, was vor dieser Geschichtszeit war, das .heilige Chaos', den von Höl-
derlin der Zeit entgegengesetzten saturnischen Grund" 9 . Das hat ästhetisch
Folgen - bis hin zu Nietzsches Dionysos-Dithyramben, in denen Aufflug und
Sturz sprachlich wie gestisch verschmelzen, weil Narr und Dichter mime-
tisch zu einer Figur werden. Das Heilig-Wilde, aus der Vernunftreligion ab-
gedrängt in die Natur, verlangt nach einer eigenen Wahrnehmung. Sie gilt
einem Gewaltsamen, Fremden, Unvermittelten, das umso mehr fasziniert, als
es im Vorgang der „Ekstasis" heraustritt aus bislang verborgener Anwesen-
heit. Historische Vernunft ist freilich genötigt, dergleichen wildes Denken
unter Metaphysikverdacht zu stellen; denn Aufklärung ist immer Domesti-
zierung. Zugeschärft: die „civil society" ehrt keine öffentlichen Götter mehr;
nichts kann ihr ferner liegen als die antike Polisreligon. Die neuzeitliche
Technik kennt zwar Titanen, aber keine Götter. Doch ist es ihr gelungen,
Täler zu füllen und Berge einzuebnen und — was entscheidender ist — Kultu-
ren zu nivellieren. „Die Technik ist unsere Uniform"- so E.Jünger schon
1934 in seinem Essay Über den Schmer^0. Das Zitat kehrt sechzig Jahre später

6
Faust 11,2 Klassische Walpurgisnacht: Felsbuchten des ägäischen Meeres V.8436f.
(Schöne 333)
7
Faust 11,3 Arkadien, V.9899f. (Schöne 383)
»Ebd. V. 9901 f.
9
Böschenstein, Frucht des Gewitters 118
10
Jünger, Sämtliche Werke VII (Stuttgart 1980) 174
12

beinahe wörtlich wieder11. Zu solcher Art von totaler Mobilmachung bedarf


es inzwischen keines Krieges mehr. Die universalhistorischen Fortschritts-
entwürfe, auf selbstgewisse Naturbeherrschung gründend, haben für zwei-
hundert Jahre die Paradigmen gestellt. So lange währt schon der Flug des
neuen Ikarus. Was ihn trägt, die Technik, ist sein historisches Geschick. „Es
fragt sich aber, ob die historische Perspektive genügt oder ob wir nicht am
Ende und schon außerhalb der Geschichte stehen. Viele Anzeichen sprechen
dafür, daß eine Erdrevolution die Weltrevolution umschließt und bestimmt.
(...) Diese Perspektive wird zunehmend akzeptiert, ja sogar populär" 12 .
Fortschrittsglaube und Erkenntnisoptimismus, geschichtstheoretisch
begründet, erzeugten jene geschichtliche Dynamik, die von Europa aus indu-
strielle und politische Revolutionen in die Welt trug. Doch inzwischen ist die
Moderne, das Zeitalter des Arbeiters gealtert; sie verwandelt sich vor unseren
Augen in ein historisches Phänomen. Der Glaube an die Erkenntnis der
Natur als Ganzes erweist sich als brüchiger Idealismus; gerade die von der
Wissenschaft erzwungene Spezialisierung hemmt die Zusammenschau. Die
leidige Subjekt-Objekt-Spaltung, worin die Natur seit Descartes zum Objekt
degradiert wird, war schon für Goethe suspekt: „Bei Betrachtung der Natur
im großen wie im kleinen hab' ich unausgesetzt die Frage gestellt: Ist es der
Gegenstand oder bist du es, der sich hier ausspricht?" 13 Naturbefragung,
stets kulturell vermittelt, bleibt Selbstbefragung des Menschen, der in Natur
sich selber wahrnimmt. Auch deshalb hat die Chiffre Natur ihre Strahlkraft
und Suggestion bewahrt. Die ökologische Bewegung im letzten Viertel des
20Jahrhunderts bewirkte eine Umwertung der Werte, die häufig bis zur
Technikfeindschaft geht. Natur als Lebenswelt wie als Medium ästhetischer
Erfahrung gerät neu in den Blick. Zugleich gibt es überraschende Aktualisie-
rungen: Der Legitimationsschwund der Geschichtsphilosophien (und der mit
ihnen verbündeten Politik) erlaubt die Frage, ob an der Schwelle zum dritten
Jahrtausend sich nicht ein Paradigmenwechsel vorbereitet — von der Instanz
Geschichte zur Natur hin, die alle Aussicht hat, zum neuen Sinnhorizont zu
werden.
Denn die Geschichte der Naturbeherrschung war bisher gleichsam Ko-
lonialgeschichte. Nicht umsonst hat Nietzsche, der Kritiker der historischen
Vernunft, schon gegen Ausgang des 19Jahrhunderts den Übermut des Tita-
nismus präzise benannt: „Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur,
unsre Natur-Vergewaltigung mit Hilfe der Maschinen und der so unbedenkli-
chen Techniker- und Ingenieurs-Erfindsamkeit" 14 . Freilich hat die Moderne,

" Jünger, Prognosen 34


12
Ebd. 32f.
13
Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre. Betrachtungen im Sinne der Wanderer
(HA 8, 306)
14
Nietzsche, Zur Genealogie der Moral III, 9 (KSA 5, 357)
13

die von der Innovation lebt, inzwischen sich selbst überholt und jene Kräfte
geweckt, die sie nötigen, sich selbst zu transformieren, wenn es Geschichte
noch geben soll.
Die Kritik an der Hybris des Ikarus ist älter als die Industriegesellschaft.
Bereits die Renaissance gibt ihr die gültige Form. Einer der großen Maler des
lö.Jahrhunderts, der ältere Pieter Bruegel, hat den Höhenflug und Sturz des
Ikarus (Brüssel, Musee des Beaux-Arts) in ein beredtes Lehrstück übersetzt15.
Vorlage war der Bericht in den Metamorphosen Ovids. Dort unterweist Däda-
lus, der Erbauer und der Gefangene des Labyrinths, seinen Sohn in der ge-
fahrvollen Kunst, die nicht nur die Technik des Fliegens, sondern mehr noch
die Ethik des mitderen Weges — zwischen den Extremen Feuer und Wasser
— erfordert. Der Flug ist wie ein Wunder:

Hos aliquis tremula dum captat harundine pisces,


aut pastor baculo stivave innixus arator
vidit et obstipuit, quique aethera carpere possent,
credidit esse deos.

Wer sie erblickt, ein Fischer vielleicht, der mit schwankender Rute
angelt, ein Hirte, gelehnt auf den Stab, auf die Sterzen gestützt, ein
Pflüger, sie schauen und staunen und glauben Götter zu sehen,
da durch den Äther sie nahn.16

Rechts unten in einer Weidandschaft, die - ins Licht einer sinkenden Sonne
getaucht - Himmel, Erde und Ozean umfaßt, ereignet sich der Fall des ge-
flügelten Menschen, dem die Techne zum Verhängnis wurde. Es ist die
gewaltsame Rückkehr des Menschen ins Reich der Natur, über das er sich
selbstherrlich erheben wollte. Das Meer nimmt ungerührt den auf, der auf
seiner kunstvoll geplanten Flucht durch die Lüfte der Sonne zu nahe kam, so
daß das Wachs der Flügel schmolz. Die Elemente Feuer und Wasser ver-
bünden sich gegen den Menschen. Der Sturz ist kein Unfall, sondern - so
Bruegel - eine Züchtigung. Unüberbietbar der Realismus, mit dem er die Fi-
guren Ovids umdirigiert. Der Angler am Meer, der Schafhirte, der Pflüger
nehmen den Verunglückten nicht wahr, der da kopfüber ins Wasser stürzt.
Der Maler zeigt uns, daß dieser Flug ein müßiges Spiel, ein Traum, ja mehr:
ein Wahn ist. Er spielt auf jene flämischen Sprichwörter an, die den Höhen-
flügen der Träumer die Solidität alltäglicher Arbeit entgegenhalten17.
Bruegels Wirklichkeitssinn, der den Stachel des Traums nicht entfernt,
nimmt gegen das „historische Ereignis" Partei für den Alltag. Zugleich ist er

15
Dazu Lacarnere 121 ff.
16
Ovid, Metamorphosen VIII, 217-220, dt. von E.Rösch (München 1961) 286/87
17
Lacarnere 124f.
14

ein Lobpreis des Irdischen. Denn es ist Wahn, in den Wolken zu suchen, was
man vor seinen Füßen finden kann. Der Sturz des Ikarus, ein Gleichnis von
mythischem Rang, markiert die Folgen der Risikogeschichte; er gehört aber
auch in die Geschichte des Schmerzes. Der Vater Dädalus, der die Technik
des Fliegens ersann, entkommt dem selbstgebauten Labyrinth; doch muß er
den Sohn dafür opfern. Umsonst hat Karl Löwith um 1960, als der
bemannte Raumflug im Wettlauf der verfeindeten Systeme eine neue Realität
ankündigte, in seinem Aufsatz Vom Sinn der Geschichte Bruegels Jahrhundert-
bild zitiert18. Das Sinnbild wurde nicht wahrgenommen. Für Löwith prophe-
zeit dieser Sturz das Ende der „Weltgeschichte" und darin den lautlosen Sieg
der Natur über das Menschenwerk. Vor ihrer Allgegenwart wird die Ge-
schichte zu etwas Ephemeren.
Der Höhenflug scheitert, weil alle Techne logischerweise ihre Grenzen
hat, und weil die „Verzifferung" (E.Jünger) falsch ist. Das blinde Vertrauen
in die Software ist die aktuelle Form der Hybris; man delegiert den Sinn an
das Programm. Im Bilde vom Sturz des Ikarus zeigt der Mythos sein kriti-
sches Potential. Der Verführung des luftigen Abenteuers erlag freilich schon
Nietzsche, als er unter dem Stichwort „Wir Luft-Schiffahrer des Geistes"
den Höhenrausch des Fluges in leere Unendlichkeit pries — „dorthin, wo
bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind"19. Das „Dorthin!"
des Euphorion geistert hier als Reflex noch nach, Ausdruck des Wunsches,
der Einengung des Lebens zu entkommen, und sei es im Nirgendwo; noch
die Chiffre des Untergangs beflügelt. Die Bereitschaft, gefährlich zu leben,
gehört zur Mentalität der Moderne. Die Katastrophe, wie nach zwei
Großkriegen Jünger kühl bilanzierte, hat ihren Platz in der Welt. Sie zählt
metahistorisch zur großen Didaxis, ja sie ist Voraussetzung für jede Wende.
Endzeit ist Wendezeit: „denn die Schere schneidet am schärfsten, wenn sie
sich zu schließen beginnt"20.

Der Sturz des Ikarus wird Teil jener Naturästhetik, mit der die Moderne ihre
Sinnsuche maskiert. Ästhetik meint zunächst - im Wortsinn von Aisthesis -
sinnliche Wahrnehmung, Anschauung, doch so, daß darin Einsicht, Er-
kenntnis aufscheint. Der Begriff des Schönen, seit Kants Kritik der Urteilskraft
regulär an Ästhetik geknüpft, ist für uns nachgeordnet. Mit radikaler Natur-
ästhetik verbinden wir eher die von Hölderlin, Hegel und Schelling vertre-
tene Auffassung, daß in Natur sich ein Göttliches zeigt. Denn jede unver-
stellte Wahrnehmung der Natur - in der Terminologie von Martin Seel als

» Löwith 314
» Nietzsche, Morgenröte V, 575 (KSA 3, 331)
20
Jünger, Prognosen 38
15

kontemplative Aufmerksamkeit, korresponsive Vergegenwärtigung und


bildhafte Imagination21 - rührt auch an Ethisches, an Kunst und Religion.
Damit ist ein Sinnhorizont mit angesprochen: Natur, insofern die Idee in ihr
ästhetisch wird, ist Ort einer „sinnlichen Religion". Deshalb erkennt das älte-
ste Systemprogramm des Idealismus den höchsten Akt der Vernunft im
ästhetischen Akt22. Die neue Mythologie um 1800 bezieht ihre Rechtferti-
gung aus der Selbstoffenbarung des Schönen. Das Ästhetische an der Natur
ist ihre Evidenz, etwas das Gernot Böhme ihr „Sichselbstpräsentieren" ge-
nannt hat: „Hervorzutreten ist ein ,Charakterzug' von Natur" 23 . Doch bedarf
es dazu des Subjekts, das diesem Hervortreten antwortet, so wie die Sonne,
nach dem Goethewort, im sonnenhaften Auge des Menschen hervortritt.
Diese Erscheinung hat G.Böhme, an die Wahrnehmungstheorie des Aristo-
teles anknüpfend, als „Ekstase" bezeichnet. Die Gestalt (das Eidos) zeigt
sich in der Ekstase als etwas „Aufgehendes". Dies setzt ein bestimmtes Me-
dium, eine bestimmte Sphäre der Anwesenheit voraus. Das Medium spielt
hin und her zwischen Naturding und Sinn. Es kann Fremdheitserfahrung,
Suche nach Ursprung und Ganzheit, auch Geschichtsflucht und Melancholie
sein. Nur im Medium kann die Gestalt sich sinnhaft präsentieren. Die Ek-
stase ist das Aufgehen der Gestalt in ihrem Medium24.
Solche Ekstase der Natur, die im Medium eines komplexen Seelenzu-
stands sich ereignet, hat Tolstoj in seiner Geschichte Die Kosaken (1863) fest-
gehalten. Einer der größten Erzähler des 19Jahrhunderts, dessen Realismus
zu Recht mit Homer verglichen wurde, beschreibt an symbolisch entschei-
dender Stelle das Erlebnis der Wildnis als Heraustreten aus jedem histori-
schen Kontext. Die Vereinigung des Subjekts mit der Natur ruft ein ele-
mentares, irrationales Glücksgefühl hervor. Die Aisthesis ist, wie bei Tolstoj
üblich, sehr intensiv; doch ihre Wirklichkeitsnähe darf nicht als Naturalismus
mißverstanden werden. Bei aller Nähe zu den konkreten Dingen, die kon-
ventionell nichts Ästhetisches haben, schiebt sich das feinste Medium einer
Empfindung dazwischen, die im Natürlichsten - in den Blutspuren, dem La-
ger des Hirsches und den Mückenwolken — Sakrales wie eine unbeschreibli-
che Verheißung streift.

Diese Mynaden von Insekten paßten so gut zu der wilden, bis zur
Formlosigkeit reichen Vegetation, zu der Unmenge von Tieren und
Vögeln, die den Wald lullten, zu dem dunklen Grün, zu der duftge-
schwängerten, heißen Luft, zu diesen kleinen Gruben mit trübem
Wasser, das überall aus dem Terek durchsickerte und unter den über-

21
Seel 237
22
Hölderlin GSA IV. 1,298
23
Böhme 132
2i
Ebd. 130t
16

hängenden Blättern gluckste - daß ihm angenehm wurde, was vorher


fürchterlich und unerträglich schien. Er ging um den Platz herum, wo
er gestern das Wild gesehen hatte, traf nichts an und beschloß, etwas
auszuruhen. Die Sonne stand direkt über dem Wald und schien ihm
senkrecht auf Rücken und Kopf, sobald er auf die Lichtung oder den
Weg hinaustrat. Das Rückgrat schmerzte von dem Gewicht der sieben
schweren Fasanen. Er fand die Hirschfährte von tags zuvor, kroch
unter einen Busch ins tiefste Dickicht hinein, wo gestern der Hirsch
gelegen hatte, und legte sich an dessen früherem Lager nieder. Er be-
trachtete das dunkle Grün ringsumher, die Schweißspuren, die gest-
nge Losung, den Abdruck, den die Knie des Hirsches hinterlassen
hatten, den Klumpen schwarze Erde, den der Hirsch aufgeworfen
hatte, und seine eigenen gestrigen Spuren. Es war kühl und behaglich,
er dachte an nichts und wünschte nichts. Und plötzlich überkam Ole-
nin ein so merkwürdiges Gefühl von grundlosem Glück und Liebe zu
allem und jedem, daß er nach alter kindlicher Gewohnheit sich zu be-
kreuzigen und jemandem zu danken begann. Mit besonderer Klarheit
durchzuckte ihn plötzlich der Gedanke, daß er, Dmitrij Olenin, ein
von allen anderen gesondertes Wesen, sich hier befände: Gott weiß
wo, ganz allein, an einer Stelle, wo vorher der Hirsch gelebt hatte, der
alte, schöne Hirsch, der vielleicht nie einen Menschen gesehen hatte,
an einer Stelle, wo kein einziger Mensch jemals gesessen und Ähnli-
ches gedacht hatte. Ich sitze, und ringsherum stehen alte und junge
Bäume, einer von ihnen ist von wildem Wein umrankt, neben mir be-
wegen sich Fasanen, die einander den Platz streitig machen, vielleicht
wittern sie die toten Brüder. Er betastete seine Fasanen, betrachtete
sie und wischte die vom warmen Blut nasse Hand an seinem Tscher-
kessenrock ab. (...)Und es wurde ihm vollständig klar, daß er nicht ein
russischer Edelmann, ein Glied der Moskauer Gesellschaft, ein
Freund und Verwandter von dem und jenem, sondern genauso eine
Mücke, ein Fasan oder ein Hirsch sei wie die, die jetzt um ihn herum
lebten. Genau wie sie, wie Onkel Jeroschka, werde auch ich leben und
dann sterben. Und er sagte wahr: Gras wird darüber wachsen. 25

Tolstoj schildert — i m übertragenen Sinn — nichts anderes als den Sturz des
m o d e r n e n Ikarus ins wilde D e n k e n . D e n n die Flügel v o n Kultur u n d Kon-
vention tragen nicht mehr. E s ist zugleich der glückhafte Sturz in das eigene
Selbst, das sich inmitten ozeanisch anflutender Wirklichkeit als kreatürhch
erfährt. Olenin, der junge, v e r w ö h n t e Adelige, ein Nichtstuer und Augen-
bücksmensch, erlebt i m Kaukasus sich selbst als Teil einer Natur, die uner-
klärlich nah u n d unerklärlich fremd ist. D a s Eintauchen in ihre Andersheit
bildet das Herzstück der Aisthesis: D i e Wildnis löst einen Erkenntnisschock
aus. E r k o m m t aus der Begegnung mit d e m N u m i n o s e n . D e r Hirsch, ein al-

25
Tolstoj, Die Kosaken 273f.
17

tes Christussymbol, wirkt noch kraft seiner Abwesenheit. Olenin gerät in


eine heilige Jagd. Dieser Hirsch wird im 20Jahrhundert bei PJJouve und
Beuys wiederkehren - als Projektionsfigur für sakralisierten Eros, für kosmi-
sche Energie und Auferstehung.
Im Nachgang von Hölderlins Dichtung, insbesondere der Hymne Wie
wenn am Feiertage (1800) begründet Heidegger Naturästhetik aus Naturmeta-
physik. „Wunderbar", nach Hölderlin-Heidegger, ist die Natur, weil sie allge-
genwärtig ist, ohne sich freilich als Ganzes realiter fassen zu lassen. Dies
Wunderbare „entzieht sich allem Herstellen und durchzieht doch jegliches
mit seiner Anwesenheit" 26 . Allgegenwart interpretiert Heidegger mit Heraklit
als gespannte Harmonie der Gegensätze. Darin bilden Äther und Abgrund
einen Zusammenklang, der im Differenten gleichwohl die Einheit enthält.
Allgegenwart aber hat auch mit Alltag zu tun; denn dieser ist das Gewand, so
Hölderlin, in das der Gott sich hüllt. Natur steht deshalb in Gefahr, gerade
kraft ihrer Allgegenwart übersehen, vergessen zu werden — weil ihr Sich-
Zeigen ein Sich-Entziehen ist. Das Ganze, wofür Natur als absolute Präsenz,
als Repräsentation des Seins steht, scheint allenfalls symbolisch auf — in
Momenten erhellender Wahrnehmung, die eine Sinnlichtung auftun. Solche
Wahrnehmung kommt zuerst den Dichtern und Künstlern zu, den Meistern
ästhetischen Scheins. Denn nur als Schein ist das in seiner Abwesenheit all-
gegenwärtige Ganze zu erinnern.. Und nur ästhetisch wird die Natur er-
leuchtet. Auf solche Weise, Sinn imaginierend, lebt sie im Menschen auf. Die
Aisthesis aber, die das Subjekt von der Natur empfängt, ist sinnenhaft, sinn-
fähig.
Natur, als allgegenwärtig erfahren, ist laut Heidegger etwas, das „berückt
und entrückt". Berückung ist Bann, auch schöner Schein. Das „Zumal der
Berückung", das ausgeht von der Natur, diese besondere Präsenz, worin ein
bisher Verborgenes aufscheint, ist nach Heidegger aber das Wesen des
Schönen27. Ekstase der Natur — das ist der Blick, mit dem Natur mich an-
sieht und in Bann schlägt. Die Götter, wie Benn in seinem Asterngedicht
formulierte, halten die Waage eine zögernde Stunde an; Erstaunen und Ent-
rückung werden eins. Das Staunen, Ursprung der Philosophie, ist die zu-
höchst gesteigerte Wahrnehmung, von ferne dem Schrecken verwandt. Höl-
derlins Dichtertheologie, auf die Heidegger in den Jahren 1939/40 - in
einem bestimmten historischen Moment der Sinnbedrohung — zurückgreift,
bindet das Schöne substantiell an heilige Natur. Diesem Versuch, ästhetisch
das Heilige zu retten, schließt Heidegger sich an. Sachwalter der Natur, also
des Schönen, können im technischen Zeitalter nur noch die Dichter sein.
Doch ihre Mühsal gilt einem Abwesenden; ihr Werk ist Trauerarbeit. Natur

26
Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung 53
27
Ebd. 53f
18

als Chiffer für das Ganze bildet im Zeitalter des unbedingten Anthropo-
zentnsmus, des Ausgreifens nach planetarischer Herrschaft, den letzten noch
möglichen Sinnhorizont.
In Anlehnung an Heraklits Orakel von der verborgenen Natur wird das
Phänomen des „Hervorgehens" zum Schlüssel jeder Naturästhetik. Physis als
Grundwort bedeutet bei Heidegger „das Aufgehen in das Offene, das Lich-
ten jener Lichtung, in die herein überhaupt etwas erscheinen (...) kann"28. Als
eine, die bannt, ist Natur dem prometheischen Zugriff des Menschen entzo-
gen. Die angemessene Weise der Wahrnehmung kann nur das Schauen, nicht
aber das Herstellen oder das Zurichten sein. In ästhetischer Hinsicht ist die
Natur das größte Reservoir sinnfähiger Bilder und Gestalten. Sinnhaftigkeit
ist auch ein Attribut des Heiligen: Irdisches wird diaphan. Von daher hat
Hölderlin um 1800, in der Wendezeit zum Industrialismus, Natur zu sakrali-
sieren versucht — wider Vernutzung, die den Sinn zerstört. Heilig ist die Na-
tur, weil sie die Geschichte übersteigt, weil sie älter als die Zeiten und über
den Göttern ist. In Hölderlins Sicht ist selbst das Chaos heilig. Einer Erfah-
rung, die von Vermittlung lebt, erscheint es als bloße Wirrnis. Doch als Po-
tenz betrachtet, als Unvermitteltes, als Ursprungsenergie ist Chaos kreativ.
Keine Naturästhetik käme ohne das Wilde aus. Es ist heilig, weil es in seiner
Nacktheit, unverhüllt und also unvermittelt, das Erschreckende und das Ent-
rückende ist — „numen tremendum", wie Rudolf Otto es nannte. Sakral, in
Heideggers Lesart von Hölderlins Natur, meint das jede Ordnung Verrük-
kende: „Das Heilige setzt alles Erfahren aus seiner Gewöhnung heraus und
entzieht ihm so den Standort. Also ent-setzend ist das Heilige das Entsetzli-
che selbst"29. Das durch Erfahrung Gefügte, durch Techne Hergestellte wird
verworfen durch eine Natur, die gewaltsam hervortritt ins Offene. Das ließe
sich als Kommentar zum Mythos von Ikarus lesen. Der Ozean ist Repräsen-
tant einer Allgegengewart der Natur, die erst dem Stürzenden aufgeht. Dieser
rauhe Spiegel des Äthers, der zum Grab des Ikarus wird, ist entsetzlich und
heilig zugleich. Sein Walten ist das Jenseits der Erfahrung.
Seit der Prozeß der Zivilisation, mit den verschiedenen Wellen techni-
scher Innovation, Unmittelbarkeit an die Ränder der Lebenswelt vertrieb,
wird das Bedürfnis nach Ekstasen der Natur zum entscheidenden ästheti-
schen Motiv. Die Dichter und Künstler der Moderne suchen inmitten wach-
sender Profanität nach einer Epiphanie in den Dingen. Daß die Natur sich
zurückzieht und zur Enträtselung lockt, wußte schon Heraklit. Keine
Wahrnehmung ohne diesen Köder der Erkenntnis; im Augenschein wartet
das Fremde. „Eine schlicht manifeste Natur wäre keine hervortretende" 30 .
Das rätselhafte Schweigen der Natur kehrt noch in Kafkas Umdeutung des

28
Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlin 56
29
Ebd. 63
30
Böhme 134
19

Prometheusmythos wieder. Frevel und Schmerz des Titanen hinterlassen


nichts als Müdigkeit. Die Götter, die Adler, die Wunde sind erschöpft. „Blieb
das unerklärliche Felsengebirge"31. Dies Resume totaler Geschichtsermü-
dung, 1917, im dritten Kriegsjahr geschrieben, läßt den rebellischen Auf-
bruch der Neuzeit literarisch in der Versteinerung enden. Der nicht wegzu-
wälzende heilige Berg, Monument einer unfaßbaren Fremdheitserfahrung,
strahlt die Kälte sprachloser Wahrheit aus. Was schon Hölderlin in Andenken
beschrieb, ist medial die Atmosphäre von Trauer und Wissen um Abwesen-
heit, vergleichbar der Einsamkeit von C.D.Friedrichs Mönch am Meer. Das
verlorene Schöne ist der verlorene Sinn. Dies meinte Simone Weil, als sie
mitten im Zweiten Weltkrieg notierte: „Wir müssen wohl Verbrechen began-
gen haben, derentwegen wir zu Verfluchten geworden sind; denn wir haben
alle Poesie des Universums verloren"32. Was Simone Weil Poesie nennt, ist
das Gefühl für das Heilige.
Die Wahrheit einer Landschaft wie eines Kunstwerks liegt darin, daß es
im Schönen zugleich seine Wundmale zeigt. Diese Wunden trägt Hölderlins
Landschaft von Bordeaux ebenso wie später die Reliquienkunst von Beuys.
Das Beschädigte weist auf das Ganze, Unversehrte hin, intentional auf das
Heilige — wie Sinn die Wiederherstellung des Ganzen, ja Auferstehung meint.
So tritt in der Ekstase der Natur ein bislang verborgener Logos hervor. Die-
sen Logos hat Gerard Manley Hopkins, der originellste englische Lyriker des
19Jahrhunderts — Poet, Philologe und Priester — in den Regelverstoß, in seli-
ges Insistieren, in die Magie des Benennens und Wiederholens gelegt. Vers
war für ihn der gesprochene Klang, sinnlich erlebt, gleichsam Naturgestalt:

What would the world be, once bereft


Of wet and of wüdness? Let them be left,
O let them be left, wüdness and wet;
Long live the weeds and the wüderness yet.

Was wäre die Welt, einmal beraubt


Aller Wasser und Wildnis? Laßt sie so wie nie geschaut,
Wildnis und Wasser, o laßt sie los und ledig;
Der Wildnis Wuchern währe noch ewig.33

Das Gedicht mit dem Titel Inversnaid (1881) besingt einen Sturzbach wie eine
heilige Werkstatt; an Dynamik kommt sie Hölderlins „freudig schauerndem
Chaos" gleich. Wie die Natur selbst arbeitet der Dichter Hopkins mit der Fi-
gur der Wiederholung. Die Ingestalt (inscape) wird dadurch herausmodel-

31
Kafka, Erzählungen 351
32
Weü 259
33
Hopkins, Pied Beauty 64/65. Übers. H.Gencke
20

liert. „So m u ß Wiederholung, Verhäufigung (oftening), Wieder-und-wieder-


Setzen (over-and-overing), Nachsetzen (aftering) der Ingestalt eingeführt
werden, u m sie d e m Geist einzuprägen" 3 4 . W o r a u f die K o n v e r g e n z v o n
D i c h t u n g u n d N a t u r an dieser Stelle - einem poetologischen Fragment v o n
1 8 7 3 / 7 4 - zielt, ist das Erlebnis der Kontemplation. D e r Sinn stürzt wie ein
G i e ß b a c h in die Aisthesis hinein. I m Inbild der Dinge ereignet sich die Ek-
stase der N a t u r ; bei H o p k i n s ist sie religiös codiert. Für ihn ist Natur, wie es
in einem späten Gedicht ganz programmatisch heißt, ein Heraklitisches
Feuer, aus dessen Asche die Auferstehung k o m m t -: ein unsterblicher Dia-
mant, v o n Vergängnis gehärtet 3 5 . Die theologische Implikation verlagert den
Sinn in den E n t w u r f einer Transformation der Erscheinungswelt, o h n e den
G l a n z u n d das Pathos der sichtbaren D i n g e zu mindern. H o p k i n s gelingt in
seinen besten Gedichten das Kunststück, ins Inbild einzutauchen u n d die
Ekstase eines Mondaufgangs in das eigene Schauen hereinzuholen:

I awoke in the Midsummer not to call night, in the white and the
walk of the morning:
The moon, dwindled und thinned to the fringe, of a fingernail
held to the candle,
Or panng of paradisaical fruit, lovely in waning but lustreless,
Stepped from the stool, drew back from the barrow, of dark
Maenefa the mountain;
A cusp still dasped him, a fluke yet fanged him, entangled
him, not quit utterly.
This was the prized, the desirable sight, unsought, presented so
easüy,
Parted me leaf and leaf, divided me, eyeüd and eyelid of
slumber.

Ich erwachte im Sommer zur — kaum noch - Nacht, im Weiß und


im Wandern des Morgens:
Der Mond, geschrumpft auf den Nagelrand eines Fingers im Licht
einer Kerze,
Oder zur -lieblich im Schwinden, doch stumpfen Schale
paradiesischer Frucht,
Stieß sich vom Stuhl ab, hob fort sich vom Hügel, des dunklen
Maenefa, des Berges;
Ein Hörn noch verhakte, ein Haken noch hielt ihn, verstnckte den
noch nicht ganz Freien.
Diese gepriesne, ersehnliche Ansicht, gesucht nicht, so leicht sich
ergebend,

34
Hopkins, Gedichte, Schriften 263
35
Hopkins, Pied Beauty 130/131 ( That Naturt is a Heraclitean Firc and oftht Comfort
ofthe Resumction )
21

Löste mir, Blatt für Blatt, enthob mich, Lid für Lid, meines
Schlummers. 36

Gesucht nicht, aber so leicht sich ergebend. In diesem Moment, der sich
schenkt, ist die ganze Ästhetik von Hopkins enthalten. Sie verwandelt das
ausgelaugte romantische Motiv in einen unkonventionellen Erkenntnis-, Er-
wachensprozeß. Es ist ein anamneüscher Akt, wie der Hinweis auf die para-
diesische Frucht zeigt, und im Grunde das Erwachen eines Adam zum
Bewußtsein.
Während der moderne Ikarus aus der universalen Vernetzung der Dinge
in den Ozean des Partikularen stürzt, kultiviert Hopkins - gegen die bloße
Techne der Datenerfassung — den Blick der Poiesis, der in der Vielheit die
Einheit erfaßt. Auf den Flügeln solcher Aisthesis ahnt der Betrachter die von
Parmenides postulierte Einheit des Seins, eine Vision, die allein dem er-
leuchteten Auge gelingt. Die malerische Chiffre dafür heißt bei Hopkins „ge-
scheckte Schönheit" (pied beauty). In ihr spielen die Teile ins Ganze hinüber,
ohne ihre Eigenart aufzugeben. Die Scheckung ist symbolische Repräsentanz
des Wilden, des Sprunghaft-Spontanen, der Inkraft (instress). Der „Sprung"
spielt in der Verskunst von Hopkins die wichtigste Rolle; er nähert das Ge-
dicht rhythmisch dem natürlichen Sprechen an und wahrt zugleich den Ein-
druck des Inspirierten. Die für die Ästhetik von Hopkins zentralen Begriffe
„inscape" und „instress" tauchen zum ersten Mal in Notizen über Parmeni-
des aus dem Jahre 1868 auf. Deutlich wird, daß der griechische Seinsdenker
neben dem Scholastiker Duns Scotus der entscheidende philosophische An-
reger war. An Parmenides rühmt Hopkins den Sinn für das Kompakte, Zu-
sammengezogene und für die Wahrheit des einfachen Ja und Ist37. Auf ein
verwandtes Gefühl für die seinshafte Qualität der Naturdinge gründet er
seine poetischen Universalien: „Ohne die Seinskraft (stress) könnten wir
nicht sagen: Blut ist rot, sondern nur: Dieses Blut ist rot, oder: Das Blut, das
ich zuletzt sah, war rot" 38 .
Die Suche nach dem Essentiellen prägt dergestalt auch die Naturbe-
schreibungen des Tagebuches. Mit viktorianischer Empfindsamkeit, die
Swinburne so virtuos zu lyrisieren verstand, haben sie nichts mehr zu schaf-
fen. Hopkins erfaßt den Sonnenuntergang als Heraustreten aus den Texturen
pseudoromantischer Wahrnehmung, in Richtung auf eine poetische Physik:
„Zuvor hatte ich immer den Sonnenuntergang und die Sonne als zueinander
unjustiert angesehen (...), aber heute habe ich sie zusammen zum Inbild ge-
bracht und die Sonne zum wahren Auge und zur Würfeleins des Ganzen
gemacht, wie es ihr entspricht. Sie war ganz aktiv und Licht von sich schleu-

* Hopkins, Pied Beauty 80/81. Übs. A.Koziol


37
Hopkins, Gedichte, Schriften 267
»Ebd.
22

dernd und sprang so stark vorwärts aus dem Feld wie ein langer Stein"39. Die
Inbilder sind schön, weil sie nicht mehr „verbessert", nicht mehr nach Belie-
ben des Subjekts ummodelliert werden können. Die Natur hat sie vollkom-
men gemacht. Von daher konnte Simone Weil das Naturschöne als „Verei-
nigung des sinnlichen Eindrucks mit dem Gefühl der Notwendigkeit"
ansehen40. Schicksal der Technik aber ist der Verbesserungszwang.
Hundert Jahre nach Hopkins wird der italienische Dichter Andrea Zan-
zotto ähnliche Inbilder der Natur, gehüllt in Sprachmagie, der Technik ent-
gegenhalten. Freilich sind sie schon stigmatisiert von einer gewaltsamen
Modernität, die alles Überlieferte verzehrt und selbst von der Memoria nur
noch Relikte duldet. Im Zeitalter einer ikarischen Raumfahrt, die ihre Hö-
henflüge selbst als historische einstuft, wendet sich Zanzotto fast provokant
(bis hin zum Dialekt) seiner Heimatregion, dem Veneto, und dem Symbol-
raum des „Waldes" zu — für ihn ein kreativer Speicher von Erinnerungen,
Glückserleuchtungen und Wortekstasen. Zanzottos Methode, Natur zu ret-
ten, vor der Verfallsgeschichte dichterisch in Sicherheit zu bringen, ist offen-
sive Transformation: mit der Moderne gegen die Moderne. Er weiß, daß die
Memoria nur noch am Grund der Sprache, am Grund der Dinge überleben
kann; es ist der Rückzug auf eine „biophysische Struktur" (L.Ritter-Sanüni),
der bis zur Schaffung einer künstlichen Kindersprache geht, die er Petel
nennt. Auch Zanzotto kennt das ikarische Gespenst einer vom Ich erzeug-
ten, verhexten, schlecht ausgedachten Welt des „Hyper-Stürzens, Hyper-
Sterbens" (super-cadere, super-morire). Hier hilft das Gegenbild Münchhau-
sens auf, des Dichters, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht, die
Welt in Wörtern rettet41.
Gegen das Ja der Technik, die affirmativ noch im Zerstören und Besei-
tigen ist und — selbst ein Sinnkonstrukt — weder Dunkel noch Leere, weder
Verborgenheit noch Widerstand erträgt, setzt Zanzotto das „Nein der
Bäume, Nein der Wege/ Nein verwachsener Knollen, Nein der Knöchel/
Nein der Kurven, der schnell verrutschenden Gräser" 42 . Seine Gedicht-
sammlung II Galateo in bosco (1978), aus der diese Verse stammen, feiert de-
monstrativ die große Auflösung, den Differenzverlust, die Natur als Deponie
von Geschichte. In einer Orgie semantischer Zersetzung endet der logozen-
trische Wahn, mit bloßer Techne Licht in das Dunkel zu bringen. Vielmehr
erzeugt die Sprache mimetisch ein Hinab, ein Verdunkeln des Logos, der
sich hinabläßt in die Ursprungskatakomben. Wie Heidegger faßt auch Zan-

» Hopkins, Journal 111 (12.3.1870)


*° Weil 255
41
Zanzotto, AI Mondo, aus dem Gedichtband La Belta (1968), in: Poesie 1938-1986
(Mailand 1993) 167
42
Zanzotto, Perche cresca/ Daß wachse (Lichtbrechung 41)
23

zotto die Physis als Wachstum, aber als Wachstum zum Unten, zum Grund,
zu den Wurzeln der Dinge. Sein Ton ist liturgisch:

Perche cresca l'oscuro


perche sia giusto l'oscuro
perche, ad uno ad uno, degli alberi
e dei rameggiare e fogliare dl scuro
venga, piü scuro -
perche tutto di noi venga a scuro figliare

Daß das Dunkel wachse


daß eine wirkliche Dunkelheit sei
daß jeder Baum
dunkel an Verzweigung und Belaubung
dunkler werde -
daß wir als Ganzes im Dunkel gebären43

In solcher Beschwörung findet Abkehr vom Paradigma der Aufklärung statt.


Ihrer Rhetorik des Lichtens und Erhellens, die zugleich eine Rhetorik des
Aufwärts ist, tritt die Ästhetik des Dunkels, des Ausloschens und des Hinab
entgegen — eine förmliche „Ontologie des Verfalls" (G.Vattimo). Der Flug
des Ikarus war auch das mythische Vorbild für die Konstruktionen der
Geschichtsphilosophie, jene technoiden Gedankenmodelle, mit denen die
Aufklärung spielte; selbst die List der Vernunft war mit eingebaut.
Aber die so erdachte Befreiungsgeschichte stellt sich am Ausgang der
Moderne als Täuschung heraus. Marx wollte den Zustand der „Vorge-
schichte" revolutionär, durch Selbsterzeugung des Menschen überwinden; er
setzte alles auf das historisch-kritische Bewußtsein. Gerade vor diesem My-
thos der Revolution warnt der Hermeneutiker Vattimo: „Der wahre Aus-
bruch aus der Vorgeschichte erfolgt nicht durch die Aneignung eines ver-
meintlich .absoluten', theologischen Sinnes von Geschichte (an dem die dia-
lektischen Perspektiven noch immer festhalten), sondern durch die Erkennt-
nis, daß Geschichte gewissermaßen keinen Sinn hat"44. So konnte Vattimo
mit dem Ende eines historischen Sinns zugleich das Ende der Moderne kon-
statieren. Gegen den Machtanspruch der Ganzheitsdenker stellt er das
„schwache Denken" (pensiero debole), dem Sein nur noch ein Spiel von Er-
scheinungen und Wirklichkeit ein Netz ist, das uns festhält. Das heißt für die
Lebenspraxis: Wahrheitserfahrung ist - ein Jahrhundert nach Nietzsches
Bruch mit dem Historismus - kein metaphysisches Ereignis mehr, sondern
nur noch ein ästhetisches45. Der Abschied von der Geschichte als Sinn und

43
Zanzotto, Lichtbrechung 38/39
44
Vattimo, Jenseits vom Subjekt 32
45
Vattimo, Das Ende der Moderne 18
24

Einheit stiftendes Projekt wird eingeleitet durch die Technik selbst, insbe-
sondere durch hochkomplexe Informationssysteme. Ihre Vernetzung be-
wirkt eine imaginäre Allgegenwart, eine Art v o n komfortablem Stillstand,
worin Rezipieren das Handeln ersetzt. Gerade diese T r i u m p h e (oder Ex-
zesse) der Technik führen am E n d e des zweiten Jahrtausends dazu, N a t u r als
Sinnordnung neu zu entdecken.
Auch Zanzotto arbeitet als Dichter an der Schwächung des monolithi-
schen Denkens. In seinem Vergil-Essay spricht er v o m sozialen N e t z , das die
Eklogen knüpfen, von dem Gehaltensein in einer ursprünglichen, naturna-
hen Gemeinschaft, für die das Symbol Arkadien steht. D i e N a t u r selbst zer-
setzt den Block Geschichte, kompostiert ihn. Z a n z o t t o holt Wirklichkeits-
beute aus diesem Dasein von Netzen, in denen sich das Lebendige fängt, in
Bildern und in Wörtern - so daß der Fall, der Verfall sich verlangsamt:

II precipitare si e rallentato
il fatto ben filamento
si e messo in piano, a calce

Das Stürzen wird langsamer jetzt


die Tatsache gut verwoben
ist zu Boden gegangen, an den unteren Rand 46

D e r ikarische Flug, den die europäische Romantik bei Baudelaire als höchste
F o r m poetischen Daseins besang, als Ringen mit Elementarkräften, stürzt
bei Z a n z o t t o fast glücklich ins Erdenschwere ab — in ein gestaltloses Dunkel,
das der Hesiodischen Urnacht verwandt ist u n d gerade deshalb zu einer T r ö -
stung wird:

Innesto e ntomi di favore, fömite oscuro


oh tu, di oscuro in oscuro innestato, tu
protratta detratta di foglia in foglia l'oscuro
di felce in felce lodata nel grezzo nel nfinito d'oscuro

Ich verpflanze und du gibst mir mehr zurück, ein dunkles Begehren
du, von Dunkel zu Dunkel gekommen, du
vorgegeben und zurückgenommen von Blatt zu Blatt, Dunkel
in den Farnen gelobt in der Formlosigkeit und Feinheit des Dunkels 47

Die Sprache, die mittels Distinktionen die Welt zu erhellen, zu teilen, herzu-
richten weiß, taucht hier ins Vorbewußte, verliert sich im Dickicht der Phy-

Zanzotto, Reü/Netze (Lichtbrechung 102/103)


Zanzotto, Perche cresca/ Daß wachse (Lichtbrechung 40/41)
25

sis, in einem Wald, den das Begehren nach Dunkelheit schafft. Die „selva
oscura", die Dante einst floh, wird von Zanzotto gesucht:

Qui in feccia, all'oscuro, immanere


La in volta, all'oscuro, esalarsi

Hier im Satz, im Dunkel bleiben


Dort in der Wölbung, im Dunkel verströmen48

Diesen Prozeß hat der Dichter konsequent weitergetrieben. Er bringt die


Geschichte des Fortschritts im Litteralsinn zurück auf den Boden, erlaubt,
daß sie abstürzt. In seinem hßghion (1983) provoziert er die Großtechnologen
mit einer Ethik der „arte povera":

Tu meno esperto che quando l'uccello fa il nido


ed e troppo ingegnere
meno efficiente di quando
l'acqua fa la chioccia e
sistema sabbie a manipoli

Du mit weniger Kenntnis als die Vögel beim Nestbau


die überlegenen Ingenieure
nicht einmal
wie die Strömung den Grund wellt
und eine Handvoll Sand formt
ist dir gegeben49

Zanzottos Naturästhetik lebt aus der Wahrheit sprechender Details; das ist
ihr Ethisches. Das Nest des Vogels ist dauerhafter als die künstlichen Flügel
des Ikarus; aber es ist auch schöner. Auf das Ingenium der Natur verwei
send, verspottet der Dichter die überforderten Experten. Ungescheut nennt
er einen Gedichtband ha Beltä (Die Schönheit). Ihren Metamorphosen spürt
er als Naturerinnerer und Sammler von Sinnpartikeln nach. Die Rettung der
Schönheit inmitten der Systeme ist auch ein Akt der Pietas. So drang der
Altphilologe Zanzotto auf den Fährten von Vergüs Eklogen, einer Tradition,
die er innovativ durchkreuzte, tief in die Wälder der Sprache ein. In einem
Kurzessay über Vergil bringt er das „rauhe Fell" dieser Hirtengedichte mit
dem „tempelhaften Raum" Arkadiens in Verbindung. Doch dem modernen
Dichter wird das Heilige identisch mit dem Utopischen; denn Arkadien liegt
außerhalb aller Geschichte. Dabei registriert Zanzotto, daß gerade die
Ästhetik der Eklogen die Stimmen der verschiedenen Figuren in eine einzige

48
Ebd. 42/43
49
Zanzotto, Lichtbrechung 88/89
26

„Exstase" münden läßt50. Im Vogelnest und im genffeiten Sand am Grund


der Strömung tritt eine Schönheit zutage, die nicht verwertbar ist, die deshalb
auch kein Designer erfinden kann. Gerade in diesen kleinen Ekstasen der
Natur zeigt sich Zanzotto, wie vor ihm Hopkins, als inspirierter Beobachter,
von metaphysischer Aufmerksamkeit den fast vergessenen Dingen
gegenüber.

Die Wendung zur Natur schließt Hoffnung ein, erlöst zu werden von der
Gewaltgeschichte. Die Eroberung Trojas, vom größten der epischen Dichter
besungen, war Auftakt der blutigen Orgie, die bis heute den Menschen in
Bann schlägt, weil sie Gemeinschaft stiftet. Aber hinter den Furien des
20.Jahrhunderts steht keine göttliche Nemesis mehr. Es fehlt nicht an Tech-
nik der Vernichtung wie Beglückung, aber es fehlt an Sinn. Als Sanktuarium
tritt einzig noch Natur in das Bewußtsein der Postmoderne ein. Nach dem
„Tod Gottes" gilt sie bei vielen als letztes Refugium des Heiligen. Entspre-
chend heften sich an die Konstrukte der Ökologie die von der Unheilsge-
schichte verscheuchten Utopien. Aber das Sinnbedürfnis kommt nicht ohne
Numina aus; allerdings gibt es, worauf Ernst Jünger hinwies, auch einen Ge-
staltwandel der Götter 51 . Dabei ist nicht an ewige, sondern an zeidose
Mächte zu denken. Ihre Ankunft mag sich auf Taubenfüßen ereignen: „Aber
sie müssen erscheinen, denn ohne Götter keine Kultur"52. Nüchterner be-
schrieb es der Biochemiker Erwin Chargaff; für ihn, der zum strengsten Kri-
tiker der Megamaschine Wissenschaft wurde, ist Natur „noch immer gleich-
bedeutend mit der höchsten Form der Wirklichkeit"53. Der gleiche Chargaff
begründete in funkelnden Essays sein Abgestoßensein von einer Weltge-
schichte, die ihm als „einzige Riesenskulptur aus faulendem Fleisch, aus gä-
rendem Blut" erscheint54. Er steht mit dieser Distanzierung nicht allein.
Als Diagnostiker der Erdrevolution gehört Jünger zu den wichtigsten
Autoren nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Anarch, der ungerührt die Kata-
strophen registriert, souverän mythische Denkmodelle nutzt, sieht seit sei-
nem Versuch An der Zeitmauer (1959) den Paradigmenwechsel von der euro-
zentrischen Menschheitsgeschichte zur Erdgeschichte im Gange. Deren Re-
präsentant ist Antaios. Jünger betrachtet die Revolutionen und Umbrüche
metahistorisch. Der kalte Blick ist seine Aisthesis; im Abenteuerlichen Herren
(1929) hatte er dafür den Begriff „desinvolture" geprägt. In Übereinstim-

50
Zanzotto, Mit Vergil, in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 44 (Nov. 1994) 80
51
Jünger, Prognosen 13
52
Ebd. 37
53
Chargaff 157
54
E.Chargaff, Abscheu vor der Weltgeschichte (2.Auflage Stuttgart 1988) 85
27

mung mit dem Mythos, der zyklisch, nicht linear denkt, sieht er die
Katastrophe als Neuschöpfung; er greift dabei auf die Ästhetik des
Erhabenen zurück. Der angezielte Punkt ist die Ruhe im Chaos; das rührt an
Stoisches. Der Mythos zeigt, daß lineares Denken eine Engführung, ja eine
Verwirrung ist. Als Schrein des Mythischen aber fungiert die Natur. Zyklisch
aufgefaßt, erneuert sie sich — wie bei den Stoikern in der Ekpyrosis — durch
Feuer. Nach dem Scheitern der „großen Politik", das 1945 und in den
Folgejahren offenkundig wurde, wandelte sich Ernst Jünger immer mehr
zum Apokalyptiker, der die Rolle der biblischen Propheten und Verkünder
übernahm.
Das Apokalyptische entdeckte Jünger in der Technik selbst, nicht in
einem hermetisch verschlossenen Raum des Religiösen. Apokalyptisch ist sie,
weil sie den Menschen zur Entscheidung zwingt. Zwar vermag Technik das
Leben auf dem Erdball zu vernichten, aber kein Telos zu schaffen, keinen
Sinn zu stiften. Die Notwendigkeit, metahistorisch zu denken, ergibt sich aus
dem Fortgang der Technik selbst: sie produziert ihre eigenen Grenzen mit.
Das hat Jünger lange vor der ökologischen Bewegung, schon in den späten
fünfziger Jahren erkannt, als die Kernenergie begann ein Faktor des indu-
striellen Prozesses zu werden. In ihr kulminiert auf sichtbarste Weise die
Katastrophengeschichte; und die Gefahrenpotentiale, die hier gespeichert
sind, bilden eine besonders fatale Spielart der „longue duree". Am Ende aber
ist es das Vakuum, das Sinn als das nicht vorgesehene Rätsel deklariert: „Wo
die technischen Probleme kulminieren, ja gelöst scheinen, ist die Rechnung
aufgegangen, und Leere bleibt zurück. Der Tod wird sichtbar, der im Gestell
verborgen war. Und was sagt die Gäa dazu? Das muß aus den Mythen zu er-
fahren sein"55.
Der Zweifel an der Geschichte, die im 20Jahrhundert unübersehbar ni-
hilistische Züge annahm und sich in Weltbürgerkriegen erschöpfte, wird im
Spätwerk Jüngers immer deutlicher. Das schließt die Skepsis gegenüber den
Triumphen der Ingenieure mit ein: Ikarus kann kein Kulturbringer sein, al-
lenfalls ein romantischer Utopist. Auch reicht die Techne nicht aus, um eine
Ästhetik zu schaffen. Jüngers umfangreiches Tagebuchwerk Siebzig verweht
(1965-1995) artikuliert eine metahistorische Distanz, die gerade in Rom, der
Stadt der Städte, dem Modell aller Imperien, blitzartig aufleuchtet. Der Ver-
lust des Mythos, dem Vico und Bachofen so viel zugetraut haben, wiegt
schwerer als der Verlust der Geschichte: er mindert die Substanz. Das senti-
mental-moralisierende Verhältnis, das die fellachoide Gesellschaft zur Ge-
schichte einnimmt, signalisiert, daß sie Abscheu vor Charakteren hat; das
Psychologisieren als Krankheit der Epoche ist für Jünger das Kennzeichen
politischer Eunuchen. „Freilich sind das nur Konsequenzen der Tatsache,

55
Jünger, Siebzig verweht 1,8 (4.4.1965)
28

daß Geschichte nicht mehr existiert. Eben deshalb treten wohl Titanen, nicht
aber im überlieferten Sinne ,Große' auf. Wir sind aus dem Rahmen der Ge-
schichte endassen und anderen Formen und Rechten als den historisch ge-
wachsenen unterstellt. (...) Die historische Form wie ,der Krieg' oder ,der
Friede' wird zur klassischen Reminiszenz"56.
Der bloß selbstreferentielle Titanismus der Technik mit ihren Allmacht-
phantasien ist nicht mehr imstande, die abgestorbenen Geschichtsphiloso-
phien zu beleben. Von daher sieht Jünger Geschichte nur noch als Deponie,
als Abfallhalde: „Der Weg führt von meta- zu ahistorischen Landschaften,
vom Wald zum chaotischen Strand. (...) Eines der Symbole geschichtsloser
Räume ist die Deponie" 57 . Auf den Verlust der Sinngeschichte reagiert Jün-
ger mit seiner Figur des Anarchen — jenes Einzelgängers, der den „contrat
social" aufkündigt und sich einzig als Person versteht, exklusiv nur sich
selber verantwortlich. Der Anarch liebt die Gefahr; in Eumeswil geht er am
Ende in den Großen Wald, wo er verschollen bleibt. Jüngers Wort „Die
Geschichte ist tot", das Credo des Anarchen58, ist die Replik auf Nietzsches
„Gott ist tot". Solche Erkenntnis der Lage ist gewonnen aus einer
schmerzhaften Verlustgeschichte: Der Anarch ist die Verkörperung des
Transpolitischen.
Dem Diaristen Jünger entgeht in den achtziger Jahren nicht der Verfall
jenes antagonistischen Ordnungssystems, das seit dem Zweiten Weltkrieg die
Gegenwartsgeschichte strukturierte — des Ost-West-Konfliktes. Der Autor
hatte ihm schon 1953 einen Essay unter dem mythologischen Titel Der
dische Knoten gewidmet59 und mit dem Ausblick auf einen Weltstaat geschlos-
sen. Denkbar, so Jünger, wäre die große Begegnung, die zwar zu keiner Lö-
sung, zu keiner Rangordnung, wohl aber zur „Fruchtbarkeit" führte60.
Letzteres ist freilich kein historischer Begriff, sondern bezeichnenderweise
ein biologischer; er verweist darüber hinaus auf Spirituelles. Das Zerbrechen
des globalen Dualismus mit seiner Politik der Hoch- und Überrüstung ge-
hört auf metahistorischer Ebene zum Sturz des Ikarus. So war die Macht des
östlichen Imperiums erkauft mit einer beispiellosen Verachtung und Verwü-
stung der Natur. Doch kehrt die Gäa zurück. Jüngers lebenslange Beschäfti-
gung mit der Natur fügt sich fast mühelos in die ökologische Wende des aus-
gehenden 20.Jahrhunderts ein. Aus Weltgeschichte will Erdgeschichte wer-

* Ebd. 1,464 (Rom, 9.5.1968)


57
Jünger, Eumeswil 371. Über Eumtswtl&s Roman der „Posthistoire": Meyer 589ff..
Vgl. R.G. Rennen, Modernität und Postmodernität im erzählenden Spärwerk Jüngers, in
H.H.Müller -H.Segeberg (Hg.), Ernst Jünger im 20Jahrhundert (München 1995) 249-268
58
Eumeswil 338
" Jünger, Sämtliche Werke VII (Stuttgart 1980) 377-477
<° Ebd. 474
29

den. Der Mensch, der prometheisch die Erde eroberte, wird nun selbst von
der Erde erobert61.
Dem Biologen Jünger (der es zum renommierten Entomologen brachte)
eröffnet sich Natur als neuer Sinnhorizont. Sein Weg geht von Nietzsche zu
Goethe: statt großer Politik die zarte Empirie. Die Diarien Siebzig verwebt sind
erfüllt von Naturphänomenen; Jünger kultiviert Beschreibungskunst. Die
Erkenntnis der Lage aber geschieht hier primär nicht in historischen, son-
dern in mythischen Kategorien. Die Diagnose gleicht einem Orakel: „daß wir
an einer Häutung der Gäa teilnehmen", und daß es darauf ankommt, „zu hö-
ren, was die Erde will"62. Gäa - das ist bewußte Remythisierung, in den sieb-
ziger Jahren bereits von William Golding in die Diskussion gebracht63. Der
Name assoziiert antike Weltfrömmigkeit, die Zeitentiefe des Hesiodischen
Mythos. Gäa - das ist, was am Ende den stürzenden Ikarus auffängt. In Jün-
gers neuer Mythologie der Erdrevolution ist überraschend noch Nietzsche
präsent, der in der Vorrede zum Zarathustra gefordert hatte, der Erde treu zu
bleiben. „An der Erde zu freveln ist jetzt das Furchtbarste und die Einge-
weide des Unerforschlichen höher zu achten als den Sinn der Erde!" 64 Nach
dem Tod Gottes muß der verlassene Thron wieder besetzt werden. Auch
Jünger macht sich das neue Evangelium zu eigen. Für ihn wird Natur gleich-
bedeutend mit unerschöpfter Kreativität, göttlichem Reichtum an Formen,
verborgener Ordnung noch im Chaotischen; über allem schwebt der ästheti-
sche Sinn.
Jünger verzichtet, wenn nötig, sogar auf das erkennende Subjekt. „Die
Pracht einer Muschel aus der lichtlosen Tiefe ist nicht für unsere Augen er-
dacht"65. Die Natur liebt solche Kryptogramme; ihre Schönheit bleibt
Schönheit, auch wo sie sich verbirgt: „Die Schöpfung bedarf keines Augen-
zeugen, der sie erst legitimierte"66. Geschichte dagegen ist substantiell ange-
wiesen auf Legitimation; ohne sie büßte sie jeglichen Sinn ein. Zum Titanis-
mus der Moderne gehört deshalb nicht nur die Technik, sondern auch die
entsprechende Rhetorik. Jünger ist überzeugt, daß Mächte der Natur, ja des
Kosmos in die Geschichte einzustrahlen, sie qualitativ zu verändern begin-
nen67. Sein Mißtrauen gegen die Historia profana ist seine Folgerung aus der
deutschen Hybris und der Entstehung neuer Fronten in einem Kalten Krieg.
Der Essay Über die Linie, 1950 zum sechzigsten Geburtstag Heideggers ver-

61
Jünger, An der Zeitmauer, in: Sämtl. Werke VIII (Stuttgart 1980) 576
62
Jünger, Siebzig verweht III (Stuttgart 1993) 578 (22.11.1985)
63
Vgl. J.Lovelock, Gaia. A New Look on Life on Earth, Oxford 1979; ders., The Ages of
Gaia (New York 1988). Lovelock war mit Golding eng befreundet.
64
Nietzsche, Zarathustra. Vorrede 3 (KSA 4,15).
65
Jünger, Siebzig verweht II, 10 (18.4.1971)
66
Meyer 579
67
Jünger, Prognosen 10
30

faßt, sieht die Geschichte der Weltbürgerkriege generell vom Nihilismus infi-
ziert. Freiheit ist hier nur noch im Gegensatz zum Tödlich-Faktischen der
Organisationen zu haben - als Freiheit des Ungeordneten und Ungesonder-
ten: „Wir wollen sie ,die Wildnis' nennen"68. Dieser Bereich des Nicht-Plan-
baren, Spontan-Lebendigen bietet die einzige Zuflucht. Das deutet auf den
Großen Wald des Anarchen voraus. Wildnis sind für Jünger jene „Gärten, zu
denen der Leviathan nicht Zutritt hat"69 - der Tod, der Eros und die Kunst.
Die Wildnis als Zustand des unverfügbar Eigenwüchsigen, als Reservat
des Authentischen widerspricht dem Nihilismus der Systeme und erzeugt
ihre je eigene Aisthesis. Jüngers Roman Eumesml (1977) führt den Anarchen
von der Residenz des Condors, wo die Geschichte stillgelegt ist, in das einzig
verbliebene Refugium, den Großen Wald. Er steht für den Triumph der Na-
tur. Venator, der Jäger der Erkenntnis, ist von Beruf zwar Historiker, aber
Geschichte, wie er sie betreibt, ist nur noch ein exklusives Spiel für Einge-
weihte: sie wird am „Luminar" als virtuelle Realität nachgestellt. Der Große
Wald liegt jenseits der Wüste, die nach dem letzten Feuerschlag in der
Geschichte der Streitenden Reiche zurückblieb. Der Waldgang hat Tradition
bei Jünger. Die Wildnis — darin folgt er einer romantischen Spur — verkörpert
eine Ästhetik der Freiheit: „Der Wald stand wie eine Mauer; noch nie konnte
eine Axt ihn berührt haben. Die Katastrophe mußte sein Wachstum noch
gesteigert haben, als hätten ihr Gluthauch und die Sintflut, die ihr folgte, die
Urkraft aus ihm befreit"70. Dem entfesselten Wachstum, das an Hölderlins
Vision heiliger Wildnis erinnert, entspricht genetisch wie symbolisch die
wahllose Vermischung: „Ganz fremde Arten hatten sich verkuppelt und
Früchte gezeugt, vor denen selbst ein Linne verzweifelt wäre" 71 . Der dies er-
zählt, ist ein anderer Grenzüberschreiter: Attila, der Leibarzt des Condors,
für den Anarchen ein heimliches Vorbild. In seinen Abenteuern vermischen
sich Geographie und Traum. Attilas Waldgänge führen in ein Reich der
Phantasmagorie, wo das Schöpferische auf eine Weise scherzt, die aller Ver-
nunftästhetik widerspricht. Auch davon hatte Hölderlin gewußt; Jünger greift
nicht umsonst Bilder des „Aorgischen"aus dem Umkreis der Titanen auf. At-
tila, der Mythensucher, erlebt auf einer Lichtung die Epiphanie, erblickt den
Geist der Wildnis: „In einer Lichtung fiel ein Sonnenstrahl auf eine widder-
köpfige Gestalt. Sie stützte die Linke auf ein Lamm, das Menschenantlitz
trug. Beide lösten sich im Licht auf, als ob die Vision zu stark würde" 72 . Am
Ende stößt er auf den Lebensbaum - eine Zypresse, die in den Himmel

68
Jünger, Über die Linie, in: Sämtliche Werke VII (Stuttgart 1980) 273
69
Ebd.
70
Jünger, Eumeswü 368
7
' Ebd.
72
Ebd. 369
31

wächst. Ihr Stamm ist ein lebender Turm, der ihn in seinem Innern auf-
nimmt — ein Vorgang so natürlich wie im Märchen.
Jüngers Anarch tritt heraus aus der politischen Welt, deren Mechanik
des Machterhalts sinnlos geworden ist. Denn hier sind keine Lösungen mehr
möglich; daher die Stagnation. Die Posthistorie verwaltet nur noch Daten;
ihre Kultur ist „fellachoide Versumpfung auf alexandrinischer Grundlage"73.
So muß Venator, der am Luminar die Vergangenheit zitiert, zum Metahisto-
riker werden. Sein Waldgang, durchaus ethisch motiviert, ist auch ein Akt der
Solidarität: Venator begleitet den Condor auf seiner Großen Jagd, die in die
Wälder führt. Dort wird er mit dem Tyrannen und dessen Gefolge verschol-
len gehen. Es ist der Flug des letzten Ikarus, die Abdankung dessen, was
einmal „historisches Handeln" genannt wurde. Siegerin bleibt die Gäa, die
unzähmbare Physis. Jüngers Naturästhetik kultiviert das Staunen, das erken-
nende Befremden, die Grenzüberschreitung. Auch die Moderne ist zu über-
schreiten. Das Heilige, das sich in Wäldern verbirgt, ist selbst anarchisch,
polymorph; hier sind auch Tiergötter denkbar. Der symbolisnsch-surreale
Zug in Jüngers Schilderung, die Promiskuität der Formen erinnern an
Gustave Moreau wie an Max Ernst. Was sich als „Lichtung" zeigt, meint
poetisch Bewußtseinserweiterung — vorbereitet in Hölderlins Evokation der
Wildnis und in den Illuminationen von Rimbaud. Auf solche Lichtungen hin
ist der Roman komponiert. Für den von Geschichte Enttäuschten bleiben
die Ekstasen der Natur die letzte Möglichkeit von Sinnerfahrung.

Ästhetik der Natur ist seit der Romantik immer auch Suche nach Ausgängen
aus der Geschichte — in dem Maße, da diese gewaltsamer, absurder, techni-
scher wird. Zwar ist Natur seit den Griechen ein Gegenstand des Forschens;
doch was im 20. Jahrhundert sich Naturwissenschaft nennt, hat nichts mehr
mit Heraklits Physis zu tun. Seit dem Manhattan-Projekt, das am 6. August
1945 zum Abwurf der ersten Atombombe führte, ist die moderne Physik in
die Schuldgeschichte dieses Jahrhunderts verstrickt. So konnte Michel Serres
die Wissenschaft sich zur Gewalt hin transformieren sehen, zur Jagd, zum
wölfischen und kriegerischen Tun: „Bei Piaton und für eine Tradition, die bis
ins klassische Zeitalter andauert, ist die Erkenntnis eine Jagd. Es gilt, das
Wild zur Strecke zu bringen. (...) Wissen heißt töten, heißt sich auf den Tod
beziehen, den Herrn und den Knecht sehen"74. Das klassische Zeitalter
exakter Wissenschaft - von Descartes über Newton bis zu den Enzyklopädi-
sten - projiziert seinen Herrschaftsanspruch und seine Mechanik der Macht

73
Ebd. 32
s 111
32

in die Natur hinein. Doch dieses Denken ist auf Gewalt und Unterwerfung
angelegt: „Der westliche Mensch ist ein Wolf der Wissenschaft"75.
Wenn Natur darauf angelegt ist, sich dem Menschen als Schöpfung zu
zeigen, ihm als eigene Sinnordnung aufzugehen, muß Naturwissenschaft, die
ihren Namen verdient, auch eine ästhetische Komponente haben. Sie muß
imstande sein, Natur jenseits der menschlichen Eingriffe als Schön-Gefügtes,
als Kosmos zu sehen. Das war die Sicht der Griechen. Die Bibel vertiefte
diese Sicht durch ihren Schöpfungsgedanken. Ästhetik nimmt das Schön-
Gefügte zugleich als Transzendentes wahr. So haben Leonardo, Dürer und
Goethe erkannt, daß die Kunst - als Abbild einer vollkommenen Ordnung -
bereits in der Natur steckt. Deshalb war Leonardo im Recht, als er die Male-
rei eine Wissenschaft nannte und vom Künstler sagte, „daß sich sein Geist in
ein Abbild des göttlichen Geistes verwandelt"76. Und E.Chargaff, der sein
Leben als Biochemiker unter dem Titel Das Feuer des Heraklit beschrieb,
scheute sich nicht, im Naturphänomen an die Grenze des Geheimnisses zu
rühren. „Es ist geradezu die Macht der Mysterien, die nach meiner Meinung
den wahren Naturforscher antreibt; dieselbe Kraft, blind sehend, taub hö-
rend, unbewußt gedenkend, welche die Larve in den Schmetterling treibt"77.
Die Vision, daß die Natur sich das Ihre zurückholt, die Zivilisation mit
Wildnis überzieht, mit Elementarkräften züchtigt, taucht in der „mitteleuro-
päischen" Literatur seit 1970 auffällig häufig a u f - so bei Marien Haushofer
{Die Wand), bei Guido Morselli (Die Einsamkeif) und Christoph Ransmayr
(Die letzte Welt). In Marien Haushofers allegorischem Roman, der 1968 er-
schien, ist es der Sturz des männlichen Ikarus, der Raum schafft für weibli-
che Selbstbehauptung, für unverstellte Wahrnehmung der Physis. Diese
Wahrnehmung ist freilich aufgenötigt durch eine Krisis, für die symbolisch
die „Wand" steht. Die Ich-Erzählerin wird durch eine gläserne Mauer von
allem isoliert, was bisher Zivilisation bedeutete; inmitten scheinbar idyllischer
Berglandschaft gerät sie in eine Robinsonade hinein, die eine Umwertung al-
ler Kulturwerte meint. Die Glaswand, laudos und urplötzlich da, trennt die
Eine von aller Geschichte und installiert, gleichsam eschatologisch, das Jüng-
ste Gericht in Gestalt einer Natur, die sanft, doch unerbittlich ist. In dieser
Ästhetik des naturalen Ordo zeigt sich die Nachwirkung Stifters. Auch
Haushofer pflegt in ihren Beschreibungen Stifters phänomenologisches Ver-
fahren: die Dinge treten kraft der Wahrnehmung hervor78.
In einer Welt ohne Männer ist auch die Geschichte verschwunden -
und mit der Geschichte das Sinnproblem, symbolisiert in den Kirchtürmen,

75
Ebd.
76
A.Chastel (Hg), Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei
(München 1990) 165f
^ChargafflöO
78
Vgl. A.Stifter, Bunte Steine, hg.u.kommentiert von H.Bachmaier (Stuttgart 1994) 363-391
33

die nun funktionslos in der Landschaft stehen. „Ich suchte nicht mehr nach
einem Sinn, der mir das Leben erträglicher machen sollte. Ein solches Ver-
langen erschien mir fast wie eine Anmaßung" 79 . Die Spiele der Menschen,
die sich Geschichte nennen, sind bisher fast immer schlecht ausgegangen.
Nur die Natur als Unverfügbares, der Eigenmächtigkeit Entzogenes hat ihre
Schönheit und Würde behalten: „Das große Sonne-, Mond- und Sterne-Spiel
schien gelungen zu sein, es war auch nicht von Menschen erfunden wor-
den" 80 . Die Aisthesis bewahrt jenes kindhafte Staunen, das durch die männli-
che Techne nachhaltig aus der Kultur vertrieben wurde. Haushofers altera
ego ist Eva, allein mit ihren Tieren, ohne Adam - Witwe und Jungfrau zu-
gleich. Das Paradies, in das hinein sie zurückgetrieben wurde, ist das Ergeb-
nis einer Katastrophe. In der Robinsonade wird der Naturzustand probiert
wie ein Trank, der berauscht durch seine Monotonie. Preis der Erkenntnis ist
die Einsamkeit, welche die Augen öffnet. Erst wenn Geschichte abgetötet
ist, ereignet sich Ekstase der Natur: „Die Einsamkeit brachte mich dazu, für
Augenblicke ohne Erinnerung und Bewußtsein noch einmal den großen
Glanz des Lebens zu sehen"81.
Der Mann, der wölfisch einbricht in diese heilige Wildnis und Evas
Tiere tötet, wird von ihr niedergestreckt. Die Gewalt hat ihn häßlich ge-
macht; so fällt es nicht schwer, ihn in den Abgrund zu stürzen. Die Parabel
könnte nicht deutlicher sein — so provozierend einseitig ist sie. Was nach Ge-
schichte bleibt, ist Natur als schiere Physis, als Wachstum, mit ihrer Allmacht
des Grüns, das ozeanisch alles überflutet:

Das Land war jetzt eine einzige blühende und grünende Wildnis. Ich
konnte Felder und Wiesen kaum noch an der Farbe unterscheiden.
Das Unkraut hatte überall den Sieg davongetragen. Schon im ersten
Sommer waren die kleineren Straßen zugewachsen, jezt sah ich auch
von der breiten Asphaltstraße nur noch kleine dunkle Inseln. Die Sa-
men hatten in den Frostaufbrüchen Fuß gefaßt. Bald würde es keine
Straße mehr geben. Der Anblick der fernen Kirchtürme bewegte mich
diesmal kaum noch. Ich wartete auf den vertrauten Ansturm von
Kummer und Verzweiflung, aber er kam nicht. Es war mir, als lebte
ich schon fünfzig Jahre im Wald, und die Trümmer waren nichts
mehr für mich als Bauwerke aus Stein und Ziegel. Sie gingen mich
nichts mehr an.82

Die Kirchtürme stehen für eine von Männern gemachte Sinninstanz, die
nicht nur den Körper, sondern auch die Seele in Beschlag nahm. Der Zerfall

"Haushoferm
80
Ebd. 173
81
Ebd. 174
82
Ebd. 216
34

dieser Ordnung verursacht zwar Unbehagen (die Autorin implantiert einen


Schlüsselbegriff Freudscher Kulturkritik), aber die alte Trauer darf nicht län-
ger herrschen. Haushofers Abschied von der Unheils- und Gewaltgeschichte
verdichtet sich allegorisch im Bild der weißen Krähe, die — von den schwar-
zen verstoßen - allein auf ihrer Wiese hockt. Sie ist das Inbild unerlöster
Natur. Haushofers Gleichnis schließt mit einem Akt, der Evas Hinwendung
zu den Bedürftigen der Schöpfung zeigt: „Die Krähen haben sich erhoben
und kreisen schreiend über dem Wald. Wenn sie nicht mehr zu sehen sind,
werde ich auf die Lichtung gehn und die weiße Krähe füttern. Sie wartet
schon auf mich" 83 . Ästhetik und Ethik werden in dieser „Lichtung" eins.
Solche Wiederentdeckung von Natur führt hin zu einer Wahrnehmung,
die offen ist für neue, weltliche Formen der Pietas. Die Wiedergeburt sym-
bolischen Denkens ist nur möglich in einem Sinnhorizont, der das Sakrale
auch ästhetisch zuläßt. Das Heilige, das schöpferische Freiheit und Wider-
stand ist, erscheint darin notwendigerweise als Wildes. Das Heilige ergreift,
es ist nicht rezipierbar. Beuys hatte dieses Gefühl für das anarchische und
kreative Potential des Heiligen. Er sah in der Natur ein Göttliches - die
Schöpfungsenergie. Als Künstler war Beuys ein Anarch, der sich auf seinen
Waldgängen den Konventionen der gealterten Institution Avantgarde erfolg-
reich entzog; er überwand die bloße Entwurfs- und Informationsästhetik
durch Rekurs auf eine neue Mythologie der Natur. Er flüchtete nicht ins äs-
thetisch Gefällige — wozu Fett und Filz, obschon „Natur", auch keinen An-
laß gaben. Vielmehr integrierte er das Technoide, häufig zitathaft, in vorge-
gebene naturale Formen. Wie keiner seiner Zeitgenossen verband er in seiner
Kunst Kontemplation und Widerstand.
Die profanierte Geschichte hat ihre Legitimation als Sinnordnung verlo-
ren. Natur ist dabei, an ihre Stelle zu treten. Die Ausbreitung einer Mentali-
tät, die wir verkürzt als „Posthistoire" bezeichnen, hat sich nach dem
globalen Krieg und dem Zerfall des Ost-West-Dualismus lange und
unterschwellig vorbereitet. Sie geht einher mit dem Erwachen ökologischen
Bewußtseins und einer erstaunlichen Renaissance des Ästhetischen. Der
bedeutendste Anthropologe der Epoche, Claude Levi-Strauss, hat diesen
Paradigmenwechsel — von der Historie zur Naturästhetik — mit Blick auf
seine Biographie ausdrücklich formuliert: „Meines Erachtens aber muß der
Mensch zu der Überzeugung kommen, daß er nur einen winzigen Raum in
der Schöpfung einnimmt, daß deren Reichtum ihn weit hinter sich läßt und
daß keine seiner ästhetischen Erfindungen je mit denen rivalisieren kann, die
ein Insekt, ein Mineral oder eine Blume verkörpern. Ein Vogel, ein Käfer
oder ein Schmetterling laden zu eben der inbrünstigen Kontemplation ein,

B Ebd. 227
35

die wir einem Tintoretto oder Rembrandt vorbehalten" 84 . Am Ende seiner


Laufbahn, am Ende auch des 20.Jahrhunderts, das jedes Konzept linearer
Fortschnttsgeschichte durchkreuzt hat, erkennt der Gelehrte mit Proust („da
unser Leben so wenig chronologisch ist"), daß jede Historie zum Synkretis-
mus wird und ihre Wahrheit im Grunde nur eine ästhetische ist.
Die eurozentrische Perspektive hat ausgedient. In seinem letzten Buch
Regarder, ecouter, lire (1993) wendet sich Levi-Strauss von der französischen
Kultur zwischen Poussin und Proust, deren versierter Kenner er ist, demon-
strativ den Mythen der Tlingit-Indianer in Südalaska zu. Die letzte Lektion
erteilt das wilde Denken. Sie lautet folgendermaßen: Einem jungen Häupt-
ling auf den Charlotte-Inseln war seine Frau gestorben, die er innig liebte.
Untröstlich suchte er nach einem Bildhauer, der imstande wäre, ihre Statue
aus einem Thuyabaum zu schnitzen. Der Künsder fand sich, ein berühmter
Mann, dem es gelang, die Tote aus der Erinnerung nachzubilden. Die
Skulptur wurde mit den Gewändern der Frau bekleidet und der Lebenden
immer mehr ähnlich. Zwischen dem Häuptling und der Figur erwachte
Liebe. Eines Tages wurde der Mann gewahr, daß ihr ein kleiner Baum ent-
sproßte. Er wurde der Ahnherr aller Thuyabäume auf den Charlotte-Inseln.
Findet man einen besonders wohlgestalteten, sagt man noch heute: Er ist
schön wie das Kind der Häuptlings frau85.
Dieser ätiologische Mythos der Tlingit entwirft eine Naturästheuk, die
keiner europäischen nachsteht. Er vermittelt souverän zwischen Natur und
Kunst, beläßt aber beiden ihr Eigenrecht. Die Thuyabäume, die das Schöne
der Natur repräsentieren, erinnern daran, daß in ihrem Holz ein Kunstwerk
schlummert. Die Aisthesis des Häuptlings transformiert die Gattin in den
Baum. So lebt die Tote weiter. Auch wenn die Figur, wie der Mythos erzählt,
sich kaum regte, so sprach sie doch im Traum mit ihrem Mann. Und darauf
kommt es den Tlingit an. Die Frucht der Liebe ist Frucht der Aisthesis:
Baum, Frau und Statue verschmelzen darin. Der Mythos bleibt dabei durch-
aus im Rahmen der Natursymbolik: das Kind der Frau aus Holz kann nur ein
Baum sein. Die Erzählung verklammert die wichtigsten Lebensbereiche:
Liebe und Tod, Natur und Kunst. Doch wird auch klar, daß das „Natürli-
che" in der Ästhetik der Tlingit hochgradig stilisiert ist. So fühlt sich Levi-
Strauss, jenseits des Historismus, in der Idee bestätigt, daß Kunst aus der
Natur hervorgeht. Ohne von Kant und Schiller je gehört zu haben, fassen
die Tlingit Kunst als autonomes Tun. Die Fähigkeit, einen Baumstamm in
ein Bildwerk zu verwandeln, ist was den Menschen zum Menschen macht.
Die Kunst, nicht die Geschichte rechtfertigt unser Dasein:

Levi-Strauss/D.Enbon, Das Nahe und das Ferne. Eine Autobiographie in Gesprächen


(Frankfurt/M. 1989) 254
Levi-Strauss, Sehen, Hören, Lesen 169f.
36

Die zufällige Unterdrückung von zehn oder zwanzig Jahrhunderten


Geschichte beeinträchtigte unsere Kenntnis des Wesens des Men
schen nur unmerklich. Der einzige unersetzliche Verlust wäre der
Verlust an Kunstwerken, die diese Jahrhunderte hätten entstehen se
hen. Denn die Menschen unterscheiden sich nur, ja, existieren über
haupt nur durch ihre Werke. Wie die Holzstatue, die einen Baum zur
Welt brachte, liefern allein sie den Beweis, daß sich im Laufe der Zei
ten unter den Menschen wirklich etwas ereignet hat.86

Ästhetisch lebt der Mensch. D o c h die N a t u r bleibt seine Meisterin. D e r


T h u y a b a u m , das K i n d der Häuptlingsfrau — sie werden eins kraft Wahr
n e h m u n g des Schönen. So spricht der Mythos v o n einer Wechselwirkung
zwischen N a t u r u n d Kunst. N a t u r wird hier ästhetisch aktiv: Sie belebt sich,
will zeugen, erwidert die Bücke des Menschen. Diesen Wechselprozeß hat
Allen C u r n o w , der neuseeländische Dichter, in seinem Zyklus Trees, Effigies,
Moving Objects (1972) beschrieben — auch er ein Liebhaber der großen Bäume,
die in Neuseeland Kauri heißen. A u f den Spuren v o n G . M . H o p k i n s , der die
gefleckte Schönheit {seine A r t v o n Wildnis) als G o t t e s G e w a n d entdeckte,
erlebt C u r n o w , daß die N a t u r nicht m e h r Objekt sein will, sondern heraus
tritt aus der Geschichte, die wilden Augen aufschlägt u n d unsere Blätter
durcheinanderbringt. D a s Sehen gerät z u m Dialog, anarchisch u n d vital, u n d
Pan kehrt wieder:

Look hard at nature. It is in die nature


of things to look, and look back, harder.
Botany is panic of another description.

Blick die Natur scharf an. Es liegt in der N a n u


der Dinge, schärfer zu blicken und zurückzublicken.
Botanik ist Panik vor einer anderen Beschreibung. 87

Dergestalt stürzt der m o d e r n e Ikarus, vierhundert Jahre, n a c h d e m ihn


Bruegel malte, aus der Hybris seines Höhenfluges in die große Didaxis hin
ein. Allein dieser Sturz kann ihn retten.

86
Ebd. 172
87
A.Curnow, Bäume, Bildnisse, bewegliche Dinge (Göttingen 1994) 58/59
Dt. von K. Graf/J.Sartorius
2. Kapitel
Ausgänge aus der Geschichte. Von Kant zu Levi-Strauss

Man sollte oft wünschen, auf einer der Südseeinseln als sogenannter
Wilder geboren zu sein, um nur einmal das menschliche Dasein ohne
falschen Beigeschmack, durchaus rein zu genießen.

Goethe zu Eckermann, 12.3.1828

Am Anfang der Geschichtsphilosophie, noch im Frühling der Teleologie,


steht ein berühmter Hinweis auf den Ausgang: freüich nicht Flucht, sondern
Hoffnung stand an. Kant, in Beantwortung der Frage, was Aufklärung sei,
wies den Weg:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschul-


deten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines
Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschul-
det ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am
Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes
liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere
aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also
der Wahlspruch der Aufklärung.1

Seinem Appell fügte Kant noch eine menschenkundige Maxime an: „Es ist
so bequem, unmündig zu sein", damit die Geschichte der Unvernunft ab-
grenzend von der neuen Ära der Aufklärung. Subjektwerdung war angesagt.
Die Weltvernunft selbst dekretierte, was zu geschehen habe und, weil ver-
nünftig, im Fortgang der menschlichen Sozietät gar nicht anders geschehen
könne.
Kant, als ein wahrhaft Aufgeklärter, will der Vernunft keine historischen
Fesseln anlegen. Denn auch die Aufklärung hat ihre Dogmen, Institutionen
und Eiferer. Von daher seine Warnung: „Satzungen und Formeln (...) sind
Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit" 2 . Diese Freisprechung
entläßt den Einzelnen ins offene Meer der Freiheit, wo er zu navigieren
lernen muß. Aber Kant fürchtet 1784, am Vorabend der großen Wende, als
die Revolution der erstarrten Verhältnisse in Paris wie in Königsberg bereits

1
Kant 53
2
Ebd. 54
38

Salonthema ist, nichts mehr als den historischen „Sprung" - getreu der
Maxime Linnes in seiner Philosophia Botanica (1751): „Natura non facit saltus".
Diesen Gedanken der Kontinuität, den Kant so schätzte, hatte schon Leibniz
verkündet. Kant verwahrt sich gegen den Trugschluß, durch eine Revolution
würde eine Reform der Denkungsart zustande kommen. Die reale Ge-
schichte hat ihn darin bestätigt, daß Theorie der Geschichte, am Dogma der
Revolution fixiert, ein neues Vorurteil darstellt — ohne weiteres geeignet, für
Jahrzehnte zum „Leitbande des gedankenlosen großen Haufens" 3 zu dienen,
und öfters mit tödlichem Ausgang.
Kants Vernunft erweist sich als Mißtrauen gegenüber dem oft befremd-
lichen Gang der Geschichte, „darin fast alles paradox ist"4. „Räsonniert, nur
gehorcht!" Der Schatten des Unaufgeklärtseins fällt in diesem imaginären
Zitat selbst auf Friedrich den Großen, den Kant zum Mann des Jahrhunderts
erklärt hatte. Dennoch - am Ende der Aufklärungsschrift steht der uner-
schütterlich optimistische Verweis auf die Natur. Sie, die noch über der Ge-
schichte waltet, als Garant einer im Leibnizschen Sinne vernünftigen, weil ih-
res Schöpfers würdigen Weltordnung, hat im Menschen den Hang und Beruf
zum freien Denken keimhaft angelegt. Einzig diese Berufung schützt ihn da-
vor, bloße Maschine der Vernunft zu sein5.
Aber der Geist ist ein Wühler. Freilich muß er dazu in den Untergrund
gehen und subversiv werden. Die Vernunftgeschichte, seit Robespierre zuse-
hends dogmatisiert, im Namen der Revolution zur Selektions- und Tö-
tungsmaschine verkommen, ihr Pantheon der Zwecke installierend, bezeugt
jene Paradoxien, vor denen Kant gewarnt hat. Die Logik der Macht kennt
keine Menschenwürde und keine Bürgerrechte. Zweifelnd an der Geschichte
und Geschichtsphilosophie sucht sich der Mensch zu befreien: spätestens
seit Nietzsches Vision Zarathustras am See von Silvaplana forscht er nach
Ausgängen, nach „Ekstasen". Für Giorgio Colli, den Nietzschekenner, ist
Ekstase eine Erkenntnis, die nicht den Bedingungen der Individuation un-
terliegt6; ich füge hinzu: weil sie Geschichte auslöscht und negiert. „Etwas
außer uns befreit uns von uns selbst"7. In diesem Licht enthüllt sich ein
Großteil der modernen Kunst und Literatur als ekstatisch, sichtbar am Pa-
thos der Grenzüberschreitung, des Traditionsbruchs und des „epater le
bourgeois". Seit der Romantik gewinnt der ekstatische Augenblick besondere
Qualität, verspricht er doch Entrückung aus dem bürgerlichen Alltag. Dieses
Bedürfnis hat Wagners Tristan in musikalische Entgrenzung übersetzt. Auf
anderem Terrain hat ein Großmeister der Naturbetrachtung, Goethe, das
Erlebnis der Befreiung vom gemeinen Dasein in optische Symbolik übertra-

3
Ebd. 55
* Ebd. 61
s Ebd.
6
Colli, Nach Nietzsche 65
7
Ebd. 66
39

gen: „Warum gabst du uns die tiefen Blicke?" Colli hat an die antike Lehre
vom Augenblick erinnert, etwa an Heraklits Sinnspruch „Alles regiert der
Blitz" 8 , und das antike Gefühl mit dem modernen bei Goethe verglichen,
den der erfüllte Augenblick gleichsam für ein ganzes Jahr entschädigt. „Und
wo der Augenblick gerühmt wird, ist die mysterienhafte Erkenntnis gegen-
wärtig, von Parmenides bis zu Nietzsche" 9 . So scheint der emotionale Haus-
halt des modernen Menschen, der sich zusehends von Systemen eingeschlos-
sen weiß, auf spezifische Weise bereit für das Erleben des Augenblicks10.

Alle Suche nach Ausgängen aus der Geschichte ist mythisch grundiert, inso-
fern sie das verlorene Paradies sucht. Ihr Motiv erfährt sie im zuvorbe-
stimmten Scheitern. Scheitern heißt: sich aufsplittern in leuchtende Augen-
blicke. So ist die Suche nach Ausgängen im Labyrinth der Geschichte ein
Ritual, das die Natur uns vorschreibt — sogar nach Kant, der unter der harten
Hülle der Notwendigkeit die Freiheit keimen sah. Der Ritus sagt uns, was
fehlt. Was fehlt, ist enthalten in dem, was im Woraufhin der Ritus entwirft:
„Sein lichtet sich dem Menschen im ekstatischen Entwurf. Doch dieser
Entwurf schafft nicht das Sein"11. Was nicht zu schaffen ist, macht dennoch
Lust zum Entwerfen. Das Stichwort Paradies hatte schon Kleist an uner-
warteter Stelle, in seinem Aufsatz über das Marionettentheater, geliefert. Das
Paradies, das Jenseits der Vernunft, öffnet sich dem, der bereit ist, noch ein-
mal vom Baum der Erkenntnis zu essen, um zurückzufallen in den Stand der
Unschuld. Ein Jahrhundert nach Kleist ist Proust ein Gewährsmann dafür,
daß die wahren Paradiese die verlorenen sind. Der Akt des Entwertens, in
Vinteuils Septett zur musikalischen Ekstase werdend, ist der Versuch, ins Pa-
radies einen Blick zu erhaschen. Paradies aber meint: mit dem Menschen ver-
söhnte Natur.
Was den Gedankenflug zu Boden drückt, ist die wachsende Last der
Geschichte. Schon Kant trug Bedenken angesichts der schieren Masse histo-
rischen Wissens, das mit den Zeiten sich ansammelt. Am Ende seines Ent-
wurfes einer Allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1783) bedrängt ihn
die Frage, „wie es unsere späten Nachkommen anfangen werden, die Last
von Geschichte, die wir ihnen nach einigen Jahrhunderten hinterlassen
möchten, zu fassen"12. Der Weise von Königsberg beruhigt sich noch mit
dem Argument der Selektion: schätzenswert und interessant werde allenfalls

Heraklit, Fragment B 64 (Snell 22/23)


9
Colli, Nach Nietzsche 73
10
Vgl. Anglet, Der „ewige" Augenblick. Studien zur Struktur und Funktion eines Denkbildes
bei Goethe (Köln-Weimar-Wien 1991)
" Heidegger, Wegmarken 168
" Kant 50
40

bleiben, was Völker und Regierungen (in dieser Reihenfolge) in weltbürgerli-


cher Absicht geleistet oder geschadet haben13. Für Kant war Aufklärung
Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit. Doch zweihundert Jahre
später legt die Geschichte eine andere Lesart nahe: Aufklärung wäre danach
der Ausgang des Menschen aus jener nachhalogenSelbstverstrickung, die bis
auf den heutigen Tag mit den Dogmen von Fortschritt, Wachstum und Per-
fektibilität verbunden ist.
Die Selbstverstrickung der Neuzeit, im Geist eines Phantasma, nämlich
der Rationalität vorangetrieben, läßt sich in der Denkfigur des Labyrinths
erfassen; kein Zufall, daß es seit der Aufklärung seine herkömmlichen
mythologischen Implikationen verliert und zu einem Gleichnis für Ge-
schichte wird. Am Labyrinth hat die Verblendung mitgebaut, die Nietzsche
noch als „große Politik" glaubte affirmativ titulieren zu müssen. Ein drama-
turgischer Ableger dieses bluugen Schauspiels, das unter Hider und Stalin
Täter und Opfer ihre Rollen tauschen ließ, ist noch Artauds „Theater der
Grausamkeit". Aber das Blutige daran ist längst keine Metapher mehr, seit
Weltkriege und Genozide fabrikmäßig organisiert werden. So hat Aufklärung
zwar vieles „aufgehellt", nur nicht sich selbst. Ihre Vernunft war kein Den-
ken, welches das Wagnis des Scheiterns eingeht, sondern publikumswirksa-
mes Beleuchtungsspiel. Wie denn nach Blumenbergs maliziöser Bemerkung
Kants Begriff der „selbstverschuldeten Unmündigkeit" im Grunde eine My-
stifikation war: keine Antwort auf Fragen, eher Verhinderung des Aufkom-
mens von Fragen14. Aufklärung über die Aufklärung hätte gerade am Ab-
stand zur Geschichte historische Erkenntnis zu gewinnen. Denn im Namen
der Universalgeschichte wurde der teleologische Plan entrollt, der zur Revo-
lution aller Verhältnisse, zur Nivellierung der Völker und Kulturen, schließ-
lich zur Verwüstung der Natur geführt hat. Ein logozentrischer Fortschritts-
begriff hat die „modernen Ideen", die schon Nietzsche haßte, wie bewaff-
nete Sendboten ausgeschickt, um die endegensten Inseln auch geistig zu ko-
lonisieren.
Es gehört zum absurden Theater, das sich Geschichte nennt, daß Kants
Intentionen heute nur noch mit Nietzsches Instrumentarien anzugehen sind:
Aufklärung als Götzendämmerung. Zu den Götzen zählt auch der weldose
Utopismus der New-Age-Bewegung mit ihrer Aftermythologie vom Was-
sermann-Zeitalter, worin Liebe und Humanität sich verwirklichen werden15.
Gerade die Stigmen der Modernität hätten historische Erkenntnis zu beglau-
bigen: Mit der Geschichte gegen die Geschichte. Aber Teleologie und Tota-
litarismus gingen von Robespierre bis zu Lenin und Mao Ze Dong stets ein
inniges Bündnis ein; aus diesem Fundus schöpften noch die Hinrichter der
europäischen Geschichte, Hider und Stalin. Erst Philosophie der Geschichte

'3 Ebd.
u
Blumenberg, Höhlenausgänge 548f.
15
G.Trevelyan, Eine Vision des Wassermann-Zeitalters (München 1984)
41

erlaubt es, indem sie die Revolution zum Dogma erhebt, den Terror zu legi-
timieren. Von daher gibt es keine reine Theorie, von der die schlechte Praxis
zu unterscheiden wäre. Hitlerismus und Stalinismus waren Ausfluß eines hi-
storischen Weltbildes, praktizierte Theorie: Geschichte als Herrschaftsin-
stanz, verkörpert im „Führer", im „Vater der Völker".
So enthält das angemaßte Ganze der Geschichtsphilosophie a priori ein
totalitäres Moment — das bei Rousseau, in Hegels System und bei Marx als
Argument und Vibrato rhetorisch mit anklingt. Ohne die Sinninstanz Ge-
schichte würde diese Verkündigungsrhetorik in sich zusammensinken. Was
zu abstrakten Aufrissen gerinnt, sind bloße Zwecke; die lebendigen Men-
schen verkommen zu demonstrierenden Schatten. Seit Hegel, Marx und
Nietzsche gibt es im historischen Diskurs eine förmliche Ideenpolitik, die
mittels Begriffskampf die Wirklichkeit mehr oder minder gewaltsam zu än-
dern beansprucht. Hegel verkündete freilich nicht nur das Ende der Kunst,
sondern auf seine Weise auch das Ende der Geschichte. Das war historisch
zu kurz gegriffen, weil er das heroische Zeitalter mit dem gestürzten Napo-
leon enden sah und den neuen Prometheus kaum wahrnahm, der eben die
Rüstung des Industrialismus schmiedete. (Der Historismus ist nicht umsonst
ein geistiges Produkt des Biedermeier.) Aber das Ende der Geschichte ist
eine Anschauungssache. Geschichte endet, wo das Subjekt den Wunsch hat,
den Theoriedruck oder Systemzwang des Historismus verschwinden zu las-
sen. Seit Nietzsche mehren sich diese Wünsche. Als Zuflucht bieten sich
zwei große Reiche an: Kunst und Natur.

Die Suche nach Ausgängen aus der Fatalität der Geschichte speist sich weni-
ger aus anarchischem Freiheitsdrang als aus fundamentaler Enttäuschung.
Die Vision einer möglichen Einheit von Mensch und Natur, wie sie der
junge Marx erträumte - in seinen Pariser Entwürfen zur Anthropologie -,
blieb am folgenlosesten im Sozialismus selbst. Dort war sie immer häretisch,
weil ablenkend vom Klassenkampf. Doch hält sich, nach dem Zusammen-
bruch des Sozialismus, die melancholische Erinnerung an einen Marx, der
den Menschen primär nicht als Klassenwesen, sondern als unmittelbares
Naturwesen faßte:

Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Progreß bleiben
muß, um nicht zu sterben. Daß das physische und geistige Leben des
Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen anderen Sinn,
als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch
ist ein Teil der Natur.16

16
K.Marx/ F.Engels, Kleine ökonomische Schriften (Berlin 1955) 103
42

Die Naturalisierungsthese des frühen Marx läßt der Sinnlichkeit des Men-
schen breiten Raum, sperrt freilich die Kategorie des Ästhetischen aus. Das
Ästhetische erscheint - unter dem Primat der Selbsterzeugung des Menschen
durch Arbeit - als Luxusregel und nicht als Lebensmittel.
Erst die Kunstreligion des saturierten Bürgertums, durchaus ideologisch,
eine Mischung aus Wagner und Makart, suchte nach Fluchtwegen aus dem
trivialen Kontinuum des Alltags. Ihr Verlangen zielte auf theatralisch gestei-
gerte Daseinserfahrung, unbeschädigt von allen Makeln der Erwerbsgesell-
schaft. Aus Enttäuschung an profaner Wirklichkeit sakralisierte die bürgerli-
che Avantgarde der Makart und Moreau, der Stuck und Klimt die Kunst zum
(käuflichen) Paradies, tief in den Fundus von Mythologie und Symbolismus
greifend, auch die morbiden Reize nicht verschmähend - mit terroristischem
Eifer, als sollte das Schöne erst aus dem Schrecken erstehen. In diesem
Klima entstehen am Ausgang des 19. Jahrhunderts jene Neurosen, die Freud
zu seinen Expeditionen in den dunklen Kontinent des Unbewußten trieben.
Eros und Thanatos stehen allegorisch für die inzestuöse Verbindung von
Schönheit und Schrecken. Schon die Romantik, Vorläuferin auch hier, hatte
Liebe und Tod als lustvoll verschwisterte Passionen für sich entdeckt — als
ewige Naturgesetze, in denen sich Ausgange aus der Geschichte ereignen, oft
mit letalem Ausgang. Der Wahnsinn von Tristan und Isolde ist Wagners per-
sönlich empfundene Apotheose dieser übergeschichtlichen Mächte. Zuvor
hatte Novalis das Grab als Schoß gedichtet, in einer individuellen Todesmy-
stik das Geheimnis der Auferstehung umkreist. Kleist erhob die Marionette,
die bewußdos, ohne Schuld und Sühne agiert, zu seiner Leitfigur von
Welterkenntnis. Sie deutet hin auf das „letzte Kapitel von der Geschichte der
Welt"17. Mitten im ruchlosen Optimismus der fortschrittstrunkenen Bour-
geoisie besang Baudelaire, das barocke Vanitaspathos in romanische Klassi-
zität überführend, den Tod als alten Kapitän, der die erlösungs- und
todessüchtige Seele zur Fahrt in den Abgrund verführt. Der Schluß der Fleurs
du Mal negiert die Geschichte des Fortschritts, jenes bürgerlichen Idols, im
katastrophischen Begehren nach dem Absoluten, das ironischerweise in der
Maske des „Neuen" erscheint. Hier setzt Baudelaire all sein poetisches Ka-
pital auf den künstlich geschaffenen Mythos der Modernität. Forcierte Suche
nach dem Jüngsten Tag soll die Geschichte mit ihren Wiederholungsmecha-
nismen zum Verschwinden bringen: der Tod als höchstes Reiz- und Lust-
erlebnis.
Metaphysische Züge nimmt die Ruhelosigkeit des 19.Jahrhunderts bei
Melville an, dessen Kapitän Ahab - von Rache und Hybris verblendet - dem
Phantasma des weißen Wales nachjagt. Der Ich-Erzähler Ismael, der als ein-
ziger dem tödlichen Scheitern entkommt, ist Inbegriff des in die Wüste Ver-
stoßenen, sein scheinbar realistischer Bericht eine großangelegte symbolische

H.von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hg.von H.Sembdner, II (München 1961) 345
43

Studie zur Prädestination. Die Abwesenheit der Frau in Melvilles Moby Dick
darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Meer selbst als Urelement das
Weibliche verkörpert - unstet, verführerisch, vergeblich vom Kiel des
männlichen Schiffes gepflügt, am Ende der Schoß, der die Gescheiterten
aufnimmt. Die Jagd nach dem weißen Wal setzt durchaus ambivalente Kräfte
in Ahab frei (der seine Mannschaft zuvor durch mephistophelischen Pakt an
sich bindet): Verrat und Treue, Zartheit und Gewalt, Verletzlichkeit und
Härte. Diese Eigenschaften beleuchten hinter der puritanischen Fassade eine
ganze erotische Skala: was Ismael erzählt, ist die Geschichte eines Liebes-
kampfes und damit eines Wahns. Denn Ahab liebt, was er haßt, und begehrt,
was er fürchtet. In der Begegnung mit dem Phantasma, das aus der Tiefe
aufsteigt, versammelt Melville die dämonische Macht der in Sünde gefalle-
nen, gesetzlosen Natur. Dieser Natur gibt Ahab sich ganz hin, er trifft — mit
Kierkegaard — die absolute Wahl: sein Begehren nach Rache ist subtiler
Götzendienst, Abtötung der Liebe in sich. Ahab ist der Verdammte im Reich
des Ästhetischen, gefesselt an sein fruchdoses Begehren, das ihn und seine
Männer allem Humanen entfremdet, zu wandernden Gespenstern in Was-
serwüsten macht. Der weiße Wal verkörpert das Faszinosum des Bösen, dem
ein unbegreiflicher Gott gewisse Freiheit gewährt. Dieser zum Monstrum
gewordene Engel des Abgrunds flößt durch bloßen Anblick Schrecken ein
und seine Schläge töten. Das naive Naturvertrauen der Aufklärung versinkt
im Strudel des erzürnten Leviathan, der Ahabs Schiff zerstört und seine
Mannschaft in die Tiefe reißt. Mit allem Pathos, das ihm zu Gebote steht,
macht Melville aus dieser Agonie eine Szene des Jüngsten Gerichts:

Eine Raubmöwe war aus ihrer Heimat zwischen den Sternen dem
Mast wie zum Spott in die Tiefe nachgeschossen. Zudringlich hatte
sie Tashtego umkreist und nach der Flagge gepickt und geriet nun mit
der flatternden Schwinge zwischen Hammer und Holz. Der Wilde
spürte noch im Wasser, wie der zarte Flügel zuckte, dann erstarrte
seine Hand und mit ihr der Hammer am Mast. Wie ein Erzengel
sehne der Himmelsvogel auf und stieß mit dem königlichen Schnabel
in die Luft, dann ging er unter, den gefesselten Leib in Ahabs Flagge
gehüllt, gemeinsam mit Ahabs Schiff, das sich so lange wie ein Teufel
gewehrt, zur Hölle zu fahren, bis es sich als Helm dies Stück Himmel
aufgestülpt und mit sich hinabgenssen hatte.18

Aus Melvilles Möwe schreit die unerlöste Natur.


Diese Schlüsselgeschichte vom Scheitern männlicher Hybris weist vor-
aus auf eine Jahrhundertneurose: daß mit dem Wilden auch das Heilige ver-
drängt wird. Der Imperialismus der Vernunft wird zum Wetdauf der Impe-
nalismen um Kolonisierung und Befriedung der fernsten Wildnisse. Der

18
Melville 456 f.
44

weiße Mann, ein bewaffneter Aufklärer im Dienste der Zivilisation, trägt die
Insignien von Wissen und Macht auf Kreuzern und Zerstörern über die sie-
ben Meere. Der Stolz darauf spricht noch aus dem Kaiserpanorama, das
1886 in Berlin Szenen aus der kolonialen Expansion des Bismarckreiches,
etwa die Flottendemonstration vor Sansibar, in tropischen Farben malt: „Die
poetischen Lichter des unterworfnen Orients umspielen die Panzertürme der
Kriegsschiffe"19. Der weiße Wal Melvilles als mythische Figur wirkt daneben
so unzeitgemäß wie Nietzsches Zarathustra. Die weißen Flecken auf den
Landkarten verschwinden; aber die Psyche bleibt ein dunkler Erdteil, worin
das Geheimnis des Todes gehüllt ist in Begehren. Für Baudelaire wie für
Melville war Tod noch eine Ausreise ins Unbefahrene, das letzte Abenteuer,
zugleich eine romantische Versuchung - in Moby Dick mit Anklängen an das
Undine-Motiv: „Für den Menschen, der den Tod sucht und den Selbstmord
scheut, ist daher das Meer der große Verführer... Da ist jedes Meer ein Pazi-
fik, und aus allen Tiefen singen die Nixen: Komm zu uns mit deinem zersto-
ßenen Herzen! Wozu erst der Frevlertod! Hier ist ja neues Leben und über-
irdische Wunder genug, zu sterben brauchst du noch nicht. Begrabe dich bei
uns im neuen Leben"20.
Die Verführung dieses Stillen Ozeans, einer Südsee der Seele, taucht als
lockendes Bild vor den Harpunen der Puritaner von Nantucket auf. In
Freuds Kategorien ist selbst ihr Untergang ein Wunschtraum, den sich der
Autor als Buße für seine odysseischen Abschweifungen und die Lust am Ge-
sang der Sirenen gestattet. Nur Ismael wird wundersam gerettet: den Verwai-
sten fischt die „Rahel" auf, die vergeblich nach ihren eigenen verschollenen
Kindern sucht. Ismael, durch Schiffbruch weise geworden, ist der Erwählte,
vom Strafgericht Verschonte — wie Jonas dazu bestimmt, Zeugnis zu geben.
Als einziger erzählt er sich aus diesem Meer heraus; in biblischer Symbolik
steht es für Sünde und Welt schlechthin. Seine Heimkehr geschieht durch
Erzählen: das Meer wird abgesetzt wie eine Sündenlast. Das Erzählen ist Is-
maels Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Mit der Apotheose
des Todes endet die „Totschlägerreihe" (Kafka) dieser Phantomjagd.

Der Imperialismus der Vernunft, mit dem Freud die unpassierbaren Urwäl-
der des Traums und der Triebe erforschte, bleibt imponierend genug. Die
Libido, die er als Grundmotiv menschlichen Handelns annahm, war weit da-
von entfernt, nur Ausdruck einer Privatwelt zu sein, die sich im Persönlich-
Intimen erschöpft. Vielmehr verstrickt sie die Menschen in einer gemeinsa-
men Geschichte, worin das Begehren die Grenzen der Vernunft höchst lust-

" Sternberger 54
20
Melville 391 f.
45

voll überschreitet, nicht nur in der Dimension des Erotischen, sondern


ebenso des Politisch-Ökonomischen. Der Große Krieg von 1914 brach aus
gegen alle Vernunft, aber nicht unerwünscht. Der junge Georg Heym, 1912
beim Schlittschuhlauf auf der Havel ertrunken, expressionistischer Dichter
und dennoch in seiner Mentalität zugleich Exponent eines erlebnis-, ja kata-
strophensüchtigen Bürgertums, schildert das Wiedererwachen des Kriegs-
gottes in apokalyptischen Fresken. Überdrüssig der bürgerlichen Ordnung,
sehnt er sich danach, Terrorist zu sein und träumt sich in den „Vorhof des
großen Tempels der Hysterie" hinein21. Am 15.September 1911 notiert er im
Tagebuch Revolutionsphantasien, dann seinen Herzenswunsch: „Ich hoffe
jetzt wenigstens auf einen Krieg"22.
Dem national erweckten, risikoberauschten Bürgertum kam der Krieg
fast wie ein Gottesgeschenk: Einbruch des Heiligen in den banalen Alltag;
Wildnis im Blut; Stimme des Gottes in den Stahlgewittern. Der Krieg nivel-
lierte die Klassen nachhaltiger als jede Sozialpolitik; er brachte die planmä-
ßige Verwilderung, den Stellungskrieg als sanktionierten Opferritus, die be-
griffliche Gleichsetzung von Mensch und Material; er mündete im Mythos
vom „totalen Krieg" und im Kult des „unbekannten Soldaten". So griffen
Sinnzerstörung und Sinnstiftung ineinander.
Sie tun es tendenziell auch in Ernst Jüngers Stahlgewittern (1920). In die-
sem Tagebuch eines Stoßtrupp fuhrers setzt Jünger die Ästhetisierung des
Krieges, die literarische Bearbeitung des Schreckens, an die Stelle der ver-
blassenden politischen Deutungsmuster. Allenfalls der Opfergedanke, „der
Gedanke einer historischen wie auch persönlichen Notwendigkeit", wie
Martin Meyer in seiner Studie über Jünger schreibt23, liefert noch einen ge-
wissen Zusammenhang für die disparaten, in keinen Sinnkontext mehr inte-
grierten Momentaufnahmen. Ursprünglich der religiösen Sphäre zugehörig,
tritt der Begriff des Opfers hier in das Vokabular eines heroischen Nihilis-
mus ein. Die Bereitschaft zum Opfer, also zur Gewalt war angelegt in der
Zivilisationsmüdigkeit der Generation von 1895. Eine später gestrichene
Passage aus den Stahlgewittern versuchte eine Erklärung:

Das Grausige gehörte ja auch zu dem, was uns so unwiderstehlich in


den Krieg hinausgezogen hatte. Eine lange Zeit der Ordnung und des
Gesetzes, wie sie unsere Generation hinter sich hatte, bringt einen
wahren Heißhunger nach dem Außergewöhnlichen hervor, der noch
durch die Literatur gesteigert wird. So hatte uns neben vielen anderen
Fragen auch die beschäftigt: Wie sieht wohl eine Landschaft aus, in
der man die Toten über der Erde läßt?24

21
G.Heym, Dichtungen und Schnften, hg. von K.L.Schneider, Bd. 3
(Hamburg-München 1960) 154
22
Ebd. 164
23
Meyer 22
24
Zitat bei Meyer 24
46

Der Autor, bei der Niederschrift fünfundzwanzig Jahre alt, analysiert nicht
die politischen und psychologischen Wurzeln des Krieges, sondern be-
schreibt ihn generell als Naturkatastrophe, nimmt ihn als „Schicksal" an.
Jünger selbst spricht vom „Empfinden des Unentrinnbaren und unbedingt
Notwendigen wie einem Ausbruch der Elemente gegenüber"25. Auffällig
bleibt die Enthistorisierung des Geschehens, das doch geschichtlich die
„Urkatastrophe" (George Kennan) des 20. Jahrhunderts war. Jüngers Er-
lebnisbericht weiß den Ereignissen keine politische Struktur, nicht einmal
eine militärische Logik zu unterlegen. Vom Rausch des l.August 1914 zum
Zusammenbruch von 1918 führt keine historische „Linie" oder gar „Ent-
wicklung". Der Krieg und folgerichtig auch die Niederlage sind parado-
xerweise allem politischen Denken entrückt. Was allenfalls aus dem Rauche
der Schlachtfelder auftaucht, ist die mythische Figur des „Kriegers", als
neuer Menschentyp auf den „Arbeiter" Jüngers vorausweisend; ansonsten
triumphieren der ,Anarchismus des 'reinen Kampfes' und seine zynische
Kommentierung" 26 . Die Naturalisierung des Krieges, auf Nietzsches Spuren
vollzogen, bedeutet gewollten Verzicht auf historisch-ethische Reflexion.
Nietzsches Stichwort in Jenseits von Gut und Böse (§ 229) hieß Grausamkeit:
Grausamkeit als Heilmittel der Natur gegen die Dekadenz der modernen
Kultur; der Mensch als wildes Tier, dessen Wildheit nicht abgetötet, sondern
vergöttlicht wird. Dieser bei Nietzsche noch literarische Immoralismus wird
im realen Krieg zum Atavismus der Tierheit im Menschen. In Jüngers
Worten: „nackt wie je bricht er hervor, der Urmensch, der Höhlensiedler in
der ganzen Unbändigkeit seiner entfesselten Triebe"27.
Weniger aggressiv als der Kriegs freiwillige Jünger reagiert der fünfzehn
Jahre ältere Robert Musil, den der Krieg aus einer vielversprechenden litera-
rischen Karriere herausreißt. Das Entrückungserlebnis mitten im trügeri-
schen Lärm des Krieges gerinnt in seinen Tagebuchnotizen zum erotisch
gefärbten Naturbild: „Feigenbaum am Caldonazzo-See: Wie ich unter den
Baum trete: Wie ein grüner seidener Unterrock, durch den die Sonne scheint.
Und die Feigen aufgesprungen, fleischfarben und rot geöffnet...: oh so lange
keine Frau...!"28 Das Idyll, das sich ungefragt einstellt („wie von Honig oder
Goldstaub glitzernde Bienen summen mit mir"), ist das Residuum des unbe-
drohten Blicks, der sich für Momente auf den Farben ausruht. Dieser Aus-
stieg aus der Geschichte, wenige Lidschläge lang, borgt sich seine Motive
gleichsam von Theokrit; zuvor wird noch im blauen See gerudert, unbe-
kümmert um die italienischen Granaten mit ihren Zufallstreffern. Ein göttli-
cher Leichtsinn belebt den zum Soldaten gewordenen Literaten; er fühlt sich
trotz ständiger Todesnähe „von einer Bindung befreit, wie von einem steifen

25
Jünger, In Stahlgewittern (6Auflage Berlin 1925) 87
26
Meyer 28
27
Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis (Berlin 1922) 7
28
Musil, Tagebücher 344
47

Knie oder einem schweren Rucksack"29. Die Metapher ist unpathetisch,


sportlicher Realismus spricht aus ihr. Und dennoch erlebt Musil diese Frei-
heit von Todesangst als eine „Herrlichkeit", als hätte die Psyche in der
Grenzsituation sich einen weltüberlegenen Habitus jenseits von Furcht und
Aggression zugelegt. In solcher Erlebnissphäre hat Musil die Impressionen
für seine Liebesgeschichte Grigia (1925) aufgenommen, in der die tirolische
Landschaft, mit allem Lokalkolorit, Bestandteil der erzählerischen Dra-
maturgie ist. Ein spätes Echo seines Kriegserlebens ist noch in der Erzäh-
lung Die Amsel (aus dem Nachlaß ^u Lebzeiten, 1935) zu hören. Der Krieg er-
scheint in der Erinnerung wie ein seltsam-makabres Spiel, nach überraschen-
den Regeln gespielt — vor einem Seelenpanorama, das wie in „süßer Zer-
streutheit" daliegt: „Es war im Oktober; die schwach besetzten Kampfgrä-
ben versanken in Laub, der See brannte lautlos in Blau, die Hügel lagen wie
große welke Kränze da; wie Grabkränze, dachte ich oft, ohne mich vor ihnen
zu fürchten"30. Dieser Herbst, wie von Trakl gedichtet mit seinen Todes-
lyrismen, suggeriert reinen Frieden. Eine gleichsam überwache Vernunft
stellt die Dinge in magisches Licht. Wie bei Jünger, doch ungleich gelassener,
die Ästhetisierung des Krieges: Farben und Formen blühen bei Musil förm-
lich auf. Der Ausgang aus der Geschichtskatastrophe geschieht wie in Abwe-
senheit, im Eros des träumerisch Suchenden. Unter dem nächtlichen Artüle-
nefeuer hebt der Ich-Erzähler Azwei seinen Kopf lebensverliebt aus dem
Graben:

Dann hielt ich es manchmal nicht aus und kroch vor Glück und
Sehnsucht in der Nacht spazieren; bis zu den goldgrünen schwarzen
Bäumen, zwischen denen ich mich aufrichtete wie eine kleine braun-
grüne Feder im Gefieder des ruhig sitzenden, scharfschnäbeligen Vo-
gels Tod, der so zaubensch bunt und schwarz ist, wie du es nicht ge-
sehen hast.31

Dieses Naturstück, in Trance gesehen, mit kindlichen Augen in märchen-


hafter Reihung dargeboten, erinnert an Bilder von Paul Klee. Der Text zele-
briert in romantischem Blau ein zauberhaft leuchtendes Fabelwesen; er malt
den Ritus eines Todesglücks. Die Romantisierung ist eine vollkommene; sie
hat in der Erzählung ihren besonderen Ort kraft ihrer Transparenz, einge-
bettet in eine Analytik des Erinnerns, die letztlich Selbstanalyse ist. Musil be-
dient sich dabei symbolischer Formen, die eine persönliche Ethik verraten, in
der das Wunderbare - wie in der Mathematik das Unendliche - zugleich das
Natürlichste ist. Der schwarze Vogel Tod, in dessen Gefieder Azwei sich so
geborgen fühlte, kehrt am Schluß der Geschichte in jener Amsel wieder, die

29
Ebd.
30
Musil, Prosa und Stücke 554
31
Ebd.
48

den Erzähler nachts in der Großstadt weckt. Doch diese Amsel kann
sprechen: „Ich bin deine Mutter - sagte sie"32. Mit dieser Überraschung
endet Musil. Seine Amsel, freudianisch gesprochen, ist das mütterliche
Totemtier, einflußreich erst, seit sie tot ist. Musil inszeniert in diesem Auftritt
die Epiphanie der Natur als mütterliches Prinzip: mit märchenhafter Sicher-
heit verlorene Söhne findend, jenseits aller von Männern gemachten Ge-
schichte „einfach da", logisch nicht hinterfragbar, als bloße Erscheinung un-
widerlegbar und vieldeutig; es sind allesamt Attribute des Mythos. Weshalb
der Sinn der Geschichte auch bloß im Erzählen besteht.
Auch Sigmund Freud fühlte sich 1915 gedrängt, Zeitgemäßes über
Krieg und Tod zu publizieren, durchaus im Banne Nietzsches und seiner
Kulturkritik. Denn dieser hatte in seiner Baseler Zeit Fünf Vorreden %u fünf
ungeschriebenen'Rüchernverfaßt und Ende 1872 an Cosima Wagner geschickt.
Thematisiert wird in ihnen der wilde Aspekt der griechischen Kultur:

Der Mensch, in seinen höchsten und edelsten Kräften, ist ganz Natur
und trägt ihren unheimlichen Doppelcharakter an sich. Seine furcht-
baren und als unmenschlich geltenden Befähigungen sind vielleicht
sogar der fruchtbare Boden, aus dem allein alle Humanität in Regun-
gen Thaten und Werken hervorwachsen kann.33

Diesen Satz hätte Freud unterschrieben, bedeutet er doch die Anerkenntnis


der unaufhebbaren Ambivalenz in den menschlichen Antrieben - was
Freuds psychologische Grunderfahrung war. Gerade der Krieg, der diese ur-
sprüngliche Wildheit wieder herbeigeführt hat, „läßt den Urmenschen in uns
wieder zum Vorschein kommen" 34 und stellt die Kultur auf ihre härteste
Probe. Anhand der elementar aufgebrochenen Zerstörungslust revidiert
Freud seine Anthropologie im Sinne einer Naturalisierung; die Verdrängung
des Todes wird nun geradezu eine Verfallserscheinung. Jede vitale Zivilisa-
tion bedarf der Kompensation durch das Todesbewußtsein, durch das ge-
steigerte Wagnis und das gefährliche Leben: „Das Leben verarmt, es verliert
an Interesse, wenn der höchste Einsatz in den Lebensspielen, eben das Le-
ben selbst, nicht gewagt werden darf'35. Diese These verdankt sich nicht
einer Barbarisierung des Denkens, sondern ist beim Bildungsbürger Freud
ein Erbe jenes rigorosen Idealismus, den Schiller im Walknstein und in der
Braut von Messina verkündet hatte; das Freiheitsmoment als tragisches Ingre-
dienz entspringt dem Konflikt zwischen Lebenswillen und hochgetriebener
ethischer Forderung. Die Wiederkehr des Urmenschen in der Abendämme-
rung des bürgerlichen Geistes bleibt merkwürdig genug. Dabei schrieb Freud

» Ebd. 561
« Nietzsche, Fünf Vorreden, Nr. 5 (KSA I) 783
34
Freud, Kulturtheoretische Schriften (Frankfurt/M. 1986) 59
35
Ebd. 50
49

gerade dem prähistorischen, präkulturellen Menschen aus dessen Naturnähe


ein tieferes Gefühl für Blutschuld und Schuld überhaupt zu. Darin liegt die
moralische Spitze seiner Kulturkritik, in der Gewalt als das Authentische die
Deutungsmuster liefert. Freud, Kulturpessimist aus Vernunft, die Wissen-
schaft mit religiösem Ernst betreibend, Vernunft noch auf das Vernunftlose
ansetzend, entdeckt den Aggressionstrieb als anthropologische Konstante.
Das große Schlachten von 1914 bis 1918 bestätigte ihm die Existenz der To-
deslust als Kollektivphänomen. Aus dem Schock kam die Ahnung, daß jede
Kultur ihre Selbstdemontage mit eingebaut hat. Der von Freud enthüllte
Konflikt zwischen Lustprinzip und Todestrieb ist - bei aller Mythologie an
diesem Streit der Giganten — unbestreitbar ein welthistorischer.

So streng der Patriarch der Psychoanalyse auch zwischen Sinnenwelt und


Wunschwelt unterschied — die Suche nach Ausgängen in das Utopische,
angesichts der offenbaren Unvernunft in der Geschichte, animierte gerade
Künsder des 20Jahrhunderts. Ein so nüchterner Autor wie Musil, von in-
genieurhafter Intelligenz, ein Genie ironischer Desillusion, träumte mit Vor-
liebe von ekstatischer Rückkehr ins Paradies. Mystischer Eskapismus, worin
Entrückung sich mit Erkenntnis paart, ist ein erotischer Wunsch, den Musil
seinem Mann ohne Eigenschaften frühzeitig einverleibte. Die Reise ins Paradies ist
ein Entwurf aus der Mitte der zwanziger Jahre, worin der Geliebte Agathes
noch den sprechenden Namen Anders trägt. Musil kleidet die Geschichts-
flucht seiner Protagonisten, den Ausbruch aus sinnentleerten Konventionen,
in einen Amour fou, in das heilige Experiment einer Geschwisterliebe. Der
mythische Archetyp ist das Paar Isis und Osiris, worüber Musil 1923 eines
seiner wenigen Gedichte schrieb - nach den Worten des Autors in nucleo
den ganzen Roman enthaltend: „Und er ißt ihr Herz, und sie das seine"36.
Musil notiert noch in den dreißiger Jahren in seinem Tagebuch: „Ebenso
kann das Geschwistergefühl pervers und es kann Mythos sein"37. Im Gedicht
zielt die Einverleibung des Anderen, über das konventionelle Herzmotiv
hinaus, auf das erotische Kraftzentrum: „Und die Schwester löste von dem
Schläfer/ Leise das Geschlecht und aß es auf'38. Was hier abgelöst wird wie
eine verbotene Frucht, begründet als Tabubruch einen Mythos, der in Aga-
the und Anders zur „Wiederholung" drängt, zu einem Akt symbolischen
Verzehrens. Für den Seelenhaushalt der Zivilisationsmenschen bleibt dieser
Tabubruch freilich verwirrend genug

56
Musil, Prosa und Stücke 465
57
Musil, Tagebücher 847
58
Musil, Prosa und Stücke 465
50

Sie verstanden nichts in dieser neuen Welt, und alles war wie Worte
eines Gedichts. Sie waren ohne Pässe abgereist und ein leises Gefuhl
von Furcht vor irgendeiner Entdeckung und Bestrafung begleitete sie.
Als sie im Gasthof abgestiegen waren, hatte man sie für ein junges
Ehepaar gehalten und ihnen dieses schöne Zimmer mit dem einen
breiten, für zwei Menschen bestimmten Bett, ein letto matrimoniale
angeboten, das in Deutschland außer Gebrauch gekommen ist. Sie
hatten sich nicht getraut, es zurückzuweisen. Nach dem Leiden des
Körpers die Sehnsucht nach primitivem Glück.35

Die Liebesflucht fuhrt nicht umsonst in einen anarchischen Süden, der wie
bei Gottfried Benn Chiffre eines sinnlichen, antipuritanischen Glücks ist. Die
Fahrt über politische und moralische Grenzen, ohne Paß, in einem nach
1918 mißtrauisch sich abschottenden Europa, ist im buchstäblichen Sinne
ein Fluchtversuch aus der Geschichte. Doch stößt sie an neue Grenzen. Die
Wildheit des Eros, der in der Fremde jede Hemmung ablegt, vorsätzlich die
Normen verletzt, die Seelenverwandtschaft durch den Inzest profaniert, be-
gegnet unerwartet einer geheimen Ordnung, die sich als Widerstand gegen
totale Entäußerung aufbaut.

Im Rücken der vorsichtig in diese Menge gleitenden Geschwister lag


noch das Zimmer, lag das tiefe wie ein Windgekräusel auf dem Schlaf
treibende Wachsein, die selige Erschöpfung, in der man sich gegen
nichts, auch gegen sich selbst nicht wehren kann, aber die Welt ferne
wie einen blassen Lärm vor den unendlich tiefen Gängen des Ohrs
hört. Die Erschöpfung des übermäßigen Genusses im Körper, das
aufgezehrte Mark. Es ist beschämend und beglückend.40

An solchen Klippen bricht sich das Verlangen nach dem Unendhchen. Doch
die Manie, das Paradies in sich selber zu finden, es kraft des Begehrens er-
schaffen zu können, enthüllt sich als eine Spielart des Todestriebs: „Weiter.
Scheinbar Koffernomaden. In Wahrheit von der Unruhe getrieben, den Platz
zu finden, der würdig des Lebens und Sterbens war"41. Nicht zufällig suchen
die Liebenden, die wissen, daß sie Verbotenes tun, den Absturz auf - jene
Stellen, wo sich das Land in das Meer stürzt und der Schwindel das Lebens-
gefühl nur noch steigert. Poetische Metaphysik macht aus den beiden
Urelementen Luft und Wasser ein „königliches Elternpaar", zu dem es die
Geschwister, endaufene Kinder, immer wieder hinzieht. Musil ruft die Erin-
nerung an jene mythischen Erzählungen herauf, wonach die Menschheit aus
dem Wasser gekommen und die Seele ein Lufthauch sei -: Erinnerung an die
früheste Philosophie der Griechen, die zugleich eine poetische Physik war.

» Musil, MoE 5,1652


«Ebd 1653
41
Ebd.
51

Agathe und Anders, eben aus der Eisenbahn gestiegen, mit der sie Europa
durchquerten, stehen vor diesen Urelementen, als seien hunderttausend Jahre
nur ein Nichts. Musil bemüht in seinem Entwurf einer Geschichtsflucht alle
Mittel der Naturmagie. Das menschenleere Hotel, in das die Geschwister
sich zurückzogen, der Ort des Sündenfalls, liegt auch symbolisch „am
Rande" - am Steilhang über dem Meer, eingebettet in ein Stück Gartennatur
„wie ein an die Brust gedrücktes Gewinde von Blumen und Büschen"42, ein
sichtbares Relikt des Paradieses. Doch Anders und Agathe zieht es noch hö-
her — zum verwilderten Plateau, wo die Steine in der Sonne flimmern und die
Disteln nach dem Sündenfall wie in den Himmel wachsen. Die beim Auf-
stieg geschlossenen Augen öffnen sich erst beim Absturz: „plötzlich wie ein
donnernd aufgeschlagener Fächer das reglose Meer"43. Diese Epiphanie geht
unmittelbar aus dem Verlust des Paradieses hervor, als schmerzhafte Er-
kenntnis, die in den Augen brennt wie Salz des Meeres. Das mit Göttlichkeit
lockende Meer, das schon Nietzsche an südlichen Ufern pries, ist laudos rä-
chende, allein durch ihren Glanz blendende Macht, eine schlafende, im Mit-
tagslicht schillernde Schlange, eine Verführerin, die ihr Nichts hinter geöff-
netem Fächer verbirgt: „Die große Geliebte, mit dem Pfauenrad geschmückt.
Die Geliebte mit dem ovalen Spiegel. Das aufgeschlagene Auge der Gelieb-
ten"44. In diesen Nietzsche-Variationen Musils kehrt selbst das dionysische
Symbol des Spiegels wieder.
Zum Paradiesmythos gehört auch die Erfahrung der Nacktheit. In einer
verborgenen Bucht überfällt die Geschwister das Bedürfnis, „nackt, schutz-
los, klein wie Kinder vor der Größe des Meeres und der Einsamkeit das Knie
zu beugen und die Arme auszubreiten. Sie sagten es einander nicht und
schämten sich voreinander, aber versteckt, hinter Bewegungen der Kleider
und des Suchens nach einem Ruheplatz, versuchte es jeder für sich"45. Dieser
Naturkult verleiht den Musilschen Figuren die Gestik von Lehmbrucks Pla-
stiken. Die Übertretung der sozialen Normen, der Tabubruch, der Irrgang
durch die Wildnis des Begehrens führen die Geschwister nicht ins Chaos,
sondern zu eigenen Riten einer Selbsterfahrung - bis hin zu einem Kind-
schaftsgefühl vor der Natur in ihnen. Die gewollte Entgrenzung schreibt eine
neue Geschichte in ihre Körper, ihr Bewußtsein ein. Der Sturz ins Leere
bringt die Erfahrung, daß die Leere trägt. Und hier läßt Musil die Unio my-
stica zu. „Und da gelang den Körpern das Wunder. Anders war mit einem-
mal in Agathe oder sie in ihm" 46 . Die Subjektgeschichte, in deren Schule die
Liebenden ihr Ich ausbildeten, löst sich auf in magische Augenblicke: „alles,
was sich im Menschen bewegt, war reglos eingerollt wie Blätter in glühender

«Ebd. 1654
«Ebd.
44
Ebd. 1670
45
Ebd. 1655
« Ebd. 1656
52

Windstille"47. Und weiter: „Sie wählten nicht Worte, sondern wurden von
Worten erwählt"48. Aber nicht ungestraft verläßt man die wirkliche Welt. Die
Schönheit, als Grenzüberschreitung erlebt, als Hochzeit von Himmel und
Meer, ist erbarmungslos offen für das Unendliche, das Glück ohne Zweck,
ohne Sinn, göttliche Leere ist. Dieser Leere ist das Gefühl nicht gewachsen:
„Dann ist Schönheit eine Pein zum Lachen und Weinen, ein Kitzel, um sich
im Sand zu wälzen, mit dem Pfeil Apolls in der Flanke"49. Vor dem Hinter-
grund elementarer Entgrenzung wird Anders von der eigenen kleinen Ge-
schichte heimgesucht, Erinnerungen beginnen ihn zu quälen, traumhaft prä-
zise -: Statuen, Architekturen, Städte wie Nürnberg und Amiens, obwohl sie
ihn niemals gefesselt hatten. „Er sehnte sich nach Vergangenheit" 50 .
Das Entrinnen aus dieser Geschichte ereignet sich für Anders im welt-
vergessenen Anschaun, sitzend vor einem Stein; der Pfeil in der Flanke
bleibt, aber er schmerzt nicht mehr. Das Weltvergessen, das Anders betäubt,
fixiert auf das Gedankending Stein, nimmt sprachlich die Gestalt der Tauto-
logie an, worin die Steine steingrün sind und ihr Spiegelbild im Wasser spie-
gelnd. Noch in solchen Reflexionsrelikten versammelt Natur bei Musil ein
magisches Licht, das manchmal, nach Jahren und durch Zufall, das eigene
Leben erhellt. „Dieser Stein da oder dieses Holz erleuchtet mich". So
beschrieb im 9.Jahrhundert Johannes Eriugena eine ähnliche Erfahrung. Die
Übermacht der Natur, dieser mit Phänomenen lockenden, im Sichtbaren sich
verbergenden Instanz ist so groß, daß Anders sich vor ihr in den Zynismus
flüchtet: „Man muß etwas beschränkt sein, um die Natur schön zu finden"5'.
Doch die Beschränkung zerbricht vor der Naturgewalt des Eros.

Fürchterliche Gewalt der Wiederholung, fürchterliche Gottheit! An-


ziehung der Leere, die wie der Trichter eines Wirbels immer tiefer
hineinzieht... bis wir zum Schluß in der senkrechten Wand hängen
und uns vor uns selbst furchten. Da kommen die tiefen Stöße des
Atems zu Hilfe, der den Körper zu verlassen droht, der Glanz im
Auge bricht, der Blick rollt nach allen Seiten, der Gesichtsausdruck
des Sterbens beginnt. Tausendfältiges Entzücken aneinander und
Staunen wirbelt in der Verzückung. Auf wenige Minuten konzen-
trierter Flug durch Seligkeit und Tod, endend, erneut, die Körper
schwingen wie heulende Glocken.52

Die Liebesakt gleichsam als Folterszene - diese Deutung konnte Musil schon
bei Baudelaire vorfinden, dessen Tagebücher sein Freund Franz Blei in den

47
Ebd.
48
Ebd. 1657
«Ebd. 1662
50
Ebd. 1666
51
Ebd. 1671
"Ebd. 1672
53

zwanziger Jahren übersetzte 53 . Die Wiederholung ist freilich nicht Kierke-


gaards religiöse Kategorie der Wiedergewinnung des Vergangenen, nicht eine
„Erinnerung nach vorwärts", sondern das ästhetisch verzweifelte Ja zum Da-
sein auch in seinem Schrecklichen. Was bei Musils Liebenden als dionysische
Wildheit erscheint, ist ein entfremdeter, durch Selbstverletzung und
Opferriten sich selbst stimulierender Eros, den das Realitätsprinzip noch im
Wiederholungszwang einholt. Diese Parodie ewiger Wiederkehr widerlegt die
Spontaneität, die sie vorspielt. Das Experiment mit dem Absoluten, als Ta-
bubruch ins Werk gesetzt, scheitert an den Mechanismen der Erotik, am
Identitätsprinzip, das zwei Menschen in zwei Körper einschließt. Es bleiben
Resignation, Ernüchterung — und Scham: „Wir wollten den Eingang ins Pa-
radies finden"54. Das Paradies löst sich in eine seelisch-optische Täuschung
auf. Doch das utopische Moment daran, von keiner Geschichte jemals einzu-
lösen, schwebt wie ein Geist über dem Meer des Begehrens.
In diesem Entwurf ist divirusierte Natur die Instanz, der die Vereinigung
schließlich zum Opfer gebracht wird. Eine freilich doppeldeutige Instanz:
das Sakrale, das in ihrem Namen geschieht, ist ebenso heilig wie fluchbela-
den. Nietzsches Vitalismus spielt herein, doch geht Musil eigene Wege in das
Utopische. Das Nicht-Domestizierte, der Inzest, hat mit Blick auf religions-
geschichtliche Vorbilder durchaus mythischen Rang - in der Erinnerung an
Isis und Osiris. Doch hat er auch mit jener neuen Moral zu tun, deren Aufriß
der Möglichkeitsmensch, der „Mann ohne Eigenschaften" ist. Musil gibt das
Ideal des gesellschaftlich domestizierten Subjekts auf, zumindest an den zwei
Ausnahmemenschen Ulrich und Agathe, denen er die Manie als Erkennt-
nismittel innerhalb eines klinisch-poetischen Experimentes verschreibt. Das
vielgenannte „Mystische" bei Musil hat (bisher wenig beachtete) Wurzeln in
Theorien Levy-Bruhls über das primitive Denken. Es favorisiert den Traum,
die Gestalthaftigkeit des Symbols, die Ekstase und das sympathetische
Ganzheitserleben; die Subjekt-Objekt-Beziehung wird ganz hintangestellt
und erweist sich als eurozentrische Erfindung55. Der zivilisationsmüde Ulrich
wendet sich ab von einer Geschichte, die mit Vernunft sich maskiert, aber
beherrscht wird vom „Prinzip des unzureichenden Grundes" 56 . Der bürger-
lich-liberale Traum von einer Fortschrittsgeschichte, die linear auf Vater-
lands- und Menscheltsbeglückung zuläuft, ist Ulrich völlig suspekt geworden.
Dem fortschrittsbewegten Bankier Leo Fischel hält er ironisch entgegen:
„Wissen Sie, was ein Enzym oder was ein Katalysator ist?" Leo Fischel hebt
nur abwehrend die Hand. „Das trägt materiell nichts bei, aber es setzt die

53
Baudelaire AW 3, 321: „Die Liebe gleicht stark einer Tortur oder einer chirurgischen
Operation" (Raketen VIII).
54
MusU,MoE5,1673
55
Dazu Heydebrand 106ff.
56
Musil, MoE 1,134
54

Geschehnisse in Gang" 57 . Als Quintessenz dessen, was konventionell mit


dem Begriff Geschichte belegt wird, erkennt Ulrich die bloße Vergeudung.
Nichts wird planvoll gesammelt, alles wird sinnlos verschwendet. Kein Wun-
der, daß ihm in diesem Augenblick die Erinnerung an seine Schwester zu-
strömt, verkörpert sie doch den dionysischen Zustand, „worin alles ein Ja
ist"58.
So läßt tabuisierter Eros die Geschwister aus einem Durchschnittsda-
sein, in dem „seinesgleichen geschieht", aus einer historischen Welt ohne
Sinn59, in die Ekstase flüchten. Der zur Radikalaktion bereite Kopfmensch
Ulrich, ein Anarchist des Geistes, in der Straßenbahn unter lauter Durch-
schnittsmenschen sitzend, wehrt sich gegen die „hilflose Zeitgenossenschaft,
das planlos ergebene, eigentlich menschenunwürdige Mitmachen" — so wie
er die Absurdität seines Hutes empfindet, den er gemäß der Mode auf dem
Kopf trägt60. In solch rebellischer Stimmung verläßt er das historische Vehi-
kel Straßenbahn, um peripatetisch zu philosophieren, in Gedanken an die
kleine verrückte Ciarisse, die vorgeschlagen hatte, Geschichte einfach zu
„machen", sie selber zu „erfinden"6'. Das Liebesexperiment zwischen Ulrich
und Agathe wird ein Geschichtsexperiment sein — aufs Utopische einer
neuen Moral hin62. Die Furcht vor dem Gestaltlosen, das sich Geschichte
nennt, aber in Wirklichkeit nur „ein Herausklettern aus dem Nichts, jedesmal
an einer anderen Seite" ist63, treibt Ulrich in die Suche nach dem Mystischen.
Am Zusammenbruch des bürgerlichen Wertbetriebs, dessen ironisch
ausgeleuchtetes Modell eben die kakanische Parallelaktion ist, verifiziert Mu-
sil die Geschichtskritik Nietzsches. Ironischerweise notiert er sich später:
„Dieses Buch ist unter der Arbeit und unter der Hand ein historischer
Roman geworden, er spielt vor 25 Jahren!"64 Mit Heideggers Augen gesehen
wäre dieses Kakanien der Inbegriff des Nihilismus: „Aus dem Geschick des
Seins bedacht, bedeutet das nihil des Nihilismus, daß es mit dem Sein nichts
ist. Das Sein kommt nicht an das Licht seines eigenen Wesens. (...) Die
Wahrheit des Seins entfällt"65. Gerade angesichts der Nichtigkeit der
geschichtlichen Welt versucht sich Musil an einer neuen Mythologie. Was die
Geschwister suchen, ist die erlebte Gegenwart des Seins. Sie ist der „andere
Zustand", in dem sich die Wahrheit der Welt enthüllt. Aber die Nacktheit,
die der Eros stiftet, ist selbst nur eine Maske. So weist Musüs literarische

57
Ebd.
58
MoE 3,826f.
59
MoE 4,1210
60
Mo E 2, 360
61
Ebd. 362
62
Dazu H.Böhme, in: R.Musil, Wege der Forschung 588 (Darmstadt 1982) 150-157
über Geschichte, Gestaldosigkeit, Utopie im Mann ohne Eigenschaften
« Musil, MoE 5,1745
" E b d . 1941
65
Heidegger, Holzwege 264
55

Strategie der Scheinwelt Kakanien die Ironie, dem ekstatischen Experiment


dagegen die Mystik zu.
Im Mann ohne Eigenschaften liefert Natur an entscheidenden Stellen die
Chiffren für diese Grenzüberschreitung. Das Kapitel Monastrahlen bei Tage56
bündelt den Nachklang des Vereinigungsgefühls im Bild eines floralen
Vergänglichkeitszaubers: „ein Strauß von Blumen, der auf einem dunklen
Wasser treibt"67. Im Hortus conclusus inmitten der Großstadt lernt Ulrich
die Geduld vorm Phänomen, das fragende Wahrnehmen, vor so geringen
Dingen wie Goldbecher und Flieder. „Wußte er zufällig den Namen zu nen-
nen, so war es Rettung aus dem Meere der Unendlichkeit"68. Erst das auf-
schließende Wort, die richtige Benennung gewähren Schutz vor der Wildheit
der Dinge. Aber Natur, so nah vor Augen, bleibt zugleich unvertraut und
gibt in Namen und Gestalten Rätsel auf. Es ist, als blicke Ulrich mit Adams
Augen, zum Erstaunen da, auf niegesehne Dinge: „Dann schien ihm mit
einemmal ganz unmöglich zu sein, das helle Grün eines jungen Blattes zu
verstehen, und die geheimnisvoll begrenzte Formfülle eines kleinen Blüten-
bechers wurde zu einem von nichts unterbrochenen Kreis unendlicher Ab-
wechslung"69. Aus diesem Fremdheitserlebnis angesichts der Schwierigkeit,
ein schlichtes Grün zu beschreiben, rettet sich Ulrich in eine taghelle Mystik.
Agathe fühlt nur die „dunkle Schöpfung, den Abgrund Welt"70. Ulrich aber,
an seinen Intellekt gefesselt, fürchtet das Unfaßbare all dieser Einzelerleb-
nisse, „die man aus einem naheliegenden Grunde allein und einsam bestehen
muß, auch wenn man zu zweien ist"71.
Der Verlust an Zusammenhang, die vor dem messenden Zugriff zerfal-
lende Ordnung lassen für Ulrich die Schöpfung unmenschlich, weil formlos
erscheinen. Es ist das Wilde an ihr, das einbricht in den Garten, der Schwelle
zwischen Natur und Kultur ist, Entrückung wie Ernüchterung bereithält.
Diese Aisthesis isoliert den Betrachter, das Prinzip der Individuation wird
zum Gespenst. Ulrichs Versuch, die Natur zu verstehen, scheitert an Tauto-
logien - „bei der tiefen Erkenntnis, daß grünes Gras eben grasgrün ist!"72 Im
Tautologischen aber verbirgt sich das Heilige; an den Grenzen des Verste-
hens, am Nicht-Benennbaren schimmert es auf. Was bleibt, ist das Staunen,
daß Welt ist, und das geringste Erlebnis — „dieses Fähnchen Gras oder die
sanften Laute, wenn deine Lippen da drüben ein Wort aussprechen - wird
unvergleichbar, welteinsam"73. Natur und Eros verschwistern sich, das Para-
dies ist im Grashalm, die Welt in einem Wort. Dann aber ist es Agathe, die
64
Musil, MoE 4,1087-1095
67
Ebd. 1087
«Ebd. 1088
» Ebd
70
Ebd. 1090
71
Ebd.
72
Ebd. 1089
73
Ebd. 1090
56

weiblich-unbefangen die „Leiblichkeit des Gesprächs" wiederherstellt. Sie


verführt Ulrich auf unschuldigste Weise durch einen Reisetraum, der abhebt
von diesem Rasen, der zum Problem wurde: „Laß uns reisen! Ich wollte so
gern auf einer Wiese liegen, bescheiden zur Natur zurückgekehrt wie ein
weggeworfner Schuh"74. Die Demutsgeste rührt an Entäußerung, die nicht
Sache des Intellekts, sondern der Liebe ist. Agathe geht in diesem Sprach-
spiel viel weiter als Ulrich, mag sie auch ihre Zitate aus seinen Büchern ha-
ben. Es ist die Spontaneität der Liebenden, die sich mit Worten des persi-
schen Mystikers Attar75 mit traumhafter Sicherheit auf ihr Selbst verläßt, un-
kundig ihres Ich und dennoch wissend. Eine fast sinnliche Entschlossenheit
der Seele gibt ihr, zu Ulrichs Erstaunen, etwas Wildes. „Ich bin weder treu
noch ungetreu". In diesem mystischen Wort jenseits aller moralischen Nor-
men spricht aus Agathe die Göttin Natur.

Ausgang und Eingang sind eins - jedenfalls mit Blick auf die verlorene Zeit,
den Stand der Unschuld. Sinnfällig beginnt daher Hans Blumenbergs
monumentales Spätwerk Höhlenausgänge, das eine Metaphorologie abendlän-
discher Erkenntnislehren ist, mit der Erinnerung an Prousts Recherche. An de-
ren Beginn steht das Erwachen der Erinnerung unter dem Bilde des Engels,
der die verlorene Zeit bewacht:

Der Engel, der über dem Eingang in die Welt steht und das wirre
Kreisen um den Erwachenden zum Stand bringt (avait tout arrete
autour de moi), könnte der Engel am Ausgang des Paradieses sein,
das nichts anderes wäre als der Schlaf, der Zustand des weldosen und
darum reinen Einklanges mit sich selbst. (...) Anfang, wie er hier ge-
nommen wird, ist Ausgang. Ausgang aus dem Zustand der Abwesen-
heit von der Welt, der nicht festgehalten werden kann, in dem sich
nicht leben läßt, obwohl das Leben in ihm 'aufzugehen' scheint. Dies
ist genau die 'Stelle', für die Proust nach der Metapher der Höhle
greift. Sie vereint die reine Verschlossenheit des Lebens bei sich selbst
und die Unmöglichkeit, bei ihr zu verweilen, weil es die Erinnerung
gibt und sie am Ausgang der Höhle wie ungeduldig wartet.76

Piaton wie Proust verwenden an entscheidender Stelle die Höhlenmetapher.


Sie meint Eingeschlossensein, aber auch eröffnendes Erinnern. Die Suche
nach dem Ausgang gehört zur Geschichte menschlicher Illusionen ebenso

7
< Ebd.
75
H.Arntzen, Musil-Kommentar zum Roman Der Mann ohne Eigenschaften (München 1982) 361
mit Hinweis auf Musils Quelle, die Textsammlung Ekstatische Konfessionen von M.Buber
(Berlin 1909) 43f.
76
Blumenberg, Höhlenausgänge 18
57

wie zum Mythos, der nach dem Durchgang durch die Unendlichkeit - wie
Kleist erhoffte - zurück ins Paradies führt. Ausgänge aus dieser Höhlenwelt
haben die Künsder und Philosophen der Moderne, seit dem Traditionsbruch
um 1800, in unablässigem Experimentieren gesucht. „Moderne" bezeichnet
nach Blumenberg jene Epoche, „die ihre Probleme kennen will"77. Ausgänge
werden erhofft von Problemlösungen, seien sie teleologisch oder ekstatisch-
utopisch erdacht (erlebt wird man schlecht sagen können). Von der
Problemlösung wird die Versöhnung erhofft. „Der Mensch ist das der
Versöhnung mit seinem Dasein bedürftige Wesen"78. Zu solcher
Versöhnung gehört es, sich Ausgänge aus der Geschichte zu denken, Aus-
gänge aus einer sich labyrinthisch verwirrenden Welt, Ausgänge aus einem
Zuviel an Geschichte, die keine Nischen und Refugien mehr zuläßt, weil sie
schlechte, von Menschen gemachte Totalität ist. Der Wunsch entspringt
einem Ungenügen an diesem Denkkonstrukt Welt, das tiefer liegt als das von
Freud mythisierte Geburtstrauma. Ausgang kann auch der Tod, sogar der
Selbstmord sein. Mit dem Tode fällt zurück an die Natur, was ihr gehört. Im
Tod hat noch jeder den Ausgang aus der Geschichte gefunden; nur, daß die
Weltbürgerkriege und Genozide des 20Jahrhunderts ihn mit der Masse
sinnlosen Todes verschütten. Der Mystik des Wortes .Ausgang" ist mit blo-
ßer Geschichtskritik freilich nicht beizukommen; ein Lichtschein der ande-
ren Welt, vom Draußen der Höhle, fällt immer noch darauf. „Schlechtge-
schlossene Türen hoher Eldorados" (d'alti Eldoradi/malchiuse porte) er-
kannte der Dichter Eugenio Montale in solchen wie vom Blitz erhellten
Augenblicken79. In der lyrischen Illumination des Seelendunkels versöhnt die
Musik das entzweite Subjekt mit sich selbst. Doch nicht der Mensch, son-
dern Natur bringt sie hervor; die Elemente Wind und Meer werden dichte-
risch transformiert in Englischhorn und Posaune. So spielt der Wind auf
dem „verstimmten Instrument" (scordato strumento) des Herzens seine ele-
gische Weise, während das Meer in sinnloser Revolte seine „Posaune auf zer-
wühltem Schaum" (tromba di schiume intorte) zum Fesüand schleudert.
Montales Englischhorn spielt an auf Wagners Tristan, auf die berühmte Stelle
im dritten Aufzug, es zitiert eine wordose Stimme fernen und dunklen Ver-
langens. In diesem Sehnsuchtsmotiv verklingt der Eskapismus des Subjekts;
die Musik erzählt dessen Geschichte zu Ende.
Auch in Prousts La Prisonniere wird Musik, das posthume Septett von
Vinteuil, zum Moment der Befreiung, um dem Ich-Erzähler samt dem Leser
imaginäre Ausgänge aus der Geschichte zu zeigen. Wie bei Montale ist es ge-
dichtete Musik, die Zeiten und Räume transparent macht, Durchblicke, Er-
kenntnisschneisen schafft. Die Musik weiß um ein Jenseits des Labyrinths.

77
Ebd. 13
78
Ebd. 356
79
E.Montale, Corno inglese/ Englischhorn, in: P.W.Wührl (Hg), Italienische Gedichte des
20Jahrhunderts (Frankfijrt/M 1962) 32/33
58

Während R.Warning darin nur „Gefängnismusik" und Prousts Abschied von


der konventionellen Kunstreligion erkennen möchte 80 , sehe ich hier eine ge-
plante Evasion aus dem Geschichtsraum der Recherche. Dazu passen die
visionären Passagen mit religiösem Vokabular, mit Signalen aus Kunst und
Poesie, die sich auf Gericht und Auferstehung beziehen. Die Philosophie der
Musik, von Proust an den Rändern der Großerzählung skizziert, durchbricht
vom Thema wie von der Art der Reflexion her den narrativen Kontext: sie
läßt durch das dichte Gewebe des Textes Licht von der anderen Seite der
Geschichte fallen. Die Funktion seiner Gedankendichtung ist Entgrenzung,
Verheißung von Erlösung, Diaphanie des Ereignisraums. Ehe die sündhaft
buntschillernde Flora und Fauna des Salons wieder ins Blickfeld kommt -
Proust kultiviert hier den botanischen und zoologischen Blick - leistet sich
der Schriftsteller die Eskapade, die universale Verstrickungsgeschichte mit
Hilfe der Geschichte, nämlich des Erinnerns, aufzuheben. Dazu gehört, daß
das regellos Wilde des Eros, die Passion der Eifersucht um Albertine, die
Kontinuität der Geschichte zerstört. Was Ereignisgeflecht war, zerfällt in
traumatische Momente, in Erkenntnisschocks, die eigentlich auf falsche
Fährten führen. „Das Konzert begann, ich kannte nicht, was man spielte, ich
befand mich in einem unbekannten Land" 81 . So beginnt der Erzähler Marcel
seinen Bericht von der Initiation in die Musik Vinteuils. Das Fremde wird
mit Hilfe der Musik vertraut. In der Wildnis der Tage weist das Erinnern den
vertrauten Weg, öffnet sich die bekannte Gartenpforte. Aber das Vertraute
dient nur dazu, ins Fremde zu verlocken; das unbekannte Septett von Vin-
teuü ist ein Werk, das die gewohnte Landschaft der Seele verläßt, wie im
Fluge sich über ein Meer „an einem Unwettermorgen inmitten drohender
Stille und unermeßlicher Leere" erhebt82. Die Wildnis aus Schweigen und
Nacht lichtet sich zur Morgenröte einer neuen Kunst. Synästhetisch ver-
schmilzt der Romantiker Proust das Rot des Himmels mit dem mystischen
Hahnenschrei, der gleichsam den Jüngsten Tag verkündet — „ein ganz unbe-
schreiblicher, überscharfer Appell, der aus ewiger Frühe kam"83.
Die Entgrenzung im Musikerlebnis findet ihre Entsprechung in der
Liebe Marcels zu Albertine. Diese Liebe, die scheinbar das Vertrauteste,
durch zahllose Erinnerungsdaten Verbürgteste war, gerät in den Sog univer-
saler Verflüchtigung. Das Hören der Musik bringt Albertine nicht wieder,
sondern verführt zum Ausgang aus der Geschichte mit ihr, zum Ausgang aus
einer Schmerzgeschichte. „Was ich von ihr sah, tat mir weh wie einem Kran-
ken, dessen in quälender Weise transponierte Sinne bewirken würden, daß er
den Anblick einer Farbe in seinem Innern verspürt wie einen Schnitt im

80
Wartung 458
81
Proust VIII, 3083
82
Ebd. 3085
"Ebd.
59

Fleisch"84. Der Zauber der Musik befreit, wie illusionär auch immer, von der
Vergangenheit; er wirkt als Gegengift. „Ich versuchte, den Gedanken an
meine Freundin zu verbannen, um einzig und allein an den Komponisten zu
denken" 85 . Vinteuil, der tote Schöpfer jener musikalischen Juwelenfenster,
die ein Strahl der Erleuchtung dem Prisma dieses Sommertags entlockt, führt
noch als Toter den Hörer in ein Kunstreich, das Albertine verschlossen ist;
dieses Reich ist beherrscht von einem anderen Wahn als dem des Eros, von
einem anderen Furor. Zu Recht hat R.Wartung die Sprachgebärde Prousts in
diesem Abschnitt als utopisch deklariert. „Aber was dieses Sprachgestus cha-
rakterisiert, ist gerade der Ausfall jener gesellschaftlich-geschichtlichen Ge-
halte, die sich gemeinhin mit der utopischen Antizipation verbinden" 86 .
Wahn und Furor entsprechen sowohl dem Platonischen Enthusiasmus, wie
ihn der Dialog Ion beschreibt, als auch Rimbauds Poetik der Zerrüttung.
Prousts Kunstbegriff freilich transformiert das Heilige, das durchaus ambi-
valent — als Faszinosum wie als Tremendum erscheint — aus der religiösen in
die erotische Sphäre. Das Septett, mag der Hörer auch den Gedanken an Al-
bertine verdrängen, ist ohne Albertine nicht zu denken. In der Verdrängung
ist sie gegenwärtig; ihre Abwesenheit mindert die Eifersucht nicht. Diese
Eifersucht aber ist faszinierend und hemmend zugleich: „denn Straßen und
Avenuen wimmeln von Göttinnen. Diesen Göttinnen aber vermag man
nicht näherzukommen" 87 . Der Ausgang aus der Geschichte Marcels mit Al-
bertine, ob gefürchtet oder ersehnt, bleibt dergestalt illusionär.
Was die Musik im Salon an Sakralem beschwört, ist Wildnis, in der die
Tabus sich vor dem domestizierten Naturwesen Mensch verstecken. Sie wirft
ihren Schatten über die künstliche Ordnung der Dinge. Das Ende des An-
dantes bedeutet für Marcel die Vertreibung aus dem verwilderten Eden,
worin Süße und Wahn unschuldig nebeneinander wuchsen: „Ich fühlte mich
wahrhaft wie ein Engel, der, aus dem Rausch des Paradieses herausgestürzt,
in die trivialste Wirklichkeit fällt"88. Der Sündenfall ins Realitätsprinzip, ins
Reich der Distinktion und Analyse, endet die ekstatische Erfahrung einer
Unio mystica mit Albertine; für die Dauer der Musik war die Vereinigung
von allen sozialen und psychischen Verstrickungen befreit. Die Musik als
höchste der Künste, als sprachlose Sprache das Nichtanalysierbare schlecht-
hin, steht ein für das Sakrale. Das allzu Irdische, die Erinnerung an Albertine,
haftet mit tiefen Wurzeln im Bewußtsein. Albertine verkörpert das Chaos der
Liebe, das Wuchern der Widersprüche, jenen verwilderten Garten, der durch
keine soziale Logik sich lichten läßt. Proust illustriert das regelwidrige Mo-
ment des Eros nebenbei an Baron de Charlus, der in der Konzertpause öf-

84
Ebd. 3089
85
Ebd. 3090
86
Wartung 459
87
Proust VIII, 2975
88
Ebd. 3096
60

fentlich mit einem Kammerdiener telefoniert, in den er sich verliebt hat; zum
Befremden der Gastgeber möchte er ihn unbedingt bei dieser Soiree dabei
haben. So erzeugt der Eros ständig neue Sakrilege, weil er eifersüchtig nur
auf seinen eigenen Kult bedacht ist. Das Miteinander von Kult und Sakrileg
betreiben auch Mlle. Vinteuil und ihre Freundin mit dem Schöpfer-Vater.
Gerade aus der Tabuverletzung, aus der Bespuckung des Bildes, geht die
aufopfernde Bemühung um das Werk Vinteuils hervor — die Entzifferung
seiner „Hieroglyphen" 89 . Für Marcel aber erfüllt sich der Wunsch, mit Hilfe
der Musik für Momente ins Paradies zurückzukehren. Der in Scharlach ge-
hüllte Engel Mantegnas, wie zum Gericht in die Trompete stoßend, verkün-
det diese Rückkehr in der Vollmacht der Musik. In solcher Glückserfahrung
ist der Sündenfall in die Realität aufgehoben, der Ausgang aus der Ge-
schichte erreicht.
So umfaßt das musikalische Fest, das Marcel in seinem Innern zele-
briert, das Heilige wie das Profane, Banalität wie Ekstase. In der Kunst des
Komponisten Vinteuil, dieses traurigen und korrekten Kleinbürgers, dem
man bei der Maiandacht in Combray begegnen konnte, ereignet sich die
kühnste Annäherung an Seligkeiten, wie sie der Himmel verspricht. Die
„Lichtung", in der jener geschlechtslose Engel erscheint, ist für Proust
identisch mit einem Schlüsselwort der Religion - mit Offenbarung. Offen-
barung aber geschieht in der Zeitlosigkeit; ihr Wesen ist es, Geschichte
auszulöschen. Im amerikanischen Refugium vollendete Max Ernst ein
Gemälde, das er in Frankreich begonnen hatte: Europa nach dem Regen
(1940/42). Der Wirklichkeitserfinder hatte es nach einem neuen Verfahren,
der Abklatschtechnik (decalcomanie) gefertigt, die frappierende Wirkungen
zeigt. Europas Selbstvernichtung durch einen zweiten Weltkrieg provozierte
den Maler zur Vision einer Geschichtskatastrophe, die nur noch kahle,
künstliche Wildnis zurückläßt. Eine je nach Betrachtung verweste, verkohlte
oder versteinerte Landschaft aus stumpfen Braun, mit einer giftgrünen
Skulptur des Verfalls im Zentrum, liegt da wie eine Apokalypse der
„Posthistoire". Europa mit dem Stier, der phantastisch verwittert unter
einem ruinösen Pavillon lagert, daneben ein Vogelmensch mit zerfledderter
Standarte, einzelne Frauen, verloren in Schutthalden oder in Borkenruinen -:
es gibt kein erkennbares Motiv mehr, das diesem Bild einen Sinn gibt. Das
Chaos, sich selber wiederkäuend, wie Jean Paul in einer anderen Unter-
gangsvision — der Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab — einmal schrieb,
ist hier materialisierte Regression geworden.
Die Geschichte des Menschen, so die Botschaft des Bildes, wenn es sie
denn gibt, ist wie ein tödlicher Regen; wo er niederfällt, wachsen Ruinen.
Nach seinem Ende regiert nur noch allmächtige Natur, ungerührt um Leiden
und Trauer der Überlebenden. Max Ernst läßt eine von prometheischem

8' Ebd. 3100f.


61

Machtwahn und Hochmut beherrschte Kultur zurückfallen in Barbarei. Der


Surrealist widerlegt die scheinrational konstruierte Geschichte als bloßes Zu-
richtungs- und Unterdrückungssystem; er demontiert ihren vermeintlichen
Sinn durch Verweis auf die chaotischen Triebe im Menschen. Denn dieses
Chaotische ist schöpferisch, weil es Natur ist. Mit Nietzsche lehnt Max Ernst
den bürgerlichen Historismus als lebensfeindlich ab, spielt auch er mit der
Mythologie einer Ewigen Wiederkehr. Dies pessimistisch zu nennen, ist nur
eine Frage des Standpunktes.
Die Neublüte des Surrealismus in Amerika90 wurde gerade durch den
Krieg hervorgerufen, der Künstler wie Max Ernst, Breton und Matta aus
Hitlers Europa vertrieb. Aber die Wildnisse der europäischen Seele nahm
Max Ernst mit ins transatlantische Exil. So wirkt es beinahe symbolisch, daß
sein Gemälde Europa nach dem Regen heute ausgerechnet in Hart-
ford/Connecticut hängt, jener Kapitale der Versicherungsbranche, in wel-
cher der Dichter Wallace Stevens als Vizedirektor amtierte - der sich die
Wildnis in tropischen Imaginationen erst antrainieren mußte. Nur Max Ernst
schleppte die Albträume des alten Kontinents, dessen Ruinenverzweiflung
und Ruinenlust — samt allen Archetypen, die seit dem späten 18.Jahrhundert
zur Göttin Geschichte gehören — mit in die Neue Welt. Sein Bild ist umso
wahrer, je phantastischer es ist: „Nihilismus als Verneinung von Geschichte"
(G.Benn) macht seine Qualität aus. Dieses Europa nach dem Regen liegt da
wie eine Offenbarung — kein Todesbild, sondern schockierend durch seinen
Lebenswillen.
Auch für den Anthropologen Levi-Strauss, der den Maler Max Ernst
unter allen Modernen bevorzugte, ja zwischen Mythencollage und Mythen-
analyse manche Analogien entdeckte 91 , wurde der Ausgang aus der Ge-
schichte zu einer Art Offenbarung. Nicht zufällig hat das scheinbar
geschichtsferne Amerika ihn dabei inspiriert; denn sein einziger Ausflug in
ethnologische Feldforschung rührte ihn in die Buschwälder des Mato
Grosso. Und doch ließ dieser Ausflug eine subtile Enttäuschung zurück.
Levi-Strauss kultiviert einen luziden Pessimismus, der ihn nicht hindert, als
Wissenschafder alle Erkenntniskraft und allen Scharfsinn zur Analyse der
hochkomplexen Mythen der Indianer aufzubieten. Am Schluß seiner
gen Tropen, wo Levi-Strauss seine Studien unter den brasilianischen Nambik-
wara und Bororo resümiert, steht das Eingeständnis wissenschaftlichen
Scheiterns. Die Bruchstücke an Erkenntnis, die er im Urwald und in der Bi-
bliothek gewann, erfassen nicht das Ganze der menschlichen Natur; diese
bleibt undurchschaubar wie das Universum. Denn Wissenschaft folgt einer
traurigen Logik: .Jedes Bemühen um Verständnis zerstört den Gegenstand,
dem wir uns widmen" 92 . Die schiere Komplexität der Sitten, Gebräuche und

90
Dazu W.Spies, in: Max Ernst. Retrospektive 1979 (München 1979) 97ff.
91
Dazu W.Spies, in: Max Ernst. Retrospektive zum lOO.Geburtstag (München 1991) 49f.
92
Levi-Strauss, Traurige Tropen 366
62

Mythen, die er auf den Spuren Rousseaus 93 bei den Naturvölkern vorfand,
läßt ihn die Sinnfrage stellen und pessimistisch beantworten.
Der Versuch des Menschen, dem Reich der Natur als dem Reich der
Notwendigkeit sich zu entziehen, um mittels Kultur, und sei sie „primitiv",
sich Nischen der Freiheit zu schaffen, ist so illusionär wie alles Bemühen um
Dauer. Die menschliche Geschichte — wenn es sie gibt — ist mit Blick auf die
Große Natur bloß intermediär: „Die Welt hat ohne den Menschen begonnen
und sie wird ohne ihn enden" 94 . Geschichte heißt für Levi-Strauss Zerstö-
rung, „seit der Entdeckung des Feuers bis zur Erfindung der atomaren Vor-
richtungen" 95 . Kultur - gleichgültig, ob es sich um Gebräuche der brasiliani-
schen Waldindianer oder um Schöpfungen des abendländischen Geistes
handelt — hat Sinn nur für sich selbst; sie wird einzig von denen verstanden,
die sie geschaffen haben. Die Geschichte der vielen Kulturen hat keinen uni-
versalen Sinn, der diese Menschheit überdauern würde.
So gelangt Levi-Strauss zu seiner Version des Jüngsten Gerichts — dem
Chaos, in dem alle Geschichte und Kultur nach dem Naturgesetz der Entro-
pie verschwinden wird: „Statt Anthropologie sollte es Entropologie hei-
ßen" 96 . Damit fällt jede Kultur, die der Wilden und die der Zivilisierten, an
die Natur zurück, der sie letztlich ihre Entstehung verdankt. Das Chaos, das
Levi-Strauss beschwört, trägt alle Merkmale göttlicher Macht, weil es von der
Geschichte erlöst, wenngleich gewaltsam: als das Wilde ist es das Heilige,
mögen auch diese Begriffe für Levi-Strauss leere Metaphysik sein. Und den-
noch mag für ihn, der Wagner liebte und seine eigene Tetralogie der Mytholo-
gica mit Wagners Ring verglich97, die Erinnerung an Götterdämmerung und
Weltbrand in diese Richtung weisen. Die Geschichte der Menschheit und des
Universums sind beide nur Mythologien. Die Natur bleibt am Ende der ein-
zige Sinnhorizont. Für Levi-Strauss stellen sich als eschatologische Chiffren
deshalb Naturbilder ein: der Sonnenuntergang als himmlische Dekoration,
die in der Nacht versinkt, Kultur als Zwittergebilde aus Blüte und Seifenblase
(ein altes Vanitasbild), ausgedehnt und komplex, in tausend Farben schil-
lernd, das sich entfaltet, aufblüht und verlischt98. Mit solcher Intuition
schließt auch das Buch Traurige Tropen ab — mit einer Naturbetrachtung, die
jenseits aller Philosophie und Geschichte menschlicher Sozietäten eine ver-
kappte Meditatio mortis ist. Im Anblick schöner und wilder Natur mag einer
das Heilige streifen, selbst der Agnostiker — wenn es ihm einmal gelingt, aus-
zubrechen aus sinnlos-geschäftigem Tun, um in der seltenen Gnade der

93
Vgl. H.H.Ritter, Claude Levi-Strauss als Leser Rousseaus. Exkurs zu einer Quelle ethno-
logischer Reflexion, in: W.Lepenies/HH.Ritter (Hg), Orte des wilden Denkens. Zur An-
thropologie von C.Levi-Strauss (Frankfurt/M. 1970) 113-159
94
Levi-Strauss, Traurige Tropen 366
95
Ebd. 367
«Ebd.
97
Levi-Strauss, Mythologica IV. 2, 816
98
Ebd.
63

Muße „ein Mineral zu betrachten, das schöner ist als alle menschlichen
Werke, einen Duft einzuatmen im Kelch einer Lilie, weiser als unsere Bü-
cher, mit Geduld, Ernst und gegenseitigem Verzeihen ein Zwiegespräch zu
fuhren mit einer Katze" 99 .

Levi-Strauss, Traurige Tropen 368. Levi-Strauss bezieht sich mit diesem Topos skeptischer
Annäherung an die Natur auf Montaignes Essais II, 12.
3. Kapitel
Natur statt Geschichte. Sakralisierungsprozesse

Denn immer lebt die Natur.

Hölderlin, Griechenland

In jeder Wildnis heimischer als vor Tempeln.

Nietzsche, Zarathustra IV

Verklärung der Natur vollzieht sich in dem Maße, da die industrielle Revo-
lution und die entzaubernde Wissenschaft vordringen. Dieser Prozeß ist be-
reits um 1800 belegbar. Auch hier gilt der Satz, daß die Verluste, nicht die
Siege inspirieren. Während Naturwissenschaft, aus Herrschaftsinstinkt früh
mit der Technik verbündet, die Weltbemächtigung planvoll vorantreibt,
strömt das verdrängte Sakrale in die Naturästhetik ein. Selbst der nüchterne
Kant situiert das Erhabene im Bild von Gebirge und Ozean. Mochte Ge-
schichte, in weltbürgerlicher Absicht betrachtet, auch kein Geheimnis haben
- die Weisen von Heraklit bis Goethe schreiben dafür der Natur geheime
Pläne zu. „Natur liebt es sich zu verbergen", lautete das entsprechende
Orakel Heraklits, und „Naturgeheimnis werde nachgestammelt" die resig-
native Einsicht Goethes in der Marienbader Elegie. Philosophisch hatte Spino-
zas Pantheismus, der zur heimlichen Religion des 18. Jahrhunderts avan-
cierte1, der kommenden Naturmythologie den Weg bereitet. Hinzu kam das
Ereignis Rousseau, ohne das selbst Hölderlins Rhein-Hymne nicht denkbar
ist. Das Ende der alten Naturgeschichte ist zeitgleich mit dem Anfang einer
neuen Naturästhetik, wie sie Novalis und Schelling betreiben. „Der Philo-
soph muß eben so viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter" 2 . So de-
klariert es das älteste Systemprogramm des Idealismus, an dessen Formulie-
rung Schelling wichtigen Anteil hatte.
Die Kunst um 1800 interpretiert vor diesem Hintergrund Natur als Of-
fenbarung eines verborgenen Geistes, als Symbol einer verlorengegangenen
Einheit, als neu zu erschließendes Sinnsystem. Dem entspricht Schellings
spekulativer Versuch, Natur und Geist wieder zusammenzuführen. Das
schöpferische Spiel der Gegensätze prägt für ihn alle Naturästhetik: „Um in

1
Dazu A.Schmidt 87f. 92ff.
2
Hölderlin, GSA IV. 1,298
65

die tiefsten Geheimnisse der Natur einzudringen, muß man nicht müde wer-
den, den entgegengesetzten und widerstreitenden äußersten Enden der
Dinge nachzuforschen. (...) Dieses ist das eigentliche und tiefste Geheimnis
der Kunst". So Schelling in seinem Dialog Bruno von 18023. Wo Geheimnis,
da Autonomie. Schon im Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) hatte
Schelling dies festgehalten: „Die Natur ist ihre eigene Gesetzgeberin"4. Der
Autonomiegedanke wahrt die Freiheit der Kunst im Zeitalter der offenbarten
Subjektivität; zugleich aber faßt er Natur als göttlichen, sich selbst bestim-
menden Geist. Diese Aura von Autonomie und Geheimnis liegt auch über
den Landschaften des Zeitgenossen Caspar David Friedrich. Erinnerung ans
Paradies und den Naturzustand vor dem Sündenfall spielt da herein; doch
bei Friedrich lockt das Heilige, indem es sich entzieht. Sein Fichtendickicht (um
1828), eine winterliche Naturstudie von intensiver Monotonie, verdeutlicht
das Verschwinden der Geschichte nicht weniger als die berühmten Kirchen-
ruinen im Eichwald. Vor diesem strengen und sperrigen Muster, das Chaos
und Ordnung vereint, scheitert der bloß analytische Blick. Hier gilt Divina-
tion, wie sie Novalis vom Künsder forderte. Der Maler läßt sich hineinziehen
in ein erstarrtes und schlafendes Chaos, worin sich das Schöpfungsgeheimnis
verbirgt. Als mythologische Pointe kommt hinzu, daß die Fichte, so heimisch
sie wirkt, dem fremden Gott Dionysos geweiht ist; das Wintergrün steht für
den Herrn des Rausches. So berühren sich in dieser Kunst die Extreme. Das
Bild, geheimnisvoll, weil autonom, zeigt im Partiellen eines Naturmotivs den
Blick in das „große heilige Buch der Natur" (Novalis).
Bei Friedrich wird Natur zum Andachtsbild und Landschaft zur Reprä-
sentantin des Deus absconditus. Das der empirischen Wirklichkeit roman-
tisch entfremdete Ich versenkt sich in diese Ikonen. Gesteigert wird das
Naturerleben durch Einsamkeitsgefühle. Wie keiner seiner Zeitgenossen hat
C D . Friedrich Pathos und Passion der Einsamkeit als parareligiöse Momente
gestaltet. Sein Mönch am Meer ist der verzweifelte Versuch der Selbstbe-
behauptung angesichts einer wie zum Gericht erscheinenden Natur. Das
Bemühen um Sakralisierung hat L.Földenyi, bei allem Literarischen an Fried-
richs Malerei, in seiner notwendigen Doppelbewegung erkannt: Erwählung
und Verwerfung liegen hier nahe beieinander. „Der Mönch am Strand ist
Verführer und Verführter in einem: Der Allmächtige hat ihn bezaubert und
dann sich selbst überlassen, und jetzt ist er dazu verdammt, mit falschen
Verheißungen selbst zum Verführer zu werden. (...) In dem Mönch am ver-
lassenen Strand könnnen wir ohne weiteres auch einen gefallenen Engel se-
hen" 5 . Friedrich sucht den Effekt des Erhabenen. Der heroischen Leere der

3
F.W.J. Schelling, Sämtliche Werke IV (Stuttgart - Augsburg 1859/60) 327
Dazu Mittelstraß 168ff.
« Schelling, Sämtliche Werke II (1858/59) 17
5
Földenyi 41
66

Baesengebirgslandschaft mit Schneekoppe6 kommt im 19. Jahrhundert wenig gleich.


Wie ein anderes Meer wogen Gras und Getreide vor einem blauvioletten
Gipfel, der gleich Kafkas grundlosem Felsengebirge in einen von Rauchwol-
ken durchwehten Himmel ragt. Doch der Prometheus, der an diesem Felsen
büßt, bleibt unsichtbar.
Protestantischer Ästhetik gemäß, in deren Zentrum die Verinnerlichung
steht, sind Friedrichs Gebirge der reine Altar der Natur — der zugleich stolze
und demütige Scheitel, der an den Himmel rührt. Dieser Zug ins Unendliche
zerstört auch jeden Ansatz zum Idyll. Dabei ist es unwesentlich, daß
C.D.Friedrich seine Landschaften niemals in der Natur, sondern immer im
Atelier gemalt hat. Die Werkstatt des Künstlers wird so zu einem Medita-
tionsraum, zu einem kultischen Ort, und Kunst zu einem Gottesdienst 7 . Die-
ser Kult vollzieht sich in der Einsamkeit; deren Refugium, die Natur, wird
zum sakralen Raum. Ihre Verlassenheit ist eine Leerstelle Gottes. Dabei
schickt uns auch Friedrich auf Ratseisuche, obschon diese Suche ihn äng-
stigt. Doch da alles an seinen Landschaften Rätsel ist, Verweis auf ein Abwe-
sendes, nicht zu Benennendes, verliert sich das Rätsel in der Landschaft
selbst. Sie wirkt, ohne daß es ikonographisch noch zu begründen wäre, auf
irreligiöse Weise religiös. In solchen Widersprüchen liegt ihre Modernität.
Natur gibt ein Versprechen, das durch sie selbst nicht einzulösen ist, ja kon-
ventionell nicht mehr zu formulieren. Das Sakrale schleicht sich hinein in die
Dinge, um sie mit Unendlichkeit zu färben. Friedrichs Landschaften rühren
an eine Metanatur. Das gibt den Bildern ihr Sich-Entziehendes, den Sog der
Subjektivität. Die Erlösung, die Friedrich malen möchte, weicht ständig ins
Unendliche zurück. Was Hoffnung scheint, ist Leere, die weiter hinauslockt;
und umgekehrt kann Leere Ausdruck von Hoffnung sein. Doch es bleibt
eine Kunst ohne Ankunft.
Landschaft gewinnt hier die Aura des entzogenen Absoluten: durch
Transparenz verschleiert. Denn ihre Realien sind nicht realistisch. Diese Pa-
radoxie wurde Friedrich häufig als „Mystizismus" angekreidet. Seine religiöse
Motivation blieb letztlich unverstanden: Der Künstler wollte - in effigie —
seinem Gott die Natur selber opfern. Der Raum, in dem dieses Opfer ge-
schieht, kann nur ein „reiner", also geschichtsleerer sein. Das Historische ist
einzig als Ruine gegenwärtig; es wird bestraft für seine Vanitas, für die Ver-
strickung in die Zeitlichkeit. Doch Fnedrichs Mystizismus, um 1820 schon
unzeitgemäß, ist nichts als der konsequente Versuch, das sich entziehende
Heilige in der Naturekstase malerisch zu bannen. Die Ekstase schlägt sich in
Friedrichs Bildern als eigentümliche Erstarrung nieder; die Landschaft, durch
gewollte Feierlichkeit der Profanitat entrückt, verharrt in einem „anderen
Zustand". Friedrich malt den Schlaf des Heiligen. Die Ekstase ist Anstren-

6
Entstanden um 1823 (Kunsthalle Hamburg)
7
Földenyi 25f. Vgl.Unverfehrt 37ff. zum Streit um das Kreuz im Gebirge, den Tetschener Altar.
67

gung des Auges und der Seele. Sie erschöpft sich vor der Sphinx Natur, die
keine Rätsel mehr weiß, so daß der Künsder neue und eigene schaffen muß.
„Deswegen wirken Friedrichs Bilder so überlastet, während sie dennoch zu-
gleich ein Verlustgefühl verbreiten"8. Die Paradoxie bleibt bestehen: je inten-
siver der Maler das Geheimnis der Natur zu fassen sucht, ihre verborgene
Ordnung, von der er sich Heil verspricht, desto stärker der Sog der Subjekti-
vität, der sich der Landschaft bemächtigt. Ihr Bild wird autonom, von tra-
dierten Lesarten gereinigt. Friedrich verleiht ihm stattdessen die Würde eines
verlassenen Tempels. Die Faszination durch das Chaos, das unter der Decke
der Landschaften schlummert, manchmal sich leise regt, gibt den Gemälden
ihre verzweifelte Ruhe; doch liegt Disparates darin, Kierkegaards Krankheit
zum Tode. Friedrichs Melancholie, ohne die er nicht schöpferisch wäre, ist
unstillbares Heimweh nach dem Unendlichen. Seine Sehnsucht häuft Gipfel
zu Rätseln und huldigt den Wolken, als wohnte drinnen ein Gott.

Die Romantik, um Poetisierung des Daseins in Zeiten der Entzauberung


bemüht, umkleidet Natur wie eine göttliche Wesenheit mit einem eigenen
Mythos, einem eigenen Sinn- und Bedeutungssystem. Natur, die große
Künsderin, wird zur Garantin der „Totalität des Seienden und Werdenden".
Alexander von Humboldt, der diesen Ausdruck prägte, hat mit Blick auf die
gestaltende Natur (und analog zur romantischen Auffassung) den ästhetisch
besetzten Kosmosbegriff wiederbelebt. Die Idee eines mit Geist und Seele
begabten Großorganismus Natur, für Novalis „das einzige Ganze, womit der
Mensch sich vergleichen kann", ist zu bewahren vor dem zerstückelnden
Zugriff der Wissenschaft9. Natur als Muttergöttin, als die verschleierte Isis,
ist nur noch ästhetisch zu retten: „Wer also ihr Gemüt recht kennen will,
muß sie in der Gesellschaft der Dichter suchen, dort ist sie offen und ergießt
ihr wundersames Herz" 10 . Nur weil Natur, als geheime Offenbarung, göttli-
che Züge annimmt, kann sie zum Gegenstand von Exegese und Dechiffrie-
rung werden. So bringt sie Propheten und Priester hervor. Der Meister zu
den Lehrlingen in Sais: „Ein Verkünder der Natur zu sein, ist ein schönes
und heiliges Amt" 11 . Gerade weil Natur, wie bei Novalis, dem Menschen als
absolutes Subjekt entgegentritt, bleibt ihr schwer verständliches Schweigen,
das irritiert und nach Deutung verlangt. Der Anschein von Geheimnis, not-
wendiges Attribut alles Sakralen, gehört zur Aura romantischer Naturverklä-
rung.

8
Földenyi 91
9
Novalis, Die Lehrlinge zu Sais (Schriften I, 99)
10
Ebd. 84
" Ebd. 107
68

In diesem Kontext ist auch Hölderlin zu lesen. Sein Hyperion wimmelt


von Evokationen der heiligen Natur. „Im Schöße der himmelragenden Wäl-
der, da wird uns sein, wie unter den Säulen des innersten Tempels, wo die
Götterlosen nicht nahn"12. Hier ist das Bild des Tempels zu Jerusalem, samt
seinem Allerheiligsten, in die Natur projiziert; die Liebenden aber werden zu
Auserwählten, die Zutritt haben zum Sanctissimum. Solche Sakraüsierung ist
Hölderlins Antwort auf eine dürftige Zeit, in der ein Maschinenstaat
herrscht, eine Buchstabenphilosophie gedeiht und „allberechnende Barba-
ren" ihren Geschäften nachgehn. Aus dem Widerspruch hierzu kommt die
Vision des kommenden Pleroma. Sie meint die Wiedergeburt der Religion
aus der Idee der Schönheit: „Es wird nur Eine Schönheit sein; und Mensch-
heit und Natur wird sich vereinen in Eine allumfassende Gottheit" 13 . Dieser
Satz ist Programm, nicht Prognose; er ist dithyrambische Rede vom kom-
menden Gott, der hervorgehen wird aus einer heiligen Hochzeit. Hölderlin
projiziert seine Ästhetik der Freiheit in eine Natur, die von oben geschaut ist
— kraft eines Blickes, der das Ganze götternah, weil adlerhaft erfaßt:

Dann sucht' ich die höchsten Berge mir auf und ihre Lüfte, und wie
ein Adler, dem der blutige Fitrig geheilt ist, regte mein Geist sich im
Freien, und dehnt', als wäre sie sein, über die sichtbare Welt sich aus;
wunderbar! es war mir oft, als läuterten sich und schmelzten die
Dinge der Erde, wie Gold, in meinem Feuer zusammen, und ein
Göttliches würde aus ihnen und mir...14

Der feurige Blick, der die Welt gleichsam zum Schmelzen bringt, ist ein ek-
statischer; in ihm erlischt die Subjekt-Objekt-Spaltung. Die neue Religion, in
der Mensch und Natur sich versöhnen, wird eine ästhetische sein. Hölderlin
rekonstruiert sie aus Elementen des Erhabenen, die er dynamisiert, um das
Spiel göttlicher Kräfte an einer Weidandschaft zu zeigen. Hier waltet poeti-
scher Polytheismus; Natur ist voller Götter, die zeugen und zerstören und
verwandeln. Nicht zufällig wird (wie am Schluß des Hyperion) das heilig-wilde
Feuer Heraklits beschworen, das die Menschendinge, den Traum, die Täu-
schung, überhaupt die Historia profana verzehrt. Am Ausgang eines Jahr-
hunderts der Aufklärung, das in Revolution und Chaos mündete, träumt Hy-
perion vom Ende der Geschichte. Sein Credo kreist um das archaische Bild
des Lebensbaumes, der Eden und Hesperien vereint: „Es fallen die Men-
schen, wie faule Früchte von dir, o laß sie untergehn, so kehren sie zu deiner
Wurzel wieder, und ich, o Baum des Lebens, daß ich wieder grüne mit dir

12
Hölderlin, Hypenon II, 2 (GSA III, 133)
1J
HypenonI,2(GSAIII,90)
** Ebd. 64
69

und deine Gipfel umatme mit all deinen knospenden Zweigen!"15 In solcher
Ekstase der Natur tritt Hyperion aus der Geschichte heraus.
Die Profangeschichte, die um 1800 all ihre katastrophischen Kräfte ent-
band, in einer Ära der Gesinnungsknege, wird für Hölderlin zum Anstoß,
den neuen Äon dichterisch zu evozieren. Die Hymne Friedensfeier (1801/02)
faßt auf der Schwelle zwischen Natur und Geschichte das Kommende als
kosmisches Symposion. Chiliastisches Denken sucht die Geschichte aufzu-
heben, indem es das kommende Gottesreich im Hier und Jetzt zeichenhaft
antizipiert. Die Perspektive in der Friedensfeier ist zweifellos eschatologisch —
doch es ist Endzeit im geistigen, nicht im historischen Sinne. Die Wege die-
ses Denkens waren dem Theologen Hölderlin durch den schwäbischen Pie-
tismus, vor allem durch Oetinger vertraut; die von Ongenes formulierte
Lehre von der Apokatastasis, der Allversöhnung spielt mit herein16. Die
densfeier transformiert, durchaus auf Oetingers Spuren, Heilsgeschichte in
Naturgeschichte. Was in den Elementen wild oder gebändigt sich zeigt, ist
das Wirken der Himmlischen selbst. Analog zur Romantisierung der Welt bei
Novalis entwickelt Hölderlin eine Betrachtungsweise, die das Heilige in den
Mächten und Gewalten der Natur erkennt. Diese Mythologie, die philoso-
phisch sein will, operiert mit dem „Polytheismus der Einbildungskraft"17,
mittels ästhetischer Figurationen: Ideen werden darin zu Gestalten.
Diese Art von symbolischer Repräsentation erscheint gleichzeitig bei
den Frühromantikern, mit polemischer Spitze gegen den Klassizismus, als
Allegorie18. Hölderlins Sakralisierungsversuch schöpft philosophisch aus der
Grundannahme einer Konvergenz von Geist und Natur, wie sie auch Schel-
ling und Hegel vertraten. Dabei weiß Hölderlin um das „Titanische" in der
Geschichte, welches den Himmlischen Widerstand leistet. Um den Gedan-
ken des Zusammenspiels von Äther und Abgrund zu retten, läßt er das
Wilde und Rohe am Wirken des Heiligen teilhaben. Es ist die Heraklitische
Idee der „widerständigen Harmonie", die hier sich geltend macht. Die Dia-
lektik des Hymnischen verklammert eschatologisch, was historisch auseinan-
derstreben will und zwingt es in Gesang. Solcher Wille zur Totalität spricht
von Gewaltsamkeit, und er hat selbst etwas Gewaltsames. Das zeigt sich in
der Sprache als Dunkelheit und Rätsel. Geheimnis und Autonomie wohnen,
wie in den Bildern Friedrichs, beieinander. So das Orakel in der Friedensfeier.

Und kommen muß zum heiligen Ort das Wilde


Von Enden fern, übt rauhbetastend den Wahn,
Und tnfft daran ein Schicksal.19

15
Hypenon 11,2 (GSA III, 159)
l6
DazuJ.Schmidt75-105
17
So im ältesten Systemprogramm des Idealismus (GSA IV. 1, 298)
18
Dazu Frank 11
" Hölderlin, Fnedensfeier V. 56 - 58 (Gedichte 340)
70

Wie bei Novalis, der zeitgleich das Projekt einer Sakralisierung der Natur
verfolgt, lebt der Wahn von der Wahrheit20, weist ausdrücklich, „rauh", auf
das Heilige hin. Peripherie und Zentrum fallen bei Hölderlin eschatologisch
ineins: Der heilige Ort, der das Entfernte und Getrennte anzieht, wird zum
Symbol der wiedererneuerten Einheit. Deren Gestalt ist der Friede. Das
ferne Ende ist nicht nur geographisch, sondern auch eschatologisch zu lesen:
Am Ende der Zeit, der Prophetie des Jesaja gemäß, wohnt der Wolf beim
Lamm, der Panther liegt beim Böcklein (Jesaja 11, 6). Diese Vision, in der
Geschichte ein Wahn, wird Wirklichkeit, wenn das Himmlische einbricht in
die Geschichte, sie aufhebt. Das Wilde Hölderlins bezeugt sich als Moment
des Heiligen, sich selbst überschreitend, dorthin wo es geschickt wird.
Auch das Gedicht Die Titanen (1803/05) huldigt der Dialektik des My-
thos, die Sakrales und Wildes zusammenspannt. Der Abgrund, Geist der
Natur vom Grunde her, antwortet so dem Äther:

Viel offenbaret der Gott.


Denn lang schon wirken
Die Wolken hinab
Und es wurzelt vielesbereitend heilige Wildnis.21

Das Rätsel, das verborgen ist in der Natur, der hierarchisch geordneten
Werkstatt der Himmlischen, kreist um das Symbolon Delphi — Ort einer
dunklen Wahrheit, die sich am Ende der Zeiten enthüllt, wenn die Titanen
gebunden werden: „Dann mögen sie rechnen/ Mit Delphi" 22. Der Säkulari-
sierung der Geschichte, die seit der Aufklärung einem von Menschen ent-
worfenen Plan unterstellt wird, setzt Hölderlin die Heiligsprechung der Na-
tur entgegen — freilich in einem ästhetischen Sinne. Diese Transformation
kommt nicht ohne Gewaltsamkeit aus. Der Übergang enthält notwendig ein
Element des Chaotischen. Die Titanen, deren berühmtester Prometheus ist,
leisten das Werk der Umgestaltung mit. Die Sprache des Gedichts mischt
Rätsel und Erhellung. Das Heilige Hölderlins ist „Energie", analog zur Be-
grifflichkeit der neuen Naturwissenschaft; im tropologischen Sinne ist es
Tranformation von Gewalt. Das Widerspiel von Herrschaft und Revolte be-
gegnet auch in Hölderlins Bild der Natur. Das Titanische sprengt auseinan-
der, die Himmlischen ordnen, greifen hinab in den Abgrund. So konstituiert
der Text eine heilige Hierarchie. Die Nähe zum naturwissenschaftlichen
Denken der Epoche hat Michel Serres auf verblüffende Weise markiert, mit
seinem Hinweis auf den Physiker Carnot und dessen Transformationstheo-
rie: „Hierarchie und Widerspruch sind zwei isomorphe Darstellungen. Sie

20 Vgl. Novalis 11,415


21
Hölderlin, Die Titanen V. 19 - 22 (Gedichte 390f.)
22
Ebd. V. 4f.
71

lassen sich gegeneinander vertauschen, ohne daß die Darstellung oder die
Lage sich dadurch veränderte. Zwei Gestalten der Ordnung, die miteinander
im Streit zu liegen schienen oder vielmehr: die miteinander im Streit liegen,
weil sie unter ihren gegensätzlichen Masken in Wirklichkeit Zwillinge sind"23.
Im Gewand der Naturwissenschaft versteckt sich ein antagonistischer My-
thos, dessen Geheimnis die Einheit der Gegensätze ist. Serres betont mit
Recht das Element des Kampfes, welches zum Denkmodell der Neuzeit
wurde. Hölderlin, weniger militant, spricht poetisch vom „liebenden
Streit"24. Seine Natur, in „Wolken" und „Wurzeln" hierarchisch und doch
synergeüsch geordnet, bereitet den Weg für den kommenden Gott.
In den Titanen erwächst dessen Advent aus der Wildnis. Ihr rebellisches
Wuchern, aus den bewußtlosen Wurzeln, fordert das himmlische Feuer her-
aus. Das Wilde ist das Andere der Vernunft, es zu erkennen, Aufgabe des
Dichters. So definieren Herrschaft und Anarchie einander. Hölderlins Götter
sind mit Gewitter bekleidet, wirken in der Kraft der Elemente. Solche My-
thologie der Vernunft, philosophisch von Heraklit und Empedokles gespeist,
ist Hölderlins Antwort auf die beginnende Mechanisierung der Welt, auf
prometheische Technik und industrielle Verwertung der Natur. Hölderlin
möchte heraus aus dem Maschinenstaat, aus der Maschinengeschichte. Das
Heilige, zu Energie geworden, hat seine Epiphanie einzig noch in der Wild-
nis. Der Hymniker ist kein Geschichtsphilosoph; er faßt sein Dichteramt
eschatologisch auf. Gerade die Parusie-Erwartung, ästhetisch aufgefaßt,
bringt ihn dazu, die Verheißung des Heils in der Natur zu erkennen:

Als Zeichen der Liebe


Veilchenblau die Erde.25

Hölderlin sieht, daß der christliche Gott durch die Vernunftreligion zu einem
Gegenstand der Religionsgeschichte, ja selbst historisiert wird - ein Gefan-
gener der Zeit. Seine bestimmte Unbestimmtheit in der Namengebung ist
daher poetisches Kalkül: das Göttliche wird naturalisiert. „Daß der späte
Hölderlin die Eigennamen der Götter meidet, hat zum Grund, daß er sie aus
den Religionssystemen in die Konkretheit ihrer Existenz in der Natur heim-
zuholen, in ihrem gleichen Ursprung aus der Natur zu erweisen trachtet"26.
Deshalb möchte er Gott aus einem deistisch passiven zu einem dynamischen
machen; denn um Gott zu bleiben, muß er der Künftige werden. Deshalb
Dionysos, aus Indien kommend - in Rausch und Pathos, in Feuer und
Sturm. All dies sind Chiffern heiliger Gewalt. Der Ursprung des Heiligen
aber bleibt ein Rätsel.

23
Serres 53
24
Hölderlin, Heimkunft V. 6 (Gedichte 291)
25
Hölderlin, Griechenland III (Gedichte 421)
26
Szondi 79
72

Seit der Aufklärung gilt ethisch und ästhetisch das Ideal der Natürlichkeit.
Das prägt auch Verhaltens- und Interaktionsmuster 27 . Im Wahrnehmen und
Handeln erscheint der Mensch abhängig von Natur, von ihren Kräften und
den Erfahrungen, die er mit ihnen macht. So schreibt Novalis in den
gen %u Sair. „Den Inbegriff dessen, was uns rührt, nennt man die Natur, und
also steht die Natur in einer unmittelbaren Beziehung auf die Gliedmaßen
unseres Körpers, die wir Sinne nennen. Unbekannte und geheimnisvolle Be-
ziehungen unseres Körpers lassen unbekannte und geheimnisvolle Verhält-
nisse der Natur vermuten, und so ist die Natur jene wunderbare Gemein-
schaft, in die unser Körper uns einführt"28. Mensch und Natur bilden einen
Sinnzusammenhang. Gerade das Erlebnis des Erhabenen, festgemacht an
malerischer Wildnis, an Ozean und Alpen, am Ausbruch der Elemente, ent-
läßt sensible Geister aus sozialen Anpassungszwängen wie aus historischen
Denkmustern. Goethes Werther erfährt um sich und in sich elementare Na-
tur als eine Revolution des Gefühls, die an das Heilige rührt: „Vom unzu-
gänglichen Gebirge über die Einöde, die kein Fuß betrat, bis ans Ende des
unbekannten Ozeans weht der Geist des Ewigschaffenden und freut sich je-
des Staubes, der ihn vernimmt und lebt"29. Die bürgerliche Kultur seit 1770
lebt psychisch in einer gesteigerten Spannung, in einer diffusen Sehnsucht
nach dem Anderen der Vernunft30. Im jungen Anton Reiser weckt eine
Feuersbrunst, bei allem Erschrecken, geheime Katastrophenphantasien. Die-
ser Wunsch entstand „aus einer dunklen Ahndung von großen Veränderun-
gen, Auswanderungen und Revolutionen, wo alle Dinge eine ganz andere
Gestalt bekommen und die bisherige Einförmigkeit aufhören würde" 31 .
Diese Wahrnehmung, 1785 in einem psychologischen Roman vorgetragen,
erfüllt alle Anforderungen der Prophetie; sie legt zugleich die anarchischen
Wurzeln des bürgerlichen Gefühlshaushaltes bloß. Es mag wie planvolle
Selbstkur erscheinen, wenn K.Ph.Moritz in Rom, als Freund Goethes wie als
Ästhetiker, sich zum entschiedenen Klassizisten diszipliniert.
So weckt gerade das Erlebnis der erhabenen Natur, ihr Wildes, utopi-
sche Sehnsucht nach Veränderung. Als Gegenbild zur Verrottung histori-
scher Institutionen, zur Sinnerschöpfung auch der Religion, nimmt Natur
Züge des Heiligen an. An dieser reinen Flamme sich entzündend, sucht
Phantasie nach Ausgängen aus der Geschichte — schwankend zwischen Ent-

"NitschkeSölf.
28
Novalis I, 97
29
Goethe HA 6, 52
50
Vgl. Nitschke 280f.
31
K.Ph.Montz, Anton Reiser (Leipzig 1960) 27
73

grenzungswillen und Lust am reinen Augenblick. Davon zeugt Hölderlins


Mnemosynr.
Und immer
Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist
Zu behalten. Und Not die Treue.
Vorwärts aber und rückwärts wollen wir
Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie
Auf schwankem Kahne der See.32

Die Lust am Augenblick löscht die Geschichte aus - vorübergehend. Sie


meint nicht Vergessen, sondern birgt Umbruch in sich; sie inszeniert das
Werden im Vergehen. Natur wird zum Erlebnisraum solcher komplexen Er-
fahrungen. „Nach den Menschen werden auch die Räume ahnungsvoll" 33 .
Dafür sprechen nachhaltig-still Friedrichs Naturmetaphern. Als Landschaf-
ten verkleidet, sind sie Erwartungsträger, ja rühren an neue Sinnhorizonte.
Die entschiedenste Abkehr von allen Abstraktionen der Geschichtsphi-
losophie ist Goethes Naturdichtung. Auf dem Wogenkamm der Aufklärung
feiert der junge Autor Natur als Ort unmittelbarer Illumination:

Wie herrlich leuchtet


Mir die Natur!34

Dieser Ton war einmal revolutionär. Transformiert doch das Maifest, aus
dem Umkreis der Sesenheimer Lieder (1770/71), eine im Grunde theologi-
sche Ästhetik in einen Lobpreis irdischer Herrlichkeit. Die Attribute „herr-
lich" und „leuchtend", einst Privilegien des Höchsten, streifen noch im
spontanen Ausruf die Majestät eines Gottes. Der Enthusiasmus aber gilt
dem Sichtbar-Schönen. Der Gott ist eingegangen in einen weltumarmenden
Eros, der seinen Adepten begeistert stammeln läßt: „O Erd, o Sonne! O
Glück, o Lust!" Solche Verzückung erlebt das Selbstverständliche, den Früh-
ling eben, als weltliche Liturgie. Natur vertritt den konventionell, weil histo-
risch gewordenen Gott:

Du segnest herrlich
Das frische Feld,
Im Blütendampfe
Die volle Welt.35

Das Ich, das durch Natur sympathetisch die Steigerung eigenen Daseins er-
fährt, fühlt sich zunächst exponiert. Doch solche Exponierung dient auch

32
Hölderlin, Mnemosyne V. 12 - 17 (Gedichte 364)
53
Nitschke 295
34
Goethe HA 1,30
35
Ebd. 31
74

dem Kult des Ich. Selbstbewußt beginnt die zweite Zeile des Mailieds mit
dem „Mir" - als gelte das Frühlingserwachen einzig dem poetischen Subjekt.
Die Sakralisierung dieses großen Einklangs wird dann im Werther vollendet,
wo der Verliebte bekennt, wie ihm die Landschaft rings „das innere, glü-
hende, heilige Leben der Natur eröffnete"36, Verströmungsgefühle hervor-
rief.
Während Herder tendenzbewußt die Aussaat seiner Ideen einer Philosophie
der Geschichte der Menschheit vorbereitet, lauscht Goethe lieber dem Gesang der
Geister über den Wassern, hört auf die Stimmen der Elemente statt der Ge-
schichte vorzuschreiben, was geschehen soll. Goethes Naturvertrauen wider-
steht erfolgreich allen Anfechtungen des aufkeimenden Historismus. Die
Naturgeister im Gedicht von 1779 verkünden ein Orakel, das dem Geist des
Jahrhunderts souverän widerspricht:

Seele des Menschen,


Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!37

Ein probates Mittel, der Abstraktion und Theoriesucht zu entgehen, war für
Goethe die Betrachtung der Natura naturans. In antikischen Versen voll-
brachte er das Kunststück, die Metamorphose der Pflanzen in eine dichteri-
sche Denkfigur zu fassen. Das Studium der Blumen eröffnet ein Farben- und
Namenspiel, das ewige Wiederkehr des Gleichen meint. Zugeeignet der
Aufmerksamkeit der Geliebten, sind sie so flüchtige wie dauerhafte Gaben
des allesdurchwaltenden Eros, geben ein heiliges Rätsel auf.

Wende nur, o Geliebte, den Blick zum bunten Gewimmel,


Das verwirrend nicht mehr sich vor dem Geiste bewegt.
Jede Pflanze verkündet dir nun die ew'gen Gesetze,
Jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir.
Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern,
Überall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug.38

Die Schrift der Göttin Natur ist verläßlicher als alle Schrift der Geschichte,
die nur menschliches Stückwerk verkündet. So stiftet der Text einen neuen
Bund zwischen Mensch und Natur. Diese Verläßlichkeit sah Goethe ele-
mentar gegeben im Granit, dem ein Fragment von 1784 gewidmet ist. Nicht
das Verfängliche im widrigen Geschwätz, wie Jahrzehnte später die Chine-
sisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten die Zeitgeschichte mit souveräner Geste
abtun, sondern das Fundament selbst, der Urstoff, der auf die Tiefen der
36
Goethe HA 6, 52
37
Goethe HA 1,143
38
Ebd. 200
75

Schöpfung gebaut ist, entzündet die Phantasie des Dichters. Entgegen der
Galanterie und Empfindsamkeit seiner Epoche, in einem Europa, das sich
zur revolutionieren beginnt, feiert Goethe das rauhe Element, preist den
Granit als Inbegriff der Dauer: „Ich fürchte den Vorwurf nicht, daß es ein
Geist des Widerspruches sein müsse, der mich von Betrachtung und Schilde-
rung des menschlichen Herzens, des jüngsten, mannigfaltigsten, beweglich-
sten, veränderlichsten, erschütterlichsten Teiles der Schöpfung zu der Beob-
achtung des ältesten, festesten, tiefsten, unerschütterlichsten Sohnes der
Natur geführt hat"39. Die Hierarchie der Werte, die der kommende Klassiker
aufstellt, ist unübersehbar. Er sucht, was die Geschichte überdauert: den
Thron aus Granit anstatt der Königsthrone, die schon am Wanken sind. Auf
diesem Hochsitz, der an die Urwelt rührt, ohne daß Natur- oder Menschen-
geschichte sich dazwischen drängten, allein mit sich selbst, steigert Goethe
die Gipfelgefühle zur Religion des Erhabenen. Der Granit ist kein Grab, wie
die postdiluvialen Schichten der Erde, sondern der heilige Berg, die Opfer-
stätte, auf der die Seele sich dem Unendlichen hingibt: „Hier auf dem älte-
sten ewigen Altare, der unmittelbar auf die Tiefe der Schöpfung gebaut ist,
bring ich dem Wesen aller Wesen ein Opfer"40. Der Sakralisierungsprozeß
geht wie selbstverständlich einher mit der empirischen Betrachtung; er
nimmt die Phänomene für Metaphern. Goethes Lob des Granit ist ein „Zu-
rück zu den Sachen", die Abkehr von aller Salonästhetik — zugleich ein Aus-
gang aus der Geschichte, hin zur erhabenen Ruhe, zum Granit in der eigenen
Seele.
Am Ende seines Lebens, unter dem aufgehenden Vollmond von Dorn-
burg, nimmt Goethe entschlossen Abschied von aller Erlebnisgeschichte,
mag sie sich selbst in der Suleika des Divan verkörpern. „Schlägt mein Herz
auch schmerzlich schneller,/ Überselig ist die Nacht" 41 . An solchem Ab-
schiedswillen bricht sich die Woge der Erinnerung. Zur wahren Erlöserin
wird die entschleiernd sich verhüllende Natur. Die lunaren Wonnen dieser
Göttin Nacht, dargeboten in einem ewigen Augenblick, übersteigen Marian-
nes irdische Seligkeit, die noch der Ordnung der Zeit angehört. Das Licht
dieser Einsicht löscht mit der Geschichte auch jenes Begehren, das sich nach
Flammentod sehnte. Die Nacht, gesteigert zur „überseligen", begräbt in ih-
rem Mondlicht die bloß selige Sehnsucht, zu der sich Goethe im Divan be-
kannt hatte: „So hinan denn! hell und heller,/ Reiner Bahn, in voller
Pracht!"42 In diesen Versen feiert sich der Ausstieg aus der Subjektgeschichte
in jene erleuchtete Leere, die fast zur gleichen Zeit Franz Schubert im
Schlußlied der Schönen Müllerin so weltschmerzlich vertonte: „Und der Him-
mel dort oben, wie ist er so weit". Was bei Schubert zur ästhetischen Ver-

59
Goethe, Granit, in: Münchner Ausgabe Bd. 11,2 (1987) 504f.
40
Ebd. 505f.
41
Goethe HA 1,391
« Ebd.
76

zweiflung wird, gerät dem Überlebenskünsder Goethe zur Weisheit der Aus-
löschung, höher als alle Vernunft. In seine Mondnacht glänzt das Nirwana
herein. Auf dieser letzten Stufe des Erhabenen hebt die Natur selbst sich auf.

Das Erhabene ist noch ein Schlüsselbegriff für den Bewunderer Goethes,
den Willensverächter Schopenhauer. Sein Ideal der philosophischen Land-
schaft kommt freilich nicht aus ohne Mythisierung der Natur; im Zeitalter
des Industrialismus war dies nur noch ästhetisch möglich. Der Misanthrop
und Denker der Willensüberwindung braucht dazu eine „sehr einsame Ge-
gend, mit unbeschränktem Horizont, unter völlig wolkenlosem Himmel,
Bäume und Pflanzen in ganz unbewegter Luft, keine Tiere, keine Menschen,
keine bewegten Gewässer, die tiefste Stille"43. Eine Nietzsche-Landschaft,
mit klassischen Elementen angereichert, nicht ganz ohne Ossian zu denken,
damit der romantische Weltfeind den Ennui vergißt. Schopenhauer denkt
sich mehrere Szenarios aus, um anhand von Natursymbolik das Drama des
Willens und die Distanz des schauenden Subjektes darzustellen. „Lassen wir
nun aber eine solche Gegend auch der Pflanzen entblößt sein und nur nackte
Felsen zeigen; so wird, durch die gänzliche Abwesenheit des zu unserer Sub-
sistenz nötigen Organischen, der Wille schon geradezu geängstigt: die Öde
gewinnt einen furchtbaren Charakter; unsere Stimmung wird mehr tragisch:
die Erhebung zum reinen Erkennen geschieht mit entschiedenerem Losrei-
ßen vom Interesse des Willens"44. Diese nordische Klippen- und Felsbühne
nimmt Wagnersche Szenarios vorweg. Von Geschichte ist keine Rede; sie ist
ausgetilgt mit all ihren unreinen Implikationen. Schopenhauer erfaßt sein Er-
habenes in malerischen Bildern; so als bedürfte noch die Überwindung des
Willens des schönen Scheines, der sie illustriert. Dabei reproduziert er deut-
lich die Pathosformeln bürgerlicher Kunst des 18. Jahrhunderts, wofür Jo-
seph Vernets berühmter Seesturm (1777, Musee Calvet, Avignon) steht. Mit
Lukrezischem Gleichmut wird der Aufruhr der Elemente erlebt, der äußere
Sturm der inneren Ruhe verglichen, etwa, „wenn wir am weiten, im Sturm
empörten Meere stehen: häuserhohe Wellen steigen und sinken, gewaltsam
gegen schroffe Uferklippen geschlagen, spritzen sie den Schaum hoch in die
Luft, der Sturm heult, das Meer brüllt, Blitze aus schwarzen Wolken zucken
und Donnerschläge übertönen Sturm und Meer"45. Diese Regieanweisung
romantischer Naturdramatik suggeriert einen Schauplatz, der Byrons und
Schumanns Manfred oder Wagners Holländer würdig wäre. Mitten im Fort-
schrittsfieber der maschinen- und manu fakturbegeisterten Bourgeoisie hält
der Prophet des Pessimismus an den Würdezeichen der großen Natur fest.

43
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, 289f.
44
Ebd. 290
45
Ebd. 291
77

Doch was ihn im tiefsten bewegt, ist die Duplizität des Bewußtseins: an Ge-
schichte gebunden, von Raum und Zeit bestimmt, hinfällig, hilflos, ein
ephemeres Wesen, „ein verschwindendes Nichts, ungeheuren Mächten ge-
genüber"; und zugleich das ewige ruhige Subjekt des Erkennens, der Natur
unendlich überlegen, deren Kampf nur seine Vorstellung ist. In solcher Du-
plizität sieht Schopenhauer den Gipfel des Erhabenen. Das herrscherliche
aufgeklärte Ich aber weiß nicht, auf welch zerbrechlichen Mythologien es
thront.
Die Frühromantik, die Nachtseite an der Natur entdeckend, hatte das
Heilig-Wilde und Chaotische als authentisches Spiel einer in ständigem Wer-
den begriffenen Welt erfaßt. Das überlieferte physikotheologische Deutungs-
system war damit für immer gesprengt. Zugleich löst Natur seit 1800 eine
besondere Fremdheits er fahrung aus - vergleichbar jener fundamentalen
Verwunderung, die den Entdeckern des lö.Jahrhunderts widerfuhr46. Ihr
Anarchisches erhält nun auch ästhetisch neue Qualität: es ist die Schönheit
des Chaotischen, Vitalen, ja Brutalen. Auf dieser Linie finden sich noch
Rimbaud und Nietzsche. Zum herrschenden Gedanken aber wurde nach
1859, nach dem Erscheinen von The Origin of Species, ein neuer Ordnungs-
entwurf von Natur. Das „Zauberwort Entwicklung"47, mit Darwin den Sie-
geszug antretend, ist die große Beruhigungs-, ja Verklärungsformel. Was die
Historie der Zivilisation mit ihren viertausend Jahren nicht mehr zu leisten
vermag, leistet nun Biologie. Die Theorie einer Evolution des Lebendigen
wird zur Lehrmeisterin des 19.Jahrhunderts. Auch dies war ein Schlag gegen
die Geschichtsphilosophie. Dazu brauchte Darwins „Entwicklung", diese
anonyme Göttin, nur eines: sehr viel Zeit. „Sie ist das letzte, vielleicht wich-
tigste Mittel, um die Welt der organischen Natur ins Panorama zu bringen"48.
Denn Jahrmillionen sind nötig, um alle Lücken zu füllen, durch zahllose
Übergänge eine Kontinuität und damit ein Ganzes herzustellen. In der Idee
der natürlichen Zuchtwahl lag ein Art von weltlicher Theodizee, freilich er-
schreckend einfach: sie gab dem Kampf ums Dasein einen Sinn49. Der
christliche Schöpfungsbegriff sah sich auf diese Weise naturalisiert.
Der Glaube an Evolution versachlicht das Befremden, angesichts der
wilden und grausamen Aspekte der Natur. Er wirkt als Sedativ, durch beru-
higenden Hinweis auf Entwicklungsstadien. Darwin, der Erklärer einer bis-
her unverstandenen Natur, war der ideale Therapeut für die historisch aufge-
störte Bourgeoisie des 19Jahrhunderts. Nicht Revolution, sondern stetiger
Gang der Entwicklung - so hieß seine Botschaft. Auch die Evolutionstheo-
rie war eine „Kolonisierung des Wunderbaren" 50 , indem sie das Wahrneh-

46
Dazu Greenblatt 27ff.
47
Vgl. Sternberger 87ff.
18
Ebd. 93
49
Ebd. 89
50
Greenblatt 42
78

mungsmodell des Konkurrenzkampfes auf das Reich der Natur übertrug, ja


darin eine quasi-göttliche Ordnung erkannte. Nietzsche hat Darwin gekannt
und von ihm gelernt, daß der Mensch ein Naturwesen ist51. Später freilich
klagte er darüber, daß Darwins Theorie wirklichkeitsfern sei: weil doch die
Schwachen immer wieder die Starken zu dominieren wüßten, und sei es mit
Hilfe des Geistes52. Diese Kritik lebt selbst vom Konkurrenzgedanken.
Doch blieb sie dabei nicht stehen. Nietzsches Hymnus auf das „Ganze
der Kraft" pries eine metahistorische Allmacht des Lebens, die er mit der
mythischen Chiffer „Dionysos" versah. Denn wahrhaft schöpferisch im
Wechsel von Erzeugen und Zerstören ist einzig die Natur. So hüllt sie
Nietzsche in Ewigkeitsprädikate, um sich ihrer Kontinuität zu versichern.
Mit Blick auf das Buch der Welt unterschied er demonstrativ zwischen der
„großen Schrift" der Natur und der „kleinen Schrift" der Geschichte. Natur,
so sehr analytisches Denken sie zu domestizieren sucht, kennt für ihn keine
Gesetze; das wäre Idealismus. Sie regiert jenseits aller Vernunft; der Zufall ist
nur ein anderer Name für das Spiel der Elemente. Aus ihren Würfen entsteht
alles Sein; was zählt, ist ihr Wille zur Macht, als unausrottbare Lebensenergie.
Für dieses Szenario gilt, was schon J.Chr.Tobler in seinem Natur-Fragment
in einer Mischung aus Entzücken und Schrecken notierte: „Natur! Wir sind
von ihr umgeben und umschlungen". Aus diesem Schauer der Ganzheitser-
fahrung macht Nietzsche ein Jahrhundert später ein physikalisch verkleidetes
Mythologem.
Im Maße der Mechanisierung des Daseins träumt die Moderne von der
göttlichen Natur. Das reicht vom poetischen Illusionismus bis hin zur rheto-
rischen Anrede. Gerade Nietzsche verschmäht nicht den imaginären Dialog
mit den Naturmächten. In der Morgenröte, inspiriert durch die Landschaft am
Golf von Genua, feiert er das große Schweigen. Vor diesem Schweigen er-
eignet sich ein Sprechen, das in Emphase und Fragen sich ausgibt: „Diese
ungeheure Stummheit, die uns plötzlich überfällt, ist schön und grauenhaft,
das Herz schwillt dabei. (...) O Meer! O Abend! Ihr seid schlimme Lehr-
meister! Ihr lehrt den Menschen aufhören, Mensch zu sein! (...) Soll er sich
euch hingeben? Soll er werden, wie ihr es jetzt seid, bleich, glänzend, stumm,
ungeheuer, über sich selber ruhend?" 53 Der Einsame erdichtet sich Natur als
Gegenüber, als Partner eines großen Zwiegesprächs. Er, dem der Schmerz
und Überschwang des Daseins die Zunge lösen, beneidet diese Mächte um
ihr Schweigen; zugleich ängstigt ihn diese Verführung des Schweigens; denn
Sprechen ist das Letzte, das vom Prinzip der Individuation noch verbleibt.
Sakralisierung der Natur heißt hier Vermenschlichung: Nur als den Über-
menschen kann Nietzsche sich einen Gott noch denken. Und doch wird
Natur auch durch solche Operation nicht verfügbar; denn unter ihren Geset-

51
Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen I (KSA 1,196)
52
Nietzsche, Götzendämmerung. Streifzüge eines Unzeitgemäßen 14 (KSA 6, 120f.)
» Nietzsche, Morgenröte § 423 (KSA 3, 259f.)
79

zen von Sexualität und Tod konstituieren sich die menschlichen Subjekte.
Der Übermensch Nietzsches ist eine Kopfgeburt, dem schmerzenden Haupt
des Philosophen entsprungen, so wie der Zarathustra ein symbolistischer
Freskenzyklus ist. Nietzsches Blick, der unter seinesgleichen immer fremder
wird, träumt seinen Übermenschen in die Natur hinein.
Das Hineinlesen einer ethisch-ästhetischen Ordnung ins Verwirrspiel
der Phänomene hatte mit Hingabe Adalbert Stifter betrieben. Mitten im
Wiener Biedermeier, das bürgerliche Geselligkeit zur Lebenskunst zu stilisie-
ren wußte, überkommt seine Figuren ein „Gefühl der tiefsten Einsamkeit"
vor der Naturfassade. Der tote See aus der Erzählung Der Hochwald (1841) ist
Auge und Abgrund zugleich - Abgrund an Resignation vor der Geschichte:

Da in diesem Becken buchstäblich nie ein Wind weht, so ruht das


Wasser unbeweglich, und der Wald und die grauen Felsen, und der
Himmel schauen aus seiner Tiefe heraus, wie aus einem ungeheuem
schwarzen Glasspiegel. (...) Oft entstieg mir ein und derselbe Ge-
danke, wenn ich an diesen Gestaden saß: - als sei es ein unheimlich
Naturauge, das mich hier ansehe - tief schwarz - überragt von der
Stirne und Braue der Felsen, gesäumt von der Wimper dunkler Tan-
nen - drin das Wasser regungslos, wie eine versteinerte Träne.54

Die schiere topographische Beschreibung entgleitet zum suggestiven Bild


einer Schöpfungstrauer, die unbegreiflich ist. Diese Gottheit Natur bleibt
unerlöst und für sich selbst ein Rätsel. Das Idyll erschreckt auf diskreteste
Weise. Die Unbeweglichkeit noch der Naturverhältnisse spiegelt die Angst
vor Erstarrung in den geschichtlichen Zuständen. Doch die Flucht aus der
Geschichte mißlingt; sie schleppt die Ketten, die sie zu sprengen meint, mit.
Stifter verwandelt seine Obsessionen, die Furcht vor Sinn-, also vor
Weltverlust, in eine Kunst der Beschreibung. Was unbenennbar ist, soll
sichtbar werden. Wo Nietzsche sprechend aus der Geschichte heraustritt, als
Rhetor das Schweigen der Dinge zu übertönen sucht, da kultivierte Stifter
das Sehen; nicht umsonst verbrachte er seine Freizeit am liebsten mit Malen.
Die Anschauung, die der Beschreibung vorausgeht, nobilitiert das Naturphä-
nomen, indem sie es — bis ins Detail betrachtend — in eine Sinnordnung ein-
fügt. Ob und wie weit diese fiktiv ist, bleibt dabei nebensächlich. Genauigkeit
vor der Natur ist Stifters Weise, religiös zu sein: gleichsam textimmanent.
Seine beharrliche Phänomenologie, die den Unterschied zwischen dem Klei-
nen und Großen negiert, ist Andacht vor dem Detail. Stifter naturalisiert aus
gutem Grund die historische Welt, deren Umbrüche er zugleich ersehnt und
fürchtet. Als Repräsentationsmodell auch für die Menschengeschichte wird
das „sanfte Gesetz" der Natur deklariert. In ihm ist das Wilde, als ein Sakra-
les, das gefürchtet wird, abwesend eingeschrieben. (Der Rasiermesserschnitt,

54
Softer 1,167
80

mit dem Stifter der eigenen Schmerzgeschichte zu entkommen sucht, wird


Wiederkehr des tabuisierten grausamen Gottes sein.)
Die optische Verläßlichkeit der Dinge verweist auf einen Weltgrund, der
unbefragbar unter den Phänomenen liegt — als eine Metanatur, die mit-
schwingt im Medium der Beschreibung und doch der Beschreibung sich
ständig entzieht. Der unendliche und immer gleiche Fundus der Natur ga-
rantiert einen Sinnbestand, den die Geschichte nicht mehr geben kann. Das
Ineinander von Deskription und Metapher zeigt sich an vielen Stellen im
Nachsommer, etwa in dem Kapitel Der Wanderer. Der Ich-Erzähler berichtet
von seiner Initiation, die sich auf hohen Bergen zutrug, von wo er die For-
mationen der Erde studierte. Empirie und Seele kommen hier zusammen -
im analogen Denken, das die Bildung der Erdoberfläche mit der Entstehung
von Eisblumen vergleicht. So ist es symbolisch bedeutsam, daß das verdeckt
Sakrale der Natur gerade „von hohen Stellen aus" zu ahnen ist. Bei solchen
Studien - mit Eifer und strenger Ordnung betrieben - „lernte ich auch nach
und nach den Himmel kennen"55. Es tut der Symbolik keinen Abbruch,
wenn Wolken und Wetter hier einbezogen sind. Im Akt der Naturbeschrei-
bung legt Stifters Prosa die Geschichte still. Aber der Blick zeugt von ver-
schwiegener Trauer.
Dichtung und Malerei des 19.Jahrhunderts suchen die Natur mit allen
Mitteln zum Sprechen zu bringen. Man ahnt in ihr jenes Geheimnis, das die
moderne Gesellschaft sich selber längst ausgetrieben hat. Im Bemühen um
eine Wahrheit der Kunst, aus der Natur destillierbar, steckt ein gleichsam re-
ligiöser Eifer. Der Impressionismus, der von der Sinnlichkeit des Schauens
lebt, ist das definitive Ende der Historienmalerei. Er zelebriert sein Schauen
am liebsten vor der Natur: Landschaften und Tag- und Jahreszeiten dienen
ihm als Vorwand, um die Mysterien von Licht und Farbe zu feiern. Es ist
eine daseinsverklärende Kunst. Ihr Großmeister ist Claude Monet, der „Prie-
ster des Lichtkultes" (Aurier), dessen Spätwerk förmlich zu einer Naturmy-
stik kommt — durchaus in Einklang mit dem Wertsystem des Bürgertums,
das vor solchen Bildern sich von historischer Anstrengung erholt. Selbst die
Kathedrale von Rouen verwandelt sich bei Monet in eine Art von Korallen-
stock, übergössen von sakralem Licht. Diese Kunst sucht am Grund all ihrer
Experimente das irdische Paradies. „Darum endet der Impressionismus, der
zu Beginn das schnell erhaschte Erscheinungsbild auf sein Programm
schrieb, beim verklärten Naturmythos" 56 .
Monets Seerosenbilder erzählen diesen Verklärungsmythos. Alltägliche
Natur wird erhöht in einem Kult des Sehens, der sich - analog zur symboli-
stischen Dichtung - seinen eigenen magischen Kosmos schafft. Diese Art
von Malerei führt zur reinen Anschauung hin: die Wahrheit der Natur als

55
Stifter II, 704
s« Hofmann 313
81

schöner Schein. Monet huldigt mittels der Farbe der fließenden Welt, dem
Spiel der Fruchtbarkeit in Wasser und Vegetation, das in den Nympheas einen
Sinnhorizont aufblühen laßt, der nur noch das Drama des Lichtes, doch
keine Geschichte mehr kennt. Der Besucher des Musee de l'Orangerie in Pa
ris tritt, wie Werner Hofmann schreibt, „in einen vegetabilen, feuchten Welt
zusammenhang ein, der im wahrsten Sinne des Wortes unauflösbar und rät
selhaft ist"57. Monets späte Variante des Seerosenthemas (Neue Pinakothek,
München), 1921 vollendet, nach einem Krieg, der das alte Europa zerstört
hatte, macht Natur ein letztes Mal zur Ikone. Ihr Anblick heilt den Betrach
ter von aller Geschichte; denn Geschichte ist das Unreine schlechthin. Im
Wasserspiegel schwimmt Mallarmes Azur; die Seerosen treiben als grüne
Wolken auf diesem Gegenhimmel; drei rosige Blüten, Reflexe dreier Sonnen,
verabschieden okzidentale Rationalität. Dennoch: das Bild hängt da wie eine
Altartafel. Es verkündet die Subtilität, das Geheimnis, die Würde einer unbe
kannten Gottheit. Die Farben sprechen ein Augenglück heilig; für Monet
sind sie die Garantie einer Welt.

Im Zeichen des Orpheus, der die Wildnis zähmte und bis in das Totenreich
vordrang, hat nach dem Ersten Weltkrieg Rilke seine Verklärung der Natur
betrieben. Er war damit besonders erfolgreich durch seine ganz persönliche
Diktion, und weil er empfindliche Punkte seiner Epoche traf: das wachsende
Unbehagen in der Kultur, die Furcht vor der Mechanisierung des Lebens, die
Sorge angesichts totalitärer Technik. Rilkes Sonette an Orpheus (1922) sind
scheinbar unpolitisch, doch transportieren sie auf ihre Weise Kritik der Zivi
lisation. Ihr Programm ist Abkehr von der Gewaltgeschichte, an der Rilke so
sehr gelitten hat. Dieser Orpheus, eine sakrale Figur jenseits der etablierten
Religion, der sanfte Verwandler, steht gegen Krieg und Todesindustrie: Aus
druck einer fast pazifistischen Mystik, geschichtsfern konzipiert, verkündet er
als erster den Frieden mit der Natur. Im Raum universaler Verwandlung ist
er Garant unzerstörbaren Lebens. „Geh in der Verwandlung aus und ein"
heißt es am Schluß des Zyklus, und weiterhin mit deutlich parareligiöser
Wendung: „Was ist deine leidendste Erfahrung?/ Ist dir Trinken bitter,
werde Wein"58. Hier zeigt sich Rilke als Vorläufer einer (immerhin denkba
ren) ökologischen Religiosität, wobei das Stichwort „Verwandlung" zeitge
mäß mit „universaler Kreislauf übersetzbar wäre. Natur als letztes Sinn
system gewinnt bei Rilke jene Autonomie zurück, die sie in der Antike besaß.
Aus poetischem Instinkt wie aus Kalkül hat sich der Autor die Haltung des
Welterstaunens bewahrt. Über die Rätsel glitt Rilke hinweg. Das Staunen war

57
Ebd. 314
58
Rilke, Sonette an Orpheus II, 29 (Gedichte 1,770)
82

seine Methode, die Subjekt-Objekt-Spaltung, jene cartesianische Krankheit


des Denkens, im Akt der Aisthesis zu überwinden. Die paradoxe Verschrän-
kung von Stillstand und Fluß, mit der die Sonette an Orpheus schließen, wußte
er in einfachster Sprache zu fassen:

Und wenn dich das Irdische vergaß,


zu der stillen Erde sag: Ich nnne.
Zu dem raschen Wasser spnch: Ich bin.59

Die Elemente Erde und Wasser, nicht Stimmungsträger, vielmehr ontolo-


gisch erfaßt, entbergen den ethischen Imperativ, der Mensch und Natur ver-
söhnen soll.
Auch das Spiegelmotiv, Sinnbild von Versenkung und Entzückung, eine
Erbschaft des Symbolismus, spielt seit je eine wichtige Rolle bei Rilke. Gern
transformiert er es in die Natur: In der Betrachtung eines Wasserspiegels er-
lischt, was wir Geschichte nennen. Rilke hat solche Motive zeitlebens ge-
sucht. Wie Stifters See (aus dem Hochwald) sammelt Rilkes Weiher im Wald
ein Potential an Sensibilität, das dem historischen Bewußtsein keinen Raum
mehr läßt. Im Spiegelbild zeigt sich die Wildnis geisterhaft gezähmt, wird die
Bedrohung gebannt:

Waldteich, weicher, in sich eingekehrter -,


draußen ringt das ganze Meer und braust,
aufgeregte Fernen drücken Schwerter
jedem Sturmstoß in die Faust -,
während du aus dunkler unversehrter
Tiefe Spiele der Libellen schaust...60

Der Text findet zu sich nach dem Gesetz der Abkehr von aller Weltbe-
drängnis. Daß diese mehr als bloße Stimmung ist, zeigt das Entstehungsda-
tum: Paris im Juni 1914, wenige Wochen vor der Jahrhundertkrise. Die Spra-
che, vegetativ geschmeidig wie Rankenwerk, umspinnt ein Ruhe- und Rück-
zugsbedürfnis, worin das Subjekt sich der Natur wie einem Sanktuarium an-
vertraut. Gesucht wird unversehrtes Dasein; das profane Draußen zeigt sich
als Feindliches. Dieser Naturraum wird zum Innenraum der Psyche; in ihm
ist Passivität als „Spiegelung" zugelassen. Das hat weniger mit Idyllik als
vielmehr mit Therapie zu tun. Die Abkehr ist erkämpft, man ahnt die Stig-
men; sie spiegeln sich noch in der „verhaltenen Verdüsterung", von der die
Verse sprechen. Der Text strebt einer Lichtung zu, wo nicht das schwere
Wissen, sondern die leichte Meinung zählt. Es ist ein Ritus der Selbstberuhi-
8ü n g:

59
Ebd. 771
60
Rilke (Gedichte II, 79f.)
83

Oh, ich habe zu der Welt kein Wesen,


wenn sich nicht da draußen die Erscheinung,
wie in leichter vorgefaßter Meinung,
weither heiter in mich freut.61

„Meinung" stand im Mittelhochdeutschen (Rilke konsultierte gerne das


Grimmsche Wörterbuch) noch für „Gedanke" und „Sinn". Seit Hegel ver-
fällt der Begriff dem Verdammungsspruch, behebiger Gedanke, gar Einbil-
dung zu sein: „Eine Meinung ist mein; sie ist nicht ein in sich allgemeiner, an
und für sich seiender Gedanke" 62 . Doch Rilke, der Retter der Erscheinung,
bückt sich nach dem nächsten besten Reim. Wo Wesensphilosophie, ange-
fault von der Geschichte, selbst wesenlos wurde, behauptet der Augenschein
sein angestammtes Recht. Unversehens wird der Lyriker zum Zeitgenossen
der Phänomenologie. Der erhellende Einklang schafft Sinn im Vorüberge-
hen, knüpft subjektive Wahrheit an das, was ihm erscheint: als könnten die
Augen des Dichters nicht lügen. Abkehr auch hier -: Freude, die das Er-
scheinende hereinholt in das Ich, es diaphan macht, negiert den Glauben an
eine erbsündlich getrübte Schöpfung. Selbst der Dualismus von Schöpfer
und Geschöpf, mit soviel dogmatischer Schwere beladen, will ihr nicht ein-
gehen. Von daher verstehen sich Rilkes berühmte Verse vom Weltinnen-
raum — eine monistische Konzeption, die den Dichter (im ursprünglichen
Sinn von Poiesis) selber zum Schöpfer macht, wenn er die Dinge anden-
kend-nennend heraufruft:

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:


Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.63

Natur, zum Medium der Selbstwahrnehmung geworden, vermag die Subjekt-


Objekt-Spaltung aufzuheben, mit ihr auch das Gefühl der Vereinzelung, des
Unterschieden-, Abgeschnittenseins, an dem die Psyche krankt. In dieser
poetischen Ontologie verliert das historische Denken, das auf Einmaligkeit
und Unterschiede pocht, seine Berechtigung.
Rilke, der an sich selbst das Unbehagen in der Kultur verspürte, suchte
um 1912, als die erste Duineser Elegie schon konzipiert war, nach dem großen
Einklang, zugleich nach Überwindung des lyrischen Subjektivismus. Sein
Sinnbedürfnis verlangte nach einem „Engel", nach Transzendenzerfahrung
in der „gedeuteten Welt"64. Als Sinnhorizont tat ihm Natur sich auf. Das
61
Ebd. 81 f.
62
Hegel, Geschichte der Philosophie I, hrsg. von J.Hoffmeister (2.Auflage 1944) 24
63
Rilke (Gedichte II, 93)
64
Rilke, 1.Duineser Elegie (Gedichte I, 685)
84

kurze Prosastück Erlebnis, 1913 in Spanien niedergeschrieben, aber sich auf


einen Vorgang 1912 in Duino beziehend, umkreist ein bislang unbekanntes
Gefühl der Vereinigung mit der Natur. Der Bericht beglaubigt sich durch
sachliche Distanz; das Ich spricht in der Er-Form:

Seiner Gewohnheit nach mit einem Buch auf- und abgehend, war er
darauf gekommen, sich in die etwa schulterhohe Gabelung eines
strauchartigen Baumes zu lehnen, und sofort fühlte er sich in dieser
Haltung so angenehm unterstützt und so reichlich eingeruht, daß er
so, ohne zu lesen, völlig eingelassen in die Natur, in einem beinah un-
bewußten Anschaun verweilte. Nach und nach erwachte seine Auf-
merksamkeit über einem niegekannten Gefühl: es war, als ob aus dem
Innern des Baumes fast unmerkliche Schwingungen in ihn über-
gingen. (...) Er meinte nie von leiseren Bewegungen erfüllt worden zu
sein, sein Körper wurde gewissermaßen wie eine Seele behandelt.65

Das Entgrenzungsgefühl, als ästhetische Physik behandelt, spielt sich gram-


matisch in Wunschformeln ab. Der Erzähler empfindet, „er sei auf die an-
dere Seite der Natur geraten" 66 . Ein altes romantisches Motiv führt hier,
mitten im technischen Zeitalter, zu einer „taghellen Mystik" (Musil). Das
Heilige wird nicht genannt, es ist im Phänomen enthalten - das freilich zum
Archetyp wird, zum Baum schlechthin. Frieden mit der Natur als Frieden
mit sich selbst war Rilkes tiefster Wunsch. Er ist noch im Als-ob authentisch.
Rilkes unkonfessionelle Religiosität wendet sich deutlich vom Christen-
tum ab; sie besetzt die christlichen Begriffe mit einer persönlichen Natur-
mythologie. Das letzte der Sonette an Orpheus macht die tradierten Symbole
von Glockenstuhl, Kreuzweg und Wein zu Chiffern orphischer Weltfröm-
migkeit, in deren Mitte die Liturgie der Verwandlung, der Naturteilhabe
steht. „Das was an dir zehrt,/ wird ein Starkes über dieser Nahrung" 67 . Rilke
hat diese Frömmigkeit, die ein Geschehenlassen ist, als ein Sich-Offenhalten
für Metamorphosen verstanden. Sie sind der Anteil des Göttlichen in der
Natur. Das wird im Widerspiel der Elemente Erde und Wasser als dichteri-
sche Weisheit inszeniert: durch Vertauschung ihrer Eigenschaften, des Fe-
sten und Flüssigen. Nicht Metaphysik, sondern Metanatur ist das Thema.
Das Spiel wirkt pagan, es findet keine Erlösung statt; aber das hegt an den
antiken Quellen. Denn Mythos heißt Metamorphose. Sich zu verwandeln, ist
göttliche Kunst - so Ovid. Zweifellos ist Rilkes Orpheus-Mythos mehr als
bloß Literatur, nämlich Verkündigung. Er operiert mit sakralen Deutungs-
mustern und stellt entsprechende Imperative auf. Zwar meidet Rilke die
Rolle des Religionsstifters. Aber wenn Religion ein „Entwurf von Bedeu-

65
Rilke, Werke VI (Frankfurt/M. 1966) 1036
<* Ebd. 1037
67
Rilke (Gedichte I, 770)
85

tungswelten" ist68, dann sind die Sonette intentional religiös - weil sie die
Metamorphosen des Diesseits zu heiligen trachten. Deshalb die Rühmung,
die Tod und Leben symbiotisch sieht. Rilke steht für eine Mentalität des 20.
Jahrhunderts, die Religion nur noch in naturalen Metaphern denken kann.
Das ist im Grund ein Erbe des Monismus, der Weltanschauung der Gebil-
deten um 1900, angereichert mit Motiven der Lebensmystik Nietzsches.
Rilkes dem Christentum entlehnte Botschaft von Leiden und Verwand-
lung — mit dem Symbolon Wein verknüpft — führt zu einer ethisch begrün-
deten Transformationslehre: „Ist dir Trinken bitter, werde Wein". In solcher
Umkehr der Werte erfolgt die Konfrontation mit dem Heiligen; sie ist ein
Experiment der Selbstpreisgabe, das vom „Übermaß" lebt. Der Ausgang aus
der Geschichte geschieht nicht aktiv durch ein Wollen, sondern durch ein
Geschehenlassen. Am „Kreuzweg der Sinne" tauschen die Elemente ihre
Eigenschaften aus. Das Stille beginnt zu sprechen, das Starre zu fließen, das
Vergehen mündet in ein Wort, das Bleibe zusagt: „Zu dem raschen Wasser
sprich: Ich bin". Wie auch immer verkürzt, ist das „Ich bin" die Kontrafak-
tur zur Selbstoffenbarung des biblischen Gottes. Rilke macht daraus die
Selbstoffenbarung des neuzeitlichen Menschen im Medium seiner hiesigen
Natur. Dieses Ich-bin, erlebt als reine Präsenz, ist Aufhebung aller Ge-
schichte. Angesichts der Erosion von Sinn geht Rilkes Tendenz zu einer
Ontologie des Wortes: „Gesang ist Dasein" 69 . Poesie stiftet Sein, indem sie
es ins Wort, ins Unsichtbare hebt. An entscheidender Stelle der Neunten
Duineser Elegie steht die Naturanrufung:

Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar


in uns erstehn?

Immer warst du im Recht, und dein heiliger Einfall


ist der vertrauliche Tod.70

Unsichtbar ist der im Lichte und in der Wahrheit wohnende Gott der Bibel.
Das Unsichtbare, so Paulus, steht höher als das Sichtbare, wie der Glaube
höher steht als das Gesetz. Bei Rilke nimmt das Erstehen der Erde im Men-
schen die Auferstehungsidee aus der gewohnten Transzendenz heraus, ver-
legt sie in irdisches Dasein; von daher die Zustimmung zur Metamorphose
des Todes. Ins Unsichtbarwerden hinein geschieht Entweltlichung der Welt
- für Rilke der einzige Weg, sie vor dem Zugriff der Maschinen zu bewah-
ren. Die unsichtbare Erde entzieht sich der planetarischen Technik ins
Schwebende. Sie flieht die Herrschaft dessen, was Heidegger später als das

68
Burkert 35
69
Rilke, Sonette an Orpheus I, 3 (Gedichte I, 732)
70
Ebd 720
86

„Gestell" beschreiben wird. Der Mythos einer geistgewordenen Erde ist Ril-
kes poetischer Rückzug aus einer mechanisierten, die Dinge wie die Empfin-
dungen vernutzenden Geschichte. Gerade die Heiligung des Todes rettet den
Entwurf vor der Vereinnahmung durch die Agenten der Sinnindustrie. Die
Liebeserklärung des Dichters an die Erde gilt einer Mater Tellus.
Zur Sakralisierung der Natur gehört das Zurückdrängen des Ich, das
sich seit Konstituierung der Neuzeit in die Mitte von allem gestellt hat. Rilke
ersetzt in dem Gedicht Die Frucht (Muzot, Januar 1924), Stilleben Cezannes
vor Augen, das lyrische Ich durch das mythische Es: „Das stieg zu ihr aus
Erde, stieg und stieg"71. Nicht mehr das betrachtende Subjekt prägt das Ge-
dicht, sondern ein Es, archaisches Gefäß des Sinns. Rilke nimmt hier den
herrschenden Gedanken der Moderne, die Subjektwerdung, zurück. Das Es
wird Chiffer der Natur und ihrer Triebkraft. Im Rund der Frucht zeigt sich
ein Ganzes, das vor aller Spaltung in „res extensae" und „res cogitans"
besteht; die vollkommene Form verweist auf Parmenides statt auf Descartes.
Das Seiende, zu Gast in einem Ding, begnügt sich zu sein. Das nennt der
Dichter Verzicht. Sich selbst genügend im Konkav der Schale, der
Schwerkraft und der Vergänglichkeit folgend, ist die Frucht weit mehr als
bloße Sache: als gereifte, gepflückte bezeugt sie ein Leben im Tode. Ihr
Ruhen in der Schale ist zugleich Fall in den Mittelpunkt. Wie in Kleists
Reflexion über den Tanz der Marionette offenbart sich in Rilkes Gedicht die
Sehnsucht nach dem Schwerpunkt; wie in der Marionette regiert dieser im
Innern der Frucht. So bringt das Verlangen nach einem Leben im Tode eine
Sinnbewegung hervor, die Ruhe und Fall vereint:

Und wenn es jetzt im rundenden Ovale


mit seiner vollgewordnen Ruhe prunkt,
stürzt es, verzichtend, innen in der Schale
zurück in seinen Mittelpunkt.72

„Es" ist die Sehnsucht, kein Schicksal mehr haben zu müssen, sich ganz dem
Naturgesetz der Schwerkraft hinzugeben. Ja Rilke dichtet in das Prunken
dieser Frucht etwas wie einen Sündenfall hinein, um ebenso dichterisch Er-
lösung erscheinen zu lassen. Erst der gelungene Vers schafft Versöhnung.
Solche Poetik richtet sich gegen die Entzauberung der Welt, also gegen
eine bestimmte Dynamik neuzeitlicher Geschichte, die bewirkt, daß das
Heraklitische Feuer nur noch in Dampfkesseln brennt, um immer größere
Hämmer zu heben: „Wir aber nehmen an Kraft ab, wie Schwimmer" 73 . Rilke
versucht Weltheiligung durchs Wort. Die Wahrheit des Unsichtbaren, des
Abwesenden erinnert an die negative Poetik Mallarmes. Das Benennen, Be-

71
Rilke, Gedichte II, 148
™ Ebd. 149
73
Rilke, Sonette an Orpheus I, 24 (Gedichte I, 746)
87

singen wird nun zum orphischen Akt, der die Natur bezähmt statt sie zu
unterwerfen. Ein mythologisches Vorbild, das bei Rilke noch als verdrängtes
wirkt, ist Adam, der die Tiere im Paradies benannte. Sie mußten stille halten:
„Doch selbst in der Verschweigung/ ging neuer Anfang, Wink und Wand-
lung vor" 74 . Dies Stillehalten vor Adam-Orpheus ist nicht List oder Angst,
sondern Hören:

Brüllen, Geschrei, Geröhr


schien klein in ihren Herzen. Und wo eben
kaum eine Hütte war, dies zu empfangen,

ein Unterschlupf aus dunkelstem Verlangen


mit einem Zugang, dessen Pfosten beben, -
da schufst du ihnen Tempel im Gehör.75

Die Stille als leergehaltene Stelle. Der Tempel ist beides: ausgesparte und ge-
steigerte Natur, Arkanum, unsichtbar. Er schließt als heiliger Ort auch die
Geschichte als Profanum aus. Baum und Tempel, das Gewachsene und das
Erbaute, Natur und Kultur erhellen einander wechselseitig: aus der Verzwei-
gung der Baumes geht poetisch „Verschweigung" hervor. Das Lied des Or-
pheus ist selbst der Tempel, zu dem die gezähmte Natur sich erbaut.
Rilkes Kunstliturgie ist das Rühmen. Sein Orpheus ist ein zum Rühmen
bestellter, dessen Herz die „vergängliche Kelter eines den Menschen unend-
lichen Weins" 76 . Der Überstieg vom Sterblichen zum Göttlichen, im dionysi-
schen Sinnbild des Weines erfaßt, wird zur Grundregel eines mythopoeü-
schen Sprachspiels. Eine gedichtete Mysterienreligion soll das Vanitaserleben
des modernen Menschen — „Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen" hieß es
in der in der Zweiten Elegie — im Rühmungsritus überwinden helfen. Was Rilke
mit Mysterium verbindet, nähert antikem Verständnis sich an: „Mysterien
sind eine Form 'persönlicher Religion', die eine private Entscheidung voraus-
setzt und durch Beziehung zum Göttlichen eine Art von 'Erlösung' sucht"77.
Grundfigur dieses Rilkeschen Mysteriums ist das Opfer. Das irdische Wort
wird dargebracht einer unsterblichen, weil zyklisch sich erneuernden Natur.
Auch das Gedicht, das sich in Orpheus inkarniert, ist eingeweiht in seine
Sterblichkeit und seine Auferstehung: „O wie er schwinden muß, daß ihrs
begrifft"78. Orpheus ist ein „Engel", der aushält im Sterblichen und „weit in
die Türen der Toten/ Schalen mit rühmlichen Früchten hält"79. Diese My-
thologie, wie ihre Vorläuferin bei Hölderlin und Schlegel, ist eine Mythologie

74
Rilke, Sonette an Orpheus I, 1 (Gedichte I, 731)
75
Ebd.
76
Rilke, Gedichte I, 735
"Burkert 19
78
Rilke, Sonette an Orpheus I, 5 (Gedichte I, 734)
79
Rilke, Sonette an Orpheus I, 7 (Gedichte I, 735)
88

der Vernunft: Rilkes Engel, der bei Klee und Walter Benjamin seine Ge-
fährten hat, ist Statthalter keiner Offenbarungsreligion, sondern Garant der
zur Verwandlung berufenen Menschennatur.
Die Sonette an Orpheus überholen schon das Klagepathos und den hohen
Stil der Elegien, sind heiter und lyrisch. Orpheus als Gegen-Christus wird
zum verkörperten Gesang, zur „vox mundi", dessen Haupt noch im Tode
nicht aufhört zu singen. Rilkes Naturmythos tritt an die Stelle der konven-
tionellen Religion, durchaus als Kunstreligion. Dem entspricht eine Neigung
zur Spiritualisierung, die sich selbst der Verflüchtigung aussetzt. Das reim-
lose Spätgedicht Mausoleum (Muzot, Oktober 1924) macht das Windinnere,
also das Flüchtigste zum Denkmal, zum Dichterherz — entgegengesetzt dem
Königsherz, das als Repräsentant einer hierarchisch gedachten Geschichte
noch des Mausoleums bedarf. Nur das Lächeln der „Lieblingin", einer
Schwester von Hölderlins „Fremdlingin", auf die zögernde Rundung heiterer
Früchte gelegt, ist leicht wie ein Florflügel80. Das Leichte und Schwebende,
an die Ränder der Anwesenheit sich Bewegende, erhält ontologischen Rang.
Rilkes Lyrik aus den Walliser Jahren atmet das, was Heidegger später
Gelassenheit nennen wird. Jenseits des expressionistisch aufgeregten Zeit-
tons herrscht hier der Einklang des Subjekts mit der Natur, ein Wissen um
Metamorphosen, das im Lobpreis des Irdischen pagane Züge zeigt. Eine
neue Naturmystik, agnostisch, doch erotisch überhaucht, entdeckt die im-
manente Zärtlichkeit der Landschaft.

Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung


an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,

greifen nach der Erde aus dem Raum.


Wegen gehen weit ins Land und zeigens.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.81

Ein liebkosender Bück erwidert den Eros der Natur, bringt ein verstecktes
Verlangen ans Licht. Rilke begnügt sich mit der Maske des Begehrens, das
Aufgedeckte bleibt unberührt. Das Ungenaue, nur in Grau Skizzierte wird
zur Qualität, die Leere zu einem Raum, in dem sich der mystische Aufstieg
ereignet - in einem kahlen Baum. Die Aisthesis, befreit von den Zwängen
der Metaphysik, von den Riten der Sinnsuche, nimmt im Sichtbaren das Un-
sichtbare an. Der Baum steigt auf in das Unendliche; die Leere deckt Heiliges
zu.

80
Rilke (Gedichte II, 500f)
81
Rilke, Vorfrühling. Muzot 1924 (Gedichte II, 158)
89

Anders als Rilke, der Dichter des Weltinnenraumes, wendet sich Yves
Bonnefoy der konkreten, sichtbaren Welt zu. Nicht umsonst trägt eine Folge
früher Gedichte den Titel Anti-Platon (1947). Bonnefoy, der Mathematik und
Philosophie studiert hat und Mitte der vierziger Jahre den Surrealisten nahe-
stand, lehrte seit 1981 am College de France, wo er sich mit poetologischen
Studien befaßte. Die Nähe zu Philosophie und Ästhetik (Bonnefoy hat auch
über die Kunst Italiens gearbeitet) ist ablesbar an einer Dichtung, die sich gut
ontologisch als Betrachtung des Kosmos, als „theoria" verstehen läßt. Ein
Ausgangspunkt Bonnefoys war Rimbaud, dessen „dereglement des sens" die
Voraussetzungen schuf, um jenseits der Konventionen nach einem Ort des
Wahren zu suchen. Zerstören, um Neues aufzubauen, war die Maxime des
Autors der Gestern regierenden Wüste (Hier regnant desert):

Ruiner la face nue qui monte dans le marbre,


Marteler toute forme, toute beaute

L'imperfection est la cime.82

Zerstören das nackte Gesicht, das aufsteigt im Marmor,


Zertrümmern jede Form, jede Schönheit

Das Unvollkommene ist der Gipfel.

Bonnefoy zerstört das Schöne, Wahre, Heilige, um es zu retten. Sein Werk


negiert alle Stimmungskunst, auch die des Engagements; es ordnet die
Trümmer der Wirklichkeit auf eine „Schwelle" hin. Naturdinge haben darin
die wichtigste Rolle: Erde, Feuer, Wasser, Wolken, Bäume, Farben. Sie haben
Zeichenfunktion, doch keine „Botschaft" mehr; dazu sind die Texte, auto-
nom ihren eigenen Sinn erzeugend, zu sehr mit Paradoxien, Widersprüchen
und Spannungen geladen. Das Grundmuster ist - wie bei Rilke - Erschlie-
ßung des Seins, jenes Seins, das seit Parmenides rätselhaft und alltäglich zu-
gleich ist und das bei Heidegger Attribute des Göttlichen trägt. So ist es er-
laubt, bei Bonnefoy von einer Sakralisierung des Irdischen zu sprechen, wo-
bei die Poesie sinnstiftende und rituelle Funktionen erhält. Die Sakralisierung
hat nichts mehr mit christlicher Metaphysik zu tun, sondern wirkt eher pagan
in ihrer Zeichengebung. Bonnefoy ist auch kein Gnosoker, der eine andere
Welt sucht83. Sein Lob der Erde hat manches mit Rilke gemein. Für ihn ist

Bonnefoy, Poemes 139


J.Starobinski in seiner Vorrede zu Bonnefoy, Poemes 18
90

Natur im antiken Verständnis von „sacer" das implizit Heilige84, zugleich das
Theater unendlicher Verwandlung, ständig verwundet und ständig wieder
heilend - so wie es Rilke in den Sonetten an Orpheus als Mysterium beschrieb:
„Immer wieder von uns abgerissen,/ ist der Gott die Stelle, welche heilt"85.
Daß die Wiedergewinnung des Heiligen, auch unter dem Aspekt der Mater
Tellus, ein Jahrhundertthema ist, hat Bonnefoy ausdrücklich formuliert:

Terre, ce qu'on appelle la poesie


Taura tant desiree en ce siede...

Erde, was man die Dichtung nennt,


Wird dich so sehr in diesem Jahrhundert begehrt haben..86

Begehrt, doch nicht besessen — selbst wenn Bonnefoy im gleichen Gedicht


Erde und Abend wie zwei antike Gottheiten einander erotisch begegnen läßt.
Die Sehnsucht nach Sakralem im „Zeitalter vollendeter Sinnlosigkeit" (Hei-
degger) ist ebenso deutlich wie die Resignation, die aus Gebrochenheit des
modernen Bewußtseins entsteht. Diese Mystik der Erde arbeitet mit einfa-
chen, unhinterfragbaren Zeichen — mit dem Bilde der göttlichen Dienerin,
die sich der Herdglut zuneigt wie eine Vestalin. Sie will, unter Ausschaltung
der Reflexion, die reine Präsenz, worin die Dinge zu Statthaltern des Abso-
luten werden. Bonnefoy bevorzugt jene Chiffern, worin das Sein sich lichtet.
Aber das Wissen bleibt, daß es Literatur, ein Sprachspiel ist. Dieser Wider-
spruch will ausgehalten werden: „Et bien que chimere/ Parole si ardente que
reelle"87. Wie Rilke, mit dessen Duineser Elegien sein Duktus ferne Ähnlichkeit
hat, ist Bonnefoy ein Dichter der Rühmung, der Anrufung; und einzig im
Horizont der Natur - im vorsokratischen Sinne von Physis — scheint Sinn
noch erfahrbar zu sein. Der dem Thaies zugeschriebene Satz „Alles ist voll
von Göttern" 88 gibt dem Dichter die poetische Lizenz, das Göttliche unter
den Masken des Alltäglichen zu sehen. Er weiß, daß das Unendliche sich
endlich macht, „wie dort, wo die Tiere ihren Aufenthalt haben" — in einer
beginnenden Dämmerung, wo die Eule der Athene ihren Flug beginnt und
alle Wege, einst das Selbstverständliche, zu Rätseln werden89.
Bonnefoy verabschiedet jede romantische Ergriffenheitsrhetorik, durch-
setzt seinen Text jedoch mit einer eigenen Mythologie der Natur. Wenn sie
auch niemals als Ganzes erscheint, so ist sie doch substantiell als sprachliches
Verweisungssystem gegenwärtig. Metamorphose ist wie bei Rilke ein wichti-
ges Moment: Der Wiedehopf ist ein Rot, das ein Blau ist, ein Außen, das zu
84
Zum entsprechenden Begriff von „sacer": Benveniste 444
85
Rilke, Sonette an Orpheus II, 16 (Gedichte I, 761)
86
Bonnefoy, Was noch im Dunkel blieb 16
87
Ebd. „Und ob ein Wahn auch, /Wort so inständig, daß es wirklich war".
88
Bei Piaton, Nomoi 899b
89
Bonnefoy, Was noch im Dunkel blieb 73
91

einem Innen wird, nicht zu fassen, ein göttliches Spiel, zugleich das natür-
lichste - reine und schöne Präsenz, „nun aufgerichtet auf einem Stein"90.
Das Heilige zwar existiert, doch so, daß es sich ständig entzieht. Bonnefoy
zeigt es an der Geschichte von den Kuppelmalern, die in einem Dorf die
Kirche renovieren und mit ihr auch die Heiligen - und nicht bloß die Figu-
ren, sondern die Heiligen selbst, am Ende sogar die Jungfrau, deren Bild sich
wunderbar belebt:

Und weil das junge Mädchen der Statue, das mit uns malte oder be-
malt worden war, wer wußte da noch Bescheid, die Ewige Jungfrau
mit dem Stern auf der Stirne, nach Hause wollte und aufgeschürzt mit
bloßen Beinen die Leiter herabrutschte, und durch den Vorraum hin-
ausging, eine blaue Farbe, die ins Malvenfarbige der Abendhügel
spielte. Jetzt floh sie, sie schrie. Und unter uns war da einer, dann und
wann, der hinterdrein lief, hin zu ihr; und mit einem großen Schwung
dann warf sie sich ins dichte Gras, die Knie gegen das Kinn hinaufge-
bogen, mit geschlossenen Augen, ganz still mit einem Mal.91

Der Dichter rettet das Sakrale im Paganen, in einer Vereinigungsphantasie


von arkadischer Unschuld. Es ist, als wüßte Bonnefoy, daß in der antiken
Religion die Grenze zwischen Göttlichem und Menschlichem durchlässig
war, daß es Vermischung gab und daß das Heilige auch aggressiv sein
konnte. Die Vermenschlichung, dogmatisch anstößig, hätte die Griechen
nicht befremdet; in ihren Mythen treten die Himmlischen wie selbstver-
ständlich ins Leben der Sterblichen ein. Die Naturszenerie aber wirkt, als sei
sie der einzige Ort für solche Epiphanie.
Dichtung, wie Bonnefoy in einem Interview mit seinem englischen
Übersetzer John Naughton darlegte, zielt auf ein Jenseits der Wörter, auf die
Erfahrung des Ungeschiedenseins von Geist und Natur, auf die Versöhnung
von Seele und Leiblichkeit, worin selbst der Tod seinen Stachel verliert92. Es
ist nach dem Ende der Metaphysik der Versuch, das Absolute, „dieses in den
alltäglichen Dingen zwischen den Trümmern des Traumes wiedergefundene
Heilige"93 als reine Präsenz zu erleben. Die Sehnsucht nach dem wahren Ort
ist Abkehr von der Geschichte, die nur ein Schattendasein im Profanen
führt, weil sie scholastisch gesprochen keine Substanz hat, einzig ein Ero-
sionsprozeß ist. So wendet sich Bonnefoy konsequent der Natur zu und ent-
ziffert sie als ontologischen Text. Hier findet er die Illuminationen, nach de-
nen Rimbaud schon gesucht hatte — an einer Schwelle, einer Verwerfungsli-
nie, die auf ein Ganzes verweist. Die erhelllenden Zeichen können von Men-
schen gefunden, doch nicht hervorgebracht werden. Bonnefoy erliegt nicht

90
Bonnefoy, Rue Traversiere 47
91
Ebd. 21
92
Bonnefoy, Was noch im Dunkel blieb 212f.
93
Ebd. 214
92

dem Irrtum, den die Geschichtsphilosophie in die Welt setzte: daß sich der
Mensch selbst erschaffen kann. Auch der Künsder schafft nicht Symbole,
sondern macht transparent, was wir Wirklichkeit nennen, um eine „zweite
Erde" in unser Bewußtsein zu rufen. Obschon konfessionell nicht mehr
gebunden, ist Bonnefoy als Dichter ein „homo religiosus", der die Natur auf
Chiffern des Absoluten hin liest. Dieses Tun entspricht der Grundbedeutung
von „religio", die im Lateinischen sich von „relegere" (wiederlesen, wieder
sammeln, wieder aufgreifen) ableitet. Als „religiosus" ist der Dichter jemand,
der gewissenhaft die Zeichen liest, den Text der Natur zu entziffern sucht;
dieser Text, von der Ordnung des Seienden handelnd, ist heilig. Auf
Bonnefoy trifft zu, was Emil Benveniste als Kennzeichen von „religio" im
antiken Verständnis beschrieb: „Es verweist auf eine innere Haltung und
nicht auf eine objektive Eigenschaft bestimmter Dinge oder einen Komplex
von Glaubenshaltungen und Praktiken. Die römische religio ist ursprünglich
im wesentlichen subjektiv"94. Im Ritus der Dichtung deckt Bonnefoy an
dem, was sich in Natur zeigt, Epiphanien auf - so im Gedicht auf einen Sala-
mander:

La salamandre etait ä mi-hauteur


Du mur, dans la clarte de nos fenetres.
Son regard n'etait qu'une pierre,
Mais je voyais son coeur battre etemel.

Der Salamander war in halber Höhe


Der Mauer, in der Helligkeit unserer Fenster.
Sein Blick war versteinert,
Aber ich sah sein Herz schlagen, ewig.95

Was hier aufscheint, ist schwer zu benennen. Das Universum kommt uns
nah, doch bleibt es stumm. Es ist wie zu Beginn der Moderne, als Hölderlin
das Anrennen gegen die Grenzen der Sprache erfuhr: „Schweigen müssen
wir oft; es fehlen heilige Namen" 96 . Dies Defizit hatte auch Mallarme gespürt
und daraus ein Konzept absoluter Dichtung gemacht. Bonnefoy selbst sieht
sich genötigt, das Zufallsphänomen des Salamanders in eine Betrachtung der
Ordnung des Seins zu verwandeln, um Wirklichkeit, damit das eigene Dasein
vom Zufall zu erlösen. Das Heilige versteckt sich im Bilde einer stummen
Kreatur. Im Herzschlag des Salamanders, der durch das Feuer geht, erkennt
der Dichter, was die Welt im Innersten zusammenhält. Der Augenblick, da
die Echse sich totstellt und an der Erde festhält, ist eine winzige Ewigkeit.
Und diese Ewigkeit schweigt. Das Mystische, wie Wittgenstein erfuhr, ist un-

94
Benveniste 511
95
Bonnefoy, Poemes 111. Dazu Hamburger 314ff. sowie Bonnefoys Selbstkommentar in
Das Unwahrscheinliche oder die Kunst (München 1994) 179ff.
96
Hölderlin, Heimkunft V. 101 (Gedichte 295)
93

aussprechlich. Deutlich ist, daß aus der Grenze eine Schwelle wurde, und daß
dieses Tier teilhat am Sein der Gestirne, durch seine Schwere, seine Körper-
haftigkeit. Es repräsentiert eine Ordnung des Kosmos, die dem Betrachter
sich mitteilt, ja ihm zu leben erlaubt. Das Gedicht, weit entfernt, nur Mo-
mentaufnahme zu sein, evoziert Anwesenheit des Seins, den „Körper des
Untrennbaren" 97 .
Ausgeschlossen von dieser Ordnung bleibt freilich die Geschichte. Sie
ist Last, weil Besitz, Anhäufung von etwas Abgelebtem; ihr gilt es zu entsa-
gen. Dieser Verzicht ist das „Salz, das in der Retorte der Schrift die Trans-
mutationen erlaubt"98. Zu verzichten ist auch auf die gesellschaftliche Rolle
des Gedichts: „litterature engagee", noch in ihrer surrealistischen Variante,
verdunkelt statt daß sie erhellt. Denn Politik ist stets imaginär, eine Chimäre,
die ablenkt von der Erfahrung des Einen, beherrscht vom Rechthabenwollen
der Wörter, von Konzepten der Macht, von Begriffen, die ihre Benutzer nur
gefangennehmen. Die Geschichte kennt keinen wahren Ort. Auch die Tech-
nik stellt in den Augen des Dichters nichts als Objekte her. Während Rilke in
den Sonetten an Orpheus noch gegen das Maschinenwesen schrieb, findet sich
davon bei Bonnefoy keine Spur mehr - weil inzwischen alles Maschinenwe-
sen ist. Das Gedicht muß den sterilen Raum des Antagonismus und der Po-
lemik verlassen und sich, allein mit dem Leser, auf Suche nach dem Heiligen
begeben. Bonnefoy spürt ihm in einer Natur nach, die er - aller Entzaube-
rung durch Wissenschaft zum Trotz - ungescheut sakralisiert. Seine besten
Texte sind mythopoetisch. Ein Beispiel dafür ist das kurze Prosastück Die
Götter aus dem Band Rue Traversiere (1977):

Wir waren auf der höchsten Terrasse, mit den Bauarbeitern gegen
Ende eines Herbstnachmittags. Und plötzlich stieg 'das' herauf aus
der Schlucht und stob vorüber, wie gerufen von Aufgang - Trauben
zuckender Flügel und schattenhafter, durchscheinender Körper, die
zu Tausenden und Abertausenden inmitten anderer Trauben dahin
wirbelten ... Welch ein Schweigen dann, bis die Nacht hereinbrach!
Die Maurer hatten ihre Arbeit beendigt, kein Vogel sang, kein Insekt
schnarrte noch, wir sahen diese großen Wirbel sich blähen, deren
einige so dicht waren, daß sie die Sonne verfinsterten.

Und manchmal stürzte einer dieser Reisenden auf die Brüstung oder
unsere noch hellen Ärmel; und wir sagten uns, daß sein Herz schlug,
und es freute uns, daß sein altes ausgearbeitetes Gesicht glänzte im
Winzigen, unter dreifacher Krone.99

97
Bonnefoy, Das Unwahrscheinliche oder die Kunst (München 1994) 181
98
Interview mit J.Naughton, in: Bonnefoy, Was noch im Dunkel blieb 223
99
Bonnefoy, Rue Traversiere 48
94

Der Text, der von Heuschrecken handelt, die plötzlich einfallen, in Schwär-
men so dicht, daß sie die Sonne verfinstern, meint Apokalyptisches - ob
mehr als Verheißung oder als Bedrohung, bleibt hier offen. Entscheidend,
daß Sakrales in dieses Sprachspiel unerwartet, ja gewaltsam einbricht.
Bonnefoy vermeidet jede Mystifikation. Dennoch gerät seine Beschreibung
einer Naturekstase zu einer Epiphanie. Wenn Religion dazu dient, Wirklich-
keit transparent zu machen auf Absolutes hin, dann ist der Text religiös. In
einem nachmetaphysischen Zeitalter kann Heiliges nur noch zitiert werden.
Der Ort, an dem es der Dichter zitiert, ist Natur. Das Göttliche in der Natur,
ihr Verborgenes lichtet sich nur für Momente. Gleichwohl hat Bonnefoy in
diesem Sinnhorizont die erschöpften Konstruktionen der Geschichtsphilo-
sophie nachhaltig diskreditiert - und damit alle Herrschaftstheorien.
Bonnefoy betreibt keine naive Naturverklärung. Das Sakrale wird in der
Begrenztheit (finitude) gestreift, im Zufall, in Rissen und Brüchen des All-
tags, in der Irritation und Bestürzung (desarroi) vor dem Phänomen. Dazu
gehört das Sich-Verbergen des naturalen Eros im Spiel der Verwandlungen:
„jeden Augenblick sehe ich dich geboren werden, Douve, jeden Augenblick
sterben"100. Wie bei Pierre Jean Jouve, dessen Name und Werk zur Erfin-
dung dieser „persona" beigetragen hat, wird das Du zu einer Landschaft aus
Wörtern, von Paradoxien erhellt:

Et la bouche souillee des dernieres etoiles


Rompre d'un cn l'horreui de veiller dans ta nuit.

O dressant dans l'air dur soudain comme une röche


Un beau geste de houille.

Und den Mund besudelt von den letzten Sternen


Sprengtest du mit einem Schrei das Entsetzen, wach zu
sein in deiner Nacht.

O reckend plötzlich wie Gefels in harte Luft


Ein schönes Winken, braun verkohlt.101

Bonnefoys gotdose Mysuk deckt in der Natur die Gesten des Absoluten auf,
vom nackten harten Sein der Dinge angerührt. Ähnlich, doch weniger
schroff, hatte Rilke im Vorfrühling den Baum der Poesie hinein in die Leere
gestellt. Ersichtlich, daß Bonnefoy hier nicht nach schönen Bildern, sondern
in der Bestürzung nach einer Epiphanie sucht. Doch das Göttliche, auf das
gezeigt wird, ist abwesend. Erst die Hinnahme der Negativitat bereitet den
Boden für das Heilige.

100
Böschenstein - Köhler 365/6: „A chaque instant je te vois naitre, Douve, ä chaque instant
mourir."
101
Bonnefoy, Theätre VII (Böschenstein - Köhler 366/67)
95

Schon im Gedichtband, der Douve gewidmet war 102 , ist der Blitz das
Sprachzeichen für einen Eros v o n dionysischer Intensität, der seinen O r t
v o r ü b e r g e h e n d einnimmt in einem Wort, einem Gott, in einer Frau, in der
N a t u r , ja im Tode:

Et je t'ai vue te rompre et jouir d'etre mort 6 plus belle


Que la foudre, quand eile tache les vitres blanches de ton sang.

Und ich sah dich zerbrechen: Todsein war dir Lust, o du


Noch schöner als der Blitz, wenn er mit deinem Blut das weiße
Fenster rötet.103

D a s vergossene Blut signalisiert ein Opfer. Die heilige Handlung wird ausge-
führt v o m Blitz, der wie bei Hölderlin ein Numinoses anzeigt, das mit ar-
chaischer Wildheit sich kundtut. D e r Wink des Göttlichen („numen" von
„nuere", nicken, ein Zeichen geben) wählt sich bezeichnenderweise die
Chiffer belebter u n d souveräner Natur. Aber der Vorgang, inszeniert wie in
einem Theater, ist wahr u n d nicht-wahr zugleich. D e r M o m e n t der Erhellung
ist die Erfahrung einer Destruktion. Dieser Gedichtkreis, in der Nachfolge
v o n Rimbauds „Entregelung der Sinne" wimmelnd v o n Paradoxien,
integriert Natur in ein Theater der Grausamkeit, in ein Ambiente, das
tragisch und rätselhaft wirkt. D e r Geist aber scheut nicht den Tod. Bonnefoy
stellt diesen Gedanken aus Hegels Phänomenologie des Geistes seinem
Gedichtband über Douve voraus. Als heimlicher Apokalyptiker forscht er
nach Ausgängen aus der Geschichte. Dieser T e n o r verstärkt sich im späteren
Werk, etwa in der Suite Dans la leurre du seuil (Im Trug der Schwelle, 1975).
Das Absolute, Garant einer unendlichen Freiheit, blitzt auf in den Zeichen
des Himmels. Dieser Himmel, Mallarmes entzauberter Azur, k o m m t bei
Bonnefoy in einer flüchtig erbückten Pfütze herab:

Le mots comme le ciel,


Infini
Mais tout entier soudain dans la flaque breve.

Die Wörter wie der Himmel,


Unendlich
Aber ganz plötzlich in der kurzen Pfütze.104

Das Zerstreute, so Bonnefoy, ist auch das Unteilbare. Das Absolute erweckt
die W o r t e , u n d es verzehrt sie wieder. D e r O r t der Wahrheit kann daher nie
ein historischer sein, sondern allein im poetischen Akt. N u r der flüchtige

102
Bonnefoy, Du mouvement et de l'immobilite de Douve, 1953
103
Bonnefoy, Theätre I (Böschenstein - Köhler 362/63; Poemes 45)
104
Bonnefoy, Poemes 332
96

Anblick im Blitz ist wahre Gegenwart. Das Heilige zerreißt, worin das Nichts
sich kleidet:

Oui, par toi - arrete


Au gue du ciel,
Foudre, robe entrouverte
Sur l'abondance de la terre aux fruits obscurs.

Ja, bei dir - aufgehalten


In der Furt des Himmels,
Blitz, klaffendes Gewand
Über dem Überfluß der Erde in dunklen Früchten.105

Die Furt im Herakliüschen Strom ist Schwelle zwischen dem Hier und Dort,
zwischen Feuer und Wasser, die Gegensätze sind, aus deren Spannung das
Ganze entsteht - als großes Ja zum Sein. Der Blitz Heraklits, der das Weltall
regiert106, gleicht dem, der den Vorhang im Tempel zerreißt; es ist jenes Ge-
wand, unter dem sich das Heilige, bei Bonnefoy „Erde" benannt, nackt zeigt,
mit Früchten des Todes bedeckt. Der Blitz, Repräsentant einer wilden Er-
kenntnis, hat keinen Raum in der Zeit -: er verzehrt die Geschichte, den In-
begriff aller Anhäufung lebloser Dinge, die nur noch Deponie ist. Daß dieser
Blitz das Nein zerreißt, heißt, daß er heilig ist.
Als Gegenmodell zur Kontingenz des Geschichtlichen zieht Bonnefoy
in Texten seit 1980 verstärkt jene Mythen heran, in denen Natur die Szene
für das Erscheinen des Absoluten ist. Wie selbstverständlich wird die bibli-
sche Vorstellung vom Paradies dichterisch reaktiviert, als Inbild eines mit
sich selbst versöhnten Dasein. Die Schöpfungsgeschichte liefert die Bilder
für eine Ontogenese der Dichtung: Das Schweben des Gottes über der
Chaosflut gleicht dem Flug des Raubvogels, der seine Beute sucht107. Ele-
mente wie Feuer und Wasser sind nunmehr Archetypen des Sakralen. Die
Deutung des Todes als Metamorphose rettet die Präsenz des Seins vor dem
Vergeblichkeitswahn. Bonnefoy meidet alles Utopische; die Liebe zum Ele-
mentaren bewahrt ihn davor. Seine Dichtung, anschauungsreich, bewußt ein-
fache Bilder verwendend, weist jeden epigonalen Symbolismus ab. Sie kennt
im strengen Verständnis auch keine Metaphern mehr, weil sie die Phäno-
mene als die Lehre nimmt; dann steckt wie bei Goethe Weltvertrauen.
Bonnefoy ist nicht Metaphoriker, sondern Dichter der Evidenzen. Sinn ist
für ihn stets sinnlich und leibhaftig. Zufälle werden zu Zeichen. Der krumme
Ast, den der Dichter von draußen hereinholte und in das Feuer legte, gleicht
einem Gott der Inder, ernst auf die Liebende blickend, die von ihm wül, daß

105
Ebd. 330; Bonnefoy, Im Trug der Schwelle 135
* Heraklit, Fragment B 64 (Snell 23)
107
Bonnefoy, La oü creuse le vent (Was noch im Dunkel blieb 82/83)
97

sie sein Blitz umhülle - jener, der die Geschichte auslöscht, weil er der Welt
vorausgeht: „la foudre que precede l'univers"108. Bonnefoy gibt der Natur,
die seit Descartes zum Objekt erniedrigt worden war, Schönheit und Würde
zurück. Dabei kommt auch die Chiffer „Gott" ins Spiel. Bonnefoy, der sich
mit Kierkegaard befaßt hat, übersetzt dessen „Sprung", der Sinnbild für den
Akt des Glaubens war, in die Bestürzung vor dem Sein, das göttlicher Wider-
spruch ist, ineins bewegt und unbewegt. Das Heilige als wahre Gegenwart
entdeckt der Dichter in einer Natur, die mit sich selbst nicht identisch ist:

Reiter kommen in großer Eile daher. Von weitem schon rufen sie, daß
Gott sei, er sei erschienen auf dem Strand von ..., wo die Ablagerun-
gen des Salzes und das angeschwemmte Treibholz endlich, für einen
Augenblick, zufällig, das Zeichen - ist dies auch das Wort? ihre Stim-
men gehen durcheinander - gebildet hätten, das bisher in allen Alpha-
beten fehlte, in allen vom Himmel durchlöcherten Ästen und
Zweigen, in allen Wolken, in allen Algenstreifen, die im Schaum der
Wellen glänzen.109

Bei aller Eindrücklichkeit des Benennens ist dieser Text seltsam verschwie-
gen; er läßt die Arkana der Natur unangetastet. Nur durch Lücken der
Wahrnehmung fällt himmlisches Licht auf die Dinge. Den Paradigmen-
wechsel am Ausgang des 20Jahrhunderts - von den Aporien der Fort-
schrittsgeschichte zum Sinnhorizont Natur — hat Bonnefoy als Künsder
längst vollzogen. Wie Nietzsche ist ihm das Sein heilig genug, um auch das
Herbe zu rechtfertigen, gilt ihm das Kind als Inbegriff der Unschuld des Be-
trachtens, als „heiliges Ja-sagen" no . Bonnefoys Schreiben lebt aus dem Glau-
ben, daß im Menschen Natur sich voraus ist, weil dieser in sich selbst ihre
Ekstasen erlebt; daß Natur sich erst im Menschen versteht, der ihre Zeichen
gewissenhaft, wieder und wieder liest. Solche Lektüre ist „religio"; denn die
Göttin Natur selbst ist stumm. Bonnefoys Naturästhetik deutet auf einen
schweigenden Logos.
In Bonnefoys Gedichtbuch Debüt etfin de la neige (Anfang und Ende des
Schnees, 1991) tauchen überraschende Anspielungen auf religiös Tradiertes
auf. Man liest von einer Madonna misercordiae, von Magdalena, die wie die
letzte Schneeflocke aus blauem Himmel ist, von jenem Garten, wo sie dem
Gott begegnet, der sich nicht anrühren läßt und dessen Nein doch Licht ist.
Das Unberührbare ist auch das Absolute - im Sprachspiel erscheinend, im
Traum, im Schneegestöber der Worte: eines noch, und die Welt wäre erlöst.
Und man liest von einem Festgewand aus Schnee, jenem Gewand, das die
Erwählten und Verklärten tragen:

Bonnefoy, Passant aupres du feu (Was noch im Dunkel blieb 42/43)


Bonnefoy, Wahre Gegenwart (Berichte im Traum 47)
Nietzsche, Zarathustra. Von den drei Verwandlungen (KSA 4, 31)
98

II neige. Arne, que voulais-tu


Que tu n'aies eu de naissance eternelle?
Vois, tu as lä
Pour la mort meme une robe de fete.

Es schneit. Seele, was wolltest du,


Das du nicht von ewiger Geburt her hättest?
Siehe, hier hast du
Für den Tod sogar ein Festgewand.111

Das Ende der Geschichte kleidet sich in eschatologisches Weiß, das alle Far-
ben austilgt, als wären sie ein Makel. In ihm wird die Natur punfiziert, ihr
Flüchtigstes und Leichtestes, der Schneefall, zu einem Ritus, der mit dem
Tod versöhnt. Bonnefoy will die Natur nicht taufen; seine Aisthesis holt das
Heilige in eine Welt des Widerspruchs herein. Das Heilige hat keinen Ort
„in" der Geschichte, es ist wie bei Kierkegaard „Augenblick", unerklärlich
einfallend in die Zeit, im Blitz des Absoluten. Das Heilige ist Sinnerkenntnis
auf Gipfeln des Zufalls, Freude im Schatten des Todes — unwahrscheinlich,
also unerklärlich. Natur statt Geschichte; dies ist die Hoffnungsformel.
Das letzte Gedicht dieses Bandes, ferne Erinnerung an ein Sonett,
schließt mit dem Gegenbild zu Dantes mystischer Rose: „tanto bianco,/ che
nulla neve a quel termine arriva"112. Bei Bonnefoy ist sie stigmatisiert von der
Geschichte, zertreten. Die Rose des Gedenkens, die in Rilkes berühmter
Grabschrift niemandes Schlaf war unter soviel Lidern, wächst nur noch aus
der Zerstörung auf. Die Katastrophen- und Gewaltgeschichte des
20.Jahrhunderts ist in ihr aufgehoben. Die mit Füßen getretene Form über-
trifft, was die Künsder, die Bonnefoy so verehrt - Alberti, Brunelleschi, San-
gallo, Palladio - in Stein übersetzten. Der Dichter ist bereit, selbst ihrer
Kunst zu entsagen, weil sie noch immer Besitz, Last der Geschichte ist. Das
Häßlichste und Schönste zwingt er in einen Vers zusammen, der Tod und
Auferstehung, Passion und Verklärung in die Evidenz eines Naturbildes faßt.
Der poetische Ritus ergreift das Heilige durch die Entweihung hindurch.
Dieser Vers von klassischer Prägnanz, mystisch auf weltliche Art, ist der
atemberaubende Sprung in ein Mehr-als-die-Welt:

La neige pieünee est la seule rose.


Zertretener Schnee ist die einzige Rose.113

1,1
Bonnefoy, La Parure/Das Festgewand (Was noch im Dunkel blieb 180/81)
112
Dante, Paradiso XXXI, 14f. „Dergleichen Weiß,/ wie nie ein Schnee auf diese Erde fällt'
1,3
Bonnefoy, Was noch im Dunkel blieb 208/09
4. Kapitel
Wildnisse — Von Hölderlin zu Beuys

Vor allem, daß man schone


Der Wildnis göttlichgebaut.

Hölderlin, A.n die Madonna

Für die Neubewertung von Natur im 18. Jahrhundert steht vor allem
Rousseau mit seinem Idealbild des „homme naturel" 1 . Er modelliert die Leit-
figur, um die Gesellschaft des Ancien Regime zu kritisieren: der edle Wilde
kam der Zivilisationsmüdigkeit der fortgeschrittenen westlichen Gesell-
schaften entgegen. Die Erforscher der Südsee im Gefolge Bougainvilles (der
1768 auf seiner Weltumseglung in Tahiti Station machte) sahen die Polyne-
sier schon mit den Augen Rousseaus, der dem gebildeten Europa mit seinem
Discours sur finegalite parmi les hommes (1754) einen folgenreichen Paradigmen-
wechsel verordnet hatte. Bougainville und nach ihm Georg Forster betonten,
je nach ästhetischer Position, in ihren Reisebenchten sowohl das Idyllische
wie das Wild-Romantische der Südseeinseln. Beide glaubten sich in einen
Garten Eden zurückversetzt. Die Paradiesmotivik, die bei den Entdeckern
des galanten Jahrhunderts eng mit Assoziationen aus dem Reich der Venus
gekoppelt ist, hat eine eigene „Ethnographie der Liebe" hervorgebracht 2 . Die
Naturnähe, Anmut und Unbefangenheit der „Wilden" entzückte die Kultur-
kritiker in den Salons Europas.
Mit dem Enthusiasmus stellten sich auch die Begriffe ein. Der Terminus
„Naturvölker" taucht lexikalisch zum ersten Male bei Adelung auf; das
Grimmsche Wörterbuch schreibt diese Schöpfung freilich Herder zu3. „Im
Stande der Natur" — das war für die Kulturphilosophen der Aufklärung ein
animierendes Wunschbild. So schwärmte Georg Forster:

Sie sind alle wohlgestaltet und von so schönem Wuchs, daß Phidias
und Praxiteles manchen zum Modell männlicher Schönheit würden
gewählt haben. (...) In der Lebensart der Tahitier herscht durchgehend
eine glückliche Einförmigkeit. Mit Aufgang der Sonne stehen sie auf,
und eilen sogleich zu Bächen und Quellen, um sich zu waschen und
zu erfrischen. Alsdann arbeiten sie, oder gehen umher, bis die Hitze

1
Dazu Bitterii 236ff, 288ff.
2
Sahlins21ff. 27ff.
3
J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch VII (1889) 469, Art. Naturvölker. Vgl. Herder,
Die älteste Urkunde des Menschengeschlechts I (1774) 83
100

des Tages sie nöthigt, in ihren Hütten, oder in dem Schatten der
Bäume, auszuruhen. (...) Zufrieden mit dieser einfachen Art zu leben,
wissen diese Bewohner eines so glücklichen Climas nichts von Kum-
mer und Sorgen, und sind bei aller ihrer übrigen Unwissenheit glück-
lich zu preisen.4

Das ästhetische Empfinden seit Rousseau gemeßt das Wilde, Romantisch-


Pittoreske als eine Seelennahrung. Der Hunger danach wächst mit dem
Triumph der Vernunft und wird um 1800 übermächtig. In diesem Kontext
erlebt Georg Forster die Küsten Neuseelands gleichsam anamnetisch — als
unschuldige Wildnis. Mitten im Aufbruch praktischer Wissenschaft, als Be-
gleiter von James Cook, träumt sich der junge Naturforscher (den die Fran-
zösische Revolution in einen politischen Akteur verwandeln wird) zurück in
ein geschichtsfernes Szenario, das alle Attribute des Erhabenen, der Schöp-
fungsfrühe aufweist:

Zum Nachtisch ergötzte sich das Auge an der vor uns liegenden,
wildnißartigen Landschaft, die Salvator Rosa nicht schöner hätte
mahlen können. Sie war ganz im Geschmack dieses Künstlers und be-
stand aus Felsen, mit Wäldern gekrönt, deren Alter in die Zeiten vor
der Sündfluth hinauf zu reichen schien, und zwischen welche sich al-
lerorten Wasserbäche mit schäumendem Ungestüm herabstürzten.5

Aus ähnlichen Motiven hatte Philibert de Commerson, als Botaniker und


Schiffsarzt an Bougainvilles Expedition beteiligt und eifriger Jünger
Rousseaus, das paradiesische Bild des edlen, gesunden und sündefreien Wil-
den mit Pastellfarben gemalt6. Der Einfluß solch utopisch-verklärender Be-
richte ist noch bei Hölderlin spürbar, etwa im Hymnenfragment Tinian. Den
Namen der Insel aus der Marianengruppe und die idyllische Kuhsse konnte
er aus Rousseaus Nouvelle Hcloise und aus Georg Forsters Reisebeschreibung
entnehmen, die zu seiner Jugendlektüre gehörten. Aus seiner Vorstellung
von Tinian macht er ein poetisches Programm, das den Gegensatz von Aus-
fahrt ins Fremde und Lust an der Heimkehr in leuchtend verstreuten Frag-
menten umspielt:

Süß ists, zu irren


In heiliger Wildnis.7

Die von Hölderlin sonst pejorativ eingesetzten Zeichen „Irre" und „Irrsal",
zum „irren" aktiviert, erscheinen als Chiffer verführerischen Richtungs- und

4
Forster 598f.
s Ebd. 137
6
Bitterli 388f.
7
Hölderlin, Gedichte 407
101

Selbstverlustes. Hier in der heiligen Wildnis wird das Irren zur Hingabe an
die ungezähmten, doch schöpferischen Mächte chaotischen Ursprungs.
Wildnis begegnet in Hölderlins Spätwerk überhaupt in höchst komplexer
Bedeutung: als „vielesbereitend", als „unbeholfen" und dennoch als „gött-
lichgebaut".
Im Tinian-Gedicht wollen sich die poetischen Splitter zu bukolischen
Miniaturen ordnen; Erinnerung an das angelesene Südseebild durchdringt
sich mit Impressionen heimatlichen Landes. Die Wasser, die es durchirren,
nähren des Dichters Geist wie die Euter der Wölfin die Findlinge römischer
Vorzeit. Das Archaische rührt wie von selbst an das Idyllische: „ausruhend in
Einsamkeit" 8 . Das mag an die Tahitianer erinnern, die bei Georg Forster so
gern sich unter „buschigen Bäumen" ausruhn. Aber Hölderlin schiebt in der
nächsten Zeile sogleich die Palmtagsstauden ein — eine poetische Verbindung
aus den exotischen Gewächsen Tinians und den heimischen Palmzweigen
am Sonntag vor Ostern. Die paradiesische Muße fügt sich als Schlüsselmotiv
in diese Konnotation des Feiertages: „und lustzuwandeln, zeidos". Utopisch
solche Wildnis, worin Versöhnung von Mensch und Natur jenseits aller
Geschichte aufscheint. Doch Hölderlins Gedicht ist selber Wildnis, in der er
Wege bahnt, nach Spuren des Heiligen suchend. Der Dichter-Entdecker
bückt sich nach dem, was die Zivilisation mißachtet und abtut - nach den
poetischen Blumen, „nicht von der Erde gezeugt, von selber/ Aus lockerem
Boden sprossen die,/ Ein Widerstrahl des Tages, nicht ist/ Es ziemend,
diese zu pflücken"9. Die Blumen, vergleichbar den biblischen Lilien des
Feldes, sind Gottesgeschenke, Gaben des Lichts; ihr Ursprung ist aus
Lockerem, nicht Festem; gleichsam von selber wachsend, wildwüchsig also,
keiner menschlichen Kunst sich verdankend, eignet ihnen etwas Heiliges. So
stehen sie „golden" und „unzubereitet" und machen Tinian zur Utopie poe-
tischen Daseins. ,lustwandeln" meint die Bewegung des sich ergehenden
Geistes, die interesseloses Wohlgefallen ist, darin ästhetisch im Kantischen
Sinne. Heilig aber ist diese Wildnis, weil sie die Mächte des Anfangs noch
ungeordnet, in wahrhaft chaotischer Fülle versammelt.
Den Konnex zwischen Wildnis und Kindheit stellt auch der große
Hymnenentwurf An die Madonna (1801/02) her:

Vor allem, daß man schone


Der Wildnis göttlichgebaut
Im reinen Gesetze, woher
Es haben die Kinder
Des Gotts, lustwandelnd unter
Den Felsen.10

8 Ebd.
9
Ebd. 408
10
Ebd. 388
102

Da kehrt das paradiesische Sich-Ergehen wieder, auch die Verklärung der


Wildnis zum Gotteswerk und Ausgang der Heilsgeschichte. Zur Heilsge-
schichte, die in Natur sich ereignet, gehört das erneuerte Wachstum, wenn
das Üppig-Blühende unter der Sense sinkt11. Die Hochschätzung des Kind-
haften als Einssein mit sich selbst, als göttliche Naivität, konnte Hölderlin
aus Rousseaus Emile schöpfen. Sie entsprach dem Impetus der pädagogi-
schen Aufklärung und wird in der Romantik noch eine führende Rolle spie-
len: „Wo Kinder sind, da ist das goldene Zeitalter", notierte Novalis in sein
Ideenmagazin. Hölderlins Vorliebe für Rousseau gilt auch den Wilden, die
wie Kinder sind, auf ihre Art berufen, ja im Prozeß der Heilsgeschichte
gleichsam aufgespart:

Der Vater der Erde freuet nämlich sich des


Auch, daß Kinder sind, so bleibet eine Gewißheit
Des Guten. So auch freuet
Das ihn, daß eines bleibet.
Auch einige sind, gerettet, als
Auf schönen Inseln.12

Und in der Patmos-Hymne faßt Hölderlin die Gotteskindschaft als Tiefe der
Unschuld: „und bewahren/ In einfältigen Augen, unverwandt/ Abgründe
der Weisheit"13. Die Wildnis, zu der ihn nicht Hellas, sondern die imaginierte
Südsee inspirierte, wird zu einer neuartigen poetologischen und geschichts-
philosophischen Kategorie. Doch schon im ersten Brief an Bohlendorff (im
Dezember 1801) kündigt sich ein Paradigmenwechsel an, der auf sprechende
Weise das Getrennteste — Tahiti und Griechenland - zusammenbringt. Höl-
derlin, dem sein Bekannter Ströhlin eine Hofmeisterstelle in Bordeaux ver-
mittelt hatte, beklagt sich über die mangelnde Resonanz im Vaterland: „Sie
können mich nicht brauchen. Deutsch will und muß ich übrigens bleiben,
und wenn mich die Herzens- und die Nahrungsnot nach Otaheiti triebe"14.
Daß gerade Tahiti als Ort der Verheißung aufscheint, wo Leib und Seele ihr
Genüge finden, ist aussagekräftig. Nicht wemger erhellend aber das poeti-
sche Programm, das die Exotik als Mittel erneuerter Selbsterfahrung, zu-
gleich als Weg nach Hause ansieht — im Durchgang durch die Fremde. Höl-
derlin schließt die erstaunliche Warnung an, „sich die Kunstregeln einzig und
allein von griechischer Vortrefflichkeit zu abstrahieren"15. Die Wende zu
Fremde und Ferne, zum neu zu entdeckenden Ursprung - auf die Gefahr

" Ebd. 387


12
Hölderlin, Der Einzige, 2. Fassung (Gedichte 349)
13
Hölderlin, Gedichte 353
14
Hölderlin, GSA VII, 428
15
Ebd. 426
103

hin, an Chaos zu rühren - schlägt sich nicht nur in Hölderlins exotischen


Bildern, sondern auch in seiner Schreibweise nieder. Die Hymnenentwürfe
gehen im Ozean der Wörter selbst auf Entdeckungsreise. Die Fragmente,
Sinnrelikte, poetischen Notationen stehen wie Inseln da, wie Gipfel eines
unterseeischen Gebirges, ein Archipel aus Dichtung, der von versunkenen
Sinnkontinenten kündet.
Die Tendenz, durch die Fremde hindurch das Eigene wiederzufinden,
zeigte sich schon in Brot und Wein (1800), wo es in einer berühmten Variante
der Schlußstrophe heißt: „Nämlich zu Haus ist der Geist/ Nicht im Anfang,
nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimat,/ Kolonie liebt und tapfer Verges-
sen der Geist"16. Ein literarischer Reflex von Hölderlins Vorliebe für Ent-
deckerreisen, auch für imaginäre, ist der Entwurf Kolomb, der beginnt:
„Wünscht' ich der Helden einer zu sein/ Und dürfte frei es bekennen,/ So
war' es ein Seeheld"17. Das Forschermotiv taucht noch in den Titanen auf, wo
ein poetischer Imperativ den Dichter auf die Suche nach den verschwunde-
nen Göttern schickt: „Und in den Ozean schiffend,/ Die duftenden Inseln
fragen,/ Wohin sie sind"18. Wie für den Studienfreund Hegel bewegt sich für
Hölderlin die Bewußtseinsgeschichte von Osten nach Westen, von Hellas
nach Hesperien, zu den Inseln der Unsterblichen. Für den Entwerfer und
Versucher poetischer Utopien gewinnt dieses Denkmotiv wachsende Anzie-
hungskraft. Die Wildnis Hesperiens hält bislang übersehene Schönheit bereit,
die dem klassizistischen Ideal nicht mehr vergleichbar ist. Der ästhetische
Sinn Hölderlins ist bereit, in die Fremde zu gehen, zu kolonisieren. So singt
er in Kolomb das Lob des in den Ozean verstreuten Verheißenen Landes: „Es
waren nämlich viele,/ Der schönen Inseln"19. Dem Ausschweifen aus festge-
fügter eurozentrischer Ästhetik und Geschichtsphilosophie entspricht Höl-
derlins Sicht von Wildnis als potentiellem Ursprung von Kultur. Was wie
Unkraut zu wuchern scheint, üppig und regellos, wie Feuer sich ausbreitet,
ist in Wahrheit ein Scherz des Schöpferischen: „sie aber verstehen es
nicht"20. So unbeholfen die Wildnis wirkt: sie enthält nicht nur das Reich der
Notwendigkeit, wo der Mensch dem Tiere gleich seinen Unterhalt sucht,
sondern birgt kreative Energien - freilich der Tiefe, nicht dem Äther zuge-
ordnet. „So will es göttlich scheinen"21. Die Titanen-Hymne deutet den Her-
abstieg des Himmels zur Erde als Epiphanie eines Gottes:

Viel offenbaret der Gott.


Denn lang schon wirken

>« Hölderlin, Gedichte 747


17
Ebd. 408
18
Ebd. 390
» Ebd. 411
20
Hölderlin, Wenn aber die Himmlischen V. 34f. (Gedichte 395)
2i Ebd.
104

Die Wolken hinab


Und es wurzelt vielesbereitend heilige Wildnis.
Heiß ist der Reichtum.22

Die Metapher von Feuer und Brand gilt nicht nur dem göttlichen Element,
sondern ebenso dem schöpferischen Chaos, in dessen Schoß sich Göttliches
entfaltet. Gesang aber „löset den Geist" - und erlöst auch die Wildnis.
Rousseau, dem Hölderlin schon früher eine unvollendete Ode gewidmet
hatte, war vorausgegangen bei dem Versuch, Naturvertrauen als Naturver-
nunft zu etablieren. Nicht umsonst prägt Hölderlin auf ihn die Pathosformel
vom Adler, der den Gewittern vorausfliegt, „weissagend seinen kommenden
Göttern" 23 . Einen zentralen Gedanken der Aufklärung, den einer allesumfas-
senden Friedensordnung, konnte Hölderlin aus Rousseau schöpfen und,
über das Politische hinaus, eschatologisch auf die Versöhnung zwischen
Mensch und Natur übertragen. Waren die Friedensutopien Rousseaus, Kants
und Fichtes zunächst noch pragmatisch-humanitär bestimmt, so fügt ihnen
Hölderlin auf der Schwelle des neuen Jahrhunderts die Vision des Friedens
mit der Natur hinzu. Im Innersten aber ist sie Erwartung des kommenden
Aon, und damit der Vollendung der Geschichte am Abend der Zeit24. Ver-
söhnung meint Aufhebung des Fremden durch Verstehen. Die Ode an
Rousseau hebt dies Moment eigens hervor: „Vernommen hast du sie, ver-
standen die Sprache der Fremdlinge,/ Gedeutet ihre Seele!"25
Der Discours sur l'inegalite (1754) hatte das Ideal des „homme naturel" mit
gesellschaftskritischer Absicht in die neue Wissenschaft der Anthropologie
eingeführt. Man erinnert sich an die begeisterten Sätze, die der so skeptische
Claude Levi-Strauss dem Autor des Discours am Schluß der Traurigen Tropen
widmet: „Rousseau war von allen Philosophen am meisten Ethnograph" 26 .
Und Rousseau war der erste Versuch, jene Sünden zu büßen, die das Europa
der Entdecker und Eroberer an den Wilden begangen hatte. „Der Ethno-
graph stellt das Symbol der Sühne dar" - so Levi-Strauss27. Mag Rousseau im
Naturmenschen mehr ein Denkmodell als eine kulturhistorisch aufweisbare
Figur gesehen haben28 - der „edle Wilde" bewahrt sich die Freiheit der Seele,
weil er nicht von Normen und Konventionen abhängt, sondern der eigenen
Natur folgt. Parteinahme für den Wilden ist Parteinahme für die Natur in
ihm, dem „ersten Freigelassenen der Schöpfung" (Herder). Als „agent libre"
ist er noch ganz bei sich selbst, wie spielende Kinder bewußüos bei sich

22
Hölderlin, Gedichte 390f
23
Ebd. 238
" Vgl. J. Schmidt 78f.
Hölderlin, Gedichte 238
26
Levi-Strauss, Traurige Tropen 360
27
Ebd. 359
28
Dazu Bitterli 282 und J. Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen
(Frankfurt/M. 1993) 434f.
105

selbst sind. Dahinter steht die Erinnerung an den Mythos vom Goldenen
Zeitalter, den das verfeinerte 18. Jahrhundert sich neu instrumentierte - etwa
bei Oetinger, dem Pietisten und Landsmann Hölderlins, in wohldosierter
„Emotionalisierung der Natur" (B. Baczko), im Empfinden der eigenen
Sündhaftigkeit und Entfremdung von ihr. Angesichts einer optimistischen
Geschichtsphilosophie beunruhigte Rousseau „allein schon durch den küh-
nen Einfall, die Geschichte in ihrer letzten und für den gegenwartigen Men-
schen wichtigsten Phase als Fehlentwicklung darzustellen"29.
Rousseau fand seine romantische Wildnis aber auch in jenen regressiven
Träumereien, in denen er promenierend sich der Natur überließ. Im fünften
Spaziergang seines Alterswerkes BJveries d'un promeneur solitaire (1777) erinnert
er sich an das Refugium am Bieler See, eine glückliche, weil selten von Rei-
senden besuchte Gegend: „Sie ist aber anziehend für einsame Denker, die
sich gern in aller Ruhe an den Reizen der Natur berauschen und sich in
einem Schweigen sammeln, das nur vom Schrei der Adler, dem zeitweiligen
Gezwitscher einiger Vögel und dem Rauschen der Bäche, die vom Berge
herabstürzen, unterbrochen wird"30. So sieht Rousseau, der sich häufig ver-
kannt fühlt, die Gabe, mit sich allein zu sein, als Kriterium des wahren Na-
turphilosophen. Die Einsamkeit des Denkers, des „homme naturel" und des
Adlers, der hoch am Himmel seine Kreise zieht, ist eine Selbststilisierung, die
noch bei Schiller und Hölderlin erstaunliche Nachwirkung zeigt. Schiller, in
seiner großen Elegie mit dem Rousseauschen Titel Der Spaziergang (1795),
gibt das Programm der neuen klassizistischen Poetik, die den Antagonismus
zwischen Natur und Kultur in ein schwankendes Gleichgewicht rückt. Aber
auch diese Ästhetik bedarf des Impulses, den die rohe Natur ihr gibt. Ver-
dankt sich doch alle Gestaltung dem Chaos. Schiller inszeniert dies erhabene
Über-dem Abgrund-Schweben im Bilde des Adlers, der kreisend im einsa-
men Luftraum an das Gewölke die Welt knüpft31. Das Auge des Adlers, un-
geblendet vom Sonnenlicht, ist jener Geist, der Ordnung in das verworrene
Muster chaotisch zerklüfteter Wirklichkeit einschreibt; diese Allegorie ver-
bindet antikisches Pathos mit dem Höhenflug modernen Selbstbewußtseins.
Der Adler als Göttervogel und als Götterbote vermittelt zwischen dem
himmlischen Reich der Freiheit und dem irdischen Reich der Notwendigkeit.
An den Adler, so auch Hölderlin, müssen die Dichter sich halten32. In sei-
nem Bild, sakral kodiert, verbinden sich das Wilde und das Freie zur Verkör-
perung des Lebendig-Erhabenen; sein durchdringender Blick repräsentiert
ästhetische Distanz, die ein Stück Herrschaft ist. Die Kraft solcher Bilder
spürte schon Rousseau; Hölderlin operiert mit ihnen im Felde seiner Dich-
tertheologie. Der Adler hat mentalitätsgeschichtlich Epoche gemacht - bis

29
Bitterü 286
30
Rousseau 695
31
Schüler, Der Spaziergang V. 181 f. (SW I, 233)
32
Hölderlin, Wenn aber die Himmlischen V. 60 - 64 (Gedichte 396)
106

hin zu Zarathustras Adler, der mit dem Meister einsam auf hohen Bergen re-
sidiert, ein philosophisches Tier, das den höheren Menschen mit scharfem
Ruf aus dem Schlaf weckt: „Mein Adler ist wach und ehrt gleich mir die
Sonne. Mit Adlers-Klauen greift er nach dem neuen Lichte. Ihr seid meine
rechten Tiere; ich liebe euch"33. Es ist derselbe Adler, den Nietzsche in sei-
nem Lied der Schwermut aus dem Zarathustra, des Starrens in Abgründe müde,
auf Lämmerjagd schickt:

Also
Adlerhaft, pantherhaft
Sind des Dichters Sehnsüchte,
Sind deine Sehnsüchte unter tausend Larven,
Du Narr! Du Dichter!34

Des Mimetischen in dieser Manie war sich Nietzsche bewußt. Nach dem
Tode Gottes und der Wahrheit setzte er die Maske des heiligen Narren auf:
ein Opfer, das sein Herr Dionysos nach langem Zögern annahm.
Schon der Hyperion Hölderlins griff das Erhabene im Bild des Unge-
zähmten auf, verwandelte die Wildnis des ägaischen Gebirges, freilich ins
Ätherische gesteigert, in eine Seelenlandschaft. Entrückungs- und Abgrund-
motiv spielen darin ineinander:

Zur Linken stürzt' und jauchzte, wie ein Riese, der Strom in die Wäl-
der hinab, vom Marmorfelsen, der über mir hing, wo der Adler spielte
mit seinen Jungen, wo die Schneegipfel hinauf in den blauen Aether
glänzten; rechts wälzten Wetterwolken sich her über den Wäldern des
Sipylus; ich fühlte nicht den Sturm, der sie trug, ich fühlte nur ein
Lüftchen in den Locken, aber ihren Donner hört' ich, wie man die
Stimme der Zukunft hört, und ihre Flammen sah ich, wie das ferne
Licht der geahneten Gottheit.35

Im Sturm, den die neue Mythologie entfacht, ereignet sich die Ankunft der
Göttin Natur, eingehüllt in Tropen und Metaphern. Nur so, in Poesie ver-
wandelt, kann sie zur Lehrerin der Menschen werden, wie das älteste Sy-
stemprogramm des Idealismus sie würdigt. In solcher Epiphanie bringt Na-
tur die Geschichte und Philosophie zum Verschwinden: der ästhetische Akt,
Weltschöpfung subsumierend, wird mythopoetisch zum Gewitter, illuminiert
als Feuersturm das Ende der Geschichte. Dieses Gewitter hatte Rousseau
vorhergesagt. An entscheidender Stelle der Rhein-Hymne feiert ihn
Hölderlin als Vorläufer der dionysischen Verkündigung, weil ihm die Gabe
zukam, „zu reden so, daß er aus heiliger Fülle,/ Wie der Weingott, törig

53
Nietzsche, Zarathustra IV: Das Zeichen (KSA 4,406)
34
Nietzsche, Zarathustra IV: Das Lied der Schwermut (KSA 4, 373)
35
Hölderlin, Hyperion 1,1 (GSA III, 21)
107

göttlich/ Und gesetzlos sie, die Sprache der Reinesten gibt"36. Im Ge-
setzlosen, das den Denk- und Verhaltenscodex des Zivilisierten durchbricht,
in seiner Ursprungsnatur sich selber Gesetz ist, steckt als Chiffre und Ver-
heißung das ausgegrenzte Wilde — in Heideggers Rede „das Andere der Spra-
che, die Stille des Dichters, auf irgendeine Weise die Stille des animalischen
Lebens" 37 . Aber die Rhein-Hymne kennt auch die Überlast der Freude und
des Himmels, auf Schultern gehäuft, so daß sie das Wilde im Idyllischen ver-
birgt: „Dann scheint ihm oft das Beste,/ Fast ganz vergessen da,/ Wo der
Strahl nicht brennt,/ Im Schatten des Walds/ Am Bielersee in frischer
Grüne zu sein"38. Das Vergessen, auch das Selbstvergessen gehört so zur
Wildnis; es schattiert allzu gewisse Erkenntnis. Hölderlins Dank gilt einem
Rousseau, der zu den „Söhnen der Erde" gehört und gerade das Element der
Schwere für sein leichtsinniges Jahrhundert wieder entdeckt hat. Noch gegen
Ende der Patmos-Hymne, schon in der vaterländischen Wende zum festen
Buchstaben hin, bekennt sich Hölderlin zu jenem Naturkult, der mit
Rousseau in die abendländische Denkgeschichte kam und die Erinnerung an
lang vergessene Götter weckte: „Wir haben gedienet der Mutter Erd'/ Und
haben jüngst dem Sonnenlichte gedient,/ Unwissend"39. Die Unwissenheit in
Deutung zu verwandeln, ist Aufgabe des Dichters.
Der europäische Kolonialismus hat auf ganz andere Weise als Hölder-
lins Dionysos die Wilden gezähmt und an den Wagen den Tiger gespannt,
gewaltsam „gebietend freudigen Dienst"40. Der Dichter ahnt, daß selbst die
Erinnerung an das Goldene Zeitalter ausgelöscht wird, „seit böser Geist sich
bemächtiget des glücklichen Altertumes, (...) gesangsfeind, klanglos"41. Der
Kinderfreund Hölderlin, den sein Schüler Henry Gontard liebevoll „Holder"
nannte, denkt weniger eurozentrisch als Schiller, der als rigider Kantianer in
seiner Jenaer Vorlesung über Universalgeschichte (1789) noch ganz vom Er-
ziehungsgedanken der Aufklärung durchtränkt ist. Die Entdeckungen der
europäischen Seefahrer zeigen ihm Völkerschaften, die sich zum Zivilisierten
wie Kinder zum Erwachsenen verhalten: „Wie beschämend und traurig aber
ist das Bild, das uns diese Völker von unserer Kindheit geben! und doch ist
es nicht einmal die erste Stufe mehr, auf der wir sie erblicken. Der Mensch
fing noch verächtlicher an"42. Hier spielt Schiller bewußt Kant gegen Rous-
seau aus - wogegen Hölderlin am Naturideal das Einfache, Einfältige mit
Konnotationen ans neutestamentliche Lob kindhafter Unschuld versieht.
Die Heiligkeit des Ursprungs, so Hölderlin, ist in den Kindern und Wilden

16
Hölderlin, Der Rhein V. 144 - 146 (Gedichte 332)
37
Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung 61
38
Hölderlin, Der Rhein V. 159 - 163 (Gedichte 332)
59
Hölderlin, Patmos V. 220 - 222 (Gedichte 356). Dazu J. Schmidt 279
40
Hölderlin, Der Einzige V. 57 (Gedichte 345)
41
Hölderlin, Der Einzige, 2. Fassung V. 72 - 74 (Gedichte 349)
42
Schüler, SW IV, 754
108

bewahrt. Sie sind als Naturgeschöpfe auf ihre Art Zeugen des „glücklichen
Altertumes". Der Kolonialismus der Vernunft jedoch, als praktizierte Ge-
schichtstheorie, bringt diese Kinder zum Schweigen und domestiziert sie,
macht sie zu Opfern einer Ästhetik der Herrschaft, die das Wildwüchsige als
das Barbarische abtut. Die edlen Wilden Rousseaus werden im Jahrhundert
der Evolutionstheorie endgültig zu „Primitiven". Der ethnologische Blick fi-
xiert sie als museale Objekte, auch wenn sie noch leben43.
Rousseau und Herder, Forster und Hölderlin stehen als Kulturkritiker,
Anthropologen, Geschichtsphilosophen, ohne es zu wissen, am Ursprung
der Ethnologie. Die neue Wissenschaft, bürgerlich in ihrem Glauben an
Fortschritt, Entwicklung, Zivilisation, positivistisch systematisierend, verge-
wisserte sich ihrer Kultur angesichts des Fremden und Exotischen. Sie ent-
sprang zunächst dem Interesse an Kulturgeschichte und Kulturvergleich,
verdankte ihre Kriterien jedoch ganz dem Entwicklungsgedanken 44 . Die Be-
zeichnung „Naturvölker" war durch Herder geadelt; die Ursprünglichkeit der
„Primitiven" mußte die Epoche faszinieren, der die Industrialisierung gerade
Arbeitsteilung, Entfremdung von der Natur und Hegels „Entzweiung" be-
scherte. Der Begriff „Ethnologie" ist selbst eine Schöpfung des 18. Jahrhun-
derts. Er taucht — im Bereich von Statistik und Geographie angesiedelt -
zwischen 1775 und 1787 im Umkreis der Universitäten Göttingen und Halle
auf, bei dem Historiker J.Chr. Gatterer und dem Statistiker J.E. Fabri.
Merkwürdig, daß auch die Theologie nach ihm greift. Alexandre Cesar
Chavannes, in Lausanne lehrender, französisch schreibender Landsmann
Rousseaus, pädagogisch bewegt, verwendet den Terminus „Ethnologie" in
seinem Essai sur FEducation intellectuelle (1787) im Rahmen einer
Volkstumswissenschaft45. Der weitere Siegeszug von Historismus und
Evolutionstheorie raubte der Ethnologie bald ihre empirische Naivität; sie
fand Gefallen am geschiehts fernen, naturnahen Dasein exotischer Völker,
bestätigte sich den eigenen Fortschrittsglauben am Gegenmythos der
„primitiven Kulturen" (den Terminus prägte 1871 der Viktorianer Edward
B. Tylor).
Herder mit seinem von Hamann inspirierten Ursprungsdenken hatte
starke Affinität zum Deutungssystem Natur, worin er ein heiliges Buch und
den „Gang Gottes" erkannte 46 . Gerade an Phänomenen der Natur entwik-
kelte er - in Abwehr des drohenden Sinnverlustes angesichts von Zufall und

43
Reiches Material bei Th. Heyer (Hg.), Der geraubte Schatten. Die Photographie als
ethnographisches Dokument (München 1989)
** Dazu W.E. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie (Frankfurt/M.-Bonn ^1968);
K.H.Kohl, Abwehr und Verlangen. Zur Geschichte der Ethnologie (Frankfurt/M. - New
York 1987); W.Marshall (Hrsg.), Klassiker der Kulturanthropologie. Von Montaigne bis
Margaret Mead (München 1990)
« S t a g l 2 0 u n d 124 A. 16
46
Herder XIII, 9 {Ideen ?ur Philosophie der Geschichte, 1784)
109

Zeit - seine Kulturphilosophie 47 . Aus dem Antrieb heraus, in der realen ge-
schichtlichen Existenz des Naturwesens Mensch einen höheren Plan zu ent-
decken, bekämpft er in sich den Zweifel, die Anwandlung von Kontingenz-
verdacht. Herder wehrt sich gegen den Gedanken, „das menschliche Ge-
schlecht nicht als einen Ameishaufen zu betrachten, wo der Fuß eines Stär-
keren, der unförmlicher Weise selbst Ameise ist, Tausende zertritt, Tausende
in ihren klein-großen Unternehmungen zernichtet, ja wo endlich die zwei
größten Tyrannen der Erde, der Zufall und die Zeit, den ganzen Haufen
ohne Spur fortführen"48. Doch er macht diesen Zweifel und Widerspruch
fruchtbar. Die menschliche Sozietät als Ameisenhaufen im Wald -: dieses
Bild borgt seine Intensität aus dem Horror der Aufklärung vor dem Unver-
nünftig-Regellosen, dem Planlos-Wimmelnden; und ist zugleich doch heim-
lich fasziniert vom naturwüchsigen Absolutismus des Ameisenhaufens und
seiner verborgenen Ordnung. Das Bild meint einen Angsttraum von Kon-
tingenz, der den geschichtsphilosophisch gewonnenen Plan bedroht. Für
Herder ist das Wilde der Natur und des Naturmenschen dennoch der Wur-
zelgrund organisch sich entfaltender Kultur. Diesem Veredelungsgedanken
entwächst seine anthropologische These, daß der Mensch dazu geschaffen
ist, nach einer Sinnordnung, nach „patterns of culture" (Ruth Benedict) zu
suchen. Auch die Wilden, deren Lieder Herder in seine Stimmen der Völker
aufnahm, sind darin unsere Brüder „und ihre Geschichte ist die Geschichte
unserer Natur" 49 . Es war Herders Verdienst, dem normativen Denken der
Aufklärung die Individualität von Kulturen nahegebracht, die eurozentrische
Befangenheit überwunden zu haben. „Für die moderne Völkerkunde war
dieser Schritt gleichsam ein Akt der Geburtshilfe" 50 . Die Wiege des Men-
schengeschlechtes verlegt Herder in das paradiesische Klima eines arkadi-
schen Orients an Euphrat und Ganges: Hier situiert er das goldene Zeitalter
der kindischen Menschheit51. Der sich selbst bearbeitende Mensch, bildsam,
weil lernfähig, enthält potentiell auch im Wilden die Anlagen zu jener Huma-
nität, „an der die rohesten Völker Anteil nehmen" 52 . Dieser Gedanke kehrt,
mythopoetisch gewendet, bei Hölderlin wieder: Die Wildnis, die das Titani-
sche symbolisiert, ist „vielesbereitend", ja „heilig"53.
Heilige Wildnis, dichterisch zubereitet, präsentiert auch Coleridge in sei-
nem berühmten Traumfragment Kubla Khan (1798). Das Vorwort verweist

47
Dazu H.D.Rauh, Im Labyrinth der Geschichte. Die Sinnfrage von der Aufklärung
zu Nietzsche (München 1990) 102 ff. Vgl.Berg 61 f. 64
48
Herder XIII, 8
49
Herder XXIII, 19 (Von der Verschtidenheit des Geschmacks und der Denkart unter den
Menschen, 1766)
50
Berg 56
51
Herder V, 481 {Auch eine Philosophie der Geschichte ^r Bildung der Menschheit, 1774)
52
Herder XIII, 62
53
Hölderlin, Die Titanen V. 22 (Gedichte 391)
110

auf den fingierten Ursprung des Gedichts, auf die Lektüre von Purchase's Pil-
grimage, einem Reisebuch des 17. Jahrhunderts, worin das Lustschloß und der
ummauerte Park geschildert werden, die Kubla Khan sich in Zentralasien
anlegte.

In Xanadu did Kubla Khan


A stately pleasure-dome decree:
Where Alph, the sacred river, ran
Through caverns measureless to man
Down to a sunless sea.

In Xanadu schuf Kubla Khan


Einst einen Prachtbau, hoch und hehr,
Wo Alph, der heiige Fluß, einst rann
Durch unzählbare Schluchten, dann
In sonnenloses Meer.54.

Die Inspiration durch den exotischen Stoff geschieht gleichsam im Schlaf,


der den Dichter aufgrund eines schmerzstillenden Mittels befällt. Im Traum,
so die poetologische Fiktion, sieht er das Gedicht als Szenario vor sich und
notiert es nach dem Erwachen in einem Zug, bis er durch einen Zufall un-
terbrochen wird; der Text bleibt fragmentarisch. Doch was aus der Traum-
wildnis aufsteigt, sind Bilder, die zunächst als Dinge sprechen (all the images
rose up before him as thingshS), bevor sie Wortgestalt annehmen. Diese Poetik
nimmt das Genie des Unbewußten selbst als Ursprung aller Kunst. Dem ent-
spricht die organologische Ästhetik von Coleridge, dem Dichtung ein natür-
licher, kein planbarer Schaffensprozeß ist, unbewußte Aktivität wie das
Wachstum einer Pflanze; so ist Natur der eigentlich geniale Künstler, und
Dichter wie Shakespeare sind ein Naturereignis56. Coleridge demonstriert mit
seinem eigenen Werk, „wie sich das Natur-Element im Naturgenie mit des-
sen unbegreiflicher Hervorbringung einer höchst komplexen und elaborier-
ten Kunst versöhnen läßt"57. Insofern ist sein Gedicht selbst ein Natur-
produkt, wurzelnd im kreativen Unbewußten, doch ans Licht gezogen von
kritischer Vernunft.
Diese Naturästhetik liegt schon im Namen des heiligen Flusses Alph,
vom hebräischen Aleph, der sich als Urfluß und Anfang aller poetischen
Dinge selbst ausspricht. An seinem Ufer ragt die „Lustkuppel" (pleasure-
dome) als neues Pantheon. Die Kuppel ist seit der römischen Antike ein In-
begriff sakraler Architektur. Coleridge, in der Maske des mongolischen

M
Coleridge 88. Dt. von H. Hennecke, in: G Britting u.a., Lyrik des Abendlandes
(München 1956) 404f.
55
Coleridge ebd.
56
Dazu Abrams 274ff.
" Abrams 283
111

Monarchen, errichtet sie als Allegorie der Kunst, genauer: der Rhetorik58.
Das Wunderwerk des von Türmen bewachten, ummauerten Parks, zehn
Meilen Fruchdand umschließend, repräsentiert romantische Natur im Mi-
krokosmos - mit seinen Gärten, Bächen und Weihrauchbäumen ist er im
Wortsinn Paradies, gemäß der iranischen Herkunft des Namens, der Tier-
park, Jagdgehege des Königs bedeutet. Der Dichter bereichert dies Szenario
um tiefgrüne Wälder, „alt wie die Hügel", geheimnisvoll und transparent zu-
gleich — „enfolding sunny Spots of greenery". Das Traumreich des einsamen
Herrschers (ein verhülltes Selbstporträt des Dichters) ist Frucht eines poeti-
schen Absolutismus. Als symbolisch arrangierter Raum, als Bühnenbild für
das Erhabene, entspricht es in allem der romantischen Ästhetik, wie sie ge-
rade die englische Landschaftsmalerei im ausgehenden 18. Jahrhundert prak-
tiziert. Coleridge versetzt Rousseaus pittoreskes Helvetien in eine imaginäre
Mongolei. Sein Gedicht versammelt die Topoi alpiner Romantik, wie sie um
1800 in Hochblüte steht: Bergschlucht und Zederndickicht, Sturzbach und
Steingeröll, das Tosen des Bergflusses, das wie ein Herzschlag der Erde ist.

But oh! that deep romanüc chasm which slanted


Down the green hül athwart a cedern cover!
A savage place! as holy and enchanted
As e'er beneath a waning moon was haunted
By woman waüing for her demon-lover!
And from this chasm, with ceaseless turmoil seething,
As if this earth in fast thick pants were breathing,
A mighty fountain momendy was forced.

Doch oh! der tiefe Abgrund dort, sich neigend


Im Grün, bis wo das Zederndickicht schauert!
Bezirk der Wildnis, heilig, zaubrisch, schweigend,
Wie nur ein Ort, auf dem, im Monde reigend,
Laut eine Frau um den Geliebten trauert.
Und diesem Abgrund, tosend ungezügelt,
Als ging des Erdballs Herzschlag hier beflügelt,
Entrang ein mächtiger Quell sich hier und da.59

Der Blick in den romantischen Abgrund ist der Blick in den eigenen Traum,
in die Herzkammer der Imagination. Nicht zufällig ruft der innere Abgrund
(abyss) sprachlich im Fortgang des Gedichts die Vision des „abessinischen
Mädchens" (Abyssinian maid) hervor60. Natur und Bewußtsein spiegeln ein-
ander in der Verwandlung von Garten in Wildnis, die doch im Grunde eins
sind. Gerade der Rollentausch verweist auf ihre tiefere Einheit. So inszeniert

58
Dazu Bahn 195
59
Colendge 88. Dt. von H.Hennecke
60
Bahn 192
112

der Dichter in Bildern der Natur ein Psychodrama, worin Eros und Poiesis
die Hauptdarsteller sind. Der wilde, heilig-verzauberte Ort ist auch die
Bühne amourösen Zaubers, wo die irdische Frau sich in den himmlischen
Dämon verliebt. Dieser, ein Wunschbild erotischer Grenzüberschreitung,
wirkt noch kraft seiner Abwesenheit; doch bleibt er in moralischer Bewer-
tung so zweideutig wie Füßlis oder Blakes schöne Athleten — ein wahrer
Traumgeliebter, halb Ariel, halb Inkubus. Wenn die lunare Atmosphäre diese
Frau ins kühle Licht eines künstlich erzeugten Traums entrückt, so tritt im
Szenenwechsel wieder der vitale und ungebändigte Quell zutage. Er ist Alle-
gorie der dichterischen Lust wie des Begehrens. Der Quell, anschwellend
zum heiligen Fluß, zwängt sich durch ungeheure Bruchstücke, die von oben
bloß wie Hagelkörner scheinen (huge fragments vaulted like rebounding hau)
und bringt selbst die Felsen zum Tanzen:

And 'mid these dancing rocks at once and ever


It flung up momendy the sacred river.

Und in dem felsgen Tosen


Sah man des heiigen Flusses flüchtgen Schimmer.61

Die Epiphanie des Heiligen durchbricht auch die Ordnung der Zeit. Sie er-
eignet sich einmal für immer. Was sich gewaltsam Bahn bricht, ist die Quelle
der Inspiration, wesensgleich mit der erschaffenden, zerstörenden Natur. Ihr
Werk ist erhaben, auch wenn sie auf ihrem Weg nur Bruchstücke zurückläßt.
Coleridge schildert uns die Geburt der romantischen Dichtung aus dem
Geist des Fragmentismus 62 . Sein Text repräsentiert das Wilde als schöpferi-
sches Prinzip wie als rhetorische Gestalt; die entsprechenden Bilder sind
Ausdruck einer Naturoffenbarung. Ihr Sinn bleibt selbst Fragment, Bruch-
stück eines imaginären Ganzen, das utopisch bleibt, weil es im Text keinen
Ort hat. Das Sich-Entziehen des Sinns, der als heiliger Fluß in das Nacht-
meer verströmt (down to a sunless sea), gehört mit zur Wildnis als ontologi-
scher Kategorie; das Dionysische ist weder verfügbar noch zähmbar.
Der Künsder selbst erschafft — dem Mythos der Genesis und der ro-
mantischen Autonomieästhetik folgend — den heiligen Fluß kraft des Wortes:
jenen Strom, „der in Eden entspringt und den Garten bewässert" (Genesis
2,10). Der Weg des poetischen Flusses macht, daß Geschichte entsteht, laby-
rinthisch gewunden und deutungsbedürftig:

Five miles meandering with a mazy motion


Through wood and dale the sacred river ran,
Then reached the caverns measureless to man,

61
Coleridge 88. Dt. von H.Hennecke
62
Dazu Bahn 186ff.
113

And sank in tumult to a lifeless ocean:


And 'mid this tumult Kubla heard from far
Ancestral voices prophesying war!

Fünf Meilen stürmte labyrinthschen Laufes


Durch Wald, Tal, Höhlgewirr der heiige Fluß,
Dann warf er sich in brausendem Erguß
In tote Meerflut brackigen Getraufes:
Und aus dem Braus Kubla zu Ohren stieg
Urväterstimmenraunen, kündend Krieg!63

D e r T e x t zwar trägt das G e w a n d des „epischen Fragments" 6 4 , aber nur, u m


h e r a u s z u k o m m e n aus aller Epik u n d allem Narrativen. D e n n sein Schreiben,
sein Inspirationsfluß ist verurteilt, ins tote Meer zu fließen, zu verschwinden
im O z e a n der Negativität. Was ihn dabei geleitet, ist „ G e s c h i c h t e " —
unheilvoll d r o h e n d e s Brausen, die Stimmen der T o t e n , die das G e d i c h t zu
ü b e r t ö n e n drohen.
D i e philosophischen Implikationen bei Colendge, die mit dessen K a n t -
Lektüre zu tun haben, hat Stanley Cavell skizziert 65 . Hier genügt es, auf die
M e t a p h e r v o n der Wildnis des Zweifels in Coleridges Biographia Literaria zu
verweisen sowie auf seine Vorstellung v o m T o d der Welt, an der sich krea-
tive Lebensangst entzündet: „ d e n n die D i c h t u n g ist berufen, die Welt gleich-
sam ins L e b e n zurückzurufen" 6 6 . D e r T e x t Kubla Khan, poetologisch gelesen,
ist die G e b u r t einer Naturästhetik aus d e m Geiste romantischer Selbstbe-
hauptung. Coleridge übersetzt das Verhältnis v o n Geist u n d N a t u r , v o n
K u n s t u n d Chaos in die Realsymbole v o n Wildnis u n d Strom. D e r U r s t r o m
des Schreibens, v o m Aleph abgeleitet, fließt aus der Geschichte heraus. Phi-
losophisch betrachtet, ist er Heraklits Wandlungssymbol, theologisch be-
trachtet der Paradiesesfluß — w o v o n die geographische Anspielung auf den
G i h o n der Genesis zeugt, der das L a n d Kusch umfließt (Genesis 2, 13). D a -
mit sind wir in die N ä h e des Nils u n d Abessiniens geraten. D e r paradiesische
T o p o s hält für den Dichter-Leser eine a n g e n e h m e Überraschung bereit:

A damsel with a dulcimer


In a vision once I saw:
It was an Abyssiman maid,
And on her dulcimer she played,
Singing of Mount Abora.

63
Coleridge 89. Dt. von H.Hennecke
64
E.S. Shaffer, Kubla Khan and The Fall of Jerusalem: The Mythological School in Biblican
Cnucism and Secular Literature 1770- 1880 (Cambridge 1975) 18ff.
«Cavell 201 ff.
«* Ebd. 207
114

Ein Mädchen mit der Harfe. Bild,


Das ich dereinst im Traum ersah:
Es war ein abyssinisch Kind,
Die Saiten rührte sie geschwind
Und sang vom Berge Abora. 67

Abora wird im Crtwe Manuscript des Gedichts auch Amora geschrieben; diese
Version ist von Miltons Paradise Lost (TV, 281) inspiriert, wo Amara (die hi-
storische Landschaft Amhara auf dem Hochland von Abessinien) ein
Scheinparadies bezeichnet68. Hier auf dem heiligen Berg empfängt der
Dichter die Vision vom Lustbau Kubla Khans, der Feuer und Eis vereinigt,
ein Gegenparadies der Phantasie:

That with music loud and long,


I would build that dorne in air,
That sunny dorne! those caves of ice!

Daß ich singend laut und lang


In Lüften schüfe den Palast,
Den Prachtbau, das Gewölb aus Eis!69

Doch dieser „pleasure-dome" ist nicht nur Kunstprodukt, sondern auch


poetischer Protest gegen die von England sich ausbreitende industrielle Re-
volution. „Der Rauch der Manufakturen zeigt an, daß der Mensch gegen die
Natur Krieg führt"70. Die romantische Kluft, Inbegriff wohlinszenierter
Wildnis, löst das unmöglich gewordene Idyll ab, so wie Coleridge als Dichter
Thomson ablöst. Denn der Romantiker sucht die „ästhetische Erregung des
Entsetzens" 71 . Freilich hatten schon Shaftesbury, Addison und Burke im
englischen Sprachraum das Faszinosum des Abgrunds beschrieben und darin
die Signaturen des Erhabenen gelesen72. So preist Shaftesbury in seinen Mo-
ralists (1709) gerade die scheinbar regellose Natur als Abglanz der göttlichen
Ordnung - „even the rüde rocks, the mossy caverns, the irregulär unwrought
grottos and broken falls of waters, with all the horrid graces of the wilder-
ness itself'73. Eben das Wilde führt, weil es die Seele erschüttert, zum Heili-
gen hin. Bei Coleridge ist Xanadu - nicht historischer, sondern utopischer
Ort - auf Meilen hin von hohen Mauern umgeben. Als sakraler Raum ist es
67
Colendge 89. Dt. von H.Hennecke
« Bahu 192
69
Coleridge 89. Dt. von H.Hennecke
70
Starobinski 160
7
< Ebd.
72
Dazu U. Gaier, Garten als inszenierte Natur, in: H.D. Weber, Vom Wandel des
neuzeitlichen Naturbegriffs (Konstanz 1989) 143ff. sowie Groh 130ff.
75
Shaftesbury, Characteristics of Men, Manners, Opiruons and Times, ed. J.M. Robertson
II (New York 1964) 125, zit. bei Groh 131
115

der Profanität entzogen, Produkt absolutistischer Dichterphantasie, poeti-


sches „enclosure", sich abgrenzend von der entzauberten Welt.
Im zeitlichen Umfeld von Coleridge findet sich ein ähnliches Szenario
vom Chaos als Ursprung der Kunst bei Schüler, Wordsworth und Hölderlin.
Auch sie greifen bewußt auf das Büd des Gebirgsstroms zurück. Schülers
Sparnergang steüt im Ambiente der Wüdnis die Frage nach der Befindlichkeit
des sentimentalischen Künstlers:

Aber wo bin ich? Es birgt sich der Pfad. Abschüssige Gründe


Hemmen mit gähnender Kluft hinter nur, vor mir den Schntt

Nur die Stoffe seh ich getürmt, aus welchen das Leben
Keimet, der rohe Basalt hofft auf die büdende Hand.
Brausend stürzt der Gießbach herab durch die Rinne der Felsen,
Unter den Wurzeln des Baums bncht er entrüstet sich Bahn.
Wild ist es hier und schauerlich öd. Im einsamen Luftraum
Hängt nur der Adler und knüpft an das Gewölke die Welt74.

Das Chaos in der menschlichen Natur, die eben erlebte Revolution aüer
Verhältnisse, mit der Lebensform Stadt kulturphüosophisch verknüpft, treibt
den Dichter auf Rousseaus Spuren in eine Natur, die aüe Regeln von Maß
und Gestaltung durchbricht. Schülers Erweckungserlebnis ereignet sich auf
hohen Bergen, wo roher Basalt auf die Bearbeitung wartet. Das Wüde wird
als Stoff und Stimulans eingebaut in eine Kulturtheorie und Ästhetik, aber
letztlich als ungesellig und antiurban in seine Schranken gewiesen. Dennoch
ist Schüler nicht unempfänglich für solche Grenzgänge; davon zeugen seine
Pathosformeln. Der Meister der Dramatisierung rettet das Erhabene, das
Kant in seiner Kritik der Urteilskraft mit Konnotationen der Wüdnis versah,
im Bude des einsam schwebenden Adlers. Der Chaostraum wird so zum
Antidotum gegen formsprengende Affekte. Geläutert kehrt der Dichter in
die Menschenwelt zurück, vom Geist der Wüdnis selbst in das Regelwerk
Kultur eingeweiht. Daß auch hier Heiliges wirkt, unterschlägt Schüler nicht,
ja bringt es gleichsam auf eine Weiheformel: „Reiner nehm ich mein Leben
von deinem reinen Altare"75.
Die Ambivalenz der Natur als chaotischer Werkstatt kehrt wieder in
Hölderlins Elegie Heimkunft von 1801. Die Alpen büden den heroisch-idylli-
schen Ort poetischer Selbsterfahrung im Medium des Wanderns; der biogra-
phische Hintergrund ist die Rückkehr von Hauptwü, dem komfortablen Exü,
ins heimatliche Nürtingen; deshalb die „Wolke, Freudiges dichtend". Die
große Natur rückt hier in neues Licht: als Garant einer den Menschen stets

74
Schüler, Der Spaziergang V. 173f. 177ff. (SW I, 233)
75
Ebd. V. 189 (SW 1,234)
116

übersteigenden Ordnung, die sich elementar aus Gegensätzen bildet. Das


Widerspiel von Eros und Eris fand Hölderlin bei Empedokles v o r

Langsam eilt und kämpft das freudigschauernde Chaos,


Jung an Gestalt, doch stark, feiert es liebenden Streit
Unter den Felsen, es gärt und wankt in den ewigen Schranken,
Denn bacchantischer zieht drinnen der Morgen herauf6.

Das Prinzip von Vermischung und Entmischung, Geburt und Tod, Vereini-
gung und Trennung heißt bacchantisch, mithin dionysisch; sakrale Natur ist
auch wild, regelsetzend und regelverletzend zugleich. Mischkrug aller Ele-
mente ist der Abgrund. Doch auch der Widerstreit hat sein Gesetz. (Graphi-
sches Bild der sich kreuzenden und widersprechenden Kräfte, aus denen
Dichtung entsteht, war bei Coleridge das X in Xanadu. Im kreativen Schnitt-
punkt von Chaos und Ordnung hat das Gedicht seinen Ort.) Hölderlins
Landschaft ist im Grund so allegorisch wie die von Coleridge. Als Mikro-
kosmos ist sie ein poetologisches Modell - bis hin zum Ineinanderspiel von
Berg und Luft, Feuer und Wasser. Der Fluß Heraklits kehrt hier als Wildwas-
ser wieder, als Quelle der Inspiration. Hinausstürzend aus dem Gedicht, dy-
namisiert er den Text, schafft mythopoetisch den Grund für das Schreiben,
vereinigt im Spiel die Gegensätze. Der Wasserfall verwandelt sich in Blitze
und bringt die stumme Materie zum Sprechen:

wie Blitze fallen die alten


Wasserquellen, der Grund unter den Stürzenden dampft,
Echo tönet umher, und die unermeßliche Werkstatt
Reget bei Tag und Nacht, Gaben versendend, den Arm77.

Hier ist Natur das Laboratorium des ästhetischen Geistes, seine Lust- und
Folterkammer, dionysisch sich verausgabende Kraft, in deren Entgren-
zungswillen ein Ausdruckswille steckt, gebunden an elementare Regeln ihrer
Selbsterhaltung. Der Schoß der Wildms selbst gebiert die Kunst. Hölderlins
Natur erwächst aus jener Remythologisierung, die seit Rousseau die Land-
schaft mit Sinn und Gefühl besetzt. Sie ist nicht länger christlich verderbte,
gefallene Schöpfung: das Ich, pantheistisch gestimmt, entdeckt in ihr die
Chiffern eigener Göttlichkeit. Die Sinninstanz Natur entsteht um 1800 in
Konkurrenz mit der Geschichtsphilosophie, die sich als weltliche Religion
des Fortschritts etabliert. Zeitlich zwischen Rousseaus Rhapsodien auf den
„etat naturel" und Hegels Philosophie der Geschichte formuliert Hölderlin
seine Vision heiliger Wildnis un Bild eines utopischen Tinian, das nicht mehr
der Geschichte angehört. Naturästhetik selbst wird zur Epiphanie, mcht

76
Hölderlin, Heimkunft V. 5 - 8 (Gedichte 291)
77
Ebd. V. 15 - 18 (Gedichte 292)
117

mittelbar wie in heiligen Schriften, sondern ganz unmittelbar in die Lebens-


welt einbrechend:

mit Gewalt
Des Tages oder
Mit Stimmen erscheint Gott als
Natur von Außen78.

Gerade in deutscher und englischer Dichtung um 1800 zeigt sich, um mit


Joachim Ritter zu sprechen, „die große Bewegung des Geistes, in welcher der
ästhetische Sinn die Aufgabe der 'Theorie' übernimmt" 79 , Natur zur „Land-
schaft" wird. Auch Coleridge und sein Gefährte Wordsworth, deren L/yrica/
Ballads eine neue Epoche englischer Dichtung eröffnen, lehnen die konven-
tionelle Physikotheologie ihrer Vorgänger ab. Nicht mehr Naturgegenstände
rufen Gefühle herauf, sondern das Ich, kraft der Gefühle sich konstituierend,
legt Sinn in die erscheinende Natur; dies alles unter der Vorherrschaft des
„egotistical Sublime"80. So konzipiert Wordworth sein berühmtes Gedicht
Tintern Abbey, geschrieben am 13.7.1798, als lyrische Biographie einer Seele,
als Offenbarung eines Ich in der Natur:

I cannot paint
What then I was. The sounding cataract
Haunted me like a passion: the tall rock,
The mountain, and the deep and gloomy wood,
Their colours and their forms, were then to me
An appeüte: a feeling and a love...

Ich kann nicht ausmalen,


Was ich damals war. Der tosende Wasserfall
Suchte mich heim wie eine Leidenschaft: Der steile Fels,
Der Berg und der tiefe finstere Wald,
Ihre Farben und Formen waren damals für mich
Eine Art des Hungers: ein Gefühl und eine Liebe...81

Das Erweckungserlebnis bringt selbst Natur hervor. Das Subjekt liest sein
Verlangen, ein Selbst zu sein, in diese Landschaft hinein. Reflexion wird
ästhetisch, nimmt das Geschaute als Element der Selbstwahrnehmung. Diese
Wahrnehmung bindet sich nicht mehr an Pittoreskes, sie überschreitet die
Grenzen der Malerei (I cannot paint), verzichtet auf Anschaulichkeit zugun-
sten von suggestiven Formeln. Die Differenz zwischen Ich und Natur wird

78
Hölderlin, Der Einzige (3.Fassung) in der Rekonstruktion von F.Beißner (GSA II. 1,163)
79
Ritter 161 f.
80
Dazu Schlaeger 183f.
81
Wordsworth, Tintern Abbey V. 77 - 82 (Schlaeger 187, übs. ebd. 191)
118

anfangs noch mit einem Bild überbrückt, das auch Coleridge als Pathos- und
Sinnträger eingesetzt hat: der Wasserfall, symbolisch die Heimsuchung des
Ich durch Poesie, löst einen Gefühlsschock aus, der bei Wordsworth die Bil-
der eher auslöscht als verstärkt. Unüberhörbar bleibt nur die religiös-eroti-
sche Konnotation; die Schlüsselbegriffe „passion, appetite, feeling, love",
dem Reich der Emotionen entnommen, erhöhen das Ich, das in Natur sich
entgrenzt, beinah zu einem göttlichen Subjekt.
Coleridges Kubla Khan handelte als Fragment von Paradies. Aber im
Fragment liegt schon der Sündenfall. Denn: „die Versuchung Edens ist eine
ausdrückliche Versuchung zur Erkenntnis" 82 . Die Lust auf Erkenntnis kon-
stituiert Menschheits- und Heilsgeschichte; doch sie selbst entzieht sich der
Geschichte. Coleridge wie Hölderlin suchen poetische Ausgänge aus der Ge-
schichte - der eine im Rausch des Gartens Eden, der Milch und Honig
schenkt, Gaben der reinen Natur; der andere im Bild jenes Festmahles, das
die Heimkunft des verlorenen Sohnes krönt. Durch die heilige Wildnis
schimmert Eschatologisches. Bei Coleridge tanzt der Dichter am Ende wie
ein trunkener Schamane:

For he on honey-dew hath fed,


And drunk the milk of Paradise.

Denn ihn hat Honigtau genetzt,


Und er trank Milch des Paradeis.83

Das letzte Wort hält fest, warum der Text Fragment bleibt, und doch Erlö-
sung verspricht. Er verstummt mit jener Logik, die später Wittgenstein zum
Ausgang seines Tractatus macht: Wovon man nicht sprechen kann, darüber
muß man schweigen.

Im Maße seines Fortschritts begann das 19. Jahrhundert an seinem Fort-


schritt zu leiden. Im Zeichen des seit 1840 grassierenden Onentalismus
sehnte es sich nach den Wonnen der Wildnis, nach Farbenlust, Grausamkeit,
Nacktheit, nach Überschreitung der Viktorianischen Moral, nach Rausch und
Ekstase. Natur, lebensphilosophisch überhöht, biologistisch verherrlicht, pa-
gan wiederentdeckt, erhielt durch Nietzsche ihren Rang zurück; das Kreuz
der Reflexion wog allzu schwer; alles Gute ist Instinkt, verkündete Nietzsche
in der Göt^endämmerung. Seine dionysische Philosophie suspendiert die über-
lieferte Moral, predigt den Willen zu vitaler Unschuld: schön und böse lautet
die Maxime. Der Mensch, dieses erfinderische Tier, soll kraft der Instinkte

82
CaveU212
83
Coleridge 89. Dt. von H.Hennecke
119

gesunden, tiefer - und schöner werden84. Nietzsche sah im Natürlichen zu-


gleich das Vornehme, die Ehrfurcht vor sich selbst. Eins zu sein mit der
Natur, ihrem Willen, ihrer Gewalt, ihrem Pathos, ihrer „Grundlosigkeit", war
seine tiefste Sehnsucht. Noch sein literarisches Wüten gegen alle Degenera-
tion des Lebens, gegen alle Verfallsgeschichte, wie sie das christliche Ethos
verkörpert, verweist auf die Utopie vitalen Bei-sich-selbst-Seins, auf die Ver-
söhnung von Geist und Natur85. Aus tiefer Enttäuschung heraus denunziert
Nietzsche im Antichrist den Frieden des Paradieses als jene Langeweile, die
Gott zur Erfindung des Menschen, den Menschen aber (der gerade in seiner
Langeweile gottgleich ist) zur Erfindung der Wissenschaft treibt86.
Der alte Benn, bemüht um einen .Abschluß", veröffentlichte in Apres-
iude (1955) ein Rollengedicht, worin das lyrische Ich, „grundlagenlos und in
der Nacktheit Bann", zwischen Kneipe und trunkener Tiefsee zu schwan-
kenden Einsichten kommt. Die Kneipe verwandelt sich nachts in einen
Mutterschoß, die Wahrnehmung der nebenan zechenden, aus vollen Gesten
schöpfenden Herren, die einen .Abschluß" suchen, taucht hinab in ozeani-
sches Gefühl, worin die bürgerliche Reflexion ertrinkt:

Mir steht ein Meer vor Augen, oben Bläue,


doch in der Tiefe waberndes Getier,
verfratzte Kolben, Glasiges - ich scheue
mich, mehr zu sagen und zu deuten hier87.

Hier unten ist Tabu-Raum. Das Ich scheut sich, die Phänomene näher aus-
sprechen, gar analysieren zu wollen. Benns heilige Wildnis ist Meer, gekop-
pelt mit magischem Blau, Chiffer für Mutterklause, Erinnerung an die Ge-
burt des Lebens aus dem Wasser. Vergessen der Geist, der einst über den
Wassern schwebte; stattdessen läßt sich das Ich willig in die makabre Tiefe
senken, süchtig nach thalassischer Regression, um dort auf Wesen zu stoßen,
die nicht geheuer sind. Der Blick trübt sich vor einem Gewimmel, das den
Sinn verwirrt: ein unterseeisches Laboratorium der Schöpfung, fratzige Kol-
ben, Phiolen — die Studierstube Fausts möbliert von Hieronymus Bosch. Das
Heilige bei Benn beglaubigt sich als als Schock, als Reflexionsverlust, als
Abtauchen zum Grund, wo die Natur, die mütterliche Hexe, all ihre Fratzen
bereithält. Vom Schock spricht der Verzicht, diesen wilden und wüsten Text
zu kommentieren; hier endet die bürgerliche, auf Sinnstiftung und Wert-
schöpfung bedachte Exegese. Benns Blick in den Abgrund erlischt vor dem
trunkenen Chaos. In diesem .Abschluß" liegt ein tödlicher Genuß.

84
Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse § 295 (KSA 5, 239)
85
Vgl. Chr. Türke, Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft
(Frankfurt/M. 1989) 92f.
86
Nietzsche, Der Antichrist § 48 (KSA 6, 226f.)
87
Benn, SW I, 303
120

Mythische Regression, Rückkehr in den Schoß der Natur, worin die Fata
ruhen, war auch die Sehnsucht des in einem piemonteser Dorf geborenen
Cesare Pavese. In Turin, wo er als Lektor tätig war, notierte er 1950, im Jahr
seines Freitodes, als Künsdercredo in sein Tagebuch: „Er taucht wieder in
den mythischen Strudel, in die Formen, die Staunen erwecken, so wie die
Natur, das Leben Staunen erwecken, unerschöpflich" 88 . Das Wilde ist in Pa-
veses Erzählungen der sie grundierende Mythos. Der Kult des Archaischen,
Irrationalen und Animalischen in dem Roman Paesi tuoi korrespondiert jenem
Regionalismus, wie er zwischen den Weltkriegen von europäischen Autoren
wie Giono und Ramuz, in Amerika von Faulkner und Anderson betneben
wurde. Gerade der Intellektuelle Pavese, der die Entwurzelung fürchtet, die
seine angeborene Einsamkeit noch zu verstärken droht, kultiviert eine
„bodenständige", archetypische Literatur. Im Tagebuch, das auf hohem
Niveau Werkstattbericht, Selbstgespräch und Reflexion über das Handwerk
des Lebens ist, formuliert er am 3.6.1943 das Programm seines Schreibens:
„Dein Klassizismus ist ein ländlicher, der leicht frühgeschichtliche
Ethnographie wird"89. Pavese betrieb seit 1933 ausgedehnte religionsge-
schichtliche Lektüre, die Freuds Totem und Tabu ebenso einschloß wie Tho-
mas Manns Joseph und seine Bruder. Hinzukamen C G Jung, K. Kerenyi und
M. Eliade, auch die Studien von Levy-Bruhl über „prälogische Mentalität".
Wie Eliot, Wittgenstein und B. Malinowski inspirierte er sich an den
Arbeiten von James Frazer, die unter dem Titel The Golden Bough (in Anspie-
lung auf ein Motiv der Aeneis) eine Renaissance der Mythologie einleiteten.
Doch die entscheidende Quelle wurde für Pavese die Scien^a Nuova von Vico.
Hier fand er die mythopoetische Deutung römischer Frühgeschichte als
Modell einer vitalen, naturnahen, von Riten lebenden Agrargesellschaft.
Noch die Ruinen Roms, mit den Augen des Pathetikers Piranesi gesehen,
werden für ihn zur Allegorie, zum „objective correlate" (Eliot) menschlichen
Daseins schlechthin: „Mir gefallen die Ruinen von Rom, weil Ödland, weil
Mohn und dürre Dornhecken auf den Hügeln daraus eine Sache der
Kindheit machen — und auch die Geschichte (das alte Rom) und Früh-
geschichte (Vico, das auf dem Damm oder auf der Ackerfurche vergossene
Blut) passen sich dieser Ländlichkeit an, machen daraus eine Welt,
vollständig und zusammenhängend von der Geburt bis zum Tode" 90 . Pavese
will den Rückfall der Geschichte an Natur, will die Reduktion komplexer
Welterfahrung, zu der die Moderne das Subjekt verurteilt, auf symbolische
Urformen, auf „phantastische Unversalien" im Sinne Vicos91.

88
Pavese 293 (10.1.1950)
8
» Ebd. 196
90
Ebd. (3.6.1943)
" Pavese in einem Brief an Fernanda Pivano vom 27.6.1942: „Ja, dachte ich, Mythen,
phantastische Universalien sind nötig, um diese Erfahrung, die mein Ort in der Welt ist,
resdos und unvergeßlich auszudrücken" (Zitat bei Lenzen 30).
121

Das führt ihn in Paesi tuoi (1941) zu einer Panerotik, die in Naturformen
die Manifestationen des Weiblichen aufspürt. „Mit den Augen des Mannes
legt Pavese die Erotik der piemontesischen Landschaftsformen bloß. Wolken
und Hügel sind Zeichen der Frau" 92 . Doch das Verlangen des Mannes bleibt
im Optischen befangen, im Zeichensystem Literatur, es führt nicht zum Er-
lebnis des Körperlich-Haptischen hin, verweigert sich dem vitalen Zugriff.
Der Kopfmensch Pavese richtet den Sinn auf Vorenthaltenes, das magisch
anzieht, weil es sich entzieht. Umso mehr stilisiert er das Wilde des Eros zum
Heiligen — als schroffen, ja gewaltsamen Gegensatz zur Profanität moderner
Lebenswelt. Das Sich-Zeigen des Heiligen, das unerwartet in das Profane
einbricht, hat Mircea Eliade als „Hierophanie" beschrieben 93 . Der Erzähler
Pavese inszeniert es in Paesi tuoi als orgiastischen Rausch von Sexualität und
Gewalt94. Der Inzest zwischen dem Bauernmädchen Gisella und ihrem Bru-
der Talino stellt jene Tabuverletzung dar, aus der im Sinne des tragischen
Mythos die Tötung Gisellas als Opfer- und Sühneakt hervorgeht. Paveses
Panerotik geistert noch durch seinen letzten Roman La luna e il falb (1950),
der Mythos und Zeitgeschichte zu verschmelzen trachtet. Hier wird das
Mädchen Santa - nomen est omen - als Kollaborateurin von Partisanen hin-
gerichtet, ihr Leichnam im Weinberg verbrannt. Dies Brandopfer ver-
schmilzt mit dem ländlichen Ritus des Johannisfeuers (falö), das am längsten
Tag des Jahres entzündet wird95. Das historische Ereignis, Santas Tod, geht
ein in die ewige Wiederkehr heiliger Zeit96. Der Mythos tilgt diesen Tod eines
einzelnen Menschen im Zeichen regenerierter Natur. So kann Pavese den
Weinberg, in dem Santa geopfert wird, als tellurischen Körper beschreiben,
in Wildnis eingebettet, als einen „Leib, der lebt und seinen Atem hat und
seinen Schweiß. Und wieder, als ich umhersah, gedachte ich all der Schöpfe
von Pflanzen und Schilf, all der Büsche und Hänge, (...) Wildnis, die ohne
Nutzen ist und keine Ernte gibt, und doch hat auch sie ihre Schönheit. Hier
hat jeder Weinberg seinen Buschwald; es macht Freude, wenn das Auge
darauf ruht und wenn man weiß, wo die Nester sind. All das, dachte ich, er-
innert irgendwie an Frauen" 97 .
Schlüsselmotive solcher Mythisierung sind rituelle Gewalt, Kindheit und
Ganzheitserfahrung — eine Trias, die Pavese immer wieder reflexiv umkreist,
weil sie ein Faszinosum darstellen, das diesen Kopfmenschen, der Leben
stets nur vermittelt erfährt, in seinen Bann schlägt. So interessieren ihn hei-
lige Orte, er träumt sich auf dem Lande in die antiken Epiphanien hinein,
stellt sich die Wiese, den Wald, die Grotte, die Lichtung als Szenen des

92
Lenzen 28
Eliade 8f.
94
Dazu Lenzen 28f.178f.
95
Pavesejunger Mond (Frankfurt/M. 1979) 188
96
Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund: Eliade 40ff. 47f.
97
Pavese, Junger Mond 58
122

Mythos vor: „Hier, auf der Grenze zwischen Himmel und Baumstamm,
konnte der Gott hervorkommen" 98 . In der Tradition der Romantik knüpft
Pavese an Erlebnismuster der Kindheit an, weniger psychologisch als
archetypisch denkend, sich nach dem „Symbol-Schauer" sehnend: „Hier
sieht man wieder, wie die Rückkehr zur Kindheit dazu hilft, den Durst nach
Mythos zu stillen"99. Mit entwaffnender Offenheit benennt Pavese als das
eigentliche Motiv seines Schreibens (für ihn wie für Kafka letztlich identisch
mit Leben) das tiefe Bedürfnis nach Mythos. Er soll die verlorene Kindheit
wieder herbeizwingen, in der Pavese sein eigenes goldenes Zeitalter sah.
„Alle Leidenschaften gehen vorüber und erlöschen, außer den ältesten,
denen der Kindheit"100.
So rhetorisch diese Formel klingt, so spricht sie doch Paveses Innerstes
aus: Resignation und das Gefühl einer unüberbrückbaren Ferne zum wirkli-
chen Leben, einer tödlichen Einsamkeit, worin das private Schicksal am
Ende deckungsgleich wird mit dem Befund objektiver Entfremdung. Daran
konnte auch Paveses zeitweises Engagement für die Kommunistische Partei
Italiens nichts ändern. Der Durst nach Mythos war durch Parteiarbeit und
Klassenkampfparolen nicht zu stillen. Pavese war sich über den Ersatz-
charakter seiner Mythopoesie sehr wohl im klaren: „Ist dies genug, den reli-
giösen Schauer zu ersetzen?"101 Um hinter den Masken der Zivilisation den
ursprünglichen Menschen zu finden, geht Pavese in gewollter Archaik zurück
zum Animalischen. Chiffer für einen Zustand, worin der Mensch in der Ge-
walt das Heilige erkennt, ist für Pavese das „Blut". Es wird immer irrational
vergossen, sei es im Aggressionstrieb, sei es im Opferritus. Immer bleibt es
geheimnisvoll — so wie das menschliche Leiden irrational und geheimnisvoll
bleibt. Doch das Deutungsverlangen des Menschen macht einen Mythos
daraus, etwas Umgreifendes, an dem auch der Einzelne, Einsame partizipiert:
„Dein Problem ist, ihm seinen Wert zu geben, ohne ihm seinen Mythos zu
nehmen. Wenn man blutet oder weint, besteht das Staunen darin, daß gerade
wir das tun, was zum Universellen erhebt, zum 'alle Menschen', zum
Mythos"102.
Das Wilde zeigt sich primär als Tabubruch, als Grenzüberschreitung, als
passionierter Aberglaube, der Ausdruck einer „Ekstase" ist: „Die Natur wird
wieder wild, wenn in ihr das Verbotene geschieht: Blut oder Geschlecht"103.
Damit setzt sich Pavese, der Riten liebt und seinen eigenen Aberglauben

98
Pavese, Tagebuch 199 (17.9.1943)
"Ebd.
100
Ebd. 278(5.4.1949)
101
Ebd.
102
Ebd. 211 (7.2.1944)
103
Ebd. 219 (13.7.1944). Den Hinweis, daß in der römischen Religion „superstitio"
(Aberglaube) die Übersetzung des griechischen „ekstasis" ist, erhielt ich von Prof.
Burkhard Gladigow (Tübingen).
123

kultiviert, vom bürgerlichen 19. Jahrhundert wie von der Aufklärung ab. Er
mochte auch die Psychoanalyse nicht, die aus dem Es doch ein Ich machen
wollte; ihm, dem Tragiker, der sein eigenes Schreiben gleichsam auf den
Selbstmord hin konzipierte, mißfiel die Tendenz, mythische Schuld in
Krankheit zu verwandeln104. Das Wilde war für ihn nichts Malerisches, son-
dern einfach tragisch, also in seiner Art heilig — so wie für ihn Natur das
„Reich der Toten" war105. Gerade im Bedürfnis nach Irrationalem erblickt
Pavese ein Merkmal der Modernität, wie er in seinem Tagebuch festhält106.
Eine gewisse Nähe zu faschistischem Denken, das sich zuweilen von
Nietzsche und Bergson inspirieren ließ107, ist hier nicht abzustreiten. Der von
Pavese geschätzte Eliade war durchaus ein Bewunderer Mussolinis. „Wer Be-
fruchtung sagt, sagt Verletzung. Kein Leben ohne Blutvergießen". Dieser
Spruch des Duce, der politischen Vitalismus mit dem Mythos des Blutes
verbindet, steht gewissen Sätzen Paveses nicht fern.
Noch 1947, als der Faschismus historisch schon erledigt ist, meint Pa-
vese, daß die Kunst des 20. Jahrhunderts ganz auf das Wilde zielt — als Ge-
genstand bei Kipling und d'Annunzio, als Form bei Joyce und Picasso; auch
Nietzsche mit seinem Dionysos wird hier zitiert108. Die seltsame Kombina-
tion (zu der noch Leopardi und Sherwood Anderson kommen) verrät, wie
bemüht Pavese um Kronzeugen für seine These ist. Der Faschismus als epo-
chale Bewegung, wie ihn Ernst Nolte ideologiegeschichtlich beschrieb, war
in Italien die Reaktion auf die Profanität der „modernen Ideen" und zugleich
deren schärfster Rivale: mit seiner Verwandlung von Freiheit in „Schicksal"
ist er auch an Pavese nicht spurlos vorübergegangen. Der Schriftsteller sucht
den Widerspruch zwischen Modernität und Mythos mittels einer „poetica del
destino" aufzufangen. Das führt häufig zu einer Rhetorik hölzernen Archai-
sierens, zu einer gekünstelten Naivität, wie sie gerade die schwächeren Par-
tien der Dialoge mit Leuko (1947) bekunden. Es sind, in der Nachfolge
Leopardis, sehr persönliche Interpretationen des lydisch-phrygischen My-
thenkreises, in denen die olympische Götterwelt ausgeblendet und das Grau-
same, Irrationale, Chaotische bevorzugt wird. Am Ende erinnert die Muse,
Göttin des Andenkens, den Dichter (der in die Maske Hesiods schlüpft) an
das „Blut", das den Menschen seit der Geburt begleitet. Lust und Mühsal
menschlichen Daseins „im Bette, auf dem Felde, vor der Flamme" werden
von Pavese in einem Akt gewaltsamer Sinnsetzung sakralisiert. Das Wilde ist
der „Schrein" des Göttlichen, um Heidegger zu variieren. Diese Haltung
trägt deutlich anümoderne Züge; ihr Schicksalsglaube ist nicht nur pagan,

l(M
Pavese, Tagebuch 240 (17.4.1946)
105
Ebd. 223 (2.9.1944) und 253 (27.5.1947)
106
Ebd. 211 (7.2.1944)
107
Dazu E. Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche (München - Zürich 51979) 209, 308f.
108
Pavese, Tagebuch 254f. (10.7.1947)
124

sondern auch aufklärungsfeindlich109. Aber in Paveses Terminologie wäre


auch der Faschismus Mythos und Aberglaube; und ,.Aberglaube ist jede un-
genügende Theodizee" 110 . Seine Riten wurden durch die Geschichte wider-
legt, mit ihnen ein Rechtfertigungsversuch, also das Leben selbst; denn „die
große Aufgabe des Lebens ist: sich rechtfertigen"111. Dem Privatmann Pa-
vese fiel diese Rechtfertigung in seinen letzten Jahren immer schwerer. Die
Riten des Schreibens — dem Premio Strega zu Trotz, den er 1950 erhielt -
werden merklich brüchiger; die Larmoyanz im Tagebuch nimmt zu. Was
einzig ihn noch anrührt, ja erschüttert, ist die „Magie der Natur". Sobald das
Soziale, Urbane ins Spiel kommt, erkennt er seine Phantasie als träge112. Das
Magische aber ist nur eine andere Form des Aberglaubens, ein Fest des Irra-
tionalen, dem Pavese sich zusehends hingibt. Seine Mythisierung und damit
Ästhetisierung des Todes, die Heiligung der Gewalt auch gegen sich selbst,
der Kult der Vitalität (die für Pavese das „Vorenthaltene" war) tragen gleich-
sam faschistische Züge.
Es gibt eine Notiz, die Licht auf diese Züge wirft: „Abergläubisch ist
der, der noch glaubt an einen Mythos, der schon von der Geschichte über-
wunden worden ist"113. Das Tagebuch von 1950, das diesen Satz enthält,
zeigt deutlich die biographische Wende, die Paveses Kult des Wilden nimmt:
er ist eine Ästhetik zum Tode, zur Selbstzerstörung hin. Der Meister der Re-
flexion hat diese Tendenz hellsichtig selbst formuliert: „Die maßlose Leiden-
schaft für die natürliche Magie, für das Wilde, für die dämonische Wahrheit
von Bäumen, Wassern, Felsen und Landstrichen ist ein Zeichen von Furcht-
samkeit, von Flucht vor den Pflichten und Verpflichtungen der Welt der
Menschen" 114 . Solcher Mystizität liefert Pavese nun das eigene Leben aus:
„schicksalhaft ist ein Leben, das eine mythische Kadenz hat, einen vorher
bestimmbaren Rhythmus, der aber nicht gelöst ist in rationale Erkenntnis
(die ihn zerstören würde)" 115 . Vielleicht ist Paveses tiefstes Motiv für diesen
Schicksalsglauben ein religiöses: das Wilde wird ihm zum Heiligen, so dop-
peldeutig wie das lateinische „sacer", das zugleich Geweihtes und Verruch-
tes, Faszinosum und Schrecken bezeichnet. Heilig ist auch jene Jagd, worin
Jäger und Wild die Rollen tauschen — wie sie Giorgio Caproni beschreibt:

II guardacaccia, caccia
od e cacciato. Questa
e una notma sicura.

W Dazu Schlumbohm 260ff.


IM Pavese, Tagebuch 222 (23.8.1944)
'"Ebd. 223(27.8.1944)
"2 Ebd. 276 (27.2.1949)
" ' E b d . 294(30.1.1950)
'«Ebd. 292(9.1.1950)
115
Ebd. 294(17.1.1950)
125

Der Jagdaufseher jagt,


oder er wird gejagt. Das ist
eine ganz sichere Regel116.

Hier spielt sich eine Opferhandlung ab - etwas, das „rite" geschehen muß.
Es ist, in der Sprache Paveses, eine „phantastische Beziehung" (rapporto
fantastico) zwischen Jäger und Gejagtem. Als literarische Technik begegnet
sie bei Pavese seit dem Gedichtband Lavorare stanca (1936) — so in dem
Erzählgedicht I Mari de! Sud (Die Südsee)117. Dort markiert der blutige Ritus
der Waljagd — ein Motiv, das Pavese aus Melvilles Moby Dick übernahm —
symbolisch den äußersten Punkt der Entfernung vom eigenen Ursprung:

E ha veduto volare 1 ramponi pesann nel sole,


la veduto fuggire balene tra schiume di sangue
e inseguirle e innalzarsi le code e lottare alla lancia.

Und er hat schwere Harpunen in der Sonne fliegen sehen,


er hat Wale fliehen sehen inmitten von blutigem Schaum
Und sie verfolgen und die Flossen sich heben und mit der Lanze
kämpfen118.

Das Bild dieses Jagd- und Opferritus hat den Dichter durch all die Jahre be-
gleitet: sein Freitod in einem Turiner Hotel am 27. August 1950 ist nur der
Ausklang einer „mythischen Kadenz". Die unglückliche Liebe, die Pavese
suchte, wirkt davor wie ein Vorwand. Das Wilde, auf das er als Liebender
stieß, ist die im Geheimsten gefürchtete Sache, die Epiphanie des Todes 119 .
Hier fand er nach fünfzehn Jahren Bankrott den Ausgang aus seiner Ge-
schichte. Die Opfergeste ist der Verzicht auf Schreiben, also Verzicht auf
Leben — ritueller Abschluß einer Ästhetik zum Tode.

Die ökologische Bewegung des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat das Wilde
als das Naturbelassene, Authentische wiederentdeckt und ihm am Rande der
postindustriellen Gesellschaft ein museales Dasein zugestanden. Diese Ein-
stellung entspricht der Reservats- und Nischenmentalität, die der industrielle
Prozeß auf einem bestimmten Entwicklungsstand kompensatorisch hervor-
bringt. Während der romantischen Naturphilosophie die wirkliche Versöh-
nung von Geist und Natur vorschwebte, erzeugt das technokratische System
den musealen Naturbegriff. Der Wille zur Macht und zum Machen hat die

116
G. Caproni 56f.
117
Dazu Schlumbohm 255
118
Zitat und Übersetzung bei Schlumbohm 249
119
Pavese, Tagebuch 302 (18.8.1950)
126

Natur auf bisher beispiellose Weise domestiziert; innerhalb der Produktion


von Lebensstilen, Komfortstrategien und Ambiente wird Natur zu einem
Luxusgegenstand. Als die vom Aussterben Bedrohte ist sie Objekt ästheti-
schen und politischen Interesses — aufbereitet, verwaltet, subventioniert wie
Kultur überhaupt. Nicht von Vitalität, sondern von Ohnmacht und folgenlo-
sem Protest zeugt eine Literatur, die in Gedankenspielen von einer Rückver-
wandlung der Zivilisation in Natur träumt. Prominente Zeugen dafür waren
Ingeborg Bachmann (Malina, 1971) und Max Frisch (Der Mensch erscheint im
Holo^än, 1979). So schwärmt das alter ego der Ich-Erzählerin in Bachmanns
Collagenroman Malina von einer Restitutio in integrum. Doch der gewählte
hohe Ton, eschatologisch, klingt hohl: „In den Wüsten wird das Wasser ver-
siegen, wir werden wieder in die Wüsten können und die Offenbarungen
schauen, die Savannen und die Gewässer in ihrer Reinheit werden uns einla-
den, die Diamanten werden im Gestein bleiben und uns allen leuchten, der
Urwald wird uns aus dem Nachtwald unserer Gedanken übernehmen, wir
werden aufhören, zu denken und zu leiden, es wird die Erlösung sein"120.
Solche Rhetorik, die nicht umsonst Wüste und Urwald beschwört, entspringt
einem unerwarteten, tief verstörenden Sinn- und Sakraldefizit. Doch ihr ge-
lingt nur Trunkenheit, die aus dem Kopf kommt; denn alles an ihrer Wildheit
ist künstlich. „Malina steht auf, er hat mein Glas geleert. In einem tiefen
Rausch werde ich meine Fragen ausschlafen. Tiere werde ich anbeten in der
Nacht, mich an den heiligsten Bildern vergreifen, mich an alle Lügen halten,
vertiert werde ich sein im Traum und mich töten lassen, wie ein Tier"121.
Der museale Geist wendet die Mühe des Verstehens mit Vorliebe dem
Toten und Absterbenden zu. Sein antiquarisches Interesse, Erbe des Histo-
rismus, gilt auch der Natur. Soweit sie noch Sinngehalt bietet, geht das Be-
mühen der Erlebnisgesellschaft dahin, ihn sentimentalisch zu konservieren,
ihn gleichsam in Vitrinen einzuschließen. Natur wandert ab ins Museum,
wird Kulturgut. Darin ist sie Teil einer Kunstreligion, deren „Heiliges" nur
noch vermittelt, d.h. von Kennern kommentiert, erfahren wird. Folgerichtig
hat einer der großen Innovatoren der Kunst, Joseph Beuys, das Wilde als
Kunstereignis bewußt in Metropolen inszeniert - am eindruckvollsten in der
Aktion Coyote vom 21. bis 25. Mai 1974 in New York; Schauplatz war die
Galerie Rene Block. Der Untertitel hieß, durchaus affirmativ und werbewirk-
sam, „I like America and America likes Me". Gerade in Amerika, das dem
Mythos der Technik huldigt und seit den Tagen der Puritaner im Kampf mit
der verderbten Natur Hegt, das Wilde nur in Reservaten duldet, wollte Beuys
seine Botschaft verkünden. Doch anstelle einer statischen Skulptur initiierte
er einen plastischen Prozeß, eine Interaktion von Mensch und Tier, deren
Beschwörungszauber an schamanistische Praxis erinnert. In einem geschlos-

120
I. Bachmann, Malina (Frankfurt/M. 1980) 144f.
121
Ebd. 132
127

senen Raum tagelang alleine mit einem Kojoten, demonstrierte er erfolgreich


die Möglichkeit friedlichen Umgangs mit einem räuberischen, freiheitslie-
benden und gerade deshalb als „trickster" verachteten Tier. Denn im Be-
wußtsein Amerikas, das zuinnerst noch puritanisch fühlt, insofern es die
Segnungen der industriellen Zivilisation als Segnungen Gottes versteht und
Natur mittels Technik rigide zu bändigen sucht, ist der Kojote das wilde Tier
schlechthin -: Geschöpf des Chaos, das sich aller Domestizierung entzieht
und im kulturellen System die Stelle des Widerparts einnimmt. Hinzukommt,
daß in der Mythologie der Indianer der Kojote ein heiliges Tier ist, hochge-
achtet wegen seiner Klugheit'22. Als soziales Zeichen steht der Kojote bei
Beuys für die Existenz einer in ihrer Identität bedrohten Minderheit, die
historisch zu den Verlierern zählt und schon deshalb als minderwertig gilt.
Beuys hat bei seiner Aktion im Mai 1974 nichts von Amerika sehen wollen
außer dem Kojoten; die ökonomische Weltmacht war einzig durch die tägli-
che Ausgabe des „Wall Street Journal" (in zwei Packen zu jeweils 25 Exem-
plaren) symbolisch präsent. Aber es gibt noch weiterreichende religiöse
Konnotationen, die sich an den Kojoten heften: Erinnerungen an Franz von
Assisi, der den Wolf von Gubbio umarmte, oder an den mexikanischen Für-
sten Nezahuacöyod, den „Fastenden Kojoten", der im 15. Jahrhundert als
Religionsreformer wirkte und einen Monotheismus verkündete' 23 .
Die Aktion von Beuys zielt nicht auf Zähmung oder Dressur des Kojo-
ten, sondern auf Vertrautwerden mit dessen Wildheit. Ausgerechnet in New
York, der Hauptstadt des Kapitalismus, im Innersten des westlichen Systems,
fragt der Künsder nach der Legitimität der Moderne. Beuys kehrt die ge-
wohnte Ordnung der Zeichen um: Nicht wegen der Metropole (von deren
Glanz er so wenig als möglich berührt werden möchte), sondern wegen des
Kojoten kommt er nach New York. Was die Aktion in das Bewußtsein he-
ben will, ist ein verdrängtes Stück Amerika. In einem denkbar spartanischen
Milieu wird der aufgekündigte Bund zwischen Mensch und Natur erneuert.
Der Umgang des Menschen mit dem Tier, dem Beuys wie Adam einen Na-
men gab — Little John -, wird allmählich unbefangener; er konstituiert in der
Kapitale des Geldes symbolisch ein Stück Paradies. Als der Mann den Ko-
joten verläßt, zeigt das Tier, das sich an ihn gewöhnt hat, Symptome des Ge-
fangenseins, ja Angst; es ist ein wirklicher Abschied124. Während der weiße
Mann den Kojoten verachtete, erkannten die Indianer im Präriewolf ein
Sinnbild der Wandlung. In der Psyche Amerikas ist der Kojote, das nicht-
integrierte Wesen, bis heute die offene Wunde. Im Modell der Mythisierung
von Gewalt kommt dem Präriewolf die Rolle des biblischen Sündenbocks
zu. Zu einer Plage erklärt, konnte man ihn ohne Gewissensbisse jagen. Und
erst die Deutung der Weißen machte aus dem Kojoten den „trickster", schob
122
Tisdalll0f
123
G. Lanczkowski, Die Religionen der Azteken, Maya und Inka (Darmstadt 1989) 42
124
Tisdall 8
128

ihm eine bestimmte Rolle zu - die des Feigen und Verschlagenen. So konnte
Caroline Tisdall mit Blick auf die Erfolgsgeschichte Amerikas, die zugleich
eine Gewaltgeschichte war, von einem „Kojotenkomplex" sprechen125. Er
schwärt am Grund der ökonomischen Rationalität, als ein Phantom, das die
verfehlte Versöhnung mit der Natur anmahnt.
Die Unterdrückung der Indianer, die man als „Wilde" und „feige Kojo-
ten" stigmatisierte und ausgrenzte, gehört zur Legende von der glorreichen
Expansion des weißen Mannes; ihr Herzstück ist der Mythos machtschaf-
fender Gewalt. Als Beuys seine Aktion realisierte, befand sich Amerika in der
Schlußphase des Vietnamkrieges, den die Weltmacht nicht ohne geheime
Demütigung beenden konnte. Auch die Vietcong, lange als „kleine gelbe
Männer" verachtet, erteilten wie der Kojote dem Land eine Lektion. Dieser
Außenaspekt - Kritik an der Verachtung des Fremden - spielt auf
Politisches an. Im Binnenaspekt ist der Präriewolf aber das Fremde im
Eigenen, zugleich die profanierte Natur. Beuys sucht Amerika an seine
autochthone Kultur zu erinnern — im franziskanischen Gestus. Der Kojote,
der mit den ersten Indianern aus Sibirien kam, als die Beringstraße noch eine
Landbrücke war, repräsentiert für Beuys den Energiestrom Eurasiens, den er
in seinen Aktionen Eurasia und Sibirische Symphonie bereits 1966 (in der
Galerie 101, Kopenhagen) inszeniert hatte. In seiner Naturästhetik schrieb er
den Tieren — dem Hasen, dem Hirsch, dem Elch und dem Kojoten —
magische Kräfte zu, die dem zivilisierten Menschen abhanden kamen: Seele,
Empfindung, Instinkt. Sie verkörpern belebte, ja fühlende Natur. „Für Beuys
sind die Tiere eine Quelle gewaltiger Energie, denn hinter jeder Tierart steht
der Geist ihres Gruppenbewußtseins" 126 . Diese Haltung mag man schamani-
srisch nennen; Beuys jedenfalls schöpfte daraus ein Gutteil seiner Kreativität.
Doch sein Konzept, das Wilde in die Kunst zu integrieren, verschüttete Ur-
sprünge wieder freizulegen, war durchaus rational - schon weil es geschichts-
und ökonomiekritisch war.
Wenn Beuys die Integration des Fremden, Nicht-Domestizierten,
Spontanen in seine Kunst betrieb, so tat er es, um sie zu „erden". Kreativität
hieß für ihn: Transformation und Bewegung. Sein Kunstbegriff arbeitete ge-
gen Erstarrung, lineares Denken und Kapitalisierung; er setzt auf „Fluxus",
auf Kreislauf, Energiestrom und Zyklik. Die Aktion Kojote erwidert dem
Nützlichkeitsdenken, indem sie Empathie in das Nutzlose übt. Sie legt zu-
gleich die Schwächen des anthropozentrischen Geschichtsbildes bloß: Der
Kojote als wildes und heiliges Tier bezeugt, daß Natur ihre eigene Würde
hat, die ihr der Mensch nicht aberkennen kann. Zugleich steht dieses Tier für
eine neue Art von Aisthesis: für Freiheit, die ihren eigenen Gesetzen folgt,
für Rückkehr zur Unschuld der Wildnis, zuletzt für Utopie - die Versöhnung

125
Ebd. 11
«* Ebd.
129

von Mensch und Natur. Gegen die Geschichte der Expropriation nimmt
Beuys Partei für die vernutzte und verleumdete Natur. Der Künstler macht
das Tier zum aktiven Partner, zum Mitspieler in seinem ästhetischen Kon-
zept; der Kojote soll sein eigenes Potential, seine eigene Intelligenz einbrin-
gen. So richtet sich Beuys nach dem Tier, dessen „Geist" er herausfordern
will. Dem dienen ritualisierte Bewegungen, die eine Art von Choreographie
ergeben: „Wenn er sich mir näherte, verbeugte ich mich vor ihm, legte er
sich nieder, kniete ich, schlief er ein, fiel ich um. (...) Wenn ich Little John die
Handschuhe zuwerfe, soll das heißen, daß ich ihm meine Hände zum Spielen
gebe"127.
Beuys rehabilitiert mit dem Kojoten die mißachtete und unterdrückte
Schöpfung; zugleich erweist er der altindianischen Kultur die Reverenz, in
der die Tiere als Brüder der Menschen galten. Doch transformiert er dies
vom Ethnologischen in eine Kunstfigur, deren Adressat das moderne Ame-
rika ist. Die Symbiose aus Mensch und Tier wird, Beuysscher Ästhetik ge-
mäß, zur „sozialen Skulptur" aus Energie, Form und Bewegung. Gerade der
Tabubruch, den der Umgang mit dem Kojoten darstellt (der „sacer" im
Doppelsinn von heilig und verfemt ist), setzt die Strahlkraft wilder Natur
frei, die der Künstler durch schiere Technik und Ökonomie entweiht sah.
Beuys, der in einer berühmten Aktion versucht hatte, „wie man dem toten
Hasen die Bilder erklärt" (Galerie Schmela Düsseldorf, November 1965),
bewegt sich auf den verschütteten Spuren romantischer Naturphilosophie,
wenn er sich den Naturgeschöpfen, ja der Erde selbst kreatürlich verbunden
fühlt: „Das Tier ist doch quasi ein Organ des Menschen, (...) die Pflanze
ebenfalls und die Erde auch. Das Bewußtsein der Erde ist uns vielleicht ver-
schlossen; aber sicher ist es größer als jenes der Menschen"128.
Beuys zelebriert seine Aktion Koyote als archaischen Beschwörungs- und
Versöhnungsritus — in einen priesterlich wirkenden Filzumhang gehüllt, aus
dem eine Art Hirtenstab ragt, dessen Krümme an eine Schlittenkufe erinnert,
Sinnbild von Seelenwinter und Flucht aus der Geschichte (wie seine
Installation Schlittenrudel von 1969 nahelegt). Als „Hüter der Erde" verge-
genwärtigt er die christliche, vom Paradiesmythos bewegte Hinwendung zur
Schöpfung. Wie Adam, der im Garten Eden den Tieren Namen gab und sie
dadurch zu Gefährten machte (Genesis 2, 19-20), und wie der zweite Adam,
der in die Wüste ging, um sich über seine Berufung klar zu werden, sucht
Beuys am Gegenüber der Natur als „adamitischer" Künstler zu klären, was
Menschsein in apokalyptischer Zeit bedeutet. Dieses Apokalyptische hat er
in seiner Installation Das Ende des 20. Jahrhunderts (1983) in die Gestalt
gestürzter basaltener Pfeiler gebracht, die in erstarrter Bewegung, wie
wüstenhafte Trümmer, auf einen imaginären Ausgang der Geschichte
127
Ebd. 15f.
128
Ein Gespräch/ Una discussione. Joseph Beuys, Janrus Kounellis, Enzo Cucchi, Anselm
Kiefer, hg. von Jacqueline Burckhardt (Zürich 1986) 102
130

verweisen. Aus jedem Stein ist ein Kegel herausgeschnitten und, in Filz und
Ton gefaßt, neu eingesetzt; es wirkt, als ob die Steine „Augen" hätten -:
Geschichte, die zurückfällt an die Natur, wieder Materie wird, versteinerte
Zeit, die einzig in diesen „Augen" eine erloschene Erinnerung bewahrt.
Die monolithischen Trümmer sind „Leidensmonumente" 129 , Denkmale
einer ästhetischen Trauer, die an der Unheilsgeschichte sich abarbeitet, ohne
zu wissen, ob sie das Leiden wendet. In gewisser Weise haben diese erlo-
schenen Grabstelen tatsächlich nichts mehr zu sagen, es sei denn durch ihre
künstlichen Augen. Der erstarrte Sturz ist eine Anspielung auf die Ästhetik
des Erhabenen, auf das Pathos des Scheitern, dem C.D.Friedrichs Eismeer in
der Romantik die gültige Form gab. Aber „Großes stürzt in sich selbst zu-
sammen", hieß es schon bei dem römischen Dichter Lukan130. Daraus
sprach ein historischer Instinkt. Doch die Voraussetzungen für das Erhabene
sind mit der prometheischen Geschichte selbst verschwunden. Beuys insze-
niert den Abschied von der historischen Größe in einem Zwischen- und
Schattenreich, wo zwar die alten Mächte wie Säulen gestürzt sind, aber Natur
noch kaum zum Bewußtsein erwacht ist. Er verwehrt dem Betrachter nicht
die eschatologische Stimmung; sie wird genährt durch die widerständige und
düstere Materialität des Basalts. Hier wird das Projekt Moderne mit seinen
eigenen ästhetischen Mitteln verworfen.
An den Rändern dessen, was einst „Bedeutung" hieß, konfrontiert diese
Installation Geschichte und Natur, Pathos und Pietas, Hybris und Mnemo-
syne. Beuys arbeitet mit dem Kontrast zwischen Thema und Durchführung,
mit den Fragen, die im Kopf des Betrachters entstehen. Denn dessen Sinn-
bedürfnis stößt sich an diesen Steinen. Das Erhabene ist real auf den Boden
gebracht: Was bleibt, ist Erdenschwere. Die Geschichtskritik von Beuys zeigt
sich ganz materiell. Auf metaphorischer Ebene liegt Ikarus gleich mehrfach
gestürzt und versteinert am Boden. Archaisch-FIistorisches (etwa die Erinne-
rung an Stonehenge) und Natural-Amorphes spielen sich ihre Eigenschaften
zu. In diesen Denkmalen verwandelt sich Geschichte zurück in Natur, in
sprachlos-strengen Stein, der blinde Augen aufschlägt. Die Erinnerung, die
Beuys hier aktiviert, geht weit zurück - zu den Titanen, den Kindern der
Gottheiten Himmel und Erde. Der Mythos sah sie als Konkurrenz zu den
olympischen Göttern; Prometheus war einer von ihnen. Der Aufstand der
Titanen gegen Zeus, den zuerst Hesiod in seiner Theogonie beschrieb131, war
ein geheimes Lieblingsthema der Renaissance, speziell im Manierismus.
Noch das Moment titanischer Revolte verweist auf das Sakrale, gegen das es
angeht. Bei Beuys bleibt freilich dunkel, wer strafend eingriff und das Jahr-
hundert stürzte. Feststeht bewußtseinsgeschichtlich: „Der Titan zeigt eine

>» Zweite 27
130
Lukan, Pharsalia I, 81: „In se magna ruunt"
* Hesiod, Theogonie V. 629 - 725
131

Krise an"132. Die Krisis hatte um 1800, im Aufbruch prometheischer Ge-


schichte, schon Hölderlin wahrgenommen. In der Titanen-Hymne findet
sich — Hoffnung oder Warnung? — das Orakel: „Und es wurzelt vielesberei-
tend heilige Wildnis"133. Das Wilde deutet auf Heiliges hin: „Denn unter dem
Maße / des Rohen brauchet es, / damit das Reine sich kenne" 134 . Die Qua-
lität der Inszenierung von Beuys zeigt sich gerade an ihrer Ambivalenz des
Ästhetischen. Der Bruch mit dem gescheiterten Historismus, so radikal er ist,
bewahrt noch im Verfall Erinnerung; er rettet die verlorene Natur in den
Trümmern der Menschheitsgeschichte.
In der Kojote-Aktion erweist sich Beuys als Künsder einer Endzeit, der
einen neuen Bund zwischen Mensch und Natur stiften will. Dann ist er oft
mißverstanden worden; ihm schwebte — am Rand der Katastrophe — eine
neue Gesellschaft, doch jenseits bürgerlicher Begriffe vor135. Die
entsprechende Denkfigur findet sich im Markus-Evangelium: „Er wohnte
bei den wilden Tieren, und Engel dienten ihm" (Markus 1, 13). Die Wüste,
von der die Bibel spricht, mag zeichenhaft für die ökologische Krisis der
Gegenwart stehen - für die Verwüstung der Erde, die der neue Prometheus
durch seine Herrschaftstechnik selbst verschuldet hat. Ohne Beuys mysti-
fizieren zu wollen: vielleicht hat ihn bei alledem Klees Engel der Geschichte
inspiriert. So offenbart gerade sein Zusammenwohnen mit dem Kojoten das
genuin religiöse Moment seiner Kunst. Inmitten der Verödung der
Zivilisation mutet sie uns das Heilige zu.

152
C.F.von Weizsäcker, Wahrnehmung der Neuzeit (München - Wien 1983) 32
'» Hölderlin, Die Titanen V. 22 (Gedichte 391)
,M
Ebd. V. 64 - 66, 392
135
Vgl. Ch. Scherrmann, Die Antizipation der Katastrophe -Joseph Beuys, in: Merkur 40
(1986)879-887
5. Kapitel
Die Sphinx Natur oder Auf Rätselsuche

Man suche nur nichts hinter den Phänomenen:


sie selbst sind die Lehre.

Goethe, Wanderjahre

Die Hypostase „Natur" wandelt seit den Tagen der Orphiker und Heraklits
durch die abendländische Denkgeschichte — sei es als Göttin, als kosmische
Ordnungshüterin oder als Große Mutter. Doch ihre Wege sind oft wunder-
bar. Seit Descartes philosophisch in die Verfügung des Menschen gestellt,
der sich zu ihrem „maitre et possesseur" aufschwang, seit der Industriellen
Revolution zum Gegenstand der Ausbeutung geworden, Objekt des prome-
theischen Begehrens, das sie zum Dienste zwang, ja vergewaltigte, scheint
Natur heute ihrerseits in die Geschichte einzugreifen. Sie tut es, indem sie
uns historische Rechnungen präsentiert. Allzu lange haben wir, mit den
Worten von Erwin Chargaff, einen vernichtenden Kolonialkrieg gegen die
Natur geführt — unter dem Kommando der exakten Naturwissenschaften -
und darin fragwürdige Siege errungen1. Die neuzeitliche Weltbemächtigung,
geleitet vom Logos des Entdeckens und Eroberns, hat ihre gewaltsamen
Spuren unübersehbar über den Erdball gezogen. Als hätten die Menschen
vergessen, daß sie selbst Natur sind — woran schon Nietzsche sein Jahrhun-
dert mahnte 2 .
Die Technik ist geschichtsmächtig geworden. Schier unwiderstehliche
Instrumente hat sich Prometheus, der Gründerheros der Moderne, ausge-
dacht, um die Geschichte nach seinem Willen zu formen. Freilich: die Ge-
schichte, die er als Meister der Praxis auf hartem Wege herstellt, zerstört er
nach dem Gesetz permanenter Veränderung wieder; Innovation kommt
ohne Zerstörung nicht aus. Der Wille zur Herrschaft, in dessen Zeichen m-
strumentelle Vernunft seit der Aufklärung Welt zu bearbeiten sucht, hat der
Natur den Stempel der Sklavin aufgedrückt. Doch beginnt sie inzwischen zu
revoltieren, bis in unsere Alltagserfahrungen und unsere Träume hinein.
Wahrnehmung der Natur ist unverstellt immer auch menschliche Selbst-
wahrnehmung; als solche stößt sie heute auf Krisensymptome, die unmittel-
bar politisch-gesellschaftliche Folgen nach sich ziehen. So wachsen die Zwei-
fel am Kult der prometheischen Technik, die Zweifel am Sinn der logozen-

1
Chargaff 256
2
Nietzsche, Menschliches, allzu Menschliches II § 327 (KSA 2, 696)
133

tnsch verbrämten Verwüstung der Erde. Ein „weicher Weg", ein schonender
Umgang mit Natur wird proklamiert. Natur soll nicht länger Objekt, gar
bloße Ware sein, weil sie auch Schöpfung ist und Lebenswelt — erfahrbar am
menschlichen Leib.
Die ökologischen Bewegungen am Ausgang des 20. Jahrhunderts gehö-
ren in jene unerwartete Umwertung aller Werte, die aus dem Schöße der
Produktionsgesellschaft selbst hervorging. Ihnen liegt eine gewisse Mythisie-
rung der Natur zugrunde, die einhergeht mit einer Wiederentdeckung der
lange mißachteten religiös-ethischen Dimension. In Georg Pichts ideali-
stischer Sprache: „Die Schändung der Landschaft und aller Elemente ist von
der Schändung der Tempel und Götterbilder nicht zu trennen" 3 . Die In-
thronisation von Natur als einer Art höchster Instanz erfolgt zu einer Zeit,
da universale Geschichtstheorien, allen voran der Marxismus, ihre Legitima-
tionskraft rapide verloren. Ihre totalitären Lebens- und Glücksentwürfe sind
durch Realgeschichte durchgehend entwertet. Einen ähnlichen Kreditverlust
erlebt die „Großgeschichte" (A. Gehlen) samt den entsprechenden antagoni-
stischen Ideologien; der Kalte Krieg und die Herrschaft der „Großräume"
(C. Schmitt) gehörten darin zusammen.
Der Glaube an den Fortschritt, einstmals geschichtsphilosophisch be-
gründet, ist brüchig geworden — gealtert wie die Moderne, die Kritiker wie
J.F. Lyotard und G. Vattimo bereits als „historisch" empfinden. So deutet
am Ende des prometheischen Zeitalters vieles auf einen Paradigmenwechsel
hin. Wir sind nicht mehr gehalten, mit Hegel Natur als bloße „Äußerlichkeit"
zu erfassen4, sondern eher mit Nietzsche und Freud als verdrängte Vitalität,
als das Es in uns zu bedenken. Der Psychologe Nietzsche hatte den Men-
schen an die Potenz Natur in sich erinnert; er tat es als freier Geist, der im-
stande ist, sein Ego in Meer, Wald, Pflanze und Gebirge zu entdecken 5 . Das
ausgehende 19. Jahrhundert schlug seine Warnung noch in den Wind. Erst
ein Jahrhundert später schreckt die Verbrauchsgesellschaft vor dem Abfall
zurück, den der entfesselte Prometheus produziert. Lebt er doch nicht nur
von technischer Innovation, sondern auch vom Verbrauch an Geschichte,
wie Ernst Jünger in seinem Essayroman B.umeswil (1977) schrieb: „Der Schutt
wird nicht mehr bewältigt wie in den Kulturen; er überwuchert die Bildun-
gen. (...) So lebt man auf und von den Deponien - zwischen Schutthalden,
die man ausbeutet" 6 .
Das Pathos des Bewahrens ist historisch ein Spätphänomen. Immer
bleibt es hinter dem Logos zurück, der das Machbare für das Vernünftige
hält; es kann dessen gewaltsame Spuren nur mildern. Erst heute breitet die
Einsicht sich aus, daß Mensch und Natur keineswegs nur metaphorisch auf

3
G.Picht, Kunst und Mythos (Stuttgart 1986) 488
4
Hegel, Wissenschaft der Logik, in: Werke, ed. Glockner, IX (Stuttgart 1958) 49
5
Nietzsche, Menschliches, allzu Menschliches II § 223 (KSA 2,478)
6
Jünger, Eumeswil 371
134

Leben und Tod verbunden sind. Ausgerechnet ein Dichter hat dieses Ver-
hältnis am klarsten erfaßt. Dem italienischen Lyriker Giorgio Caproni genügt
dazu ein Vierzeiler mit dem böse-ironischen Titel Giubilo (Frohsinn):

Fischiettava, il fucile
in spalla, spensierato.
Non pensare, lui assassino,
d'essere l'assassinato.

Er pfiff vor sich hin, die Flinte


geschultert jetzt, sorgenfrei.
Es fiel ihm nicht ein, dem Mörder,
daß er der Ermordete sei.7

Die Vertauschung von Täter und Opfer gehört zur Identitätskrise des Genus
humanuni am Ausgang der Neuzeit. Das Motiv des „franco cacciatore", des
„wilden Jägers", bannt die tödliche Mißachtung der Natur, die hier zum
Freiwild wurde, in eine rätselhaft durchsichtige Figur. Caproni hat dann die
Signatur des Zeitalters umrissen: Die Große Jagd entspringt einer Verblen-
dung; aus Jägern werden Opfer. Der Paradigmenwechsel von der Instanz
Geschichte zur Natur hin - gekoppelt mit einem Wechsel des Sinnhorizonts
- bahnt sich auch in solchen politischen Einblicken an. Im mythologischen
Sprachspiel stellt er sich als Übertragung der Herrschaft von Prometheus auf
Demeter dar.

Nun gibt es im Menschen ein Sinn- wie ein Rätselbedürfnis. Beide korre-
spondieren miteinander, legt man die Hermeneutik des Seins als ein aus Ge-
schichtlichkeit entstehendes Fragen zugrunde. Das Sinnbedürfnis ist Deu-
tungsbedürfnis angesichts des Rätsels. Natur und Geschichte, in die der
Mensch „verstrickt" (W. Schapp) ist, halten genug davon bereit. So ent-
sprang die Geschichtsphilosophie der konkreten Wissens- und Sinnproble-
matik der Aufklärung: Sie kompensierte die Bewußtseinskrise, die aus dem
Zerfall des theologischen Deutungssystems, aus dem Theodizeeproblem, aus
der Erfahrung der Welt als „Labyrinth" hervorging8. Das Sinnkonstrukt Ge-
schichtsphilosophie, dessen Programm Freiheit, Humanität und Fortschritt
hieß, leistete für 150 Jahre die erwünschten Dienste. Erst Nietzsche wirkte
auch hier als der große Zertrümmerer. Es scheint, als ob das Sinnbedürfnis -
nach den historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts - von der Instanz
Geschichte kaum mehr befriedigt wird. Die Inthronisierung der Großen
7
Caproni 129
8
Dazu HD. Rauh, Im Labyrinth der Geschichte. Die Sinnfrage von der Aufklärung
zu Nietzsche (München 1990) 85ff.
135

Natur, der man nun Sinnstiftung zutraut, könnte als neue Mythologie diesen
Verlust kompensieren. An der Hand der Natur begibt sich der Mensch auf
seine Ratsei- und Sinnsuche.
Auch dieser Prozeß hat seine Vorgeschichte. Bereits der Spinozismus
mit seiner Naturverehrung war ein wichtiges Ferment der Aufklärung gewe-
sen — um 1780 allerdings noch mit dem Ruch des Häretischen, Konspirati-
ven umgeben, gerade durch die Vermischung von Vernunft und Mystik. Die
Wildnis als heilig und erhaben wahrzunehmen, hat in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts viel mit spinozistischer Gleichsetzung von Gott und Natur
zu tun. Goethes Ganymed sehnt sich derart hinauf in die Wolken; und noch
in Goethes Briefen aus der Schweiz von 1779 schwingt das In-Wolken-Sein
als heiliger Schauer nach: „die ewige innerliche Kraft der Natur fühlt man
sich ahnungsvoll durch jede Nerve bewegen"9. Das parareligiöse Moment,
das sich mit der „Ahnung" begnügt, wird gesteigert durch neue Empfind-
samkeit. Goethes Wertschätzung des Spinoza hatte ihre poetischen, aber
auch ethischen Implikationen; bei frommen Gemütern trug sie ihm den
Vorwurf des Atheismus ein. Von Goethe inspiriert, hat Christoph Tobler im
Tiefurter Journal 1783 sein berühmtes Fragment über Natur veröffentlicht.
Darin heißt es mit antikisierendem Pathos: „Natur! Wir sind von ihr umge-
ben und umschlungen — unvermögend aus ihr herauszutreten, und unver-
mögend tiefer in sie hineinzukommen. (...) Wir leben mitten in ihr und sind
ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis
nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie.
Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts
aus Individuen. Sie baut immer und zerstört immer und ihre Werkstätte ist
unzugänglich"10.
Zur Aufklärung und ihrem Willen zum Wissen ist dies der Gegen-
mythos. Sein Zentrum heißt: Geheimnis. Toblers Apotheose der Natur, von
Daseinsvertrauen geleitet, ist ein Rettungsversuch jenes kosmischen Ord-
nungsmythos, auf den die Antike ihr Weltbild und ihre Ästhetik gegründet
hat. Aufklärerisch daran ist die Tendenz, in der Natur einen eigenen allum-
fassenden Sinn zu entdecken, einen schöpferischen Drang, der den Men-
schen ewig zum Lichte spornt. In diesem Naturmythos samt seiner kulturel-
len Prägekraft steckt Religion, freilich weltliche, ohne den Absolutheits-
anspruch, den Offenbarungsreligion erheben muß. Goethe hat dem Mythos
der großen Natur in einem späten Achtzeiler gehuldigt:

Wenn im Unendlichen dasselbe


Sich wiederholend ewig fließt,
Das tausendfältige Gewölbe
Sich kräftig ineinander schließt,

9
Goethe aus Leukerbad am 9.11.1779, in: Münchner Ausgabe II.2 (1987) 625
10
Ebd. 477
136

Strömt Lebenslust aus allen Dingen,


Dem kleinsten wie dem größten Stern,
Und alles Drängen, alles Ringen
Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.11

Ein Text von grandioser Einfachheit, der die kosmische Allmacht mit souve-
räner Demut feiert. Die Architekturmetapher des Gewölbes erfaßt Natur als
Kunstwerk und mildert das Unfaßbare des Unendlichen im anschaulichen
Bild. Der unbewegte Beweger ist der Garant dieser Ordnung, die eine ästhe-
tische ist, ganz im Sinne der Griechen. Von fern spielt der Gedanken eines
endlos fließenden, endlos überströmenden Brunnens herein - Geheimnis,
doch kein Rätsel, noch weniger ein Dogma.
Die Resignation vor dem Geheimnis von Natur und Menschenseele hat
Goethe auf der Heimfahrt von Marienbad im August 1823 gekostet. Daß
sich ihm versagte, was die Welt im Innersten zusammenhält, brachte ihn der
Verzweiflung nahe. Goethe kleidet den Schock in die klassische Einsamkeits-
topik, in den bei ihm seltenen Gestus der Abwehr:

Verlaßt mich hier, getreue Weggenossen!


Laßt mich allein am Fels, in Moor und Moos!12

Der Fels, an den der Olympier sich wider alles Erwarten gefesselt sieht, ist
der des bestraften Prometheus — ein Rollentausch, der dem jupiterhaft sich
Stilisierenden schwerfallen mußte. Doch auch die Götter, zurückgewiesen,
erfahren das Rätsel der Liebe. Das Moor, weniger Ossians Heide als mephi-
stophelische Landschaft, Verweis auf Einöde, Dürre, Verneinung, wird hier
zum Inbild der antifaustischen Wildnis, in der das Streben abstirbt, der Wan-
derer versinkt; unheilige, unholde Wildnis dies Moor. Vergebens Fausts Vi-
sion, es domestizieren zu können. Was dem von seinen Göttern Enttäusch-
ten bleibt, ist Kultivierung der Verzweiflung im Abschied von Erkenntnis:

Betrachtet, forscht, die Einzelheiten sammelt,


Naturgeheimnis werde nachgestammelt.13

Das naive, unmittelbare Wort, das einst Natur herbeirief, ist mit der Antike
verlorengegangen. Der sentimentalische, weil aufgeklärte Betrachter sieht
sich — mit Goethes Wort — bedroht von der „millionenfachen Hydra der
Empirie" 14 . Die Moderne, zur Abstraktion verurteilt, in Schillers Sinn zum
„Idealisieren", vermag Natur nur noch vermittelt - als Kunstprodukt - zu
fassen. Die Göttin Natur entzieht sich dem sinnlichen Zugriff, verhüllt sich

" Goethe HA 1,367


12
Ebd. 385
13
Ebd.
'« Goethe an Schiller am 16.8.1797 (Briefwechsel 338)
137

unter dem Gewand der Phänomene. Diesen Punkt hat gerade der Theoreti
ker Schiller zum Ausgangspunkt seiner Ästhetik gemacht. In der Vorrede zur
Braut von Messina von 1803 leugnet er schroff jede Möglichkeit naiver Natur
nachahmung: „Die Natur selbst ist nur eine Idee des Geistes, die nie in die
Sinne fällt. Unter der Decke der Erscheinungen liegt sie, aber sie selbst
kommt niemals zur Erscheinung. Bloß der Kunst des Ideals ist es verliehen,
oder vielmehr, es ist ihr aufgegeben, diesen Geist des Alls zu ergreifen und in
einer körperlichen Form zu binden" 15 .
Damit hat Schüler bewußtseinsgeschichtlich die Differenz zur Antike
bestimmt, auch da, wo er selbst als Tragiker antiker Form sich nähert. So
wird Natur im 19. Jahrhundert auch für die Künsder zu einem Mythos, der
dem Kopf entspringt, gezeugt von einem Sinnbedürfnis. Deshalb begeben
sich Dichter und Maler nun auf die Rätselsuche und trachten der Idee ein
Bildnis abzuringen, Natur zum „Erscheinen" zu zwingen.

Seit dem Traditionsbruch, der politisch mit der Französischen Revolution,


ästhetisch mit Schiller und der Romantik zu markieren ist, häufen sich die
Signale für die Entstehung eines spezifisch neuzeitlichen Mythos der Großen
Natur. Er knüpft nicht mehr an die Antike an, sondern hat seine eigene Le
gitimität kraft bürgerlicher Rationalität, welche ihre geschichtliche Gegenwart
als „Prosa" empfindet und gerade deshalb nach sinnstiftenden Mächten Aus
schau hält. Dies in einer Phase, da die Geschichte sich als Wissenschaft und
philosophischer Zweig eigenen Rechts etabliert und die Naturwissenschaft
sich von der klassischen „Naturgeschichte" wirkungsvoll emanzipiert16. Na
tur erscheint dem Subjekt, das von der Fortschrittsgeschichte ermüdet und
enttäuscht ist (Kronzeugen dafür sind Schopenhauer, Stifter und Nietzsche),
als Gegenmythos zum schlechten Bestehenden, zur versteinernden Lebens
welt, zum hyänenhaften Eifer des Historismus, den nur noch Totes anzieht.
So kommt ein latent gegenwartskritischer Zug in die Naturverehrung. Dem
Optimismus der Geschichtsphilosophie, die unter der Flagge des Fortschritts
die Universalgeschichte über Kontinente und Weltmeere schickt, antwortet
ein subtiler Pessimismus. Bei Geistern wie Leopardi, Schopenhauer und J.
Burckhardt verkörpert er durchaus ein „Stadium der Reife" (L. Marcuse).
Zugleich stellt mythisierte Natur dem Geschichtsprozeß, dessen Beschleuni
gung vielfache Ängste auslöst, das Erlebnis der Dauer, des ewigen Augen
blicks und der „Ekstase" entgegen. In diesem Sinne ist Nietzsche, soweit er
Prophet der Natur ist, durchaus kein Revolutionär.

15
Schüler SW II, 818
16
Dazu W. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte (Frankfurt/M. 1978)
138

Kult der Natur ist eine Flucht aus der Zeit, die Mensch und Geschichte
verzehrt, ohne sich jemals zu sättigen. Nietzsches heroische Idyllen verbin-
den das Erinnern an den philosophischen Garten Epikurs mit dem malen-
schen Pathos des Zeitgenossen Böcklin. Dem antikisierenden Vanitasbild
des Klassikers Poussin setzt Nietzsches „Et in Arcadia ego" die Goethesche
Lesart aus dem Motto der Italienischen Reise entgegen - die stolze Selbstbe-
hauptung im Lobpreis des Diesseits und seiner Herrlichkeiten. Die parareli-
giösen Töne sind unüberhörbar: „Die gesamte Schönheit wirkte zum Schau-
dern und zur stummen Anbetung des Augenblicks ihrer Offenbarung; un-
willkürlich, wie als ob es nichts Natürlicheres gäbe, stellte man sich in diese
reine, scharfe Lichtwelt (die gar nichts Sehnendes, Unzufriedenes, Erwarten-
des, Vor- und Zurückblickendes hatte) griechische Heroen hinein; man
mußte wie Poussin und sein Schüler empfinden: heroisch zugleich und idyl-
lisch"17. Dennoch: Flucht aus der Zeit. Nietzsche notiert, daß die Uhr „gegen
halb sechs" zeigte, als er den milchgrünen See, die Berge und die Herde mit
den Bergamasker Hirten in der optimalen Beleuchtung sah. Flucht aus der
Zeit, die im Prozeß der Mechanisierung zum Produktions- und Kostenfaktor
wurde: Die Zeitstudien des amerikanischen Ingenieurs F. W. Taylor, der Ar-
beitsabläufe als Bewegungsstudien festhielt, beginnen bereits seit 188018.
Nietzsche selbst empfindet, erst Anfang dreißig Jahre alt, nach einem „stür-
mischen Morgen des Lebens" ein seltsames Ruheverlangen. In seiner Le-
bensmitte sucht er Natur als Milieu und Metapher für seinen Traum vom
Stillstand aller Dinge: „Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den großen
Pan schlafend; alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen Aus-
druck von Ewigkeit im Gesichte - so dünkt es ihm. Er will nichts, er sorgt
sich um nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt; es ist ein Tod mit
wachen Augen. Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und so weit er
sieht, ist alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begra-
ben"' 9 .
Diese Vision, die Unvereinbares als Leben im Tode zusammenbringt,
ihre Erkenntnis gleichsam im Licht begräbt, ist immer noch ein Echo Scho-
penhauers - im Böcklinschen Szenario dargeboten, ein Stück Naturmystik,
und eine Anwandlung von Todessehnsucht. Nichts wollen — nur schauen:
dieser Ausgang aus der Geschichte ereignet sich buchstäblich durch das
Auge. Mit solchen Sehnsuchtsblicken verschaffte sich Nietzsche die Kraft,
mit der er gegen die modernen Ideen zu Felde zog. Natur wird zum Heil-
mittel gegen die Krankheiten der Kultur, deren schleichendste der Nihilis-
mus ist. Immer wieder nimmt Nietzsche ein Bad in der Natur, um sich von
der Moderne zu kurieren.

17
Nietzsche, Menschliches, allzu Menschliches II, § 295 (KSA 2, 686f.)
18
Giedionl22ff.
19
Nietzsche, Menschliches II, § 308 (KSA 2, 690)
139

Naturnahes Dasein wurde im Zeitalter des heraufziehenden Industria-


lismus zum Motto aller Sozialutopien — von St. Simon bis zu den Schwär-
mern des Monte Verita. Heine hatte diesen Wohlfahrts- und Beglückungs-
utopien ein hedonistisches Element hinzugefügt. Auch Baudelaire träumte
sich, Dandy und Paria zugleich, in künstliche Paradiese hinein, in eine psy-
chedelische Revolution des Bewußtseins, in ein inneres Universum aus Far-
ben, Düften, Klängen. Sein Luxe, calme et volupte erträumt die Reise in ein
unschuldiges Land vegetativer Lust, wo die Geliebte Kind und Schwester ist;
dieser Traum hat noch Matisse inspiriert. Baudelaire taucht seine Vision in
ein warmes romantisches Abendlicht, das gleichermaßen von Claude Lorrain
und von Novalis geborgt scheint:

- Les soleils couchants


Revetent les champs,
Les canaux, la ville entiere,
D' hyacinthe et d'or;
Le monde s' endort
Dans une chaude lumiere.

La, tout n' est qu' ordre et beaute,


Luxe, calme et volupte.

- Da das Abendrot
überm Acker loht,
Ruhen Flut und Stadt im Flimmer
Blau - und golderhellt;
Es entschläft die Welt
In der warmen Strahlen Schimmer.

Dort wo Ebenmaß und Pracht,


Sinnenlust und Frieden lacht.20

Die Einladung zur Reise gilt einem Totenreich, das von melancholischem
Glanz illuminiert ist. In diesem sinkenden Feuer verglüht die Natur wie ein
Brandopfer. Einzig die mythische Trauer der Verse, Göttertrauer, versöhnt
mit diesem Opfer. Baudelaire nahm die Moderne, die ihn faszinierte und ab-
stieß, in ihrer Totalität hin: Seine Natur trägt die Stigmen der Geschichte
eingebrannt. Noch die Versklavung bewahrt das Erinnern an den verlorenen
Urzustand der Freiheit. Diesen Sündenfall schöpferisch auszutragen, ist die
Passion des Dichters. Baudelaire hängt seinem Traum von erlöster Natur im
steinernen Purgatorium von Paris nach.
Das irdische Paradies, ein Garten des Eros, wird zur zentralen Utopie
des 19Jahrhunderts. Sie kultiviert die Abkehr vom Historismus, der anderen

Baudelaire, Die Blumen des Bösen 158/159. Dt. von C.Fischer


140

Utopie des Säkulum. Nicht umsonst wird die Natur zum Inbegriff des Weib-
lichen: dem Mythos der Frau in der französischen Malerei von Ingres bis
Manet hat Werner Hofmann wichtige Seiten gewidmet21. Doch hat schon die
deutsche Romantik die Welt feminisiert. Bachofens den Historismus häre-
tisch umbiegende Einfühlung ins Mutterrecht ist darin ganz romantische
Wissenschaft. Von Novalis, Blake und Runge bis zu Marees, Gauguin und
Matisse führt die goldene Kette des Weiblichkeitsmythos die Grundmotive
des 19.Jahrhunderts herauf. Die vielen „Badenden" zelebrieren im Spiel
lichtüberfluteter, vom Wasser umspielter, im Grün posierender Körper na-
turnahes Dasein wie eine Liturgie der Sinnlichkeit. Seit Novalis wird der Mo-
tivkreis des Wassers zum weiblichen Element schlechthin. Die Hymnen an die
Nacht feiern die freigegebene Liebe, das Wogenspiel eines unendlichen Mee-
res. Die poetischen Seestücke von Baudelaire bis Hart Crane ertränken den
männlichen Weltüberdruß im ozeanischen Fluten. Die Frau wird zum Meer,
der Tod zur verjüngenden Flut, die Nacht zum Liebesschoß. In solchen Mo-
tiven, Metaphern und Träumen öffnen sich Ausgänge aus der Geschichte.
Der erschöpfte Historismus war schon in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts zur Sinnstiftung nicht mehr imstande. Schopenhauers ätzende
Geschichtsverachtung, Bachofens spätromantische Deutung des Mutter-
rechts, gespeist aus Hoffnung auf Versinnlichung des Daseins, und
Nietzsches Attacken gegen die antiquarische Dekoration des Lebens, sein
Aufruf, das Chaos in sich zu organisieren, ließen den Historismus als Ange-
legenheit verstaubter Schulmeisterei erscheinen. Mythisierung der Kunst, des
mütterlichen Prinzips, des dionysischen Lebens — dies war ihr Gegenpro-
gramm. Gerade im Herzen der Zivilisation erwächst das Verlangen nach je-
ner großen Natur, die alle Fülle und Wahrheit des Daseins in sich zu schlie-
ßen scheint. Es war Cezannes malerisches Programm, vor diesem Horizont
das Geheimnis zu malen, daß da Dinge sind. Cezanne ist der sperrige
Mystiker der nur als Farbe erscheinenden Formen; er bildet nichts ab, son-
dern erfindet die Landschaft aufs neue. Der spröde Liebhaber hat der Natur,
die es liebt, sich zu verbergen, in langen enttäuschungsreichen Dialogen
manches Geheimnis entlockt. Diese Arbeit war ein Liebeskampf. Das litera-
rische Gegenstück wäre Rilkes Bemühung um die poetische Apperzeption
der Dinge. Sein Gedicht Der Berg (1907) fühlt sich, auch vom Vorbild
Cezannes inspiriert, in das Ringen des Malers Hokusai ein, dessen 36
Ansichten des Fuji-san zu den berühmtesten Zeugnissen japanischer Naturdar-
stellung zählen. Rilkes Berg spricht vom Sich-Entziehen des Objekts, das
vom Künstler ein Selbstopfer verlangt, bevor es sich hingibt:

Sechsunddreißig Mal und hundert Mal


hat der Maler jenen Berg geschrieben,
weggerissen, wieder hingetneben

2« Hofmann 283 ff.


141

(sechsunddreißig Mal und hundert Mal)

von Gestalt gesteigert zu Gestalt,


teilnahmlos und weit und ohne Meinung -,
um auf einmal wissend, wie Erscheinung,
sich zu heben hinter jedem Spalt.22

Dem aufmerksamen Leser entgeht nicht, daß das Gedicht einen Objekt-
wechsel vornimmt. Während zu Anfang der Berg noch ganz Gegenstand ist,
den der Maler mit seiner Technik zu bewältigen vermeint, erhebt sich am
Ende der Berg selbst als Subjekt des Gedichts, göttlich, weil allgegenwärtig,
ungreifbar, einzig in seinem Begehrtsein vorhanden. Merkwürdig bleibt, wie
Rilke im Frühling der Psychoanalyse (der er sich selbst freilich nicht auslie-
fern wollte) das Obsessive dieser Annäherung betont. Der Maler als uner-
sättlicher Voyeur des Göttlichen, der Berg als Gott, als Monument des Wis-
sens, ein Sinai, der selbst Gesetze gibt, Phantom des Männlichen, im endlo-
sen Begehren nach der Wahrheit, von der nichts bleibt als sechsunddreißig
Bilder - es sind Zeugnisse eines produktiven Wahns. Doch hat er fortgewirkt
und selbst die Philosophie inspiriert. Die Wahrheit der Natur ist die Wahr-
heit der Abwesenden, im Sprachgebrauch Lacans eines Phantasma, in das
hinein Sinn projiziert wird. Auch Merleau-Ponty, der Phanomenologe der
Wahrnehmung, stellt um die Mitte des 20Jahrhunderts fest, daß die Natur
ein rätselhafter Gegenstand ist, ein Gegenstand, der eigentlich gar keiner ist —
weil Natur nichts ist, was uns vorliegt, sondern das, was uns trägt. Die Be-
zeichnung „Rätsel" hüllt die Entblößte in eine Würdeformel ein; zugleich ka-
schiert sie den Glaubensverlust des Betrachters, der Schöpfung nicht mehr
als „Körper" sieht; denn Rätsel ist das Gegenteil von Offenbarung. Natur,
die den Romantikern bis in der Sprache der Träume präsent war, ist kraft des
Willens zum Wissen, kraft der Entschleierung die Unsichtbare.
Präsent aber ist die Geschichte, seit der Ära des Imperialismus eng mit
der Technik, vor allem der militärischen verbündet, gewappnet mit Herr-
schafts- und Rassetheorien, gerüstet mit Eroberungsrhetorik. Gegen die
Große Natur die Große Politik. Auch der Kampf zwischen den Sinnkon-
strukten Geschichte und Natur gehört zu jenem Geisterkrieg, den Nietzsche
in Ecce Homo prophezeite23. In der Romantik war dieser Kampf noch unent-
schieden. C. D. Friedrich, einer der großen religiösen Maler des 19. Jahrhun-
derts, versteht seine Landschaften noch als Chiffern der Transzendenz.
Doch das Politisch-Historische spielt schon in seine Ruinensymbolik hinein.
Verfallene Kirchen und Klöster, im Schnee versinkende Grabmäler, Hünen-
gräber unter kahlen Eichen bezeichnen ein Pathos der Naturwahrnehmung,
das die historischen Relikte bewußt zu Trägern des „Andenkens" macht.

Rilke, Gedichte I, 638f. Den Hinweis auf Hokusai gab mir Ulrich Fülleborn (Erlangen)
Nietzsche, Ecce Homo. Warum ich ein Schicksal bin § 1 (KSA 6, 366)
142

Friedrichs Französischer Chasseur im Walde (1813/14), verloren vor der Kulisse


dunkler Fichten, die ihn verschlingen wird, zeigt das Geschichtswesen
Mensch noch einer Natur unterworfen, die als numinos präsentiert wird.
Aber die technisch beschleunigte, mechanisierte Geschichte gewinnt im
Zeitalter Cezannes die Oberhand über Natur. Als Herrschaftsträgerin gibt sie
sich einen gepanzerten Körper, wird militant in Denkmälern der Freiheit, in
Allegorien der erwachten Nationen: die gnadenlosen Engel mit Helm und
Schwert, in appellativer, befehlender Geste, Feindbilder aufrufend, gehören
zu ihrer Ikonographie. Zugleich tabuisiert das viktorianische Zeitalter den
Körper der Natur, wertet ihn als unzivilisiert, als unmoralisch ab, gibt ihn
pädagogischen Dressuren preis.

Der im 19. Jahrhundert sich kompensatorisch herausbildende Mythos Natur


ist durchaus eine Mythologie der Vernunft, wie das älteste Systemprogramm
des Idealismus sie verkündete. Dieses wollte der an Experimenten laborie-
renden Physik ausdrücklich Flügel geben. Der Wunsch entspringt einem Ab-
solutismus der Freiheit, der das Subjekt als Schöpfergeist in die Mitte der
Welt setzt: „Mit dem freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze
Welt — aus dem Nichts hervor - die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung
aus Nichts" 24 . Solch naturfernen Ursprungs ist der Naturmythos, der seit
Hölderlin und den Romantikern Ideen sinnlich machen möchte. Unter
Ideendiktat wird das Auge erzogen, die Weltwahrnehmung abgerichtet, das
freigesetzte Gefühl an die Erscheinungen geheftet. Naturmystik als luxuriöse
Frucht des bürgerlichen Subjektivismus, als erdabgewandte Seite der Ratio-
nalität; eine wirkliche Revolution des Bewußtseins, allen politischen Revolu-
tionen voraus. Gegenläufig zu den Sezierungen und Taxationen der Wissen-
schaft wird Natur zur parareligiösen Instanz, zur verschleierten Allheit, die
unter dem Namen „Monismus" dem Bedürfnis nach einem ominösen
„Seinsgrund" Genüge tut. Ernst Haeckels Welträtsel'von 1899, ein Buch mit
Massenauflage, setzen ungescheut ein Geheimnis voraus, das zu lösen nur
eine Frage der Zeit sei. Diesem Als-Ob wird zwanzig Jahre später Wittgen-
stein in seinem Tractatus, ausgerechnet in Ostwalds Annalen der
phie, die schroffe Absage erteilen: „Die Lösung des Rätsels des Lebens in
Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit. (Nicht Probleme der
Naturwissenschaft sind ja zu lösen.)"25 Die erkenntnistheoretische Naivität
positivistischen Forschens wird hier zu Grabe getragen. In Wittgensteins
Weltmodell von 1918 ist Sprache noch Abbild der Welt und ihres Ganzen.
Deshalb die strenge Grenzziehung zwischen Sinn und Unsinn: „Das Rätsel

24
Hölderlin GSA IV, 297
25
Wittgenstein, Tractatus 6.4312 (W 1, 84)
143

gibt es nicht. Wenn sich eine Frage überhaupt stellen läßt, so kann sie auch
beantwortet werden"26. Was an Natur und Mensch überhaupt mystisch sein
kann, so das neue ketzerische Dogma, läßt sich nicht aussprechen, allenfalls
zeigen. Damit schloß Wittgenstein, vom Ingenieur zum Mystiker geworden,
ein neues Kapitel der Philosophie auf. Ihre Gründungsakte ist die strikte
Trennung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft. Nicht irgendwelche
Lehren über Naturgeschehen, sondern das Klarwerden von Sätzen sind das
Ziel. Naturwissenschaft verbleibt im bloß Denkbaren, sie vermag keine
Grenze zu ziehen. Denn Wittgenstein will Distinktion: „Die Philosophie be-
grenzt das bestreitbare Gebiet der Naturwissenschaft"27.
Mit dem konventionellen Forschen, mit dem Gesetz von Ursache und
Wirkung gibt Wittgenstein auch ein bestimmtes Telos der Wissenschaft auf.
An der galizischen Front notiert er am 2. September 1916, während der Ar-
beit am Tractatus, in sein Tagebuch: „Was geht mich die Geschichte an?
Meine Welt ist die erste und einzige! Ich will berichten, wie ich die Welt vor-
fand"28. Das denkende Subjekt sucht nach dem Ausgang aus der Geschichte
und ihrer Körperwelt. Naturwissenschaft als Instrument der eurozentrischen
Geschichte, die seit 1914 sichtbar sich selbst zerstörte, ist für Wittgenstein
der Antipode aller Philosophie. Der Krieg als aggressiver Körper der Ge-
schichte - so erfuhr ihn Wittgenstein am eigenen Leibe. Was dem Autor, da-
mals siebenundzwanzig Jahre alt, vorschwebt, ist nichts geringeres als ein
philosophisches Weltgericht. Kurz nach dem zweiten Kriege erzürnt ihn
immer noch das dumme, verkehrte Geschwätz über Ursache und Wirkung in
Büchern über Geschichte29. Seine Hoffnung, daß Wissenschaft und Indu-
strie, welche die Kriege entscheiden, nun bald zusammenbrechen, bleibt eine
Illusion; ja er fürchtet mit Recht, daß beide Mächte „mit unendlichem
Jammer die Welt einigen werden"30. Hier erweist sich der Mystiker als er-
staunlich hellsichtiger Zeitgenosse, als unvermuteter Kritiker des amerika-
nischen Traums der „One World". Aber die europäische Kultur ist schon
seit 1918 zertrümmert - ein Aschenhaufen, darüber Geister schweben31. Es
sind, in der Erinnerung an Goethe, zugleich die Naturgeister.
Das 19. Jahrhundert, von inneren Zweifeln am Sinn der Geschichte ge-
plagt, der Erosion des Glaubens preisgegeben, wollte sich die Ahnung einer
verborgenen Ordnung, das Rätsel der Natur nicht nehmen lassen. Die Ge-
genstimmen sind selten und erlesen. Der im Westen fast unbekannt geblie-
bene Fjodor Tjutschew, einer der größten russischen Lyriker, ein würdiger
Nachfolger Puschkins, hat diese Rätselsuche in einem späten Vierzeiler von

26
Wittgenstein, Tractatus 6.5
27
Wittgenstein, Tractatus 4.113
28
Wittgenstein W 1,177
29
Wittgenstein W 8, 537
30
Ebd. 539
31
Ebd. 454f.
144

1869 als einen Wahn entlarvt. Der „apollinisch" orientierte Dichter, der
lange in München gelebt hatte, wo er mit Heine und Schelling Bekanntschaft
schloß, entsagte im Alter aller metaphysischen Spekulation, die ihn an
Goethes Faust und bei den deutschen Romantikern einst angezogen hatte.
Natur ist die Sphinx ohne Rätsel, die den vergeblich forschenden Odipus
gerade durch die Sinnlosigkeit ihrer Orakel blendet:

üpHpcna - CcpHHKc. H TeM oHa BepHeft


CBOHM HcxycoM ry6HT HejioBexa,
HTO MOHCeT CTaTbCH, HHKaKOH
3araflKn HeT H He 6MJIO y Heft.

Natur ist Sphinx - dadurch mit Macht begabt,


Verderb uns desto sichrer zu bereiten,
Wenn sich herausstellt, daß seit Ewigkeiten
Sie gar kein Rätsel hat und's nie gehabt.32

Pessimistischer wurde diese Botschaft im 19. Jahrhundert kaum verkündet -


nicht einmal in Tjutschews berühmtem Gedicht Tag und Nacht (1839), das
sich auf den mephistophelischen Standpunkt stellt, im stolzen Licht nur Ab-
fall von der Mutter Nacht zu sehen:

Ha MHP TaHHCTBeHHLift ayxöß,


Hafl 3T0H 6e3ÄHOÄ 6e3MMHHHOÄ,
IlOKpOB HaßpOUieH 3JiaT0TKaHblft
BwcoKoft BOJieio 6oroB.

Ein Teppich ist, von Gold gewirkt,


Der nach der Götter hohem Willen
Das Geisterreich uns soll verhüllen,
Den dunklen Abgrund uns verbirgt.33

Der Abgrund reicht hinab bis in das Chaos, das Hesiod in seiner Theogome als
Anfang der Dinge benannt hatte; Chaos und Nacht sind dort die Ur-
sprungsmächte. Tjutschews poetischer Nihilismus, obschon in marmorne
Verse gefaßt, macht sich den mit Novalis einsetzenden Paradigmenwechsel
zu eigen - vom Tage zur Nacht hin, von der Aufklärung zum Schauer des
Abgrunds. Doch diese Sphinx Natur, die den männlichen Logos anspringt
wie die Löwenfrau auf dem Gemälde von Moreau den Ödipus, stellt keine
Fragen mehr. Ihre Wildheit ist bloße Attitüde, eine metaphysische Frivolität.

Etkind 146. Dt. von R.D. Keil. Russischer Originaltext in: FI. Tjutcev, Lirika I (Moskva
1966) 220. Für diesen Hinweis danke ich Prof. Rolf-Dieter Kluge (Tübingen).
Etkind 143. Dt. von Ludolf Müller. Originaltext bei Borowsky/Müller 160
145

Männliches Sinnbedürfnis und Resignation vor dem Rätsel verdichten sich in


dieser Sphinx zu einem unauflösbaren Syndrom. Folgerichtig präsentiert
Tjutschew, der „homme aux femmes", seinem Jahrhundert die Natur als
„femme fatale" : ihr Schrecken ist ihre Rätsellosigkeit.
Tjutschews Einfall ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts singu-
lär. Nur von Heine gibt es ein thematisch verwandtes Gedicht aus dem Um-
kreis des Lazarus-Themas. Aber Heines Sphinx illustriert vor allem eine in-
tellektuell verbrämte Enttäuschungsgeschichte.

Todesdunkel ist das Rätsel


Dieser wahren Sphinx. Es hatte
Kein so schweres zu erraten
Frau Jokastens Sohn und Gatte.

Doch zum Glücke kennt sein eignes


Rätsel nicht das Frauenzimmer;
Sprach es aus das Lösungswort,
Fiele diese Welt in Trümmer.34

Die Verse changieren gekonnt zwischen gespieltem Entsetzen und gebro-


chenem Männlichkeitswahn. Sie beklagen die Entmythologisierung, an der
sie selbst mitgewirkt haben. Die Frau, so Heines ironische Metaphysik, weiß
ihr eigenes Rätsel nicht - zum Glück für die Welt. Doch die eigentliche
Klage des Ödipus-Lazarus ist, daß die Frau, die sich selbst nicht versteht, ihn
damit auch zum unverstandenen Mann macht. Heine war gegen Ende seiner
Tage des romantischen Versteckspiels müde, das mit dem Unnennbaren be-
tneben wurde. Sein Imperativ „Laß die heil'gen Parabolen" aus demselben
Zyklus Zum Lazarus (1853/54) nimmt Nietzsches Entzauberungsduktus
vorweg und sucht die Geschichte eines langwierigen Irrtums zu beenden:

Laß die heil'gen Parabolen,


Laß die frommen Hypothesen -
Suche die verdammten Fragen
Ohne Umschweif uns zu lösen.35

Die verdammten Fragen zu lösen, ist schon zu Heines Zeiten unmöglich ge-
worden. Die Deutungshemmung ist nicht mehr romantischer Topos vor
dem Geheimnishaften, sondern wird vom Unglauben diktiert. Mit dem
Rätsel ist auch der Sinn verschwunden.

34
Heine, Zum Lazarus IX, in: Werke und Briefe, hrsg. von H.Kaufmann,
II (Berlin 1961) 214f.
35
Ebd. 209
146

Das „Rätsel Natur" begleitet als unerschöpfliches Sprachspiel das


19.Jahrhundert. Vergessen ist Goethes Warnung aus den Wanderjahren: „Man
suche nur nichts hinter den Phänomenen: Sie selbst sind die Lehre" 36 . Zwar
wollte auch Wittgenstein das Rätsel aus dieser Welt verbannen; weder als
Phänomen noch sprachlogisch ließ er es gelten. Doch nach dem Zusammen-
bruch aller bürgerlichen Sinnkonstruktionen setzte er in seinem Spätwerk
einen wahrhaft mystischen Begriff dafür ein. Sein Sprachspiel für das Ge-
heimnis, das sich nur zeigt, doch nicht benennen läßt, lautet wieder „Wunder
der Natur" 37 . So 1947 in den Vermischten Bemerkungen aus seinem Nachlaß.
Wittgensteins Schauen auf die sich öffnende Blüte ist die bisher letzte Van-
ante des philosophischen Staunens.
Rätselangst, Chaosangst sind unterschwellige Motive bei der Herausbil-
dung der Naturwissenschaften im positivistischen Zeitalter. Das Bild der
Frau und das Bild der Natur, beide biologistisch gesehen, überlagern sich.
Dem Willen zur Macht, der auf Natur sich richtet, entspricht jener Männ-
lichkeitswahn, der nun vom „physiologischen Schwachsinn des Weibes"
(Möbius) faselt. Daß Naturwissenschaft einen Tabubruch voraussetzt, zu-
mindest in den Augen des Mythologen, hat Nietzsche in seiner Geburt der
Tragödie (1872) unverblümt ausgesprochen. Naturforschung selbst erscheint
ihm als etwas Naturwidriges: „Denn wie könnte man die Natur zum
Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch, daß man ihr
siegreich widerstrebt, d.h. durch das Unnatürliche? Diese Erkenntnis sehe
ich in jener entsetzlichen Dreiheit der Ödipusschicksale ausgeprägt: derselbe,
der das Rätsel der Natur — jener doppeltgearteten Sphinx - löst, muß auch
als Mörder des Vaters und Gatte der Mutter die heiligsten Naturordnungen
zerbrechen" 38 . In frappierender zeitlicher Nähe zu Tjutschews Ent-
mythologisierung unternimmt Nietzsche einen mythologisch gestützten
Gegenvorstoß zur Rettung der vergöttlichten Natur. Die Denkgeschichte
zeigt, daß er bis auf weiteres folgenlos blieb. Es entbehrt nicht der Pikanterie,
daß Freud, der Dichter des Ödipuskomplexes, wenig später gerade in der
Maske des naturwissenschaftlich agierenden Aufklärers auftritt. Wo Natur,
die große Hysterikerin, ihre Traummonstren ausbrütet, soll nun Kultur
werden — ein Imperativ männlichen Ordnungsdenkens.
So träumt die Wissenschaft, Wunschphantasie der Männer, vom
Triumph über die wilde Natur, von deren Zähmung, Unterwerfung, ja Ver-
gewaltigung. O b als Sphinx oder als „femme fatale", ob als Sklavin oder als
ambivalente, gebärende wie verschlingende Mutter gedacht -: auf die männli-
che Phantasie des 19. Jahrhunderts übt Natur eine magische Anziehung
aus39. Dies gilt auch in der Sphäre der Kunst. Klassisches Beispiel dafür ist

36
Goethe HA 8, 304 (Betrachtungen im Sinne der Wanderer Nr. 136)
37
Wittgenstein W 8, 530
38
Nietzsche, Geburt der Tragödie § 9 (KSA 1, 67)
39
Zum ambivalenten Bild der Frau in der Kunst des 19. Jahrhunderts: Hofmann 283ff.
147

Baudelaires Sonett La Beaute, das die Apotheose des Weiblichen ins Blau des
Himmels hebt: ,Je trone dans l'azur comme une sphinx uncompris" 40 . Doch
das unverstehbare Idol läßt den ewigen Ödipus rados.

In der Epoche des Imperialismus wird die Naturwissenschaft zum subtilsten


Werkzeug des Männlichkeitswahns — als Abenteuer des Eroberns, Durch-
dringens und Domestizierens. Was sie dabei stimuliert, sind die vermuteten
Rätsel. Ernst Haeckel, dessen Erfolgstitel Die Welträtsel (1899) einem ganzen
Zeitalter das Motto lieferte, hatte dafür den richtigen Instinkt. Im Gefolge
von Spinoza, Goethe und Nietzsche betrieb er nach dem Tode Gottes die
Naturvergöttlichung. Monistische Wissenschaft wird ausstaffiert zur Reli-
gion. Mit wachsender Komplexität der Materie steigert sich ihre Rolle als
Ratsellosenn: „Mit der Umschreibung von Erkenntnis als Rätsellösung
schafft Haeckel so frühzeitig das metaphorische Gelenk, das Heilsbotschaft,
Wissenschaft, Kulturfortschritt, Technik und Theologie zu versöhnen er-
laubt"41.
Im Vorwort zu seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte4,2 übernimmt
Haeckel, ohne sich des Parodistischen bewußt zu sein, den schwärmerischen
Predigtton des 19. Jahrhunderts. Gegen die Verflachung des Lebensgefühls
mobilisiert er im Duktus nachgoethescher Bildungsreligion die Arcana natu-
rae. Er animiert dazu, „tiefer in das innere Heiligtum der Natur einzudrin-
gen", um aus der „nie versiegenden Quelle der natürlichen Offenbarung"
eine Naturreligion zu schöpfen43. Die Sprache ist freilich verräterisch: „Ein-
dringen", Penetrieren, Entweihen ist die Botschaft. So enthüllt sich Tabu-
bruch als Handlungsimpuls. Haeckel entschuldigt sich vor Eduard von
Hartmann für seine philosophischen Streckversuche: „Ich bin zu diesem
Vorgehen gezwungen, wenn ich überhaupt Gedanken und Licht in das
grauenenhafte empirische Chaos meiner biologischen Wissenschaft bringen
soll"44. Haeckels monistischer Ordnungszwang erweist sich als Abwehr von
Chaosangst. Das Sinnbedürfnis dichtet sich Rätsel und Chaos zurecht, um
das eigene Sezieren zu verklären.
Das Laboratorium, in dem die Natur auf die Folter gespannt und be-
fragt wird, muß in ungewollter Parodie des Religiösen ein „heiliger Tempel"
sein. Die Trivialisierung der Sprache, auf die Walter Gebhard in seiner Studie
zur Naturverklärung des 19.Jahrhunderts hingewiesen hat45, bezeugt nicht

40
Baudelaire, Die Blumen des Bösen 56
41
Gebhard 307. Über E. Haeckels Konzept von „Gott-Natur": ebd. 299 - 329
42
Erstausgabe 1868, zwölfte Auflage 1920
43
E. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte (12.Auflage Berlin 1920) VIII
44
Brief aus dem Jahre 1875; zitiert bei Gebhard 308
45
Gebhard 563
148

nur den Mangel an Diskursivität, sondern die innerste Schwäche dieser Wis-
senschaft - ihren Hang zur Selbstmythologisierung. Gerade als Prophet des
Monismus hat Haeckel an der Sprachkrisis der Jahrhundertwende teil. Deren
Kennzeichen ist, daß für Enthusiasmus wie Erschrecken nur noch konven-
tionelle Sprache zur Verfügung steht - eben die poetisch-religiöse, die nun
vollends verschlissen wird. Wie seine Zeitgenossen, die Neuromantiker,
sucht Haeckel die moderne Komplexitätserfahrung, Hofmannsthals
„Weltgeheimnis", durch forcierte Poeüsierung zu fassen. Seine Naturverklä-
rung setzt dem Profanierungsprozeß, den die eigene Wissenschaft in Gang
bringt, vergeblich die ausgehöhlten sakralen Formeln entgegen.
Priesterlich ist der Gestus der Forscher, die im Heiligtum der Wissen-
schaft der unbekannten Gottheit dienen - Priester der Fortschnttsreligion, in
deren Namen noch das Dynamit erfunden wurde. Der Objektivismus gehört
zu den großen Fiktionen des 19. Jahrhunderts, die imperialistischen Zugnff
auf die Natur und deren planmäßige Ausbeutung und Kolonisierung erlau-
ben. Und doch war das schlechte Gewissen nicht ganz zu unterdrücken;
nicht umsonst stiftete Alfred Nobel seinen Preis zum Wohl der Menschheit.
Künsder, Dichter und Philosophen gaben sich der Naturmystik hin. In der
Feier des „Lebens" waren sich so unterschiedliche Geister wie Dilthey,
Nietzsche und Rilke einig. Bei den braunen Mädchen der Südsee suchte der
europamüde Gauguin seinen Traum vom naturnahen, unzerspaltenen Dasein
zu verwirklichen. Sein Triptychon mit dem programmatischen Titel Woher
kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?, 1897 auf Tahiti gemalt (Baltimore,
Museum of Art), ist mehr als eine Büdgeschichte, die das verlorene und wie-
dergewonnene Paradies thematisiert. Sie stellt dem mit Geschichte bewaff-
neten, von Weltpolitik und Glorie des weißen Mannes berauschten Europa
die Sinnfrage. Ungerührt von den historischen Monstern, die selbst das Pa-
radies bedrohen, pflückt das androgyne Wesen46 im Zentrum des Bildes die
Frucht des Augenblicks. Die Selbstvergessenheit bei diesem Akt gibt ihm die
Würde Adams und Evas vor dem Sündenfall. Hier hat Gauguin den Ausgang
aus der Geschichte gemalt - als sein Erlösungsbild, als seinen Fluchttraum. Er
konnte nicht wissen, daß die Geschichte auch diese Utopie einholen und an-
nullieren würde.
Gauguins Bild ist ohne eigentliche Tiefe wie eine Tapisserie; über den
Figuren, erdnah und reflexionsfern, liegt eine eigentümliche Schwere. Auch
die zwei eng nebeneinandergehenden Gestalten, an Dante und Vergil er-
innernd, heften die Blicke zu Boden. Ein seltsam plumpes Idol breitet die
Arme in Orantenhaltung aus, mütterlich und passiv; seine Beine und Füße
lassen an eine fischgeschwänzte Meeresgöttin denken. Noch die Seele der
Figuren scheint aus Erde. Wenig Bewegung im Bild; nur der Fruchtpflücker
reckt sich wie traumhaft nach oben. Es ist, als hätte der Maler das Geheimnis

44
Hofmann 366
149

von Mensch und Natur, eben ihr geheimnisloses Miteinander, von innen
nach außen gekehrt. Diese Natur ist groß, weil völlig einfach. Das Phänomen
ist die Lehre. Das Rätsel gibt es nicht.
Nach einem zweiten Weltkrieg wird der Großstadtmensch Brecht, der
in Berlin die Maske und Mimik des Marxisten trug, in seinen Buckower Elegien
(1953) sich den ironischen Rückzug in die Natur gestatten. Auch der Meister
der Bewußtseinsinszenierung war zeitweilig der Politik und des Theaters
müde. Sein Funfzeiler Rudern, Gespräche reduziert mit gleichsam chinesischer
Könnerschaft Natur auf die bloße Konnotation eines Abends am märki-
schen See:

Es ist Abend. Vorbei gleiten


Zwei Faltboote, darinnen
Zwei nackte junge Männer: Nebeneinander rudernd
Sprechen sie. Sprechend
Rudern sie nebeneinander.47

Die Landschaft, kaum mit zwei Pinselstrichen angedeutet, lebt bei Brecht
vom Menschen. Doch dessen Dasein ist vorübergehend, entgleitend im Bilde
der Boote. Die beiden sprechenden Männer rudern im Abend diskret aus der
Geschichte heraus. Ihr Sprechen entgleitet, indessen sie rudern — nebenein-
ander, wie zweimal vermerkt wird. Das Sphinxhafte dieser zuäußerst ver-
knappten Naturszene hegt dann, daß sie pure Oberfläche ist - besorgt, kein
Dahinter zu zeigen. Und eben diese Besorgnis ist die Geschichte, die zu er-
zählen ist. Zwei Ruderer - wozu auf Rätselsuche? Was aber bleibt, ist der
Text. In ihm verschwindet sogar die Natur — geheimnishaft, doch ohne
Rätsel.

47
B.Brecht, Gedichte VII (Frankfurt/M. 1964) 20
6. Kapitel
Das illuminierte Chaos

So will es göttlich scheinen.

Hölderlin, Wenn aber die Himmlischen

Chaos ist ein Verwirr- und Störbegriff, umhüllt vom schwarzen Glanz der
Negativität. Was im Sprachspiel der Philosophen und Dichter seit der Ro-
mantik als Chaos und Abgrund auftaucht, will illuminiert, mit Sinn belegt
sein. Für die Griechen war Chaos ein kosmogonisches Prinzip, die gähnende
Leere des Anfangs, aus dem der Hesiodische Mythos zunächst die Erde,
dann Eros, Nacht und Tag und den Äther hervorgehen sah1. Erst der Mo-
derne blieb es vorbehalten, das Chaos zu einer ästhetischen Kategorie zu
machen - verwandt dem Erhabenen, aber in der Tiefe, der Unterwelt ange-
siedelt, als sinn- und ordnungsbedrohender Abgrund, als Reich wilden Ur-
sprungs, als Gegen-Vernunft. Chaos suggeriert bei Hölderlin eine grundlose,
dunkle und dionysische, nicht domestizierbare Kraft: „So will es göttlich
scheinen"2. Und von den Dichtern heißt es in der nächsten Strophe, daß sie
dem Gott der Freude, dem Donnerer Zeus, den Abgrund zudecken 3 — eine
Nobilitierung des Dichterberufs, die selbst in der Hochzeit des deutschen
Idealismus ihresgleichen sucht. Ein anderer Entwurf {Vom Abgrund nämlich)
bringt das Naturhaft-Chaotische im Menschen — Zweifel, Ärgernis, Sinn-
lichkeit — mit dem Tiergeist des Ursprungs zusammen4. Von daher legt
Hölderlins Ethik dem Dichter die Aufgabe auf, in seinem Innersten ein „un-
trügbarer Kristall" zu werden, „an dem das Licht sich prüfet"5. In solcher
Mythopoetik illuminiert das Herz des Dichters selbst, Kristall geworden,
durchleuchtet vom Äther, den Abgrund.
Goethe, als Neptunist gelassener, tadelt dagegen im zweiten Buch der
Wanderjahre ironisch die Kosmogonie der Chaoüker, denen die Erschaffung
der Welt nicht wild und laut genug zugehen konnte: „Ganz verwirrt und ver-
düstert ward es unserm Freund zumute, welcher noch von alters her den
Geist, der über den Wassern schwebte und die hohe Flut, welche fünfzehn
Ellen über die höchsten Gebirge gestanden, im stillen Sinne hegte, und dem
unter diesen seltsamen Reden die so wohlgeordnete, bewachsene, belebte

1
Hesiod, Theogonie V. 116, 700
2
Hölderlin, Wenn aber die Himmlischen V. 42 (Gedichte 395)
3
Ebd. 396. Zum Themenkomplex „Äther und Abgrund" bei Hölderlin: Binder 1 1 0 - 134
4
Hölderlin, Vom Abgrund nämlich V. 7 (Gedichte 416)
5
Ebd. V. 36f. (Gedichte 417)
151

Welt vor seiner Einbildungskraft chaotisch zusammenzustürzen schien"6.


Doch die Romantik tat viel, um das Chaos zu ästhetisieren. Der sanfte
Novalis gab seinem Heinrich von Ofterdingen den poetologischen Rat, das
Schöne durch einen Hauch von Zufall, von Asymmetrie, von Anarchie sich
erleuchten zu lassen: „Das Chaos muß in jeder Dichtung durch den regelmä-
ßigen Flor der Ordnung schimmern"7. Im Buch der Natur stellt es die nicht
entzifferbaren Seiten dar; deshalb fordert es unaufhörlich die Interpreten
heraus. Das Chaos inspiriert den Geist des Widerspruchs, es verlangt vom
Ich, gut fichteanisch, wie der Geist Gottes über dem Abgrund zu schweben8.
Die Ordnungsdenker von Aristoteles bis Newton hatten das Chaos
durch Theorie zu bändigen versucht. Noch die Physikotheologie des 18.
Jahrhunderts beruhte auf der Grundannahme eines göttlich geordneten
Ganzen, das dem forschenden Geist seine Gesetze, ja seinen Bauplan verrät9.
Solcher Erkenntnisidealismus wird nachhaltig erschüttert durch die Umwäl-
zungen im physikalisch-politischen Weltbild, welche symbolisch 1755 mit
dem Erdbeben von Lissabon einsetzen und mit der Französischen Revolu-
tion noch lange nicht enden. Georg Büchner in seinem Drama Danton se-
ziert, aus bürgerlicher Ernüchterung heraus, den Optimismus der Mensch-
heitsbeglücker mit dem kalten Blick des Mediziners, legt ihn bloß bis aufs
Skelett der Ideologie. In jener Conciergerie, wo die gescheiterten Revolutio-
näre auf ihre Hinrichtung warten, tritt das Sprachspiel „Chaos" eine neue
Karriere an -: als absolute Bejahung der Negativität, als Weltformel schlecht-
hin, als Werkzeug eines politisch motivierten Nihilismus. Mit der Kraft fun-
damentaler Enttäuschung holt Danton zum großen Schlag gegen die Götzen
der alten Weltordnung aus. Die Rache trifft den Gott der Philosophen, die
Religion des verordneten Glücks: „Die Welt ist das Chaos. Das Nichts ist der
zu gebärende Weltgott"10. Terror und Widerspruch verdichten sich in diesem
Chaosbegriff, womit die Naturfrömmigkeit der Aufklärung lustvoll geleugnet
wird. Besser ein Anti-Gott als gar kein Gott, besser das Chaos als die ver-
faulte Ordnung. Doch das religiöse Potential im Gedanken der Wiedergeburt
bleibt unausrottbar: das Chaos des Anfangs kehrt zum Ende wieder, es ver-
körpert den Neuen Aon. Im Diktum Dantons kippt Hedonismus in gewollte
Selbstvernichtung um - ein Prozeß, der sich gleichzeitig in den Romanen
von De Sade ereignet. Danton, der die Menschheit im glühenden Moloch
der Welt sieht, leidend vor lachenden Göttern, sehnt sich nach einem Chaos,
aus dem das Nichts als der Erlösergott hervorgeht.

6
Goethe HA 8, 262 (Wilhelm Meisters Wanderjahre II, 9)
7
Novalis I, 286
8
Novalis I, 90
9
Dazu Groh 50 ff. Vgl. auch J.Wozniakowski, Die Wildnis. Zur Deutungsgeschichte des
Berges in der europäischen Neuzeit (Frankfurt/M. 1987)
10
Büchner 65 (Dantons TodIV,5)
152

In der Novelle Len% transponiert Büchner die Pathosformel „Chaos" in


die Natur hinein. Wie Lenz das Gebirge erlebt, bedeutet Entgrenzung des
Ich. Aggressiv vereinnahmt die Natur das psychisch labile Subjekt, das seine
sozial bestimmbare Rolle verlor:

Er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund


weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, Alles in sich
fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das
All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat.11

Der vom Wahn gestreifte Dichter, der nicht mehr schreiben kann, schreibt
mit der Preisgabe an die Elemente sich selbst ins Corpus der Natur ein. Er
wünscht Auslöschung seiner Verletzlichkeit und Stillstand der Zeit durch
„Versteinerung". Sein Aufenthalt in dem Gebirge heißt nicht von ungefähr
„Steintal". Der Wahn zielt auf den Abgrund hin, den das Ich in sich auf-
flackern fühlt:

Die Welt war ihm helle gewesen, und er spürte an sich ein Regen und
Wimmeln nach einem Abgrund, zu dem ihn eine unerbittliche Gewalt
hinriß. Er wühlte jetzt in sich. (...) Je höher er sich aufriß, desto tiefer
stürzte er hinunter. Alles strömte wieder zusammen. Ahnungen von
seinem alten Zustande durchzuckten ihn, und warfen Streiflichter in
das wüste Chaos seines Geistes.12

Büchners klinische Studie tarnt den Ausgang aus dieser Leidensgeschichte,


dem literarischen Genre gemäß, als Manie. Im Scheitern des Philanthropen
Oberlin, der Lenz nur beruhigen, aber nicht retten kann, ist exemplarisch das
Erschrecken bürgerlicher Vernunft vor dem Abgrund enthalten, den die
Vernunft selbst eröffnet. Vergessen ist, daß auch der Gott in diesem Ab-
grund wohnt. Lenz selbst, der Gott in seiner Schöpfung nicht findet, negiert
im manischen Einswerden mit sinnendeerter Natur die auf Vernunft gebaute
Physikotheologie. Sein Aufruhr gegen den Schöpfer gilt dem rational nicht
widerlegbaren obersten Repräsentanten der Weltordnung; in ihm agiert er
sich bis zur Erschöpfung der Gefühle aus. Der Aufstand der Titanen gegen
Zeus liefert die mythische Folie dafür. Lenz fühlt sich verworfen von Gott,
nachdem er vergeblich versucht hat, ein totes Kind zum Leben zu erwecken.
Die Landschaft, die er im Wahn durchirrt, ist die des gescheiterten Sohnes,
der das Chaos wider den Vatergott aufruft - das Reich der Nachtgedanken.
Mond, Wolken und Wind geben - gemäß der pittoresken Ästhetik von 1770
- die gespenstische Illuminierung einer vom Licht der Vernunft verlassenen
Welt:

» Büchner 69
12
Ebd. 80
153

In seiner Brust war ein Tnumphgesang der Hölle. Der Wind klang
wie ein Titanenlied, es war ihm, als könnte er eine ungeheure Faust
hinauf in den Himmel ballen und Gott herbei reißen und zwischen
seinen Wolken schleifen; als könnte er die Welt mit den Zähnen zer-
malmen und sie dem Schöpfer in's Gesicht speien; er schwur, er lä-
sterte. So kam er auf die Höhe des Gebirges, und das ungewisse Licht
dehnte sich hinunter, wo die weißen Steinmassen lagen, und der
Himmel war ein dummes blaues Aug, und der Mond stand ganz lä-
cherlich drin, einfältig. Lenz mußte laut lachen, und mit dem Lachen
griff der Atheismus in ihn und faßte ihn ganz sicher und ruhig und
fest.13

Die versuchte Imitatio Christi, das Wandeln auf hohen Bergen, das Pathos
des Erweckers, die wüst-erhabene Szenerie - sie schlagen angesichts der
stummen und törichten Faktizität der Natur vom Tragischen ins Lächerliche
um. Prometheus löst sich vom Felsen, indem er Zeus verspottet. Lenz löst
sich vom Glauben an den Weltbaumeister durch schieres animalisches Ge-
lächter. Was mit leiblicher Erschütterung in ihm agiert, ist das Chaos; die
Weltvernunft wird mit Gelächter verabschiedet. Der Atheismus, der ihn er-
faßt, ist die befreiende Leere: „es war ihm Alles leer und hohl". Die Entlee-
rung von der Naturtheologie bleibt jedoch illusionär; die Lust am Abgrund
gerät ihm zur Sünde wider den Heiligen Geist. Am Schluß, wenn Lenz nach
einem Selbstmordversuch unter Bewachung im Wagen nach Straßburg ge-
bracht wird, wird das Gebirge, die unverrückbare Kuhsse seines Wahns, il-
luminiert von der sinkenden Sonne. Was als tiefblaue Kristallwelle sich in das
Abendrot hebt, ist ein befriedetes Chaos, ein Gebirge gewordenes Ausatmen
der Welt. Lenz aber taucht in die Leere. „So lebte er hin."

Wahrnehmung der Natur ist seit Ausgang des 18. Jahrhunderts ethisch-
ästhetisch geprägt. Diese Naturästhetik erwächst mentalititsgeschichtlich aus
dem Zerfall des theologisch-metaphysischen Deutungssystems, wie Joachim
Ritter in vieldiskutierten Thesen dargelegt hat14. Das Bewußtwerden von
Natur auf dem Wege der Aisthesis, so Ritters Ansatz, kompensiert ihren
Verlust als Lebenswelt; an diesem Vorgang hat schon die Industrielle Revo-
lution ihren Anteil. Im Gefolge von Aufklärung und Empfindsamkeit (beide
sind dialektisch verknüpft) zerfällt der von der Antike geerbte, von Aristote-
les geprägte Begriff der Theorie - der immer die „ganze Natur" als Kosmos
oder als Physis meinte. „Auf dem Boden der philosophischen Theorie gibt es
keinen Grund für den Geist, ein besonderes, von der begrifflichen Erkennt-

13
Ebd. 82
14
J.Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. 1963,
in: Subjektivität 141 ff.
154

nis unterschiedenes Organ für die Vergegenwärtigung und Anschauung der


sichtbaren Natur ringsum auszubilden. Der Himmel über dem Haus und die
Erde, die es trägt, werden bereits in den Begriffen gewußt und ausgesagt, in
welchen die Theorie das Ganze begreift"15. Wahrnehmung der Natur als
einer „Landschaft" ist seit dem 18Jahrhundert also primär ästhetisch. Hin-
zukommt, daß seit der frühen Neuzeit empirische Wissenschaft die Diffe-
renz zwischen Mensch und Natur verstärkt. Das Subjekt muß die Entzwei-
ung durch Selbstreflexion, unter Einbeziehung seines Gefühls, „sentimenta-
lisch" in Schillers Sinn überbrücken. Der wissenschaftliche Sinn animiert den
ästhetischen mit.
Für das Entgrenzungspathos des empfindsamen Romans steht als klas-
sisches Beispiel der Werther. Die Landschaft wird hier metaphysisch, die Of-
fenbarung ästhetisch:

Ungeheure Berge umgaben mich, Abgründe lagen vor mir, und Wet-
terbäche stürzten herunter, die Flüsse strömten unter mir, und Wald
und Gebüg erklang; ich sah sie wirken und schaffen ineinander in den
Tiefen der Erde alle die unergründlichen Kräfte; und nun über der
Erde und unter dem Himmel wimmeln die Geschlechter der mannig-
faltigen Geschöpfe. (...) Vom unzugänglichen Gebirge über die Ein-
öde, die kein Fuß betrat, bis ans Ende des unbekannten Ozeans weht
der Geist des Ewigschaffenden und freut sich jedes Staubes, der ihn
vernimmt und lebt.16

Der junge Goethe sah noch die Spuren des Schöpfers. Für Schiller ist Natur
schon die verborgene, wie er in der Vorrede zur Braut von Messina (1803)
darlegt. Diese Position war vorgegeben seit der Abhandlung über naive und
sentimentalische Dichtung (1795); Schiller sah dort Natur als Idee in der
Dichterwelt aufgehen. Den Gegensatz von Antike und Moderne als histori-
sche Transformation, die bis an die Wurzeln der Wahrnehmung geht, hat
Joachim Ritter in eine berühmte Formel gekleidet: „Das Ästhetische der
Landschaft ist so in seinem Grunde das Scheinen der an sich verlorenen
ganzen Natur" 17 . Dieses Verlorene haben seit der Romantik die Künsder in
sich selber aufgesucht - kraft eines Blickes, der das mythische Urbild aller
Natur, das Goldene Zeitalter, wieder heraufruft. Als inneres Universum wird
Natur im kreativen Menschen entdeckt. Der biblische Schöpfungsmythos
vom göttlichen Chaos des Anfangs - bei Hölderlin transformiert zum
„Rätsel des Reinentsprungenen" - wird in der Wendezeit um 1800 zur Alle-
gorie menschlicher Schaffenskraft. Dem Geniegedanken entspringt als natu-
raler Mythos der Kult der Kreativität; Chaos und Wahn sind darin nobüitiert.

"5 Ebd. 149


>o Goethe HA 6, 52
7
Ritter 182
155

Die antike Theorie von der Natur repräsentierte ein ideales Ganzes; sie
lieferte durch Konvergenz von Gott und Welt dem Pantheismus wichtige
Argumente. Die Trennung von Natur und Geist ist seit dem deutschen Idea-
lismus notorisch. Auch Hegels Naturphilosophie konnte die Differenz der
Wissenschaften, die aus dem Zerfall des Enzyklopädiekonzepts hervorging,
nicht aufhalten18. Das 19.Jahrhundert, das die Arbeitsteiligkeit entdeckte und
in der Wissenschaft den Tatsachenglauben, in der Kunst den Realismus er-
fand, entmachtete die Idee einer „ganzen Natur" zugunsten partikularer Er-
kenntnis. Sein Realismus war zunächst ein bürgerlicher Protest gegen
geschöntes Dasein und falsches Bewußtsein, einem fast religiösen Bedürfnis
nach Wahrheit sich verdankend. Wie Werner Hofmann mit Blick auf Cour-
bets Programmbild Das Atelier (1855) schrieb: „Eine tiefe Sehnsucht nach
dem Freien, Ungebundenen, Natürlichen spricht sich darin aus. Die Land-
schaft ist das Stück Welt, das jedem gehört. Eben weil man sich von der er-
sten Ursprünglichkeit getrennt weiß, sucht man eine zweite, vom Entschluß
herbeigeführte, zu gewinnen. In der Landschaft verjüngt sich eine alternde
Zivilisation und richtet ihren Blick, vom historisch-mythologischen Ballast
befreit, auf das geschichtslose Ereignis der Stetigkeit und Dauer"' 9 .
Die Wahrheitssuche, die das Jahrhundert umtrieb, als Suche nach der
Wirklichkeit verkleidet, legt an der Natur ihr Widers tändiges, Wildes, Chaoti-
sches bloß. Natur als Gegenwelt zur bürgerlich geordneten Gesellschaft
stößt ab und fasziniert zugleich. Diese Ambivalenz hat am klarsten der Mei-
ster des realistischen Romans, Gustave Flaubert, erkannt. In seiner Education
sentimentale (1843 begonnen, aber erst 1869 veröffentlicht), bricht Natur an
entscheidender Stelle als Kontrast in die Welt der schönen Illusionen ein.
Durch bloße Beschreibung der Wildnis ringsum macht Flaubert menschliche
Schicksale, ja die Geschichte selbst — das Liebesabenteuer Frederic Moreaus
mit Rosanette ebenso wie die Revolution von 1848 — zu einer Eskapade und
einer Bagatelle. Der Text konterkariert idyllische Erwartung; er inszeniert ein
Drama der Gewaltsamkeit, der Magie und Behexung:

Man sahriesige,knorrige Eichen, die sich wie verkrampft vom Boden


erhoben, einander umklammerten und sich, solide auf ihren Stämmen
ruhend wie Torsos, mit ihren nackten Armen verzweifelte Rufe und
wütende Drohungen entgegenschleuderten wie eine Gruppe von im
Zorn versteinerten Titanen. Eine dumpfe, fiebrige Schwüle lag über
den Mooren, deren Wasserflächen man zwischen Domgestrüpp
wahrnehmen konnte. Die Moosflechten am Rande der Moore, wo die
Wölfe zur Tränke kommen, sind schwefelfarben, wie von Hexen-

18
Dazu R.Bubner, Einleitende Bemerkungen, in: R.Bubner, B.Gladigow, W.Haug (Hg.),
Die Trennung von Natur und Geist (München 1990) 7ff.
19
Hofmann 20
156

tritten versengt, und ununterbrochenes Quaken der Frösche antwor-


tet auf das Krächzen der Krähen, die hoch über ihnen kreisen.20

Wenn die Liebenden auf ihrem Waldspaziergang auf einen Steinbruch sto-
ßen, interessiert nicht die mühsame Arbeit, die dort geleistet wird, sondern
die Reminiszenz an Untergang und Katastrophe. Das Wahnhafte, Sinnlose
an diesen Monumenten gehört zur Inszenierung:

Die Steinbrocken wurden immer zahlreicher und füllten schließlich


das ganze Gelände, viereckige, die wie Häuser, flache, die wie Platten
aussahen; sie lagen aneinander, übereinander, ineinander verkeilt wie
unkenntliche, riesige Trümmer einer untergegangenen Stadt. Aber
noch eher ließ ihr chaotischer Wirrwarr an Vulkane, an Sintfluten, an
gewaltige, nie gekannte Erdumwälzungen denken.21

Die Vorstellung einer alleszerstörenden Zeit, einstmals Stachel für Vanitas-


denken, ist bei Flaubert dem literarischen Chaos-Zitat, zugleich dem natur-
historisch ernüchterten Blick gewichen. Doch das Erschrecken, das er seinen
Figuren bereitet, ist wohlkalkuliert. Das kleine Leben der Kokotte Rosanette,
die ihre neunundzwanzig Jahre, an Maßstäben bürgerlicher Mentalität gemes-
sen, bereits als Altern empfindet, kontrastiert der ungerührten Ewigkeit, die
in den Felsen sich materialisiert. Von einem Sandhügel aus, der an das aus-
getrocknete Bett eines Ozeans erinnert (ein Wüstenmotiv inmitten des
strahlenden Grüns), betrachten Frederic und die Geliebte Felsformationen,
die zunächst wie sinnlos gewordene Klippen, dann wie Tiere aussehn:

Schildkröten mit vorgestrecktem Kopf, knechende Robben, Fluß-


pferde und Bären. Ringsum kein Mensch, kein Laut. Der Sand glit-
zerte in der grellen Sonne, und plötzlich schienen sich die Tiere in
dem flirrenden Licht zu bewegen. Rasch kehrten die beiden um und
flohen, beinahe entsetzt, vor dem Schwindel, der sie ergriff.22

Die Stunde der Wahrheit, im panischen Licht, ist dieses Erwachen in einer
Wüste am Ende der Geschichte, inmitten einer gespenstischen Auferste-
hung. Zwischen Apokalypse und Psychologie läßt Flaubert seine Beschrei-
bung changieren. Er beschwört für Momente das Chaos; das kalte Licht der
Kunst fällt auf eine Natur, die der Leser in seiner eigenen Psyche wiederfin-
det. Die „impassibilite", die Flaubert von seinen Kritikern vorgeworfen
wurde, erweist sich als das Analogon zur göttlichen Indifferenz der Natur
dem Drama von Leben und Tod gegenüber. Die Revolution von 1848, die
Flaubert als junger Mann atemlos mitverfolgte, ist zwanzig Jahre später in

20
Haubert 412
21
Ebd.
" E b d . 413
157

der Sicht des Autors nur noch akustisches Beiwerk zu einem fernen,
sinnleeren Tumult:

Manchmal hörten sie ganz in der Ferne Trommelwirbel. Das war der
Generalmarsch, der in den Dörfern geschlagen wurde, um zur Vertei-
digung von Paris aufzurufen.
'Ah ja, der Aufruhr', sagte Frederic dann in geringschätzigem Mideid,
denn diese ganze Aufregung erschien ihm erbärmlich neben ihrer
Liebe und der ewigen Natur.23

Der Künsder Flaubert rührt an das Chaos, ohne sich von ihm ergreifen zu
lassen. Anders Rimbaud, der diesem Chaos sich hingibt. Weit radikaler als
Flaubert, der mit seinem Arbeitsethos, seiner Disziplin und seiner Abscheu
vor Anarchie ein Bürger blieb24, bricht Rimbaud mit der tradierten Ästhetik
wohltemperierter Konflikte. Seine Dichtung lebt vom Prinzip der Regres-
sion, der künstlichen Zerrüttung, die der „Seher-Brief vom 15. Mai 1871 als
Ingredienz des Schöpferischen preist: Ankommen im Unbekannten 25 . So er-
findet Rimbaud eine Rhetorik des Chaos, die das Ich aus konventionellen
Sprach- und Denkmustern reißt, es für sich selbst zu einem „Anderen"
macht. Die neue, unerhörte Musik, die dieser Orpheus spielt, beschwört
Mächte, die wie bei Richard Wagner im mystischen Abgrund des Weltorche-
sters wohnen - mit dem ersten Bogenstrich erwacht die Symphonie in der
Tiefe. „Das Ich versinkt nach unten, wird entmächtigt durch kollektive Tie-
fenschichten"26. So kultiviert Rimbaud die planmäßige Verwirrung aller
Sinne - bis hin zur Selbstvergiftung. Er wird zum Märtyrer, der stellvertre-
tend für die anderen leidet, zum Kranken, zum Verbrecher, zum Ver-
dammten. Er übernimmt, im Sprachspiel des Mythos, die Rolle des
Feuerdiebes Prometheus. Doch das Feuer Rimbauds ist aus Vulkanen geholt,
stammt nicht von Göttern. Und dafür muß er eine neue Sprache finden.
Das Chaos ist, christlich gesprochen, die Hölle, in die Rimbaud wie sein
Vorgänger Dante hinabsteigt um der Erkenntnis willen. In seiner Saison en
Enfer (1873) schildert er die Delirien, denen er Dichtung verdankt - die rea-
len so gut wie die imaginierten. „Diese Augenblicks-Delirien lassen die Seele
zu ihrer wahren wilden Natur zurückfinden"27. Der Wortalchimist experi-
mentiert mit Halluzinationen, synthetisiert Metaphern wie unbekannte
Stoffe. Im schöpferischen Taumel, sich selbst den „Sophismen des Wahns"
überliefernd, rührt das Bewußtsein an das Andere. Rimbaud setzt dafür die

23
Ebd. 415
24
Dazu Hauser 832f.
25
Die entsprechende Passage aus dem Lettre du voyant ist abgedruckt bei W.Höllerer,
Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik I (Reinbek 1965) 69f.
Zu Rimbauds dichtungsgeschichtlichem Ort vgl. Friedrich 59 - 94
26
Friednch 62
27
Y.Bonnefoy, Arthur Rimbaud (Reinbek 1962) 61
158

überlieferte Chiffer des Heiligen ein, besetzt sie aber sofort mit n e u e m Sinn:
, J e finis par trouver sacre le desordre de m o n esprit" 28 . Das Chaos dieses
Geistes (der Konkurrent und Widersacher des christlichen P n e u m a ist) rich-
tet die bürgerliche Vernunft und Moral; Rimbaud selbst diktiert i h m die
soteriologische Rolle. Das Chaos ist jene dunkle Folie, vor der die Poiesis
zum wahren Lichte vordringt. Ihr Leuchten ist dem Azur geraubt. A b e r nicht
der götterlose Himmel, sondern Natur ist die höchste Instanz für den Dich-
ter: „Enfin, ö bonheur, ö raison, j ' ecartais du ciel f azur, qui est du noir, et je
vecus, etincelle d' or de la lumiere nature"29. D a s Chaos will sich i m Dichter
erleuchten. In dieser Mystik, die Yves Bonnefoy auf den Einfluß des Okkul-
tisten Eliphas Levi zurückführt, ist sinnliche Erkenntnis nur Ausdruck eines
Verhaftetseins an die Erscheinungswelt. G e r a d e die Halluzination, die Hin-
gabe ans Chaos, befreit den Logosfunken. .Jenseits der sich aufhebenden
Ansichten erscheint dann die Möglichkeit der Vision als schräge, paradoxale
u n d flüchtige W a h r n e h m u n g des entschleierten Seins der Dinge" 3 0 .
Rimbauds Gedicht Genie aus der Sammlung Illumination! (1872/73) ist
eine Art v o n Selbstporträt, zugleich eine Poetik der Ekstase. D e r Geist der
Dichtung, eingetreten in den universalen Leib der Natur, öffnet die Gefäng-
nisse der Zivilisation; er entgrenzt, wirbelt Zeiten u n d Z o n e n durcheinander
zu absoluter Präsenz, als Sturmwind und Geist einer anarchischen Liebe, als
naturales Pneuma, das aus dem Chaos Verzückung hervorlodern läßt:

II est l'affection et le present puisqu'il a fait la maison ouverte ä l'hiver


ecumeux et ä la rumeur de l'ete - lui qui a purifie les boissons et les
aliments - lui qui est le charme des lieux fuyants et le delice sur-
humains des stadons. - II est l'affection et l'avenir, la force et l'amour
que nous, debout dans les rages et les ennuis, nous voyons passer
dans le ciel de tempete et les drapeaux d'extase.

Er ist die Zuneigung und die Gegenwart, da er das Haus geöffnet hat
dem schaumigen Winter und der Gärung des Sommers - er, der die
Getränke und die Speisen gereinigt hat -, er, der der Zauber der vor-
überfliehenden Ortschaften und das übermenschliche Entzücken der
Haltestellen ist. - Er ist die Zuneigung und die Zukunft, die Kraft und
die Liebe, die wir, aufrecht in den Rasereien und Widerwärtigkeiten,
vorüberziehen sehen am sturmdurchtobten Himmel und in den Fah-
nen der Verzückung.31

28
Rimbaud 298/299: „Schließlich kam ich dahin, die Verwirrung meines Geistes als etwas
Heiliges zu empfinden."
29
Rimbaud 302/303: „Zuletzt, o Glück, o Vernunft, löste ich das Blau vom Himmel ab, so
daß er nun schwarz ist, und ich lebte, goldener Funke des Lichtes Natur."
30
Bonnefoy, Arthur Rimbaud 61
31
Rimbaud 190/191
159

Freisetzung einander widersprechender Energien, verwirrend schneller Per-


spektivenwechsel, Vermischung von Naturbildern mit abstrakten Begriffen,
Verkehrung der überlieferten Sinnmuster — bei Rimbaud sind sie poetisches
Prinzip, um mentale Wildnis zu erschaffen. Zu Recht hat Hugo Friedrich
betont, daß die llluminattons nicht mehr an Leser denken. „Sie wollen nicht
verstanden werden. Sie sind ein Gewitter halluzinatorischer Entladungen"32.
Kein souveränes Ich ordnet mehr diese Trümmer. Mit den tradierten Ord-
nungsmächten bricht die Geschichte samt den verhaßten Institutionen zu-
sammen:

Industrieis, princes, Senats:


Penssez! Puissance, justice, histoire: ä bas!33

Angesichts der Pseudoreligion vom Schlage Comtes schwört Rimbaud dem


affirmativen Fortschrittsglauben ab: „Plus de foi en l'histoire, l'oubli des
principes" 34 . Der inbrünstige Ketzer lechzt nach einer höllischen Wirklich-
keit, wirft Sprengsätze in seinen Text. Die revolutionierte Phantasie macht
dabei jeden Versuch politischer Vereinnahmung obsolet. So sehr die Ereig-
nisse von 1871 - der Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreiches und die
Pariser Commune - in Rimbauds Biographie ihren Ort haben: seine Dich-
tung ist von Natur anarchisch, insofern sie jeder Herrschaft sich verweigert.
„Pendant que les fonds publics s'ecoulent en fetes de fraternite, il sonne une
cloche de feu rose dans les nuages"35.
Rimbaud ist darin ein moderner Künstler, daß er die Barbarismen, das
wilde Sehen planmäßig kultiviert, das Exotische als Stimulus eines bewußten
Entgrenzungsspiels einsetzt. In dem berühmten Gedicht Bateau ivre sind die
tropischen Wildnisse, Sternenarchipele und der Sog des Malstroms (der
schon Poe fasziniert hat) nicht Elemente einer „Außenwelt", für die sich
Rimbaud nicht interessiert, sondern Fluchtwelt im Innern, erzeugt vom Haß
auf alles Zivilisierte. Der Haß erschafft Bilder von stechender Wirklichkeit.

J'ai vu fermenter les marais, enormes nasses


Oü pourrit dans les Jones tout un Leviathan,
Des ecroulements d'eaux au milieu des bonaces
Et les lointains vers le gouffres cataraetant!

Die Sümpfe sah ich gären, große Netze, Gründe,


Wo verfault im Geröhr ein ganzer Leviathan,

32
Friedrich 84
» Rimbaud 170/171
* Rimbaud 280/281: „Kein Vertrauen mehr zur Geschichte, die Prinzipien vergessen"
(Nmt dt /Eit/er).
35
Rimbaud 204/205: „Während die Staatsgelder zernnnen in Festen der Brüderlichkeit,
läutet eine rosafarbene Feuerglocke in den Wolken" (Phrases).
160

Die Feme, donnernd im Katarakt der Schlünde,


Und wirbelnden Wassertanz aufwindstillem Plan.36

Rimbaud schlägt die bürgerliche Ästhetik mit deren eigenen Mitteln. „Die
Sprengung geschieht nicht im Syntaktischen, sondern in den Vorstellungen.
(...) Die Vorstellungen selbst sind Protuberanzen der Phantasie, die nicht nur
von Strophe zu Strophe, sondern von Zeile zu Zeile, zuweilen sogar inner-
halb einer Zeile, auf Fernes und Wildes noch mehr Ferne und Wildheit
häuft"37. Der siebzehnjährige Dichter, der seine Zeit in der Hölle noch vor
sich hat, wahrt äußerlich die Form. Rimbaud negiert mit dem Begriff dome-
stizierter Natur auch den cartesianischen Subjektbegriff. In der Saison en Enfer
wird er ihn lustvoll entmachten und sich auf sein „böses Blut" berufen:
„Kenne ich noch die Natur? Kenne ich mich selbst? - Keine Worte mehr.
Ich begrabe die Toten in meinem Bauche. Geschrei, Trommelschlag, Tanz,
Tanz, Tanz, Tanz! Ich sehe nicht einmal die Stunde, in der die Weißen an
Land gehen und ich ins Nichts stürzen werden" 38 . Aus dem Haß gegen die
Weißen, gegen die Kanone, gegen die Mission, gegen den „Stoß der Gnade"
deklariert sich der Dichter als Tier, als Neger39. Das Pathos ist das des Barba-
ren, der sich weigert, zivilisiert zu werden, des Verdammten, der die Bekeh-
rung von sich stößt: ,Je me crois en enfer, donc j'y suis"40. In grimmig-
ironischer Umkehr der cartesianischen Methode vergewissert sich Rimbaud
seines Heidentums. Wie Joseph Conrad sucht er das Herz der Finsternis;
seine Hölle ist, poetologisch, das große Kombinations- und Verwirrspiel des
luziferischen Geistes. Doch das Chaos, Hort einer rebellischen Vitalität, ist
untergeordnet einer höheren Instanz: „A toi, Nature! je me rends" 41 . Der
gewaltige Part der Natur bei Rimbaud ist, wie Rene Char betonte, für die
französische Dichtung des 19. Jahrhunderts ungewöhnlich. Diese universale,
sinnstiftende Macht erscheint im Strom des Gedichts „als Materie, lichter
Hintergrund, schöpferische Kraft, Trägerin inspirierten oder pessimistischen
Vorgehens, als Gnade" 42 . Die so lang unterdrückte Natur begehrt als Spra-
che auf. Ihre Energie geht auf den Autor über, der gewaltsam aufbricht ins
Unbekannte; denn die wahre Revolution ist die der Poesie. Die Poesie aber
muß der Natur, in der sie steckt, entrissen werden. Rimbaud wird zum Bar-
baren, der nach dem Ende aller Geschichte sein Banner über dem Reich der
Freiheit, dem Reich der Unmöglichkeit hißt - „die Flagge von blutigem
Fleisch über der Seide der Meere und den Blumen des Nordpols (es gibt sie

36
Rimbaud 134/135
37
Friedrich 74f.
38
Rimbaud 273
39
Ebd. 271
40
Rimbaud 278: „Ich glaube, daß ich in der Hölle bin, also bin ich in ihr" (Nuil de /Enfer).
41
Rimbaud 158: „Dir, Natur, gebe ich mich hin" (Baumerts de mm).
42
R.Char, Porträt und Poesie, hg. von P. Guerre (Darmstadt 1968) 166. Der Rimbaud-Essay
wurde 1956 geschrieben.
nicht)" 43 . Aus dem Feuer der Negativität hat Rimbaud eine Dichtung ge-
wonnen, die noch die Zonen des Todes erleuchtet.

Das Spiel zwischen Chaos und Ordnung besiegelt im 20Jahrhundert das


Ende jeder tradierten Naturtheorie. Den Adepten des Positivismus, die sich
um 1930 als „Wiener Kreis" formierten, erklärte Wittgenstein: „Für mich hat
die Theorie keinen Wert. Eine Theorie gibt mir gar nichts" 44 . Mit provozie-
render Offenheit leugnet der Mystiker, daß es „Erklärungen" gibt. Ein Wert,
ästhetisch wie ethisch, bedarf keiner Erklärung; denn Ästhetik und Ethik ha-
ben nichts mit Tatsachen zu tun; Sinn liegt im Außerhalb. Als Wittgenstein
das Ende der Theorie verkündet hatte, war er bereit, philosophierend „bis an
die Wurzeln" zu gehen, um das Verborgene aufzusuchen. Wo er Denkfigu-
ren aus dem Bereich der Natur nimmt, tut er es nicht um der Illustration
willen. Er sucht in der ästhetischen Ordnung nach etwas Ethischem. In den
Vermischten Bemerkungen aus dem Nachlaß, die philosophische Notate von
den zwanziger Jahren bis 1951 versammeln, taucht Natur an wichtigen
Stellen auf. „Laß nur die Natur sprechen" schreibt Wittgenstein 1929, sich
selber bei bohrenden Fragen beruhigend, wie sie ihn bei seiner Umwertung
der Philosophie öfter heimsuchten 45 . Der Tonfall kehrt wieder in einer
Bemerkung zwölf Jahre später: „Laß Dich nicht von dem Beispiel Anderer
führen, sondern von der Natur!" 46 Es ist ein ästhetisch-ethischer Imperativ:
Die Natur spricht nicht, sie zeigt, was sie ausdrücken will, als Gestalt. Das ist
Wittgensteins Morphologie. Nicht zufällig klingt darin die Erinnerung an
Goethes morphologische Methode an; Wittgenstein schätzte sie hoch47. Sein
Blick auf die Natur hat mit ästhetischer Wertung, also mit Sprache zu tun.
Das Widerspiel von Chaos und Ordnung ist letztlich ein Sprachspiel um
häßlich und schön. „Wenn Menschen eine Blume oder ein Tier häßlich
finden, so stehen sie immer unter dem Eindruck, es seien Kunstprodukte.
'Es schaut so aus, wie...' heißt es dann. Das wirft ein Licht auf die Bedeutung
der Worte 'häßlich' und 'schön',,48. Die Lichtmetapher ist keineswegs
konventionell, sondern persönlicher Ausdruck eines philosophischen Ethos,
um das sich Wittgenstein lebenslang mühte: „Licht in ein oder das andere
Gehirn zu werfen"49.

43
Rimbaud 189
44
Wittgenstein und der Wiener Kreis: W 3,117
45
Wittgenstein W 8, 452
46
Ebd. 507 (1941)
47
Dazu Schulte 11 - 4 2
48
Wittgenstein W 8, 465 (1931)
49
Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen (=PU). Januar 1945 (W 1, 232f.)
162

Aber unwahrscheinlich schien ihm der Versuch, eine chaotische Welt


durch Klarheit der Sprache zu illuminieren. Denn Sprache ist ein Labyrinth50,
aus dem kein Sprechender einfach heraustreten kann. Sie hält uns mit ihren
Bildern gefangen51. Auch Natur will sich der Sprache entziehen: „Man
glaubt, wieder und wieder der Natur nachzufahren, und fährt nur die Form
entlang, durch die wir sie betrachten"52. Wittgenstein schreibt ihr eine Souve-
ränität des Gestaltens zu, die sich konventionellem Ordnungsbegriff nicht
mehr fügt; ihr Schöpferisches ist so unbegreiflich wie das Originalgenie
Shakespeare. Das Chaotische, den bürgerlichen Geschmack Verletzende, der
Anstoß für alle Klassizisten, ist dieser Anteil der Natur an ihm. Wittgenstein
nimmt Shakespeares Leichtigkeit und Selbstherrlichkeit hin wie Natur oder
Landschaft53. Er scheut selbst den Ausdruck „Wunder der Natur" nicht,
verbindet ihn aber sofort mit der Kunst, die solche Wunder „zeigt". Nur
philosophische Trübe verschleiert, was staunenswert an der Natur ist54. Witt-
genstein weist metaphorisch auf Blüte und Kristall hin, auf die offene und
die geschlossene Form, wo Wahrheit sich ästhetisch offenbart. Von daher
versteht sich die Frage, eingestreut in die Bemerkungen über die Grundlagen der
Mathematik: „Wie wäre es, wenn Tiere und Krystalle so schöne Eigenschaften
hätten wie die Zahlen"55. Denn der Kristall ist Gestalt, so wie die Zahlen Ge-
stalten sind56. Tier und Kristall bezeugen kraft ihrer Form die Souveränität
der Natur, die Rauhes wie Glattes hervorbringt. Ihr Schönes aber ist, daß sie
wie aus einem Märchen heraus eintreten in philosophische Texte, ästhetisch
Wildnis sind. Wittgensteins Methode erinnert von ferne an die poetische
Naturwissenschaft des Novalis, nicht zuletzt im apercuhaften Stil57.
Wittgensteins Hinwendung zum „Wilden" ergibt sich (wie beinahe
gleichzeitig für Pavese) aus seiner Lektüre von James Frazers Hauptwerk The
Golden Bough (1922). Diese Lektüre, seit 1931 bezeugt, war freilich durchaus
kritisch58. Den Bedeutungs- und Gestaltdenker Wittgenstein verdrießt vor
allem der falsche Gebrauch, den Frazer von Religion und Magie macht, so
als handle es sich hierbei um Irrtümer59. Dabei weiß Wittgenstein, daß man
im Chaos die Ordnung, im Unsinn den Sinn finden muß; es gilt beim Irrtum
anzusetzen, um ihn der Wahrheit zu überführen60. Irrtum ist für die Sprache,

so PU 203 (W 1,346)
5'PU 115 (W 1,300)
52
PU 114 (ebd.) mit selbstkritischem Verweis auf Tract. 4.5 (W 1,45)
» Wittgenstein W 8, 519 (1946)
M
Ebd. 530 (1947)
55 Wittgenstein W 6, 230
« Ebd. 229
57
Dazu M.Frank/G.Soldati, Wittgenstein. Literat und Philosoph (Pfullingen 1989) 56ff.
58
Dazu Wittgensteins Bemerkungen über Fräsers Golden Bough, in: Vortrag über Ethik und
andere kleine Schriften, hrsg. von J.Schulte (Frankfurt/M. 1989) 29 - 46
59
Ebd. 29
M
Ebd.
163

was Sünde für die Religion ist; beide weisen auf Ethisches hin. Demonstrativ
nimmt Wittgenstein für wildes Denken, für religiösen Symbolismus, ja für
Magie Partei. So beklagt er die Enge des seelischen Lebens bei Frazer, seine
Unfähigkeit, ein anderes Leben zu begreifen als das englische der spätviktori-
anischen Zeit. Von daher verteidigt er das Phänomen des Heiligen: ein Name
ist heilig, weil er das wichtigste Instrument ist, das einem Menschen gegeben
wird61. Der Vorwurf des Irrtums fällt zurück auf eine Wissenschaft, die das
Magische in das Prokrustesbett ihrer Meinungen zwingt. Das wilde Denken
handelt niemals aus Meinungen, sondern weil es das Furchtbare, Großartig-
Tragische (etwa die Tötung des Priesterkönigs von Nemi) konkret als etwas
Heiliges erlebt; Wittgenstein erkennt in dieser Opferhandlung die „unge-
zähmte Majestät des Todes" 62 . Dem ethnologischen Blick des Philosophen,
der das Fremde, die Gegen-Vernunft, den „Unsinn" zu objektivieren weiß,
wird klar, daß im Verwirrenden sich Ordnung nicht sagt, sondern %eigt. Sich-
Zeigen ist eine Art von Illumination.
Mit Genugtuung verweist Wittgenstein auf die magische Praktik, die das
Nachleben Franz Schuberts sichern sollte: „Denken wir daran, daß nach
Schuberts Tod sein Bruder Partituren Schuberts in kleine Stücke zerschnitt
und seinen Lieblingsschülern solche Stücke von einigen Takten gab. Diese
Handlung, als Zeichen der Pietät, ist uns ebenso verständlich, wie die andere,
die Partituren, unberührt, niemandem zugänglich aufzubewahren"63. Dieser
Opferritus, der Andenken stiftet, wirft Licht auf den Toten, erleuchtet sein
sonst chaotisches Leben. Vieles in uns, so Wittgenstein, spricht für die
Handlungsweise der Wilden, da das Symbolbedürfnis tief in uns selber
steckt; gerade das Wilde in uns verlangt nach philosophischer Klärung. Wir
wissen, was „Geist" und „Schatten" meinen, weil etwas in uns erleuchtet
werden will: „Nichts zeigt unsere Verwandtschaft mit jenen Wilden besser,
als daß Frazer ein ihm und uns so geläufiges Wort wie ,ghost' und ,shade' bei
der Hand hat, um die Ansichten dieser Leute zu beschreiben"64. Hier ist es
wieder, das Zauberwort „Es zeigt sich", die magische Formel, mit der
Wittgenstein ein Evidenzerlebnis, eine Illumination zu fassen sucht. Das
„Tiefe und Finstere" in unserer Natur, etwa der Brauch des Menschenopfers,
deutet auf Wildes hin, das rituell eng mit Sakralem verknüpft in unser Leben
eingebunden ist: Wir tragen eine Erinnerung in diesen Ritus hinein65. Darin
sind Tiefe und Evidenz verschwistert. Entgegen der pseudowissenschaft-
lichen Erklärungsweise Frazers sieht Wittgenstein im Ritus eine sinnerfüllte
Handlung, eine „sprechende Operation". Unsere Sprache bewahrt in ihren

61
Ebd. 33
« Ebd. 31
« Ebd. 34
<* Ebd. 38
65
Ebd. 43
164

Tiefenschichten, und sei es als abgesunkenes Gut, eine ganze Mythologie66.


Es sind Erinnerungen an eine Ordnung, die sich im Mythos wie von selbst
erzählt. Der Mythos aber ist deshalb unsterblich, weil er von Chaos und
Ordnung handelt.
Wittgenstein trainiert sich den ethnologischen Blick an. In den
phischen Untersuchungen findet sich der erstaunliche Satz: „Wir sind, wenn wir
philosophieren, wie Wilde, primitive Menschen, die die Ausdrucksweise zivi-
lisierter Menschen hören, sie mißdeuten und nun die seltsamsten Schlüsse
aus ihrer Deutung ziehen"67. Hier öffnen sich Ausgange aus konventionellem
Denken, die Wittgenstein später in ein berühmtes Bild faßt: „Was ist dein
Ziel in der Philosophie? — Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas
zeigen"68. Das Entkommen der philosophierenden Fliege aus der
Gefangenschaft der Bilder ist eine Allegorie, die von Hans Blumenberg noch
allzu erkenntnistheoretisch abgehandelt wurde69. Näher liegt es, darin einen
Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, aus den gläsern geschlos-
senen Denkräumen der Begriffsgeschichte zu sehen — in einer literarischen
Untertreibung, die alle Merkmale des bewußt gewählten Genus humile trägt.
Gerade darin erweist sich Wittgenstein, der allen Höhenflügen seine
Alltagsfliege entgegensetzt — seine Version des gefesselten Prometheus — als
„radikaler Bilderstürmer" 70 . Die Suche nach einem Ausgang aus dem
Fliegenglas der Denk- und Problemgeschichte ist ein Stoßen an Grenzen, wo
sich das Mystische zeigt: „Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das
mystische" 71 . Die Welt als Fliegenglas - und was dahinter? Das Stoßen an
Grenzen war für Wittgenstein biographisch wie denkerisch entscheidend.
Die gläserne Welt aber hält trotz aller Schrecken ein Glück bereit: die
Ahnung, daß der Tod kein Ereignis des Lebens mehr ist. An der galizischen
Front notiert sich Wittgenstein am 8.7.1916 ins Tagebuch: „Für das Leben in
der Gegenwart gibt es keinen Tod" 72 . Geschichte aber ist das Reich des
Todes — als Text das endlos rezitierbare Verwirr- und Deutungsspiel.
Der späte Wittgenstein trägt keine Scheu, die Begriffe Philosophie und
Chaos zu koppeln, sich aus der Tiefe, vom Anderen der Ordnung her inspi-
rieren zu lassen. Im Jahre 1948, bald nach Abschluß des ersten Teils der
losophischen Untersuchungen notiert er: „Beim Philosophieren muß man ins alte

66
Ebd. 38 Dazu Schulte 125ff.
67
PU 194 (W 1, 342). Vgl. Vermischte Bemerkungen (1940): „Wenn wir die ethnologische
Betrachtungsweise verwenden, heißt das, daß wir die Philosophie für Ethnologie erklären?
Nein, es heißt nur, daß wir unsern Standpunkt weit draußen einnehmen, um die Dinge
objektiver sehen zu können" (W 8, 502).
<* PU 309 (W 1,378)
69
Blumenberg, Höhlenausgänge 761 ff.
70
M.Geier, Das Sprachspiel der Philosophen (Reinbek 1989) 210
71
Wittgenstein, Tractatus 6.45 (W 1, 84)
72
Wittgenstein W 1,169
165

Chaos hinabsteigen und sich dort wohlfühlen"73. Das entspricht seinem


Wunsch, in der gänzlichen Asymmetrie die Symmetrie zu finden74. Das alte
Chaos waren nicht nur die ungelösten Fragen der Philosophie, sondern auch
die des persönlichen Lebens; sein Chaos rührte spürbar ans Ethische. Das
Ungesagte wie das Unsagbare - dies ist der Wurzelgrund, aus dem für
Wittgenstein der Gedanke sich ans Licht arbeiten muß. Das Licht von oben,
das der Philosoph geneigt ist, für ein Geschenk zu halten, ist ein Problem,
das er lösen soll75. Auch das Chaos entpuppt sich, zweideutig genug, als Ge-
schenk. Wie Jahrhunderte vorher für Dante ist für Wittgenstein die „selva
oscura" der Seele die naturale Chiffer für eine in ethischen Tiefen begründete
Krise - zugleich der Ausgangspunkt, um im Gewaltakt des Geistes ins Helle
zu kommen, wo die Probleme sich lichten. In die Verhältnisse der Sprache,
von Wittgenstein auch Labyrinth genannt, sollen die Sprachspiele Licht wer-
fen76. So führt die Philosophie durch die Wildnis: manchmal „geradenwegs
durchs Walddickicht der Fragen ins Freie hinaus" 77 . Die Metapher des Dik-
kichts, mit ihrem Anklang ans Märchen, entspricht einer weithin verschwie-
genen Seite von Wittgensteins Wesen. Was er im Innersten sucht, ist nicht
Kultur und Weisheit, sondern das „ursprüngliche wilde Leben, welches sich
austoben möchte" 78 . Für Wittgenstein war dies der Wunsch nach einer
Gesundheit, sinnlich und spirituell. Noch Jahre später greift er den Gedan-
ken auf, daß alle Weisheit kalt ist; er sehnt sich danach, „von etwas ergriffen
und umgedreht zu werden"79.
Ursprüngliches, wildes Leben - das klingt im Jahre 1940 überraschend.
Hatte doch der Kriegsfreiwillige Wittgenstein ein Viertel]ahrhundert zuvor,
zusammen mit der expressionistischen Generation, das Chaos in Geist und
Fleisch erlebt. Eine Vorahnung davon konnte er in den Gedichten Georg
Trakls finden, etwa in Abendland:

Ihr weithin dämmernden Ströme!


Gewaltig ängstet
Schaurige Abendröte
Im Sturmgewölk.
Ihr sterbenden Völker!
Bleiche Woge
Zerschellend am Strande der Nacht,
Fallende Sterne.80

73
Wittgenstein W 8, 542 (1948)
74
Ebd. 572 (1950)
75
Ebd. 510 (1943)
76
PU 130 (W 1,304)
77
Wittgenstein W 8, 563 (1949)
78
Ebd. 503(1940)
79
Ebd. 525 (1946). Zum biographischen Hintergrund: Monk 519ff.
80
Trakl 77. Der Text in 4. Fassung.
166

Im Garnisonsspital zu Krakau, wo Trakl nach einem Schock in psychiatri-


scher Behandlung war, wollte Wittgenstein ihn am 6.11.1914 besuchen; Trakl
selbst hatte ihn brieflich darum gebeten81. Doch war es schon am Vormittag
„zu spät", wie er in sein Tagebuch notierte, ohne die wahre Bedeutung des
Satzes zu ahnen82. In Trakl suchte er einen Menschen, mit dem er sich hätte
„ein wenig ausreden" können83. Trakls Gedichte (gemeint ist die Sammlung
Sebastian im Traum) trafen ihn in eigener Denk- und Formulierungsarbeit im
Vorfeld des Tractatus. Das Tagebuch vermerkt am 24.11.1914: „Immer wie-
der liegt mir die fehlende Erkenntnis auf der Zunge. (...) Ficker sandte mir
heute Gedichte des armen Trakl, die ich für genial halte, ohne sie zu
verstehen. Sie taten mir wohl"84. Dessen letztes Gedicht, Grodek über-
schrieben, hat Wittgenstein wohl niemals kennengelernt. Sein Titel, gleich-
gleichsam ein Epitaph, beschwört jene Schlacht in Galizien, die Trakls
Zusammenbruch auslöste. Hier sucht ein Dichter das Grauen des modernen
Krieges zum letztenmal mythopoetisch zu bewältigen. Auf ähnliche Weise
trifft auf Trakl zu, was sich Wittgenstein am gleichen Tag als philosophi-
schen Ertrag notiert: „Im Satze legen wir ein Urbild an die Wirklichkeit
an"85. Auch Trakl maß in seinen poetischen Sätzen die Wirklichkeit an einem
Urbild - am erdichteten Einklang von Mensch und Natur, der noch im
Gesang des Abgeschiedenen mitschwingt:

Voll Harmonien ist der Flug der Vögel. Es haben die grünen
Wälder
Am Abend sich zu stilleren Hütten versammelt;
Die kristallenen Weiden des Rehs.86

Doch nicht die Suche nach einer Logik, nach Maß und Gesetz, sondern das
schiere Entsetzen hat Trakl am Ende die Zunge gelöst: Das Chaos, das ihm
in Grodek entgegenschlug, war Menschenwerk. Trakl rettet sich in Bilder
einer mythisch verstörten, dionysisch erregten Natur. Deren Passion er-
wächst aus der menschlichen Wildnis. Der Dichter Trakl zeigt, wie später der
Philosoph Wittgenstein, .Ausschnitte aus einer Ungeheuern Landschaft"87:

Am Abend tönen die herbstlichen Wälder


Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne

81
Wittgenstein, Geheime Tagebücher, hg. von W.Baum (2.Auflage Wien 1991) 38 Anm. 56
82
Ebd. 39
83
Ebd.
84
Ebd. 45 f.
85
Wittgenstein W 1,121
86
Trakl 78f.
87
Wittgenstein W 8, 529 (1946)
167

Düstrer hinrollt; umfangt die Nacht


Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.
Doch stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt,
Das vergoßne Blut sich, mondne Kühle;
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
Es schwankt der Schwester Schatten durch den
schweigenden Hain,
Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
Und leise tönen im Rohr die dunklen Flöten des Herbstes.
O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre,
Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger
Schmerz,
Die ungebornen Enkel.88

Die diskreten Anklänge an Hölderlin rufen bei Trakl das Bild heiliger Wildnis
herbei. Doch das Blutgewölk, worin der zürnende Gott wohnt, tränkt das
Motiv vollends mit Entsetzen und Gewalt. Die Verborgenheit des Gottes ist
eine Form seines Zornes. Daß dieser Tag mit mondener Kühle versöhnt, ist
eine Illusion; sein Telos bleibt Auflösung. Das Gedicht präsentiert stark
farbige, apokalyptisch getönte Bilder, die zu erstarren beginnen. Inmitten
eschatologischer Landschaft fällt die Geschichte an die Natur zurück: „Alk
Straßen münden in schwarze Verwesung". An Ende steht die Mythisierung
der Großen Trans formarion im Zeichen der Heraklitischen Flamme. Das
Chaos, das mit Geschichte eins wird, taucht ein die Todesverklärung, wie sie
von den Relikten der sterbenden Bukolik — dem schweigenden Hain, den
dunklen Flöten des Herbstes ausgeht. Die Raserei des Krieges vernichtet die
Idylle, die den Knaben Elis, das alter ego Trakls, einst eingesponnen hatte.
Der Text hält die blutigen Trümmer dieser Idylle wie Ikonen hoch. Im Ritual
des Schmerzes, hierin ein Jünger Nietzsches, feiert Trakl das Ende der Ge
schichte als Untergang zur Ewigen Wiederkehr. Die Chiffer der „ungebor
nen Enkel" verschmelzt Hoffnung und Furcht ineins.
Ohne es zu wissen, waren Trakl und Wittgenstein einander nah in ihrer
Todessehnsucht. Beide rührten ans Chaos in der eigenen Natur. Trakls
Freitod, Wittgensteins Selbstmordversuchungen sind, ethisch gesprochen,
verzweifeltes Anrennen an die Grenze der Sprache als Grenze der Welt. In
Trakls Grodek wie in Wittgensteins Tractatus klafft zwischen Sagen und Zei
gen ein Abgrund. Die Differenz ist beiden aus ihrer Praxis des Schreibens
bewußt, ebenso die ethische Implikation dessen, was vordergründig Verfall
und Scheitern heißt. So notiert sich Trakl in einem Aphorismus: „Gefühl in
den Augenbücken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert.

88
Trakl 94
168

Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist all deine ungelöste
Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne" 89 . Die Schwester, deren
Schatten durch das Gedicht schwankt wie eine neue Antigone, wird zur Alle-
gorie Versehrter Natur, deren Trauer nur gestisch darzustellen noch ist. Als
Anima des Dichters taumelt sie sprachlos aus der Geschichte heraus. Die Er-
schütterung kommt aus dem Jenseits des Textes; denn bei Trakl ist das Hei-
lige in der Gewalt verborgen, in blutenden Häuptern, die an das Haupt eines
Andern erinnern. Aber das Heilige kann nicht mehr Sprache werden. Woran
der Akt des Schreibens als Akt des Andenkens rührt, ist objektive Verzweif-
lung. Der Text, von seinem Autor sich lösend, gewinnt ein Eigenleben, das
mit dem Lebensproblem des Schreibenden nichts mehr zu tun hat - ihn vor
dem Freitod nicht rettet. Allein der Dichter zähmt, was den Menschen zer-
reißt: das wilde Tier in sich. Wie Wittgenstein ein Vierteljahrhundert später,
in einem anderen Kriege, als seine Ästhetik notiert: „In aller großen Kunst ist
ein WILDES Tier: gezähmt". Und weiter: „Alle große Kunst hat als ihren
Grundbaß die primitiven Triebe des Menschen" 90 . Der Satz meint nicht Psy-
chologie, sondern Ethik — die Bearbeitung der Todeswünsche. Aus diesem
Wort fällt Licht auf Wittgensteins eigenes Chaos.
Die Landschaft Trakls entsteht aus der Zerstörung des Sinnsystems Ge-
schichte. Wie Hölderlins „verschwiegene Erde" gewinnt sie religiöse Quali-
tät. Trakl tränkt seine Bilder mit der Idee des Opfers, mit dem Pathos der
kollektiven Passion. Natur, sakralisiert, ist der Körper, der die Passion erlei-
det. Doch diese Deutung gibt es nicht im Litteralsinn; sie ist im Text einzig
als ethische Implikation enthalten. Trakl beschreibt eine Opferhandlung;
doch das Gedicht bleibt unvollkommene Sühne für ungenannte Schuld. Aus
dem Zweiten Weltkrieg ist uns kein Gedicht wie Grodek überliefert. Es fehlte
nicht an Dichtern. Doch mit dem Mißbrauch der Wörter, den Politik beid-
seitig der Fronten betrieb, hatte der Ausdruck einer ganzen Kultur sich ver-
ändert. So als hätte der Krieg die Landschaft selbst zum Verschwinden ge-
bracht.

Der Zweite Weltkrieg mit seinen Umbrüchen und Katastrophen brachte für
Wittgenstein einen „Aspektwechsel" 91 . Zum ersten Mal schien ihm das
Chaos ein möglicher Urgrund der Philosophie - wie er überhaupt in den Jah-
ren 1947/48 zu einer apokalyptischen Ansicht der Welt kam. Er hat den
Glauben an eine historische Zukunft verloren, fest davon überzeugt, „daß
die Idee vom großen Fortschritt eine Verblendung ist, wie auch von der end-
lichen Erkenntnis der Wahrheit; daß an der wissenschaftlichen Erkenntnis
89
Ebd. 256
90
Wittgenstein W 8, 502 (1940)
91
Dazu biographisch Monk 518ff.
169

nichts Gutes oder Wünschenswertes ist und daß die Menschheit, die nach ihr
strebt, in eine Falle läuft"92. Diese Position hat ihre eigene mephistophelische
Wahrheit. In Bertrand Russells Augen war Wittgenstein nur noch einer, der
Verwirrung stiftet93. Was ihn bedrängt wie belebt, sind unzählige irrelevante
Fragen, die keiner festgefügten Ordnung mehr sich fügen: „Möge ich durch
diesen Wald mich durchschlagen können!" 94 In dieser Phase entdeckt der
Mystiker Wittgenstein die Inspiration in der schwer faßbaren Tiefe des Irre-
gulären, wo die Fragezeichen anzusetzen und die Probleme des Lebens allein
zu lösen sind95. Diese Tiefe ist durchaus chaotisch. „Die Gedanken steigen,
langsam, wie Blasen an die Oberfläche" 96 . Das merkwürdige Bild taucht
schon in Shakespeares Macbeth auf, wo Banquo das Verschwinden der drei
Hexen kommentiert: „Die Erd' hat Blasen, wie das Wasser hat,/ So waren
diese - wohin schwanden sie?"97 Auch Wittgenstein verdankte manches an
seiner Philosophie den „Wurzeln des verworrenen Lebens", wie Hof-
mannsthal in einem berühmten Gedicht geschrieben hatte.
Shakespeares Metapher hat noch einen Dichter inspiriert, dessen Senso-
rium für Chaotisches hochgradig ausgeprägt war. In seinem Zyklus Blasen der
Erde (ITy3i>ipH 3eMJiH) schrieb Alexander Blök, der Großmeister des rus-
sischen Symbolismus, am 3. Juni 1905, als die Niederlage gegen Japan offen-
kundig war und die erste russische Revolution sich vorbereitete, ein Gedicht,
in dem Naturgefühl und Verzweiflung am Gang der Geschichte zu dunkler
Erkenntnis gerannen:

IIOJIK>6H 3Ty BeHHoen» 6OJIOT:


Hmcorfla He HCCAKHCT HX MOIH..
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3TOT KycT - 6e3 HCTJICHHH - Tom.

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OflHHOKafl ynacb CBeivia.


Ce3iiaHa.Tbna« JIOJIS CBjrra.
3TO BeiHocn. CaMa CHH3omjia
H iiaßeKH 3aMKHyjia ycTa.

>2 Wittgenstein W 8, 529 (1947)


13
Monk 524 mit Bezug auf die berühmte „Feuerhaken-Debatte" mit Karl Popper am
26.10.1946 im Moral Science Club, Cambridge
14
Wittgenstein W 8, 546
15
Ebd. 555
* Ebd. 539
'7 Shakespeare, Macbeth 1,3: „The earth hath bubbles, as the water has".
170

Dieses endlose sumpfige Land,


Hab es lieb: nie versiegt seine Kraft.
Es stirbt nicht, dieses Gras, das verbrannt,
Dieser ewige Strauch ohne Saft.

Diesem rostigen Hügel, dem Stumpf,


Bist auch du, der Gefangene, bekannt.
Unveränderlich Ewiger Sumpf -
Du, Verräter, hast keinen Bestand.

Einsamkeit ist ein helleres Los.


Heilig ist die Gesetzlosigkeit.
Und die Ewigkeit selbst, still und groß,
Stieg hernieder, verstummte, und schweigt.98

Dieser Sumpf, der als Sinnbild für Rußlands Stagnation sich förmlich auf-
drängt, ist unwandelbar und unheilbar chaotisch; nichts vermag ihn in sei-
nem anarchischen Wesen zu ändern. Jenseits von Gut und Böse bleibt er der
ewige Anlaß, ihn mit vergeblichen Blitzen des Geistes zu illuminieren. Jeden,
der ihn betrachtet, macht er hilflos, zornig und einsam. In diesem Naturzei-
chen hat Blök das Psychogramm einer autokratisch erstarrten Gesellschaft
gegeben, der selbst der religiöse „Überbau" Lähmung und Last des Schwei-
gens auferlegt. Aber der Dichter ist nur Medium. Das klassische Subjekt-
Objekt-Verhältnis wird poetisch umgedreht: nicht nur der Dichter betrachtet
den Sumpf, sondern der Sumpf betrachtet auch ihn. Abscheu und Faszina-
tion vermischen sich in diesem Spiel. Der Sumpf gleicht dem russischen
Volk, das dumpf auf den Erlöser wartet; über ihm hegt eine „entsetzliche
Trägheit und ein furchtbarer Schlaf". Doch Blök ahnt die verborgene Gä-
rung. In der düsteren Stimmung einer „abgeschnittenen Knsis"
(J.Burckhardt) furchtet er das Volk; er spürt das langsame Erwachen eines
Riesen, fühlt sich von ihm beobachtet, zugleich gebannt. Die quälende Isola-
tion der Intellektuellen, die nicht imstande sind, Rußland zu retten, verurteilt
er in einem Aufsatz von 1908 als „Selbstvergessenheit der Schwermut, der
Verzweiflung, der Gleichgültigkeit"100. Das Gefühl historischen Versagens
wird ihn 1917 zum Sympathisanten der bolschewistischen Revolution ma-
chen. Die Gesetzlosigkeit, ihre verzweifelte Kraft ist für den Dichter heilig
(besnatschal'naja dolja svjata) - so wie hundert Jahre zuvor für Hölderlin die

98
Blök, Gedichte 32/33. Für kommentierende Hinweise zur Übersetzung danke ich Prof.
Rolf-Dietrich Keil (Meckenheim).
99
A.Blok, Volk und Intelligenz. 1908 (Aufsätze 29). Das „Rauchblau Blokscher Sümpfe" wird
noch für Nabokov, den Emigranten im Berlin der dreißiger Jahre, Sinnbild des Leidens an
Rußland sein. Vgl. V.Nabokov, Die Gabe. Roman (Reinbek 1993) 64.
100
Blök, Aufsätze 36
171

Wildnis von Tinian. Bloks Gedicht belegt die These Wittgensteins, daß
Ästhetik und Ethik in der Tiefe eins sind.
Im Juni 1905 versinkt Blök in ein Endzeitgefühl, das sich als Depression
tarnt; mitten im Sommer quälen ihn „schwarze Tage". Vom Landsitz
Schachmatowo schreibt er, drei Wochen nach Niederschrift seines Gedichts,
an den Freund J.P.Iwanow, daß ihn Ereignisse angriffen, „die sich auf dem
allerwichtigsten Gebiet, dem 'Unsagbaren', begeben hatten" 101 . Bloks ganzer
Zorn richtet sich gegen St.Petersburg, die im Sumpfland gegründete Haupt-
stadt eines despotischen Rußland, die zeichenhaft für das politische Miasma
steht, für Verderbnis, Befleckung, Verseuchung. Der einsame Sumpf, Meto-
nymie für einen moralischen Zustand, verweist auf das geschichtliche Zen-
trum des Unheils: „Denn ich weiß, daß dieser eklige, faule Kern, wo unsere
Verwegenheit sich abquält und verkümmert, von Abgründen, bodenlosen
Morästen umgeben ist, wie sie das Auge des Menschen noch nicht gesehen
hat, das Ohr nicht vernommen. Ich habe die Grenzen unserer Stadt berührt,
ich weiß, ich weiß, was dort ist, daß die Winde noch lange dort zu winseln,
die Teufel umzugehn, die Ursupatoren in die Fäuste zu pfeifen haben. Noch
lange wird bei der Lachta Offenbarung vollzogen, werden die Himmelsröten
die Brust aufregen und überschütten mit dem Salz der Tränen und wird eine
Welt-Unsagbarkeit locken aus der Kloake" 102 . In diesem Brief, der authen-
tisch gerade in seinem Haßausbruch ist, zitiert Blök die Charakteristik, die
Iwan Konewskoj (1877 — 1901), der symbolistische Dichter, von Petersburg
gegeben hatte: „entlegenste tote Bucht", „Land der Flußmoräste", „Reich
des Dämons von Altmoskau". Bloks Geschichtskritik, gesteigert zum Duk-
tus des Untergangspropheten, zieht ihre Kraft aus einer Naturästhetik, die
Schönheit und Wahrheit substantiell ineins setzt.
Daß die Anarchie in dem Sumpfgedicht „heilig" genannt wird, ist Aus-
druck langer Enttäuschungsgeschichte und kollektiver Erinnerung an die Re-
volte der Raskolniki, an den „sengenden, brennenden Christus" 103 . Bloks
Brief an J.P.Iwanow gipfelt in der förmlichen Absage an den tradierten Gott.
Die Radikalisierung ist erstaunlich: „Ich will Aktivität, ich spüre, daß das
Feuer wieder naht, daß das Leben nicht wartet (es kommt nicht dazu — das
Feuer wird von seihst herfliegen), ich will viel hassen, will härter. (...) Das Alte
bncht zusammen. Nie nehme ich Christus an"104. In der eschatologischen
Stimmung des Entweder - Oder, vor der Notwendigkeit der Metanoia,
entscheidet sich Blök gegen alle historischen Sinnstrukturen, selbst gegen die
russische Christusreligion, die er ohne zu zögern dem Lager der
Herrschenden zuschlägt. Im Namen des Chaos sucht Blök den Ausgang aus
der Geschichte, doch ohne ihn zu finden. Das Rot der brennenden Götter-

101
Blök an J.P.Iwanow am 25.6.1905 (Lange 142)
102
Lange 142f.
105
Vgl. das Gedicht Heimat (Rodina), entstanden 1907/14 (Gedichte 123)
104
Lange 144
172

halle, das Richard Wagner, der „Beschwörer des alten Chaos"105, einst in
Musik gesetzt hatte, wird sich mit Lenin zum Banner der wirklichen Revolu-
tion verwandeln; für bürgerliche Mythologie ist dann kein Platz mehr. Blök
nimmt seine Apostasie in einer anderen Stunde der Wahrheit zurück: Am
Schluß seines Poems Die Zwölf (1918) wird er die Rotarmisten, die durch das
finstere Petrograd auf Streife gehen, zu zwölf Aposteln machen, denen im
Schneesturm unsichtbar Christus voranzieht. Es ist Bloks verzweifelte Hin-
gabe an den Messianismus der Zerstörung, an den Entschluß, die alten
Tafeln ganzlich auszulöschen.
Bloks Mystik wie jene Wittgensteins zeigt auf das Unsagbare - und sei
es in einem schweigenden Sumpf. Der Philosoph wie der Lyriker sind dann
Apokalyptiker, daß sie das Geheimnis an der Oberfläche entdecken - und
verstecken. „Komm und sieh" lautet ihr apokalyptischer Imperativ. Dem
späten Wittgenstein werden Kristall und Blüte zu Trägern der Erleuchtung,
ja zu einem Wunder. Es gibt Momente, da ihm nicht das Vernunftwesen
Mensch, sondern ein wimmelnder Ameisenhaufen als Inbegriff von Leben
gilt106. Diese Wahrnehmung von Natur rührt an die Grenze der Sprache;
Phänomene werden zu Epiphanien, weil ethisch und ästhetisch unerklärbar.
Sie geben — wie die Farben - Ratsei auf, regen zum Philosophieren an107. Das
Chaos, das illuminiert, entzieht sich der Beschreibung.
Der Symbolist koppelt „gesetzlos" und „heilig" nicht kraft poetischer
Willkür, sondern um seiner Aisthesis eine Gestalt zu geben - selbst, wenn sie
widersetzlich, befremdlich, von manischer Intensität ist. Um Blök zu verste-
hen, der über Rußland, den ewigen Sumpf, ein ästhetisch-ethisches Urteil
fällt, ist Kenntnis seines historischen Ortes notwendig. Was Naturgedicht
scheint, ist politische Allegorie; sie instrumentiert die Entfremdung zwischen
Intelligenzija und Volk, die Blök in einem späteren Essay von 1908 mit
wachsender Besorgnis vermerkt. Wie vor dem Sumpf ist ihm bang vor dem
höhnischen Lächeln des „mushik", der mcht Geist, sondern Erde verkörpert
und mit Verachtung auf den Intellektuellen sieht, der vom Volk isoliert ist:
„Vor diesem Lächeln erstirbt sogleich unser Lachen. Furcht ergreift uns und
Unbehagen" 108 . Während aber im Volk der Lebenswille ungebrochen ist, ver-
fällt die Intelligenzija dem Willen zum Tode: „Gogol und viele andere
Schriftsteller stellten sich Rußland gern als die Inkarnation von Stille und
Schlaf vor. Aber der Schlaf geht zuende. Die Stille bricht ab, ihr folgt ein
fernes anschwellendes Dröhnen" 109 . Es ist jenes Rauschen der Tiefe, das
Blök später als Musik der Revolution beschreiben wird, als das Rauschen des
Chaos. Er kann sich bei dieser Wahrnehmung auf prominente Vorgänger

105
A.Blok, Der Zusammenbruch des Humanismus. 1919 (Aufsätze 105)
106
Wittgenstein W 8, 538 (1947)
107
Ebd. 544 (1948)
108
Blök, Aufsätze 29
">» Ebd. 35
173

stützen. „Gogol, Tolstoj und Dostojewski) haben die Musik der grausamen
Natur unserer Landes wohl vernommen" 1 ' 0 . So artikuliert der Zyklus Blasen
der Erde das Gefühl einer rebellischen Ohnmacht. Die Begegnung mit dem
Erdgeist wird nur noch mühsam von religiösen Chiffern aufgefangen. Blök
präsentiert im Naturzeichen den Seelenzustand seiner Epoche - den Sumpf
als Purgatorium. An den Grenzen der Sprache zeigt sich, am Vorabend einer
Geschichtskatastrophe, ein schlafendes Chaos, das Blasen an die Oberfläche
schickt. Aber von Ewigkeit her fällt Licht auf die unerlöste Natur.
Wittgenstein, Traid und Blök sind auf ihre Weise Apokalyptiker, Ver-
zweiflungskünstler - stimuliert von einem tiefen Pessimismus, der sich ge-
schichtskritisch und naturmystisch manifestiert. Blök, schon auf verlorenem
Posten, die Hoffnung auf ein Fortleben der bürgerlichen Kultur begrabend,
konstatiert im April 1919 mit stoischer Gefaßtheit den Zusammenbruch des
Humanismus. Woran er sich klammert, ist nur noch der Mythos des Künst-
lers. Der Sumpf, den er einst als Symbol sah, hatte in ungeheurer Gärung
eine reale Revolution geboren, Geschichte in Natur zurückverwandelt, wie es
Rimbaud prophezeit hatte. „Eines der Grundmotive jeder Revolution ist das
der Rückkehr zur Natur. (...) Dieses Motiv ist alptraumhaft und düster, es
spielt der Zivilisation zum Begräbnis auf. (...) Es berichtet davon, daß die
Gletscher und Vulkane jahrtausendelang schlafen, bis sie eines Tages
überraschend aufbrechen und Wasser und Feuer speien"111. Vor seinem
Tode versuchte sich Blök noch einmal an der Illuminierung des Chaos durch
Selbstopfer. In seiner berühmten Puschkin-Rede vom 10.Februar 1921 be-
schwor er, der Dialektik des Mythos vertrauend, den ewigen Widerstreit von
Chaos und Kosmos als Ursprung der Kultur. Mit verzweifeltem Idealismus
auf Puschkin sich berufend, schreibt er dem Dichter zu, die Musik der
Elemente aus dem Abgrund zu befreien112. Doch die Geschichte droht
schon mit Sinnlosigkeit: „Die Ordnung der Welt ist voller Unruhe, sie ist ein
Produkt der Unordnung und braucht unseren Vorstellungen von Gut und
Böse nicht zu entsprechen" 113 . Blök opferte sein bürgerliches Erbe auf dem
Altar der Revolution, die wie Feuer vom Himmel fiel und es verzehrte.
Auch Wittgenstein war nach dem Zweiten Weltkrieg der Zivilisation,
vor allem ihrer britischen Spielart müde: „the desintegrating and putrefying
English civilization"114. Von Cambridge, das ihm mehr und mehr verhaßt
wurde, floh er 1948 in die Einsiedelei von Rosro im irischen Connemara 115 .
Sein Entfremdungsgefühl der Natur gegenüber machte ihm schwer zu schaf-
fen. Ihm schien, „als wäre die zivilisierte Umgebung, auch die Bäume und

110
Blök, Der Zusammenbruch des Humanismus. 1919 (Aufsätze 112)
111
Ebd. 97
1,2
Blök, Über die Bestimmung des Dichters. 1921 (Aufsätze 116)
115
Ebd
114
Kodierte Bemerkung 23.4.1947 (Monk 546)
115
Monk 554ff.
174

Pflanzen in ihr, billig eingeschlagen in Zellophan, und isoliert von allem


Großen und sozusagen von Gott" 116 . Zu wenig wildes Leben, zu wenig
Chaos also. Lange zuvor hatte er an sein eigenes Chaos gerührt. Suizidge-
danken, die nach Abschluß des Tractatus mit voller Heftigkeit aufbrachen117,
führten ihn zu rigiden Selbstheiligungsversuchen. Für Wittgenstein war
Selbstmord die elementare Sünde 118 , der Inbegriff ethischen Widerspruchs.
Er suchte sich durch physische und intellektuelle Askese, durch Akte der
Selbstverleugnung — Weggabe des Vermögens, Dasein als Volks schullehr er
in Dörfern Niederösterreichs — von dieser Schuld zu reinigen119. Wittgen-
steins Lehrerdasein in völlig ländlichen Verhältnissen, mißtrauisch beäugt
von den Dörflern, ist ein freiwilliger Bußgang in die Wildnis120. Doch seine
Suche nach dem Heiligen mißlingt. Der Rückfall in Philosophie nötigt
Wittgenstein, mit dem Schlußwort seines Tractatus zu brechen; das gebro-
chene Schweigegelübde quält ihn mit Sprachgewissen. Was ihm Gewißheit
wird: das Heilige zeigt sich, es spricht nicht.

Das „Mystische", wie Wittgenstein es nannte 121 , spielt bei den Dichtem der
Jahrhundertwende eine erstaunliche Rolle. Der Duktus des Zeigens ergibt
sich aus einer Sprachkrisis um 1900, die Fritz Mauthner und Karl Kraus
scharfsichtig reflektierten122. Die Zeigegebärde, Erbschaft des Symbolismus,
ist naturgemäß eine Ausdrucksform postmetaphysischer Dichtung. Rilkes
Achtzeiler Vorfrühling, 1924 in Muzot geschrieben, ein Meisterwerk des Re-
duktionismus, verzichtet auf alle sonst virtuose Beschreibungskunst und be-
gnügt sich mit dem reinen Gestus:

Zärtlichkeiten, ungenau,
greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigens.

Hier ereignet sich Sinngebung jenseits des konventionellen Sinns mittels der
bloßen Epideixis. Was bleibt, ist am Ende ein „Es", verheimlicht in dem ans
„zeigen" angehängten, kleingeschriebenen „s". Auch das sind Ausgänge aus
der Monumental- und Katastrophengeschichte — zu einer Ordnung hin, die

ii« Wittgenstein W 8, 520 (1946)


" 7 Monk 189ff. Vgl. Wittgensteins Briefe an Paul Engelmann Nr. 109, Nr. 131, Nr. 132,
alle aus den Jahren 1919/20 (Briefe 98. 112. 112f.)
"8 Wittgenstein, Tagebuch 10.1.1917 (W 1,187)
M9
Dazu K.Wünsche, Wittgensteins Selbstheiligungsoperationen, in: D.Kamper/Ch.Wulf
(Hrsg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne (Frankfurt/M. 1987) 292 - 307
i20Monk211ff.
i2i Wittgenstein, Tractatus 6.522 (W 1, 85)
122 Dazu A.Janik/S.Toulmin, Wittgensteins Wien (München 1984) 83ff., 163ff.
175

nicht mehr an normative Sinnmuster gebunden ist, sondern an Naturdingen


selbst einen Ausdruck entdeckt. Das Sagen Rilkes dient nur noch dem Zei-
gen. Ähnliches geschah zu Beginn des Jahrhunderts in Hofmannsthals
Cbandos-Brief(\902), der die Krise bürgerlicher Weltsicht als Sprachkrise faßt.
Die Kur, die sich Lord Chandos verschreibt, ist Hinwendung zu den alltäg-
lichsten Dingen ländlicher Lebenswelt, rhetorisch gesprochen: zum Genus
humile. Wenn ein Schwimmkäfer in einer Gießkanne abends von einem zum
anderen Ufer rudert, strömt das Unendliche in dieses Nichts ein, so daß es
Chandos von den Haarwurzeln bis in die Fersen durchschauert 123 . Die
Worte, in die er ausbrechen möchte, würden Cherubim niederzwingen. Aber
es gibt diese Worte nicht. Vor einfachsten Gegenständen erlebt er die Ek-
stase der Natur. „In diesen Augenblicken wird eine nichtige Kreatur, ein
Hund, eine Ratte, ein Käfer, ein verkümmerter Apfelbaum, ein sich über den
Hügel schlängelnder Karrenweg, ein moosbewachsener Stein mir mehr, als
die schönste, hingehendste Geliebte der glücklichsten Nacht mir je gewesen
ist"124. Nichts Ästhetisches und Raffiniertes, sondern Rohes und Wildes lö-
sen die mystische Anwandlung aus. Chandos fühlt an den Grenzen der Spra-
che, fast monistisch, das Hinüberfließen des eigenen Ich in die Welt: „Es ist
mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffern, die mir alles auf-
schließen"125. Hofmannsthal war um 1900 hochsensibel für die Unwirklich-
keit des Wirklichen geworden, wie die Briefe des Zurückgekehrten (1907) — kei-
neswegs ohne politische Implikationen — bezeugen. Seine Kritik an einem
Deutschland, das Weltmacht spielt, aber gesichtslos wird, auch im Geistigen
uniformiert, mündet — höchst überraschend — in einen Hymnus auf die
Kunst Van Goghs. Nicht Worte, sondern Bilder heilen den Heimgekehrten
von seiner Sinnkrise, einem diffusen Einkreisungsgefühl. Es sind bezeich-
nenderweise Bilder von der Natur, „ganz roh, ganz sonderbar", „wie neuge-
boren aus dem furchtbaren Chaos des Nichtlebens" 126 . In fast schon expres-
sionistischer Wahrnehmung greift Hofmannsthal die Geburtsmetapher auf,
um die Genese einer neuen Welt aus dem Geiste des Chaos zu schildern:

In einem Sturm gebaren sich vor meinen Augen, gebaren sich mir zu-
liebe diese Bäume, mit den Wurzeln starrend in der Erde, mit den
Zweigen starrend gegen die Wolken, in einem Sturm gaben diese
Erdrisse, diese Täler zwischen den Hügeln sich preis, noch im Wuch-
ten der Felsblöcke war erstarrter Sturm.127

123
Hofmannsthal 136
124
Ebd. 137
125
Ebd.
126
Ebd. 185. 187
127
Ebd. 187
176

Dergleichen Ausdruckskunst lebt vom Duktus gewaltsamen Zeigens. Was


den Betrachter heilt, ist die Naturgewalt der Farben, die „Brüder der
Schmerzen" sind128.
Der einsame Furor der Kunst wich am 1.August 1914 dem Furor des
Krieges. Am Rande des kollektiven Wahns, der die bürgerliche Welt- und
Sinnordnung bis auf den Grund zerstörte, suchte Musil an der Dolomiten-
front seinen Ausgang aus der Geschichte. Die Eskapade des literarischen
Soldaten bringt Tod und Leben im intensiv geschauten Naturbild zusammen.
Die Hügel um den Caldonazzo-See, wie Grabkränze daliegend, geigen, was
hier geschieht: ein tödliches Ritual, das alltäglich seine statistisch festgelegten
Opfer fordert. Aber nur hier gibt es jene „merkwürdige Ruhe, die man emp-
findet, wenn man dauernd im Feuerbereich lebt"129. Die Zeichen der Natur,
ästhetisch, also zweckfrei, verweisen auf eine „nicht-ratioide Ordnung", auf
ein Als-ob von Sinn in einer sinnleeren Welt. Der da bei nächtlichem Artille-
riebeschuß den Kopf über die Grabenwand, man möchte sagen: über die
Grabeswand hebt, entdeckt trotz des Verwüstungswerkes in diesen Zeichen
die eigene Daseinsverliebtheit:

Da sah ich dann die Brentagruppe hell himmelblau, wie aus Glas steif
gefältelt, in der Nacht stehen. Und gerade in diesen Nächten waren
die Sterne groß und wie aus Goldpapier gestanzt und flimmerten fett
wie aus Teig gebacken, und der Himmel war noch in der Nacht blau,
und die dünne, mädchenhafte Mondsichel, ganz silbern oder ganz
golden, lag auf dem Rücken mitten darin und schwamm in Ent-
zücken. Du mußt trachten, dir vorzustellen, wie schön das war; so
schön ist nichts im gesicherten Leben. 13°

Zwar hegt der Sinn dieser Zeichen im Außerhalb, wie es gleichzeitig


Wittgenstein an der galizischen Front deklarierte131. Doch der ästhetische
Schein schöner Ordnung vermag noch das Chaos des Krieges mit Wahrheit
zu illuminieren. Was Musil mit poetischen Blicken erneuert, ist - zum letzten
Mal - Natur als „Theorie", als Ahnung eines ästhetischen Ganzen - und
deshalb märchenhaft, mit Figurationen wie ein Pastell von Klee. In diesem
Schein leuchtet Ethisches auf — Liebe, Glücksverlangen, und der verborgene
Tod. Daß Sinn in diesen Zeichen verschwiegen wird, sagt nichts dagegen, sie
quasi religiös zu lesen. Wie Wittgenstein um 1930 im Wiener Kreis mit dra-
stischer Kürze erklärte: „Das Wesen der Religion kann offenbar nicht damit
etwas zu tun haben, daß geredet wird"132. Das Ethische liegt in der Wahr-
nehmung.

128
Ebd. 195
129
Musil, Prosa und Stücke 555
130
Ebd. 554
131
Wittgenstein, Tagebuch 11.6.1916 (W 1,167). Vgl. Tractatus 6.41 (ebd. 82)
132
Wittgenstein W 3,117
177

Der Erste Weltkrieg, Europas „Urkatastrophe" (G.Kennan), diskredi-


tierte mit den Idolen Fortschritt, Humanität und Zivilisation auch die Ge-
schichtsphilosophie als Illusion der bürgerlichen Rationalität. Was angesichts
des Unbeschreiblichen blieb, waren Sprachspiele — Spiele mit den Versatz-
stücken des Symbolismus wie bei Wallace Stevens, Spiele mit der Mechanik
des Unbewußten wie bei den Surrealisten, Spiele mit den Relikten der Kultur
— enttäuscht, ironisch, zynisch — wie bei Eliot, Max Ernst oder Benn. „These
fragments I have shored against my ruins" schrieb T.S. Eliot seinem Waste
Land (1922), das die Geschichte Europas als Haufen zerbrochener Bilder
enthüllt und auf den Spuren Frazers, dem Mythos von Sterben und Aufer-
stehen m der Natur mit seinen Topoi huldigt: „What are the roots that
clutch, what branches grow/ Out of this stony rubbish?" 133 Im Naturzeichen
ist der in Frageform gekleidete Gestus prophetischen Zeigens enthalten: ab-
solut gesetzt, ohne auf Antwort zu warten, erhellt er das Chaos der Men-
schen, das „in deserto" verlegt ist. Wurzeln, Astwerk, Geröll bilden ein natu-
rales Korrelativ für Eschatologisches, spielen auf die Frage nach Frucht oder
Fruchdosigkeit und den Tag des Gerichts an. Dem mit sich selbst zerfallenen
Subjekt hält die Natur den strengen Spiegel vor. Das macht sie zu einer gött-
lichen, weil richtenden Instanz.
Herrschte bei dem zu England bekehrten Eliot noch ein gewisses, zwi-
schen Kulturkritik und Eschatologie vibrierendes Pathos, so überläßt der
eingefleischte Amerikaner Wallace Stevens dem Sprachspiel die Bühne. Seine
Gedichte variieren die Dialektik von Ordnung und Chaos auf ganz persönli-
che Weise, nicht selten maniriert; aus dem Widerspruch macht Stevens ein
poetisches Prinzip. Der bürgerliche Fond, an dem dieser Nachkomme hol-
ländischer Einwanderer in Habitus und Denkart unbeirrt festhält, gibt seiner
Dialektik das Spielerisch-Souveräne. In Stevens' Gedicht Arrival at the Waldorf
ist Wildnis nur noch private Utopie, mondäne Fiktion, Anlaß für lustvoll ge-
nossene Rückkehr zu einer Ordnung, die reines Kunstprodukt ist.

Home from Guatemala, back at the Waldorf.


This arnval in the wild country of the soul,
All approaches gone, being completely there,

Where the wild poem is a Substitute


For the woman one loves or ought to love,
One wild rhapsody a fake for another.

You touch the hotel the way you touch moonlight


Or sunlight and you hum and the orchestra
Hums and you say „The world in a verse,

Eliot, Gedichte (Frankfurt/M. 1964) 36/37: „Was ist dies Wurzelwerk, das greift, der Ast,
der sproßt/ Aus diesem Steingeröll?"
178

A generation sealed, men remoter than mountains,


Women invisible in music and motion and color",
After that allen, point-blank, green and actual Guatemala.

Zurück aus Guatemala, wieder im Waldorf.


Diese Ankunft im wilden Land der Seele,
Alles Annähern vorbei, ganz und gar da,

Wo das wilde Gedicht ein Ersatz ist


Für die Frau, die man liebt oder lieben sollte,
Eine wilde Rhapsodie eine Fälschung für eine andere.

Du berührst das Hotel wie du Mondlicht berührst


Oder Sonnenlicht und du summst und die Kapelle
Summt und du sagst „Die Welt in einem Vers,

Eine unzugängliche Generation, Männer ferner als Berge,


Frauen verborgen in Musik und Bewegung und Farbe",
Nach diesem ganz fremden, schroffen, grünen und wirklichen
Guatemala. 134

D a s G e d i c h t trägt das D a t u m 1940. In E u r o p a regiert schon Mars, die Mu-


sen schweigen, aber Stevens preist mit stoischem Snobismus das Welt-
stadthotel als O a s e inmitten des Chaos. Wildnis u n d Weltstadt, der D s c h u n -
gel v o n Guatemala u n d N e w York, das neue R o m , bilden zwei Pole,
zwischen denen das Wortfeld sich auflädt - mit Sehnsucht (aber unsenti-
mental), mit resignativer Weisheit des Weltmannes u n d entschiedenem Wil-
len zur Kunst. N o c h fern v o m europäischen Komplex der Selbstzer-
fleischung, die Erinnerungen eingewiegt v o m Swing, m i t s u m m e n d diese
Welt in einem Vers, zelebriert Stevens eine ironisch zivilisierte Wildnis. D e n n
für den D i c h t e r ist eben nicht Guatemala, sondern das Waldorf der eigentli-
che Urwald, ein wildes L a n d der Seele, w o das Gedicht nur Ersatz für die
Verstrickungen der Liebe ist, die Rhapsodie „eine Fälschung für eine an-
dere", wie illusionslos vermerkt. D a s grüne Chaos, die tropische Ferne und
F r e m d e , die in der W o r t m a s k e Guatemala auftritt, wirft seinen Widerschein
auf die fragile O r d n u n g der Zivilisation. Ferne u n d Fremde sind wirklich, ge-
genwärtig, w ä h r e n d das Waldorf so u n b e r ü h r b a r ist wie Mond- u n d Sonnen-
licht. N i c h t der ausgeblendete Krieg in E u r o p a , w o die Geschichte ein neues
C h a o s erzeugt, sondern die E r i n n e r u n g an die poetische Wildnis ist das
„Aktuelle". D i e Poetik v o n Stevens betreibt skeptischen Hedonismus mit
einem S c h u ß Anarchie. Sie feiert im Waldorf den Ausstieg aus der G e -
schichte als schönes, gefährüches Spiel, wissend, daß dieser Augenblick auf
Messers Schneide schwankt. Naturästhetik als Gesellschaftsspiel - das „wilde

1M
Stevens, Collected Poems 240f. Dt. von K.Graf/J.Sartorius
179

Gedicht" illuminiert die Zivilisation. Doch eben diese Illumination macht


den Betrachter einsam - weil sie die Dinge entrückt, die Männer in ferne
Berge verwandelt, die Frauen in Musik und Farben verbirgt.
Stevens, ein Liebhaber der Ordnung, inspirierte sich gerne am Chaos,
wie sein langes Gedicht Sunday Morning (1915) bezeugt. Dort inszeniert er in
der siebten Strophe, in fast Gauguinschen Bildern, orgastische Natur-
verehrung:

Supple and turbulent, a ring of men


Shall chant in orgy on a summer mom
Their boisterous devotion to the sun,
Not as a god, but as a god might be,
Naked among them, like a savage source.
Their chant shall be a chant of paradise,
Out of their blood, returning to the sky.

Ergeben und erregt, ein Ring von Menschen


Wird orgiastisch eines Sommermorgens
Wilde Verehrung für die Sonne singen,
Nicht als ihr Gott, doch wie ein Gott sein könnte,
Nackt unter ihnen, wilder Quelle gleich.
Ihr Sang wird sein ein Sang vom Paradies,
Dem Blut entsprungen, sich zum Himmel kehrend.155

Die klassische Form suggeriert zwar Ausgewogenheit, doch kompensiert sie


vor allem ein modernes Sinnbedürfnis, das parareligiös nach Gemein-
schaftserlebnis verlangt. Dem puritanischen Amerika verordnet der Dichter
ursprüngliche Nacktheit, die weniger sinnlich als vielmehr psychohygienisch
ist. Seine Sonnenverehrer sind der europäischen Kultur, aber auch der
christlichen Dogmatik müde. Ihr Göttliches ist als Licht- und Lebensquelle
mitten unter ihnen, vom Himmel oder vom Olymp herabgestiegen. Stevens
verkündet, was Kierkegaard verdammte: ästhetisches Dasein. Mit seiner My-
stik des „Blutes", das Lebenskraft und Spontaneität symbolisiert, wandelt er
riskant auf Nietzsches Spuren; Chaos und Choros spielen hier ineins. Das
Sinnbedürfnis zitiert fast unvermeidlich die Paradiesmetapher; aber Stevens,
der hartgesottene Poet der Immanenz, kann sich das Göttliche nur in der
Welt denken. Seine emphatische Sonnenbeschwörung sucht das Ekstatische
zugleich mit dem Geformten - so wie Matisse in IM Dause (1910) den My-
thos des Goldenen Zeitalters in die moderne, nachsymbolistische Form des
Ausdruckstanzes gießt.
Stevens schließt sein Gedicht, das den christlichen Sonntag im Titel
führt, ironischerweise mit der Beschwörung der Großen Natur, deren Gesetz
die Vergänglichkeit ist. Schon eine Strophe vorher hat sein ästhetisches

Ebd. 69f. Dt. von H. und W.Killy (McCormick 19)


180

C r e d o den Leser auf die Botschaft eingestimmt: „Death is the m o t h e r of


beauty, mystical" 1 3 6 . Diese N a t u r aber verstreut, o h n e zu fragen, verschwen
derisch L e b e n u n d T o d . Die H i n n a h m e der menschlichen Naturgebunden
heit ist bei Stevens Kontrafaktur zur christlichen Erlösungsreligion, zu d e m
Mysterium v o m T o d e u n d der Auferstehung G o t t e s :

We live in an old chaos of the sun,


Or old dependency of day and night,
Or Island solitude, unsponsored, free
Of that wide water, inescapable.

In einem alten Sonnenchaos leben wir


Oder seit je abhängig von Tag und Nacht,
Oder in Inseleinsamkeit, frei von
Verantwortung, von weitem Wasser, ausweglos.137

V o r d e m Hintergrund des expandierenden Universums werden d e m Dichter


Freiheit u n d Einsamkeit eins. Sein poetischer Anarchismus lehnt alle v o n
M e n s c h e n gemachten G ö t t e r ab, sich nur zur Herrschaft der N a t u r beken
nend; es ist die Sterblichkeit, die Leben kostbar macht. Sein Gedicht n i m m t
den T o n v o n W o r d w o r t h s Prelude auf, variiert dessen poetischen Pan
theismus. D o c h deklariert es seine Unabhängigkeit von der Mentalität der
europäischen Romantik. Statt Versenkung u n d Seelenbespiegelung unter
n i m m t Stevens E n t d e c k u n g e n im Hiesigen. In d e m Gedicht v o m „fingerfer
tigen M a n n " , einer allegorischen Selbstkritik des Dichters, singt Stevens das
L o b der Unwissenheit; sie allein ermöglicht die Hochzeit mit d e m Leben, der
„sinnlichen u n d perlenhaften Braut" 1 3 8 . E r preist die Pflanze außerhalb der
Fabel, ihr „barbarisches G r ü n / D e r herben Wirklichkeit" 139 . Stevens verbin
det die amerikanische Spielart des Symbolismus mit unverblümten Realitäts
sinn. „By m e t a p h o r you p a i n t / A thing" heißt es in einem Gedicht, am Morgen
geschrieben (1942). A b e r auch umgekehrt gilt: „ T h e senses p a i n t / By meta
phor" 1 4 0 . Dieser Poetik ist Stevens zeitlebens treu geblieben. Was dabei
h e r a u s k o m m t , ist eine eigene Mythologie oder persönliche Utopie 1 4 1 , die an
entscheidenden Stellen aus Bildern der Wildnis besteht:

Deer walk upon our mountains, and the quail


Whistle about us their spontaneous cries;
Sweet berries ripen in the wildemess;

136
Ebd. 69
137
Ebd. 70 (McCornuck 20)
138
Ebd. 222
,3
' Ebd. 506
140
Ebd. 219
141
Dazu K.Martens, Negation, Negativität und Utopie im Werk von W.Stevens (Frankfurt/M.
1980). Ders, Jemand baut eine Welt zusammen. W.Stevens, in: Akzente 32 (1985) 37ff.
181

And, in the Isolation of the sky,


At evening, casual flocks of pigeons make
Ambigous unduladons as they sink,
Downward to darkness, on extended wings.

Auf unseren Bergen geht das Wild und um


Uns pfeift das Rebhuhn seinen schnellen Ruf;
Und süße Beeren werden in der Wildnis reif;
Und abends in der Einsamkeit des Himmels
Sind manchmal ungewisse Wolken von
Den Taubenschwärmen, die herniedersinken,
In Dunkelheit, die Flügel ausgebreitet.142

Mit dieser Vision, naturmystisch getönt, schließt Sunday Morning. D i e


dichterischen Beeren von Wallace Stevens reifen in der Wildnis; die Schön-
heit, die er verkündet, ist irdisch. D a s Bild des T a u b e n s c h w a r m e s , der v o m
H i m m e l sinkt, ist mystisch in einem agnostischen Sinn — A p o t h e o s e des T o -
des u n d Gegenbild zum christlichen Pfingstereignis, auf dunkle Weise Sinn
stiftend kraft der Symbolik, an deren Wirkkraft Stevens glaubt. D i c h t u n g als
„Supreme Ficdon".
Stevens weiß, daß das N a t u r w e s e n Mensch dazu verurteilt ist, sein inne-
res Chaos zu ordnen. Aus diesem O r d n u n g s z w a n g entsteht die Kunst. Illu-
minierung des Chaos meint auch das große Seestück mit d e m programmati-
schen Titel Die Idee der Ordnung bei Key West. Stevens b e k e n n t sich darin z u m
heiligen Rausch der O r d n u n g :

Oh! Blessed rage for order, pale Ramon,


The maker's rage to order words of the sea.

O selige Ordnungswut, bleicher Ramon,


Des Schöpfers Wut, Worte der See zu ordnen. 143

D e n unartikulierten Wortschwall des O z e a n s in Sprache zu fassen, „in


ghostlier demarcations, keener s o u n d s " , ist das Geschäft des Dichters. E r
gibt der N a t u r ein Bewußtsein, der Wildnis eine Sprache. Stevens kokettiert
hier mit einer klassizistischen Poetik, deren G e w ä h r s m a n n , der französische
Literaturkritiker Ramön Fernandez, direkt angesprochen wird. D o c h so ab-
geklärt geht es bei Stevens keineswegs immer zu. D a s selbstgewisse Subjekt
wird u n b e k ü m m e r t zur Disposition gestellt u n d in die W ü s t e geschickt, z u m
Überlebenstraining. So schildert das Gedicht Novembemgion ein Ich, das
„nachdenklich auf d e m wüsten T h r o n seiner eigenen Wildnis sitzt" 144 . Die-

142
Stevens, Collected Poems 70 (McCormick 20)
143
Ebd. 130
144
„Pensively seated/ On the waste throne of his own wildemess"
(Stevens, Der Planet auf dem Tisch 34).
182

sen Befund spricht der Wind, allegorisch der Große Beweger, zugleich der
Kritiker Gottes, der Welt und der Menschennatur. Natur tritt auf als höchste
Sinninstanz, noch höher gestellt als Gott und Welt, die Gipfelbegriffe
abendländischer Metaphysik. In den zuvor erwähnten Versen vom „finger-
fertigen Mann" hieß es vom Sonnenrad, daß es die Mythen überdauert. Und
weiter: „The fire eye in the clouds survives the gods" 145 . Das korrespondiert
mit Rimbauds emphatischer Hinwendung zur Natur im Umkreis der Illu-
minations. Der Symbolismus von Stevens entwirft mittels Dichtung ein
postmetaphysisches Weltbild, das sich anschickt, das religiös geprägte Sinn-
system abzulösen. Das Philosophische war dem Autor nicht unvertraut,
schon durch die Lektüre Emersons, mehr noch durch die Freundschaft mit
George Santayana, dem Harvard-Professor und Autor des Letzten Puritaners.
So betreibt Stevens in der Novemberregion auf seine Art subtile Philosophie-
kritik. Das alte Thema der Theodizee, das seit Leibniz und Voltaire die euro-
zentrische Vernunft verunsicherte, kehrt verkappt als Naturlyrik wieder:

It is hard to hear the north wind again,


And to watch the treetops, as they sway.146

Der Nordwind als Advocatus diaboli, als Ankläger der Gotteswerke, einer
Novemberwelt, die erfüllt ist vom Seufzen der Bäume, vom Seufzen der
Schöpfung, wird lyrisch legitimiert. Aber die Welt, wüst wie am Anfang, gibt
keine Antwort mehr außer dem Rauschen der Bäume, deren Bewegung,
Schwanken und Sowohl-als-auch, dreifach betont, das letzte Wort behält.
Doch dieses letzte Wort ist nur noch Geste:

Deeplier; deeplier, loudlier; deeplier;


The trees are swaying, swaying, swaying.N7

Die Tiefe ist an der Oberfläche, das Laute transformiert in einen Klagetanz,
den die Natur selbst aufführt. Stevens, der Liebhaber eines poetischen Flo-
rida, dem schon Rimbaud gehuldigt hatte, kultiviert hier das harte, trockene
Pathos der Desillusionierung. Dichten und Leben heißt: im kahlen Novem-
berwald aushalten. Doch das monotone und windige Chaos, das im blattlo-
sen, fruchdosen Schwanken der Bäume sich ausdrückt, erleuchtet den, der
seine Sprache versteht.

Stevens, Collected Poems 222: „Das Feuerauge in den Wolken überlebt die Götter".
Stevens, Der Planet auf dem Tisch 34/35: „Es ist hart, den Nordwind wieder zu hören/
Und die Wipfel der Bäume sich wiegen zu sehen".
Ebd. „Tiefer, tiefer und lauter, lauter/ Wiegen die Bäume sich, wiegen und wiegen sich".
7. Kapitel
Baum der Erkenntnis, Wälder des Begehrens

Kommst nimmermehr aus diesem Wald.

Eichendorff

Den Zusammenhang von Wahn und Methode hat die Romantik poetisch
glaubhaft gemacht. „Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den
ursprünglichen Sinn wieder". Das schrieb am Ausgang des 18. Jahrhunderts
Novalis in seinen logologischen Fragmenten 1 . Damit ist fast beiläufig das
Ideenprogramm der Romantik entworfen. Doch Novalis schickt dem,
ebenso beiläufig, seine Poetik nach: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen
Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die
Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so
romantisiere ich es" 2 . Dieser Aufforderung, die wirkliche Welt zu ent-
fremden, ist noch Max Ernst gefolgt, der Novalis sehr schätzte. Überhaupt
haben die Surrealisten alles daran gesetzt, dem Endlichen einen unendlichen
Schein zu geben und dem Wahn, der den Blick zerrüttet und dadurch kreativ
macht, eine Methode zu leihen. Diese Methode fanden sie bei Freud, dem -
wider Willen und Wissen - romantischen Schatzgräber. Freuds Methodolo-
gie, die gedacht war, Licht in das Dunkel zu bringen, konnte auch im Gegen-
sinn gelesen werden: als Anleitung zu einer neuen Mythologie des Begehrens.
Mit Freud ließ sich wieder poetisches Dunkel in das banale Licht des Alltags
werfen. Das Prinzip der Collage, jener Kombinationskunst, in der Max Ernst
unangefochtener Meister seines Jahrhunderts war, ist praktizierte, rücküber-
setzte Psychoanalyse3. Bei dieser Romantisierung der Welt, für Max Ernst ein
intellektuelles Abenteuer hohen Ranges, waren auch die Wälder des Begeh-
rens zu durchstreifen. Der Künstler transformierte sie mit Lust in gleichsam
tropische Seelenzonen, wo verkable Dschungel daraus wurden.
Der romantische Ursprung solcher Naturmetaphorik läßt sich mit Hän-
den greifen - seit Ludwig Tieck sein Märchen Der blonde Eckbert (1797)
schrieb, wo die Inzestgeschichte zwischen dem Ritter Eckbert und seiner
Schwester Bertha in einem Walde sich abspielt. Das Mädchen, mit acht Jah-

' Novalis I I , 545


2
Ebd.
3
Dazu W. Spies, Max Ernst 1950 - 1970. Die Rückkehr der Schönen Gärtnerin
(Köln 1971) 38ff.
184

ren vor einem grausamen Vater davonlaufend, gerät auf seiner Flucht in eine
Felsenwildnis abseits aller Menschen. Die kindliche Seele erlebt hier ihre Ini
tiation in eine Welt aus Einsamkeit und Chaos: „Die Felsen wurden immer
unfruchtbarer, ich mußte oft dicht an schwindlichten Abgründen vorbeige
hen, und endlich hörte sogar der Weg unter meinen Füßen auf'4. Daß noch
ein Weg sich findet, im eigenen Innern, gehört zur Märchenlogik. Dennoch
wohnt dieser Wildnis eine gewisse düstere Würde inne, wie die Ästhetik des
18. Jahrhunderts sie dem Erhabenen zuschreibt. Das Mädchen besteht in
dieser Wildnis die Bewährungsprobe; die Lust zum Leben kehrt wieder. Erst
nach dem Durchgangsritus wird Bertha der Alten begegnen, die zur Ersatz
mutter wird, ihr ein Refugium bietet. Die befriedete Natur bewirkt im Kind
ein Erweckungserlebnis: „Die Wälder und die Blätter der Bäume standen
still, der reine Himmel sah aus wie ein aufgeschlossenes Paradies. (...) Meine
junge Seele bekam jetzt zuerst eine Ahndung von der Welt und ihren Bege
benheiten" 5 .
Ein wunderbarer Vogel singt ihr das Lied von der Waldeinsamkeit, das
zu einem Leitmotiv des Märchens wird:

Waldeinsamkeit,
Die mich erfreut,
So morgen wie heut
In ew'ger Zeit,
O wie mich freut
Waldeinsamkeit.6

Tieck verknüpft Wildnis und Einsamkeit zu einem unauflöslichen romanti


schen Phantasma. Das Bewußdose in diesen Versen, ihr Kunsdoses, Kindli
ches, ist zugleich ihr Unbewußtes; hier singt die Psyche sich selbstvergessen
aus. Waldeinsamkeit markiert, worin sie eingeschlossen ist: einen traumhaf
ten Raum, in dem die Seele mit geschlossenen Augen sich um sich selber
dreht, in tänzerischer Trance. Am Grund der Worte aber wohnt die Angst —
in Kierkegaards Deutung begehrend, was sie fürchtet. Oder mit Freud: Auch
der Angsttraum ist Wunschtraum, freilich oft bis zur Unkenntlichkeit mas
kiert. So stürzt Tiecks Idylle, am Märchenhaften noch den Schrecken stei
gernd, am Schluß in den Abgrund des Wahns. Waldeinsamkeit wird zum Ort
des Inzestes. Das Wissen darum raubt Eckbert das Bewußtsein. Der Wald
der Selbstverstrickung tut sein Werk: „Er konnte sich nicht aus dem Rätsel
herausfinden, ob er jetzt träume oder ehemals von einem Weibe Bertha
geträumt habe; das Wunderbarste vermischte sich mit dem Gewöhnlichsten,

4
Tieck 130
5
Ebd. 132
6
Ebd.
185

die Welt um ihn her war verzaubert und er keines Gedankens, keiner Erinne-
rung mächtig"7.
Das entscheidende Stichwort steht hier am Schluß: Erinnerung. Ihre
Auslöschung durch das, was Freud ein Jahrhundert später Trauma nennen
wird, verweist auf einen Schlüsselbegriff der Psychoanalyse, die Anamnese.
Sie deutet an, daß das Begehren — schuldlos schuldig wie in der Tragödie —
die Schrift des Ereignisses zu löschen, seine Spuren zu tilgen, über seine
Ziele sich selbst zu täuschen sucht. Wie Wittgenstein (der sich spät mit
Freuds Traumtheorie befaßte und persönlich die Macht der Libido erlebte)
in einer kodierten Bemerkung bekannte: „Denn die Wünsche verhüllen
selbst das Gewünschte" 8 . In dieser Phase lag die Metapher des Waldes — mit
Blick auf seine Freud-Lektüre und die Beziehung zu Ben Richards durchaus
nahe: „Möge ich durch diesen Wald mich durchschlagen können" 9 .
Der Baum der Erkenntnis ist ein genuines Märchenmotiv, dessen Magie
auch in den Märchen der Brüder Grimm voll ausgeschöpft wird. Daß dies
nicht ohne „philologische Mystifizierung" abgeht10, macht nur den Rang
deutlich, den Jacob und Wilhelm Grimm der Symbolik des Waldes in der
romantischen Mythologie zuerkennen. Als „Philologen der nachchristlichen
Ära" (R.P. Harrison) betreiben sie einen kaum verhüllten Antimodernismus,
der sich paradoxerweise in das Gewand des Historismus hüllt. Was sie su-
chen, ist das Archaische als das Authentische. Ihre Wälder sind Irr- und Er-
kenntnisräume, Orte des Verbotenen wie der Verzauberung11 — und damit
poetisch schlechthin, auch weil Chaos und Ordnung hier durcheinander-
spielen. Die Ambivalenz der Baumsymbolik12 hebt R.P. Harrison besonders
am Märchen von den zwei Brüdern, dem längsten der Sammlung hervor13.
Gemeinsam wachsen die Zwillinge, von ihrem Vater wegen Tabubruchs ver-
stoßen (sie haben das wunderkräftige Herz des Goldvogels gegessen), bei
einem Jäger auf. Gemeinsam ziehen sie in die Welt, die sich ihnen zunächst
in magisch-diffuser Einheit als „Wald" zu erkennen gibt. Gemeinsam stoßen
sie, bevor sie sich in entgegengesetzte Richtungen trennen, ihr Messer in den
Baum. Die beiden Klingen, die eine nach Osten, die andere nach Westen
weisend, verraten durch Blankheit oder Rost, wie es den Zwillingen geht.
Leben und Tod werden angezeigt an einem Baum, der rituell verletzt wird -
in einem Akt, der wild und kontrolliert zugleich ist. Der Baum, sakralisiert,
steht für Erkenntnis, die trennt wie vereint, Tötung wie Wiederbelebung
bedeutet. Die zwei Klingen im Baum verweisen auf das zweischneidige

7
Ebd. 145
8
Wittgenstein, Notiz vom 29.9.1949 (Monk 522)
9
Wittgenstein W 8, 546
10
Harrison 197
" Ebd. 203
12
Dazu generell J. Brosse, Mythologie der Bäume (Ölten - Freiburg 1990)
13
Harrison 204ff.
186

Schwert, das der eine Bruder zwischen sich und die Königstochter, die Frau
des anderen legt. So wird der durchstoßene Baum zum Sinnbild des Begeh-
rens. Das Motiv trägt bei den Brüdern Grimm noch animistische Züge. Na-
tur erscheint im Elementarsinn als menschliche Lebenswelt — als symbolisch
besetztes Handlungsschema, in dem Pflanzen, Tiere und Menschen gleichbe-
rechtigte Mitspieler sind. Dieser Mythos verlorener, wiederzuschaffender
Einheit, naturreligiös grundiert, hat die Funktion einer Sinnstiftung; er wird
seine Wurzeln tief ins Politische treiben.
Schon Hölderlin in seinem Gedicht Die Eichbäume (1797) betont das
Moment des Anarchisch-Ausgreifenden bei diesen wilden Naturgeschöpfen,
die „wie ein Volk von Titanen in der zahmeren Welt" stehn14. Sein Tita-
nismus feiert in Bildern des ungehemmten Wachstums jenes Begehren, das
auf Freiheit zielt: „und ergreift, wie der Adler die Beute, mit gewaltigem
Arme den Raum" 15 . Der Vitalismus findet seinen Sinn im Großen Bund:

Eine Welt ist jeder von euch, wie die Sterne des Himmels
Lebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen.16

Mythisierung der Freiheit im Baumsymbol - der antiken Tradition und


Klopstocks Metaphorik, aber auch der Inszenierung der Revolutionsfeste
folgend - vollzieht sich als Sakralisierung. Heilige Wildnis - Wildnis kultur-
kritisch als Wohnen am Ursprung verstanden — meint götternahes Dasein.
Der heilige Hain wird zur „Konstellation" überhöht, zu einem Kosmos ur-
wüchsiger Ordnung, worin die Geschichte der Menschen als eine der
Knechtschaft und des Sich-Anschmiegen-Müssens keinerlei Geltung hat.
Das eigentümlich Anarchische dieser Titanen, ihr eigenständig-selbstgewisses
Leben jenseits aller Domestizierungszwänge, ohne die der Mensch als gesel-
liges Wesen nicht sein kann, verweisen auf einen geschichtsfreien Raum, wo
Natur ohne Gewaltsamkeit „fröhlich und frei" ist.
Die Eichbäume, solitär und dennoch solidarisch, illustrieren die neue
Mythologie der Vernunft, die Hölderlin zusammen mit Hegel und Schelling
zur gleichen Zeit entwarf. Als lebendige beseelte Wesen sind die Bäume das
Gegenstück zum „mechanischen Räderwerk" der menschlichen Institu-
tionen, als deren Inbegriff der Staat erscheint. Hölderlins vaterländische
Phantasie ist deshalb ästhetische Philosophie, sinnlich gewordene Idee - wie
es das älteste Systemprogramm des Idealismus in einem Schlüsselsatz aus-
drückt: „Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee" 17 . So setzt Hölder-
lin demonstrativ gegen die „Gärten" den „Wald". Daß letzterer nicht Wildnis
im pejorativen Sinne meint, sondern eigenen Geist hat, kraft dessen Natur

I« Hölderlin, Gedichte 181


15
Ebd. 181 f.
16
Ebd. 182
17
Hölderlin GSAIV.l, 297
187

sich schöpferisch organisiert, und dies in Analogie zum Menschengeist, be-


zeugt Hölderlin in einer späten alkäischen Ode aus der Turmzeit (1825).
Gerichtet an den kunstsinnigen Tischlermeister Zimmer, der den kranken
Dichter in seine Obhut nahm, bringt sie die menschliche Erfindungsgabe
und das kreative Potential der Natur, Wachstum und Werkstoff zusammen 18 :

O Teurer, dir sag ich die Wahrheit.


Dädalus Geist und des Walds ist deiner.

Der Preis der Wahrheit ist die Einsamkeit. Dem labyrinthischen Denken des
Dädalus, der den kretischen Irrgarten, aber auch die Flügel konstruierte, die
ihn daraus befreiten, erwidert als bislang verschwiegene Wahrheit das krea-
tive Dasein der Natur. Auch in ihr waltet Kunst. Die sich anbahnende Ein-
heit von Mensch und Natur, Vernunft und Sinnlichkeit führt hin zum Sinn,
worin das Rätsel — „Ist irgend eins, das einer Seele genüget?" — als Hölderlins
eigenste Frage sich lichtet. Die Wildnis selbst, als Scherz des Schöpferischen,
hält die Mittel bereit, um einen Ausgang aus der Geschichte und ihren Un-
mündigkeiten zu finden. Sie ist es, die verborgene Wahrheit hütet, dem Men-
schen Flügel gibt. So wohnt noch in Bäumen Erkenntnis.

Daß in den Wäldern auch die Freiheit wohnt, neben Versuchung und Ver-
zauberung, hat Eichendorff unendlich oft besungen; es war sein Le-
bensthema. Der vaterländisch gesinnte Jurist, gerade in den österreichischen
Staatsdienst übernommen, meldete sich 1813 ohne Zögern zum
Lützowschen Freikorps. Von daher ist seine Naturmetaphorik nicht so un-
politisch, wie konventionelle Lesart vermutet. In dem Gedicht An die Freunde
von 1815, nach dem Sieg über Napoleon und dem Einzug in Paris, spricht
sich der Patriot freimütig aus:

Es löste Gott das langverhaltne Brausen


Der Ströme rings - und unser ist der Rhein!
Auf freien Bergen darf der Deutsche hausen
Und seine Wälder nennt er wieder sein.19

Man sieht: Ahnung und Gegenwart schließen einander nicht aus. Daß in
Eichendorffs Dichtung der Wald als rasch abrufbares Element romantischer
Kombinationskunst fungiert, hat manches mit Produktionsästhetik zu tun,
mehr aber noch mit einer Nostalgie, die Modernitätsschock und Verluster-
fahrung lyrisch immer wieder abarbeiten muß. Der Wald gehört zu einem

18
Hölderlin, Gedichte 456
"Eichendorff 404
188

Formelvorrat, worin die Abgrundsehnsucht unendlich variiert wird. Selbst


der Vorwurf gelegentlicher Trivialität verfängt hier kaum - „wie denn
Eichendorff - nach einem Wort Adornos - „jedem Einwand preisgegeben
ist. Aber dennoch gefeit gegen jeglichen"20. Denn Eichendorffs Schreiben
durchkreuzt die vorschnelle Erwartung.

Im Abgrund grast das Reh,


Es rauscht der Wald verwirrend aus der Tiefe —
O Stille, wecke nichts, es war als schliefe
Da drunten ein unnennbar Weh.21

Diese Verse, Heimat überschrieben, instrumentieren, selber verwirrt, einen


verwirrenden Schmerz, den sie als Weltgrund erkennen, ohne ihm einen
Namen zu geben. Eichendorffs wahre Heimat ist nicht das Schloß zu Lubo-
witz, sondern das Heimweh selbst. Noch das konventionell Klingende mutet
dem Leser zu, auf Untertöne zu hören; noch das kunstlos Scheinende verrät
ein unbewußtes Kalkül; noch im Überschwang des Gefühls vertraut das
Subjekt auf die eigene Autonomie. Das Hingesungene bei Eichendorff er-
weist sich an seinen besten Stellen als traumhafte Sicherheit am Abgrund hin.
Die Kontextgebundenheit vieler Gedichte, die in Erzählprosa einge-
schaltet diese assoziativ-emotional aufladen, verdient ein Augenmerk. Das
Lied schafft einen poetischen Mehrwert durch seine Stimmungsvaleurs, ge-
rade durch seine Unscharfe als schwebendes Gebilde. Lied heißt: gesungen;
und häufig sind es Frauen, denen der Lyriker die Stimme leiht. Daß seine
Dichtung den weiblichen Part hervorhebt, verdankt sich einer Gefühlskultur,
die mit der Aufklärung einsetzt: der „Mutter" Sprache werden besonders af-
fektive Qualitäten zuerkannt. „Die Koppelung von Qualität und Poesie ent-
springt einer Psycho-Pädagogik, die seit Locke und Rousseau den Müttern
selber das Stillen und Ansprechen des sprachlosen Wesens (Infans) vor-
schreibt" 22 . Damit verbindet sich die Vorstellung von Naturnähe, Ursprüng-
lichkeit und Authentizität des Gefühls. Gerade durch Ausblendung der Re-
flexion, durch Hingabe an die Struktur des Unbewußten, wird Sprechen
selbst zum Ausdruck des Verlangens. Die Formeln, nach denen Eichendorff
greift, enthalten beides: Trieb und Beschwichtigung. Eben das macht sie zu
Zauberformeln. So „stillt" auch bei Eichendorff die Sprache das sprachlose
Verlangen.
In der Poetik des Verschweigens war Eichendorff Meister — wie in den
magischen Versen vom Zwielicht, die ein unnennbares Grauen beschwören:

20
Adorno 74
21
Eichendorff 391
22
F.A. Kittler, Der Dichter, die Mutter, das Kind. Zur romantischen Erfindung der Sexualität,
in: R.Brinkmann (Hg.), Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion
(Stuttgart 1978) 105
189

Hast ein Reh du lieb vor andern,


Laß es nicht alleine grasen,
Jäger ziehn im Wald und blasen,
Stimmen hin und wieder wandern.23

Das Gedicht steht im Roman Ahnung und Gegenwart. Die es singt, ist die Grä-
fin Romana, in der sich die ganze Problematik einer ungebundenen romanti-
schen Existenz verkörpert: nicht ohne Züge von Wildheit, unglücklich
liebend, gefühlsgetrieben bis zum Selbstmord hin. Diesem weiblichen
Werther hat Eichendorff einen Beschwichtigungszauber in den Mund gelegt;
doch im Bilde des grasenden Rehs bleibt die Ambivalenz von Beschützer-
und Jägerinstinkt. „Laß es nicht alleine grasen" — der absurde Imperativ
rührt, wie Adorno bemerkte, an die Bewußtseinsspaltung24. Der Wald,
stimmlos, obschon von Stimmen zugedeckt, ist nach der klassischen Defini-
tion Freuds das Unheimliche selbst: in ihm läßt sich nicht wohnen, weil er
Freunde in Feinde verkehrt, die Masken des Begehrens vertauscht, im schau-
rigen Rühren der Bäume Baudelaires „frisson galvanique" vorwegnimmt. Die
„schweren Träume", die Freud am Ende des Jahrhunderts zu deuten unter-
nimmt, sind bei Eichendorff noch Allegorie einer beseelten Natur -: als brü-
tete sie selbst luftige Fata aus, noch bewußtlos auf jenen Geist verweisend,
den romantische Philosophie in ihr entdecken wollte. Kein Wunder, daß es
dem Grafen Friedrich angesichts von so viel atmosphärischer Spannung un-
heimlich wird.
Auch die Romanze, die Romana singt, ist wenig geeignet, ihn zu beruhi-
gen. In das dünne Gewand höfischer Minne gekleidet, deren Szenario der
aus mittelalterlicher Dichtung bekannte Zauber- und Liebeswald ist, enthüllt
sie - gleichsam zitierend - ein Spiel der Verführung. Der Dichter, mit ihm
die Sängerin legitimieren es als Traumsequenz; das Lied ist von der Tages-
vernunft und ihrer Prosa entbunden:

Wie prächtig glänzt die Aue!


Wie Gold der Quell nun floß,
Und einer süßen Fraue
Lag er im weichen Schoß. (...)
Und spielt' viel süße Spiele
Wohl in geheimer Lust,
Es flog so kühl und schwüle
Ihm um die offne Brust.25

23
Eichendorff 642
24
Adorno 83
25
Eichendorff 645
190

Eine Generation vor Wagner und seinem Tannhäuser instrumentiert Eichen-


dorff den Zauber der Venus als Wortmusik, einlullend bei aller Schlichtheit
der Töne, und doch verstörend zugleich. Was hier geschieht, nimmt seinen
Weg wie das Fließen des Baches. Eichendorffs Naturbeobachtung ist bis ins
Detail genau, wenn sie Kühle und Schwüle des Waldes ineins spielen läßt, die
Ambivalenz des Begehrens diskret an Atmosphärisches knüpft. Dabei bleibt
der Dichter verschwiegen. „Es schauert der Wald vor Lust" heißt es in einem
anderen Lied26; doch was so pagan anmutet, mündet beim Anblick der
Sterne in himmlische Gedanken. „Über Namen und Erfüllung ist ein Bilder-
verbot ergangen", wie Adorno subtil beobachtet hat. Mehr noch: bei Eichen-
dorff ist „die Kraft des Ungesagten ins Wort gedrungen und hat ihm seine
Süße geschenkt" 27 . Das mag man auch sozialgeschichtlich deuten — als Af-
fektbearbeitung gemäß den Kriterien bürgerlicher Kultur und ihrer Kon-
trollmechanismen. Doch hält sich Eichendorffs Schreiben zu seinem Glück
frei von aller Psychologie und begnügt sich mit den Symbolen erotischer
Subjektivität. Die allerdings sind keineswegs der Willkür überlassen, sondern
seit den Troubadours und seit Petrarca tradiert: das Bild des „cor ardens" ist
ursprünglich, bei Augustinus, ein theologisches.
Romana, ihres seltsamen Gebarens wegen von Friedrich zur Rede ge-
stellt, erwidert im Duktus des Eifersuchtsdramas. So spricht ihr Schlüssel-
wort von der Liebe als elementarer, ja destruktiver Gewalt — die „wie ein
Feuer alles verzehrt, um sich an dem freien Spiele der eigenen Flammen zu
weiden und selber zu verzehren" 28 . Lange vor Baudelaire, Freud und Jouve
ist Liebe als Gewalt, als Terror des Begehrens, als Einbruch des Irrationalen
ein Thema Eichendorffs. Was der Frau nach ihrem mißglückten Verfüh-
rungsversuch bleibt, ist das Inferno der Scham: „Romana war auf den Boden
niedergesunken, das Gesicht mit beiden Händen verdeckt. Das fröhliche La-
chen, Singen und Gläserklirren von der Wiese her schallte ihr wie höllisches
Hohngelächter" 29 . Das Fest wird zum Gericht, der Liebeswald aus der Ro-
manze ist in Wahrheit ein .Jagdrevier" 30 . In Romana, dem Elementarge-
schöpf, das unbändig und unberechenbar ist, gibt Eichendorff der wilden
Natur einen weiblichen Körper. Nicht zufällig spielen sich Friedrichs Begeg-
nungen mit ihr ständig in Wäldern und vor Felskulissen ab. Die Mischung
von Lockung und Drohung entspricht der Ambivalenz der Liebe, die von
Romana selbst als Miteinander von Lust und Entsetzen zitiert wird. Der
märchenhaften Tropologie der Erzählung gemäß steht ihr Stammschloß,
schon halb verfallen, „mitten in der Wildnis"31. Dem Außen entspricht das

" E b d . 219
27
Adorno 81
28
Eichendorff 646 (Ahnung und Gegenwart Kap.. 17)
29
Ebd. 647
30
Ebd. 649
31
Ebd. 663
191

Innen: Verwilderung ihres Gefühls treibt Romana zum Selbstmord, nachdem


sie das Schloß in Brand gesteckt hat.
Eichendorff hat in die Wanderlieder, deren Thema das lyrische Schweifen,
Suchen und Finden ist, die Schöne Fremde aufgenommen — ein sprechender
Titel, der unverhohlen Lust an der Verführung bei aller Fremdheitserfahrung
bekundet. Fast beiläufig gesungen, begegnet auch bei ihm der Mythos der
heiligen Wildnis. Mythos meint hier pagane Fabelwelt, eine versunkene, rui-
nöse, aber noch im Verfall faszinierende Welt:

Es rauschen die Wipfel und schauen,


Als machten zu dieser Stund
Um die halbversunkenen Mauern
Die alten Götter die Rund.32

Erstaunlich unbefangen zitiert der Dichter des Marmorbildes, um den Zauber


der Venus wissend, die heidnischen Götter. Heine, der Zeitkritik noch als
Religionsphilosoph zu betreiben sucht, wirkt mit seiner „Abschaffung der
Sünde" (D.Sternberger) entschieden verkrampfter. Eichendorffs lyrische
Evokation sieht hinter den Myrtenbäumen - sie sind der Venus geweiht -
die Große Göttin heraufsteigen, deren Sprechen, „wirr wie in Träumen",
von der Vernunft erlöst. Lange vor Freud vertraut der romantische Dichter,
dessen Christentum ihm nicht das Gefühl für die Numina des Heidentums
geraubt hat, der Weisheit des Traumdiskurses. Die phantastische Nacht, der
er sich willig ergibt, ist zugleich — orientalisch im Sternengewand — die große
Märchenerzählerin. Eichendorffs Urvertrauen in die Schöpfung liest im
siderischen Funkeln „glühende Liebesblicke"33, Ahnungen künftigen Glücks.
Dieses Vertrauen schützt noch im Wald des Begehrens.

Dem romantischen Wald gab kein Geringerer als Baudelaire symbolistische


Weihe. Der ordnende Blick des Romanen macht aus der germanischen
Wildnis den Tempel lebendiger Säulen, entdeckt, wie vor ihm Novalis, das
Geheimnisvolle im Gewöhnlichen - die Korrespondenzen von Tönen,
Düften, Farben:

La Nature est un temple oü de vivants piliers


Laissent parfois sortir de confuses paroles.34

« Ebd. 35
Ebd. 36
54
Baudelaire, Die Blumen des Bösen 24/25 : „Ein Tempel ist Natur, wo jede Säule lebt/
Und zu uns redet mit geheimnisvollen Zungen". Dazu Harrison 212ff.
192

Die Sprache der Göttin Natur im Wald der Symbole vernehmbar zu machen,
sie im Alltag der Großstadt, im Banalen des modernen Lebens, selbst im
Häßlichen wiederzufinden, ist das Geschäft des Dichters. Baudelaire, dem
unreflektierte Natur eher zuwider war, der die künstlichen Paradiese den
wirklichen Wäldern vorzog, hat Natur einzig in Form des Emblems geduldet.
Wie Matisse, der ihm die Inspiration zu seinem großen Gemälde Luxe, ca/me
et volupte verdankt, unterwirft er sie einem rigorosen Kunstbegriff. Naturhaf-
tes ist bei Baudelaire die an den Rand notierte Chiffer des Begehrens, der
Vitalität, der Sehnsucht nach dem Unendlichen. In dem langem Gedicht La
Vqyage, das erklärtermaßen den Ausgang aus der Geschichte sucht, erscheint
mitten in maritimen Bildern der Baum des Dichters als Baum der Erkennt-
nis:

Desir, vieil arbre ä qui plaisir sert d'engrais.35

Das Spannungsdreieck zwischen Begehren (desir), Lust (plaisir) und Dünger


(engrais), in das hinein der poetische Baum gepflanzt ist, der sich von Ausge-
schiedenem und Verrottetem nährt, repräsentiert die Poetik Baudelaires. In
diesem semantischen Dreieck versammeln sich, kraft allegorischer Methode,
der Mythos vom Sündenfall, der Wahn des Begehrens und das Verlangen
nach „Himmel". Baudelaire, der das Schreiben mit religiösem Ernst betrieb,
als eine Art permanenter Buße, sieht das reine Gedicht aus dem irdischen
Schmutz hervorgehen. Seine Kunstreligion ist nicht bohemehafter Lebens-
ersatz, sondern stigmatisiert vom Vanitasbewußtsein, also von einem
Sündenbewußtsein. Der Baum des Begehrens, höher als die Zypresse, hat
seine Wurzeln im Unrat, aber die Krone im Äther:

Grandiras-tu toujours, grand arbre plus vivace


Que le cypres?36

Was bei Baudelaire als Hybris erscheint, ist gleichsam theologische Methode,
durch das Verlangen hindurch Erlösung herauszufordern.
Das mythisch grundierte Bild dafür hat Baudelaire in jenem Schwan ge-
funden, der mitten in Paris auf einem Zirkusplatz nach Wasser sucht und mit
gerecktem Hals, dürstend, den Himmel anklagt. Die Geste der Vergeblich-
keit ist Wahn und hat von daher ihre Würde:

Je pense ä mon grand cygne, avec ses gestes fous,


Comme les exiles,ridiculeet sublime,
Et ronge d'un desir sans treve!

Ebd. 432/433: „O Sehnsucht, alter Baum, der aus der Lust sich nährt".
Ebd. 434/435: „ Du Baum, du hoher, wächst so zäh wie die Zypressen,/
Wie lange dauerst du?"
m
Ich denk an meinen Schwan, wie er entwich
So lächerlich so groß wie dieses Tier
Verzehren sich Verbannte...37

Der Schwan ist - in Anspielung auf Ovid - eine der Metamorphosen des
Begehrens; von den Göttern gestraft, ist er ein Gegenstand des Spottes wie
jene Verbannten, deren Heimweh unstillbar und lächerlich ist. Für sie nimmt
der Dichter Partei, im Namen rebellischer Melancholie. Der Schluß von Le
Cygne ruft die Erinnerung an die Verlorenen herauf — bezeichnenderweise m
Bild eines Waldes:

Ainsi dans la foret oü mon esprit s'exile


Un vieux souvenir sonne ä plein souffle du cor!
Je pense aux matelots oublies dans une ile,
Aux captifs, aux vaincus! ... ä bien d'autres encor!

Durch meinen Wald die Ruh des Ruhelosen


Hör ich wie Hornruf ein Erinnern wandern
Ich denk im Riff vergessener Matrosen
Gefangener Besiegter... vieler andern.38

Der romantische Geist im Exil, das als verwildertes Eden, als Irrwald erlebt
wird, in dem geheimnisvolle Klänge und Echos tönen, hat frappierende
Ähnlichkeit mit Eichendorffs Waldmotiven. Doch bei Baudelaire ist das Er-
innern, als allegorische Instanz des Über-Ich, ein sonores Gewissen: der
Hornruf des Jüngsten Gerichts, der die Verlorenen und die Verstorbenen
weckt. (So wird Proust aus der Sonate Vinteuils die Posaune des Erzengels
Michael heraushören.) Wie der Schwan bei Baudelaire Einkleidung des ver-
geblichen Verlangens nach dem Äther ist, der ironisch mit grausamer Bläue
den Aufflug verwehrt, so ist die Melancholie eine maskierte Revolte — freilich
eine gescheiterte. Die Veränderungswut seiner Zeit, die er in Paris am Wan-
del des Stadtbildes registriert, läßt die Erinnerung an Sündenfall und Jüngstes
Gericht nicht mehr zu. In der Art, wie er Paris als Fest der Vanitas erlebt, ist
Baudelaire ein metaphysischer Dichter. Le Cygne endet mit einer Strafphanta-
sie, deren imaginärer Schauplatz, unvermittelt eingeblendet in die Großstadt-
bilder, wieder ein Wald ist: Symbol des Eingeschlossen- und Verirrtseins in
einem Begehren, das — eben weil metaphysisch — unstillbar bleiben muß.
Dieser Wald ist nicht der musikalisch-romantische Schumanns, sondern eher
Dantes „selva oscura", Bußort und Purgatorium. Wald und Exil bilden eine
Konfiguration, in der das Erinnern, die Commemoratio, alles Verlorene, alles
Vergessene sammelt. So wohnt im Abgrund des Begehrens das Gericht.

37
Baudelaire, Tableaux Pansiens 36/37. Dt. von W. Benjamin
M Ebd.
194

Für Baudelaire, der zeitlebens dem Duft der Frau verfallen war, verbin-
det sich das Erotische mit dem Symbol des Waldes. Das Haar der Geliebten,
ein dunkles Vlies, entführt ihn in eine duftende Wildnis:

La langoureuse Asie et la brillante Afrique,


Tout un monde lointain, absent, presque defunt,
Vit dans tes profondeurs, foret aromatique!

Die Gluten Afrikas und Asiens Erliegen


Und eine ganze Welt ist wie aus tiefer Gruft
Jetzt deinen Tiefen, Wald aus Wohlgeruch, entstiegen!39

In diesem Wald lebt eine abwesende, erstorbene Welt wieder auf. Das Ver-
langen selbst, durchaus naturbelassen, wird zum poetischen Prinzip, das kraft
der eingeborenen Idee noch das verlorene Eden heraufruft. Aus wenigen
Anspielungen exotischer Natur — exotisch und erotisch sind für Baudelaire
fast eins - bildet der Dichter sein Evasionsmotiv: den tropisch-sinnlichen
Traum, dem später noch Gauguin und Matisse malerisch huldigen werden.
Der Wald des Begehrens ist bei Baudelaire emblematisch verdichtet: zum
tropischen Baum und zum üppigen Haar. In solch suggestiven Zeichen be-
wahrt symbolistische Dichtung die Sehnsucht nach dem Unmöglichen - als
Flucht aus der Geschichte. Im Chanson d'apris-midi besingt Baudelaire noch
einmal die magische Verbindung von Haar, Wald und Wüste:

Le desert et la foret
Embaument tes tresses rüdes;
Ta tete a les atutudes
De l'enigme et du secret.

Wüstenrauch und Urwaldhauch


Aus den starken Flechten wehen;
Über deinem Haupte stehen
Dunkler Sinn und Rätselbrauch.40

Baudelaire verbindet Rätsel und Geheimnis mit einer panerotisch verstande-


nen Natur, als deren Inbegriff die Frau erscheint. So entdeckt der geschulte
Blick des Flaneurs das Wilde noch innerhalb der Zivilisation — in den Frauen
und Dirnen, die Constantin Guys, der Maler des modernen Lebens, darstellt.
Baudelaire hat ihm mit einer einfühlsamen Studie gehuldigt. Was ihn daran
fasziniert, ist die „Noblesse selbst im Schlamm" 4 ', die Schönheit des Bösen,
von Melancholie umflort: Wie ein Raubtier schaut sie ins Weite, Wahnsinn,

39
Baudelaire, Die Blumen des Bösen 74/75. Dt. von C.Fischer
40
Ebd. 174/175
41
Baudelaire AW III, 205
195

Zerstreutheit, Gespanntheit im Blick42. Im Dschungel der Weltstadt - in sei-


ner Dialektik ein sehr französisches Bild — jagt auch der Dichter seine poeti-
sche Beute. Baudelaires exotische Tableaus wirken dagegen eher konventio-
nell. Was ihn im innersten elektrisierte, war der Warencharakter der Liebe -
eine ganze Kultur der Prostitution, die Mann und Frau im Tauschverkehr
verbindet. Der Sturz des romantischen Ikarus ist hier der inspirierende
Schock. Der Moralist Baudelaire, der die Scheinmoral des Zweiten Kaiserrei-
ches verachtet, als bourgeoise Drapierung von Herrschaft durchschaut, ist
durchtränkt vom Mythos des Sündenfalls: die Lust, das Begehren sind ihm
das Böse an sich. In ihrer Wildheit tobt sich eine ursprüngliche, luziferische
Rebellion gegen Moral und Vernunft aus. Der Sexus, der Menschen unwi-
derstehlich anzieht und entzweit, ist — fast jansenistisch — als prädestinierte
Verdammnis gesehen: „Ich aber sage: die einzige und höchste Lust der Liebe
ruht in der Gewißheit, das Böse zu tun. Und Mann und Weib wissen von
Geburt an, daß sich im Bösen alle Wollust findet"43. Vor dieser Grundierung
nimmt auch das Wilde der Liebe gleichsam satanische Züge an - als Abfall
von Ordnung, Maß und Licht. Doch der Autor der Blumen des Bösen weiß
noch darin ein Sakrales bewahrt.
Mit Lust denunziert Baudelaire den Fortschrittsglauben als abwegig
und lächerlich. Er zerstört die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts
mittels einer zweideutigen Apologie des Wilden, das sich unter dem Firnis
der Kultur, in den Illuminationen des Gaslichtes verbirgt: „Was ist absurder
als der Glaube an einen Fortschritt, wo doch, bewiesen jeden Tag, der
Mensch immer dem Menschen gleicht, also immer Wilder ist! Was sind die
Gefahren der Wildnis neben den Choks und Konflikten, den täglichen unse-
rer Zivilisation? O b der Mensch sein Opfer auf der Straße einfädelt oder es
in unbekannten Wäldern niedersticht, es ist der ewige Mensch, das heißt
vollendetstes Opfertier" 44 . Mit dem Pessimismus des philosophischen Dan-
dys tritt Baudelaire der herrschenden Doktrin seines Jahrhunderts entgegen:
der Mensch ist durch den Sündenfall ein Wilder geworden und er bleibt es,
da sein Verlangen „böse von Jugend a u f ist (Genesis 8, 21). Damit negiert
er von Grund auf das Geschichtsbild der Moderne, jene Legende von der
naturwüchsigen Vernunft und Gutheit des Menschen, die einst Voltaire und
Rousseau in die Welt setzten. Für Baudelaire ist der Mensch von Natur aus
verderbt (deprave). Denn der Baum des Begehrens treibt seine Wurzeln un-
ausrottbar in alle Adern unseres Daseins hinein. Von ihm verspricht einzig
der Tod Erlösung.

ö Ebd. 203
« Ebd. 322 {Raketen IX)
«Ebd. 331 (RaketenUV)
196

Kein größerer Gegensatz wäre habituell zu denken als der zwischen Baude-
laire und Stifter. Und doch stehen beide, deren Hauptwerke im selben Jahr
1857 erscheinen, zum Realismus der Epoche gleichermaßen quer. Beide la-
borieren an den Masken und an der Metaphorik des Begehrens; und beide
sind auf ihre Art Fanatiker der Ordnung wie der Form. Die Form wird bei
Baudelaire beinahe fetischisiert, zu marmornen, von innen her glühenden
Allegorien; bei Stifter verliert sie sich im Furor der Beschreibung. Der Götze
des Utilitarismus ist ihr gemeinsamer Feind; beide bauen mit ihrem Schrei-
ben planmäßig und konsequent eine Ästhetik des Widerstands auf. Und
beide tragen die Stigmen des Christentums - der eine rebellisch, der andere
resigniert. Ihre Zeitgenossenschaft ist durchaus substantiell. Während sich
Stifter in Wien mit Erzählungen unter dem nüchternen Titel Studien ab-
müht, Anfang der vierziger Jahre, konzipiert Baudelaire in Paris die Fleurs du
Mal'und befaßt sich als literarischer Dandy mit ästhetischen Kuriositäten.
Baudelaire, der Erfinder der Modernität, leidet nicht weniger als Stifter
unter der Prostitution seines Zeitalters: Das Schöne, einst die Galionsfigur
des abendländischen Idealismus, nun aber käuflich geworden, ist nur noch
ein Phantasma. Gegen den Ungeist der Nützlichkeit, des Warenhauses
schreiben Baudelaire wie Stifter an. Doch ihre Texte verraten bereits die be-
schädigte Idealität, deren Ergebnis der Spleen ist. Nicht nur Baudelaire, auch
Stifter kennt ihn. Sein Herr Tiburius aus der Erzählung Der Waldsteig (1844)
leidet ersichtlich an ihm. Falsch erzogen, von Karikaturen der Vernunft be-
lehrt, der eigenen Kindheit beraubt, damit der eigenen Natur entfremdet,
trägt er im Spottnamen Tiburius, der „wirblicht" klingt und nach Verwirrung
und Zerstreuung schmeckt, in Anspielung auf den misanthropischen, miso-
gynen Einsiedler von Capri, Tiberius. Jedenfalls ist Stifters Sonderling der
Spleen in Person. Seine Selbstbeobachtung macht seine Modernität aus; was
ihn zum Kunstwesen stempelt, ist seine Unnatur, sein Beschädigtsein durch
Zivilisation, seine Nervosität, sein Narzißmus. Indem er verzichtet, sein
Haus zu verlassen, wählt er das Wohnzimmer als sein Gefängnis: „Er ließ
einen großen Stehspiegel in dasselbe tragen, und betrachtete seine Gestalt"45.
Der Hypochonder, bürgerlicher Therapie gemäß, wird in ein Bad geschickt;
und hier verführt ihn die Entdeckerlaune zu einem Waldspaziergang. Der
Schock, den Natur ihm erteilt, ist vollkommen. „Tiburius hatte einen Wald
noch nie von innen gesehen" 46 . Zunächst zwar befindet er sich auf einer
„Waldblöße", die ihm sehr wohl gefällt. Aber animiert durch die Einladung,
ja Verlockung paradiesischen Friedens wagt er den Wald der Phantasie zu
betreten. Hier entdeckt er die überraschendsten Dinge. Von verstümmelten

« Stifter 1, 823
" Ebd. 836
197

Stämmen rinnt Pech: „Er hatte das nie gesehen und blieb stehen. Die durch-
sichtige Flüssigkeit quoll in der Sonne aus der Rinde hervor, und die Tropfen
standen, wie reines geschmolzenes Gold, das in einem Häutchen hing"47.
Das Sich-Öffnen, Sich-Entblößen der Natur, ihre unvermittelte intime Nähe
— in der Sprache Baudelaires ihre „mysteres galantes" — geraten bei Stifter zur
Spiegelschrift verborgenen Verlangens.
Tiburius wird angezogen von diesem Wald, der ihn neugierig macht und
Zeit vergessen läßt. Ein Blick auf die Uhr sagt ihm, „was ihm ohnedem, als
er aufmerksam geworden war, eine dunkle Vorstellung gesagt hatte, daß er
weiter gegangen sei, als er dachte" 48 . Dem ängstlichen Bewußtsein wird die
Verirrung klar; es sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Stifter ist Meister
dann, durch schiere Beschreibung latenten Wirklichkeitsverlust zu illustrie-
ren. Auch hier ist es der mikrologische Blick, der in den Einzelheiten das
Immer-Gleiche sucht und darin sich lustvoll verliert. Die Vorliebe Stifters für
solche Situationen hat mit biedermeierlicher Naturandacht wenig zu tun;
vielmehr bringt sie die Fragilität bürgerlicher Wahrnehmung zum Vorschein,
spielt mit dem Verlust der Contenance, verirrt sich in zweideutigen Details.
Tiburius, so rasch er eilt, erlebt doch keinen Fortschritt. Die Natur zwingt
ihm eine fremde Zeit- und Raumerfahrung auf: „Nichts war da, als die
Bäume, in die er sich hatte hineinlocken lassen"49. Das Waldidyll entpuppt
sich als Wildfremdes, erstickt seine Rufe mit Stille, narrt ihn mit seinen
Phantasmen; selbst der Enzian, den er sich pflückt, schaut ihn „mit dem
fürchterlichen Blau so seltsam an"50. Hier ist die Angst das Auge des ver-
drängten Anderen.
Die Angst stößt ihn in neue Körpererfahrung hinein: „Die Hitze des
Körpers nahm überhand, der Atem wurde kurz und die Müdigkeit wuchs" 51 .
Steintrümmer wie riesige Torsi liegen zerbrochen am Weg, anstößig im wah-
ren Sinn, scheinbar tote und doch seltsam belebte Gebilde, entblößt in ihrer
Materialität, die durch üppige Vegetation noch gesteigert wird: „Einige waren
in Moose gehüllt, die verschiedenes Grün zeigten, andere lagen nackt und
ließen den scharfen, gewaltigen Bruch sehen. Großfingrige Fächer von Far-
renkräutern standen da, und die hohen dicken Stämme der Tanne, die aus all
dem Dinge empor ragten oder auch da lagen, waren, wenn sie Tiburius an-
griff, feucht"52. Dieses Szenario, Schreckbild und Wunschbild zugleich,
macht aus dem harmlos begonnenen Spaziergang eine krypto-erotische Ini-
tiation. Die Naturbeschreibung legt bloß, was die Gesellschaft mit Tabus be-
legt: eine geheime Triebstruktur. Der Weg, den Tiburius geht oder stolpert,

* Ebd. 838
48
Ebd. 839
Ebd
50
Ebd. 840
51
Ebd.
52
Ebd. 841
198

wird gar zum Knüppelpfad „aus lauter kleinen Prügeln", die fast im Wasser
schwimmen und Tiburius unweigerlich „ausglitschen" lassen. Stifters irrüch-
ternder Realismus, nicht umsonst mit dem essayistischen Titel Studien belegt,
durchkreuzt die Ordnungs- und Sinnmuster des vormärzlich frustrierten
Bürgertums mit anarchischer Andacht zum Detail. Man wundert sich, daß
Freud ein halbes Jahrhundert auf sich warten läßt. Aber bereits bei Stifter
wird Österreich zum Laboratorium der Moderne.
Die aus dem bürgerlichen Interieur verdrängte Körperlichkeit findet im
Freiraum Natur ihr vorläufig letztes Refugium. Tiburius erfährt sich bei sei-
nem Abenteuer auf Wegen, die ihm bisher tabu waren, unmittelbar als Na-
turwesen: „Er empfand es, wie an seinem ganzen Leibe ohne seinen Willen
die Nerven zitterten, und die Pulse klopften"53. Diese Physiologie der Erre-
gung — die vierzig Jahre später Nietzsche als Stimulans des Denkens preisen
wird - stößt auch Stifters Repräsentanten des Spleen ins Elementare hinein.
Waldeinsamkeit samt ihrer schreckhaften Stille wird nur markiert durch ein
grünes brodelndes Wasser, dem der verirrte Narziß wohl oder übel folgt -
„abwärts", wie könnte es anders sein. „Er bezwang das stürmende Verlangen
seines Körpers"; daß es nach Ruhe strebt, ist bloß die nachgereichte Ratio-
nalisierung. Ruhe aber ist Tiburius nicht gegönnt. Vom Wildbach abwärts
entführt, wird er angezogen von dem, was ihn ängstigt und hinreißt: er
„strengte seine Kräfte, die gleichsam auflösend und trunken waren, aufs neue
und letzte an"54. Dies Psychogramm unbewußten Verlangens ist so ein-
leuchtend wie der ungehemmte Lauf des Wassers, an dem es sich orientiert.
Im Fortgang des Abenteuers stößt Tiburius, biedermeierlicher Ret-
tungsdramaturgie gemäß, auf einen Menschen, der ihm den Weg weist und
das Erlebte deutet. Stifters Analytiker tritt ironischerweise im Kostüm des
„Waldarbeiters" auf. Der Mann, der hinter Tiburius herging und ihn einholt,
in romantischer Topik des Unbewußten sein Schatten und Doppelgänger, ist
freilich nicht ganz geheuer: in starken Holzschuhen auftretend, über den
Rücken die Axt, eiserne Keile über den Schultern. Doch den Irrgang des
Helden, „über eine Wiese, die rund und steil wie eine Glocke war, zu diesem
Wasser herab", interpretiert er mit überraschendem Zartgefühl. „So - so -"
lautet das wortkarge Orakel, „da gehen die Leute nicht gerne herauf, weil es
so wild ist, und darum wußtet Ihr nicht, wo Ihr seid"55. Dieser Waldläufer,
ein ferner Verwandter von Coopers Helden, als Anticartesianer von keinem
logozentnschen Vorurteil beleckt, kommentiert Wildnis auf die diskreteste
Art als Ort einer Selbstfindung, die sich gerade im Nichtwissen ereignet. Wie
es Lacan formulierte: „Ich denke da, wo ich nicht bin; also bin ich dort, wo

53
Ebd. 842
M
Ebd. 843
"Ebd.
199

ich nicht denke"56. Der HoLzknecht, nach eigenem Bekenntnis unterwegs zu


seiner Frau, also ins Tal hinab, verlangsamt freundlich seine Erkenntnis-
schritte, Tiburius zuliebe, der - ohne es zu wissen - demselben Ziele zugeht.
Der Ausgang der Geschichte kann nach dieser Initiation nicht mehr
zweifelhaft sein. Stifter läßt Herrn Tiburius, diesen Tannhäuser des Bieder-
meier, der wie ein Tor auf den Venusberg stößt, auf einer weiteren Wande-
rung das Mädchen finden, um deretwillen der Autor seine Figur am Leitfa-
den ihres Begehrens geführt hat. Das Mädchen, das im Wald Erdbeeren
sammelte, bietet ihm freundlich davon an: „Als Herr Tiburius die Erdbeeren
gesehen hatte, erwachte in ihm ein Verlangen"57. Die Bedeutung des glückli-
chen Sündenfalls liegt auf der Hand. Tiburius wird durch die unschuldige
Verführerin von seinem Spleen geheilt. Die Erdbeere ist seit Vergils Eklogen
das Sinnbild der Verführung und Voluptas - bis hin zu Hieronymus Bosch
und seinem Garten der\Jist£%. Die wissende Naivität des Mädchens räumt alle
fatalen Konnotationen beiseite, welche die Natur bereitgehalten hat: „Den
Wald habe ich nicht gefürchtet. (...) Und Euch habe ich nicht gefürchtet, weil
Ihr gut seid, und weil Ihr anders seid als die anderen" 59 . Wissende Naivität
also. Stifters Text macht dieses Sprechen mittels des Verschleierns transpa-
rent. In seiner Methode der Wahrnehmung unterscheidet er sich nur wenig
von Freud, der die zentrale Rolle der Verneinung in eine klassische These
fassen wird: „Die Verneinung ist eine Art, das Verdrängte zur Kenntnis zu
nehmen" 60 .
Der Spleen des Tiburius mündet — in bürgerlicher Selbstkasteiung, wie
Stifter sie ein Leben lang geübt hat — statt in den Liebeswahnsinn direkt in
die Ehe. Nicht Venus, sondern Maria heißt die Frau, die den Romantiker
von seinem Spleen kuriert. Der geheimen Ironie bei diesem Ausgang mag
Stifter sich bewußt gewesen sein. Denn sein Tiburius ist auffälligerweise
„von einer solchen rechtschaffenen Artigkeit, daß man weit und breit mit
ihm in den Wäldern und in der Wildnis herum gehen könnte" 61 . Dieser be-
tonte Hinweis auf das Anders-Sein entbehrt nicht der Pikanterie. Scheinbar
behält die Konvention das letzte Wort; doch rührt der Autor spürbar an die
Arkandisziplin bürgerlicher Wohlanständigkeit. Gerade im Wald des Begeh-
rens läßt Stifter die Triebe sich domestizieren; und wie bei Baudelaire ist es
ein Wald von Symbolen. Doch Wildnis kann für Stifter nicht anders als

56
Lacan 517: „Je pense oü je ne suis pas". Dazu H. Lang, Die Sprache und das Unbewußte.
Lacans Grundlegung der Psychoanalyse (Frankfurt/M. 1973)
" Stifter I, 851
58
Vgl. Vergil, Eklogen III, 92f. Diesen Hinweis verdanke ich Prof. Helmut Bachmaier
(Konstanz).
59
Stifter I, 864
60
Freud, Gesammelte Werke XIV (Frankfurt/M. 1963) 11
61
Stifter I, 867
200

„jungfräulich" sein62. Nach diesem Gesetz verfährt die Erzählung vom


Waldsteig. Obschon sie reinstes Biedermeier ist, kennt sie noch die Erfah-
rung der Wildnis als Grundgefühl von religiöser Art — weil es ein Wunder ist,
daß dieser Wald, in dem sich Tiburius verläuft, den Sonderling zum heiligen
Ehestand hinlenkt. Dahinter steht der Versuch, symbolische Ordnungen in-
mitten der Konfusion der Moderne zu retten, Natur als Sinninstanz gegen
die Lebensferne der Konvention zu behaupten. Stifter siedelt, was er bewah-
ren will, in der Gefährdung an.
Stifters Erzählen lebt von einem Subtext, der das offizielle Geschehen
subversiv kommentiert. Dieser Subtext, der die Geschichte erst konstituiert,
verrät dem aufmerksamen Leser ein Begehren, das allen kulturellen Hem-
mungen zum Trotz sich seinen Weg bahnt. Einen versteckten Hinweis bietet
Stifters Erzählung Granit (1852). Heftig tadelt die Mutter den Knaben, als er,
die Füße mit Wagenschmiere verklebt, lustvoll in die gute Stube tappt: „Was
hat denn dieser heillos eingefleischte Sohn heute für Dinge an sich?"63 Das
Zürnen der Mutter zeigt den erkennenden Blick; doch ist dem Ich-Erzähler
das Vergnügen am Schmutz anzumerken. Stifters Unbewußtes ist - wie spä-
ter bei Lacan - das Sprechen des Anderen64. Dieses Andere geistert durch
viele Texte Stifters, ja sie verdanken gerade ihm ihre literarische Qualität.
Das Andere errichtet jene symbolische Ordnung, in der sich die Triebenergie
sublimiert. So ist der „Wald" metaphorisch der Ort des Anderen. Stifter be-
herrscht die Kunst, sich unwissend zu stellen, wie es Lacan von einem See-
lenarzt fordert: „Was der Analytiker wissen muß: zu ignorieren, was er
weiß"65.
Der Dichter macht daraus eine eigene Strategie - die des verschwiege-
nen Mitteilens. Die kulturell vorgeschriebene Lesart des Eros - den Stifter
nur als domestizierten vorstellt — findet sich, wie zu erwarten, im Nachsommer.
Dort wird der Bund der Liebenden mit einer Diskretion geschlossen, die sich
noch in der Kostümierung Natalies zeigt: „Sie hatte ein mattes hellgraues
Seidenkleid an, wie sie es überhaupt gerne trug. Das Kleid reichte, wie es bei
ihr immer der Fall war, bis zum Halse und bis zu den Knöcheln der Hand.
Von Schmuck hatte sie gar nichts an sich, nicht das geringste, während ihr
Körper doch so stimmend zu Edelsteinen gewesen wäre"66. Der männliche
Blick, so sehr er bürgerliche Disziplin zu wahren sucht, fällt mit untrüglicher
Sicherheit auf das Objekt der Begierde. Stifters Phantasie, die sich am Kon-
trast von Edelsteinen und weiblichem Körper entzündet, ist im Gewände der
Negierung tätig. Natalie bedarf keines Schmuckes; denn ihr Körper ist ihr
eigentlicher Schmuck. Eine Generation später wird Gustave Moreau, der

62
Stifter I, 248 {Der Hochwald, 1841)
63
Stifter II, 19
64
Lacan 379: „LWonscient, c'est le discours de l'Autre".
65
Ebd. 349: „Ce que le psychoanalyste doit savoir: ignorer ce qu'il sait"
66
Softer II, 1101 (Der Nachsommer Der Bund)
201

Maler des Symbolismus, seine Salome als eine entblößte Natalie vorführen,
ihre Nacktheit mit Juwelen dekorierend. Stifter überläßt es der Natur, das
verborgene Verlangen auszusprechen: „In unserem Schweigen sahen wir
gleichsam wie durch Verabredung gegen das rieselnde Wasser"67. Hier waltet
eine Besänftigung, die auf gemeinsame Wünsche verweist. Der Eros, den
Stifters Ich-Erzähler für Natalie empfindet, hatte sich schon vorher in dessen
Neigung zu Grenzgängen geäußert - bezeichnenderweise unter dem Vor-
wand, Natur zu erforschen: „Ich bin in die Berge gegangen, habe mir ihre
Zusammensetzung aufgeschrieben, habe Gesteine gesammelt und Seen ge-
messen, ich bin auf den Rat Eures Freundes einen Sommer beschäftigungs-
los in dem Asperhofe gewesen, bin dann wieder in die Wildnis gegangen und
zu der Grenze des Eises emporgestiegen"68. Natur als Chiffer des Großen
Weiblichen schließt bei Stifter stets eine Grenzberührung ein. Zurückgekehrt
aus dieser Wildnis kann der Erzähler, seiner Natalie sicher, in Ruhe unter
Apfelbäumen wandeln. Wildnis und Paradies haben ihre Masken ausge-
tauscht; die Liebesäpfel reifen am Baum der Erkenntnis.

Gerade im Zerfall des habsburgischen Mythos und Systems treibt die Kultur
Österreichs die üppigen Blüten der Modernität hervor. Aber dieses Labor
der Moderne, worin Freud und Wittgenstein, Klimt und Kokoschka, Schön-
berg und Webern, Rilke, Musil und Kafka mit der Wirklichkeit experimentie-
ren, ist zugleich die „Versuchsstation für den Weltuntergang" (Karl Kraus).
Nicht umsonst umspielt die Dichtung Trakls den Verfall in Bildern von
traumhafter Intensität. Auch bei Trakl ist „Wald" die Entsprechung für einen
Seelenzustand, der sich mit Freud als Regression beschreiben läßt. Trakls
Verse konstituieren einen dunklen Ort unruhiger Einkehr, verschattet von
jenem Unheimlichen, das nach Freud in der Tatsache gründet, „daß das Ich
nicht Herr sei in seinem eigenen Haus" 69 .
Regression hat mit Erinnerungsbildern zu tun, die spürbar hoch-affektiv
besetzt sind; bei Trakl verweisen sie auf eine sexuelle Obsession, die sich in
Versen von suggestiver Vieldeutigkeit niederschlägt. Unübersehbar ist eine
gewisse Formelhaftigkeit, die in Symbolik und Chromatik ein ganzes Be-
schwörungsrepertoire bereithält. In diesen Gedichten wird evoziert und be-
schwichtigt zugleich; ihr Magisches ist auch ihr Infantiles. So ist es gerade
das Sprachlose, das kaum zu Sagende, das Selbstvergessene, das in der Nei-
gung zur „farbigen Chiffre" (Walter Killy) sich zeigt; als hielte das Unsägliche

67
Ebd.
68
Ebd. 1105
Freud, Darstellungen der Psychoanalyse (Frankfurt/M. 1970) 139. Dazu J.Heise,
Traumdiskurse. Die Träume der Philosophie und die Psychologie des Traums
(Frankfurt/M. 1989) 217ff. bes. 252ff.
202

der Seele sich fest an poetischen Formeln. Auffällig bleibt dabei das Mono-
logische, das obsessive Murmeln an den Rändern der Bedeutungen, das lust-
besetzte Pathos des Verfolgtseins, kurz: das Kaspar-Hauser-Syndrom. Zur
Selbststigmatisierung gehört, fast wie bei Dostojewskijs Sündern, das Be-
kenntnis der eigenen Unwürdigkeit: „zwischen Trübsinn und Trunkenhat
verloren"70. Häufig sind Strafphantasien, etwa der Wunsch, „ein Gewitter
möchte hereinbrechen und mich reinigen oder zerstören"71. Als Briefschrei-
ber, im Rahmen bürgerlicher Kommunikation, hatte Trakl große Schwierig-
keiten, sich angemessen zur artikulieren. Seine letzten Gedichte, darunter
auch Grvdek, bezeugen mimetisch einen Sinnentzug, der identisch wird mit
Zukun fts lo sigkei t72.
Trakls Naturzeichen, ganz autonom gesetzt, umspielen verborgene
Wünsche; das Sanfte und das Wilde spiegeln sich gegenseitig. Das Gedicht
bringt ihr Verschweigen zum Sprechen. Das Schöne der Bilder, narzißhaft,
verlockt in ein geschlossenes Zeichensystem, das im Wechsel der Kombina-
tionen sich zu erklären scheint, aber hermetisch bleibt. Das Phänomen, bei
Trakl genuin dichterisch, begegnet bei Freud als Wiederholungszwang.
Trakls Gedichte drücken beides aus: die Wunscherfüllung und die Angst da-
vor. Ihr symbolischer Ort ist der Wald, Ursprung und Ziel des Begehrens,
Seelenwildnis, die ständig aufgesucht, ständig geflohen wird. Trakl sucht sich
von seiner Obsession durch Obsession zu heilen — ein Prozeß ästhetischer
Verzweiflung, den abzubrechen nur im Tod gelingt. Trakls Freitod im Garni-
sonsspital zu Krakau war verzweifelt geglückte Wunscherfüllung.
Ein Merkmal der Regression, poetisch aufgefaßt, ist das Halluzinatori-
sche; es macht geradezu die Qualität von Trakls Dichtung aus. Als sinnliche
Wahrnehmung von anamnetischen Rang (häufig auch durch Drogen provo-
ziert) bringt es Verschüttetes wieder. So endäßt die scheinbar vertraute Natur
in der Seele des hebern das eine Bild, um dessentwillen sie gedichtet wurde, das
der Schwester nämlich:

Verfall, der weich das Laub umdüstert,


Es wohnt im Wald sein weites Schweigen.
Bald scheint ein Dorf sich geisterhaft zu neigen.
Der Schwester Mund in schwarzen Zweigen flüstert.73

Diese Gestalt ist wahrhaft Anima, von einer Traumzensur ins Unbewohn-
bare verbannt, abseits des Dorfes, das sich gleichwohl wie zur Begrüßung
„neigt", als käme da die Herrin dieser Landschaft. Wald, animistisch der Re-
präsentant verbotenen Begehrens, verdichtet sich im Bild des Mundes in den

70
Trakl 313 (an K.B.Heinnch, Januar 1914)
7)
Ebd.
72
Böschenstein, Fragment und Totalität bei Trakl 255
" Trakl 20
203

schwarzen Zweigen. Die Verheimlichungstendenz, als Schweigen und Flü-


stern sich äußernd, hat mit der Oralität des Geschehens, dem ins Flüstern
abgedrängten Erotischen zu tun. Dem Traumbekenntnis folgt die Straf-
phantasie auf dem Fuße: „Der Einsame wird bald entgleiten,/ Vielleicht ein
Hirt auf dunklen Pfaden"74. Das Verlangen nach dem verbotenen Liebesob-
jekt macht die Schwester unfehlbar abwesend; sie ist ein Phantasma, das nur
noch naturmagisch aufscheint. Den Verlangenden macht sein Verlangen
zum Einsamen, zum Hirten, der nichts mehr hüten kann.
Man geht nicht fehl, auch im Knaben Elis eine „persona" der Schwe-
ster zu sehen, die hier ins Hermaphroditische spielt. Die abendliche Wildnis
wird Ort einer magischen Zelebration:

Elis, wenn die Amsel im schwarzen Wald ruft,


Dieses ist dein Untergang.
Deine Lippen trinken die Kühle des blauen Felsenquells.75

Der Märchenton, unmittelbar an romantische Tradition anknüpfend, dient


der Evasion aus der Realität, suggeriert in traumsicher rezitierten Formeln
den Eros des Untergangs. Dieser Gang des Gedichts, noch fern von der Ge-
faßtheit Trakls angesichts des wirklichen Todes in Grodek, ereignet sich als
Katabasis76. Die Amsel als Totemtier wird noch zwanzig Jahre später bei
Musil begegnen. Die Doppeldeutigkeit in dieser Traumsequenz um Elis
nimmt androgyne Gestalt an - als Hyazinthe, in der tropologisch die Erinne-
rung an den von Apollon geliebten Epheben bewahrt ist:

Dein Leib ist eine Hyazinthe,


In die ein Mönch die wächsernen Finger taucht.
Eine schwarze Höhle ist unser Schweigen...77

Dieser Ritus der Aneignung umspielt im Bild einer sanften Blume des Bösen
die Poetik der Decadence, in deren Schatten der junge Trakl zu dichten be-
gann78. Elis-Hyazinthe und der Mönch sind durch ein deviantes Verhältnis
verbunden; die weibliche Symbolik des Hyazinthenkelches lockt den Text in
die vom Unbewußten intendierte Richtung. Auch hier enthüllt das Schwarz
von Wald und Höhle seine fatale Konnotation als Faszinosum und Schreck-
bild. In der Kunstfigur Elis, angesiedelt zwischen Begehrt- und Entrücktsein,
waltet die „sterilite" von Mallarmes Herodias.

7
« Ebd.
"Ebd. 15
7
* Dazu H.Goldmann, Katabasis. Eine tiefenpsychologische Studie zur Symbolik der
Dichtungen GTrakls (Salzburg 1957)
7
" Trakl 15
78
Vgl. R.Furness, Trakl und die Literatur der Decadence, in: Dondoner Trakl-Symposion,
ed.W.Methlagl -W.E.Yuill (Salzburg 1981) 82-95
204

Die wirkliche Wildnis der Seele hat Trakl in seiner Passion (1914) auf
Hölderlins Spuren mythopoetisch zu bannen versucht. Orpheus, ein Totes
beklagend, nämlich den Schatten der Schwester, die heimlich Eurydike und
damit Gattin ist, besingt die „dunkle Liebe/ Eines wilden Geschlechts" 79 .
Das Passionsgedicht entwirft in Fragmenten einen Sühneritus; das Gedicht,
zerstückelt, ist selber Opfergabe. Während Freud in den Fiktionen vom
Wolfsmann die Zeichenschrift des Begehrens mit Blick auf die Mechanik
des psychischen Apparates rekonstruieren wollte, verdichtet Trakl die Ge-
waltsamkeit des Sexus im Bild einer wahrhaften Mythomanie.

Unter finsteren Tannen


Mischten zwei Wölfe ihr Blut
In steinerner Umarmung.80

Die Versteinerung, Strafe und Sinnbild der Dauer zugleich, fixiert das Skan-
dalon dieser Passion. Der aller bürgerlichen Ethik spottende Affekt kommt
in dem höhnisch-harten Strophenbruch zutage, der einen Abgrund öffnet:

Stille Nacht.

Unter finsteren Tannen


Mischten zwei Wölfe ihr Blut...

Der Kontrast destruiert jene Idyllik der Weihnacht, deren berühmtestes


Zeugnis aus Salzburg kommt — eben das Lied Stille Nacht. Gegen die Ver-
söhnungsseligkeit setzt Trakl die Paarung zweier wölfischer Dämonen. Der
Schock verletzt bewußt die bürgerlich gesicherte Gefühlswelt — noch im „ne-
fas" gewaltsam an das Sakrale rührend. Das Verfahren erinnert an Baude-
laire, aber auch an den von Trakl bewunderten Dostojewskij, der im Verbre-
cher nach dem Heiligen suchte. Trakl erkennt ihn dichterisch in jenem
Widergänger, der Schwester und Elis zugleich ist:

Wieder begegnet der zarte Leichnam


Am Tritonsteich
Schlummernd in seinem hyazinthenen Haar.81

In solchem Gegenmythos feiert Trakl Passion und Auferstehung seiner


Anima. Was ihn zum Dichter machte, war weniger die „dämmernde Bläue
des Heiligen", die in den fünfziger Jahren Heidegger so gern paraphrasierte 82 ,

79
Trakl 69
80
Ebd.
81
Ebd. 69
82
M.Heidegger, Georg Trakl. Eine Erörterung seines Gedichtes, in: Merkur Nr. 61 (1953)
226 - 258. Neuabdruck in: Unterwegs zur Sprache (Frankfurt/M. 1985) 33 - 78
205

als hoher Bedarf an Abendland bestand, sondern der Siebengesang des Todes,
den Trakl erst im Krakauer Spital zum Schweigen brachte. Die Windesstille
der Seele, nach der es ihn verlangte, Schopenhauers Erlösungsideal, blieb
ihm verwehrt. Dem ruchlosen Optimismus der Moderne stellt Trakl die ba-
rocke Antithese, Bilder der Vanitas, gespeist von eisigem Pathos entgegen:

O des Menschen verweste Gestalt: gefugt aus kalten Metallen,


Nacht und Schrecken versunkener Wälder
Und der sengenden Wildnis des Tiers.83

Die Stigmatisierung der Libido zur Wildnis, zum tierischen Trieb, erinnert an
den Sündenfall schlechthin. Das Begehren treibt in der Regression wahlver-
wandte Metamorphosen hervor; es legitimiert sich ästhetisch. Im Zentrum
des Verlangens und Erinnerns, das immer neue Masken und Metaphern an-
legt, steht die Gestalt der Schwester. Das Inzestmotiv stellt sich als die ver-
borgene Quelle von Trakls Inspiration heraus. Es ist umgeben von einem
weiten Hof von Anspielungen, die alle aus dem gleichen Fundus schöpfen.
Trakl muß seiner Schwester Margarete, die ihm in vielen ähnelte (beide nah-
men Drogen, beide begingen Selbstmord), aufs engste nahegekommen sein.
Die Katastrophe ist angedeutet in einem Brief, den Trakl Ende November
1913 an Ludwig von Ficker schreibt: „Es haben sich sonst in den letzten Ta-
gen für mich so furchtbare Dinge ereignet, daß ich deren Schatten mein
Lebtag nicht mehr loswerden kann. (...) Es ist steinernes Dunkel hereinge-
brochen" 84 . Die „Wiederholung" dieses Ereignisses geschieht in Versen aus
Sebastian im Traum; die Regression verdichtet sich - bis zur Versteinerung - in
hermetischen Bildern, mdie zugleich vollkommen einfach sind. Der Hieros-
gamos mit der Schwester spielt sich metaphorisch im Wald, in der sakral be-
setzten Wildnis ab, jenseits der Profanität der Dörfer:

Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung


Des Waldes und Mittag war und groß das Schweigen des Tiers;
Weiße unter wilder Eiche, und es blühte silbern der Dom.
Gewaltiges Sterben und die singende Flamme im Herzen.85

Diese Verse aus Frühling der Seele, ein Höhepunkt symbolistischer Dichtung,
verraten nichts, verschweigen nichts: sie zeigen. Das Feierliche, ja Psalmodie-
rende ist Ausdruck ihres Zeigens; das Elliptische steigert die Strahlkraft der
Bilder. Was hier geschieht, ist „sacer" - geweiht und verrucht - und trägt die
Würde des Ritus. Die intime Symbolik des Domes, die das erotische Drama
religiös überhöht und an den brennenden Dornbusch, an die Dornenkrone,
an den Dorn im Fleische bei Paulus erinnert, ist bei Trakl signifikant mit der
81
Trakl 70
M
Ebd. 310f.
85
Ebd. 11 f.
206

Erscheinung der Schwester verknüpft. In Kontrafaktur zur Auferstehung


verwandelt sich die Schwester zur Wiedergängerin. Dazu die Schlüsselstelle
aus Offenbarung und Untergang: „Aus verwesender Bläue trat die bleiche Gestalt
der Schwester und also sprach ihr blutender Mund: Stich schwarzer Dorn.
Ach noch tönen von wilden Gewittern die silbernen Arme mir"86. Auf den
Gesetzesbruch, als elementare Entgrenzung des Ich erlebt, doch mit der
Würdeformel von Gottes Gewittern umkleidet, folgt die Strafphantasie:
„Und schimmernd fiel ein Tropfen Blutes in des Einsamen Wein; und da ich
davon trank, schmeckte er bitterer als Mohn; und eine schwärzliche Wolke
umhüllte mein Haupt, die kristallenen Tränen verdammter Engel; und leise
rann aus silberner Wunde der Schwester das Blut und fiel ein feuriger Regen
auf mich"87. Die apokalyptische Rede, nicht ohne Zarathustra-Töne, bezieht
den dunklen Glanz ihrer Gerichtsvision aus Elementen einer in Sünde gefal-
lenen Natur; aus ihr spricht luziferische Theologie. Die Selbstverurteüung
des Ich geschieht im Duktus der Confessio, wie in den Romanen Dosto-
jewskijs. Die „silberne Wunde" der Schwester deutet im Kontext von Trakls
Metaphorik, die Teil einer Sinnstruktur ist, auf Opfer, Entrückung, Ver-
wandlung, auf stigmatisiertes Dasein - wobei das Silber gleichsam als Reli-
quiar fungiert.
Das Stichwort Reliquien zielt auf einen Themenkomplex bei Trakl, den
ich als Kult des Abgeschiedenen bezeichnen möchte. Nicht so, daß Trakls
Dichtung, wie Bernhard Böschenstein sie auslegt, sich dem Tode als einer
„Ganzheitserfahrung" schlechthin verdankt88. Zwar mag seine Lyrik Aus-
druck einer Verfalls- und Angsterfahrung sein, die nach Heidegger wesenhaft
das Sein zum Tode ausmacht89. Aber es ist von den Texten her nicht zu be-
gründen, wie diese Todesangst, die Trakls Welt in farbige Trümmer zer-
bricht, zu einer Ganzheit hinführt. Der Tod kann als Ganzes weder erlebt
noch gedacht werden. Hierfür hat Wittgenstein, fast zeitgleich mit Trakl, im
Tractatus eine rigide Formel geprägt: „Der Tod ist kein Ereignis des Lebens.
Den Tod erlebt man nicht"90. Doch Trakls Fragmente, Zeugnisse einer
„Ontologie des Verfalls" (G.Vattimo), die nicht im Logos, sondern im Wahn
ihre Wahrheit enthüllt, lassen Ganzheit nur als Phantasma zu. Ihr Seinsmo-
dus aber ist Andenken. In dieser Hinsicht ist Trakl mimetisch durch Hölder-
lins Vorbild geprägt. Auf Ganzheit verwiese allenfalls die im Andenken um-
kreiste Imago der Schwester. In ihr kommen das Andere und das Eigene zu-
sammen. Das Schuldgefühl läßt diese Obsession zum „Schatten" werden. Er
zieht seine traumhafte Spur durch die Texte, die als zerstückelte Glieder

84
Ebd. 95
87
Ebd. 95f.
88
B.Böschenstein, Fragment und Totalität bei Trakl 244
89
Heidegger, Sein und Zeit 266
90
Wittgenstein, Tractatus 6.4311 (W I, 84). Die These ist vorformuliert im Tagebuch vom
8.7.1916 (W 1,169)
207

dennoch ein Corpus bilden — zusammengehalten durch das Inzestmotiv und


seine Metamorphosen.
Die Obsession, die das Schreiben vorantreibt, illuminiert in suggestiven
Bildern den eigenen Untergang. Trakls Passionsgedicht spielt von ferne auf
christliche Erlösungslehre an. Doch die Geschichte ist nur noch die des ein-
samen Subjektes: ein Ort des Leidens, der Schuld und unvollkommener
Sühne. Den literarischen Archetyp dafür liefert nicht Novalis, auch nicht der
oft bemühte Rimbaud, sondern der Dostojewskij des Raskolnikow. Dem ent-
spräche der Typus des heiligen Verbrechers und Bekenners, in dem sich
Trakl insgeheim erkannte. Diesen Gesetzlosen, der zum Andenken, also zur
Regression verdammt ist, „folgend dem Schatten der Schwester", gesellt sich
m der Dramaturgie der Traklschen Passion die heilige Sünderin Magdalena-
Margarete, die als Büßerin in der steinernen Stadt im orphischen Untergang
ausharrt91. Orpheus aber ist Trakls Dichter-Imago, Beschwörer der Abge-
schiedenen, Sänger des Wahns — noch als bloßes Haupt, wie der Mythos er-
zählt, stärkster Bezauberung mächtig. Doch diese Obsession, so Trakls
eigenster Wunsch, soll enden: „daß endlich zerbräche das kühle Haupt!"92
Erst in Grodek, wo sich die Schwester in Anügone verwandelt, „zu grüßen
die blutenden Häupter", ist der Wald des Begehrens durchquert.

Prousts Suche nach der verlorenen Zeit mag spontan Erinnerungen an urbane
Atmosphäre wecken. Doch entscheidende Szenen der Handlung spielen im
ländlichen und maritimen Milieu; und Natur liefert wichtige Elemente für die
symbolische Struktur des Werkes. Schon im ersten Band Du cote de che\ Swann
(1913) wird der Wald des Begehrens zu einem Leitmotiv. Der Ich-Erzähler
Marcel, als junger Mann im naturnahen Städtchen Combray sich bewegend,
dem er so viele Inspirationen verdankt, pflegt im Herbst gern ausgedehnte
Spaziergänge im Wald von Roussainville zu machen. Seine Promenaden sind
eine Fortsetzung langer, erschöpfender Lektüre, Exerzitium für einen Kör-
per, „der sich mit Unruhe und gestautem Bewegungsdrang aufgeladen
hatte" 93 . Das Wandern im Wald, auf Meseglise zu, entbindet Kräfte und
Phantasien; ja diese diffusen Ideen erweisen sich als weitaus angenehmer als
die Notwendigkeit, sie im Diskurs zu entwickeln, weil das Gehen den lust-
volleren, bequemeren Weg darstellt. Das scheinbar ziellose Schweifen ist von
einer psychischen Disposition bestimmt: Aus der überspannten Freude, wel-
che die Einsamkeit schenkt, taucht in Marcels Tagträumen das Verlangen
auf, bei seinen Waldgängen ein „ländliches Mädchen auftauchen zu sehen,

91
Trakl 69. Dazu Böschenstein, Fragment und Totalität bei Trakl 253f.
92
Trakl 69
93
Proust I, 206
208

das ich in meine Arme schließen könnte" 94 . So durchtränkt ein erotisches


Moment das Gewebe des Textes; doch gerade unerfüllte Sehnsucht laßt eine
Lücke für die Theorie, für Reflexionen über das Wesen der Liebe.
Romantisch daran ist die metaphorische Verschmelzung von Frau und
Natur, die seit Chateaubriand eine gewisse Tradition hat, aber bei Proust zu
einer förmlichen Philosophie des Erlebens wird: „Dies Verlangen nach einer
Frau gab den Reizen der Natur etwas noch Aufregenderes, die Reize der
Natur hoben den Wunsch nach einer Frau aus seiner Begrenztheit heraus"95.
Das Begehren Marcels, zunächst panerotische Gestimmtheit, trägt in sich
schon den Willen zur außererotischen Evokation, zum „Herbeizitieren", wie
es das Geschäft des Erzählers dann sein wird. Das Verlangen neutralisiert
sich selbst, weil es — objekdos — nur in Entgrenzung verfallen kann: „da
meine Phantasie im Kontakt mit meinen erwachenden Sinnen neue Be
schwingtheit erfuhr und meine Sinnlichkeit alle Bezirke der Phantasie durch
strömte, kannte mein Verlangen keine Grenze mehr" 96 . Die Entgrenzung ist
paradoxerweise an Zeit und Ort gebunden; sie verdankt sich einer bestimm
ten Landschaft mit ihren Geschöpfen. „Ich verlangte nach einer jungen
Bäuerin von Meseglise oder Roussainville, einer Fischerin aus Balbec, so wie
ich mich nach Meseglise oder nach Balbec sehnte" 97 . So kehrt der Flug des
Verlangens, der sich am Anfang in den Ideenhimmel hob, wieder zur Erde
und zu den Erdenwesen zurück — bis hin zum Farnkraut der Wälder und zu
den Muscheln am Strand. Niemand als Proust nahm es in dieser Hinsicht
genauer. Seine Liebesgeschichten spielen alle in einem konkreten Umfeld, wo
die Details den Eindruck des Ganzen mit steuern; gesteigerte Sinnlichkeit
verbindet sich bei ihm mit erhöhtem Lokalkolorit.
Zur Lust, so Prousts Conclusio, gehört vor allem die Einbildungskraft,
die das Liebesobjekt einhüllt in eine Atmosphäre, ohne die es viel von seinen
Reizen verlöre. Der junge Marcel, der in den Wäldern von Roussainville um
herirrt, weil er kein Mädchen zum Umarmen hat, ist ein Parsifal auf vergebli
cher Suche nach seinem heiligen Gral. Die Schönheit der Wälder, die ihren
Schatz verbergen, erwächst aus dem Begehren, das ihnen seine „force de
vie" verleiht. Proust greift sogar zur Ovidischen Metamorphose, um das
gleichsam göttliche Verlangen, das den Verlangenden selber verfolgt, in Ein
klang mit der Natur zu bringen. Die Imaginierte verschmilzt mit der Natur,
birgt sich wie eine Nymphe in den Bäumen: „Das Mädchen, das ich immer
mit Laub bedeckt vor mir sah, war für mich selbst nur ein Gewächs der
Gegend" 98 .

94
Ebd. 208
95
Ebd. 209
96
Ebd.
97
Ebd.
'«Ebd. 210
209

Von hier aus nimmt der Roman seinen Weg in die verschachtelten Tie-
fen der Zeit. Das Begehren, das Marcel im Wald von Roussainvüle zum er-
stenmal in Einklang mit der Natur erlebt, durchzieht auf verschlungenen
Wegen (am Leitfaden diverser Obsessionen) den ganzen Roman, und kehrt
am Ende zu seinem Ausgang zurück. Gilberte, die Tochter Swanns, Marcels
erste Liebe, verwandelt sich dort - in einem Vanitasbild - in eine Allegorie
der Zeit. Das Altern ist ein Naturgesetz; und so fällt jeder Versuch, den Ver-
fall zu kaschieren, an die Natur zurück. „Aber auch noch in seinen künstlich-
sten Schöpfungen hat es eben der Mensch doch stets mit der Natur zu
tun" 99 . Das gilt für die Masken der Liebe wie für die Werke der Kunst. Der
junge Marcel, dem das Irren im Walde noch Lust ist, weiß noch nicht, was er
schmerzhaft erfahren wird: daß Lust etwas Universales ist und nicht an be-
stimmte Personen gebunden. Nur im Bewußtsein des Einzelnen, der Kör-
perwesen ist, durchläuft sie verschiedenen Stadien: so daß selbst das Begeh-
ren seine Geschichte hat, den Gesetzen der Zeit unterliegt. Marcel, von Ver-
langen gequält, erlebt es naturwüchsig und zugleich hochreflektiert an sich
selbst, wenn er „in dem nach Iris duftenden kleinen Raum" in Combray den
phallischen Kirchturm von Roussainvüle als einzigen Vertrauten seiner Wün-
sche hat. Die Imaginierte ist abwesend, aber als Abwesende setzt sie das
Verlangen in Bewegung, „während ich mit dem heroischen Zaudern eines
Reisenden, der eine Forschungsreise unternimmt, oder des Verzweifelten,
der sich umbringen will, mit versagender Kraft in mir selbst einen unbe-
kannten und von Todesgefahr umlauerten Weg suchte, bis zu dem Augen-
blick, da seine natürliche Spur wie die einer Schnecke auf den Blättern des
Johannisbeerstrauches entstand, der sich bis zu mir neigte"100. Diese Recher-
che führt Marcel in die unerforschten Wälder des eigenen Ich. Das Begehren
und der Wille, es zu löschen, sind ein Naturgesetz.
Die vergebliche Imaginierung der Frau macht die Gegend ringsum für
Marcel zu einer fruchtlosen Öde, die Begehrte zu einem Phantasma: „Un-
endlich lange starrte ich auf den Stamm eines fernen Baumes, hinter dem sie
hervortreten und auf mich zukommen sollte"101. Beim schmerzlichen Über-
gang vom Lust- zum Realitätsprinzip entsteht Literatur. Marcel erkennt im
Wald von Roussainvüle nur noch einen gemalten Theaterprospekt. Nach
dieser Enttäuschung wird er an der Realität jeder Liebe zu zweifeln beginnen.
Gerade insofern sie Obsession ist, kommt sie einer Fiktion sehr nahe: Natur,
die sich in Kunst verwandeln will. Schon damals faßt Marcel, auf Grund sei-
ner Begabung zur Träumerei, den Entschluß, SchriftsteUer zu werden. Dieser
Entschluß kehrt wieder auf der letzten Seite der Recherche - angesichts der
Todesahnung des Gealterten, der sein Leben nachträglich durch Literatur zu
rechtfertigen sucht. Das Ende verweist auf den Anfang. Marcel, der passio-
99
Ebd. 182
100
Ebd. 211
101
Ebd.
210

nierte Leser, fragt sich bereits als junger Mann, ob die Frauen, nach denen
ihn verlangt, überhaupt in Wirklichkeit existieren oder nicht eher Geschöpfe
der eigenen Phantasie sind. Wären sie leibhaft erschienen, hätte er nicht
gewagt, sie anzusprechen: „Es kam mir vor, als würden sie mich für einen
Irren halten" 102 .
Damit greift Marcel dem Fortgang der Geschichte sehr weit vor, aber er
bleibt auf dem Boden der Tatsachen. Denn seine Liebe zu Albertine wird, da
sie Obsession ist, ihn wahrhaft zu einem „Irren" machen, der lange und
schließlich vergeblich die Wälder seines Begehrens durchirrt — stets auf der
Suche nach der wahren Albertine. Doch die kann es nicht geben; nicht, weil
Albertine verlogen ist, sondern weil sie ein Phantasma bleibt. Das Epos der
Eifersucht (Proust hat diesem Thema Hunderte von Seiten gewidmet) ver-
schleiert im Medium der Literatur, daß Liebe im Grunde Fiktion ist, erfun-
den vom Begehren, doch von der Einbildungskraft verschwenderisch mit
Wirklichkeit bekleidet. Umso sprechender, daß die Metapher der in Wäldern
sich kreuzenden Wege am Ende des Romans wiederbegegnet, wenn Marcel
auf die Tochter seiner Jugendliebe Gilberte trifft103. Die ewige Wiederkehr
annulliert die Zeit, indem sie Zeit hervorhebt. Das Drama des Begehrens,
das seinen Akteuren so einmalig vorkam, erweist sich darin als etwas, das so
natürlich wie Sonne und Regen ist.
Daß hinter den Bäumen von Roussainvüle keine Nymphe hervortritt,
weil der Betrachter eine verlassene Bühne, doch keinen wirklichen Wald
sieht, deutet voraus auf das Drama des Ich-Erzählers mit Albertine: diese ist
überall und nirgends, so eifersüchtig er sie zu überwachen sucht. Sein Ver-
langen wird dadurch eigentümlich ordos; es trägt zwar eine Unmenge von
Realitätspartikeln, Beobachtungen, Spekulationen zusammen, aber ohne die
Geliebte dadurch besser kennenzulernen. Ja, Marcel muß sich nach Al-
bertines Tod gestehen, wie wenig er von ihr wußte. Er hat Albertine zwar
besessen, doch niemals gekannt.
Auf seinen Streifzügen durch die Wälder, die ihn bis nach Monrjouvain
führen, dem Wohnsitz des Komponisten Vinteuil, erlebt Marcel, durch Zu-
fall in die Nähe von dessen Haus gekommen, einen ersten Eindruck von
erotischer Obsession. Er beobachtet durch das halboffene Fenster, wie im
Salon die Tochter Vinteuils und ihre lesbische Freundin intimen Umgang
haben und dabei das Bild des verstorbenen Vaters profanieren. Nichts
drückt deutlicher als diese Szene die von Bataille beschriebene Sakralität des
Eros aus, der seine eigenen Gesetze und Rituale hat, die er den Liebenden
gebieterisch diktiert. Der sadistische Zug, den Proust so betont, gibt jedoch
ein falsches Bild von Mlle. Vinteuil, die im Herzen ein gutartiges Geschöpf
ist: „Sadisten vom Schlage der Mlle. Vinteuil sind rein gefühlsbetonte Wesen,

102
Ebd.
103
Proust X, 4159
211

die, von Natur tugendhaft, in der Sinnenlust etwas Schlechtes sehen"104.


Auch die Freundin wird sich später rührend, mit strengem Eifer, dem Werke
des verstorbenen Künsders widmen - so daß Vinteuils schwer zu entzif-
fernde Kompositionen einzig durch sie der Nachwelt zuganglich werden.
Die Zeit tut ihr Werk; doch sie löscht das Verlangen nicht aus. Marcel wird
seine Wälder in Paris wiederentdecken: Ein nahendes Gewitter über der
Stadt erinnert ihn an den sehnsuchtsvollen Weg nach Meseglise; er atmet
entzückt den Duft „von unsichtbaren, nie welkenden Fliederbüschen ein"105.
So strahlt Natur selbst ihren Eros aus. In diesem Duft ist die Frau, die
Marcel niemals besessen hat, anwesend.
Die Gewaltsamkeit der Zeit wie des Verlangens zieht sich als Leitmotiv
durch die ganze Recherche. Unter den urbanen Formen der Zivilisation deckt
Proust die Seelenwildnis auf, den obsessiven Charakter der Liebe und ihre
Opferriten. Anschaulich wird die Gewalt des Eros vor allen durch die Rolle
der Invertierten 106 — durch Figuren wie den Baron de Charlus und Saint-
Loup, die es genießen, in anrüchigen Häusern sich zu erniedrigen. Hier arti-
kuliert Proust jenes Unbehagen in der Kultur, das Freud zwischen zwei
Weltkriegen als Preis des Fortschritts feststellt. Auch Proust registriert die
besondere Art von Entwurzelung, die der Zusammenbruch des alten Europa
für Individuen bedeutet, für die es das Natürlichste war, sich gesellschaftlich
zu definieren. Die Verwilderung aber ist ein Produkt der Geschichte: Die la-
sterhaften Abenteuer von Charlus und Saint-Loup werden von Proust in die
Kriegszeit verlegt, als Paris von deutschen Flugzeugen bedroht ist und eine
stimulierende Atmosphäre von Gewalt und Gesetzlosigkeit um sich greift107.
In diesem Milieu, das an die letzten Tage Pompejis erinnert108, erfolgt die
Demaskierung des Kulturmenschen — von Proust als erlesener Schock zele-
briert. Der Ich-Erzähler Marcel gerät im verdunkelten Paris von 1918 zufällig
in ein Hotel, das sich als Ort sadomasochistischer Praktiken enthüllt. Dort
entdeckt er Charlus — „an sein Lager gefesselt wie Prometheus an seinen Fel-
sen, im Begriff, die Schläge einer tatsächlich mit scharfen Spitzen versehenen
Klopfpeitsche entgegenzunehmen, die Maurice auf ihn nieder fallen ließ, be-
reits in seinem Blute schwimmend und mit Striemen bedeckt, die bewiesen,
daß diese Züchtigung nicht zum ersten Mal erfolgte"109.
Proust liefert die Allegorie des Begehrens, das Selbstqual und Selbstbe-
strafung zu seiner Befriedigung braucht und dafür eigene Riten erfindet. Das
Moment der Gewalt, das sie notwendig enthalten, tendiert zur Opferhand-

104
Proust 1,218
105
Ebd. 247
106
Dazu I. Bachmann, Die Welt M. Prousts - Einblicke in ein Pandämonium,
in: Werke IV (München - Zürich 1982) 156-180
107
Proust X, 3841 ff.
108
Ebd 3849
109
Ebd. 3862
212

lung. Der Proustsche Prometheus macht deutlich, daß dieser Akt zutiefst
profaner Lust zugleich an das Sakrale rührt. Denn Charlus, der sich gegen die
„Götter", das heißt gegen die Gesetze der Natur, der Moral, der gesellschaft-
lichen Ordnung vergangen hat, wird wie Prometheus bestraft — gekettet an
den Felsen der eigenen Obsession. Und Maurice, der die Züchtigung vor-
nimmt, agiert in der Rolle des Adlers, der in die Leber des Delinquenten
hackt. Doch diese Symbolik darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Proust
den Mythos parodiert und dessen kanonische Botschaft - daß der Feuer-
und Erkenntnisraub göttliche Sanktionen nach sich zieht - höchst ironisch
zu einer sozialen Maxime herunterspielt. Mit den Worten Jupiens, der dieses
Etablissement unterhält: „dank dem Laster nur kann die Tugend gedei-
hen" 110 . Der einstige Liebhaber von Charlus erweist sich hier als ausge-
machter Funktionalist, der den dialektischen Zusammenhang von Heiligkeit
und Laster, als hätte er Durkheim gelesen, im wesentlichen Punkte klar er-
faßt111. Charlus-Prometheus aber büßt für seinen Hochmut den Göttern ge-
genüber mit dem Sturz in die Demütigung. Schon im Hesiodischen Mythos
entspricht dem verzehrenden Feuer die verderbliche Pandora, welche die
Männer zu unaufhörlichem Begehren zwingt112. Die Pandora des Barons
Charlus, die ihn in allen möglichen Masken heimsucht, ist der Violinist
Morel, dessen Bild er vergeblich in seinen Züchtigern sucht. Noch im Kult
der Gewalt, dessen Idol ein Abwesender ist, erweist sich Charlus als wahrhaft
Liebender: „Man erinnert sich, daß das Gefühl den Liebenden zu den größ-
ten Opfern für das geliebte Wesen anspornt, manchmal sogar zu dem Opfer
seines Verlangens selbst"113.
Um die Enthemmung angesichts des Luftangriffs zu schildern, bringt
Proust Pompeji und Sodom zusammen, zwei Städte, deren Zerstörung
gleichsam vom Himmel selbst erfolgte. Doch Charlus und seine Gefährten
kümmern sich nicht um die Geschichte, die aus den Wolken ihre Todesbo-
ten schickt: „Die bombenkündenden Sirenen störten Jupiens Kunden nicht
mehr, als ein Eisberg getan hätte" 114 . Die Anspielung auf den Untergang der
„Titanic", einige Jahre zuvor, fügt mit dem tödlichen Natursymbol ein sub-
tiles Moment von Zivilisationskritik ein. Gerade die elementare Gefahr be-
freit Charlus und die Seinen von aller Furcht und Rücksicht, die sonst Ge-
sellschaftswesen eignet. Ihre Obsession, alleine vom Diktum des Körpers re-
giert, bringt das Sinnsystem Geschichte zum Verschwinden; mcht zufällig
vergleicht Proust den Zusammenbruch aller gesellschaftlichen Ordnung mit

110
Ebd. 3883
111
Zum religionssoziologischen Kontext von Heiligkeit und Laster M.Maffesoli, Der
Schatten des Dionysos. Zu einer Soziologie des Orgiasmus (Frankfurt/M. 1986) 49ff.
112
Dazu J.P.Vernant, Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland
(Frankfurt/M. 1987) 181 f.
111
Proust X, 3867
114
Ebd. 3888
213

Naturphänomenen wie Sturmflut und Mondfinsternis115. Die verdunkelten


Schächte der Untergrundbahn, in denen die Bewohner Sodoms auf Aben-
teuer mit ihresgleichen aus sind, markieren das Abtauchen in atavistisches,
von archaischen Trieben beherrschtes Höhlendasein. Charlus durchwandert
diese Wildnis bis zum Verlust seiner selbst. Mit dem Begehren opfert er die
eigene Geschichte, alles, was seine Identität ausmachte, einem Phantom —
der Liebe zu Morel. Doch das Phantom ist der Baum der Erkenntnis. Indem
er von ihm kostet, tritt Charlus heraus aus der Ordnung der Zeit. Die Rollen,
in die er sich verwandelt, sind in den Augen der Gesellschaft regressiv: Vom
Laster weißgeglüht, hat er zuletzt die Würde eines Lear, die Güte eines Heili-
gen, die Naivität eines Kindes.

Histoire Naturelle — so nannte Max Ernst eine Folge von 34 Blättern, die er
1925 mit Hilfe der neuentdeckten Frottagetechnik schuf. Der Titel spielt an
auf die enzyklopädischen Werke des 18. Jahrhunderts, etwa Buffons Natur-
geschichte. Doch Max Ernst, der romantische Surrealist, konterkariert mit
seiner Phantastik und Kombinationskunst die logozentrische Wissenschaft.
Natur, wie er sie sichtbar macht, ist magisch, irreal, bizarr, ironisch, verspielt.
Ein genuin romantischer Zug bei Max Ernst ist die Ironie als wichtiges Mo-
ment bei der Erweiterung des Wirklichkeitsbegriffes. Was Friedrich Schlegel
in seinen Ly^eums-Fragmenten (1797) als Ironie umschrieb — „wirkliche trans-
zendentale Buffonerie" und „freieste aller Lizenzen" 116 - trifft ohne Ein-
schränkung auf die Kunst von Max Ernst zu. Die Ironie als „Stimmung, wel-
che alles übersieht", läßt sich noch vom Heterogensten inspirieren. Sie
nimmt Natur nicht als Ensemble lebloser Objekte, sondern als Spiel von
Möglichkeiten in einem inneren Kontinent der Phantasie. Der Surrealist tut
nichts anderes, als was Novalis forderte: er romantisiert auf seine Weise die
Welt, indem er „dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Be-
kannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen
Schein" gibt117. Sich inspirieren lassen, hieß für Max Ernst: sich irritieren las-
sen. Entscheidend dabei ist die Rolle des Es. Das Unbewußte, bei Max Ernst
biomorph strukturiert, hat sich den ungezähmten ersten Blick bewahrt. Wie
Andre Breton in seiner Schrift he Surrealisme et la peinture (1927) auf dieser
Spur formulierte: „Das Auge existiert im Zustand der Wildheit". Das Mär-
chen vom Schöpfertum des Künsders, dieses „traurige Reststück des Schöp-

115
Ebd. 3890
116
F.Schlegel, Schriften zur Literatur, hg.v. W.Rasch (München 2Auflage 1985) 12 (Nr. 42)
und 21 (Nr. 108)
117
Novalis II, 545
214

fungsmythus" hat Max Ernst zeidebens abgelehnt118. Das Geheimnis der


Welt, freilich zerstückelt, liegt vor aller Augen. Der Künsder erzeugt Er-
kenntnis durch Kombination von Widersprüchen - also durch einen Schock.
Ein Bild wie La ville entiere (1935/36) hat durchaus etwas Ekstatisches,
wie Werner Spies bemerkte119. Vegetatives und Architektonisches stoßen zu-
sammen; so entsteht die Vorstellung tabuisierter Zonen. Doch die Zivilisa-
tionskritik in einer Ära wachsender Diktaturen geschieht einzig durch Male-
rei - nicht weniger eindrucksvoll als die romantischen Ruinenbilder von Hu-
bert Robert oder C.D.Friedrich. Die Akropolis unter dem riesigen Voll-
mond, der so bedrohlich tief hängt, ist verlassen, verwittert, zerstört; das
Gebilde der Geschichte sinkt zurück in wuchernde Natur. Die Wildnis, die in
den dreißiger Jahren auch als Metapher für Politik zu lesen ist, hat Max Ernst
in diesem Warnbild suggestiv erfaßt. Er malt das Heraufkommen der Barba-
rei mit einer „desinvolture", die an Ernst Jünger erinnert. Auch Bilder wie
die Nymphe Echo (1936) und Lajoie de vivre (1936), Orgien von Grün, mit der
bösartigen Präzision der Versuchungen des hl. Antonius gemalt, sind „ver-
giftete Paradiese"120 - Gegenstücke zu Runges sakralisierender Vegetations-
symbolik. Max Ernsts Vorliebe für das Thema Wald hat, bei aller ironischen
Brechung, etwas von romantischem Naturgefühl. Der Wald als Chiffer für
das Unbewußte versammelt ambivalente Gefühle: Geborgenheit und
Schrecken, Traumdunkel und Lichtungen, Gefangenschaft und Anarchie.
Max Ernst hat das Motiv seit den zwanziger Jahren favorisiert — etwa im
Großen Wald (La grande foret, 1927). Das Verfahren der „frottage" bringt
auch formal regressive Strukturen zum Vorschein.
Das Magische des Waldes hat in der deutschen Malerei seine spezielle
Geschichte - von Altdorfer bis hin zu C D . Friedrich; in Frankreich hat ihm
der Zöllner Rousseau mit seinen Dschungeln gehuldigt. Faszinosum und
Furcht spielen hier ebenso ineinander wie Chaos- und Ordnungsformeln. In
der fahlgrünen Hölle seiner Natur im Morgenlicht (La nature ä l'aurore, 1938)
verklärt Max Ernst eine von Zeugung und Zerstörung erfüllte Lemurenwelt.
Ihr Protagonist, inmitten orgiastischer Vegetation, ist eine in Purpur und
Blau gekleidete Figur mit Raubvogelkopf - einer jener Vogelmenschen, die
für die individuelle Mythologie von Max Ernst und seine Kunst der Meta-
morphosen so aufschlußreich sind121. Fressen und Gefressenwerden sind das
Gesetz dieses Urwalds von Zwitterwesen, in denen Vegetatives, Animali-
sches und Menschliches sich durchdringen. „Die Vogelgestalt ist der finstere

118
Max Ernst, Was ist Surrealismus? (1934), zit. bei W.Spies, Max Ernst. Retrospektive 1979
(München 1979) 157
"'Ebd. 15
120
Ebd. 82
121
Dazu Lichtenstern 264ff.
215

Fürst dieses Dschungels"122. Er waltet gleichsam als Priester dieser Orgie —


als verkleideter Pan übt er mit herrischem Gestus den Fruchtbarkeitszauber.
Die Deutung von Christa Lichtenstern, in ihm ein mythisierendes Selbstbild-
nis Max Ernsts zu sehen, ist durchaus plausibel123. Dem entspricht der vom
Kunsder gerade in den dreißiger Jahren - angesichts der Bedrohung durch
totalitäre Systeme — geäußerte Wunsch nach Vereinigung mit der Natur. Die
persönliche Wiederbelebung des Pan-Mythos gehört in diesen Kontext —
steht doch Pan gegen die prometheische Ratio, gegen die Mechanik der Na-
turbeherrschung. Max Ernst hat sich selbst, in einem Sonderheft der Cabiers
d'Art, das ihm 1937 gewidmet wurde, als ein „Nest von Widersprüchen"
charakterisiert. Im distanzierten Er, wie es auch Kafka verwendete, schreibt
er von sich: „Manchmal besitzt er wie der Gott Pan oder der primitive Papua
den Schlüssel zu allen Geheimnissen der Natur"124. Mythos und Ethnologie
liefern den Sprengstoff, mit dem der Kunsder das Gefängnis des logozentri-
schen Denkens aufzubrechen sucht. Anders als Hegel, der Rückkehr zur
Natur als Verlust geistiger Freiheit verwarf, sieht Max Ernst in der Natur ein
Refugium, eine Quelle der Inspiration, ja einen „Traum-Führer"125.
Doch es geht bei Max Ernst niemals idyllisch zu. Natur ist für ihn ein
„surrealistischer Oppositionsbegriff' (Ch. Lichtenstern), dies auch im poli-
tisch-gesellschaftlichen Sinne. Die Wildnis, die er malt, ist Gegenwelt, kreativ
gerade aus ihrem Triebpotential heraus. Im Wilden, im Ritus der Dekon-
struktion, in den Arkana des Unbewußten rettet der Surrealist das Sakrale.
Von daher koppelt er romantisches Naturgefühl mit Freudscher Analytik.
Die Aurora im Titel des Bildes erinnert an Runges Morgen aus den geplanten
Allegorien der Tageszeiten. „Doch statt der Morgen-Röte schildert Max
Ernst das Morgen-Grauen" 126 . Der verordneten Volksgemeinschaft der
Diktaturen stellt der Kunsder seinen vitalen Anarchismus entgegen — den
Wald der Libido. Einer im Grunde utopischen Disposition entsprungen, wi-
dersteht er allen Domestizierungsplänen. Sein vegetatives, subersives Wu-
chern eröffnet eine imaginäre Fluchtwelt inmitten der Geometrie der Macht.
Gegen das Schicksal in Gestalt der Politik, gegen die totalitären Versuche,
den Mythos für den Terror einzuspannen, aktiviert Max Ernst die revolutio-
näre Phantasie. Er zeigt uns, um mit Wittgenstein zu sprechen, .Ausschnitte
aus einer ungeheuren Landschaft", in der die üblichen Seh- und Verständi-
gungsspiele durchkreuzt sind. Gestaltet nach dem Prinzip der Collage, ist
diese Seelenwildnis bestimmt durch die Gesetze des Widerspruchs, die Paa-
rung des Heterogenen, die kalkulierte Störung. Aus dem Schock kommt Er-

122
G.Bauer, Max Ernst und das Gesetz des Dschungels. Zur Natursymbolik seiner Malerei
zwischen den Weltkriegen. Typoskript 1991,5
123
Lichtenstern 272
124
Max Ernst, Ecritures (Paris 1970) 268
123
Lichtenstern 272
126
G.Bauer, Typoskript 1991,12
216

kenntnis. Max Ernst hat seinen Waldkomplex selbst bis auf die Kindheit
zurückgeführt - mit der in Freuds Verständis klassischen Ambivalenz: „Ge-
mischte Gefühle, als er zum ersten Mal den Wald betritt, Entzücken und Be-
drückung" 127 . Und wenig später träumt sich das Kind, das es haßt, autoritär
abgerichtet zu werden, aus dem Wilhelminischen Reich in die Dschungel
Ozeaniens hinein: „Verschwinde in der Südsee. (...) Gibt's dort noch Wälder?
Scheint so. Sie sind wild und undurchdringbar, sie sind schwarz und rost-
braun, ausschweifend, weltlich, von Leben wimmelnd, diametral, nachlässig,
grausam, inbrünstig und liebenswert, ohne Gestern noch Morgen"128. Das ist
ein ganzes Lebens- und Kunstprogramm. Es schließt die Absage an allen
Historismus ein, in dem Max Ernst eine europäische Geisteskrankheit sah.
Der selbstkritische Aufklärer Max Ernst bewahrt den Mythos — und mit
ihm verkappt das Heilige, indem er ihn parodiert, ironisch umformt, schöp-
ferisch dekonstruiert. Sein Bild Napoleon in der Wildnis (1941, Museum of
Modern Art, New York) versammelt schrill kontrastierende Motive aus Ge-
schichte und Natur zu einer irritierenden Vision. Links vor einem Meerhori-
zont, der die Insel St. Helena suggeriert, steht Napoleon mit Stelzfuß, das
andere Bein mit der Erde verwachsen; sein Blick wendet sich einer in rost-
rote Borke oder Baumschwämme gekleideten großen Frau zu: partiell ent-
blößt, hält sie ein phantastisch verformtes Saxophon in ihrer Rechten.
Zwischen beiden erhebt sich eine von farbigem Aussatz befallene Stele, die
zugleich phallisches Monument und versteinerter, asdoser Baum der Er-
kenntnis ist. Napoleon mit seinem Eselskopf, das Maul verbunden, ist die
Karikatur eines historischen (und theologischen) Mythos: der kleine, in
Sünde gefallene Adam, dem die kokett-melancholische Eva träumerisch das
mit einem Schweins- oder Hundekopf verzierte Saxophon reicht. Im Hinter-
grund kommenden ein Seetier in der Art eines Delphins, mit Blätterschwanz
und Agamemnonkopf, starr in den Himmel grinsend, die Comedie humaine.
Hier herrscht Entzauberungsmagie. Wie Gottfried Benn in seinem
Essay Zum Thema Geschichte mitten im Zweiten Weltkrieg schrieb: „Auch Na-
poleon ist innerhalb seines Jahrhunderts ein mikrozephaler Artillerist"129.
Aber von den Wäldern des Begehrens ist bei Max Ernst nichts als ein von
Flechten inkrustierter Stamm geblieben - die unfruchtbare Säule des Erin-
nerns an eine Geschichtskatastrophe. Und doch strahlt diese Stele, an einen
ruinösen Totempfahl erinnernd, eine eigentümliche, sakrale Aura aus; wie
über dem ganzen Bild, bei aller Bizarrerie, seltsame Schwermut liegt. Der
Pfahl trennt die Geschlechter; er markiert die Posthistoire der Sexualität. Eva
blickt wie abwesend zur Erde; und Napoleon starrt auf der Höhe ihres
Schoßes hin ins Leere. Die Insel, entwaldet, im wörtlichen Sinne all ihrer

127
Max Ernst, Autobiographie 1892 - 1896, in: Max Ernst. Retrospektive 1979
(München 1979) 123
128
Ebd. 124f.
' » Benn SW IV, 288
217

„Triebe" beraubt (wenn man absieht von den versteinerten Rechten des
Ufers) symbolisiert das Ende der Geschichte — auch des Geschlechter
kampfes.

Gerade die Literaturen Amerikas, des gewaltsam kolonisierten Kontinents,


bieten reichlich Zeugnisse für das wilde Denken. Das gilt, ins Artifizielle,
Pomphafte, ja fast Monströse gesteigert, auch für das Werk des Kubaners
Jose Lezama Lima. Sein Roman Paradtso (1966), gewiß ein Höhepunkt der
iberoamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, könnte ebenso „Der
Urwald des Begehrens" heißen. Nur vordergründig handelt es sich hier um
ein Erzählen; der Leser muß eindringen in einen tropisch wuchernden Wald
von Metaphern. In dieser Wildnis aus Bildern gibt es thematisch keinen
Durchblick mehr, allenfalls verschlungene Pfade im Labyrinth der Anspie
lungen. Lezama Lima kleidet die erotischen und religiösen Obsessionen sei
ner Figuren gern in naturale Metaphern; sie bilden Dschungel von Zeichen,
in denen jede logische Orientierung aufgehoben ist. Der Tod der einen Me
tapher wird zur Geburt einer neuen: Sprache, als Wildnis erlebt, mutiert zum
lebendigen Chaos, worin der Erzähler so lustvoll wie ziellos umherschweift.
„Positiv beurteilt ist Paradiso ein monstruöses Gedicht, (...) das sowohl durch
den evozierten Anschein des Mysteriösen als auch die ständig dem Leser
dargebotenen sprachlichen Überraschungen die Lektüre zu einem faszinie
renden Abenteuer gestaltet"130. In diesem Paradies, das regiert wird von den
zwei Schlangen Eros und Thanatos, verbreitet die Sprache jene erhellende
Dunkelheit, die sich auch in den Gedichten Göngoras findet.
Das Chaos bei Lezama Lima ist die vollkommene Unschuld universaler
Verschlingung von Tod und Begier, worin das Obszöne und das Sakrale sich
koppeln.

Der saturnische Schenkelkanal verwandelte sich in sülzenartige


Feuchtigkeit, die er mit der phallischen Säule abfangen mußte. Er sah
den anderen Teilnehmer am fleischlichen Zwiegespräch als Opfer, das
nackt vom Altar hinlief zur Säule, die, mit verzweigtem Sockel, klei
nem, gegen Berührung unempfindlichem Vlies und endend in einer
äußerst gespannten Eichel, eine Decke stützt, besprüht mit Schwefel
körnern, Wandelsternen und Kometen, die platzend auf den Klippen
eine Dunkelheit erzeugten, die sich wie ein Nemanthelminth durch
die lymphatische Zirkulation schlängelte, bis sie sich im Schaum der
Ekstase verströmte.131

150
Rogmann 262
131
Lezama Lima 342
218

Die tropische Natur, als Große Mutter oder Große Hure gleichsam allge-
genwärtig, liefert im Chaotischen die Ordnung mit, ohne sich groß um euro-
zentrische Distinktionen zu kümmern. So wie es im Urwald fleischfressende
Pflanzen gibt, so gibt es in Limas Roman üppig blühende, sinnfressende
Metaphern - irritierend wie die biomorphen Gespenster von Max Ernst.
Dessen „Flugzeugfallen" könnten geradewegs der Phantasie von Lezama
Lima entstammen. Natur, als universale Triebstruktur erlebt, bildet die
Machina mundi, die gleichzeitig Leben und Tod, das Wilde und das Heilige,
die Prostitution und das Geheimnis erzeugt. Ihre Kombinationskunst kann
mit den Allegorien des Begehrens, wie sie Max Ernst und Lezama Lima
erdichten, mühelos konkurrieren. Das Menschenwerk Geschichte erstickt in
der Umarmung dieser Wildnis, die keine „Lichtung" kennt. Indem er die
Mataphorik bis zum Exzess treibt, ahmt der Dichter nur die Natur nach, die
alles mit allem verbindet. Der Vorwurf des Elitären und Hermetischen wird
dadurch trivial. Limas Domäne sind die „eras imaginarias" (so der Titel eines
Essays von 1958), als deren Schöpfer der Poet sich fühlen darf. Sie sind die
Gegenwelt, in die ein ausgesprochen bürgerlicher Schriftsteller sich flüchtet -
abseits der realen Problematik der kubanischen Gesellschaft in der Ära
Batista und Castro. Limas Literatur will nichts verändern, sondern poetische
Wälder heraufrufen, in denen der domestizierte Mensch wieder zum Satyr
wird - den schon Nietzsche als Urbild des Menschen erkannt hatte, als Be-
gleiter des Gottes Dionysos, als „Sinnbild der geschlechtlichen Allgewalt der
Natur, die der Grieche gewöhnt ist mit ehrfürchtigem Staunen zu betrach-
ten"132. Mit seinem Lobpreis der Vitalität steht Lima, der scheinbar exotische
Autor, ganz auf der Linie der Griechen.
So evoziert seine Dichtung ein naturwüchsiges Chaos, das sie gleichzei-
tig kraft der Metaphern ordnet. Für den Schriftsteller ist die Metapher beides:
Garant der Kunst und Repräsentant der Natur, Triebkraft und Element der
Verwandlung; sie ist die Meisterin aller Metamorphosen. Was ihr als Opfer
dargebracht wird, ist der aus Europa importierte Logos, genauer: das histori-
sche Bewußtsein. Damit verwandelt sich auch der Subjektbegriff. „Das Er-
zählsubjekt ist im Paradiso nicht ein zuverlässig historisches, sondern ein
schöpferisch metaphorisches Subjekt, ein 'sujeto metaförico', wie es Lezama
Lima in seiner Vortragsreihe La expresiön americana beschrieben hat"133. Die
Geschichte kommt in Limas tropischem Fabelwald nur noch in Gestalt von
Bildungszitaten vor - von dekorativen, sehr barocken Blüten, die nach dem
synchronen Prinzip der Montage über das Ganze verteilt sind. Dieses Ver-
fahren hatte schon Ezra Pound in seinen Cantos virtuos gehandhabt. Ge-
schichte, derart kosmopolitisch, mithin alexandrinisch geworden, ist nur
noch ein Thesaurus von Anspielungen - von literarischen, philosophischen,

132
Nietzsche, Geburt der Tragödie § 8 (KSA 1, 58)
i J3 Teuberl08
219

erotischen Concetti. Lezama Limas Roman ist ein tropischer Karneval der
Sprache, ein dionysisches Maskenspiel, eine barocke Ausschweifung der
Phantasie. Insbesondere im erotisch-sexuellen Bereich demonstriert Lezama
Lima eine urwaldhafte Vitalität, die allem eurozentrischen Moralismus ferne
steht. Selbst die christliche Tradition wird verschlungen von dieser Mytholo-
gie des Sexus. Lustvoll gibt der Autor sich den Versuchungen der Sprache
hin, den Lockungen der Imagination; doch dieser Wald des Begehrens wird
immer wieder durch Blitze der Reflexion illuminiert. Der Großtext Paradiso
eröffnet den „heiligen Aspekt des totalen Abenteuers des Menschen"134.
Einzig die Poesie, Schöpferin heiliger Wildnis, stellt in diesem Vanitas-
spiel um Liebe und Tod ein Dauerhaftes dar. Sie ist die wahre Gnosis. Dem
kommt die Namenssymbolik bei Lezama Lima entgegen: Cemi, der Held des
Romans, heißt in der Sprache der indianischen Ureinwohner Kubas „Göt-
terbild"; und Jose Cemi verweist mit seinen Initialen deutlich auf Jesus
Christus, der nach Paulus das Bild des unsichtbaren Vaters ist135. Die Gnosis
aber lebt von Metaphorik. Was die Lektüre aufdeckt, ist gleichsam ein heils-
geschichtliches Drama. Die Wildnis des Textes, die eine Maske des Begeh-
rens nach Erkenntnis ist, stellt auf der theologisch-symbolischen Ebene die
Sünde dar - jene Konkupiszenz, die Augustinus in seinen Confessiones so ein-
dringlich schilderte. Nicht zufällig geistern Anspielungen auf Augustinus und
seinen Verehrer Pascal häufig durch den Roman. Der Versprecher .Lapsus
ego sum", auf den Lezama Lima seine fiktive Lebensgeschichte gründet136,
ist jener Sündenfall, der Dichten überhaupt möglich macht. Auch bei Lima,
der manche Affinität zu Nietzsche hat, ist der Teufel „bloß der Müßiggang
Gottes an jedem siebenten Tage"137. Damit enthüllt sich der Gott, der Einer
in allem ist, als Inbegriff jeder Verwandlung. In der Deutung des Gnosis-
kenners Hans Blumenberg: „Indem er die Gestalt der Schlange annimmt,
erweist er sich als Gott der Metamorphosen" 138 . Auf Lima übertragen: So
wie die Konkupiszenz ist die Metapher sprachlich allgegenwärtig; auch
wimmelt es förmlich von Schlangensymbolen. Die Metapher-Manie, Teil
einer Spracherotik, ist .Lügenwerk", doch zugleich „heilig", da sich in ihr die
Wahrheit, wenn nicht für immer fängt, so doch für Momente verstrickt.
Auch hier hält Blumenberg, der gewiß nicht über Lezama Lima schreiben
wollte, als Mythologe die passende Lesart bereit: „Das Paradies ist die Nega-
tion der Geschichte, der Inbegriff der Langeweile eines Gottes" 139 .

134
So der Autor in dem Interview-Band Rtcopilaaon de textos sobrej. Lezama Lima
(Havanna 1970) 24; zit. bei Rogmann 259
135
Dazu Teuber 117
136
Teuber 109
137
Nietzsche, Ecce Homo (KSA 6, 351)
138
Blumenberg, Arbeit am Mythos 196
139
Ebd. 195
220

Um weiter Geschichten erzählen zu können, muß Lima das Paradies


negieren, es zur „imago absentiae" machen, zur allgegenwärtigen Chiffer des
abwesenden Gottes: „escrito sobre un cuerpo ausente Paradiso"140. Die
Triebkraft der Metapher aber zielt auf das Reich des Eros. Sie ist, mit Freud
gesprochen, polymorph-pervers. So erlaubt sie sich jeden Exzess, jede Aus-
schweifung literarisch als Abschweifung tarnend. Vor allem die Homosexua-
lität wird zu einer unendlichen Melodie, welche die Handlung handlungslos
vorantreibt: auf ein Unendliches hin, das Lezama Lima mit einem höchst ar-
tifiziellen Begriff, auf Piaton und die Kirchenväter zurückgreifend, als
„hipertelia de la immortalidad", als eine „Suche nach Schöpfung"'41 um-
schreibt. Gemeint ist ein Überschuß an Leben, der gnadenhaft über die
Grenze der Natur und damit der Sterblichkeit drängt. Das Paradies ist vor
aller Dichotomie: „Der Phallus werde zum Baum, oder aus dem Schlüssel-
bein wachse ein Baum, von dem sich das Geschöpf wie eine Frucht löse. Die
Erinnerung an diese Fabelzeiten ist noch erhalten in der Kindheit, in der Un-
schuld des Goldenen Zeitalters"142. In letzter Instanz richtet sich alles Begeh-
ren auf die Auferstehung des Fleisches; der Vitalität des Fleisches entspricht
die Fruchtbarkeit der Metaphern. Limas Urwald aus Literatur stammt von
dem einen Baum der Erkenntnis ab.
Der Text, mimetisch sich der Natur verschreibend, bringt die Vernunft-
geschichte weithin zum Verschwinden — mittels einer dichterischen Promis-
kuität, die im Geiste des Surrealismus (und einer Kryptoromantik) alles mit
allem vereint. Solch panerotischer Mythologie erwächst die ästhetische Wild-
nis, in welcher Cemi zusammen mit dem Leser sich verirrt. Denn die Magie
der Surrealisten, so Focion, jene Romanfigur, die für die Libido steht, „ver-
steckt sich im Blattwerk ihrer Metaphorik" 143 . In diesem Paradies triumphiert
nicht umsonst die vegetative und sexuelle Symbolik der Wurzel, jenes ver-
borgenen Ursprungs, „wo es weder Reinheit noch Unreinheit gibt, sondern
nur ein dunkles Spiel, das im Ausspruch einer Blume aufgeht und sich voll-
endet"144. Die Begier, an das Unmögliche zu rühren, den Weltsinn in einer
poeüschen Knospe zu fassen, treibt aus dem Unbewußten ohne Aufhör
neue Metaphern hervor. Lezama Lima ist auf seine Weise ein Nachfolger
Musils im Mann ohne Eigenschaften - ein Meister des phantastischen Essayis-
mus. Die Kultur der kubanischen Bourgeoisie ist nur noch ironisch belich-
tete Folie; die Kolonie macht die Geschichte zur Fabel. Im Dickicht der
Erzählung fängt sich der leuchtende Augenblick, wo Trennung und Vereini-
gung verschmelzen:

1+
»Teuberl19
141
Lezama Lima 350. Vgl. Teuber 112
142
Lezama Lima 344f.
143
Ebd. 346
144
Ebd. 347
221

Celita empfing im Mittelpunkt ihres Baums die Last eindrucksvoller


Längen, Ameisenansammlungen, düstre Verteilungen mongolischer
Auswanderungen, heulende Stimmen zwischen Schneetieren, m
peitschende Brandungen verwandeltes Geflüster. Aus Dämmerge
woge keimte gleichsam ein Titanenteppich, der die Seufzer umhüllte
und alle Bruchstücke des splitternden Mondes. Und Celita schloß die
Augen im Schlaf; Augenblicke später öffnete Juliano die seinen im
Tod. Beide hatten sich ein Glück der Ewigkeit einverleibt. Celita war
aufgestiegen zum Schlaf durch die Ekstase, Juliano, nachdem er ihr
Gesicht gesehen hatte, war abgestiegen in Proserpinas kalte
Grotten. 145

Das eurozentrische D e n k e n versinkt hier in kunstvoll chaotisierter N a t u r , in


einen ekstatischen Schlaf der Vernunft. Die N a t u r , unschuldig wild wie jene
Karaiben, die einst Rousseau beschrieb, frißt die Geschichte der Eroberer
auf. Im Paradies des Begehrens, wo E r o s u n d T o d sich erkennen, indem sie
sich verschlingen, waltet kannibalisches Vergnügen.

145
Ebd 444
8. Kapitel
Das Feuer und die Wunde. Rot bei Matisse und Kafka

Dort erschien ihm der Engel des Herrn in einer Flamme,


die aus einem Dornbusch emporschlug.

Exodus 3,2

Rot ist der Abend auf der Insel von Palau.

Gottfried Benn

Die Wildnis, die Anarchie, das Begehren können sich auch in den Farben
verbergen. Jede Kultur arbeitet mit entsprechender Symbolik: dem Spektrum
der Farben ordnet sie bestimmte Werte zu. Das Rot samt seinen Abstufun-
gen hat als Sinnträger besonderen Rang, da es sowohl lockend wie drohend
wirkt. Wie Ernst Jünger im Abenteuerlichen Herren bemerkt: „Wir haben
Gründe, mit der roten Farbe behutsam umzugehen"'. Rot ist anarchisch, es
signalisiert Blut, Gewalt und Sexualität. Weil dies an Heiliges rührt, sind ge-
wisse Tabus auf diese Farbe gelegt. Denn sie zeigt auf Dinge, „denen der
erste Zugriff zu gelten hat"2. Das Rot als Farbe des Begehrens, archetypisch
der Paradiesfrucht, bewahrt noch in der Kultur, die nach Freud ein System
von Hemmungen ist, die Erinnerung an den natürlichen Eros. Selbst Adal-
bert Stifter, Prophet und Märtyrer bürgerlicher Selbstdomestizierung, weiß
noch mitten im Biedermeier von solcher Elementarkraft. Sein Sonderling Ti-
burius wird im Walde, durch die Begegnung mit dem Erdbeermädchen, vom
Zölibat erlöst. Der Anblick der Erdbeeren in ihrem Körbchen weckt das
Verlangen in ihm. Doch was da aufflammt, flackerte schon auf, als er ihr
hochrotes Halstuch erblickte, „auf dem Lichterchen, wie Flämmchen, wa-
ren" 3 . Hier bezeichnet das Rot die verdrängte Natur im Menschen. Erst die
Kunst der Fauves und der Expressionisten arbeitet offen mit der Vitalität
dieser Farbe.
Dem intimen Rot in vielen Gemälden von Maüsse, die eine spürbar ero-
tische Wärme ausstrahlen, antwortet literarisch der Zeitgenosse Kafka mit
seiner „Erotik des Schreibens" (D.Kremer), in der die Farbsymbolik ähnlich
bewußt instrumentiert wird4. In der Erzählung vom Landarzt versteckt

1
Jünger, Das abenteuerliche Herz 232
2 Ebd. 233
3
Stifter I, 850f. {Der Woldsta&
4
Über Kafkas „erotische Metamorphosen": Kremer 93ff.
223

Kafka freilich das Rot in Rosa. So verschiebt sich das Verlangen des Doktors
nach Rosa, dem Dienstmädchen — „man weiß nicht, was für Dinge man im
eigenen Hause vorrätig hat, sagte es, und wir beide lachten"5 — hin zu der
Wunde, die an der Hüfte des Jungen so aufreizend klafft: „Rosa, in vielen
Schattierungen, dunkel in der Tiefe, hellwerdend zu den Rändern, zartkörnig,
mit ungleichmäßig sich aufsammelndem Blut, offen wie ein Bergwerk
obertags" 6 . Das bloßgelegte Bergwerk des Begehrens zeigt die nämliche
Farbskala und Farbwertigkeit wie die gleichzeitigen Odalisken, Stilleben und
Interieurs von Matisse. Das Leben der Natur, die diesem Augenmenschen
die „grande maitresse" war, spielt in den Farben sich ab: Für Matisse waren
sie das Weibliche schlechthin. Wie kein anderer Maler des 20. Jahrhunderts
hat er die Feminität der Farben wahrgenommen und in seinen Figuren
gefeiert — aus einem gleichsam religiösen Gefühl für das Leben7. Matisse
scheut nicht den Hauch des Animalischen; doch bleibt die Farbe Träger der
Sinnlichkeit. Noch seine späten „gouaches decoupees", seine Ausschneide-
und Klebebilder - Akte, aber auch Pflanzenornamente und die berühmte
Schnecke von 1952 (Täte Gallery, London) — sind von distinguiertem
farblichen Reiz; visuell genießendes Empfinden und intellektuelle
Kombinationskunst durchdringen sich darin. Zwar ist die Tiefe der Farben
unerschöpflich; aber Aufgabe des Malers ist es, wie ein Taucher — oder wie
ein Liebhaber in sie einzudringen.
Matisse hatte sein malerisches Erweckungserlebnis 1903, als ihm die Be-
gegnung mit orientalischer Kunst aus einer Krise heraushalf: „Ich fühlte, wie
die Leidenschaft für die Farbe von mir Besitz ergriff'8. Von da ab bekannte
sich der Maler ungescheut zu seiner Passion für eine dekorative Kunst. Seit
er mit Andre Derain im südfranzösischen Collioure malte (1905) und zum
Protagonisten der Fauves, der „wilden Maler" wurde, hat er vor allen ande-
ren Farben das Rot favorisiert. Dessen Gewalt schafft eine neue Kunst: „Die
Farbe ist wie ein wilder, reißender Gott, der das Opfer der konventionellen
Erscheinungsform fordert"9. Matisse stattet das Rot mit besonderer Leucht-
kraft aus, macht es zum eigentlichen Signifikanten des Bildes - vor allem bei
der Darstellung von Frauen. Der Ausgestreckte Akt von 1916 (Sammlung
S.Niarchos, London zeigt sein Modell Laurette, schwarzhaarig, mit ge-
schlossenen Augen auf einem begonienroten, mit rosa Blumen bestreuten
Teppich liegend. Die Verbindung von Rot und Schwarz, von gefährlichem
Charme, betont noch die gespannte Kraft der scheinbar Schlafenden; sie
suggeriert latente Aggressivität, die gut zum Typus der Dargestellten paßt.

5
Kafka, Erzählungen 140f.
6
Ebd. 143
7
H.Matisse, Notizen eines Malers. 1908, in: Farbe und Gleichnis, hrsg. von P.Schifferli
(Frankfurt/M. - Hamburg 1960) 24
8
Matisse in der Zeitschrift Art Vivantt, 15.9.1925
'Schneider 115
224

Das Dekorative daran widerspricht nicht der schlafenden Wildheit: Maüsse


war ein Meister in solchem Kalkül. Fast zwanzig Jahre später kehrt das ver-
führerische Rot, zum spirituellen Rosa gemildert, in dem herrlich ausbalan-
cierten Rosa Akt von 1935 wieder ( The Cone Collection, Museum of Art,
Baltimore). Alfred Barr pries daran die meisterhaft austarierte Spannung zwi-
schen dem warmen Inkarnat und dem kalten, weißgegitterten Blau der Liege,
zwischen den weiblichen Kurven und den geometrischen Formen 10 . Aber
das gewölbte Gelb der Vase setzt in das Rot ein irritierendes Leuchten, er-
zeugt eine subtile Unruhe. Das Geheimnis dieses Rosa Aktes ist, daß er eine
intime Farbe bloßlegt. Und darin liegt das „Wilde" dieses Bildes: nicht das
Nackte, sondern das Geschminkte fasziniert. Hier hat sich Matisse die
Ästhetik - oder Kosmetik - Baudelaires ganz zu eigen gemacht, der in sei-
nem Essay über Constantin Guys, den „Maler des modernen Lebens"
(1859/60), das Schmuckbedürfnis der Wilden beschrieb: „Der Wilde und das
Kind bezeugen durch ihre unbefangene Begierde nach glänzendem, bunt-
scheckigem Federschmuck, schillernden Stoffen und der aufs höchste getrie-
benen Erhabenheit künstlerischer Formen, wie durch ihren Widerwillen
gegen das Reale, ganz von selber die Geistigkeit ihrer Seele"11. So lobt
Baudelaire die Kunst der „maquillage" als ein Mittel zur Ästhetisierung des
Daseins. „Rot und Schwarz entsprechen dem Leben, einem gesteigerten und
außerordentlichen Leben. Das Schwarz läßt den Blick tiefer und absonderli-
cher erscheinen; das Auge wird zum Werkzeug des Schauens in eine Unend-
lichkeit. Das Rot, das der Wange sein Feuer mitteilt, hebt noch mehr das
Weiße des Augapfels hervor und verleiht einem schönen weiblichen Antlitz
eine geheimnisvoll priesterliche Leidenschaft"12. Dieser kosmetische Aspekt
ist der einzige, der es erlaubt, unter den Bedingungen der Modernität die
Natur (und Baudelaire wie Matisse rechnen die Frau zur Natur) noch sakral
zu betrachten. Sakral meint: Wahrnehmung eines Elementaren. In dem fron-
tal auf den Bettachter gerichteten Blick des Rosa Aktes, der dem lässig
gelagerten Körper erst Leben gibt, ist dieses Elementare enthalten. Die Fe-
minität der Farbe bringt die geschichtliche Zeit zum Verschwinden. Die in
pulsierendes Rosa gehüllte Kraft der Verführung erweist sich jedoch als
kunstvoll berechnete Mischung aus Entrückung und erotischer Präsenz.
Wenn auch das Rot bei Matisse an Benns Abend auf der Insel von "Patau
erinnert - es bleibt ein Artefakt, im Atelier erzeugter Mystizismus. Auch
dieses Verfahren stammt vom Symbolismus Baudelaires ab. Das Auge der
Frau, mit Hilfe der Farbe gehöht, wird zum Blick der Natur selbst, die
beides: Tempel und Wald ist. „Das verdunkelte Auge der Frau ist eine Lich-
tung in den Wäldern von Symbolen — ein kosmetischer lucus"13. Matisse ist

10
Henri Matisse. Kunsthalle Düsseldorf 1983, Katalog Nr. 79
11
Baudelaire, AWIII, 197
12
Ebd. 199f.
13
Harnson 217
225

dieser Wirkung sich bewußt. Er möchte malen im Duktus der Natur, ruhig,
mit langem Atem. Sein Kalkül rührt an Bewußdosigkeit. Was er malt, ist das
Sich-Verzehren der Objekte in Farbe. Darin bringt er den Raum und die Zeit
zum Verschwinden — mithin die Momente, aus denen Geschichte besteht.
Matisse, seit er im Kreis der Fauves zu seiner Freiheit fand, gibt sich der
Wildheit seiner Farben hin, ihrer animalischen Ausdruckskraft, aber zugleich
ihrer Unschuld. Die Geschichtslosigkeit dieses Malers zeigt sich auch im
Verschwinden jeglicher Psychologie. Hierbei hat ihm Kafka sekundiert,
wenn er in den Zürauer Aphorismen (1917) festhält: „Zum letzten Mal: Psy-
chologie!"14 Die gängige Meinung schrieb Matisse lange Zeit einen gewissen
malerischen Hedonismus zu; aber das wäre noch immer Seelenkunst. Hier
wird nichts mehr „gedeutet", kein Historismus des Verstehens mehr ge-
pflegt: alles bleibt Phänomen, wie bei Goethe. Matisse malt sich bewußt aus
der Geschichte heraus — so wie Kafka sich aus seiner Zeit herausschreibt.
Aber der Weg zur Natur war für Matisse mühsam und lang. Zunächst war sie
nur im Fensterausschnitt da, als farbige Chiffre für Baum, Gras, Blüte,
Himmel. Erst das Spätwerk der „papiers collees" thematisiert das Sich-Ent-
ziehen der Natur — ihr Geheimnis, das sich nur nachstammeln läßt — in
großartig einfachen Beschwörungsformeln. Die wiedergewonnene Naivität
der „zweiten Unschuld" (Kleist) geht darin ein unauflösliches Bündnis mit
der Sehweise des „wilden Denkens" (Levi-Strauss) ein. Matisse durchbricht
damit die Konventionen auch der Avantgarde. Seine Kunst macht sichtbar,
was Kleist im Aufsatz über das Marionettentheater als naturale Ästhetik be-
schrieb: „Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Re-
flexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und
herrschender hervortritt" 15 . Erst wenn die Erkenntnis durch das Unendliche
gtgangen ist, kehrt die Anmut des Naturzustandes wieder. Matisse, der Maler
des Tanzes, konnte für sich in Anspruch nehmen, was Kleist als Vorausset-
zung für seine Ästhetik des Antigraven benannte: Es gilt vom Baum der Er-
kenntnis zu essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen.

Nitur bei alledem hüllt sich in Farbe. Matisse wie Kafka erleben gleicherma-
ßen das Rot als Befreier von Konventionen der Wahrnehmung. Auch der
Autor des Landarztes vertraut solcher Befreiung sich an. Der Einbruch der
Farbe Rot mit ihrem Vitalitätspotential öffnet Ausgänge aus seiner Leidens-
und Schreibgeschichte. Der rüde Pferdeknecht, lustvoll gewähltes alter ego
des Erzählers, vergewaltigt das Dienstmädchen Rosa, während sein Herr der
FaTiilie des Kranken vergebliche Heilungsversuche vorspielt. Vom Patienten

" Kafka, Er. Prosa, hrsg. von M.Walser (Frankfurt/M. 1964) 206, Nr. 93
15
Lleist, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von H. Sembdner, II (München 1961) 345
226

entlarvt, wird der Arzt „zu heiligen Z w e c k e n verbraucht". Ein grotesker


Heilungs- u n d Opferritus, anklingend an den Brauch des „accoucheur", ar-
chaisches Relikt im bürgerlichen Bewußtseinshaushalt, führt zur Entkleidung
des Medizinmannes. Ein C h o r kommentiert wie in der antiken Tragödie den
V o r g a n g u n d sanktioniert ihn als Opfergeschehen:

Entkleidet ihn, dann wird er heilen,


Und heilt er nicht, so tötet ihn!
s' ist nur ein Arzt, s' ist nur ein Arzt. 16

Kafka tritt hier als E t h n o l o g e des Alltags auf, als „Beobachter zweiter O r d -
n u n g " ( N . L u h m a n n ) , der im A b s u r d e n das System erkennt. Das Barbarische
ist nichts Exotisches, es wird v o m Läuten einer Nachtglocke geweckt. E s ist
heilige, heilende Wildnis, die wie Blut aus d e m aseptischen Weiß, dem dün-
nen Firnis der Kultur hervorbricht. D a s Fehlläuten der Nachtglocke stößt
den als Arzt verkleideten Scharlatan in die Finsternis u n d den Frost dieses
unglückseligsten Zeitalters 1 7 . Rosa aber heißt die Verführerin, die schuldlos-
schuldig den Sündenfall erst inszeniert hat.
A u c h im Schloß-Roman wildert der Landvermesser K , in dessen Beruf
schon die „Vermessenheit" enthalten ist, in verbotenen Wäldern. In das
Liebesabenteuer mit Frieda, der Geliebten K l a m m s , stürzt er sich wie in eine
Schlucht, nach Erschöpfung seines Verlangens suchend. D e r Fall zerstört die
Kulturdraperie u n d provoziert einen Ausbruch erotischer Wildheit, dessen
Faszinosum der Schmutz, das Sich-Wälzen im Unreinen i s t

Sie umfaßten einander, der kleine Körper brannte in K.s Händen, sie
rollten in ihrer Besinnungslosigkeit, aus der sich K. fortwährend aber
vergeblich zu retten versuchte, ein paar Schntte weit, schlugen dumpf
an Klamms Tür und lagen dann in Pfützen Bieres und dem sonstigen
Unrat, von dem der Boden bedeckt war. Dort vergingen Stunden,
Stunden gemeinsamen Atems, gemeinsamen Herzschlags, Stunden, in
denen K. immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei so-
weit in der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch.18

D i e Assoziationskette verknüpft disparate u n d dennoch verwandte Motive:


Feuer, V e r b r e n n e n , Wildheit, Einsamkeit, Fremde. Das Ausharren in dieser
G l u t des Begehrens, das G e w a h r w e r d e n der fließenden Zeit (dreimal w e r d e n
die Stundengöttinnen angerufen), das Sich-Fremdwerden nebeneinander -: in
diesem Bett aus Asche läßt Kafka den E r o s erlöschen. E r ist entzaubert, ent-
heiligt, mit d e m Schmutz des Profanen befleckt 19 . Was bleibt, ist das Motiv

16
Kafka, Erzählungen 144
17
Ebd. 145
18
Kafka, Das Schloß, hrsg. von M.Pasley (Frankfurt/M. 1982) 68f.
"Dazu Kremer 110. 112f.
227

des Kampfes und der Jagd. Im „Schwarzwald" war Gracchus als Jäger ange-
stellt, als Verfolger von Gemsen und Wölfen20 — doch „lupa" hieß bei den
Römern auch „Hure". Angekündigt wurde er durch eine Taube, groß wie ein
Hahn - doch die Taube ist auch der Venusvogel. Im Bild des wilden Jägers
auf seinem Totenkahn, der nicht zur Ruhe kommt — so reflektierte Kafka im
Frühjahr 1917, kurz vor dem Ausbruch der Wunde, die ihn von der
erschöpfenden Jagd nach Feiice erlöste, seine Lebens- und Schreibpro-
blematik. Wie Gracchus, lateinisch „Dohle", tschechisch „kafka", konnte der
Autor als imaginärer Jäger leichtfüßiger Gemsen von sich sagen: „Ich ver-
folgte, stürzte ab, verblutete"21.
Im Schloß-Roman, fünf Jahre später, schlägt Desillusionierung um in
metaphysischen Humor. Der Fall in die Erkenntnis geschieht auf dem Bo-
den der Schenke - mit vorsätzlicher Besinnungslosigkeit. Und dennoch
glimmt am Ausgang des grotesken Liebesaktes noch ein Sakrales auf — als
„weiter gehen, weiter sich verirren". Kafka illustriert hier auf seine Weise das
von Kierkegaard beschriebene ästhetische Stadium der Existenz; er benutzt
alle Schattierungen von Schwarz und Grau, also die Aschenfarbe, die vom
Brennen der Körper zurückblieb. Anders Matisse, der alle Skalen von Rot
zelebriert, um Daseinslust zu feiern. Er entdeckt das Sakrale (das wie im Is-
lam nicht gezeigt wird) im Dekorativen, im scheinbar Profanen, ja noch im
Gewand des Hedonismus. So konnte Pierre Schneider gerade seine Kunst
der schönen Oberfläche als Suche nach einem Paradies, nach einem Golde-
nen Zeitalter, nach einer Religion des Glücks interpretieren 22 .
Glaube an die Natur zeigt sich als Kult der Farben. Der Akt des Malens,
von Matisse ritualisiert und sorgsam vorbereitet, stellt den getrübten Glanz
der Dinge wieder her. Vor allem das Rot als heilige Farbe wird förmlich ze-
lebriert: auf Blut und Feuer verweisend, ist es Metonymie für Opfer und
Wildheit des Ursprungs, für unzähmbare göttliche Energie. Die Metonymie
dient der Annäherung an das Heilige. Doch in der Freiheit, mit der Matisse
die Figuren, unbekümmert um den seit der Renaissance gültigen Darstel-
lungsraum, der Dynamik von Farbe und Fläche anvertraut, ist er ein Maler
barbarischer Unschuld. Wie vor ihm Gauguin folgte er seinem Traum bis
nach Ozeanien, um spät noch den Ballast der abendländischen Tradition los-
zuwerden. Kafkas Gracchus dagegen, im Schwarz-Wald zu Tode gestürzt,
trägt das verborgene Blut seiner Wunde wie eine Drohung in den Text hin-
ein. In der Kajüte seines Totenschiffes, wo er unter einem blumengemuster-
ten Frauentuch ruht (wie Matisse sie oft gemalt hat), sieht sich der Jäger in
den Gejagten verwandelt. Das Bild an der Wand verrät es: „ein Buschmann
offenbar, der mit einem Speer nach mir zielt und hinter einem großartig be-

20
Kafka, Erzählungen 330f.
21
Ebd. 331
22
Schneider 241-271
228

malten Schild sich möglichst deckt"23. Dreimal verneint er - wie Don


Giovanni — die Frage nach seiner eigenen Schuld. Was er sucht, ist nicht das
Paradies, sondern die Ruhe des Todes.
Die aber ist auch dem Landarzt verwehrt, der auf dem Geisterwagen im
Frost sich umhertreibt. Betrogen fühlt er sich, nicht zuletzt durch den Jun-
gen mit der „Blume an der Seite"24. In der Sicherheit des Wissenden sich
wiegend, hilft sich der Landarzt mit dem Orakel, das verletzend und heilend
zugleich ist. Wunde, Axt und Wald bringt er in ein poetisches Syndrom zu-
sammen: „Deine Wunde ist so übel nicht. Im spitzen Winkel mit zwei Hie-
ben der Hacke geschaffen. Viele bieten ihre Seite an und hören kaum die
Hacke im Forst, geschweige denn, daß sie ihnen näher kommt" 25 . Der Wald
des Begehrens, belebt von Instrumenten der Gewalt, verlockt nicht nur den
in Sünde gefallenen Menschen; er öffnet auch Durchblicke ins Reich der
Kunst, wo zwei gekonnte Hiebe den apartesten Einblick verschaffen. Die
„schöne Wunde", die siebenmal im Text beschworen wird, ist die ganze
Ausstattung, die der Patient mit auf die Welt brachte. Aber dem Landarzt
wird sie zur Blume des Bösen. Kaum hat sie ihr lebensgieriges Rot — das
eigentlich ein Rosa ist — entfaltet, tritt schon die Schneewüste die Herrschaft
an. Das Rot, das Lust machte, weicht dem aseptischen Weiß des Schuldge-
fühls. Denn Rosa, das Mädchen, das stets zu Diensten war, ist nun hilflos
dem Pferdeknecht ausgeliefert: „ich will es nicht ausdenken"26. Bei Kafka ist
Rosa der Köder, den das Verlangen auslegt. Rosa ist auch bei Matisse mit
dem weiblichen Körper identisch; sein Rosa macht das Intime sichtbar, so
wie das Mädchen im Namen ihre Weiblichkeit entblößt. Doch der erotische
Traum endet für Kafkas Landarzt böse: „Nackt, dem Frost dieses unglück-
seligsten Zeitalters ausgesetzt"27, so muß dieser alte Adam den Sündenfall
büßen.
Das Interesse Kafkas am Ritus des geopferten Medizinmannes wirkt
durchaus ethnologisch. Das Thema „Natur versus Kultur" ist ohne die an-
thropologische Reflexion des Zeitgenossen Freud schwerlich zu denken.
Auch Kafka betreibt auf seine Weise Kulturkritik. Kurz nach dem Landarzt
schreibt er seinen Bericht für eine Akademie, worin ein Affe mit dem
sprechenden Namen Rotpeter in der Rolle des gezähmten Wilden auftritt.
Zeugnis seines vormaligen Zustandes ist eine „große ausrasierte rote
Narbe" 28 , die er bei der Gefangennahme von einem Schuß davontrug. Dieses
Rot, zugleich als Schmucknarbe füngierend, steht wiederum metonymisch
für weibliche Sexualität, in philosophischer Hinsicht für den Zusammenhang

23
Kafka, Erzählungen 331
* Ebd. 143
" E b d . 144
2« Ebd. 145
"Ebd.
28
Ebd. 167
229

von Sündenfall und Reflexion. Rotpeter zahlte einen hohen Preis, um zivili-
siert zu werden: von einem zweiten Schuß „unterhalb der Hüfte" hat er ein
leichtes Hinken behalten. Wie für Kant ist auch für Kafkas Affen der Aus-
gang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit ein Werk der Selbstaufklärung.
Rotpeter hat den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Faulheit
und Feigheit, die Kant der Mehrzahl der Menschen zuerkennt, fechten den
Affen nicht an. Erfolgreich absolviert er die Schule der Menschwerdung; als
Künsder im Variete öffnet sich ihm der Ausweg aus seiner Affengeschichte.
Mit dieser ironischen Wendung schreibt Kafka, während der große Krieg der
weißen Männer im dritten Jahre tobt, die Geschichte der Aufklärung um.
Der Rückfall der Zivilisierten in Barbarei, der Freud so irritierte und ihn in
seinem Kulturpessimismus bestärkte, wird ausgerechnet von einem Affen
konterkariert. Doch ganz läßt sich Natur nicht vertreiben, selbst mit der Ga-
bel nicht. Gelegentlich, nachts, zieht es Rotpeter zu einer kleinen halbdres-
sierten Schimpansin, bei der er sich nach Affenart erholt. Bei Tage will er sie
freilich nicht sehen, ihr Blick verrät den „Irrsinn des verwirrten dressierten
Tieres"29. Rotpeter, dem die Wildnis wie eine Narbe an seinem Namen haf-
tet, findet den Urwald der Goldküste in dessen handsam verkleinerten Aus-
gabe wieder, die ihm die Redensart auftut: in jenen Büschen, in die er sich
schlägt. Rückkehr der Wildnis in die Scheinkultur ist die verborgene Pointe
an Kafkas Geschichte. Dort, wo sie einmal begann, endet die Affen-, die
Menschengeschichte.

Für Kafka selbst war seine Krankheit die Wildnis, und ihr Symbol das Rot
aus seiner Wunde. Nach ihr dauert er nun den eigenen „Lebenstext"
(K.Ph.Moritz). Das Rot markiert den Aufbruch aus allen vertrauten Ge-
schichten, auch wenn Kafka dies vor Milena fast spielerisch behandelt:

Plötzlich im August etwa - also heiß war es, schön, alles außer mei-
nem Kopf war in Ordnung - spuckte ich auf der Civüschwimmschule
etwas Rotes aus. Das war merkwürdig und interessant, nicht? Ich sah
es ein Weilchen an und vergaß es sogleich. Und dann geschah es öf-
ters und überhaupt wann ich ausspucken wollte brachte ich das Rot
zustande, es lag ganz in meinem Belieben.30

In dieser Wunde wohnt, was ihn jagt und ihn zum Opfer degradiert: „Dieses
Jagen nimmt die Richtung aus der Menschheit. (...) Die Jagd geht durch mich
und zerreißt mich"31. Doch das Rot, die Farbe der Lebensbegierde und einer

29
Ebd. 174
50
Kafka, Bnefe an Milena 153 (28.7.1920). Der Vorgang bezieht sich auf den August 1917
31
Kafka, Tagebücher 398 (16.1.1922)
230

Schuld, die immer zweifellos ist, tut alles, um sich selber auszutilgen. So wie
in der Strafkolonie, dieser Allegorie des Schreibenmüssens, der blutige
Schriftzug der Egge immer wieder ausgewaschen wird32. Die Schrift des Be-
gehrens schreibt sich in ihrer Heftigkeit selber zu Ende.
Auch wenn der Liebende über Milenas Brief liegt, „wie ich neben Dir
lag damals im Walde"33, so ist dieser Wald nur noch Chiffer für das Begraben
der Wünsche. Denn wenig später wird das Begehren des Subjekts sich selbst
auslöschen wollen; das „Franz", „F" und „Dein" in Kafkas Unterschrift ist
dreimal durchgestrichen und wird als „falsch" kommentiert. Des Autors in-
nerster Wunsch, darunter vermerkt, gilt nicht dem Paradies, sondern der To-
desruhe: „Nicht mehr, Stille, tiefer Wald"34. Im März 1922, als Kafka sich
von Milena getrennt hat, empfindet er die Krankheit seines Schreibens als
Lebensniederlage. Die Geschichte als Ganzes erscheint ihm nun als Inbegriff
für ein Gefangenendasein: „Immer die in Zimmern eingesperrte Weltge-
schichte"35. Freilich: vier Tage danach reichen die Kräfte schon wieder für
eine Befreiungsphantasie. Die fieberhafte Sehnsucht nach einem Ausweg aus
allen Geschichten, auch der eigenen Strafkolonie, ersinnt eine Metapher, die
schon für Rotpeter, den zivilisierten Affen, die einzige Lösung bot:
„Buschleben. Eifersucht auf die glückliche, unerschöpfliche und doch sicht-
bar aus Not (nicht anders als ich) arbeitende, aber immer alle Forderungen
des Gegners erfüllende Natur"36. Wider die Daseinskrankheit gibt Kafka der
Natur das letzte Wort.
Während Kafka vergebens ein „unschuldiges Land" (Ungaretti) suchte,
ist es Matisse gelungen, sein Paradies zu malen. Kafkas Wunde war Teil sei-
ner Lebensgeschichte; Matisses Figuren und Szenarios entziehen sich der
Zeit, negieren mit dem Fortschritt die Geschichte, imaginieren die Utopie
der Farben. Das Rot von Kafkas Wunde lindert sich bei Matisse; es spricht
nicht mehr vom Unglück, sondern leuchtet vom Ursprungsverlangen. Kaf-
kas Rot aber bleibt mit dem Sacrum des Selbstopfers verknüpft. In einer
kurzen Parabel, geschrieben im November 192037, erlebt der Ich-Erzähler,
wie ein Geier (Travestie des Adlers, der den Prometheus heimsucht) ihn
unablässig quält, erst seine Füße zerhackt und ihm zuletzt wie ein
Speerwerfer den Schnabel durch den Mund stößt. „Zurückfallend fühlte ich
befreit, wie er in meinem alle Tiefen füllenden, alle Ufer überfließenden Blut
unrettbar ertrank"38. Mit solchem Blut wird eine Sünde bereinigt. Denn

32
Kafka, Erzählungen 120
» An Milena 119 (16.7.1920)
34
An Milena 158 (29.7.1920)
35
Tagebücher 414 (5.3.1922)
36
Ebd. 415 (9.3.1922)
37
Die Datierung der Texte nach H.Binder, Kafka-Kommentar (München 1975)
38
Kafka, Erzählungen 366
231

„sündig ist der Stand, in dem wir uns befinden, unabhängig von Schuld"39. In
diesem Ausbruch von Wildheit läßt Kafka seine Geschichte ertrinken. Sein
allegorisches Rot kulminiert in der Gewaltsamkeit des reinigenden Feuers.
Die Erkenntnis der Wunde schlägt sich im Herbst 1917 in den Zurauer
Aphorismen nieder. Ein Notat aus dem dritten Oktavheft (Herbst 1917) hält
die Erinnerung an den brennenden Dornbusch aus dem Buch Exodus fest.
Darin war Gott in jener Stimme verhüllt, die aus der Flamme sprach: „Zieh
deine Schuhe aus, denn hier ist heiliger Boden!" Die Vorstellung verknüpft
ihn seitdem mit der rätselhaften Wildheit eines Feuers in der Wüste. In Kaf-
kas Variante: „Der Dornbusch ist der alte Weg-Versperrer. Er muß Feuer
fangen, wenn du weiter willst"40. Hier ist es das Nicht-zu-Bezähmende, das
selbstgewählte Hindernis, das einbricht in die Welt des bürgerlichen Scheins.
Die Abschweifung in die Wüste, wo dergleichen Dornbüsche brennen, ist
zugleich subtile Ausschweifung des Geistes, provozierende Grenzüber-
schreitung; dieses Hindernis schafft erst den Weg. Der Preis des Abenteuers
ist das Verbranntwerden; die Wunde ist die eigentliche Flamme, selbst ent-
zündet, um weiter zu kommen, und doch in ihrer Wildheit unverfügbar. Was
hier als Feuer ausbricht, ist wie ein Gott, der Kafka zum Schreiben zwingt.
Dies Feuer heiligt, was es erfaßt. In Zürau wurde Kafka sich darüber klar,
wie eine weitere Parabel zeigt.

Vor dem Betreten des Allerheüigsten mußt du die Schuhe ausziehen,


aber nicht nur die Schuhe, sondern alles, Reisekleid und Gepäck, und
darunter die Nacktheit und alles, was unter der Nacktheit ist, und al-
les, was sich unter dieser verbirgt, und dann den Kern und den Kern
des Kerns, dann das übrige und dann den Rest und dann noch den
Schein des unvergänglichen Feuers.41

Vor dem Sanctissimum muß sich das Ich all seiner Attribute und Verklei-
dungen entäußern, in einer Raserei der Selbstopferung, die noch den Schein
des unvergänglichen Feuers von sich abtut. Das Brandopfer muß rein sein.
„Erst das Feuer selbst wird vom Allerheüigsten aufgesogen und läßt sich von
ihm aufsaugen; keines von beidem kann dem widerstehen"42. In dieser heili-
gen Hochzeit verglüht zusammen mit der Sünde das Subjekt.
Kafka bleibt einem Sündenbewußtsein verhaftet, dem Matisse zu ent-
kommen versteht. In seinen Briefen an Milena kommt der Prager Jude nicht
von der Last der Geschichtlichkeit los. Der triviale Wunsch Milenas nach
einem Pelzmantel löst eine Katastrophenphantasie in ihm aus: die vom
Rückfall Europas in die Wildnis. In zwanzig Jahren, so Kafka, wären Pelze

39
Kafka, Hochzeitsvorbereitungen 101
40
Ebd. 84
41
Ebd. 104f.
« Ebd. 105
232

am Ende billiger, „weil dann vielleicht Europa wüst ist und die Pelztiere
durch die Gassen laufen"43. Das Datum 1940, das sich hier ergibt, sah
Europa auf eine Weise verwildert und verwüstet, die Kafka nicht ahnen
konnte; und Milena selbst wird dieser Barbarei zum Opfer fallen. Unaus-
löschlich ist das Rot bei Kafka die Farbe der Wunde, der Schuld und der
Sünde, die Farbe aber auch von Evas Apfel: „Manchmal glaube ich, ich ver-
stehe den Sündenfall wie kein Mensch sonst"44. Um 1920, als die Begegnung
mit Milena ihm für Augenblicke eine trügerische Sicherheit verleiht, hält
Kafka in seinen Prosaversuchen ambivalente Motive fest, die im Rot der
Verführung das Heilige und das Wilde signifikant zusammenbringen: „Eine
junge, zigeunerhafte Frau macht vor dem Altar aus Federbetten und Decken
ein weiches Lager zurecht. Sie ist bloßfüßig, hat einen weißgemusterten roten
Rock, eine weiße hemdartig vorn nachlässig offene Bluse und wild ver-
schlungene braune Haare. Auf dem Altar steht ein Waschbecken"45. Die
Odaliske Kafkas, die an sakraler Stätte einen geheimnisvollen Dienst vorbe-
reitet, verlockt durch reflexionsloses Dasein, durch bloße Triebnatur. Die
Profanaüon ist zwar unübersehbar, aber so angelegt, daß sie zugleich das
Heilige provoziert. Wie Flaubert träumte auch Kafka, ein anderer Priester
der Schrift, von einem wahren Leben. Nichts bei Kafka könnte unmöglicher
sein. Doch gibt es noch den „Wald", Chiffer flüchtigen Glücks - den Wald,
der die Liebenden vor der Geschichte versteckt und in Milenas Briefen
manchmal sich auftut, winziger Rest eines verwüsteten Eden: „Solche kleine
fröhliche oder zumindest selbstverständliche Briefe, wie die beiden heutigen,
das ist schon fast (fast fast fast fast) Wald, und Wind in Deinen Ärmeln..."46.
Im Jahre 1922, als Kafka am Schloß-Roman schreibt und das Verhältnis zu
Milena schon schwierig geworden ist, gewinnt die Waldmetapher noch ein-
mal Leben für ihn. Sie wird nun zur Wildnis der Schrift, in der er seine Sehn-
süchte und Erinnerungen samt seiner Arbeit so gern verbergen würde — in
einem Spiel kindlicher Unschuld und Raffinesse, das an die Märchenhelden
in Bildern Klees erinnert. „Ich wollte mich im Unterholz verstecken, mit der
Hacke bahnte ich mir ein Stück Weges, dann verkroch ich mich und war ge-
borgen"47. Kafka gebraucht symbolische Gewalt, um sich im Schoß der
Wildnis ein Asyl zu schaffen. Sein Geborgensein ist Utopie in Vergangen-
heitsform, von keiner Macht mehr zu rauben. In solchen Wortutopien ver-
stummt für Momente die Wunde.
Mit seinen großformatigen „gouaches decoupees" sprengt Matisse zu-
letzt die Fesseln der abendländischen Raum- und Bildauffassung. „Matisse

« A n Nülena 213 (12.8.1920)


44
An Milena 217 (13.8.1920)
45
Kafka, Zur Frage der Gesetze 115
46
An Milena 131 (20.7 1920)
47
Kafka, Zur Frage der Gesetze 184
233

realisiert endlich seinen Ausstieg aus der Geschichte"48. Er löst sich ab von
allem Historismus, indem er einen herrschafts- und hierarchiefreien Bedeu-
tungs- und Sinnraum erschafft, worin die Dinge in ihrem farbigen Sosein in
vollkommenem Gleichgewicht schweben. Auch die ursprüngliche Wildheit
der Farben ist gezähmt. Das festliche Rot in Bildern wie der Schnecke von
1952 oder den Acanthes von 1953 (Sammlung E.Beyeler, Kunstmuseum
Basel), vital und unschuldig zugleich, führt den Betrachter aus der mit Blut
geschriebenen Geschichte, aus Kafkas Strafkolonie heraus. Diese Schöpfun-
gen sind nur verständlich, wenn es ein Jenseits der Geschichte gibt, traditio-
nell als Paradies bezeichnet.
Im Rot der Acanthes züngelt die Flamme, die den verborgenen Ausgang
aus der Geschichte erhellt. Das großformatige Bild, über drei Meter im
Geviert, erhebt die botanische Realität des Akanthus (der im Deutschen
„Bärenklau" heißt und in den Mittelmeerländern als „Herkulespflanze" oft
übermannshoch wird) zu einem Symbolon der göttlichen Natur. Das Rot
und Orange am Grund, das übergreifen will auf Grün und Gelb, redet vom
heiligen Feuer. Doch läßt Matisse den Betrachter über ein Opfer meditieren,
das einer unbekannten Gottheit gilt. Die Hälfte des Bildes ist leer. Das Weiß
repräsentiert Abwesenheit und Anonymität — die des verlorenen Paradieses;
es gibt dem, was aufwachsen will, gleichsam sakralen Sinn. Was die Nicht-
farbe kraft ihrer Leere zur Geltung bringt, ist eine Fülle, die keinen Ort in
einem Bild mehr hat. Mit Recht hat Pierre Schneider in diesem Kontext auf
die Bedeutung des Leeren in der Kunst des Zen verwiesen49. Die vegetabilen
Formen sind reine Erinnerung - an einen Garten Eden, der verschwunden
ist, an einen Schöpfer, der sich verborgen hat. Diese Pflanzen sind bloße
„Reliquien", Denk-Male. So verzehren sich die Acanthes in einer Aufwärts-
bewegung, die kultischen Gestus hat, doch keinen Adressaten. Wie in
Baudelaires Gedicht ha vie anterieur, das im späten Matisse die Erinnerung an
Ozeanien aufsteigen läßt, hat sich die Wildnis beruhigt: „C'est lä que j'ai vecu
dans les voluptes calmes"50.
In seiner Malerei setzt Matisse die Ekstase der Paradies färben gegen das
fade Grau der Rationalität. Er malt gegen jenen Welt- und Naturverzehr an,
den wir „Geschichte" nennen. Er ahnt, daß die Fortschrittsgeschichte, eine
Erfindung des Rationalismus, die Götter töten wird. Einem areligiösen Jahr-
hundert hat er auf seine Weise das Heilige gezeigt. „Die wachsende Aus-
strahlung des Werkes von Matisse beruht zweifellos zum großen Teil darauf,
daß es die Krise der Geschichte, die wir heute durchleben, in sich aufge-
nommen hat - und eine Alternative aufzeigt"51. Er macht die Farbe Rot,

48
Schneider 694
" Ebd. 704. 706.
50
Baudelaire, Die Blumen des Bösen 44/45: „Dort lebt' ich glücklich einst, von Freuden
nur umfangen."
s
' Schneider 10.
234

monumentalisiert, zum Träger des Sakralen — eine Tendenz, die mit den
mythopoetischen Bildern La Danse und La Musique (1909/10, beide in der
Eremitage, St.Petersburg) beginnt. Das Ziegelrot der Figuren, die Farbe
griechischer und etruskischer Malerei, zeigt an, daß Tanz und Musik für
Matisse heiliges Tun sind. Die Gestalten glühen von innen heraus, wie von
Eifer verzehrt. Das Rot hat hier „liturgische" Funktion; es führt an den Ur-
sprung der Kunst und der Dinge heran. Die exotische Variante in einer spä-
teren Phase von Matisse ist das Korallenrot der Lagunen, das er seit Tahiti so
liebte. Unschuld und Lust des Daseins kommen hier zusammen. In jener
Komposition von Papierschnitten, der er den Titel Ja%% gab (1947), schrieb
er als Selbstkommentar unter dem Stichwort Lagunen: „Ob ihr wohl eines der
sieben Weltwunder aus dem Paradies des Malers seid?"52 Die Schwimmerin
in dieser Serie ]an^ wird bedroht - oder verehrt - von einem virilen Rot, das
von rechts unten, barbarisch leuchtend, aufsteigt. Die Herzfarbe signalisiert
die Gegenwart einer wilden, uneingeschränkten Lebensenergie.
Der Rekurs auf das Rot ist Suche nach dem Ursprung. Das Spätwerk
von Matisse ist anamnetisch. Die ekstatische Farbe des brennenden Dorn-
busches, dessen Widerschein ans Heilige erinnert, erleuchtet das ganze Werk.
Selbst das Rote Interieur von 1947 (Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen,
Düsseldorf) scheint nur gemalt, um auf das Fenster zu verweisen, worin ein
südlicher Garten mit Palmwedeln und roten Florealien auftaucht: Epiphanie
des Gartens Eden. Das Rot des Zimmers wird heiliger Boden; die Äpfel auf
dem Tisch schüren das Verlangen nach dem Baum des Lebens. Bewußt lädt
dieses Interieur den Blick mit Energie auf, um ihn nach draußen zu senden:
das Fenster wird zum Einlaß der Ekstase. Aber Matisse vertauscht hier die
Valeurs. Die Natur im Fenster wirkt beinahe künstlich, als Erinnerungsbild,
während der Innenraum, dieses Gefängnis der Kultur, von dem natürlichsten
Verlangen nach dem Draußen brennt — wie wild nach dem „anderen
Zustand".
Für Kafka stand die Farbe Rot ambivalent für Opfer und Verführung,
für Feuer und Wunde, für Reinigung und Beschmutzung. Die damit verbun-
dene Elementarerfahrung verweist auf etwas, das so bedroht wie verlockt,
auf Heiliges und Sündhaftes in einem. Das Rot, freilich maskiert, spukt noch
durch die Parabel vom Schweigen der Sirenen. Hier ist Odysseus zwar Re-
präsentant der Kultur, aber jemand, der lebensgefährliche Abenteuer an
ihren Grenzen sucht. Die Sirenen sind Naturwesen schlechthin, bedrohlich
noch in ihrem Schweigen: Sie brauchen ihre Wildheit nur zu zeigen, indem
sie das „schaurige Haar" offen im Winde wehen lassen und ihre Krallen frei
auf dem Felsen spannen 53 . Odysseus entgeht ihnen, weil er in sich selbst ein
Wildes hat; dazu gehört animalische Neugier. Kafka hat seinen Odysseus

52
H.Matisse, Zeichnungen und Gouaches decoupees, Staatsgalene Stuttgart 1993/94, 237.
Vgl. Jazz, Tafel XIX, ebd. 236
53
Kafka, Erzählungen 351
235

deshalb als „Fuchs" deklariert: in dieser Verkleidung ist er ein „fauve" und
trägt die Farbe des Wildes. Der Rotfuchs, ein ferner Verwandter Rotpeters,
des Affen, ist Maske und Metapher für einen Abenteurer, dem selbst die
Schicksalsgöttin nicht in das Innere sieht. Die Vernunft, mit dem Fell des li-
stigen Räubers bekleidet, präsentiert sich in diesem Text als ein Naturge-
schöpf, unbeeindruckt vom Wachs in den Ohren und dem Gebinde Ketten.
Wie jede Erkenntnis hat auch diese ihren Preis - die Wunde, die Kafka im
Jahr der Niederschrift, 1917, am eigenen Leibe erfuhr.
Das Rot Kafkas spricht von Natur, nicht von Kultur, es behält sein Ge-
waltsames, läßt sich nicht domestizieren, verletzt. Als Feuer und Wunde zu-
gleich versperrt und öffnet es das Tor zu jenem Anderen, das sich der Schrift
entzieht, wovon aber unverlöschlicher Glanz auf unser Irdisches fällt. Für
Matisse war das Rot, in das er seine Interieurs und Odalisken tauchte, Ele-
ment eines paganen Kultes der Lebenslust, Flamme des Goldenen Zeitalters,
pure Natur. Wie Mallarmes Faun hätte er mit Blick auf seine Bilder sagen
können: „inerte, tout brüle dans l'heure fauve"54. Zeitlebens suchte Matisse
in seiner Naturästhetik das irdische Paradies. Er blieb der Überzeugung, „daß
das Paradies nur in der Malerei zu existieren vermag und daß die Malerei nur
vom Paradies sprechen kann" 55 . Doch erst muß das Verlangen durch das
Feuer gehen. Im Rot der Malerei läßt Matisse alle Geschichte seit dem Sün-
denfall verbrennen.

54
„Müßig brennt alles in der roten Stunde" (Mallarme, Uapris-midi d'unfauni).
55
Schneider 88
9. Kapitel
Gott-Opfer und heilige Jagd

Und kommen muß zum heiigen Ort das Wilde.

Hölderlin, Friedensfeier

Jedes Heilige fordert Opfer; von daher ist jedes Opfer heilig und gewaltsam.
Dieser Widerspruch ist unaufhebbar. Er erzeugt jene eherne Ordnung von
Sakralität, die Rene Girard auf ihre paradoxe Formel gebracht hat: „Das Op-
fer zu töten, ist verbrecherisch, weil es heilig ist, (...) aber das Opfer wäre
nicht heilig, würde es nicht getötet. Dieser Zirkelschluß wird wenig später je-
nen Namen erhalten, den er noch immer trägt: Ambivalenz" 1 . Der Ambiva-
lenz jedes Opfers war auch Sigmund Freud sich bewußt. In Totem und Tabu
(1913) führt er einen Gewaltmythos ein, nämlich den Vatermord durch die
Urhorde, um seine psychoanalytische Theorie des Inzestverbotes zu begrün-
den2. Das archaische Opfer, barbarisch wie die Entmannung des Kronos bei
Hesiod, wirft Licht auf moderne Verdrängungsprozesse. Das Opfer aber be-
gründet und bekräftigt das Gesetz. So entsteht das Gesetz aus der Sünde,
dem Tabubruch, der Gewalt. Das Gesetz lebt vom Begehren, wie schon
Paulus wußte — ja Lacan identifiziert beides schlechthin: „La loi et le desir re-
foule sont une seule et meme chose" 3 . Der Vater aber, oder der Name des
Vaters (wodurch er noch als Abwesender wirkt) wird in der symbolischen
Ordnung zur Personifikation des Gesetzes 4 . Erst die Beseitigung des Despo-
ten, mit Schulderfahrung verknüpft, stiftet Gemeinschaft; sie ist heilig, weil
mit Blut besiegelt. „Die Gewalt und das Heilige sind nicht voneinander zu
trennen"5. Girard, der diese These aufstellt, situiert eine förmliche „Grün-
dungsgewalt" als sozial- und sinnstiftenden Akt. Das Wilde des Opfers wird
lizensiert durch den Ritus: Die Form erteilt dem Opfer seinen Sinn. Bewäl-
tigt wird Gewalt durch deren Einverleibung; symbolisch steht dafür die Zer-
stückelung und der Verzehr des Corpus. Das Eine teilt sich auf die Vielen
auf. Diese Communio ist ohne Zweifel ein heiliger Vorgang, ja eine Art
Liturgie.

1
Girard 9
2 Dazu Girard 281 - 321
3
Lacan 782: „Das Gesetz und das unterdrückte Begehren sind ein und diesselbe Sache"
4
Lacan 278
5
Girard 14
237

Freuds Kulturtheorie in Totem und Tabu arbeitet bewußt mit einem ätio-
logischen Mythos: Archaisches soll die Moderne erklären. Ethnologisch oder
religionsgeschichtlich hat dieser Mythos kein Pendant in der Realität; er ist
ganz und gar Freuds literarische Schöpfung. Der Meister der Analyse rekur-
riert, wo es um Grundlagen geht, auf das Symbolische: Psychoanalyse als
Ethnopoesie. Was der Kunstmythos mit illustrieren soll, ist das psychologi-
sche Phänomen des nachgetragenen Gehorsams, der hervorgeht aus einer
ursprünglichen, gewaltsamen Verneinung. Das Nein zum Vater, zunächst de-
struktiv, verwandelt sich im Laufe der Lebensgeschichte zum nachgeholten
Ja; es ist das Sühneopfer für die Negation. Das Wilde transformiert sich in
Heiliges, in ein Kulturgesetz. Der Ritus ist der gewaltsame Aneignungsakt,
der Gehorsam die nachträgliche Anerkennung von Auctoritas: Der Tote ist
präsenter, als es der Lebende war. So wird Natur zum Sinnhorizont und Pa-
radigma einer neuen Ordnung, seit es sie unbeschädigt nicht mehr gibt. Und
so wird Geschichte als Autorität verneint, als Sinnsystem geopfert, um ihre
Lehre und ihren Sinn zu verstehen. In der Natur ist die Geschichte aufgeho-
ben: inmitten dessen, was Hölderlin „heilige Wildnis" nannte, verbirgt sich
das Sanktuarium. Nicht die unreflektierte Natur, sondern die in Vicos Sinn
„historisch" verstandene, in Symbolik und Reflexion überführte Natur er-
öffnet dem Menschen, was ihn mit ihr verbindet und wo sie die Ganz-
Andere ist. Die Naturalisierung des durch Gewaltgeschichte beschädigten
Humanuni hatte bereits der junge Marx als ein Jahrhunderthema gestreift,
doch in Richtung einer politisch-ökonomischen Analyse abgebogen. Freud
ütuiert dagegen einen ursprünglichen Naturzustand der Psyche und des So-
zialverhaltens, der ebenso fiktiv ist wie der von Hobbes und Rousseau ge-
meinte. Das Wilde war für Vico eine entscheidende Kategorie seiner Ge-
schichts- und Gesellschaftsbetrachtung; denn aus Barbarei geht in gesetzmä-
iigen Schritten die Kultur hervor, als synthetischer, zielgerichteter Prozeß
der Arbeit an Natur. So war Vico ein „Metaphysiker der 'wahren Anfänge',
Jie diese Synthesen denkmöglich machen sollen"6. Ähnlich wie Vico, der im
Schreckenserlebnis des blitzeschleudernden Himmelsgottes den menschli-
:hen Ursprung von Religion und Humanitas sah7, hatte Freud keine Scheu,
Fundamente seiner Psychoanalyse auf eine Erdichtung zu stellen. Er verhielt
sich damit nicht anders als die Verfasser der Genesis, die Sundenfall und
3rudermord als mythischen Beginn der Heilsgeschichte setzen, Theologi-
sches auf das Symbolische gründend.
Vater- und Gottesmord, als philosophischer Opferritus, eröffnen bei
Mietzsche das Denken der Moderne: „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir
laben ihn getötet! (...) Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher be-
laß, es ist unter unseren Messern verblutet, - wer wischt dies Blut von uns

4
S.Otto, Gianbattista Vico. Grundzüge seiner Philosophie (Stuttgart-Berlin-Köln 1989) 92
' Ebd. 94
238

ab? Mit welchem Wasser können wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, wel-
che heiligen Spiele werden wir erfinden müssen?" Daß dieser philosophiege-
schichtlich so folgenreiche Passus ausgerechnet in einem Buch mit dem Titel
Die fröhliche Wissenschaft steht8, bleibt eine Pointe von makabrer Sinnfälligkeit.
Rene Girard hat diesem Motiv des Gott-Opfers einen geistreichen Essay ge-
widmet 9 , der die Geburt neuer Götter aus einer Krisis, dem Opfer der alten
Götter hervorgehen sieht. Nietzsche ist hier als authentischer Denker des
Religiösen gedeutet: Die Ewige Wiederkehr ist als Konzept nur möglich vor
dem Hintergrund der Tötung Gottes. Wer diese Wahrheit offenbart, muß
„toll" sein, von der Mania erfaßt - ein „Sündenbock" im Verständnis
Girards. „Sündenbock" aber ist auch der geopferte Gott — ein Gedanke, der
das Christliche in Nietzsche als unausrottbar erweist.

Die Idee des Gott-Opfers oder der Gottesjagd, ein genuin moderner My-
thos, geistert auch durch die Dichtung von Giorgio Caproni. Doch der gejagt
wird, ER, ist ein Anonymus, der Leben und Tod nur als Masken gebraucht.

Quello che ritroveranno,


non se l'aspettanno: lui,
che loro hanno ucciso, qui
piü vivo e piü incombente
(piü spietato) che mai.

Nicht ihn, den sie finden werden,


erwarten sie: ihn,
den sie umgebracht haben - der
da ist, lebendiger, grausamer,
drohender als vorher.10

Die kühle Grausamkeit dieser Verse beschwört eine imaginäre Jagd, eine
vergebliche Fahndung in einem archetypischen Wald, der identisch ist mit
einem ordosen Dorf. Die Wildnis ist die des verzweifelten Traumes, in dem
der Tötungsakt IHN nur noch lebendiger macht -: rachsüchtige Präsenz
eines Phantasma, das erstarkt an der Gewalt, die man ihm antut. Die myste-
riöse und manische Jagd nach dem, der sich, wenn er „erlegt" ist, entzieht,
gibt den Jägern überhaupt Identität; sie sind nichts ohne IHN. Doch diese
Jagd zehrt die Geschichte auf. Das Dorf, in dem die Jäger wohnen, ist mit

8
Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft § 125 (KSA III, 481)
9
R.Girard, Der grundlegende Mord im Denken Nietzsches, in: D.Kamper/Ch. Wulf (Hrsg.),
Das Heilige. Seine Spur in der Moderne (Frankfurt/M. 1987) 255 - 274
" Caproni 96/97
239

dem Wald identisch. In ihrem eigenen Innern sind sie auf Jagd nach dem
unheimlichen Wesen:

No, il paese non e


spopolato.
Sono
tutti nel bosco.
Tum
alla battuta.

Nein, sie haben das Dorf


nicht verlassen.
Sie sind nur
alle im Wald.
Sie fahnden alle."

Die Jagd ist rituelle Gewalt; sie inszeniert Erregung, Grausamkeit, Tö-
tungsverlangen. Und dennoch ist sie ziellos, wechselt den Ort und das Op-
fer. Die Jagd ist Mimesis eines Verlangens, das alle ergreift, aber objektlos
bleibt; das Wild hat keinen Namen, und deshalb laßt es sich nicht erlegen. In
dieser kleinen, komfortablen Hölle sind die Verdammten als Jäger verkleidet.
Die mystische Jagd erweist sich als Schlüsselmotiv in der späten Lyrik
Capronis. Sie durchzieht die Gedichtbände 11 franco caccattore und // conte dt
Kevenhüller, die Texte der 70er und 80er Jahre vereinigen. Der erste Titel erin-
nert an den romantischen Mythos vom Freischütz; doch biegt Caproni das
Motiv ohne Umschweife in eine blasphemische Huldigung um. Der Gott ist
selbst das Wild, freilich eines, das nicht zu treffen ist:

Volli sparrare anch'io.


Puntai in alto. Una Stella
o l'occhio (il gelo) di Dio?

Zum Schuß war auch ich bereit.


Ich zielte hinauf. Ein Stern
oder das Auge Gottes kalt und fern?12

Der Gott, der zur Zielscheibe wird, erinnert den Menschen an seine Kontin-
genz, an sein Erdengefängnis, das überwacht wird von einem gnadenlos spä-
henden Auge. In dieser Vision wird der Gott zum kalten Betrachter der
schlimmsten der möglichen Welten. Als hochmütiger Stern repräsentiert er
eisig funkelnde Natur. Der Akt der Aggression, dieser ewig verfehlte Schuß,
ist ein Akt der Verzweiflung; doch soll er Leibniz und Kant, die Theodizee

11
Ebd.
12
Ebd. S. 92/93
240

und die Geschichtsphilosophie mit vernichten. So ist Caproni der Dichter


des „tollen Menschen" geworden, der sich freimütig zur Tötung Gottes
bekennt. Die Atmosphäre seiner Gedichte entspricht der Geisteskälte, die
Nietzsche in seiner Fröhlichen Wissenschaft beschrieb: das Schauspiel zeigt den
mißtrauischen Augen, daß eine metaphyische Sonne untergegangen ist. „Auf
Capronis Versen liegt das fahle Licht, das sich bei Sonnenfinsternissen
verbreitet"13.
Doch geht der Dichter noch weiter. Das göttliche Wild gibt es nur, weil
der Jäger zum Töten bereit ist. Der Wille zur Gottesjagd, zum Gott-Opfer
läßt dieses Wild erst entstehen. Das Verlangen wirkt wie ein Glaubensakt; es
ruft das Opfer hervor. Der Ironie des Jagdaufsehers, der historisch aufge-
klärtes Bewußtsein verkörpert, erwidert der Aggressionstrieb des Jägers mit
elementarer Gewalt:

- Cacciatore, la preda
che cerchi, io mai la vidi.

- Zitto. Dio esiste soltanto


nell'atumo in cui lo uccidi.

„Jäger, nie hab ich die Beute


gesehen, nach der du mich fragst."

„Still. Es gibt Gort nur heute,


wenn du ihn heute erschlägst."14

Hier rührt Gewalt an das Heilige. Die naturale Metapher des Wildes zielt
durch den Gott auf die Geschichte selbst. Soll doch mit Gott die Geschichte
erledigt werden — die Geschichte der Vätergewalt, die auf die Söhne vererbt
wird, die Geschichte der Überwachung und Strafe, die Geschichte einer lan-
gen Tyrannei. Es ist Gott, der den Ausgang aus der Geschichte bewacht, je-
ner Geschichte, in die er den Menschen nach dessen Sündenfall einschloß.
Gegen solche Inkarnation der Geschichte mobilisiert der Dichter poetische
Gegengewalt, lyrische Befreiungsphantasien. Vergeblich freilich; denn seit
dem Mythos von Kain und Abel ist Gewalt ein Stachel der menschlichen
Natur. Der Kampf Mann gegen Mann, in der Arie des Tenors (1981), erotisch-
musikalisch inszeniert, gerät in der Nachfolge von Nietzsches agonaler Ethik
zum Sinnbild einer von Kriegen stimulierten Geschichte. Gerade die Lust am
Jagen und Töten kettet den Eros an Thanatos:

Mai
un'allegria piü ardente

15
H.Helbling im Nachwort zu Capronis Gedichten 180
14
Caproni 9 4 / 9 5
241

li aveva colti.
Si amavano,
quasi.
Coivano.

Nie hatte
ein froheres Feuer sie
durchdrungen.
Beinahe
liebten sie sich.
Paarten sich.15

Caproni datiert den Erlaß des Grafen Kevenhüller, das wilde Tier zu jagen,
das alle menschliche Ordnung zerstört, mit symbolischer Präzision auf den
14. Juli 1792. Das Datum steht für einen „Erdrutsch der Vernunft" (frana
della ragione), der den Ausgang aus der Geschichte versperrt:

Giorno: il 14 luglio.
Anno: quello tra II Flauto Magico,
a Vienna, e, a Parigi, il Terrore.

Tag: der vierzehnte Juli.


Jahr: das Jahr zwischen Zauber
flöte in Wien und Terreur in Paris.16

Der Gott und die Geschichte werden gemeinsam der Natur geopfert; beide
verschmelzen zu einem „historischen Gott", den der Erdrutsch der Vernunft
hinwegfegt. Mit der Geschichte verschwindet im strengen Sinne auch die
Utopie. Capronis Fluchtwelt ist eine nur noch in Chiffern erscheinende Na
tur. Was bleibt, ist der Mensch als Gewaltwesen, der nicht aufhört, auf Beute
zu gehen. Die Gottesjagd erweist sich als illusionär, so wie das Untier Ge
schichte nur Fiktion ist. Capronis „Nebelpanther" spottet der Ordnungs
systeme Linnes und Kants Erkenntnistheorie, kümmert sich nicht um die
Trennung von Subjekt und Objekt, weiß nichts von Identität und Differenz:

La preda che si morde


la coda...
La preda
che in vortice si fa preda
di se...

La pantera
nebulosa (felis

15
Ebd. 116/118
16
Ebd. 144/145
242

nebulosa), che attira


chi la respinge, e azzera
chi la sfida...

Die Beute, die


sich in den Schwanz beißt...
Die
wirbelnd sich selbst
erbeutet...

Der Nebel-
panther (felis nebulosa),
der anzieht, was ihn abweist, und
zunicht macht, was ihn
herausgefordert hat...17

Das Subjekt, das seit der Aufklärung sich stolz als autonom verstand, als
Agenten historischer Vernunft, die kontinuierlichen Fortschritt im Bewußt-
sein der Freiheit verhieß, ist bloßes Phantasma. Auch der Dichter Caproni
lebt von der Freu dianischen Wende, die das ehemals geschichtsmächtige Ich
entthronte und als Bündel widersprüchlicher Triebe enthüllte. Nur ich (Io
solo) ist der ironische Titel eines Gedichtes von 1985, das aufräumt mit der
Vorstellung des historisch erkennenden Ich, das im aristotelischen Sinne
„politisch", weil für seine Taten verantwortlich ist. Stattdessen entdeckt die
poetische Tiefenrecherche im Ich ein „Mördertier" (bestia assasina): „Das
Tier, das keiner je sah", weil die Mythologie der Vernunft es wahrnimmt,
„das Tier, das lebendig macht und dich tötet", weil es sich selber zerfleischt
zwischen Lustprinzip und Todestrieb. Der Mensch ist ein nicht festgestelltes
Tier, wie es schon Nietzsche wußte. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.
In Wahrheit ist dieses Tier nur ein „gefälschter Jagdhund" (falsamente ma-
stina). Noch darin ist es nicht zuverlässig. Caproni trifft die Geschichte nicht
als Welttheater, sondern als Fortschritts fiktion im Innersten des Ich. Damit
ist auch das Sinnkonstrukt Geschichtsphilosophie jeder Bedeutung beraubt.
Caproni, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Publizist im Umkreis soziali-
stisch orientierter Zeitungen tätig war, nahm als Poet seit den siebziger Jah-
ren den Zusammenbruch der historischen Ideologien vorweg; der Marxis-
mus war nur die berühmteste. Mit dem Verschwinden eines historisch auf-
weisbaren Sinns, der Auflösung auch der Geschichtlichkeit18 kehrt sich die
Literatur erneut dem Naturwesen Mensch zu. Capronis poetischer Pessimis-
mus gibt seinen Gedichten ihr Fahles, die kostbaren „Grautöne", von denen

"Ebd. 152/53
18
Dazu G.Sasso, Tramonto de un mito. L'idea di 'progresso' fra Ottocento e Novecento
(Bologna 1984), G.Vattimo, La fine della modernitä (Mailand 1985, dt. 1990)
243

sein Übersetzer Hanno Helbling spricht19. Aber nah ist und schwer zu fassen
das Wild - „diese Beute, die in beständigem Sich-Töten beständig ihren
Schatten trifft (und ihn verfehlt)"20.
Dichtung ist Jagd. Sie verfolgt und beschwört, um zu opfern. Natur und
Geist, seit jeher im mythischen Zwiespalt und in poetischer Paarung, verfol-
gen und suchen einander. Die Gedichte Capronis üben den Zauber heiliger
Jagd. Der Autor vom Ende der Neuzeit unterscheidet sich darin intentioneil
nicht von den Künsdern des Neolithikum, die auf den Höhlenbildern von
Altamira und Lascaux die Naturgeister bannten. Was er im Wort erlegt, ist
Opfergabe, damit das Heilige lebt. Dieses Heilige aber verwundet den Men-
schen, so wie es anlockt und sich verweigert. Die Jagd ist heilig, weil sie die
Wahrheit verfolgt, die immer ein Phantom ist; um dieser Wahrheit willen
wird auf der Jagd getötet. Dieser Impuls ging von Nietzsche aus. „Gott
'stirbt', getötet von der Religiosität, von dem Willen zur Wahrheit, den seine
Gläubigen immer gepflegt haben und der sie jetzt dazu führt, auch ihn als
einen Irrtum zu erkennen"21. Doch Caproni ist kein Nihilist, mögen auch
seine Szenarien in einem Jenseits von Gut und Böse angesiedelt sein. Gewiß
aber ist er ein Dichter der Gottesdämmerung, ein wahrhafter „crepuscolare"
- radikaler als seine Kollegen vom Anfang des Jahrhunderts, weil er nicht
ästhetizistische Stimmungen anbietet, sondern Verlorenes an-denkt. Sein
Nebelpanther ist ein Geschöpf, das poetisch erst am Ende der Geschichte
möglich ist, mithin am Ende der Moderne: die Subjekt-Objekt-Spaltung ist in
ihm aufgehoben. Als Geschöpf der Fiktion, des Mythos, als „Ereignis", wäre
sein Ort, mit Heidegger gesprochen, „der in sich schwingende Bereich,
durch den Mensch und Sein einander in ihrem Wesen erreichen, ihr Wesen-
des gewinnen, in dem sie jene Bestimmungen verlieren, die ihnen die Meta-
physik geliehen hat"22. Nicht umsonst setzt Gianni Vattimo — der auf Hei-
deggers Spuren ein nachmetaphysisches Denken entwirft, worin es nur noch
ein „schwaches Sein" gibt - die Fähigkeit zur „schwingenden Existenz" mit
dem Vermögen gleich, Sterblichkeit zu ertragen23. In dieser Konzeption wäre
Capronis Nebelpanther das dichterische Denkbild einer „erleichterten", von
Metaphysik befreiten Wirklichkeit - „erleichtert, weil hier die Trennung zwi-
schen dem Wahren und der Fiktion, der Information, dem Bild weniger
scharf geworden ist: es handelt sich um die Welt der totalen Medialisierung
(mediatizzazione) unserer Erfahrung, in der wir uns schon weitgehend be-
finden"2'1.

19
Caproni 180
20
„La preda/ che in continuo suicida/ in conünuo colpisce/ (fallisce) la sua ombra"
(Caproni 152/154).
21
Vattimo, Das Ende der Moderne 182
22
M.Heidegger, Identität und Differenz (Pfullingen 1957) 26
23
Vattimo, Jenseits vom Subjekt 35
24
Vattimo, Das Ende der Moderne 197
244

Der Dichter ist Lügner im außermoralischen Sinne. Auf seiner Jagd


nach dem Namen, dem Onoma, entdeckt er, daß die Wahrheit bloß eine Sa-
che der Grammatik, das Onoma ein Tier ohne Gestalt, „von unerbittlicher
Erratik" (imprendibilmente erratica) ist25. Auch er kann nach dem Ende der
Geschichte seine unmögliche Beute, das Heilige, nur noch im Horizont der
Natur situieren. Das Unentdeckte, sichtbar in seinem Verschwinden, begeg-
net ihm (wie dem späten Hölderlin in seiner Turmzeit) auf einem bloßen
Spaziergang — im Wellenschlag der Wiese, oder des Reimes, der aufwächst
aus ihr:

... dell'erba
che - sempre piü erba e verde -
cresce nella mente, e serba
ciö che disperde...

... der Wiese,


die - immer mehr Gras und Grün -
im Geiste wächst und bewahrt,
was sich verliert...26

Für den Dichter wohnt selbst der Drachenfisch, dies göttliche Monster, im
Abgrund des Gebetes: ein zweideutiges Wesen, auch er Ichthys, Deus
absconditus, der die Finsternis der Tiefsee hütet und dabei sich selber er-
leuchtet, Sinnbild für das Naturgeheimnis, dort wo das Denken stillsteht und
sich in Gott betäubt - nichts, das sich wünschen läßt und das doch ist, als
heiliger Schrecken und Faszination:

il pesce drago...
Invoca
il non invocabile...

Der Drachenfisch...
So rufe an,
was nicht anrufbar ist...27

Wie in Vattimos Ontologie des Verfalls ist in Capronis Dichtung die Natur
„das Andere der Sprache, die Stille des Dichters, auf irgendeine Weise die
Stille des animalischen Lebens"28. Von hier aus ergibt sich intentional die
Verbindung zu Hölderlins heiliger Wildnis aus dem Titanen-Gedicht, die
Heidegger in weitgespannter Interpretation mit den Begriffen Chaos, Heili-
ges, Wachstum zusammenbrachte. Caproni bewahrt das Heilige, indem er es
25
Caproni 158/159
26
Ebd. 168/169
27
Ebd. 174/175
28
Vattimo, Jenseits des Subjekts 112
245

an-denkt, nicht ausspricht. Dies Andenken kann nur einem Entzogenen gel-
ten, dem was Heidegger „Vorenthalt" nannte29. Im Anruf der dunklen Natur
läßt Caproni die Menschengeschichte als verfehlte Erlösung verstummen.
Damit sie verstummt, am Grunde des Wortmeeres, opfert er ihr den Dra-
chenfisch wie einen verkleideten Gott.

Gott-Opfer und heilige Jagd ereignen sich auch in der Lyrik von Pierre Jean
Jouve. Die Inspiration durch Freud, dessen Theorien ihm seine zweite Frau,
die Psychoanalytikerin Blanche Reverchon in den zwanziger Jahren vermit-
telte, ist kaum zu überschätzen. Aber Jouve ist zugleich Mystiker, der im in-
neren Kontinent des Unbewußten das Religiöse sucht, gewaltsam bis hin
zum „Blutschweiß" (Titel einer Sammlung von Gedichten). Jouve hat die
Grundmotive für sein Schreiben in der Vorrede zu Sueur de sang (datiert vom
März 1933) selbst deklariert — in poetologischer wie in zeitkritischer Ab-
sicht30. Der Rekurs auf „Tausende von inneren Welten im Menschen" ver-
weist die Tagseite der Lebenswelt, ihr Geheimnisloses, Einförmiges, nach
außen Gewandtes in den Bereich des Profanen. Denn bürgerliche Rationali-
tät führt zum Symbolverlust. Mit seiner von Freud und Mystikern wie Teresa
von Avila und Juan de la Cruz inspirierten Poetik zieht sich Jouve vor sol-
cher Nivellierung in die zerklüftete Landschaft der Seele zurück. Zwischen
zwei Weltkriegen, angesichts unheilvoller Veränderung, entdeckt er den „Riß
der menschlichen Natur" 31 . Doch einer öffentlichen Literatur verweigert sich
Jouve. Er bleibt Hermetiker. Wie er in seinem Roman Die leere Welt (1927),
die Seelenwirrnis seiner Figuren im Blick, vom Großen Kriege schrieb: „Die
Katastrophe in Europa hatte alles über den Haufen gestürzt, ohne auch nur
einen persönlichen Kummer anzutasten, ohne auch nur ein verborgenes Da-
sein zu ändern" 32 . Und weiter: „Was draußen geschah, blieb ungewiß,
stimmte mit der inneren Wirklichkeit schlecht überein"33. Dem Autor ergeht
es wie seinem alter ego Luc Pascal, „er existiert nur in jener Sekunde, wenn
die Poesie in ihn eintritt und spricht; und weil er weiß, daß sie das ewige Le-
ben ist, möchte er sie für immer festhalten"34. Jouves Lyrik während des
Zweiten Weltkriegs, vor allem die Sammlung La vierge de Paris (1942 bis 1944
in der Schweiz entstanden), ist Dichtung, um die Seele zu befreien. Sie
schreibt jenseits aller Tagespolitik den französischen Mythos der Freiheit

29
M.Heidegger, Was heißt Denken? in: Merkur 6 (1952) 601 - 611
30
Jouve, Inconscient, spiritualite et catastrophe( Les Noces 139-144)
31
Dazu Micha 52
12
Jouve, Die leere Welt 119
33
Ebd. 134
34
Ebd. 150
246

fort. Jouve bekannte ausdrücklich, daß er ein Werk schaffen wollte, das nicht
nur gebunden war an das historische Faktum 35 .
Der psychoanalytischen Wende bei Jouve entspricht überraschender-
weise die theologische: beide leben von einem Sinn für Symbolik, den Freud
neu geweckt hatte. Die psychische und moralische Verwahrlosung der Zivili-
sation sieht Jouve in den dreißiger Jahren als endzeitliche Krise: „La psycho-
nevrose du monde est parvenue ä un degre avance qui peut faire craindre
l'acte du suicide"36. Der Symbolismus aber fördert die Enthistorisierung. So
versteht sich die Rollenbestimmung des Dichters: aus einem Eros heraus, der
Sterben und Auferstehen einschließt, die Werte des Lebens neu zu schaffen.
Zwar enthüllt sich dem Analytiker Jouve der Mensch als „monstre de Desir",
mit kannibalischem Appetit und inzestuösen Gelüsten. Doch den Surrea-
listen und ihrem frivolen Sprachspiel — Kunst als „exquisiter Kadaver" —
setzt der Poet provokant sein religiöses entgegen: Der Kadaver vermag we-
der Revolution noch Aktion zu erzeugen, er ist nichts als der Anteil des Dia-
bolischen im Menschen. Gleichwohl billigt Jouve auch ihm heilsgeschichtli-
che Wirkung zu, bauend auf die Dialektik Gottes: „ce pouvoir demoniaque
et cette faute sont peut-etre les facteurs de l'emancipation de l'homme" 37 .
Jouves Gegenwartsbestimmung bleibt eschatologisch getönt. Seine Ge-
schichtskritik folgt sichtlich apokalyptischer Tradition. Die mit sittlicher
Verwesung einhergehenden Missetaten der Völker machen Europa zur Gro-
ßen Hure aus der Vision des Johannes (Apk 17,3), thronend auf dem schar-
lachfarbenen Tier, das bedeckt ist mit Namen der Lästerung und sieben
Häupter und zehn Hörner hat38. Jouve nimmt den Revolutionsbegriff de-
monstrativ aus der politischen Sphäre, in die ihn die Surrealisten agitatorisch
versetzt hatten, heraus und deutet ihn exklusiv religiös. Das Bild vom „Blut-
schweiß" zitiert einen Titel des katholischen Integralisten Leon Bloy von
1893 — in den Augen der Surrealisten durchaus eine Provokation. Program-
matisch stellt Jouve der Geschichte, die sich ihm als Destruktion offenbart,
die inneren Reiche des Eros entgegen: „Nous devons donc, poetes, produire
cette 'sueur du sang', qu'est l'elevation ä des substances si profondes, ou si
elevees, qui derivent de la pauvre, de la belle puissance erotique humaine" 39 .
Die intenüonale Verschränkung von Passion und Erhebung im Sinne des

15
Micha 57. Der politischen Vereinnahmung konnte auch der Dichter nicht entgehen. Im Mai
1945 dankte ihm General de Gaulle dafür, während des Krieges „ein Interpret der französi-
schen Seele" gewesen zu sein.
56
Jouve, Le Noces 143: „Die Psychoneurose der Welt ist an einem fortgeschrittenen Punkt
angekommen, der an den Akt des Selbstmordes glauben läßt."
37
Ebd. 144: „Diese dämonische Macht und diese Schuld sind vielleicht die Faktoren der
Emanzipation des Menschen."
»Ebd.
39
Ebd. „Wir Dichter also müssen diesen 'Blutschweiß' hervorbringen, der die Erhebung
zu so tiefen Stoffen ist, oder so erhabenen, die von der armen und schönen Gewalt des
menschlichen Eros sich herleiten."
247

ewigen Eros, den kurz zuvor Freud in seinem großen Essay Das Unbehagen in
der Kultur (1930) als Hoffnungsträger gefeiert hatte, mischt Christentum mit
Psychoanalyse. Diesen Prozeß versteht Jouve metaphorisch als Wiederge-
burt. Wer eindringt in die Geologie des Unbewußten, kann erkennen, wie
sich der Mensch „aus schwarzem Lehm und einer blutigen Plazenta löst"40.
Das extrem naturalistische Gleichnis verweist auf die für Jouve bezeichnende
Verknüpfung von Spiritualität und Gewalt, auf die Schöpfung des Menschen
aus der Ackererde und auf die Qual der Geburt; es sind Konnotationen der
Genesis. Aber das Heilige leidet auch Gewalt; viele Gedichte spielen an auf
dieses christliche Mysterium (Mt 11,12).
Die in der menschlichen Innenwelt einander bekämpfenden Kräfte -
Eros und Todestrieb, Schuld und Erlösungswunsch, Geschlechtlichkeit und
Spiritualität - treten an die Stelle der äußeren Konflikte, von denen die Welt
der Geschichte beherrscht wird. Jouves Rückbesinnung auf die Natur des
Menschen ist Rückzug aus der äußeren Geschichte. (Er hatte sich 1914 frei-
willig als Krankenpfleger gemeldet, um Dienst in einem Lazarett zu tun.) Der
Paradigmenwechsel von der Geschichte hin zu Natur, die nun Sinngarant
wird, ist im Verlauf der Moderne signifikant auch für die Literatur. Die
Greuel des 20. Jahrhunderts — totale Kriege und Revolutionen, Völkerver-
treibungen und Genozide — löschten nicht nur den Sinn von Geschichte,
sondern zugleich die Traditionslinie einer Kultur aus, die seit Homer
menschliches Handeln als ethisches und rationales erfaßte. Dichtung im
Zeitalter der Diktatoren trägt von daher unübersehbare Stigmen. Gegen die
Totalität des Politischen wehrt sich der Lyriker Jouve auf seine Weise: er
nimmt Eros und Tod konsequent aus der Geschichte heraus, versenkt sie in
das Unbewußte und transformiert seine Psychomachie in naturale Gleich-
nisse. Selbst die Geliebte wird in mystisch-erotische Landschaften verwan-
delt, am schönsten in den Gedichten Pays d'Helene (1936) - Evokationen der
Frau im Medium einer Gebirgsgegend, die Jouve sehr geliebt hat41.
Erhält das Unbewußte den Rang des Schöpferischen und Inspirieren-
den, wird die sichtbare Realität trivial. Nicht umsonst wendet sich Jouve
einem inneren Kontinent zu, wo sich allegorische Szenarien entfalten. Sie
bilden eine hermetisch verschlossene Binnengeschichte der Seele:

Toujours plus sobrement nous fermer dans l'histoire


De nous-meme, en trouvant le rutüant secret
D'y respirer toujours sagesse des montagnes
L'air propre de cascade et funebre foret

40
Ebd. 139
41
Dazu Raible 124ff. „Pays d'Helene" war für Jouve die Gegend um Soglio im Bergell.
248

Immer karger sich verschließen in der eigenen


Geschichte, das glühende Geheimnis entdecken
Dort immer Weisheit der Berge zu atmen
Die reine Luft des Wasserfalls und düstren Wald42

Solch reine N a t u r ist notwendig auch wild. J o u v e verdichtet in diesen Ver-


sen, die nach d e m Zweiten Weltkrieg entstanden, seine Vision in Bildern, die
der romantischen Ästhetik des E r h a b e n e n entstammen:

Puisque nous decouvrons un monde les premiers


Le monde: plus geant que la masse oceane
Plus obscur que les nebuleuses du dragon
Plus terrible que l'entrechoquement des regnes

Weil wir die ersten eine Welt entdecken


Die Welt: gewaltiger als die ozeanische Masse
Dunkler als die Sternhaufen des Drachens
Schrecklicher als der Zusammenprall der Reiche 43

D i e Relativierung der Gewaltgeschichte steht in K o n t r a s t zur W ü r d e der


Naturerscheinungen. D e r v o n Novalis verkündete W e g nach innen mündet
bei J o u v e in die Epiphanie des a n o n y m e n G o t t e s , der in der Angst des Men-
schen sich offenbart. Dieser G o t t ist nicht in der Geschichte enthalten, wie
sein Reich auch nicht v o n dieser Welt ist, sondern da, w o F u r c h t u n d Stau-
nen die Seele empfänglich m a c h e n für das Heilige: „le m o n d e inteneur de la
sainte terreur" 4 4 . In diesem R ä u m e vollzieht sich das G o t t - O p f e r . Das Hei-
lige ist zuletzt identisch mit d e m T o d , der beides: Reliquiar u n d Naturgewalt
ist. Was das Sakrale u n d die Gewalt verklammert, ist die Schuld. In der Vor-
rede zu seinem G e d i c h t b a n d Le Paradis perdu (1938) schreibt er: „ Q u i est
coupable? Celui qui s'abandonne a la force sacree, car cette force sacree est
aussi c o n d a m n e e " 4 5 . U n d mit k ü h n e r theologischer W e n d u n g heißt es wenig
später: „La vie des saints est u n long cri de terreur" 4 6 . D e r E r o s , das Heilige
u n d der T o d bilden den dunklen Dreiklang. Diese Coincidentia o p p o s i t o r u m
verdankt sich der Lektüre Freuds, stellt aber ebenso ein E r b e des Symbolis-
m u s dar. Wie Baudelaire, den er bewunderte, ist J o u v e im G r u n d ein Allego-
riker. D i e Intensität seines Schreibens ist Ausdruck fundamentaler Wider-
sprüchlichkeit; das Allegorische lebt wie bei Baudelaire v o n den Erfahrungen

42
Jouve, aus: Melodrame. 1957. Übs. F.Kemp (Böschenstein/Köhler 252f.)
43
„Die Innenwelt heiligen Schreckens" (ebd.).
«Ebd.
45
„Wer ist schuldig? Der, welcher sich hinreißen läßt zu heiliger Gewalt, denn diese heilige
Gewalt ist auch verdammt" (Micha 18).
46
„Das Leben der Heiligen ist ein langer Schreckensschrei" (Micha 19).
249

des „homo religiosus". Diese Erfahrungen sind durchaus unzeitgemäß; mit


Renouveau catholique haben sie wenig zu tun.
Jouves Beschwörung des Eros als ungezähmter Natur hat in der franzö-
sischen Lyrik wenig Vergleichbares:

Paradis de tes reins et chaud


Redressement de ta verge
Qui brule de l'esprit muet.

Paradies deiner Lenden und warmes


Sich-Aufrichten deiner Rute
Die brennt vom stummen Geist.47

Dies ist nicht antibourgeoise Attitüde, wie die Surrealisten sie pflegten, son-
dern das Wagnis, mitten im libertären Zeitalter eine neue Mythologie des
Eros zu schaffen. Jouve greift dabei auf alte Allegorien zurück — mit Vorliebe
auf den vom Psalmisten beschworenen Topos des Hirsches, der in der
Sommerhitze nach Wasser schreit: „Wie der Hirsch lechzt nach dem frischen
Wasser, so lechzt, Gott, meine Seele nach dir" (Ps 42,2). Der freudianisch
geschulte Symbolist transformiert das überlieferte Motiv in einen Themen-
kreis, in dessen Zentrum die heilige Jagd steht. So thematisiert die Klage vor
dem Hirsch die Dialektik von Mystik und Eros im Bild des verwundeten Tie-
res, das erlegt wird von den Liebenden:

Sanglant comme la nuit, admirable en effroi, et sensible


Sans bruit, tu meurs ä notre approche.
Apparats sur le douloureux et le douteux
Si rapide impuissant de sperme et de sueur

Blutig wie die Nacht, bewundernswert im Schrecken, und sinnlich


Ohne Geräusch stirbst du bei unsrer Berührung.
Erscheinst über dem Schmerzhaften und dem Verdächtigen
So schnell ohnmächtig von Sperma und Schweiß48

Der Kult des Schmerzes und die Ambivalenz der Lust sind ohne Nietzsche
und Freud schwerlich denkbar; doch ebenso bleibt Jouve lebenslang faszi-
niert von dem, was spirituell wie erotisch Passion heißt. Der Hirsch, Sinnbild
reiner Animalität, der den Liebesakt wie einen Tod besteht und „dessen
Wunden die Löcher unsrer Liebe bezeichnen", ist naturale Matapher von sel-
tener Eindringlichkeit. Wie Hölderlin, Blake und Rimbaud pflegt Jouve hier
einen rauhen Stil. Das Gedicht entfaltet sich aus einem Schlüsselsymbol, das
ausstrahlt auf den Text und vielfache Korrespondenzen eröffnet. Das se-

Jouve, Les Noces 162


Ebd. 165. Über den Zusammenhang von Mystik und Sexualität:: Bataille 289ff.
250

mantische Feld wird beherrscht von einer Metaphorik, worin sexuelle und
religiöse Anspielungen im Entwurf einer sinnlichen Welt sich vereinigen.
D a s Sakralisierungsbedürfnis führt Jouve zu einem poetischen Panthe-
ismus, der die Spannung von Einheit u n d Vielheit, v o n Konzentration und
E n t g r e n z u n g fruchtbar zu machen sucht. Für das Heilige in der N a t u r findet
er Bilder, die keiner Erwartung sich fügen:

Tout est un, et un en un, et tout en un


Et un en Dieu
Et Dieu present dans le tronc d'arbre mort.

Aber alles ist eins, und eins in einem, und alles in einem
Und eins in Gott
Und Gott gegenwärtig in einem toten Baumstumpf.49

D e m entspricht das K o n z e p t einer „schönen und animalischen Erde" 5 0 , das


ernst macht mit dem Gedanken eines fleischgewordenen Gottes. Nicht nur
N a t u r , sondern auch Religion wird darin erotisiert. Das Begehren ist beides:
göttlich u n d sündhaft zugleich. Diese v o m Eros belebte N a t u r ist Maske
eines verborgenen Gottes, der das Verlangen des Menschen auf sich zieht,
als alles durchwaltende Konkupiszenz. D e r Baum der Erkenntnis verkörpert
Trieb u n d Erlösungssehnsucht; ihr Miteinander zeigt jene Dialektik des Be-
gehrens, die für Jouve zur Struktur der Welt wie der Dichtung gehört: ,,Les
racines se convulsaient dans le Desir" 51 . Im Symbol des Hirsches nimmt
diese Dialektik lebendige Gestalt an, geboren aus Geist und Natur, die sich
im Widerspruch paaren:

Le cerf nait de l'action la plus claire


De l'inhumanite trouvee avec sa detresse
De l'extreme chaleur au flanc des icebergs
Et du torrent remontant le cours de ses pierres.

Der Hirsch entsteht aus der lichtesten Tat


Aus der Unmenschlichkeit, samt der Bedrängnis gefunden
Aus der äußersten Glut an der Hanke der Eisberge
Und aus dem Sturzbach, der wieder hinaufsteigt den Lauf
seiner Steine.52

D i e Poetik des Umschlagens, der Ambivalenz des Hinabstürzens, das auch


ein Aufsteigen sein kann, erfaßt den Eros als Naturgewalt. D a s unzensierte
Heilige, allen Konventionen bürgerlicher Vernunft und ihrem O r d n u n g s -

49
Jouve, Monde sensible, dt. von F.Kemp (Böschenstein/Köhler 247)
50
Ebd.
51
L'arbre mortel (Jouve, Les Noces 49): „Die Wurzeln verzerrten sich in dem Begehren".
52
Jouve, Les Noces 162
251

zwang entgegen, ist Einbruch der Wildnis in die Zivilisation. Aber das Reich
des Verlangens, kraft seiner grausamen Intensität, ist „Hölle", worin die
S ö h n e (wie bei Freud) den Vater töten, u m Brüderlichkeit zu haben; w o
V e n u s (wie bei Rimbaud) aus d e m Meer steigt, als Göttin eines neuen E v a n
geliums:

Les Fils reunis tuent le Pere et voilä la Fratemite.


Venus sort de la mer
Ruisselante dure et paree seulement de ses chevelures
La fornication obsede le ciel bleu.
Et Christ est ne du coeur
De ces coeurs noirs ü fait un cortege d'Epoux;
Le Chnst est tue nous luttons ä jamais.

Die Söhne wiedervereint töten den Vater und da ist die


Brüderlichkeit.
Venus steigt aus dem Meer
Rauh rieselnd und geschmückt allein mit ihrem Haar
Die Hurerei besetzt den blauen Himmel.
Christus wird aus dem Herzen geboren
Aus diesen schwarzen Herzen macht er den Hochzeitszug;
Der Christus ist tot wir kämpfen für immer.53

Solche Mythologie der Concordia discors sucht Geist u n d Fleisch, die alten
Widersacher, in eine Synthese zu zwingen, gewaltsam und verführerisch zu
gleich, mit dem Pathos des gottfernen Mystikers. Was an Jouve als Psycholo
gie erscheint, ist in der Sprache Schillers das Sentimentalische: Fern der anti
ken Naivität und Sinnlichkeit ist die Moderne zur Reflexion verurteilt. O h n e
das Sentimentausche wäre auch Freuds Analytik nicht denkbar. D o c h jede
Selbstentdeckung führt zur Selbstentfremdung. Ihr begegnet Jouve mit Bil
dern kalkulierter Grausamkeit, in denen die Entzweiung im Schock über
sprungen wird:

Premiere fois
La mante religieuse a detache la tete
De son epoux qui sommeille

Zum ersten Mal


Hat die Gottesanbeterin den Kopf abgenssen
Von ihrem schlummernden Gatten. 54

Dies Inbild bedrohlicher Sexualität und barbarischen Geschlechterkampfes


steht in Zeitgenossenschaft mit der Topik der Surrealisten. Bei Max E r n s t ist

53
Enfers (Jouve, Les Noces 51)
54
Jouve, Les Noces 111
252

die Gottesanbeterin (mantis religiosa) das bizarre und tragische Bild der Un-
versöhnlichkeit des männlichen und weiblichen Verlangens. Bei Jouve steht
das grausame Opfer (das archetypisch an die Rache der Judith erinnert) für
das mörderische Geheimnis des naturalen Eros.
Wildnis, Begehren und Epiphanie - mit dieser Trias hat Jouve seine
Auffassung von Natur chiffriert. Alle drei bilden den magischen Kontext der
Dichtung. Das Begehren ist nur eine andere Weise des Andenkens, freilich
maskiert. Mit dieser Naturästhetik konnte sich Jouve auf einen berühmten
Vorgänger berufen: In seiner Sammlung Les Noces findet sich die wörtliche
Paraphrase aus Hölderlins Tinian-Gedicht55. Jouve hatte zusammen mit
Pierre Klossowski von Hölderlin Poemes de la folie übertragen (1930). Seine
Adaption ist ein Programm: „Agreable d'errer dans le desert sacre..."56. Bei
Hölderlin hieß es: „Süß ists, zu irren in heiliger Wildnis"57. Poesie selbst wird
zum Refugium der Wildnis, mithin des Heiligen, dem in der Warenwelt der
Raum abhanden kam. Von hier aus gesehen hat Dichtung etwas Anarchi-
sches. Einbrechend in das Profane, dessen funktionelle Ordnung sie er-
schüttert und dessen Konventionen sie mißachtet, muß sie notwendig skan-
daliseren. Für Jouve hat Dichtung ein „grausames blaues Auge", das uns zu
sehen zwingt, und sie spricht aus, was die Väter noch nicht zu nennen wag-
ten58. Sie ist therapeutische Grenzüberschreitung, rituelle Tabuverletzung:
das Werkzeug, das verwundet, ist jenes, das auch heilt. Wie häufig bei Jouve
ist die Schönheit mit Gewalt verknüpft:

Et tu crois plus saignante, anemone Immortelle.

Und blutiger glaubst du, unsterbliche Anemone.59

Der reine Dichter ist nicht Kunst- oder Kultfigur, sondern Opfer — verstrickt
in Seelenwildnis, in eine Natur von barbarischer Vitalität. Ihn inspiriert, was
ihn fesselt, verwundet. Für diesen Zustand findet Jouve Bilder von archai-
scher Eindringlichkeit, wie sie im Traum begegnen:

Le pur poete est mis dans le sang ecumeux


Et pris entre les lianes turgescentes
Des eaux des yeux des tetes medusantes

Der reine Dichter ist hineingestellt in das schaumige Blut


Und gefangen zwischen den schwellenden Lianen
Von Wassern Augen medusisch starren Köpfen60

55
Diesen Hinweis verdanke ich Prof. Bernhard Böschenstein( Genf)
56
Jouve, Les Noces 123
57
Hölderlin, Gedichte 407
58
Jouve, Les Noces 178
59
Ebd.
253

Das Unbewußte als das Schöpferische ist eine „Kolonie unersättlicher


Kräfte"61. Der Mensch, hineingeworfen in diese Tentakelnatur, wird Opfer
seines Abstiegs in die Fleischlichkeit, wie jener Gott, der sich freiwillig dem
Fleische und den Leiden unterwarf. Jouves Mystik findet hier ihr eigentliches
Zentrum. Die Befreiung des Menschen geschieht nicht durch Flucht aus der
Natur (auch Spiritualität bei Jouve ist eine Frucht des Fleisches), sondern ge-
rade durch Hingabe an die Natur — durch Opferung des kleinen Ich, das sich
für autonom hält. „Celui qui forme tout est celui qui detruit"62. Sogar das
Heilige trägt monströse Züge:

Ces anges ces monstres


Regarde-les plus nobles que le chacal de la nuit

Diese Engel diese Ungeheuer


Betrachte sie edler als der Schakal der Nacht*3

Die tradierte Hierarchie des Schönen ist außer Kraft gesetzt. Jouve verwen-
det bewußt häßliche Bilder, um festgefügtes Denken aufzulösen.

Eine Schlüsselrolle bei alledem spielt das Motiv des Gott-Opfers oder
der heiligen Jagd. Jouve kleidet es in ein artistisches Bild aus der Sphäre des
Zirkus, nicht unähnlich gewissen Darstellungen Max Beckmanns:

Vers toi s'envolent, Dieu, les couteux de l'injure


Tu es si beau tu es si calme tu es si nu.

Zu dirfliegen,mein Gott, die Messer meiner Beleidigung


Du bist so schön du bist so ruhig du bist so nackt64

Dieser Messerwerfer wiederholt auf seine Weise die Geißelung Christi, mit
allen dazugehörigen sadistischen Konnotationen. Noch in der Parodie des
religiösen Themas ist der Opfergedanke präsent, als Teil eines alltäglichen
Vorgangs. Nicht zufällig überschreibt Jouve diesen Zyklus mit dem Titel
Deserts. Es sind die Wüsteneien des Bösen, in denen Gott gejagt wird. Mit ih-
nen legt Jouve die Archetypik von Schuld und Erlösung bloß. Der Hirsch,
Inbild animalischen Begehrens, aber auch Opfertier, bildet die wichtigste
Projektionsfigur für eine Metaphysik des Sexus. Er verkörpert das unaufgeb-

60
Ebd. 180
61
Vorwort zu Sueur de sang Qouve, Les Noces 139)
62
Jouve, Les Noces 189: „Jener, der alles bildet, ist jener, der zerstört."
" E b d . 188
M
Ebd. 61
254

bare Bündnis von Geist und Fleisch, das Jouve am Christentum so faszi-
nierte:

Le cerf altere meurt au cri des rochers


Sur tout le pays de mes fautes. Je n'ai
Rien pour le ranimer, ni pour l'aimer.
Mais il est mon amant adorable...

Der durstige Hirsch, beim Schrei der Felsen stirbt er


Über jeglichem Land meiner Sünden. Ich habe
Nichts um ihn wiederzubeleben, noch um ihn zu lieben.
Aber er ist mein angebeteter Geliebter...65

In Jouves poetischem Universum ist Sexualität das dunkle, chaotische Zen-


trum; doch Sexualität ist das Sakrale der Natur. D a s D r a m a der Sünde wie
des Heilsverlangens spielt sich primär in diesem R ä u m e ab. J o u v e , der alles
tut, u m Zeitbedingtes aus seinen Versen zu tilgen (als Romancier hingegen
folgte er der Devise Daumiers: „il faut etre de son t e m p s " ) , verweigert sich
den Illusionen der historischen Vernunft. Seine heilige Jagd führt aus der
Geschichte heraus — in Wildnisse, die kreatürliche Verlassenheit bezeichnen,
in eine mystische Landschaft, die regiert wird v o m alles versengenden Eros:

Lorsque le cerf en chaleur


Courait sur le talus de la misere
II a troue le sol du talus du desir
Le voilä dans l'autre affrayant paysage
Desert parfait matrice de l'air bleu
Ou se tiennent droites ses larmes
Coagulees comme du sperme.

Als der Hirsch in der Brunst


Über die Böschung des Elends rannte
Hat er den Boden durchlöchert der Böschung des Begehrens
Da ist er in der andern erschreckenden Landschaft
Vollkommene Wildnis Matrix blauer Luft
Wo sich seine Tränen aufrecht halten
Geronnen wie Sperma.66

Solche Natur, aus Metaphern eines gewaltsam befreienden Ausgangs beste-


hend, ist notwendig geschichtslos. Das Mystische vernichtet die Geschichte.
Was bleibt, sind in der Sprache Rimbauds die „deserts de l'amour", die W ü -
sten der Liebe - bei Jouve Orte der Gottesjagd. Die Enthistorisierung zer-
stört zugleich die überlieferte, hierarchische O r d n u n g der Dinge. D a s Nied-

65
Ebd. 161
66
Ebd. 194f.
255

rigste wird mit dem Höchsten verbunden, das Profane wird jählings umge
wertet; der Blitz der Erleuchtung, der die Geschichte auslöscht, errichtet her
risch eine neue Ordnung.

Le cerf nait de l'humus le plus bas


De soi, du plaisir de tuer le pere
Et du larcin erotique avec la soeur,
Des lauriers et des fecales amours.

Der Hirsch entsteht aus dem niedngsten Humus


Des Selbst, aus der Lust den Vater zu töten
Aus dem erotischen Diebstahl mit der Schwester
Aus Lorbeer und aus fäkalen Liebschaften.67

Jouves poetische Operation illustriert Georges Batailles These der sakralen


Überschreitung Gerade der Bruch des Tabus rührt an das Heilige. „Das Ver
bot schreckt ab, aber die Faszination verleitet zur Überschreitung. Das Ver
bot, das Tabu, steht in einem gewissen Sinne nicht im Gegensatz zum Gött
lichen, sondern das Göttliche ist der faszinierende Aspekt des Verbotes" 68 .
Jouve bringt die Dynamik der niederen Materie in Zusammenhang mit dem
von Freud kreierten Mythos der Vatertötung, der inzestuösen Vereinigung
und einer von klassischem Lorbeer verdeckten Skatophilie. Aus dem Humus
der Widersprüche und der Negation steigt die Figur des Hirsches, der als
Elementargeist der Natur in den Städten erscheint, „zwischen Kontoren und
Gossen".
Die von Rimbaud begonnenen poetischen Provokationen führt Jouve
mit Hilfe der Psychoanalyse fort; trotz seines bürgerlichen Habitus ist er ein
antibürgerlicher Autor. Geopfert wird nicht nur das Dekorum überlieferter
Moral, sondern auch der bürgerliche Gott. So opfert der Pfarrerssohn
Jacques de Todi dieses Idol durch seinen Selbstmord. Gestürzt wird der
richtende Vater, der Patriarch und Tyrann, im Akt einer Grenzüberschrei
tung, die vom Todesverlangen diktiert wird. Das Selbstopfer ist Jagd nach
dem wahren Gott, der erlegt wird im eigenen Tod: ,Jenseits ist, wonach
mich verlangt. Gott, du hast mir dieses große Begehren gegeben. Gott, du
erkennst dich in meinem Begehren"69. Die Psychoanalyse, als Werkzeug
einer neuen Poetik und Mittel der Inspiration, löst die in Jahrhunderten der
Rationalität gerade in Frankreich gebildeten Sinnmuster auf. Sie enthistori
siert das Subjekt, indem sie seine Triebstruktur betont, deren persönliche
Symbolik sich keiner historischen Deutung mehr fügt. Seit der Aufklärung
war der Sinnhorizont des Subjekts die philosophisch bereinigte Geschichte

67
Ebd. 163
68
Bataille 85. Roger Caillois hat aus diesem Akt der Transgression seine Theone des Festes
abgeleitet (Der Mensch und das Heilige, München 1988,127ff).
69
Jouve, Die leere Welt 109
256

mit ihren Idolen Autonomie, Fortschritt, Entwicklung. Seit Nietzsche und


Freud ist diese Mythologie der Vernunft durch die Gewaltgeschichte frag-
würdig geworden. Im Raum der französischen Dichtung hatte bereits
Rimbaud die Natur als Sinninstanz etabliert, sie panerotisch und religiös ge-
deutet - als Körper der Wahrheit, belebt von einem eigenen Geist. Ihm fol-
gend entdeckt der Lyriker Jouve die Natur als Körper eines verborgenen
Gottes. Dieser Akt ist auf ganz andere Weise revolutionär als der antireli-
giöse Affekt der Surrealisten: Er sucht die Trennung von Natur und Geist,
den cartesianischen Sündenfall, rückgängig zu machen. Jouves Dichtung ist
der unablässige Versuch, hier Absolution zu erreichen. Noch sein Künsder-
roman Die leere Welt, der so reich an Atmosphäre ist und die mentale Zäsur
des Ersten Weltkriegs in seine Figuren hereinnimmt, endet mit einer farbigen
Chiffer, die auf der Spur von Novalis ein magisch-naturnahes Dasein jenseits
der Reflexion beschwört: „Blau eine Blume in den Bergen"70. So findet die
Poesie den Ausgang aus der Geschichte; kein Schlußpunkt, sondern lyrische
Diaphanie. Aus dem Blau (es ist das „Südwort" Benns) spricht ein Entgren-
zungsverlangen, das mit Bewußtseinszwängen auch Lebensverstnckungen,
also Geschichten abstreift. In dieser blauen Blume sind metonymisch der
Mallarmesche Azur, die Sehnsucht nach dem Unendlichen, der Abgrund in
einem Blütenkelch. Jouve meidet jede Mystifikation; das einfache Bild enthält
eine Wahrheit, die offen vor aller Augen liegt. Nach dem Geltungsverlust der
etablierten Religion ist solcher Sinngebungsakt nur noch symbolisch mög-
lich. Sein Ort ist nicht umsonst Natur jenseits der Menschenwelt; die hohen
Berge Nietzsches, die Jouve in seiner persönlichen Mythologie zitiert, sind
die Gletscher im „pays d'Helene".
Sexualität und Religion werden zur heiligen Jagd, worin der Jäger und
das Gejagte eins sind71. Der Jäger verfolgt, was er liebt; was er verwundet,
tötet, kommt ihm nahe. Die Erfahrung der Wunde, so liest Jean Starobinski
den Dichter, führt hinab auf den Grund der menschlichen Natur. Der Inter-
pret zieht diese Linie ins Theologische aus: den Gott jagen, ihn töten, treibt
die Schuld auf den Gipfel und provoziert den erlösenden Ausgang72. Die
Jagd geht hervor aus Verlangen und Angst; was der Jäger erbeutet, ist Schuld.
Von ihr muß er sich reinigen, sie muß er sühnen. Aber die Jagd ist heilig, weil
sie die Grenze von Leben und Tod überschreitet, gewaltsam an den Sinn des
Daseins rührt. Ein Schlüsselgedicht dafür ist Cerf de la nuit. Hier sind Jouves
zentrale Motive versammelt: der verletzte, verletzende Eros, das sich selbst
erliegende Begehren, das göttliche Opfer. Schrecken und Lust dieser Jagd be-
reiten sich vor im Schoß atemloser, lauernder Natur, in einer nächtlichen
Bergschlucht, wo der Jäger, angstvoll bereit, sich in sein Opfer versetzt, wie

70
Ebd. 150
71
Dazu aus ethnologischer Sicht, am Beispiel der australischen Abonginals: Maurice Bloch,
Prey into Hunter. The Politics of Religions Experience (Cambridge-New York 1992)
72
Starobinski, La Traversee du Desir Qouve, Les Noces 17f.)
257

ein Mann, der eins wird mit der Frau. D e r Hirsch, ambivalentes Symbol einer
Libido, die bei J o u v e stets Fleischliches u n d Spirituelles vereint, ist Totemtier
des Jägers — auf theologischer E b e n e der in die Kreatur herabgestiegene
G o t t , der sich zum O p f e r bringt. D e r Hirsch paart alle Widersprüche des
Heiligen in sich: „die Notwendigkeit, das O p f e r immer wieder v o n neuem zu
töten, obwohl es göttlich ist, gerade weil es göttlich ist" 73 . D e n Jäger und das
Gejagte aber lockt gleichermaßen das Begehren an u n d bringt sie beide zu-
sammen:

Votre ime ce chasseur maudit


Est sortie pour lier tres loin l'äme du cerf
Bien avant qu'il soit, et 1'äme de la bete
Bien avant que vous evente sa narine.

Deine Seele dieser verfluchte Jäger


Zog aus, sehr fern die Seele des Hirschen zu binden
Noch ehe er ist, und die Seele des Tieres
Noch eh seine Nüster dich wittert.74

Die naturale Metaphorik hält jeglichen Psychologismus fern. D i e Dialektik


von Schuld und Erlösung vollzieht sich jenseits der sinnendeerten G e -
schichte in einer mystischen Landschaft, oder wie Starobinski es auf poeto-
logischer E b e n e ausdrückt, „im undurchsichtigen K ö r p e r des Symbols" 7 5 .
Die Dichtung, hier die N a t u r n a c h a h m e n d , erweist sich als D r a m a widerstre-
bender Kräfte, ausgetragen zwischen Dunkelheit u n d Transparenz. Das
Verlangen verdichtet sich im Symbol; u n d im Symbol wird es z u m Opfer ge-
bracht. So mündet das Verlangen, seiner Eigendynamik folgend, in den T o d ,
der in Gestalt der Kugel den Hirsch, das Liebesobjekt penetriert und das
Opfer vollzieht:

Et parvenue au point mysteneux et finalment


La balle ce sera votre ultime desir
Et tout votre destin
Projete dans le sublime destin du cerf.

Und angelangt auf dem geheimen Punkt und endlich


Die Kugel, sie wird deine letzte Begierde sein
Und dein ganzes Geschick
Eingezielt in das erhabene Schicksal des Hirsches 76

73
Girard311
74
Jouve, Cerf de la nuit, dt. von F.Kemp (Böschenstein/Köhler 246/247)
75
„Dans le corps opaque du Symbole" (Jouve, Les Noces 20)
76
Jouve, Cerf de la nuit (Böschenstein/Köhler 248/249)
258

Die Gottesjagd durchbricht das kontingente Dasein; das blutige Opfer er-
neuert im Reich der Diskontinuität und des Zufalls, also in der Geschichte,
die Ordnung des Heiligen. Georges Bataille hat den Vorgang des Tieropfers
als symbolische Wiederherstellung der Kontinuität des Seins gedeutet, als
notwendige Transgression: „Die göttliche Kontinuität ist gebunden an die
Überschreitung des Gesetzes, das die Ordnung der diskontinuierlichen We-
sen begründet" 77 . Nimmt man den Hirsch als Totemder, bei Jouve auch als
Ersatz des Vatergottes, so stimmte dazu der von Freud bemerkte Wider-
spruch, „daß es sonst verboten ist, es zu töten, und daß seine Tötung zur
Festlichkeit wird, daß man das Tier tötet und es doch betrauert"78. Doch wie
bei Caproni trifft auch bei Jouve die Kugel nicht nur die Beute, sondern auch
den Jäger. Was beide verbindet, ist tödliches Begehren. Worauf es zielt, ist
Unio mystica.
Jede Gottesjagd muß die Grenzen der Geschichte überschreiten, sie
kraft des Opfers verletzen. Das Reich der Kontinuität aber ist die Natur. Für
Jouve, den ,Jansenisten" aus Arras, ist die Geschichte als Reich des Profanen
heillos der Konkupiszenz verfallen, im Abgrund egoistischer Selbstliebe ge-
fangen, von gnadenloser Freiheit zum Bösen regiert79. Das Heilige, verbor-
gen in der Passion des Fleisches, zerstückelt von den Naturmächten Eros
und Tod, ist unauslöschliches Verlangen nach Erlösung. Es verneint die
Verneinung des Lebens. Aber im gewaltsamen Verlangen, in seiner sowohl
spirituellen wie heiligen Lust, ist die göttliche Gnade enthalten, ohne die es
keine Erlösung gibt. Mit Bataille hätte Jouve sich verständigen können, daß
die Erotik die Zustimmung zum Leben bis in den Tod hinein ist80. Die Sym-
bole für das Heilige findet der Dichter bezeichnenderweise in metaphysisch
besetzter Natur: einzig in ihr leuchtet noch Ursprungsnähe auf. In diesem
Licht beschreibt er in dem Roman Paulina 1880 (1925) die religiös-erotischen
Visionen seiner Heldin, der Nonne Paulina Pandolfini, die hernach ihren
Geliebten, den Grafen Michele Cantarini töten wird: „Wüsten, meine Wü-
sten, öffnet euch. Ich atme die Blume und den Glanz der Blume. O leises
Lied unserer Vögel! Es ist traurig. Nein, Berge aus Musik, rosenrote Dinge
erwarten ihn, ich gehe vorwärts" 81 . Und wenig später, die Katastrophe von
ferne vorbereitend: „Die Wasser sind ausgetrocknet, der Himmel ist schwarz,
der Wind weht nicht, alles ist in Unordnung. Die Welt zittert. Du weißt, in
Torano das große Gewitter" 82 . Diese Ästhetik des Erschreckens, der Bestür-

77
Bataille 104
78
Freud, Totem und Tabu (Gesammelte Werke IX, 425)
79
Zum „jansenistischen" Aspekt bei Jouve vgl. Starobinski, Vorrede zu Les Noces 18
Die Lehre des Jansemus skizziert L.Cognet, in: Handbuch der Kirchengeschichte,
hg.von H.Jedin, V( Freiburg-Basel-Wien 1970) 28 - 31
80
Bataille 11
81
Jouve, Paulina 161
82
Ebd. 162
259

zung verdankt sich den Schocks der Gewissenserforschung. In Jouves


Dichtung nimmt der verborgene Gott Wohnung im Unbewußten, dem Ort
des Begehrens, der Schuld und des Opfers. Eine vom Eros verbrannte, von
Schmerzen zerrissene Landschaft erscheint als sein mystischer Leib.

Mitten in der Hochzeit des Imperialismus blieb es einem Außenseiter, dem


englisch schreibenden Polen Joseph Conrad (alias Jözef Korzeniowski) vor-
behalten, den Mythos der Gewalt und ihren heiligen Schrecken den Zivili-
sierten als düsteren Spiegel vor Augen zu halten. An der Schwelle zum neuen
Jahrhundert (1899 ließ auch Freud die Traumdeutung erscheinen) publizierte er
seinen Roman Das Her% der Finsternis. Conrad konnte aus authentischer Er-
fahrung schöpfen; 1890 hatte er mit einem Flußdampfer den Kongo bereist
und Tagebuch geführt. Nach dieser Reise, die ihm schockierende Erlebnisse
der kolonialen Praxis bot, erkrankte Conrad physisch und psychisch; er heilte
sich mittels Literatur, doch brauchte er einige Jahre, um seine Erlebnisse zu
verarbeiten. Das Herz der Finsternis, die Mitte Afrikas, wird bei Conrad zu
einer „Todeslandschaft" (R.Batberger). Dem brutalen Optimismus des mit
Technik gepanzerten, hochmütigen Monstrum Europa warf er die Wildnis
wie einen giftigen Köder zu. Doch die Verkörperung der Wildnis ist ein
Weißer - der ominöse Mr.Kurtz, der dunkle Geschäfte mit Elfenbein be-
treibt und über die Eingeborenen ein seltsames Regiment errichtet hat. Con-
rad, ein Meister scharf gestochener Details, zeigt ihn als einsamen Mann, von
vier Schwarzen in einem Einbaum herangerudert — „das Gesicht den Tiefen
der Wildnis zugewandt, seiner leeren trostlosen Station"83. Kurtz, schon ver-
sinkend in mythischer Anonymität („dieser Mann"), herrscht über ein Reich
tropischer Anarchie; er beginnt die Geschäfte zu stören. Eine Expedition
bricht auf, offiziell um ihn zu suchen, eigentlich aber, um nach dem rechten
zu sehen.
Die Reise den Kongo hinauf wird zu einer Annäherung an das Unheim-
liche, verkörpert in archaischer Natur von düster bedrohlichem Glanz:

Die Fahrt flußaufwärts war wie eine Reise zu den frühesten Anfängen
der Welt, als die Pflanzen über die Erde ausschwärmten und die
Baumnesen Könige waren. Ein leerer Strom, ein großes Schweigen,
ein undurchdringlicher Wald. Die Luft war warm, dick, schwer, träge.
Im Strahlenglanz der Sonne war keine Freude. Die lange Wasserstraße
zog sich hin, öde, in die Düsternis einer überschatteten Feme. Auf
silbernen Sandbänken lagen Nilpferde und Alligatoren Seite an Seite
und sonnten sich. (...)

83
Conrad 59
260

Und diese Stille des Lebens glich nicht im mindesten einem Frieden.
Es war die Stille einer unerbittlichen Kraft, die über einem uner-
gründlichen Plan brütete. Sie blickte einen an mit dem Gesicht einer
Rächerin.84

Der marode Dampfer, den Conrad hier auf gefährliche Fahrt schickt, fährt
buchstäblich aus der Geschichte heraus. Die europäische Technik versagt
Stück für Stück ihren Dienst; vor der Kulisse der Baumriesen kriecht der alte
Kasten dahin „wie ein müder Käfer über den Fußboden eines erhabenen
Portikus kriecht"85. Mit dem Kontrast von Käfer und klassischer Architektur
dreht Conrad das eurozentrische Wertsystem um. Nicht der herunterge-
kommene Steamer, sondern der Urwald mit seinen lebendigen Säulen ist Re-
präsentant des Erhabenen. Der Triumph der Natur widerlegt die viktoriani-
sche Ästhetik der weißen Herrenmenschen. Nilpferde und Krokodile, Ko-
losse, die wie im Buch Hiob (40, 15-32) die Wunder der Schöpfung und
Vorzeit suggerieren, säumen wie Tiergötter den Strom, der gleichsam Pilger-
weg zu einem „monstre sacre" wird.
Zunächst erscheint die Reise ins Herz der Finsternis als Reise ins Para-
dies. Es ist die Schöpfung noch ohne den Menschen, von Pflanzen und Tie-
ren bewohnt, die bei Conrad etwas Idolhaftes haben — ein Reich des Schwei-
gens wie bei den Dichtern des Symbolismus, das profaniert wird vom Lärm
der Entdecker. Über das Scheinidyll fällt ein dämonischer Schatten. Die Stille
zeugt nicht von Frieden, sondern von angstvoller Spannung, als lüde die
Natur sich mit verborgener Kraft auf. Dem dient das Verfahren des Autors,
sie gleichsam animistisch zu beschreiben; die ethnologischen Studien von
Edward B.Tylor (Primitive Culture, 1871) hatten den Begriff bereitgestellt. Das
Faszinosum der Gewaltsamkeit gibt der Wildnis Züge des Sakralen: als
dunkle Gottheit tritt sie, zum Kampf gerüstet, der Zivilisation entgegen.
Conrads Hang zum Naturalismus instrumentiert den Geschichtsverlust als
tiefes Entfremdungserlebnis. Gerade das koloniale Abentuer irritiert das in
den Köpfen der Weißen steckende Ordnungssystem, es läßt den Historismus
brüchig werden. Die sprachlose Wucht der Natur degradiert die Eindring-
linge zu ephemeren Wesen, die keine Geschichte mehr haben:

Wir waren Wanderer auf vorgeschichtlicher Erde, auf einer Erde, die
das Antlitz eines unbekannten Planeten trug. Wir hätten uns einbilden
können, wir wären die ersten Menschen und nähmen ein verfluchtes
Erbe in Besitz, um es uns unter Höllenqualen und maßloser Anstren-
gung untenan zu machen.86

" Ebd. 62f.


g
5 Ebd. 65
86
Ebd. 66
261

Das ist, wie alle Angstphantasien, zugleich eine Wunschphantasie: die alte
Erde hinter sich zu lassen, einen unbekannten Planeten zu betreten. Die
Konnotation, die Conrad mit dem „verfluchten Erbe" verbindet, ist die von
Miltons Paradise Lost, wo die Menschen wie Kain der Ackerbauer, mit Blut-
schuld beladen, unstet und flüchtig umherziehn.
Doch das vermeintliche Eden enthüllt sich als tropische Spielart der
Hölle. Ihre Bewohner, dunkle Geschöpfe, frenetisch entfesselt, außerhalb
aller Geschichte, erscheinen als Wilde schlechthin:

Der prähistonsche Mensch, verfluchte er uns, betete er uns an, hieß er


uns willkommen - wer weiß? Uns war es versagt, das was um uns her
vorging, zu begreifen: wir glitten vorüber wie Phantome, staunend
und insgeheim entsetzt, wie Gesunde in einem Irrenhaus.87

Hier ist das Nicht-Verstehen kein ethnologisches, sondern ein metaphysi-


sches Symptom. Nicht verstanden zu werden, ist Privileg des Göttlichen;
sein Geheimnis birgt sich im Herzen der Finsternis. Und doch, so Conrad,
gibt es aus dieser Nacht der ersten Zeitalter die Spur eines Widerhalls, den
der Zivilisierte in sich wahrnimmt. Das erinnert an Vicos Apologie des ar-
chaischen Denkens: noch in den Mythen aus finsterer Vorzeit ist chiffriert
eine Botschaft enthalten88. Conrad dürfte Vico schwerlich gelesen haben;
doch sein Verstehensversuch teilt mit diesem den Sinn für das Wilde und das
Heroische: „Der menschliche Geist ist zu allem fähig — weil alles in ihm ist,
alle Vergangenheit ebenso wie alle Zukunft" 89 . Der menschliche Geist - oder
doch nur der europäische mit seiner Hybris, alles entdecken zu wollen? An-
ders als Kipling, der Missionar des britischen Imperialismus, beginnt Conrad
an den Prinzipien Europas zu zweifeln. „Prinzipien? Prinzipien genügen
nicht. Angeschaffte Kleider, hübsche Fetzen — sie würden beim ersten Wind-
stoß davonflattern"90. Der Traum paradiesischer Nacktheit ist letztlich ein
metaphysischer: die Illusion, mit den Kleidern die Sünden, den ganzen alten
Adam abzulegen. Darin ist die Versuchung eines dunklen Gottes: „Ruft mich
da was in diesem teuflischen Gebrüll?" 91 Die Frage, wenngleich rhetorisch,
enthält das eigentliche Thema des Romans.
Der dunkle Gott ist nah, doch schwer zu fassen. Die Wildnis verteidigt
den Gesuchten; es gibt einen Angriff der Eingeborenen, die aus dem Urwald
heraus den Dampfer mit Pfeilen beschießen. Aus dem Agenten Kurtz wird
ein Idol, aus der Expedition eine düstere Pilgerfahrt. Dem Erzähler Marlow

87
Ebd.
88
Dazu HD.Rauh, Im Labyrinth der Geschichte. Die Sinnfrage von der Aufklärung zu
Nietzsche (München 1990) 43ff
89
Conrad 67
90
Ebd.
91
Ebd
262

beginnt zu dämmern, daß er „etwas völlig Sinnlosem nachjagte"92. Kurtz ver-


wandelt sich in ein Wesen mit immer befremdlicheren Zügen. So verbindet
die Vorstellung mit ihm kein Handeln mehr, sondern nur noch ein Sprechen.
Dieses Phantom, das nur noch aus Stimme besteht, nimmt Züge einer Gott-
heit an, die befiehlt, droht, unterwirft - ein Fürst der Finsternis. „Er saß auf
einem hohen Thron unter den Teufeln des Landes — das meine ich wörtlich.
Ihr könnt das nicht verstehen" 93 . Unüberhörbar die Anspielung auf den im
Alten Testament beschriebenen Götzendienst. Das Rätsel aber wird dra-
stisch gelöst. Die Station, in der Mr. Kurtz residiert, ist umgeben von ab-
schreckenden Trophäen — von aufgespießten Menschenköpfen, die ihre
Fratzen (und dies ist das Verstörendste) sämtlich dem Haus zukehren. Was
Conrad den Viktorianern zumutet, ist ein Kulturschock. Doch konnte er die
Praxis kolonialer Herrschaft auf seiner Kongofahrt genau studieren. Und
Darwins „survival of the fittest" war Evangelium des Imperialismus. Der
weiße Herrenmensch, der sich am Anblick der ihm Geopferten sättigt, jede
Fessel der Zivilisation abwirft, repräsentiert die grausame Natur; ihren Ge-
setzen gemäß legt er den unterworfenen Barbaren eine durch Terror sanktio-
nierte Ordnung auf. Dieser Gott herrscht durch heiligen Schrecken.
Der Autor versucht sich an einer Erklärung, die sichtlich an Grenzen
rührt: Die Wildnis hat sich an Kurtz gerächt, weil er sie profanierte, ent-
weihte, mißbrauchte.

Sie hat ihm Dinge über ihn selbst eingeflüstert, die er nicht wußte,
Dinge, von denen er keinen Begriff hatte, bis er Rat hielt mit der gro-
ßen Einsamkeit - und dieses Flüstern hatte ihn unwiderstehlich ange-
zogen. Es hallte dumpf in ihm wider, weil er in seinem Innersten hohl
war.94

Der Kommentar des Erzählers erinnert an Nietzsches Aushorchen der Göt-


zen, an eine Philosophie, die mit dem Hammer Fragen stellt und auf den
hohlen Ton hört. Darin ist Conrad Zeitgenosse radikaler Kritik der viktona-
nischen Werte. Aber anders als Nietzsche nimmt er nicht für den Immorali-
sten Partei; ihn interessiert an Kurtz nicht der Despot, sondern der Reli-
gionsstifter, mithin das eingefleischte Bedürfnis, dem Religion noch im
Schatten des Nihilismus dient. Wie Nietzsche konnte Conrad sich einen ge-
borenen Psychologen und Freund der „großen Jagd" nennen 95 . Er kannte
den Urwald der Seele, den er als Einzelner durchquert hatte — und dem er
entkam, was Nietzsche nicht gelang. Im Gegensatz zu Nietzsche wahrt
Conrad mit dem Geheimnis des Bösen auch das des Heiligen. Noch Kurtz

92
Ebd. 87
" Ebd. 90
94
Ebd. 108
95
Nietzsche jenseits von Gut und Böse III, 45 (KSA 5, 65)
263

hat daran teil. Der Autor laßt keinen Zweifel daran, wenn er ihn in einem
Vanitasbüd als Schmerzensmann darstellt, den seine Gläubigen auf einer
Bahre herantragen. Mit ähnlicher Würde umkleidet er selbst die Mätresse
von Kurtz, eine mit barbarischem Schmuck behangene schwarze Schöne:
„Sie war stolz und erlesen, wildäugig und herrlich; in ihrem bedachtsamen
Vorwärtsschreiten lag etwas Unheilverkündendes und Feierliches"96. Ihr, die
als Priesterin, ja Schutzpatronin auftritt, hochstilisiert im Sinne einer Ästhetik
der Wildnis, verleiht Conrad einen tragischen, schmerzlichen Ausdruck, als
schwebte ihm das Bild der Düse vor. Die Erscheinung dieser schwarzen
Pallas, deren Haar zu einem Helm aufgetürmt ist, drückt ein verbotenes
Faszinosum aus; tatsächlich handelt es sich um eine Epiphanie. Doch das
Paradies ist verwüstet im Augenblick, da es entdeckt ist, zerstört vom
taxierenden Blick einer Konkupiszenz, mit welcher der Kolonialismus
Europas selbst die Natur infiziert.
Den finsteren Zauber, den Kurtz, schon vom Tode gezeichnet, im Kreis
seiner Anhänger feiert, inszeniert Conrad als schwarze Messe (ein bevorzug-
tes Thema für die Ästheten des Fin de siecle). Das Ethnologische daran ist
nur ein Vorwand: „Eine schwarze Gestalt stand auf, schritt auf langen
schwarzen Beinen, mit langen schwarzen Armen rudernd, durch die Glut. Sie
hatte Hörner — Anolopenhörner, glaube ich — auf dem Kopf' 97 . Der erste
Eindruck täuscht nicht. Der ethnologische Einschub, die Maske erklärend,
entspricht der Realitätsprüfung, die gleichzeitig Freud in seine Traumdeutung
einführte. Denn Conrad beschreibt einen Albtraum, bis hin zur Höllenglut.
Der Kulturschock erschüttert auch tradierte Religion. Kurtz ist „sacer" jen-
seits aller abendländischen Nomenklatur 98 — ein Dämon eigener Art, der
nicht mehr in Gottes oder des Teufels Namen anzurufen ist. Dreißig Jahre
vor Freud hat der Psychologe Joseph Conrad das Unbehagen in der Kultur
beschrieben; bei ihm ist es nicht mehr kurierbar. In der Weltstadt London,
dem Zentrum des Imperialismus und neuen Babylon, geht ihm die destruk-
tive Dynamik des Schuldgefühls auf, das nach dem Tode Gottes den Men-
schen umhertreibt — bis in das Herz der Finsternis. Das Subjekt, nun sein
eigener Herr, peitscht sich selber an auf seiner ,Jagd nach der Totalität", wie
Giorgio Colli mit Blick auf Nietzsche schrieb; in diesem Pathos zeigt sich ein
gieriges, anmaßendes Verlangen99.
Kurtz verkörpert die bindungslose Religiosität, die nihilistisch verwildert
zur Religion der Macht. Ihr Haupttrieb ist Maßlosigkeit, totalitärer Wille
nach dem Unendlichen, metapolitischer Wille zur Allmacht - oder um Josef
Schumpeter, den Soziologen des Imperialismus zu zitieren, „objektlose Dis-

96
Conrad 113
97
Ebd. 122
98
Zu dieser Nomenklatur vgl. Benveniste 441 ff.
99
Colli 53f.
264

position zu gewaltsamer Expansion ohne angebbare Grenze" 100 . Solche Ent-


hemmung ist Wahn. Conrad läßt seine Leser darüber nicht im Zweifel:
„Seine Seele war wahnsinnig. Allein in der Wildnis, hatte sie einen Blick in
ihren eigenen Abgrund geworfen"101. In Kurtz ist der Imperialismus selbst
zur Religion geworden. Die Allmachtphantasien sind ein verzweifelter Ver-
such, Heiliges zu erfahren. Doch Frenesie und Gewalt, Hybris und Sakrileg,
und am Ende das Grauen lassen eine Seelenwildnis wuchern, die keinen
Ausgang kennt In ihr wohnt der verborgene Gott. Der Götze aber stirbt,
mit ihm sein Kult. „Mistah Kurtz - he dead". Mit solch schlechtformulierter,
doch schlagender Verachtung quittiert der schwarze Boy das Ende. T.S.Eliot
hat dieses Wort zum Motto seines Waste Land gemacht, 1922, Conrad lebte
noch; der Sturz der weißen Götter war bereits offenkundig.
Der Autor hat Kurtz dazu bestimmt, die Rolle jenes Anklägers zu spie-
len, den das Buch Hiob in die Weltliteratur eingeführt hat; in Nietzsches
Version entspricht ihm der „Versucher". Der gefallene Engel bestätigt die
Existenz des Gottes, indem er ihn parodiert, das Heilige profaniert, dem
Herrn des Friedens, des Mideids und der Verzeihung abschwört. Kurtz ist —
mit einem Wort von Heine, das dieser auf Marx und Feuerbach münzte -
einer der „gottlosen Selbstgötter", an denen das 19. Jahrhundert so reich
war102. Als solcher ist der Rebell zugleich ein Doppelgänger, ein Imitator
Gottes, der geopfert wird, nachdem er seine Aufgabe erfüllt hat: geopfert als
Sühne für die frevelhafte Tötung Gottes, als Sündenbock für die Vergehen
eines verblendeten Volkes, zur Neubefestigung eines erschütterten Sinn-
systems. Conrad beläßt seine Figur, aller psychologischen Ökonomie zum
Trotz, in rätselhafter Widersprüchlichkeit. An der Ambivalenz des Heiligen
hält er ebenso fest wie später Freud in seinem abenteuerlichen Versuch Totem
und Tabu. Heilig, geweiht heißt zugleich: unheimlich und gefährlich. Bürger-
licher Verharmlosung des Religiösen muß dies ein Skandalon sein (zumal
beide Autoren sich ausgerechnet durch das Seelenleben der Wilden inspirie-
ren ließen). Der Todesschrei von Kurtz — „das Grauen! das Grauen!" — bil-
det auf höchst irritierende Weise die Kontrafaktur zur Passion Jesu, der am
Kreuz vergeblich nach Gott ruft und mit diesem Schrei den Geist aushaucht
(Markus 15, 34.37). Auch von Kurtz bleibt nur das Echo seiner Stimme,
„durchscheinend rein", „ein kristallines Riff 0 3 . Dem Erzähler bei Conrad
gilt dieser Tod paradoxerweise als ein moralischer Sieg. Die Riff-Metapher,
im Bann symbolistischer Dichtung zu lesen, deutet auf Scheitern, aber auf
kostbares hin; als sei in diesem Scheitern eine unmögliche Rettung enthalten.
Conrad bezeugt hier überraschende Zeitgenossenschaft zu Mallarme, dessen

100
Zitat bei M.Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866-1918 (Berlin 1983) 283
101
Conrad 124
102
Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Sämtliche
Schriften, ed. K.Bnegleb III, (2.Auflage München 1978) 510
103
Conrad 132
265

Gedicht Un coup de des 1897, zwei Jahre vor Heart qf Darkness, in der Zeit-
schrift „Cosmopolis" erschien. Auch Mallarme verwendet Grauen und
Wahn, Scheitern und Nichts als Schlüsselwörter seiner poetologischen Jagd
nach dem Unendlichen:

le mystere
precipite
hurle
dans quelque proche tourbillon d'hilante et d'horreur

das Geheimnis
überstürzt
zerschrien
in einem nahen Wirbel aus Jubel und Grauen104

Conrad wie Mallarme konfrontieren den Leser mit verwirrender Mehrdeu-


tigkeit. Kurtz ist der literarische Bruder von Mallarmes „bitterem Fürsten der
Klippe"; beide suchen das Abwesend-Göttliche durch Hybris herbeizuzwin-
gen. Mit seinem Todesschrei erringt Kurtz einen Sieg über die Lebenslügen,
ohne welche die Zivilisation nicht möglich wäre, einen Sieg aber auch über
die Gotteslügen. Beides begegnet dem Erzähler Marlow in Gestalt der Ver-
lobten von Kurtz, die er in London besucht und der er, befragt nach dessen
letzten Worten, vorlügen muß: „Ihr Name".
Kurtz, der den bürgerlichen Gott getötet hat, ohne imstande zu sein,
den wahren an seine Stelle zu setzen, ein Ankläger und ein Versucher, sühnt
diese Untat durch seinen Opfertod, stellvertretend für einen verborgenen,
wilden, unverstandenen Gott. Die Suche nach ihm war eine heilige Jagd, die
Expedition geriet zu einer Pilgerfahrt. Die Jagd galt einem exotischen Wild,
das in den dunkelsten, tiefsten Träumen des Zivilisierten umhergeistert. Con-
rad verfällt nicht wie Nietzsche der Verführung eines Anti-Evangeliums: er
legt den luziferischen Hochmut des Übermenschen bloß, der am Ende nur
ein entfleischtes Gespenst ist. Mit dem Götzen wird auch jenes Europa
entlarvt, das ihn hervorgebracht hat, um ihn im Innersten Afrikas zu
installieren. Conrads Aufklärungsmittel ist das denkbar radikalste: der Pes-
simismus. Mit seinem Affront, der die verdrängte Wahrheit des Lebens in
der Wildnis sucht, trifft er sich mit Rimbaud, der die Literatur verließ und
bis nach Afrika ging; denn die Wildnis als Chiffer für Selbstprüfung und
Askese ist der Ort der Wahrheit. Und wie Rimbaud erlebt Joseph Conrad
die Albträume, die aus abgespaltener, herrenloser Religiosität hervorwuchern
wie Metastasen. Um seine Gottesjagd thematisieren zu können, muß Conrad
den Versucher ins Herz der Finsternis, in den dunkelsten Kontinent der
Seele führen. Worauf die Jäger (und auch die Leser) wider Willen stoßen, ist

Mallanne, Un coup de des, dt. von W.Dürrson, in: Akzente 39 (1992) 120/123
266

ein Gegengott mit grausam verzerrter Maske, der heiligen Schrecken


verbreitet. Die Maske der Selbstvergottung aber verweist aufs wahre Antlitz.
Conrads Roman endet mit der Parabel vom Rückfall Europas in die
Barbarei. Wie alle Pessimisten laßt der Autor die Natur über die Geschichte
triumphieren. Die schwarze Wolke, die vom Meer her in die Themse
mündung eindringt, auf London, das neue Babylon zu, ist apokalyptisches
Vorzeichen. Die Themse, nicht der Kongo, führt hinein „ins Herz einer
unermeßlichen Finsternis" 105 .

Conrad 144. Zur literarischen Kritik des Eurozentrismus bei Joseph Conrad vgl. E.Said,
Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht
(Frankfurt/M. 1994) 60ff.
10. Kapitel
Vergänglichkeitszauber
Nimm fort die Amarylle.

Gottfried Benn

Das Scheitern des Idealismus kann zur Revolte, zur Manie, aber auch zur
schmerzlichen Versöhnung mit dem Realitätsprinzip fuhren. Die vieldeutige
Signatur „Realismus" bezeichnet ein Zentralproblem des 19Jahrhunderts:
die Frage nach dem Sinn und nach der Würde von Wirklichkeit. Der Glaube
an das Leben, gern biologistisch verbrämt oder verklärt, errichtet ein neues
Wunschbild der Unsterblichkeit. Dieses Idol - und nicht mehr die mit dem
Anden regime versunkene Glücksreligion - steht auf dem Altar des Jahr-
hunderts. Nietzsche wird dieses Bild, das als einziges den Schlägen seines
philosophischen Hammers widerstand, mythopoetisch zur Ewigen Wieder-
kehr steigern. Doch gibt es auch die Verweigerung: einer von den Agnosti-
kern ist Gottfried Keller. Nicht, daß es ihm an Glücks- und Unsterblich-
keitswünschen gefehlt hätte. Doch aus Verletzungserfahrung und Versuchen
der Selbstheilung heraus, die Adolf Muschg in seiner psychoanalytisch orien-
tierten Studie plastisch geschildert hat, wendet sich Keller vom schönen
Scheinen ab. Umso inniger läßt er sich trösten von der Natur, die als die
Hüterin des Lebens auftritt, für Keller zugleich eine Art Mutterersatz ist. Das
umkleidet sie mit hoher Würde: so tritt der Naturfrieden buchstäblich an die
Stelle des Gottesdienstes 1 . Das Leben der Natur - nicht umsonst wird das
Grün zum Signum von Kellers Romanhelden Heinrich - hat teil am Tode
wie an der Wiedergeburt. Daraus schöpft Kellers Daseinsglaube, der immer
auch Todesglaube ist. Seit der Begegnung mit Feuerbachs Anthropologie, die
ja realistisch gewendete Theologie sein wollte (seit den Heidelberger Stu-
dienjahren 1848/49 also), verabschiedet sich Keller auch von den Trugbil-
dern Gottes, um der Wahrheit des Lebens die Ehre zu geben. Weltgläubig-
keit, bürgerlich-praktisch gesonnen und doch für das „Stillesein" offen,
macht sich hier frei vom alten Kinderglauben. „Das lyrische Programm von
'Sonnwende und Entsagen' verkündet einen Atheismus im Namen der Le-
bensfreudigkeit und Menschenzuwendung, der freilich seine Herkunft aus
winterlichem Verzicht nicht verleugnet und dieser Brechung den wahren Ge-
fühlston verdankt" 2 . Dem Wahn der schlechten Ewigkeit setzt Keller seinen
Vergänglichkeitszauber entgegen:

1
Muschg 71
2
Ebd. 177
268

Ich hab in kalten Wintertagen,


In dunkler, hoffhungsarmer Zeit
Ganz aus dem Sinne dich geschlagen,
O Trugbild der Unsterblichkeit.3

Die Sterblichkeit wird nun zum Sinngaranten; daß ihre Hinnahme durchaus
erkämpft ist, steigert den Wert des Daseins. Muschg findet dafür das schöne
Wort von der „Todesbürgschaft für das Leben" 4 . Aus Sinnbedürfnis schafft
sich der Mensch seinen Himmel, um ihn mit Gottesbildern, jedenfalls mit
Phantasien zu bevölkern. Feuerbachs These „In seinen Göttern malt sich der
Mensch" liefert den Hintergrund für diese poetische Verzichterklärung.
Auch Keller vollzieht die anthropologische Wende zur Sinnlichkeit, zur
Würde des Wirklichen mit, wenngleich sein Materialismus ein höchst subli-
mer ist. Sein Gedicht, so gelassen es sich ausspricht, verrät eine Enttäu-
schungsgeschichte. Der Diesseitsglaube erwächst aus einem Seelenwinter, in
dem keine der herkömmlichen Tröstungen mehr Licht und Wärme spendet.
Der Sinnverzicht kommt aus dem Herzen der bürgerlichen Vernunft selbst —
als Absage an überlebte romantische Illusion. Er bringt ein Stück Realpolitik
ins Reich der Poesie. Nicht Aufklärung, sondern Ernüchterung ist Frucht
des Sinnverzichtes. Das Unwiderrufliche solcher Ernüchterung skandiert die
Verse Kellers mit einem neuen prosaischen Pathos. Der schöne Schein wird
nun selber als Wirklichkeit genommen, alle Metaphysik daraus getilgt. Doch
läßt das Sinnbedürfnis sich nicht leicht abspeisen. Der Dichter, um Dichter
zu bleiben, bedarf einer Mythologie, die seinem Sinnverzicht Sinn gibt. In
der Nachfolge des „Realisten" Goethe — ein produktives Mißverständnis -
greift Keller nach dem Mythos Natur; nur hier findet die Hoffnung auf
Sinnbilder Nahrung. Das Werden und Vergehen wird zum Garanten des
Seins:

Nun, da der Sommer glüht und glänzet,


Nun seh ich, daß ich wohlgetan!
Aufs neu hab ich das Haupt bekränzet,
Im Grabe aber ruht der Wahn.5

In Kontrafaktur zur religiösen Sprache wird der Lobpreis des irdischen


Sommers zum „Wohlgetan", wird das Herz als letzte Instanz des Gefühls
pagan gefeiert: der Kranz, nicht das Kreuz ziert das Symposion. Der abge-
storbne Auferstehungsglaube sieht sich als Wahn begraben. Nicht das leere
Grab, das mit Zweifeln und Hoffnungen ängstigte, sondern der sicher be-
stattete Wahn — Keller gönnt ihm das Verbum „ruhen" - begründet den

i G.Keller, Aus dem Leben I (1849), in: Gedichte 259


* Muschg 180
5
Keller, Gedichte 259
269

neuen Glauben. Eine Generation vor Nietzsche wird hier der Tod Gottes
verkündet, werden die tönernen Götzen von Thron und Altar gestürzt.
Damit konnte sich Keller im Einklang mit der Fortschrittsgeschichte
wähnen; in den Grobianismus linkshegelianischer Religionskritik ist er je-
doch nie verfallen. Seine Weigerung, Abgelebtes zu konservieren, reicht tie-
fer. Bei allem Selbstgefühl ist sie geprägt von tapferer Trauer. „Die Ge-
schichte von Kellers Todesglauben trägt deswegen - freiwillig oder nicht -
religiöse Züge, weil sie ein so radikal weltliches Martyrium ist"6. So fällt der
Natur, ihrem leuchtenden Diesseits, fern von allem literarischen Dekor, an-
thropologisch eine neue Rolle und neue Würde zu. Bei Keller wird Natur
gleichsam zu einer Ikone — wie sonst nur bei C.D.Friedrich und Stifter. Sein
Weltvertrauen vertraut noch der Vergänglichkeit des Schönen: erst von hier
erhält es die Magie des Hier und Jetzt. Im Ablösungsprozeß des 1 Q.Jahr-
hunderts von theologisch durchformten Sinnstrukturen kehrt Keller, an der
Geschichtsphilosophie wie aus Instinkt vorübergleitend, sich einer tieferen
Schicht — dem Naturwesen Mensch zu. Zum Lebensgesetz der Natur aber
gehört der Tod, zu ihrer Ästhetik auch der Vergänglichkeitszauber. Goethes
Formel „Stirb und Werde", als Credo eingehend in bürgerliche
Weltfrömmigkeit bis hin zu Haeckel und Bölsche, entfaltet in Kellers Ge-
dicht eine verschwiegene Todeserotik. In seinem Blumenbild scheint das alte
Vanitasmotiv vor dem Verlöschen noch einmal verführerisch auf:

Nun erst versteh ich, die da blühet,


O Lilie, deinen stillen Gruß:
Ich weiß, wie sehr das Herz auch glühet,
Daß ich wie du vergehen muß!7

Diese Botschaft meint nicht ein ewiges, sondern ein flüchtiges Nun. Sein
sinnlicher Zauber lockt aus der Geschichte heraus; Natur wirkt kraft des rei-
nen Augenblicks, mit dem sie den Schauenden bannt. In dieser Trauer ver-
birgt sich unaussprechliche Heiterkeit.

Nature morte, Stilleben, tote Natur - daß sie die Lyriker und Maler inspiriert,
sagt etwas über das Distanzerlebnis, mit dem die Neuzeit Wirklichkeit er-
fährt, seit Descartes die Dinge als „res extensae", als bloße Objekte zu be-
trachten lehrte. Der forschende Blick ist zugleich der distanzierende, er ent-
rückt, was er sieht, in den vergänglichen Augenblick. Im Hier und Jetzt der
Stilleben waltet die Vanitas; ihrer Faszination ist schwer zu widerstehen.
Nicht von Naturnähe, sondern von Naturferne sprechen die Stilleben der

6
Muschg 185
7
Keller, Gedichte 259
270

Moderne. Niemand als Benn hat dies tiefer empfunden. Ein Jahrhundert
nach Keller erliegt auch er, sich selbst schon historisch geworden, im Ama-
ryllis-Gedicht dem Zauber melancholischer Entsagung. Altern als Problem
für Künsder -: das von Benn selbst gelieferte Stichwort berührt mehr als eine
lebensgeschichtliche Situation. Es enthält, dem Credo des Nihilismus getreu,
eine nur noch privat formulierbare Ästhetik der Zerstörung: „Es gibt Zerstö-
rung - wer sie kennt, kennt Meines". So Benn brieflich an seinen Freund
F.W.Oelze am 28.November 1952. Im Januar 1953 folgt diesem Prelude
das Amaryllis-Gedicht mit seiner Absage an alle Natura naturans. Selbst die
Schönheit, ziellos erblühend, wird unerträglich in ihrer Leichtigkeit:

Ich kann kein Blühen mehr sehn,


es ist so leicht und so gründlich
und dauert mindestens stündlich
als Traum und Auferstehn.8

Irdische Freuden und Sinnhunger zugleich in sich abtötend, bringt Benn sein
Opfer einem unbekannten Gott. Und dennoch ist es ein Passionsgedicht, das
in radikal verweltlichter Eschatologie im Augenbbck die Letzten Dinge
wahrnimmt:

Nimm fort die Amarylle,


du siehst ja: gründlich:- sie setzt
ganz rot, ganz tief, ganz Fülle
ihr Eins und Allerletzt.9

Das Allerletzt als Augenbbck der Wahrheit, als Ende des selbstgewählten
Truges. Die tiefen Bbcke, das erotisierende Rot, die Fülle des Versprechens —
hier blüht die Illusion zu letzter Schönheit auf. Benn dichtet einen Abschied,
ein Stilleben, also ein Vanitasbild. Der als Zeitgenosse den Untergang von
Reichen miterlebte, bbckt nicht auf die Geschichte — deren Scheitern offen-
bar wurde -, sondern auf eine Blume. Er verabschiedet sich von ihrem Blü-
hen und seinem Verlangen danach. Mit dem Sinn schwindet die Vanitas, die
vom Verlangen nach Sinn lebt:

Was wäre noch Stunde dauernd


in meinem zerstörten Sinn,
es bricht sich alles schauernd
in Augenblicken hin.10

s Benn, SW I, 259
'Ebd.
i» Ebd.
271

In ictu oculi - „In einem Augenblick" lautete das Warnwort von Vanitasbil-
dern des lö.Jahrhunderts. Benns Verse verabschieden jenes Subjekt, das be-
wußtseinsgeschichtlich mit dem „Erlebnis" bei Goethe erwachte. Bei Benn
regiert der Zauber des Zerfalls. Ihm, der letztes Naturgesetz ist, gibt der
Dichter sich ohne Zögern hin.
In seiner Autobiographie, die bezeichnenderweise Doppelleben heißt, hat
Benn wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, im halbzerstörten, geteilten
Berlin, die Grundlagenkrise der Neuzeit mit Blick auf das Handwerk des
Dichters skizziert. Ein Abschnitt präsentiert die Überschrift Naturfremdheit
wie ein Programm:

Die Natur ist eine seltsame Umgebung, verlaßt man sein Zimmer,
schon die gewöhnliche Luft hat fremdartigen Charakter. Ein Strauch
mit Blüten in einer Stadtstraße - das genügt, oder ein andermal ein
Blick zum Himmel, zu einem grauen Himmel, gegen den ein Vogel
fliegt, kein feiner, ein Star - und dann beginnt die Nacht. Wir sind aus
Riesenstädten, in der City, nur in ihr, schwärmen und klagen die
Musen."

Ein Blick genügt dem Dichter zur Inspiration - die Vision strudelt Bilder,
Töne und Verse heran, Assoziation von kurzer Dauer, Glück auf des Mes-
sers Schneide, Poesie als Gratwanderung. Natur bleibt dem in die Großstadt
Verpflanzten für immer Gegenwelt - als Mythos und Metapher eines Ande-
ren, das sich nicht fassen läßt. Auch hindert Benn eine Scheu, das Phänomen
bis ins letzte analysieren zu wollen. Was der Natur — allenfalls Stadtpark —
entgegentritt, ist Kunst. Sie hat bei Benn den Rang eines Artistenevange-
liums: nur ästhetisch, nicht historisch ist Welt zu rechtfertigen. Benns Abnei-
gung gegen alles Geschichtliche (nach dem gescheiterten Unterwerfungsver-
such unter den Volksgeist von 1933) trägt die Züge aggressiver Enttäu-
schung: „Scharlatan - das ist kein schlimmes Wort, es gibt schlimmere: hi-
storisch und grundsuppig. Und die Einladungen und die Blumen auf dem
Tisch und das Gemüt? Ich persönlich besitze nichts davon. Ich besitze Mü-
digkeiten, Melancholie, produktives Aufbrausen, Zögern, Zaudern, Zau-
bern"".
Kein Gemüt also (Benn haßte die Innerlichkeit), aber dafür ein Vanitas-
rausch, um den Roman des Phänotyp, jenes in der Landsberger Kaserne 1944
verfaßte Fragment, als Wortoper zu inszenieren - mit Rezitativen und Arien.
Eine davon, betitelt Geographische Details, ruft zwischen antik stilisierten, wie
von Marees oder Böcklin gemalten Ideallandschaften (mit den Versatz-
stücken „Styx, Delphi, Olivenwald") ganz unerwartet die hexenhaft herein-
brechende Wildheit sarmatischen Landes herauf:

" Benn, Doppelleben VII (SW V, 161)


12
Ebd. 170
272

Steppenwinter, furchtbare Schneegestöber, die Luft gänzlich undurch-


sichtig, eine Windhexe kündigt sie an: Klumpen von verdorrten
Pflanzenstengeln, eine Art Kollerdistel, ballen sich zusammen, wach-
sen riesengroß, rollen und springen. Alles flieht, kein Wolf denkt an
Beute! Hernach die Frühlinge, Wasserüberfülle, ganz das unruhige
Element, widerliche, schmutzige Morastgärungen, dann zwar Krokus
und Tulpen, aber alle Kräuter grob, groß, strunkig, bei genauem Hin-
sehn weit auseinanderstehend, kein Vergleich mit Surrey und Argo-
lis."

D e r Text, rauh komponiert, begegnet Widerständen, und er schafft Wider-


stände in Sprache u n d Bildern. Seine Landschaft, symbolische Geographie,
versammelt Wildes u n d Sperriges, formlos ins Weite Gesätes unter d e m
M o t t o des „Sarmatischen". D a s Unheil, das die Geschichte im Kriegswinter
1944 bereithält, schickt allegorisch seine V o r b o t e n voraus. Diese sarmatische
N a t u r hat durchaus kathartische Funktion; sie arbeitet der großen G e -
schichtskritik vor, stimmt auf den Verlust der Illusionen ein. Erst nach d e m
geographischen Rezitativ, das ein Bedrohungsgefühl in O r n a m e n t e des H ä ß -
lichen faßt, gibt B e n n sich der B e t ä u b u n g des Belcanto hin. Im D u r c h g a n g
durch dieses Winter- u n d Hexenland erscheint, wie in Goethes Lied der
Mignon, ein utopisch-antikisches Südland als Reich finaler Lust. Wie Benn
schon in seinem Essay Urgesicht 1929 schrieb: „ D a s Leben will sich erhalten,
aber das L e b e n will auch untergehn" 1 4 .
So läßt auch die Sprache sich fallen, gemeßt sich selbst in einer Arie, die
Benn als E r b e n des Symbolismus zeigt, dem er insgeheim lebenslang hul-
digte:

Wo du auch hinhörst, es ist letzter Klang, immer Ende, finale Lust,


von hohen Schneefeldern stürzt ein Bach, ein Wald von grauen Öl-
bäumen schmilzt herauf aus der Tiefe, Trauer und Licht, wie still das
alles in dir ruht, und dann die endenden Sommer mit dem Violett der
Distel und der schwefelgelben, der heißen süßen Rose Diane vain-

N a c h d e m östlichen Schrecken die südliche Verklärung, der Ausgang aus der


G e s c h i c h t e leuchtet in Blumenfarben, in Violett u n d Gelb, ortlos die Sehn-
sucht, n u r n o c h im W o r t sich ergehend, im Liebesakt der Sprache mit d e m
Tod.
D i e Ästhetisierung des Schreckens, den die Geschichte verbreitet, ge-
schieht v o r a b durch Mythisierung. Sie gilt jedoch auch den Naturgesetzen

13
Benn, Roman des Phänotyp. Geographische Details (SW IV, 407f.)
u
Benn, Urgesicht (SW III, 211)
15
Benn, Roman des Phänotyp. Geographische Details (SW IV, 408)
273

Vergänglichkeit und Tod. Benn entwickelt an ihnen, lange vor Cioran und
Gianni Vattimo, seine poetische Lehre vom Zerfall. Was den Lyriker und die
Philosophen verbindet, ist ihre Nachfolge Nietzsches im Zeichen des
Nihilismusproblems. Sie stehen gemeinsam, ästhetisch wie hermeneutisch,
jenseits des von Nietzsche entwerteten Subjekts, das im Zeitalter Hiders und
Stalins vollends ad absurdum geführt wurde. Denn die Geschichte selbst als
Wert- und Sinnzerfall ist nihilistisch, daher zu überwinden 16 . Die Metaphysik
ist zur Fabel geworden, die Umwertung der Werte unumkehrbar. Nach dem
Tod Gottes sind wir nirgendwohin unterwegs; denn „eigentliches" Sein ist
nach Nietzsche bloß Mystifikation. Dabei betont Vattimo in einem herme-
neutischen Ansatz, der Nietzsches Nihilismuskritik kreativ umdenkt, daß ge-
rade die Vergänglichkeit den Dingen und Geschöpfen ihren Wert gibt: „Der
Tod ist der Schrein, in dem die Werte aufbewahrt sind: die Lebenserfahrung
der vergangenen Generationen, die Großen und Schönen der Vergangenheit,
mit denen wir Zusammensein und sprechen wollen, die Personen, die wir
liebten und die verschwunden sind"17. Aus dem Geist solch melancholischer
Retrospektive hat auch Benn seine leuchtende späte Prosa, den Roman des
Phänotyp und den Ptolemäer geschrieben.
Vattimo entwirft eine Ethik im Zeichen der Ehrfurcht (pietas) gegen-
über dem Lebendig-Vergänglichen und seinen Spuren. Seine „Ontologie des
Verfalls" (ontologia del declino) stellt der projektiven Geschichte den Kult
der Erinnerung, der Pietas entgegen18. Angesichts der Umstürze und Schrek-
ken, die das prometheische Zeitalter seit 1789 in die Welt gebracht hat, ent-
scheidet sich der Hermeneutiker für die Vergangenheit, für „Kristallisatio-
nen, Werke, Ruinen", und gegen eine terroristisch hergestellte Zukunft19.
Denn Terror ist die Machbarkeit der Dinge, die der Prometheus der Neuzeit
als Sinnhorizont zu installieren sucht. Die Absage an revolutionäre Verände-
rung in Geschichte und Philosophie - für Vattimo ist Revolution etwas Bar-
barisches - läßt alle Dinge, wie sie sind, beläßt ihnen die Würde des Verfalls:
weil das Leben, mit Nietzsche, Auslegungsspiel, Wachstum und Sterblichkeit
ist20. Darin sieht Vattimo den Kern des „schwachen Denkens" (pensiero de-
bile), das die gepanzerte Stärke der Metaphysik und ihrer Sinnrüstung ablegt
und sich zu seiner Endlichkeit, Alltäglichkeit, ja mit Heidegger zu seinem
Vorlauf zum Tode bekennt. Philosophie wird dann, wie bei den alten Grie-
chen, zur Einübung ins Sterben. Frappierend bleibt, wieviel davon in der
Poetik des späten Benn verwandte Züge zeigt. Benns „Nihilismus" ist eben
nicht lebens- und menschenfeindlich, sondern die gelassene Hinnahme der

16
Vattimo, Das Ende der Moderne 23ff. sowie E.M. Cioran, Lehre vom Zerfall (Stuttgart
1987) 180f. Ähnlich hat sich E.Jünger in seinem Essay Über die Linie (1950) geäußert.
17
Vattimo, Jenseits vom Subjekt 17
18
Ebd. 11
"Ebd. 19
20
Ebd. 33
274

eigenen Schwäche, ist Vanitaswissen, Vergänglichkeitsbewußtsein, das dem


Nichts ontologisch die Form entgegenhält
Die finale Lust, von der Benn im Roman des Phänotyp schwärmt, wird ge-
weckt, um die Geschichte auszulöschen. Solches Verlangen ist freilich gesell-
schaftlich-politisch nicht verwertbar; es verzehrt sich im Ästhetischen. Das
Vanitasgefühl liefert dazu seine Stilleben und diverse Genreszenen (Notturno,
1950):

Im Nebenzimmer die Würfel auf den Holztisch,


benachbart ein Paar im Ansaugestadium,
mit einem Kastanienast auf dem Klavier tritt die Natur
hinzu -2'

Die Natur gibt poetische Stichworte, aber sie selbst bleibt verborgen —
Stimme hinter dem Vorhang. Ihr Verborgensein ist, im Sinne negativer
Theologie, zugleich ihr Heiliges. Für Benn ist Natur kein metaphysisches
Phänomen, sondern einzig noch ein ästhetisches. Er braucht nicht zu reisen,
das „Südwort" Blau genügt. Seine Meere und Atolle, Gladiolen und
Levkoienwellen sind sämtlich Kunstprodukte - dem Tagtraum eines späten
Ich entsprungen. Sie reihen sich ein in eine umfassende ästhetische Theorie
des Nihilismus: indem sie helfen, die Tabula rasa mit autonomen Zeichen zu
beschreiben, die auf nichts mehr verweisen, sondern Vergängliches feiern,
sich selbst genug, aufleuchtend für die Dauer eines Verses. Das Aggressive,
Zynische, Wilde an Benn, das oft getadelt, öfter noch mißverstanden wurde,
hat in dieser Poetik seine bestimmte Funktion: Es evoziert im Bruch der
Konvention jenes Erhabene, das selbst nicht mehr aussagbar ist. Das Wilde
bei Benn ist die Maske des Schönen. In seiner Aggression verbirgt sich eine
ungezähmte Trauer über Vergänglichkeit.
Solchen Vergänglichkeitszauber hat Benn seit dem Ausklang seines mi-
litanten Expressionismus gerne zelebriert. Ein Vorspiel dazu ist das Gedicht
Stunden, Ströme von 1926: sechs klassisch stilisierte Strophen suchen ein tiefes
Entgrenzungsgefühl in magischer Schwermut zu bannen. Sie feiern das
Fließen der Zeit, heraklitisch gesteigert zum Fließen der Dinge, charontisch
getönt im Anklang an die „Flut der Fährensage". Das Vanitasmotiv geistert
durch Evokationen einer Seelenlandschaft, worin Natur und Geschichte
todesselig ineinanderrinnen:

Wo die Wälder glanzverloren


von zerstückten Hügeln gehn,
Marmorbrüche mit den goldnen Poren
stumm wie Löwen in die Grube wenn.22

21
Benn, SW I, 243
22
Ebd. 125
275

Ruinenlust und Zersetzungsmanie unterstellen Natur dem Fatum des Ver-


falls. Im Pathosbüd des nach Auflösung, ja nach Erlösung sich drängenden
Felsens bereitet sich — zwischen Goethe und Freud changierend — Entsagung
als Schlüsselformel für Verwandlung vor:

Und der Fels drängt ihrer Lust entgegen,


unter Ranke, unter Hechtenmoos
ist er schon auf allen Wegen
zum Zerstörungslos.23

Das Reich, wo es zusammenrinnt -: in dieser Verblutungsmetapher, welche


die große Auslöschung preist, erlebt auch Benn das Abendland als Reich des
Untergangs. Eine symbolistisch inspirierte Mythologie läßt Meer und Him-
mel im kosmischen Liebeskampf eins werden: „dunkle Meere, Sonnendia-
dochen,/ welche Himmel, die so tödlich sind". Der Aufblick zu diesen
Himmeln, der schon das Scheitern enthält, erinnert an die „Krankheit des
großen Flugs", die Benn wenige Jahre später resignierend verabschieden
wird24. Es ist als befolgte Benn jene Maxime Freuds, die dieser im Kriegsjahr
1915 ernüchtert und entsagend formulierte: „Wenn du das Leben aushalten
willst, richte dich auf den Tod ein". Vor der Kulisse einer Weidandschaft
spielt sich in Benns Gedicht eine neue Alexanderschlacht ab. Eros und Tha-
natos liegen im Widerstreit: so lockend wie der Schoß des Meeres ist der so-
lare Glanz des Untergangs. Finale Lust behält das letzte Wort.

Der Gedanke der Endzeit hat niemals sein Faszinosum verloren; es ist, als
hefte sich gerade an ihn die paradoxe Hoffnung, dem Labyrinth der Ge-
schichte doch noch zu entkommen. Guido Morselli, der Skeptiker und Frei-
geist, der wie Pavese durch Selbsttötung endete, hat in seinem letzten Roman
Dissipatio humani generis oder Die Einsamkeit (1977) die Vision einer menschen-
leer, also geschichtslos gewordenen Welt präsentiert. In dieser säkularisierten
Apokalypse holt die Natur sich zurück, was die Geschichte ihr raubte. Mor-
sellis Freude an diesem Vergänglichkeitszauber ist unübersehbar — eine voll-
kommen philosophische Freude, angereichert mit überlegener Ironie. Die
Wonnen der Vanitas kostet Morselli bis zur Neige aus. Der Titel Dissipatio
humani generis (Die Zerstreuung des Menschengeschlechts) spielt an auf eine
apokryphe Schrift des neuplatonischen Philosophen Jamblichos, der um 300
in Syrien wirkte und ein Schüler des Porphyrios war; ausgeprägt okkulte In-
teressen sowie Vorliebe für Mysterien und Magie werden ihm nachgesagt.

"Ebd.
24
Benn, Urgesicht. 1929 (SW III, 202)
276

Ihm verdankt Morselli das Plot seiner Erzählung: An einem Sommermorgen


verschwindet die Menschheit, laudos und spurlos, so wie es Jamblichos im
eschatologischen Gedankenspiel der „dissipatio" beschrieb - von Morselli
aus dem Geist und mit dem Buchstaben der Technik als „Verdunstung" oder
„Zerstäubung" gedeutet25. Zurückbleiben die Dinge des Lebens und ein ein-
ziger Zeuge - eben der Ich-Erzähler, der ein verhinderter Selbstmörder ist.
Die Natur indessen schickt sich an, die Stadt Chrysopolis - in ihr spielt der
Roman — langsam, doch unaufhaltsam zurückzuerobern.
Es gehört zur Ironie Morsellis, daß er das Ende der Geschichte ausge-
rechnet in die „Goldstadt" Zürich, in ein Zentrum neuzeitlicher Geldwirt-
schaft verlegt: Mit dem Herzen des Kapitalismus wird, gut marxistisch, die
Geschichte selbst als Agentin von Entfremdung und Verdinglichung getrof-
fen. Aber Morselli ist kein Eiferer, sondern ein unwiderleglicher Skeptiker.
Nicht Ideologisches interessiert ihn, sondern die Utopie vom Triumph der
Natur. Man muß darin nicht Parteinahme für eine bestimmte ökologische
Politik sehen; für Morselli genügt die Erfahrung, die jeder Gärtner macht,
daß mit dem Verschwinden des Menschen die domestizierte Natur wieder
zur Wildnis wird — ohne Rachsucht, ohne Bedauern und ohne Hemmungen.
Auch so wäre der Ausgang der Geschichte denkbar, ganz unkatastrophisch.
Ein wenig Erde über den Asphalt: „nicht viel mehr als ein Schleier, und doch
grünt und wächst bereits etwas, und zwar nicht das übliche städtische Gräs-
lein; es sind Wildpflanzen. Der Markt der Märkte wird sich in eine Wiesen-
landschaft verwandeln" 26 . Die Lust am Untergang, seit Friedrich Sieburgs
kritischen Diagnosen deutscher Befindlichkeiten, ist gerade ein Merkmal
prosperierender, zugleich existentiell gelangweilter Gesellschaften. Morsellis
Kulturkritik, die ein Gutteil des schmalen Romans in Anspruch nimmt, ent-
springt in den siebziger Jahren ähnlicher Stimmungslage, nun aber zugespitzt
auf eine Mediengesellschaft, die Wirklichkeit nur noch als simulierte wahr-
nimmt. Die Geschichte endet nicht durch metaphysischen Eingriff, nicht
durch historische Großkatastrophen; kein Jüngstes Gericht, kein Weltenrich-
ter mehr, kein atomarer Holocaust. Die Geschichte endet, weil die Menschen
ihrer überdrüssig werden: als hätten die Genozide des 20Jahrhunderts auch
die Überlebenden mit ihrem Tod infiziert. Morsellis Verzicht auf das Pathos
ist Verzicht auf die Metaphysik.
Keine Soziologie vermag dieses Bedürfnis nach Selbstauslöschung hin-
reichend zu erklären. Das Gen des Todes, wie Benn dergleichen nannte, er-
zeugt bei Morselli die suizidäre Lust. Doch bleibt sie privat, es gibt keine To-
desgemeinschaft: „zum selben Ziel, aber nicht in der Menge"27. Und wie bei
Benn „kann keine Trauer sein"28. Der ganze Vergänglichkeitszauber entfaltet

25
Morselli 83
26
Ebd. 153
27
Ebd. 103
28
Benn, SW I, 7
277

sich in den eingeblendeten Natursequenzen, welche die alte Gattung des Bu-
kolischen wiederbeleben. Die Höhenwege suchend (und den Kontrast zu
Chrysopolis) malt der Autor auf Nietzsches Spuren ein alpines Idyll: „Über-
wuchert von Heidekraut, Wacholderbüschen, von hellen Bächen durchzo-
gen, umgeben von flechtenbewachsenen Felsen; und manch einer dieser
Felsblöcke ist schon für sich ein vollkommes kleines Gebirge. Die Gletscher
des Montäsc öffnen sich fächerförmig, und ich erinnere mich, wie ich sie in
der Morgenröte sich entflammen sah, über den unteren Schneefeldern, die
die Farbe der Nacht bewahrten" 29 . Morgenröte - das war Nietzsches Stich-
wort für den Anbruch einer neuen Ära, Symbol für eine Vitalität und Phan-
tasie jenseits der Herdenmoral. Morsellis Umwertung aller Werte traut dem
Genus humanum freilich keine Daseinskraft mehr zu; darin geht er weit über
Nietzsche hinaus. Utopisches heftet sich einzig noch an die Natur, die als
letzte Instanz nach der Geschichte bleibt und ihr Erhabenes der Einsamkeit
verdankt. Ihr Telos ist Selbstaufhebung, prosaischer: Verschwinden. Das
weltliche Evangelium der Moderne, das historisch-anthropologische Dogma
von Fortschritt und Entwicklung, wird lustvoll preisgegeben: ,,Auf dem Gip-
fel seiner triumphalen Evolution ergründet das Ich die unmittelbaren Wege
zum Nicht-Ich: nicht den langsamen Abstieg in die Entropie, sondern die ra-
sche und totale Autodestruktion" 30 .
Der Wunsch nach Selbstaufhebung als Finalität der Geschichte - diese
postmoderne Ketzerei berührt sich mit den geschliffenen Bosheiten von
Cioran, dem Verächter des Aktionismus, der das Genuine einer Existenz in
ihrem Untergang sieht31. Doch anders als Cioran, der Himmel und Erde
„ausgepreßt", das All „vertrocknet sieht32, stellt Morselli noch die geretteten
Ikonen der Natur auf. Ein Rest von Verehrung für die Ästhetik des Erhabe-
nen, sentimental vielleicht, aber rhetorisch wirksam, gibt der Landschaft in
den Augen des letzten Betrachters einen Hauch ontologischer Würde. Das
Wissen, daß die Geschichte vorbei ist, taucht die Naturphänomene in escha-
tologisches Licht:

Die Gletscher des Montäsc treten aus den Wolken, aber heute kann
man sie leicht mit dem tiefhängenden und eintönig weißen Himmel
verwechseln: Und da sich auch auf der gegenüberliegenden Seite die
Gletscher der Karessa enthüllt haben (ähnlich und ebenfalls mit den
Wolken verschwimmend), habe ich den Eindruck, als bildeten sie eine
einzige zu einem Gewölbe gekrümmte Masse; es gibt keinen Himmel,
ich stehe im Mittelpunkt einer nesigen Eishöhle. Sie wird von den
Wänden der beiden Massive gestützt; im Moment. Von einem

29
Morselli 101 f.
30
Ebd. 101
51
Cioran, Lehre vom Zerfall (Stuttgart 1987) 88
32
Ebd. 151
278

Augenblick zum anderen könnte sie zusammenbrechen und einstür-


zen; oder ganz langsam auf diese Steine herabsinken, auf mich.33

Die Szenerie, gleichsam in einem leichten Höhenrausch erfaßt, atmet die


flimmernde Kühle gewisser Gebirgsbilder von Segantini. Die „Posthistoire"
gibt dem Roman Morsellis Atmosphäre, wird zur Voraussetzung reiner Na-
turanschauung, die interesselos absieht von jeder Verwertung, einzig das
Spiel der Kräfte und der Erscheinungen wahrnimmt. Endastet von jeder Su-
che nach Sinn, und damit auf besondere Weise frei, wird das Auge selbst
zum Instrument der Erkenntnis. Erst mit dem Verschwinden des Sinns — der
immer historisch bedingt, ja selbst ein Geschichtskonstrukt ist — vermag der
Mensch wieder sinnlich zu werden. Denn stets ist es Geschichte, die sich
zwischen den Betrachter und das Betrachtete stellt; sie prägt noch die Wahr-
nehmungsmuster unseres Unbewußten. So konnte Nietzsche, ein Liebhaber
der Alpen wie Morselli, den philosophischen Rat erteilen, sich um der Er-
kenntnis willen naturnah und einsam zu machen, mit der Metaphysik auch
die Historie zu überwinden: „Man lebte zuletzt (...) mit sich wie in der Natur,
ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an Vielem sich wie an einem Schauspiel
weidend, vor dem man sich bisher nur zu fürchten hatte"34. Auch Morsellis
Gebirgskulisse entspricht allen Erfordernissen des Erhabenen. Noch das
Ruinenmotiv trägt dazu bei: die Ahnung des Einsturzes läßt den Vergäng-
lichkeitszauber in einer Eishöhle aufblühen.
Wenn die Geschichte zerstört ist vom egoistischen Wunsch des „cupido
dissolvi", bleibt die Natur als letzte Projektionsfläche für Sinn. Der Ich-Er-
zähler, einsam wie Adam vor Evas Erschaffung, im Gegensatz zu diesem je-
doch voll von Erinnerungen, also Enttäuschungen, wandert auf der Roßner-
alp oberhalb von Chrysopolis - „auf der Suche nach dem metus silvanus,
dem antiken, fabulösen pavor montium. Das ist kein Gerede: Der Verlust
der Ehrfurcht, die die weite und unberührte Natur dem Menschen einzuflö-
ßen pflegte, war eine der vitalen Beeinträchtigungen, an denen unsere Epo-
che litt. Jetzt gibt es niemanden mehr zwischen mir und der Natur, die Fel-
sen und Gletscher bedeuten Einsamkeit, Größe im Reinzustand; ich muß ihn
wiedergewinnen, wieder kosten"35. Wie Nietzsche, der vom Menschlichen,
allzu Menschlichen Erschöpfte und Enttäuschte, in den Schweizer Alpen
nach seinem Arkadien und seinem Pan unterwegs war, so verlangt den Er-
zähler nach dem Anhauch der Metaphysik, den die Natur seit der Romantik
schenkte. Dahinter steht mehr als der Überdruß an der Geschichte, nämlich
die seit Hobbes notorische Erfahrung, daß der Mensch für den Menschen
ein Wolf ist. Der Zyniker des 20Jahrhunderts stuft diese Heraldik noch um
einige Grade herab: „ich habe Angst vor dem Menschen, wie vor den Ratten

» Morselli 102
M
Nietzsche, Menschliches, allzu Menschliches I, 34 (KSA 2, 54)
* Morselli 103
279

und Stechmücken, wegen des Unheils und der Ärgernisse, die er unermüd-
lich produziert" 36 . Der Mensch als universaler Krankheitserreger, Geschichte
als tödliche Seuche: in solchen Metaphern erfüllt sich der moderne Pessi-
mismus.
Morseliis Sprache ist kühl, zugleich unmißverständlich. Seine Schuldzu-
schreibungen sind schwer zu wiederlegen. ,,Die Menschen haben in 30 Jahr-
hunderten ungefähr 5000 Kriege angezettelt. Sie haben das Unrecht began-
gen (der Gedanke stammt von Albert Camus), die Geschichte, auch wenn sie
nicht von ihnen begonnen wurde, fortzuführen. Ich verurteile sie nicht. Ihre
größte oder jüngste Schuld bestand in der Verunstaltung der Erde" 37 . Der
Hinweis auf die ökologische Jahrhundertkrise gehörte, als Morselli seinen
Essay-Roman schrieb, noch nicht zu den Gemeinplätzen der Literatur - am
wenigsten in Italien, wo ähnliche Komplizenschaft mit der Natur allenfalls
bei Andrea Zanzotto vorkommt. Auch darin war Morselli Außenseiter; der
suizidäre Blick durchschaut gnadenlos die Illusionen des Fortschritts. Die
Zerstörung der Erde, theologisch gesprochen: der Schöpfung, erscheint als
eigentliche Schuld der Gattung Mensch; Himmel und Erde, Wasser und Luft
wurden von ihr vergiftet. Morsellis Abscheu vor dem Verwertungsdenken
hüllt sich ins härene Gewand des Solipsismus. Für ihn gibt es keine Vernunft
in der Geschichte, und darin ist er Hegel überlegen. Was es gibt, sind allen-
falls die „Konditionierung durch das Milieu und die Chromosomen" 38 . Der
größte Sündenfall aber in der Sicht des zynischen Asketen bleibt Chrysopo-
lis, die goldene Stadt, „die triumphale Durchsetzung all dessen, was ich ab-
lehne"39. In laizistischer Umdeutung der Apokalypse ereignet sich das Ende
der Geschichte am Finanzplatz mit seinen Tempeln des Geldes; zur Strafe
wird er in Nekropolis verwandelt.
Vor der Folie solcher Geschichtsfeindschaft erhält Natur eine eschato-
logische Würde, noch im Kontrast zum Gefühlsverlust, den das zurückgelas-
sene Subjekt erlebt: „Der Ort hat an Herbheit gewonnen, er ist intakt wie in
den Anfängen. Seine objektive Schönheit nimmt deutlich zu. Dagegen be-
merke ich, daß ich regungslos bin unbeteiligt. Ich registriere, ohne Emotio-
nen. (...) Die Bedrohung durch diesen so nahen und schweren Himmel ist
real. Als er sich tiefer herabsenkt, bringt der Wind, in Schüben, den Ge-
ruch der Gletscher (jenen gläsernen Geruch nach Höhle und Abgrund), und
in den Pausen ist die Stille tatsächlich urzeitlich; die Wand, die hundert
Schritte vor mir steil emporragt, ist kahl und unerbittlich, sie beschließt die
Welt"40. Die Wildnis, ohne den Menschen, der sie profaniert, ist die letzte
Maske des Heiligen. Doch sie löst keinerlei metaphysische Schauer mehr aus.

36
Ebd. 44
37
Ebd. 67
38
Ebd.
39
Ebd. 9
«° Ebd. 104
280

Ausgelöscht ist selbst jene Melancholie, die sonst am Leben hält. Der
Vergänglichkeitszauber, gebunden an das empfindende Subjekt, stirbt mit
dem Menschen.

Mit seiner Geschichtskritik steht Morselli nicht völlig allein. Wenige Jahre
nach dem Zweiten Weltkrieg hat Karl Löwith, auch er in seiner Zunft ein
Außenseiter, das Verhältnis von Geschichte und Natur radikal differenzie-
rend befragt. Er tat es entgegen allem Zeitgeist und ohne die Sinnkonstrukte
Hegels zu verschonen. In seinem Aufsatz Natur und Geschichte (1950) räumt
Löwith ein, daß dieser Gegensatz, den wir als Zeitgenossen globaler Techni-
sierung so intensiv empfinden, selbst durch Geschichte bedingt ist. Ohne die
weitreichenden Impulse, die Descartes und Vico zur Unterscheidung von
Naturwissenschaft und Geistesgeschichte gaben, wäre das Problem in seiner
Schärfe gar nicht formulierbar. Die Überwindung des Historismus, den
Hegel geschichtsphilosophisch mitbegründet hatte, wäre für Löwith freilich
gleichbedeutend mit der Überwindung seines Widerparts, der modernen
Naturwissenschaft. „Wie weit wir aber davon entfernt sind, zeigt besonders
deutlich der historische Materialismus von Marx"41. Diese Bemerkung, selbst
schon historisch geworden, erweist die Geschichte als Deponie erledigter
Weltentwürfe. Auch Marx wollte so fortschrittlich sein wie ein Industrieller,
so effizient wie ein Techniker, so exakt wie ein Naturwissenschaftler. Natur
war ihm bloß Material, Rohstoff für die Entwicklung der Produktionsge-
schichte. Marx träumte von einer gezähmten Natur. Das tat auf seine Weise
auch der Historismus, der die Geschichte zum einzigen Sinnhorizont erhob 42
und die Natur — für Leonardo und Goethe Vorbild der Kunst und Gesetz-
geberin - als vernunftlos entthronte. Diese Vorstellung reicht tief hinein ins
20.Jahrhundert. „Was an Natürlichem übrigbleibt, scheint ein bloßer Restbe-
stand von noch nicht vom Menschen Bewältigtem zu sein"43.
Dies war der Stand der Dinge um 1950, als die Atombombe den Gipfel
menschlicher Denaturierung anzuzeigen schien und bei Günther Anders und
Jaspers als apokalypüsches Symbol schlechthin füngierte. Heute, nach dem
Ende des Ost-West-Konfliktes, da selbst die Doppelherrschaft von Politik
und Technik an ihre Grenzen stößt, ist Welt als Physis und Kosmos noch
weniger mit Geschichte gleichzusetzen. Das ausgehende 20Jahrhundert hat
Löwiths These bestätigt: Die Frage nach dem Sinn der Welt läßt sich nicht
auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte verengen. Damit entfällt ein
Teil jener Kritik, auf die Karl Löwith stieß. Hatte doch J.Habermas ihm

41
Löwith 158
42
Dazu H.White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19Jahrhundert in Europa
(Frankfurt/M. 1991)
«Löwith 159
281

seinerzeit vorgeworfen, eine Art von Sacrifidum intellectus zu begehen und


sich mit allzu stoischer Gefaßtheit aus der historischen Wirklichkeit zurück-
zuziehen. Löwith hat sich freilich unmißverständlich geäußert:

Der Begriff einer Weltgeschichte ist eigentlich ein Mißbegriff. Denn


weltumspannend oder universal ist die Weltgeschichte doch nur in
einem eher beschränkten Sinn. Und zwar nicht nur deshalb, weil die
uns bekannte Weltgeschichte von ein paar tausend Jahren räumlich
und zeitlich ein Verschwindendes im Ganzen der Geschichte der
Erde und des Universums ist, sondern vor allem deshalb, weil wir nur
mit Bezug auf diese unsere verschwindende Weltgeschichte die Frage
nach dem Sinn überhaupt sinnvoll stellen können.44

Damit ist ein Grundpfeiler der Aufklärung, die Konzeption einer Universal-
geschichte, preisgegeben und das Sinnproblem samt der Geschichtsphiloso-
phie als historisches Binnenproblem der europäischen Psyche vom 18. bis
20Jahrhundert relativiert. Was Habermas in den sechziger Jahren, auf der
Woge des Zeitgeistes, der gesellschaftsverändernde Entwürfe pflegte, als
„stoischen Rückzug" zu denunzieren suchte, zeigt sich heute als kühne Vor-
aussicht des Außenseiters Löwith. Der Kenner der Geschichtsphilosophie,
die er als säkularisierte Religion verstand, plädierte für Enthistonsierung, in-
dem er den verborgenen Absolutismus eschatologischen Denkens entdeckte.
Im Fall des Marxismus war dieser Absolutismus schon geschichtsnotorisch.
Löwith schlug vor, in Korrektur solcher Geschieh tsfixierung nach dem
Sinnhorizont der Natur zu fragen - ein eminent theoretischer und dadurch
fruchtbarer Ansatz, um Kontemplation, Ästhetik und Ethik zusammenzu-
bringen. Löwiths Verdienst war es, die historistisch gestellte Sinnfrage als
eurozentrisches Vorurteil enthüllt zu haben, als philosophischen Sündenfall
in einem Zeitalter der Ideologien.
Dem asiatischen Denken jedoch ist der Gegensatz von Natur und Ge-
schichte immer fremd geblieben.

Es gibt keinen östlichen Voltaire, der den geschichtlichen Fortschritt


der Zivilisation gegen die Natur zum Leitfaden seines geschichtlichen
Denkens gemacht hätte und der darum anläßlich des Erdbebens von
Lissabon am Sinn der Geschichte hätte irre werden können. (...) Die
Weisheit des Ostens hat die uns bewegende Frage nach dem Ziel und
Sinn der Geschichte überhaupt nie gestellt und es weislich vermieden,
"Welt' und 'Geschichte' zusammenzudenken.45

Löwith, der 1936 über Rom in das japanische Exil ging und dort in Sendai
als Philosoph gelehrt hat, mußte das eurozentnsche Vorurteil an sich selbst

«Ebd. 159f.
45
Ebd. 161
282

korrigieren46. Freilich hatte er einen starken Verbündeten im vorchristlichen


Abendland selbst, nämlich in der griechischen Kosmologie, insbesondere in
ihrer stoischen Spielart: Natur zeigt sich dort als göttlich geordnetes, ästhe-
tisch erfahrbares Ganzes. Gerade seine Erfahrungen mit japanischer Kultur
und Lebensphilosophie erlaubten es Löwith, sich von den eschatologisch
grundierten Geschichtsphilosophien von Jesaja bis Marx zu verabschieden.
Seine um 1950 einigermaßen sensationelle Position abzuwehren, fiel
Habermas nicht leicht: der „großartig konservative Affekt", der Löwith zum
nostalgisch bewegten Naturschwärmer stempelt, galt wenig später als der
naive Versuch, „den Bannkreis des historischen Bewußtseins mit
Zaubersprüchen zu sprengen (...) oder besser: mit der deiktischen Geste des
erfahrenen Phänomenologen den Kosmos unvermittelt vorzustellen"47. Die
sanfte Perfidie in diesem Vorwurf übersieht, sich selber überbelichtend, daß
Löwiths Originalität eben dann bestand, Geschichte selbst gegen Geschichte
zu mobilisieren, sie also an ihrem eigenen Anspruch zu messen.
Löwith hatte aus der Geschichte gelernt, daß nichts von ihr zu lernen
sei. Er konnte sich dabei auf einen Großen, nämlich auf Tacitus stützen, der
ihm das Motto zu seinem Essay Mensch und Geschichte (1960) lieferte: ,Je mehr
ich mir die Begebenheiten alter und neuer Zeit hin und her überlege, desto
mehr zeigt sich mir in allen Verhandlungen und Geschehnissen das Blend-
werk und die UnZuverlässigkeit aller menschlichen Dinge" 48 . Damit stellte
sich Löwith allem Vergänglichkeitszauber, den die Geschichte auf den Emp-
findsamen ausübt, mit wahrhaft stoischem Gleichmut. Der Philosoph
machte ernst mit der Kritik der Sinnkonstrukte (von denen die „Kritische
Theorie" als Mythologie der Vernunft nur ein besonders verführerisches
war), um Philosophie als Kontemplation aus den Klauen der „Praxis" zu ret-
ten. Dieses klassische Ideal zu behaupten — gegen die Dogmatiker der
Weltrevolution, gegen die Illuminaten historischer Finalität, gegen die Zelo-
ten des Projekts Moderne - machte Löwith gleichsam zu einem Häretiker.
Doch die Geschichte selbst hat am Ausgang des 20. Jahrhunderts das histori-
sche Scheitern der letzten noch existierenden Geschichtsphilosophie, näm-
lich des Marxismus vorgeführt. O b zufällig oder zwangsläufig: dies Scheitern
kam unerwartet. Die totalitären Elemente jeder Geschichtstheorie waren
Karl Löwith bewußt. Inzwischen bietet das jüngste Fin de siecle genügend
Beispiele einer tiefen Enttauschungsgeschichte, nach all den Geisterkriegen,
deren lähmender Schatten noch auf die Weltmächte fällt. Der Zusammen-
bruch des sowjetischen Imperiums, den keiner der vielen Experten voraus-
sah, korrespondiert dabei auf merkwürdige Weise mit dem schleichenden
Niedergang Amerikas, das sich allein nicht mehr imstande sieht, die

46
Vgl. dazu seine im Nachgang (1960) verfaßten Bemerkungen %um Unterschied von Orient und
Okzident (Löwith 254 - 284)
47
J.Habermas, Philosophisch-politische Profile (Frankfurt/M. 1971) 125
48
Löwith 223 (nach Tacitus, Annalen III, 18)
283

versprochene neue Weltordnung zu schaffen. So werden die Vanitasbilder


heute von der Politik bereitgestellt. In den Ruinen der großen Politik aber
spuken alt-neue Fundamentalismen, die gewaltsam ihre Sinnstiftung be-
treiben.
Daß Geschichte unter radikalem Zufallsverdacht steht, zugleich aber je-
den Interessenkonflikt ideologisch zu rechtfertigen vermag, als eine andere
„Hure der Vernunft" (Luther), hatte Löwith schon in der Hochzeit des Exi-
stentialismus und des Kalten Krieges erkannt. Die Posthistoire als Ende des
absoluten Anthropozentrismus wäre nur zu begrüßen. Es war ja Beschlag-
nahme durch eine totalitäre Philsophie des Fortschritts, die im Ost-West-
Konflikt blind machte für die Verwüstung der Erde. Der Glaube an die All-
macht der Geschichte führte zur Denaturierung des Menschen. „Denn un-
sere exklusive Sorge um die geschichtliche Welt als der einzigen Szene des
menschlichen Daseins und Geschicks ist ein Produkt unserer Entfremdung
von der natürlichen Theologie der Antike und von der übernatürlichen
Theologie des Christentums" 49 . Der Ausgang aus dieser selbstverschuldeten
Denaturierung wäre zugleich der Ausgang aus der Gewaltgeschichte. Löwith,
der jeder Geschichtsdogmaük mißtraute, der resistent war gegen jede Politi-
sierung der Philosophie, liest sich am Ende des 20.Jahrhunderts fast als Pro-
phet der ökologischen Wende. Im Paradigmenwechsel von der Anthropo-
zentrik der Geschichte hin zur Natur, zum Universum der Morphogenesen,
ist er posthum zu einer wichtigen Figur geworden.
Löwith hat seine Kritik des Historismus in dem genannten Aufsatz von
1960, Mensch und Geschichte, noch einmal entfaltet und differenziert. Er be-
streitet hier, im Rückgriff auf die Griechen und gegen Heidegger, daß der
Mensch Dasein nur in Geschichtlichkeit haben und Welt nur universalhisto-
risch erfahren kann: „Kein klassischer Denker ist aber je auf den Gedanken
verfallen, diesen wohlgeordneten ewigen Kosmos mit den vergänglichen
Pragmata der menschlichen Geschichten in einer Weltgeschichte zusammen
zu denken"50. Den Marxismus unter Dogmatismusverdacht zu stellen, trug
Löwith keine Scheu; doch alle Geschichtsphilosophien, weil Herrschaftswis-
sen, neigen zur Apodiktik (vielleicht war Kant als einziger davon frei). Auch
Heideggers „Seinsgeschick", das dunkel von kommenden Dingen raunt, hat
von daher dogmatische Züge, indem es erst Weltnot und Weltnacht statuiert,
um sich von daher soteriologisch zu begründen. Jede Soteriologie aber ist
genötigt, von dürftiger und erfüllter Zeit zu sprechen, also Geschichte für
ihre Zwecke herzurichten. Löwith dagegen verabschiedet uns von der Vor-
stellung, die Weltgeschichte sei das Weltgericht. Schillers Pathosformel ist
weder historisch noch theologisch haltbar; sie ist Literatur. Doch die ge-
schichtliche Welt, so flüchtig und fragil, ist nicht der Kosmos. „Weder sind

49
Löwith 169f.
» Ebd. 226
284

Welt und Weltgeschichte einander gleichgestellt, noch ist der von Natur aus
lebende Mensch einfachhin eine geschichtliche Existenz"51. Löwith weist
diese Zumutung des Historismus und einer anthropozentrischen Metaphysik
zurück, wonach sich Himmel und Erde nur um den Menschen drehen.
Die Rückbesinnung auf den Sinnhorizont Natur gerät zur Kritik des eu-
rozentrischen Denkens. Als Opfer der totalitären Geschichte hatte der aus
Deutschland vertriebene Philosoph in Japan Gelegenheit, die Prävalenzen
einer anderen Kultur kennenzulernen: die pagane Naturfrömmigkeit der Ja-
paner hat Löwith sichtlich beeindruckt. Gerade die Shinto-Religion besitzt
die Fähigkeit, den natürlichen Dingen die Würde des Heiligen zu geben. Die
Begegnung mit dem Philosophen Nishida Kitaro (1870 - 1945), dem Denker
des „absoluten Nichts" (zettai mu), hat auf Löwiths skeptische Sicht der Ge-
schichte offenbar eingewirkt. Fragwürdig wird ihm vor allem die Fixierung
der abendländischen Philosophie auf das Subjekt und das Sein - auch da, wo
sie vom Nichts zu sprechen meint. Sie kennt nicht die buddhistische Kon-
zeption eines Nichts, das als allesumfassende Leere zugleich das Erfüllteste
ist. „Nur die absolute Leere, die durch ein Sichleermachen in meditativer
Versenkung erreichbar ist, kann alles, was ist, unversehrt in sich aufneh-
men" 52 . Die „reine Erfahrung" (junsui keiken) ist bei Nishida, der hier dem
Zen-Buddhismus folgt, transrationale Erleuchtung - noch in der Schau all-
täglicher und unscheinbarer Dinge. Solche Metaphysik der Zeitvergessenheit
ist dem linearen Geschichtsdenken Europas, das vom Kairos und der „Fülle
der Zeit" lebt, völlig entgegengesetzt. Für Nishida ist auch die geschichtliche
Welt umgriffen vom absoluten Nichts. Anders als das okzidentale Denken,
das willensgeleitet auf Zukunft gerichtet, daher dynamisch ist, betont er die
Gegenwart; nur in ihr findet reine Erfahrung statt. Zeit ist für Nishida die
Selbstidentität im absoluten Widerspruch des Vielen und des Einen; Ge-
schichte als Selbstentfaltung des schöpferischen Nichts bringt in dialekti-
scher Einheit Subjekt und Objekt, Vergangenheit und Zukunft, Betrachten
und Handeln zusammen 53 .
Daraus ergibt sich eine vertiefte Wahrnehmung der Natur: im absoluten
Augenblick, ohne raum-zeitliche Werthierarchie, ohne Eschatologie und
ohne Ich-Fixierung. Es ist die Wahrnehmung reiner Gestimmtheit. Ihr ent-
spricht in Japan die Ästhetik des leeren Raumes, worin Naturphänomene -
von den Muscheln am Strand bis zur Milchstraße — in ihrer verborgenen Es-
senz erscheinen. Die Haikudichtung Bashos (1644 - 1694) lebt ganz und gar
von solchen Epiphanien. Um ein Inbild des heißen japanischen Sommers zu
geben, eine Erleuchtung vor dem Phänomen, läßt er Natur in das Subjekt
eintreten. Extreme Wahrnehmungen, sonst unvereinbar, heilige Stille und
lärmende Wildnis, gewohnte Aspekte wie Innen und Außen verschmelzen:
51
Ebd. 253
52
Ebd. 265
53
Zur „Logik des Ortes" (basho no ronri) bei Nishida vgl. Brüll 166f.
285

„Shizukasa ya/ iwa ni shimiiru/ semi no koe". Hier ein Übersetzungs-


versuch: „In tiefe Stille/ bohrt in die Felsen sich/ Zikadensirren". Ent-
rückung aus der Zeit ereignet sich in der Zeit; die magische Stille ist eins mit
dem Zikadengeräusch, ihrem Schrillen von zehntausend Bohrern, die in die
Steine dringen. Es ist, als würde Natur selber zum Sprechen kommen. Auf
Bashös Spuren vermerkt Hattori Dohö (1657 bis 1730) in seiner Poetik:

Unser Meister ermahnte uns, über die Fichte von der Fichte selbst
und über den Bambus vom Bambus selbst zu lernen. Er meinte da-
mit, daß wir die Überlegungen, die sich auf unser Ich gründet, völlig
verlassen sollen. (...) Der Meister meinte mit dem 'Lernen' unser Ein-
dringen in den Gegenstand selbst (sei es eine Fichte oder ein Bam-
bus), bis die unsichtbare Essenz (das heißt sein honjo) sich uns offen-
bart.54

Wenige Pinselstriche genügen der Zen-Malerei, die reine Schwarz-Weiß-


Kunst ist, freilich mit höchster Differenzierung des Ausdrucks, um den Geist
in den Dingen zu fassen55. Ganzheitserfahrung erlebt das asiatische Denken
dashalb nicht in den Ruinen der Geschichte, sondern angesichts einer Natur,
die auf verschwiegene Weise über die Geschichte triumphiert: Wo einmal
Schlachtfeld war, wächst nun das Sommergras, wie Bashö in einem berühm-
ten Haiku schreibt. Zwar geistert auch durch Natur der Vergänglichkeitszau-
ber, eingefangen im ,Jahreszeitenwort" (kigo) der Haikudichtung; aber im
Sinnhorizont Natur wird das Vergehen aufgehoben durch die Wiederkehr.
Natur war vor dem Menschen, und sie wird nach ihm sein.

Das Verhältnis von Geschichte und Natur tritt auch in Japan nach dem
Zweiten Weltkrieg in neues Licht. Die Kapitulation des Militärstaates, das
Ende des Gottkaisertums und die von den Siegern verordnete Demokratie
unterbrachen die Kontinuität japanischer Geschichte. Die Erosions- und Ni-
vellierungsprozesse der Industriegesellschaft mußten eine traditionell natur-
verbundene Kultur besonders treffen. Der Kontrast von Tradition und Mo-
derne, seit den Meiji-Reformen ein Dauerthema der Literatur, verschärfte
sich56. Abzulesen ist dies vor allem am Werk von Mishima Yukio, der Todes-
erotik und Naturästhetik mit politischem Aktionismus verband, in selbstbe-
wußter Außenseiterrolle den Weg der Samurai-Ethik einschlug und eine Re-
stauration des Kaisertums anstrebte. Seine Roman-Tetralogie Das Meer der
54
Izutsu 149
55
Dazu ebd. 138ff.
56
Zur Wende seit 1945: Shüichi Katö, Geschichte der japanischen Literatur (Darmstadt 1990)
614ff. Dazu F.Coulmas, Das Land der rituellen Harmonie (Frankfurt/M. - New York 1993)
42ff. 178ff.
286

Fruchtbarkeit (Hojo no umi, 1968 - 1970) verfolgt nach dem Vorbild von
Proust und Thomas Mann die Themen Zeit, Erinnern und Generationen
anhand der Lebensgeschichte des Juristen Honda. Der rote Faden, an dem
sechs Jahrzehnte japanischer Geschichte von der Taisho- bis zur Showa-Zeit
aufgereiht werden, ist eine Reihe von Wiedergeburten. Honda glaubt, in drei
Gestalten seinem Freund Kiyoaki wiederzubegegnen, der 1914 jung verstor-
ben war -: in dem idealistischen Terroristen Isao (1932), in der thailändischen
Prinzessin Ying Chan (1952), schließlich in dem sechzehnjährigen Waisen
Toru, den er adoptiert (1970). Doch Honda, ein an westlicher Rationalität
geschulter Kopf, der sich in den Buddhismus zu versenken sucht, muß er-
kennen, daß der Glaube an die Geschichte bloße Illusion ist: Toru erweist
sich als Falsifikat. Der Titel Meer der Fruchtbarkeit spielt an auf die barocke
Astronomie der Keplerzeit. Damals wurde die im Zentrum des Mondes ge-
legene Ebene mit dem poetischen Namen „mare foecunditatis" belegt. Seit
Menschen den Mond betraten, wissen wir aus unmittelbarer Anschauung,
daß dies in Wirklichkeit eine Wüste, ein Reich des Todes ist57. Mishima hat
hier das Nichts, die Leere, das Absterben selber zum Thema gemacht. Nach
Abschluß der Tetralogie, im November 1970, beging er in einer aufsehener-
regenden Aktion - im Hauptquartier der japanischen Streitkräfte - Seppuku
mit dem Schwerte.
Der letzte Band Die Todesmale des Engels (Tennin gosui, 1970) beschwört,
in Anlehnung an eine buddhistische Legende, den Zauber des Verfalls und
der Vergängnis. Der todkranke Honda, der am Ende des Romans erkennen
muß, daß Toru nicht der Erwartete ist, hat den Zusammenbruch seines ge-
samten Sinnsystems vor Augen. Mishima, der Verehrer der Jugend, als Autor
auf der Höhe seines Ruhmes (wenngleich der erhoffte Nobelpreis an seinen
Lehrmeister Yasunari Kawabata ging), fühlt sich auf erstaunliche Weise in
Hondas Altern ein. Wie Sokrates und Wittgenstein empfindet der Japaner
des 20Jahrhunderts die Leiblichkeit als eigentliche Krankheit. Für Mishima
aber ist Leiblichkeit die Übersetzung von Geschichtlichkeit, und dies völlig
sensualistisch: „Daß der Leib in die Zeit gestellt war, diente zu nichts ande-
rem als dazu, das Dahinwelken, das Vergehen zu dokumentieren" 58 . Aus sol-
cher „historischer" Erfahrung am eigenen Leibe destilliert Mishima sein To-
despathos — als Autor wie als Politiker, der den Untergang des alten heroi-
schen Japan mit dem Freitod zu besiegeln gedachte. In der Kunstfigur
Honda verkörpern sich die Wonnen des Widerstreits: Leben und Altern sind
eins, auch wenn der Wille sich dagegen wehrt. Alle Geschichte ist Verfallsge-
schichte. Darin enthüllt sich ihr innerstes Wesen: „Die Geschichte war unter
all dem von Menschen Hervorgebrachten das unmenschlichste Produkt" 59 .
Wie die Göttin Kali, deren Bild Honda einst in Kalkutta sah, verschlingt sie
57
Dazu Yourcenar 40ff.
58
Mishima 248
» Ebd. 249
287

den menschlichen Willen. Diese Position, die Erinnerungen an Schopen-


hauer mit Buddhistischem verbindet, verabschiedet den Fortschrittsopti-
mismus, dem das demokratische und prosperierende Japan schon zu
Mishimas Zeiten sich hingab. Honda wie Mishima hatten sich vielmehr ent-
schlossen, „den Tod von innen heraus zu leben"60.
Die Absage an dominierende Werte des Westens, an Rationalität,
zweckhaftes Handeln und Effizienz, macht Honda frei zum Tode. „Verloren
hatte er auch die lasterhafte Neigung des menschlichen Geistes: zu planen
und zu wollen. In gewissem Sinne war das die große, die unvergleichliche
Befreiung, zu der ihm die körperlichen Schmerzen verholfen hatten" 61 . Ein
letztes Mal begibt er sich in jenen Tempel bei Nara, dem Kiyoakis ehemalige
Geliebte Satoko nun als Äbtissin vorsteht; vor sechzig Jahren war sie dort als
Nonne eingetreten. Ihr gegenübersitzend, muß er erleben, daß sie den Na-
men Kiyoaki niemals gehört hat. Ja sie bezweifelt nach Hondas Erzählung,
ob es ihn überhaupt gegeben hat. So erlischt jede Identität mit dem Verlust
des Erinnerns. Das Ende des „principium individuationis" ist auch das Ende
jeden Geschichtssystems. Was Mishima diesem wohlkalkulierten Schock ent-
gegenstellt, sind einzig noch Bilder der Natur, Bilder der fließenden Welt der
Jahreszeiten, die kraft ihrer Präsenz aller Verfallsgeschichte trotzen. Das
Grün im Innenhof bedrängt durch die offenen Schiebetüren so heftig, daß es
zunächst nicht existent scheint. Aber es ist derselbe Raum, in dem die vorige
Äbtissin vor sechzig Jahren Honda eine Audienz gewährte. Die Natur hat die
Geschichte besiegt, wie sie es immer tut; sie erneuert sich durch die Zeiten
hin, ohne im mindesten an Identität einzubüßen. Auch wenn es ein buddhi-
stischer Klostergarten ist, in dem ethisch-ästhetische Spielregeln gelten, so
hat die Natur, wie Mishima sie darstellt, etwas Direktes, Kraftvolles, Wildes,
deren Widerspiel das Heilige des Ortes noch betont. Vitale Farbigkeit, mit
der Erinnerung an Bashös Verse, dringt ein in den Raum der Askese:

Das vom Geschrill der Zikaden erfüllte Grün des Teegartens loderte
unmittelbar jenseits der Veranda. Hinter einem üppigen Gewirr von
Pflaumenbäumen und Ahomen und Teebüschen waren die roten
Knospen des Oleanders zu sehen. Auf die zwischen den Trittsteinen
wachsenden Bambusgrasblätter mit ihren weißen Spitzen fiel grell das
sommerliche Licht...62

Honda, der Rationalist, der Menschen und Dinge zeidebens wie ein Voyeur
betrachtete, der Meister des Kalküls, scheitert am Ende des Lebens mit sei-
ner Lieblingsidee - der Reinkarnation Kiyoakis, von der er sich die Intensi-
vierung des eigenen Daseins, das Faszinosum der Schönheit, vielleicht sogar

60
Ebd. 252
61
Ebd. 253
62
Ebd. 275
288

Liebe versprach. Mishima, der Ästhet, und Honda, sein Geschöpf, ähneln
einander. Sie erhofften sich von der Reihe der Wiedergeburten etwas wie
Kontinuität — in jenem allesdurchströmenden Trieb, der „das Leben selbst
oder vielleicht ganz einfach die Jugend ist, die sukzessiv in der glühendsten,
der schroffsten und der verführerischsten Form inkarniert wird"63. Doch
flüchtig ist das Ich, buddhistisch gesprochen „fortwährend sich wandelnder,
wütender Strom". Hondas Erschrecken — wenn es den Freund nicht gab,
gibt es auch Honda nicht - läßt jede Geschichtlichkeit ins Nichts versinken.
Mit Kiyoaki läßt Mishima zuletzt das Subjekt und damit alle Historie ver-
schwinden. Nur Natur hat ihr eigenes Leben. Vor ihrer farbig glühenden
Folie löst sich das Ich mitsamt seinen Geschichten auf.
Im Vergänglichkeitszauber, den unvergängliche Natur hier inszeniert,
eröffnet sich die erlösende Leere. Mit vollkommener Unbefangenheit zeigt
die Äbtissin Honda den Südgarten - so als sei dies der eigentliche Zweck
seines Besuches. Der ausgedehnte Garten, hauptsächlich Rasen, darin einige
Steinformationen, am Rande Ahornbäume, ist mit einem Blick zu erfassen.
Und doch enthält er ein Geheimnis, so sparsam er bepflanzt ist, so einfache
Dinge er bietet — etwa das Rufen des Kuckucks (das ,Jahreszeitenwort" in
der Poetik des Haiku) oder das Feuer der Ahornblätter, die ein symbolisches
Brand- oder Blutopfer sind (Motive, die Mishimas Tetralogie durchziehen).
Denn dieser Garten ist leer. Vielleicht enthüllt gerade seine Leere, Heideg-
gers „Lichtung" vergleichbar, die unverstellte Gegenwart göttlichen Seins —
so daß das leere Geviert für Honda zu einem „Meer der Fruchtbarkeit" wird.
Solche Naturästhetik erinnert an die Bewußtseinsphilosophie von Nishida
Kitarö, besonders an seine Theorie vom „Ort des Nichts" (mu no basho).
Für Nishida ist der Bewußtseinsgrund ein ewiges und absolutes Nichts, das
alles Sein umfaßt und in sich alle Gegenstände hat. Der absolute Wille holt
Sein aus dem Nichts; schaffen aber heißt sehen, das Spiegeln im Spiegel des
Nichts betrachten. „Um in den Ort des wahren Nichts vorzudringen, muß
der freie Wille erlöschen"64. Erst durch Vernichtung des Willens entsteht für
Honda der Ort der Erkenntnis: Im leeren Garten wohnt das Heilige. Die
reine Erfahrung, die Subjekt-Objekt-Spaltung überwindend, ist nach Nishida
ein Zustand des Bewußtseins, worin Sehender, Sehen und Gesehenes eins
werden 65 . Die Sanftheit der Leere ist Einbruch eines Wilden, das die Ge-
schichte auslöscht; doch dieses Wilde ist Nichts. Die ferne Entsprechung im
monotheistischen Westen wäre die Leere als Wüste, die eine andere Form
der Wildnis ist - Ort der Berufung und Bewährung für die Heiligen.
Mishimas Betonung der Natur und ihrer Sakralität verweist auf archai-
sche Schichten japanischer Kultur. Die traditionelle Shintö-Religion hatte

63
Yourcenar 53
64
J.Hamada, Art. Nishida-Philosophie, in: H.Hammitzsch, Japan-Handbuch
(Stuttgart 3Auflage 1990) Sp.l295f.
«Brüll 158
stets heilige Orte für die Verehrung der Götter gekannt, deren Präsenz im
Räume der Natur erfahren wird. Der Shintö-Schrein war ursprünglich ein
durch Strohseile oder Steine abgestecktes Geviert — ein Rahmen für die Re-
präsentanz göttlicher Kräfte. „Die Anlage aller Schreine läßt immer wieder
die Grundidee der göttlichen Gegenwart an einem isolierten, reinen und
geweihten Ort inmitten der Natur deutlich werden"66. Es scheint, als habe
das Stück Natur, das Mishima am Ende des Romans herbeizitiert, diesen
Charakter eines Schreines. In einem Garten, überschüttet von der Glut der
Mittagssonne, ereignet sich für Honda der Ausgang der Geschichte. Hier er-
lebt er in der Vision der Leere seine Ekstasis. Was ihn an der Natur ergreift:
daß sie ursprünglich, einfach, vollkommen souverän ist. Doch ihr Unge-
zähmtes wird bei Mishima sofort ästhetisch geordnet; Rahmen und Ekstasis
sind keine Widersprüche, sondern bedingen einander. Erst der Rahmen, der
„Schrein", erlaubt die sinnlich-optische Präsenz einer Natur, die zugleich
Nichts ist. Die heilige Wildnis, allgegenwärtig, ist da im Schrillen der Zika-
den. „Kein anderes Geräusch; die Einsamkeit und die Verlorenheit waren
grenzenlos. Dieser Garten enthielt nichts. Ich bin, dachte Honda, an einem
Ort angelangt, an dem es weder Erinnerung noch sonst irgendetwas gibt"67.
Keine Geschichte mehr; nur noch erleuchtete Leere.

Aufhebung der Geschichte in remythisierter Natur hat in der deutschen Lite-


ratur der achtziger Jahre niemand so eindringlich geschildert wie Christoph
Ransmayr in dem Roman Die letzte Welt (1988). Im Rückgriff auf das Schick-
sal des Ovid, den Augustus in das barbarische Tomi verbannt hatte, gelingt
die erstaunliche Wiederbelebung der in den Metamorphosen beschriebenen
Mythen. Ransmayr fängt den ganzen Vergänglichkeitszauber, den der Verfall
Tomis, der eisernen Stadt am Schwarzen Meer entfaltet, in Bildern der
„Natura triumphans" (Ulrich Fülleborn) ein. Grundmotiv des Romans ist die
Suche des Römers Cotta, einer historisch beglaubigten Figur, nach seinem
Freund Ovid. In Tomi selbst findet er nur noch vereinzelte Spuren: Text-
tragmente aus den Metamorphosen, die an Seilen im Winde flattern; der Dich-
ter aber bleibt unauffindbar. Am Schluß verschwindet auch Cotta, von heite-
rem Wahnsinn erfaßt, in jener Bergeinöde, wo vorher Ovid gegangen war; er
bricht auf, um seinen eigenen Namen zu finden, „wehend auf einem im Sil-
berglanz Trachilas begrabenen Fähnchen" 68 .

^ J M.Kitagawa/Th.M.Ludwig, Art. Shintö-Schrttn, in: Hammitzsch, Japan-Handbuch Sp.1450


Zur japanischen Gartenkunst: GNitschke, Gartenarchitektur in Japan. Rechter Winkel und
natürliche Form (Köln 1991) bes. 19ff.
t7
Mishima 281
Ransmayr 287. Zugang zum Autor erschloß mir Prof.Ulnch Fülleborn (Erlangen) mit sei-
nem Vortrag Natura triumphans auf meinem Kolloquium Wahrnehmung der Natur(Dez.1991).
290

Gegenpol zu dieser Wildnis ist Rom, das Reich der Notwendigkeit und
der Vernunft — für den Verbannten unerreichbar wie ein Stern. Doch dieser
Stern sendet sein kaltes Licht bis in den letzten Winkel. Im poetischen Wi-
derstand gegen den Unstern hat Ovid im Exil die Metamorphosen zu Ende er-
zählt — um freizuwerden vom imperialen Zugriff der Geschichte. Was in ihm
dichtet, ist Werk der Natur, die zuletzt ihren Dichter verwandelt: „Dann war
er wohl auch selbst eingetreten in das menschenleere Bild, kollerte als un-
verwundbarer Kiesel die Halden hinab, strich als Kormoran über die
Schaumkronen der Brandung oder hockte als triumphierendes Purpurmoos
auf dem letzten, verschwindenden Mauerrest einer Stadt"69. Vor der Ge-
schichte flieht auch Cotta in die Wildnis. Wie so viele seiner Zeitgenossen
kehrt er dem Staat den Rücken, „um der Apparatur der Macht zu entgehen,
der allgegenwärtigen Überwachung, den Fahnenwäldern und dem monoto-
nen Geplärre vaterländischer Parolen" 70 . Ransmayr beschreibt eine Bewe-
gung von Aussteigern: er projiziert den sozialistischen Staatskult und die
Symmetrie verordneten Lebens auf die antike Weltstadt. Cottas Verweige-
rung ist nicht politisch, sondern — dem Geist der „Postmoderne" gemäß -
Sehnsucht nach einem Leben ohne Aufsicht, nach Selbstbestimmung im Plu-
ralismus persönlicher Lebensentwürfe. Kein Zweifel, der Autor macht sich
selbst zum Anwalt solcher Zeit- und Politikflucht, zum Fürsprecher romanti-
scher Verwilderung. Mit heimlicher Genugtuung vermerkt er, daß Ovids
Schicksal unter den Schlägen der Politik zu Mythen zerfiel71. Denn Mythen
sind der Stoff, aus dem zuletzt alle Geschichte ist. Der Mythos, mit dem sich
Ovid noch im Exil umspinnt, löscht alles Historische und Biographische aus.
Die symbolische Konfrontation von Geschichte und Natur findet im
Herzen des Imperiums statt. Ransmayr präsentiert sie als surreale Vereini-
gung des Disparaten: Kaiser Augustus, abgeschnitten von aller Wirklichkeit,
unerreichbar für alle Bittschriften und Gnadengesuche, sitzt in seinem Er-
kerzimmer und starrt auf ein Nashorn herab, „an dessen gewaltigem Körper
der Lauf der Zeit keine Spuren zu hinterlassen schien; allein die Generatio-
nen von Fliegen, Ungeziefern und Vögeln, die das Nashorn auf seinem Rük-
ken trug, alterten, starben und erneuerten sich"72. Die traumhafte Konstella-
tion von Kaiser und Nashorn, dem Herrn der Welt und dem häßlichen Tier,
das sich in Staub und Schlamm wälzt und in den Jahren sich gleichbleibt wie
ein Stein, wird zum Emblem: es illustnert die Vergeblichkeit menschlicher
Macht und die massive Selbstbehauptung des Animalischen. Das Verfahren
erzeugt eine Ästhetik der Irritation. In diesem Capriccio wird der Repräsen-
tant der Geschichte, die sich als absurde Anreihung des Ephemeren erweist,
widerlegt durch bloße Konfrontation mit der stoischen Ruhe des Tieres aus

69
Ebd.
70
Ebd. 124f.
71
Ebd. 130
72
Ebd. 128f
291

dem Barbarenland. Ransmayr nähert sich hier einer Ästhetik, die Tiefe und
Oberfläche zu vereinen sucht. Dergleichen hatte bereits Ernst Jünger in den
Figuren und Capriccios des Abenteuerlichen Hertens (1938) erprobt: „Die
durchsichtige Bildung nun ist die, an der unserem Blick Tiefe und Oberflä-
che zugleich einleuchten"73. Jünger erläuterte dies am Kristall, der „sowohl
innere Oberfläche zu bilden, als seine Tiefe nach außen zu kehren vermag" 74 .
Gerade das Exponierte der eigenen Position führt Jünger wie Ransmayr zu
einer betont physiognomischen Beschreibung; hinzukommt bei beiden als
geistiges Gewürz der Manierismus. Diese am meisten vor der Natur sich be-
währende Technik pathetischer Indifferenz führt hin zu einer besonderen
Spielart literarischer Phänomenologie. Wie beim Jünger der dreißiger Jahre
geht sie bei Ransmayr einher mit dem stoischen Rückzug aus der Profange-
schichte. Der von der Politik enttäuschte Ästhet bekehrt sich zur Natur; sie
suggeriert die letzte Ordnungs- und Sinninstanz.
Bei Jünger ergab sich diese Haltung aus der mentalen und historischen
Erfahrung des „verlorenen Postens". Hier treten die Phänomene des Lebens
in eine sonst unbekannte Helle ein75. Das erinnert epochenbedingt (durch die
Zuschärfung des Ideologiekonfliktes zwischen Rechts und Links um 1930)
an Walter Benjamins Begriff der „profanen Erleuchtung". Benjamin hat ihn
fast beiläufig, mit Blick auf den Surrealismus geprägt: „Die wahre, schöpferi-
sche Überwindung religiöser Erleuchtung aber liegt nun wahrhaft nicht bei
den Rauschgiften. Sie liegt in einer profanen Erleuchtung, einer materialisti-
schen, anthropologischen Inspiration"76. Ein eigentümlicher Materialismus
bei dem Versuch, Wirklichkeit beschreibend zu erhellen, läßt sich auch bei
Ransmayr beobachten. Nicht zufällig träumt Cotta von einem „Buch der
Steine", Ovid gleichsam fortdichtend; und die Materie in all ihrer Phänome-
nalität spielt im Roman eine wichtige Rolle. Vierzig Jahre nach dem Zweiten
Weltkrieg, in einer Phase, da monolithisch scheinende politische Systeme zu
bröckeln beginnen und die Geschichte des Ost-West-Konfliktes sinnleer
wird, greift Ransmayr souverän auf den Ovidischen Mythos zurück. Es ist
seine Ästhetik des verlorenen Postens. Die historische Welt verwandelt sich in
ein Panoptikum. Während in Rom Augustus stirbt, wird jedes Geräusch ge-
waltsam unterdrückt. Nur die Natur läßt sich von keinem Caesar befehlen:
„das trauernde Rom war erfüllt von den millionenfachen Stimmen der Vö-
gel"77. Nicht immer bedarf es der Erdbeben, um Katastrophen anzukünden.
Mit Jünger könnte auch Ransmayr sagen, „daß ein historisches Gebäude
durch Ameisenfüße untergraben wird"78.

73
Jünger, Das Abenteuerliche Herz 182
74
Ebd.
75
Ebd. 263
76
W.Beniamin, Surrealismus (1929), in: Gesammelte Schriften II. 1 (Frankfurt/M. 1980) 297
77
Ransmayr 134
78
Jünger, Das Abenteuerliche Herz 263
292

Doch verfügt Ransmyr auch über Bilder des Elementaren. Die Ge-
schichte ertrinkt bei ihm buchstäblich in einer Sintflut; das Motiv ist einer
Vision Ovids entnommen. Diese Strafphantasie war möglicherweise der
Anlaß, der zur Verbannung des Dichters geführt hat: „Der Untergang! schrie
Echo, das Ende der wölfischen Menschheit. (...) Wer wollte denn ausgerech-
net in der größten und herrlichsten Stadt der Welt an das Ende aller Größe
und Herrlichkeit mit jener Leidenschaft erinnert werden, mit der Naso den
Untergang vorhergesagt hatte?" 79 Mißachtung der Historia profana führt bei
Ovid — und auf dessen Spuren bei Ransmayr — zur Imagination der großen
Flut, mit welcher Zeus das Menschengeschlecht ertränkt. Nur Deukalion
und seine Geliebte Pyrrha überleben auf einem Floß. Sie stranden, als die
Flut wieder sinkt, am Parnassos. In einer Tempelruine erhalten sie die Ein-
gebung, Steine hinter sich zu werfen. Aus diesen Steinen entstehen neue
Menschen, hart und gefühllos wie Steine. Der Vergänglichkeitszauber, den
Ransmayr aus der Zerstörung der Kultur gewinnt, wird lustvoll ausgekostet.
Der antizivilisatorische Affekt erinnert auffällig an Guido Morseliis Verdikt
über Chrysopolis. Cotta, der aus der Hauptstadt der Welt in die Wildnis Ge-
flohene, ist wie gebannt von der Erzählung Echos:

Es war eine Vision, von der er in den Reden und römischen Lesungen
Nasos niemals gehört hatte. Mit einer seltsamen, fast fanatischen
Kraft in der Stimme kündigte Echo ihm einen hundertjährigen Wol-
kenbruch an, der die Erde reinwaschen werde und beschrieb die
künftige Flut so bestimmt wie eine Katastrophe aus der Vergangen-
heit.
Schon im ersten Jahr des Regens zerrieb und verwischte jeder Fluß
sein Bett wie eine Spur im Sand, jeder See begrub seine Ufer unter
sich und verwandelte Promenaden und Parks in sperrigen Schlamm-
grund. Dämme barsten oder verloren über der Höhe der Wassermar-
ken jede Bedeutung, und aus den Gebirgen und Tälern sprangen
Sturzbäche in die Ebenen hinaus auf den Ozean zu, der unter einer
unzerreißbaren Wolkendecke lag.80

Ransmayr kleidet den Untergangsmythos kühl-distanziert ins Genre der


Bildbeschreibung, als hätte er ein Gemälde der Sintflut vor Augen — etwa
Poussin, der die Naturkatastrophe als klassisches Drama erfaßte, als Kampf
um Trümmer und Balken. Zuletzt fallen die Vögel, die keinen Rastplatz
mehr finden, zu Tode erschöpft in die Wellen. Nur die Geschöpfe des Mee-
res fühlen sich wohl in ihrem vergrößerten Reich.

In den kahlen Alleen, durch Säulengänge und Arkaden glitten Del-


phine dahin; auf den Dachfirsten wucherten Seeanemonen, auf

79
Ransmayr 162
»»Ebd. 162f.
293

Schornsteinen Korallen. Flundern tarnten sich im Staub der Straßen.


Wie zu einem Fest der Wiederkehr der Vögel, die Schwärm um
Schwärm in die Tiefe sanken, wehten an den Häusern Fahnen aus Al-
gen und Tang.
Aber was für eine Stille dort unten! rief Echo, was für eine unvorstell-
bare Lautlosigkeit.81

Die Wiederkehr der Stille, das Verschwinden des Lärms, der sich Geschichte
nennt, die Utopie der alle Tafeln löschenden und reinigenden Flut erscheinen
als letzte Botschaft einer geschichtsmüden Welt. Der vom Himmel gefallene
Ozean, der alles Partikulare und Differente ertränkt, wird zum Symbol einer
gewaltsam hergestellten Einheit, ja eschatologisch zum Zeichen des Pleroma,
worin die Geschichte versinkt. Zwei Jahrhunderte zuvor hatte Kant die
Frage nach der Aufklärung gestellt: Ransmayr entdeckt am Ende der Mo-
derne, im Ausgang aus selbstverschuldeter Geschichte, nicht das Ende der
Unmündigkeit, sondern die Einsamkeit des letzten Menschenpaares. Aus
dem Gefühl unerträglicher Verlassenheit heraus schleudern sie die Kiesel
hinter sich, um zu erleben, daß aus den Steinen Menschen werden.

Was aber aus dem Schlick eines an seiner wölfischen Gier, seiner
Blödheit und Herrschsucht zugrundegegangenen Geschlechts hervor-
kriechen werde, das habe Naso die eigentliche und wahre Menschheit
genannt, eine Brut von mineralischer Härte, das Herz aus Basalt, die
Augen aus Serpentin, ohne Gefühle, ohne eine Sprache der Liebe,
aber auch ohne jede Regung des Hasses, des Mitgefühls oder der
Trauer, so unnachgiebig, so taub und dauerhaft wie die Felsen dieser
Küste.82

Selbst dem Aufklärer Kant war, um der Ordnung der Welt willen, die Vor-
stellung eines Gerichtstags nicht fremd. In seinem Aufsatz Das Ende aller
Dinge vermerkt er, daß die tradierte Eschatologie „ihren Ursprung nicht von
dem Vernünfteln über den physischen, sondern über den moralischen Lauf
der Dinge in der Welt hernimmt, und dadurch allein veranlaßt wird"83. Doch
was dem Sinnsucher Cotta bei Ransmayr bleibt, ist nichts als eine Unter-
gangsvision, schlimmer: der Mythos einer bösen Wiederkehr. Damit läuft das
Moralische ins Leere. Die Ästhetik des verlorenen Postens, die hier zur
Herrschaft kommt, ist gnadenlos. Das führt im Labor der Moderne zurück
bis auf Adalbert Stifter und seine Liebe zu verkappten Katastrophen. Wie
Stifter pflegt Ransmayr auf exzessive Weise die Naturbeschreibung; sie ist im
Verblassen des Sinns der Rekurs auf die Dinge. Auch Stifters Schneeattak-
ken, Eisregen, Gletscherverirrungen kehren bei Ransmayr wieder, etwa in der

» Ebd. 164
,2
Ebd. 169
i3
Kant, Werke IX (Darmstadt 1983) 176
294

romanhaften Schilderung der österreichischen Polarexpedition von


Weyprecht-Payer (1872/74), unter dem sprechenden Titel Die Schrecken des
Eises und der Finsternis (1984). Die Ästhetik der Naturverrätselung ist hier
vorweggenommen ebenso wie die Suche nach dem Trost des Endes.
Geschichte — das ist das Buch der Steine. Der Pessimismus, den Rans-
mayr an entscheidender Stelle seines Romans zelebriert, ist kaum zu über-
bieten. Selbst Morsellis Vergänglichkeitsrausch war noch naturromantisch
verbrämte Todessehnsucht. Ransmayr läßt den Triumph der Natur eine
Menschheitsgeschichte beenden, die gelenkt war von jenem Gesetz, das
Thomas Hobbes in der Frühzeit des Absolutismus, unter Rückgriff auf eine
antike Maxime, als wölfisches Stadium der Selbsterhaltung beschrieb. Solche
Sicht des Politischen — „homo est homini lupus" - ist von den Verwü-
stungen des 20.Jahrhunderts nicht zu abstrahieren. Kein Mythos versöhnt
mehr mit dieser Erfahrung. Die Wiedergeburt aus dem Stein macht auch die
Zukunftsgeschichte, allem Utopischen zum Trotz, zu einem Albtraum. Die
Vision einer verrottenden Welt kann aus der Gegenwart schöpfen. Tomi, die
geschichtsvergessene Stadt, bietet ein Bild der Verkommenheit, das Rans-
mayr in den achtziger Jahren mühelos der Realität balkanischer Diktaturen
abschauen konnte. Dem Leser wird alles Idyllische versagt. Trachila, das Fel-
sengebirge, das über Tomi liegt, repräsentiert eine vollkommen indifferente
Natur jenseits von Sinn und Rätsel. In seiner schieren Materialität versagt es
sich jeglicher Einfühlung: „Von Naso und allen Generationen vor ihm und
nach ihm wußten die Schluchten nichts; teilnahmslos gähnten sie die Wolken
an, deren Schatten teilnahmslos über die Berghänge glitten. Rom war so fern,
als wäre es nie gewesen und Metamorphoses — ein fremdes, sinnloses
Wort"«4.
Ransmayrs Text verwandelt sich selbst in eine Reihe von Metamorpho-
sen. Ihr Leitmodv ist Aufhebung alles Historischen in einem Fest des Verge-
hens. Cotta ahnt, daß Ovids Gedicht gedacht war „als eine große, von den
Steinen bis zu den Wolken aufsteigende Geschichte der Natur" 85 . Der My-
thos liefert die entsprechenden Modelle: Echo - das Buch der Steine,
Arachne - das Buch der Vögel. Cotta, der aus der Hauptstadt der Welt
kommt, fühlt sich seltsam angezogen von dieser Welt aus Stein: „Er fürch-
tete die Wildnis nicht mehr"86. Das Unerklärliche an dieser Landschaft, ihre
wahrhaft göttliche Gleichgültigkeit, wirkt wie ein Behältnis von Sakralität.
Das Gebirge steht für Natur als unfaßbares Ganzes, für den Widerstand ih-
res verdunkelten Sinns, für einen verstummten, versteinerten Text. Rans-
mayrs Art der Betrachtung rührt hier an Jüngers „desinvolture", an eine Me-
tamorphose des Blicks: „Zu den Gedanken, die mich hin und wieder be-
schäftigen, gehört auch der, daß eine im Wechsel der Epochen unveränderli-
w
Ransmayr 189
85
Ebd. 198
86
Ebd. 233
295

che Landschaft besteht, in der die geistigen Verhältnisse sichtbar sind. Dem
muß eine Art entsprechen, Philosopheme aufzufassen, wie man Reisebe-
schreibungen liest"87. Mit dem Ende der Subjektivität kündigt sich das Ende
der Moderne an. Ovid, der Inbegriff des dichterisch wahrnehmenden Sub-
jektes, und Cotta, sein Interpret und Spurensucher, verlieren sich im Gebirge
Trachilas an eine Natur, deren barbarische Kraft alles Erklären auslöscht.
Wie in Kafkas Variante der Prometheussage: „Blieb das unerklärliche Fel-
sengebirge. Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus
einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden"88.
Es ist der Mythos, der die geschichts- und glaubensmüden Utopien vernich-
tet: mit ihnen ist auch die Neuzeit zu Ende erzählt. Das Gebirge ist der
„letzte Grund", nachdem alle Versionen des Mythos sich als bloße Literatur
enthüllten — in einem Prozeß des Vergessens und Müdewerdens, der selbst
den Konflikt von Göttern und Titanen zu einer verblassenden Schrift macht,
dazu bestimmt, sich selber auszulöschen. Diesem Vergänglichkeitszauber hat
Ransmayr neue Gestalt gegeben.
Auf den Spuren des Mythos sieht Cotta den Dichter der Metamorphosen,
dem Echo seines Echos folgend, eintauchen in den endlosen Fluß der Ver-
wandlungen: „nicht der Dichter Roms lehnte an einem zweiten Kegel, son-
dern ein vom Geröllstrom entrindeter Kiefernstamm"89. Im Fest der Vanitas
und des Vergehens, das bei Ransmayr dionysisch-orgiastische Züge an-
nimmt, wird Rom, die Hauptstadt der Vernunft und der Kultur, zu einer un-
verständlichen Sage. Der Autor schwelgt im Dekonstruktivismus. Die Text-
spuren Ovids, mit Kohle und Kreide auf Steinmale gekritzelt, verwandeln
sich in Natur zurück, so daß ruinöse Erinnerung ihre eigene Lesart hervor-
bringt, ihre eigene Ästhetik des Verfalls:

...Stacheln
aus Silber
...der Dauer...
...ungeschützt
das Herz...
der Schlachterin
...eine Nachtigall90

Noch der zerstörte Mythos strahlt fremde Schönheit aus. Was Ovid, aus der
Manie heraus, seinen Versen Dauer zu verschaffen, in Steinsäulen eingraben
ließ, wird von den Schnecken getilgt; sie haben sich über dem Text „zu pul-
sierenden, glitzernden Mänteln zusammengeschlossen"91. Die Natur selbst

, Das Abenteuerliche Herz 262


w
Kafka, Erzählungen 351 f.
!9
Ransmayr 240
Ebd. 242
" Ebd. 243
296

besorgt das Geschäft der „damnatdo memoriae", vollendet so das Werk des
Imperators. Cottas Spurensuche erschöpft sich in hilfloser Pietas. Am Schluß
des Romans verschlingt die Natur die Stadt Tomi, jenen erdichteten Ort am
Rand der Welt, in einer vegetativen Orgie, die von Max Ernst inszeniert sein
könnte; Zeit und Geschichte ertrinken im Regen. Das Feuchte, aus dem einst
am Anfang das Leben entstand (nach der Lehre ionischer Philosophen wie
Thaies), kündigt nunmehr das Ende an. Die Welt schickt sich an, zu ver
schimmeln, der Urwald holt sich die Städte zurück. „Verstohlen und mit gla
sigen Wurzeln zuerst, dann mit grünen Fingerchen, betörenden Blüten und
schließlich mit zähen, von bemooster Rinde gepanzerten Armen griff die
Wildnis nach der eisernen Stadt"92. Ransmayrs Letzte Welt ist kein histori
scher Roman, in keiner Zeile. Er handelt von der Rache der mißachteten
Natur, von der grimmigen Lust, daß Geschichte vergeht, vom Verschwinden
des Subjekts im Text Natur. Bleibt, am Ausgang der Verfallsgeschichte, das
unerklärliche Felsengebirge.

92
Ebd. 279
11. Kapitel
Das ferne Land
Vox clamantis in deserto.

Johannes 1,23

Cerco un paese innocente.

Ungaretti ,1918

Fluchtträume und Wunschwelten sind konstitutiv für die romantische Imagi-


nation. In ihnen phantasiert sich das Ungenügen an der Wirklichkeit in sug-
gestive Entgrenzung hinein. Der soziale Druck, der mit dem unaufhaltsamen
Aufstieg des Bürgertums und seiner Konventionen wächst, erreicht auch den
Künstler, der sich abgedrängt sieht an den Rand der Gesellschaft. Selbststili-
sierung im Sinne des Geniekults, Melancholie und Manie, Dandysmus, Ab-
sinken in die Boheme - mit solchen Stichworten ist sein mentaler Ort im
19.Jahrhundert zu umschreiben. Die poetische Utopie des „fernen Landes"
bildet für den Romantiker die letzte Zuflucht. Baudelaire, der die feindselige
Distanz zwischen Bürger und Künstler am eigenen Leibe erlebt, rettet sein
Ideal in einer Dichtung, die Dandytum und Askese, Luxus und Armut auf
erstaunliche Weise verbindet. In einem Prosagedicht mit dem sprechenden
Titel Anywhere out of the world nennt er das Leben ein Krankenhaus, wo jeder
Patient danach fiebert, sein Bett zu wechseln: Der eine möchte am Ofen lei-
den, der andere glaubt, er würde am Fenster gesund. „Mir scheint, daß ich
mich überall da wohl fühlen würde, wo ich nicht bin" 1 . Die Reiseträume um-
spielen all nur denkbaren Fluchtziele, von Borneo bis zum Pol. Doch die
Seele, müde der Erde, will fort, gleichviel wohin - „anywhere out of the
world".
Diesen Impuls hat eine Generation zuvor schon Leopardi verspürt und
daraus eines seiner schönsten Gedichte, das Idyll Ulnfinito geschöpft - ge-
schrieben im Herbst 1819, nach seinem mißlungenen Fluchtversuch aus der
erstickenden Enge von Recanati:

Sempre caro mi fu quest'ermo colle


e questa siepe, che da tanta parte
delTultimo orrizonte il guardo esclude.
Ma sedendo e mirando, interminati

1
Baudelaire, AW II, 260
298

spazi di lä da quella, e sovrumani


silenzi, e profondissima quiete
io nel pensier mi fingo; ove per poco
il cor non si spaura. E come il vento
odo stormir tra queste piante, io quello
infinito silenzio a questa voce
vo comparando: e mi sowien l'eterno,
e le motte stagioni, e la presente
e viva, e il suon di lei. Cosi tra questa
immensitä s'annega il pensier mio:
e il naufragar m'e dolce in questo mare.

Immer lieb war mir dieser einsame


Hügel und das Gehölz, das fast ringsum
Ausschließt vom fernen Aufruhn der Himmel
Den Blick. Sitzend und schauend bild ich unendliche
Räume jenseits mir ein und mehr als
Menschliches Schweigen und Ruhe vom Grunde der Ruh.
Und über ein Kleines geht mein Herz ganz ohne
Furcht damit um. Und wenn in dem Buschwerk
Aufrauscht der Wind, so überkommt es mich, daß ich
Dieses Lautsein vergleich mit jener endlosen Stillheit.
Und mir fällt das Ewige ein
Und daneben die alten Jahreszeiten und diese
Daseiende Zeit, die lebendige, tönende. Also
Sinkt der Gedanke mir weg ins Übermaß. Unter-
Gehen in diesem Meer ist inniger Schiffbruch.2

D e r T e x t meint einen konkreten O r t u n d verknüpft ihn mit d e m Erlebnis


kosmisch entgrenzten Gefühls. E r lebt v o n der romantischen Entzweiung
zwischen Subjekt u n d Welt, zwischen d e m Ich, das eine Geschichte hat, u n d
der N a t u r , die an das Ewige rührt. D i e S p a n n u n g geht durch das Subjekt
selbst; nach D a u e r verlangend, wird es sich seines schmerzlichen Verhaftet-
seins im Hier, der Last seiner Geschichtlichkeit bewußt. Die S p a n n u n g löst
sich i m Spiel der Imagination: es entfuhrt in das Unendliche. D a s Aufrau-
schen des Windes im L a u b wirkt inspirierend; es stürzt das Subjekt in jene
„endlose Stülheit" (wie Rilke eigenwillig übersetzt), die es dem Hier entrückt.
Leopardis Empfänglichkeit für Auditives ist oft bemerkt worden 3 . D e r K o n -
trast v o n Ewigkeit u n d toten Jahreszeiten, v o n ephemerer Menschenge-
schichte u n d göttlicher N a t u r erzeugt einen Schwindel, worin das Bewußt-
sein ertrinkt. D o c h es erleidet, was es insgeheim ersehnte. Leopardi faßt den
Bewußtseinsverlust in die epochale Metapher des Schiffbruchs. K a u m ein

2
Leopardi, Gesänge 92. Dt. von R.M.Rilke
3
Vgl. Carsaniga 89
299

Gedicht des 19.Jahrhunderts hat die Magie des Untergangs angesichts des
Taumeins der Geschichte so eingefangen wie dieser junge Dichter.
Ausgelöst wurde sein Scheitern durch die Sehnsucht nach dem Jenseits
der Geschichte. Hamlets Furcht vor dem Unbekannten, die ihn zaudern läßt,
den letzten Schritt zu tun, ist einem verschwiegenen Todesverlangen gewi-
chen. Daß die Geschichte als Sinnsystem Leopardi wenig bedeutete, jeden-
falls die der Moderne, kann nicht überraschen; selbst die Antike, die ihm
Modell gelungenen Daseins, historischer Größe war, ist so unendlich weit
weg, daß sie ins Wesenlose abzugleiten droht. Von daher die Klage, ja Resig-
nation in dem Idyll Der Abend nach dem Fest (1820):

Or dov'e il grido
de' nostri avi famosi, e il grande impero
di quella Roma, e l'armi, e il fragono
che n'andö per la terra e l'oceano?

Wo die Kunde
von unsern großen Ahnen, wo das Reich
der Römer, und die Waffen, der Tumult,
den sie entsandten über Land und Meer?4

Der Topos des „Ubi sunt?", von Petrarca bis Ossian gern zur Kritik der Ge-
genwart verwendet, spricht bei Leopardi vom völligen Verschwinden der
heroischen Geschichte, über die sich das lähmende Schweigen der Nachwelt
breitet: „und niemand mehr redet von ihnen" (e piü di lor non si ragiona). Es
ist ein kleiner, enger und ängstlicher Friede, durchaus der Stimmung der
Metternichschen Restauration entsprechend. „Quieta non movere", das Ru-
hige nicht in Bewegung bringen, hieß die Maxime des Staatsmannes, der an
die Schrecken der Revolution dachte. Der Dichter dagegen evoziert die
„profondissima quiete", die abgrundtiefe Ruhe der Natur. Geschichte als
Vita activa ist nur noch Erinnerung -: der ferne Bronze- und Eisenklang des
alten Rom, nicht des Napoleonischen Empire, das nur lärmendes Imitat war.
In L'Inßnito wird der Ort privaten Rückzugs zum Auslöser einer ins Un-
endliche lockenden Denkbewegung. Das Gedicht, bis auf das herrliche
Schlußbild visuell mit großer Zurückhaltung arbeitend, verlegt sein Entgren-
zungsverlangen demonstrativ in die Einsamkeit. In der „Wüste", hier als
verlassener Hügel kaschiert, öffnet sich der Ausgang aus der Enttäuschungs-
geschichte. Kein Fernblick inspiriert (denn die Hecke begrenzt ja die Sicht),
sondern der Blick ins innere Universum des Subjekts. Sorgsam wählt der
moderne Melancholiker den Schauplatz für den Freitod der Gedanken, in-
dem er alle optischen Reize ausblendet, die zu sehr an Leben erinnern. Leo-
pardis Bezeichnung „Idyll" darf nicht als Miniatur eines anmutigen Ortes

Leopardi, Gesänge 96/97


300

mißverstanden werden; sie meint nicht das Lob einer Kleinwelt und am we-
nigsten harmlose Glücksbilder. „Idyll" bezeichnet hier das subjektive Mo-
ment in der Naturerfahrung, den „Kontrast zwischen einem vertrauten
Raum und einer kosmischen Dimension" 5 . Wie zuvor bei Rousseau, dem der
junge Leopardi viel verdankt, und vor der großen Entzauberung des
19.Jahrhunderts, ist es noch einmal Natur, die solche Entgrenzungsgefühle
befördert.
Auffällig an Leopardis Naturverständnis aber ist der Wandel, der einige
Jahre später (1824) in den Dialogen der Operette morali nachzulesen ist. Wäh-
rend Natur bei aller Strenge zunächst noch menschenfreundlich wirkte, stellt
sie sich wenig später als vollkommen gleichgültig, jenseits von Gut und Böse
dar. „Lebe, sei groß und unglücklich" - so lautet ihr ethischer Imperativ im
„Dialog zwischen der Natur und einer Seele"6. Bündiger läßt sich Leopardis
Pessimismus nicht formulieren. Tod ist das eherne Gesetz in der Natur, ver-
hängt von einem anonymen Schicksal, ebenso wie die Leiden der Menschen:
sie sind in der Ordnung der Schöpfung enthalten. Je größer die Seele, desto
intensiver lebt sie; gerade das intensive Leben wird ihr Unglück, erwächst es
doch aus jenem Glücksverlangen, das die Natur dem Menschen einpflanzt.
Standhaftigkeit im Leiden wird nun zum Maß der Menschenwürde, gekrönt
durch die Aussicht auf Ruhm, den Leopardi antikisch als Spielart der Un-
sterblichkeit versteht. Doch das „male di vita" ist stärker als die Verlockung.
Die absolute Enttäuschung mündet in absolute Regression: Die Seele, um ihr
Leiden zu verringern, bittet die Natur (hier noch als „Mutter" angesprochen)
um Verminderung von Vitalität und Gefühl; ja sie schlägt selbst die Unsterb-
lichkeit aus. Das „ferne Land" ist hier das Reich des Todes.
Erstaunlich, wie kurz darauf, im Dialog ^wischen der Natur und einem
Isländer, der Ton sich verschärft. Der Isländer, der seine Insel verläßt, wo alle
vier Elemente sich menschenfeindlich zeigen, begegnet im Inneren Afrikas
der nämlichen Natur, vor der er fliehen wollte. Als Riesin, die sich an einen
Berg lehnt, das Gesicht zugleich schön und schrecklich, ist sie die allgegen-
wärtige Herrin, die sich um Glück oder Unglück der Menschen nicht küm-
mert. „Wenn ich euch in irgendeiner Weise mißhandle, merke ich es nur sel-
ten.^. .)Und selbst wenn ich versehentlich ein ganzes Geschlecht vernichtete,
ich würde es nicht einmal wahrnehmen" 7 . Diese Natur von titanischer
Gleichgültigkeit trägt alle Züge der Stiefmutter; die Illusionen der Aufklärer
werden vor ihr zunichte. Vergeblich der Einspruch des Isländers, daß er die
Natur niemals gebeten habe, ihn in die Welt zu setzen: Er zerschellt an der
blinden Faktizitat des Geschehens. Als hätte sie die Philosophie der Inder
studiert, vor allem die Konzeption des Samsara, verweist die Natur auf die
unausweichliche Zyklik des Seins: „Du hast offenbar nicht erkannt, daß das

5
F.Janowski, in: V.Kapp (Hg), Italienische Literaturgeschichte (Stuttgart - Weimar 1992) 247
6
Leopardi, Gesänge 305ff.
7
Ebd. 346
301

Leben dieses Universums ein ewiger Kreislauf von Schöpfung und Zerstö-
rung ist"8. Natur ist nichts als diese Doppelbewegung. Damit steht Leopardi
nicht nur an den Grenzen der Vernunft, sondern auch jenseits der Theodi-
zeefrage, die doch am Ursprung der Aufklärung stand. Auch als Philosoph
ist er einsam in seinem Jahrhundert, da er sich weigert, Natur zu instrumen-
talisieren oder ihr gar eine Entwicklung zuzuschreiben.
Leopardis Natur ist eine unergründliche, blinde, ja grausame Göttin,
auch wenn an ihr noch Attribute des Erhabenen haften. Dennoch behauptet
sie sich, aller Entzauberung zum Trotz, als romantischer Archetyp. Ähnliche
Personifikationen der Natur, allerdings freundlicher, gibt es in der deutschen
Frühromantik, etwa im Runenberg von Ludwig Tieck, und später sogar bei
Baudelaire, dessen Sonett ha Geante im Bild einer Riesin den Regressions-
traum des Kindes im Manne besingt, das sich wünscht, im Schatten ihrer
Brüste einzuschlafen. Sinnlicher und unbefangener als Leopardi erdichtet
Baudelaire ein irdisches Paradies, worin die Natur Geliebte und Mutter zu-
gleich ist. Frömmer als seine Zeitgenossen, hätte er nie den Gedanken ge-
wagt, diese Göttin zu entehren und zu schänden. Der Philologe Leopardi
steht mit seiner Naturallegorie überdies in einer Tradition, die auf die Antike
zurückgeht und besonders von den Neupia tonikern bei der Homer- und
Vergilexegese gepflegt wurde. Wie der spätantike Mensch besaß er für die
Allegorese offenbar eine „Erlebnisdisposition" (E.R.Curtius). Als Dichter
hatten schon Ovid und Claudian jene Mythologie der Natur 9 bereitgestellt,
die es Leopardi, dem Kenner der paganen Literatur, erlaubte, Gott und
Natur praktisch ineins zu setzen.
Doch der christliche Schöpfer und die Heilsgeschichte sind abwesend
im Lukianischen Sprachspiel der Operette morali. Der Pessimismus der Bot-
schaft wird kompensiert durch Satire; die Religionskritik ist immanent. Erst
zwei Jahre später, in philosophischen Aufzeichnungen des Zibaldone, datiert
vom 22.April 1826, wagt sich Leopardi an die Verneinung der Schöpfung,
des Weltalls, des Seins schlechthin: „Die Ordnung und der Zustand, die Ge-
setze, der natürliche Gang des Universums sind durchaus von Übel und nur
auf das Übel gerichtet"10. Die Entwertung des Seins führt, wie später bei
Nietzsche, zu einer radikalen Umwertung aller Werte: „Das Weltall: nichts
als ein dunkler Fleck, metaphysisch ein Stäubchen. Das Dasein ist seiner
eigenen Natur, seinem allgemeinen Wesen nach eine Unvollkommenheit,
eine Unregelmäßigkeit, eine Ungeheuerlichkeit"11. Die Inbrunst vor dem
Nichts ist Leopardis Gegenreligion. Das Dasein wird als Zumutung eines
Deus malignus negiert. Das ferne Land, das Leopardi hinter dem Horizont

8
Ebd. 347
9
Da2u E.R.Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (4.Auflage
Bern - München 1964) 116f.
10
Leopardi, Gedankenbuch 537
11
Ebd. 538
302

der Illusionen suchte, enthüllt sich als das Nichts. Nur in ihm ist Erlösung;
denn das Nichts ist die wahre Unendlichkeit.
Mit dem Christentum schwindet zugleich die Vernunftreligion. Die
Metapher des endlosen Kreislaufes, Nietzsche vorwegnehmend, erlaubt als
pagane keine teleologische Geschichte mehr; damit entfällt jeder Gedanke an
Fortschritt, Sinn, Vollendung. So mobilisiert Leopardi antike Denkfiguren
gegen die Moderne. Vor seiner Göttin Natur bleibt als einzige Hoffnung der
Tod. Der Isländer erleidet ihn buchstäblich in einem fernen Land, in einer
Fluchtwelt, die wie bei Baudelaire nur eine andere Ecke im Weltspital ist:
nach einer Version von zwei Löwen getötet, nach einer andereren von einem
Sandsturm begraben und mumifiziert, später von Reisenden gefunden und
im Museum ausgestellt. Die Ironie dieses Schlusses, romantischer Sprung aus
der Wirklichkeit, ist literarische Kaschierung der Verzweiflung.
Damit kommt dem Gedicht Ulnfinito nachträglich eine neue Lesart zu.
In einer Zeit, da der Fortschritt der Technik (den Leopardi in seiner Palinodie
an Gino Capponi satirisch kommentiert hat) jeden mit jedem, alles mit allem
zu verbinden droht, sucht Leopardi das ferne Land in dem, was unbeachtet
vor aller Augen liegt - Hügel, Hecke, Bäume, ein Stückchen Horizont. Keine
Landschaft mehr in Ulnfinito, sondern nur noch Naturzeichen, wenige, die
auf ein Jenseits des Betrachteten verweisen. Der Blick geht nach innen: er
hört. Das Rauschen des Ewigen löscht mit den Bildern die Geschichte aus.
Nicht Grenzüberschreitung lockt Leopardi, der sich in Recanati wie ein Ge-
fangener vorkam, sondern die Entgrenzung überhaupt. Noch steckt in sei-
nem Unendlichkeitspathos ein Verlangen nach Transzendenz. Leopardis
Verzicht auf Weltveränderung gibt seinen Versen Ruhe und Gefaßtheit, trotz
heimlichen Grauens. Im Meer des Unbewußten eintauchen wird zur Lust,
vergleichbar dem, was Schopenhauer als Sabbat des Wollens beschrieb: das
Rad des Ixion steht still. Erfüllung durch die Leere knüpft Leopardi an den
Schiffbruch der Gedanken. Das ferne Land eröffnet sich im Gestus der Er-
gebung, des Selbstvergessens, des Sich-Sinkenlassens. Das Hinab des Willens
läßt einen Ozean heranfluten, in dem das Subjekt seine Leidensgeschichte
begräbt. Zum letzten Mal im 19.Jahrhundert genügen dem Dichter Hügel,
Hecke, ein Stück Horizont, um die Geschichte laudos zu entmachten - jene
Geschichte, die zur gleichen Zeit von Hegel als Weltrichterin inthronisiert
wird. In Leopardis Idyll versinkt die Schädelstätte.
Siebzehn Jahre später unternimmt Leopardi den letzten Versuch, seine
Naturästhetik gültig auszudrücken - in dem großen Gedicht La ginestra o II
fiore del deserto (1836). Der Ton ist noch härter und pessimistischer geworden;
ein erstaunlicher Nihilismus prägt die Verse, in der mit der Geschichte die
Utopie negiert wird. Am Hang des Vesuv — Leopardi wohnte damals in
einem Landhaus bei Torre del Greco - führt die Betrachtung des Ginsters,
der einsam auf den Lavahalden wächst, zur Erkenntnis der menschlichen
Ohnmacht vor der Natur.
303

Qui su l'anda schiena


del formidabil monte
sterminator Vesevo,
la quäl null'altro allegra arbot ne fiore,
tuoi cespi solitari intorno spargi,
odorata ginestra,
contenta dei deserti.

Hier auf dem kahlen Rücken


des unheilvollen Berges,
des schrecklichen Vesuv,
den sonst kein Baum und keine Blume schmücken,
hier breitest du dich aus, einsamer Ginster,
und deinen Duft verströmst du,
des öden Lands zufrieden.12

Mit einem leichten Stoß kann die Natur, die „harte Mutter" (dura nutrice),
den Menschen und seine Werke vernichten. Es ist dieselbe allmächtige
Gottheit, die im Gedicht Der Abend nach dem Fest (1820) den Menschen zum
Leiden schuf13. Der Ginster, auf jenen Hängen wachsend, unter denen Pom
peji ausgegraben wurde, ist ebenso vergänglich wie die Kultur des Altertums;
ihn vermag kein Vulkan mehr zu schrecken. Die Identifikation des Dichters
mit dem Geschöpf, das in der Öde existiert, steht in Zusammenhang mit
seinem Motto aus dem Johannesevangelium: „Und die Menschen liebten die
Finsternis mehr als das Licht" (Joh 3,19). In dieser Pathosformel, ja Selbst
stigmatisierung geschieht die Apotheose des Dichters: Er ist das Licht in der
Finsternis, der gegen sein Jahrhundert, ja gegen alle Profangeschichte steht.
Der Auserwählte ist der, den niemand wahrnimmt.
Der Hauch von Transzendenz, der noch in Ulnfinito spürbar war, ist
hier dem „heroischen Materialismus" (F.Bandini) gewichen. Das unschuldige
Land ist nicht mehr auf Erden zu finden, sondern hat sich verloren in der
Unendlichkeit des Universums, dessen Milchstraßen menschlichen Augen
wie Nebel erscheinen (nodi quasi di stelle,/ ch'a noi paion quäl nebbia). Das
ferne Land als Ort einer Hoffnung ist aufgegeben. Was bleibt, ist der verlo
rene Blick in kalte Unendlichkeit, auf eine Natur, die den Menschen nicht
mehr als die Ameise achtet; denn beides gilt ihr gleich.14
Solche Ästhetik der Natur installiert das Reich der schieren Kontingenz.
Der Radikalismus, mit dem Leopardi die Ideale des 19.Jahrhunderts demon
tiert, ist ohne Beispiel. Der Ginster, der die entblößten Felder mit seinem

12
Leopardi, Gesänge 244/245
13
„L'antica natura onnipossente,/ Che mi fece all'affanno" (Leopardi, Gesänge 94)
14
Ebd. 256/257
304

duftenden Dickicht schmückt, wird zum Symbol eigenen Untergangs. Leo-


pardi gibt ihm von daher die Würde des Passionsbildes:

E piegherai
sotto il fascio mortal non renitente
il tuo capo innocente.

Und ohne Sträuben


wirst du dein schuldlos Haupt
dem Todesstreiche beugen.15

Mit diesen Todesstreichen endet in der europäischen Literatur jede naive


Naturdichtung. Der Transzendenzverlust als Illusionsverlust erstickt das Ge-
fühl einer sinnvoll-hierarchischen Ordnung der Dinge, wie sie gerade von
einflußreichen Autoren der Restauration wie Chateaubriand und De Maistre,
den Wiederentdeckern christlicher Werte, gepredigt wurde. „Die Einsamkeit
Leopardis kann nicht vollkommener sein"16. Mit seinem Fatalismus macht er
sich ebenso den liberalen Zeitgeist zum Gegner, dem sein Weltbild zu skep-
tisch, zu fortschrittsfeindlich, zu unmenschlich ist. Leopardis Antihistons-
mus entfaltet sich gegenläufig zur bürgerlichen Geschichtsphilosophie und
ihren Sinnkonstruktionen - gegenläufig zu Hegels Diktum, „daß die Weltge-
schichte ein Produkt der ewigen Vernunft ist", gegenläufig auch zu Comtes
Positivismus, der, gestützt auf eine „prevision rationelle", den grundlegenden
Gang der menschlichen Entwicklung zu erkennen glaubt. Quer zu allen
Tendenzen der Epoche stehend, pflegt Leopardi eine Modernitätskritik, die
ihn die eigene Zeit als .Jahrhundert aus Schlamm" (secol di fango) verachten
läßt. Der lärmende, stupide Optimismus, der sich anmaßt, bis zu den Sternen
zu gelangen (wie die Palinodie prophetisch ausspricht), steht am Ende einer
Verfallsgeschichte. Das einzig gewürdigte Vorbild, das antike, genauer das
pagane Rom liegt in Trümmern. Indem der Dichter den Traum des fernen
Landes aufgibt, gibt er die Utopien auf — die politischen und die poetischen.
Die größte Illusion aber, von der er sich trennt, ist die einer menschen-
freundlichen und gütigen Natur; dieses Erbe der Aufklärung schlägt Leo-
pardi aus. Stattdessen kultiviert er Auslöschungsphantasien. Der Todes-
wunsch, der aus der Leidensgeschichte herausführen soll, erwacht am heftig-
sten in der Natur. Wider ihre Allmacht bleibt nichts als Todeswürde.
Die absolute Dichtung Leopardis ist der Versuch, der absoluten Natur
wenigstens symbolisch Widerstand zu leisten. Der Akt der Poiesis bietet dem
Menschen die einzige Möglichkeit, die Illusion der Freiheit zu bewahren. In-
sofern ist Leopardis Pessimismus auch ein bewußtes Sprachspiel, durch-

15
Ebd. 260/261
16
F.Bandini in seiner Ausgabe der Canti (Mailand 1975) 304: „La solitudine del Leopardi
non puö essere piü completa."
305

strömt von Gedankenmusik, lyrische Reflexionskunst, für die es im


19.Jahrhundert Vergleichbares nur bei Tjutschew und Mallarme gibt. Leo-
pardi setzt der unsterblichen Natur furchtlos die eigene Sterblichkeit, die
Unauslöschlichkeit des Glückverlangens, das Bewußtsein des eigenen Todes
entgegen. Anders als Voltaire, der trotz des Erdbebens von Lissabon noch
am Deismus festhielt, glaubt Leopardi an keine Weltvernunft mehr. Allen-
falls vertraut er mit Pascal auf die Würde des denkenden Schilfrohrs, gegen
das ein Universum sich wappnet. Pascals Schilfrohr und Leopardis Ginster,
beides signifikante Naturbilder, haben für die Selbstbehauptung des neuzeit-
lichen Subjekts gleichsam heraldischen Rang. Nur daß das Schilfrohr trotz
allem die Einmaligkeit des Subjekts bezeichnete, während der Ginster bloß
kontingentes Dasein auf den Halden des Untergangs hat. Diese nutzlose
Pflanze repräsentiert gerade in ihrer Verkanntheit den schönen Schein der
Kunst, das Licht in der Finsternis, das niemand will. Aus der Erkenntnis der
blind erschaffenden, zerstörenden Natur schöpft Leopardi den Ästhetizis-
mus — als eine Form von Ethik am Rande des Nichts. Was aber bleibt, sind
die Texte. Sie bewahren, was sich für immer entfernt hat: die absolute, weil
Hoffnung verheißende Ferne, die eine Chiffer für das Unendliche war. Leo-
pardi spürte, daß in der Moderne der Ort des Heiligen nur noch die „Wüste"
sein kann, die von den Vielen gehaßt wird, und daß die „Wüste" verborgen
ist in jener Einsamkeit, die ihn alleine anzog. Sein fernes Land ist reine Ge-
dankenmusik: Rauschen der Zeit im Laub, auf jenem Hügel über Recanati,
oder lautloser Feuerzauber des Ginsters auf den Hängen des Vesuv. Nur
Suggestionen; doch Ausgänge aus der Geschichte.

Leopardis Fluchtträume, die sich trotz aller Naturenttäuschung im Ambiente


der Natur ereigneten, waren eine besonders kunstvolle Form von Regres-
sion. Von der Natur enttäuscht sein, heißt von der Mutter enttäuscht sein,
die sich als kalt und streng erweist. An ihre Stelle setzte Leopardi die Muse
des Nichts. Hundert Jahre später sucht Gottfried Benn einen ähnlichen
Fluchtweg: Regression als neue Utopie, Untertauchen in Vorzeit und Vorge-
schichte, um den Stachel des Bewußtseins zu betäuben, den „armen Hirn-
hund, schwer mit Gott behangen", zum Schweigen zu bringen. Das Stamm-
hirn speichert die Erinnerungen, in ihm liegt die Vorwelt gesammelt — „jene
Prähistorie der Wirklichkeit, in der der akausale Beziehungswahn sein Arka-
dien feiert"17. Was bei Leopardi Untergang im Meer des Bewußdosen war, ist
bei Benn die „thalassale Regression". Nicht umsonst entbindet die meerische
Metapher den Wunschtraum des Dichters: „Er drängt zurück nach dem

Benn, Drei alte Männer. Gespräche, in: Gesammelte Werke, hrsg. von D.Wellershoff,
II (Stuttgart 1958) 403f.
306

geschichtslosen Urmeer der Seele"18. Denn Benn litt an der Krankheit des
Denkens und kondensierte Verse als Betäubungsmittel.

Am Horizont die Schleierfähre,


stygische Blüten, Schlaf und Mohn,
die Träne wühlt sich in die Meere -
dir: thalassalc Regression.19

Hadesmotiv, Leidensmetapher und Trost der Morphine bilden hier ein Erlö-
sungssyndrom. Noch eindrucksvoller, weil unverhohlener, der Regressions-
wunsch in den Gesängen von 1913. Ein Traum von Bewußdosigkeit, der wie
in Wagners Tristan höchste Lust verspricht:

O daß wir unsere Ururahnen wären.


Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
Leben und Tod, Befruchten und Gebären
glitte aus unseren stummen Säften vor.20

Diese Verse sind nicht nur vom Darwinismus durchtränkt, der um 1900 eine
mystisch getönte Lebensphilosophie erzeugte, sondern verraten auch gehei-
men Geschichtspessimismus. Die Sehnsucht nach vegetativer Ergriffenheit
konnte der junge Benn bei dem bewunderten J.P.Jacobsen wahrnehmen - an
der Figur des Niels Lyhne, der Schopenhauer Hebt und im Mikroskop neue
Welten entdeckt 21 . Die biologistische Mystik der Gesänge mag erklären, wes-
halb Ernst Jünger die Verse besonders geschätzt hat: „Em Zeugnis für das
Maß, in dem das Leiden sich seit Rousseau verdichtete. Dem schwebten
zwar auch ferne, doch humane Archipele vor" 22 .
Mit solchen Regressionswünschen endet das Zeitalter bürgerlicher
Rationalität. Bei Benn kommt neben der Verachtung für den Historismus
noch der Zug in das Exotische hinzu, der ihn empfänglich machte für die
Wallungen des Irrationalen. „Unerinnerlichkeit an das letzte Europäische;
Primitivität, das sind die kalten Reserven"23. Die politische Implikation dieser
Sätze, 1934 geschrieben, ist unüberhörbar, allerdings auch der Unterton fun-
damentaler Enttäuschung. Aus dem Opferfeuer, in dem Benn verbrannte,
was er zuvor angebetet hatte, ist Asche, die kalte Reserve geworden. Denn
Benn, der Großstadtdichter, der Asphaltliterat, suchte das Archaische, Wilde,
Vitale. Mit grimmiger Bereitschaft hatte er Urbanität und Individualismus
preisgegeben, ja Hitlers Machtergreifung in seinem Brief an Klaus Mann als

18
M.Rychner, in: Hillebrand 35
» Benn, Regressiv (SW 1,126)
20
Ebd. 23
21
Dazu H.Fritz, G.Benns Anfänge, in: Hillebrand 261 - 280
22
E.Jünger, Annäherungen. Drogen und Rausch (Stuttgart 1970) 450
23
Benn, Lebensweg eines Intellektualisten. 1934 (SW IV, 175)
307

,.anthropologische Wende" verstanden, ihn in die „Rhythmen verdeckter


Schöpfungsräusche" eingefügt. Größer und unverzeihlicher konnte kein
Irrtum sein24. Als er offenbar wurde, blieb Benn nur noch die Flucht vor der
Geschichte.
Der Gegensatz zwischen Ästhetik und Politik wird seitdem absolut. Der
Dichter der Ausdruckswelt, der maskuline Melancholiker, der sich mitten im
Dritten Reich seine dorische Welt erdichtet, überschüttet die ruinöse Ge-
schichte mit aller Verachtung, derer er fähig ist: „Das Zoon politikon, dieser
griechische Mißgriff, diese Balkanidee - das ist der Keim des Untergangs, der
sich jetzt vollzieht". So Benn 1948 aus dem blockierten Berlin25. Er täuschte
sich nicht; denn 1945 wurde keine neue Weltordnung geschaffen, als Kalter
Krieg ging die Geschichte weiter. Mit der Ereignisgeschichte verwirft Benn
auch die Geschichtsphilosophie: „wenn man ihr Fazit zieht, ist sie nichts als
eine feminine Fortdeutung von Machtbeständen" 26 . Nach zwei Kriegen
bleibt der Tristesse des Dichters nur noch das Vanitasbild. Erlösung vom
Leiden an der geschichtlichen Welt vermag für Augenblicke allein die Kunst
zu geben. Benns Antihistorismus steigert sich zum Artistenevangelium: „Der
Mensch, die Mischgestalt, der Minotauros, als Natur ewig im Labyrinth und
in feiner Fassung kannibalisch, hier ist er akkordisch rein und in Höhen
monolithisch und windet die Schöpfung jenem anderen aus der Hand" 27 .
Das ist, bis in Duktus und Metaphorik hinein, genuine Nachfolge Nietzsches
— bis hin in kunstvoll stilisierte Barbarei, die freilich selbst ein Zivilisations-
produkt ist. Benns Regressions träume, zu Beginn seiner Karriere noch ex-
pressionistisch getönt, folgen der Spur, die im 19Jahrhundert schon Baude-
laire gezogen hatte. Baudelaires imaginäre Reise, mit der die Fleurs du Mal
schließen, war ein metaphysischer Ausflug über die Grenzen der Vernunft
hinaus — ein transzendentaler Exotismus, der im Tode die einzige Stillung
des Hungers nach Neuem erkannte. Dieser Hunger ist eine Art von Ver-
dammnis — bei Benn Nihilismus genannt, aber im Grunde ein wildwüchsiger
Sproß der romantischen Sehnsucht nach dem Unendlichen.
Das ferne Land bei Benn ist reine Ausdruckswelt, abgerungen der Kata-
strophengeschichte. So konnte er seine Poetik, mit der er nach 1945 zu
weltweitem Ruhm kam, mit Recht als „Überwinderin des Nationalismus, des
Rassismus, der Geschichte" präsentieren 28 . Aber die eigentliche Botschaft
war noch anders: Das ferne Land, das es nicht gibt, kann nach dem Ende der
Metaphysik nur eine Schöpfung des Nihilismus sein. Als Kunstprinzip aber
ist Nihilismus notwendig Verneinung von Geschichte, Wirklichkeit, Lebens-
bejahung. Hellsichtig und nicht ohne Stolz reiht sich Benn in jene Linie ein,

2i
Dazu die abgewogene Darstellung von D.Wellershoff, in: Hillebrand 133 - 152
» Benn, Berliner Brief. Juli 1948 (SW V, 57)
* Benn, Dorische Welt. 1934 (SW IV, 141)
27
Ebd. 152
28
Benn, Zum Thema Geschichte. 1943 (SW IV, 303)
308

die mit Nietzsche beginnend aus der Geschichte heraus in ein Unendliches
zielt. „Nihilismus ist eine innere Realität, nämlich eine Bestimmung, sich in
der Richtung auf ästhetische Deutung in Bewegung zu bringen, in ihm endet
das Ergebnis und die Möglichkeit der Geschichte" 29 . Vorformen dieser
Fluchtbewegung waren die Exotismen, die Benn in den zwanziger Jahren in
seine Lyrik einmontierte. Der Großstadtmensch par excellence, der in
Doppelleben die Naturfremdheit als Voraussetzung modemer Poesie nannte,
hat 1922 im hektischen Berlin sich dennoch nach dem roten Abend auf
Palau gesehnt:

Heiße Riffe. Aus Eukalypten geht


Tropik und Palmung,
was sich noch hält und steht,
will auch Zermalmung
bis in das Gliederlos,
bis in die Leere,
tief in den Schöpfungsschoß
dämmernder Meere.30

Das expressionistische Rot dieses Seestücks, wie einem Bild von Nolde,
Pechstein oder Heckel entnommen, signalisiert Erotisches, das sich mit To-
deslust, mit Entformungsgefühl paart: „Singe, auch aus den Kelchen der
Frau / läßt es sich trinken". Das Wogen der See nimmt und gibt auch hier
Gedächtnis, treibt Erinnerungstrümmer heran, aber keine Liebe, die fleißig
die Augen heftet. Stattdessen — wie T.S.Eliot seinen Sweeney im aristophani-
schen Musical singen läßt — „birth, and copulation and death". Nur daß es
bei Benn, dem enttäuschten Romantiker, noch elegischer klingt:

Paarung. Dein Meer belebt


Sepien, Korallen,
was sich noch hält und hebt,
will auch zerfallen...31

Das Meer als großer Schoß, als gebärende und als verschlingende Göttin,
lockend und furchtbar in einem, erinnert an die mythische Urflut, aus der das
Leben kam — so wie Anaximander es im Frührot der Naturphilosophie am
Ufer der Ägäis sich erdachte: Daß im Feuchten die ersten Lebewesen ent-
standen seien, umhüllt von stachligen Rinden32. Mythos und Geschichte paa-
ren sich im Gedicht; das Meer als Ursprung des Lebens, als Kollektivge-

29
Ebd.
30
Benn, Palau (SWI, 58)
31
Ebd. 59
32
Fragment 30, in: W.Kranz, Vorsokratische Denker (3. Auflage Berlin 1959) 43
309

dachtnis, als Sintflut, als Zeugungsorgie, als Todestraum schwemmt sie heran
und spült sie wieder fort — Megalithen und Äsen, Cäsaren, Zeus und Charon.
Gottfried Benn konnte in seiner Landsberger Kaserne im Januar 1945
den Kanonendonner der Roten Armee hören, die heranrückte wie ein tödli-
che Brandung, als er das Gedicht Ach, das ferne Land schrieb. Geschichte und
Fluchttraum waren in seinem Werk und seiner Biographie niemals entgegen-
gesetzter als hier. Die Epoche selbst, das Reptil Geschichte schnappte nach
ihm, als er seine Chiffern des anderen Zustands montierte. Das ferne Land,
so unbetretbar wie jenes in Mignons Lied, wo die Zitronen blühn, existiert,
weil das Ich am Rande der Großkatastrophe nicht mehr auf Lebensrettung,
sondern auf Verse, auf hinterlassungsfähige Gebilde sinnt. „Ich gehe das Le-
ben an und vollende ein Gedicht. Alles, was sonst das Leben betrifft, ist
fragwürdig und unbestimmt" 33 . Der Ausgang aus der Geschichte ist reine
Illusion; ein paar Worte und Namen strudeln Natur, Entrückung, Kultur-
trümmer heran, Treibgut der Psyche, Tagträume in Block II, Zimmer 66;
selbst der Krieg geschieht wie vor Kulissen. Mit provozierender Kühle be-
kennt Benn seinen „persönlichen Unglauben an eine Bedeutung der ge-
schichtlichen Welt"34. Einzig Naturbilder - Kiesel, Schilf und Mond - liefern
noch die mentale Droge, um auszusteigen aus einem blutigen Wahn der
Vernunft, der Tod und Vernichtung über die Völker bringt:

Ach, das ferne Land,


wo das Herzzerreißende
auf runden Kiesel
oder Schilffläche libellenflüchtig
anmurmelt,
auch der Mond
verschlagenen Lichts
- halb Reif, halb Ährenweiß -
den Doppelgrund der Nacht
so tröstlich anhebt -3S

Das ferne Land, heraufsteigend aus einem Ach, das ans Unendliche rührt, in-
spirierte Benn zu seinem Lieblingsgedicht im neuen statischen Stil: „das war
eine Augenblickssache u. steht mir nahe", wie er seinem Freund Oelze be-
kannte36. Asolo als Lebensform, mit dem Schimmer der Seen, im Alpenvor-
land Venetiens, wo die Düse begraben ist, der alle Kriegsschiffe, selbst die
englischen salutierten, als ihr Sarg auf der „Duilio" Gibraltar passierte -: nur
noch Reminiszenzen, schwebend über dem Abgrund der Zeit, die Namen
ein zart irisierender Schleier über dem Nichts. Was übrigbleibt, sind

" Benn, Doppelleben. Block II, Zimmer 66 (SW V, 137)


M
Ebd
15
Benn SW 1,177
56
Benn, Bnefe an Oelze 377 (18.1.1945)
310

Selbstgespräche des lyrischen Ich auf leerer Bühne, „ohne Beziehung auf
Nahes", umgeben von Totemfragmenten, archaischen Relikten, hineinragend
in den Realitätszerfall, in den imaginären Frühling von Asolo: Sogno di un
mattino di primavera hieß ein Stück von D'Annunzio, in dem die Düse die
Hauptrolle spielte. Das ferne Land lockt zu vagantischen Träumen: „etwas
Rosinenbrot im Rock" - doch dieser Taugenichts ist nicht mehr
Eichendorff, sondern ein abgerissener Nietzsche, auch er nur ein Schatten,
vorbei.

So fallen die Tage,


bis der Ast am Himmel steht,
auf dem die Vögel einruhn
nach langem Flug.37

Die Verse, absolute Poesie, evozieren Natur kraft der Worte, stellen den Ast
in die Leere, auf dem die Vögel rasten. Daß Benn gerade das Motiv des Ein-
ruhens verwendet, mag eine Erinnerung an seine Nietzschelektüre sein, an
den letzten Aphorismus der Morgenröte, der überschrieben ist Wir Luftschiffer
des Geistes. Dort heißt es: „All diese kühnen Vögel, die ins Weite, Weiteste
hinausfliegen — gewiß! irgendwo werden sie nicht mehr weiterkönnen und
sich auf eine Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken. (...) Was geht
das aber mich und dich an! Andere Vögel werden weiter fliegen!"38 Mit
dieser Ästhetik erleuchteter Leere endet Benns Fluchttraum. Es ist kein Ort
für Hoffnung in der Welt, die Geschichte zermalmt ganze Reiche, doch der
gedichtete Ast hält sich aufrecht im Nichts. Von ihm können die Gedanken
weiterfliegen — zu neuen Meeren hin.
Der „Zusammenhangsdurchstoßung" galt Benns Poetik schon in den
Rönne-Novellen; das expressionistische Grundmotiv drängte zur Ganzheit
des Lebens. Seit Nietzsches und Haeckels Monismus war das „Leben", das
große Thema der Jahrhundertwende, mit mystischen Konnotationen besetzt.
Die Einheit von Leben und Geist wenigstens im poetischen Akt zu retten,
war für Benn der Antrieb seines Schreibens. Die Regression, bewußt herbei-
geführt, macht zum Eckstein der Dichtung, was die bürgerliche Rationalität
verworfen hatte: den Rausch, den Traum, die Trance, die Manie. Für Benn
sind sie die Äquivalente der „heiligen Wildnis", Residuen des verlorenen Sa-
kralen. Er scheute seit seiner Brüsseler Zeit 1915/16 nicht mehr davor zu-
rück, die Droge zu bemühen, um die Entgrenzung zu kosten - „den Ich-
zerfall, den süßen, tiefersehnten", wie ihn das Kokain gewährt39, oder einzu-
tauchen in die „trunkene Flut, trance- und traumgefleckt"40. Selbst eine

37
Benn SW 1,177
38
Nietzsche, Morgenröte § 575 (KSA 3, 331)
39
Benn, Kokain (SW I, 45)
40
Ebd. 56
311

Hymne an die Nacht verdankt sich dem Kokain: „sei, die mich aus der
Nervenmythe / zu Kelch und Krone heimgebar" 41 . Dagegen die Geschichte:
nur nackte Schädelstatten.
Der Dualismus von Kunst und Geschichte, der sich für Benn seit 1933
auftat, verstärkte sich während des Zweiten Weltkriegs. Erkenntnis der Lage
wurde fortan nicht nur zu einem lebenspraktischen, sondern auch poetischen
Prinzip. Im Oktober 1940, nach dem Sieg über Frankreich, der ein Triumph
für Hitler war, schrieb Benn an Oelze: „Es giebt innerhalb der geschichtli-
chen Welt kein Gut und Böse. Es giebt nur das Böse, meine ich. Wer das
nicht sieht, ist in der Substanz schmächtig und seelisch nicht herangereift.
(...) Es giebt nur die geschichtliche Welt — und den einsamen, inneren
Rausch"42. Zur kosmischen Regression aber gehört - darin blieb Benn dem
Vorbild Nietzsche treu — die Ewige Wiederkehr, der große Kreislauf:
„Komm - laß sie sinken und steigen, / die Zyklen brechen hervor". So sug-
geriert es das Gedicht Quartär, geschrieben 1946, als die Enttäuschung an der
Geschichte vollkommen war. Benns Fluchtträume verschleiern auch eine
Ästhetik des Todes. Ihr hat der Träumer gehuldigt, weil sein Kokettieren mit
dem Barbarischen, das der Nationalsozialismus heraufspülte, nach kurzer
Zeit in Depression und Ekel umgeschlagen war. Heil wird allein noch von
der Kunst erhofft. Ein mit Glanzlichtern der Mnemosyne illuminierter Nihi-
lismus, durchaus ethisch-ästhetische Lebensform, stößt alles Politische von
sich.
Das Fragment Roman des Phänotyp, von März bis Juni 1944 in der Kaser-
ne in Landsberg entstanden, nimmt unter dem vielsagenden Titel Der
Stundengott eine Umwertung aller Werte vor; die Vergänglichkeit der bürgerli-
chen Lebensmuster ist offenkundig geworden. Das Moralische und das Na-
turerlebnis, die Stimmungskunst, die Politik und ihr Pathos — alles brüchig
und überholt, mit einem Wort: historisch. .Jedem ist gegenwärtig, daß Poli-
tik, Umstürze, Kriege, mögen sie auch in den unaufhörlichen Folgen eine
Generation treffen (...), nach kurzer Zeit eine halbe Seite eines Geschichts-
buches ausmachen, oder auch nur eine Fußnote zum Text: die Flüge der
Schwalben und die Züge der Robben sind die gleiche Politik und die gleiche
Geschichte"43. Die Relativierung von Geschichte und Natur, um die das
Abendland riesige Theorie- und Erlebniskomplexe angelagert hatte, erfolgt
im Zeichen des Stundengottes. Das neue Wort, das er verkündet, heißt: exi-
stentiell. Benn faßt darin sein Artistenevangelium: „Herrichtung des Ichs zu
einer durchlebten, geistig überprüften Form (...) und keine Furcht vor dem
Ende" 44 . Mit nichts als dieser Botschaft rettet sich der Dichter aus dem Mal-

" Ebd. Zum biographischen Hintergrund vgl. W.Rübe, Provoziertes Leben: Gottfried Benn
(Stuttgart 1993) 1 3 3 - 1 5 4 {Im Irrgarten der Alkaloide)
« Benn, Briefe an Oelze 245f. (27.10.1940)
' 3 Benn, Roman des Phänotyp. Der Stundengott (SW IV, 389)
<* Ebd.
312

ström. Das Zurücktreten, Schauen als ethisch-ästhetische Haltung beruhigt


selbst dieses Chaos; nicht umsonst färben noch Spuren von Natur das ferne
Land. „Da hielt er: die Angel nicht mehr ausgelegt, die Wasser zogen, ja
ganze Tage wässerten in entrücktem Schweigen, ohne Ungeduld, mit jenem
Honig in den Stunden, der nach der Blüte kommt" 45 . Wie bei Leopardi ist
auch Benns existentielles Idyll das Gegenbild zum niederen Wahn des
Lebens.
Benns Weltepoche wurde, mit einem Begriff aus der Geologie, ein my-
thisiertes Quartär — eine über den Deponien der Geschichte schwebende
Endzeit. Quartär ist Ontologie des Verfalls in düster funkelnden Bildern:

Verfall, Verflammen, Verfehlen -


in toxischen Sphären, kalt,
noch einige stygische Seelen,
einsame, hoch und alt.46

Das ferne Land liegt auf der Schneide dieser Verse, jenseits der Geschichte
unangreifbar. Benns Deszendenztheorie, gefaßt in eine eschatologische Trias,
sieht den Kältetod psychisch und physisch als unabwendbares Geschick Eu-
ropas, das seinen Sonnenlauf beendet hat. Benn zelebriert das nämliche Pa-
thos des Untergangs, das gleichzeitig Heidegger im Brief über den Humanismus
(1947) für seine Deutung des abendländischen Denkweges beansprucht.
Heideggers Kritik am Man, das die Wahrheit des Untergangs als eigenste
Möglichkeit des Daseins 47 nicht erträgt, findet ihr Gegenstück in Benns Kult
des gezeichneten Ich, das da ist, um der Leere standzuhalten. Das ferne Land
aber ist, wie Leopardis Unendliches, nur zerebrale Fiktion, erzeugt von Ent-
grenzungsgefühlen. Benn war gewillt, den korrumpierten Historismus der
bürgerlichen Kultur durch Kunst zu überwinden. So versteht sich sein
poetologisches Credo, schon im Berlin von 1927 gegen die Zeit gesprochen:
„Regressionstendenzen, Zerlösung des Ich! Regressionstendenzen mit Hilfe
des Worts, heuristische Schwächezustände durch Substantive — das ist der
Grundvorgang, der alles interpretiert" 48 . Die tiefste Regression zielt auf den
Tod. Dieses Sehnen dem Abgrund zu ist Benns Versuch, sich auf diskrete
Weise dem Heiligen zu nähern: „Verfeinerung, Abstieg, Trauer" heißen die
Leitmotive in Valse triste, 1936 geschrieben, in persönlich schwieriger Zeit.
Es sind Signaturen einer ungezähmten, abweisenden Natur, die das Heilige
gleichsam versiegeln:

Niemandes-: beuge, beuge


dein Haupt in D o m und Schlehn,

45
Ebd. Zusammenfassung 421
46
Benn, Quartär I (SW I, 178)
47
Heidegger, Sein und Zeit 263
48
Benn, Epilog und lyrisches Ich. 1922/27 (SW III, 133)
313

in Blut und Wunden zeuge


die Form, das Auferstehn.49

Das Faszinosum des Todes ist ein romantisches Urmotiv, das bei Benn in
unromantischer Zeit, 1946, wieder aufsteigt — diesmal als Hadesbeschwö-
rung. Das lyrische Ich, das in der Maske des Odysseus auftritt, opfert das
Lebende, damit die Schatten sprechen: „Ich schnitt die Gurgel den Schafen /
und füllte die Grube mit Blut"50. Das ferne Land weckt die Erinnerung an
die Auferstehung. Doch Benns Vorbild ist nicht Christi Höllenfahrt, die
Rilke vormals bedichtet hatte, sondern die Nekyia-Episode aus der Was: „Ein
jeglicher trank, erzählte / von Schwert und Fall und frug"51. Nach dem Ende
der Metaphysik ironisiert Benn das Finale des Sinns als großes Spiel mit
Metaphern. Es wird - auf Nietzsches Spuren - gespielt vom „alten Spinnen-
mann", der wie auch immer als Gott die Fäden zieht, in denen die Welten,
die Opfer, die Worte sich fangen. Was bleibt, ist der Regressus ad inferos,
verklärt von Relikten des Mythos und der Eschatologie. So läßt der Dichter
seinen letzten Menschen — als Typus verwandt jenen fragilen Figuren, wie
Giacomettd sie schuf - herauswandern aus dem verkommenen historischen
Szenario:

Dann pflückt er sich Asphodelen


und wandert den Styxen zu -
laß sich die Letzten quälen,
laß sie Geschichten erzählen -
Allerseelen —
Firu du tout.52

Erkenne die Lage -: der existentielle Imperativ Gottfried Benns verabschie-


det auch den Entwicklungsgedanken, ohne den die Moderne Natur und Ge-
schichte nicht zu deuten wußte. Das ferne Land hegt nun an jenem Styx, den
zuerst Homer und zuletzt Mallarme evoziert hatten; bei Benn wird das Erin-
nern daran zum monologischen Murmeln. Was sich an diesen Ufern noch
hält, sind nicht die christlichen Dornen, sondern die griechischen Todesblu-
men, leuchtend im geisterhaften Dämmer eines Verses, der alles tragen muß:
„nichts stützt ihn mehr, keine Beziehung, kein Glaube, keine Hoffnung,
keine Täuschung" 53 .
Benns Asphodelen, die den Ausgang der Geschichte schmücken, sind
Reliquien einer Natur, die selbst schon hinabgestiegen ist ins Schattenreich
und wie Proserpina der Auferstehung harrt. Sie verweisen auf eine „nature

49
Benn SW I, 69
» Benn, Quartär II (SW 1,178)
" Ebd.
i2
Benn, Quartär III (SW 1,179)
» Benn, Briefe an Oelze 378 (18.1.1945)
314

morte", die dem Dichter in Zeiten des Krieges nahe kam — ablesbar an
jenem Vierzeiler auf das Bild Asphodeles von Matisse, den Benn auf einer
Postkarte an F.W.Oelze schickte, datiert vom 29.9.1941, im Briefkontext ein-
gerahmt von Erörterungen über Rilke und den Rußlandfeldzug54. So wirft
Politik ihre Schlagschatten über die Poesie pure: Mit deren Asphodelen wird
die Geschichte der Gewalt entsühnt. Im Vers, der sie pflückt, ist auch das
Sinnsystem Natur getilgt und aufgehoben — so wie das Unendliche, das
Leopardi einst suggerierte, von Benn im Akt des Beendens berührt wird.
Also „fini du tout"? Die Krisis der Moderne, die der Lyriker Benn zugleich
vorangetrieben und erlitten hat, bestätigt, daß die klassische Form der
Regression der Mythos bleibt. Dauerhafter als jede Historie bewahrt er das
ferne Land vor dem Vergessen.

Aber das ferne Land kann auch ein Meer sein. In Jean Gionos Roman
Fragments d'un Paradis, im Frühjahr 1944 entstanden, ist der Ozean selbst ein
Sinn- und Geheimnisträger und flutender, wilder Text. Die Geschichte des
20.Jahrhunderts hat daran mitgeschrieben: Giono, der schon den ersten
Krieg nicht vergessen konnte, suchte wie Ungaretti ein „unschuldiges Land".
Im September 1939 wurde der überzeugte Pazifist von den französischen
Behörden verhaftet und im Militärgefängnis Fort St.Nicolas in Marseille in-
haftiert. Dort hörte er das Meer an die Mauern schlagen wie ein Versprechen
von Freiheit. Fünf Jahre später, von Februar bis Juni 1944, diktierte Giono
den Roman, der in Wahrheit ein großes Gedicht ist; der Autor bricht seine
Arbeit ab, als die Alliierten in der Normandie gelandet sind. Giono, der Pro-
venzale aus dem Binnenland, der nicht schwimmen konnte und nie das Meer
befuhr, schreibt sich im ozeanischen Tagtraum aus der Geschichte heraus.
Das literarische Vorbild des mythischen, von Leviathanen und anderen Ur-
geschöpfen bevölkerten Meeres fand er in Melvilles Moby Dick; in den dreißi-
ger Jahren hatte er ihn übersetzt und essayistisch gefeiert. Melville und
Baudelaire, der Puritaner und der als Dandy maskierte Moralist, liefern die
poetischen Modelle für das Anrennen gegen die Grenzen der Wirklichkeit.
Auch für Giono ist die Allegorie die letzte Zuflucht des Metaphysischen.
Zwei Gewährsleute kommen hinzu, die im Roman mit Absicht genannt sind:
Milton, der Dichter des Paradise host, und William Blake, der die Hochzeit
von Himmel und Erde besang.
Das Meer der Welt, uralter biblischer Topos für Chaos, Revolte und
Wildheit, ist jenes Element, das hinreißt und zum Entdecken verführt. Das
Fremde, als Wunschziel und dionysische Herkunft, ist anwesend im Namen
des Schiffes „L'Indien", auf dem Giono seine Männer hinausschickt. Aber

« Ebd. 287 (29.9. und 5.10.1941)


315

im Meer sind Aufruhr und Stille kein Widerspruch; Giono trägt beides in
sein Erzählen hinein. Grundgefühl ist das Thaumazein, das Staunen. Das
gibt dem Text etwas von paradiesischer Unschuld - eine zweite Naivität,
hindurchgegangen durch das Erlebnis der Katastrophengeschichte. Das
Staunen entzündet sich an den Wundern der Schöpfung, den Urtieren, die
für die heilige Wildnis des Ozeanischen stehen - an Hai, Rochen und Rie-
senkrake. Sie ähneln den maritimen Monstern des Alten Testamentes, welche
die Kirchenväter als Personifikationen des Bösen, des Gesetzlosen und der
gefallenen Natur interpretierten. Giono umgibt seinen Leviathan mit luziferi-
scher Aura. Der ungeheure Rochen mit seinen Riesenflügeln, der die Seefah-
rer erschreckt und entzückt, ist ein gefallener Engel, dessen Zuckergeruch
anzieht und ekelt zugleich und dessen Farbenspiel, Blendwerk der Tiefe, die
Augen der Männer betört, so daß sie übergehen55. Das Geheimnis seines in-
fernalischen Parfüms, worin Blumen und Aas sich vermischen (ein sehr
Baudelairesches Motiv), treibt die Mannschaft zu seltsamen Spekulationen.
Schließlich findet ein humanistisch gebildeter Bootsmann — Gionos Schiff ist
auch eine Arche abendländischer Episteme inmitten der Sintflut des Krieges
- daß die Empfindung, die er auslöst, eine „antiarkadische" sei, „etwas, das
Arkadien oder das Paradies leugne"56. Die Wildheit der wechselnden Farben,
in welche der Rochen sich kleidet, ein magisches Blendwerk des Abgrunds,
entzieht sich dem Versuch, ihr sprachlich beizukommen. Die Wildheit ist bei
Giono Allegorie der Angst, und wie bei Kierkegaard, der den Begriff Angst
bis auf den Grund durchleuchtet hat, präsentiert sie sich als ein Begehren,
das vor dem Begehrten sich fürchtet. Mit solchen Ambivalenzen hat Giono,
jenseits aller Mythologie der Psychoanalyse, teil an der Modernität. Seine
Abenteuer sind metaphysische, seine Erzählung, wie er im Tagebuch no-
tierte, ein „kosmischer Kriminalroman" 57 . Das ferne Land der Seele ist jenes,
wo die Angst das Tor zur Unter- wie zur Überwelt bewacht.
Giono verwendet die Angst zur Illustration einer monströsen Erhaben-
heit. Sie nimmt Gestalt an in jenem Riesenrochen, der vor den Männer der
„L'Indien" als Dämon der Tiefe auftaucht. Angekündigt wird er durch eine
Erstarrung des Meeres und durch einen widerlich süßen Geruch, der so in-
tensiv ist, daß man Chlorkalk auf dem Deck verstreut. Dann erscheint das
Traumtier, der Fisch in Vogelgestalt, der ins Weltmeer geworfene Engel:

Das Tier schien langsam auf der Meeresoberfläche dahinzuschweben,


so wie Adler gleiten. Durch das Beugen seiner riesigen Knorpelflügel
sammelte es unter sich wirbelnde Strudel, die seinen Kopf aus dem
Wasser hoben. Bei jeder Bewegung entstanden auf seiner Haut, die
das Aufklatschen des zurückgefallenen Wasserstrahls als dickstes

55
Giono 42
56
Ebd. 51
57
Ebd. 322 (Nachwort von S.Broser)
316

Leder hatte erkennen lassen, die zahllosen Farben und hellen Schim-
mer, wie sie, wenn es windig ist, im Gefieder eines Vogel spielen.58

Das Zwitterwesen entfaltet die Farbe luziferischer Verführung, „an der die
Augen sich nicht sattsehen konnten, und die die Herzen mit einem Leucht-
glanz von unerhörter Traurigkeit erfüllte"59. Der Ozean, der solche Wesen
birgt, ist auch das Meer der Libido — das Giono nicht als Freudianer, sondern
als Dichter beschwört. Das Monstrum ist die verkörperte Ambivalenz des
Begehrens, noch im Verschwinden die tiefste Irritation verbreitend, seine
gewaltsame Spur durch das Erinnern ziehend: „Schließlich verschwand es
und hob dabei jäh einen riesigen, lanzettförmigen Schwanz über zwanzig
Meter hoch in die Luft, dessen Unterseite im Aufblitzen einen rosigen, küh-
len Fleischton wies, der an Frauenfleisch erinnerte und dessen Anblick die
Mannschaft dumpf aufseufzen ließ"60. Das Inkarnat des gefallenen Engels
begegnete schon bei Kafkas Dienstmädchen Rosa (aus dem Landarzt) und im
Rosa Akt von Matisse. Auf der Suche nach dem naturalen Ursprung des Be-
gehrens setzt Giono in einer Ästhetik des Schocks auch die Erotik der Far-
ben ein. Er läßt keinen Zweifel daran, daß man mit jeder Welle der Imagina-
tion an Dingen vorübersegelt, die (wie es Baudelaire formulierte) einen „fris-
son galvanique" erzeugen, weil sie im Spannungsfeld zwischen Erhabenem
und Widerwärtigem die Seele selbst zum Zucken - oder zum Tanzen brin-
gen. Die herkömmliche Bezeichnung dafür lautet: Hölle und Paradies. Giono
rettet das Metaphysische vor Sinnvernichtung, indem er es als ein Phantasma
ausgibt. Im gleichen Ton hatte schon Odysseus von Kirke und dem
Phaakenland erzählt. Die Seefahrt selbst, archetypisch genug, ist der Auszug
aus dem Ägypten der Welt, ihr Ziel eine Vita nuova. Die Anspielung auf
Dante hat ihre Berechtigung. Wie Dantes Odysseus, getrieben vom Eros des
Entdeckens, aufbricht zu einer letzten Fahrt jenseits der Säulen des Herkules,
so erinnert auch Gionos Kapitän seine Leute daran, daß sie nicht geboren
sind, um wie das Vieh zu leben:

Considerate la vostra semenza:


fatti non feste a viver come bruti,
ma per seguir virtute e conoscenza.61

Diese Reise aus der Geschichte heraus ist Tollheit, ja mehr: ein Sakrileg. Als
solche beschreibt sie Dante im 26.Gesang seines Inferno; der späte Borges hat

s« Ebd.42
59
Ebd.
60
Ebd. 44
61
Dante, Inferno XXVI, 118-120: „Bedenkt, wes hohen Samens Kind ihr seid/ und nicht
gemacht, um wie das Vieh zu leben!/ Erkenntnis suchet auf und Tüchtigkeit".
Dt. von KVossler
317

der Passage einen eigenen Essay gewidmer52. Odysseus und Dante, Borges
und Giono stimmen darin überein, daß der Hunger nach dem Unbekannten
jedes Risiko rechtfertigt, sogar das Seelenheil, und sie treffen sich darin mit
Melville und Baudelaire: „Pour n'etre pas change en betes, ils s'enivrent /
D'espace et de lumiere et de cieux embrases"63. Auch Gionos Kapitän ist be-
seelt vom Willen zur Grenzüberschreitung. Was er sich und seinen Männern
verspricht, ist ein metaphysisch motiviertes Abenteuer. Als Antimodernist
verstößt er gegen das Dogma der Entzauberung und sucht nach dem Ge-
heimnis, dem Wunder, dem Absoluten. „Ich selber bin mir bewußt, daß es
sich hier weniger um eine Seefahrt als um ein neues Leben handelt"64. Der
Bruch mit der Profanität, für welche die verschmähte Technik steht - die
„L'Indien", die da 1944 in See sticht, ist ein Segelschiff -, ist sprechende Ab-
kehr von jeder Fortschrittsgeschichte. Das Schiff besitzt eine Funkanlage;
aber die Männer haben nicht vor, sich ihrer zu bedienen. Was a. jour ist, zeigt
sich als Unheil: „Es entspricht nicht unserem Vorhaben und kommt uns
nicht zu, die Verbindung mit der in Aufruhr geratenen Welt zu erhalten.
Darauf zu bauen, sie könne und werde uns Hilfe und Rettung bringen, ist
sinn- und zwecklos. (...) Wir brechen auf, um nicht in Tiere verwandelt zu
werden" 65 .
Der neue Odysseus des 20.Jahrhunderts ist entschlossen, alle Verbin-
dungen mit einer depravierten Zivilisation zu kappen. Die Suche nach dem
Land des Absoluten führt mitten im technischen Zeitalter, während sich Im-
perien zerfleischen, zum Exodus aus der politischen Welt: von program-
matischer Ziellosigkeit, versammelt er alle Eskapismen des 19Jahrhunderts.
Die verdrängte Natur kehrt zurück in den Monstern, die heiligen Schauer
erzeugen. Baudelaires melancholischer Wunsch „anywhere out of the world"
verwandelt sich bei Giono, in der Ära der Streitenden Reiche, in radikale
Absage an die Geschichte. Die zeitgenössische Literatur im französischen
Sprachraum bietet kein Beispiel dafür. Zu nennen wäre allenfalls St.John
Perse, dessen Habitus freilich ein völlig anderer war — ein Rhapsode der
Kontinente, nicht des Meeres. Nach dem Debakel Frankreichs suchte auch
er nach poetischen Ausgängen aus der Geschichte; doch brauchte er die
Weite und Fülle des Terrestrischen, um sich zu inspirieren. Sein Exodus in
das unschuldige Land führte ihn am Ende seines Großgedichts Vents (1945
im amerikanischen Exil geschrieben) zum indischen Weltenbaum, der die
unsterbliche Natur verkörpert, die sich inmitten aller Zerstörungsgeschichte
behauptet:

62
Borges, Die letzte Reise des Odysseus (Frankfurt/M. 1992) 22 - 26
63
Baudelaire, Die Blumen des Bösen 428/429: „Um nicht in Tiere verwandelt zu werden,
berauschen sie sich / An Raum und Licht und an entflammten Himmeln" (Le Voyoge 1).
64
Giono 46
65
Ebd. 65
318

Quand la violence eut renouvele le lit des hommes sur la terre,


Un tres vieil arbre, ä sec de feuilles, repnt le fil de ses
maximes...
Et un autre arbre de haut rang montait dejä des grandes Indes
souterraines,
Avec sa feuille magnetique et son chargement de fruits
nouveaux.

Als die Gewaltsamkeit das Bett der Menschen erneuert hatte auf
Erden,
Nahm ein sehr alter Baum, ein ganz endaubter, den Faden seiner
Sprüche wieder auf...
Und ein anderer Baum von hohem Rang stieg schon empor aus dem
großen unterirdischen Indien,
Mit seinem magnetischen Blatt und seiner Last von neuen
Früchten.66

Gionos Innovationsstrategie zielt auf die ewige Wiederkehr der romanti-


schen Topoi: Das Neue ist bei ihm das „Veraltete". Die Entschlossenheit,
mit der er sie betreibt, berechtigt, ihn mit dem Titel des „Reaktionärs" zu
schmücken — freilich nicht im konventionellen Sinne, sondern so, wie der
Kolumbianer Nicolas Gömez Davila den Begriff in den siebziger Jahren
definierte. Davila tat dies in einem Umfeld, das von der historischen Situa-
tion einer freigelassenen Kolonie, von militanter Beharrung und ebeso mili-
tantem Fortschritts verlangen geprägt war; das Pathos der Theologie der Be-
freiung war nur eine Facette davon. In einer Atmosphäre der „violencia", der
sich selbst reproduzierenden Gewalt, braucht es Mut, sich als „Reaktionär"
zu bekennen. Bei Davila kommt die Lust an intellektueller Provokation
hinzu: „Der Reaktionär ist der Anstifter dieser radikalen Auflehnung gegen
die moderne Gesellschaft, die die Linke predigt, aber in ihren revolutionären
Possen sorgsam meidet" 67 . Der Moralistiker, der es wie sein Vorbild Graciän
hebt, in Aphorismen zu philosophieren, hat den „Reaktionär" zur Schlüssel-
figur seines politischen Denkens gemacht. Der Reaktionär ist der ewige Wi-
derpart des Demokraten, doch deshalb kein Konservativer; eher ist er Ver-
treter des katholischen Prinzips (wie es im 19Jahrhundert Donoso Cortes
repräsentierte), was ihn nicht hindert, ein freier Geist zu sein. „Der Reaktio-
när ist der Wächter des Erbes. Selbst des Erbes der Revolution"68. Denn ka-
tholisch denken heißt: Mut zu allen Problemen haben, universal und metahi-
storisch denken, im Widerspiel der Kräfte eine höhere Ordnung entdecken.
Dies betrifft die Ethik ebenso wie die Ästhetik. Unbekümmert läßt Gömez
Davila seinen Katholizismus selbst die pagane Welt beerben: „Der Katholi-

66
St.John Perse, Dichtungen (Darmstadt - Berlin - Neuwied 1957) 406/07. Dt. von F.Kemp
67
Gömez Davila 31
68
Ebd. 167
319

zismus verkümmert, wenn er es ablehnt, sich von heidnischer Substanz zu


nähren" 69 .
In diesem Sinne hat auch Gionos Poetik, die romantische und biblische
Wurzeln hat, sich keineswegs gescheut, monströse Mythologien zu erneuern,
weil noch in ihnen sich ein Sakrales bezeugt. Der Reaktionär glaubt an das
Heilige, weil er weiß, daß reine Profanität unmenschlich ist; der Demokrat,
unheilbar aufgeklärt, hält es für schändlichen Aberglauben. Mit Dävila hätte
Giono, frei von bürgerlicher Einengung wie von konfessioneller Rücksicht,
die fortwirkende Ausstrahlung des Mythos als Manifestation des Heiligen
verstanden. „Die Religionen sterben, nicht aber die Götter" 70 . Reaktionär ist
Giono ganz gewiß in den Augen aller Fortschrittsdogmatiker und Techno-
kraten; als Antimodernist glaubt er an die Göttlichkeit der Schöpfung, als
Mythologe an die Macht der Phantasie. Seine Fragmente eines Paradieses (die im
Untertitel sogar von „Engeln" sprechen) verkünden das Schöne als lebens-
notwendig - mitsamt der Einsamkeit, worin es der Künstler erfindet. Auch
diesen Sachverhalt hat Gömez Dävila auf kalte funkelnde Formeln gebracht:
„Gegen die heutige Welt konspirieren wirksam nur die, die insgeheim die
Bewunderung des Schönen verbreiten"71. Und: „Der Kampf gegen die mo-
derne Welt muß in Einsamkeit geführt werden"72. Beiden Aufgaben hat sich
Giono gestellt. Die Woge des Engagements, die ihn trägt, führt nicht vor-
wärts zu Sartre und Camus, sondern zurück zu Baudelaire, den der Ennui
angesichts der Simulationen des Wirklichen zur Imagination einer Jenseits-
fahrt trieb — „au fond de L'Inconnu pour trouver du nouveau" 73 . Inmitten
der profanierten, vollständig vermessenen und kartographierten Welt bleibt
nur das Unbekannte als Maske des Sakralen. Baudelaires Ekel an der Zivili-
sation der Verdinglichung, seine Exzentrik, die ihn ständig an Peripherien
des Daseins trieb, kehren unter verschärften geschichtlichen Bedingungen
bei Jean Giono wieder. „So wie ich den Kurs, den wir halten werden, festge-
legt habe, liegt vor uns das Unbekannte; und das größte Wagnis, das wir ein-
gehen können, ist der Tod; mit anderen Worten: wir gehen überhaupt kein
Wagnis ein"74. Dieser Satz, 1944 gesprochen, ist wahrhaft metaphysischer
Dandysmus. Die Auserwählten fürchten nicht den Tod; er ist banal. Was ihr
Kapitän jedoch fürchtet, ist das „Zeitalter der Häßlichkeit". Im Bunde mit
Lebensüberdruß und Langeweile zwingt es die Geschöpfe des denaturierten
20.Jahrhunderts, sich „wie die Azteken politische Gottheiten zu schaffen, die
wir mit lebendigen Kindern füttern"75. Der Krieg als Kult der Macht, als

69
Ebd. 61
70
Ebd. 103
71
Ebd. 159
72
Ebd. 124
75
Baudelaire, Die Blumen des Bösen 438 (Le Voyagt VII)
7J
Giono 75
75
Ebd. 212
320

Liturgie des absoluten Staates bildet den Hintergrund für Gionos Natur-
ästhetik. Die Religion der Aggressivität, die ihr eigenes Opferbedürfnis er-
zeugt, den Todestrieb in ihre Dienste nimmt, ist fehlgeleitetes Verlangen
nach Sakralem. Dem Götzen Politik stellt der Dichter die Erinnerung ans
Paradies entgegen; sie entfaltet utopisches Potential. „Ich will, daß wir als die
ersten trunken von dem heiligen Absinth sind, der die Gärten der Erde er-
füllt hat"76. Der von Piaton im Timaios beschriebene Zustand des Enthu-
siasmus, der heiligen Wildheit, öffnet dazu die Tür. Die Absinthmystik, ka-
nonisiert durch Rimbaud, erkennt im Künsder den Ekstatiker schlechthin.
Der Kapitän sucht eine Ewigkeitserfahrung; vom Szenario her wird sie
vermittelt durch ozeanische Natur. Die Langeweile, welche die Seele verar-
men läßt und die Erscheinungen armselig macht, findet nichts, was ihr ge-
nügt; sie macht immun selbst gegen Todesfurcht. Als Seelenwesen sind wir
zum Ennui verurteilt; er treibt uns zur Grenzüberschreitung. Für Giono ist
die Einsamkeit der Entdecker das Signum einer Elite von Metaphysikern,
welche die Volksbeglücker mit Verachtung straft, selbst wenn sie einen
Kreuzzug für die Demokratie führen. Bemerkenswert bleibt, daß der Autor
ausgerechnet vor der Befreiung seines Landes in die poetische Emigration
geht, der drohenden Wirklichkeit ausweicht, auch hier auf den Spuren
Baudelaires: „Notre äme est un trois-mäts cherchant son Icarie"77. Allein das
Ozeanische bietet die „unermeßliche Weide", nach der die Menschen Ver-
langen tragen78. Giono zitiert den Krieg als historischen Gegentext — spar-
sam, doch sehr bewußt. Gerade diesem todbringenden Text will sein Ge-
dicht entrinnen. Es ist von Kämpfen der französischen Armee in Belgien
und von Dünkirchen die Rede, also von realen Ereignissen des Sommers
1940; und gleichzeitig, in einer Art von surrealistischer Collage, vom Narzis-
sen- und Leichengeruch, den der Rochen, das Tier aus der Tiefe verströmt.
Das Meer, Inbild von Freiheit und Wildheit, bringt bei Giono eine anarchi-
sche Mythologie hervor, worin Chaos und Ordnung magisch oszillieren. Es
ist, als wolle der Autor das flüssige Element gegen die Todes er starrung des
Krieges mobilisieren.
Das Absolute aber, das ferne Land, dem alle Suche gilt, bleibt so imagi-
när wie jene Insel Sachsenburg, die Gorri, der Segelmacher, nachts im astra-
len Licht erblickt. Seine Vision wird zwar ins Logbuch eingetragen, doch exi-
stiert die Insel nicht in den angegebenen Positionen, das Phantasma verwei-
gert sich dem Koordinatensystem. So ergeht es mit Kirkes Insel und Dantes
Läuterungsberg; man muß sie in Träumen, also in Texten suchen, nirgends
sonst. Denn die Ästhetik ist das Abenteuer. Gionos Text begibt sich selbst
auf jene „wahnwitzige Fahrt" (varco folle), wie sie Dante seinem Odysseus

76
Ebd. 213
77
Baudelaire, Die Blumen des Bösen 430 (Lc Voyage II)
78
Giono 79
321

zuschreibt 79 . Bei dem Versuch, die Dichtung vor der Wirklichkeit zu retten,
halten auch berghohe Wellen nicht auf. Die Insel Inaccessible mit ihrem
sprechenden Namen ist, poetischer Logik gemäß, unbetretbar — ein Basalt-
block im Mythenmeer, umtost von apokalyüscher Brandung, überlagert von
einer dunklen Wolke wie einst der Sinai. Ein wilder, ein heiliger Ort, ein Al-
tar der Natur, aller Geschichte entrückt: Als würden hier die neuen Tafeln
einer phantastischen Theognosie geschrieben. Erst die benachbarte Insel
Tristan-da-Cunha erlaubt die literarische Landung. Der Name, historisch und
geographisch verbürgt, gehört noch der Menschenwelt an. Doch die Gestalt
der Insel — ein stumpfer Vulkankegel — erinnert an Dantes Läuterungsberg.
Noch merkwürdiger ist, daß sie bewohnt scheint; es gibt ein paar kärgliche
Hütten aus alten Planken, an einer bewegt sich ein Vorhang. Die Männer
finden zwei verstaubte Bücher — den Don Quijote auf spanisch und Miltons
Paradise Lost — und einen Korb mit Frauenkleidern, an denen noch Schweiß-
geruch haftet. Das verschenkte Motiv reicht aus, um die ganze Passage mit
einem erotischen Rätsel zu würzen: Kirkes oder Kalypsos Insel? In diesem
Phantasma, von Männern erdichtet, verbirgt sich eine als Verführerin ima-
ginierte Natur. Die Insel selbst, fast kreisförmig und sich nach oben verjün-
gend, ist wie der Rock einer sich drehenden spanischen Tänzerin80. Wohl
verlockt das Symbol, doch das Geheimnis wird nicht gelüftet. Natur selbst
schiebt sich vor die Metapher und verdunkelt sie; denn die Rockbänder um-
schließen den Rand eines Kraters und keine Mädchentaille. Die Insel, abge-
schliffen vom Wind und wie lackiert, ist einsam und unfruchtbar. Was sich
wie Vogelzwitschern anhört, ist Wind, der in den Felsspalten singt. Gionos
Poetik der Desillusion biegt das Phantasma ab. Wirklich ist nur die unerbitt-
liche Einöde über Tausende von Kilometern hin. Darin verrät sich der
Wunsch, die Katastrophengeschichte bis an den Rand des Denkens zu ver-
drängen: die Einöde (desert) als Ort des Friedens.
Der Wind, der kein Bett hat, wird bei Giono zum Pneuma, das über der
Öde des Urmeeres schwebt. Der Dichter sucht Natur des Schöpfungs-
anfangs. Noel Guimard, sein alter ego, taucht ein in die Bewegungslosigkeit
der Elemente. Liegend am Hang des Vulkans, beginnt er „mit unendlichem
Genuß die unbedingteste Leere anzuschauen, die auf Erden vorstellbar ist"81.
Die Versenkung im Anblick des Nichts - das wie bei Mallarme identisch ist
mit dem Azur - ist Augengenuß und eine Art Kommunion mit der Welt.
Hier kehrt das Nunc stans der Mystiker wieder. Vollkommene Einsamkeit ist
wie in Leopardis Ulnfinito Voraussetzung von Ewigkeitserfahrung. Der So-
lipsismus daran ist das unabwendbare Stigma der Modernität, des in sich
selbst verlorenen Subjekts. Guimard, dem es gelingt, alle Erinnerung an Irdi-
sches auszulöschen, erfährt sich selbst als Mittelpunkt der Welt. Er ist am
79
Dante, Paracüso XXVII, 82f.
80
Giono 149
81
Ebd. 156
322

Ziel seiner Reise. Vom Berg in den Himmel gehoben, erlebt er die Liturgie
des Nichts. „Endgültig war es ihm gelungen, die Welt ringsum zum Ver-
schwinden zu bringen"82. In großartiger Synästhesie, die an gemalte Visionen
Van Goghs unter provenzalischem Himmel erinnert, nimmt Guimard die
Sterne als Glutsymphonie, als astrales Knistern und Singen, als Farbgestöber
wahr. Das ferne Land, das unbetretbar schien, tut sich sich auf in der Kon-
templation. „Sorglich umschlossen ihn die Sterne und hüllten ihn in eine
vollkommene Kugel ein"83. Die Sphäre als vollkommene Figur verbindet die
griechische Kosmologie mit Dantes Ästhetik des Paradiso Celeste. Abenteuer
und Mystik werden eins.
Dagegen sieht Giono die eigene Zeit beherrscht von mentaler Verar-
mung und tödlicher Langeweile. Sie ist blind für Wunder und Geheimnis;
deshalb verwirft er sie. Der Tyrannei des Tödlich-Faktischen setzt der ver-
spätete Romantiker die naturale Freiheit der Phantasie entgegen. Das Auf-
tauchen der Monster zwar rührt die Seele auf, der Krieg der Menschen aber
tötet sie. Giono hatte Gründe genug, die Moderne als Zeitalter psychischer
Verödung, verbrecherischer Politik und diabolischen Geschwätzes zu erken-
nen. Seine Kritik an der Profangeschichte ist ebenso radikal wie die gewisser
mittelalterlicher Theologien, die in augustinischer Nachfolge stehen. Doch
Giono, der in seinen Büchern immer wieder den „Gesang der Welt", den
„chant du monde" anstimmt, verpflanzt das Sakrale mit kühnem Griff in die
Wildnis. Natur, „auf die man längst nicht mehr gefaßt war", läßt von Zeit zu
Zeit Menschen erstehen, die glauben, daß man auch körperlich ins Paradies
gelange84. Diesen Häretikern gilt seine ganze Sympathie. Nicht zufällig ist die
Provence, der Jean Giono enstammt, ein altes Ketzerland. Seine Apologie
des Wilden als des Heiligen kleidet Giono in eine Mythostheorie en minia-
ture: „Aus eben diesem Grunde haben die Menschen, die weniger zivilisiert
als wir sind, die jedoch (und ich sage in vollkommener Absicht 'jedoch1)
naiver als wir sind, den Ursprüngen näher, fähiger, die unmittelbare Nähe der
großen Geheimnisse zu spüren, sich eine Art Vorratskammer an Ungeheuern
angelegt"85.
Das ferne Land empfängt seine Entdecker allegorisch: mit einer Vogel-
wolke über dem Meer (bezeichnenderweise sind es die Albatrosse
Baudelaires). Doch des Phantastischen ist nun kein Ende mehr. Was wie eine
Eisscholle aussieht, wimmelnd von Vögeln, enthüllt sich als Rücken eines
Riesenkraken. Er ist das Gegenstück zu Melvilles weißem Wal, der Inbegriff
des naturalen Bösen, doch geistbegabt, einer der wahren Archonten der
Tiefe. Von Zeit zu Zeit schleudert das Ungeheuer einen seiner weißen Fang-
arme in die Luft, als wollte er den kreisenden Vogelschwarm streicheln. Der

82
Ebd. 165
83
Ebd. 166
84
Ebd. 204f.
«5 Ebd. 203
323

Kapitän verbietet zu feuern. Es wäre eine geisdose Reaktion, ein Rückfall in


historische Barbarei: „Pulver, Knall, Kanonen und Granaten: so etwas brau-
chen wir hier nicht" 86 . Denn warum mit Kanonen auf Engel schießen, selbst
wenn es gefallene sind? Das Monster strömt einen so intensiven wie irrealen
Geruch nach Frühling aus. Sich auf den Rücken wälzend, bedeckt es seinen
Bauch mit einem weißen und fischigen Schwall, auf den sich die Albatrosse
wie tollgeworden stürzen. „Während die leimartige Flüssigkeit sich ergoß
und den Bauch und die Vögel überschwemmte, war der Geruch auf eine er-
schreckende Weise eindeutig geworden" 87 . Dieser luziferische Orgasmus, mit
der Drastik eines Rabelais beschrieben, sucht seinesgleichen in der Literatur
der Moderne. Es ist, als hätte Giono die von Mario Praz beschriebene
„schwarze Romantik" 88 ins Reich der Natur verpflanzt. Das ferne Land
dämonischen Begehrens ist dargestellt mit einer Phantasie, die ihre Bilder
vom Grunde der Psyche heraufholt und alle Regeln bürgerlicher Ästhetik
verletzt: Als lebendige Säulen steigen die Vögel auf, um sich schreiend in den
Lustmorast zu stürzen, den das Tier aus der Tiefe erzeugt. Diese krude
Hochzeit von Himmel und Hölle übertrifft alles, was Blake in rebellischem
Idealismus als Vereinigung der Gegensätze vormals erdichtet hatte. Noch in
der Faszination durch das Böse erweist sich Giono als metaphysischer
Dichter.
Der Krake Gionos ist der Herr des Inferno, verwandelt in ein Tier,
doch begabt mit diabolischer Anmut. Neugierig fixiert er die Entdecker mit
seinen lidlosen Augen, mit einem Fangarm spielerisch an ihre Mastspitze
rührend, ehe er wieder hinabtaucht. Die Epiphanie des Bösen weicht einer
himmlischen Botschaft: es regnet wie eine Sintflut herab. Diese Sintflut, die
reinigt und auslöscht, ist Zorn und Versöhnung zugleich. Giono zitiert bibli-
sche Archetypen; die Qualität seiner Bilder bezeugt die Kraft traumhafter
Anamnese. Als Beschreibung eines metaphysischen Abenteuers leben die
Fragmente eines Paradieses vom Widerstreit zwischen Begehren und Angst.
Angst ist die Wildnis in der Seele selbst. Diese Angst, laut Kierkegaard das
Begehren nach dem, was die Seele im innersten fürchtet, treibt aus der Un-
geduld des Wissenwollens, also dem Sündenfall, die üppigsten Bilder hervor;
sie ist es, die verführt zur Suche nach dem „unschuldigen Land". Dieses
Land aber kann nirgends sein als in der Literatur. Nur als ästhetischer Schein
läßt sich Natur vor der Geschichte retten - auf eine Weise, die Walter
Benjamin „profane Erleuchtung" nannte. Der Widerstreit zwischen Begeh-
ren und Angst spielt sich in einer Wildnis ab, worin der verborgene Gott
wohnt, jener, der aus der Unheilsgeschichte herausführt -: Schreiben als Ex-
odus. Die Fahrt der .L'Indien" geht metaphorisch zum Ende der Welt. Na-
türlicherweise beschwört sie die Elemente, die Bewegung bringen - Wind
86
Ebd. 227
87
Ebd. 234
88
M.Praz, La carne, la motte ed ü diavolo (Rom 1948)
324

und Wasser. Doch fügt sie ihnen als spirituelles Element das Licht hinzu,
sein Farbenspiel und irisierenden Schleier über dem maritimen Abgrund. In
diesem Schein wird die Natur erlöst. Am Ende treiben die Männer auf ihrer
Arche in Nebel und Regen umher, und dennoch mit dem Gefühl der Frei-
heit. Bei aller Irrfahrt erfahren sie die Lust, im Uferlosen einen Kurs zu hal-
ten - auch wenn das Meer, wild geworden wie jener Gott, der einst Odysseus
verfolgte, mit Tausenden von Walen in den Himmel springt. Denn die Ge-
fahr kommt nicht vom Ozean, sondern vom Tod der Seele. Er ist es, der
ganze Kulturen verwüstet: 1944, als Giono sein Buch diktierte, und weiter
bis heute im Laufe der Unheilsgeschichte. „Darum sind alle Männer des
Schiffes inständig bemüht, in sich eine Seele zu entdecken"89.

89
Giono 308
Kapitel 12
Sinnhorizont Natur. Ästhetische Rettungsversuche

Die Erde ist nicht ein Gebäude,


sondern ein Körper.

Wallace Stevens, Adaga

Zu retten, was nicht mehr zu retten ist, im Sinnlosen Sinn zu bewahren,


Verlorenes andenkend aufzuheben - Gründe für eine Literatur am Ausgang
der Moderne. Solche Verpflichtung zur Pietas, wie Gianni Vattimo derglei-
chen mit einem Schlüsselbegriff römischer Religion genannt hat, ist freilich
von keiner höheren Instanz mehr zu verordnen; allein als Selbstverpflichtung
wäre sie denkbar. Auch deshalb käme dem Rettungsversuch eschatologische
Würde zu. Zu retten ist da, wo Gefahr ist. Rettendes aber muß „wachsen";
der Begriff verweist nicht umsonst auf ein Naturgeschehen. Trotz aller Be-
schönigungsversuche ist die Geschichte nicht Ort des Wachstums, sondern
der Zerstörung. Der Vernichtungsprozeß steigert sich in der hochtechni-
sierten Gesellschaft, die zur Pietas keine Verpflichtung mehr anerkennt. Seit
dem Sündenfall des Cartesianismus, der die Natur erst als Objekt mißver-
stand, um sie danach planmäßig zu mißbrauchen, gilt Schöpfung nicht mehr
als heilig. Die Schändung der Gaia aber ist eine Sünde, die nicht vergeben
wird. Vergeblich warnte in den fünfziger Jahren der Außenseiter Hans
Henny Jahnn vor der Gewaltorgie, die sich Geschichte nennt: „Überall rau-
chen die Trümmerhaufen, überall verenden die Tiere, überall sind die Wälder
gerodet. Und die Wale verfolgt man in den Ozeanen" 1 . Der ruchlose Opti-
mismus der Wachstumsgesellschaft und die Konjunktur des Kalten Krieges
standen solcher Prophetie entgegen. Melvilles weißer Wal, das Urgeschöpf,
galt in der Ära Adenauer gewiß als atavistisches Symbol. Jahnn wurde ver-
spottet für seinen unzeitgemäßen Realismus. Dabei hatte er nichts anderes
getan, als die Hybris der Geschichtsphilosophie in jener Bombe wiederzu-
entdecken, die am 6.August 1945 über Hiroshima zum ersten Mal in die Ge-
schichte eingriff.
Seitdem ist der Sinnhorizont Geschichte stückweise vor unseren Augen
zerbrochen. Hervortritt, an seiner Stelle, der durch jahrhundertelange Usur-
pation der Vernunft verstellte Sinnhorizont Natur. Auch greift die Erfahrung
um sich, daß nur Natur tragfähige Symbole hervorbringt — organologische
Ordnungs- und Sinnstrukturen. Denn die Historie erschöpft sich in Meta-

H.H Jahnn, Die Nacht aus Blei. Kurze Prosa und Essays, hg. von U.Bitz und U.Schweikert
(Hamburg 1994) 82
326

phern, und Ereignisse können nur als „Erzählung" existieren2. Zur Dialektik
der Vernunft aber gehört, daß der historische Prozeß selbst an den Punkt
gelangt ist, da die Geschichte als Sinninstanz abdankt. Phantasmen wie Welt-
geist, Entwicklung und Fortschritt haben keine Entsprechung in der Wirk-
lichkeit. Seit Voltaire das Wortspiel „Philosophie der Geschichte" erfand, hat
eine Sinnindustrie zu florieren begonnen, von der in erster Linie die Macht-
politik profitierte. Ihre Grundlage ist die Naturvergessenheit. Nicht umsonst
träumte der heimliche Romantiker Adorno in seiner Ästhetischen Theorie von
einer „Resurrektion der Natur", die theologische Implikation des Begriffes
nicht scheuend. Die Realgeschichte selbst hat uns belehrt, daß wir nicht
Götter, sondern aus Erde sind. Notwendig ist daher eine neue Ästhetik der
Natur als Grundlage einer spirituellen „Erdkultur", wie Beuys es nannte,
oder - politischer gefaßt - eines „Erd-Vaterlandes", wofür der Soziologe
Edgar Morin plädierte3. Vor allem die Chimäre der Entwicklung wird von
Morin scharf kritisiert. Man muß nicht so weit gehen und mit dem Pathos
der Sterblichkeit ein „evangile de la perdition" predigen, um eine neue Ver-
wurzelung im Vaterland Erde attraktiv zu machen. Morins Abkehr vom car-
tesianischen Fortschrittsgedanken ist gerade durch die tragischen Aspekte
der Geschichte motiviert. Aber der Paradigmenwechsel von Geschichte zu
Natur hat nicht nur mit Mentalitäten zu tun, er rührt auch an die ethischen
Grundlagen von Politik. Das Idol des Homo faber, seit der Aufklärung feti-
schisiert (nicht ohne Beistand des Christentums), ist von seinem Sockel zu
holen. Sein Kult verhindert die Achtung vor der Würde der Natur und die
Bewahrung der Schöpfung.
Inzwischen ist die Naturzerstörung weit gediehen. Der prometheischen
Praxis folgen mentale Verwüstungen. Daß der Mensch in seinem Hochmut
nicht wahrhaben will, daß die Erde, auf der er mühsam lebt, das Paradies ist,
beschrieb schon Dostojewskij in den Brüdern Karamasow (1880). Den religiös-
ethischen Kontext bildet der Abfall von Gott und die Suche nach einer gött-
lichen Erde, die sich am ehesten kindhaften Augen zeigt. Die Brüder
masow, von Hause aus ein Kriminalroman, locken mit Sensationen zu einer
Ethik christlicher Weltliebe hin. Durch den Mund des Starez Sosima ver-
kündet Dostojewskij eine damals unbeachtete Naturtheologie: „O Mensch,
überhebe dich nicht den Tieren gegenüber; sie sind sündlos, du aber in all
deiner Erhabenheit verseuchst die Erde durch dein Erscheinen auf ihr und
hinterlassest die Spuren deiner Fäulnis"4. Ein christlich gefärbter Pantheis-
mus, durchaus mit franziskanischen Zügen — der Sünder soll selbst die Vögel
um Verzeihung bitten - situiert die Schöfung als Allzusammenhang, als uni-
versale Vernetzung. Darin erweist sich Dostojewskij als Vorläufer ökologi-

2
Dazu H.White, Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung
(Frankfurt/M. 1990)
3
E. Morin, Terre-Patne (Paris 1993)
4
Dostojewskij, Die Brüder Karamasow 429
327

scher Ethik. Das Kleinste, ob Blättchen oder Sandkorn, hängt mit dem
Größten, mit Himmel und Erde zusammen. Auch Dostojewskij kennt eine
Epiphanie der Natur, die sich im staunenden Menschen ereignet; denn
kindhaftes Staunen und Glauben sind eins. „Alles ist wie ein Ozean, alles
fließt und berührt sich, bringt man es an einer Stelle in Bewegung, so hallt es
vom anderen Ende der Welt wieder"5. Solche Naturmystik ist auffällig bei
einem Autor von Aktionsromanen. Doch das organologische Weltbild der
großen Synthese entspricht der Tradition russischer Orthodoxie; zum me-
chanistischen Denken der Aufklärung steht es in völligem Gegensatz. Be-
wußt konfrontiert Dostojewskij die Logik der Maschine, die tödlich-faktisch
ist, mit der chaotischen Ordnung des Waldes als Ausdruck lebendig-phanta-
stischer Vielfalt. „Schöneres als den Wald kenne ich nicht" läßt er den Vogel-
fänger zu Sosima sagen6. Der Wald ist hier nichts anderes als Abbreviatur
heiliger Wildnis.
Der Vatermord der Brüder Karamasow wird aufgefangen durch eine
Mystik der Mutter Erde. Beim Anblick des gestirnten Himmels über sich er-
fährt Aljoscha das Sittengesetz in der eigenen Brust — und damit ein Ganz-
heitsgefühl, das ihn so überwältigt, daß er zu Boden stürzt, um die Erde zu
küssen. Was Kant in eine karge Maxime gepreßt hatte, entfaltet sich bei
Dostojewskij zu pantheistischer Lyrik, die bei ihm Seltenheitswert hat: „Seine
Seele, die von Entzücken erfüllt war, lechzte nach Freiheit, nach Raum, nach
Weite. Über ihm wölbte sich hoch, unabsehbar hoch die Himmelskuppel,
voll ruhig strahlender Sterne. Vom Zenith bis zum Horizont erstreckte sich
die in zwei Bänder geteilte, blaß schimmernde Milchstraße. (...) Die irdische
Stille schien mit der himmlischen zu verschmelzen, das Geheimnis der Erde
sich mit dem der Sterne zu berühren... Aljoscha stand, schaute, und plötzlich
stürzte er zur Erde nieder" 7 . In dieser Naturekstase fließen Schönheit und
Wahrheit zusammen. Dostojewskijs Roman schöpft aus utopischem Fundus,
der sich dem drohenden Paradigma einer Maschinenwelt ethisch und ästhe-
tisch widersetzt8. Das Ästhetische lebt von der Mnemosyne, von der Erinne-
rung an den ersten Blick. Sie ruft herauf, was einmal war und wieder werden
soll: das Paradies. Als abwesendes, ja als verlorenes ist es nur kraft der Ek-
stase wiederzugewinnen. Der Hochmut der autonomen Vernunft, die dem
Schöpfer die Eintrittskarte in die Welt zurückgibt, verführt Iwan Karamasow
zu der Maxime „Alles ist erlaubt". Erst dieser Hochmut ermöglicht den Va-
termord, der kryptisch ein Gottesmord ist. Für Aljoscha ist der wahre Vater
jedoch der Starez Sosima. Dessen Lehre entwirft eine Gegenwelt, in der
Mensch und Natur im Sinnhorizont einer göttlichen Erde versöhnt sind:

5
Ebd. 430
6
Ebd. 396
7
Ebd. 487
8
Dazu Neuhäuser 180ff.
328

„Wir alle sind im Paradies, nur wollen wir es nicht begreifen; doch wenn wir
es begreifen wollten, so wäre schon morgen die ganze Welt ein Paradies"9.
Wahrnehmung der Natur auf ihren Sinn hin meint Erinnern an ihre
verborgene Wahrheit: daß sie ein göttliches Werk ist. Das Inbild, wie Hop
kins es nannte, eine Verbindung von Stärke und Anmut, ist Ausdruck sol
cher Wahrheit. Der Augenmensch und Physiognomiker Hopkins verbindet
Poesie und Wissenschaft, wenn er Wolken, Bäume und Blumen studiert.
Doch erst muß der Blick sich in den Dingen verlieren, um deren Inbild zu
finden. Für Hopkins hat Aisthesis geistlichen Rang; die Betrachtung von
Atmosphäre und Vegetation ist durchaus ein spiritueller Akt. 1866 war Hop
kins Katholik geworden, vier Jahre später trat er ins Noviziat der Jesuiten
ein. Auf dem Altar der Natur opferte er mit schmerzlichem Enthusiasmus:
„Ich glaube nicht, daß ich jemals etwas Prachtvolleres gesehen habe als die
Glockenblume, die ich lang betrachtet habe. Ich erkenne die Schönheit des
Herrn in ihr"10. Das Ästhetische der Schöpfung, kraft des Staunens erfaßt,
rührt unmittelbar an Sakrales. In den Tagebüchern von Hopkins ist es poeti
scher Askese abgerungen, die sich streng das Literarische versagt und an die
Dinge, die reinen Erscheinungen hält. Das Nordlicht vom 24. September
1870 ist mehr als ein prächtiges Schauspiel: es durchbricht die kalendarisch
geordnete Zeit, reißt neuen Sinnhorizont auf — „so als berichtigte es die Be
schäftigung der Welt". Was heraufsteigt am Rande der Aisthesis, ist das sym
bolisch gegenwärtige Datum des Jüngsten Gerichts. Das Nordlicht als ein
Bezeuger Gottes bringt Fremdes, ja Wildes, den „herrlichen Schrecken" in
die alltägliche Ordnung 11 . Der Betrachter nimmt wahr, daß Natur ihren eige
nen Blick hat und daß die gängige Trennung von Subjekt und Objekt in der
Kontemplation ihren Sinn verliert: „Was man fest anschaut scheint fest zu
rückzuschauen"12. Das Phänomen der Inwucht (instress) schließt bisher
Verborgenes auf.
Die Epiphanie des Frühlings wird zum Inbild (inscape) von Wachstum
überhaupt. Biologie und Ästhetik sind eins; der optische Reiz lenkt das Au
genmerk auf eine Weise der Wahrnehmung, in der sich das Wesen der Ge
stalt enthüllt. Schöpfung ist angelegt auf ein betrachtendes, erkennendes
Subjekt: „Dieses ist die Zeit das Inbild im Gesprüh der Bäume zu studieren,
denn die schwellenden Knospen bringen sie zu einem Apex wie ihn das
Auge ansonsten nicht erfahren könnte" 13 . Apex bedeutet Spitze, Krone, das
was sich auf seinem Höhepunkt zeigt; ästhetische Qualität gewinnt darin
ontologischen Rang. Die Phänomene treten gleichsam als Individuen hervor,
unverwechselbar in ihrem Eigenleben, und dennoch einem Ganzen

' Dostojewski), Die Brüder Karamasow 387


10
Hopkins, Journal 117 (18.51870)
" Hopkins Journal 118
12
Ebd. 125
13
Ebd. 127
329

zugehörig, in sinnlicher Gegenwart, die gleichwohl Geist voraussetzt — im


Betrachter wie im Betrachteten. Für solches Eintreten ins Bewußtsein hat der
scholastische Denker Duns Scotus den Begriff „haecceitas" erfunden:
„Diesheit" übersetzte im 18Jahrhundert Christian Wolff. Hopkins lernte die
Schriften von Scotus im Sommer 1871 kennen und war sogleich „überquel-
lend von einem neuen Schub Begeisterung. (...) Genau dann wenn ich
irgendein Inbild des Himmels oder Meeres aufnahm, dachte ich an Scotus"14.
Er schrieb ein Sonett über ihn, wo er als „der Wirklichkeit seltenst-begabter
Entwirrer" erscheint15. Die Poetik des Inbilds war damit auch philosophisch
legitimiert. Denn Aisthesis meint einen geistigen Vorgang, keinen bloß sinn-
lichen. Hopkins ist durchaus kein Impressionist, wie gleichzeitig die französi-
schen Maler, sondern Essentialist. Das genaue Augenmerk, nicht die Eitel-
keit des flanierenden Blicks, rückt Dinge in einen Sinnzusammenhang. Das
Sprühen der Frühlingsbäume transzendiert die historische Zeit, es rührt an
jene große Zyklik, die zu der Ordnung der Natur gehört. Der ästhetische
Frühling fällt nicht in die Chronologie - eine Erkenntnis, die erst viel später
Proust als Romancier beschrieb.
Die Inbilder von Hopkins haben die Kraft des Anamnetischen; dem
Staunen sich verdankend, sind sie genauer und wahrer als unsere Impressio-
nen. Was sie zeigen, ist eine in zahllose Einzelteile zersprengte messianische
Landschaft; zusammengefügt ergäben sie ein Wunder an Intensität, Leucht-
kraft und Sinnhaftigkeit. Solche Blicke sind eine Art von Andacht. Hopkins
entdeckt Sinn noch im Partikularen, weil Sehen ein Zusammenfügen ist.
Doch ist sein Ästhetisches nichts viktorianisch Gezähmtes, sondern eben
„getigerte Schönheit". Die Nadelbäume in den Schweizer Alpen, die gleich-
sam einwärts auf die Gipfel zeigen, lassen ihn an die Linien des Parthenon
denken. Oder Pferde bei einer Kavallerieübung sie rufen mit der Erinnerung
an den Panathenäenfries in ihm eine Metapher des Sophokles herauf, die
„auf der Gleichheit eines Pferdes und eines Brechers beruht, einer sich ein-
rollenden Meereswoge"16. Dergleichen Phänomenologie, genuin dichterisch,
macht den Unterschied zwischen Natur und Kultur gegenstandslos. Für
Hopkins wimmelt die Welt von Inbildern. Selbst aus dem Spiel des Zufalls,
„aus unprinzipiellen Erdklumpen und zerbrochenen Schneehaufen", geht
eine Ordnung hervor, die dem erleuchteten Auge als sinnvoll erscheint17. Be-
sonders fasziniert ist Hopkins auf seiner Schweizer Reise (im Juli 1868) von
den alpinen Wasserfällen, deren fraktales Erscheinungsbild den Ästheten
ständig herausfordert; denn Wahrnehmen und Formulieren sind eins. So
sucht er den Gelmer Wasserfall in einem Netz von Metaphern zu fangen:
„Wie Milch, die um Kohleblöcke eilt; oder ein Gürtel oder langer Beutel aus

14
Ebd. 153
15
Hopkins, Pied Beauty 62/63: „Of realty the rarest-veined unraveller"
16
Hopkins, Journal 72. 188
"Ebd. 168f.
330

Weiße beschwert von unregelmäßigen schwarzen Rubinen, achdos beiseite


geworfen und in Zungenwindungen liegend. (...) Oder noch einmal wie die
Haut einer weißen Schlange die elsterkariert ist mit Schwarz"18. Es war das
Wilde, Nicht-Organisierbare, die Regeln und Konventionen Sprengende, das
Hopkins fesselte. Seine Inbilder erinnern an die unverstellten Blicke Adams
aufs Paradies.

Seit Hölderlin haben die Dichter versucht, Natur ästhetisch zu retten. Dieser
Versuch geschieht zumeist im Modus des Erinnerns. Die Philosophie seit
Schelling hat das Bedürfnis nach solcher Anamnese gleichzeitig für sich ent-
deckt. Ihr Fragen zielt auf die wiederzufindende Einheit von Geist und Na-
tur. Das älteste Systemprogramm des Idealismus verfolgte diesen Ansatz:
dem Maschinenwesen ästhetisch, ja mythopoetisch entgegenzutreten19. Im
Zeichen der Mnemosyne blicken Hölderlin und Zanzotto auf Natur als ein
Bedrohtes, Verlorenes - und dekuvrieren so das Wesen der Moderne als
Entzweiung. Den Sinn, den die profane Geschichte gewaltsam zerstreute,
sammeln die Dichter in Bruchstücken in der Natur wieder ein — erinnernd,
was sie war und was sie sein soll. Jede Kontemplation enthält einen eschato-
logischen Kern. Aus dem Pathos der Zerstörung (ein anderer Name für die
Weltgeschichte) soll das Ethos der Versöhnung werden (ein anderer Name
für das Weltgericht). Deshalb ist die Verheißung der Apokalypse (21,1) ein
neuer Himmel und eine neue Erde.
Betrachtung der verwundeten Natur ist seit der Herrschaft der planetari-
schen Technik - für Hölderlin in den Titanen verkörpert — ein Akt der
Pietas. Der Betrachter selbst muß sich verwundbar machen. Der eschatologi-
sche Blick sieht, durch die Zerstörungsgeschichte hindurch, die Spuren ein-
stiger, kommender Herrlichkeit20. Mag auch die Schöpfung nach Erlösung
seufzen, wie Paulus im Römerbrief schreibt (Rom 8, 22) - noch ihr Beschä-
digtes weist hin auf den vollkommenen Entwurf. Die Schönheit der Erde
wohnt im Gedächtnis derer, die ihre Passion miterleiden. Die wahre Aisthe-
sis ist die Erinnerung an Herrlichkeit, mithin an Heilsgeschichte. Das zeigt
noch Benns melancholischer Blick auf seine Amarylle oder Hölderlins Zu-
traulichkeit zu seinen Lilien: „dieweil ich allein/ zum Felde gehe, wo wild/
Die Lilie wächst, furchtlos"21. Nichts daran ist idyllisch im herkömmlichen
Sinn. Die Lilien sind das ästhetische Zeichen für den vergessenen Mythos

'«Journal 82,19.7.1868
" Dazu D.Kremer, Ästhetische Konzepte der „Mythopoeük" um 1800, in: H.Günther
(Hrsg.), Gesamtkunstwerk. Zwischen Synästhesie und Mythos (Bielefeld 1994) 1 1 - 2 7
20
Grundlegend dazu H.U. von Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik I - III
(Einsiedein 1961/69)
21
Hölderlin, An die Madonna (Gedichte 385)
331

der heiligen Wildnis. Sie stehen für die Absichtslosigkeit des puren Schönen.
Zugleich birgt sich in ihnen Erinnerung an jene besondere Wahrnehmung,
die Jesus den Jüngern empfahl: in den Lilien, die wild am Wegrand wachsen
und morgen schon verwelkt sind, die Herrlichkeit der Schöpfung zu erken-
nen (Mt 6,28-29). Dem unaufhaltsamen Vormarsch des Verwertungsden-
kens, das der Hyperion als gottlos geißelte, hat Hölderlin nichts entgegenzu-
stellen als seine Blumen der Pietas.
Solche Kontemplation der Natur führt letztlich über Geschichte hinaus.
Hölderlins Heimkunft gilt nicht umsonst dem „freudigschauernden Chaos",
das im Konzept seiner Naturphilosophie den schöpferischen Part hat. Sein
Eschaton ist die Heraufkunft eines bacchantischen Welttages jenseits aller
Profangeschichte. Der Dichter zertrümmert das Selbstverständliche der Le-
benswelt, um sich erschüttern zu lassen. Sogar der weltstädtische Zyniker
Benn, alles andere als ein Blumendichter, zeigt sich für die Ekstase der Natur
empfänglich:

Erschütterer -: Anemone,
die Erde ist kalt, ist nichts,
da murmelt deine Krone
ein Wort des Glaubens, des Lichts.22

Die Erschütterung kommt aus der Wahrnehmung einer dem Menschen ent-
zogenen Schönheit, die er zerstören, jedoch nicht machen kann. In ihr, als
einer Form von Pietas, wird die Erscheinung vor dem Verfall gerettet; Ver-
gänglichkeit wirkt inspirierend.
Naturästhetik als neue Mythologie beginnt mit Hölderlin. Im Wider-
stand gegen die industrielle Unterwerfung der Natur feiert er ihr Dionysisch-
Wildes als Element der Freiheit. Natur ist heilig, insofern sie unverfügbar,
aorgisch und unschuldig ist. Nur im Raum des Unverfügbaren aber ereignet
sich Sinn. Der „reißenden Zeit" hält Hölderlin die Denkbilder der Mnemo-
syne entgegen und distanziert sich damit von jener Geschichte, die mit der
Revolution sich gewaltsam zu beschleunigen, Natur zu entwerten beginnt.
Daher sein Lob nutzloser Dinge. Hölderlin ahnt, daß mit dem Aufstieg der
Werkstättenwelt die Natur unheilbar profaniert wird. Er widersetzt sich dem
mit einer eigenen Theologie der Elemente, die transformiert wird in eine
Poetik. Natur ist darin das „Aorgische", das Unbegrenzte, Ungegliederte und
Allumfassende, während die Kunst das Organische ist. Im Grund ^um Empe-
dokks (1799) hat Hölderlin diesen Kontrast ausführlich reflektiert: „Die
Kunst ist die Blüte, die Vollendung der Natur, Natur wird erst göttlich durch
die Verbindung mit der verschiedenartigen, aber harmonischen Kunst" 23 .
Erst die ästhetische Praxis arbeitet die göttlichen Züge der Natur heraus und

22
Benn, Anemone (1936): SWI, 134
23
Hölderlin GSA IV, 1,152
332

entdeckt im Unendlich-Ungeformten, Chaotisch-Bewegten den Ursprung


der Kunst. Das Aorgische, geistig erfaßt, zeigt sich als Allgefühl: „Dies Ge-
fühl gehört vielleicht zum höchsten, was gefühlt werden kann"24. Hier über-
trägt Hölderlin den Gedanken der Transformation, anhand revolutionär
bewegter Geschichte gewonnen, auf sein Konzept der Natur.
Der Hymnenentwurf Griechenland (1803/05), vor allem in seiner dritten
Fassung, zeigt deutliche Tendenzen der Entgrenzung. Einer als enttäuschend
erlebten Gegenwart setzt der Dichter das Kunstreich hellenisierter Natur
entgegen. Nach Lage der Dinge ist dies nur im Raum der Erinnerung mög-
lich. Wo der Sinn der Elemente im Nützlichkeitsdenken verschwindet, ver-
birgt sich das Angesicht Gottes „und decket die Lüfte mit Kunst" 25 . Solchem
Verschwinden entgegnen Hölderlins Epiphanien der Natur: Gewitter als Da-
sein Gottes, Gesangeswolken, silberner Äther, das Veilchenblau und der Na-
bel der Erde, die Flammen in Ufern von Gras. Frömmigkeit ist Lob der
Elemente, in denen Heiliges wirkt. Sie entwindet sich der geschichtsphiloso-
phischen Spekulation der Friedensfeier oder der Patmos-Hymne und wendet
sich dem nächsten Besten zu - den Wegen des Wanderers, dem Singen der
Amsel, der heiteren Stimmung der Wolken. Natur steht nun für „Griechen-
land". Was hier beschworen wird, ist ein Verlorenes. Denn die Eindrücke
ruhen nicht in sich selbst; sie sind wie Rufe, wie ein Hinausschauen in einen
göttlichen Raum, der mit Unsterblichkeit lockt, doch unbetretbar bleibt. Das
Hinausschauen streckt sich nach Unerreichbarem aus. Die Augenblicksbil-
der, getaucht in Feuerglanz, der ihnen bei aller Natürlichkeit etwas Hierati-
sches gibt, leben im Übergang. Ihr Dasein ist fragiler Schwebezustand zwi-
schen Geheimnis und Alltag. Der Ort ihres Erscheinens läßt sich mit einer
Schwelle, mit einem Fenster vergleichen; daher Hinausschauen. Diese Seh-
weise verdichtet sich beim späten Hölderlin; im Tübinger Turm wird sie zur
„Aussicht-ohne-Aussicht" werden26.
Das Licht, so hatte Hölderlin bereits im zweiten Brief an Böhlendorff
betont (im November 1802), sorgt dafür, „daß uns etwas heilig ist"27. So
wird es zu einer Chiffer für Hellas; auch das Erlebnis des Südens in Bor-
deaux ist darin eingegangen. Doch Hellas, im historischen Sinne untergegan-
gen, muß im Heimischen wieder erinnert werden. Deshalb konnte Hölderlin
damals an Böhlendorff schreiben, „daß alle heiligen Orte der Erde zusam-
men sind an einem Ort, und das philosophische Licht um mein Fenster ist
jetzt meine Freude" 28 . Das Fenster kehrt in der Hymne Griechenland-wieder -
als Diaphanie, worin sich die Gottheit verbirgt. In sichtlicher Anstrengung

«Ebd. 153
25
Griechenland III, V.28 (Gedichte 421)
26
B.Phüipsen, Die List der Einfalt. Nachlese zu Hölderlins spätester Dichtung
(München 1995) 116 ff.
27
Hölderlin, GSA VI, 433
»Ebd.
333

der Semiotik macht Hölderlin aus der Natur ein Buch des Lebens, aufge-
schlagen für die Wissenden, wo „Linien und Winkel" idealtypisch Prosa und
Verse bezeichnen: wie Sonnen und Monde auf je verschiedene Weise die
Dinge beleuchtend. Der fast verzweifelte Versuch, aus profanierter Natur
eine neue Mythologie zu gewinnen, stößt an die Schwierigkeit, im Alltägli-
chen gültige Zeichen für das Sakrale zu finden.
Die Unsterblichkeit, nach der das Schauen sich ausstreckt, ist nur im
Andenken da; denn allein Mnemosyne, die Mutter der Musen, vermag das
Wunschbild zu imaginieren. Das gibt dem Text Griechenland, dessen dritter
Entwurf vom Erinnern an Totes, an die untergegangenen Helden Achill und
Ajax lebt, die tragische Grundierung. Durch die Entgrenzung geistert Todes-
sehnsucht, verschwiegene Erinnerung an Diotima. Doch Hölderlin fängt die
Verfallsgeschichte auf durch Hinweis auf die Gesetze der Erde:

Viel sind Erinnerungen. Wo darauf


Tönend, wie des Kalbs Haut
Die Erde, von Verwüstungen her, Versuchungen der Heiligen
Denn anfangs bildet das Werk sich
Großen Gesetzen nachgehet...29

Natur ist todüberwindendes Werden, durch die Verwüstungen hindurch sich


selbst erhaltend. Das Pathos der Trommel, ein kriegerisches Zeichen, skan-
diert die Krisen und Peripetien der Natur. Befriedetes Dasein, dem „schöner
die Wege blühn", ist nur die Ruhe des Augenblicks im Übergang von Tren-
nung zu neuer Vereinigung. Die Geschichte bereitet das Chaos; doch Dich-
tung rettet den Sinn im Horizont der Natur. „Lauter Besinnung aber lebt
droben der Äther" 30 . Das Gedicht erfindet Griechenland nicht als ein histo-
risches Szenario (selbst die antike Form ist preisgegeben), sondern als heilige
Landschaft — als einen Erinnerungsraum, wo die Dinge gereinigt sind im
philosophischen Licht. Der Gott aber bleibt anonym und verborgen, die
Elemente sind sein Gewand. Der Text inspiriert sich am Schönen der Erde,
das er in reiner Anschauung erfaßt; Aristoteles hatte dafür das Wort „theo-
ria". Hölderlins Naturphilosophie meint auch ästhetisch Werden im Verge-
hen: Untergang und Übergang sind eins. Das empedokleische Widerspiel der
Elemente ist nicht nur welterhaltendes Prinzip, sondern enthält auch die
Dialektik von Natur und Kunst - als Spannung zwischen Entgrenzung und
Maß. Das Werden wirkt als „das Mögliche, welches in die Wirklichkeit tritt,
indem die Wirklichkeit sich auflöst". Und es bewirkt „sowohl die Empfin-
dung der Auflösung als die Erinnerung des Aufgelösten"31. Was bleiben soll,

29
Griechenland III, V.9-13 (Gedichte 421)
30
Ebd.
31
Hölderlin, Das Werden im Vergehen. 1799 (GSA IV, 1, 283)
334

müssen die Dichter stiften. Viel sind Erinnerungen: machtvoll wie eine
Trommel, die nachhallt im leeren Resonanzraum der Geschichte.
Hölderlin rettet das Göttliche in der erleuchteten, erinnerten Natur. Er
bevorzugt das dionysische Licht des Gewitters. Die heilige Wildnis bewahrt
er, indem er den eigenen Text — auf der Schwelle von Kalkül und Enthu-
siasmus — in ästhetische Wildnis verwandelt, die Diskontinuität zu seinem
Stilprinzip macht. Im Dickicht der Zeichen tun überraschend sich Lichtun-
gen auf; auf ihnen begegnet das menschliche Subjekt den Numina. Im Spiel
der Mächte und Gestalten, die wie ein Mantel Gottes sind, der sich bewegt,
ist das Leuchten der Bilder gleichsam ein Atemholen.

Mit Hölderlin begann die Fragmentierung der Natur als Text. Bei Andrea
Zanzotto wird die Fragmentierung, aufgenötigt von der Profangeschichte,
zur letzten poetischen Möglichkeit. Damit ist der Kreis der literarischen Mo-
derne ausgeschritten. Zanzotto, 1921 in Pieve di Soligo (Provinz Treviso)
geboren und zeitlebens dem Veneto verbunden, ist ein Regionalist mit uni-
versalem Horizont. Als Leser von Levi-Strauss und Lacan, von Foucault und
Dernda kennt er die kontrovers diskutierten Problemfelder Sprache, Subjekt,
Geschichte. Als „Mann vom Lande" aber weiß er zugleich den Wert der
Tradition. Für R.P.Harrison zählt er zu jenen wenigen, die angesichts der
Krise der Moderne „die alten Hausgötter in ein Versteck schafften"32. Ret-
tung der Laren — ein Akt der Pietas. Dieselbe Pietas bringt der Dichter dem
„Wald" entgegen: er rettet ihn im Gedicht, kraft der Memoria. Das Gedicht
ist Austragsort der Krise; es lebt aus einem ursprünglichen Logos, den Zan-
zotto das „reichste Nichts" (richissimo nihil) nennt. Wie sein bester Kenner
Stefano Agosti formuliert: Seit dem Gedichtband La Beltä (1968), dem poeti-
schen Durchbruch Zanzottos, äußert sich ein bislang verborgenes Sein, „in
dem die Aphasie oder das Schweigen abwechseln mit babylonischem Stim-
mengewirr, und die großen Stimmen der Geschichte sich im heimlichen
Murmeln der kleinsten Dinge noch verlieren"33.
Hölderlins Pathos und Zanzottos Ironie, philologisch maskiert, gehören
beide dem Werden im Vergehen an: Nur aus der Annahme des Untergangs
kann Neues entstehen, nur durch ästhetische Transformation kann die Natur
gerettet, in Hegels Lesart aufgehoben werden. Sinn erwächst, durch die Zer-
störung hindurch, aus poetischer Setzung. Der Signifikant, als Deutungsge-
ber, regiert die verwüstete Landschaft aus Wörtern; er entscheidet über Be-
deutung, Erinnern, Vergessen; er löscht in der Emphase des Wahrnehmens
die cartesianische Trennung von Subjekt und Objekt aus. Das sinnsetzende

12
Harason 281
33
S.Agosti, Nachwort zu Lichtbrechung (Zanzotto 256)
335

Ich ist im Elementarsinn „poetisch", indem es die Reliquien der Natur zum
Ausdruck seiner selbst macht. Da es nichts Ganzes mehr gibt, muß der
Dichter sein Stückwerk versammeln, die Trümmer der Tradition mit
etymologisch gebrochenen Sprachspielen illuminieren. Wie schon Montale
erkannte, schreibt Zanzotto eine „inventarisierende Dichtung" (una poesia
inventariale), die gleichwohl wie eine Droge wirkt34. Das Inventarisieren
ergibt sich aus dem Gefühl eines Mangels an Sein, einer Abwesenheit der
ursprünglichen Wahrheit, von der die Sprache nur den Schatten hat. Bei
Zanzotto spielen hier biographische wie historische Momente mit hinein: der
Verlust der Kindheit als authentisches Bei-sich-Sein, dazu die Ka-
tastrophengeschichte des 20.Jahrhunderts. Das Hügel- und Waldland des
Montello am Piave ist der symbolische Ort sedimentierter Geschichte —
Schlachtfeld des Sommers 1918, wo Italiener und Österreicher Zehntau-
sende von Toten hinterließen, die dort begraben oder in Beinhäusern beige-
setzt sind. Es ist ein Ort, der zugleich poetisch und provozierend ist. Doch
trotz der Vernutzung der Landschaft „bleibt etwas von dem Großen Wald,
von seiner Schönheit und Kraft, die wie Reue, wie Erinnerung eine unbe-
stimmbare Fläche durchwehen. Alles ist noch möglich, auf diesem hyper-
sedimentierten Boden. Die Fragen bleiben offen, wie jene aller Wälder, der
pflanzlichen und menschlichen. Wie auch die aller Gewalttaten, Kriege und
menschlichen Opfer: es bleibt die Aufforderung, ihre elende Nutzlosigkeit zu
erkennen, die Schrecken miterleidend" 35 .
Die Landschaft des Montello, stigmatisiert von der Gewaltgeschichte,
präsentiert die Natur als Reliquie. Der Wald selbst wird zum Erinnerungsträ-
ger, zu einer Form der Memoria. So ist der Montello, historisch Ort des To-
des, zugleich Schauplatz unaufhörlich sich erneuernder Natur. Was wie Zer-
setzung aussieht, ist eine andere Art von Rekomposition. Zanzottos Texte
unter dem Titel II Galateo in bosco (1978), der anspielt auf das Anstandsbuch
II Galateo des Giovanni della Casa (1558), erinnern an jene Dichter der Re-
naissance, die noch imstande waren, zwischen Natur und Kultur ein Gleich-
gewicht, ja eine Harmonie herzustellen. Am Ende der Moderne bleibt dem
Poeten das mühsame Geschäft, die feinen Regeln wiederzuentdecken, die
Symbiosen und Übereinkünfte zulassen — dazu das Netzwerk des Symboli-
schen, das Sprache, Gestik, Wahrnehmung umfaßt36. Was so sich erschließt,
ist Natur als ästhetisches Vorbild, danach als Sinnhorizont; auf dritter Ebene
ist sie mimetisch ein Text. Zanzottos Gedichte werden damit zur Erinne-
rungslandschaft, zur etymologischen Ablagerung, zu Wortkörpern, die durch
Verletzung hindurch die Versöhnung von Mensch und Natur als eine Mög-
lichkeit festhalten. Denn der Montello ist auch Ort der Kindheit. Wie bei
Hölderlin - „Im Arme der Götter wuchs ich groß" - ist bei Zanzotto die
34
Zit.bei G.Petronio, Geschichte der italienischen Literatur III (Tübingen-Basel 1993) 345
55
Zanzotto, Kommentar zu 11 Galateo m Bosco (1978), in: Lichtbrechung 235
M
Ebd.
336

Kindheit der Archetyp des dichterischen Daseins, kraft des Thaumazein, des
Staunens. In der italienischen Literatur haben Ungaretti und Montale diese
Spur gebahnt, die Mythologie der Kindheit aufgesucht. Dem Erwachsenen,
der den Riß im Subjekt erfuhr, seit Wort und Welt ihm auseinanderfielen,
bleibt nur das Mißtrauen der Sprache gegenüber. Zanzotto der Modernist
wagt es von daher, im Trevisaner Dialekt zu schreiben, experimentiert mit
einer eigenen Kindersprache, dem Petel. Die Elegie in Petel (aus La Beltä)
schließt mit Versen in einer kindlichen Privatsprache und einem Zitat von
Hölderlin: „Einst hab ich die Muse gefragt"37.
Die Hoffnung, ein Subjekt „hinter der Landschaft" zu finden38, erweist
sich als trügerisch. Die Natur ist sprachloses Gegenüber oder, wie Zanzotto
in seinen Neun Eklogen (1962) beschreibt, nur Reflex unablässiger, verzwei-
felter Sinnsuche:

Che tu volessi, tu, da me, perche,


universa impresenza,
unicitä e miriade,
chiesi;
tu, da me, perche,
semantico silenzio.

Was wolltest du, du, von mir, warum,


weltweite Abwesenheit,
Einzigkeit und Myriade,
fragte ich;
du, von mir, warum,
semantisches Schweigen.39

Die Evokation der „gorgonischen Herbste" oder „schwindsuchtgrüner


Frühlinge", des armen Holzes oder der wimmelnden Wiese kann nur ihr Ziel
verfehlen; weder der Zorn des Knaben noch die Ermattung des Erwachse-
nen richten hier etwas aus. In dieser Sinnsuche, die innerem Diktat folgt,
zeigt sich das Sprechenwollen des Unbewußten, wie es Lacan umkreiste, aber
auch das Sich-Entziehen der Dinge. Offenkundig ist das Bemühen, an eine
Grenze zu kommen, um dort die Ekstase der Dinge zu fassen, ihr sprachlo-
ses Sprechen. Was bleibt, sind Namen, „niemals genug gewußt, niemals ge-
nug verloren", und die Berührung des Echos, Zeugnis der Ohnmacht von
Dichtung.

Zanzotto, Poesie 178: „Ta bon ciatu? Ada ciöl e üna e tee e mana papa./ Te bata cheto, te
bata: e po mama e nana./ Una volta ho interrogato la Musa." Vgl. die Übersetzung von
A.Lochmann/E.Gut-Bozzetti, in: Hölderlin-Jahrbuch 29 (1994/95) 181/183
Dietro üpatsagjo hieß 1951 der erste Gedichtband von Zanzotto.
Zanzotto, Riflesso, aus: IX Ecloght (Poesie 134). Dt.von H.D. Rauh
337

E s ist gerade besiegte, gedemütigte N a t u r , der Z a n z o t t o seine Reverenz


erweist. E i n anderer T e x t aus den Neun Eklogen besingt eines ihrer gestürzten
M o n u m e n t e , eine v o m S t u r m entwurzelte Eiche. Z a n z o t t o datiert das Ereig-
nis - „in der N a c h t des 1 8 . 0 k t o b e r 1 9 5 8 " - als ginge es bei diesem B a u m u m
eine historische Person, ein Individuum, u n d u m ein Stück eigener Biogra-
phie. D e r Sturz der Eiche ist, auf der symbolischen E b e n e , der Sturz des
Vaters:

Quercia, come la messe


d'embrici e vetri, la dispersione
per selciati ed asfalti
- nostre irrite grida, irriti aneliti -,
quercia umiliata ai piedi
tniei, di me inginocchiato
invano al alzarti come si alza il padre
colpito, invano
prostrato ad ascoltare
in te nostn in te antichissimi
irriti aneliti, irriti gridi.

Eiche, wie die Ernte


von Ziegeln und Glas, Verschwendung
auf Pflaster und Asphalt
- unsere nichtigen Schreie, unser nichtiges Verlangen -,
Eiche, erniedrigt zu meinen
Füßen, der ich vor dir kniee,
vergeblich, dich aufzurichten wie man dem ohnmächtigen
Vater hilft, vergeblich
hinabgebeugt, in dir auf
unser, in dir auf unser uraltes
nichtiges Verlangen, auf unsere nichtigen Schreie
zu lauschen.40

D e r Akt der Pietas gilt d e m gestürzten N u m e n . F ü r den Altphilologen Zan-


z o t t o liegt die K o n n o t a t i o n römischer Religion durchaus nahe. D i e Eiche
u n d der Sturm bilden die Pathosformel für einen Konflikt v o n mythischer
Qualität. W a s der Dichter zu retten vermag, ist die W ü r d e des Untergangs.
D e r Krater jedoch, den die entwurzelte Eiche in der E r d e auftut, ist wie ein
G r a b der Geschichte. Dieser T e x t ist kein „idillio" wie bei Leopardi. E r regi-
striert Beschädigungen, die irreparabel, u n d Sehnsüchte, die unerfüllbar sind.
Zanzottos N a t u r ist nicht zeidose Schönheit, in die das Subjekt seine Trauer
versenkt, sondern v o n der Geschichte verwundet, fremdbestimmt, n u r n o c h
vermittelt erfahrbar. D i e Wahrheit des Kunstwerks ist an dessen Stigmen zu

Zanzotto, La quercia sradicata dal vento/ nella notte del 15 ottobre MCMLVIII,
aus: IXEcbghe (Poesie 132). Dt. von H.Böhmer, in: Akzente 12 (1965) 137
338

erkennen. Zersprengungen, Auflösung und Erosion regieren Zanzottos Poe-


tik. Natur als Ganzes wäre Paradies. Was die Pietas von ihm zusammenträgt,
sind Erinnerungsreste, Fetzen eines zerrissenen Textes, Zitate. Sie weisen auf
ein Abwesendes hin, das nur noch in Evokationen, versprengten Namen,
Sinnsplittern da ist. Natur wird Sprachreliquie. Von daher die Anhänglichkeit
des Dichters an Vergangenes, Untergegangenes. Die Eklogen erinnern an
einen Sinnzusammenhang, den die Antike noch kannte - an Numinoses in
der Natur. So konnte Ovid vom heiligen Dunkel des Aventinischen Haines
behaupten: „Numen inest"41 und in den Faunen die Numina der Wälder se-
hen 42 . Zanzotto schöpft hier aus einer Ästhetik, die Hölderlin um 1800 erst
legitimieren mußte, die aber für Vico mit seiner Vorliebe für das Archaisch-
Wilde noch selbstverständlich war.
In den Ruinen der späten Moderne baut der Dichter Zanzotto - wie
zeitgleich der Plastiker Beuys in seinem Pa/a^v Regale — aus isolierten, einan-
der entfremdeten, nur noch ironisch zu lesenden Zeichen eine Installation
aus Namen und Objekten, die wie ein Requiem zu Lebzeiten wirkt. Verlo-
rene Natur ist aufgehoben in einer Kunstform, die alle Wunden der Ge-
schichte vorzeigt. Zeige deine Wunde — dieses von Beuys realisierte Programm
(1976) könnte auch über den Sprachpartituren des späten Zanzotto stehen,
etwa über der Textsammlung Fosfeni (1983). Die Zerstörung wird nicht be-
schönigt, sondern angenommen. Es bleibt keine andere Wahl „in der vom
Nie-mehr entwaldeten Welt"43. Was Hölderlin am Beginn der Moderne im
Grund n^um Empedok/es schrieb, gilt an ihrem Ausgang ethisch wie ästhetisch
umso mehr: Angesichts des Frevels (nefas) hat der Dichter die Entgegen-
setzung und Trennung auszusprechen. Was Hölderlin Innigkeit nennt, muß
sich der Form wie dem Stoff nach verleugnen, um retten zu können: ,Je
näher dem nefas die Innigkeit ist, je strenger und kälter das Bild den
Menschen und sein empfundenes Element unterscheiden muß, um die Emp-
findung in ihrer Grenze festzuhalten, um so weniger kann das Bild die Emp-
findung unmittelbar aussprechen" 44 . Der Frevel, auf den der Dichter stößt,
erzwingt eine Ästhetik des Zerbrechens, der Entzweiung.
Die Abwesenheit der Götter — ein anderer Ausdruck für Mangel an Sem
— war immer auch ein Thema für Zanzotto. In dem Interview, das er mit
Donatella Capaldi und Ludwig Paulmichl führte, bekennt er, daß „Götter"
für ihn existieren — in Gestalt jener zahllosen Kräfte, die tagtäglich das Leben
der Menschen bedingen. „Ich bin überzeugt, daß eine vollkommene Ent-
mythisierung unmöglich ist, und zwar deshalb, weil ich aufgrund sehr lange
zurückliegender Erfahrungen in der Kindheit die Natur wirklich, ich wage
nicht zu sagen als göttlich, aber doch als mit Sinn beladen empfunden

41
Ovid, Fasti III, 296
42
Ebd. III, 264. Vgl. Ovid, Metamorphosen VI, 392
43
„Neil' orbe disboscato dai mai-piü". Aus: Fosfeni (Lichtbrechung 84/85)
44
Hölderlin, Grund zum Empedokles (GSA IV,1,150)
339

habe" 45 . Die Kräfte, die uns konditionieren, mögen auch schädlich sein.
Nicht umsonst verweist Zanzotto auf Psychoanalyse, Anthropologie und So-
ziologie; sie haben häufig mit destruktiven Energien zu tun, und in gewisser
Weise enthalten sie alle Aspekte der Gewaltgeschichte. Von Hause aus wehrt
sich der Dichter dagegen, die Welt auf rein philosophische und wissen-
schaftliche Modelle zu reduzieren. Er weiß, wieviel Mythisches auch in der
Wissenschaft steckt. Der Dichter Zanzotto bekennt sich, wie seinerzeit
Goethe, ironisch als „Polytheisten". Und gerade die Gewaltgeschichte bringt
ihn dazu, jedem Vertikalismus mißtrauisch zu begegnen: „Wir haben heut-
zutage viel mehr Erfahrungen mit dem uns belagernden Unheil gemacht,
auch in sozialer Hinsicht, so daß wir eben deshalb auf die Suche nach kleinen
Göttern gehen, die alles in allem da sind. Sind sie sympathisch, sollte man sie
aufnehmen und zum Reden bringen, sie hätscheln, sind sie hingegen bösar-
tig, sie zerlegen und entfernen" 46 .
Der Wald, den das Gedicht evoziert, ist auch der Wald der Zeichen. In
diesem sprachlichen Dickicht bewegt sich Zanzotto auf „Holzwegen", in
einem Labyrinth, das letztlich ein Schlupfwinkel ist47. Die Zeichen bilden,
indem sie erinnern, ein Verschwundenes ab; ihre Metaphorik, wie die in
Trakls Waldgedichten, spricht von Untergang. Der Hinweis Zanzottos auf
das „richissimo nihil" ist im Grunde ein religiöser Akt. Die Erosion der Ge-
schichte in die Natur hinein fördert zugleich die ironische Sicht. Seit // Gala-
teo in bosco pflegt Zanzotto diesen Duktus. Jenseits des unmöglich geworde-
nen Idylls, das noch bei Leopardi elementare poetische Kräfte entband, zeigt
er die Narben, Wunden und Risse der Sprache als solche der Natur. Wie
schon einmal in der Romantik, die Zanzotto aus italienischer Sicht gerne mit
Hölderlin verbindet, geht es um das Experiment einer neuen Mythologie. So
konnte der Romanist R.P. Harrison das Schreiben Zanzottos als Suche nach
einem Logos deuten, der tiefer liegt als die Geschichte. Für ihn ist solche
Dichtung waldartig und katakombenhaft, wobei im Dunkeln bleibt, was aus
ihr hervorgehen wird - ein neuer Gott, eine neue Ökologie, eine neue „selva
antica"48. Obschon Zanzotto auch in den Naturwissenschaften das Blühen
von Metaphern und Analogien beobachtet, fürchtet er den Logos des Spe-
zialistentums, jenes bedrohliche Allwissen, das umschlägt in tödliches
Nichtwissen. Mehr noch fürchtet er die psychischen Deformationen, welche
die Allmacht der Medien in den Tiefenstrukturen des Menschen erzeugt. Nur
die Vitalität der Gefühle, das „Aorgische" Hölderlins, vermöchte hier zu hel-
fen; denn das Gefühl ist schöpferische Lust. „Sollte die Emotionalität auf
Null sinken, dann wird auch die Kunst verschwinden" 49 .

45
Capaldi/Paulmichl 475
.
47
Ebd. 470
48
Harnson 285
49
Capaldi/Paulmichl 478
340

Z a n z o t t o s Poetik des Naturzitates unterläuft den Rationalismus anthro-


pozentrischer Sinnkonstruktionen; ihr K e r n ist die Erinnerung an Numina.
Mit d e m Zerfall sinnsetzender Geschichtsphilosophie verfällt zugleich der
H o c h m u t des Subjekts, das lineares D e n k e n als den Vollstrecker historischer
Vernunft sah. D e r Dichter schwelgt hier in Orgien der Dekonstruktion. So
traditionsbewußt Z a n z o t t o ist — sein methodisches Zerbrechen von K o n -
v e n t i o n e n der W a h r n e h m u n g bleibt auch im Rahmen des N o v e c e n t o er-
staunlich. W e n n er die W u n d e n zeigt - gerade im Blick auf Natur - , so will er
das Bewußtsein v o n Religion wachhalten. Merkwürdig, daß der G e d a n k e
einer v o n G o t t h e i t e n b e w o h n t e n Wildnis auf italischem Boden eher weiter-
lebt (als Relikt einstigen Numinaglaubens) als auf germanischem, w o Sinn-
vergessenheit zur T u g e n d der T e c h n o k r a t e n geworden ist. Auch Pietas hat
mit Kultur zu tun. In d e m G e d i c h t Loghion 50 hat Zanzotto Erinnerung u n d
E h r f u r c h t als schmerzhaften Akt des Ausreißens beschrieben:

Ti sradico quäle gramigna


con grandi sofferenze, nel tuo serpeggiare cosi vano
ma cosi saggio che non vegetale ma prowisto dl ommatidi
anzi di fibre ottiche
sembn, o chissä che piu

Ich reiße dich aus unter Schmerzen


wie Unkraut, das eitel aufschießt
vor lauter Weisheit nicht mehr pflanzlich scheint, mit
Punktaugen versehen
besser gesagt mit optischen Fasern
und wer weiß womit noch 51

Hier kehrt Hölderlins „üppiges U n k r a u t " wieder, die unbeholfene Wildnis,


der Scherz des Schöpferischen 5 2 . Z a n z o t t o s Abschied gilt einem Wald, der
wie ein G o t t kreativ war, ästhetisch eine Art v o n Offenbarung, zugleich eine
komplexe ethische Botschaft enthaltend. D i e Überschrift Loghion erinnert an
jene S a m m l u n g v o n Jesusworten, aus denen die Evangelien entstanden.
Z a n z o t t o liefert selbst den K o m m e n t a r , mit franziskanischer W e n d u n g zur
„arte p o v e r a " hin: „Logion, gewöhnlich ein 'denkwürdiger Spruch', aber hier
mit einer N e i g u n g zur Winzigkeit u n d Nichtexistenz" 5 3 . Das Heraustreten
aus der prometheischen Geschichte ist als solches schon eine Technikkritik.
D e n n Sache der Poesie ist die Parteinahme für die Natur, die Zurückweisung
menschlichen H o c h m u t s :

50
Aus Fosfem, 1983 (hier in italienischer Schreibung)
51
Zanzotto, Lichtbrechung 86/87
52
Hölderlin, Wenn aber die Himmlischen (Gedichte 395)
53
Ebd. 241
341

Tu meno esperto che quando l'uccello fa il nido

Du weniger kundig als wenn der Vogel sein Nest baut54

Die Empirie der Dichtung, deren erlauchtes Vorbild die Präzision Dantes in
dessen Naturvergleichen ist, deckt hier sehr rasch das Mängelwesen Mensch
auf. Ökologie und Ästhetik des Nestes siegen über die Ingenieurskunst.
Ebenso widerlegen in jenem Logion aus dem Neuen Testament die Vögel
des Himmels, die weder säen noch ernten, das Dasein als Sorge, das Philo-
sophen uns aufgebürdet haben. Was bleibt, stiftet der Dichter - nicht trium-
phal, sondern demütig, „Armer unter Armen, Beleidigter unter Beleidigten",
sich dem Gericht unterstellend, das die Natur der Geschichte und das
Erinnern dem Gedicht bereiten:

Vuoti di memoria, falle, cascatelle trattenuto da un dito

Gedächtnispausen, Risse, Wasserstürze zurückgehalten von einem


Finger55

Die Verkündigung, auf die der Titel anspielt, blitzt in diesem Text nur noch
in Rissen auf - in „Schwalbenflügeln, zwischen den Blättern, kaum sichtbar".
Kein Ganzes mehr, das nur noch Lüge wäre; aber ein Versprechen, die Sint-
flut aufzuhalten.
Zanzottos Geschichtskritik macht auch nicht halt vor nationalen My-
then. Sein Gedicht auf den 25. April, der die Erinnerung an die Befreiung
Italiens im Frühjahr 1945 festschreibt, transformiert das Geschehen, entmy-
thologisierend, in die „perverse Einsicht des Abends", daß dieser Frühling
nur sich selbst bedeutet. Die Opfer der Geschichte dulden keine Annähe-
rung in Form von Gedenkfeiern mehr. Gegen einen sinnendeerten Ritus, der
den Tod profaniert, stellt der Dichter als seine Form des Gedenkens die
„Schlaflosigkeit", das fragmentierte, von nutzloser Glut sich nährende Erin-
nern. Zur Würde der Toten gehört, daß die Lebenden sie in ihrem Rätsel las-
sen. Das Gedicht lebt von ästhetischer Trauer, die ihre Kraft aus zyklisch
sich erneuernder Natur holt.

II vostro penre - nel sacro della primavera -


mi sembrava la radice stessa di ogni sacro.

Euer Untergang — im Heiligtum des Frühlings -


schien nur die Wurzel selbst von allem Heiligen.56

M
Ebd. 86
55
Ebd. 88/89
56
Lichtbrechung 148
342

Zanzotto spielt an auf einen Ritus römischer Religion, das Ver sacrum. „Er
besagt, daß alles, was in einem bestimmten Frühling (ver) zur Welt kam,
Menschen und Tiere, dem Mars geweiht (sacer) war. Die Tiere wurden ihm
als Opfer geschlachtet, die Menschen wurden, sobald sie erwachsen waren,
aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Sie mußten sich neue Wohnsitze suchen,
und man vertraute darauf, daß Mars für sie, die als sein Eigentum galten,
sorgen würde" 57 . Die Gewaltgeschichte des 20.Jahrhunderts hat solche Sinn-
konstrukte für immer zunichte gemacht. Und dennoch hält Zanzotto an sei-
ner Transformation des historischen Todes in naturale Auferstehung fest;
nur so ist die Idee des Sakralen zu retten. Über den Trümmern der Ge-
schichte bewahrt die Pietas das Bewußtsein verlorenen Sinns, der wie ein
Stachel wirkt. Natur, zum Sanktuarium geworden, hält diesen Stachel wach.
Ihr Gegenbild ist das verdinglichte Gedenken, ein Werk des Ekels: das
„rituelle Selbstausspeien der Geschichte" 58 . Nur kraft der Trauer aber erhält
sich das Heilige. Versöhnung mit der Geschichte vermag allein aus jener
ästhetischen Schwermut hervorzugehen, die Benjamin, Adorno und Heideg-
ger - auch sie vor dem Hintergrund einer Verfallsgeschichte - bei ihrer Mo-
dernitätskritik angemahnt haben. „In diesem Sinn hat Adorno als die Mitte
der Philosophie Benjamins die 'Idee der Rettung des Toten' ausgemacht, die
die Radikalisierung der eigenen Verdinglichung' zur Voraussetzung hat"59.
Der Dichter verlegt seine Trauer in eine Wildnis von Zeichen, die an das
zerstörte Paradies, an die versagte Utopie erinnern. Sein Ethos des Erinnerns
verbindet sich dem Pathos der Natur, die zum „calvario" der Geschichte
wird, so ihre Wunden zeigt:

Erano ferite dentro le colline


nei fianchi giovani e amorosamente annosi del folto;
e 10 le vedevo e amavo
cercavo di soppenre a quanto esse esigevano.

An den Hügeln waren Wunden


an den jungen und liebevoll gealterten Flanken des Dickichts;
ich sah diese Wunden und liebte sie
und suchte für sie zu sorgen.60

Versöhnung, durch die Natur vermittelt, öffnet sich auf einen Sinnhorizont,
worin die Revolte wider die Geschichte in sich zusammensinkt. Der konser-
vative Duktus mag überraschen; aber der Dichter befindet sich jenseits der
Ideologien. Ein anderer Text aus dem Gedichtband Idioma, mit dem Motto

E.Simon, Die Götter der Römer (München 1990) 137


Ebd. 153: „Rituale autovomitarsi di ogni stona".
L.Heidbnnk, Melancholie und Moderne. Zur Kritik der histonschen Verzweiflung
(München 1994) 271
Zanzotto, Lichtbrechung 154/155. Aus: Idioma (1986)
343

„Zimmer ausgedacht oder erahnt" (stanza immaginata o intravista), fängt


eine eschatologische Erwartung ein. Er ist Edmond Jabes gewidmet, dem
jüdisch-französischen Dichter, dessen Schreiben aus dem Erlebnis der Ge-
waltgeschichte kam, aus der Auslöschung seines Volkes, der Auslöschung
des Namens Gottes. Das Weiße, die Leere wurde für ihn zur Todeschiffer:
„Ohne Geste, ohne Stimme werden wir uns, folgsam, in das unentwirrbare
Labyrinth strahlender Todesweiße begeben" 61 . In ihrer Lichtung verbirgt
sich der Herr der Geschichte. Auch Zanzottos Rettung der Natur setzt deren
Sterben voraus. Die reine Negativitat, in der ihre Reliquien erscheinen,
taucht diese in traumatisierendes Licht. Doch anders als Jabes kennt Zan-
zotto noch Gesten der Versöhnung mit dem Hier, ein Zutrauen zu Bildern,
in denen Sinn durch die Negierung hindurchschimmert. Die absolute
Erwartung heftet sich an eine Natur jenseits von Jahreszeit und Landschaft,
an ein Offenes, herbstlich gelichtet - wie in Hölderlins Tübinger Turm durch
ein „Fenster" gesehen. Der anamnetische Blick kommt aus der Trauer selbst:

Nulla in piü da attendere, da nessun


clivo o frattura
da nessuna memoria ne semenza
La sta idea, consistenza, renitenza
La fu, mai fu, lä — unicamente — accogliere.

Nichts ferner zu erwarten, von keinem


der Hügel, von keiner Verwerfung
keinem Erinnern oder der Saat
Da steht das Bild, fest, vergänglich
War, war nie, da - unwiederholbar - empfänglich.62

Die Ästhetik des Sich-Versagens mündet in apokalyptisches, also enthüllen-


des Schweigen. Es läßt die Dinge im bloßen Sein bestehen, unverrückbar.
Das Göttliche ist als Werdoses maskiert. Herbst, Hügel, Verwerfung, Er-
innerung, Saat — sie sind an die Geschichte verloren. Doch dieser traurige
Rest, am Ende der Dinge, ist das Erwählte, das wartet und empfängt.
Zanzotto wie Hölderlin wollen durch die zersplitterten Bilder hindurch
Natur zum Sehen bringen — so daß ihr Sinn aufschiene im Zurückblicken auf
das Subjekt. Durch die Verwerfungen, Risse und Lücken des Textes blickt
ihr Sinn als das Andere, Fremde. Hölderlin, auf den sich Zanzotto an wichti-
gen Stellen beruft, wollte das Heilige in Gestalt naturaler Mythologie und
Metaphorik retten vor jenem „finstern Geschlecht", das keine Götter mehr
ehrt, keine Wildnis mehr scheut, mag sie auch „göttlichgebaut" sein. Das
Gedicht selbst muß demnach dunkel und wild sein, den Abglanz der Ord-
nung verschmähen, die nur noch Lüge ist, will es die Schöpfung als Göttli-
61
E.Jabes, Es nimmt seinen Lauf (Frankfurt/Main 1981) 111
62
Zanzotto, Lichtbrechung 230/231
344

ches zeigen. Hölderlin kultiviert nicht nur die ästhetische Trauer, sondern
auch den ästhetischen Zorn. Dieser Impuls der Moderne, die blindgeworde-
nen Tafeln zu zerschmettern, reicht über Nietzsche weiter bis hin zu Beuys.
Nicht vom Idyll, sondern vom Sinnhorizont Natur spricht dann das nächste
Beste, das sich am Wegrand findet:

Ein wilder Hügel aber stehet über dem Abhang


Meiner Gärten. Kirschenbäume. Scharfer Othem aber wehet
Um die Löcher des Felses. Allda bin ich
Alles miteinander.63

Ordnung und Chaos spielen einander im Subjekt ihre Bedeutungen zu. In


Bildern, die Sinn nur noch kosten, nicht mehr erzwingen wollen, leuchtet bei
Hölderlin auf, was sich dem Nützlichkeitsdenken entzieht, wenn „heilig
Grün sich zeigt/ Auf feuchter Wiese der Charente"64. Was die Natur vor der
Vernutzung und Verwüstung rettet, ist ihre Transformation ins Ästhetische.
Nur dort, im Unbrauchbaren, ist noch Sinn bewahrt. Nur „hochzeitliches
Grün" bei Hölderlin und „Liebe unmöglich wie die Hügel" bei Zanzotto.

Angesichts globaler Technisierung, die alles vernetzt und bis an mentale Tie-
fenstrukturen rührt, war Joseph Beuys ein unzeitgemäßer Künstler. Mit der
absurden Hoffnung des „homo religiosus" und Kryptoromantikers mühte er
sich um Rettung der Natur, um Rettung ihres immanent Sakralen. Wie
Novalis und F.Schlegel versuchte er Natur im Zeichen der Poiesis zu fassen
- als ständigen Schöpfungsprozeß. Seit er sich von der Fluxus-Bewegung
und ihren situationsbedingten Effekten distanziert hatte, war Beuys auf dem
Wege zu einer neuen Naturästhetik. Deren Schlüsselbegriff lautete: Trans-
formation; oder in der Sprache Goethes und R.Steiners: Metamorphose 65 .
Gerade die Kunstphilosophie des deutschen Idealismus hat in Beuys das
Gefühl dafür geschärft, „daß die sozio-ökologische Krise eine Erkenntnis-
krise ist"66. Damit verstand er das Altern der Avantgarde als unaufhaltsamen
Vorgang; ihn zu verzögern, konnte nicht Sache seiner Kunst sein. Beuys war
Philosoph genug, um die Krisis instrumenteller Vernunft zugleich als Krisis
des prometheischen Geschichtsentwurfes zu sehen. Er scheute als Künstler
deshalb nicht vor schroffen Konfrontationen zurück; sie betrafen sowohl
Konzepte wie Materialien. „Nur aus dem Chaos kann etwas kommen" 67 . Bei
63
Hölderlin, Vom Abgrund nämlich V. 18 - 21 (Gedichte 416)
M
Hölderlin, Das nächste Beste V. 27f. (Gedichte 406)
65
Dazu C.Lichtenstern, Die Wirkungsgeschichte der Metamorphosenlehre Goethes.
Von Ph.O.Runge bis J.Beuys (Weinheim 1990) 143ff.
66
Zweite 8
67
Ebd. 19
345

Beuys darf dieses Wort nicht überraschen. Jenseits des ausgelaugten surreali-
stischen Prinzips, Unvereinbares miteinander zu koppeln, führte er — inmit-
ten der durchtechnisierten Gesellschaft - die Kategorien des Wilden, des
Unangepaßten, ja des Sakralen zurück in die Kunst.
Darin lag durchaus Anstößiges. War doch Religiöses, ja Christliches im
Kunstbetrieb, der seinerseits abhängt von einer umfassenden Bewußtsein-
sindustrie, weitgehend tabuisiert. Zwar sah Beuys es als notwendig an, mit
dem abgelebten bürgerlichen Christentum erst einmal aufzuräumen; doch
hatte er ebenso den Mut, in Christus eine kosmischen Kraft, eine absolute
Präsenz zu erkennen - ein Sinnpotential, das er für die eigene „Mythologie"
zu nutzen wußte 68 . Damit war der Garant eines Ganzen ins Spiel gebracht.
Beuys fürchtete den Verlust des Spirituellen, die Blindheit des inneren Auges.
Seine Kunst lebt geradezu von spiritueller .Aufladung". Die Metapher, tech-
nisch inspiriert, verweist auf das Konzept eines universalen Energiekreislau-
fes. Den Sinnschwund der alternden Moderne, verbunden mit der Herr-
schaft der Materie, erlebte Beuys — gut tropologisch - als „Kreuzigung", als
„Inkarnation in die Stoffeswelt", als unabweisbare „Passion"69. Von daher
konnte er Auferstehung ästhetisch als Transformation verstehen - doch
nunmehr durch den Menschen zu vollziehen.
Seine Konzepte hat Beuys aus der Wiederentdeckung eines holistischen
Weltbilds geschöpft. Dazu gehört die berühmte Maxime .Jeder Mensch ist
ein Künsder". Christlich gesprochen heißt dies: Jeder ist berufen, die Natur
als Schöpfung wahrzunehmen. Solche Aisthesis kommt allen zu. Auf die
Frage des Jesuiten F.Mennekes, worin er seinen wichtigsten Beitrag zum
Christusbild sehe, antwortet Beuys: „Der erweiterte Kunstbegriff. Ganz ein-
fach"70. Für ihn war dies nicht Theorie, sondern Figuration - ein Gestal-
tungsprinzip. Es geht darum, die instrumentelle Vernunft, deren Werk bloße
Vernutzung ist, innovativ zu durchkreuzen. Gerade um seine Kunst anstößi-
ger im mehrfachen Sinne zu machen, verwendet Beuys unkonventionelle
Materialien. Sie dienen der Reaktivierung der Sinne, führen hin zu vergesse-
ner Wirklichkeit. Die Aisthesis wird angereichert und aufgerauht durch das,
was bisher als nicht-ästhetisch galt: Fett und Filz, Wachs, Blut und Honig,
Kunststoff, Metall und organische Stoffe, Lebensmittel, technische Teile,
selbst Abfälle. Das hat viel Verwirrung erzeugt, fügt sich jedoch konsequent
in den erweiterten Kunstbegriff. Dieser umfaßt auch die Transformation der

68
Mennekes 16. Der Autor geht soweit, von einer „chnstusbezogenen Kosmologie" bei
Beuys zu sprechen (ebd. 69ff). Die Verbindungen zwischen Beuys und Traditionsformen
christlicher Kunst beleuchtet der Ausstellungskatalog von H Westermann-Angerhausen
(Hrsg.), Joseph Beuys und das Mittelalter, Schnütgen-Museum (Köln 1997)
69
Ebd. 22
70
Ebd. 60. Das Interview fand im März 1984 in Frankfurt am Main anläßlich der Ausstellung
„Menschenbild - Christusbild" statt.
346

Natur - bis hin zum „Einpflanzen" neuen Bewußtseins durch umweltpoliti-


sches Engagement.
Die Schöpfung ästhetisch zu retten, den Verlust des Spirituellen durch
eine Strategie der Sinnerweiterung, durch Aufladung der Materie aufzufangen
— dies waren erklärte Ziele des Plastikers, des Energie- und Prozeßkünstlers
Beuys. Indem er die Wahrnehmung für eine göttliche Kraft in der Natur
schärft, rettet er das Ethische im Umgang mit Natur. Seine unverwechselbare
Poiesis - die Gabe, Heterogenstes miteinander zu verbinden - macht ihn
zum überragenden Künstler des ausgehenden 20Jahrhunderts. Kunst ist für
ihn Auflösung des Erstarrten, Verflüssigung der alten Bedeutungen. Instru-
mentelle Vernunft war für Beuys — wie zuvor für Novalis — der Buchstabe,
der tötet, wogegen die Phantasie belebt. Angesichts der Abtötungstendenzen
des technoiden Denkens wird Kunst zur Therapie sozialer Krankheit. Da-
hinter steht ein romantischer Idealismus, der bisweilen messianische Züge
trägt - der Wille, einzudringen in das Naturgeheimnis. So wie für F.Schlegel
der Künstler ein „höheres Seelenorgan" war, so wird für Beuys die Land-
schaft zum „Organ des Menschen" 71 . Bei solchen Wiederbelebungsversu-
chen geht er zurück bis zur Figur des Schamanen; das Regressive ist wie bei
Benn das Moderne. Das Wilde in dieser Kunst ist nicht zu verwechseln mit
dem Exotischen; es stellt sich dar als Freisetzung des Assoziativen, als animi-
stische Freude am Material, die zum Spiel mit dem Mythos gehört, schließ-
lich als magisches Experiment.
Wie Andre Breton (in seinem Manifest Der Surrealismus und die Malerei)
hätte Beuys von sich sagen können: „Das Auge existiert im Zustand der
Wildheit". Der unverstellte Blick war seine Stärke, mit ihm suchte er nach
den Metamorphosen und Masken des Heiligen. Das geschieht früh; bereits in
einer Zeichnung wie Hirschfiihrer (1948), später aufgenommen in den Kom-
plex The Secret Block for a Secret Person in Ireland (1974), ist Beuys auf dem Weg
zum erweiterten KunstbegrifP 2 . Das Geheimnis der Verwandlung, zunächst
naturales Prinzip, wird alsbald zum kreativen, ja religiösen Moment. Der
Hirsch ist in der Bildsprache von Beuys eine Christusfigur: er repräsentiert
Lebenskraft, Fruchtbarkeit, Opfer, heilige Jagd und Überwindung des Todes.
Diese Symbolik hatte bereits der Dichter P.J.Jouve um 1930 aktualisiert; die
Geister des Renouveau catholique und der Psychoanalyse kamen hier zu-
sammen. Das Bild des Hirsches, der in der Wüste nach Wasser schreit, so
wie die Seele nach Gott, stammt jedoch aus den Psalmen. Für Beuys ist der
Hirsch, wie er zu Caroline Tisdall 1974 sagte, „the accompagnier of the
soul". Das erweitert den biblischen Hintergrund noch um die keltische My-
thologie mit ihrem Hirschgott Cernunnus 73 . In dieses symbolische Umfeld
gehört auch der griechische Mythos von Artemis und Aktäon: Dieser hatte
71
Zitat bei Zweite 21.
72
Dazu Lichtenstern 341 ff.
73
Lichtenstern 354 Anm.74
347

die Göttin nackt im Bade gesehen, wurde zur Strafe in einen Hirsch verwan-
delt und von seinen eigenen Hunden zerrissen.
Der Tod des Hirsches steht für die Ambivalenz alles Heiligen; Erleuch-
tung und Gewalt verbinden sich. Von daher konnte Beuys den Hirsch mit
dem Blitz assoziieren, wie seine Installation Blitzschlag mit Lichtschein auf
Hirsch" (1958/85) bezeugt. Mit ihr schließt er die Reihe seiner „Hirschdenk-
mäler" ab. Die Stimmung, die ausgeht von dieser Raumskulptur aus Bronze,
Eisen und Aluminium, meint Finalität und Endzeit. Der Blitz, materialisiert
zum schwarzen Fächer aus Eisen, erstarrtes Verhängnis, ist Drohung und
Gericht. „Alles regiert der Blitz" hieß es bei Heraklit74. Dieser hier erleuchtet,
weil er dunkel wie die Nacht ist. Was denkgeschichtlich von Heraklit bis
Heidegger „Physis" bedeutete, ist aufgehoben in dieser Blitz-Nacht, die alles
Leben auslöscht. Beuys rettet Heiliges, indem er opfert: den Hirsch, die
Ziege, die Urtiere; Hirschwagen und Aggregat bilden gleichsam Assistenz-
figuren. „In diesem Environment scheint die Geschichte der Menschen er-
schöpft. (...) Der Mythos der Natur ist angehalten in Resten. Zu besichtigen
ist der auf sie endlos einwirkende Geist der Vernichtung" 75 . Beuys spricht
selbst von einer „Todesweihe", ohne zu wissen, ob sein Akt der Pietas ver-
standen würde. Tatsächlich rührt dieser Blitzschlag an die Grenze dessen,
was die Beliebigkeitskultur der endenden Moderne noch akzeptieren kann.
Denn es ist Apokalyptik, die Warnung unübersehbar. „Hier hat jemand einen
Mythos zu Ende gedacht, in dem der Mensch nicht die wichtigste aller vor-
übergehenden Erscheinungen war"76. Einzig aus dem Erschrecken darüber
entstünde neuer Sinn. Der Künstler weiß, daß die Physis nur noch durch
Metaphysik zu retten ist; sein Opferritus soll daran erinnern. Bei dieser Ge-
schichtskritik versteht sich Beuys - auf sonst getrenntesten Bergen - mit den
Diagnosen von Benn, Jünger und Levi-Strauss.
Verweise solcher Art bestätigen, daß Beuys seine Naturästhetik, getrie-
ben vom Gedanken der Versöhnung, bewußt mit religiösen Implikationen
auflud. Gerade in seiner späten Phase, besonders in den Gesprächen mit
F.Mennekes (1984), verwendet er zur Erklärung seines künstlerischen Tuns
sakrale Termini: „Die Bewegung kommt zustande durch eine Provokation,
durch eine Einweihung, durch eine Initiation"77. Der erweiterte Kunstbegriff
war sein verzweifelter Versuch, das Heilige in der Schöpfung ästhetisch zu
retten, indem er die Materie gleichsam taufte, ihr einen neuen Geist gab. Zur
Ästhetik des Wilden, die bei Beuys ja nicht naiv, sondern hochreflektiert war,
gehört die Kultivierung der Diskontinuität. Sie betrifft sowohl Themen wie
Materialien und zeigt sich in kalkulierten Sprüngen und Brüchen, in schok-
kierender Paarung von Elementen, die sonst als unvereinbar gelten. Kalkül

74
Fragment B 64 (Snell 22/23)
75
H.Bastian, in: Documenta 8, Bd. 2: Katalog (Kassel 1987) 24
76
Ebd.
77
Mennekes 60
348

und Geheimnis gehen hier ineins. Der Wille, die Einheit von Mensch und
Natur als neuen Sinnhorizont zu setzen, bringt freilich auch Gewaltsamkeit
mit sich. In gut romantischer Tradition möchte Beuys selbst den Tod nicht
als absolute Grenze anerkennen. Dafür steht seine berühmte Aktion Wie man
dem toten Hasen die Bilder erklärt (November 1965, Galerie Schmela,
Düsseldorf). Das Irrationale, Archaische an Beuys, das sich an seinen
Tieridolen, an den Faunessen und Schamanen darstellt, meint Suche nach
verschütteten Quellen der Naturwahrnehmung. Das Erkenntnispotential des
Mythos wird dabei reichlich genutzt, Magie als Mittel der Empathie ver-
standen. „Vielleicht bin ich ein wiedergeborener Höhlenzeichner"78. Der
ironische Beiklang (der eine Schutzfünktion hat) hindert nicht, in seinem
Werk „Urzeit und Spätkultur" (A.Gehlen) miteinander agieren zu sehen.
Die Modernitätskritik von Beuys ist von den Zeitgenossen kaum aufge-
nommen worden, da sie dem Klischee vom Avantgardisten widersprach. Das
bezog sich vor allem auf die Exzesse der individuellen Freiheit. Der be-
rühmteste Künstler der westlichen Welt hielt es 1982 für notwendig, „die
Schwelle der Moderne zu durchbrechen und den Kunstbegriff auf die
menschliche Arbeit schlechthin zu beziehen"79. Diese Spielart des erweiter-
ten Kunstbegriffs rührt im Anthropologischen an Theologisches; sie faßt den
Menschen als Mitarbeiter Gottes, als „cooperator Dei". Dergleichen war seit
dem 18Jahrhundert gewiß antimodern. Umstritten bleibt, inwieweit Beuys
am Begriff der Aufklärung festhielt80 oder ob er nicht eher die Aufklärung
der Aufklärung und somit deren „Verwindung" betrieb — weil ihm Fort-
schritt nichts bedeutete und er bewußt eine neue Mythologie anstrebte. Für
einen gewissen Antimodernismus konnte sich Beuys auf Nietzsche berufen,
mit dessen Denken er schon als junger Mann vertraut war. Nach dem Be-
such des Weimarer Nietzsche-Archivs im Mai 1942, als Soldat von Erfurt
herüber auf Urlaub, notierte er seine Eindrücke: „Der Mensch fühlt, daß die
Pflanzen und Tiere seine Verwandten sind. Dieses - unendliche Kraft, dies
dionysische Streben und Überquellen schafft der Mensch durch seine geistige
Schau der Realitäten in der Natur"81. Hier ist im Zeichen der Transformation
die kommende Naturasthetik bereits angelegt - mit dem inneren Ausstieg
aus einer totalitären Geschichte. Von Nietzsche borgt sich Beuys den Schlüs-
selbegriff „dionysisch", um das Geheimnis der Kreativität zu fassen: „Dies
pflanzliche Wuchern und Überwuchern ohne Grenzen aus immer neuen
Quellen, aus einer überschwenglichen, biologischen Schöpfüngskraft"82. Es

78
W.Kriiger/W.Pehnt, Documenta-Dokumente. Künstler im Gespräch (Köln 1984) 43f.
79
Zweite 20
80
Wofür Zweite plädiert (ebd. 26)
81
Zitat bei H.Stachelhaus, Joseph Beuys (3.Auflage Düsseldorf 1991) 25. Dort allerdings
ungenau datiert und transsknbiert. Ich übernehme die Korrekturen von J.Verspohl,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 162,15.7.1995.
82
Stachelhaus ebd.
349

ist, als hätte Beuys bei dieser Vision auch an Hölderlins „heilige Wildnis" ge-
dacht. Schon im Vorhof seiner Initiation zum Künsder hat er ein Gefühl für
die Ekstase der Natur.
Mittels seiner „sozialen Plastik" wird sich Beuys als Therapeut versu-
chen. Die Krankheit, die er bekämpft, ist jene Daseinsverfehlung, die her-
vorgeht aus Naturverlust. Er weiß, daß das Verhältnis von Mensch und Na-
tur in einem Wirtschaftssystem, das auf Profit und Expropriation gegründet
ist, ein durch und durch gestörtes ist83. Dergleichen Äußerung, 1977 getan,
zeigt noch die Nähe zu einer bestimmten ökologischen Politik. Beuys
scheute nicht die Rolle des Propheten, doch wird auch sie transformiert:
Sinnstiftung und Politik gehen darin zusammen. Er liebte die Offenheit der
Formen, das Fließen der Metaphern, die Verschmelzung von Archaischem
und Aktuellem. Der Schamane spielt mit Elementen der technischen Welt.
Sie werden nicht mehr als Instrumente behandelt, sondern als „Fetische, die
eine düstere Aura umgibt"84. So präsentiert der spätere Beuys keine reine
Natur mehr, sondern eine durch Techne beschädigte, gezeichnete, zerstörte;
die Schocks sind implantiert. Das Archaische ist wie bei Benn Zitat; es spie-
gelt keine rückwärts gewandte Ideologie. In der Ästhetik des Heterogenen,
des erleuchteten Kurzschlusses Technik/Natur steckt eine eigene Ethik:
Beuys ist es um die Würde der Natur zu tun85. Deutlich wird dies an der
Rolle, die er innerhalb der Erdrevolution den Tieren zuschreibt, auch an der
Art, wie er die Spiritualität der Kreatur entdeckt, sich magisch in sie einfühlt.
In Aquarellen aus dem Jahre 1957 mit Rentieren und Elchen, die Frauen
(„Faunessen") auf ihrem Rücken tragen, zeigt sich ein Miteinander von Tier-
und Menschengeist, das über Symbiose hinausgeht, zur hieratischen Chiffer
gerinnt86.
Naturverlust war für Beuys mit Sinnverlust identisch. Seine Rettungsak-
tion 7000 Eichen, 1982 zur 7. Documenta in Kassel, verstand sich durchaus
politisch. Die Absicht war, einen lieblosen städtischen Raum durch Pflanzen
von Bäumen naturnäher, mithin humaner zu machen. „Stadtverwaldung statt
Stadtverwaltung" — wie Beuys mit ironischer Prägnanz formulierte — war ein
Versuch, Ästhetik auf eine breitere Basis zu stellen. Noch in solch öffentli-
cher Inszenierung des Waldmotives — die Eichen sind C.D.Friedrichs Bäume
- erweist sich Beuys als Romantiker. Er hätte seinem Generationsgenossen
Zanzotto zugestimmt, der im Sterben der Wälder eine Kulturkatastrophe
und einen Verlust von Ursprung sah — „weil in den Tiefen des kulturellen
Gedächtnisses Wälder immer noch das Korrelat menschlicher Transzendenz

83
Zweite 23
84
Ebd. 25
85
Vgl. W.Kiüger/W.Pehnt, Documenta-Dokumente. Künstler im Gesprach (Köln 1984) 43f.
86
J.Beuys, Wasserfarben. Aquarelle und aquarellierte Zeichnungen, Kunsthalle Düsseldorf
1986, Nr. 447, 449,450 (Sammlung van der Grinten, Museum Schloß Moyland)
350

sind" 87 . Mit seiner Aktion hat Beuys eine lebendige grüne Skulptur im dena-
turierten Stadtraum errichtet und so der Physis zumindest zeichenhaft zu ih-
rem Recht verholfen. Die „Stadtverwaldung" war ein unübersehbares Bei-
spiel für den erweiterten Kunstbegriff. Doch ihre Implikationen reichen
noch weiter. Die Bäume, die als lebendige Pfeiler Himmel und Erde verbin-
den, halten die Erinnerung an alte Numina wach. Besonders die Eichen sind
mit dem Kult der großen Götter verknüpft: im heiligen Hain von Dodona
war ein Orakel des Zeus; auf dem Mons Caelius, einem der sieben Hügel
Roms, wurde der Jupiter verehrt88. Der Mythos des kosmischen Baumes
kehrt in der Bibel wieder - als Paradiesbaum wie als Kreuzesholz. In der
Schriftauslegung der Kirchenväter wie des Mittelalters verweisen beide im
mystischen Sinn aufeinander: Paradies und Passion kommen im Bild des Le-
bensbaumes zusammen. Beuys selbst, ein ungewöhnlich belesener Künstler,
arbeitet mit solchen Konnotationen. Für ihn sind Bäume intelligente Wesen,
ja Träger einer eigenen Spiritualität.
Im Leiden der Natur entdeckt Beuys eine sakramentale Substanz, die
der Künsder aufzudecken hat. Die religiöse Komponente in solcher Art von
Empathie hat er ungescheut offengelegt. „Wenn der Wind durch die Kronen
geht, dann geht zu gleicher Zeit durch die Kronen, was die leidenden
Menschen an Substanz auf die Erde gebracht haben"89. Die Anspielung auf
das Pneuma öffnet sich auf eine Mystik der Schöpfung. Christliche Aisthesis
ist in diesem Sinnhorizont „Wahrnehmung des Sakramentes, das durch die
Baumwipfel weht"90. In diesem Wehen endet die Schmerz- und
Gewaltgeschichte. Der Plastiker Beuys, der zugleich Ethiker ist, erfaßt den
elementaren Zusammenhang, in dem das Naturwesen Mensch sich befindet.
Der Entrechtung der Natur ein Ende zu machen, bedeutet für ihn: die
Würde des Menschen zu restituieren. Um Natur vor der schieren
Vernutzung ästhetisch zu retten, arbeitet Beuys an der Wiedergewinnung
ihrer sakralen Aura. So sieht er das Waldsterben als ein Passionsgeschehen,
mit überraschendem Hinweis auf das Evangelium (Lukas 23,31): „Denn
wenn das mit dem grünen Holz geschieht, was wird dann erst mit dem
dürren werden?" Beuys transformiert hier das Ökologische, die Rettung von
Lebensqualität auf dieser Erde, mit kühnem Griff ins Theologische. „Die
Bäume sind wichtig, um die menschliche Seele zu retten"91. Solche zentralen
Sätze, keine zwei Jahre vor seinem Tode geäußert, bezeugen, daß Beuys die
Moderne selbst zu transformieren gedachte - in Richtung auf
Wiederentdeckung des Heiligen inmitten der Lebenswelt.

87
Harrison 289
88
Zur religionsgeschichtlichen Rolle der Eiche: J.Brosse, Mythologie der Bäume
(Ölten - Freiburg 1990) 61 ff.
89
Mennekes 46
90
Ebd.
" Ebd. 48
351

Den Entschluß, Sakrales im Profanen aufzusuchen, hat Beuys sehr ernst ge-
nommen. Gegen die Illusionen der Fortschrittsgeschichte hat er die Offen-
barung des Schmerzes, das Zeigen der Wunde gesetzt. In seiner letzten In-
stallation Palasgp Regale vom Dezember 1985 (im Museo di Capodimonte,
Neapel, heute Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf) macht er
den Revolutionär Anacharsis Cloots, 1794 in Paris enthauptet, zu seinem
alter ego. Es ist ein Requiem zu Lebzeiten. Natur und Kultur sind in sym-
bolischer Abbreviatur nebeneinander in der Vitrine versammelt: der Luchs-
fellmantel und das Tritonshorn neben den beiden Klangbecken aus Messing.
Das abgetrennte Haupt, wie schlafend auf der rechten Seite liegend, zeigt
einen tragischen Ausdruck. Die Natur — in der Gestalt von Fell und
Muscheln - läßt ihre Farben spielen: silbernes Grau und Perlmuttrosa. Doch
das Muschelhorn tönt nicht; die Geschichte, endlich zum Stillstand gebracht,
ist wie eingesargt in diesem Schrein. Gegen die Ablenkungsmanöver einer
Erlebnisgesellschaft hat der Künsder das Leiden als Quelle der Erneuerung
verstanden und übertragen in seine Naturästhetik. Beuys wußte, daß Natur,
nach all den Schüben industrieller und technologischer Revolutionen, nur
noch ästhetisch zu retten ist - kraft jener Pietas, die nur ein anderer Name
für Erinnern ist und spirituell nur noch als Trauer möglich.
Dem Bedürfnis der späten Moderne nach Metaphysik (oder nur Esote-
rik) kommt Beuys entgegen, indem er Natur als sinnversprechendes Zei-
chensystem inszeniert. In seinen Ausdrucksformen entfaltet er dabei die
ganze Skala vom Spirituellen über das Sperrige bis hin zum Wilden. Die
Sinnsuche gerät notwendig zu einer Rätselsuche. Beuys selbst, trotz der Ge-
fahr, mit seinen Symbolismen mißverstanden zu werden, sah sich zu Rätseln
genötigt — einfach um das Geheimnis zu retten, ohne das es kein Heiliges
gibt. Er riskierte eine Ikonographie sehr persönlicher Art, stellte die offene
Form seiner „sozialen Plastik" neben das Hermetische. Sein Werk, Ende und
Anfang zugleich, macht die Aisthesis zu einem Schlüsselbegriff; allein kraft
der Wahrnehmung ist jeder Mensch ein Künsder. Beuys sah in seinem
Kunstbegriff die Chance, das Sinnhaft-Sinnliche inmitten eines erneuerten
Lebenskonzeptes wiederzugewinnen. Dieses Konzept sollte Ökologie, Ethik
und Religion zu einer „Erdkultur" verschmelzen. Gerade deshalb appellierte
er an die Unschuld des Auges, an das Staunen Adams, an das naive, ja das
wilde Denken — an eine Wahrnehmung also, die sich losringt von allen Si-
mulationen der Wirklichkeit, mit denen die Medien uns umstellen.
Beuys mochte damit Hoffnungen verbinden, wie sie als Wissenschafts-
theoretiker gleichzeitig Michel Serres formuliert hat: „Uns frei machen von
den Wänden, die Bildschirme sind, und von den täuschenden Effekten.
Hinausgehen. Noch einmal, nach der Scholastik, eine Renaissance durch eine
352

Naturphilosophie herbeiführen"92. Bei Serres mündet dies später in einen


„contrat naturel". Einen ähnlich ästhetisch-politischen Imperativ im Gefolge
Rousseaus hatte, an der Schwelle der Moderne, Hölderlin ausgesprochen, als
er im Gang aufs Land empfahl: „Komm! ins Offene, Freund"93. Denn nur
achtsam auf die Zeichen der Natur, auf die Zeichen des Wachstums, aus de-
nen Verborgenes spricht, läßt sich der bleiernen Zeit begegnen. Weniger
Philosophie, aber mehr Achtsamkeit des Denkens hatte kurz nach dem
Zweiten Weltkrieg, zur Überraschung mancher, Heidegger in seinem Huma-
nismus-Brief gefordert94. Die Achtsamkeit als Mitte der Wahrnehmung ver-
wandelt verständiges Sehen in ethische Erkenntnis. Davon spricht schon die
Bibel. Wichtige Gleichnisse Jesu verwenden Naturbilder als Signaturen für
eine Wende- und Endzeit: „Seht euch den Feigenbaum und die anderen
Bäume an: Sobald ihr merkt, daß sie Blätter treiben, wißt ihr, daß der Som-
mer nahe ist" (Lukas 21,29f). Auch dies eine Ekstase der Natur, in eschato-
logischer Absicht verstanden.
Solche Sehnsucht nach ekstatischer Erkenntnis hat der Dichter, Psycho-
loge und Ingenieur Robert Musil in seinen Sprachspielen vom „anderen Zu-
stand" umkreist. Sein Mann ohne Eigenschaften erwählt sich einen umgit-
terten Garten inmitten der Weltstadt Wien zum Reflexionsparadies. Ulrich
und seine Schwester Agathe bilden hier die „Ungetrennten und die Nicht-
vereinten". In der Profangeschichte ist Ganzheit nur noch im naturalen
Gleichnis möglich: „Denn das Ursprungserlebnis ist doch wohl dieser Zu-
stand von Ich und Du und von Mensch und Natur, daß sie sich wiegen auf
demselben Ast"95. Das utopische Bild freilich reicht weiter zurück. Im Hause
des Sektionschefs Tuzzi, umstellt von lauter Unwirklichkeiten der Politik,
erinnert sich Ulrich an eine versunkene Epoche seines Daseins, wo es kon-
templative Nähe zu den Dingen gab, ein kindhaftes Verhältnis zur Welt ohne
Entzweiung. So taucht das Bild des Lebensbaumes anamnetisch auf. Doch
seine Wahrheit muß vorerst Gleichnis bleiben, mystischer Essayismus:
„Blätter und Zweige des Baumes trieben seither auf der Oberfläche umher,
aber dieser selbst blieb verschwunden" 96 . In solchem Sich-Öffnen auf ein
Jenseits der Zeichen hin gewinnt Natur gleichsam sakrale Würde. Noch
Musils gläubige Skepsis gewährt ihr diesen Rang.
Wenn Ulrich auf der Soiree bei Tuzzi seine Gedanken schweifen läßt -
gilt es doch Ideen einzufangen — fällt ihm ein, daß die Schöpfung nicht einer
Theorie zuliebe entstanden ist, sondern hervorging aus Gewalt und Liebe.
Beides hat mit Heiligem zu tun, mag das eine auch das andere verstellen, so
wie das Dickicht eines Baums den Stamm verstellt. Schöpfung besitzt, was

"Serres 165
« Hölderlin, Gedichte 276
94
Heidegger, Wegmarken 194
's Musil, MoE 4,1354
* Musil, MoE 2, 592
353

allen Systemen, die wir errichten, fehlt: das Geheimnis der Ruhe97. Einzig im
Betrachten dieses Geheimnisses wäre Natur — auch die in uns — zu retten.
Inmitten entgleitender, von den Medien verflüssigter Realität ist dies der
Sinn von Aisthesis. Zu retten aber ist Verlorenes: jene Wüsten und Wälder,
in denen der Gott und die Numina wohnen. Dieser Aspekt der Natur als Ort
einer Epiphanie hat für die Vertreter der Profanität keinen Wert; und darin
sind sie völlig konsequent. Gilt doch hier Heideggers Wort, „daß eben durch
die Kennzeichnung von etwas als Wert' das so Gewertete seiner Würde be-
raubt wird"98. Das Heilige und das Wilde sind jenseits der geschlossenen
Wertsysteme, die eine Gesellschaft sich nach ihrem Ebenbild schafft. Und
deshalb begegnet der Garten Eden symbolisch als Wildnis. Wahrnehmung
der Natur zielt stets auf einen Ursprung, den die Geschichte nur verdunkeln
konnte. Von daher blickt jede Naturästhetik, die ihren Namen verdient, hin-
aus in das Verborgen-Offene - in jene Weltlichtung, die Paradies heißt.

97
Musil, MoE 2, 592
98
Heidegger, Wegmarken 179
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Personenregister

Adorno.Th.W. 188,189,190,342 Dante 98,148,157,165,193, 316f.


Agosti, S. 334 321 f. 341
Anaximander 308 Darwin, Ch. 77f.
Augustinus 219 Descartes, R. 132
Dostojewskij, F. 204, 207, 326-328
Bachmann, I. 126 DunsScotus 21,329
Bataüle.G. 255,258
Baudelaire, Ch. 42, 52f. 139,147, EichendorffJ.v. 187-191,193
189,191-195,196, 224, 248f. Eliade,M. 121,123
297, 301, 307, 316, 320 Eliot, T.S. 177,264,308
Bashö 284f. Ernst, M. 60f. 183, 213-217, 218
Benjamin, W. 291
Benn, G. 119, 216, 270-275, 276, Feuerbach, L. 267 f.
305-314, 331 Flaubert, G. 155-157,232
Benveniste, E. 92 Forster, G. 99f.
Beuys.J. 9,17,19,34,126-131, Frazer.J. 162f.
338, 344-351 Freud, S. 44, 48f. 183,184,185,
Blake, W. 323 199, 202, 204, 237, 245, 247,
Bloy.L. 246 251, 255f. 264, 275
Blumenberg, H. 40, 56f. 164, 219 Friedrich, C D . 10, 65-67,130,
Blok,A. 169-173 141f. 214
Böcklin,A. 138,271 Friedrich d.Gr. 38
Böhme, G. 15 Friedrich, H. 159
Bonnefoy.Y. 89-98
Brecht, B. 149 Gauguin, P. 148f. 227
Breton, A. 213 Giono.J. 314-324
Bruegel, P.d.Ä. 13,14,36 Girard.R. 236,238
Büchner, G. 151-153 Goethe, J.W.v. 11,12, 38f. 64, 72,
73-76,135f. 150,154, 339, 344
Caproni, G. 124f. 134, 238-245, Golding,W. 29
258 Gömez Dävila, N. 318f.
Cavell.S. 113 Grimm, J.u.W. 185f.
Cezanne, P. 140f. Guys.C. 194f. 224
Char, R. 160
Chargaff.E. 26,32,132 Habermas, J. 280f. 282
Cioran,E.M. 273,277 Haeckel, E. 142, 147f.
Colendge, S.T. 109-115,116,118 Harrison, R P . 339
Colli, G. 38f. 263 Hattori, D. 285
Comte.A. 159,304 Haushofer, M. 32-34
Conrad, J. 259-266 Hegel, F. 83,95,133,304
Courbet, G. 155 Heidegger, M. 10,17, 18, 54, 90,
Cumow, A. 36 123, 204, 243,244f. 283,312,
352, 353
366

Heine, H. 145,191,264 Matisse, H. 179,192, 222-235, 314


Heraklit 10,17,18,20,39,64,68, Melville, H. 42f. 44,125, 314, 322,
96,116,347 325
Herder, J . G 99,108f. Mennekes, F. 345, 347
Hesiod 130,144,150 Merleau-Ponty, M. 141
Heym, G. 45 Müton.J. 114,261,321
Hobbes,Th. 294 Mishima.Y. 285-289
Hölderlin, F. 9,10,11,17,18,19, Monet,C. 80f.
30, 64, 68-71, 73, 92,100-105, Montale.E. 57,335,336
106-108,115-117,131,142, Moreau, G 144, 200f.
150,186f. 244, 252, 330-334, Moritz, K.Ph. 72
336, 338, 339, 343f. 352 Morselli, G 275-280
Hofmann, W. 155 Musil, R. 46-48, 49-56,176, 352f.
Hofmannsthal, H.v. 175f.
Hopkins, G.M. 19-22, 36, 328- Napoleon 216
330 Nietzsche, F . 9,12,14, 28, 29, 38,
40,46, 48,78f. 97,106,118f.
Jabes, E. 343 133,138,141,146, 218,237f.
Jahnn.H.H. 325 240, 256, 262, 273, 277,278,
Jamblichos 275f. 310, 348
Johannes Eriugena 52 Nishida,K 284,288
Jouve.P.J. 245-259 Nolte.E. 123
Jünger, E. llf. 14, 26-31, 45f. 133, Novalis 67,72,140,144,151,
222, 291,294f. 306 162,183,248,256,344

Kafka, F. 18f. 222-235, 295 Oelze.F.W. 270,311,314


Kant.I. 37-40,293 Oetinger, F.C. 69, 105
Keller, G 267-269 Otto,R. 18
Kierkegaard, S. 97f. 315, 323 Ovid 13,193, 208, 289f. 292,295,
Kleist, H.v. 39, 42, 86, 225 301, 338
Klossowski, P. 252
Parmenides 21,86,89
Lacan.J. 141,200,236 Pascal, B. 305
Leibniz.G.W. 38,182 Pavese,C. 120-124
Leonardo da Vinci 32 Picht, G. 133
Leopardi, G. 297-305,312,321, Poussin, N. 138
339 Proust, M. 39, 57-60, 207-213
Levi-Strauss, C. 34-36, 61-63,104
Levy-Bruhl, L. 53 Ransmayr, C. 289-296
Lezama Lima, J. 217-221 Rilke, R M . 81-88, 90, 93,140,
Linne, C.v. 38, 241 174f.
Löwith, K. 14, 280-284 Rimbaud, A. 157-161,256,265
Lukan 130 Ritter, J. 117,153f.
Rousseau,JJ. 62, 99f. 102,104,
Makart, H. 42 105,106,107,116
Mallarme, S. 235, 264f. 321 Runge, Ph.O. 215
Marx, K. 23, 41 f. 280
Saint-JohnPerse 317f. Tieck,L. 183-185
Santayana, G. 182 Tjutschew, F. 143-145
Schelling, F. 64f. Tobler.J.C. 135
SchiUer, F. 105,107,115,136f. 154, Tolstoj.L. 15f.
251,283 Trakl,G. 165-168,201-207
Schlegel, F. 213,334
Schopenhauer, A. 76f. Vattimo, G. 23,133, 243, 244,
Schubert, F. 75,163 273, 325
Schumpeter, J. 263 f. Vergil 25,148,199
Seel,M. 14f. Vico.G.B. 120,237,261
Serres.M. 31 f. 70f. 351 f. Voltaire 325
Shaftesbury, Earl of 114
Shakespeare, W. 162,169 Wagner, R. 57,62,172,190
Sieburg, F. 276 WeiLS. 19,22
Spinoza, B. 135 Wittgenstein, L. 142f. 146,161 -
Starobinski.J. 256 165,166,167,168f. 172,173f.
Stevens, W. 61,177-182 176, 206
Stifter, A. 79f. 196-201, 222, 293 Wordsworth, W. 117f. 180

Tacitus 282 Zanzotto, A. 22-26, 334-344, 349


Thaies 90

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