Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
+HLOLJH:LOGQLV1DWXUlVWKHWLNYRQ+|OGHUOLQELV%HX\V
0QFKHQ
39$
XUQQEQGHEYEEVE
'LH3')'DWHLNDQQHOHNWURQLVFKGXUFKVXFKWZHUGHQ
Horst Dieter Rauh
Heilige Wildnis
Naturästhetik von Hölderlin bis Beuys
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der
Übersetzung, vorbehalten Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner
Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf
Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG
ausdrücklich gestatten
[ B 1
I Sta Jk I
l München J
ISBN 3-7705-3344-5
© 1998 Wilhelm Fink Verlag, München
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderborn
p/u
wnor
INHALT
Vorwort
8. Das Feuer und die Wunde. Rot bei Matisse und Kafka 222
Bibliographie 354
Personenregister 365
Vorwort
Unübersehbar bahnt sich am Ausgang der Moderne ein Paradigmenwechsel
an: von der Fortschrittsgeschichte, deren Aporien zutage treten, hin zum
Sinnhorizont Natur. Dem Legitimationsschwund der Geschichtsphiloso-
phien, diskreditiert von der Geschichte selbst, entspricht das Vordringen eines
im weitesten Sinne naturreligiösen Denkens. Mit wachsender Beherrschung
der Natur wird nach Ausgängen aus der Geschichte gesucht. Seit der Roman-
tik konstituiert sich - gegenläufig zum Prozeß der Zivilisation - eine eigene
Naturästhetik, die sich auf „Epiphanien", auf die Erfahrung von Sakralität
noch im Chaotischen, Gewaltsamen, Wilden beruft. Im Fortgang der Säkulari-
sierung von Kultur bietet sich Natur, verdichtet zur „Wildnis", als letzte Zu-
flucht des Heiligen dar. Solche Sakralisierungsprozesse setzen mit Hölderlin
ein, der das Schlüsselwort „heilige Wildnis" prägte, und reichen über
Nietzsches Dionysos-Komplex bis hin zur Remythisierung von Natur bei
Joseph Beuys. Angesichts der planetarischen Herrschaft der Technik, deren
Signaturen Ernst Jünger beschrieb, ist Natur nur noch ästhetisch zu bewah-
ren. So greift der Motivkreis der „heiligen Wildnis" moderne Entfremdungs-
erfahrungen und Sinnbedürfnisse auf. Dem Vanitasblick von Leopardi über
Benn bis zu Zanzotto, der Natur als verfallende wahrnimmt, begegnet die
Utopie des „fernen Landes". In solcher Rückkehr des Paradiesmotives erlebt
Natur ihre ästhetische Rettung.
Das Thema gewann Gestalt durch mein Akademiekolloquium
mung der Natur. Von der Romantik bis %ur Gegenwart im Dezember 1991 in
Nettetal. Germanisten, Kunsthistoriker und Philosophen diskutierten den
Langzeitprozeß einer Neubewertung von Natur seit Goethe und Nietzsche,
den Wolfgang Frühwald (München) dort auf den Begriff „ästhetisches Ver-
trauen" brachte. Weitere Klärung schuf das Seminar Hölderlin — Mythologie der
Natur mit Bernhard Böschenstein (Genf) im Juli 1993, wieder in Nettetal,
der mich auf P.J.Jouve hinwies. Das Erlebnis, Yves Bonnefoy in Aachen
lesen zu hören, bewog mich, ihn als Gewährsmann aufzunehmen. So er-
gaben sich vielerlei Inspirationen. Auch berechtigter Dank ist abzustatten: an
Prof. Dr. Detlef Kremer (Münster), geschätzter Referent auf meinen Lite-
turtagungen, der das Manuskript freundschaftlich-kritisch las, als Gutachter
für Druckkostenzuschuß sorgte und beim Thema nicht nur die immanente
Kritik der Moderne, sondern auch die Rückkehr zu einer Ästhetik des Erha-
benen wahrnahm; ebenso an Frau Marieluise Labrie M.A. (Aachen) für ihre
Mühe bei Textherstellung und Formatierung. Widmen möchte ich das Buch
dem Gedächtnis meines Vaters, der mir Geschichte und Natur erschloß.
Deshalb Piae memoriae patris.
G.M.Hopkins, Inversnaid
1. Kapitel
Landschaft mit stürzendem Ikarus
A.Zanzotto, Loghion
Daß Natur zum Reservat des Heiligen wird, daß eine Mythologie der Ver-
nunft die Wiedergeburt der Religion einleitet, daß eine radikale Ästhetik der
Natur ihre eigene Sinnordnung konstituiert, imstande, die Sinninstanz Ge-
schichte abzulösen, gehört zu den Paradoxien der Moderne. Denn Entmo-
dernisierung ist selbst ein Produkt der gealterten Neuzeit. Diese, obschon
politisch, technisch und ästhetisch im Zeichen des Fortschritts verfaßt, trieb
aus sich selbst — seit Nietzsche — den antihistorischen Affekt heraus. Er fin-
det sich bei so verschiedenen Geistern wie Benn, Levi-Strauss und Ernst
Jünger. Sie haben auf eine antibürgerliche Ästhetik gesetzt, auf den Vorrang
der Natur vor der Geschichte, auf jene Kreativität, die in den Spielen des
Mythos sich spiegelt. Selbst Beuys, der einflußreichste Künstler des ausge-
henden 20Jahrhunderts, hat diesen Antihistorismus, wenn auch verdeckt,
gepflegt und seine Naturästhetik wie ein Schamane verkündet.
Der Vorgang, der den tradierten Begriff der Geschichtlichkeit im Hori-
zont der Natur selbst auf die Probe stellt, kommt einer Umwertung aller
Werte nah; er wäre ohne Hölderlin und Nietzsche so nicht denkbar. Beide
wirkten mit an jener tiefgehenden Transformation des Griechischen und
Christlichen, die aller Säkularisierung zum Trotz ein religiöses Potential am
Leben hielt, ja neue mythopoetische Energien entband. In beiden begegnen
sich Dionysos und Christus — ein Widerspruch, wie er nicht fruchtbarer und
zerreißender sein könnte. Seit Hölderlin und Nietzsche gehört das Wilde zu
den Metamorphosen und Masken des Heiligen. Das Heilige aber liebt die
Verhüllungen; als Manifestes könnte es gar nicht „hervortreten". Bei
Hölderlin wird dies Hervortreten primär im Symbolraum Natur wahr-
genommen, doch in befremdender, nicht in vertrauter Natur; so entstand
die Ästhetik der „heiligen Wildnis".
Angelegt ist sie bereits in der Bibel und in den griechischen Mythen. Als
Erscheinungsraum des Gottes füngiert die numinose Landschaft. Sie ist der
Ort des Undomestizierten. Im Alten Testament ist dies zuerst der üppig und
unschuldig wuchernde Garten Eden, danach die Wüste, der brennende
Dornbusch, der heilige Berg. In den Mythen, die um Dionysos kreisen, ist es
die von den Bacchanten durchschwärmte Bergwelt außerhalb der Polis, ein
10
Es nehmet aber
Und gibt Gedächtnis die See,
Und die Lieb' auch heftet fleißig die Augen,
Was bleibet aber, stiften die Dichter.4
Das Ebben und Fluten des Meeres in Andenken, die Doppelbewegung eines
Unendlichen, enthält das natürliche Pathos einer unstillbaren Unruhe, die
zugleich unstillbare Aktivität ist. Das Meer, ein sonst bei Hölderlin seltenes
Bild, bezeichnet hier Ausgriff ins Weite, Wagnis und Gefahr. Diese See ist
der schwankende Spiegel der Psyche, die fasziniert ist von der dionysischen
Gewalt der Elemente, doch zwischen Selbstgewinn und Selbstverlust keinen
Halt hat. Die nächste Entsprechung zum Fasziniertsein am Rande des
Scheiterns, am Rande des „mare mundi", ist C..D.Friedrichs Mönch am Meer6.
Der Mönch am Meer aber — das ist um 1800 ein melancholischer Ikarus vor
seinem Sturz. Kein Zufall, daß Hölderlin, Zeitgenosse eines ikarischen Hö-
henflugs der autonomen Vernunft, das Sinnbild des Meeres wählt, ja ein Da-
sein am Rande des Scheiterns suggeriert. Was bleibt, ist nicht der Aufbruch
ins ewig Ungewisse, sondern das Werk der Dichter — ein Posthumes. Auch
1
Kerenyi 63 - 68; Girard 187-210
2
Heraklit, Fragm.123 (Snell 36): (puoic. KpunteoSat (plAet (physis kryptesthai philei)
Dazu Heidegger, Wegmarken 370f.
3
Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung 56. Vgl. Vattimo, Jenseits vom
Subjekt 109f.
4
Hölderlin, Andenken V. 56-59 (Gedichte 392)
5Hamlinl27. 136
11
wenn die Liebe fleißig Ausschau hält: was das Gedächtnis rettet, sind Reli-
quien. Vom Fluge des Ikarus bleiben die Verse Ovids.
Anders Goethe. Sein Euphorion huldigt zwar dem schönen Eskapis-
mus, aber der Dichter selbst hat ästhetisches Zutrauen zum Hin und Her des
Meeres, weil er darin das lebenspendende Geschenk, ja mit Thaies eine Welt-
formel erkennt: „Alles wird durch das Wasser erhalten, / Ozean gönn' uns
Dein ewiges Walten" 6 . An diesem Ozean geht auch der Absturz Euphorions
spurlos vorüber. Vergeblich warnen Faust und Helena, zusammen mit dem
Chor, den Übermütigen. Daß er ein Kind der Liebe ist, rettet ihn nicht. Ihm
wird das hypothetisch lockende „Dorthin!" zum kategorischen Imperativ des
Abenteurers: „Dorthin! Ich muß! Ich muß! / Gönn't mir den Flug"7. Dem il-
luminierten Triumph des Augenblicks im Reich der Freiheit folgt der meteo-
rische Absturz ins Reich der Notwendigkeit. Am Ende holt sich der Mythos
das Seine, die Illusion beendend: „Ikarus! Ikarus! / Jammer genug" 8 . Goethe,
bei aller Anteilnahme solch byroneske Abenteuer aus sicherer Entfernung
kommentierend, beläßt es bei dieser Warnung im klassischen Genre.
Hölderlins Poetik des Dionysischen bricht mit den Paradigmen des Er-
habenen, mit aufgeklärter Naturfrömmigkeit: sie spannt das Wilde mit dem
Heiligen zusammen. „Die Natur als erhaben über die ganze onentalisch-
hesperische Geschichtsfolge bringt in ihrem Erwachen etwas zum Vor-
schein, was vor dieser Geschichtszeit war, das .heilige Chaos', den von Höl-
derlin der Zeit entgegengesetzten saturnischen Grund" 9 . Das hat ästhetisch
Folgen - bis hin zu Nietzsches Dionysos-Dithyramben, in denen Aufflug und
Sturz sprachlich wie gestisch verschmelzen, weil Narr und Dichter mime-
tisch zu einer Figur werden. Das Heilig-Wilde, aus der Vernunftreligion ab-
gedrängt in die Natur, verlangt nach einer eigenen Wahrnehmung. Sie gilt
einem Gewaltsamen, Fremden, Unvermittelten, das umso mehr fasziniert, als
es im Vorgang der „Ekstasis" heraustritt aus bislang verborgener Anwesen-
heit. Historische Vernunft ist freilich genötigt, dergleichen wildes Denken
unter Metaphysikverdacht zu stellen; denn Aufklärung ist immer Domesti-
zierung. Zugeschärft: die „civil society" ehrt keine öffentlichen Götter mehr;
nichts kann ihr ferner liegen als die antike Polisreligon. Die neuzeitliche
Technik kennt zwar Titanen, aber keine Götter. Doch ist es ihr gelungen,
Täler zu füllen und Berge einzuebnen und — was entscheidender ist — Kultu-
ren zu nivellieren. „Die Technik ist unsere Uniform"- so E.Jünger schon
1934 in seinem Essay Über den Schmer^0. Das Zitat kehrt sechzig Jahre später
6
Faust 11,2 Klassische Walpurgisnacht: Felsbuchten des ägäischen Meeres V.8436f.
(Schöne 333)
7
Faust 11,3 Arkadien, V.9899f. (Schöne 383)
»Ebd. V. 9901 f.
9
Böschenstein, Frucht des Gewitters 118
10
Jünger, Sämtliche Werke VII (Stuttgart 1980) 174
12
die von der Innovation lebt, inzwischen sich selbst überholt und jene Kräfte
geweckt, die sie nötigen, sich selbst zu transformieren, wenn es Geschichte
noch geben soll.
Die Kritik an der Hybris des Ikarus ist älter als die Industriegesellschaft.
Bereits die Renaissance gibt ihr die gültige Form. Einer der großen Maler des
lö.Jahrhunderts, der ältere Pieter Bruegel, hat den Höhenflug und Sturz des
Ikarus (Brüssel, Musee des Beaux-Arts) in ein beredtes Lehrstück übersetzt15.
Vorlage war der Bericht in den Metamorphosen Ovids. Dort unterweist Däda-
lus, der Erbauer und der Gefangene des Labyrinths, seinen Sohn in der ge-
fahrvollen Kunst, die nicht nur die Technik des Fliegens, sondern mehr noch
die Ethik des mitderen Weges — zwischen den Extremen Feuer und Wasser
— erfordert. Der Flug ist wie ein Wunder:
Wer sie erblickt, ein Fischer vielleicht, der mit schwankender Rute
angelt, ein Hirte, gelehnt auf den Stab, auf die Sterzen gestützt, ein
Pflüger, sie schauen und staunen und glauben Götter zu sehen,
da durch den Äther sie nahn.16
Rechts unten in einer Weidandschaft, die - ins Licht einer sinkenden Sonne
getaucht - Himmel, Erde und Ozean umfaßt, ereignet sich der Fall des ge-
flügelten Menschen, dem die Techne zum Verhängnis wurde. Es ist die
gewaltsame Rückkehr des Menschen ins Reich der Natur, über das er sich
selbstherrlich erheben wollte. Das Meer nimmt ungerührt den auf, der auf
seiner kunstvoll geplanten Flucht durch die Lüfte der Sonne zu nahe kam, so
daß das Wachs der Flügel schmolz. Die Elemente Feuer und Wasser ver-
bünden sich gegen den Menschen. Der Sturz ist kein Unfall, sondern - so
Bruegel - eine Züchtigung. Unüberbietbar der Realismus, mit dem er die Fi-
guren Ovids umdirigiert. Der Angler am Meer, der Schafhirte, der Pflüger
nehmen den Verunglückten nicht wahr, der da kopfüber ins Wasser stürzt.
Der Maler zeigt uns, daß dieser Flug ein müßiges Spiel, ein Traum, ja mehr:
ein Wahn ist. Er spielt auf jene flämischen Sprichwörter an, die den Höhen-
flügen der Träumer die Solidität alltäglicher Arbeit entgegenhalten17.
Bruegels Wirklichkeitssinn, der den Stachel des Traums nicht entfernt,
nimmt gegen das „historische Ereignis" Partei für den Alltag. Zugleich ist er
15
Dazu Lacarnere 121 ff.
16
Ovid, Metamorphosen VIII, 217-220, dt. von E.Rösch (München 1961) 286/87
17
Lacarnere 124f.
14
ein Lobpreis des Irdischen. Denn es ist Wahn, in den Wolken zu suchen, was
man vor seinen Füßen finden kann. Der Sturz des Ikarus, ein Gleichnis von
mythischem Rang, markiert die Folgen der Risikogeschichte; er gehört aber
auch in die Geschichte des Schmerzes. Der Vater Dädalus, der die Technik
des Fliegens ersann, entkommt dem selbstgebauten Labyrinth; doch muß er
den Sohn dafür opfern. Umsonst hat Karl Löwith um 1960, als der
bemannte Raumflug im Wettlauf der verfeindeten Systeme eine neue Realität
ankündigte, in seinem Aufsatz Vom Sinn der Geschichte Bruegels Jahrhundert-
bild zitiert18. Das Sinnbild wurde nicht wahrgenommen. Für Löwith prophe-
zeit dieser Sturz das Ende der „Weltgeschichte" und darin den lautlosen Sieg
der Natur über das Menschenwerk. Vor ihrer Allgegenwart wird die Ge-
schichte zu etwas Ephemeren.
Der Höhenflug scheitert, weil alle Techne logischerweise ihre Grenzen
hat, und weil die „Verzifferung" (E.Jünger) falsch ist. Das blinde Vertrauen
in die Software ist die aktuelle Form der Hybris; man delegiert den Sinn an
das Programm. Im Bilde vom Sturz des Ikarus zeigt der Mythos sein kriti-
sches Potential. Der Verführung des luftigen Abenteuers erlag freilich schon
Nietzsche, als er unter dem Stichwort „Wir Luft-Schiffahrer des Geistes"
den Höhenrausch des Fluges in leere Unendlichkeit pries — „dorthin, wo
bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind"19. Das „Dorthin!"
des Euphorion geistert hier als Reflex noch nach, Ausdruck des Wunsches,
der Einengung des Lebens zu entkommen, und sei es im Nirgendwo; noch
die Chiffre des Untergangs beflügelt. Die Bereitschaft, gefährlich zu leben,
gehört zur Mentalität der Moderne. Die Katastrophe, wie nach zwei
Großkriegen Jünger kühl bilanzierte, hat ihren Platz in der Welt. Sie zählt
metahistorisch zur großen Didaxis, ja sie ist Voraussetzung für jede Wende.
Endzeit ist Wendezeit: „denn die Schere schneidet am schärfsten, wenn sie
sich zu schließen beginnt"20.
Der Sturz des Ikarus wird Teil jener Naturästhetik, mit der die Moderne ihre
Sinnsuche maskiert. Ästhetik meint zunächst - im Wortsinn von Aisthesis -
sinnliche Wahrnehmung, Anschauung, doch so, daß darin Einsicht, Er-
kenntnis aufscheint. Der Begriff des Schönen, seit Kants Kritik der Urteilskraft
regulär an Ästhetik geknüpft, ist für uns nachgeordnet. Mit radikaler Natur-
ästhetik verbinden wir eher die von Hölderlin, Hegel und Schelling vertre-
tene Auffassung, daß in Natur sich ein Göttliches zeigt. Denn jede unver-
stellte Wahrnehmung der Natur - in der Terminologie von Martin Seel als
» Löwith 314
» Nietzsche, Morgenröte V, 575 (KSA 3, 331)
20
Jünger, Prognosen 38
15
Diese Mynaden von Insekten paßten so gut zu der wilden, bis zur
Formlosigkeit reichen Vegetation, zu der Unmenge von Tieren und
Vögeln, die den Wald lullten, zu dem dunklen Grün, zu der duftge-
schwängerten, heißen Luft, zu diesen kleinen Gruben mit trübem
Wasser, das überall aus dem Terek durchsickerte und unter den über-
21
Seel 237
22
Hölderlin GSA IV. 1,298
23
Böhme 132
2i
Ebd. 130t
16
Tolstoj schildert — i m übertragenen Sinn — nichts anderes als den Sturz des
m o d e r n e n Ikarus ins wilde D e n k e n . D e n n die Flügel v o n Kultur u n d Kon-
vention tragen nicht mehr. E s ist zugleich der glückhafte Sturz in das eigene
Selbst, das sich inmitten ozeanisch anflutender Wirklichkeit als kreatürhch
erfährt. Olenin, der junge, v e r w ö h n t e Adelige, ein Nichtstuer und Augen-
bücksmensch, erlebt i m Kaukasus sich selbst als Teil einer Natur, die uner-
klärlich nah u n d unerklärlich fremd ist. D a s Eintauchen in ihre Andersheit
bildet das Herzstück der Aisthesis: D i e Wildnis löst einen Erkenntnisschock
aus. E r k o m m t aus der Begegnung mit d e m N u m i n o s e n . D e r Hirsch, ein al-
25
Tolstoj, Die Kosaken 273f.
17
26
Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung 53
27
Ebd. 53f
18
als Chiffer für das Ganze bildet im Zeitalter des unbedingten Anthropo-
zentnsmus, des Ausgreifens nach planetarischer Herrschaft, den letzten noch
möglichen Sinnhorizont.
In Anlehnung an Heraklits Orakel von der verborgenen Natur wird das
Phänomen des „Hervorgehens" zum Schlüssel jeder Naturästhetik. Physis als
Grundwort bedeutet bei Heidegger „das Aufgehen in das Offene, das Lich-
ten jener Lichtung, in die herein überhaupt etwas erscheinen (...) kann"28. Als
eine, die bannt, ist Natur dem prometheischen Zugriff des Menschen entzo-
gen. Die angemessene Weise der Wahrnehmung kann nur das Schauen, nicht
aber das Herstellen oder das Zurichten sein. In ästhetischer Hinsicht ist die
Natur das größte Reservoir sinnfähiger Bilder und Gestalten. Sinnhaftigkeit
ist auch ein Attribut des Heiligen: Irdisches wird diaphan. Von daher hat
Hölderlin um 1800, in der Wendezeit zum Industrialismus, Natur zu sakrali-
sieren versucht — wider Vernutzung, die den Sinn zerstört. Heilig ist die Na-
tur, weil sie die Geschichte übersteigt, weil sie älter als die Zeiten und über
den Göttern ist. In Hölderlins Sicht ist selbst das Chaos heilig. Einer Erfah-
rung, die von Vermittlung lebt, erscheint es als bloße Wirrnis. Doch als Po-
tenz betrachtet, als Unvermitteltes, als Ursprungsenergie ist Chaos kreativ.
Keine Naturästhetik käme ohne das Wilde aus. Es ist heilig, weil es in seiner
Nacktheit, unverhüllt und also unvermittelt, das Erschreckende und das Ent-
rückende ist — „numen tremendum", wie Rudolf Otto es nannte. Sakral, in
Heideggers Lesart von Hölderlins Natur, meint das jede Ordnung Verrük-
kende: „Das Heilige setzt alles Erfahren aus seiner Gewöhnung heraus und
entzieht ihm so den Standort. Also ent-setzend ist das Heilige das Entsetzli-
che selbst"29. Das durch Erfahrung Gefügte, durch Techne Hergestellte wird
verworfen durch eine Natur, die gewaltsam hervortritt ins Offene. Das ließe
sich als Kommentar zum Mythos von Ikarus lesen. Der Ozean ist Repräsen-
tant einer Allgegengewart der Natur, die erst dem Stürzenden aufgeht. Dieser
rauhe Spiegel des Äthers, der zum Grab des Ikarus wird, ist entsetzlich und
heilig zugleich. Sein Walten ist das Jenseits der Erfahrung.
Seit der Prozeß der Zivilisation, mit den verschiedenen Wellen techni-
scher Innovation, Unmittelbarkeit an die Ränder der Lebenswelt vertrieb,
wird das Bedürfnis nach Ekstasen der Natur zum entscheidenden ästheti-
schen Motiv. Die Dichter und Künstler der Moderne suchen inmitten wach-
sender Profanität nach einer Epiphanie in den Dingen. Daß die Natur sich
zurückzieht und zur Enträtselung lockt, wußte schon Heraklit. Keine
Wahrnehmung ohne diesen Köder der Erkenntnis; im Augenschein wartet
das Fremde. „Eine schlicht manifeste Natur wäre keine hervortretende" 30 .
Das rätselhafte Schweigen der Natur kehrt noch in Kafkas Umdeutung des
28
Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlin 56
29
Ebd. 63
30
Böhme 134
19
Das Gedicht mit dem Titel Inversnaid (1881) besingt einen Sturzbach wie eine
heilige Werkstatt; an Dynamik kommt sie Hölderlins „freudig schauerndem
Chaos" gleich. Wie die Natur selbst arbeitet der Dichter Hopkins mit der Fi-
gur der Wiederholung. Die Ingestalt (inscape) wird dadurch herausmodel-
31
Kafka, Erzählungen 351
32
Weü 259
33
Hopkins, Pied Beauty 64/65. Übers. H.Gencke
20
I awoke in the Midsummer not to call night, in the white and the
walk of the morning:
The moon, dwindled und thinned to the fringe, of a fingernail
held to the candle,
Or panng of paradisaical fruit, lovely in waning but lustreless,
Stepped from the stool, drew back from the barrow, of dark
Maenefa the mountain;
A cusp still dasped him, a fluke yet fanged him, entangled
him, not quit utterly.
This was the prized, the desirable sight, unsought, presented so
easüy,
Parted me leaf and leaf, divided me, eyeüd and eyelid of
slumber.
34
Hopkins, Gedichte, Schriften 263
35
Hopkins, Pied Beauty 130/131 ( That Naturt is a Heraclitean Firc and oftht Comfort
ofthe Resumction )
21
Löste mir, Blatt für Blatt, enthob mich, Lid für Lid, meines
Schlummers. 36
Gesucht nicht, aber so leicht sich ergebend. In diesem Moment, der sich
schenkt, ist die ganze Ästhetik von Hopkins enthalten. Sie verwandelt das
ausgelaugte romantische Motiv in einen unkonventionellen Erkenntnis-, Er-
wachensprozeß. Es ist ein anamneüscher Akt, wie der Hinweis auf die para-
diesische Frucht zeigt, und im Grunde das Erwachen eines Adam zum
Bewußtsein.
Während der moderne Ikarus aus der universalen Vernetzung der Dinge
in den Ozean des Partikularen stürzt, kultiviert Hopkins - gegen die bloße
Techne der Datenerfassung — den Blick der Poiesis, der in der Vielheit die
Einheit erfaßt. Auf den Flügeln solcher Aisthesis ahnt der Betrachter die von
Parmenides postulierte Einheit des Seins, eine Vision, die allein dem er-
leuchteten Auge gelingt. Die malerische Chiffre dafür heißt bei Hopkins „ge-
scheckte Schönheit" (pied beauty). In ihr spielen die Teile ins Ganze hinüber,
ohne ihre Eigenart aufzugeben. Die Scheckung ist symbolische Repräsentanz
des Wilden, des Sprunghaft-Spontanen, der Inkraft (instress). Der „Sprung"
spielt in der Verskunst von Hopkins die wichtigste Rolle; er nähert das Ge-
dicht rhythmisch dem natürlichen Sprechen an und wahrt zugleich den Ein-
druck des Inspirierten. Die für die Ästhetik von Hopkins zentralen Begriffe
„inscape" und „instress" tauchen zum ersten Mal in Notizen über Parmeni-
des aus dem Jahre 1868 auf. Deutlich wird, daß der griechische Seinsdenker
neben dem Scholastiker Duns Scotus der entscheidende philosophische An-
reger war. An Parmenides rühmt Hopkins den Sinn für das Kompakte, Zu-
sammengezogene und für die Wahrheit des einfachen Ja und Ist37. Auf ein
verwandtes Gefühl für die seinshafte Qualität der Naturdinge gründet er
seine poetischen Universalien: „Ohne die Seinskraft (stress) könnten wir
nicht sagen: Blut ist rot, sondern nur: Dieses Blut ist rot, oder: Das Blut, das
ich zuletzt sah, war rot" 38 .
Die Suche nach dem Essentiellen prägt dergestalt auch die Naturbe-
schreibungen des Tagebuches. Mit viktorianischer Empfindsamkeit, die
Swinburne so virtuos zu lyrisieren verstand, haben sie nichts mehr zu schaf-
fen. Hopkins erfaßt den Sonnenuntergang als Heraustreten aus den Texturen
pseudoromantischer Wahrnehmung, in Richtung auf eine poetische Physik:
„Zuvor hatte ich immer den Sonnenuntergang und die Sonne als zueinander
unjustiert angesehen (...), aber heute habe ich sie zusammen zum Inbild ge-
bracht und die Sonne zum wahren Auge und zur Würfeleins des Ganzen
gemacht, wie es ihr entspricht. Sie war ganz aktiv und Licht von sich schleu-
dernd und sprang so stark vorwärts aus dem Feld wie ein langer Stein"39. Die
Inbilder sind schön, weil sie nicht mehr „verbessert", nicht mehr nach Belie-
ben des Subjekts ummodelliert werden können. Die Natur hat sie vollkom-
men gemacht. Von daher konnte Simone Weil das Naturschöne als „Verei-
nigung des sinnlichen Eindrucks mit dem Gefühl der Notwendigkeit"
ansehen40. Schicksal der Technik aber ist der Verbesserungszwang.
Hundert Jahre nach Hopkins wird der italienische Dichter Andrea Zan-
zotto ähnliche Inbilder der Natur, gehüllt in Sprachmagie, der Technik ent-
gegenhalten. Freilich sind sie schon stigmatisiert von einer gewaltsamen
Modernität, die alles Überlieferte verzehrt und selbst von der Memoria nur
noch Relikte duldet. Im Zeitalter einer ikarischen Raumfahrt, die ihre Hö-
henflüge selbst als historische einstuft, wendet sich Zanzotto fast provokant
(bis hin zum Dialekt) seiner Heimatregion, dem Veneto, und dem Symbol-
raum des „Waldes" zu — für ihn ein kreativer Speicher von Erinnerungen,
Glückserleuchtungen und Wortekstasen. Zanzottos Methode, Natur zu ret-
ten, vor der Verfallsgeschichte dichterisch in Sicherheit zu bringen, ist offen-
sive Transformation: mit der Moderne gegen die Moderne. Er weiß, daß die
Memoria nur noch am Grund der Sprache, am Grund der Dinge überleben
kann; es ist der Rückzug auf eine „biophysische Struktur" (L.Ritter-Sanüni),
der bis zur Schaffung einer künstlichen Kindersprache geht, die er Petel
nennt. Auch Zanzotto kennt das ikarische Gespenst einer vom Ich erzeug-
ten, verhexten, schlecht ausgedachten Welt des „Hyper-Stürzens, Hyper-
Sterbens" (super-cadere, super-morire). Hier hilft das Gegenbild Münchhau-
sens auf, des Dichters, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht, die
Welt in Wörtern rettet41.
Gegen das Ja der Technik, die affirmativ noch im Zerstören und Besei-
tigen ist und — selbst ein Sinnkonstrukt — weder Dunkel noch Leere, weder
Verborgenheit noch Widerstand erträgt, setzt Zanzotto das „Nein der
Bäume, Nein der Wege/ Nein verwachsener Knollen, Nein der Knöchel/
Nein der Kurven, der schnell verrutschenden Gräser" 42 . Seine Gedicht-
sammlung II Galateo in bosco (1978), aus der diese Verse stammen, feiert de-
monstrativ die große Auflösung, den Differenzverlust, die Natur als Deponie
von Geschichte. In einer Orgie semantischer Zersetzung endet der logozen-
trische Wahn, mit bloßer Techne Licht in das Dunkel zu bringen. Vielmehr
erzeugt die Sprache mimetisch ein Hinab, ein Verdunkeln des Logos, der
sich hinabläßt in die Ursprungskatakomben. Wie Heidegger faßt auch Zan-
zotto die Physis als Wachstum, aber als Wachstum zum Unten, zum Grund,
zu den Wurzeln der Dinge. Sein Ton ist liturgisch:
43
Zanzotto, Lichtbrechung 38/39
44
Vattimo, Jenseits vom Subjekt 32
45
Vattimo, Das Ende der Moderne 18
24
Einheit stiftendes Projekt wird eingeleitet durch die Technik selbst, insbe-
sondere durch hochkomplexe Informationssysteme. Ihre Vernetzung be-
wirkt eine imaginäre Allgegenwart, eine Art v o n komfortablem Stillstand,
worin Rezipieren das Handeln ersetzt. Gerade diese T r i u m p h e (oder Ex-
zesse) der Technik führen am E n d e des zweiten Jahrtausends dazu, N a t u r als
Sinnordnung neu zu entdecken.
Auch Zanzotto arbeitet als Dichter an der Schwächung des monolithi-
schen Denkens. In seinem Vergil-Essay spricht er v o m sozialen N e t z , das die
Eklogen knüpfen, von dem Gehaltensein in einer ursprünglichen, naturna-
hen Gemeinschaft, für die das Symbol Arkadien steht. D i e N a t u r selbst zer-
setzt den Block Geschichte, kompostiert ihn. Z a n z o t t o holt Wirklichkeits-
beute aus diesem Dasein von Netzen, in denen sich das Lebendige fängt, in
Bildern und in Wörtern - so daß der Fall, der Verfall sich verlangsamt:
II precipitare si e rallentato
il fatto ben filamento
si e messo in piano, a calce
D e r ikarische Flug, den die europäische Romantik bei Baudelaire als höchste
F o r m poetischen Daseins besang, als Ringen mit Elementarkräften, stürzt
bei Z a n z o t t o fast glücklich ins Erdenschwere ab — in ein gestaltloses Dunkel,
das der Hesiodischen Urnacht verwandt ist u n d gerade deshalb zu einer T r ö -
stung wird:
Ich verpflanze und du gibst mir mehr zurück, ein dunkles Begehren
du, von Dunkel zu Dunkel gekommen, du
vorgegeben und zurückgenommen von Blatt zu Blatt, Dunkel
in den Farnen gelobt in der Formlosigkeit und Feinheit des Dunkels 47
Die Sprache, die mittels Distinktionen die Welt zu erhellen, zu teilen, herzu-
richten weiß, taucht hier ins Vorbewußte, verliert sich im Dickicht der Phy-
sis, in einem Wald, den das Begehren nach Dunkelheit schafft. Die „selva
oscura", die Dante einst floh, wird von Zanzotto gesucht:
Zanzottos Naturästhetik lebt aus der Wahrheit sprechender Details; das ist
ihr Ethisches. Das Nest des Vogels ist dauerhafter als die künstlichen Flügel
des Ikarus; aber es ist auch schöner. Auf das Ingenium der Natur verwei
send, verspottet der Dichter die überforderten Experten. Ungescheut nennt
er einen Gedichtband ha Beltä (Die Schönheit). Ihren Metamorphosen spürt
er als Naturerinnerer und Sammler von Sinnpartikeln nach. Die Rettung der
Schönheit inmitten der Systeme ist auch ein Akt der Pietas. So drang der
Altphilologe Zanzotto auf den Fährten von Vergüs Eklogen, einer Tradition,
die er innovativ durchkreuzte, tief in die Wälder der Sprache ein. In einem
Kurzessay über Vergil bringt er das „rauhe Fell" dieser Hirtengedichte mit
dem „tempelhaften Raum" Arkadiens in Verbindung. Doch dem modernen
Dichter wird das Heilige identisch mit dem Utopischen; denn Arkadien liegt
außerhalb aller Geschichte. Dabei registriert Zanzotto, daß gerade die
Ästhetik der Eklogen die Stimmen der verschiedenen Figuren in eine einzige
48
Ebd. 42/43
49
Zanzotto, Lichtbrechung 88/89
26
Die Wendung zur Natur schließt Hoffnung ein, erlöst zu werden von der
Gewaltgeschichte. Die Eroberung Trojas, vom größten der epischen Dichter
besungen, war Auftakt der blutigen Orgie, die bis heute den Menschen in
Bann schlägt, weil sie Gemeinschaft stiftet. Aber hinter den Furien des
20.Jahrhunderts steht keine göttliche Nemesis mehr. Es fehlt nicht an Tech-
nik der Vernichtung wie Beglückung, aber es fehlt an Sinn. Als Sanktuarium
tritt einzig noch Natur in das Bewußtsein der Postmoderne ein. Nach dem
„Tod Gottes" gilt sie bei vielen als letztes Refugium des Heiligen. Entspre-
chend heften sich an die Konstrukte der Ökologie die von der Unheilsge-
schichte verscheuchten Utopien. Aber das Sinnbedürfnis kommt nicht ohne
Numina aus; allerdings gibt es, worauf Ernst Jünger hinwies, auch einen Ge-
staltwandel der Götter 51 . Dabei ist nicht an ewige, sondern an zeidose
Mächte zu denken. Ihre Ankunft mag sich auf Taubenfüßen ereignen: „Aber
sie müssen erscheinen, denn ohne Götter keine Kultur"52. Nüchterner be-
schrieb es der Biochemiker Erwin Chargaff; für ihn, der zum strengsten Kri-
tiker der Megamaschine Wissenschaft wurde, ist Natur „noch immer gleich-
bedeutend mit der höchsten Form der Wirklichkeit"53. Der gleiche Chargaff
begründete in funkelnden Essays sein Abgestoßensein von einer Weltge-
schichte, die ihm als „einzige Riesenskulptur aus faulendem Fleisch, aus gä-
rendem Blut" erscheint54. Er steht mit dieser Distanzierung nicht allein.
Als Diagnostiker der Erdrevolution gehört Jünger zu den wichtigsten
Autoren nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Anarch, der ungerührt die Kata-
strophen registriert, souverän mythische Denkmodelle nutzt, sieht seit sei-
nem Versuch An der Zeitmauer (1959) den Paradigmenwechsel von der euro-
zentrischen Menschheitsgeschichte zur Erdgeschichte im Gange. Deren Re-
präsentant ist Antaios. Jünger betrachtet die Revolutionen und Umbrüche
metahistorisch. Der kalte Blick ist seine Aisthesis; im Abenteuerlichen Herren
(1929) hatte er dafür den Begriff „desinvolture" geprägt. In Übereinstim-
50
Zanzotto, Mit Vergil, in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 44 (Nov. 1994) 80
51
Jünger, Prognosen 13
52
Ebd. 37
53
Chargaff 157
54
E.Chargaff, Abscheu vor der Weltgeschichte (2.Auflage Stuttgart 1988) 85
27
mung mit dem Mythos, der zyklisch, nicht linear denkt, sieht er die
Katastrophe als Neuschöpfung; er greift dabei auf die Ästhetik des
Erhabenen zurück. Der angezielte Punkt ist die Ruhe im Chaos; das rührt an
Stoisches. Der Mythos zeigt, daß lineares Denken eine Engführung, ja eine
Verwirrung ist. Als Schrein des Mythischen aber fungiert die Natur. Zyklisch
aufgefaßt, erneuert sie sich — wie bei den Stoikern in der Ekpyrosis — durch
Feuer. Nach dem Scheitern der „großen Politik", das 1945 und in den
Folgejahren offenkundig wurde, wandelte sich Ernst Jünger immer mehr
zum Apokalyptiker, der die Rolle der biblischen Propheten und Verkünder
übernahm.
Das Apokalyptische entdeckte Jünger in der Technik selbst, nicht in
einem hermetisch verschlossenen Raum des Religiösen. Apokalyptisch ist sie,
weil sie den Menschen zur Entscheidung zwingt. Zwar vermag Technik das
Leben auf dem Erdball zu vernichten, aber kein Telos zu schaffen, keinen
Sinn zu stiften. Die Notwendigkeit, metahistorisch zu denken, ergibt sich aus
dem Fortgang der Technik selbst: sie produziert ihre eigenen Grenzen mit.
Das hat Jünger lange vor der ökologischen Bewegung, schon in den späten
fünfziger Jahren erkannt, als die Kernenergie begann ein Faktor des indu-
striellen Prozesses zu werden. In ihr kulminiert auf sichtbarste Weise die
Katastrophengeschichte; und die Gefahrenpotentiale, die hier gespeichert
sind, bilden eine besonders fatale Spielart der „longue duree". Am Ende aber
ist es das Vakuum, das Sinn als das nicht vorgesehene Rätsel deklariert: „Wo
die technischen Probleme kulminieren, ja gelöst scheinen, ist die Rechnung
aufgegangen, und Leere bleibt zurück. Der Tod wird sichtbar, der im Gestell
verborgen war. Und was sagt die Gäa dazu? Das muß aus den Mythen zu er-
fahren sein"55.
Der Zweifel an der Geschichte, die im 20Jahrhundert unübersehbar ni-
hilistische Züge annahm und sich in Weltbürgerkriegen erschöpfte, wird im
Spätwerk Jüngers immer deutlicher. Das schließt die Skepsis gegenüber den
Triumphen der Ingenieure mit ein: Ikarus kann kein Kulturbringer sein, al-
lenfalls ein romantischer Utopist. Auch reicht die Techne nicht aus, um eine
Ästhetik zu schaffen. Jüngers umfangreiches Tagebuchwerk Siebzig verweht
(1965-1995) artikuliert eine metahistorische Distanz, die gerade in Rom, der
Stadt der Städte, dem Modell aller Imperien, blitzartig aufleuchtet. Der Ver-
lust des Mythos, dem Vico und Bachofen so viel zugetraut haben, wiegt
schwerer als der Verlust der Geschichte: er mindert die Substanz. Das senti-
mental-moralisierende Verhältnis, das die fellachoide Gesellschaft zur Ge-
schichte einnimmt, signalisiert, daß sie Abscheu vor Charakteren hat; das
Psychologisieren als Krankheit der Epoche ist für Jünger das Kennzeichen
politischer Eunuchen. „Freilich sind das nur Konsequenzen der Tatsache,
55
Jünger, Siebzig verweht 1,8 (4.4.1965)
28
daß Geschichte nicht mehr existiert. Eben deshalb treten wohl Titanen, nicht
aber im überlieferten Sinne ,Große' auf. Wir sind aus dem Rahmen der Ge-
schichte endassen und anderen Formen und Rechten als den historisch ge-
wachsenen unterstellt. (...) Die historische Form wie ,der Krieg' oder ,der
Friede' wird zur klassischen Reminiszenz"56.
Der bloß selbstreferentielle Titanismus der Technik mit ihren Allmacht-
phantasien ist nicht mehr imstande, die abgestorbenen Geschichtsphiloso-
phien zu beleben. Von daher sieht Jünger Geschichte nur noch als Deponie,
als Abfallhalde: „Der Weg führt von meta- zu ahistorischen Landschaften,
vom Wald zum chaotischen Strand. (...) Eines der Symbole geschichtsloser
Räume ist die Deponie" 57 . Auf den Verlust der Sinngeschichte reagiert Jün-
ger mit seiner Figur des Anarchen — jenes Einzelgängers, der den „contrat
social" aufkündigt und sich einzig als Person versteht, exklusiv nur sich
selber verantwortlich. Der Anarch liebt die Gefahr; in Eumeswil geht er am
Ende in den Großen Wald, wo er verschollen bleibt. Jüngers Wort „Die
Geschichte ist tot", das Credo des Anarchen58, ist die Replik auf Nietzsches
„Gott ist tot". Solche Erkenntnis der Lage ist gewonnen aus einer
schmerzhaften Verlustgeschichte: Der Anarch ist die Verkörperung des
Transpolitischen.
Dem Diaristen Jünger entgeht in den achtziger Jahren nicht der Verfall
jenes antagonistischen Ordnungssystems, das seit dem Zweiten Weltkrieg die
Gegenwartsgeschichte strukturierte — des Ost-West-Konfliktes. Der Autor
hatte ihm schon 1953 einen Essay unter dem mythologischen Titel Der
dische Knoten gewidmet59 und mit dem Ausblick auf einen Weltstaat geschlos-
sen. Denkbar, so Jünger, wäre die große Begegnung, die zwar zu keiner Lö-
sung, zu keiner Rangordnung, wohl aber zur „Fruchtbarkeit" führte60.
Letzteres ist freilich kein historischer Begriff, sondern bezeichnenderweise
ein biologischer; er verweist darüber hinaus auf Spirituelles. Das Zerbrechen
des globalen Dualismus mit seiner Politik der Hoch- und Überrüstung ge-
hört auf metahistorischer Ebene zum Sturz des Ikarus. So war die Macht des
östlichen Imperiums erkauft mit einer beispiellosen Verachtung und Verwü-
stung der Natur. Doch kehrt die Gäa zurück. Jüngers lebenslange Beschäfti-
gung mit der Natur fügt sich fast mühelos in die ökologische Wende des aus-
gehenden 20.Jahrhunderts ein. Aus Weltgeschichte will Erdgeschichte wer-
den. Der Mensch, der prometheisch die Erde eroberte, wird nun selbst von
der Erde erobert61.
Dem Biologen Jünger (der es zum renommierten Entomologen brachte)
eröffnet sich Natur als neuer Sinnhorizont. Sein Weg geht von Nietzsche zu
Goethe: statt großer Politik die zarte Empirie. Die Diarien Siebzig verwebt sind
erfüllt von Naturphänomenen; Jünger kultiviert Beschreibungskunst. Die
Erkenntnis der Lage aber geschieht hier primär nicht in historischen, son-
dern in mythischen Kategorien. Die Diagnose gleicht einem Orakel: „daß wir
an einer Häutung der Gäa teilnehmen", und daß es darauf ankommt, „zu hö-
ren, was die Erde will"62. Gäa - das ist bewußte Remythisierung, in den sieb-
ziger Jahren bereits von William Golding in die Diskussion gebracht63. Der
Name assoziiert antike Weltfrömmigkeit, die Zeitentiefe des Hesiodischen
Mythos. Gäa - das ist, was am Ende den stürzenden Ikarus auffängt. In Jün-
gers neuer Mythologie der Erdrevolution ist überraschend noch Nietzsche
präsent, der in der Vorrede zum Zarathustra gefordert hatte, der Erde treu zu
bleiben. „An der Erde zu freveln ist jetzt das Furchtbarste und die Einge-
weide des Unerforschlichen höher zu achten als den Sinn der Erde!" 64 Nach
dem Tod Gottes muß der verlassene Thron wieder besetzt werden. Auch
Jünger macht sich das neue Evangelium zu eigen. Für ihn wird Natur gleich-
bedeutend mit unerschöpfter Kreativität, göttlichem Reichtum an Formen,
verborgener Ordnung noch im Chaotischen; über allem schwebt der ästheti-
sche Sinn.
Jünger verzichtet, wenn nötig, sogar auf das erkennende Subjekt. „Die
Pracht einer Muschel aus der lichtlosen Tiefe ist nicht für unsere Augen er-
dacht"65. Die Natur liebt solche Kryptogramme; ihre Schönheit bleibt
Schönheit, auch wo sie sich verbirgt: „Die Schöpfung bedarf keines Augen-
zeugen, der sie erst legitimierte"66. Geschichte dagegen ist substantiell ange-
wiesen auf Legitimation; ohne sie büßte sie jeglichen Sinn ein. Zum Titanis-
mus der Moderne gehört deshalb nicht nur die Technik, sondern auch die
entsprechende Rhetorik. Jünger ist überzeugt, daß Mächte der Natur, ja des
Kosmos in die Geschichte einzustrahlen, sie qualitativ zu verändern begin-
nen67. Sein Mißtrauen gegen die Historia profana ist seine Folgerung aus der
deutschen Hybris und der Entstehung neuer Fronten in einem Kalten Krieg.
Der Essay Über die Linie, 1950 zum sechzigsten Geburtstag Heideggers ver-
61
Jünger, An der Zeitmauer, in: Sämtl. Werke VIII (Stuttgart 1980) 576
62
Jünger, Siebzig verweht III (Stuttgart 1993) 578 (22.11.1985)
63
Vgl. J.Lovelock, Gaia. A New Look on Life on Earth, Oxford 1979; ders., The Ages of
Gaia (New York 1988). Lovelock war mit Golding eng befreundet.
64
Nietzsche, Zarathustra. Vorrede 3 (KSA 4,15).
65
Jünger, Siebzig verweht II, 10 (18.4.1971)
66
Meyer 579
67
Jünger, Prognosen 10
30
faßt, sieht die Geschichte der Weltbürgerkriege generell vom Nihilismus infi-
ziert. Freiheit ist hier nur noch im Gegensatz zum Tödlich-Faktischen der
Organisationen zu haben - als Freiheit des Ungeordneten und Ungesonder-
ten: „Wir wollen sie ,die Wildnis' nennen"68. Dieser Bereich des Nicht-Plan-
baren, Spontan-Lebendigen bietet die einzige Zuflucht. Das deutet auf den
Großen Wald des Anarchen voraus. Wildnis sind für Jünger jene „Gärten, zu
denen der Leviathan nicht Zutritt hat"69 - der Tod, der Eros und die Kunst.
Die Wildnis als Zustand des unverfügbar Eigenwüchsigen, als Reservat
des Authentischen widerspricht dem Nihilismus der Systeme und erzeugt
ihre je eigene Aisthesis. Jüngers Roman Eumesml (1977) führt den Anarchen
von der Residenz des Condors, wo die Geschichte stillgelegt ist, in das einzig
verbliebene Refugium, den Großen Wald. Er steht für den Triumph der Na-
tur. Venator, der Jäger der Erkenntnis, ist von Beruf zwar Historiker, aber
Geschichte, wie er sie betreibt, ist nur noch ein exklusives Spiel für Einge-
weihte: sie wird am „Luminar" als virtuelle Realität nachgestellt. Der Große
Wald liegt jenseits der Wüste, die nach dem letzten Feuerschlag in der
Geschichte der Streitenden Reiche zurückblieb. Der Waldgang hat Tradition
bei Jünger. Die Wildnis — darin folgt er einer romantischen Spur — verkörpert
eine Ästhetik der Freiheit: „Der Wald stand wie eine Mauer; noch nie konnte
eine Axt ihn berührt haben. Die Katastrophe mußte sein Wachstum noch
gesteigert haben, als hätten ihr Gluthauch und die Sintflut, die ihr folgte, die
Urkraft aus ihm befreit"70. Dem entfesselten Wachstum, das an Hölderlins
Vision heiliger Wildnis erinnert, entspricht genetisch wie symbolisch die
wahllose Vermischung: „Ganz fremde Arten hatten sich verkuppelt und
Früchte gezeugt, vor denen selbst ein Linne verzweifelt wäre" 71 . Der dies er-
zählt, ist ein anderer Grenzüberschreiter: Attila, der Leibarzt des Condors,
für den Anarchen ein heimliches Vorbild. In seinen Abenteuern vermischen
sich Geographie und Traum. Attilas Waldgänge führen in ein Reich der
Phantasmagorie, wo das Schöpferische auf eine Weise scherzt, die aller Ver-
nunftästhetik widerspricht. Auch davon hatte Hölderlin gewußt; Jünger greift
nicht umsonst Bilder des „Aorgischen"aus dem Umkreis der Titanen auf. At-
tila, der Mythensucher, erlebt auf einer Lichtung die Epiphanie, erblickt den
Geist der Wildnis: „In einer Lichtung fiel ein Sonnenstrahl auf eine widder-
köpfige Gestalt. Sie stützte die Linke auf ein Lamm, das Menschenantlitz
trug. Beide lösten sich im Licht auf, als ob die Vision zu stark würde" 72 . Am
Ende stößt er auf den Lebensbaum - eine Zypresse, die in den Himmel
68
Jünger, Über die Linie, in: Sämtliche Werke VII (Stuttgart 1980) 273
69
Ebd.
70
Jünger, Eumeswü 368
7
' Ebd.
72
Ebd. 369
31
wächst. Ihr Stamm ist ein lebender Turm, der ihn in seinem Innern auf-
nimmt — ein Vorgang so natürlich wie im Märchen.
Jüngers Anarch tritt heraus aus der politischen Welt, deren Mechanik
des Machterhalts sinnlos geworden ist. Denn hier sind keine Lösungen mehr
möglich; daher die Stagnation. Die Posthistorie verwaltet nur noch Daten;
ihre Kultur ist „fellachoide Versumpfung auf alexandrinischer Grundlage"73.
So muß Venator, der am Luminar die Vergangenheit zitiert, zum Metahisto-
riker werden. Sein Waldgang, durchaus ethisch motiviert, ist auch ein Akt der
Solidarität: Venator begleitet den Condor auf seiner Großen Jagd, die in die
Wälder führt. Dort wird er mit dem Tyrannen und dessen Gefolge verschol-
len gehen. Es ist der Flug des letzten Ikarus, die Abdankung dessen, was
einmal „historisches Handeln" genannt wurde. Siegerin bleibt die Gäa, die
unzähmbare Physis. Jüngers Naturästhetik kultiviert das Staunen, das erken-
nende Befremden, die Grenzüberschreitung. Auch die Moderne ist zu über-
schreiten. Das Heilige, das sich in Wäldern verbirgt, ist selbst anarchisch,
polymorph; hier sind auch Tiergötter denkbar. Der symbolisnsch-surreale
Zug in Jüngers Schilderung, die Promiskuität der Formen erinnern an
Gustave Moreau wie an Max Ernst. Was sich als „Lichtung" zeigt, meint
poetisch Bewußtseinserweiterung — vorbereitet in Hölderlins Evokation der
Wildnis und in den Illuminationen von Rimbaud. Auf solche Lichtungen hin
ist der Roman komponiert. Für den von Geschichte Enttäuschten bleiben
die Ekstasen der Natur die letzte Möglichkeit von Sinnerfahrung.
Ästhetik der Natur ist seit der Romantik immer auch Suche nach Ausgängen
aus der Geschichte — in dem Maße, da diese gewaltsamer, absurder, techni-
scher wird. Zwar ist Natur seit den Griechen ein Gegenstand des Forschens;
doch was im 20. Jahrhundert sich Naturwissenschaft nennt, hat nichts mehr
mit Heraklits Physis zu tun. Seit dem Manhattan-Projekt, das am 6. August
1945 zum Abwurf der ersten Atombombe führte, ist die moderne Physik in
die Schuldgeschichte dieses Jahrhunderts verstrickt. So konnte Michel Serres
die Wissenschaft sich zur Gewalt hin transformieren sehen, zur Jagd, zum
wölfischen und kriegerischen Tun: „Bei Piaton und für eine Tradition, die bis
ins klassische Zeitalter andauert, ist die Erkenntnis eine Jagd. Es gilt, das
Wild zur Strecke zu bringen. (...) Wissen heißt töten, heißt sich auf den Tod
beziehen, den Herrn und den Knecht sehen"74. Das klassische Zeitalter
exakter Wissenschaft - von Descartes über Newton bis zu den Enzyklopädi-
sten - projiziert seinen Herrschaftsanspruch und seine Mechanik der Macht
73
Ebd. 32
s 111
32
in die Natur hinein. Doch dieses Denken ist auf Gewalt und Unterwerfung
angelegt: „Der westliche Mensch ist ein Wolf der Wissenschaft"75.
Wenn Natur darauf angelegt ist, sich dem Menschen als Schöpfung zu
zeigen, ihm als eigene Sinnordnung aufzugehen, muß Naturwissenschaft, die
ihren Namen verdient, auch eine ästhetische Komponente haben. Sie muß
imstande sein, Natur jenseits der menschlichen Eingriffe als Schön-Gefügtes,
als Kosmos zu sehen. Das war die Sicht der Griechen. Die Bibel vertiefte
diese Sicht durch ihren Schöpfungsgedanken. Ästhetik nimmt das Schön-
Gefügte zugleich als Transzendentes wahr. So haben Leonardo, Dürer und
Goethe erkannt, daß die Kunst - als Abbild einer vollkommenen Ordnung -
bereits in der Natur steckt. Deshalb war Leonardo im Recht, als er die Male-
rei eine Wissenschaft nannte und vom Künstler sagte, „daß sich sein Geist in
ein Abbild des göttlichen Geistes verwandelt"76. Und E.Chargaff, der sein
Leben als Biochemiker unter dem Titel Das Feuer des Heraklit beschrieb,
scheute sich nicht, im Naturphänomen an die Grenze des Geheimnisses zu
rühren. „Es ist geradezu die Macht der Mysterien, die nach meiner Meinung
den wahren Naturforscher antreibt; dieselbe Kraft, blind sehend, taub hö-
rend, unbewußt gedenkend, welche die Larve in den Schmetterling treibt"77.
Die Vision, daß die Natur sich das Ihre zurückholt, die Zivilisation mit
Wildnis überzieht, mit Elementarkräften züchtigt, taucht in der „mitteleuro-
päischen" Literatur seit 1970 auffällig häufig a u f - so bei Marien Haushofer
{Die Wand), bei Guido Morselli (Die Einsamkeif) und Christoph Ransmayr
(Die letzte Welt). In Marien Haushofers allegorischem Roman, der 1968 er-
schien, ist es der Sturz des männlichen Ikarus, der Raum schafft für weibli-
che Selbstbehauptung, für unverstellte Wahrnehmung der Physis. Diese
Wahrnehmung ist freilich aufgenötigt durch eine Krisis, für die symbolisch
die „Wand" steht. Die Ich-Erzählerin wird durch eine gläserne Mauer von
allem isoliert, was bisher Zivilisation bedeutete; inmitten scheinbar idyllischer
Berglandschaft gerät sie in eine Robinsonade hinein, die eine Umwertung al-
ler Kulturwerte meint. Die Glaswand, laudos und urplötzlich da, trennt die
Eine von aller Geschichte und installiert, gleichsam eschatologisch, das Jüng-
ste Gericht in Gestalt einer Natur, die sanft, doch unerbittlich ist. In dieser
Ästhetik des naturalen Ordo zeigt sich die Nachwirkung Stifters. Auch
Haushofer pflegt in ihren Beschreibungen Stifters phänomenologisches Ver-
fahren: die Dinge treten kraft der Wahrnehmung hervor78.
In einer Welt ohne Männer ist auch die Geschichte verschwunden -
und mit der Geschichte das Sinnproblem, symbolisiert in den Kirchtürmen,
75
Ebd.
76
A.Chastel (Hg), Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei
(München 1990) 165f
^ChargafflöO
78
Vgl. A.Stifter, Bunte Steine, hg.u.kommentiert von H.Bachmaier (Stuttgart 1994) 363-391
33
die nun funktionslos in der Landschaft stehen. „Ich suchte nicht mehr nach
einem Sinn, der mir das Leben erträglicher machen sollte. Ein solches Ver-
langen erschien mir fast wie eine Anmaßung" 79 . Die Spiele der Menschen,
die sich Geschichte nennen, sind bisher fast immer schlecht ausgegangen.
Nur die Natur als Unverfügbares, der Eigenmächtigkeit Entzogenes hat ihre
Schönheit und Würde behalten: „Das große Sonne-, Mond- und Sterne-Spiel
schien gelungen zu sein, es war auch nicht von Menschen erfunden wor-
den" 80 . Die Aisthesis bewahrt jenes kindhafte Staunen, das durch die männli-
che Techne nachhaltig aus der Kultur vertrieben wurde. Haushofers altera
ego ist Eva, allein mit ihren Tieren, ohne Adam - Witwe und Jungfrau zu-
gleich. Das Paradies, in das hinein sie zurückgetrieben wurde, ist das Ergeb-
nis einer Katastrophe. In der Robinsonade wird der Naturzustand probiert
wie ein Trank, der berauscht durch seine Monotonie. Preis der Erkenntnis ist
die Einsamkeit, welche die Augen öffnet. Erst wenn Geschichte abgetötet
ist, ereignet sich Ekstase der Natur: „Die Einsamkeit brachte mich dazu, für
Augenblicke ohne Erinnerung und Bewußtsein noch einmal den großen
Glanz des Lebens zu sehen"81.
Der Mann, der wölfisch einbricht in diese heilige Wildnis und Evas
Tiere tötet, wird von ihr niedergestreckt. Die Gewalt hat ihn häßlich ge-
macht; so fällt es nicht schwer, ihn in den Abgrund zu stürzen. Die Parabel
könnte nicht deutlicher sein — so provozierend einseitig ist sie. Was nach Ge-
schichte bleibt, ist Natur als schiere Physis, als Wachstum, mit ihrer Allmacht
des Grüns, das ozeanisch alles überflutet:
Das Land war jetzt eine einzige blühende und grünende Wildnis. Ich
konnte Felder und Wiesen kaum noch an der Farbe unterscheiden.
Das Unkraut hatte überall den Sieg davongetragen. Schon im ersten
Sommer waren die kleineren Straßen zugewachsen, jezt sah ich auch
von der breiten Asphaltstraße nur noch kleine dunkle Inseln. Die Sa-
men hatten in den Frostaufbrüchen Fuß gefaßt. Bald würde es keine
Straße mehr geben. Der Anblick der fernen Kirchtürme bewegte mich
diesmal kaum noch. Ich wartete auf den vertrauten Ansturm von
Kummer und Verzweiflung, aber er kam nicht. Es war mir, als lebte
ich schon fünfzig Jahre im Wald, und die Trümmer waren nichts
mehr für mich als Bauwerke aus Stein und Ziegel. Sie gingen mich
nichts mehr an.82
Die Kirchtürme stehen für eine von Männern gemachte Sinninstanz, die
nicht nur den Körper, sondern auch die Seele in Beschlag nahm. Der Zerfall
"Haushoferm
80
Ebd. 173
81
Ebd. 174
82
Ebd. 216
34
B Ebd. 227
35
86
Ebd. 172
87
A.Curnow, Bäume, Bildnisse, bewegliche Dinge (Göttingen 1994) 58/59
Dt. von K. Graf/J.Sartorius
2. Kapitel
Ausgänge aus der Geschichte. Von Kant zu Levi-Strauss
Man sollte oft wünschen, auf einer der Südseeinseln als sogenannter
Wilder geboren zu sein, um nur einmal das menschliche Dasein ohne
falschen Beigeschmack, durchaus rein zu genießen.
Seinem Appell fügte Kant noch eine menschenkundige Maxime an: „Es ist
so bequem, unmündig zu sein", damit die Geschichte der Unvernunft ab-
grenzend von der neuen Ära der Aufklärung. Subjektwerdung war angesagt.
Die Weltvernunft selbst dekretierte, was zu geschehen habe und, weil ver-
nünftig, im Fortgang der menschlichen Sozietät gar nicht anders geschehen
könne.
Kant, als ein wahrhaft Aufgeklärter, will der Vernunft keine historischen
Fesseln anlegen. Denn auch die Aufklärung hat ihre Dogmen, Institutionen
und Eiferer. Von daher seine Warnung: „Satzungen und Formeln (...) sind
Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit" 2 . Diese Freisprechung
entläßt den Einzelnen ins offene Meer der Freiheit, wo er zu navigieren
lernen muß. Aber Kant fürchtet 1784, am Vorabend der großen Wende, als
die Revolution der erstarrten Verhältnisse in Paris wie in Königsberg bereits
1
Kant 53
2
Ebd. 54
38
Salonthema ist, nichts mehr als den historischen „Sprung" - getreu der
Maxime Linnes in seiner Philosophia Botanica (1751): „Natura non facit saltus".
Diesen Gedanken der Kontinuität, den Kant so schätzte, hatte schon Leibniz
verkündet. Kant verwahrt sich gegen den Trugschluß, durch eine Revolution
würde eine Reform der Denkungsart zustande kommen. Die reale Ge-
schichte hat ihn darin bestätigt, daß Theorie der Geschichte, am Dogma der
Revolution fixiert, ein neues Vorurteil darstellt — ohne weiteres geeignet, für
Jahrzehnte zum „Leitbande des gedankenlosen großen Haufens" 3 zu dienen,
und öfters mit tödlichem Ausgang.
Kants Vernunft erweist sich als Mißtrauen gegenüber dem oft befremd-
lichen Gang der Geschichte, „darin fast alles paradox ist"4. „Räsonniert, nur
gehorcht!" Der Schatten des Unaufgeklärtseins fällt in diesem imaginären
Zitat selbst auf Friedrich den Großen, den Kant zum Mann des Jahrhunderts
erklärt hatte. Dennoch - am Ende der Aufklärungsschrift steht der uner-
schütterlich optimistische Verweis auf die Natur. Sie, die noch über der Ge-
schichte waltet, als Garant einer im Leibnizschen Sinne vernünftigen, weil ih-
res Schöpfers würdigen Weltordnung, hat im Menschen den Hang und Beruf
zum freien Denken keimhaft angelegt. Einzig diese Berufung schützt ihn da-
vor, bloße Maschine der Vernunft zu sein5.
Aber der Geist ist ein Wühler. Freilich muß er dazu in den Untergrund
gehen und subversiv werden. Die Vernunftgeschichte, seit Robespierre zuse-
hends dogmatisiert, im Namen der Revolution zur Selektions- und Tö-
tungsmaschine verkommen, ihr Pantheon der Zwecke installierend, bezeugt
jene Paradoxien, vor denen Kant gewarnt hat. Die Logik der Macht kennt
keine Menschenwürde und keine Bürgerrechte. Zweifelnd an der Geschichte
und Geschichtsphilosophie sucht sich der Mensch zu befreien: spätestens
seit Nietzsches Vision Zarathustras am See von Silvaplana forscht er nach
Ausgängen, nach „Ekstasen". Für Giorgio Colli, den Nietzschekenner, ist
Ekstase eine Erkenntnis, die nicht den Bedingungen der Individuation un-
terliegt6; ich füge hinzu: weil sie Geschichte auslöscht und negiert. „Etwas
außer uns befreit uns von uns selbst"7. In diesem Licht enthüllt sich ein
Großteil der modernen Kunst und Literatur als ekstatisch, sichtbar am Pa-
thos der Grenzüberschreitung, des Traditionsbruchs und des „epater le
bourgeois". Seit der Romantik gewinnt der ekstatische Augenblick besondere
Qualität, verspricht er doch Entrückung aus dem bürgerlichen Alltag. Dieses
Bedürfnis hat Wagners Tristan in musikalische Entgrenzung übersetzt. Auf
anderem Terrain hat ein Großmeister der Naturbetrachtung, Goethe, das
Erlebnis der Befreiung vom gemeinen Dasein in optische Symbolik übertra-
3
Ebd. 55
* Ebd. 61
s Ebd.
6
Colli, Nach Nietzsche 65
7
Ebd. 66
39
gen: „Warum gabst du uns die tiefen Blicke?" Colli hat an die antike Lehre
vom Augenblick erinnert, etwa an Heraklits Sinnspruch „Alles regiert der
Blitz" 8 , und das antike Gefühl mit dem modernen bei Goethe verglichen,
den der erfüllte Augenblick gleichsam für ein ganzes Jahr entschädigt. „Und
wo der Augenblick gerühmt wird, ist die mysterienhafte Erkenntnis gegen-
wärtig, von Parmenides bis zu Nietzsche" 9 . So scheint der emotionale Haus-
halt des modernen Menschen, der sich zusehends von Systemen eingeschlos-
sen weiß, auf spezifische Weise bereit für das Erleben des Augenblicks10.
Alle Suche nach Ausgängen aus der Geschichte ist mythisch grundiert, inso-
fern sie das verlorene Paradies sucht. Ihr Motiv erfährt sie im zuvorbe-
stimmten Scheitern. Scheitern heißt: sich aufsplittern in leuchtende Augen-
blicke. So ist die Suche nach Ausgängen im Labyrinth der Geschichte ein
Ritual, das die Natur uns vorschreibt — sogar nach Kant, der unter der harten
Hülle der Notwendigkeit die Freiheit keimen sah. Der Ritus sagt uns, was
fehlt. Was fehlt, ist enthalten in dem, was im Woraufhin der Ritus entwirft:
„Sein lichtet sich dem Menschen im ekstatischen Entwurf. Doch dieser
Entwurf schafft nicht das Sein"11. Was nicht zu schaffen ist, macht dennoch
Lust zum Entwerfen. Das Stichwort Paradies hatte schon Kleist an uner-
warteter Stelle, in seinem Aufsatz über das Marionettentheater, geliefert. Das
Paradies, das Jenseits der Vernunft, öffnet sich dem, der bereit ist, noch ein-
mal vom Baum der Erkenntnis zu essen, um zurückzufallen in den Stand der
Unschuld. Ein Jahrhundert nach Kleist ist Proust ein Gewährsmann dafür,
daß die wahren Paradiese die verlorenen sind. Der Akt des Entwertens, in
Vinteuils Septett zur musikalischen Ekstase werdend, ist der Versuch, ins Pa-
radies einen Blick zu erhaschen. Paradies aber meint: mit dem Menschen ver-
söhnte Natur.
Was den Gedankenflug zu Boden drückt, ist die wachsende Last der
Geschichte. Schon Kant trug Bedenken angesichts der schieren Masse histo-
rischen Wissens, das mit den Zeiten sich ansammelt. Am Ende seines Ent-
wurfes einer Allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1783) bedrängt ihn
die Frage, „wie es unsere späten Nachkommen anfangen werden, die Last
von Geschichte, die wir ihnen nach einigen Jahrhunderten hinterlassen
möchten, zu fassen"12. Der Weise von Königsberg beruhigt sich noch mit
dem Argument der Selektion: schätzenswert und interessant werde allenfalls
'3 Ebd.
u
Blumenberg, Höhlenausgänge 548f.
15
G.Trevelyan, Eine Vision des Wassermann-Zeitalters (München 1984)
41
erlaubt es, indem sie die Revolution zum Dogma erhebt, den Terror zu legi-
timieren. Von daher gibt es keine reine Theorie, von der die schlechte Praxis
zu unterscheiden wäre. Hitlerismus und Stalinismus waren Ausfluß eines hi-
storischen Weltbildes, praktizierte Theorie: Geschichte als Herrschaftsin-
stanz, verkörpert im „Führer", im „Vater der Völker".
So enthält das angemaßte Ganze der Geschichtsphilosophie a priori ein
totalitäres Moment — das bei Rousseau, in Hegels System und bei Marx als
Argument und Vibrato rhetorisch mit anklingt. Ohne die Sinninstanz Ge-
schichte würde diese Verkündigungsrhetorik in sich zusammensinken. Was
zu abstrakten Aufrissen gerinnt, sind bloße Zwecke; die lebendigen Men-
schen verkommen zu demonstrierenden Schatten. Seit Hegel, Marx und
Nietzsche gibt es im historischen Diskurs eine förmliche Ideenpolitik, die
mittels Begriffskampf die Wirklichkeit mehr oder minder gewaltsam zu än-
dern beansprucht. Hegel verkündete freilich nicht nur das Ende der Kunst,
sondern auf seine Weise auch das Ende der Geschichte. Das war historisch
zu kurz gegriffen, weil er das heroische Zeitalter mit dem gestürzten Napo-
leon enden sah und den neuen Prometheus kaum wahrnahm, der eben die
Rüstung des Industrialismus schmiedete. (Der Historismus ist nicht umsonst
ein geistiges Produkt des Biedermeier.) Aber das Ende der Geschichte ist
eine Anschauungssache. Geschichte endet, wo das Subjekt den Wunsch hat,
den Theoriedruck oder Systemzwang des Historismus verschwinden zu las-
sen. Seit Nietzsche mehren sich diese Wünsche. Als Zuflucht bieten sich
zwei große Reiche an: Kunst und Natur.
Die Suche nach Ausgängen aus der Fatalität der Geschichte speist sich weni-
ger aus anarchischem Freiheitsdrang als aus fundamentaler Enttäuschung.
Die Vision einer möglichen Einheit von Mensch und Natur, wie sie der
junge Marx erträumte - in seinen Pariser Entwürfen zur Anthropologie -,
blieb am folgenlosesten im Sozialismus selbst. Dort war sie immer häretisch,
weil ablenkend vom Klassenkampf. Doch hält sich, nach dem Zusammen-
bruch des Sozialismus, die melancholische Erinnerung an einen Marx, der
den Menschen primär nicht als Klassenwesen, sondern als unmittelbares
Naturwesen faßte:
Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Progreß bleiben
muß, um nicht zu sterben. Daß das physische und geistige Leben des
Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen anderen Sinn,
als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch
ist ein Teil der Natur.16
16
K.Marx/ F.Engels, Kleine ökonomische Schriften (Berlin 1955) 103
42
Die Naturalisierungsthese des frühen Marx läßt der Sinnlichkeit des Men-
schen breiten Raum, sperrt freilich die Kategorie des Ästhetischen aus. Das
Ästhetische erscheint - unter dem Primat der Selbsterzeugung des Menschen
durch Arbeit - als Luxusregel und nicht als Lebensmittel.
Erst die Kunstreligion des saturierten Bürgertums, durchaus ideologisch,
eine Mischung aus Wagner und Makart, suchte nach Fluchtwegen aus dem
trivialen Kontinuum des Alltags. Ihr Verlangen zielte auf theatralisch gestei-
gerte Daseinserfahrung, unbeschädigt von allen Makeln der Erwerbsgesell-
schaft. Aus Enttäuschung an profaner Wirklichkeit sakralisierte die bürgerli-
che Avantgarde der Makart und Moreau, der Stuck und Klimt die Kunst zum
(käuflichen) Paradies, tief in den Fundus von Mythologie und Symbolismus
greifend, auch die morbiden Reize nicht verschmähend - mit terroristischem
Eifer, als sollte das Schöne erst aus dem Schrecken erstehen. In diesem
Klima entstehen am Ausgang des 19. Jahrhunderts jene Neurosen, die Freud
zu seinen Expeditionen in den dunklen Kontinent des Unbewußten trieben.
Eros und Thanatos stehen allegorisch für die inzestuöse Verbindung von
Schönheit und Schrecken. Schon die Romantik, Vorläuferin auch hier, hatte
Liebe und Tod als lustvoll verschwisterte Passionen für sich entdeckt — als
ewige Naturgesetze, in denen sich Ausgange aus der Geschichte ereignen, oft
mit letalem Ausgang. Der Wahnsinn von Tristan und Isolde ist Wagners per-
sönlich empfundene Apotheose dieser übergeschichtlichen Mächte. Zuvor
hatte Novalis das Grab als Schoß gedichtet, in einer individuellen Todesmy-
stik das Geheimnis der Auferstehung umkreist. Kleist erhob die Marionette,
die bewußdos, ohne Schuld und Sühne agiert, zu seiner Leitfigur von
Welterkenntnis. Sie deutet hin auf das „letzte Kapitel von der Geschichte der
Welt"17. Mitten im ruchlosen Optimismus der fortschrittstrunkenen Bour-
geoisie besang Baudelaire, das barocke Vanitaspathos in romanische Klassi-
zität überführend, den Tod als alten Kapitän, der die erlösungs- und
todessüchtige Seele zur Fahrt in den Abgrund verführt. Der Schluß der Fleurs
du Mal negiert die Geschichte des Fortschritts, jenes bürgerlichen Idols, im
katastrophischen Begehren nach dem Absoluten, das ironischerweise in der
Maske des „Neuen" erscheint. Hier setzt Baudelaire all sein poetisches Ka-
pital auf den künstlich geschaffenen Mythos der Modernität. Forcierte Suche
nach dem Jüngsten Tag soll die Geschichte mit ihren Wiederholungsmecha-
nismen zum Verschwinden bringen: der Tod als höchstes Reiz- und Lust-
erlebnis.
Metaphysische Züge nimmt die Ruhelosigkeit des 19.Jahrhunderts bei
Melville an, dessen Kapitän Ahab - von Rache und Hybris verblendet - dem
Phantasma des weißen Wales nachjagt. Der Ich-Erzähler Ismael, der als ein-
ziger dem tödlichen Scheitern entkommt, ist Inbegriff des in die Wüste Ver-
stoßenen, sein scheinbar realistischer Bericht eine großangelegte symbolische
H.von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hg.von H.Sembdner, II (München 1961) 345
43
Studie zur Prädestination. Die Abwesenheit der Frau in Melvilles Moby Dick
darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Meer selbst als Urelement das
Weibliche verkörpert - unstet, verführerisch, vergeblich vom Kiel des
männlichen Schiffes gepflügt, am Ende der Schoß, der die Gescheiterten
aufnimmt. Die Jagd nach dem weißen Wal setzt durchaus ambivalente Kräfte
in Ahab frei (der seine Mannschaft zuvor durch mephistophelischen Pakt an
sich bindet): Verrat und Treue, Zartheit und Gewalt, Verletzlichkeit und
Härte. Diese Eigenschaften beleuchten hinter der puritanischen Fassade eine
ganze erotische Skala: was Ismael erzählt, ist die Geschichte eines Liebes-
kampfes und damit eines Wahns. Denn Ahab liebt, was er haßt, und begehrt,
was er fürchtet. In der Begegnung mit dem Phantasma, das aus der Tiefe
aufsteigt, versammelt Melville die dämonische Macht der in Sünde gefalle-
nen, gesetzlosen Natur. Dieser Natur gibt Ahab sich ganz hin, er trifft — mit
Kierkegaard — die absolute Wahl: sein Begehren nach Rache ist subtiler
Götzendienst, Abtötung der Liebe in sich. Ahab ist der Verdammte im Reich
des Ästhetischen, gefesselt an sein fruchdoses Begehren, das ihn und seine
Männer allem Humanen entfremdet, zu wandernden Gespenstern in Was-
serwüsten macht. Der weiße Wal verkörpert das Faszinosum des Bösen, dem
ein unbegreiflicher Gott gewisse Freiheit gewährt. Dieser zum Monstrum
gewordene Engel des Abgrunds flößt durch bloßen Anblick Schrecken ein
und seine Schläge töten. Das naive Naturvertrauen der Aufklärung versinkt
im Strudel des erzürnten Leviathan, der Ahabs Schiff zerstört und seine
Mannschaft in die Tiefe reißt. Mit allem Pathos, das ihm zu Gebote steht,
macht Melville aus dieser Agonie eine Szene des Jüngsten Gerichts:
Eine Raubmöwe war aus ihrer Heimat zwischen den Sternen dem
Mast wie zum Spott in die Tiefe nachgeschossen. Zudringlich hatte
sie Tashtego umkreist und nach der Flagge gepickt und geriet nun mit
der flatternden Schwinge zwischen Hammer und Holz. Der Wilde
spürte noch im Wasser, wie der zarte Flügel zuckte, dann erstarrte
seine Hand und mit ihr der Hammer am Mast. Wie ein Erzengel
sehne der Himmelsvogel auf und stieß mit dem königlichen Schnabel
in die Luft, dann ging er unter, den gefesselten Leib in Ahabs Flagge
gehüllt, gemeinsam mit Ahabs Schiff, das sich so lange wie ein Teufel
gewehrt, zur Hölle zu fahren, bis es sich als Helm dies Stück Himmel
aufgestülpt und mit sich hinabgenssen hatte.18
18
Melville 456 f.
44
weiße Mann, ein bewaffneter Aufklärer im Dienste der Zivilisation, trägt die
Insignien von Wissen und Macht auf Kreuzern und Zerstörern über die sie-
ben Meere. Der Stolz darauf spricht noch aus dem Kaiserpanorama, das
1886 in Berlin Szenen aus der kolonialen Expansion des Bismarckreiches,
etwa die Flottendemonstration vor Sansibar, in tropischen Farben malt: „Die
poetischen Lichter des unterworfnen Orients umspielen die Panzertürme der
Kriegsschiffe"19. Der weiße Wal Melvilles als mythische Figur wirkt daneben
so unzeitgemäß wie Nietzsches Zarathustra. Die weißen Flecken auf den
Landkarten verschwinden; aber die Psyche bleibt ein dunkler Erdteil, worin
das Geheimnis des Todes gehüllt ist in Begehren. Für Baudelaire wie für
Melville war Tod noch eine Ausreise ins Unbefahrene, das letzte Abenteuer,
zugleich eine romantische Versuchung - in Moby Dick mit Anklängen an das
Undine-Motiv: „Für den Menschen, der den Tod sucht und den Selbstmord
scheut, ist daher das Meer der große Verführer... Da ist jedes Meer ein Pazi-
fik, und aus allen Tiefen singen die Nixen: Komm zu uns mit deinem zersto-
ßenen Herzen! Wozu erst der Frevlertod! Hier ist ja neues Leben und über-
irdische Wunder genug, zu sterben brauchst du noch nicht. Begrabe dich bei
uns im neuen Leben"20.
Die Verführung dieses Stillen Ozeans, einer Südsee der Seele, taucht als
lockendes Bild vor den Harpunen der Puritaner von Nantucket auf. In
Freuds Kategorien ist selbst ihr Untergang ein Wunschtraum, den sich der
Autor als Buße für seine odysseischen Abschweifungen und die Lust am Ge-
sang der Sirenen gestattet. Nur Ismael wird wundersam gerettet: den Verwai-
sten fischt die „Rahel" auf, die vergeblich nach ihren eigenen verschollenen
Kindern sucht. Ismael, durch Schiffbruch weise geworden, ist der Erwählte,
vom Strafgericht Verschonte — wie Jonas dazu bestimmt, Zeugnis zu geben.
Als einziger erzählt er sich aus diesem Meer heraus; in biblischer Symbolik
steht es für Sünde und Welt schlechthin. Seine Heimkehr geschieht durch
Erzählen: das Meer wird abgesetzt wie eine Sündenlast. Das Erzählen ist Is-
maels Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Mit der Apotheose
des Todes endet die „Totschlägerreihe" (Kafka) dieser Phantomjagd.
Der Imperialismus der Vernunft, mit dem Freud die unpassierbaren Urwäl-
der des Traums und der Triebe erforschte, bleibt imponierend genug. Die
Libido, die er als Grundmotiv menschlichen Handelns annahm, war weit da-
von entfernt, nur Ausdruck einer Privatwelt zu sein, die sich im Persönlich-
Intimen erschöpft. Vielmehr verstrickt sie die Menschen in einer gemeinsa-
men Geschichte, worin das Begehren die Grenzen der Vernunft höchst lust-
" Sternberger 54
20
Melville 391 f.
45
21
G.Heym, Dichtungen und Schnften, hg. von K.L.Schneider, Bd. 3
(Hamburg-München 1960) 154
22
Ebd. 164
23
Meyer 22
24
Zitat bei Meyer 24
46
Der Autor, bei der Niederschrift fünfundzwanzig Jahre alt, analysiert nicht
die politischen und psychologischen Wurzeln des Krieges, sondern be-
schreibt ihn generell als Naturkatastrophe, nimmt ihn als „Schicksal" an.
Jünger selbst spricht vom „Empfinden des Unentrinnbaren und unbedingt
Notwendigen wie einem Ausbruch der Elemente gegenüber"25. Auffällig
bleibt die Enthistorisierung des Geschehens, das doch geschichtlich die
„Urkatastrophe" (George Kennan) des 20. Jahrhunderts war. Jüngers Er-
lebnisbericht weiß den Ereignissen keine politische Struktur, nicht einmal
eine militärische Logik zu unterlegen. Vom Rausch des l.August 1914 zum
Zusammenbruch von 1918 führt keine historische „Linie" oder gar „Ent-
wicklung". Der Krieg und folgerichtig auch die Niederlage sind parado-
xerweise allem politischen Denken entrückt. Was allenfalls aus dem Rauche
der Schlachtfelder auftaucht, ist die mythische Figur des „Kriegers", als
neuer Menschentyp auf den „Arbeiter" Jüngers vorausweisend; ansonsten
triumphieren der ,Anarchismus des 'reinen Kampfes' und seine zynische
Kommentierung" 26 . Die Naturalisierung des Krieges, auf Nietzsches Spuren
vollzogen, bedeutet gewollten Verzicht auf historisch-ethische Reflexion.
Nietzsches Stichwort in Jenseits von Gut und Böse (§ 229) hieß Grausamkeit:
Grausamkeit als Heilmittel der Natur gegen die Dekadenz der modernen
Kultur; der Mensch als wildes Tier, dessen Wildheit nicht abgetötet, sondern
vergöttlicht wird. Dieser bei Nietzsche noch literarische Immoralismus wird
im realen Krieg zum Atavismus der Tierheit im Menschen. In Jüngers
Worten: „nackt wie je bricht er hervor, der Urmensch, der Höhlensiedler in
der ganzen Unbändigkeit seiner entfesselten Triebe"27.
Weniger aggressiv als der Kriegs freiwillige Jünger reagiert der fünfzehn
Jahre ältere Robert Musil, den der Krieg aus einer vielversprechenden litera-
rischen Karriere herausreißt. Das Entrückungserlebnis mitten im trügeri-
schen Lärm des Krieges gerinnt in seinen Tagebuchnotizen zum erotisch
gefärbten Naturbild: „Feigenbaum am Caldonazzo-See: Wie ich unter den
Baum trete: Wie ein grüner seidener Unterrock, durch den die Sonne scheint.
Und die Feigen aufgesprungen, fleischfarben und rot geöffnet...: oh so lange
keine Frau...!"28 Das Idyll, das sich ungefragt einstellt („wie von Honig oder
Goldstaub glitzernde Bienen summen mit mir"), ist das Residuum des unbe-
drohten Blicks, der sich für Momente auf den Farben ausruht. Dieser Aus-
stieg aus der Geschichte, wenige Lidschläge lang, borgt sich seine Motive
gleichsam von Theokrit; zuvor wird noch im blauen See gerudert, unbe-
kümmert um die italienischen Granaten mit ihren Zufallstreffern. Ein göttli-
cher Leichtsinn belebt den zum Soldaten gewordenen Literaten; er fühlt sich
trotz ständiger Todesnähe „von einer Bindung befreit, wie von einem steifen
25
Jünger, In Stahlgewittern (6Auflage Berlin 1925) 87
26
Meyer 28
27
Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis (Berlin 1922) 7
28
Musil, Tagebücher 344
47
Dann hielt ich es manchmal nicht aus und kroch vor Glück und
Sehnsucht in der Nacht spazieren; bis zu den goldgrünen schwarzen
Bäumen, zwischen denen ich mich aufrichtete wie eine kleine braun-
grüne Feder im Gefieder des ruhig sitzenden, scharfschnäbeligen Vo-
gels Tod, der so zaubensch bunt und schwarz ist, wie du es nicht ge-
sehen hast.31
29
Ebd.
30
Musil, Prosa und Stücke 554
31
Ebd.
48
den Erzähler nachts in der Großstadt weckt. Doch diese Amsel kann
sprechen: „Ich bin deine Mutter - sagte sie"32. Mit dieser Überraschung
endet Musil. Seine Amsel, freudianisch gesprochen, ist das mütterliche
Totemtier, einflußreich erst, seit sie tot ist. Musil inszeniert in diesem Auftritt
die Epiphanie der Natur als mütterliches Prinzip: mit märchenhafter Sicher-
heit verlorene Söhne findend, jenseits aller von Männern gemachten Ge-
schichte „einfach da", logisch nicht hinterfragbar, als bloße Erscheinung un-
widerlegbar und vieldeutig; es sind allesamt Attribute des Mythos. Weshalb
der Sinn der Geschichte auch bloß im Erzählen besteht.
Auch Sigmund Freud fühlte sich 1915 gedrängt, Zeitgemäßes über
Krieg und Tod zu publizieren, durchaus im Banne Nietzsches und seiner
Kulturkritik. Denn dieser hatte in seiner Baseler Zeit Fünf Vorreden %u fünf
ungeschriebenen'Rüchernverfaßt und Ende 1872 an Cosima Wagner geschickt.
Thematisiert wird in ihnen der wilde Aspekt der griechischen Kultur:
Der Mensch, in seinen höchsten und edelsten Kräften, ist ganz Natur
und trägt ihren unheimlichen Doppelcharakter an sich. Seine furcht-
baren und als unmenschlich geltenden Befähigungen sind vielleicht
sogar der fruchtbare Boden, aus dem allein alle Humanität in Regun-
gen Thaten und Werken hervorwachsen kann.33
» Ebd. 561
« Nietzsche, Fünf Vorreden, Nr. 5 (KSA I) 783
34
Freud, Kulturtheoretische Schriften (Frankfurt/M. 1986) 59
35
Ebd. 50
49
56
Musil, Prosa und Stücke 465
57
Musil, Tagebücher 847
58
Musil, Prosa und Stücke 465
50
Sie verstanden nichts in dieser neuen Welt, und alles war wie Worte
eines Gedichts. Sie waren ohne Pässe abgereist und ein leises Gefuhl
von Furcht vor irgendeiner Entdeckung und Bestrafung begleitete sie.
Als sie im Gasthof abgestiegen waren, hatte man sie für ein junges
Ehepaar gehalten und ihnen dieses schöne Zimmer mit dem einen
breiten, für zwei Menschen bestimmten Bett, ein letto matrimoniale
angeboten, das in Deutschland außer Gebrauch gekommen ist. Sie
hatten sich nicht getraut, es zurückzuweisen. Nach dem Leiden des
Körpers die Sehnsucht nach primitivem Glück.35
Die Liebesflucht fuhrt nicht umsonst in einen anarchischen Süden, der wie
bei Gottfried Benn Chiffre eines sinnlichen, antipuritanischen Glücks ist. Die
Fahrt über politische und moralische Grenzen, ohne Paß, in einem nach
1918 mißtrauisch sich abschottenden Europa, ist im buchstäblichen Sinne
ein Fluchtversuch aus der Geschichte. Doch stößt sie an neue Grenzen. Die
Wildheit des Eros, der in der Fremde jede Hemmung ablegt, vorsätzlich die
Normen verletzt, die Seelenverwandtschaft durch den Inzest profaniert, be-
gegnet unerwartet einer geheimen Ordnung, die sich als Widerstand gegen
totale Entäußerung aufbaut.
An solchen Klippen bricht sich das Verlangen nach dem Unendhchen. Doch
die Manie, das Paradies in sich selber zu finden, es kraft des Begehrens er-
schaffen zu können, enthüllt sich als eine Spielart des Todestriebs: „Weiter.
Scheinbar Koffernomaden. In Wahrheit von der Unruhe getrieben, den Platz
zu finden, der würdig des Lebens und Sterbens war"41. Nicht zufällig suchen
die Liebenden, die wissen, daß sie Verbotenes tun, den Absturz auf - jene
Stellen, wo sich das Land in das Meer stürzt und der Schwindel das Lebens-
gefühl nur noch steigert. Poetische Metaphysik macht aus den beiden
Urelementen Luft und Wasser ein „königliches Elternpaar", zu dem es die
Geschwister, endaufene Kinder, immer wieder hinzieht. Musil ruft die Erin-
nerung an jene mythischen Erzählungen herauf, wonach die Menschheit aus
dem Wasser gekommen und die Seele ein Lufthauch sei -: Erinnerung an die
früheste Philosophie der Griechen, die zugleich eine poetische Physik war.
Agathe und Anders, eben aus der Eisenbahn gestiegen, mit der sie Europa
durchquerten, stehen vor diesen Urelementen, als seien hunderttausend Jahre
nur ein Nichts. Musil bemüht in seinem Entwurf einer Geschichtsflucht alle
Mittel der Naturmagie. Das menschenleere Hotel, in das die Geschwister
sich zurückzogen, der Ort des Sündenfalls, liegt auch symbolisch „am
Rande" - am Steilhang über dem Meer, eingebettet in ein Stück Gartennatur
„wie ein an die Brust gedrücktes Gewinde von Blumen und Büschen"42, ein
sichtbares Relikt des Paradieses. Doch Anders und Agathe zieht es noch hö-
her — zum verwilderten Plateau, wo die Steine in der Sonne flimmern und die
Disteln nach dem Sündenfall wie in den Himmel wachsen. Die beim Auf-
stieg geschlossenen Augen öffnen sich erst beim Absturz: „plötzlich wie ein
donnernd aufgeschlagener Fächer das reglose Meer"43. Diese Epiphanie geht
unmittelbar aus dem Verlust des Paradieses hervor, als schmerzhafte Er-
kenntnis, die in den Augen brennt wie Salz des Meeres. Das mit Göttlichkeit
lockende Meer, das schon Nietzsche an südlichen Ufern pries, ist laudos rä-
chende, allein durch ihren Glanz blendende Macht, eine schlafende, im Mit-
tagslicht schillernde Schlange, eine Verführerin, die ihr Nichts hinter geöff-
netem Fächer verbirgt: „Die große Geliebte, mit dem Pfauenrad geschmückt.
Die Geliebte mit dem ovalen Spiegel. Das aufgeschlagene Auge der Gelieb-
ten"44. In diesen Nietzsche-Variationen Musils kehrt selbst das dionysische
Symbol des Spiegels wieder.
Zum Paradiesmythos gehört auch die Erfahrung der Nacktheit. In einer
verborgenen Bucht überfällt die Geschwister das Bedürfnis, „nackt, schutz-
los, klein wie Kinder vor der Größe des Meeres und der Einsamkeit das Knie
zu beugen und die Arme auszubreiten. Sie sagten es einander nicht und
schämten sich voreinander, aber versteckt, hinter Bewegungen der Kleider
und des Suchens nach einem Ruheplatz, versuchte es jeder für sich"45. Dieser
Naturkult verleiht den Musilschen Figuren die Gestik von Lehmbrucks Pla-
stiken. Die Übertretung der sozialen Normen, der Tabubruch, der Irrgang
durch die Wildnis des Begehrens führen die Geschwister nicht ins Chaos,
sondern zu eigenen Riten einer Selbsterfahrung - bis hin zu einem Kind-
schaftsgefühl vor der Natur in ihnen. Die gewollte Entgrenzung schreibt eine
neue Geschichte in ihre Körper, ihr Bewußtsein ein. Der Sturz ins Leere
bringt die Erfahrung, daß die Leere trägt. Und hier läßt Musil die Unio my-
stica zu. „Und da gelang den Körpern das Wunder. Anders war mit einem-
mal in Agathe oder sie in ihm" 46 . Die Subjektgeschichte, in deren Schule die
Liebenden ihr Ich ausbildeten, löst sich auf in magische Augenblicke: „alles,
was sich im Menschen bewegt, war reglos eingerollt wie Blätter in glühender
«Ebd. 1654
«Ebd.
44
Ebd. 1670
45
Ebd. 1655
« Ebd. 1656
52
Windstille"47. Und weiter: „Sie wählten nicht Worte, sondern wurden von
Worten erwählt"48. Aber nicht ungestraft verläßt man die wirkliche Welt. Die
Schönheit, als Grenzüberschreitung erlebt, als Hochzeit von Himmel und
Meer, ist erbarmungslos offen für das Unendliche, das Glück ohne Zweck,
ohne Sinn, göttliche Leere ist. Dieser Leere ist das Gefühl nicht gewachsen:
„Dann ist Schönheit eine Pein zum Lachen und Weinen, ein Kitzel, um sich
im Sand zu wälzen, mit dem Pfeil Apolls in der Flanke"49. Vor dem Hinter-
grund elementarer Entgrenzung wird Anders von der eigenen kleinen Ge-
schichte heimgesucht, Erinnerungen beginnen ihn zu quälen, traumhaft prä-
zise -: Statuen, Architekturen, Städte wie Nürnberg und Amiens, obwohl sie
ihn niemals gefesselt hatten. „Er sehnte sich nach Vergangenheit" 50 .
Das Entrinnen aus dieser Geschichte ereignet sich für Anders im welt-
vergessenen Anschaun, sitzend vor einem Stein; der Pfeil in der Flanke
bleibt, aber er schmerzt nicht mehr. Das Weltvergessen, das Anders betäubt,
fixiert auf das Gedankending Stein, nimmt sprachlich die Gestalt der Tauto-
logie an, worin die Steine steingrün sind und ihr Spiegelbild im Wasser spie-
gelnd. Noch in solchen Reflexionsrelikten versammelt Natur bei Musil ein
magisches Licht, das manchmal, nach Jahren und durch Zufall, das eigene
Leben erhellt. „Dieser Stein da oder dieses Holz erleuchtet mich". So
beschrieb im 9.Jahrhundert Johannes Eriugena eine ähnliche Erfahrung. Die
Übermacht der Natur, dieser mit Phänomenen lockenden, im Sichtbaren sich
verbergenden Instanz ist so groß, daß Anders sich vor ihr in den Zynismus
flüchtet: „Man muß etwas beschränkt sein, um die Natur schön zu finden"5'.
Doch die Beschränkung zerbricht vor der Naturgewalt des Eros.
Die Liebesakt gleichsam als Folterszene - diese Deutung konnte Musil schon
bei Baudelaire vorfinden, dessen Tagebücher sein Freund Franz Blei in den
47
Ebd.
48
Ebd. 1657
«Ebd. 1662
50
Ebd. 1666
51
Ebd. 1671
"Ebd. 1672
53
53
Baudelaire AW 3, 321: „Die Liebe gleicht stark einer Tortur oder einer chirurgischen
Operation" (Raketen VIII).
54
MusU,MoE5,1673
55
Dazu Heydebrand 106ff.
56
Musil, MoE 1,134
54
57
Ebd.
58
MoE 3,826f.
59
MoE 4,1210
60
Mo E 2, 360
61
Ebd. 362
62
Dazu H.Böhme, in: R.Musil, Wege der Forschung 588 (Darmstadt 1982) 150-157
über Geschichte, Gestaldosigkeit, Utopie im Mann ohne Eigenschaften
« Musil, MoE 5,1745
" E b d . 1941
65
Heidegger, Holzwege 264
55
Ausgang und Eingang sind eins - jedenfalls mit Blick auf die verlorene Zeit,
den Stand der Unschuld. Sinnfällig beginnt daher Hans Blumenbergs
monumentales Spätwerk Höhlenausgänge, das eine Metaphorologie abendlän-
discher Erkenntnislehren ist, mit der Erinnerung an Prousts Recherche. An de-
ren Beginn steht das Erwachen der Erinnerung unter dem Bilde des Engels,
der die verlorene Zeit bewacht:
Der Engel, der über dem Eingang in die Welt steht und das wirre
Kreisen um den Erwachenden zum Stand bringt (avait tout arrete
autour de moi), könnte der Engel am Ausgang des Paradieses sein,
das nichts anderes wäre als der Schlaf, der Zustand des weldosen und
darum reinen Einklanges mit sich selbst. (...) Anfang, wie er hier ge-
nommen wird, ist Ausgang. Ausgang aus dem Zustand der Abwesen-
heit von der Welt, der nicht festgehalten werden kann, in dem sich
nicht leben läßt, obwohl das Leben in ihm 'aufzugehen' scheint. Dies
ist genau die 'Stelle', für die Proust nach der Metapher der Höhle
greift. Sie vereint die reine Verschlossenheit des Lebens bei sich selbst
und die Unmöglichkeit, bei ihr zu verweilen, weil es die Erinnerung
gibt und sie am Ausgang der Höhle wie ungeduldig wartet.76
7
< Ebd.
75
H.Arntzen, Musil-Kommentar zum Roman Der Mann ohne Eigenschaften (München 1982) 361
mit Hinweis auf Musils Quelle, die Textsammlung Ekstatische Konfessionen von M.Buber
(Berlin 1909) 43f.
76
Blumenberg, Höhlenausgänge 18
57
wie zum Mythos, der nach dem Durchgang durch die Unendlichkeit - wie
Kleist erhoffte - zurück ins Paradies führt. Ausgänge aus dieser Höhlenwelt
haben die Künsder und Philosophen der Moderne, seit dem Traditionsbruch
um 1800, in unablässigem Experimentieren gesucht. „Moderne" bezeichnet
nach Blumenberg jene Epoche, „die ihre Probleme kennen will"77. Ausgänge
werden erhofft von Problemlösungen, seien sie teleologisch oder ekstatisch-
utopisch erdacht (erlebt wird man schlecht sagen können). Von der
Problemlösung wird die Versöhnung erhofft. „Der Mensch ist das der
Versöhnung mit seinem Dasein bedürftige Wesen"78. Zu solcher
Versöhnung gehört es, sich Ausgänge aus der Geschichte zu denken, Aus-
gänge aus einer sich labyrinthisch verwirrenden Welt, Ausgänge aus einem
Zuviel an Geschichte, die keine Nischen und Refugien mehr zuläßt, weil sie
schlechte, von Menschen gemachte Totalität ist. Der Wunsch entspringt
einem Ungenügen an diesem Denkkonstrukt Welt, das tiefer liegt als das von
Freud mythisierte Geburtstrauma. Ausgang kann auch der Tod, sogar der
Selbstmord sein. Mit dem Tode fällt zurück an die Natur, was ihr gehört. Im
Tod hat noch jeder den Ausgang aus der Geschichte gefunden; nur, daß die
Weltbürgerkriege und Genozide des 20Jahrhunderts ihn mit der Masse
sinnlosen Todes verschütten. Der Mystik des Wortes .Ausgang" ist mit blo-
ßer Geschichtskritik freilich nicht beizukommen; ein Lichtschein der ande-
ren Welt, vom Draußen der Höhle, fällt immer noch darauf. „Schlechtge-
schlossene Türen hoher Eldorados" (d'alti Eldoradi/malchiuse porte) er-
kannte der Dichter Eugenio Montale in solchen wie vom Blitz erhellten
Augenblicken79. In der lyrischen Illumination des Seelendunkels versöhnt die
Musik das entzweite Subjekt mit sich selbst. Doch nicht der Mensch, son-
dern Natur bringt sie hervor; die Elemente Wind und Meer werden dichte-
risch transformiert in Englischhorn und Posaune. So spielt der Wind auf
dem „verstimmten Instrument" (scordato strumento) des Herzens seine ele-
gische Weise, während das Meer in sinnloser Revolte seine „Posaune auf zer-
wühltem Schaum" (tromba di schiume intorte) zum Fesüand schleudert.
Montales Englischhorn spielt an auf Wagners Tristan, auf die berühmte Stelle
im dritten Aufzug, es zitiert eine wordose Stimme fernen und dunklen Ver-
langens. In diesem Sehnsuchtsmotiv verklingt der Eskapismus des Subjekts;
die Musik erzählt dessen Geschichte zu Ende.
Auch in Prousts La Prisonniere wird Musik, das posthume Septett von
Vinteuil, zum Moment der Befreiung, um dem Ich-Erzähler samt dem Leser
imaginäre Ausgänge aus der Geschichte zu zeigen. Wie bei Montale ist es ge-
dichtete Musik, die Zeiten und Räume transparent macht, Durchblicke, Er-
kenntnisschneisen schafft. Die Musik weiß um ein Jenseits des Labyrinths.
77
Ebd. 13
78
Ebd. 356
79
E.Montale, Corno inglese/ Englischhorn, in: P.W.Wührl (Hg), Italienische Gedichte des
20Jahrhunderts (Frankfijrt/M 1962) 32/33
58
80
Wartung 458
81
Proust VIII, 3083
82
Ebd. 3085
"Ebd.
59
Fleisch"84. Der Zauber der Musik befreit, wie illusionär auch immer, von der
Vergangenheit; er wirkt als Gegengift. „Ich versuchte, den Gedanken an
meine Freundin zu verbannen, um einzig und allein an den Komponisten zu
denken" 85 . Vinteuil, der tote Schöpfer jener musikalischen Juwelenfenster,
die ein Strahl der Erleuchtung dem Prisma dieses Sommertags entlockt, führt
noch als Toter den Hörer in ein Kunstreich, das Albertine verschlossen ist;
dieses Reich ist beherrscht von einem anderen Wahn als dem des Eros, von
einem anderen Furor. Zu Recht hat R.Wartung die Sprachgebärde Prousts in
diesem Abschnitt als utopisch deklariert. „Aber was dieses Sprachgestus cha-
rakterisiert, ist gerade der Ausfall jener gesellschaftlich-geschichtlichen Ge-
halte, die sich gemeinhin mit der utopischen Antizipation verbinden" 86 .
Wahn und Furor entsprechen sowohl dem Platonischen Enthusiasmus, wie
ihn der Dialog Ion beschreibt, als auch Rimbauds Poetik der Zerrüttung.
Prousts Kunstbegriff freilich transformiert das Heilige, das durchaus ambi-
valent — als Faszinosum wie als Tremendum erscheint — aus der religiösen in
die erotische Sphäre. Das Septett, mag der Hörer auch den Gedanken an Al-
bertine verdrängen, ist ohne Albertine nicht zu denken. In der Verdrängung
ist sie gegenwärtig; ihre Abwesenheit mindert die Eifersucht nicht. Diese
Eifersucht aber ist faszinierend und hemmend zugleich: „denn Straßen und
Avenuen wimmeln von Göttinnen. Diesen Göttinnen aber vermag man
nicht näherzukommen" 87 . Der Ausgang aus der Geschichte Marcels mit Al-
bertine, ob gefürchtet oder ersehnt, bleibt dergestalt illusionär.
Was die Musik im Salon an Sakralem beschwört, ist Wildnis, in der die
Tabus sich vor dem domestizierten Naturwesen Mensch verstecken. Sie wirft
ihren Schatten über die künstliche Ordnung der Dinge. Das Ende des An-
dantes bedeutet für Marcel die Vertreibung aus dem verwilderten Eden,
worin Süße und Wahn unschuldig nebeneinander wuchsen: „Ich fühlte mich
wahrhaft wie ein Engel, der, aus dem Rausch des Paradieses herausgestürzt,
in die trivialste Wirklichkeit fällt"88. Der Sündenfall ins Realitätsprinzip, ins
Reich der Distinktion und Analyse, endet die ekstatische Erfahrung einer
Unio mystica mit Albertine; für die Dauer der Musik war die Vereinigung
von allen sozialen und psychischen Verstrickungen befreit. Die Musik als
höchste der Künste, als sprachlose Sprache das Nichtanalysierbare schlecht-
hin, steht ein für das Sakrale. Das allzu Irdische, die Erinnerung an Albertine,
haftet mit tiefen Wurzeln im Bewußtsein. Albertine verkörpert das Chaos der
Liebe, das Wuchern der Widersprüche, jenen verwilderten Garten, der durch
keine soziale Logik sich lichten läßt. Proust illustriert das regelwidrige Mo-
ment des Eros nebenbei an Baron de Charlus, der in der Konzertpause öf-
84
Ebd. 3089
85
Ebd. 3090
86
Wartung 459
87
Proust VIII, 2975
88
Ebd. 3096
60
fentlich mit einem Kammerdiener telefoniert, in den er sich verliebt hat; zum
Befremden der Gastgeber möchte er ihn unbedingt bei dieser Soiree dabei
haben. So erzeugt der Eros ständig neue Sakrilege, weil er eifersüchtig nur
auf seinen eigenen Kult bedacht ist. Das Miteinander von Kult und Sakrileg
betreiben auch Mlle. Vinteuil und ihre Freundin mit dem Schöpfer-Vater.
Gerade aus der Tabuverletzung, aus der Bespuckung des Bildes, geht die
aufopfernde Bemühung um das Werk Vinteuils hervor — die Entzifferung
seiner „Hieroglyphen" 89 . Für Marcel aber erfüllt sich der Wunsch, mit Hilfe
der Musik für Momente ins Paradies zurückzukehren. Der in Scharlach ge-
hüllte Engel Mantegnas, wie zum Gericht in die Trompete stoßend, verkün-
det diese Rückkehr in der Vollmacht der Musik. In solcher Glückserfahrung
ist der Sündenfall in die Realität aufgehoben, der Ausgang aus der Ge-
schichte erreicht.
So umfaßt das musikalische Fest, das Marcel in seinem Innern zele-
briert, das Heilige wie das Profane, Banalität wie Ekstase. In der Kunst des
Komponisten Vinteuil, dieses traurigen und korrekten Kleinbürgers, dem
man bei der Maiandacht in Combray begegnen konnte, ereignet sich die
kühnste Annäherung an Seligkeiten, wie sie der Himmel verspricht. Die
„Lichtung", in der jener geschlechtslose Engel erscheint, ist für Proust
identisch mit einem Schlüsselwort der Religion - mit Offenbarung. Offen-
barung aber geschieht in der Zeitlosigkeit; ihr Wesen ist es, Geschichte
auszulöschen. Im amerikanischen Refugium vollendete Max Ernst ein
Gemälde, das er in Frankreich begonnen hatte: Europa nach dem Regen
(1940/42). Der Wirklichkeitserfinder hatte es nach einem neuen Verfahren,
der Abklatschtechnik (decalcomanie) gefertigt, die frappierende Wirkungen
zeigt. Europas Selbstvernichtung durch einen zweiten Weltkrieg provozierte
den Maler zur Vision einer Geschichtskatastrophe, die nur noch kahle,
künstliche Wildnis zurückläßt. Eine je nach Betrachtung verweste, verkohlte
oder versteinerte Landschaft aus stumpfen Braun, mit einer giftgrünen
Skulptur des Verfalls im Zentrum, liegt da wie eine Apokalypse der
„Posthistoire". Europa mit dem Stier, der phantastisch verwittert unter
einem ruinösen Pavillon lagert, daneben ein Vogelmensch mit zerfledderter
Standarte, einzelne Frauen, verloren in Schutthalden oder in Borkenruinen -:
es gibt kein erkennbares Motiv mehr, das diesem Bild einen Sinn gibt. Das
Chaos, sich selber wiederkäuend, wie Jean Paul in einer anderen Unter-
gangsvision — der Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab — einmal schrieb,
ist hier materialisierte Regression geworden.
Die Geschichte des Menschen, so die Botschaft des Bildes, wenn es sie
denn gibt, ist wie ein tödlicher Regen; wo er niederfällt, wachsen Ruinen.
Nach seinem Ende regiert nur noch allmächtige Natur, ungerührt um Leiden
und Trauer der Überlebenden. Max Ernst läßt eine von prometheischem
90
Dazu W.Spies, in: Max Ernst. Retrospektive 1979 (München 1979) 97ff.
91
Dazu W.Spies, in: Max Ernst. Retrospektive zum lOO.Geburtstag (München 1991) 49f.
92
Levi-Strauss, Traurige Tropen 366
62
Mythen, die er auf den Spuren Rousseaus 93 bei den Naturvölkern vorfand,
läßt ihn die Sinnfrage stellen und pessimistisch beantworten.
Der Versuch des Menschen, dem Reich der Natur als dem Reich der
Notwendigkeit sich zu entziehen, um mittels Kultur, und sei sie „primitiv",
sich Nischen der Freiheit zu schaffen, ist so illusionär wie alles Bemühen um
Dauer. Die menschliche Geschichte — wenn es sie gibt — ist mit Blick auf die
Große Natur bloß intermediär: „Die Welt hat ohne den Menschen begonnen
und sie wird ohne ihn enden" 94 . Geschichte heißt für Levi-Strauss Zerstö-
rung, „seit der Entdeckung des Feuers bis zur Erfindung der atomaren Vor-
richtungen" 95 . Kultur - gleichgültig, ob es sich um Gebräuche der brasiliani-
schen Waldindianer oder um Schöpfungen des abendländischen Geistes
handelt — hat Sinn nur für sich selbst; sie wird einzig von denen verstanden,
die sie geschaffen haben. Die Geschichte der vielen Kulturen hat keinen uni-
versalen Sinn, der diese Menschheit überdauern würde.
So gelangt Levi-Strauss zu seiner Version des Jüngsten Gerichts — dem
Chaos, in dem alle Geschichte und Kultur nach dem Naturgesetz der Entro-
pie verschwinden wird: „Statt Anthropologie sollte es Entropologie hei-
ßen" 96 . Damit fällt jede Kultur, die der Wilden und die der Zivilisierten, an
die Natur zurück, der sie letztlich ihre Entstehung verdankt. Das Chaos, das
Levi-Strauss beschwört, trägt alle Merkmale göttlicher Macht, weil es von der
Geschichte erlöst, wenngleich gewaltsam: als das Wilde ist es das Heilige,
mögen auch diese Begriffe für Levi-Strauss leere Metaphysik sein. Und den-
noch mag für ihn, der Wagner liebte und seine eigene Tetralogie der Mytholo-
gica mit Wagners Ring verglich97, die Erinnerung an Götterdämmerung und
Weltbrand in diese Richtung weisen. Die Geschichte der Menschheit und des
Universums sind beide nur Mythologien. Die Natur bleibt am Ende der ein-
zige Sinnhorizont. Für Levi-Strauss stellen sich als eschatologische Chiffren
deshalb Naturbilder ein: der Sonnenuntergang als himmlische Dekoration,
die in der Nacht versinkt, Kultur als Zwittergebilde aus Blüte und Seifenblase
(ein altes Vanitasbild), ausgedehnt und komplex, in tausend Farben schil-
lernd, das sich entfaltet, aufblüht und verlischt98. Mit solcher Intuition
schließt auch das Buch Traurige Tropen ab — mit einer Naturbetrachtung, die
jenseits aller Philosophie und Geschichte menschlicher Sozietäten eine ver-
kappte Meditatio mortis ist. Im Anblick schöner und wilder Natur mag einer
das Heilige streifen, selbst der Agnostiker — wenn es ihm einmal gelingt, aus-
zubrechen aus sinnlos-geschäftigem Tun, um in der seltenen Gnade der
93
Vgl. H.H.Ritter, Claude Levi-Strauss als Leser Rousseaus. Exkurs zu einer Quelle ethno-
logischer Reflexion, in: W.Lepenies/HH.Ritter (Hg), Orte des wilden Denkens. Zur An-
thropologie von C.Levi-Strauss (Frankfurt/M. 1970) 113-159
94
Levi-Strauss, Traurige Tropen 366
95
Ebd. 367
«Ebd.
97
Levi-Strauss, Mythologica IV. 2, 816
98
Ebd.
63
Muße „ein Mineral zu betrachten, das schöner ist als alle menschlichen
Werke, einen Duft einzuatmen im Kelch einer Lilie, weiser als unsere Bü-
cher, mit Geduld, Ernst und gegenseitigem Verzeihen ein Zwiegespräch zu
fuhren mit einer Katze" 99 .
Levi-Strauss, Traurige Tropen 368. Levi-Strauss bezieht sich mit diesem Topos skeptischer
Annäherung an die Natur auf Montaignes Essais II, 12.
3. Kapitel
Natur statt Geschichte. Sakralisierungsprozesse
Hölderlin, Griechenland
Nietzsche, Zarathustra IV
Verklärung der Natur vollzieht sich in dem Maße, da die industrielle Revo-
lution und die entzaubernde Wissenschaft vordringen. Dieser Prozeß ist be-
reits um 1800 belegbar. Auch hier gilt der Satz, daß die Verluste, nicht die
Siege inspirieren. Während Naturwissenschaft, aus Herrschaftsinstinkt früh
mit der Technik verbündet, die Weltbemächtigung planvoll vorantreibt,
strömt das verdrängte Sakrale in die Naturästhetik ein. Selbst der nüchterne
Kant situiert das Erhabene im Bild von Gebirge und Ozean. Mochte Ge-
schichte, in weltbürgerlicher Absicht betrachtet, auch kein Geheimnis haben
- die Weisen von Heraklit bis Goethe schreiben dafür der Natur geheime
Pläne zu. „Natur liebt es sich zu verbergen", lautete das entsprechende
Orakel Heraklits, und „Naturgeheimnis werde nachgestammelt" die resig-
native Einsicht Goethes in der Marienbader Elegie. Philosophisch hatte Spino-
zas Pantheismus, der zur heimlichen Religion des 18. Jahrhunderts avan-
cierte1, der kommenden Naturmythologie den Weg bereitet. Hinzu kam das
Ereignis Rousseau, ohne das selbst Hölderlins Rhein-Hymne nicht denkbar
ist. Das Ende der alten Naturgeschichte ist zeitgleich mit dem Anfang einer
neuen Naturästhetik, wie sie Novalis und Schelling betreiben. „Der Philo-
soph muß eben so viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter" 2 . So de-
klariert es das älteste Systemprogramm des Idealismus, an dessen Formulie-
rung Schelling wichtigen Anteil hatte.
Die Kunst um 1800 interpretiert vor diesem Hintergrund Natur als Of-
fenbarung eines verborgenen Geistes, als Symbol einer verlorengegangenen
Einheit, als neu zu erschließendes Sinnsystem. Dem entspricht Schellings
spekulativer Versuch, Natur und Geist wieder zusammenzuführen. Das
schöpferische Spiel der Gegensätze prägt für ihn alle Naturästhetik: „Um in
1
Dazu A.Schmidt 87f. 92ff.
2
Hölderlin, GSA IV. 1,298
65
die tiefsten Geheimnisse der Natur einzudringen, muß man nicht müde wer-
den, den entgegengesetzten und widerstreitenden äußersten Enden der
Dinge nachzuforschen. (...) Dieses ist das eigentliche und tiefste Geheimnis
der Kunst". So Schelling in seinem Dialog Bruno von 18023. Wo Geheimnis,
da Autonomie. Schon im Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) hatte
Schelling dies festgehalten: „Die Natur ist ihre eigene Gesetzgeberin"4. Der
Autonomiegedanke wahrt die Freiheit der Kunst im Zeitalter der offenbarten
Subjektivität; zugleich aber faßt er Natur als göttlichen, sich selbst bestim-
menden Geist. Diese Aura von Autonomie und Geheimnis liegt auch über
den Landschaften des Zeitgenossen Caspar David Friedrich. Erinnerung ans
Paradies und den Naturzustand vor dem Sündenfall spielt da herein; doch
bei Friedrich lockt das Heilige, indem es sich entzieht. Sein Fichtendickicht (um
1828), eine winterliche Naturstudie von intensiver Monotonie, verdeutlicht
das Verschwinden der Geschichte nicht weniger als die berühmten Kirchen-
ruinen im Eichwald. Vor diesem strengen und sperrigen Muster, das Chaos
und Ordnung vereint, scheitert der bloß analytische Blick. Hier gilt Divina-
tion, wie sie Novalis vom Künsder forderte. Der Maler läßt sich hineinziehen
in ein erstarrtes und schlafendes Chaos, worin sich das Schöpfungsgeheimnis
verbirgt. Als mythologische Pointe kommt hinzu, daß die Fichte, so heimisch
sie wirkt, dem fremden Gott Dionysos geweiht ist; das Wintergrün steht für
den Herrn des Rausches. So berühren sich in dieser Kunst die Extreme. Das
Bild, geheimnisvoll, weil autonom, zeigt im Partiellen eines Naturmotivs den
Blick in das „große heilige Buch der Natur" (Novalis).
Bei Friedrich wird Natur zum Andachtsbild und Landschaft zur Reprä-
sentantin des Deus absconditus. Das der empirischen Wirklichkeit roman-
tisch entfremdete Ich versenkt sich in diese Ikonen. Gesteigert wird das
Naturerleben durch Einsamkeitsgefühle. Wie keiner seiner Zeitgenossen hat
C D . Friedrich Pathos und Passion der Einsamkeit als parareligiöse Momente
gestaltet. Sein Mönch am Meer ist der verzweifelte Versuch der Selbstbe-
behauptung angesichts einer wie zum Gericht erscheinenden Natur. Das
Bemühen um Sakralisierung hat L.Földenyi, bei allem Literarischen an Fried-
richs Malerei, in seiner notwendigen Doppelbewegung erkannt: Erwählung
und Verwerfung liegen hier nahe beieinander. „Der Mönch am Strand ist
Verführer und Verführter in einem: Der Allmächtige hat ihn bezaubert und
dann sich selbst überlassen, und jetzt ist er dazu verdammt, mit falschen
Verheißungen selbst zum Verführer zu werden. (...) In dem Mönch am ver-
lassenen Strand könnnen wir ohne weiteres auch einen gefallenen Engel se-
hen" 5 . Friedrich sucht den Effekt des Erhabenen. Der heroischen Leere der
3
F.W.J. Schelling, Sämtliche Werke IV (Stuttgart - Augsburg 1859/60) 327
Dazu Mittelstraß 168ff.
« Schelling, Sämtliche Werke II (1858/59) 17
5
Földenyi 41
66
6
Entstanden um 1823 (Kunsthalle Hamburg)
7
Földenyi 25f. Vgl.Unverfehrt 37ff. zum Streit um das Kreuz im Gebirge, den Tetschener Altar.
67
gung des Auges und der Seele. Sie erschöpft sich vor der Sphinx Natur, die
keine Rätsel mehr weiß, so daß der Künsder neue und eigene schaffen muß.
„Deswegen wirken Friedrichs Bilder so überlastet, während sie dennoch zu-
gleich ein Verlustgefühl verbreiten"8. Die Paradoxie bleibt bestehen: je inten-
siver der Maler das Geheimnis der Natur zu fassen sucht, ihre verborgene
Ordnung, von der er sich Heil verspricht, desto stärker der Sog der Subjekti-
vität, der sich der Landschaft bemächtigt. Ihr Bild wird autonom, von tra-
dierten Lesarten gereinigt. Friedrich verleiht ihm stattdessen die Würde eines
verlassenen Tempels. Die Faszination durch das Chaos, das unter der Decke
der Landschaften schlummert, manchmal sich leise regt, gibt den Gemälden
ihre verzweifelte Ruhe; doch liegt Disparates darin, Kierkegaards Krankheit
zum Tode. Friedrichs Melancholie, ohne die er nicht schöpferisch wäre, ist
unstillbares Heimweh nach dem Unendlichen. Seine Sehnsucht häuft Gipfel
zu Rätseln und huldigt den Wolken, als wohnte drinnen ein Gott.
8
Földenyi 91
9
Novalis, Die Lehrlinge zu Sais (Schriften I, 99)
10
Ebd. 84
" Ebd. 107
68
Dann sucht' ich die höchsten Berge mir auf und ihre Lüfte, und wie
ein Adler, dem der blutige Fitrig geheilt ist, regte mein Geist sich im
Freien, und dehnt', als wäre sie sein, über die sichtbare Welt sich aus;
wunderbar! es war mir oft, als läuterten sich und schmelzten die
Dinge der Erde, wie Gold, in meinem Feuer zusammen, und ein
Göttliches würde aus ihnen und mir...14
Der feurige Blick, der die Welt gleichsam zum Schmelzen bringt, ist ein ek-
statischer; in ihm erlischt die Subjekt-Objekt-Spaltung. Die neue Religion, in
der Mensch und Natur sich versöhnen, wird eine ästhetische sein. Hölderlin
rekonstruiert sie aus Elementen des Erhabenen, die er dynamisiert, um das
Spiel göttlicher Kräfte an einer Weidandschaft zu zeigen. Hier waltet poeti-
scher Polytheismus; Natur ist voller Götter, die zeugen und zerstören und
verwandeln. Nicht zufällig wird (wie am Schluß des Hyperion) das heilig-wilde
Feuer Heraklits beschworen, das die Menschendinge, den Traum, die Täu-
schung, überhaupt die Historia profana verzehrt. Am Ausgang eines Jahr-
hunderts der Aufklärung, das in Revolution und Chaos mündete, träumt Hy-
perion vom Ende der Geschichte. Sein Credo kreist um das archaische Bild
des Lebensbaumes, der Eden und Hesperien vereint: „Es fallen die Men-
schen, wie faule Früchte von dir, o laß sie untergehn, so kehren sie zu deiner
Wurzel wieder, und ich, o Baum des Lebens, daß ich wieder grüne mit dir
12
Hölderlin, Hypenon II, 2 (GSA III, 133)
1J
HypenonI,2(GSAIII,90)
** Ebd. 64
69
und deine Gipfel umatme mit all deinen knospenden Zweigen!"15 In solcher
Ekstase der Natur tritt Hyperion aus der Geschichte heraus.
Die Profangeschichte, die um 1800 all ihre katastrophischen Kräfte ent-
band, in einer Ära der Gesinnungsknege, wird für Hölderlin zum Anstoß,
den neuen Äon dichterisch zu evozieren. Die Hymne Friedensfeier (1801/02)
faßt auf der Schwelle zwischen Natur und Geschichte das Kommende als
kosmisches Symposion. Chiliastisches Denken sucht die Geschichte aufzu-
heben, indem es das kommende Gottesreich im Hier und Jetzt zeichenhaft
antizipiert. Die Perspektive in der Friedensfeier ist zweifellos eschatologisch —
doch es ist Endzeit im geistigen, nicht im historischen Sinne. Die Wege die-
ses Denkens waren dem Theologen Hölderlin durch den schwäbischen Pie-
tismus, vor allem durch Oetinger vertraut; die von Ongenes formulierte
Lehre von der Apokatastasis, der Allversöhnung spielt mit herein16. Die
densfeier transformiert, durchaus auf Oetingers Spuren, Heilsgeschichte in
Naturgeschichte. Was in den Elementen wild oder gebändigt sich zeigt, ist
das Wirken der Himmlischen selbst. Analog zur Romantisierung der Welt bei
Novalis entwickelt Hölderlin eine Betrachtungsweise, die das Heilige in den
Mächten und Gewalten der Natur erkennt. Diese Mythologie, die philoso-
phisch sein will, operiert mit dem „Polytheismus der Einbildungskraft"17,
mittels ästhetischer Figurationen: Ideen werden darin zu Gestalten.
Diese Art von symbolischer Repräsentation erscheint gleichzeitig bei
den Frühromantikern, mit polemischer Spitze gegen den Klassizismus, als
Allegorie18. Hölderlins Sakralisierungsversuch schöpft philosophisch aus der
Grundannahme einer Konvergenz von Geist und Natur, wie sie auch Schel-
ling und Hegel vertraten. Dabei weiß Hölderlin um das „Titanische" in der
Geschichte, welches den Himmlischen Widerstand leistet. Um den Gedan-
ken des Zusammenspiels von Äther und Abgrund zu retten, läßt er das
Wilde und Rohe am Wirken des Heiligen teilhaben. Es ist die Heraklitische
Idee der „widerständigen Harmonie", die hier sich geltend macht. Die Dia-
lektik des Hymnischen verklammert eschatologisch, was historisch auseinan-
derstreben will und zwingt es in Gesang. Solcher Wille zur Totalität spricht
von Gewaltsamkeit, und er hat selbst etwas Gewaltsames. Das zeigt sich in
der Sprache als Dunkelheit und Rätsel. Geheimnis und Autonomie wohnen,
wie in den Bildern Friedrichs, beieinander. So das Orakel in der Friedensfeier.
15
Hypenon 11,2 (GSA III, 159)
l6
DazuJ.Schmidt75-105
17
So im ältesten Systemprogramm des Idealismus (GSA IV. 1, 298)
18
Dazu Frank 11
" Hölderlin, Fnedensfeier V. 56 - 58 (Gedichte 340)
70
Wie bei Novalis, der zeitgleich das Projekt einer Sakralisierung der Natur
verfolgt, lebt der Wahn von der Wahrheit20, weist ausdrücklich, „rauh", auf
das Heilige hin. Peripherie und Zentrum fallen bei Hölderlin eschatologisch
ineins: Der heilige Ort, der das Entfernte und Getrennte anzieht, wird zum
Symbol der wiedererneuerten Einheit. Deren Gestalt ist der Friede. Das
ferne Ende ist nicht nur geographisch, sondern auch eschatologisch zu lesen:
Am Ende der Zeit, der Prophetie des Jesaja gemäß, wohnt der Wolf beim
Lamm, der Panther liegt beim Böcklein (Jesaja 11, 6). Diese Vision, in der
Geschichte ein Wahn, wird Wirklichkeit, wenn das Himmlische einbricht in
die Geschichte, sie aufhebt. Das Wilde Hölderlins bezeugt sich als Moment
des Heiligen, sich selbst überschreitend, dorthin wo es geschickt wird.
Auch das Gedicht Die Titanen (1803/05) huldigt der Dialektik des My-
thos, die Sakrales und Wildes zusammenspannt. Der Abgrund, Geist der
Natur vom Grunde her, antwortet so dem Äther:
Das Rätsel, das verborgen ist in der Natur, der hierarchisch geordneten
Werkstatt der Himmlischen, kreist um das Symbolon Delphi — Ort einer
dunklen Wahrheit, die sich am Ende der Zeiten enthüllt, wenn die Titanen
gebunden werden: „Dann mögen sie rechnen/ Mit Delphi" 22. Der Säkulari-
sierung der Geschichte, die seit der Aufklärung einem von Menschen ent-
worfenen Plan unterstellt wird, setzt Hölderlin die Heiligsprechung der Na-
tur entgegen — freilich in einem ästhetischen Sinne. Diese Transformation
kommt nicht ohne Gewaltsamkeit aus. Der Übergang enthält notwendig ein
Element des Chaotischen. Die Titanen, deren berühmtester Prometheus ist,
leisten das Werk der Umgestaltung mit. Die Sprache des Gedichts mischt
Rätsel und Erhellung. Das Heilige Hölderlins ist „Energie", analog zur Be-
grifflichkeit der neuen Naturwissenschaft; im tropologischen Sinne ist es
Tranformation von Gewalt. Das Widerspiel von Herrschaft und Revolte be-
gegnet auch in Hölderlins Bild der Natur. Das Titanische sprengt auseinan-
der, die Himmlischen ordnen, greifen hinab in den Abgrund. So konstituiert
der Text eine heilige Hierarchie. Die Nähe zum naturwissenschaftlichen
Denken der Epoche hat Michel Serres auf verblüffende Weise markiert, mit
seinem Hinweis auf den Physiker Carnot und dessen Transformationstheo-
rie: „Hierarchie und Widerspruch sind zwei isomorphe Darstellungen. Sie
lassen sich gegeneinander vertauschen, ohne daß die Darstellung oder die
Lage sich dadurch veränderte. Zwei Gestalten der Ordnung, die miteinander
im Streit zu liegen schienen oder vielmehr: die miteinander im Streit liegen,
weil sie unter ihren gegensätzlichen Masken in Wirklichkeit Zwillinge sind"23.
Im Gewand der Naturwissenschaft versteckt sich ein antagonistischer My-
thos, dessen Geheimnis die Einheit der Gegensätze ist. Serres betont mit
Recht das Element des Kampfes, welches zum Denkmodell der Neuzeit
wurde. Hölderlin, weniger militant, spricht poetisch vom „liebenden
Streit"24. Seine Natur, in „Wolken" und „Wurzeln" hierarchisch und doch
synergeüsch geordnet, bereitet den Weg für den kommenden Gott.
In den Titanen erwächst dessen Advent aus der Wildnis. Ihr rebellisches
Wuchern, aus den bewußtlosen Wurzeln, fordert das himmlische Feuer her-
aus. Das Wilde ist das Andere der Vernunft, es zu erkennen, Aufgabe des
Dichters. So definieren Herrschaft und Anarchie einander. Hölderlins Götter
sind mit Gewitter bekleidet, wirken in der Kraft der Elemente. Solche My-
thologie der Vernunft, philosophisch von Heraklit und Empedokles gespeist,
ist Hölderlins Antwort auf die beginnende Mechanisierung der Welt, auf
prometheische Technik und industrielle Verwertung der Natur. Hölderlin
möchte heraus aus dem Maschinenstaat, aus der Maschinengeschichte. Das
Heilige, zu Energie geworden, hat seine Epiphanie einzig noch in der Wild-
nis. Der Hymniker ist kein Geschichtsphilosoph; er faßt sein Dichteramt
eschatologisch auf. Gerade die Parusie-Erwartung, ästhetisch aufgefaßt,
bringt ihn dazu, die Verheißung des Heils in der Natur zu erkennen:
Hölderlin sieht, daß der christliche Gott durch die Vernunftreligion zu einem
Gegenstand der Religionsgeschichte, ja selbst historisiert wird - ein Gefan-
gener der Zeit. Seine bestimmte Unbestimmtheit in der Namengebung ist
daher poetisches Kalkül: das Göttliche wird naturalisiert. „Daß der späte
Hölderlin die Eigennamen der Götter meidet, hat zum Grund, daß er sie aus
den Religionssystemen in die Konkretheit ihrer Existenz in der Natur heim-
zuholen, in ihrem gleichen Ursprung aus der Natur zu erweisen trachtet"26.
Deshalb möchte er Gott aus einem deistisch passiven zu einem dynamischen
machen; denn um Gott zu bleiben, muß er der Künftige werden. Deshalb
Dionysos, aus Indien kommend - in Rausch und Pathos, in Feuer und
Sturm. All dies sind Chiffern heiliger Gewalt. Der Ursprung des Heiligen
aber bleibt ein Rätsel.
23
Serres 53
24
Hölderlin, Heimkunft V. 6 (Gedichte 291)
25
Hölderlin, Griechenland III (Gedichte 421)
26
Szondi 79
72
Seit der Aufklärung gilt ethisch und ästhetisch das Ideal der Natürlichkeit.
Das prägt auch Verhaltens- und Interaktionsmuster 27 . Im Wahrnehmen und
Handeln erscheint der Mensch abhängig von Natur, von ihren Kräften und
den Erfahrungen, die er mit ihnen macht. So schreibt Novalis in den
gen %u Sair. „Den Inbegriff dessen, was uns rührt, nennt man die Natur, und
also steht die Natur in einer unmittelbaren Beziehung auf die Gliedmaßen
unseres Körpers, die wir Sinne nennen. Unbekannte und geheimnisvolle Be-
ziehungen unseres Körpers lassen unbekannte und geheimnisvolle Verhält-
nisse der Natur vermuten, und so ist die Natur jene wunderbare Gemein-
schaft, in die unser Körper uns einführt"28. Mensch und Natur bilden einen
Sinnzusammenhang. Gerade das Erlebnis des Erhabenen, festgemacht an
malerischer Wildnis, an Ozean und Alpen, am Ausbruch der Elemente, ent-
läßt sensible Geister aus sozialen Anpassungszwängen wie aus historischen
Denkmustern. Goethes Werther erfährt um sich und in sich elementare Na-
tur als eine Revolution des Gefühls, die an das Heilige rührt: „Vom unzu-
gänglichen Gebirge über die Einöde, die kein Fuß betrat, bis ans Ende des
unbekannten Ozeans weht der Geist des Ewigschaffenden und freut sich je-
des Staubes, der ihn vernimmt und lebt"29. Die bürgerliche Kultur seit 1770
lebt psychisch in einer gesteigerten Spannung, in einer diffusen Sehnsucht
nach dem Anderen der Vernunft30. Im jungen Anton Reiser weckt eine
Feuersbrunst, bei allem Erschrecken, geheime Katastrophenphantasien. Die-
ser Wunsch entstand „aus einer dunklen Ahndung von großen Veränderun-
gen, Auswanderungen und Revolutionen, wo alle Dinge eine ganz andere
Gestalt bekommen und die bisherige Einförmigkeit aufhören würde" 31 .
Diese Wahrnehmung, 1785 in einem psychologischen Roman vorgetragen,
erfüllt alle Anforderungen der Prophetie; sie legt zugleich die anarchischen
Wurzeln des bürgerlichen Gefühlshaushaltes bloß. Es mag wie planvolle
Selbstkur erscheinen, wenn K.Ph.Moritz in Rom, als Freund Goethes wie als
Ästhetiker, sich zum entschiedenen Klassizisten diszipliniert.
So weckt gerade das Erlebnis der erhabenen Natur, ihr Wildes, utopi-
sche Sehnsucht nach Veränderung. Als Gegenbild zur Verrottung histori-
scher Institutionen, zur Sinnerschöpfung auch der Religion, nimmt Natur
Züge des Heiligen an. An dieser reinen Flamme sich entzündend, sucht
Phantasie nach Ausgängen aus der Geschichte — schwankend zwischen Ent-
"NitschkeSölf.
28
Novalis I, 97
29
Goethe HA 6, 52
50
Vgl. Nitschke 280f.
31
K.Ph.Montz, Anton Reiser (Leipzig 1960) 27
73
Dieser Ton war einmal revolutionär. Transformiert doch das Maifest, aus
dem Umkreis der Sesenheimer Lieder (1770/71), eine im Grunde theologi-
sche Ästhetik in einen Lobpreis irdischer Herrlichkeit. Die Attribute „herr-
lich" und „leuchtend", einst Privilegien des Höchsten, streifen noch im
spontanen Ausruf die Majestät eines Gottes. Der Enthusiasmus aber gilt
dem Sichtbar-Schönen. Der Gott ist eingegangen in einen weltumarmenden
Eros, der seinen Adepten begeistert stammeln läßt: „O Erd, o Sonne! O
Glück, o Lust!" Solche Verzückung erlebt das Selbstverständliche, den Früh-
ling eben, als weltliche Liturgie. Natur vertritt den konventionell, weil histo-
risch gewordenen Gott:
Du segnest herrlich
Das frische Feld,
Im Blütendampfe
Die volle Welt.35
Das Ich, das durch Natur sympathetisch die Steigerung eigenen Daseins er-
fährt, fühlt sich zunächst exponiert. Doch solche Exponierung dient auch
32
Hölderlin, Mnemosyne V. 12 - 17 (Gedichte 364)
53
Nitschke 295
34
Goethe HA 1,30
35
Ebd. 31
74
dem Kult des Ich. Selbstbewußt beginnt die zweite Zeile des Mailieds mit
dem „Mir" - als gelte das Frühlingserwachen einzig dem poetischen Subjekt.
Die Sakralisierung dieses großen Einklangs wird dann im Werther vollendet,
wo der Verliebte bekennt, wie ihm die Landschaft rings „das innere, glü-
hende, heilige Leben der Natur eröffnete"36, Verströmungsgefühle hervor-
rief.
Während Herder tendenzbewußt die Aussaat seiner Ideen einer Philosophie
der Geschichte der Menschheit vorbereitet, lauscht Goethe lieber dem Gesang der
Geister über den Wassern, hört auf die Stimmen der Elemente statt der Ge-
schichte vorzuschreiben, was geschehen soll. Goethes Naturvertrauen wider-
steht erfolgreich allen Anfechtungen des aufkeimenden Historismus. Die
Naturgeister im Gedicht von 1779 verkünden ein Orakel, das dem Geist des
Jahrhunderts souverän widerspricht:
Ein probates Mittel, der Abstraktion und Theoriesucht zu entgehen, war für
Goethe die Betrachtung der Natura naturans. In antikischen Versen voll-
brachte er das Kunststück, die Metamorphose der Pflanzen in eine dichteri-
sche Denkfigur zu fassen. Das Studium der Blumen eröffnet ein Farben- und
Namenspiel, das ewige Wiederkehr des Gleichen meint. Zugeeignet der
Aufmerksamkeit der Geliebten, sind sie so flüchtige wie dauerhafte Gaben
des allesdurchwaltenden Eros, geben ein heiliges Rätsel auf.
Die Schrift der Göttin Natur ist verläßlicher als alle Schrift der Geschichte,
die nur menschliches Stückwerk verkündet. So stiftet der Text einen neuen
Bund zwischen Mensch und Natur. Diese Verläßlichkeit sah Goethe ele-
mentar gegeben im Granit, dem ein Fragment von 1784 gewidmet ist. Nicht
das Verfängliche im widrigen Geschwätz, wie Jahrzehnte später die Chine-
sisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten die Zeitgeschichte mit souveräner Geste
abtun, sondern das Fundament selbst, der Urstoff, der auf die Tiefen der
36
Goethe HA 6, 52
37
Goethe HA 1,143
38
Ebd. 200
75
Schöpfung gebaut ist, entzündet die Phantasie des Dichters. Entgegen der
Galanterie und Empfindsamkeit seiner Epoche, in einem Europa, das sich
zur revolutionieren beginnt, feiert Goethe das rauhe Element, preist den
Granit als Inbegriff der Dauer: „Ich fürchte den Vorwurf nicht, daß es ein
Geist des Widerspruches sein müsse, der mich von Betrachtung und Schilde-
rung des menschlichen Herzens, des jüngsten, mannigfaltigsten, beweglich-
sten, veränderlichsten, erschütterlichsten Teiles der Schöpfung zu der Beob-
achtung des ältesten, festesten, tiefsten, unerschütterlichsten Sohnes der
Natur geführt hat"39. Die Hierarchie der Werte, die der kommende Klassiker
aufstellt, ist unübersehbar. Er sucht, was die Geschichte überdauert: den
Thron aus Granit anstatt der Königsthrone, die schon am Wanken sind. Auf
diesem Hochsitz, der an die Urwelt rührt, ohne daß Natur- oder Menschen-
geschichte sich dazwischen drängten, allein mit sich selbst, steigert Goethe
die Gipfelgefühle zur Religion des Erhabenen. Der Granit ist kein Grab, wie
die postdiluvialen Schichten der Erde, sondern der heilige Berg, die Opfer-
stätte, auf der die Seele sich dem Unendlichen hingibt: „Hier auf dem älte-
sten ewigen Altare, der unmittelbar auf die Tiefe der Schöpfung gebaut ist,
bring ich dem Wesen aller Wesen ein Opfer"40. Der Sakralisierungsprozeß
geht wie selbstverständlich einher mit der empirischen Betrachtung; er
nimmt die Phänomene für Metaphern. Goethes Lob des Granit ist ein „Zu-
rück zu den Sachen", die Abkehr von aller Salonästhetik — zugleich ein Aus-
gang aus der Geschichte, hin zur erhabenen Ruhe, zum Granit in der eigenen
Seele.
Am Ende seines Lebens, unter dem aufgehenden Vollmond von Dorn-
burg, nimmt Goethe entschlossen Abschied von aller Erlebnisgeschichte,
mag sie sich selbst in der Suleika des Divan verkörpern. „Schlägt mein Herz
auch schmerzlich schneller,/ Überselig ist die Nacht" 41 . An solchem Ab-
schiedswillen bricht sich die Woge der Erinnerung. Zur wahren Erlöserin
wird die entschleiernd sich verhüllende Natur. Die lunaren Wonnen dieser
Göttin Nacht, dargeboten in einem ewigen Augenblick, übersteigen Marian-
nes irdische Seligkeit, die noch der Ordnung der Zeit angehört. Das Licht
dieser Einsicht löscht mit der Geschichte auch jenes Begehren, das sich nach
Flammentod sehnte. Die Nacht, gesteigert zur „überseligen", begräbt in ih-
rem Mondlicht die bloß selige Sehnsucht, zu der sich Goethe im Divan be-
kannt hatte: „So hinan denn! hell und heller,/ Reiner Bahn, in voller
Pracht!"42 In diesen Versen feiert sich der Ausstieg aus der Subjektgeschichte
in jene erleuchtete Leere, die fast zur gleichen Zeit Franz Schubert im
Schlußlied der Schönen Müllerin so weltschmerzlich vertonte: „Und der Him-
mel dort oben, wie ist er so weit". Was bei Schubert zur ästhetischen Ver-
59
Goethe, Granit, in: Münchner Ausgabe Bd. 11,2 (1987) 504f.
40
Ebd. 505f.
41
Goethe HA 1,391
« Ebd.
76
zweiflung wird, gerät dem Überlebenskünsder Goethe zur Weisheit der Aus-
löschung, höher als alle Vernunft. In seine Mondnacht glänzt das Nirwana
herein. Auf dieser letzten Stufe des Erhabenen hebt die Natur selbst sich auf.
Das Erhabene ist noch ein Schlüsselbegriff für den Bewunderer Goethes,
den Willensverächter Schopenhauer. Sein Ideal der philosophischen Land-
schaft kommt freilich nicht aus ohne Mythisierung der Natur; im Zeitalter
des Industrialismus war dies nur noch ästhetisch möglich. Der Misanthrop
und Denker der Willensüberwindung braucht dazu eine „sehr einsame Ge-
gend, mit unbeschränktem Horizont, unter völlig wolkenlosem Himmel,
Bäume und Pflanzen in ganz unbewegter Luft, keine Tiere, keine Menschen,
keine bewegten Gewässer, die tiefste Stille"43. Eine Nietzsche-Landschaft,
mit klassischen Elementen angereichert, nicht ganz ohne Ossian zu denken,
damit der romantische Weltfeind den Ennui vergißt. Schopenhauer denkt
sich mehrere Szenarios aus, um anhand von Natursymbolik das Drama des
Willens und die Distanz des schauenden Subjektes darzustellen. „Lassen wir
nun aber eine solche Gegend auch der Pflanzen entblößt sein und nur nackte
Felsen zeigen; so wird, durch die gänzliche Abwesenheit des zu unserer Sub-
sistenz nötigen Organischen, der Wille schon geradezu geängstigt: die Öde
gewinnt einen furchtbaren Charakter; unsere Stimmung wird mehr tragisch:
die Erhebung zum reinen Erkennen geschieht mit entschiedenerem Losrei-
ßen vom Interesse des Willens"44. Diese nordische Klippen- und Felsbühne
nimmt Wagnersche Szenarios vorweg. Von Geschichte ist keine Rede; sie ist
ausgetilgt mit all ihren unreinen Implikationen. Schopenhauer erfaßt sein Er-
habenes in malerischen Bildern; so als bedürfte noch die Überwindung des
Willens des schönen Scheines, der sie illustriert. Dabei reproduziert er deut-
lich die Pathosformeln bürgerlicher Kunst des 18. Jahrhunderts, wofür Jo-
seph Vernets berühmter Seesturm (1777, Musee Calvet, Avignon) steht. Mit
Lukrezischem Gleichmut wird der Aufruhr der Elemente erlebt, der äußere
Sturm der inneren Ruhe verglichen, etwa, „wenn wir am weiten, im Sturm
empörten Meere stehen: häuserhohe Wellen steigen und sinken, gewaltsam
gegen schroffe Uferklippen geschlagen, spritzen sie den Schaum hoch in die
Luft, der Sturm heult, das Meer brüllt, Blitze aus schwarzen Wolken zucken
und Donnerschläge übertönen Sturm und Meer"45. Diese Regieanweisung
romantischer Naturdramatik suggeriert einen Schauplatz, der Byrons und
Schumanns Manfred oder Wagners Holländer würdig wäre. Mitten im Fort-
schrittsfieber der maschinen- und manu fakturbegeisterten Bourgeoisie hält
der Prophet des Pessimismus an den Würdezeichen der großen Natur fest.
43
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, 289f.
44
Ebd. 290
45
Ebd. 291
77
Doch was ihn im tiefsten bewegt, ist die Duplizität des Bewußtseins: an Ge-
schichte gebunden, von Raum und Zeit bestimmt, hinfällig, hilflos, ein
ephemeres Wesen, „ein verschwindendes Nichts, ungeheuren Mächten ge-
genüber"; und zugleich das ewige ruhige Subjekt des Erkennens, der Natur
unendlich überlegen, deren Kampf nur seine Vorstellung ist. In solcher Du-
plizität sieht Schopenhauer den Gipfel des Erhabenen. Das herrscherliche
aufgeklärte Ich aber weiß nicht, auf welch zerbrechlichen Mythologien es
thront.
Die Frühromantik, die Nachtseite an der Natur entdeckend, hatte das
Heilig-Wilde und Chaotische als authentisches Spiel einer in ständigem Wer-
den begriffenen Welt erfaßt. Das überlieferte physikotheologische Deutungs-
system war damit für immer gesprengt. Zugleich löst Natur seit 1800 eine
besondere Fremdheits er fahrung aus - vergleichbar jener fundamentalen
Verwunderung, die den Entdeckern des lö.Jahrhunderts widerfuhr46. Ihr
Anarchisches erhält nun auch ästhetisch neue Qualität: es ist die Schönheit
des Chaotischen, Vitalen, ja Brutalen. Auf dieser Linie finden sich noch
Rimbaud und Nietzsche. Zum herrschenden Gedanken aber wurde nach
1859, nach dem Erscheinen von The Origin of Species, ein neuer Ordnungs-
entwurf von Natur. Das „Zauberwort Entwicklung"47, mit Darwin den Sie-
geszug antretend, ist die große Beruhigungs-, ja Verklärungsformel. Was die
Historie der Zivilisation mit ihren viertausend Jahren nicht mehr zu leisten
vermag, leistet nun Biologie. Die Theorie einer Evolution des Lebendigen
wird zur Lehrmeisterin des 19.Jahrhunderts. Auch dies war ein Schlag gegen
die Geschichtsphilosophie. Dazu brauchte Darwins „Entwicklung", diese
anonyme Göttin, nur eines: sehr viel Zeit. „Sie ist das letzte, vielleicht wich-
tigste Mittel, um die Welt der organischen Natur ins Panorama zu bringen"48.
Denn Jahrmillionen sind nötig, um alle Lücken zu füllen, durch zahllose
Übergänge eine Kontinuität und damit ein Ganzes herzustellen. In der Idee
der natürlichen Zuchtwahl lag ein Art von weltlicher Theodizee, freilich er-
schreckend einfach: sie gab dem Kampf ums Dasein einen Sinn49. Der
christliche Schöpfungsbegriff sah sich auf diese Weise naturalisiert.
Der Glaube an Evolution versachlicht das Befremden, angesichts der
wilden und grausamen Aspekte der Natur. Er wirkt als Sedativ, durch beru-
higenden Hinweis auf Entwicklungsstadien. Darwin, der Erklärer einer bis-
her unverstandenen Natur, war der ideale Therapeut für die historisch aufge-
störte Bourgeoisie des 19Jahrhunderts. Nicht Revolution, sondern stetiger
Gang der Entwicklung - so hieß seine Botschaft. Auch die Evolutionstheo-
rie war eine „Kolonisierung des Wunderbaren" 50 , indem sie das Wahrneh-
46
Dazu Greenblatt 27ff.
47
Vgl. Sternberger 87ff.
18
Ebd. 93
49
Ebd. 89
50
Greenblatt 42
78
51
Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen I (KSA 1,196)
52
Nietzsche, Götzendämmerung. Streifzüge eines Unzeitgemäßen 14 (KSA 6, 120f.)
» Nietzsche, Morgenröte § 423 (KSA 3, 259f.)
79
zen von Sexualität und Tod konstituieren sich die menschlichen Subjekte.
Der Übermensch Nietzsches ist eine Kopfgeburt, dem schmerzenden Haupt
des Philosophen entsprungen, so wie der Zarathustra ein symbolistischer
Freskenzyklus ist. Nietzsches Blick, der unter seinesgleichen immer fremder
wird, träumt seinen Übermenschen in die Natur hinein.
Das Hineinlesen einer ethisch-ästhetischen Ordnung ins Verwirrspiel
der Phänomene hatte mit Hingabe Adalbert Stifter betrieben. Mitten im
Wiener Biedermeier, das bürgerliche Geselligkeit zur Lebenskunst zu stilisie-
ren wußte, überkommt seine Figuren ein „Gefühl der tiefsten Einsamkeit"
vor der Naturfassade. Der tote See aus der Erzählung Der Hochwald (1841) ist
Auge und Abgrund zugleich - Abgrund an Resignation vor der Geschichte:
54
Softer 1,167
80
55
Stifter II, 704
s« Hofmann 313
81
schöner Schein. Monet huldigt mittels der Farbe der fließenden Welt, dem
Spiel der Fruchtbarkeit in Wasser und Vegetation, das in den Nympheas einen
Sinnhorizont aufblühen laßt, der nur noch das Drama des Lichtes, doch
keine Geschichte mehr kennt. Der Besucher des Musee de l'Orangerie in Pa
ris tritt, wie Werner Hofmann schreibt, „in einen vegetabilen, feuchten Welt
zusammenhang ein, der im wahrsten Sinne des Wortes unauflösbar und rät
selhaft ist"57. Monets späte Variante des Seerosenthemas (Neue Pinakothek,
München), 1921 vollendet, nach einem Krieg, der das alte Europa zerstört
hatte, macht Natur ein letztes Mal zur Ikone. Ihr Anblick heilt den Betrach
ter von aller Geschichte; denn Geschichte ist das Unreine schlechthin. Im
Wasserspiegel schwimmt Mallarmes Azur; die Seerosen treiben als grüne
Wolken auf diesem Gegenhimmel; drei rosige Blüten, Reflexe dreier Sonnen,
verabschieden okzidentale Rationalität. Dennoch: das Bild hängt da wie eine
Altartafel. Es verkündet die Subtilität, das Geheimnis, die Würde einer unbe
kannten Gottheit. Die Farben sprechen ein Augenglück heilig; für Monet
sind sie die Garantie einer Welt.
Im Zeichen des Orpheus, der die Wildnis zähmte und bis in das Totenreich
vordrang, hat nach dem Ersten Weltkrieg Rilke seine Verklärung der Natur
betrieben. Er war damit besonders erfolgreich durch seine ganz persönliche
Diktion, und weil er empfindliche Punkte seiner Epoche traf: das wachsende
Unbehagen in der Kultur, die Furcht vor der Mechanisierung des Lebens, die
Sorge angesichts totalitärer Technik. Rilkes Sonette an Orpheus (1922) sind
scheinbar unpolitisch, doch transportieren sie auf ihre Weise Kritik der Zivi
lisation. Ihr Programm ist Abkehr von der Gewaltgeschichte, an der Rilke so
sehr gelitten hat. Dieser Orpheus, eine sakrale Figur jenseits der etablierten
Religion, der sanfte Verwandler, steht gegen Krieg und Todesindustrie: Aus
druck einer fast pazifistischen Mystik, geschichtsfern konzipiert, verkündet er
als erster den Frieden mit der Natur. Im Raum universaler Verwandlung ist
er Garant unzerstörbaren Lebens. „Geh in der Verwandlung aus und ein"
heißt es am Schluß des Zyklus, und weiterhin mit deutlich parareligiöser
Wendung: „Was ist deine leidendste Erfahrung?/ Ist dir Trinken bitter,
werde Wein"58. Hier zeigt sich Rilke als Vorläufer einer (immerhin denkba
ren) ökologischen Religiosität, wobei das Stichwort „Verwandlung" zeitge
mäß mit „universaler Kreislauf übersetzbar wäre. Natur als letztes Sinn
system gewinnt bei Rilke jene Autonomie zurück, die sie in der Antike besaß.
Aus poetischem Instinkt wie aus Kalkül hat sich der Autor die Haltung des
Welterstaunens bewahrt. Über die Rätsel glitt Rilke hinweg. Das Staunen war
57
Ebd. 314
58
Rilke, Sonette an Orpheus II, 29 (Gedichte 1,770)
82
Der Text findet zu sich nach dem Gesetz der Abkehr von aller Weltbe-
drängnis. Daß diese mehr als bloße Stimmung ist, zeigt das Entstehungsda-
tum: Paris im Juni 1914, wenige Wochen vor der Jahrhundertkrise. Die Spra-
che, vegetativ geschmeidig wie Rankenwerk, umspinnt ein Ruhe- und Rück-
zugsbedürfnis, worin das Subjekt sich der Natur wie einem Sanktuarium an-
vertraut. Gesucht wird unversehrtes Dasein; das profane Draußen zeigt sich
als Feindliches. Dieser Naturraum wird zum Innenraum der Psyche; in ihm
ist Passivität als „Spiegelung" zugelassen. Das hat weniger mit Idyllik als
vielmehr mit Therapie zu tun. Die Abkehr ist erkämpft, man ahnt die Stig-
men; sie spiegeln sich noch in der „verhaltenen Verdüsterung", von der die
Verse sprechen. Der Text strebt einer Lichtung zu, wo nicht das schwere
Wissen, sondern die leichte Meinung zählt. Es ist ein Ritus der Selbstberuhi-
8ü n g:
59
Ebd. 771
60
Rilke (Gedichte II, 79f.)
83
Seiner Gewohnheit nach mit einem Buch auf- und abgehend, war er
darauf gekommen, sich in die etwa schulterhohe Gabelung eines
strauchartigen Baumes zu lehnen, und sofort fühlte er sich in dieser
Haltung so angenehm unterstützt und so reichlich eingeruht, daß er
so, ohne zu lesen, völlig eingelassen in die Natur, in einem beinah un-
bewußten Anschaun verweilte. Nach und nach erwachte seine Auf-
merksamkeit über einem niegekannten Gefühl: es war, als ob aus dem
Innern des Baumes fast unmerkliche Schwingungen in ihn über-
gingen. (...) Er meinte nie von leiseren Bewegungen erfüllt worden zu
sein, sein Körper wurde gewissermaßen wie eine Seele behandelt.65
65
Rilke, Werke VI (Frankfurt/M. 1966) 1036
<* Ebd. 1037
67
Rilke (Gedichte I, 770)
85
tungswelten" ist68, dann sind die Sonette intentional religiös - weil sie die
Metamorphosen des Diesseits zu heiligen trachten. Deshalb die Rühmung,
die Tod und Leben symbiotisch sieht. Rilke steht für eine Mentalität des 20.
Jahrhunderts, die Religion nur noch in naturalen Metaphern denken kann.
Das ist im Grund ein Erbe des Monismus, der Weltanschauung der Gebil-
deten um 1900, angereichert mit Motiven der Lebensmystik Nietzsches.
Rilkes dem Christentum entlehnte Botschaft von Leiden und Verwand-
lung — mit dem Symbolon Wein verknüpft — führt zu einer ethisch begrün-
deten Transformationslehre: „Ist dir Trinken bitter, werde Wein". In solcher
Umkehr der Werte erfolgt die Konfrontation mit dem Heiligen; sie ist ein
Experiment der Selbstpreisgabe, das vom „Übermaß" lebt. Der Ausgang aus
der Geschichte geschieht nicht aktiv durch ein Wollen, sondern durch ein
Geschehenlassen. Am „Kreuzweg der Sinne" tauschen die Elemente ihre
Eigenschaften aus. Das Stille beginnt zu sprechen, das Starre zu fließen, das
Vergehen mündet in ein Wort, das Bleibe zusagt: „Zu dem raschen Wasser
sprich: Ich bin". Wie auch immer verkürzt, ist das „Ich bin" die Kontrafak-
tur zur Selbstoffenbarung des biblischen Gottes. Rilke macht daraus die
Selbstoffenbarung des neuzeitlichen Menschen im Medium seiner hiesigen
Natur. Dieses Ich-bin, erlebt als reine Präsenz, ist Aufhebung aller Ge-
schichte. Angesichts der Erosion von Sinn geht Rilkes Tendenz zu einer
Ontologie des Wortes: „Gesang ist Dasein" 69 . Poesie stiftet Sein, indem sie
es ins Wort, ins Unsichtbare hebt. An entscheidender Stelle der Neunten
Duineser Elegie steht die Naturanrufung:
Unsichtbar ist der im Lichte und in der Wahrheit wohnende Gott der Bibel.
Das Unsichtbare, so Paulus, steht höher als das Sichtbare, wie der Glaube
höher steht als das Gesetz. Bei Rilke nimmt das Erstehen der Erde im Men-
schen die Auferstehungsidee aus der gewohnten Transzendenz heraus, ver-
legt sie in irdisches Dasein; von daher die Zustimmung zur Metamorphose
des Todes. Ins Unsichtbarwerden hinein geschieht Entweltlichung der Welt
- für Rilke der einzige Weg, sie vor dem Zugriff der Maschinen zu bewah-
ren. Die unsichtbare Erde entzieht sich der planetarischen Technik ins
Schwebende. Sie flieht die Herrschaft dessen, was Heidegger später als das
68
Burkert 35
69
Rilke, Sonette an Orpheus I, 3 (Gedichte I, 732)
70
Ebd 720
86
„Gestell" beschreiben wird. Der Mythos einer geistgewordenen Erde ist Ril-
kes poetischer Rückzug aus einer mechanisierten, die Dinge wie die Empfin-
dungen vernutzenden Geschichte. Gerade die Heiligung des Todes rettet den
Entwurf vor der Vereinnahmung durch die Agenten der Sinnindustrie. Die
Liebeserklärung des Dichters an die Erde gilt einer Mater Tellus.
Zur Sakralisierung der Natur gehört das Zurückdrängen des Ich, das
sich seit Konstituierung der Neuzeit in die Mitte von allem gestellt hat. Rilke
ersetzt in dem Gedicht Die Frucht (Muzot, Januar 1924), Stilleben Cezannes
vor Augen, das lyrische Ich durch das mythische Es: „Das stieg zu ihr aus
Erde, stieg und stieg"71. Nicht mehr das betrachtende Subjekt prägt das Ge-
dicht, sondern ein Es, archaisches Gefäß des Sinns. Rilke nimmt hier den
herrschenden Gedanken der Moderne, die Subjektwerdung, zurück. Das Es
wird Chiffer der Natur und ihrer Triebkraft. Im Rund der Frucht zeigt sich
ein Ganzes, das vor aller Spaltung in „res extensae" und „res cogitans"
besteht; die vollkommene Form verweist auf Parmenides statt auf Descartes.
Das Seiende, zu Gast in einem Ding, begnügt sich zu sein. Das nennt der
Dichter Verzicht. Sich selbst genügend im Konkav der Schale, der
Schwerkraft und der Vergänglichkeit folgend, ist die Frucht weit mehr als
bloße Sache: als gereifte, gepflückte bezeugt sie ein Leben im Tode. Ihr
Ruhen in der Schale ist zugleich Fall in den Mittelpunkt. Wie in Kleists
Reflexion über den Tanz der Marionette offenbart sich in Rilkes Gedicht die
Sehnsucht nach dem Schwerpunkt; wie in der Marionette regiert dieser im
Innern der Frucht. So bringt das Verlangen nach einem Leben im Tode eine
Sinnbewegung hervor, die Ruhe und Fall vereint:
„Es" ist die Sehnsucht, kein Schicksal mehr haben zu müssen, sich ganz dem
Naturgesetz der Schwerkraft hinzugeben. Ja Rilke dichtet in das Prunken
dieser Frucht etwas wie einen Sündenfall hinein, um ebenso dichterisch Er-
lösung erscheinen zu lassen. Erst der gelungene Vers schafft Versöhnung.
Solche Poetik richtet sich gegen die Entzauberung der Welt, also gegen
eine bestimmte Dynamik neuzeitlicher Geschichte, die bewirkt, daß das
Heraklitische Feuer nur noch in Dampfkesseln brennt, um immer größere
Hämmer zu heben: „Wir aber nehmen an Kraft ab, wie Schwimmer" 73 . Rilke
versucht Weltheiligung durchs Wort. Die Wahrheit des Unsichtbaren, des
Abwesenden erinnert an die negative Poetik Mallarmes. Das Benennen, Be-
71
Rilke, Gedichte II, 148
™ Ebd. 149
73
Rilke, Sonette an Orpheus I, 24 (Gedichte I, 746)
87
singen wird nun zum orphischen Akt, der die Natur bezähmt statt sie zu
unterwerfen. Ein mythologisches Vorbild, das bei Rilke noch als verdrängtes
wirkt, ist Adam, der die Tiere im Paradies benannte. Sie mußten stille halten:
„Doch selbst in der Verschweigung/ ging neuer Anfang, Wink und Wand-
lung vor" 74 . Dies Stillehalten vor Adam-Orpheus ist nicht List oder Angst,
sondern Hören:
Die Stille als leergehaltene Stelle. Der Tempel ist beides: ausgesparte und ge-
steigerte Natur, Arkanum, unsichtbar. Er schließt als heiliger Ort auch die
Geschichte als Profanum aus. Baum und Tempel, das Gewachsene und das
Erbaute, Natur und Kultur erhellen einander wechselseitig: aus der Verzwei-
gung der Baumes geht poetisch „Verschweigung" hervor. Das Lied des Or-
pheus ist selbst der Tempel, zu dem die gezähmte Natur sich erbaut.
Rilkes Kunstliturgie ist das Rühmen. Sein Orpheus ist ein zum Rühmen
bestellter, dessen Herz die „vergängliche Kelter eines den Menschen unend-
lichen Weins" 76 . Der Überstieg vom Sterblichen zum Göttlichen, im dionysi-
schen Sinnbild des Weines erfaßt, wird zur Grundregel eines mythopoeü-
schen Sprachspiels. Eine gedichtete Mysterienreligion soll das Vanitaserleben
des modernen Menschen — „Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen" hieß es
in der in der Zweiten Elegie — im Rühmungsritus überwinden helfen. Was Rilke
mit Mysterium verbindet, nähert antikem Verständnis sich an: „Mysterien
sind eine Form 'persönlicher Religion', die eine private Entscheidung voraus-
setzt und durch Beziehung zum Göttlichen eine Art von 'Erlösung' sucht"77.
Grundfigur dieses Rilkeschen Mysteriums ist das Opfer. Das irdische Wort
wird dargebracht einer unsterblichen, weil zyklisch sich erneuernden Natur.
Auch das Gedicht, das sich in Orpheus inkarniert, ist eingeweiht in seine
Sterblichkeit und seine Auferstehung: „O wie er schwinden muß, daß ihrs
begrifft"78. Orpheus ist ein „Engel", der aushält im Sterblichen und „weit in
die Türen der Toten/ Schalen mit rühmlichen Früchten hält"79. Diese My-
thologie, wie ihre Vorläuferin bei Hölderlin und Schlegel, ist eine Mythologie
74
Rilke, Sonette an Orpheus I, 1 (Gedichte I, 731)
75
Ebd.
76
Rilke, Gedichte I, 735
"Burkert 19
78
Rilke, Sonette an Orpheus I, 5 (Gedichte I, 734)
79
Rilke, Sonette an Orpheus I, 7 (Gedichte I, 735)
88
der Vernunft: Rilkes Engel, der bei Klee und Walter Benjamin seine Ge-
fährten hat, ist Statthalter keiner Offenbarungsreligion, sondern Garant der
zur Verwandlung berufenen Menschennatur.
Die Sonette an Orpheus überholen schon das Klagepathos und den hohen
Stil der Elegien, sind heiter und lyrisch. Orpheus als Gegen-Christus wird
zum verkörperten Gesang, zur „vox mundi", dessen Haupt noch im Tode
nicht aufhört zu singen. Rilkes Naturmythos tritt an die Stelle der konven-
tionellen Religion, durchaus als Kunstreligion. Dem entspricht eine Neigung
zur Spiritualisierung, die sich selbst der Verflüchtigung aussetzt. Das reim-
lose Spätgedicht Mausoleum (Muzot, Oktober 1924) macht das Windinnere,
also das Flüchtigste zum Denkmal, zum Dichterherz — entgegengesetzt dem
Königsherz, das als Repräsentant einer hierarchisch gedachten Geschichte
noch des Mausoleums bedarf. Nur das Lächeln der „Lieblingin", einer
Schwester von Hölderlins „Fremdlingin", auf die zögernde Rundung heiterer
Früchte gelegt, ist leicht wie ein Florflügel80. Das Leichte und Schwebende,
an die Ränder der Anwesenheit sich Bewegende, erhält ontologischen Rang.
Rilkes Lyrik aus den Walliser Jahren atmet das, was Heidegger später
Gelassenheit nennen wird. Jenseits des expressionistisch aufgeregten Zeit-
tons herrscht hier der Einklang des Subjekts mit der Natur, ein Wissen um
Metamorphosen, das im Lobpreis des Irdischen pagane Züge zeigt. Eine
neue Naturmystik, agnostisch, doch erotisch überhaucht, entdeckt die im-
manente Zärtlichkeit der Landschaft.
Ein liebkosender Bück erwidert den Eros der Natur, bringt ein verstecktes
Verlangen ans Licht. Rilke begnügt sich mit der Maske des Begehrens, das
Aufgedeckte bleibt unberührt. Das Ungenaue, nur in Grau Skizzierte wird
zur Qualität, die Leere zu einem Raum, in dem sich der mystische Aufstieg
ereignet - in einem kahlen Baum. Die Aisthesis, befreit von den Zwängen
der Metaphysik, von den Riten der Sinnsuche, nimmt im Sichtbaren das Un-
sichtbare an. Der Baum steigt auf in das Unendliche; die Leere deckt Heiliges
zu.
80
Rilke (Gedichte II, 500f)
81
Rilke, Vorfrühling. Muzot 1924 (Gedichte II, 158)
89
Anders als Rilke, der Dichter des Weltinnenraumes, wendet sich Yves
Bonnefoy der konkreten, sichtbaren Welt zu. Nicht umsonst trägt eine Folge
früher Gedichte den Titel Anti-Platon (1947). Bonnefoy, der Mathematik und
Philosophie studiert hat und Mitte der vierziger Jahre den Surrealisten nahe-
stand, lehrte seit 1981 am College de France, wo er sich mit poetologischen
Studien befaßte. Die Nähe zu Philosophie und Ästhetik (Bonnefoy hat auch
über die Kunst Italiens gearbeitet) ist ablesbar an einer Dichtung, die sich gut
ontologisch als Betrachtung des Kosmos, als „theoria" verstehen läßt. Ein
Ausgangspunkt Bonnefoys war Rimbaud, dessen „dereglement des sens" die
Voraussetzungen schuf, um jenseits der Konventionen nach einem Ort des
Wahren zu suchen. Zerstören, um Neues aufzubauen, war die Maxime des
Autors der Gestern regierenden Wüste (Hier regnant desert):
Natur im antiken Verständnis von „sacer" das implizit Heilige84, zugleich das
Theater unendlicher Verwandlung, ständig verwundet und ständig wieder
heilend - so wie es Rilke in den Sonetten an Orpheus als Mysterium beschrieb:
„Immer wieder von uns abgerissen,/ ist der Gott die Stelle, welche heilt"85.
Daß die Wiedergewinnung des Heiligen, auch unter dem Aspekt der Mater
Tellus, ein Jahrhundertthema ist, hat Bonnefoy ausdrücklich formuliert:
einem Innen wird, nicht zu fassen, ein göttliches Spiel, zugleich das natür-
lichste - reine und schöne Präsenz, „nun aufgerichtet auf einem Stein"90.
Das Heilige zwar existiert, doch so, daß es sich ständig entzieht. Bonnefoy
zeigt es an der Geschichte von den Kuppelmalern, die in einem Dorf die
Kirche renovieren und mit ihr auch die Heiligen - und nicht bloß die Figu-
ren, sondern die Heiligen selbst, am Ende sogar die Jungfrau, deren Bild sich
wunderbar belebt:
Und weil das junge Mädchen der Statue, das mit uns malte oder be-
malt worden war, wer wußte da noch Bescheid, die Ewige Jungfrau
mit dem Stern auf der Stirne, nach Hause wollte und aufgeschürzt mit
bloßen Beinen die Leiter herabrutschte, und durch den Vorraum hin-
ausging, eine blaue Farbe, die ins Malvenfarbige der Abendhügel
spielte. Jetzt floh sie, sie schrie. Und unter uns war da einer, dann und
wann, der hinterdrein lief, hin zu ihr; und mit einem großen Schwung
dann warf sie sich ins dichte Gras, die Knie gegen das Kinn hinaufge-
bogen, mit geschlossenen Augen, ganz still mit einem Mal.91
90
Bonnefoy, Rue Traversiere 47
91
Ebd. 21
92
Bonnefoy, Was noch im Dunkel blieb 212f.
93
Ebd. 214
92
dem Irrtum, den die Geschichtsphilosophie in die Welt setzte: daß sich der
Mensch selbst erschaffen kann. Auch der Künsder schafft nicht Symbole,
sondern macht transparent, was wir Wirklichkeit nennen, um eine „zweite
Erde" in unser Bewußtsein zu rufen. Obschon konfessionell nicht mehr
gebunden, ist Bonnefoy als Dichter ein „homo religiosus", der die Natur auf
Chiffern des Absoluten hin liest. Dieses Tun entspricht der Grundbedeutung
von „religio", die im Lateinischen sich von „relegere" (wiederlesen, wieder
sammeln, wieder aufgreifen) ableitet. Als „religiosus" ist der Dichter jemand,
der gewissenhaft die Zeichen liest, den Text der Natur zu entziffern sucht;
dieser Text, von der Ordnung des Seienden handelnd, ist heilig. Auf
Bonnefoy trifft zu, was Emil Benveniste als Kennzeichen von „religio" im
antiken Verständnis beschrieb: „Es verweist auf eine innere Haltung und
nicht auf eine objektive Eigenschaft bestimmter Dinge oder einen Komplex
von Glaubenshaltungen und Praktiken. Die römische religio ist ursprünglich
im wesentlichen subjektiv"94. Im Ritus der Dichtung deckt Bonnefoy an
dem, was sich in Natur zeigt, Epiphanien auf - so im Gedicht auf einen Sala-
mander:
Was hier aufscheint, ist schwer zu benennen. Das Universum kommt uns
nah, doch bleibt es stumm. Es ist wie zu Beginn der Moderne, als Hölderlin
das Anrennen gegen die Grenzen der Sprache erfuhr: „Schweigen müssen
wir oft; es fehlen heilige Namen" 96 . Dies Defizit hatte auch Mallarme gespürt
und daraus ein Konzept absoluter Dichtung gemacht. Bonnefoy selbst sieht
sich genötigt, das Zufallsphänomen des Salamanders in eine Betrachtung der
Ordnung des Seins zu verwandeln, um Wirklichkeit, damit das eigene Dasein
vom Zufall zu erlösen. Das Heilige versteckt sich im Bilde einer stummen
Kreatur. Im Herzschlag des Salamanders, der durch das Feuer geht, erkennt
der Dichter, was die Welt im Innersten zusammenhält. Der Augenblick, da
die Echse sich totstellt und an der Erde festhält, ist eine winzige Ewigkeit.
Und diese Ewigkeit schweigt. Das Mystische, wie Wittgenstein erfuhr, ist un-
94
Benveniste 511
95
Bonnefoy, Poemes 111. Dazu Hamburger 314ff. sowie Bonnefoys Selbstkommentar in
Das Unwahrscheinliche oder die Kunst (München 1994) 179ff.
96
Hölderlin, Heimkunft V. 101 (Gedichte 295)
93
aussprechlich. Deutlich ist, daß aus der Grenze eine Schwelle wurde, und daß
dieses Tier teilhat am Sein der Gestirne, durch seine Schwere, seine Körper-
haftigkeit. Es repräsentiert eine Ordnung des Kosmos, die dem Betrachter
sich mitteilt, ja ihm zu leben erlaubt. Das Gedicht, weit entfernt, nur Mo-
mentaufnahme zu sein, evoziert Anwesenheit des Seins, den „Körper des
Untrennbaren" 97 .
Ausgeschlossen von dieser Ordnung bleibt freilich die Geschichte. Sie
ist Last, weil Besitz, Anhäufung von etwas Abgelebtem; ihr gilt es zu entsa-
gen. Dieser Verzicht ist das „Salz, das in der Retorte der Schrift die Trans-
mutationen erlaubt"98. Zu verzichten ist auch auf die gesellschaftliche Rolle
des Gedichts: „litterature engagee", noch in ihrer surrealistischen Variante,
verdunkelt statt daß sie erhellt. Denn Politik ist stets imaginär, eine Chimäre,
die ablenkt von der Erfahrung des Einen, beherrscht vom Rechthabenwollen
der Wörter, von Konzepten der Macht, von Begriffen, die ihre Benutzer nur
gefangennehmen. Die Geschichte kennt keinen wahren Ort. Auch die Tech-
nik stellt in den Augen des Dichters nichts als Objekte her. Während Rilke in
den Sonetten an Orpheus noch gegen das Maschinenwesen schrieb, findet sich
davon bei Bonnefoy keine Spur mehr - weil inzwischen alles Maschinenwe-
sen ist. Das Gedicht muß den sterilen Raum des Antagonismus und der Po-
lemik verlassen und sich, allein mit dem Leser, auf Suche nach dem Heiligen
begeben. Bonnefoy spürt ihm in einer Natur nach, die er - aller Entzaube-
rung durch Wissenschaft zum Trotz - ungescheut sakralisiert. Seine besten
Texte sind mythopoetisch. Ein Beispiel dafür ist das kurze Prosastück Die
Götter aus dem Band Rue Traversiere (1977):
Wir waren auf der höchsten Terrasse, mit den Bauarbeitern gegen
Ende eines Herbstnachmittags. Und plötzlich stieg 'das' herauf aus
der Schlucht und stob vorüber, wie gerufen von Aufgang - Trauben
zuckender Flügel und schattenhafter, durchscheinender Körper, die
zu Tausenden und Abertausenden inmitten anderer Trauben dahin
wirbelten ... Welch ein Schweigen dann, bis die Nacht hereinbrach!
Die Maurer hatten ihre Arbeit beendigt, kein Vogel sang, kein Insekt
schnarrte noch, wir sahen diese großen Wirbel sich blähen, deren
einige so dicht waren, daß sie die Sonne verfinsterten.
Und manchmal stürzte einer dieser Reisenden auf die Brüstung oder
unsere noch hellen Ärmel; und wir sagten uns, daß sein Herz schlug,
und es freute uns, daß sein altes ausgearbeitetes Gesicht glänzte im
Winzigen, unter dreifacher Krone.99
97
Bonnefoy, Das Unwahrscheinliche oder die Kunst (München 1994) 181
98
Interview mit J.Naughton, in: Bonnefoy, Was noch im Dunkel blieb 223
99
Bonnefoy, Rue Traversiere 48
94
Der Text, der von Heuschrecken handelt, die plötzlich einfallen, in Schwär-
men so dicht, daß sie die Sonne verfinstern, meint Apokalyptisches - ob
mehr als Verheißung oder als Bedrohung, bleibt hier offen. Entscheidend,
daß Sakrales in dieses Sprachspiel unerwartet, ja gewaltsam einbricht.
Bonnefoy vermeidet jede Mystifikation. Dennoch gerät seine Beschreibung
einer Naturekstase zu einer Epiphanie. Wenn Religion dazu dient, Wirklich-
keit transparent zu machen auf Absolutes hin, dann ist der Text religiös. In
einem nachmetaphysischen Zeitalter kann Heiliges nur noch zitiert werden.
Der Ort, an dem es der Dichter zitiert, ist Natur. Das Göttliche in der Natur,
ihr Verborgenes lichtet sich nur für Momente. Gleichwohl hat Bonnefoy in
diesem Sinnhorizont die erschöpften Konstruktionen der Geschichtsphilo-
sophie nachhaltig diskreditiert - und damit alle Herrschaftstheorien.
Bonnefoy betreibt keine naive Naturverklärung. Das Sakrale wird in der
Begrenztheit (finitude) gestreift, im Zufall, in Rissen und Brüchen des All-
tags, in der Irritation und Bestürzung (desarroi) vor dem Phänomen. Dazu
gehört das Sich-Verbergen des naturalen Eros im Spiel der Verwandlungen:
„jeden Augenblick sehe ich dich geboren werden, Douve, jeden Augenblick
sterben"100. Wie bei Pierre Jean Jouve, dessen Name und Werk zur Erfin-
dung dieser „persona" beigetragen hat, wird das Du zu einer Landschaft aus
Wörtern, von Paradoxien erhellt:
Bonnefoys gotdose Mysuk deckt in der Natur die Gesten des Absoluten auf,
vom nackten harten Sein der Dinge angerührt. Ähnlich, doch weniger
schroff, hatte Rilke im Vorfrühling den Baum der Poesie hinein in die Leere
gestellt. Ersichtlich, daß Bonnefoy hier nicht nach schönen Bildern, sondern
in der Bestürzung nach einer Epiphanie sucht. Doch das Göttliche, auf das
gezeigt wird, ist abwesend. Erst die Hinnahme der Negativitat bereitet den
Boden für das Heilige.
100
Böschenstein - Köhler 365/6: „A chaque instant je te vois naitre, Douve, ä chaque instant
mourir."
101
Bonnefoy, Theätre VII (Böschenstein - Köhler 366/67)
95
Schon im Gedichtband, der Douve gewidmet war 102 , ist der Blitz das
Sprachzeichen für einen Eros v o n dionysischer Intensität, der seinen O r t
v o r ü b e r g e h e n d einnimmt in einem Wort, einem Gott, in einer Frau, in der
N a t u r , ja im Tode:
D a s vergossene Blut signalisiert ein Opfer. Die heilige Handlung wird ausge-
führt v o m Blitz, der wie bei Hölderlin ein Numinoses anzeigt, das mit ar-
chaischer Wildheit sich kundtut. D e r Wink des Göttlichen („numen" von
„nuere", nicken, ein Zeichen geben) wählt sich bezeichnenderweise die
Chiffer belebter u n d souveräner Natur. Aber der Vorgang, inszeniert wie in
einem Theater, ist wahr u n d nicht-wahr zugleich. D e r M o m e n t der Erhellung
ist die Erfahrung einer Destruktion. Dieser Gedichtkreis, in der Nachfolge
v o n Rimbauds „Entregelung der Sinne" wimmelnd v o n Paradoxien,
integriert Natur in ein Theater der Grausamkeit, in ein Ambiente, das
tragisch und rätselhaft wirkt. D e r Geist aber scheut nicht den Tod. Bonnefoy
stellt diesen Gedanken aus Hegels Phänomenologie des Geistes seinem
Gedichtband über Douve voraus. Als heimlicher Apokalyptiker forscht er
nach Ausgängen aus der Geschichte. Dieser T e n o r verstärkt sich im späteren
Werk, etwa in der Suite Dans la leurre du seuil (Im Trug der Schwelle, 1975).
Das Absolute, Garant einer unendlichen Freiheit, blitzt auf in den Zeichen
des Himmels. Dieser Himmel, Mallarmes entzauberter Azur, k o m m t bei
Bonnefoy in einer flüchtig erbückten Pfütze herab:
Das Zerstreute, so Bonnefoy, ist auch das Unteilbare. Das Absolute erweckt
die W o r t e , u n d es verzehrt sie wieder. D e r O r t der Wahrheit kann daher nie
ein historischer sein, sondern allein im poetischen Akt. N u r der flüchtige
102
Bonnefoy, Du mouvement et de l'immobilite de Douve, 1953
103
Bonnefoy, Theätre I (Böschenstein - Köhler 362/63; Poemes 45)
104
Bonnefoy, Poemes 332
96
Anblick im Blitz ist wahre Gegenwart. Das Heilige zerreißt, worin das Nichts
sich kleidet:
Die Furt im Herakliüschen Strom ist Schwelle zwischen dem Hier und Dort,
zwischen Feuer und Wasser, die Gegensätze sind, aus deren Spannung das
Ganze entsteht - als großes Ja zum Sein. Der Blitz Heraklits, der das Weltall
regiert106, gleicht dem, der den Vorhang im Tempel zerreißt; es ist jenes Ge-
wand, unter dem sich das Heilige, bei Bonnefoy „Erde" benannt, nackt zeigt,
mit Früchten des Todes bedeckt. Der Blitz, Repräsentant einer wilden Er-
kenntnis, hat keinen Raum in der Zeit -: er verzehrt die Geschichte, den In-
begriff aller Anhäufung lebloser Dinge, die nur noch Deponie ist. Daß dieser
Blitz das Nein zerreißt, heißt, daß er heilig ist.
Als Gegenmodell zur Kontingenz des Geschichtlichen zieht Bonnefoy
in Texten seit 1980 verstärkt jene Mythen heran, in denen Natur die Szene
für das Erscheinen des Absoluten ist. Wie selbstverständlich wird die bibli-
sche Vorstellung vom Paradies dichterisch reaktiviert, als Inbild eines mit
sich selbst versöhnten Dasein. Die Schöpfungsgeschichte liefert die Bilder
für eine Ontogenese der Dichtung: Das Schweben des Gottes über der
Chaosflut gleicht dem Flug des Raubvogels, der seine Beute sucht107. Ele-
mente wie Feuer und Wasser sind nunmehr Archetypen des Sakralen. Die
Deutung des Todes als Metamorphose rettet die Präsenz des Seins vor dem
Vergeblichkeitswahn. Bonnefoy meidet alles Utopische; die Liebe zum Ele-
mentaren bewahrt ihn davor. Seine Dichtung, anschauungsreich, bewußt ein-
fache Bilder verwendend, weist jeden epigonalen Symbolismus ab. Sie kennt
im strengen Verständnis auch keine Metaphern mehr, weil sie die Phäno-
mene als die Lehre nimmt; dann steckt wie bei Goethe Weltvertrauen.
Bonnefoy ist nicht Metaphoriker, sondern Dichter der Evidenzen. Sinn ist
für ihn stets sinnlich und leibhaftig. Zufälle werden zu Zeichen. Der krumme
Ast, den der Dichter von draußen hereinholte und in das Feuer legte, gleicht
einem Gott der Inder, ernst auf die Liebende blickend, die von ihm wül, daß
105
Ebd. 330; Bonnefoy, Im Trug der Schwelle 135
* Heraklit, Fragment B 64 (Snell 23)
107
Bonnefoy, La oü creuse le vent (Was noch im Dunkel blieb 82/83)
97
sie sein Blitz umhülle - jener, der die Geschichte auslöscht, weil er der Welt
vorausgeht: „la foudre que precede l'univers"108. Bonnefoy gibt der Natur,
die seit Descartes zum Objekt erniedrigt worden war, Schönheit und Würde
zurück. Dabei kommt auch die Chiffer „Gott" ins Spiel. Bonnefoy, der sich
mit Kierkegaard befaßt hat, übersetzt dessen „Sprung", der Sinnbild für den
Akt des Glaubens war, in die Bestürzung vor dem Sein, das göttlicher Wider-
spruch ist, ineins bewegt und unbewegt. Das Heilige als wahre Gegenwart
entdeckt der Dichter in einer Natur, die mit sich selbst nicht identisch ist:
Reiter kommen in großer Eile daher. Von weitem schon rufen sie, daß
Gott sei, er sei erschienen auf dem Strand von ..., wo die Ablagerun-
gen des Salzes und das angeschwemmte Treibholz endlich, für einen
Augenblick, zufällig, das Zeichen - ist dies auch das Wort? ihre Stim-
men gehen durcheinander - gebildet hätten, das bisher in allen Alpha-
beten fehlte, in allen vom Himmel durchlöcherten Ästen und
Zweigen, in allen Wolken, in allen Algenstreifen, die im Schaum der
Wellen glänzen.109
Bei aller Eindrücklichkeit des Benennens ist dieser Text seltsam verschwie-
gen; er läßt die Arkana der Natur unangetastet. Nur durch Lücken der
Wahrnehmung fällt himmlisches Licht auf die Dinge. Den Paradigmen-
wechsel am Ausgang des 20Jahrhunderts - von den Aporien der Fort-
schrittsgeschichte zum Sinnhorizont Natur — hat Bonnefoy als Künsder
längst vollzogen. Wie Nietzsche ist ihm das Sein heilig genug, um auch das
Herbe zu rechtfertigen, gilt ihm das Kind als Inbegriff der Unschuld des Be-
trachtens, als „heiliges Ja-sagen" no . Bonnefoys Schreiben lebt aus dem Glau-
ben, daß im Menschen Natur sich voraus ist, weil dieser in sich selbst ihre
Ekstasen erlebt; daß Natur sich erst im Menschen versteht, der ihre Zeichen
gewissenhaft, wieder und wieder liest. Solche Lektüre ist „religio"; denn die
Göttin Natur selbst ist stumm. Bonnefoys Naturästhetik deutet auf einen
schweigenden Logos.
In Bonnefoys Gedichtbuch Debüt etfin de la neige (Anfang und Ende des
Schnees, 1991) tauchen überraschende Anspielungen auf religiös Tradiertes
auf. Man liest von einer Madonna misercordiae, von Magdalena, die wie die
letzte Schneeflocke aus blauem Himmel ist, von jenem Garten, wo sie dem
Gott begegnet, der sich nicht anrühren läßt und dessen Nein doch Licht ist.
Das Unberührbare ist auch das Absolute - im Sprachspiel erscheinend, im
Traum, im Schneegestöber der Worte: eines noch, und die Welt wäre erlöst.
Und man liest von einem Festgewand aus Schnee, jenem Gewand, das die
Erwählten und Verklärten tragen:
Das Ende der Geschichte kleidet sich in eschatologisches Weiß, das alle Far-
ben austilgt, als wären sie ein Makel. In ihm wird die Natur punfiziert, ihr
Flüchtigstes und Leichtestes, der Schneefall, zu einem Ritus, der mit dem
Tod versöhnt. Bonnefoy will die Natur nicht taufen; seine Aisthesis holt das
Heilige in eine Welt des Widerspruchs herein. Das Heilige hat keinen Ort
„in" der Geschichte, es ist wie bei Kierkegaard „Augenblick", unerklärlich
einfallend in die Zeit, im Blitz des Absoluten. Das Heilige ist Sinnerkenntnis
auf Gipfeln des Zufalls, Freude im Schatten des Todes — unwahrscheinlich,
also unerklärlich. Natur statt Geschichte; dies ist die Hoffnungsformel.
Das letzte Gedicht dieses Bandes, ferne Erinnerung an ein Sonett,
schließt mit dem Gegenbild zu Dantes mystischer Rose: „tanto bianco,/ che
nulla neve a quel termine arriva"112. Bei Bonnefoy ist sie stigmatisiert von der
Geschichte, zertreten. Die Rose des Gedenkens, die in Rilkes berühmter
Grabschrift niemandes Schlaf war unter soviel Lidern, wächst nur noch aus
der Zerstörung auf. Die Katastrophen- und Gewaltgeschichte des
20.Jahrhunderts ist in ihr aufgehoben. Die mit Füßen getretene Form über-
trifft, was die Künsder, die Bonnefoy so verehrt - Alberti, Brunelleschi, San-
gallo, Palladio - in Stein übersetzten. Der Dichter ist bereit, selbst ihrer
Kunst zu entsagen, weil sie noch immer Besitz, Last der Geschichte ist. Das
Häßlichste und Schönste zwingt er in einen Vers zusammen, der Tod und
Auferstehung, Passion und Verklärung in die Evidenz eines Naturbildes faßt.
Der poetische Ritus ergreift das Heilige durch die Entweihung hindurch.
Dieser Vers von klassischer Prägnanz, mystisch auf weltliche Art, ist der
atemberaubende Sprung in ein Mehr-als-die-Welt:
1,1
Bonnefoy, La Parure/Das Festgewand (Was noch im Dunkel blieb 180/81)
112
Dante, Paradiso XXXI, 14f. „Dergleichen Weiß,/ wie nie ein Schnee auf diese Erde fällt'
1,3
Bonnefoy, Was noch im Dunkel blieb 208/09
4. Kapitel
Wildnisse — Von Hölderlin zu Beuys
Für die Neubewertung von Natur im 18. Jahrhundert steht vor allem
Rousseau mit seinem Idealbild des „homme naturel" 1 . Er modelliert die Leit-
figur, um die Gesellschaft des Ancien Regime zu kritisieren: der edle Wilde
kam der Zivilisationsmüdigkeit der fortgeschrittenen westlichen Gesell-
schaften entgegen. Die Erforscher der Südsee im Gefolge Bougainvilles (der
1768 auf seiner Weltumseglung in Tahiti Station machte) sahen die Polyne-
sier schon mit den Augen Rousseaus, der dem gebildeten Europa mit seinem
Discours sur finegalite parmi les hommes (1754) einen folgenreichen Paradigmen-
wechsel verordnet hatte. Bougainville und nach ihm Georg Forster betonten,
je nach ästhetischer Position, in ihren Reisebenchten sowohl das Idyllische
wie das Wild-Romantische der Südseeinseln. Beide glaubten sich in einen
Garten Eden zurückversetzt. Die Paradiesmotivik, die bei den Entdeckern
des galanten Jahrhunderts eng mit Assoziationen aus dem Reich der Venus
gekoppelt ist, hat eine eigene „Ethnographie der Liebe" hervorgebracht 2 . Die
Naturnähe, Anmut und Unbefangenheit der „Wilden" entzückte die Kultur-
kritiker in den Salons Europas.
Mit dem Enthusiasmus stellten sich auch die Begriffe ein. Der Terminus
„Naturvölker" taucht lexikalisch zum ersten Male bei Adelung auf; das
Grimmsche Wörterbuch schreibt diese Schöpfung freilich Herder zu3. „Im
Stande der Natur" — das war für die Kulturphilosophen der Aufklärung ein
animierendes Wunschbild. So schwärmte Georg Forster:
Sie sind alle wohlgestaltet und von so schönem Wuchs, daß Phidias
und Praxiteles manchen zum Modell männlicher Schönheit würden
gewählt haben. (...) In der Lebensart der Tahitier herscht durchgehend
eine glückliche Einförmigkeit. Mit Aufgang der Sonne stehen sie auf,
und eilen sogleich zu Bächen und Quellen, um sich zu waschen und
zu erfrischen. Alsdann arbeiten sie, oder gehen umher, bis die Hitze
1
Dazu Bitterii 236ff, 288ff.
2
Sahlins21ff. 27ff.
3
J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch VII (1889) 469, Art. Naturvölker. Vgl. Herder,
Die älteste Urkunde des Menschengeschlechts I (1774) 83
100
des Tages sie nöthigt, in ihren Hütten, oder in dem Schatten der
Bäume, auszuruhen. (...) Zufrieden mit dieser einfachen Art zu leben,
wissen diese Bewohner eines so glücklichen Climas nichts von Kum-
mer und Sorgen, und sind bei aller ihrer übrigen Unwissenheit glück-
lich zu preisen.4
Zum Nachtisch ergötzte sich das Auge an der vor uns liegenden,
wildnißartigen Landschaft, die Salvator Rosa nicht schöner hätte
mahlen können. Sie war ganz im Geschmack dieses Künstlers und be-
stand aus Felsen, mit Wäldern gekrönt, deren Alter in die Zeiten vor
der Sündfluth hinauf zu reichen schien, und zwischen welche sich al-
lerorten Wasserbäche mit schäumendem Ungestüm herabstürzten.5
Die von Hölderlin sonst pejorativ eingesetzten Zeichen „Irre" und „Irrsal",
zum „irren" aktiviert, erscheinen als Chiffer verführerischen Richtungs- und
4
Forster 598f.
s Ebd. 137
6
Bitterli 388f.
7
Hölderlin, Gedichte 407
101
Selbstverlustes. Hier in der heiligen Wildnis wird das Irren zur Hingabe an
die ungezähmten, doch schöpferischen Mächte chaotischen Ursprungs.
Wildnis begegnet in Hölderlins Spätwerk überhaupt in höchst komplexer
Bedeutung: als „vielesbereitend", als „unbeholfen" und dennoch als „gött-
lichgebaut".
Im Tinian-Gedicht wollen sich die poetischen Splitter zu bukolischen
Miniaturen ordnen; Erinnerung an das angelesene Südseebild durchdringt
sich mit Impressionen heimatlichen Landes. Die Wasser, die es durchirren,
nähren des Dichters Geist wie die Euter der Wölfin die Findlinge römischer
Vorzeit. Das Archaische rührt wie von selbst an das Idyllische: „ausruhend in
Einsamkeit" 8 . Das mag an die Tahitianer erinnern, die bei Georg Forster so
gern sich unter „buschigen Bäumen" ausruhn. Aber Hölderlin schiebt in der
nächsten Zeile sogleich die Palmtagsstauden ein — eine poetische Verbindung
aus den exotischen Gewächsen Tinians und den heimischen Palmzweigen
am Sonntag vor Ostern. Die paradiesische Muße fügt sich als Schlüsselmotiv
in diese Konnotation des Feiertages: „und lustzuwandeln, zeidos". Utopisch
solche Wildnis, worin Versöhnung von Mensch und Natur jenseits aller
Geschichte aufscheint. Doch Hölderlins Gedicht ist selber Wildnis, in der er
Wege bahnt, nach Spuren des Heiligen suchend. Der Dichter-Entdecker
bückt sich nach dem, was die Zivilisation mißachtet und abtut - nach den
poetischen Blumen, „nicht von der Erde gezeugt, von selber/ Aus lockerem
Boden sprossen die,/ Ein Widerstrahl des Tages, nicht ist/ Es ziemend,
diese zu pflücken"9. Die Blumen, vergleichbar den biblischen Lilien des
Feldes, sind Gottesgeschenke, Gaben des Lichts; ihr Ursprung ist aus
Lockerem, nicht Festem; gleichsam von selber wachsend, wildwüchsig also,
keiner menschlichen Kunst sich verdankend, eignet ihnen etwas Heiliges. So
stehen sie „golden" und „unzubereitet" und machen Tinian zur Utopie poe-
tischen Daseins. ,lustwandeln" meint die Bewegung des sich ergehenden
Geistes, die interesseloses Wohlgefallen ist, darin ästhetisch im Kantischen
Sinne. Heilig aber ist diese Wildnis, weil sie die Mächte des Anfangs noch
ungeordnet, in wahrhaft chaotischer Fülle versammelt.
Den Konnex zwischen Wildnis und Kindheit stellt auch der große
Hymnenentwurf An die Madonna (1801/02) her:
8 Ebd.
9
Ebd. 408
10
Ebd. 388
102
Und in der Patmos-Hymne faßt Hölderlin die Gotteskindschaft als Tiefe der
Unschuld: „und bewahren/ In einfältigen Augen, unverwandt/ Abgründe
der Weisheit"13. Die Wildnis, zu der ihn nicht Hellas, sondern die imaginierte
Südsee inspirierte, wird zu einer neuartigen poetologischen und geschichts-
philosophischen Kategorie. Doch schon im ersten Brief an Bohlendorff (im
Dezember 1801) kündigt sich ein Paradigmenwechsel an, der auf sprechende
Weise das Getrennteste — Tahiti und Griechenland - zusammenbringt. Höl-
derlin, dem sein Bekannter Ströhlin eine Hofmeisterstelle in Bordeaux ver-
mittelt hatte, beklagt sich über die mangelnde Resonanz im Vaterland: „Sie
können mich nicht brauchen. Deutsch will und muß ich übrigens bleiben,
und wenn mich die Herzens- und die Nahrungsnot nach Otaheiti triebe"14.
Daß gerade Tahiti als Ort der Verheißung aufscheint, wo Leib und Seele ihr
Genüge finden, ist aussagekräftig. Nicht wemger erhellend aber das poeti-
sche Programm, das die Exotik als Mittel erneuerter Selbsterfahrung, zu-
gleich als Weg nach Hause ansieht — im Durchgang durch die Fremde. Höl-
derlin schließt die erstaunliche Warnung an, „sich die Kunstregeln einzig und
allein von griechischer Vortrefflichkeit zu abstrahieren"15. Die Wende zu
Fremde und Ferne, zum neu zu entdeckenden Ursprung - auf die Gefahr
Die Metapher von Feuer und Brand gilt nicht nur dem göttlichen Element,
sondern ebenso dem schöpferischen Chaos, in dessen Schoß sich Göttliches
entfaltet. Gesang aber „löset den Geist" - und erlöst auch die Wildnis.
Rousseau, dem Hölderlin schon früher eine unvollendete Ode gewidmet
hatte, war vorausgegangen bei dem Versuch, Naturvertrauen als Naturver-
nunft zu etablieren. Nicht umsonst prägt Hölderlin auf ihn die Pathosformel
vom Adler, der den Gewittern vorausfliegt, „weissagend seinen kommenden
Göttern" 23 . Einen zentralen Gedanken der Aufklärung, den einer allesumfas-
senden Friedensordnung, konnte Hölderlin aus Rousseau schöpfen und,
über das Politische hinaus, eschatologisch auf die Versöhnung zwischen
Mensch und Natur übertragen. Waren die Friedensutopien Rousseaus, Kants
und Fichtes zunächst noch pragmatisch-humanitär bestimmt, so fügt ihnen
Hölderlin auf der Schwelle des neuen Jahrhunderts die Vision des Friedens
mit der Natur hinzu. Im Innersten aber ist sie Erwartung des kommenden
Aon, und damit der Vollendung der Geschichte am Abend der Zeit24. Ver-
söhnung meint Aufhebung des Fremden durch Verstehen. Die Ode an
Rousseau hebt dies Moment eigens hervor: „Vernommen hast du sie, ver-
standen die Sprache der Fremdlinge,/ Gedeutet ihre Seele!"25
Der Discours sur l'inegalite (1754) hatte das Ideal des „homme naturel" mit
gesellschaftskritischer Absicht in die neue Wissenschaft der Anthropologie
eingeführt. Man erinnert sich an die begeisterten Sätze, die der so skeptische
Claude Levi-Strauss dem Autor des Discours am Schluß der Traurigen Tropen
widmet: „Rousseau war von allen Philosophen am meisten Ethnograph" 26 .
Und Rousseau war der erste Versuch, jene Sünden zu büßen, die das Europa
der Entdecker und Eroberer an den Wilden begangen hatte. „Der Ethno-
graph stellt das Symbol der Sühne dar" - so Levi-Strauss27. Mag Rousseau im
Naturmenschen mehr ein Denkmodell als eine kulturhistorisch aufweisbare
Figur gesehen haben28 - der „edle Wilde" bewahrt sich die Freiheit der Seele,
weil er nicht von Normen und Konventionen abhängt, sondern der eigenen
Natur folgt. Parteinahme für den Wilden ist Parteinahme für die Natur in
ihm, dem „ersten Freigelassenen der Schöpfung" (Herder). Als „agent libre"
ist er noch ganz bei sich selbst, wie spielende Kinder bewußüos bei sich
22
Hölderlin, Gedichte 390f
23
Ebd. 238
" Vgl. J. Schmidt 78f.
Hölderlin, Gedichte 238
26
Levi-Strauss, Traurige Tropen 360
27
Ebd. 359
28
Dazu Bitterli 282 und J. Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen
(Frankfurt/M. 1993) 434f.
105
selbst sind. Dahinter steht die Erinnerung an den Mythos vom Goldenen
Zeitalter, den das verfeinerte 18. Jahrhundert sich neu instrumentierte - etwa
bei Oetinger, dem Pietisten und Landsmann Hölderlins, in wohldosierter
„Emotionalisierung der Natur" (B. Baczko), im Empfinden der eigenen
Sündhaftigkeit und Entfremdung von ihr. Angesichts einer optimistischen
Geschichtsphilosophie beunruhigte Rousseau „allein schon durch den küh-
nen Einfall, die Geschichte in ihrer letzten und für den gegenwartigen Men-
schen wichtigsten Phase als Fehlentwicklung darzustellen"29.
Rousseau fand seine romantische Wildnis aber auch in jenen regressiven
Träumereien, in denen er promenierend sich der Natur überließ. Im fünften
Spaziergang seines Alterswerkes BJveries d'un promeneur solitaire (1777) erinnert
er sich an das Refugium am Bieler See, eine glückliche, weil selten von Rei-
senden besuchte Gegend: „Sie ist aber anziehend für einsame Denker, die
sich gern in aller Ruhe an den Reizen der Natur berauschen und sich in
einem Schweigen sammeln, das nur vom Schrei der Adler, dem zeitweiligen
Gezwitscher einiger Vögel und dem Rauschen der Bäche, die vom Berge
herabstürzen, unterbrochen wird"30. So sieht Rousseau, der sich häufig ver-
kannt fühlt, die Gabe, mit sich allein zu sein, als Kriterium des wahren Na-
turphilosophen. Die Einsamkeit des Denkers, des „homme naturel" und des
Adlers, der hoch am Himmel seine Kreise zieht, ist eine Selbststilisierung, die
noch bei Schiller und Hölderlin erstaunliche Nachwirkung zeigt. Schiller, in
seiner großen Elegie mit dem Rousseauschen Titel Der Spaziergang (1795),
gibt das Programm der neuen klassizistischen Poetik, die den Antagonismus
zwischen Natur und Kultur in ein schwankendes Gleichgewicht rückt. Aber
auch diese Ästhetik bedarf des Impulses, den die rohe Natur ihr gibt. Ver-
dankt sich doch alle Gestaltung dem Chaos. Schiller inszeniert dies erhabene
Über-dem Abgrund-Schweben im Bilde des Adlers, der kreisend im einsa-
men Luftraum an das Gewölke die Welt knüpft31. Das Auge des Adlers, un-
geblendet vom Sonnenlicht, ist jener Geist, der Ordnung in das verworrene
Muster chaotisch zerklüfteter Wirklichkeit einschreibt; diese Allegorie ver-
bindet antikisches Pathos mit dem Höhenflug modernen Selbstbewußtseins.
Der Adler als Göttervogel und als Götterbote vermittelt zwischen dem
himmlischen Reich der Freiheit und dem irdischen Reich der Notwendigkeit.
An den Adler, so auch Hölderlin, müssen die Dichter sich halten32. In sei-
nem Bild, sakral kodiert, verbinden sich das Wilde und das Freie zur Verkör-
perung des Lebendig-Erhabenen; sein durchdringender Blick repräsentiert
ästhetische Distanz, die ein Stück Herrschaft ist. Die Kraft solcher Bilder
spürte schon Rousseau; Hölderlin operiert mit ihnen im Felde seiner Dich-
tertheologie. Der Adler hat mentalitätsgeschichtlich Epoche gemacht - bis
29
Bitterü 286
30
Rousseau 695
31
Schüler, Der Spaziergang V. 181 f. (SW I, 233)
32
Hölderlin, Wenn aber die Himmlischen V. 60 - 64 (Gedichte 396)
106
hin zu Zarathustras Adler, der mit dem Meister einsam auf hohen Bergen re-
sidiert, ein philosophisches Tier, das den höheren Menschen mit scharfem
Ruf aus dem Schlaf weckt: „Mein Adler ist wach und ehrt gleich mir die
Sonne. Mit Adlers-Klauen greift er nach dem neuen Lichte. Ihr seid meine
rechten Tiere; ich liebe euch"33. Es ist derselbe Adler, den Nietzsche in sei-
nem Lied der Schwermut aus dem Zarathustra, des Starrens in Abgründe müde,
auf Lämmerjagd schickt:
Also
Adlerhaft, pantherhaft
Sind des Dichters Sehnsüchte,
Sind deine Sehnsüchte unter tausend Larven,
Du Narr! Du Dichter!34
Des Mimetischen in dieser Manie war sich Nietzsche bewußt. Nach dem
Tode Gottes und der Wahrheit setzte er die Maske des heiligen Narren auf:
ein Opfer, das sein Herr Dionysos nach langem Zögern annahm.
Schon der Hyperion Hölderlins griff das Erhabene im Bild des Unge-
zähmten auf, verwandelte die Wildnis des ägaischen Gebirges, freilich ins
Ätherische gesteigert, in eine Seelenlandschaft. Entrückungs- und Abgrund-
motiv spielen darin ineinander:
Zur Linken stürzt' und jauchzte, wie ein Riese, der Strom in die Wäl-
der hinab, vom Marmorfelsen, der über mir hing, wo der Adler spielte
mit seinen Jungen, wo die Schneegipfel hinauf in den blauen Aether
glänzten; rechts wälzten Wetterwolken sich her über den Wäldern des
Sipylus; ich fühlte nicht den Sturm, der sie trug, ich fühlte nur ein
Lüftchen in den Locken, aber ihren Donner hört' ich, wie man die
Stimme der Zukunft hört, und ihre Flammen sah ich, wie das ferne
Licht der geahneten Gottheit.35
Im Sturm, den die neue Mythologie entfacht, ereignet sich die Ankunft der
Göttin Natur, eingehüllt in Tropen und Metaphern. Nur so, in Poesie ver-
wandelt, kann sie zur Lehrerin der Menschen werden, wie das älteste Sy-
stemprogramm des Idealismus sie würdigt. In solcher Epiphanie bringt Na-
tur die Geschichte und Philosophie zum Verschwinden: der ästhetische Akt,
Weltschöpfung subsumierend, wird mythopoetisch zum Gewitter, illuminiert
als Feuersturm das Ende der Geschichte. Dieses Gewitter hatte Rousseau
vorhergesagt. An entscheidender Stelle der Rhein-Hymne feiert ihn
Hölderlin als Vorläufer der dionysischen Verkündigung, weil ihm die Gabe
zukam, „zu reden so, daß er aus heiliger Fülle,/ Wie der Weingott, törig
53
Nietzsche, Zarathustra IV: Das Zeichen (KSA 4,406)
34
Nietzsche, Zarathustra IV: Das Lied der Schwermut (KSA 4, 373)
35
Hölderlin, Hyperion 1,1 (GSA III, 21)
107
göttlich/ Und gesetzlos sie, die Sprache der Reinesten gibt"36. Im Ge-
setzlosen, das den Denk- und Verhaltenscodex des Zivilisierten durchbricht,
in seiner Ursprungsnatur sich selber Gesetz ist, steckt als Chiffre und Ver-
heißung das ausgegrenzte Wilde — in Heideggers Rede „das Andere der Spra-
che, die Stille des Dichters, auf irgendeine Weise die Stille des animalischen
Lebens" 37 . Aber die Rhein-Hymne kennt auch die Überlast der Freude und
des Himmels, auf Schultern gehäuft, so daß sie das Wilde im Idyllischen ver-
birgt: „Dann scheint ihm oft das Beste,/ Fast ganz vergessen da,/ Wo der
Strahl nicht brennt,/ Im Schatten des Walds/ Am Bielersee in frischer
Grüne zu sein"38. Das Vergessen, auch das Selbstvergessen gehört so zur
Wildnis; es schattiert allzu gewisse Erkenntnis. Hölderlins Dank gilt einem
Rousseau, der zu den „Söhnen der Erde" gehört und gerade das Element der
Schwere für sein leichtsinniges Jahrhundert wieder entdeckt hat. Noch gegen
Ende der Patmos-Hymne, schon in der vaterländischen Wende zum festen
Buchstaben hin, bekennt sich Hölderlin zu jenem Naturkult, der mit
Rousseau in die abendländische Denkgeschichte kam und die Erinnerung an
lang vergessene Götter weckte: „Wir haben gedienet der Mutter Erd'/ Und
haben jüngst dem Sonnenlichte gedient,/ Unwissend"39. Die Unwissenheit in
Deutung zu verwandeln, ist Aufgabe des Dichters.
Der europäische Kolonialismus hat auf ganz andere Weise als Hölder-
lins Dionysos die Wilden gezähmt und an den Wagen den Tiger gespannt,
gewaltsam „gebietend freudigen Dienst"40. Der Dichter ahnt, daß selbst die
Erinnerung an das Goldene Zeitalter ausgelöscht wird, „seit böser Geist sich
bemächtiget des glücklichen Altertumes, (...) gesangsfeind, klanglos"41. Der
Kinderfreund Hölderlin, den sein Schüler Henry Gontard liebevoll „Holder"
nannte, denkt weniger eurozentrisch als Schiller, der als rigider Kantianer in
seiner Jenaer Vorlesung über Universalgeschichte (1789) noch ganz vom Er-
ziehungsgedanken der Aufklärung durchtränkt ist. Die Entdeckungen der
europäischen Seefahrer zeigen ihm Völkerschaften, die sich zum Zivilisierten
wie Kinder zum Erwachsenen verhalten: „Wie beschämend und traurig aber
ist das Bild, das uns diese Völker von unserer Kindheit geben! und doch ist
es nicht einmal die erste Stufe mehr, auf der wir sie erblicken. Der Mensch
fing noch verächtlicher an"42. Hier spielt Schiller bewußt Kant gegen Rous-
seau aus - wogegen Hölderlin am Naturideal das Einfache, Einfältige mit
Konnotationen ans neutestamentliche Lob kindhafter Unschuld versieht.
Die Heiligkeit des Ursprungs, so Hölderlin, ist in den Kindern und Wilden
16
Hölderlin, Der Rhein V. 144 - 146 (Gedichte 332)
37
Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung 61
38
Hölderlin, Der Rhein V. 159 - 163 (Gedichte 332)
59
Hölderlin, Patmos V. 220 - 222 (Gedichte 356). Dazu J. Schmidt 279
40
Hölderlin, Der Einzige V. 57 (Gedichte 345)
41
Hölderlin, Der Einzige, 2. Fassung V. 72 - 74 (Gedichte 349)
42
Schüler, SW IV, 754
108
bewahrt. Sie sind als Naturgeschöpfe auf ihre Art Zeugen des „glücklichen
Altertumes". Der Kolonialismus der Vernunft jedoch, als praktizierte Ge-
schichtstheorie, bringt diese Kinder zum Schweigen und domestiziert sie,
macht sie zu Opfern einer Ästhetik der Herrschaft, die das Wildwüchsige als
das Barbarische abtut. Die edlen Wilden Rousseaus werden im Jahrhundert
der Evolutionstheorie endgültig zu „Primitiven". Der ethnologische Blick fi-
xiert sie als museale Objekte, auch wenn sie noch leben43.
Rousseau und Herder, Forster und Hölderlin stehen als Kulturkritiker,
Anthropologen, Geschichtsphilosophen, ohne es zu wissen, am Ursprung
der Ethnologie. Die neue Wissenschaft, bürgerlich in ihrem Glauben an
Fortschritt, Entwicklung, Zivilisation, positivistisch systematisierend, verge-
wisserte sich ihrer Kultur angesichts des Fremden und Exotischen. Sie ent-
sprang zunächst dem Interesse an Kulturgeschichte und Kulturvergleich,
verdankte ihre Kriterien jedoch ganz dem Entwicklungsgedanken 44 . Die Be-
zeichnung „Naturvölker" war durch Herder geadelt; die Ursprünglichkeit der
„Primitiven" mußte die Epoche faszinieren, der die Industrialisierung gerade
Arbeitsteilung, Entfremdung von der Natur und Hegels „Entzweiung" be-
scherte. Der Begriff „Ethnologie" ist selbst eine Schöpfung des 18. Jahrhun-
derts. Er taucht — im Bereich von Statistik und Geographie angesiedelt -
zwischen 1775 und 1787 im Umkreis der Universitäten Göttingen und Halle
auf, bei dem Historiker J.Chr. Gatterer und dem Statistiker J.E. Fabri.
Merkwürdig, daß auch die Theologie nach ihm greift. Alexandre Cesar
Chavannes, in Lausanne lehrender, französisch schreibender Landsmann
Rousseaus, pädagogisch bewegt, verwendet den Terminus „Ethnologie" in
seinem Essai sur FEducation intellectuelle (1787) im Rahmen einer
Volkstumswissenschaft45. Der weitere Siegeszug von Historismus und
Evolutionstheorie raubte der Ethnologie bald ihre empirische Naivität; sie
fand Gefallen am geschiehts fernen, naturnahen Dasein exotischer Völker,
bestätigte sich den eigenen Fortschrittsglauben am Gegenmythos der
„primitiven Kulturen" (den Terminus prägte 1871 der Viktorianer Edward
B. Tylor).
Herder mit seinem von Hamann inspirierten Ursprungsdenken hatte
starke Affinität zum Deutungssystem Natur, worin er ein heiliges Buch und
den „Gang Gottes" erkannte 46 . Gerade an Phänomenen der Natur entwik-
kelte er - in Abwehr des drohenden Sinnverlustes angesichts von Zufall und
43
Reiches Material bei Th. Heyer (Hg.), Der geraubte Schatten. Die Photographie als
ethnographisches Dokument (München 1989)
** Dazu W.E. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie (Frankfurt/M.-Bonn ^1968);
K.H.Kohl, Abwehr und Verlangen. Zur Geschichte der Ethnologie (Frankfurt/M. - New
York 1987); W.Marshall (Hrsg.), Klassiker der Kulturanthropologie. Von Montaigne bis
Margaret Mead (München 1990)
« S t a g l 2 0 u n d 124 A. 16
46
Herder XIII, 9 {Ideen ?ur Philosophie der Geschichte, 1784)
109
Zeit - seine Kulturphilosophie 47 . Aus dem Antrieb heraus, in der realen ge-
schichtlichen Existenz des Naturwesens Mensch einen höheren Plan zu ent-
decken, bekämpft er in sich den Zweifel, die Anwandlung von Kontingenz-
verdacht. Herder wehrt sich gegen den Gedanken, „das menschliche Ge-
schlecht nicht als einen Ameishaufen zu betrachten, wo der Fuß eines Stär-
keren, der unförmlicher Weise selbst Ameise ist, Tausende zertritt, Tausende
in ihren klein-großen Unternehmungen zernichtet, ja wo endlich die zwei
größten Tyrannen der Erde, der Zufall und die Zeit, den ganzen Haufen
ohne Spur fortführen"48. Doch er macht diesen Zweifel und Widerspruch
fruchtbar. Die menschliche Sozietät als Ameisenhaufen im Wald -: dieses
Bild borgt seine Intensität aus dem Horror der Aufklärung vor dem Unver-
nünftig-Regellosen, dem Planlos-Wimmelnden; und ist zugleich doch heim-
lich fasziniert vom naturwüchsigen Absolutismus des Ameisenhaufens und
seiner verborgenen Ordnung. Das Bild meint einen Angsttraum von Kon-
tingenz, der den geschichtsphilosophisch gewonnenen Plan bedroht. Für
Herder ist das Wilde der Natur und des Naturmenschen dennoch der Wur-
zelgrund organisch sich entfaltender Kultur. Diesem Veredelungsgedanken
entwächst seine anthropologische These, daß der Mensch dazu geschaffen
ist, nach einer Sinnordnung, nach „patterns of culture" (Ruth Benedict) zu
suchen. Auch die Wilden, deren Lieder Herder in seine Stimmen der Völker
aufnahm, sind darin unsere Brüder „und ihre Geschichte ist die Geschichte
unserer Natur" 49 . Es war Herders Verdienst, dem normativen Denken der
Aufklärung die Individualität von Kulturen nahegebracht, die eurozentrische
Befangenheit überwunden zu haben. „Für die moderne Völkerkunde war
dieser Schritt gleichsam ein Akt der Geburtshilfe" 50 . Die Wiege des Men-
schengeschlechtes verlegt Herder in das paradiesische Klima eines arkadi-
schen Orients an Euphrat und Ganges: Hier situiert er das goldene Zeitalter
der kindischen Menschheit51. Der sich selbst bearbeitende Mensch, bildsam,
weil lernfähig, enthält potentiell auch im Wilden die Anlagen zu jener Huma-
nität, „an der die rohesten Völker Anteil nehmen" 52 . Dieser Gedanke kehrt,
mythopoetisch gewendet, bei Hölderlin wieder: Die Wildnis, die das Titani-
sche symbolisiert, ist „vielesbereitend", ja „heilig"53.
Heilige Wildnis, dichterisch zubereitet, präsentiert auch Coleridge in sei-
nem berühmten Traumfragment Kubla Khan (1798). Das Vorwort verweist
47
Dazu H.D.Rauh, Im Labyrinth der Geschichte. Die Sinnfrage von der Aufklärung
zu Nietzsche (München 1990) 102 ff. Vgl.Berg 61 f. 64
48
Herder XIII, 8
49
Herder XXIII, 19 (Von der Verschtidenheit des Geschmacks und der Denkart unter den
Menschen, 1766)
50
Berg 56
51
Herder V, 481 {Auch eine Philosophie der Geschichte ^r Bildung der Menschheit, 1774)
52
Herder XIII, 62
53
Hölderlin, Die Titanen V. 22 (Gedichte 391)
110
auf den fingierten Ursprung des Gedichts, auf die Lektüre von Purchase's Pil-
grimage, einem Reisebuch des 17. Jahrhunderts, worin das Lustschloß und der
ummauerte Park geschildert werden, die Kubla Khan sich in Zentralasien
anlegte.
M
Coleridge 88. Dt. von H. Hennecke, in: G Britting u.a., Lyrik des Abendlandes
(München 1956) 404f.
55
Coleridge ebd.
56
Dazu Abrams 274ff.
" Abrams 283
111
Monarchen, errichtet sie als Allegorie der Kunst, genauer: der Rhetorik58.
Das Wunderwerk des von Türmen bewachten, ummauerten Parks, zehn
Meilen Fruchdand umschließend, repräsentiert romantische Natur im Mi-
krokosmos - mit seinen Gärten, Bächen und Weihrauchbäumen ist er im
Wortsinn Paradies, gemäß der iranischen Herkunft des Namens, der Tier-
park, Jagdgehege des Königs bedeutet. Der Dichter bereichert dies Szenario
um tiefgrüne Wälder, „alt wie die Hügel", geheimnisvoll und transparent zu-
gleich — „enfolding sunny Spots of greenery". Das Traumreich des einsamen
Herrschers (ein verhülltes Selbstporträt des Dichters) ist Frucht eines poeti-
schen Absolutismus. Als symbolisch arrangierter Raum, als Bühnenbild für
das Erhabene, entspricht es in allem der romantischen Ästhetik, wie sie ge-
rade die englische Landschaftsmalerei im ausgehenden 18. Jahrhundert prak-
tiziert. Coleridge versetzt Rousseaus pittoreskes Helvetien in eine imaginäre
Mongolei. Sein Gedicht versammelt die Topoi alpiner Romantik, wie sie um
1800 in Hochblüte steht: Bergschlucht und Zederndickicht, Sturzbach und
Steingeröll, das Tosen des Bergflusses, das wie ein Herzschlag der Erde ist.
Der Blick in den romantischen Abgrund ist der Blick in den eigenen Traum,
in die Herzkammer der Imagination. Nicht zufällig ruft der innere Abgrund
(abyss) sprachlich im Fortgang des Gedichts die Vision des „abessinischen
Mädchens" (Abyssinian maid) hervor60. Natur und Bewußtsein spiegeln ein-
ander in der Verwandlung von Garten in Wildnis, die doch im Grunde eins
sind. Gerade der Rollentausch verweist auf ihre tiefere Einheit. So inszeniert
58
Dazu Bahn 195
59
Colendge 88. Dt. von H.Hennecke
60
Bahn 192
112
der Dichter in Bildern der Natur ein Psychodrama, worin Eros und Poiesis
die Hauptdarsteller sind. Der wilde, heilig-verzauberte Ort ist auch die
Bühne amourösen Zaubers, wo die irdische Frau sich in den himmlischen
Dämon verliebt. Dieser, ein Wunschbild erotischer Grenzüberschreitung,
wirkt noch kraft seiner Abwesenheit; doch bleibt er in moralischer Bewer-
tung so zweideutig wie Füßlis oder Blakes schöne Athleten — ein wahrer
Traumgeliebter, halb Ariel, halb Inkubus. Wenn die lunare Atmosphäre diese
Frau ins kühle Licht eines künstlich erzeugten Traums entrückt, so tritt im
Szenenwechsel wieder der vitale und ungebändigte Quell zutage. Er ist Alle-
gorie der dichterischen Lust wie des Begehrens. Der Quell, anschwellend
zum heiligen Fluß, zwängt sich durch ungeheure Bruchstücke, die von oben
bloß wie Hagelkörner scheinen (huge fragments vaulted like rebounding hau)
und bringt selbst die Felsen zum Tanzen:
Die Epiphanie des Heiligen durchbricht auch die Ordnung der Zeit. Sie er-
eignet sich einmal für immer. Was sich gewaltsam Bahn bricht, ist die Quelle
der Inspiration, wesensgleich mit der erschaffenden, zerstörenden Natur. Ihr
Werk ist erhaben, auch wenn sie auf ihrem Weg nur Bruchstücke zurückläßt.
Coleridge schildert uns die Geburt der romantischen Dichtung aus dem
Geist des Fragmentismus 62 . Sein Text repräsentiert das Wilde als schöpferi-
sches Prinzip wie als rhetorische Gestalt; die entsprechenden Bilder sind
Ausdruck einer Naturoffenbarung. Ihr Sinn bleibt selbst Fragment, Bruch-
stück eines imaginären Ganzen, das utopisch bleibt, weil es im Text keinen
Ort hat. Das Sich-Entziehen des Sinns, der als heiliger Fluß in das Nacht-
meer verströmt (down to a sunless sea), gehört mit zur Wildnis als ontologi-
scher Kategorie; das Dionysische ist weder verfügbar noch zähmbar.
Der Künsder selbst erschafft — dem Mythos der Genesis und der ro-
mantischen Autonomieästhetik folgend — den heiligen Fluß kraft des Wortes:
jenen Strom, „der in Eden entspringt und den Garten bewässert" (Genesis
2,10). Der Weg des poetischen Flusses macht, daß Geschichte entsteht, laby-
rinthisch gewunden und deutungsbedürftig:
61
Coleridge 88. Dt. von H.Hennecke
62
Dazu Bahn 186ff.
113
63
Coleridge 89. Dt. von H.Hennecke
64
E.S. Shaffer, Kubla Khan and The Fall of Jerusalem: The Mythological School in Biblican
Cnucism and Secular Literature 1770- 1880 (Cambridge 1975) 18ff.
«Cavell 201 ff.
«* Ebd. 207
114
Abora wird im Crtwe Manuscript des Gedichts auch Amora geschrieben; diese
Version ist von Miltons Paradise Lost (TV, 281) inspiriert, wo Amara (die hi-
storische Landschaft Amhara auf dem Hochland von Abessinien) ein
Scheinparadies bezeichnet68. Hier auf dem heiligen Berg empfängt der
Dichter die Vision vom Lustbau Kubla Khans, der Feuer und Eis vereinigt,
ein Gegenparadies der Phantasie:
Nur die Stoffe seh ich getürmt, aus welchen das Leben
Keimet, der rohe Basalt hofft auf die büdende Hand.
Brausend stürzt der Gießbach herab durch die Rinne der Felsen,
Unter den Wurzeln des Baums bncht er entrüstet sich Bahn.
Wild ist es hier und schauerlich öd. Im einsamen Luftraum
Hängt nur der Adler und knüpft an das Gewölke die Welt74.
Das Chaos in der menschlichen Natur, die eben erlebte Revolution aüer
Verhältnisse, mit der Lebensform Stadt kulturphüosophisch verknüpft, treibt
den Dichter auf Rousseaus Spuren in eine Natur, die aüe Regeln von Maß
und Gestaltung durchbricht. Schülers Erweckungserlebnis ereignet sich auf
hohen Bergen, wo roher Basalt auf die Bearbeitung wartet. Das Wüde wird
als Stoff und Stimulans eingebaut in eine Kulturtheorie und Ästhetik, aber
letztlich als ungesellig und antiurban in seine Schranken gewiesen. Dennoch
ist Schüler nicht unempfänglich für solche Grenzgänge; davon zeugen seine
Pathosformeln. Der Meister der Dramatisierung rettet das Erhabene, das
Kant in seiner Kritik der Urteilskraft mit Konnotationen der Wüdnis versah,
im Bude des einsam schwebenden Adlers. Der Chaostraum wird so zum
Antidotum gegen formsprengende Affekte. Geläutert kehrt der Dichter in
die Menschenwelt zurück, vom Geist der Wüdnis selbst in das Regelwerk
Kultur eingeweiht. Daß auch hier Heiliges wirkt, unterschlägt Schüler nicht,
ja bringt es gleichsam auf eine Weiheformel: „Reiner nehm ich mein Leben
von deinem reinen Altare"75.
Die Ambivalenz der Natur als chaotischer Werkstatt kehrt wieder in
Hölderlins Elegie Heimkunft von 1801. Die Alpen büden den heroisch-idylli-
schen Ort poetischer Selbsterfahrung im Medium des Wanderns; der biogra-
phische Hintergrund ist die Rückkehr von Hauptwü, dem komfortablen Exü,
ins heimatliche Nürtingen; deshalb die „Wolke, Freudiges dichtend". Die
große Natur rückt hier in neues Licht: als Garant einer den Menschen stets
74
Schüler, Der Spaziergang V. 173f. 177ff. (SW I, 233)
75
Ebd. V. 189 (SW 1,234)
116
Das Prinzip von Vermischung und Entmischung, Geburt und Tod, Vereini-
gung und Trennung heißt bacchantisch, mithin dionysisch; sakrale Natur ist
auch wild, regelsetzend und regelverletzend zugleich. Mischkrug aller Ele-
mente ist der Abgrund. Doch auch der Widerstreit hat sein Gesetz. (Graphi-
sches Bild der sich kreuzenden und widersprechenden Kräfte, aus denen
Dichtung entsteht, war bei Coleridge das X in Xanadu. Im kreativen Schnitt-
punkt von Chaos und Ordnung hat das Gedicht seinen Ort.) Hölderlins
Landschaft ist im Grund so allegorisch wie die von Coleridge. Als Mikro-
kosmos ist sie ein poetologisches Modell - bis hin zum Ineinanderspiel von
Berg und Luft, Feuer und Wasser. Der Fluß Heraklits kehrt hier als Wildwas-
ser wieder, als Quelle der Inspiration. Hinausstürzend aus dem Gedicht, dy-
namisiert er den Text, schafft mythopoetisch den Grund für das Schreiben,
vereinigt im Spiel die Gegensätze. Der Wasserfall verwandelt sich in Blitze
und bringt die stumme Materie zum Sprechen:
Hier ist Natur das Laboratorium des ästhetischen Geistes, seine Lust- und
Folterkammer, dionysisch sich verausgabende Kraft, in deren Entgren-
zungswillen ein Ausdruckswille steckt, gebunden an elementare Regeln ihrer
Selbsterhaltung. Der Schoß der Wildms selbst gebiert die Kunst. Hölderlins
Natur erwächst aus jener Remythologisierung, die seit Rousseau die Land-
schaft mit Sinn und Gefühl besetzt. Sie ist nicht länger christlich verderbte,
gefallene Schöpfung: das Ich, pantheistisch gestimmt, entdeckt in ihr die
Chiffern eigener Göttlichkeit. Die Sinninstanz Natur entsteht um 1800 in
Konkurrenz mit der Geschichtsphilosophie, die sich als weltliche Religion
des Fortschritts etabliert. Zeitlich zwischen Rousseaus Rhapsodien auf den
„etat naturel" und Hegels Philosophie der Geschichte formuliert Hölderlin
seine Vision heiliger Wildnis un Bild eines utopischen Tinian, das nicht mehr
der Geschichte angehört. Naturästhetik selbst wird zur Epiphanie, mcht
76
Hölderlin, Heimkunft V. 5 - 8 (Gedichte 291)
77
Ebd. V. 15 - 18 (Gedichte 292)
117
mit Gewalt
Des Tages oder
Mit Stimmen erscheint Gott als
Natur von Außen78.
I cannot paint
What then I was. The sounding cataract
Haunted me like a passion: the tall rock,
The mountain, and the deep and gloomy wood,
Their colours and their forms, were then to me
An appeüte: a feeling and a love...
Das Erweckungserlebnis bringt selbst Natur hervor. Das Subjekt liest sein
Verlangen, ein Selbst zu sein, in diese Landschaft hinein. Reflexion wird
ästhetisch, nimmt das Geschaute als Element der Selbstwahrnehmung. Diese
Wahrnehmung bindet sich nicht mehr an Pittoreskes, sie überschreitet die
Grenzen der Malerei (I cannot paint), verzichtet auf Anschaulichkeit zugun-
sten von suggestiven Formeln. Die Differenz zwischen Ich und Natur wird
78
Hölderlin, Der Einzige (3.Fassung) in der Rekonstruktion von F.Beißner (GSA II. 1,163)
79
Ritter 161 f.
80
Dazu Schlaeger 183f.
81
Wordsworth, Tintern Abbey V. 77 - 82 (Schlaeger 187, übs. ebd. 191)
118
anfangs noch mit einem Bild überbrückt, das auch Coleridge als Pathos- und
Sinnträger eingesetzt hat: der Wasserfall, symbolisch die Heimsuchung des
Ich durch Poesie, löst einen Gefühlsschock aus, der bei Wordsworth die Bil-
der eher auslöscht als verstärkt. Unüberhörbar bleibt nur die religiös-eroti-
sche Konnotation; die Schlüsselbegriffe „passion, appetite, feeling, love",
dem Reich der Emotionen entnommen, erhöhen das Ich, das in Natur sich
entgrenzt, beinah zu einem göttlichen Subjekt.
Coleridges Kubla Khan handelte als Fragment von Paradies. Aber im
Fragment liegt schon der Sündenfall. Denn: „die Versuchung Edens ist eine
ausdrückliche Versuchung zur Erkenntnis" 82 . Die Lust auf Erkenntnis kon-
stituiert Menschheits- und Heilsgeschichte; doch sie selbst entzieht sich der
Geschichte. Coleridge wie Hölderlin suchen poetische Ausgänge aus der Ge-
schichte - der eine im Rausch des Gartens Eden, der Milch und Honig
schenkt, Gaben der reinen Natur; der andere im Bild jenes Festmahles, das
die Heimkunft des verlorenen Sohnes krönt. Durch die heilige Wildnis
schimmert Eschatologisches. Bei Coleridge tanzt der Dichter am Ende wie
ein trunkener Schamane:
Das letzte Wort hält fest, warum der Text Fragment bleibt, und doch Erlö-
sung verspricht. Er verstummt mit jener Logik, die später Wittgenstein zum
Ausgang seines Tractatus macht: Wovon man nicht sprechen kann, darüber
muß man schweigen.
82
CaveU212
83
Coleridge 89. Dt. von H.Hennecke
119
Hier unten ist Tabu-Raum. Das Ich scheut sich, die Phänomene näher aus-
sprechen, gar analysieren zu wollen. Benns heilige Wildnis ist Meer, gekop-
pelt mit magischem Blau, Chiffer für Mutterklause, Erinnerung an die Ge-
burt des Lebens aus dem Wasser. Vergessen der Geist, der einst über den
Wassern schwebte; stattdessen läßt sich das Ich willig in die makabre Tiefe
senken, süchtig nach thalassischer Regression, um dort auf Wesen zu stoßen,
die nicht geheuer sind. Der Blick trübt sich vor einem Gewimmel, das den
Sinn verwirrt: ein unterseeisches Laboratorium der Schöpfung, fratzige Kol-
ben, Phiolen — die Studierstube Fausts möbliert von Hieronymus Bosch. Das
Heilige bei Benn beglaubigt sich als als Schock, als Reflexionsverlust, als
Abtauchen zum Grund, wo die Natur, die mütterliche Hexe, all ihre Fratzen
bereithält. Vom Schock spricht der Verzicht, diesen wilden und wüsten Text
zu kommentieren; hier endet die bürgerliche, auf Sinnstiftung und Wert-
schöpfung bedachte Exegese. Benns Blick in den Abgrund erlischt vor dem
trunkenen Chaos. In diesem .Abschluß" liegt ein tödlicher Genuß.
84
Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse § 295 (KSA 5, 239)
85
Vgl. Chr. Türke, Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft
(Frankfurt/M. 1989) 92f.
86
Nietzsche, Der Antichrist § 48 (KSA 6, 226f.)
87
Benn, SW I, 303
120
Mythische Regression, Rückkehr in den Schoß der Natur, worin die Fata
ruhen, war auch die Sehnsucht des in einem piemonteser Dorf geborenen
Cesare Pavese. In Turin, wo er als Lektor tätig war, notierte er 1950, im Jahr
seines Freitodes, als Künsdercredo in sein Tagebuch: „Er taucht wieder in
den mythischen Strudel, in die Formen, die Staunen erwecken, so wie die
Natur, das Leben Staunen erwecken, unerschöpflich" 88 . Das Wilde ist in Pa-
veses Erzählungen der sie grundierende Mythos. Der Kult des Archaischen,
Irrationalen und Animalischen in dem Roman Paesi tuoi korrespondiert jenem
Regionalismus, wie er zwischen den Weltkriegen von europäischen Autoren
wie Giono und Ramuz, in Amerika von Faulkner und Anderson betneben
wurde. Gerade der Intellektuelle Pavese, der die Entwurzelung fürchtet, die
seine angeborene Einsamkeit noch zu verstärken droht, kultiviert eine
„bodenständige", archetypische Literatur. Im Tagebuch, das auf hohem
Niveau Werkstattbericht, Selbstgespräch und Reflexion über das Handwerk
des Lebens ist, formuliert er am 3.6.1943 das Programm seines Schreibens:
„Dein Klassizismus ist ein ländlicher, der leicht frühgeschichtliche
Ethnographie wird"89. Pavese betrieb seit 1933 ausgedehnte religionsge-
schichtliche Lektüre, die Freuds Totem und Tabu ebenso einschloß wie Tho-
mas Manns Joseph und seine Bruder. Hinzukamen C G Jung, K. Kerenyi und
M. Eliade, auch die Studien von Levy-Bruhl über „prälogische Mentalität".
Wie Eliot, Wittgenstein und B. Malinowski inspirierte er sich an den
Arbeiten von James Frazer, die unter dem Titel The Golden Bough (in Anspie-
lung auf ein Motiv der Aeneis) eine Renaissance der Mythologie einleiteten.
Doch die entscheidende Quelle wurde für Pavese die Scien^a Nuova von Vico.
Hier fand er die mythopoetische Deutung römischer Frühgeschichte als
Modell einer vitalen, naturnahen, von Riten lebenden Agrargesellschaft.
Noch die Ruinen Roms, mit den Augen des Pathetikers Piranesi gesehen,
werden für ihn zur Allegorie, zum „objective correlate" (Eliot) menschlichen
Daseins schlechthin: „Mir gefallen die Ruinen von Rom, weil Ödland, weil
Mohn und dürre Dornhecken auf den Hügeln daraus eine Sache der
Kindheit machen — und auch die Geschichte (das alte Rom) und Früh-
geschichte (Vico, das auf dem Damm oder auf der Ackerfurche vergossene
Blut) passen sich dieser Ländlichkeit an, machen daraus eine Welt,
vollständig und zusammenhängend von der Geburt bis zum Tode" 90 . Pavese
will den Rückfall der Geschichte an Natur, will die Reduktion komplexer
Welterfahrung, zu der die Moderne das Subjekt verurteilt, auf symbolische
Urformen, auf „phantastische Unversalien" im Sinne Vicos91.
88
Pavese 293 (10.1.1950)
8
» Ebd. 196
90
Ebd. (3.6.1943)
" Pavese in einem Brief an Fernanda Pivano vom 27.6.1942: „Ja, dachte ich, Mythen,
phantastische Universalien sind nötig, um diese Erfahrung, die mein Ort in der Welt ist,
resdos und unvergeßlich auszudrücken" (Zitat bei Lenzen 30).
121
Das führt ihn in Paesi tuoi (1941) zu einer Panerotik, die in Naturformen
die Manifestationen des Weiblichen aufspürt. „Mit den Augen des Mannes
legt Pavese die Erotik der piemontesischen Landschaftsformen bloß. Wolken
und Hügel sind Zeichen der Frau" 92 . Doch das Verlangen des Mannes bleibt
im Optischen befangen, im Zeichensystem Literatur, es führt nicht zum Er-
lebnis des Körperlich-Haptischen hin, verweigert sich dem vitalen Zugriff.
Der Kopfmensch Pavese richtet den Sinn auf Vorenthaltenes, das magisch
anzieht, weil es sich entzieht. Umso mehr stilisiert er das Wilde des Eros zum
Heiligen — als schroffen, ja gewaltsamen Gegensatz zur Profanität moderner
Lebenswelt. Das Sich-Zeigen des Heiligen, das unerwartet in das Profane
einbricht, hat Mircea Eliade als „Hierophanie" beschrieben 93 . Der Erzähler
Pavese inszeniert es in Paesi tuoi als orgiastischen Rausch von Sexualität und
Gewalt94. Der Inzest zwischen dem Bauernmädchen Gisella und ihrem Bru-
der Talino stellt jene Tabuverletzung dar, aus der im Sinne des tragischen
Mythos die Tötung Gisellas als Opfer- und Sühneakt hervorgeht. Paveses
Panerotik geistert noch durch seinen letzten Roman La luna e il falb (1950),
der Mythos und Zeitgeschichte zu verschmelzen trachtet. Hier wird das
Mädchen Santa - nomen est omen - als Kollaborateurin von Partisanen hin-
gerichtet, ihr Leichnam im Weinberg verbrannt. Dies Brandopfer ver-
schmilzt mit dem ländlichen Ritus des Johannisfeuers (falö), das am längsten
Tag des Jahres entzündet wird95. Das historische Ereignis, Santas Tod, geht
ein in die ewige Wiederkehr heiliger Zeit96. Der Mythos tilgt diesen Tod eines
einzelnen Menschen im Zeichen regenerierter Natur. So kann Pavese den
Weinberg, in dem Santa geopfert wird, als tellurischen Körper beschreiben,
in Wildnis eingebettet, als einen „Leib, der lebt und seinen Atem hat und
seinen Schweiß. Und wieder, als ich umhersah, gedachte ich all der Schöpfe
von Pflanzen und Schilf, all der Büsche und Hänge, (...) Wildnis, die ohne
Nutzen ist und keine Ernte gibt, und doch hat auch sie ihre Schönheit. Hier
hat jeder Weinberg seinen Buschwald; es macht Freude, wenn das Auge
darauf ruht und wenn man weiß, wo die Nester sind. All das, dachte ich, er-
innert irgendwie an Frauen" 97 .
Schlüsselmotive solcher Mythisierung sind rituelle Gewalt, Kindheit und
Ganzheitserfahrung — eine Trias, die Pavese immer wieder reflexiv umkreist,
weil sie ein Faszinosum darstellen, das diesen Kopfmenschen, der Leben
stets nur vermittelt erfährt, in seinen Bann schlägt. So interessieren ihn hei-
lige Orte, er träumt sich auf dem Lande in die antiken Epiphanien hinein,
stellt sich die Wiese, den Wald, die Grotte, die Lichtung als Szenen des
92
Lenzen 28
Eliade 8f.
94
Dazu Lenzen 28f.178f.
95
Pavesejunger Mond (Frankfurt/M. 1979) 188
96
Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund: Eliade 40ff. 47f.
97
Pavese, Junger Mond 58
122
Mythos vor: „Hier, auf der Grenze zwischen Himmel und Baumstamm,
konnte der Gott hervorkommen" 98 . In der Tradition der Romantik knüpft
Pavese an Erlebnismuster der Kindheit an, weniger psychologisch als
archetypisch denkend, sich nach dem „Symbol-Schauer" sehnend: „Hier
sieht man wieder, wie die Rückkehr zur Kindheit dazu hilft, den Durst nach
Mythos zu stillen"99. Mit entwaffnender Offenheit benennt Pavese als das
eigentliche Motiv seines Schreibens (für ihn wie für Kafka letztlich identisch
mit Leben) das tiefe Bedürfnis nach Mythos. Er soll die verlorene Kindheit
wieder herbeizwingen, in der Pavese sein eigenes goldenes Zeitalter sah.
„Alle Leidenschaften gehen vorüber und erlöschen, außer den ältesten,
denen der Kindheit"100.
So rhetorisch diese Formel klingt, so spricht sie doch Paveses Innerstes
aus: Resignation und das Gefühl einer unüberbrückbaren Ferne zum wirkli-
chen Leben, einer tödlichen Einsamkeit, worin das private Schicksal am
Ende deckungsgleich wird mit dem Befund objektiver Entfremdung. Daran
konnte auch Paveses zeitweises Engagement für die Kommunistische Partei
Italiens nichts ändern. Der Durst nach Mythos war durch Parteiarbeit und
Klassenkampfparolen nicht zu stillen. Pavese war sich über den Ersatz-
charakter seiner Mythopoesie sehr wohl im klaren: „Ist dies genug, den reli-
giösen Schauer zu ersetzen?"101 Um hinter den Masken der Zivilisation den
ursprünglichen Menschen zu finden, geht Pavese in gewollter Archaik zurück
zum Animalischen. Chiffer für einen Zustand, worin der Mensch in der Ge-
walt das Heilige erkennt, ist für Pavese das „Blut". Es wird immer irrational
vergossen, sei es im Aggressionstrieb, sei es im Opferritus. Immer bleibt es
geheimnisvoll — so wie das menschliche Leiden irrational und geheimnisvoll
bleibt. Doch das Deutungsverlangen des Menschen macht einen Mythos
daraus, etwas Umgreifendes, an dem auch der Einzelne, Einsame partizipiert:
„Dein Problem ist, ihm seinen Wert zu geben, ohne ihm seinen Mythos zu
nehmen. Wenn man blutet oder weint, besteht das Staunen darin, daß gerade
wir das tun, was zum Universellen erhebt, zum 'alle Menschen', zum
Mythos"102.
Das Wilde zeigt sich primär als Tabubruch, als Grenzüberschreitung, als
passionierter Aberglaube, der Ausdruck einer „Ekstase" ist: „Die Natur wird
wieder wild, wenn in ihr das Verbotene geschieht: Blut oder Geschlecht"103.
Damit setzt sich Pavese, der Riten liebt und seinen eigenen Aberglauben
98
Pavese, Tagebuch 199 (17.9.1943)
"Ebd.
100
Ebd. 278(5.4.1949)
101
Ebd.
102
Ebd. 211 (7.2.1944)
103
Ebd. 219 (13.7.1944). Den Hinweis, daß in der römischen Religion „superstitio"
(Aberglaube) die Übersetzung des griechischen „ekstasis" ist, erhielt ich von Prof.
Burkhard Gladigow (Tübingen).
123
kultiviert, vom bürgerlichen 19. Jahrhundert wie von der Aufklärung ab. Er
mochte auch die Psychoanalyse nicht, die aus dem Es doch ein Ich machen
wollte; ihm, dem Tragiker, der sein eigenes Schreiben gleichsam auf den
Selbstmord hin konzipierte, mißfiel die Tendenz, mythische Schuld in
Krankheit zu verwandeln104. Das Wilde war für ihn nichts Malerisches, son-
dern einfach tragisch, also in seiner Art heilig — so wie für ihn Natur das
„Reich der Toten" war105. Gerade im Bedürfnis nach Irrationalem erblickt
Pavese ein Merkmal der Modernität, wie er in seinem Tagebuch festhält106.
Eine gewisse Nähe zu faschistischem Denken, das sich zuweilen von
Nietzsche und Bergson inspirieren ließ107, ist hier nicht abzustreiten. Der von
Pavese geschätzte Eliade war durchaus ein Bewunderer Mussolinis. „Wer Be-
fruchtung sagt, sagt Verletzung. Kein Leben ohne Blutvergießen". Dieser
Spruch des Duce, der politischen Vitalismus mit dem Mythos des Blutes
verbindet, steht gewissen Sätzen Paveses nicht fern.
Noch 1947, als der Faschismus historisch schon erledigt ist, meint Pa-
vese, daß die Kunst des 20. Jahrhunderts ganz auf das Wilde zielt — als Ge-
genstand bei Kipling und d'Annunzio, als Form bei Joyce und Picasso; auch
Nietzsche mit seinem Dionysos wird hier zitiert108. Die seltsame Kombina-
tion (zu der noch Leopardi und Sherwood Anderson kommen) verrät, wie
bemüht Pavese um Kronzeugen für seine These ist. Der Faschismus als epo-
chale Bewegung, wie ihn Ernst Nolte ideologiegeschichtlich beschrieb, war
in Italien die Reaktion auf die Profanität der „modernen Ideen" und zugleich
deren schärfster Rivale: mit seiner Verwandlung von Freiheit in „Schicksal"
ist er auch an Pavese nicht spurlos vorübergegangen. Der Schriftsteller sucht
den Widerspruch zwischen Modernität und Mythos mittels einer „poetica del
destino" aufzufangen. Das führt häufig zu einer Rhetorik hölzernen Archai-
sierens, zu einer gekünstelten Naivität, wie sie gerade die schwächeren Par-
tien der Dialoge mit Leuko (1947) bekunden. Es sind, in der Nachfolge
Leopardis, sehr persönliche Interpretationen des lydisch-phrygischen My-
thenkreises, in denen die olympische Götterwelt ausgeblendet und das Grau-
same, Irrationale, Chaotische bevorzugt wird. Am Ende erinnert die Muse,
Göttin des Andenkens, den Dichter (der in die Maske Hesiods schlüpft) an
das „Blut", das den Menschen seit der Geburt begleitet. Lust und Mühsal
menschlichen Daseins „im Bette, auf dem Felde, vor der Flamme" werden
von Pavese in einem Akt gewaltsamer Sinnsetzung sakralisiert. Das Wilde ist
der „Schrein" des Göttlichen, um Heidegger zu variieren. Diese Haltung
trägt deutlich anümoderne Züge; ihr Schicksalsglaube ist nicht nur pagan,
l(M
Pavese, Tagebuch 240 (17.4.1946)
105
Ebd. 223 (2.9.1944) und 253 (27.5.1947)
106
Ebd. 211 (7.2.1944)
107
Dazu E. Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche (München - Zürich 51979) 209, 308f.
108
Pavese, Tagebuch 254f. (10.7.1947)
124
II guardacaccia, caccia
od e cacciato. Questa
e una notma sicura.
Hier spielt sich eine Opferhandlung ab - etwas, das „rite" geschehen muß.
Es ist, in der Sprache Paveses, eine „phantastische Beziehung" (rapporto
fantastico) zwischen Jäger und Gejagtem. Als literarische Technik begegnet
sie bei Pavese seit dem Gedichtband Lavorare stanca (1936) — so in dem
Erzählgedicht I Mari de! Sud (Die Südsee)117. Dort markiert der blutige Ritus
der Waljagd — ein Motiv, das Pavese aus Melvilles Moby Dick übernahm —
symbolisch den äußersten Punkt der Entfernung vom eigenen Ursprung:
Das Bild dieses Jagd- und Opferritus hat den Dichter durch all die Jahre be-
gleitet: sein Freitod in einem Turiner Hotel am 27. August 1950 ist nur der
Ausklang einer „mythischen Kadenz". Die unglückliche Liebe, die Pavese
suchte, wirkt davor wie ein Vorwand. Das Wilde, auf das er als Liebender
stieß, ist die im Geheimsten gefürchtete Sache, die Epiphanie des Todes 119 .
Hier fand er nach fünfzehn Jahren Bankrott den Ausgang aus seiner Ge-
schichte. Die Opfergeste ist der Verzicht auf Schreiben, also Verzicht auf
Leben — ritueller Abschluß einer Ästhetik zum Tode.
Die ökologische Bewegung des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat das Wilde
als das Naturbelassene, Authentische wiederentdeckt und ihm am Rande der
postindustriellen Gesellschaft ein museales Dasein zugestanden. Diese Ein-
stellung entspricht der Reservats- und Nischenmentalität, die der industrielle
Prozeß auf einem bestimmten Entwicklungsstand kompensatorisch hervor-
bringt. Während der romantischen Naturphilosophie die wirkliche Versöh-
nung von Geist und Natur vorschwebte, erzeugt das technokratische System
den musealen Naturbegriff. Der Wille zur Macht und zum Machen hat die
116
G. Caproni 56f.
117
Dazu Schlumbohm 255
118
Zitat und Übersetzung bei Schlumbohm 249
119
Pavese, Tagebuch 302 (18.8.1950)
126
120
I. Bachmann, Malina (Frankfurt/M. 1980) 144f.
121
Ebd. 132
127
ihm eine bestimmte Rolle zu - die des Feigen und Verschlagenen. So konnte
Caroline Tisdall mit Blick auf die Erfolgsgeschichte Amerikas, die zugleich
eine Gewaltgeschichte war, von einem „Kojotenkomplex" sprechen125. Er
schwärt am Grund der ökonomischen Rationalität, als ein Phantom, das die
verfehlte Versöhnung mit der Natur anmahnt.
Die Unterdrückung der Indianer, die man als „Wilde" und „feige Kojo-
ten" stigmatisierte und ausgrenzte, gehört zur Legende von der glorreichen
Expansion des weißen Mannes; ihr Herzstück ist der Mythos machtschaf-
fender Gewalt. Als Beuys seine Aktion realisierte, befand sich Amerika in der
Schlußphase des Vietnamkrieges, den die Weltmacht nicht ohne geheime
Demütigung beenden konnte. Auch die Vietcong, lange als „kleine gelbe
Männer" verachtet, erteilten wie der Kojote dem Land eine Lektion. Dieser
Außenaspekt - Kritik an der Verachtung des Fremden - spielt auf
Politisches an. Im Binnenaspekt ist der Präriewolf aber das Fremde im
Eigenen, zugleich die profanierte Natur. Beuys sucht Amerika an seine
autochthone Kultur zu erinnern — im franziskanischen Gestus. Der Kojote,
der mit den ersten Indianern aus Sibirien kam, als die Beringstraße noch eine
Landbrücke war, repräsentiert für Beuys den Energiestrom Eurasiens, den er
in seinen Aktionen Eurasia und Sibirische Symphonie bereits 1966 (in der
Galerie 101, Kopenhagen) inszeniert hatte. In seiner Naturästhetik schrieb er
den Tieren — dem Hasen, dem Hirsch, dem Elch und dem Kojoten —
magische Kräfte zu, die dem zivilisierten Menschen abhanden kamen: Seele,
Empfindung, Instinkt. Sie verkörpern belebte, ja fühlende Natur. „Für Beuys
sind die Tiere eine Quelle gewaltiger Energie, denn hinter jeder Tierart steht
der Geist ihres Gruppenbewußtseins" 126 . Diese Haltung mag man schamani-
srisch nennen; Beuys jedenfalls schöpfte daraus ein Gutteil seiner Kreativität.
Doch sein Konzept, das Wilde in die Kunst zu integrieren, verschüttete Ur-
sprünge wieder freizulegen, war durchaus rational - schon weil es geschichts-
und ökonomiekritisch war.
Wenn Beuys die Integration des Fremden, Nicht-Domestizierten,
Spontanen in seine Kunst betrieb, so tat er es, um sie zu „erden". Kreativität
hieß für ihn: Transformation und Bewegung. Sein Kunstbegriff arbeitete ge-
gen Erstarrung, lineares Denken und Kapitalisierung; er setzt auf „Fluxus",
auf Kreislauf, Energiestrom und Zyklik. Die Aktion Kojote erwidert dem
Nützlichkeitsdenken, indem sie Empathie in das Nutzlose übt. Sie legt zu-
gleich die Schwächen des anthropozentrischen Geschichtsbildes bloß: Der
Kojote als wildes und heiliges Tier bezeugt, daß Natur ihre eigene Würde
hat, die ihr der Mensch nicht aberkennen kann. Zugleich steht dieses Tier für
eine neue Art von Aisthesis: für Freiheit, die ihren eigenen Gesetzen folgt,
für Rückkehr zur Unschuld der Wildnis, zuletzt für Utopie - die Versöhnung
125
Ebd. 11
«* Ebd.
129
von Mensch und Natur. Gegen die Geschichte der Expropriation nimmt
Beuys Partei für die vernutzte und verleumdete Natur. Der Künstler macht
das Tier zum aktiven Partner, zum Mitspieler in seinem ästhetischen Kon-
zept; der Kojote soll sein eigenes Potential, seine eigene Intelligenz einbrin-
gen. So richtet sich Beuys nach dem Tier, dessen „Geist" er herausfordern
will. Dem dienen ritualisierte Bewegungen, die eine Art von Choreographie
ergeben: „Wenn er sich mir näherte, verbeugte ich mich vor ihm, legte er
sich nieder, kniete ich, schlief er ein, fiel ich um. (...) Wenn ich Little John die
Handschuhe zuwerfe, soll das heißen, daß ich ihm meine Hände zum Spielen
gebe"127.
Beuys rehabilitiert mit dem Kojoten die mißachtete und unterdrückte
Schöpfung; zugleich erweist er der altindianischen Kultur die Reverenz, in
der die Tiere als Brüder der Menschen galten. Doch transformiert er dies
vom Ethnologischen in eine Kunstfigur, deren Adressat das moderne Ame-
rika ist. Die Symbiose aus Mensch und Tier wird, Beuysscher Ästhetik ge-
mäß, zur „sozialen Skulptur" aus Energie, Form und Bewegung. Gerade der
Tabubruch, den der Umgang mit dem Kojoten darstellt (der „sacer" im
Doppelsinn von heilig und verfemt ist), setzt die Strahlkraft wilder Natur
frei, die der Künstler durch schiere Technik und Ökonomie entweiht sah.
Beuys, der in einer berühmten Aktion versucht hatte, „wie man dem toten
Hasen die Bilder erklärt" (Galerie Schmela Düsseldorf, November 1965),
bewegt sich auf den verschütteten Spuren romantischer Naturphilosophie,
wenn er sich den Naturgeschöpfen, ja der Erde selbst kreatürlich verbunden
fühlt: „Das Tier ist doch quasi ein Organ des Menschen, (...) die Pflanze
ebenfalls und die Erde auch. Das Bewußtsein der Erde ist uns vielleicht ver-
schlossen; aber sicher ist es größer als jenes der Menschen"128.
Beuys zelebriert seine Aktion Koyote als archaischen Beschwörungs- und
Versöhnungsritus — in einen priesterlich wirkenden Filzumhang gehüllt, aus
dem eine Art Hirtenstab ragt, dessen Krümme an eine Schlittenkufe erinnert,
Sinnbild von Seelenwinter und Flucht aus der Geschichte (wie seine
Installation Schlittenrudel von 1969 nahelegt). Als „Hüter der Erde" verge-
genwärtigt er die christliche, vom Paradiesmythos bewegte Hinwendung zur
Schöpfung. Wie Adam, der im Garten Eden den Tieren Namen gab und sie
dadurch zu Gefährten machte (Genesis 2, 19-20), und wie der zweite Adam,
der in die Wüste ging, um sich über seine Berufung klar zu werden, sucht
Beuys am Gegenüber der Natur als „adamitischer" Künstler zu klären, was
Menschsein in apokalyptischer Zeit bedeutet. Dieses Apokalyptische hat er
in seiner Installation Das Ende des 20. Jahrhunderts (1983) in die Gestalt
gestürzter basaltener Pfeiler gebracht, die in erstarrter Bewegung, wie
wüstenhafte Trümmer, auf einen imaginären Ausgang der Geschichte
127
Ebd. 15f.
128
Ein Gespräch/ Una discussione. Joseph Beuys, Janrus Kounellis, Enzo Cucchi, Anselm
Kiefer, hg. von Jacqueline Burckhardt (Zürich 1986) 102
130
verweisen. Aus jedem Stein ist ein Kegel herausgeschnitten und, in Filz und
Ton gefaßt, neu eingesetzt; es wirkt, als ob die Steine „Augen" hätten -:
Geschichte, die zurückfällt an die Natur, wieder Materie wird, versteinerte
Zeit, die einzig in diesen „Augen" eine erloschene Erinnerung bewahrt.
Die monolithischen Trümmer sind „Leidensmonumente" 129 , Denkmale
einer ästhetischen Trauer, die an der Unheilsgeschichte sich abarbeitet, ohne
zu wissen, ob sie das Leiden wendet. In gewisser Weise haben diese erlo-
schenen Grabstelen tatsächlich nichts mehr zu sagen, es sei denn durch ihre
künstlichen Augen. Der erstarrte Sturz ist eine Anspielung auf die Ästhetik
des Erhabenen, auf das Pathos des Scheitern, dem C.D.Friedrichs Eismeer in
der Romantik die gültige Form gab. Aber „Großes stürzt in sich selbst zu-
sammen", hieß es schon bei dem römischen Dichter Lukan130. Daraus
sprach ein historischer Instinkt. Doch die Voraussetzungen für das Erhabene
sind mit der prometheischen Geschichte selbst verschwunden. Beuys insze-
niert den Abschied von der historischen Größe in einem Zwischen- und
Schattenreich, wo zwar die alten Mächte wie Säulen gestürzt sind, aber Natur
noch kaum zum Bewußtsein erwacht ist. Er verwehrt dem Betrachter nicht
die eschatologische Stimmung; sie wird genährt durch die widerständige und
düstere Materialität des Basalts. Hier wird das Projekt Moderne mit seinen
eigenen ästhetischen Mitteln verworfen.
An den Rändern dessen, was einst „Bedeutung" hieß, konfrontiert diese
Installation Geschichte und Natur, Pathos und Pietas, Hybris und Mnemo-
syne. Beuys arbeitet mit dem Kontrast zwischen Thema und Durchführung,
mit den Fragen, die im Kopf des Betrachters entstehen. Denn dessen Sinn-
bedürfnis stößt sich an diesen Steinen. Das Erhabene ist real auf den Boden
gebracht: Was bleibt, ist Erdenschwere. Die Geschichtskritik von Beuys zeigt
sich ganz materiell. Auf metaphorischer Ebene liegt Ikarus gleich mehrfach
gestürzt und versteinert am Boden. Archaisch-FIistorisches (etwa die Erinne-
rung an Stonehenge) und Natural-Amorphes spielen sich ihre Eigenschaften
zu. In diesen Denkmalen verwandelt sich Geschichte zurück in Natur, in
sprachlos-strengen Stein, der blinde Augen aufschlägt. Die Erinnerung, die
Beuys hier aktiviert, geht weit zurück - zu den Titanen, den Kindern der
Gottheiten Himmel und Erde. Der Mythos sah sie als Konkurrenz zu den
olympischen Göttern; Prometheus war einer von ihnen. Der Aufstand der
Titanen gegen Zeus, den zuerst Hesiod in seiner Theogonie beschrieb131, war
ein geheimes Lieblingsthema der Renaissance, speziell im Manierismus.
Noch das Moment titanischer Revolte verweist auf das Sakrale, gegen das es
angeht. Bei Beuys bleibt freilich dunkel, wer strafend eingriff und das Jahr-
hundert stürzte. Feststeht bewußtseinsgeschichtlich: „Der Titan zeigt eine
>» Zweite 27
130
Lukan, Pharsalia I, 81: „In se magna ruunt"
* Hesiod, Theogonie V. 629 - 725
131
152
C.F.von Weizsäcker, Wahrnehmung der Neuzeit (München - Wien 1983) 32
'» Hölderlin, Die Titanen V. 22 (Gedichte 391)
,M
Ebd. V. 64 - 66, 392
135
Vgl. Ch. Scherrmann, Die Antizipation der Katastrophe -Joseph Beuys, in: Merkur 40
(1986)879-887
5. Kapitel
Die Sphinx Natur oder Auf Rätselsuche
Goethe, Wanderjahre
Die Hypostase „Natur" wandelt seit den Tagen der Orphiker und Heraklits
durch die abendländische Denkgeschichte — sei es als Göttin, als kosmische
Ordnungshüterin oder als Große Mutter. Doch ihre Wege sind oft wunder-
bar. Seit Descartes philosophisch in die Verfügung des Menschen gestellt,
der sich zu ihrem „maitre et possesseur" aufschwang, seit der Industriellen
Revolution zum Gegenstand der Ausbeutung geworden, Objekt des prome-
theischen Begehrens, das sie zum Dienste zwang, ja vergewaltigte, scheint
Natur heute ihrerseits in die Geschichte einzugreifen. Sie tut es, indem sie
uns historische Rechnungen präsentiert. Allzu lange haben wir, mit den
Worten von Erwin Chargaff, einen vernichtenden Kolonialkrieg gegen die
Natur geführt — unter dem Kommando der exakten Naturwissenschaften -
und darin fragwürdige Siege errungen1. Die neuzeitliche Weltbemächtigung,
geleitet vom Logos des Entdeckens und Eroberns, hat ihre gewaltsamen
Spuren unübersehbar über den Erdball gezogen. Als hätten die Menschen
vergessen, daß sie selbst Natur sind — woran schon Nietzsche sein Jahrhun-
dert mahnte 2 .
Die Technik ist geschichtsmächtig geworden. Schier unwiderstehliche
Instrumente hat sich Prometheus, der Gründerheros der Moderne, ausge-
dacht, um die Geschichte nach seinem Willen zu formen. Freilich: die Ge-
schichte, die er als Meister der Praxis auf hartem Wege herstellt, zerstört er
nach dem Gesetz permanenter Veränderung wieder; Innovation kommt
ohne Zerstörung nicht aus. Der Wille zur Herrschaft, in dessen Zeichen m-
strumentelle Vernunft seit der Aufklärung Welt zu bearbeiten sucht, hat der
Natur den Stempel der Sklavin aufgedrückt. Doch beginnt sie inzwischen zu
revoltieren, bis in unsere Alltagserfahrungen und unsere Träume hinein.
Wahrnehmung der Natur ist unverstellt immer auch menschliche Selbst-
wahrnehmung; als solche stößt sie heute auf Krisensymptome, die unmittel-
bar politisch-gesellschaftliche Folgen nach sich ziehen. So wachsen die Zwei-
fel am Kult der prometheischen Technik, die Zweifel am Sinn der logozen-
1
Chargaff 256
2
Nietzsche, Menschliches, allzu Menschliches II § 327 (KSA 2, 696)
133
tnsch verbrämten Verwüstung der Erde. Ein „weicher Weg", ein schonender
Umgang mit Natur wird proklamiert. Natur soll nicht länger Objekt, gar
bloße Ware sein, weil sie auch Schöpfung ist und Lebenswelt — erfahrbar am
menschlichen Leib.
Die ökologischen Bewegungen am Ausgang des 20. Jahrhunderts gehö-
ren in jene unerwartete Umwertung aller Werte, die aus dem Schöße der
Produktionsgesellschaft selbst hervorging. Ihnen liegt eine gewisse Mythisie-
rung der Natur zugrunde, die einhergeht mit einer Wiederentdeckung der
lange mißachteten religiös-ethischen Dimension. In Georg Pichts ideali-
stischer Sprache: „Die Schändung der Landschaft und aller Elemente ist von
der Schändung der Tempel und Götterbilder nicht zu trennen" 3 . Die In-
thronisation von Natur als einer Art höchster Instanz erfolgt zu einer Zeit,
da universale Geschichtstheorien, allen voran der Marxismus, ihre Legitima-
tionskraft rapide verloren. Ihre totalitären Lebens- und Glücksentwürfe sind
durch Realgeschichte durchgehend entwertet. Einen ähnlichen Kreditverlust
erlebt die „Großgeschichte" (A. Gehlen) samt den entsprechenden antagoni-
stischen Ideologien; der Kalte Krieg und die Herrschaft der „Großräume"
(C. Schmitt) gehörten darin zusammen.
Der Glaube an den Fortschritt, einstmals geschichtsphilosophisch be-
gründet, ist brüchig geworden — gealtert wie die Moderne, die Kritiker wie
J.F. Lyotard und G. Vattimo bereits als „historisch" empfinden. So deutet
am Ende des prometheischen Zeitalters vieles auf einen Paradigmenwechsel
hin. Wir sind nicht mehr gehalten, mit Hegel Natur als bloße „Äußerlichkeit"
zu erfassen4, sondern eher mit Nietzsche und Freud als verdrängte Vitalität,
als das Es in uns zu bedenken. Der Psychologe Nietzsche hatte den Men-
schen an die Potenz Natur in sich erinnert; er tat es als freier Geist, der im-
stande ist, sein Ego in Meer, Wald, Pflanze und Gebirge zu entdecken 5 . Das
ausgehende 19. Jahrhundert schlug seine Warnung noch in den Wind. Erst
ein Jahrhundert später schreckt die Verbrauchsgesellschaft vor dem Abfall
zurück, den der entfesselte Prometheus produziert. Lebt er doch nicht nur
von technischer Innovation, sondern auch vom Verbrauch an Geschichte,
wie Ernst Jünger in seinem Essayroman B.umeswil (1977) schrieb: „Der Schutt
wird nicht mehr bewältigt wie in den Kulturen; er überwuchert die Bildun-
gen. (...) So lebt man auf und von den Deponien - zwischen Schutthalden,
die man ausbeutet" 6 .
Das Pathos des Bewahrens ist historisch ein Spätphänomen. Immer
bleibt es hinter dem Logos zurück, der das Machbare für das Vernünftige
hält; es kann dessen gewaltsame Spuren nur mildern. Erst heute breitet die
Einsicht sich aus, daß Mensch und Natur keineswegs nur metaphorisch auf
3
G.Picht, Kunst und Mythos (Stuttgart 1986) 488
4
Hegel, Wissenschaft der Logik, in: Werke, ed. Glockner, IX (Stuttgart 1958) 49
5
Nietzsche, Menschliches, allzu Menschliches II § 223 (KSA 2,478)
6
Jünger, Eumeswil 371
134
Leben und Tod verbunden sind. Ausgerechnet ein Dichter hat dieses Ver-
hältnis am klarsten erfaßt. Dem italienischen Lyriker Giorgio Caproni genügt
dazu ein Vierzeiler mit dem böse-ironischen Titel Giubilo (Frohsinn):
Fischiettava, il fucile
in spalla, spensierato.
Non pensare, lui assassino,
d'essere l'assassinato.
Die Vertauschung von Täter und Opfer gehört zur Identitätskrise des Genus
humanuni am Ausgang der Neuzeit. Das Motiv des „franco cacciatore", des
„wilden Jägers", bannt die tödliche Mißachtung der Natur, die hier zum
Freiwild wurde, in eine rätselhaft durchsichtige Figur. Caproni hat dann die
Signatur des Zeitalters umrissen: Die Große Jagd entspringt einer Verblen-
dung; aus Jägern werden Opfer. Der Paradigmenwechsel von der Instanz
Geschichte zur Natur hin - gekoppelt mit einem Wechsel des Sinnhorizonts
- bahnt sich auch in solchen politischen Einblicken an. Im mythologischen
Sprachspiel stellt er sich als Übertragung der Herrschaft von Prometheus auf
Demeter dar.
Nun gibt es im Menschen ein Sinn- wie ein Rätselbedürfnis. Beide korre-
spondieren miteinander, legt man die Hermeneutik des Seins als ein aus Ge-
schichtlichkeit entstehendes Fragen zugrunde. Das Sinnbedürfnis ist Deu-
tungsbedürfnis angesichts des Rätsels. Natur und Geschichte, in die der
Mensch „verstrickt" (W. Schapp) ist, halten genug davon bereit. So ent-
sprang die Geschichtsphilosophie der konkreten Wissens- und Sinnproble-
matik der Aufklärung: Sie kompensierte die Bewußtseinskrise, die aus dem
Zerfall des theologischen Deutungssystems, aus dem Theodizeeproblem, aus
der Erfahrung der Welt als „Labyrinth" hervorging8. Das Sinnkonstrukt Ge-
schichtsphilosophie, dessen Programm Freiheit, Humanität und Fortschritt
hieß, leistete für 150 Jahre die erwünschten Dienste. Erst Nietzsche wirkte
auch hier als der große Zertrümmerer. Es scheint, als ob das Sinnbedürfnis -
nach den historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts - von der Instanz
Geschichte kaum mehr befriedigt wird. Die Inthronisierung der Großen
7
Caproni 129
8
Dazu HD. Rauh, Im Labyrinth der Geschichte. Die Sinnfrage von der Aufklärung
zu Nietzsche (München 1990) 85ff.
135
Natur, der man nun Sinnstiftung zutraut, könnte als neue Mythologie diesen
Verlust kompensieren. An der Hand der Natur begibt sich der Mensch auf
seine Ratsei- und Sinnsuche.
Auch dieser Prozeß hat seine Vorgeschichte. Bereits der Spinozismus
mit seiner Naturverehrung war ein wichtiges Ferment der Aufklärung gewe-
sen — um 1780 allerdings noch mit dem Ruch des Häretischen, Konspirati-
ven umgeben, gerade durch die Vermischung von Vernunft und Mystik. Die
Wildnis als heilig und erhaben wahrzunehmen, hat in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts viel mit spinozistischer Gleichsetzung von Gott und Natur
zu tun. Goethes Ganymed sehnt sich derart hinauf in die Wolken; und noch
in Goethes Briefen aus der Schweiz von 1779 schwingt das In-Wolken-Sein
als heiliger Schauer nach: „die ewige innerliche Kraft der Natur fühlt man
sich ahnungsvoll durch jede Nerve bewegen"9. Das parareligiöse Moment,
das sich mit der „Ahnung" begnügt, wird gesteigert durch neue Empfind-
samkeit. Goethes Wertschätzung des Spinoza hatte ihre poetischen, aber
auch ethischen Implikationen; bei frommen Gemütern trug sie ihm den
Vorwurf des Atheismus ein. Von Goethe inspiriert, hat Christoph Tobler im
Tiefurter Journal 1783 sein berühmtes Fragment über Natur veröffentlicht.
Darin heißt es mit antikisierendem Pathos: „Natur! Wir sind von ihr umge-
ben und umschlungen — unvermögend aus ihr herauszutreten, und unver-
mögend tiefer in sie hineinzukommen. (...) Wir leben mitten in ihr und sind
ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis
nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie.
Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts
aus Individuen. Sie baut immer und zerstört immer und ihre Werkstätte ist
unzugänglich"10.
Zur Aufklärung und ihrem Willen zum Wissen ist dies der Gegen-
mythos. Sein Zentrum heißt: Geheimnis. Toblers Apotheose der Natur, von
Daseinsvertrauen geleitet, ist ein Rettungsversuch jenes kosmischen Ord-
nungsmythos, auf den die Antike ihr Weltbild und ihre Ästhetik gegründet
hat. Aufklärerisch daran ist die Tendenz, in der Natur einen eigenen allum-
fassenden Sinn zu entdecken, einen schöpferischen Drang, der den Men-
schen ewig zum Lichte spornt. In diesem Naturmythos samt seiner kulturel-
len Prägekraft steckt Religion, freilich weltliche, ohne den Absolutheits-
anspruch, den Offenbarungsreligion erheben muß. Goethe hat dem Mythos
der großen Natur in einem späten Achtzeiler gehuldigt:
9
Goethe aus Leukerbad am 9.11.1779, in: Münchner Ausgabe II.2 (1987) 625
10
Ebd. 477
136
Ein Text von grandioser Einfachheit, der die kosmische Allmacht mit souve-
räner Demut feiert. Die Architekturmetapher des Gewölbes erfaßt Natur als
Kunstwerk und mildert das Unfaßbare des Unendlichen im anschaulichen
Bild. Der unbewegte Beweger ist der Garant dieser Ordnung, die eine ästhe-
tische ist, ganz im Sinne der Griechen. Von fern spielt der Gedanken eines
endlos fließenden, endlos überströmenden Brunnens herein - Geheimnis,
doch kein Rätsel, noch weniger ein Dogma.
Die Resignation vor dem Geheimnis von Natur und Menschenseele hat
Goethe auf der Heimfahrt von Marienbad im August 1823 gekostet. Daß
sich ihm versagte, was die Welt im Innersten zusammenhält, brachte ihn der
Verzweiflung nahe. Goethe kleidet den Schock in die klassische Einsamkeits-
topik, in den bei ihm seltenen Gestus der Abwehr:
Der Fels, an den der Olympier sich wider alles Erwarten gefesselt sieht, ist
der des bestraften Prometheus — ein Rollentausch, der dem jupiterhaft sich
Stilisierenden schwerfallen mußte. Doch auch die Götter, zurückgewiesen,
erfahren das Rätsel der Liebe. Das Moor, weniger Ossians Heide als mephi-
stophelische Landschaft, Verweis auf Einöde, Dürre, Verneinung, wird hier
zum Inbild der antifaustischen Wildnis, in der das Streben abstirbt, der Wan-
derer versinkt; unheilige, unholde Wildnis dies Moor. Vergebens Fausts Vi-
sion, es domestizieren zu können. Was dem von seinen Göttern Enttäusch-
ten bleibt, ist Kultivierung der Verzweiflung im Abschied von Erkenntnis:
Das naive, unmittelbare Wort, das einst Natur herbeirief, ist mit der Antike
verlorengegangen. Der sentimentalische, weil aufgeklärte Betrachter sieht
sich — mit Goethes Wort — bedroht von der „millionenfachen Hydra der
Empirie" 14 . Die Moderne, zur Abstraktion verurteilt, in Schillers Sinn zum
„Idealisieren", vermag Natur nur noch vermittelt - als Kunstprodukt - zu
fassen. Die Göttin Natur entzieht sich dem sinnlichen Zugriff, verhüllt sich
unter dem Gewand der Phänomene. Diesen Punkt hat gerade der Theoreti
ker Schiller zum Ausgangspunkt seiner Ästhetik gemacht. In der Vorrede zur
Braut von Messina von 1803 leugnet er schroff jede Möglichkeit naiver Natur
nachahmung: „Die Natur selbst ist nur eine Idee des Geistes, die nie in die
Sinne fällt. Unter der Decke der Erscheinungen liegt sie, aber sie selbst
kommt niemals zur Erscheinung. Bloß der Kunst des Ideals ist es verliehen,
oder vielmehr, es ist ihr aufgegeben, diesen Geist des Alls zu ergreifen und in
einer körperlichen Form zu binden" 15 .
Damit hat Schüler bewußtseinsgeschichtlich die Differenz zur Antike
bestimmt, auch da, wo er selbst als Tragiker antiker Form sich nähert. So
wird Natur im 19. Jahrhundert auch für die Künsder zu einem Mythos, der
dem Kopf entspringt, gezeugt von einem Sinnbedürfnis. Deshalb begeben
sich Dichter und Maler nun auf die Rätselsuche und trachten der Idee ein
Bildnis abzuringen, Natur zum „Erscheinen" zu zwingen.
15
Schüler SW II, 818
16
Dazu W. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte (Frankfurt/M. 1978)
138
Kult der Natur ist eine Flucht aus der Zeit, die Mensch und Geschichte
verzehrt, ohne sich jemals zu sättigen. Nietzsches heroische Idyllen verbin-
den das Erinnern an den philosophischen Garten Epikurs mit dem malen-
schen Pathos des Zeitgenossen Böcklin. Dem antikisierenden Vanitasbild
des Klassikers Poussin setzt Nietzsches „Et in Arcadia ego" die Goethesche
Lesart aus dem Motto der Italienischen Reise entgegen - die stolze Selbstbe-
hauptung im Lobpreis des Diesseits und seiner Herrlichkeiten. Die parareli-
giösen Töne sind unüberhörbar: „Die gesamte Schönheit wirkte zum Schau-
dern und zur stummen Anbetung des Augenblicks ihrer Offenbarung; un-
willkürlich, wie als ob es nichts Natürlicheres gäbe, stellte man sich in diese
reine, scharfe Lichtwelt (die gar nichts Sehnendes, Unzufriedenes, Erwarten-
des, Vor- und Zurückblickendes hatte) griechische Heroen hinein; man
mußte wie Poussin und sein Schüler empfinden: heroisch zugleich und idyl-
lisch"17. Dennoch: Flucht aus der Zeit. Nietzsche notiert, daß die Uhr „gegen
halb sechs" zeigte, als er den milchgrünen See, die Berge und die Herde mit
den Bergamasker Hirten in der optimalen Beleuchtung sah. Flucht aus der
Zeit, die im Prozeß der Mechanisierung zum Produktions- und Kostenfaktor
wurde: Die Zeitstudien des amerikanischen Ingenieurs F. W. Taylor, der Ar-
beitsabläufe als Bewegungsstudien festhielt, beginnen bereits seit 188018.
Nietzsche selbst empfindet, erst Anfang dreißig Jahre alt, nach einem „stür-
mischen Morgen des Lebens" ein seltsames Ruheverlangen. In seiner Le-
bensmitte sucht er Natur als Milieu und Metapher für seinen Traum vom
Stillstand aller Dinge: „Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den großen
Pan schlafend; alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen Aus-
druck von Ewigkeit im Gesichte - so dünkt es ihm. Er will nichts, er sorgt
sich um nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt; es ist ein Tod mit
wachen Augen. Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und so weit er
sieht, ist alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begra-
ben"' 9 .
Diese Vision, die Unvereinbares als Leben im Tode zusammenbringt,
ihre Erkenntnis gleichsam im Licht begräbt, ist immer noch ein Echo Scho-
penhauers - im Böcklinschen Szenario dargeboten, ein Stück Naturmystik,
und eine Anwandlung von Todessehnsucht. Nichts wollen — nur schauen:
dieser Ausgang aus der Geschichte ereignet sich buchstäblich durch das
Auge. Mit solchen Sehnsuchtsblicken verschaffte sich Nietzsche die Kraft,
mit der er gegen die modernen Ideen zu Felde zog. Natur wird zum Heil-
mittel gegen die Krankheiten der Kultur, deren schleichendste der Nihilis-
mus ist. Immer wieder nimmt Nietzsche ein Bad in der Natur, um sich von
der Moderne zu kurieren.
17
Nietzsche, Menschliches, allzu Menschliches II, § 295 (KSA 2, 686f.)
18
Giedionl22ff.
19
Nietzsche, Menschliches II, § 308 (KSA 2, 690)
139
- Da das Abendrot
überm Acker loht,
Ruhen Flut und Stadt im Flimmer
Blau - und golderhellt;
Es entschläft die Welt
In der warmen Strahlen Schimmer.
Die Einladung zur Reise gilt einem Totenreich, das von melancholischem
Glanz illuminiert ist. In diesem sinkenden Feuer verglüht die Natur wie ein
Brandopfer. Einzig die mythische Trauer der Verse, Göttertrauer, versöhnt
mit diesem Opfer. Baudelaire nahm die Moderne, die ihn faszinierte und ab-
stieß, in ihrer Totalität hin: Seine Natur trägt die Stigmen der Geschichte
eingebrannt. Noch die Versklavung bewahrt das Erinnern an den verlorenen
Urzustand der Freiheit. Diesen Sündenfall schöpferisch auszutragen, ist die
Passion des Dichters. Baudelaire hängt seinem Traum von erlöster Natur im
steinernen Purgatorium von Paris nach.
Das irdische Paradies, ein Garten des Eros, wird zur zentralen Utopie
des 19Jahrhunderts. Sie kultiviert die Abkehr vom Historismus, der anderen
Utopie des Säkulum. Nicht umsonst wird die Natur zum Inbegriff des Weib-
lichen: dem Mythos der Frau in der französischen Malerei von Ingres bis
Manet hat Werner Hofmann wichtige Seiten gewidmet21. Doch hat schon die
deutsche Romantik die Welt feminisiert. Bachofens den Historismus häre-
tisch umbiegende Einfühlung ins Mutterrecht ist darin ganz romantische
Wissenschaft. Von Novalis, Blake und Runge bis zu Marees, Gauguin und
Matisse führt die goldene Kette des Weiblichkeitsmythos die Grundmotive
des 19.Jahrhunderts herauf. Die vielen „Badenden" zelebrieren im Spiel
lichtüberfluteter, vom Wasser umspielter, im Grün posierender Körper na-
turnahes Dasein wie eine Liturgie der Sinnlichkeit. Seit Novalis wird der Mo-
tivkreis des Wassers zum weiblichen Element schlechthin. Die Hymnen an die
Nacht feiern die freigegebene Liebe, das Wogenspiel eines unendlichen Mee-
res. Die poetischen Seestücke von Baudelaire bis Hart Crane ertränken den
männlichen Weltüberdruß im ozeanischen Fluten. Die Frau wird zum Meer,
der Tod zur verjüngenden Flut, die Nacht zum Liebesschoß. In solchen Mo-
tiven, Metaphern und Träumen öffnen sich Ausgänge aus der Geschichte.
Der erschöpfte Historismus war schon in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts zur Sinnstiftung nicht mehr imstande. Schopenhauers ätzende
Geschichtsverachtung, Bachofens spätromantische Deutung des Mutter-
rechts, gespeist aus Hoffnung auf Versinnlichung des Daseins, und
Nietzsches Attacken gegen die antiquarische Dekoration des Lebens, sein
Aufruf, das Chaos in sich zu organisieren, ließen den Historismus als Ange-
legenheit verstaubter Schulmeisterei erscheinen. Mythisierung der Kunst, des
mütterlichen Prinzips, des dionysischen Lebens — dies war ihr Gegenpro-
gramm. Gerade im Herzen der Zivilisation erwächst das Verlangen nach je-
ner großen Natur, die alle Fülle und Wahrheit des Daseins in sich zu schlie-
ßen scheint. Es war Cezannes malerisches Programm, vor diesem Horizont
das Geheimnis zu malen, daß da Dinge sind. Cezanne ist der sperrige
Mystiker der nur als Farbe erscheinenden Formen; er bildet nichts ab, son-
dern erfindet die Landschaft aufs neue. Der spröde Liebhaber hat der Natur,
die es liebt, sich zu verbergen, in langen enttäuschungsreichen Dialogen
manches Geheimnis entlockt. Diese Arbeit war ein Liebeskampf. Das litera-
rische Gegenstück wäre Rilkes Bemühung um die poetische Apperzeption
der Dinge. Sein Gedicht Der Berg (1907) fühlt sich, auch vom Vorbild
Cezannes inspiriert, in das Ringen des Malers Hokusai ein, dessen 36
Ansichten des Fuji-san zu den berühmtesten Zeugnissen japanischer Naturdar-
stellung zählen. Rilkes Berg spricht vom Sich-Entziehen des Objekts, das
vom Künstler ein Selbstopfer verlangt, bevor es sich hingibt:
Dem aufmerksamen Leser entgeht nicht, daß das Gedicht einen Objekt-
wechsel vornimmt. Während zu Anfang der Berg noch ganz Gegenstand ist,
den der Maler mit seiner Technik zu bewältigen vermeint, erhebt sich am
Ende der Berg selbst als Subjekt des Gedichts, göttlich, weil allgegenwärtig,
ungreifbar, einzig in seinem Begehrtsein vorhanden. Merkwürdig bleibt, wie
Rilke im Frühling der Psychoanalyse (der er sich selbst freilich nicht auslie-
fern wollte) das Obsessive dieser Annäherung betont. Der Maler als uner-
sättlicher Voyeur des Göttlichen, der Berg als Gott, als Monument des Wis-
sens, ein Sinai, der selbst Gesetze gibt, Phantom des Männlichen, im endlo-
sen Begehren nach der Wahrheit, von der nichts bleibt als sechsunddreißig
Bilder - es sind Zeugnisse eines produktiven Wahns. Doch hat er fortgewirkt
und selbst die Philosophie inspiriert. Die Wahrheit der Natur ist die Wahr-
heit der Abwesenden, im Sprachgebrauch Lacans eines Phantasma, in das
hinein Sinn projiziert wird. Auch Merleau-Ponty, der Phanomenologe der
Wahrnehmung, stellt um die Mitte des 20Jahrhunderts fest, daß die Natur
ein rätselhafter Gegenstand ist, ein Gegenstand, der eigentlich gar keiner ist —
weil Natur nichts ist, was uns vorliegt, sondern das, was uns trägt. Die Be-
zeichnung „Rätsel" hüllt die Entblößte in eine Würdeformel ein; zugleich ka-
schiert sie den Glaubensverlust des Betrachters, der Schöpfung nicht mehr
als „Körper" sieht; denn Rätsel ist das Gegenteil von Offenbarung. Natur,
die den Romantikern bis in der Sprache der Träume präsent war, ist kraft des
Willens zum Wissen, kraft der Entschleierung die Unsichtbare.
Präsent aber ist die Geschichte, seit der Ära des Imperialismus eng mit
der Technik, vor allem der militärischen verbündet, gewappnet mit Herr-
schafts- und Rassetheorien, gerüstet mit Eroberungsrhetorik. Gegen die
Große Natur die Große Politik. Auch der Kampf zwischen den Sinnkon-
strukten Geschichte und Natur gehört zu jenem Geisterkrieg, den Nietzsche
in Ecce Homo prophezeite23. In der Romantik war dieser Kampf noch unent-
schieden. C. D. Friedrich, einer der großen religiösen Maler des 19. Jahrhun-
derts, versteht seine Landschaften noch als Chiffern der Transzendenz.
Doch das Politisch-Historische spielt schon in seine Ruinensymbolik hinein.
Verfallene Kirchen und Klöster, im Schnee versinkende Grabmäler, Hünen-
gräber unter kahlen Eichen bezeichnen ein Pathos der Naturwahrnehmung,
das die historischen Relikte bewußt zu Trägern des „Andenkens" macht.
Rilke, Gedichte I, 638f. Den Hinweis auf Hokusai gab mir Ulrich Fülleborn (Erlangen)
Nietzsche, Ecce Homo. Warum ich ein Schicksal bin § 1 (KSA 6, 366)
142
24
Hölderlin GSA IV, 297
25
Wittgenstein, Tractatus 6.4312 (W 1, 84)
143
gibt es nicht. Wenn sich eine Frage überhaupt stellen läßt, so kann sie auch
beantwortet werden"26. Was an Natur und Mensch überhaupt mystisch sein
kann, so das neue ketzerische Dogma, läßt sich nicht aussprechen, allenfalls
zeigen. Damit schloß Wittgenstein, vom Ingenieur zum Mystiker geworden,
ein neues Kapitel der Philosophie auf. Ihre Gründungsakte ist die strikte
Trennung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft. Nicht irgendwelche
Lehren über Naturgeschehen, sondern das Klarwerden von Sätzen sind das
Ziel. Naturwissenschaft verbleibt im bloß Denkbaren, sie vermag keine
Grenze zu ziehen. Denn Wittgenstein will Distinktion: „Die Philosophie be-
grenzt das bestreitbare Gebiet der Naturwissenschaft"27.
Mit dem konventionellen Forschen, mit dem Gesetz von Ursache und
Wirkung gibt Wittgenstein auch ein bestimmtes Telos der Wissenschaft auf.
An der galizischen Front notiert er am 2. September 1916, während der Ar-
beit am Tractatus, in sein Tagebuch: „Was geht mich die Geschichte an?
Meine Welt ist die erste und einzige! Ich will berichten, wie ich die Welt vor-
fand"28. Das denkende Subjekt sucht nach dem Ausgang aus der Geschichte
und ihrer Körperwelt. Naturwissenschaft als Instrument der eurozentrischen
Geschichte, die seit 1914 sichtbar sich selbst zerstörte, ist für Wittgenstein
der Antipode aller Philosophie. Der Krieg als aggressiver Körper der Ge-
schichte - so erfuhr ihn Wittgenstein am eigenen Leibe. Was dem Autor, da-
mals siebenundzwanzig Jahre alt, vorschwebt, ist nichts geringeres als ein
philosophisches Weltgericht. Kurz nach dem zweiten Kriege erzürnt ihn
immer noch das dumme, verkehrte Geschwätz über Ursache und Wirkung in
Büchern über Geschichte29. Seine Hoffnung, daß Wissenschaft und Indu-
strie, welche die Kriege entscheiden, nun bald zusammenbrechen, bleibt eine
Illusion; ja er fürchtet mit Recht, daß beide Mächte „mit unendlichem
Jammer die Welt einigen werden"30. Hier erweist sich der Mystiker als er-
staunlich hellsichtiger Zeitgenosse, als unvermuteter Kritiker des amerika-
nischen Traums der „One World". Aber die europäische Kultur ist schon
seit 1918 zertrümmert - ein Aschenhaufen, darüber Geister schweben31. Es
sind, in der Erinnerung an Goethe, zugleich die Naturgeister.
Das 19. Jahrhundert, von inneren Zweifeln am Sinn der Geschichte ge-
plagt, der Erosion des Glaubens preisgegeben, wollte sich die Ahnung einer
verborgenen Ordnung, das Rätsel der Natur nicht nehmen lassen. Die Ge-
genstimmen sind selten und erlesen. Der im Westen fast unbekannt geblie-
bene Fjodor Tjutschew, einer der größten russischen Lyriker, ein würdiger
Nachfolger Puschkins, hat diese Rätselsuche in einem späten Vierzeiler von
26
Wittgenstein, Tractatus 6.5
27
Wittgenstein, Tractatus 4.113
28
Wittgenstein W 1,177
29
Wittgenstein W 8, 537
30
Ebd. 539
31
Ebd. 454f.
144
1869 als einen Wahn entlarvt. Der „apollinisch" orientierte Dichter, der
lange in München gelebt hatte, wo er mit Heine und Schelling Bekanntschaft
schloß, entsagte im Alter aller metaphysischen Spekulation, die ihn an
Goethes Faust und bei den deutschen Romantikern einst angezogen hatte.
Natur ist die Sphinx ohne Rätsel, die den vergeblich forschenden Odipus
gerade durch die Sinnlosigkeit ihrer Orakel blendet:
Der Abgrund reicht hinab bis in das Chaos, das Hesiod in seiner Theogome als
Anfang der Dinge benannt hatte; Chaos und Nacht sind dort die Ur-
sprungsmächte. Tjutschews poetischer Nihilismus, obschon in marmorne
Verse gefaßt, macht sich den mit Novalis einsetzenden Paradigmenwechsel
zu eigen - vom Tage zur Nacht hin, von der Aufklärung zum Schauer des
Abgrunds. Doch diese Sphinx Natur, die den männlichen Logos anspringt
wie die Löwenfrau auf dem Gemälde von Moreau den Ödipus, stellt keine
Fragen mehr. Ihre Wildheit ist bloße Attitüde, eine metaphysische Frivolität.
Etkind 146. Dt. von R.D. Keil. Russischer Originaltext in: FI. Tjutcev, Lirika I (Moskva
1966) 220. Für diesen Hinweis danke ich Prof. Rolf-Dieter Kluge (Tübingen).
Etkind 143. Dt. von Ludolf Müller. Originaltext bei Borowsky/Müller 160
145
Die verdammten Fragen zu lösen, ist schon zu Heines Zeiten unmöglich ge-
worden. Die Deutungshemmung ist nicht mehr romantischer Topos vor
dem Geheimnishaften, sondern wird vom Unglauben diktiert. Mit dem
Rätsel ist auch der Sinn verschwunden.
34
Heine, Zum Lazarus IX, in: Werke und Briefe, hrsg. von H.Kaufmann,
II (Berlin 1961) 214f.
35
Ebd. 209
146
36
Goethe HA 8, 304 (Betrachtungen im Sinne der Wanderer Nr. 136)
37
Wittgenstein W 8, 530
38
Nietzsche, Geburt der Tragödie § 9 (KSA 1, 67)
39
Zum ambivalenten Bild der Frau in der Kunst des 19. Jahrhunderts: Hofmann 283ff.
147
Baudelaires Sonett La Beaute, das die Apotheose des Weiblichen ins Blau des
Himmels hebt: ,Je trone dans l'azur comme une sphinx uncompris" 40 . Doch
das unverstehbare Idol läßt den ewigen Ödipus rados.
40
Baudelaire, Die Blumen des Bösen 56
41
Gebhard 307. Über E. Haeckels Konzept von „Gott-Natur": ebd. 299 - 329
42
Erstausgabe 1868, zwölfte Auflage 1920
43
E. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte (12.Auflage Berlin 1920) VIII
44
Brief aus dem Jahre 1875; zitiert bei Gebhard 308
45
Gebhard 563
148
nur den Mangel an Diskursivität, sondern die innerste Schwäche dieser Wis-
senschaft - ihren Hang zur Selbstmythologisierung. Gerade als Prophet des
Monismus hat Haeckel an der Sprachkrisis der Jahrhundertwende teil. Deren
Kennzeichen ist, daß für Enthusiasmus wie Erschrecken nur noch konven-
tionelle Sprache zur Verfügung steht - eben die poetisch-religiöse, die nun
vollends verschlissen wird. Wie seine Zeitgenossen, die Neuromantiker,
sucht Haeckel die moderne Komplexitätserfahrung, Hofmannsthals
„Weltgeheimnis", durch forcierte Poeüsierung zu fassen. Seine Naturverklä-
rung setzt dem Profanierungsprozeß, den die eigene Wissenschaft in Gang
bringt, vergeblich die ausgehöhlten sakralen Formeln entgegen.
Priesterlich ist der Gestus der Forscher, die im Heiligtum der Wissen-
schaft der unbekannten Gottheit dienen - Priester der Fortschnttsreligion, in
deren Namen noch das Dynamit erfunden wurde. Der Objektivismus gehört
zu den großen Fiktionen des 19. Jahrhunderts, die imperialistischen Zugnff
auf die Natur und deren planmäßige Ausbeutung und Kolonisierung erlau-
ben. Und doch war das schlechte Gewissen nicht ganz zu unterdrücken;
nicht umsonst stiftete Alfred Nobel seinen Preis zum Wohl der Menschheit.
Künsder, Dichter und Philosophen gaben sich der Naturmystik hin. In der
Feier des „Lebens" waren sich so unterschiedliche Geister wie Dilthey,
Nietzsche und Rilke einig. Bei den braunen Mädchen der Südsee suchte der
europamüde Gauguin seinen Traum vom naturnahen, unzerspaltenen Dasein
zu verwirklichen. Sein Triptychon mit dem programmatischen Titel Woher
kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?, 1897 auf Tahiti gemalt (Baltimore,
Museum of Art), ist mehr als eine Büdgeschichte, die das verlorene und wie-
dergewonnene Paradies thematisiert. Sie stellt dem mit Geschichte bewaff-
neten, von Weltpolitik und Glorie des weißen Mannes berauschten Europa
die Sinnfrage. Ungerührt von den historischen Monstern, die selbst das Pa-
radies bedrohen, pflückt das androgyne Wesen46 im Zentrum des Bildes die
Frucht des Augenblicks. Die Selbstvergessenheit bei diesem Akt gibt ihm die
Würde Adams und Evas vor dem Sündenfall. Hier hat Gauguin den Ausgang
aus der Geschichte gemalt - als sein Erlösungsbild, als seinen Fluchttraum. Er
konnte nicht wissen, daß die Geschichte auch diese Utopie einholen und an-
nullieren würde.
Gauguins Bild ist ohne eigentliche Tiefe wie eine Tapisserie; über den
Figuren, erdnah und reflexionsfern, liegt eine eigentümliche Schwere. Auch
die zwei eng nebeneinandergehenden Gestalten, an Dante und Vergil er-
innernd, heften die Blicke zu Boden. Ein seltsam plumpes Idol breitet die
Arme in Orantenhaltung aus, mütterlich und passiv; seine Beine und Füße
lassen an eine fischgeschwänzte Meeresgöttin denken. Noch die Seele der
Figuren scheint aus Erde. Wenig Bewegung im Bild; nur der Fruchtpflücker
reckt sich wie traumhaft nach oben. Es ist, als hätte der Maler das Geheimnis
44
Hofmann 366
149
von Mensch und Natur, eben ihr geheimnisloses Miteinander, von innen
nach außen gekehrt. Diese Natur ist groß, weil völlig einfach. Das Phänomen
ist die Lehre. Das Rätsel gibt es nicht.
Nach einem zweiten Weltkrieg wird der Großstadtmensch Brecht, der
in Berlin die Maske und Mimik des Marxisten trug, in seinen Buckower Elegien
(1953) sich den ironischen Rückzug in die Natur gestatten. Auch der Meister
der Bewußtseinsinszenierung war zeitweilig der Politik und des Theaters
müde. Sein Funfzeiler Rudern, Gespräche reduziert mit gleichsam chinesischer
Könnerschaft Natur auf die bloße Konnotation eines Abends am märki-
schen See:
Die Landschaft, kaum mit zwei Pinselstrichen angedeutet, lebt bei Brecht
vom Menschen. Doch dessen Dasein ist vorübergehend, entgleitend im Bilde
der Boote. Die beiden sprechenden Männer rudern im Abend diskret aus der
Geschichte heraus. Ihr Sprechen entgleitet, indessen sie rudern — nebenein-
ander, wie zweimal vermerkt wird. Das Sphinxhafte dieser zuäußerst ver-
knappten Naturszene hegt dann, daß sie pure Oberfläche ist - besorgt, kein
Dahinter zu zeigen. Und eben diese Besorgnis ist die Geschichte, die zu er-
zählen ist. Zwei Ruderer - wozu auf Rätselsuche? Was aber bleibt, ist der
Text. In ihm verschwindet sogar die Natur — geheimnishaft, doch ohne
Rätsel.
47
B.Brecht, Gedichte VII (Frankfurt/M. 1964) 20
6. Kapitel
Das illuminierte Chaos
Chaos ist ein Verwirr- und Störbegriff, umhüllt vom schwarzen Glanz der
Negativität. Was im Sprachspiel der Philosophen und Dichter seit der Ro-
mantik als Chaos und Abgrund auftaucht, will illuminiert, mit Sinn belegt
sein. Für die Griechen war Chaos ein kosmogonisches Prinzip, die gähnende
Leere des Anfangs, aus dem der Hesiodische Mythos zunächst die Erde,
dann Eros, Nacht und Tag und den Äther hervorgehen sah1. Erst der Mo-
derne blieb es vorbehalten, das Chaos zu einer ästhetischen Kategorie zu
machen - verwandt dem Erhabenen, aber in der Tiefe, der Unterwelt ange-
siedelt, als sinn- und ordnungsbedrohender Abgrund, als Reich wilden Ur-
sprungs, als Gegen-Vernunft. Chaos suggeriert bei Hölderlin eine grundlose,
dunkle und dionysische, nicht domestizierbare Kraft: „So will es göttlich
scheinen"2. Und von den Dichtern heißt es in der nächsten Strophe, daß sie
dem Gott der Freude, dem Donnerer Zeus, den Abgrund zudecken 3 — eine
Nobilitierung des Dichterberufs, die selbst in der Hochzeit des deutschen
Idealismus ihresgleichen sucht. Ein anderer Entwurf {Vom Abgrund nämlich)
bringt das Naturhaft-Chaotische im Menschen — Zweifel, Ärgernis, Sinn-
lichkeit — mit dem Tiergeist des Ursprungs zusammen4. Von daher legt
Hölderlins Ethik dem Dichter die Aufgabe auf, in seinem Innersten ein „un-
trügbarer Kristall" zu werden, „an dem das Licht sich prüfet"5. In solcher
Mythopoetik illuminiert das Herz des Dichters selbst, Kristall geworden,
durchleuchtet vom Äther, den Abgrund.
Goethe, als Neptunist gelassener, tadelt dagegen im zweiten Buch der
Wanderjahre ironisch die Kosmogonie der Chaoüker, denen die Erschaffung
der Welt nicht wild und laut genug zugehen konnte: „Ganz verwirrt und ver-
düstert ward es unserm Freund zumute, welcher noch von alters her den
Geist, der über den Wassern schwebte und die hohe Flut, welche fünfzehn
Ellen über die höchsten Gebirge gestanden, im stillen Sinne hegte, und dem
unter diesen seltsamen Reden die so wohlgeordnete, bewachsene, belebte
1
Hesiod, Theogonie V. 116, 700
2
Hölderlin, Wenn aber die Himmlischen V. 42 (Gedichte 395)
3
Ebd. 396. Zum Themenkomplex „Äther und Abgrund" bei Hölderlin: Binder 1 1 0 - 134
4
Hölderlin, Vom Abgrund nämlich V. 7 (Gedichte 416)
5
Ebd. V. 36f. (Gedichte 417)
151
6
Goethe HA 8, 262 (Wilhelm Meisters Wanderjahre II, 9)
7
Novalis I, 286
8
Novalis I, 90
9
Dazu Groh 50 ff. Vgl. auch J.Wozniakowski, Die Wildnis. Zur Deutungsgeschichte des
Berges in der europäischen Neuzeit (Frankfurt/M. 1987)
10
Büchner 65 (Dantons TodIV,5)
152
Der vom Wahn gestreifte Dichter, der nicht mehr schreiben kann, schreibt
mit der Preisgabe an die Elemente sich selbst ins Corpus der Natur ein. Er
wünscht Auslöschung seiner Verletzlichkeit und Stillstand der Zeit durch
„Versteinerung". Sein Aufenthalt in dem Gebirge heißt nicht von ungefähr
„Steintal". Der Wahn zielt auf den Abgrund hin, den das Ich in sich auf-
flackern fühlt:
Die Welt war ihm helle gewesen, und er spürte an sich ein Regen und
Wimmeln nach einem Abgrund, zu dem ihn eine unerbittliche Gewalt
hinriß. Er wühlte jetzt in sich. (...) Je höher er sich aufriß, desto tiefer
stürzte er hinunter. Alles strömte wieder zusammen. Ahnungen von
seinem alten Zustande durchzuckten ihn, und warfen Streiflichter in
das wüste Chaos seines Geistes.12
» Büchner 69
12
Ebd. 80
153
In seiner Brust war ein Tnumphgesang der Hölle. Der Wind klang
wie ein Titanenlied, es war ihm, als könnte er eine ungeheure Faust
hinauf in den Himmel ballen und Gott herbei reißen und zwischen
seinen Wolken schleifen; als könnte er die Welt mit den Zähnen zer-
malmen und sie dem Schöpfer in's Gesicht speien; er schwur, er lä-
sterte. So kam er auf die Höhe des Gebirges, und das ungewisse Licht
dehnte sich hinunter, wo die weißen Steinmassen lagen, und der
Himmel war ein dummes blaues Aug, und der Mond stand ganz lä-
cherlich drin, einfältig. Lenz mußte laut lachen, und mit dem Lachen
griff der Atheismus in ihn und faßte ihn ganz sicher und ruhig und
fest.13
Die versuchte Imitatio Christi, das Wandeln auf hohen Bergen, das Pathos
des Erweckers, die wüst-erhabene Szenerie - sie schlagen angesichts der
stummen und törichten Faktizität der Natur vom Tragischen ins Lächerliche
um. Prometheus löst sich vom Felsen, indem er Zeus verspottet. Lenz löst
sich vom Glauben an den Weltbaumeister durch schieres animalisches Ge-
lächter. Was mit leiblicher Erschütterung in ihm agiert, ist das Chaos; die
Weltvernunft wird mit Gelächter verabschiedet. Der Atheismus, der ihn er-
faßt, ist die befreiende Leere: „es war ihm Alles leer und hohl". Die Entlee-
rung von der Naturtheologie bleibt jedoch illusionär; die Lust am Abgrund
gerät ihm zur Sünde wider den Heiligen Geist. Am Schluß, wenn Lenz nach
einem Selbstmordversuch unter Bewachung im Wagen nach Straßburg ge-
bracht wird, wird das Gebirge, die unverrückbare Kuhsse seines Wahns, il-
luminiert von der sinkenden Sonne. Was als tiefblaue Kristallwelle sich in das
Abendrot hebt, ist ein befriedetes Chaos, ein Gebirge gewordenes Ausatmen
der Welt. Lenz aber taucht in die Leere. „So lebte er hin."
Wahrnehmung der Natur ist seit Ausgang des 18. Jahrhunderts ethisch-
ästhetisch geprägt. Diese Naturästhetik erwächst mentalititsgeschichtlich aus
dem Zerfall des theologisch-metaphysischen Deutungssystems, wie Joachim
Ritter in vieldiskutierten Thesen dargelegt hat14. Das Bewußtwerden von
Natur auf dem Wege der Aisthesis, so Ritters Ansatz, kompensiert ihren
Verlust als Lebenswelt; an diesem Vorgang hat schon die Industrielle Revo-
lution ihren Anteil. Im Gefolge von Aufklärung und Empfindsamkeit (beide
sind dialektisch verknüpft) zerfällt der von der Antike geerbte, von Aristote-
les geprägte Begriff der Theorie - der immer die „ganze Natur" als Kosmos
oder als Physis meinte. „Auf dem Boden der philosophischen Theorie gibt es
keinen Grund für den Geist, ein besonderes, von der begrifflichen Erkennt-
13
Ebd. 82
14
J.Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. 1963,
in: Subjektivität 141 ff.
154
Ungeheure Berge umgaben mich, Abgründe lagen vor mir, und Wet-
terbäche stürzten herunter, die Flüsse strömten unter mir, und Wald
und Gebüg erklang; ich sah sie wirken und schaffen ineinander in den
Tiefen der Erde alle die unergründlichen Kräfte; und nun über der
Erde und unter dem Himmel wimmeln die Geschlechter der mannig-
faltigen Geschöpfe. (...) Vom unzugänglichen Gebirge über die Ein-
öde, die kein Fuß betrat, bis ans Ende des unbekannten Ozeans weht
der Geist des Ewigschaffenden und freut sich jedes Staubes, der ihn
vernimmt und lebt.16
Der junge Goethe sah noch die Spuren des Schöpfers. Für Schiller ist Natur
schon die verborgene, wie er in der Vorrede zur Braut von Messina (1803)
darlegt. Diese Position war vorgegeben seit der Abhandlung über naive und
sentimentalische Dichtung (1795); Schiller sah dort Natur als Idee in der
Dichterwelt aufgehen. Den Gegensatz von Antike und Moderne als histori-
sche Transformation, die bis an die Wurzeln der Wahrnehmung geht, hat
Joachim Ritter in eine berühmte Formel gekleidet: „Das Ästhetische der
Landschaft ist so in seinem Grunde das Scheinen der an sich verlorenen
ganzen Natur" 17 . Dieses Verlorene haben seit der Romantik die Künsder in
sich selber aufgesucht - kraft eines Blickes, der das mythische Urbild aller
Natur, das Goldene Zeitalter, wieder heraufruft. Als inneres Universum wird
Natur im kreativen Menschen entdeckt. Der biblische Schöpfungsmythos
vom göttlichen Chaos des Anfangs - bei Hölderlin transformiert zum
„Rätsel des Reinentsprungenen" - wird in der Wendezeit um 1800 zur Alle-
gorie menschlicher Schaffenskraft. Dem Geniegedanken entspringt als natu-
raler Mythos der Kult der Kreativität; Chaos und Wahn sind darin nobüitiert.
Die antike Theorie von der Natur repräsentierte ein ideales Ganzes; sie
lieferte durch Konvergenz von Gott und Welt dem Pantheismus wichtige
Argumente. Die Trennung von Natur und Geist ist seit dem deutschen Idea-
lismus notorisch. Auch Hegels Naturphilosophie konnte die Differenz der
Wissenschaften, die aus dem Zerfall des Enzyklopädiekonzepts hervorging,
nicht aufhalten18. Das 19.Jahrhundert, das die Arbeitsteiligkeit entdeckte und
in der Wissenschaft den Tatsachenglauben, in der Kunst den Realismus er-
fand, entmachtete die Idee einer „ganzen Natur" zugunsten partikularer Er-
kenntnis. Sein Realismus war zunächst ein bürgerlicher Protest gegen
geschöntes Dasein und falsches Bewußtsein, einem fast religiösen Bedürfnis
nach Wahrheit sich verdankend. Wie Werner Hofmann mit Blick auf Cour-
bets Programmbild Das Atelier (1855) schrieb: „Eine tiefe Sehnsucht nach
dem Freien, Ungebundenen, Natürlichen spricht sich darin aus. Die Land-
schaft ist das Stück Welt, das jedem gehört. Eben weil man sich von der er-
sten Ursprünglichkeit getrennt weiß, sucht man eine zweite, vom Entschluß
herbeigeführte, zu gewinnen. In der Landschaft verjüngt sich eine alternde
Zivilisation und richtet ihren Blick, vom historisch-mythologischen Ballast
befreit, auf das geschichtslose Ereignis der Stetigkeit und Dauer"' 9 .
Die Wahrheitssuche, die das Jahrhundert umtrieb, als Suche nach der
Wirklichkeit verkleidet, legt an der Natur ihr Widers tändiges, Wildes, Chaoti-
sches bloß. Natur als Gegenwelt zur bürgerlich geordneten Gesellschaft
stößt ab und fasziniert zugleich. Diese Ambivalenz hat am klarsten der Mei-
ster des realistischen Romans, Gustave Flaubert, erkannt. In seiner Education
sentimentale (1843 begonnen, aber erst 1869 veröffentlicht), bricht Natur an
entscheidender Stelle als Kontrast in die Welt der schönen Illusionen ein.
Durch bloße Beschreibung der Wildnis ringsum macht Flaubert menschliche
Schicksale, ja die Geschichte selbst — das Liebesabenteuer Frederic Moreaus
mit Rosanette ebenso wie die Revolution von 1848 — zu einer Eskapade und
einer Bagatelle. Der Text konterkariert idyllische Erwartung; er inszeniert ein
Drama der Gewaltsamkeit, der Magie und Behexung:
18
Dazu R.Bubner, Einleitende Bemerkungen, in: R.Bubner, B.Gladigow, W.Haug (Hg.),
Die Trennung von Natur und Geist (München 1990) 7ff.
19
Hofmann 20
156
Wenn die Liebenden auf ihrem Waldspaziergang auf einen Steinbruch sto-
ßen, interessiert nicht die mühsame Arbeit, die dort geleistet wird, sondern
die Reminiszenz an Untergang und Katastrophe. Das Wahnhafte, Sinnlose
an diesen Monumenten gehört zur Inszenierung:
Die Stunde der Wahrheit, im panischen Licht, ist dieses Erwachen in einer
Wüste am Ende der Geschichte, inmitten einer gespenstischen Auferste-
hung. Zwischen Apokalypse und Psychologie läßt Flaubert seine Beschrei-
bung changieren. Er beschwört für Momente das Chaos; das kalte Licht der
Kunst fällt auf eine Natur, die der Leser in seiner eigenen Psyche wiederfin-
det. Die „impassibilite", die Flaubert von seinen Kritikern vorgeworfen
wurde, erweist sich als das Analogon zur göttlichen Indifferenz der Natur
dem Drama von Leben und Tod gegenüber. Die Revolution von 1848, die
Flaubert als junger Mann atemlos mitverfolgte, ist zwanzig Jahre später in
20
Haubert 412
21
Ebd.
" E b d . 413
157
der Sicht des Autors nur noch akustisches Beiwerk zu einem fernen,
sinnleeren Tumult:
Manchmal hörten sie ganz in der Ferne Trommelwirbel. Das war der
Generalmarsch, der in den Dörfern geschlagen wurde, um zur Vertei-
digung von Paris aufzurufen.
'Ah ja, der Aufruhr', sagte Frederic dann in geringschätzigem Mideid,
denn diese ganze Aufregung erschien ihm erbärmlich neben ihrer
Liebe und der ewigen Natur.23
Der Künsder Flaubert rührt an das Chaos, ohne sich von ihm ergreifen zu
lassen. Anders Rimbaud, der diesem Chaos sich hingibt. Weit radikaler als
Flaubert, der mit seinem Arbeitsethos, seiner Disziplin und seiner Abscheu
vor Anarchie ein Bürger blieb24, bricht Rimbaud mit der tradierten Ästhetik
wohltemperierter Konflikte. Seine Dichtung lebt vom Prinzip der Regres-
sion, der künstlichen Zerrüttung, die der „Seher-Brief vom 15. Mai 1871 als
Ingredienz des Schöpferischen preist: Ankommen im Unbekannten 25 . So er-
findet Rimbaud eine Rhetorik des Chaos, die das Ich aus konventionellen
Sprach- und Denkmustern reißt, es für sich selbst zu einem „Anderen"
macht. Die neue, unerhörte Musik, die dieser Orpheus spielt, beschwört
Mächte, die wie bei Richard Wagner im mystischen Abgrund des Weltorche-
sters wohnen - mit dem ersten Bogenstrich erwacht die Symphonie in der
Tiefe. „Das Ich versinkt nach unten, wird entmächtigt durch kollektive Tie-
fenschichten"26. So kultiviert Rimbaud die planmäßige Verwirrung aller
Sinne - bis hin zur Selbstvergiftung. Er wird zum Märtyrer, der stellvertre-
tend für die anderen leidet, zum Kranken, zum Verbrecher, zum Ver-
dammten. Er übernimmt, im Sprachspiel des Mythos, die Rolle des
Feuerdiebes Prometheus. Doch das Feuer Rimbauds ist aus Vulkanen geholt,
stammt nicht von Göttern. Und dafür muß er eine neue Sprache finden.
Das Chaos ist, christlich gesprochen, die Hölle, in die Rimbaud wie sein
Vorgänger Dante hinabsteigt um der Erkenntnis willen. In seiner Saison en
Enfer (1873) schildert er die Delirien, denen er Dichtung verdankt - die rea-
len so gut wie die imaginierten. „Diese Augenblicks-Delirien lassen die Seele
zu ihrer wahren wilden Natur zurückfinden"27. Der Wortalchimist experi-
mentiert mit Halluzinationen, synthetisiert Metaphern wie unbekannte
Stoffe. Im schöpferischen Taumel, sich selbst den „Sophismen des Wahns"
überliefernd, rührt das Bewußtsein an das Andere. Rimbaud setzt dafür die
23
Ebd. 415
24
Dazu Hauser 832f.
25
Die entsprechende Passage aus dem Lettre du voyant ist abgedruckt bei W.Höllerer,
Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik I (Reinbek 1965) 69f.
Zu Rimbauds dichtungsgeschichtlichem Ort vgl. Friedrich 59 - 94
26
Friednch 62
27
Y.Bonnefoy, Arthur Rimbaud (Reinbek 1962) 61
158
überlieferte Chiffer des Heiligen ein, besetzt sie aber sofort mit n e u e m Sinn:
, J e finis par trouver sacre le desordre de m o n esprit" 28 . Das Chaos dieses
Geistes (der Konkurrent und Widersacher des christlichen P n e u m a ist) rich-
tet die bürgerliche Vernunft und Moral; Rimbaud selbst diktiert i h m die
soteriologische Rolle. Das Chaos ist jene dunkle Folie, vor der die Poiesis
zum wahren Lichte vordringt. Ihr Leuchten ist dem Azur geraubt. A b e r nicht
der götterlose Himmel, sondern Natur ist die höchste Instanz für den Dich-
ter: „Enfin, ö bonheur, ö raison, j ' ecartais du ciel f azur, qui est du noir, et je
vecus, etincelle d' or de la lumiere nature"29. D a s Chaos will sich i m Dichter
erleuchten. In dieser Mystik, die Yves Bonnefoy auf den Einfluß des Okkul-
tisten Eliphas Levi zurückführt, ist sinnliche Erkenntnis nur Ausdruck eines
Verhaftetseins an die Erscheinungswelt. G e r a d e die Halluzination, die Hin-
gabe ans Chaos, befreit den Logosfunken. .Jenseits der sich aufhebenden
Ansichten erscheint dann die Möglichkeit der Vision als schräge, paradoxale
u n d flüchtige W a h r n e h m u n g des entschleierten Seins der Dinge" 3 0 .
Rimbauds Gedicht Genie aus der Sammlung Illumination! (1872/73) ist
eine Art v o n Selbstporträt, zugleich eine Poetik der Ekstase. D e r Geist der
Dichtung, eingetreten in den universalen Leib der Natur, öffnet die Gefäng-
nisse der Zivilisation; er entgrenzt, wirbelt Zeiten u n d Z o n e n durcheinander
zu absoluter Präsenz, als Sturmwind und Geist einer anarchischen Liebe, als
naturales Pneuma, das aus dem Chaos Verzückung hervorlodern läßt:
Er ist die Zuneigung und die Gegenwart, da er das Haus geöffnet hat
dem schaumigen Winter und der Gärung des Sommers - er, der die
Getränke und die Speisen gereinigt hat -, er, der der Zauber der vor-
überfliehenden Ortschaften und das übermenschliche Entzücken der
Haltestellen ist. - Er ist die Zuneigung und die Zukunft, die Kraft und
die Liebe, die wir, aufrecht in den Rasereien und Widerwärtigkeiten,
vorüberziehen sehen am sturmdurchtobten Himmel und in den Fah-
nen der Verzückung.31
28
Rimbaud 298/299: „Schließlich kam ich dahin, die Verwirrung meines Geistes als etwas
Heiliges zu empfinden."
29
Rimbaud 302/303: „Zuletzt, o Glück, o Vernunft, löste ich das Blau vom Himmel ab, so
daß er nun schwarz ist, und ich lebte, goldener Funke des Lichtes Natur."
30
Bonnefoy, Arthur Rimbaud 61
31
Rimbaud 190/191
159
32
Friedrich 84
» Rimbaud 170/171
* Rimbaud 280/281: „Kein Vertrauen mehr zur Geschichte, die Prinzipien vergessen"
(Nmt dt /Eit/er).
35
Rimbaud 204/205: „Während die Staatsgelder zernnnen in Festen der Brüderlichkeit,
läutet eine rosafarbene Feuerglocke in den Wolken" (Phrases).
160
Rimbaud schlägt die bürgerliche Ästhetik mit deren eigenen Mitteln. „Die
Sprengung geschieht nicht im Syntaktischen, sondern in den Vorstellungen.
(...) Die Vorstellungen selbst sind Protuberanzen der Phantasie, die nicht nur
von Strophe zu Strophe, sondern von Zeile zu Zeile, zuweilen sogar inner-
halb einer Zeile, auf Fernes und Wildes noch mehr Ferne und Wildheit
häuft"37. Der siebzehnjährige Dichter, der seine Zeit in der Hölle noch vor
sich hat, wahrt äußerlich die Form. Rimbaud negiert mit dem Begriff dome-
stizierter Natur auch den cartesianischen Subjektbegriff. In der Saison en Enfer
wird er ihn lustvoll entmachten und sich auf sein „böses Blut" berufen:
„Kenne ich noch die Natur? Kenne ich mich selbst? - Keine Worte mehr.
Ich begrabe die Toten in meinem Bauche. Geschrei, Trommelschlag, Tanz,
Tanz, Tanz, Tanz! Ich sehe nicht einmal die Stunde, in der die Weißen an
Land gehen und ich ins Nichts stürzen werden" 38 . Aus dem Haß gegen die
Weißen, gegen die Kanone, gegen die Mission, gegen den „Stoß der Gnade"
deklariert sich der Dichter als Tier, als Neger39. Das Pathos ist das des Barba-
ren, der sich weigert, zivilisiert zu werden, des Verdammten, der die Bekeh-
rung von sich stößt: ,Je me crois en enfer, donc j'y suis"40. In grimmig-
ironischer Umkehr der cartesianischen Methode vergewissert sich Rimbaud
seines Heidentums. Wie Joseph Conrad sucht er das Herz der Finsternis;
seine Hölle ist, poetologisch, das große Kombinations- und Verwirrspiel des
luziferischen Geistes. Doch das Chaos, Hort einer rebellischen Vitalität, ist
untergeordnet einer höheren Instanz: „A toi, Nature! je me rends" 41 . Der
gewaltige Part der Natur bei Rimbaud ist, wie Rene Char betonte, für die
französische Dichtung des 19. Jahrhunderts ungewöhnlich. Diese universale,
sinnstiftende Macht erscheint im Strom des Gedichts „als Materie, lichter
Hintergrund, schöpferische Kraft, Trägerin inspirierten oder pessimistischen
Vorgehens, als Gnade" 42 . Die so lang unterdrückte Natur begehrt als Spra-
che auf. Ihre Energie geht auf den Autor über, der gewaltsam aufbricht ins
Unbekannte; denn die wahre Revolution ist die der Poesie. Die Poesie aber
muß der Natur, in der sie steckt, entrissen werden. Rimbaud wird zum Bar-
baren, der nach dem Ende aller Geschichte sein Banner über dem Reich der
Freiheit, dem Reich der Unmöglichkeit hißt - „die Flagge von blutigem
Fleisch über der Seide der Meere und den Blumen des Nordpols (es gibt sie
36
Rimbaud 134/135
37
Friedrich 74f.
38
Rimbaud 273
39
Ebd. 271
40
Rimbaud 278: „Ich glaube, daß ich in der Hölle bin, also bin ich in ihr" (Nuil de /Enfer).
41
Rimbaud 158: „Dir, Natur, gebe ich mich hin" (Baumerts de mm).
42
R.Char, Porträt und Poesie, hg. von P. Guerre (Darmstadt 1968) 166. Der Rimbaud-Essay
wurde 1956 geschrieben.
nicht)" 43 . Aus dem Feuer der Negativität hat Rimbaud eine Dichtung ge-
wonnen, die noch die Zonen des Todes erleuchtet.
43
Rimbaud 189
44
Wittgenstein und der Wiener Kreis: W 3,117
45
Wittgenstein W 8, 452
46
Ebd. 507 (1941)
47
Dazu Schulte 11 - 4 2
48
Wittgenstein W 8, 465 (1931)
49
Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen (=PU). Januar 1945 (W 1, 232f.)
162
so PU 203 (W 1,346)
5'PU 115 (W 1,300)
52
PU 114 (ebd.) mit selbstkritischem Verweis auf Tract. 4.5 (W 1,45)
» Wittgenstein W 8, 519 (1946)
M
Ebd. 530 (1947)
55 Wittgenstein W 6, 230
« Ebd. 229
57
Dazu M.Frank/G.Soldati, Wittgenstein. Literat und Philosoph (Pfullingen 1989) 56ff.
58
Dazu Wittgensteins Bemerkungen über Fräsers Golden Bough, in: Vortrag über Ethik und
andere kleine Schriften, hrsg. von J.Schulte (Frankfurt/M. 1989) 29 - 46
59
Ebd. 29
M
Ebd.
163
was Sünde für die Religion ist; beide weisen auf Ethisches hin. Demonstrativ
nimmt Wittgenstein für wildes Denken, für religiösen Symbolismus, ja für
Magie Partei. So beklagt er die Enge des seelischen Lebens bei Frazer, seine
Unfähigkeit, ein anderes Leben zu begreifen als das englische der spätviktori-
anischen Zeit. Von daher verteidigt er das Phänomen des Heiligen: ein Name
ist heilig, weil er das wichtigste Instrument ist, das einem Menschen gegeben
wird61. Der Vorwurf des Irrtums fällt zurück auf eine Wissenschaft, die das
Magische in das Prokrustesbett ihrer Meinungen zwingt. Das wilde Denken
handelt niemals aus Meinungen, sondern weil es das Furchtbare, Großartig-
Tragische (etwa die Tötung des Priesterkönigs von Nemi) konkret als etwas
Heiliges erlebt; Wittgenstein erkennt in dieser Opferhandlung die „unge-
zähmte Majestät des Todes" 62 . Dem ethnologischen Blick des Philosophen,
der das Fremde, die Gegen-Vernunft, den „Unsinn" zu objektivieren weiß,
wird klar, daß im Verwirrenden sich Ordnung nicht sagt, sondern %eigt. Sich-
Zeigen ist eine Art von Illumination.
Mit Genugtuung verweist Wittgenstein auf die magische Praktik, die das
Nachleben Franz Schuberts sichern sollte: „Denken wir daran, daß nach
Schuberts Tod sein Bruder Partituren Schuberts in kleine Stücke zerschnitt
und seinen Lieblingsschülern solche Stücke von einigen Takten gab. Diese
Handlung, als Zeichen der Pietät, ist uns ebenso verständlich, wie die andere,
die Partituren, unberührt, niemandem zugänglich aufzubewahren"63. Dieser
Opferritus, der Andenken stiftet, wirft Licht auf den Toten, erleuchtet sein
sonst chaotisches Leben. Vieles in uns, so Wittgenstein, spricht für die
Handlungsweise der Wilden, da das Symbolbedürfnis tief in uns selber
steckt; gerade das Wilde in uns verlangt nach philosophischer Klärung. Wir
wissen, was „Geist" und „Schatten" meinen, weil etwas in uns erleuchtet
werden will: „Nichts zeigt unsere Verwandtschaft mit jenen Wilden besser,
als daß Frazer ein ihm und uns so geläufiges Wort wie ,ghost' und ,shade' bei
der Hand hat, um die Ansichten dieser Leute zu beschreiben"64. Hier ist es
wieder, das Zauberwort „Es zeigt sich", die magische Formel, mit der
Wittgenstein ein Evidenzerlebnis, eine Illumination zu fassen sucht. Das
„Tiefe und Finstere" in unserer Natur, etwa der Brauch des Menschenopfers,
deutet auf Wildes hin, das rituell eng mit Sakralem verknüpft in unser Leben
eingebunden ist: Wir tragen eine Erinnerung in diesen Ritus hinein65. Darin
sind Tiefe und Evidenz verschwistert. Entgegen der pseudowissenschaft-
lichen Erklärungsweise Frazers sieht Wittgenstein im Ritus eine sinnerfüllte
Handlung, eine „sprechende Operation". Unsere Sprache bewahrt in ihren
61
Ebd. 33
« Ebd. 31
« Ebd. 34
<* Ebd. 38
65
Ebd. 43
164
66
Ebd. 38 Dazu Schulte 125ff.
67
PU 194 (W 1, 342). Vgl. Vermischte Bemerkungen (1940): „Wenn wir die ethnologische
Betrachtungsweise verwenden, heißt das, daß wir die Philosophie für Ethnologie erklären?
Nein, es heißt nur, daß wir unsern Standpunkt weit draußen einnehmen, um die Dinge
objektiver sehen zu können" (W 8, 502).
<* PU 309 (W 1,378)
69
Blumenberg, Höhlenausgänge 761 ff.
70
M.Geier, Das Sprachspiel der Philosophen (Reinbek 1989) 210
71
Wittgenstein, Tractatus 6.45 (W 1, 84)
72
Wittgenstein W 1,169
165
73
Wittgenstein W 8, 542 (1948)
74
Ebd. 572 (1950)
75
Ebd. 510 (1943)
76
PU 130 (W 1,304)
77
Wittgenstein W 8, 563 (1949)
78
Ebd. 503(1940)
79
Ebd. 525 (1946). Zum biographischen Hintergrund: Monk 519ff.
80
Trakl 77. Der Text in 4. Fassung.
166
Voll Harmonien ist der Flug der Vögel. Es haben die grünen
Wälder
Am Abend sich zu stilleren Hütten versammelt;
Die kristallenen Weiden des Rehs.86
Doch nicht die Suche nach einer Logik, nach Maß und Gesetz, sondern das
schiere Entsetzen hat Trakl am Ende die Zunge gelöst: Das Chaos, das ihm
in Grodek entgegenschlug, war Menschenwerk. Trakl rettet sich in Bilder
einer mythisch verstörten, dionysisch erregten Natur. Deren Passion er-
wächst aus der menschlichen Wildnis. Der Dichter Trakl zeigt, wie später der
Philosoph Wittgenstein, .Ausschnitte aus einer Ungeheuern Landschaft"87:
81
Wittgenstein, Geheime Tagebücher, hg. von W.Baum (2.Auflage Wien 1991) 38 Anm. 56
82
Ebd. 39
83
Ebd.
84
Ebd. 45 f.
85
Wittgenstein W 1,121
86
Trakl 78f.
87
Wittgenstein W 8, 529 (1946)
167
Die diskreten Anklänge an Hölderlin rufen bei Trakl das Bild heiliger Wildnis
herbei. Doch das Blutgewölk, worin der zürnende Gott wohnt, tränkt das
Motiv vollends mit Entsetzen und Gewalt. Die Verborgenheit des Gottes ist
eine Form seines Zornes. Daß dieser Tag mit mondener Kühle versöhnt, ist
eine Illusion; sein Telos bleibt Auflösung. Das Gedicht präsentiert stark
farbige, apokalyptisch getönte Bilder, die zu erstarren beginnen. Inmitten
eschatologischer Landschaft fällt die Geschichte an die Natur zurück: „Alk
Straßen münden in schwarze Verwesung". An Ende steht die Mythisierung
der Großen Trans formarion im Zeichen der Heraklitischen Flamme. Das
Chaos, das mit Geschichte eins wird, taucht ein die Todesverklärung, wie sie
von den Relikten der sterbenden Bukolik — dem schweigenden Hain, den
dunklen Flöten des Herbstes ausgeht. Die Raserei des Krieges vernichtet die
Idylle, die den Knaben Elis, das alter ego Trakls, einst eingesponnen hatte.
Der Text hält die blutigen Trümmer dieser Idylle wie Ikonen hoch. Im Ritual
des Schmerzes, hierin ein Jünger Nietzsches, feiert Trakl das Ende der Ge
schichte als Untergang zur Ewigen Wiederkehr. Die Chiffer der „ungebor
nen Enkel" verschmelzt Hoffnung und Furcht ineins.
Ohne es zu wissen, waren Trakl und Wittgenstein einander nah in ihrer
Todessehnsucht. Beide rührten ans Chaos in der eigenen Natur. Trakls
Freitod, Wittgensteins Selbstmordversuchungen sind, ethisch gesprochen,
verzweifeltes Anrennen an die Grenze der Sprache als Grenze der Welt. In
Trakls Grodek wie in Wittgensteins Tractatus klafft zwischen Sagen und Zei
gen ein Abgrund. Die Differenz ist beiden aus ihrer Praxis des Schreibens
bewußt, ebenso die ethische Implikation dessen, was vordergründig Verfall
und Scheitern heißt. So notiert sich Trakl in einem Aphorismus: „Gefühl in
den Augenbücken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert.
88
Trakl 94
168
Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist all deine ungelöste
Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne" 89 . Die Schwester, deren
Schatten durch das Gedicht schwankt wie eine neue Antigone, wird zur Alle-
gorie Versehrter Natur, deren Trauer nur gestisch darzustellen noch ist. Als
Anima des Dichters taumelt sie sprachlos aus der Geschichte heraus. Die Er-
schütterung kommt aus dem Jenseits des Textes; denn bei Trakl ist das Hei-
lige in der Gewalt verborgen, in blutenden Häuptern, die an das Haupt eines
Andern erinnern. Aber das Heilige kann nicht mehr Sprache werden. Woran
der Akt des Schreibens als Akt des Andenkens rührt, ist objektive Verzweif-
lung. Der Text, von seinem Autor sich lösend, gewinnt ein Eigenleben, das
mit dem Lebensproblem des Schreibenden nichts mehr zu tun hat - ihn vor
dem Freitod nicht rettet. Allein der Dichter zähmt, was den Menschen zer-
reißt: das wilde Tier in sich. Wie Wittgenstein ein Vierteljahrhundert später,
in einem anderen Kriege, als seine Ästhetik notiert: „In aller großen Kunst ist
ein WILDES Tier: gezähmt". Und weiter: „Alle große Kunst hat als ihren
Grundbaß die primitiven Triebe des Menschen" 90 . Der Satz meint nicht Psy-
chologie, sondern Ethik — die Bearbeitung der Todeswünsche. Aus diesem
Wort fällt Licht auf Wittgensteins eigenes Chaos.
Die Landschaft Trakls entsteht aus der Zerstörung des Sinnsystems Ge-
schichte. Wie Hölderlins „verschwiegene Erde" gewinnt sie religiöse Quali-
tät. Trakl tränkt seine Bilder mit der Idee des Opfers, mit dem Pathos der
kollektiven Passion. Natur, sakralisiert, ist der Körper, der die Passion erlei-
det. Doch diese Deutung gibt es nicht im Litteralsinn; sie ist im Text einzig
als ethische Implikation enthalten. Trakl beschreibt eine Opferhandlung;
doch das Gedicht bleibt unvollkommene Sühne für ungenannte Schuld. Aus
dem Zweiten Weltkrieg ist uns kein Gedicht wie Grodek überliefert. Es fehlte
nicht an Dichtern. Doch mit dem Mißbrauch der Wörter, den Politik beid-
seitig der Fronten betrieb, hatte der Ausdruck einer ganzen Kultur sich ver-
ändert. So als hätte der Krieg die Landschaft selbst zum Verschwinden ge-
bracht.
Der Zweite Weltkrieg mit seinen Umbrüchen und Katastrophen brachte für
Wittgenstein einen „Aspektwechsel" 91 . Zum ersten Mal schien ihm das
Chaos ein möglicher Urgrund der Philosophie - wie er überhaupt in den Jah-
ren 1947/48 zu einer apokalyptischen Ansicht der Welt kam. Er hat den
Glauben an eine historische Zukunft verloren, fest davon überzeugt, „daß
die Idee vom großen Fortschritt eine Verblendung ist, wie auch von der end-
lichen Erkenntnis der Wahrheit; daß an der wissenschaftlichen Erkenntnis
89
Ebd. 256
90
Wittgenstein W 8, 502 (1940)
91
Dazu biographisch Monk 518ff.
169
nichts Gutes oder Wünschenswertes ist und daß die Menschheit, die nach ihr
strebt, in eine Falle läuft"92. Diese Position hat ihre eigene mephistophelische
Wahrheit. In Bertrand Russells Augen war Wittgenstein nur noch einer, der
Verwirrung stiftet93. Was ihn bedrängt wie belebt, sind unzählige irrelevante
Fragen, die keiner festgefügten Ordnung mehr sich fügen: „Möge ich durch
diesen Wald mich durchschlagen können!" 94 In dieser Phase entdeckt der
Mystiker Wittgenstein die Inspiration in der schwer faßbaren Tiefe des Irre-
gulären, wo die Fragezeichen anzusetzen und die Probleme des Lebens allein
zu lösen sind95. Diese Tiefe ist durchaus chaotisch. „Die Gedanken steigen,
langsam, wie Blasen an die Oberfläche" 96 . Das merkwürdige Bild taucht
schon in Shakespeares Macbeth auf, wo Banquo das Verschwinden der drei
Hexen kommentiert: „Die Erd' hat Blasen, wie das Wasser hat,/ So waren
diese - wohin schwanden sie?"97 Auch Wittgenstein verdankte manches an
seiner Philosophie den „Wurzeln des verworrenen Lebens", wie Hof-
mannsthal in einem berühmten Gedicht geschrieben hatte.
Shakespeares Metapher hat noch einen Dichter inspiriert, dessen Senso-
rium für Chaotisches hochgradig ausgeprägt war. In seinem Zyklus Blasen der
Erde (ITy3i>ipH 3eMJiH) schrieb Alexander Blök, der Großmeister des rus-
sischen Symbolismus, am 3. Juni 1905, als die Niederlage gegen Japan offen-
kundig war und die erste russische Revolution sich vorbereitete, ein Gedicht,
in dem Naturgefühl und Verzweiflung am Gang der Geschichte zu dunkler
Erkenntnis gerannen:
Dieser Sumpf, der als Sinnbild für Rußlands Stagnation sich förmlich auf-
drängt, ist unwandelbar und unheilbar chaotisch; nichts vermag ihn in sei-
nem anarchischen Wesen zu ändern. Jenseits von Gut und Böse bleibt er der
ewige Anlaß, ihn mit vergeblichen Blitzen des Geistes zu illuminieren. Jeden,
der ihn betrachtet, macht er hilflos, zornig und einsam. In diesem Naturzei-
chen hat Blök das Psychogramm einer autokratisch erstarrten Gesellschaft
gegeben, der selbst der religiöse „Überbau" Lähmung und Last des Schwei-
gens auferlegt. Aber der Dichter ist nur Medium. Das klassische Subjekt-
Objekt-Verhältnis wird poetisch umgedreht: nicht nur der Dichter betrachtet
den Sumpf, sondern der Sumpf betrachtet auch ihn. Abscheu und Faszina-
tion vermischen sich in diesem Spiel. Der Sumpf gleicht dem russischen
Volk, das dumpf auf den Erlöser wartet; über ihm hegt eine „entsetzliche
Trägheit und ein furchtbarer Schlaf". Doch Blök ahnt die verborgene Gä-
rung. In der düsteren Stimmung einer „abgeschnittenen Knsis"
(J.Burckhardt) furchtet er das Volk; er spürt das langsame Erwachen eines
Riesen, fühlt sich von ihm beobachtet, zugleich gebannt. Die quälende Isola-
tion der Intellektuellen, die nicht imstande sind, Rußland zu retten, verurteilt
er in einem Aufsatz von 1908 als „Selbstvergessenheit der Schwermut, der
Verzweiflung, der Gleichgültigkeit"100. Das Gefühl historischen Versagens
wird ihn 1917 zum Sympathisanten der bolschewistischen Revolution ma-
chen. Die Gesetzlosigkeit, ihre verzweifelte Kraft ist für den Dichter heilig
(besnatschal'naja dolja svjata) - so wie hundert Jahre zuvor für Hölderlin die
98
Blök, Gedichte 32/33. Für kommentierende Hinweise zur Übersetzung danke ich Prof.
Rolf-Dietrich Keil (Meckenheim).
99
A.Blok, Volk und Intelligenz. 1908 (Aufsätze 29). Das „Rauchblau Blokscher Sümpfe" wird
noch für Nabokov, den Emigranten im Berlin der dreißiger Jahre, Sinnbild des Leidens an
Rußland sein. Vgl. V.Nabokov, Die Gabe. Roman (Reinbek 1993) 64.
100
Blök, Aufsätze 36
171
Wildnis von Tinian. Bloks Gedicht belegt die These Wittgensteins, daß
Ästhetik und Ethik in der Tiefe eins sind.
Im Juni 1905 versinkt Blök in ein Endzeitgefühl, das sich als Depression
tarnt; mitten im Sommer quälen ihn „schwarze Tage". Vom Landsitz
Schachmatowo schreibt er, drei Wochen nach Niederschrift seines Gedichts,
an den Freund J.P.Iwanow, daß ihn Ereignisse angriffen, „die sich auf dem
allerwichtigsten Gebiet, dem 'Unsagbaren', begeben hatten" 101 . Bloks ganzer
Zorn richtet sich gegen St.Petersburg, die im Sumpfland gegründete Haupt-
stadt eines despotischen Rußland, die zeichenhaft für das politische Miasma
steht, für Verderbnis, Befleckung, Verseuchung. Der einsame Sumpf, Meto-
nymie für einen moralischen Zustand, verweist auf das geschichtliche Zen-
trum des Unheils: „Denn ich weiß, daß dieser eklige, faule Kern, wo unsere
Verwegenheit sich abquält und verkümmert, von Abgründen, bodenlosen
Morästen umgeben ist, wie sie das Auge des Menschen noch nicht gesehen
hat, das Ohr nicht vernommen. Ich habe die Grenzen unserer Stadt berührt,
ich weiß, ich weiß, was dort ist, daß die Winde noch lange dort zu winseln,
die Teufel umzugehn, die Ursupatoren in die Fäuste zu pfeifen haben. Noch
lange wird bei der Lachta Offenbarung vollzogen, werden die Himmelsröten
die Brust aufregen und überschütten mit dem Salz der Tränen und wird eine
Welt-Unsagbarkeit locken aus der Kloake" 102 . In diesem Brief, der authen-
tisch gerade in seinem Haßausbruch ist, zitiert Blök die Charakteristik, die
Iwan Konewskoj (1877 — 1901), der symbolistische Dichter, von Petersburg
gegeben hatte: „entlegenste tote Bucht", „Land der Flußmoräste", „Reich
des Dämons von Altmoskau". Bloks Geschichtskritik, gesteigert zum Duk-
tus des Untergangspropheten, zieht ihre Kraft aus einer Naturästhetik, die
Schönheit und Wahrheit substantiell ineins setzt.
Daß die Anarchie in dem Sumpfgedicht „heilig" genannt wird, ist Aus-
druck langer Enttäuschungsgeschichte und kollektiver Erinnerung an die Re-
volte der Raskolniki, an den „sengenden, brennenden Christus" 103 . Bloks
Brief an J.P.Iwanow gipfelt in der förmlichen Absage an den tradierten Gott.
Die Radikalisierung ist erstaunlich: „Ich will Aktivität, ich spüre, daß das
Feuer wieder naht, daß das Leben nicht wartet (es kommt nicht dazu — das
Feuer wird von seihst herfliegen), ich will viel hassen, will härter. (...) Das Alte
bncht zusammen. Nie nehme ich Christus an"104. In der eschatologischen
Stimmung des Entweder - Oder, vor der Notwendigkeit der Metanoia,
entscheidet sich Blök gegen alle historischen Sinnstrukturen, selbst gegen die
russische Christusreligion, die er ohne zu zögern dem Lager der
Herrschenden zuschlägt. Im Namen des Chaos sucht Blök den Ausgang aus
der Geschichte, doch ohne ihn zu finden. Das Rot der brennenden Götter-
101
Blök an J.P.Iwanow am 25.6.1905 (Lange 142)
102
Lange 142f.
105
Vgl. das Gedicht Heimat (Rodina), entstanden 1907/14 (Gedichte 123)
104
Lange 144
172
halle, das Richard Wagner, der „Beschwörer des alten Chaos"105, einst in
Musik gesetzt hatte, wird sich mit Lenin zum Banner der wirklichen Revolu-
tion verwandeln; für bürgerliche Mythologie ist dann kein Platz mehr. Blök
nimmt seine Apostasie in einer anderen Stunde der Wahrheit zurück: Am
Schluß seines Poems Die Zwölf (1918) wird er die Rotarmisten, die durch das
finstere Petrograd auf Streife gehen, zu zwölf Aposteln machen, denen im
Schneesturm unsichtbar Christus voranzieht. Es ist Bloks verzweifelte Hin-
gabe an den Messianismus der Zerstörung, an den Entschluß, die alten
Tafeln ganzlich auszulöschen.
Bloks Mystik wie jene Wittgensteins zeigt auf das Unsagbare - und sei
es in einem schweigenden Sumpf. Der Philosoph wie der Lyriker sind dann
Apokalyptiker, daß sie das Geheimnis an der Oberfläche entdecken - und
verstecken. „Komm und sieh" lautet ihr apokalyptischer Imperativ. Dem
späten Wittgenstein werden Kristall und Blüte zu Trägern der Erleuchtung,
ja zu einem Wunder. Es gibt Momente, da ihm nicht das Vernunftwesen
Mensch, sondern ein wimmelnder Ameisenhaufen als Inbegriff von Leben
gilt106. Diese Wahrnehmung von Natur rührt an die Grenze der Sprache;
Phänomene werden zu Epiphanien, weil ethisch und ästhetisch unerklärbar.
Sie geben — wie die Farben - Ratsei auf, regen zum Philosophieren an107. Das
Chaos, das illuminiert, entzieht sich der Beschreibung.
Der Symbolist koppelt „gesetzlos" und „heilig" nicht kraft poetischer
Willkür, sondern um seiner Aisthesis eine Gestalt zu geben - selbst, wenn sie
widersetzlich, befremdlich, von manischer Intensität ist. Um Blök zu verste-
hen, der über Rußland, den ewigen Sumpf, ein ästhetisch-ethisches Urteil
fällt, ist Kenntnis seines historischen Ortes notwendig. Was Naturgedicht
scheint, ist politische Allegorie; sie instrumentiert die Entfremdung zwischen
Intelligenzija und Volk, die Blök in einem späteren Essay von 1908 mit
wachsender Besorgnis vermerkt. Wie vor dem Sumpf ist ihm bang vor dem
höhnischen Lächeln des „mushik", der mcht Geist, sondern Erde verkörpert
und mit Verachtung auf den Intellektuellen sieht, der vom Volk isoliert ist:
„Vor diesem Lächeln erstirbt sogleich unser Lachen. Furcht ergreift uns und
Unbehagen" 108 . Während aber im Volk der Lebenswille ungebrochen ist, ver-
fällt die Intelligenzija dem Willen zum Tode: „Gogol und viele andere
Schriftsteller stellten sich Rußland gern als die Inkarnation von Stille und
Schlaf vor. Aber der Schlaf geht zuende. Die Stille bricht ab, ihr folgt ein
fernes anschwellendes Dröhnen" 109 . Es ist jenes Rauschen der Tiefe, das
Blök später als Musik der Revolution beschreiben wird, als das Rauschen des
Chaos. Er kann sich bei dieser Wahrnehmung auf prominente Vorgänger
105
A.Blok, Der Zusammenbruch des Humanismus. 1919 (Aufsätze 105)
106
Wittgenstein W 8, 538 (1947)
107
Ebd. 544 (1948)
108
Blök, Aufsätze 29
">» Ebd. 35
173
stützen. „Gogol, Tolstoj und Dostojewski) haben die Musik der grausamen
Natur unserer Landes wohl vernommen" 1 ' 0 . So artikuliert der Zyklus Blasen
der Erde das Gefühl einer rebellischen Ohnmacht. Die Begegnung mit dem
Erdgeist wird nur noch mühsam von religiösen Chiffern aufgefangen. Blök
präsentiert im Naturzeichen den Seelenzustand seiner Epoche - den Sumpf
als Purgatorium. An den Grenzen der Sprache zeigt sich, am Vorabend einer
Geschichtskatastrophe, ein schlafendes Chaos, das Blasen an die Oberfläche
schickt. Aber von Ewigkeit her fällt Licht auf die unerlöste Natur.
Wittgenstein, Traid und Blök sind auf ihre Weise Apokalyptiker, Ver-
zweiflungskünstler - stimuliert von einem tiefen Pessimismus, der sich ge-
schichtskritisch und naturmystisch manifestiert. Blök, schon auf verlorenem
Posten, die Hoffnung auf ein Fortleben der bürgerlichen Kultur begrabend,
konstatiert im April 1919 mit stoischer Gefaßtheit den Zusammenbruch des
Humanismus. Woran er sich klammert, ist nur noch der Mythos des Künst-
lers. Der Sumpf, den er einst als Symbol sah, hatte in ungeheurer Gärung
eine reale Revolution geboren, Geschichte in Natur zurückverwandelt, wie es
Rimbaud prophezeit hatte. „Eines der Grundmotive jeder Revolution ist das
der Rückkehr zur Natur. (...) Dieses Motiv ist alptraumhaft und düster, es
spielt der Zivilisation zum Begräbnis auf. (...) Es berichtet davon, daß die
Gletscher und Vulkane jahrtausendelang schlafen, bis sie eines Tages
überraschend aufbrechen und Wasser und Feuer speien"111. Vor seinem
Tode versuchte sich Blök noch einmal an der Illuminierung des Chaos durch
Selbstopfer. In seiner berühmten Puschkin-Rede vom 10.Februar 1921 be-
schwor er, der Dialektik des Mythos vertrauend, den ewigen Widerstreit von
Chaos und Kosmos als Ursprung der Kultur. Mit verzweifeltem Idealismus
auf Puschkin sich berufend, schreibt er dem Dichter zu, die Musik der
Elemente aus dem Abgrund zu befreien112. Doch die Geschichte droht
schon mit Sinnlosigkeit: „Die Ordnung der Welt ist voller Unruhe, sie ist ein
Produkt der Unordnung und braucht unseren Vorstellungen von Gut und
Böse nicht zu entsprechen" 113 . Blök opferte sein bürgerliches Erbe auf dem
Altar der Revolution, die wie Feuer vom Himmel fiel und es verzehrte.
Auch Wittgenstein war nach dem Zweiten Weltkrieg der Zivilisation,
vor allem ihrer britischen Spielart müde: „the desintegrating and putrefying
English civilization"114. Von Cambridge, das ihm mehr und mehr verhaßt
wurde, floh er 1948 in die Einsiedelei von Rosro im irischen Connemara 115 .
Sein Entfremdungsgefühl der Natur gegenüber machte ihm schwer zu schaf-
fen. Ihm schien, „als wäre die zivilisierte Umgebung, auch die Bäume und
110
Blök, Der Zusammenbruch des Humanismus. 1919 (Aufsätze 112)
111
Ebd. 97
1,2
Blök, Über die Bestimmung des Dichters. 1921 (Aufsätze 116)
115
Ebd
114
Kodierte Bemerkung 23.4.1947 (Monk 546)
115
Monk 554ff.
174
Das „Mystische", wie Wittgenstein es nannte 121 , spielt bei den Dichtem der
Jahrhundertwende eine erstaunliche Rolle. Der Duktus des Zeigens ergibt
sich aus einer Sprachkrisis um 1900, die Fritz Mauthner und Karl Kraus
scharfsichtig reflektierten122. Die Zeigegebärde, Erbschaft des Symbolismus,
ist naturgemäß eine Ausdrucksform postmetaphysischer Dichtung. Rilkes
Achtzeiler Vorfrühling, 1924 in Muzot geschrieben, ein Meisterwerk des Re-
duktionismus, verzichtet auf alle sonst virtuose Beschreibungskunst und be-
gnügt sich mit dem reinen Gestus:
Zärtlichkeiten, ungenau,
greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigens.
Hier ereignet sich Sinngebung jenseits des konventionellen Sinns mittels der
bloßen Epideixis. Was bleibt, ist am Ende ein „Es", verheimlicht in dem ans
„zeigen" angehängten, kleingeschriebenen „s". Auch das sind Ausgänge aus
der Monumental- und Katastrophengeschichte — zu einer Ordnung hin, die
In einem Sturm gebaren sich vor meinen Augen, gebaren sich mir zu-
liebe diese Bäume, mit den Wurzeln starrend in der Erde, mit den
Zweigen starrend gegen die Wolken, in einem Sturm gaben diese
Erdrisse, diese Täler zwischen den Hügeln sich preis, noch im Wuch-
ten der Felsblöcke war erstarrter Sturm.127
123
Hofmannsthal 136
124
Ebd. 137
125
Ebd.
126
Ebd. 185. 187
127
Ebd. 187
176
Da sah ich dann die Brentagruppe hell himmelblau, wie aus Glas steif
gefältelt, in der Nacht stehen. Und gerade in diesen Nächten waren
die Sterne groß und wie aus Goldpapier gestanzt und flimmerten fett
wie aus Teig gebacken, und der Himmel war noch in der Nacht blau,
und die dünne, mädchenhafte Mondsichel, ganz silbern oder ganz
golden, lag auf dem Rücken mitten darin und schwamm in Ent-
zücken. Du mußt trachten, dir vorzustellen, wie schön das war; so
schön ist nichts im gesicherten Leben. 13°
128
Ebd. 195
129
Musil, Prosa und Stücke 555
130
Ebd. 554
131
Wittgenstein, Tagebuch 11.6.1916 (W 1,167). Vgl. Tractatus 6.41 (ebd. 82)
132
Wittgenstein W 3,117
177
Eliot, Gedichte (Frankfurt/M. 1964) 36/37: „Was ist dies Wurzelwerk, das greift, der Ast,
der sproßt/ Aus diesem Steingeröll?"
178
1M
Stevens, Collected Poems 240f. Dt. von K.Graf/J.Sartorius
179
136
Ebd. 69
137
Ebd. 70 (McCornuck 20)
138
Ebd. 222
,3
' Ebd. 506
140
Ebd. 219
141
Dazu K.Martens, Negation, Negativität und Utopie im Werk von W.Stevens (Frankfurt/M.
1980). Ders, Jemand baut eine Welt zusammen. W.Stevens, in: Akzente 32 (1985) 37ff.
181
142
Stevens, Collected Poems 70 (McCormick 20)
143
Ebd. 130
144
„Pensively seated/ On the waste throne of his own wildemess"
(Stevens, Der Planet auf dem Tisch 34).
182
sen Befund spricht der Wind, allegorisch der Große Beweger, zugleich der
Kritiker Gottes, der Welt und der Menschennatur. Natur tritt auf als höchste
Sinninstanz, noch höher gestellt als Gott und Welt, die Gipfelbegriffe
abendländischer Metaphysik. In den zuvor erwähnten Versen vom „finger-
fertigen Mann" hieß es vom Sonnenrad, daß es die Mythen überdauert. Und
weiter: „The fire eye in the clouds survives the gods" 145 . Das korrespondiert
mit Rimbauds emphatischer Hinwendung zur Natur im Umkreis der Illu-
minations. Der Symbolismus von Stevens entwirft mittels Dichtung ein
postmetaphysisches Weltbild, das sich anschickt, das religiös geprägte Sinn-
system abzulösen. Das Philosophische war dem Autor nicht unvertraut,
schon durch die Lektüre Emersons, mehr noch durch die Freundschaft mit
George Santayana, dem Harvard-Professor und Autor des Letzten Puritaners.
So betreibt Stevens in der Novemberregion auf seine Art subtile Philosophie-
kritik. Das alte Thema der Theodizee, das seit Leibniz und Voltaire die euro-
zentrische Vernunft verunsicherte, kehrt verkappt als Naturlyrik wieder:
Der Nordwind als Advocatus diaboli, als Ankläger der Gotteswerke, einer
Novemberwelt, die erfüllt ist vom Seufzen der Bäume, vom Seufzen der
Schöpfung, wird lyrisch legitimiert. Aber die Welt, wüst wie am Anfang, gibt
keine Antwort mehr außer dem Rauschen der Bäume, deren Bewegung,
Schwanken und Sowohl-als-auch, dreifach betont, das letzte Wort behält.
Doch dieses letzte Wort ist nur noch Geste:
Die Tiefe ist an der Oberfläche, das Laute transformiert in einen Klagetanz,
den die Natur selbst aufführt. Stevens, der Liebhaber eines poetischen Flo-
rida, dem schon Rimbaud gehuldigt hatte, kultiviert hier das harte, trockene
Pathos der Desillusionierung. Dichten und Leben heißt: im kahlen Novem-
berwald aushalten. Doch das monotone und windige Chaos, das im blattlo-
sen, fruchdosen Schwanken der Bäume sich ausdrückt, erleuchtet den, der
seine Sprache versteht.
Stevens, Collected Poems 222: „Das Feuerauge in den Wolken überlebt die Götter".
Stevens, Der Planet auf dem Tisch 34/35: „Es ist hart, den Nordwind wieder zu hören/
Und die Wipfel der Bäume sich wiegen zu sehen".
Ebd. „Tiefer, tiefer und lauter, lauter/ Wiegen die Bäume sich, wiegen und wiegen sich".
7. Kapitel
Baum der Erkenntnis, Wälder des Begehrens
Eichendorff
Den Zusammenhang von Wahn und Methode hat die Romantik poetisch
glaubhaft gemacht. „Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den
ursprünglichen Sinn wieder". Das schrieb am Ausgang des 18. Jahrhunderts
Novalis in seinen logologischen Fragmenten 1 . Damit ist fast beiläufig das
Ideenprogramm der Romantik entworfen. Doch Novalis schickt dem,
ebenso beiläufig, seine Poetik nach: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen
Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die
Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so
romantisiere ich es" 2 . Dieser Aufforderung, die wirkliche Welt zu ent-
fremden, ist noch Max Ernst gefolgt, der Novalis sehr schätzte. Überhaupt
haben die Surrealisten alles daran gesetzt, dem Endlichen einen unendlichen
Schein zu geben und dem Wahn, der den Blick zerrüttet und dadurch kreativ
macht, eine Methode zu leihen. Diese Methode fanden sie bei Freud, dem -
wider Willen und Wissen - romantischen Schatzgräber. Freuds Methodolo-
gie, die gedacht war, Licht in das Dunkel zu bringen, konnte auch im Gegen-
sinn gelesen werden: als Anleitung zu einer neuen Mythologie des Begehrens.
Mit Freud ließ sich wieder poetisches Dunkel in das banale Licht des Alltags
werfen. Das Prinzip der Collage, jener Kombinationskunst, in der Max Ernst
unangefochtener Meister seines Jahrhunderts war, ist praktizierte, rücküber-
setzte Psychoanalyse3. Bei dieser Romantisierung der Welt, für Max Ernst ein
intellektuelles Abenteuer hohen Ranges, waren auch die Wälder des Begeh-
rens zu durchstreifen. Der Künstler transformierte sie mit Lust in gleichsam
tropische Seelenzonen, wo verkable Dschungel daraus wurden.
Der romantische Ursprung solcher Naturmetaphorik läßt sich mit Hän-
den greifen - seit Ludwig Tieck sein Märchen Der blonde Eckbert (1797)
schrieb, wo die Inzestgeschichte zwischen dem Ritter Eckbert und seiner
Schwester Bertha in einem Walde sich abspielt. Das Mädchen, mit acht Jah-
ren vor einem grausamen Vater davonlaufend, gerät auf seiner Flucht in eine
Felsenwildnis abseits aller Menschen. Die kindliche Seele erlebt hier ihre Ini
tiation in eine Welt aus Einsamkeit und Chaos: „Die Felsen wurden immer
unfruchtbarer, ich mußte oft dicht an schwindlichten Abgründen vorbeige
hen, und endlich hörte sogar der Weg unter meinen Füßen auf'4. Daß noch
ein Weg sich findet, im eigenen Innern, gehört zur Märchenlogik. Dennoch
wohnt dieser Wildnis eine gewisse düstere Würde inne, wie die Ästhetik des
18. Jahrhunderts sie dem Erhabenen zuschreibt. Das Mädchen besteht in
dieser Wildnis die Bewährungsprobe; die Lust zum Leben kehrt wieder. Erst
nach dem Durchgangsritus wird Bertha der Alten begegnen, die zur Ersatz
mutter wird, ihr ein Refugium bietet. Die befriedete Natur bewirkt im Kind
ein Erweckungserlebnis: „Die Wälder und die Blätter der Bäume standen
still, der reine Himmel sah aus wie ein aufgeschlossenes Paradies. (...) Meine
junge Seele bekam jetzt zuerst eine Ahndung von der Welt und ihren Bege
benheiten" 5 .
Ein wunderbarer Vogel singt ihr das Lied von der Waldeinsamkeit, das
zu einem Leitmotiv des Märchens wird:
Waldeinsamkeit,
Die mich erfreut,
So morgen wie heut
In ew'ger Zeit,
O wie mich freut
Waldeinsamkeit.6
4
Tieck 130
5
Ebd. 132
6
Ebd.
185
die Welt um ihn her war verzaubert und er keines Gedankens, keiner Erinne-
rung mächtig"7.
Das entscheidende Stichwort steht hier am Schluß: Erinnerung. Ihre
Auslöschung durch das, was Freud ein Jahrhundert später Trauma nennen
wird, verweist auf einen Schlüsselbegriff der Psychoanalyse, die Anamnese.
Sie deutet an, daß das Begehren — schuldlos schuldig wie in der Tragödie —
die Schrift des Ereignisses zu löschen, seine Spuren zu tilgen, über seine
Ziele sich selbst zu täuschen sucht. Wie Wittgenstein (der sich spät mit
Freuds Traumtheorie befaßte und persönlich die Macht der Libido erlebte)
in einer kodierten Bemerkung bekannte: „Denn die Wünsche verhüllen
selbst das Gewünschte" 8 . In dieser Phase lag die Metapher des Waldes — mit
Blick auf seine Freud-Lektüre und die Beziehung zu Ben Richards durchaus
nahe: „Möge ich durch diesen Wald mich durchschlagen können" 9 .
Der Baum der Erkenntnis ist ein genuines Märchenmotiv, dessen Magie
auch in den Märchen der Brüder Grimm voll ausgeschöpft wird. Daß dies
nicht ohne „philologische Mystifizierung" abgeht10, macht nur den Rang
deutlich, den Jacob und Wilhelm Grimm der Symbolik des Waldes in der
romantischen Mythologie zuerkennen. Als „Philologen der nachchristlichen
Ära" (R.P. Harrison) betreiben sie einen kaum verhüllten Antimodernismus,
der sich paradoxerweise in das Gewand des Historismus hüllt. Was sie su-
chen, ist das Archaische als das Authentische. Ihre Wälder sind Irr- und Er-
kenntnisräume, Orte des Verbotenen wie der Verzauberung11 — und damit
poetisch schlechthin, auch weil Chaos und Ordnung hier durcheinander-
spielen. Die Ambivalenz der Baumsymbolik12 hebt R.P. Harrison besonders
am Märchen von den zwei Brüdern, dem längsten der Sammlung hervor13.
Gemeinsam wachsen die Zwillinge, von ihrem Vater wegen Tabubruchs ver-
stoßen (sie haben das wunderkräftige Herz des Goldvogels gegessen), bei
einem Jäger auf. Gemeinsam ziehen sie in die Welt, die sich ihnen zunächst
in magisch-diffuser Einheit als „Wald" zu erkennen gibt. Gemeinsam stoßen
sie, bevor sie sich in entgegengesetzte Richtungen trennen, ihr Messer in den
Baum. Die beiden Klingen, die eine nach Osten, die andere nach Westen
weisend, verraten durch Blankheit oder Rost, wie es den Zwillingen geht.
Leben und Tod werden angezeigt an einem Baum, der rituell verletzt wird -
in einem Akt, der wild und kontrolliert zugleich ist. Der Baum, sakralisiert,
steht für Erkenntnis, die trennt wie vereint, Tötung wie Wiederbelebung
bedeutet. Die zwei Klingen im Baum verweisen auf das zweischneidige
7
Ebd. 145
8
Wittgenstein, Notiz vom 29.9.1949 (Monk 522)
9
Wittgenstein W 8, 546
10
Harrison 197
" Ebd. 203
12
Dazu generell J. Brosse, Mythologie der Bäume (Ölten - Freiburg 1990)
13
Harrison 204ff.
186
Schwert, das der eine Bruder zwischen sich und die Königstochter, die Frau
des anderen legt. So wird der durchstoßene Baum zum Sinnbild des Begeh-
rens. Das Motiv trägt bei den Brüdern Grimm noch animistische Züge. Na-
tur erscheint im Elementarsinn als menschliche Lebenswelt — als symbolisch
besetztes Handlungsschema, in dem Pflanzen, Tiere und Menschen gleichbe-
rechtigte Mitspieler sind. Dieser Mythos verlorener, wiederzuschaffender
Einheit, naturreligiös grundiert, hat die Funktion einer Sinnstiftung; er wird
seine Wurzeln tief ins Politische treiben.
Schon Hölderlin in seinem Gedicht Die Eichbäume (1797) betont das
Moment des Anarchisch-Ausgreifenden bei diesen wilden Naturgeschöpfen,
die „wie ein Volk von Titanen in der zahmeren Welt" stehn14. Sein Tita-
nismus feiert in Bildern des ungehemmten Wachstums jenes Begehren, das
auf Freiheit zielt: „und ergreift, wie der Adler die Beute, mit gewaltigem
Arme den Raum" 15 . Der Vitalismus findet seinen Sinn im Großen Bund:
Eine Welt ist jeder von euch, wie die Sterne des Himmels
Lebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen.16
Der Preis der Wahrheit ist die Einsamkeit. Dem labyrinthischen Denken des
Dädalus, der den kretischen Irrgarten, aber auch die Flügel konstruierte, die
ihn daraus befreiten, erwidert als bislang verschwiegene Wahrheit das krea-
tive Dasein der Natur. Auch in ihr waltet Kunst. Die sich anbahnende Ein-
heit von Mensch und Natur, Vernunft und Sinnlichkeit führt hin zum Sinn,
worin das Rätsel — „Ist irgend eins, das einer Seele genüget?" — als Hölderlins
eigenste Frage sich lichtet. Die Wildnis selbst, als Scherz des Schöpferischen,
hält die Mittel bereit, um einen Ausgang aus der Geschichte und ihren Un-
mündigkeiten zu finden. Sie ist es, die verborgene Wahrheit hütet, dem Men-
schen Flügel gibt. So wohnt noch in Bäumen Erkenntnis.
Daß in den Wäldern auch die Freiheit wohnt, neben Versuchung und Ver-
zauberung, hat Eichendorff unendlich oft besungen; es war sein Le-
bensthema. Der vaterländisch gesinnte Jurist, gerade in den österreichischen
Staatsdienst übernommen, meldete sich 1813 ohne Zögern zum
Lützowschen Freikorps. Von daher ist seine Naturmetaphorik nicht so un-
politisch, wie konventionelle Lesart vermutet. In dem Gedicht An die Freunde
von 1815, nach dem Sieg über Napoleon und dem Einzug in Paris, spricht
sich der Patriot freimütig aus:
Man sieht: Ahnung und Gegenwart schließen einander nicht aus. Daß in
Eichendorffs Dichtung der Wald als rasch abrufbares Element romantischer
Kombinationskunst fungiert, hat manches mit Produktionsästhetik zu tun,
mehr aber noch mit einer Nostalgie, die Modernitätsschock und Verluster-
fahrung lyrisch immer wieder abarbeiten muß. Der Wald gehört zu einem
18
Hölderlin, Gedichte 456
"Eichendorff 404
188
20
Adorno 74
21
Eichendorff 391
22
F.A. Kittler, Der Dichter, die Mutter, das Kind. Zur romantischen Erfindung der Sexualität,
in: R.Brinkmann (Hg.), Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion
(Stuttgart 1978) 105
189
Das Gedicht steht im Roman Ahnung und Gegenwart. Die es singt, ist die Grä-
fin Romana, in der sich die ganze Problematik einer ungebundenen romanti-
schen Existenz verkörpert: nicht ohne Züge von Wildheit, unglücklich
liebend, gefühlsgetrieben bis zum Selbstmord hin. Diesem weiblichen
Werther hat Eichendorff einen Beschwichtigungszauber in den Mund gelegt;
doch im Bilde des grasenden Rehs bleibt die Ambivalenz von Beschützer-
und Jägerinstinkt. „Laß es nicht alleine grasen" — der absurde Imperativ
rührt, wie Adorno bemerkte, an die Bewußtseinsspaltung24. Der Wald,
stimmlos, obschon von Stimmen zugedeckt, ist nach der klassischen Defini-
tion Freuds das Unheimliche selbst: in ihm läßt sich nicht wohnen, weil er
Freunde in Feinde verkehrt, die Masken des Begehrens vertauscht, im schau-
rigen Rühren der Bäume Baudelaires „frisson galvanique" vorwegnimmt. Die
„schweren Träume", die Freud am Ende des Jahrhunderts zu deuten unter-
nimmt, sind bei Eichendorff noch Allegorie einer beseelten Natur -: als brü-
tete sie selbst luftige Fata aus, noch bewußtlos auf jenen Geist verweisend,
den romantische Philosophie in ihr entdecken wollte. Kein Wunder, daß es
dem Grafen Friedrich angesichts von so viel atmosphärischer Spannung un-
heimlich wird.
Auch die Romanze, die Romana singt, ist wenig geeignet, ihn zu beruhi-
gen. In das dünne Gewand höfischer Minne gekleidet, deren Szenario der
aus mittelalterlicher Dichtung bekannte Zauber- und Liebeswald ist, enthüllt
sie - gleichsam zitierend - ein Spiel der Verführung. Der Dichter, mit ihm
die Sängerin legitimieren es als Traumsequenz; das Lied ist von der Tages-
vernunft und ihrer Prosa entbunden:
23
Eichendorff 642
24
Adorno 83
25
Eichendorff 645
190
" E b d . 219
27
Adorno 81
28
Eichendorff 646 (Ahnung und Gegenwart Kap.. 17)
29
Ebd. 647
30
Ebd. 649
31
Ebd. 663
191
« Ebd. 35
Ebd. 36
54
Baudelaire, Die Blumen des Bösen 24/25 : „Ein Tempel ist Natur, wo jede Säule lebt/
Und zu uns redet mit geheimnisvollen Zungen". Dazu Harrison 212ff.
192
Die Sprache der Göttin Natur im Wald der Symbole vernehmbar zu machen,
sie im Alltag der Großstadt, im Banalen des modernen Lebens, selbst im
Häßlichen wiederzufinden, ist das Geschäft des Dichters. Baudelaire, dem
unreflektierte Natur eher zuwider war, der die künstlichen Paradiese den
wirklichen Wäldern vorzog, hat Natur einzig in Form des Emblems geduldet.
Wie Matisse, der ihm die Inspiration zu seinem großen Gemälde Luxe, ca/me
et volupte verdankt, unterwirft er sie einem rigorosen Kunstbegriff. Naturhaf-
tes ist bei Baudelaire die an den Rand notierte Chiffer des Begehrens, der
Vitalität, der Sehnsucht nach dem Unendlichen. In dem langem Gedicht La
Vqyage, das erklärtermaßen den Ausgang aus der Geschichte sucht, erscheint
mitten in maritimen Bildern der Baum des Dichters als Baum der Erkennt-
nis:
Was bei Baudelaire als Hybris erscheint, ist gleichsam theologische Methode,
durch das Verlangen hindurch Erlösung herauszufordern.
Das mythisch grundierte Bild dafür hat Baudelaire in jenem Schwan ge-
funden, der mitten in Paris auf einem Zirkusplatz nach Wasser sucht und mit
gerecktem Hals, dürstend, den Himmel anklagt. Die Geste der Vergeblich-
keit ist Wahn und hat von daher ihre Würde:
Ebd. 432/433: „O Sehnsucht, alter Baum, der aus der Lust sich nährt".
Ebd. 434/435: „ Du Baum, du hoher, wächst so zäh wie die Zypressen,/
Wie lange dauerst du?"
m
Ich denk an meinen Schwan, wie er entwich
So lächerlich so groß wie dieses Tier
Verzehren sich Verbannte...37
Der Schwan ist - in Anspielung auf Ovid - eine der Metamorphosen des
Begehrens; von den Göttern gestraft, ist er ein Gegenstand des Spottes wie
jene Verbannten, deren Heimweh unstillbar und lächerlich ist. Für sie nimmt
der Dichter Partei, im Namen rebellischer Melancholie. Der Schluß von Le
Cygne ruft die Erinnerung an die Verlorenen herauf — bezeichnenderweise m
Bild eines Waldes:
Der romantische Geist im Exil, das als verwildertes Eden, als Irrwald erlebt
wird, in dem geheimnisvolle Klänge und Echos tönen, hat frappierende
Ähnlichkeit mit Eichendorffs Waldmotiven. Doch bei Baudelaire ist das Er-
innern, als allegorische Instanz des Über-Ich, ein sonores Gewissen: der
Hornruf des Jüngsten Gerichts, der die Verlorenen und die Verstorbenen
weckt. (So wird Proust aus der Sonate Vinteuils die Posaune des Erzengels
Michael heraushören.) Wie der Schwan bei Baudelaire Einkleidung des ver-
geblichen Verlangens nach dem Äther ist, der ironisch mit grausamer Bläue
den Aufflug verwehrt, so ist die Melancholie eine maskierte Revolte — freilich
eine gescheiterte. Die Veränderungswut seiner Zeit, die er in Paris am Wan-
del des Stadtbildes registriert, läßt die Erinnerung an Sündenfall und Jüngstes
Gericht nicht mehr zu. In der Art, wie er Paris als Fest der Vanitas erlebt, ist
Baudelaire ein metaphysischer Dichter. Le Cygne endet mit einer Strafphanta-
sie, deren imaginärer Schauplatz, unvermittelt eingeblendet in die Großstadt-
bilder, wieder ein Wald ist: Symbol des Eingeschlossen- und Verirrtseins in
einem Begehren, das — eben weil metaphysisch — unstillbar bleiben muß.
Dieser Wald ist nicht der musikalisch-romantische Schumanns, sondern eher
Dantes „selva oscura", Bußort und Purgatorium. Wald und Exil bilden eine
Konfiguration, in der das Erinnern, die Commemoratio, alles Verlorene, alles
Vergessene sammelt. So wohnt im Abgrund des Begehrens das Gericht.
37
Baudelaire, Tableaux Pansiens 36/37. Dt. von W. Benjamin
M Ebd.
194
Für Baudelaire, der zeitlebens dem Duft der Frau verfallen war, verbin-
det sich das Erotische mit dem Symbol des Waldes. Das Haar der Geliebten,
ein dunkles Vlies, entführt ihn in eine duftende Wildnis:
In diesem Wald lebt eine abwesende, erstorbene Welt wieder auf. Das Ver-
langen selbst, durchaus naturbelassen, wird zum poetischen Prinzip, das kraft
der eingeborenen Idee noch das verlorene Eden heraufruft. Aus wenigen
Anspielungen exotischer Natur — exotisch und erotisch sind für Baudelaire
fast eins - bildet der Dichter sein Evasionsmotiv: den tropisch-sinnlichen
Traum, dem später noch Gauguin und Matisse malerisch huldigen werden.
Der Wald des Begehrens ist bei Baudelaire emblematisch verdichtet: zum
tropischen Baum und zum üppigen Haar. In solch suggestiven Zeichen be-
wahrt symbolistische Dichtung die Sehnsucht nach dem Unmöglichen - als
Flucht aus der Geschichte. Im Chanson d'apris-midi besingt Baudelaire noch
einmal die magische Verbindung von Haar, Wald und Wüste:
Le desert et la foret
Embaument tes tresses rüdes;
Ta tete a les atutudes
De l'enigme et du secret.
39
Baudelaire, Die Blumen des Bösen 74/75. Dt. von C.Fischer
40
Ebd. 174/175
41
Baudelaire AW III, 205
195
ö Ebd. 203
« Ebd. 322 {Raketen IX)
«Ebd. 331 (RaketenUV)
196
Kein größerer Gegensatz wäre habituell zu denken als der zwischen Baude-
laire und Stifter. Und doch stehen beide, deren Hauptwerke im selben Jahr
1857 erscheinen, zum Realismus der Epoche gleichermaßen quer. Beide la-
borieren an den Masken und an der Metaphorik des Begehrens; und beide
sind auf ihre Art Fanatiker der Ordnung wie der Form. Die Form wird bei
Baudelaire beinahe fetischisiert, zu marmornen, von innen her glühenden
Allegorien; bei Stifter verliert sie sich im Furor der Beschreibung. Der Götze
des Utilitarismus ist ihr gemeinsamer Feind; beide bauen mit ihrem Schrei-
ben planmäßig und konsequent eine Ästhetik des Widerstands auf. Und
beide tragen die Stigmen des Christentums - der eine rebellisch, der andere
resigniert. Ihre Zeitgenossenschaft ist durchaus substantiell. Während sich
Stifter in Wien mit Erzählungen unter dem nüchternen Titel Studien ab-
müht, Anfang der vierziger Jahre, konzipiert Baudelaire in Paris die Fleurs du
Mal'und befaßt sich als literarischer Dandy mit ästhetischen Kuriositäten.
Baudelaire, der Erfinder der Modernität, leidet nicht weniger als Stifter
unter der Prostitution seines Zeitalters: Das Schöne, einst die Galionsfigur
des abendländischen Idealismus, nun aber käuflich geworden, ist nur noch
ein Phantasma. Gegen den Ungeist der Nützlichkeit, des Warenhauses
schreiben Baudelaire wie Stifter an. Doch ihre Texte verraten bereits die be-
schädigte Idealität, deren Ergebnis der Spleen ist. Nicht nur Baudelaire, auch
Stifter kennt ihn. Sein Herr Tiburius aus der Erzählung Der Waldsteig (1844)
leidet ersichtlich an ihm. Falsch erzogen, von Karikaturen der Vernunft be-
lehrt, der eigenen Kindheit beraubt, damit der eigenen Natur entfremdet,
trägt er im Spottnamen Tiburius, der „wirblicht" klingt und nach Verwirrung
und Zerstreuung schmeckt, in Anspielung auf den misanthropischen, miso-
gynen Einsiedler von Capri, Tiberius. Jedenfalls ist Stifters Sonderling der
Spleen in Person. Seine Selbstbeobachtung macht seine Modernität aus; was
ihn zum Kunstwesen stempelt, ist seine Unnatur, sein Beschädigtsein durch
Zivilisation, seine Nervosität, sein Narzißmus. Indem er verzichtet, sein
Haus zu verlassen, wählt er das Wohnzimmer als sein Gefängnis: „Er ließ
einen großen Stehspiegel in dasselbe tragen, und betrachtete seine Gestalt"45.
Der Hypochonder, bürgerlicher Therapie gemäß, wird in ein Bad geschickt;
und hier verführt ihn die Entdeckerlaune zu einem Waldspaziergang. Der
Schock, den Natur ihm erteilt, ist vollkommen. „Tiburius hatte einen Wald
noch nie von innen gesehen" 46 . Zunächst zwar befindet er sich auf einer
„Waldblöße", die ihm sehr wohl gefällt. Aber animiert durch die Einladung,
ja Verlockung paradiesischen Friedens wagt er den Wald der Phantasie zu
betreten. Hier entdeckt er die überraschendsten Dinge. Von verstümmelten
« Stifter 1, 823
" Ebd. 836
197
Stämmen rinnt Pech: „Er hatte das nie gesehen und blieb stehen. Die durch-
sichtige Flüssigkeit quoll in der Sonne aus der Rinde hervor, und die Tropfen
standen, wie reines geschmolzenes Gold, das in einem Häutchen hing"47.
Das Sich-Öffnen, Sich-Entblößen der Natur, ihre unvermittelte intime Nähe
— in der Sprache Baudelaires ihre „mysteres galantes" — geraten bei Stifter zur
Spiegelschrift verborgenen Verlangens.
Tiburius wird angezogen von diesem Wald, der ihn neugierig macht und
Zeit vergessen läßt. Ein Blick auf die Uhr sagt ihm, „was ihm ohnedem, als
er aufmerksam geworden war, eine dunkle Vorstellung gesagt hatte, daß er
weiter gegangen sei, als er dachte" 48 . Dem ängstlichen Bewußtsein wird die
Verirrung klar; es sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Stifter ist Meister
dann, durch schiere Beschreibung latenten Wirklichkeitsverlust zu illustrie-
ren. Auch hier ist es der mikrologische Blick, der in den Einzelheiten das
Immer-Gleiche sucht und darin sich lustvoll verliert. Die Vorliebe Stifters für
solche Situationen hat mit biedermeierlicher Naturandacht wenig zu tun;
vielmehr bringt sie die Fragilität bürgerlicher Wahrnehmung zum Vorschein,
spielt mit dem Verlust der Contenance, verirrt sich in zweideutigen Details.
Tiburius, so rasch er eilt, erlebt doch keinen Fortschritt. Die Natur zwingt
ihm eine fremde Zeit- und Raumerfahrung auf: „Nichts war da, als die
Bäume, in die er sich hatte hineinlocken lassen"49. Das Waldidyll entpuppt
sich als Wildfremdes, erstickt seine Rufe mit Stille, narrt ihn mit seinen
Phantasmen; selbst der Enzian, den er sich pflückt, schaut ihn „mit dem
fürchterlichen Blau so seltsam an"50. Hier ist die Angst das Auge des ver-
drängten Anderen.
Die Angst stößt ihn in neue Körpererfahrung hinein: „Die Hitze des
Körpers nahm überhand, der Atem wurde kurz und die Müdigkeit wuchs" 51 .
Steintrümmer wie riesige Torsi liegen zerbrochen am Weg, anstößig im wah-
ren Sinn, scheinbar tote und doch seltsam belebte Gebilde, entblößt in ihrer
Materialität, die durch üppige Vegetation noch gesteigert wird: „Einige waren
in Moose gehüllt, die verschiedenes Grün zeigten, andere lagen nackt und
ließen den scharfen, gewaltigen Bruch sehen. Großfingrige Fächer von Far-
renkräutern standen da, und die hohen dicken Stämme der Tanne, die aus all
dem Dinge empor ragten oder auch da lagen, waren, wenn sie Tiburius an-
griff, feucht"52. Dieses Szenario, Schreckbild und Wunschbild zugleich,
macht aus dem harmlos begonnenen Spaziergang eine krypto-erotische Ini-
tiation. Die Naturbeschreibung legt bloß, was die Gesellschaft mit Tabus be-
legt: eine geheime Triebstruktur. Der Weg, den Tiburius geht oder stolpert,
* Ebd. 838
48
Ebd. 839
Ebd
50
Ebd. 840
51
Ebd.
52
Ebd. 841
198
wird gar zum Knüppelpfad „aus lauter kleinen Prügeln", die fast im Wasser
schwimmen und Tiburius unweigerlich „ausglitschen" lassen. Stifters irrüch-
ternder Realismus, nicht umsonst mit dem essayistischen Titel Studien belegt,
durchkreuzt die Ordnungs- und Sinnmuster des vormärzlich frustrierten
Bürgertums mit anarchischer Andacht zum Detail. Man wundert sich, daß
Freud ein halbes Jahrhundert auf sich warten läßt. Aber bereits bei Stifter
wird Österreich zum Laboratorium der Moderne.
Die aus dem bürgerlichen Interieur verdrängte Körperlichkeit findet im
Freiraum Natur ihr vorläufig letztes Refugium. Tiburius erfährt sich bei sei-
nem Abenteuer auf Wegen, die ihm bisher tabu waren, unmittelbar als Na-
turwesen: „Er empfand es, wie an seinem ganzen Leibe ohne seinen Willen
die Nerven zitterten, und die Pulse klopften"53. Diese Physiologie der Erre-
gung — die vierzig Jahre später Nietzsche als Stimulans des Denkens preisen
wird - stößt auch Stifters Repräsentanten des Spleen ins Elementare hinein.
Waldeinsamkeit samt ihrer schreckhaften Stille wird nur markiert durch ein
grünes brodelndes Wasser, dem der verirrte Narziß wohl oder übel folgt -
„abwärts", wie könnte es anders sein. „Er bezwang das stürmende Verlangen
seines Körpers"; daß es nach Ruhe strebt, ist bloß die nachgereichte Ratio-
nalisierung. Ruhe aber ist Tiburius nicht gegönnt. Vom Wildbach abwärts
entführt, wird er angezogen von dem, was ihn ängstigt und hinreißt: er
„strengte seine Kräfte, die gleichsam auflösend und trunken waren, aufs neue
und letzte an"54. Dies Psychogramm unbewußten Verlangens ist so ein-
leuchtend wie der ungehemmte Lauf des Wassers, an dem es sich orientiert.
Im Fortgang des Abenteuers stößt Tiburius, biedermeierlicher Ret-
tungsdramaturgie gemäß, auf einen Menschen, der ihm den Weg weist und
das Erlebte deutet. Stifters Analytiker tritt ironischerweise im Kostüm des
„Waldarbeiters" auf. Der Mann, der hinter Tiburius herging und ihn einholt,
in romantischer Topik des Unbewußten sein Schatten und Doppelgänger, ist
freilich nicht ganz geheuer: in starken Holzschuhen auftretend, über den
Rücken die Axt, eiserne Keile über den Schultern. Doch den Irrgang des
Helden, „über eine Wiese, die rund und steil wie eine Glocke war, zu diesem
Wasser herab", interpretiert er mit überraschendem Zartgefühl. „So - so -"
lautet das wortkarge Orakel, „da gehen die Leute nicht gerne herauf, weil es
so wild ist, und darum wußtet Ihr nicht, wo Ihr seid"55. Dieser Waldläufer,
ein ferner Verwandter von Coopers Helden, als Anticartesianer von keinem
logozentnschen Vorurteil beleckt, kommentiert Wildnis auf die diskreteste
Art als Ort einer Selbstfindung, die sich gerade im Nichtwissen ereignet. Wie
es Lacan formulierte: „Ich denke da, wo ich nicht bin; also bin ich dort, wo
53
Ebd. 842
M
Ebd. 843
"Ebd.
199
56
Lacan 517: „Je pense oü je ne suis pas". Dazu H. Lang, Die Sprache und das Unbewußte.
Lacans Grundlegung der Psychoanalyse (Frankfurt/M. 1973)
" Stifter I, 851
58
Vgl. Vergil, Eklogen III, 92f. Diesen Hinweis verdanke ich Prof. Helmut Bachmaier
(Konstanz).
59
Stifter I, 864
60
Freud, Gesammelte Werke XIV (Frankfurt/M. 1963) 11
61
Stifter I, 867
200
62
Stifter I, 248 {Der Hochwald, 1841)
63
Stifter II, 19
64
Lacan 379: „LWonscient, c'est le discours de l'Autre".
65
Ebd. 349: „Ce que le psychoanalyste doit savoir: ignorer ce qu'il sait"
66
Softer II, 1101 (Der Nachsommer Der Bund)
201
Maler des Symbolismus, seine Salome als eine entblößte Natalie vorführen,
ihre Nacktheit mit Juwelen dekorierend. Stifter überläßt es der Natur, das
verborgene Verlangen auszusprechen: „In unserem Schweigen sahen wir
gleichsam wie durch Verabredung gegen das rieselnde Wasser"67. Hier waltet
eine Besänftigung, die auf gemeinsame Wünsche verweist. Der Eros, den
Stifters Ich-Erzähler für Natalie empfindet, hatte sich schon vorher in dessen
Neigung zu Grenzgängen geäußert - bezeichnenderweise unter dem Vor-
wand, Natur zu erforschen: „Ich bin in die Berge gegangen, habe mir ihre
Zusammensetzung aufgeschrieben, habe Gesteine gesammelt und Seen ge-
messen, ich bin auf den Rat Eures Freundes einen Sommer beschäftigungs-
los in dem Asperhofe gewesen, bin dann wieder in die Wildnis gegangen und
zu der Grenze des Eises emporgestiegen"68. Natur als Chiffer des Großen
Weiblichen schließt bei Stifter stets eine Grenzberührung ein. Zurückgekehrt
aus dieser Wildnis kann der Erzähler, seiner Natalie sicher, in Ruhe unter
Apfelbäumen wandeln. Wildnis und Paradies haben ihre Masken ausge-
tauscht; die Liebesäpfel reifen am Baum der Erkenntnis.
Gerade im Zerfall des habsburgischen Mythos und Systems treibt die Kultur
Österreichs die üppigen Blüten der Modernität hervor. Aber dieses Labor
der Moderne, worin Freud und Wittgenstein, Klimt und Kokoschka, Schön-
berg und Webern, Rilke, Musil und Kafka mit der Wirklichkeit experimentie-
ren, ist zugleich die „Versuchsstation für den Weltuntergang" (Karl Kraus).
Nicht umsonst umspielt die Dichtung Trakls den Verfall in Bildern von
traumhafter Intensität. Auch bei Trakl ist „Wald" die Entsprechung für einen
Seelenzustand, der sich mit Freud als Regression beschreiben läßt. Trakls
Verse konstituieren einen dunklen Ort unruhiger Einkehr, verschattet von
jenem Unheimlichen, das nach Freud in der Tatsache gründet, „daß das Ich
nicht Herr sei in seinem eigenen Haus" 69 .
Regression hat mit Erinnerungsbildern zu tun, die spürbar hoch-affektiv
besetzt sind; bei Trakl verweisen sie auf eine sexuelle Obsession, die sich in
Versen von suggestiver Vieldeutigkeit niederschlägt. Unübersehbar ist eine
gewisse Formelhaftigkeit, die in Symbolik und Chromatik ein ganzes Be-
schwörungsrepertoire bereithält. In diesen Gedichten wird evoziert und be-
schwichtigt zugleich; ihr Magisches ist auch ihr Infantiles. So ist es gerade
das Sprachlose, das kaum zu Sagende, das Selbstvergessene, das in der Nei-
gung zur „farbigen Chiffre" (Walter Killy) sich zeigt; als hielte das Unsägliche
67
Ebd.
68
Ebd. 1105
Freud, Darstellungen der Psychoanalyse (Frankfurt/M. 1970) 139. Dazu J.Heise,
Traumdiskurse. Die Träume der Philosophie und die Psychologie des Traums
(Frankfurt/M. 1989) 217ff. bes. 252ff.
202
der Seele sich fest an poetischen Formeln. Auffällig bleibt dabei das Mono-
logische, das obsessive Murmeln an den Rändern der Bedeutungen, das lust-
besetzte Pathos des Verfolgtseins, kurz: das Kaspar-Hauser-Syndrom. Zur
Selbststigmatisierung gehört, fast wie bei Dostojewskijs Sündern, das Be-
kenntnis der eigenen Unwürdigkeit: „zwischen Trübsinn und Trunkenhat
verloren"70. Häufig sind Strafphantasien, etwa der Wunsch, „ein Gewitter
möchte hereinbrechen und mich reinigen oder zerstören"71. Als Briefschrei-
ber, im Rahmen bürgerlicher Kommunikation, hatte Trakl große Schwierig-
keiten, sich angemessen zur artikulieren. Seine letzten Gedichte, darunter
auch Grvdek, bezeugen mimetisch einen Sinnentzug, der identisch wird mit
Zukun fts lo sigkei t72.
Trakls Naturzeichen, ganz autonom gesetzt, umspielen verborgene
Wünsche; das Sanfte und das Wilde spiegeln sich gegenseitig. Das Gedicht
bringt ihr Verschweigen zum Sprechen. Das Schöne der Bilder, narzißhaft,
verlockt in ein geschlossenes Zeichensystem, das im Wechsel der Kombina-
tionen sich zu erklären scheint, aber hermetisch bleibt. Das Phänomen, bei
Trakl genuin dichterisch, begegnet bei Freud als Wiederholungszwang.
Trakls Gedichte drücken beides aus: die Wunscherfüllung und die Angst da-
vor. Ihr symbolischer Ort ist der Wald, Ursprung und Ziel des Begehrens,
Seelenwildnis, die ständig aufgesucht, ständig geflohen wird. Trakl sucht sich
von seiner Obsession durch Obsession zu heilen — ein Prozeß ästhetischer
Verzweiflung, den abzubrechen nur im Tod gelingt. Trakls Freitod im Garni-
sonsspital zu Krakau war verzweifelt geglückte Wunscherfüllung.
Ein Merkmal der Regression, poetisch aufgefaßt, ist das Halluzinatori-
sche; es macht geradezu die Qualität von Trakls Dichtung aus. Als sinnliche
Wahrnehmung von anamnetischen Rang (häufig auch durch Drogen provo-
ziert) bringt es Verschüttetes wieder. So endäßt die scheinbar vertraute Natur
in der Seele des hebern das eine Bild, um dessentwillen sie gedichtet wurde, das
der Schwester nämlich:
Diese Gestalt ist wahrhaft Anima, von einer Traumzensur ins Unbewohn-
bare verbannt, abseits des Dorfes, das sich gleichwohl wie zur Begrüßung
„neigt", als käme da die Herrin dieser Landschaft. Wald, animistisch der Re-
präsentant verbotenen Begehrens, verdichtet sich im Bild des Mundes in den
70
Trakl 313 (an K.B.Heinnch, Januar 1914)
7)
Ebd.
72
Böschenstein, Fragment und Totalität bei Trakl 255
" Trakl 20
203
Dieser Ritus der Aneignung umspielt im Bild einer sanften Blume des Bösen
die Poetik der Decadence, in deren Schatten der junge Trakl zu dichten be-
gann78. Elis-Hyazinthe und der Mönch sind durch ein deviantes Verhältnis
verbunden; die weibliche Symbolik des Hyazinthenkelches lockt den Text in
die vom Unbewußten intendierte Richtung. Auch hier enthüllt das Schwarz
von Wald und Höhle seine fatale Konnotation als Faszinosum und Schreck-
bild. In der Kunstfigur Elis, angesiedelt zwischen Begehrt- und Entrücktsein,
waltet die „sterilite" von Mallarmes Herodias.
7
« Ebd.
"Ebd. 15
7
* Dazu H.Goldmann, Katabasis. Eine tiefenpsychologische Studie zur Symbolik der
Dichtungen GTrakls (Salzburg 1957)
7
" Trakl 15
78
Vgl. R.Furness, Trakl und die Literatur der Decadence, in: Dondoner Trakl-Symposion,
ed.W.Methlagl -W.E.Yuill (Salzburg 1981) 82-95
204
Die wirkliche Wildnis der Seele hat Trakl in seiner Passion (1914) auf
Hölderlins Spuren mythopoetisch zu bannen versucht. Orpheus, ein Totes
beklagend, nämlich den Schatten der Schwester, die heimlich Eurydike und
damit Gattin ist, besingt die „dunkle Liebe/ Eines wilden Geschlechts" 79 .
Das Passionsgedicht entwirft in Fragmenten einen Sühneritus; das Gedicht,
zerstückelt, ist selber Opfergabe. Während Freud in den Fiktionen vom
Wolfsmann die Zeichenschrift des Begehrens mit Blick auf die Mechanik
des psychischen Apparates rekonstruieren wollte, verdichtet Trakl die Ge-
waltsamkeit des Sexus im Bild einer wahrhaften Mythomanie.
Die Versteinerung, Strafe und Sinnbild der Dauer zugleich, fixiert das Skan-
dalon dieser Passion. Der aller bürgerlichen Ethik spottende Affekt kommt
in dem höhnisch-harten Strophenbruch zutage, der einen Abgrund öffnet:
Stille Nacht.
79
Trakl 69
80
Ebd.
81
Ebd. 69
82
M.Heidegger, Georg Trakl. Eine Erörterung seines Gedichtes, in: Merkur Nr. 61 (1953)
226 - 258. Neuabdruck in: Unterwegs zur Sprache (Frankfurt/M. 1985) 33 - 78
205
als hoher Bedarf an Abendland bestand, sondern der Siebengesang des Todes,
den Trakl erst im Krakauer Spital zum Schweigen brachte. Die Windesstille
der Seele, nach der es ihn verlangte, Schopenhauers Erlösungsideal, blieb
ihm verwehrt. Dem ruchlosen Optimismus der Moderne stellt Trakl die ba-
rocke Antithese, Bilder der Vanitas, gespeist von eisigem Pathos entgegen:
Die Stigmatisierung der Libido zur Wildnis, zum tierischen Trieb, erinnert an
den Sündenfall schlechthin. Das Begehren treibt in der Regression wahlver-
wandte Metamorphosen hervor; es legitimiert sich ästhetisch. Im Zentrum
des Verlangens und Erinnerns, das immer neue Masken und Metaphern an-
legt, steht die Gestalt der Schwester. Das Inzestmotiv stellt sich als die ver-
borgene Quelle von Trakls Inspiration heraus. Es ist umgeben von einem
weiten Hof von Anspielungen, die alle aus dem gleichen Fundus schöpfen.
Trakl muß seiner Schwester Margarete, die ihm in vielen ähnelte (beide nah-
men Drogen, beide begingen Selbstmord), aufs engste nahegekommen sein.
Die Katastrophe ist angedeutet in einem Brief, den Trakl Ende November
1913 an Ludwig von Ficker schreibt: „Es haben sich sonst in den letzten Ta-
gen für mich so furchtbare Dinge ereignet, daß ich deren Schatten mein
Lebtag nicht mehr loswerden kann. (...) Es ist steinernes Dunkel hereinge-
brochen" 84 . Die „Wiederholung" dieses Ereignisses geschieht in Versen aus
Sebastian im Traum; die Regression verdichtet sich - bis zur Versteinerung - in
hermetischen Bildern, mdie zugleich vollkommen einfach sind. Der Hieros-
gamos mit der Schwester spielt sich metaphorisch im Wald, in der sakral be-
setzten Wildnis ab, jenseits der Profanität der Dörfer:
Diese Verse aus Frühling der Seele, ein Höhepunkt symbolistischer Dichtung,
verraten nichts, verschweigen nichts: sie zeigen. Das Feierliche, ja Psalmodie-
rende ist Ausdruck ihres Zeigens; das Elliptische steigert die Strahlkraft der
Bilder. Was hier geschieht, ist „sacer" - geweiht und verrucht - und trägt die
Würde des Ritus. Die intime Symbolik des Domes, die das erotische Drama
religiös überhöht und an den brennenden Dornbusch, an die Dornenkrone,
an den Dorn im Fleische bei Paulus erinnert, ist bei Trakl signifikant mit der
81
Trakl 70
M
Ebd. 310f.
85
Ebd. 11 f.
206
84
Ebd. 95
87
Ebd. 95f.
88
B.Böschenstein, Fragment und Totalität bei Trakl 244
89
Heidegger, Sein und Zeit 266
90
Wittgenstein, Tractatus 6.4311 (W I, 84). Die These ist vorformuliert im Tagebuch vom
8.7.1916 (W 1,169)
207
Prousts Suche nach der verlorenen Zeit mag spontan Erinnerungen an urbane
Atmosphäre wecken. Doch entscheidende Szenen der Handlung spielen im
ländlichen und maritimen Milieu; und Natur liefert wichtige Elemente für die
symbolische Struktur des Werkes. Schon im ersten Band Du cote de che\ Swann
(1913) wird der Wald des Begehrens zu einem Leitmotiv. Der Ich-Erzähler
Marcel, als junger Mann im naturnahen Städtchen Combray sich bewegend,
dem er so viele Inspirationen verdankt, pflegt im Herbst gern ausgedehnte
Spaziergänge im Wald von Roussainville zu machen. Seine Promenaden sind
eine Fortsetzung langer, erschöpfender Lektüre, Exerzitium für einen Kör-
per, „der sich mit Unruhe und gestautem Bewegungsdrang aufgeladen
hatte" 93 . Das Wandern im Wald, auf Meseglise zu, entbindet Kräfte und
Phantasien; ja diese diffusen Ideen erweisen sich als weitaus angenehmer als
die Notwendigkeit, sie im Diskurs zu entwickeln, weil das Gehen den lust-
volleren, bequemeren Weg darstellt. Das scheinbar ziellose Schweifen ist von
einer psychischen Disposition bestimmt: Aus der überspannten Freude, wel-
che die Einsamkeit schenkt, taucht in Marcels Tagträumen das Verlangen
auf, bei seinen Waldgängen ein „ländliches Mädchen auftauchen zu sehen,
91
Trakl 69. Dazu Böschenstein, Fragment und Totalität bei Trakl 253f.
92
Trakl 69
93
Proust I, 206
208
94
Ebd. 208
95
Ebd. 209
96
Ebd.
97
Ebd.
'«Ebd. 210
209
Von hier aus nimmt der Roman seinen Weg in die verschachtelten Tie-
fen der Zeit. Das Begehren, das Marcel im Wald von Roussainvüle zum er-
stenmal in Einklang mit der Natur erlebt, durchzieht auf verschlungenen
Wegen (am Leitfaden diverser Obsessionen) den ganzen Roman, und kehrt
am Ende zu seinem Ausgang zurück. Gilberte, die Tochter Swanns, Marcels
erste Liebe, verwandelt sich dort - in einem Vanitasbild - in eine Allegorie
der Zeit. Das Altern ist ein Naturgesetz; und so fällt jeder Versuch, den Ver-
fall zu kaschieren, an die Natur zurück. „Aber auch noch in seinen künstlich-
sten Schöpfungen hat es eben der Mensch doch stets mit der Natur zu
tun" 99 . Das gilt für die Masken der Liebe wie für die Werke der Kunst. Der
junge Marcel, dem das Irren im Walde noch Lust ist, weiß noch nicht, was er
schmerzhaft erfahren wird: daß Lust etwas Universales ist und nicht an be-
stimmte Personen gebunden. Nur im Bewußtsein des Einzelnen, der Kör-
perwesen ist, durchläuft sie verschiedenen Stadien: so daß selbst das Begeh-
ren seine Geschichte hat, den Gesetzen der Zeit unterliegt. Marcel, von Ver-
langen gequält, erlebt es naturwüchsig und zugleich hochreflektiert an sich
selbst, wenn er „in dem nach Iris duftenden kleinen Raum" in Combray den
phallischen Kirchturm von Roussainvüle als einzigen Vertrauten seiner Wün-
sche hat. Die Imaginierte ist abwesend, aber als Abwesende setzt sie das
Verlangen in Bewegung, „während ich mit dem heroischen Zaudern eines
Reisenden, der eine Forschungsreise unternimmt, oder des Verzweifelten,
der sich umbringen will, mit versagender Kraft in mir selbst einen unbe-
kannten und von Todesgefahr umlauerten Weg suchte, bis zu dem Augen-
blick, da seine natürliche Spur wie die einer Schnecke auf den Blättern des
Johannisbeerstrauches entstand, der sich bis zu mir neigte"100. Diese Recher-
che führt Marcel in die unerforschten Wälder des eigenen Ich. Das Begehren
und der Wille, es zu löschen, sind ein Naturgesetz.
Die vergebliche Imaginierung der Frau macht die Gegend ringsum für
Marcel zu einer fruchtlosen Öde, die Begehrte zu einem Phantasma: „Un-
endlich lange starrte ich auf den Stamm eines fernen Baumes, hinter dem sie
hervortreten und auf mich zukommen sollte"101. Beim schmerzlichen Über-
gang vom Lust- zum Realitätsprinzip entsteht Literatur. Marcel erkennt im
Wald von Roussainvüle nur noch einen gemalten Theaterprospekt. Nach
dieser Enttäuschung wird er an der Realität jeder Liebe zu zweifeln beginnen.
Gerade insofern sie Obsession ist, kommt sie einer Fiktion sehr nahe: Natur,
die sich in Kunst verwandeln will. Schon damals faßt Marcel, auf Grund sei-
ner Begabung zur Träumerei, den Entschluß, SchriftsteUer zu werden. Dieser
Entschluß kehrt wieder auf der letzten Seite der Recherche - angesichts der
Todesahnung des Gealterten, der sein Leben nachträglich durch Literatur zu
rechtfertigen sucht. Das Ende verweist auf den Anfang. Marcel, der passio-
99
Ebd. 182
100
Ebd. 211
101
Ebd.
210
nierte Leser, fragt sich bereits als junger Mann, ob die Frauen, nach denen
ihn verlangt, überhaupt in Wirklichkeit existieren oder nicht eher Geschöpfe
der eigenen Phantasie sind. Wären sie leibhaft erschienen, hätte er nicht
gewagt, sie anzusprechen: „Es kam mir vor, als würden sie mich für einen
Irren halten" 102 .
Damit greift Marcel dem Fortgang der Geschichte sehr weit vor, aber er
bleibt auf dem Boden der Tatsachen. Denn seine Liebe zu Albertine wird, da
sie Obsession ist, ihn wahrhaft zu einem „Irren" machen, der lange und
schließlich vergeblich die Wälder seines Begehrens durchirrt — stets auf der
Suche nach der wahren Albertine. Doch die kann es nicht geben; nicht, weil
Albertine verlogen ist, sondern weil sie ein Phantasma bleibt. Das Epos der
Eifersucht (Proust hat diesem Thema Hunderte von Seiten gewidmet) ver-
schleiert im Medium der Literatur, daß Liebe im Grunde Fiktion ist, erfun-
den vom Begehren, doch von der Einbildungskraft verschwenderisch mit
Wirklichkeit bekleidet. Umso sprechender, daß die Metapher der in Wäldern
sich kreuzenden Wege am Ende des Romans wiederbegegnet, wenn Marcel
auf die Tochter seiner Jugendliebe Gilberte trifft103. Die ewige Wiederkehr
annulliert die Zeit, indem sie Zeit hervorhebt. Das Drama des Begehrens,
das seinen Akteuren so einmalig vorkam, erweist sich darin als etwas, das so
natürlich wie Sonne und Regen ist.
Daß hinter den Bäumen von Roussainvüle keine Nymphe hervortritt,
weil der Betrachter eine verlassene Bühne, doch keinen wirklichen Wald
sieht, deutet voraus auf das Drama des Ich-Erzählers mit Albertine: diese ist
überall und nirgends, so eifersüchtig er sie zu überwachen sucht. Sein Ver-
langen wird dadurch eigentümlich ordos; es trägt zwar eine Unmenge von
Realitätspartikeln, Beobachtungen, Spekulationen zusammen, aber ohne die
Geliebte dadurch besser kennenzulernen. Ja, Marcel muß sich nach Al-
bertines Tod gestehen, wie wenig er von ihr wußte. Er hat Albertine zwar
besessen, doch niemals gekannt.
Auf seinen Streifzügen durch die Wälder, die ihn bis nach Monrjouvain
führen, dem Wohnsitz des Komponisten Vinteuil, erlebt Marcel, durch Zu-
fall in die Nähe von dessen Haus gekommen, einen ersten Eindruck von
erotischer Obsession. Er beobachtet durch das halboffene Fenster, wie im
Salon die Tochter Vinteuils und ihre lesbische Freundin intimen Umgang
haben und dabei das Bild des verstorbenen Vaters profanieren. Nichts
drückt deutlicher als diese Szene die von Bataille beschriebene Sakralität des
Eros aus, der seine eigenen Gesetze und Rituale hat, die er den Liebenden
gebieterisch diktiert. Der sadistische Zug, den Proust so betont, gibt jedoch
ein falsches Bild von Mlle. Vinteuil, die im Herzen ein gutartiges Geschöpf
ist: „Sadisten vom Schlage der Mlle. Vinteuil sind rein gefühlsbetonte Wesen,
102
Ebd.
103
Proust X, 4159
211
104
Proust 1,218
105
Ebd. 247
106
Dazu I. Bachmann, Die Welt M. Prousts - Einblicke in ein Pandämonium,
in: Werke IV (München - Zürich 1982) 156-180
107
Proust X, 3841 ff.
108
Ebd 3849
109
Ebd. 3862
212
lung. Der Proustsche Prometheus macht deutlich, daß dieser Akt zutiefst
profaner Lust zugleich an das Sakrale rührt. Denn Charlus, der sich gegen die
„Götter", das heißt gegen die Gesetze der Natur, der Moral, der gesellschaft-
lichen Ordnung vergangen hat, wird wie Prometheus bestraft — gekettet an
den Felsen der eigenen Obsession. Und Maurice, der die Züchtigung vor-
nimmt, agiert in der Rolle des Adlers, der in die Leber des Delinquenten
hackt. Doch diese Symbolik darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Proust
den Mythos parodiert und dessen kanonische Botschaft - daß der Feuer-
und Erkenntnisraub göttliche Sanktionen nach sich zieht - höchst ironisch
zu einer sozialen Maxime herunterspielt. Mit den Worten Jupiens, der dieses
Etablissement unterhält: „dank dem Laster nur kann die Tugend gedei-
hen" 110 . Der einstige Liebhaber von Charlus erweist sich hier als ausge-
machter Funktionalist, der den dialektischen Zusammenhang von Heiligkeit
und Laster, als hätte er Durkheim gelesen, im wesentlichen Punkte klar er-
faßt111. Charlus-Prometheus aber büßt für seinen Hochmut den Göttern ge-
genüber mit dem Sturz in die Demütigung. Schon im Hesiodischen Mythos
entspricht dem verzehrenden Feuer die verderbliche Pandora, welche die
Männer zu unaufhörlichem Begehren zwingt112. Die Pandora des Barons
Charlus, die ihn in allen möglichen Masken heimsucht, ist der Violinist
Morel, dessen Bild er vergeblich in seinen Züchtigern sucht. Noch im Kult
der Gewalt, dessen Idol ein Abwesender ist, erweist sich Charlus als wahrhaft
Liebender: „Man erinnert sich, daß das Gefühl den Liebenden zu den größ-
ten Opfern für das geliebte Wesen anspornt, manchmal sogar zu dem Opfer
seines Verlangens selbst"113.
Um die Enthemmung angesichts des Luftangriffs zu schildern, bringt
Proust Pompeji und Sodom zusammen, zwei Städte, deren Zerstörung
gleichsam vom Himmel selbst erfolgte. Doch Charlus und seine Gefährten
kümmern sich nicht um die Geschichte, die aus den Wolken ihre Todesbo-
ten schickt: „Die bombenkündenden Sirenen störten Jupiens Kunden nicht
mehr, als ein Eisberg getan hätte" 114 . Die Anspielung auf den Untergang der
„Titanic", einige Jahre zuvor, fügt mit dem tödlichen Natursymbol ein sub-
tiles Moment von Zivilisationskritik ein. Gerade die elementare Gefahr be-
freit Charlus und die Seinen von aller Furcht und Rücksicht, die sonst Ge-
sellschaftswesen eignet. Ihre Obsession, alleine vom Diktum des Körpers re-
giert, bringt das Sinnsystem Geschichte zum Verschwinden; mcht zufällig
vergleicht Proust den Zusammenbruch aller gesellschaftlichen Ordnung mit
110
Ebd. 3883
111
Zum religionssoziologischen Kontext von Heiligkeit und Laster M.Maffesoli, Der
Schatten des Dionysos. Zu einer Soziologie des Orgiasmus (Frankfurt/M. 1986) 49ff.
112
Dazu J.P.Vernant, Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland
(Frankfurt/M. 1987) 181 f.
111
Proust X, 3867
114
Ebd. 3888
213
Histoire Naturelle — so nannte Max Ernst eine Folge von 34 Blättern, die er
1925 mit Hilfe der neuentdeckten Frottagetechnik schuf. Der Titel spielt an
auf die enzyklopädischen Werke des 18. Jahrhunderts, etwa Buffons Natur-
geschichte. Doch Max Ernst, der romantische Surrealist, konterkariert mit
seiner Phantastik und Kombinationskunst die logozentrische Wissenschaft.
Natur, wie er sie sichtbar macht, ist magisch, irreal, bizarr, ironisch, verspielt.
Ein genuin romantischer Zug bei Max Ernst ist die Ironie als wichtiges Mo-
ment bei der Erweiterung des Wirklichkeitsbegriffes. Was Friedrich Schlegel
in seinen Ly^eums-Fragmenten (1797) als Ironie umschrieb — „wirkliche trans-
zendentale Buffonerie" und „freieste aller Lizenzen" 116 - trifft ohne Ein-
schränkung auf die Kunst von Max Ernst zu. Die Ironie als „Stimmung, wel-
che alles übersieht", läßt sich noch vom Heterogensten inspirieren. Sie
nimmt Natur nicht als Ensemble lebloser Objekte, sondern als Spiel von
Möglichkeiten in einem inneren Kontinent der Phantasie. Der Surrealist tut
nichts anderes, als was Novalis forderte: er romantisiert auf seine Weise die
Welt, indem er „dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Be-
kannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen
Schein" gibt117. Sich inspirieren lassen, hieß für Max Ernst: sich irritieren las-
sen. Entscheidend dabei ist die Rolle des Es. Das Unbewußte, bei Max Ernst
biomorph strukturiert, hat sich den ungezähmten ersten Blick bewahrt. Wie
Andre Breton in seiner Schrift he Surrealisme et la peinture (1927) auf dieser
Spur formulierte: „Das Auge existiert im Zustand der Wildheit". Das Mär-
chen vom Schöpfertum des Künsders, dieses „traurige Reststück des Schöp-
115
Ebd. 3890
116
F.Schlegel, Schriften zur Literatur, hg.v. W.Rasch (München 2Auflage 1985) 12 (Nr. 42)
und 21 (Nr. 108)
117
Novalis II, 545
214
118
Max Ernst, Was ist Surrealismus? (1934), zit. bei W.Spies, Max Ernst. Retrospektive 1979
(München 1979) 157
"'Ebd. 15
120
Ebd. 82
121
Dazu Lichtenstern 264ff.
215
122
G.Bauer, Max Ernst und das Gesetz des Dschungels. Zur Natursymbolik seiner Malerei
zwischen den Weltkriegen. Typoskript 1991,5
123
Lichtenstern 272
124
Max Ernst, Ecritures (Paris 1970) 268
123
Lichtenstern 272
126
G.Bauer, Typoskript 1991,12
216
kenntnis. Max Ernst hat seinen Waldkomplex selbst bis auf die Kindheit
zurückgeführt - mit der in Freuds Verständis klassischen Ambivalenz: „Ge-
mischte Gefühle, als er zum ersten Mal den Wald betritt, Entzücken und Be-
drückung" 127 . Und wenig später träumt sich das Kind, das es haßt, autoritär
abgerichtet zu werden, aus dem Wilhelminischen Reich in die Dschungel
Ozeaniens hinein: „Verschwinde in der Südsee. (...) Gibt's dort noch Wälder?
Scheint so. Sie sind wild und undurchdringbar, sie sind schwarz und rost-
braun, ausschweifend, weltlich, von Leben wimmelnd, diametral, nachlässig,
grausam, inbrünstig und liebenswert, ohne Gestern noch Morgen"128. Das ist
ein ganzes Lebens- und Kunstprogramm. Es schließt die Absage an allen
Historismus ein, in dem Max Ernst eine europäische Geisteskrankheit sah.
Der selbstkritische Aufklärer Max Ernst bewahrt den Mythos — und mit
ihm verkappt das Heilige, indem er ihn parodiert, ironisch umformt, schöp-
ferisch dekonstruiert. Sein Bild Napoleon in der Wildnis (1941, Museum of
Modern Art, New York) versammelt schrill kontrastierende Motive aus Ge-
schichte und Natur zu einer irritierenden Vision. Links vor einem Meerhori-
zont, der die Insel St. Helena suggeriert, steht Napoleon mit Stelzfuß, das
andere Bein mit der Erde verwachsen; sein Blick wendet sich einer in rost-
rote Borke oder Baumschwämme gekleideten großen Frau zu: partiell ent-
blößt, hält sie ein phantastisch verformtes Saxophon in ihrer Rechten.
Zwischen beiden erhebt sich eine von farbigem Aussatz befallene Stele, die
zugleich phallisches Monument und versteinerter, asdoser Baum der Er-
kenntnis ist. Napoleon mit seinem Eselskopf, das Maul verbunden, ist die
Karikatur eines historischen (und theologischen) Mythos: der kleine, in
Sünde gefallene Adam, dem die kokett-melancholische Eva träumerisch das
mit einem Schweins- oder Hundekopf verzierte Saxophon reicht. Im Hinter-
grund kommenden ein Seetier in der Art eines Delphins, mit Blätterschwanz
und Agamemnonkopf, starr in den Himmel grinsend, die Comedie humaine.
Hier herrscht Entzauberungsmagie. Wie Gottfried Benn in seinem
Essay Zum Thema Geschichte mitten im Zweiten Weltkrieg schrieb: „Auch Na-
poleon ist innerhalb seines Jahrhunderts ein mikrozephaler Artillerist"129.
Aber von den Wäldern des Begehrens ist bei Max Ernst nichts als ein von
Flechten inkrustierter Stamm geblieben - die unfruchtbare Säule des Erin-
nerns an eine Geschichtskatastrophe. Und doch strahlt diese Stele, an einen
ruinösen Totempfahl erinnernd, eine eigentümliche, sakrale Aura aus; wie
über dem ganzen Bild, bei aller Bizarrerie, seltsame Schwermut liegt. Der
Pfahl trennt die Geschlechter; er markiert die Posthistoire der Sexualität. Eva
blickt wie abwesend zur Erde; und Napoleon starrt auf der Höhe ihres
Schoßes hin ins Leere. Die Insel, entwaldet, im wörtlichen Sinne all ihrer
127
Max Ernst, Autobiographie 1892 - 1896, in: Max Ernst. Retrospektive 1979
(München 1979) 123
128
Ebd. 124f.
' » Benn SW IV, 288
217
„Triebe" beraubt (wenn man absieht von den versteinerten Rechten des
Ufers) symbolisiert das Ende der Geschichte — auch des Geschlechter
kampfes.
150
Rogmann 262
131
Lezama Lima 342
218
Die tropische Natur, als Große Mutter oder Große Hure gleichsam allge-
genwärtig, liefert im Chaotischen die Ordnung mit, ohne sich groß um euro-
zentrische Distinktionen zu kümmern. So wie es im Urwald fleischfressende
Pflanzen gibt, so gibt es in Limas Roman üppig blühende, sinnfressende
Metaphern - irritierend wie die biomorphen Gespenster von Max Ernst.
Dessen „Flugzeugfallen" könnten geradewegs der Phantasie von Lezama
Lima entstammen. Natur, als universale Triebstruktur erlebt, bildet die
Machina mundi, die gleichzeitig Leben und Tod, das Wilde und das Heilige,
die Prostitution und das Geheimnis erzeugt. Ihre Kombinationskunst kann
mit den Allegorien des Begehrens, wie sie Max Ernst und Lezama Lima
erdichten, mühelos konkurrieren. Das Menschenwerk Geschichte erstickt in
der Umarmung dieser Wildnis, die keine „Lichtung" kennt. Indem er die
Mataphorik bis zum Exzess treibt, ahmt der Dichter nur die Natur nach, die
alles mit allem verbindet. Der Vorwurf des Elitären und Hermetischen wird
dadurch trivial. Limas Domäne sind die „eras imaginarias" (so der Titel eines
Essays von 1958), als deren Schöpfer der Poet sich fühlen darf. Sie sind die
Gegenwelt, in die ein ausgesprochen bürgerlicher Schriftsteller sich flüchtet -
abseits der realen Problematik der kubanischen Gesellschaft in der Ära
Batista und Castro. Limas Literatur will nichts verändern, sondern poetische
Wälder heraufrufen, in denen der domestizierte Mensch wieder zum Satyr
wird - den schon Nietzsche als Urbild des Menschen erkannt hatte, als Be-
gleiter des Gottes Dionysos, als „Sinnbild der geschlechtlichen Allgewalt der
Natur, die der Grieche gewöhnt ist mit ehrfürchtigem Staunen zu betrach-
ten"132. Mit seinem Lobpreis der Vitalität steht Lima, der scheinbar exotische
Autor, ganz auf der Linie der Griechen.
So evoziert seine Dichtung ein naturwüchsiges Chaos, das sie gleichzei-
tig kraft der Metaphern ordnet. Für den Schriftsteller ist die Metapher beides:
Garant der Kunst und Repräsentant der Natur, Triebkraft und Element der
Verwandlung; sie ist die Meisterin aller Metamorphosen. Was ihr als Opfer
dargebracht wird, ist der aus Europa importierte Logos, genauer: das histori-
sche Bewußtsein. Damit verwandelt sich auch der Subjektbegriff. „Das Er-
zählsubjekt ist im Paradiso nicht ein zuverlässig historisches, sondern ein
schöpferisch metaphorisches Subjekt, ein 'sujeto metaförico', wie es Lezama
Lima in seiner Vortragsreihe La expresiön americana beschrieben hat"133. Die
Geschichte kommt in Limas tropischem Fabelwald nur noch in Gestalt von
Bildungszitaten vor - von dekorativen, sehr barocken Blüten, die nach dem
synchronen Prinzip der Montage über das Ganze verteilt sind. Dieses Ver-
fahren hatte schon Ezra Pound in seinen Cantos virtuos gehandhabt. Ge-
schichte, derart kosmopolitisch, mithin alexandrinisch geworden, ist nur
noch ein Thesaurus von Anspielungen - von literarischen, philosophischen,
132
Nietzsche, Geburt der Tragödie § 8 (KSA 1, 58)
i J3 Teuberl08
219
erotischen Concetti. Lezama Limas Roman ist ein tropischer Karneval der
Sprache, ein dionysisches Maskenspiel, eine barocke Ausschweifung der
Phantasie. Insbesondere im erotisch-sexuellen Bereich demonstriert Lezama
Lima eine urwaldhafte Vitalität, die allem eurozentrischen Moralismus ferne
steht. Selbst die christliche Tradition wird verschlungen von dieser Mytholo-
gie des Sexus. Lustvoll gibt der Autor sich den Versuchungen der Sprache
hin, den Lockungen der Imagination; doch dieser Wald des Begehrens wird
immer wieder durch Blitze der Reflexion illuminiert. Der Großtext Paradiso
eröffnet den „heiligen Aspekt des totalen Abenteuers des Menschen"134.
Einzig die Poesie, Schöpferin heiliger Wildnis, stellt in diesem Vanitas-
spiel um Liebe und Tod ein Dauerhaftes dar. Sie ist die wahre Gnosis. Dem
kommt die Namenssymbolik bei Lezama Lima entgegen: Cemi, der Held des
Romans, heißt in der Sprache der indianischen Ureinwohner Kubas „Göt-
terbild"; und Jose Cemi verweist mit seinen Initialen deutlich auf Jesus
Christus, der nach Paulus das Bild des unsichtbaren Vaters ist135. Die Gnosis
aber lebt von Metaphorik. Was die Lektüre aufdeckt, ist gleichsam ein heils-
geschichtliches Drama. Die Wildnis des Textes, die eine Maske des Begeh-
rens nach Erkenntnis ist, stellt auf der theologisch-symbolischen Ebene die
Sünde dar - jene Konkupiszenz, die Augustinus in seinen Confessiones so ein-
dringlich schilderte. Nicht zufällig geistern Anspielungen auf Augustinus und
seinen Verehrer Pascal häufig durch den Roman. Der Versprecher .Lapsus
ego sum", auf den Lezama Lima seine fiktive Lebensgeschichte gründet136,
ist jener Sündenfall, der Dichten überhaupt möglich macht. Auch bei Lima,
der manche Affinität zu Nietzsche hat, ist der Teufel „bloß der Müßiggang
Gottes an jedem siebenten Tage"137. Damit enthüllt sich der Gott, der Einer
in allem ist, als Inbegriff jeder Verwandlung. In der Deutung des Gnosis-
kenners Hans Blumenberg: „Indem er die Gestalt der Schlange annimmt,
erweist er sich als Gott der Metamorphosen" 138 . Auf Lima übertragen: So
wie die Konkupiszenz ist die Metapher sprachlich allgegenwärtig; auch
wimmelt es förmlich von Schlangensymbolen. Die Metapher-Manie, Teil
einer Spracherotik, ist .Lügenwerk", doch zugleich „heilig", da sich in ihr die
Wahrheit, wenn nicht für immer fängt, so doch für Momente verstrickt.
Auch hier hält Blumenberg, der gewiß nicht über Lezama Lima schreiben
wollte, als Mythologe die passende Lesart bereit: „Das Paradies ist die Nega-
tion der Geschichte, der Inbegriff der Langeweile eines Gottes" 139 .
134
So der Autor in dem Interview-Band Rtcopilaaon de textos sobrej. Lezama Lima
(Havanna 1970) 24; zit. bei Rogmann 259
135
Dazu Teuber 117
136
Teuber 109
137
Nietzsche, Ecce Homo (KSA 6, 351)
138
Blumenberg, Arbeit am Mythos 196
139
Ebd. 195
220
1+
»Teuberl19
141
Lezama Lima 350. Vgl. Teuber 112
142
Lezama Lima 344f.
143
Ebd. 346
144
Ebd. 347
221
145
Ebd 444
8. Kapitel
Das Feuer und die Wunde. Rot bei Matisse und Kafka
Exodus 3,2
Gottfried Benn
Die Wildnis, die Anarchie, das Begehren können sich auch in den Farben
verbergen. Jede Kultur arbeitet mit entsprechender Symbolik: dem Spektrum
der Farben ordnet sie bestimmte Werte zu. Das Rot samt seinen Abstufun-
gen hat als Sinnträger besonderen Rang, da es sowohl lockend wie drohend
wirkt. Wie Ernst Jünger im Abenteuerlichen Herren bemerkt: „Wir haben
Gründe, mit der roten Farbe behutsam umzugehen"'. Rot ist anarchisch, es
signalisiert Blut, Gewalt und Sexualität. Weil dies an Heiliges rührt, sind ge-
wisse Tabus auf diese Farbe gelegt. Denn sie zeigt auf Dinge, „denen der
erste Zugriff zu gelten hat"2. Das Rot als Farbe des Begehrens, archetypisch
der Paradiesfrucht, bewahrt noch in der Kultur, die nach Freud ein System
von Hemmungen ist, die Erinnerung an den natürlichen Eros. Selbst Adal-
bert Stifter, Prophet und Märtyrer bürgerlicher Selbstdomestizierung, weiß
noch mitten im Biedermeier von solcher Elementarkraft. Sein Sonderling Ti-
burius wird im Walde, durch die Begegnung mit dem Erdbeermädchen, vom
Zölibat erlöst. Der Anblick der Erdbeeren in ihrem Körbchen weckt das
Verlangen in ihm. Doch was da aufflammt, flackerte schon auf, als er ihr
hochrotes Halstuch erblickte, „auf dem Lichterchen, wie Flämmchen, wa-
ren" 3 . Hier bezeichnet das Rot die verdrängte Natur im Menschen. Erst die
Kunst der Fauves und der Expressionisten arbeitet offen mit der Vitalität
dieser Farbe.
Dem intimen Rot in vielen Gemälden von Maüsse, die eine spürbar ero-
tische Wärme ausstrahlen, antwortet literarisch der Zeitgenosse Kafka mit
seiner „Erotik des Schreibens" (D.Kremer), in der die Farbsymbolik ähnlich
bewußt instrumentiert wird4. In der Erzählung vom Landarzt versteckt
1
Jünger, Das abenteuerliche Herz 232
2 Ebd. 233
3
Stifter I, 850f. {Der Woldsta&
4
Über Kafkas „erotische Metamorphosen": Kremer 93ff.
223
Kafka freilich das Rot in Rosa. So verschiebt sich das Verlangen des Doktors
nach Rosa, dem Dienstmädchen — „man weiß nicht, was für Dinge man im
eigenen Hause vorrätig hat, sagte es, und wir beide lachten"5 — hin zu der
Wunde, die an der Hüfte des Jungen so aufreizend klafft: „Rosa, in vielen
Schattierungen, dunkel in der Tiefe, hellwerdend zu den Rändern, zartkörnig,
mit ungleichmäßig sich aufsammelndem Blut, offen wie ein Bergwerk
obertags" 6 . Das bloßgelegte Bergwerk des Begehrens zeigt die nämliche
Farbskala und Farbwertigkeit wie die gleichzeitigen Odalisken, Stilleben und
Interieurs von Matisse. Das Leben der Natur, die diesem Augenmenschen
die „grande maitresse" war, spielt in den Farben sich ab: Für Matisse waren
sie das Weibliche schlechthin. Wie kein anderer Maler des 20. Jahrhunderts
hat er die Feminität der Farben wahrgenommen und in seinen Figuren
gefeiert — aus einem gleichsam religiösen Gefühl für das Leben7. Matisse
scheut nicht den Hauch des Animalischen; doch bleibt die Farbe Träger der
Sinnlichkeit. Noch seine späten „gouaches decoupees", seine Ausschneide-
und Klebebilder - Akte, aber auch Pflanzenornamente und die berühmte
Schnecke von 1952 (Täte Gallery, London) — sind von distinguiertem
farblichen Reiz; visuell genießendes Empfinden und intellektuelle
Kombinationskunst durchdringen sich darin. Zwar ist die Tiefe der Farben
unerschöpflich; aber Aufgabe des Malers ist es, wie ein Taucher — oder wie
ein Liebhaber in sie einzudringen.
Matisse hatte sein malerisches Erweckungserlebnis 1903, als ihm die Be-
gegnung mit orientalischer Kunst aus einer Krise heraushalf: „Ich fühlte, wie
die Leidenschaft für die Farbe von mir Besitz ergriff'8. Von da ab bekannte
sich der Maler ungescheut zu seiner Passion für eine dekorative Kunst. Seit
er mit Andre Derain im südfranzösischen Collioure malte (1905) und zum
Protagonisten der Fauves, der „wilden Maler" wurde, hat er vor allen ande-
ren Farben das Rot favorisiert. Dessen Gewalt schafft eine neue Kunst: „Die
Farbe ist wie ein wilder, reißender Gott, der das Opfer der konventionellen
Erscheinungsform fordert"9. Matisse stattet das Rot mit besonderer Leucht-
kraft aus, macht es zum eigentlichen Signifikanten des Bildes - vor allem bei
der Darstellung von Frauen. Der Ausgestreckte Akt von 1916 (Sammlung
S.Niarchos, London zeigt sein Modell Laurette, schwarzhaarig, mit ge-
schlossenen Augen auf einem begonienroten, mit rosa Blumen bestreuten
Teppich liegend. Die Verbindung von Rot und Schwarz, von gefährlichem
Charme, betont noch die gespannte Kraft der scheinbar Schlafenden; sie
suggeriert latente Aggressivität, die gut zum Typus der Dargestellten paßt.
5
Kafka, Erzählungen 140f.
6
Ebd. 143
7
H.Matisse, Notizen eines Malers. 1908, in: Farbe und Gleichnis, hrsg. von P.Schifferli
(Frankfurt/M. - Hamburg 1960) 24
8
Matisse in der Zeitschrift Art Vivantt, 15.9.1925
'Schneider 115
224
10
Henri Matisse. Kunsthalle Düsseldorf 1983, Katalog Nr. 79
11
Baudelaire, AWIII, 197
12
Ebd. 199f.
13
Harnson 217
225
dieser Wirkung sich bewußt. Er möchte malen im Duktus der Natur, ruhig,
mit langem Atem. Sein Kalkül rührt an Bewußdosigkeit. Was er malt, ist das
Sich-Verzehren der Objekte in Farbe. Darin bringt er den Raum und die Zeit
zum Verschwinden — mithin die Momente, aus denen Geschichte besteht.
Matisse, seit er im Kreis der Fauves zu seiner Freiheit fand, gibt sich der
Wildheit seiner Farben hin, ihrer animalischen Ausdruckskraft, aber zugleich
ihrer Unschuld. Die Geschichtslosigkeit dieses Malers zeigt sich auch im
Verschwinden jeglicher Psychologie. Hierbei hat ihm Kafka sekundiert,
wenn er in den Zürauer Aphorismen (1917) festhält: „Zum letzten Mal: Psy-
chologie!"14 Die gängige Meinung schrieb Matisse lange Zeit einen gewissen
malerischen Hedonismus zu; aber das wäre noch immer Seelenkunst. Hier
wird nichts mehr „gedeutet", kein Historismus des Verstehens mehr ge-
pflegt: alles bleibt Phänomen, wie bei Goethe. Matisse malt sich bewußt aus
der Geschichte heraus — so wie Kafka sich aus seiner Zeit herausschreibt.
Aber der Weg zur Natur war für Matisse mühsam und lang. Zunächst war sie
nur im Fensterausschnitt da, als farbige Chiffre für Baum, Gras, Blüte,
Himmel. Erst das Spätwerk der „papiers collees" thematisiert das Sich-Ent-
ziehen der Natur — ihr Geheimnis, das sich nur nachstammeln läßt — in
großartig einfachen Beschwörungsformeln. Die wiedergewonnene Naivität
der „zweiten Unschuld" (Kleist) geht darin ein unauflösliches Bündnis mit
der Sehweise des „wilden Denkens" (Levi-Strauss) ein. Matisse durchbricht
damit die Konventionen auch der Avantgarde. Seine Kunst macht sichtbar,
was Kleist im Aufsatz über das Marionettentheater als naturale Ästhetik be-
schrieb: „Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Re-
flexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und
herrschender hervortritt" 15 . Erst wenn die Erkenntnis durch das Unendliche
gtgangen ist, kehrt die Anmut des Naturzustandes wieder. Matisse, der Maler
des Tanzes, konnte für sich in Anspruch nehmen, was Kleist als Vorausset-
zung für seine Ästhetik des Antigraven benannte: Es gilt vom Baum der Er-
kenntnis zu essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen.
Nitur bei alledem hüllt sich in Farbe. Matisse wie Kafka erleben gleicherma-
ßen das Rot als Befreier von Konventionen der Wahrnehmung. Auch der
Autor des Landarztes vertraut solcher Befreiung sich an. Der Einbruch der
Farbe Rot mit ihrem Vitalitätspotential öffnet Ausgänge aus seiner Leidens-
und Schreibgeschichte. Der rüde Pferdeknecht, lustvoll gewähltes alter ego
des Erzählers, vergewaltigt das Dienstmädchen Rosa, während sein Herr der
FaTiilie des Kranken vergebliche Heilungsversuche vorspielt. Vom Patienten
" Kafka, Er. Prosa, hrsg. von M.Walser (Frankfurt/M. 1964) 206, Nr. 93
15
Lleist, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von H. Sembdner, II (München 1961) 345
226
Kafka tritt hier als E t h n o l o g e des Alltags auf, als „Beobachter zweiter O r d -
n u n g " ( N . L u h m a n n ) , der im A b s u r d e n das System erkennt. Das Barbarische
ist nichts Exotisches, es wird v o m Läuten einer Nachtglocke geweckt. E s ist
heilige, heilende Wildnis, die wie Blut aus d e m aseptischen Weiß, dem dün-
nen Firnis der Kultur hervorbricht. D a s Fehlläuten der Nachtglocke stößt
den als Arzt verkleideten Scharlatan in die Finsternis u n d den Frost dieses
unglückseligsten Zeitalters 1 7 . Rosa aber heißt die Verführerin, die schuldlos-
schuldig den Sündenfall erst inszeniert hat.
A u c h im Schloß-Roman wildert der Landvermesser K , in dessen Beruf
schon die „Vermessenheit" enthalten ist, in verbotenen Wäldern. In das
Liebesabenteuer mit Frieda, der Geliebten K l a m m s , stürzt er sich wie in eine
Schlucht, nach Erschöpfung seines Verlangens suchend. D e r Fall zerstört die
Kulturdraperie u n d provoziert einen Ausbruch erotischer Wildheit, dessen
Faszinosum der Schmutz, das Sich-Wälzen im Unreinen i s t
Sie umfaßten einander, der kleine Körper brannte in K.s Händen, sie
rollten in ihrer Besinnungslosigkeit, aus der sich K. fortwährend aber
vergeblich zu retten versuchte, ein paar Schntte weit, schlugen dumpf
an Klamms Tür und lagen dann in Pfützen Bieres und dem sonstigen
Unrat, von dem der Boden bedeckt war. Dort vergingen Stunden,
Stunden gemeinsamen Atems, gemeinsamen Herzschlags, Stunden, in
denen K. immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei so-
weit in der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch.18
16
Kafka, Erzählungen 144
17
Ebd. 145
18
Kafka, Das Schloß, hrsg. von M.Pasley (Frankfurt/M. 1982) 68f.
"Dazu Kremer 110. 112f.
227
des Kampfes und der Jagd. Im „Schwarzwald" war Gracchus als Jäger ange-
stellt, als Verfolger von Gemsen und Wölfen20 — doch „lupa" hieß bei den
Römern auch „Hure". Angekündigt wurde er durch eine Taube, groß wie ein
Hahn - doch die Taube ist auch der Venusvogel. Im Bild des wilden Jägers
auf seinem Totenkahn, der nicht zur Ruhe kommt — so reflektierte Kafka im
Frühjahr 1917, kurz vor dem Ausbruch der Wunde, die ihn von der
erschöpfenden Jagd nach Feiice erlöste, seine Lebens- und Schreibpro-
blematik. Wie Gracchus, lateinisch „Dohle", tschechisch „kafka", konnte der
Autor als imaginärer Jäger leichtfüßiger Gemsen von sich sagen: „Ich ver-
folgte, stürzte ab, verblutete"21.
Im Schloß-Roman, fünf Jahre später, schlägt Desillusionierung um in
metaphysischen Humor. Der Fall in die Erkenntnis geschieht auf dem Bo-
den der Schenke - mit vorsätzlicher Besinnungslosigkeit. Und dennoch
glimmt am Ausgang des grotesken Liebesaktes noch ein Sakrales auf — als
„weiter gehen, weiter sich verirren". Kafka illustriert hier auf seine Weise das
von Kierkegaard beschriebene ästhetische Stadium der Existenz; er benutzt
alle Schattierungen von Schwarz und Grau, also die Aschenfarbe, die vom
Brennen der Körper zurückblieb. Anders Matisse, der alle Skalen von Rot
zelebriert, um Daseinslust zu feiern. Er entdeckt das Sakrale (das wie im Is-
lam nicht gezeigt wird) im Dekorativen, im scheinbar Profanen, ja noch im
Gewand des Hedonismus. So konnte Pierre Schneider gerade seine Kunst
der schönen Oberfläche als Suche nach einem Paradies, nach einem Golde-
nen Zeitalter, nach einer Religion des Glücks interpretieren 22 .
Glaube an die Natur zeigt sich als Kult der Farben. Der Akt des Malens,
von Matisse ritualisiert und sorgsam vorbereitet, stellt den getrübten Glanz
der Dinge wieder her. Vor allem das Rot als heilige Farbe wird förmlich ze-
lebriert: auf Blut und Feuer verweisend, ist es Metonymie für Opfer und
Wildheit des Ursprungs, für unzähmbare göttliche Energie. Die Metonymie
dient der Annäherung an das Heilige. Doch in der Freiheit, mit der Matisse
die Figuren, unbekümmert um den seit der Renaissance gültigen Darstel-
lungsraum, der Dynamik von Farbe und Fläche anvertraut, ist er ein Maler
barbarischer Unschuld. Wie vor ihm Gauguin folgte er seinem Traum bis
nach Ozeanien, um spät noch den Ballast der abendländischen Tradition los-
zuwerden. Kafkas Gracchus dagegen, im Schwarz-Wald zu Tode gestürzt,
trägt das verborgene Blut seiner Wunde wie eine Drohung in den Text hin-
ein. In der Kajüte seines Totenschiffes, wo er unter einem blumengemuster-
ten Frauentuch ruht (wie Matisse sie oft gemalt hat), sieht sich der Jäger in
den Gejagten verwandelt. Das Bild an der Wand verrät es: „ein Buschmann
offenbar, der mit einem Speer nach mir zielt und hinter einem großartig be-
20
Kafka, Erzählungen 330f.
21
Ebd. 331
22
Schneider 241-271
228
23
Kafka, Erzählungen 331
* Ebd. 143
" E b d . 144
2« Ebd. 145
"Ebd.
28
Ebd. 167
229
von Sündenfall und Reflexion. Rotpeter zahlte einen hohen Preis, um zivili-
siert zu werden: von einem zweiten Schuß „unterhalb der Hüfte" hat er ein
leichtes Hinken behalten. Wie für Kant ist auch für Kafkas Affen der Aus-
gang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit ein Werk der Selbstaufklärung.
Rotpeter hat den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Faulheit
und Feigheit, die Kant der Mehrzahl der Menschen zuerkennt, fechten den
Affen nicht an. Erfolgreich absolviert er die Schule der Menschwerdung; als
Künsder im Variete öffnet sich ihm der Ausweg aus seiner Affengeschichte.
Mit dieser ironischen Wendung schreibt Kafka, während der große Krieg der
weißen Männer im dritten Jahre tobt, die Geschichte der Aufklärung um.
Der Rückfall der Zivilisierten in Barbarei, der Freud so irritierte und ihn in
seinem Kulturpessimismus bestärkte, wird ausgerechnet von einem Affen
konterkariert. Doch ganz läßt sich Natur nicht vertreiben, selbst mit der Ga-
bel nicht. Gelegentlich, nachts, zieht es Rotpeter zu einer kleinen halbdres-
sierten Schimpansin, bei der er sich nach Affenart erholt. Bei Tage will er sie
freilich nicht sehen, ihr Blick verrät den „Irrsinn des verwirrten dressierten
Tieres"29. Rotpeter, dem die Wildnis wie eine Narbe an seinem Namen haf-
tet, findet den Urwald der Goldküste in dessen handsam verkleinerten Aus-
gabe wieder, die ihm die Redensart auftut: in jenen Büschen, in die er sich
schlägt. Rückkehr der Wildnis in die Scheinkultur ist die verborgene Pointe
an Kafkas Geschichte. Dort, wo sie einmal begann, endet die Affen-, die
Menschengeschichte.
Für Kafka selbst war seine Krankheit die Wildnis, und ihr Symbol das Rot
aus seiner Wunde. Nach ihr dauert er nun den eigenen „Lebenstext"
(K.Ph.Moritz). Das Rot markiert den Aufbruch aus allen vertrauten Ge-
schichten, auch wenn Kafka dies vor Milena fast spielerisch behandelt:
Plötzlich im August etwa - also heiß war es, schön, alles außer mei-
nem Kopf war in Ordnung - spuckte ich auf der Civüschwimmschule
etwas Rotes aus. Das war merkwürdig und interessant, nicht? Ich sah
es ein Weilchen an und vergaß es sogleich. Und dann geschah es öf-
ters und überhaupt wann ich ausspucken wollte brachte ich das Rot
zustande, es lag ganz in meinem Belieben.30
In dieser Wunde wohnt, was ihn jagt und ihn zum Opfer degradiert: „Dieses
Jagen nimmt die Richtung aus der Menschheit. (...) Die Jagd geht durch mich
und zerreißt mich"31. Doch das Rot, die Farbe der Lebensbegierde und einer
29
Ebd. 174
50
Kafka, Bnefe an Milena 153 (28.7.1920). Der Vorgang bezieht sich auf den August 1917
31
Kafka, Tagebücher 398 (16.1.1922)
230
Schuld, die immer zweifellos ist, tut alles, um sich selber auszutilgen. So wie
in der Strafkolonie, dieser Allegorie des Schreibenmüssens, der blutige
Schriftzug der Egge immer wieder ausgewaschen wird32. Die Schrift des Be-
gehrens schreibt sich in ihrer Heftigkeit selber zu Ende.
Auch wenn der Liebende über Milenas Brief liegt, „wie ich neben Dir
lag damals im Walde"33, so ist dieser Wald nur noch Chiffer für das Begraben
der Wünsche. Denn wenig später wird das Begehren des Subjekts sich selbst
auslöschen wollen; das „Franz", „F" und „Dein" in Kafkas Unterschrift ist
dreimal durchgestrichen und wird als „falsch" kommentiert. Des Autors in-
nerster Wunsch, darunter vermerkt, gilt nicht dem Paradies, sondern der To-
desruhe: „Nicht mehr, Stille, tiefer Wald"34. Im März 1922, als Kafka sich
von Milena getrennt hat, empfindet er die Krankheit seines Schreibens als
Lebensniederlage. Die Geschichte als Ganzes erscheint ihm nun als Inbegriff
für ein Gefangenendasein: „Immer die in Zimmern eingesperrte Weltge-
schichte"35. Freilich: vier Tage danach reichen die Kräfte schon wieder für
eine Befreiungsphantasie. Die fieberhafte Sehnsucht nach einem Ausweg aus
allen Geschichten, auch der eigenen Strafkolonie, ersinnt eine Metapher, die
schon für Rotpeter, den zivilisierten Affen, die einzige Lösung bot:
„Buschleben. Eifersucht auf die glückliche, unerschöpfliche und doch sicht-
bar aus Not (nicht anders als ich) arbeitende, aber immer alle Forderungen
des Gegners erfüllende Natur"36. Wider die Daseinskrankheit gibt Kafka der
Natur das letzte Wort.
Während Kafka vergebens ein „unschuldiges Land" (Ungaretti) suchte,
ist es Matisse gelungen, sein Paradies zu malen. Kafkas Wunde war Teil sei-
ner Lebensgeschichte; Matisses Figuren und Szenarios entziehen sich der
Zeit, negieren mit dem Fortschritt die Geschichte, imaginieren die Utopie
der Farben. Das Rot von Kafkas Wunde lindert sich bei Matisse; es spricht
nicht mehr vom Unglück, sondern leuchtet vom Ursprungsverlangen. Kaf-
kas Rot aber bleibt mit dem Sacrum des Selbstopfers verknüpft. In einer
kurzen Parabel, geschrieben im November 192037, erlebt der Ich-Erzähler,
wie ein Geier (Travestie des Adlers, der den Prometheus heimsucht) ihn
unablässig quält, erst seine Füße zerhackt und ihm zuletzt wie ein
Speerwerfer den Schnabel durch den Mund stößt. „Zurückfallend fühlte ich
befreit, wie er in meinem alle Tiefen füllenden, alle Ufer überfließenden Blut
unrettbar ertrank"38. Mit solchem Blut wird eine Sünde bereinigt. Denn
32
Kafka, Erzählungen 120
» An Milena 119 (16.7.1920)
34
An Milena 158 (29.7.1920)
35
Tagebücher 414 (5.3.1922)
36
Ebd. 415 (9.3.1922)
37
Die Datierung der Texte nach H.Binder, Kafka-Kommentar (München 1975)
38
Kafka, Erzählungen 366
231
„sündig ist der Stand, in dem wir uns befinden, unabhängig von Schuld"39. In
diesem Ausbruch von Wildheit läßt Kafka seine Geschichte ertrinken. Sein
allegorisches Rot kulminiert in der Gewaltsamkeit des reinigenden Feuers.
Die Erkenntnis der Wunde schlägt sich im Herbst 1917 in den Zurauer
Aphorismen nieder. Ein Notat aus dem dritten Oktavheft (Herbst 1917) hält
die Erinnerung an den brennenden Dornbusch aus dem Buch Exodus fest.
Darin war Gott in jener Stimme verhüllt, die aus der Flamme sprach: „Zieh
deine Schuhe aus, denn hier ist heiliger Boden!" Die Vorstellung verknüpft
ihn seitdem mit der rätselhaften Wildheit eines Feuers in der Wüste. In Kaf-
kas Variante: „Der Dornbusch ist der alte Weg-Versperrer. Er muß Feuer
fangen, wenn du weiter willst"40. Hier ist es das Nicht-zu-Bezähmende, das
selbstgewählte Hindernis, das einbricht in die Welt des bürgerlichen Scheins.
Die Abschweifung in die Wüste, wo dergleichen Dornbüsche brennen, ist
zugleich subtile Ausschweifung des Geistes, provozierende Grenzüber-
schreitung; dieses Hindernis schafft erst den Weg. Der Preis des Abenteuers
ist das Verbranntwerden; die Wunde ist die eigentliche Flamme, selbst ent-
zündet, um weiter zu kommen, und doch in ihrer Wildheit unverfügbar. Was
hier als Feuer ausbricht, ist wie ein Gott, der Kafka zum Schreiben zwingt.
Dies Feuer heiligt, was es erfaßt. In Zürau wurde Kafka sich darüber klar,
wie eine weitere Parabel zeigt.
Vor dem Sanctissimum muß sich das Ich all seiner Attribute und Verklei-
dungen entäußern, in einer Raserei der Selbstopferung, die noch den Schein
des unvergänglichen Feuers von sich abtut. Das Brandopfer muß rein sein.
„Erst das Feuer selbst wird vom Allerheüigsten aufgesogen und läßt sich von
ihm aufsaugen; keines von beidem kann dem widerstehen"42. In dieser heili-
gen Hochzeit verglüht zusammen mit der Sünde das Subjekt.
Kafka bleibt einem Sündenbewußtsein verhaftet, dem Matisse zu ent-
kommen versteht. In seinen Briefen an Milena kommt der Prager Jude nicht
von der Last der Geschichtlichkeit los. Der triviale Wunsch Milenas nach
einem Pelzmantel löst eine Katastrophenphantasie in ihm aus: die vom
Rückfall Europas in die Wildnis. In zwanzig Jahren, so Kafka, wären Pelze
39
Kafka, Hochzeitsvorbereitungen 101
40
Ebd. 84
41
Ebd. 104f.
« Ebd. 105
232
am Ende billiger, „weil dann vielleicht Europa wüst ist und die Pelztiere
durch die Gassen laufen"43. Das Datum 1940, das sich hier ergibt, sah
Europa auf eine Weise verwildert und verwüstet, die Kafka nicht ahnen
konnte; und Milena selbst wird dieser Barbarei zum Opfer fallen. Unaus-
löschlich ist das Rot bei Kafka die Farbe der Wunde, der Schuld und der
Sünde, die Farbe aber auch von Evas Apfel: „Manchmal glaube ich, ich ver-
stehe den Sündenfall wie kein Mensch sonst"44. Um 1920, als die Begegnung
mit Milena ihm für Augenblicke eine trügerische Sicherheit verleiht, hält
Kafka in seinen Prosaversuchen ambivalente Motive fest, die im Rot der
Verführung das Heilige und das Wilde signifikant zusammenbringen: „Eine
junge, zigeunerhafte Frau macht vor dem Altar aus Federbetten und Decken
ein weiches Lager zurecht. Sie ist bloßfüßig, hat einen weißgemusterten roten
Rock, eine weiße hemdartig vorn nachlässig offene Bluse und wild ver-
schlungene braune Haare. Auf dem Altar steht ein Waschbecken"45. Die
Odaliske Kafkas, die an sakraler Stätte einen geheimnisvollen Dienst vorbe-
reitet, verlockt durch reflexionsloses Dasein, durch bloße Triebnatur. Die
Profanaüon ist zwar unübersehbar, aber so angelegt, daß sie zugleich das
Heilige provoziert. Wie Flaubert träumte auch Kafka, ein anderer Priester
der Schrift, von einem wahren Leben. Nichts bei Kafka könnte unmöglicher
sein. Doch gibt es noch den „Wald", Chiffer flüchtigen Glücks - den Wald,
der die Liebenden vor der Geschichte versteckt und in Milenas Briefen
manchmal sich auftut, winziger Rest eines verwüsteten Eden: „Solche kleine
fröhliche oder zumindest selbstverständliche Briefe, wie die beiden heutigen,
das ist schon fast (fast fast fast fast) Wald, und Wind in Deinen Ärmeln..."46.
Im Jahre 1922, als Kafka am Schloß-Roman schreibt und das Verhältnis zu
Milena schon schwierig geworden ist, gewinnt die Waldmetapher noch ein-
mal Leben für ihn. Sie wird nun zur Wildnis der Schrift, in der er seine Sehn-
süchte und Erinnerungen samt seiner Arbeit so gern verbergen würde — in
einem Spiel kindlicher Unschuld und Raffinesse, das an die Märchenhelden
in Bildern Klees erinnert. „Ich wollte mich im Unterholz verstecken, mit der
Hacke bahnte ich mir ein Stück Weges, dann verkroch ich mich und war ge-
borgen"47. Kafka gebraucht symbolische Gewalt, um sich im Schoß der
Wildnis ein Asyl zu schaffen. Sein Geborgensein ist Utopie in Vergangen-
heitsform, von keiner Macht mehr zu rauben. In solchen Wortutopien ver-
stummt für Momente die Wunde.
Mit seinen großformatigen „gouaches decoupees" sprengt Matisse zu-
letzt die Fesseln der abendländischen Raum- und Bildauffassung. „Matisse
realisiert endlich seinen Ausstieg aus der Geschichte"48. Er löst sich ab von
allem Historismus, indem er einen herrschafts- und hierarchiefreien Bedeu-
tungs- und Sinnraum erschafft, worin die Dinge in ihrem farbigen Sosein in
vollkommenem Gleichgewicht schweben. Auch die ursprüngliche Wildheit
der Farben ist gezähmt. Das festliche Rot in Bildern wie der Schnecke von
1952 oder den Acanthes von 1953 (Sammlung E.Beyeler, Kunstmuseum
Basel), vital und unschuldig zugleich, führt den Betrachter aus der mit Blut
geschriebenen Geschichte, aus Kafkas Strafkolonie heraus. Diese Schöpfun-
gen sind nur verständlich, wenn es ein Jenseits der Geschichte gibt, traditio-
nell als Paradies bezeichnet.
Im Rot der Acanthes züngelt die Flamme, die den verborgenen Ausgang
aus der Geschichte erhellt. Das großformatige Bild, über drei Meter im
Geviert, erhebt die botanische Realität des Akanthus (der im Deutschen
„Bärenklau" heißt und in den Mittelmeerländern als „Herkulespflanze" oft
übermannshoch wird) zu einem Symbolon der göttlichen Natur. Das Rot
und Orange am Grund, das übergreifen will auf Grün und Gelb, redet vom
heiligen Feuer. Doch läßt Matisse den Betrachter über ein Opfer meditieren,
das einer unbekannten Gottheit gilt. Die Hälfte des Bildes ist leer. Das Weiß
repräsentiert Abwesenheit und Anonymität — die des verlorenen Paradieses;
es gibt dem, was aufwachsen will, gleichsam sakralen Sinn. Was die Nicht-
farbe kraft ihrer Leere zur Geltung bringt, ist eine Fülle, die keinen Ort in
einem Bild mehr hat. Mit Recht hat Pierre Schneider in diesem Kontext auf
die Bedeutung des Leeren in der Kunst des Zen verwiesen49. Die vegetabilen
Formen sind reine Erinnerung - an einen Garten Eden, der verschwunden
ist, an einen Schöpfer, der sich verborgen hat. Diese Pflanzen sind bloße
„Reliquien", Denk-Male. So verzehren sich die Acanthes in einer Aufwärts-
bewegung, die kultischen Gestus hat, doch keinen Adressaten. Wie in
Baudelaires Gedicht ha vie anterieur, das im späten Matisse die Erinnerung an
Ozeanien aufsteigen läßt, hat sich die Wildnis beruhigt: „C'est lä que j'ai vecu
dans les voluptes calmes"50.
In seiner Malerei setzt Matisse die Ekstase der Paradies färben gegen das
fade Grau der Rationalität. Er malt gegen jenen Welt- und Naturverzehr an,
den wir „Geschichte" nennen. Er ahnt, daß die Fortschrittsgeschichte, eine
Erfindung des Rationalismus, die Götter töten wird. Einem areligiösen Jahr-
hundert hat er auf seine Weise das Heilige gezeigt. „Die wachsende Aus-
strahlung des Werkes von Matisse beruht zweifellos zum großen Teil darauf,
daß es die Krise der Geschichte, die wir heute durchleben, in sich aufge-
nommen hat - und eine Alternative aufzeigt"51. Er macht die Farbe Rot,
48
Schneider 694
" Ebd. 704. 706.
50
Baudelaire, Die Blumen des Bösen 44/45: „Dort lebt' ich glücklich einst, von Freuden
nur umfangen."
s
' Schneider 10.
234
monumentalisiert, zum Träger des Sakralen — eine Tendenz, die mit den
mythopoetischen Bildern La Danse und La Musique (1909/10, beide in der
Eremitage, St.Petersburg) beginnt. Das Ziegelrot der Figuren, die Farbe
griechischer und etruskischer Malerei, zeigt an, daß Tanz und Musik für
Matisse heiliges Tun sind. Die Gestalten glühen von innen heraus, wie von
Eifer verzehrt. Das Rot hat hier „liturgische" Funktion; es führt an den Ur-
sprung der Kunst und der Dinge heran. Die exotische Variante in einer spä-
teren Phase von Matisse ist das Korallenrot der Lagunen, das er seit Tahiti so
liebte. Unschuld und Lust des Daseins kommen hier zusammen. In jener
Komposition von Papierschnitten, der er den Titel Ja%% gab (1947), schrieb
er als Selbstkommentar unter dem Stichwort Lagunen: „Ob ihr wohl eines der
sieben Weltwunder aus dem Paradies des Malers seid?"52 Die Schwimmerin
in dieser Serie ]an^ wird bedroht - oder verehrt - von einem virilen Rot, das
von rechts unten, barbarisch leuchtend, aufsteigt. Die Herzfarbe signalisiert
die Gegenwart einer wilden, uneingeschränkten Lebensenergie.
Der Rekurs auf das Rot ist Suche nach dem Ursprung. Das Spätwerk
von Matisse ist anamnetisch. Die ekstatische Farbe des brennenden Dorn-
busches, dessen Widerschein ans Heilige erinnert, erleuchtet das ganze Werk.
Selbst das Rote Interieur von 1947 (Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen,
Düsseldorf) scheint nur gemalt, um auf das Fenster zu verweisen, worin ein
südlicher Garten mit Palmwedeln und roten Florealien auftaucht: Epiphanie
des Gartens Eden. Das Rot des Zimmers wird heiliger Boden; die Äpfel auf
dem Tisch schüren das Verlangen nach dem Baum des Lebens. Bewußt lädt
dieses Interieur den Blick mit Energie auf, um ihn nach draußen zu senden:
das Fenster wird zum Einlaß der Ekstase. Aber Matisse vertauscht hier die
Valeurs. Die Natur im Fenster wirkt beinahe künstlich, als Erinnerungsbild,
während der Innenraum, dieses Gefängnis der Kultur, von dem natürlichsten
Verlangen nach dem Draußen brennt — wie wild nach dem „anderen
Zustand".
Für Kafka stand die Farbe Rot ambivalent für Opfer und Verführung,
für Feuer und Wunde, für Reinigung und Beschmutzung. Die damit verbun-
dene Elementarerfahrung verweist auf etwas, das so bedroht wie verlockt,
auf Heiliges und Sündhaftes in einem. Das Rot, freilich maskiert, spukt noch
durch die Parabel vom Schweigen der Sirenen. Hier ist Odysseus zwar Re-
präsentant der Kultur, aber jemand, der lebensgefährliche Abenteuer an
ihren Grenzen sucht. Die Sirenen sind Naturwesen schlechthin, bedrohlich
noch in ihrem Schweigen: Sie brauchen ihre Wildheit nur zu zeigen, indem
sie das „schaurige Haar" offen im Winde wehen lassen und ihre Krallen frei
auf dem Felsen spannen 53 . Odysseus entgeht ihnen, weil er in sich selbst ein
Wildes hat; dazu gehört animalische Neugier. Kafka hat seinen Odysseus
52
H.Matisse, Zeichnungen und Gouaches decoupees, Staatsgalene Stuttgart 1993/94, 237.
Vgl. Jazz, Tafel XIX, ebd. 236
53
Kafka, Erzählungen 351
235
deshalb als „Fuchs" deklariert: in dieser Verkleidung ist er ein „fauve" und
trägt die Farbe des Wildes. Der Rotfuchs, ein ferner Verwandter Rotpeters,
des Affen, ist Maske und Metapher für einen Abenteurer, dem selbst die
Schicksalsgöttin nicht in das Innere sieht. Die Vernunft, mit dem Fell des li-
stigen Räubers bekleidet, präsentiert sich in diesem Text als ein Naturge-
schöpf, unbeeindruckt vom Wachs in den Ohren und dem Gebinde Ketten.
Wie jede Erkenntnis hat auch diese ihren Preis - die Wunde, die Kafka im
Jahr der Niederschrift, 1917, am eigenen Leibe erfuhr.
Das Rot Kafkas spricht von Natur, nicht von Kultur, es behält sein Ge-
waltsames, läßt sich nicht domestizieren, verletzt. Als Feuer und Wunde zu-
gleich versperrt und öffnet es das Tor zu jenem Anderen, das sich der Schrift
entzieht, wovon aber unverlöschlicher Glanz auf unser Irdisches fällt. Für
Matisse war das Rot, in das er seine Interieurs und Odalisken tauchte, Ele-
ment eines paganen Kultes der Lebenslust, Flamme des Goldenen Zeitalters,
pure Natur. Wie Mallarmes Faun hätte er mit Blick auf seine Bilder sagen
können: „inerte, tout brüle dans l'heure fauve"54. Zeitlebens suchte Matisse
in seiner Naturästhetik das irdische Paradies. Er blieb der Überzeugung, „daß
das Paradies nur in der Malerei zu existieren vermag und daß die Malerei nur
vom Paradies sprechen kann" 55 . Doch erst muß das Verlangen durch das
Feuer gehen. Im Rot der Malerei läßt Matisse alle Geschichte seit dem Sün-
denfall verbrennen.
54
„Müßig brennt alles in der roten Stunde" (Mallarme, Uapris-midi d'unfauni).
55
Schneider 88
9. Kapitel
Gott-Opfer und heilige Jagd
Hölderlin, Friedensfeier
Jedes Heilige fordert Opfer; von daher ist jedes Opfer heilig und gewaltsam.
Dieser Widerspruch ist unaufhebbar. Er erzeugt jene eherne Ordnung von
Sakralität, die Rene Girard auf ihre paradoxe Formel gebracht hat: „Das Op-
fer zu töten, ist verbrecherisch, weil es heilig ist, (...) aber das Opfer wäre
nicht heilig, würde es nicht getötet. Dieser Zirkelschluß wird wenig später je-
nen Namen erhalten, den er noch immer trägt: Ambivalenz" 1 . Der Ambiva-
lenz jedes Opfers war auch Sigmund Freud sich bewußt. In Totem und Tabu
(1913) führt er einen Gewaltmythos ein, nämlich den Vatermord durch die
Urhorde, um seine psychoanalytische Theorie des Inzestverbotes zu begrün-
den2. Das archaische Opfer, barbarisch wie die Entmannung des Kronos bei
Hesiod, wirft Licht auf moderne Verdrängungsprozesse. Das Opfer aber be-
gründet und bekräftigt das Gesetz. So entsteht das Gesetz aus der Sünde,
dem Tabubruch, der Gewalt. Das Gesetz lebt vom Begehren, wie schon
Paulus wußte — ja Lacan identifiziert beides schlechthin: „La loi et le desir re-
foule sont une seule et meme chose" 3 . Der Vater aber, oder der Name des
Vaters (wodurch er noch als Abwesender wirkt) wird in der symbolischen
Ordnung zur Personifikation des Gesetzes 4 . Erst die Beseitigung des Despo-
ten, mit Schulderfahrung verknüpft, stiftet Gemeinschaft; sie ist heilig, weil
mit Blut besiegelt. „Die Gewalt und das Heilige sind nicht voneinander zu
trennen"5. Girard, der diese These aufstellt, situiert eine förmliche „Grün-
dungsgewalt" als sozial- und sinnstiftenden Akt. Das Wilde des Opfers wird
lizensiert durch den Ritus: Die Form erteilt dem Opfer seinen Sinn. Bewäl-
tigt wird Gewalt durch deren Einverleibung; symbolisch steht dafür die Zer-
stückelung und der Verzehr des Corpus. Das Eine teilt sich auf die Vielen
auf. Diese Communio ist ohne Zweifel ein heiliger Vorgang, ja eine Art
Liturgie.
1
Girard 9
2 Dazu Girard 281 - 321
3
Lacan 782: „Das Gesetz und das unterdrückte Begehren sind ein und diesselbe Sache"
4
Lacan 278
5
Girard 14
237
Freuds Kulturtheorie in Totem und Tabu arbeitet bewußt mit einem ätio-
logischen Mythos: Archaisches soll die Moderne erklären. Ethnologisch oder
religionsgeschichtlich hat dieser Mythos kein Pendant in der Realität; er ist
ganz und gar Freuds literarische Schöpfung. Der Meister der Analyse rekur-
riert, wo es um Grundlagen geht, auf das Symbolische: Psychoanalyse als
Ethnopoesie. Was der Kunstmythos mit illustrieren soll, ist das psychologi-
sche Phänomen des nachgetragenen Gehorsams, der hervorgeht aus einer
ursprünglichen, gewaltsamen Verneinung. Das Nein zum Vater, zunächst de-
struktiv, verwandelt sich im Laufe der Lebensgeschichte zum nachgeholten
Ja; es ist das Sühneopfer für die Negation. Das Wilde transformiert sich in
Heiliges, in ein Kulturgesetz. Der Ritus ist der gewaltsame Aneignungsakt,
der Gehorsam die nachträgliche Anerkennung von Auctoritas: Der Tote ist
präsenter, als es der Lebende war. So wird Natur zum Sinnhorizont und Pa-
radigma einer neuen Ordnung, seit es sie unbeschädigt nicht mehr gibt. Und
so wird Geschichte als Autorität verneint, als Sinnsystem geopfert, um ihre
Lehre und ihren Sinn zu verstehen. In der Natur ist die Geschichte aufgeho-
ben: inmitten dessen, was Hölderlin „heilige Wildnis" nannte, verbirgt sich
das Sanktuarium. Nicht die unreflektierte Natur, sondern die in Vicos Sinn
„historisch" verstandene, in Symbolik und Reflexion überführte Natur er-
öffnet dem Menschen, was ihn mit ihr verbindet und wo sie die Ganz-
Andere ist. Die Naturalisierung des durch Gewaltgeschichte beschädigten
Humanuni hatte bereits der junge Marx als ein Jahrhunderthema gestreift,
doch in Richtung einer politisch-ökonomischen Analyse abgebogen. Freud
ütuiert dagegen einen ursprünglichen Naturzustand der Psyche und des So-
zialverhaltens, der ebenso fiktiv ist wie der von Hobbes und Rousseau ge-
meinte. Das Wilde war für Vico eine entscheidende Kategorie seiner Ge-
schichts- und Gesellschaftsbetrachtung; denn aus Barbarei geht in gesetzmä-
iigen Schritten die Kultur hervor, als synthetischer, zielgerichteter Prozeß
der Arbeit an Natur. So war Vico ein „Metaphysiker der 'wahren Anfänge',
Jie diese Synthesen denkmöglich machen sollen"6. Ähnlich wie Vico, der im
Schreckenserlebnis des blitzeschleudernden Himmelsgottes den menschli-
:hen Ursprung von Religion und Humanitas sah7, hatte Freud keine Scheu,
Fundamente seiner Psychoanalyse auf eine Erdichtung zu stellen. Er verhielt
sich damit nicht anders als die Verfasser der Genesis, die Sundenfall und
3rudermord als mythischen Beginn der Heilsgeschichte setzen, Theologi-
sches auf das Symbolische gründend.
Vater- und Gottesmord, als philosophischer Opferritus, eröffnen bei
Mietzsche das Denken der Moderne: „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir
laben ihn getötet! (...) Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher be-
laß, es ist unter unseren Messern verblutet, - wer wischt dies Blut von uns
4
S.Otto, Gianbattista Vico. Grundzüge seiner Philosophie (Stuttgart-Berlin-Köln 1989) 92
' Ebd. 94
238
ab? Mit welchem Wasser können wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, wel-
che heiligen Spiele werden wir erfinden müssen?" Daß dieser philosophiege-
schichtlich so folgenreiche Passus ausgerechnet in einem Buch mit dem Titel
Die fröhliche Wissenschaft steht8, bleibt eine Pointe von makabrer Sinnfälligkeit.
Rene Girard hat diesem Motiv des Gott-Opfers einen geistreichen Essay ge-
widmet 9 , der die Geburt neuer Götter aus einer Krisis, dem Opfer der alten
Götter hervorgehen sieht. Nietzsche ist hier als authentischer Denker des
Religiösen gedeutet: Die Ewige Wiederkehr ist als Konzept nur möglich vor
dem Hintergrund der Tötung Gottes. Wer diese Wahrheit offenbart, muß
„toll" sein, von der Mania erfaßt - ein „Sündenbock" im Verständnis
Girards. „Sündenbock" aber ist auch der geopferte Gott — ein Gedanke, der
das Christliche in Nietzsche als unausrottbar erweist.
Die Idee des Gott-Opfers oder der Gottesjagd, ein genuin moderner My-
thos, geistert auch durch die Dichtung von Giorgio Caproni. Doch der gejagt
wird, ER, ist ein Anonymus, der Leben und Tod nur als Masken gebraucht.
Die kühle Grausamkeit dieser Verse beschwört eine imaginäre Jagd, eine
vergebliche Fahndung in einem archetypischen Wald, der identisch ist mit
einem ordosen Dorf. Die Wildnis ist die des verzweifelten Traumes, in dem
der Tötungsakt IHN nur noch lebendiger macht -: rachsüchtige Präsenz
eines Phantasma, das erstarkt an der Gewalt, die man ihm antut. Die myste-
riöse und manische Jagd nach dem, der sich, wenn er „erlegt" ist, entzieht,
gibt den Jägern überhaupt Identität; sie sind nichts ohne IHN. Doch diese
Jagd zehrt die Geschichte auf. Das Dorf, in dem die Jäger wohnen, ist mit
8
Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft § 125 (KSA III, 481)
9
R.Girard, Der grundlegende Mord im Denken Nietzsches, in: D.Kamper/Ch. Wulf (Hrsg.),
Das Heilige. Seine Spur in der Moderne (Frankfurt/M. 1987) 255 - 274
" Caproni 96/97
239
dem Wald identisch. In ihrem eigenen Innern sind sie auf Jagd nach dem
unheimlichen Wesen:
Die Jagd ist rituelle Gewalt; sie inszeniert Erregung, Grausamkeit, Tö-
tungsverlangen. Und dennoch ist sie ziellos, wechselt den Ort und das Op-
fer. Die Jagd ist Mimesis eines Verlangens, das alle ergreift, aber objektlos
bleibt; das Wild hat keinen Namen, und deshalb laßt es sich nicht erlegen. In
dieser kleinen, komfortablen Hölle sind die Verdammten als Jäger verkleidet.
Die mystische Jagd erweist sich als Schlüsselmotiv in der späten Lyrik
Capronis. Sie durchzieht die Gedichtbände 11 franco caccattore und // conte dt
Kevenhüller, die Texte der 70er und 80er Jahre vereinigen. Der erste Titel erin-
nert an den romantischen Mythos vom Freischütz; doch biegt Caproni das
Motiv ohne Umschweife in eine blasphemische Huldigung um. Der Gott ist
selbst das Wild, freilich eines, das nicht zu treffen ist:
Der Gott, der zur Zielscheibe wird, erinnert den Menschen an seine Kontin-
genz, an sein Erdengefängnis, das überwacht wird von einem gnadenlos spä-
henden Auge. In dieser Vision wird der Gott zum kalten Betrachter der
schlimmsten der möglichen Welten. Als hochmütiger Stern repräsentiert er
eisig funkelnde Natur. Der Akt der Aggression, dieser ewig verfehlte Schuß,
ist ein Akt der Verzweiflung; doch soll er Leibniz und Kant, die Theodizee
11
Ebd.
12
Ebd. S. 92/93
240
- Cacciatore, la preda
che cerchi, io mai la vidi.
Hier rührt Gewalt an das Heilige. Die naturale Metapher des Wildes zielt
durch den Gott auf die Geschichte selbst. Soll doch mit Gott die Geschichte
erledigt werden — die Geschichte der Vätergewalt, die auf die Söhne vererbt
wird, die Geschichte der Überwachung und Strafe, die Geschichte einer lan-
gen Tyrannei. Es ist Gott, der den Ausgang aus der Geschichte bewacht, je-
ner Geschichte, in die er den Menschen nach dessen Sündenfall einschloß.
Gegen solche Inkarnation der Geschichte mobilisiert der Dichter poetische
Gegengewalt, lyrische Befreiungsphantasien. Vergeblich freilich; denn seit
dem Mythos von Kain und Abel ist Gewalt ein Stachel der menschlichen
Natur. Der Kampf Mann gegen Mann, in der Arie des Tenors (1981), erotisch-
musikalisch inszeniert, gerät in der Nachfolge von Nietzsches agonaler Ethik
zum Sinnbild einer von Kriegen stimulierten Geschichte. Gerade die Lust am
Jagen und Töten kettet den Eros an Thanatos:
Mai
un'allegria piü ardente
15
H.Helbling im Nachwort zu Capronis Gedichten 180
14
Caproni 9 4 / 9 5
241
li aveva colti.
Si amavano,
quasi.
Coivano.
Nie hatte
ein froheres Feuer sie
durchdrungen.
Beinahe
liebten sie sich.
Paarten sich.15
Caproni datiert den Erlaß des Grafen Kevenhüller, das wilde Tier zu jagen,
das alle menschliche Ordnung zerstört, mit symbolischer Präzision auf den
14. Juli 1792. Das Datum steht für einen „Erdrutsch der Vernunft" (frana
della ragione), der den Ausgang aus der Geschichte versperrt:
Giorno: il 14 luglio.
Anno: quello tra II Flauto Magico,
a Vienna, e, a Parigi, il Terrore.
Der Gott und die Geschichte werden gemeinsam der Natur geopfert; beide
verschmelzen zu einem „historischen Gott", den der Erdrutsch der Vernunft
hinwegfegt. Mit der Geschichte verschwindet im strengen Sinne auch die
Utopie. Capronis Fluchtwelt ist eine nur noch in Chiffern erscheinende Na
tur. Was bleibt, ist der Mensch als Gewaltwesen, der nicht aufhört, auf Beute
zu gehen. Die Gottesjagd erweist sich als illusionär, so wie das Untier Ge
schichte nur Fiktion ist. Capronis „Nebelpanther" spottet der Ordnungs
systeme Linnes und Kants Erkenntnistheorie, kümmert sich nicht um die
Trennung von Subjekt und Objekt, weiß nichts von Identität und Differenz:
La pantera
nebulosa (felis
15
Ebd. 116/118
16
Ebd. 144/145
242
Der Nebel-
panther (felis nebulosa),
der anzieht, was ihn abweist, und
zunicht macht, was ihn
herausgefordert hat...17
Das Subjekt, das seit der Aufklärung sich stolz als autonom verstand, als
Agenten historischer Vernunft, die kontinuierlichen Fortschritt im Bewußt-
sein der Freiheit verhieß, ist bloßes Phantasma. Auch der Dichter Caproni
lebt von der Freu dianischen Wende, die das ehemals geschichtsmächtige Ich
entthronte und als Bündel widersprüchlicher Triebe enthüllte. Nur ich (Io
solo) ist der ironische Titel eines Gedichtes von 1985, das aufräumt mit der
Vorstellung des historisch erkennenden Ich, das im aristotelischen Sinne
„politisch", weil für seine Taten verantwortlich ist. Stattdessen entdeckt die
poetische Tiefenrecherche im Ich ein „Mördertier" (bestia assasina): „Das
Tier, das keiner je sah", weil die Mythologie der Vernunft es wahrnimmt,
„das Tier, das lebendig macht und dich tötet", weil es sich selber zerfleischt
zwischen Lustprinzip und Todestrieb. Der Mensch ist ein nicht festgestelltes
Tier, wie es schon Nietzsche wußte. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.
In Wahrheit ist dieses Tier nur ein „gefälschter Jagdhund" (falsamente ma-
stina). Noch darin ist es nicht zuverlässig. Caproni trifft die Geschichte nicht
als Welttheater, sondern als Fortschritts fiktion im Innersten des Ich. Damit
ist auch das Sinnkonstrukt Geschichtsphilosophie jeder Bedeutung beraubt.
Caproni, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Publizist im Umkreis soziali-
stisch orientierter Zeitungen tätig war, nahm als Poet seit den siebziger Jah-
ren den Zusammenbruch der historischen Ideologien vorweg; der Marxis-
mus war nur die berühmteste. Mit dem Verschwinden eines historisch auf-
weisbaren Sinns, der Auflösung auch der Geschichtlichkeit18 kehrt sich die
Literatur erneut dem Naturwesen Mensch zu. Capronis poetischer Pessimis-
mus gibt seinen Gedichten ihr Fahles, die kostbaren „Grautöne", von denen
"Ebd. 152/53
18
Dazu G.Sasso, Tramonto de un mito. L'idea di 'progresso' fra Ottocento e Novecento
(Bologna 1984), G.Vattimo, La fine della modernitä (Mailand 1985, dt. 1990)
243
sein Übersetzer Hanno Helbling spricht19. Aber nah ist und schwer zu fassen
das Wild - „diese Beute, die in beständigem Sich-Töten beständig ihren
Schatten trifft (und ihn verfehlt)"20.
Dichtung ist Jagd. Sie verfolgt und beschwört, um zu opfern. Natur und
Geist, seit jeher im mythischen Zwiespalt und in poetischer Paarung, verfol-
gen und suchen einander. Die Gedichte Capronis üben den Zauber heiliger
Jagd. Der Autor vom Ende der Neuzeit unterscheidet sich darin intentioneil
nicht von den Künsdern des Neolithikum, die auf den Höhlenbildern von
Altamira und Lascaux die Naturgeister bannten. Was er im Wort erlegt, ist
Opfergabe, damit das Heilige lebt. Dieses Heilige aber verwundet den Men-
schen, so wie es anlockt und sich verweigert. Die Jagd ist heilig, weil sie die
Wahrheit verfolgt, die immer ein Phantom ist; um dieser Wahrheit willen
wird auf der Jagd getötet. Dieser Impuls ging von Nietzsche aus. „Gott
'stirbt', getötet von der Religiosität, von dem Willen zur Wahrheit, den seine
Gläubigen immer gepflegt haben und der sie jetzt dazu führt, auch ihn als
einen Irrtum zu erkennen"21. Doch Caproni ist kein Nihilist, mögen auch
seine Szenarien in einem Jenseits von Gut und Böse angesiedelt sein. Gewiß
aber ist er ein Dichter der Gottesdämmerung, ein wahrhafter „crepuscolare"
- radikaler als seine Kollegen vom Anfang des Jahrhunderts, weil er nicht
ästhetizistische Stimmungen anbietet, sondern Verlorenes an-denkt. Sein
Nebelpanther ist ein Geschöpf, das poetisch erst am Ende der Geschichte
möglich ist, mithin am Ende der Moderne: die Subjekt-Objekt-Spaltung ist in
ihm aufgehoben. Als Geschöpf der Fiktion, des Mythos, als „Ereignis", wäre
sein Ort, mit Heidegger gesprochen, „der in sich schwingende Bereich,
durch den Mensch und Sein einander in ihrem Wesen erreichen, ihr Wesen-
des gewinnen, in dem sie jene Bestimmungen verlieren, die ihnen die Meta-
physik geliehen hat"22. Nicht umsonst setzt Gianni Vattimo — der auf Hei-
deggers Spuren ein nachmetaphysisches Denken entwirft, worin es nur noch
ein „schwaches Sein" gibt - die Fähigkeit zur „schwingenden Existenz" mit
dem Vermögen gleich, Sterblichkeit zu ertragen23. In dieser Konzeption wäre
Capronis Nebelpanther das dichterische Denkbild einer „erleichterten", von
Metaphysik befreiten Wirklichkeit - „erleichtert, weil hier die Trennung zwi-
schen dem Wahren und der Fiktion, der Information, dem Bild weniger
scharf geworden ist: es handelt sich um die Welt der totalen Medialisierung
(mediatizzazione) unserer Erfahrung, in der wir uns schon weitgehend be-
finden"2'1.
19
Caproni 180
20
„La preda/ che in continuo suicida/ in conünuo colpisce/ (fallisce) la sua ombra"
(Caproni 152/154).
21
Vattimo, Das Ende der Moderne 182
22
M.Heidegger, Identität und Differenz (Pfullingen 1957) 26
23
Vattimo, Jenseits vom Subjekt 35
24
Vattimo, Das Ende der Moderne 197
244
... dell'erba
che - sempre piü erba e verde -
cresce nella mente, e serba
ciö che disperde...
Für den Dichter wohnt selbst der Drachenfisch, dies göttliche Monster, im
Abgrund des Gebetes: ein zweideutiges Wesen, auch er Ichthys, Deus
absconditus, der die Finsternis der Tiefsee hütet und dabei sich selber er-
leuchtet, Sinnbild für das Naturgeheimnis, dort wo das Denken stillsteht und
sich in Gott betäubt - nichts, das sich wünschen läßt und das doch ist, als
heiliger Schrecken und Faszination:
il pesce drago...
Invoca
il non invocabile...
Der Drachenfisch...
So rufe an,
was nicht anrufbar ist...27
Wie in Vattimos Ontologie des Verfalls ist in Capronis Dichtung die Natur
„das Andere der Sprache, die Stille des Dichters, auf irgendeine Weise die
Stille des animalischen Lebens"28. Von hier aus ergibt sich intentional die
Verbindung zu Hölderlins heiliger Wildnis aus dem Titanen-Gedicht, die
Heidegger in weitgespannter Interpretation mit den Begriffen Chaos, Heili-
ges, Wachstum zusammenbrachte. Caproni bewahrt das Heilige, indem er es
25
Caproni 158/159
26
Ebd. 168/169
27
Ebd. 174/175
28
Vattimo, Jenseits des Subjekts 112
245
an-denkt, nicht ausspricht. Dies Andenken kann nur einem Entzogenen gel-
ten, dem was Heidegger „Vorenthalt" nannte29. Im Anruf der dunklen Natur
läßt Caproni die Menschengeschichte als verfehlte Erlösung verstummen.
Damit sie verstummt, am Grunde des Wortmeeres, opfert er ihr den Dra-
chenfisch wie einen verkleideten Gott.
Gott-Opfer und heilige Jagd ereignen sich auch in der Lyrik von Pierre Jean
Jouve. Die Inspiration durch Freud, dessen Theorien ihm seine zweite Frau,
die Psychoanalytikerin Blanche Reverchon in den zwanziger Jahren vermit-
telte, ist kaum zu überschätzen. Aber Jouve ist zugleich Mystiker, der im in-
neren Kontinent des Unbewußten das Religiöse sucht, gewaltsam bis hin
zum „Blutschweiß" (Titel einer Sammlung von Gedichten). Jouve hat die
Grundmotive für sein Schreiben in der Vorrede zu Sueur de sang (datiert vom
März 1933) selbst deklariert — in poetologischer wie in zeitkritischer Ab-
sicht30. Der Rekurs auf „Tausende von inneren Welten im Menschen" ver-
weist die Tagseite der Lebenswelt, ihr Geheimnisloses, Einförmiges, nach
außen Gewandtes in den Bereich des Profanen. Denn bürgerliche Rationali-
tät führt zum Symbolverlust. Mit seiner von Freud und Mystikern wie Teresa
von Avila und Juan de la Cruz inspirierten Poetik zieht sich Jouve vor sol-
cher Nivellierung in die zerklüftete Landschaft der Seele zurück. Zwischen
zwei Weltkriegen, angesichts unheilvoller Veränderung, entdeckt er den „Riß
der menschlichen Natur" 31 . Doch einer öffentlichen Literatur verweigert sich
Jouve. Er bleibt Hermetiker. Wie er in seinem Roman Die leere Welt (1927),
die Seelenwirrnis seiner Figuren im Blick, vom Großen Kriege schrieb: „Die
Katastrophe in Europa hatte alles über den Haufen gestürzt, ohne auch nur
einen persönlichen Kummer anzutasten, ohne auch nur ein verborgenes Da-
sein zu ändern" 32 . Und weiter: „Was draußen geschah, blieb ungewiß,
stimmte mit der inneren Wirklichkeit schlecht überein"33. Dem Autor ergeht
es wie seinem alter ego Luc Pascal, „er existiert nur in jener Sekunde, wenn
die Poesie in ihn eintritt und spricht; und weil er weiß, daß sie das ewige Le-
ben ist, möchte er sie für immer festhalten"34. Jouves Lyrik während des
Zweiten Weltkriegs, vor allem die Sammlung La vierge de Paris (1942 bis 1944
in der Schweiz entstanden), ist Dichtung, um die Seele zu befreien. Sie
schreibt jenseits aller Tagespolitik den französischen Mythos der Freiheit
29
M.Heidegger, Was heißt Denken? in: Merkur 6 (1952) 601 - 611
30
Jouve, Inconscient, spiritualite et catastrophe( Les Noces 139-144)
31
Dazu Micha 52
12
Jouve, Die leere Welt 119
33
Ebd. 134
34
Ebd. 150
246
fort. Jouve bekannte ausdrücklich, daß er ein Werk schaffen wollte, das nicht
nur gebunden war an das historische Faktum 35 .
Der psychoanalytischen Wende bei Jouve entspricht überraschender-
weise die theologische: beide leben von einem Sinn für Symbolik, den Freud
neu geweckt hatte. Die psychische und moralische Verwahrlosung der Zivili-
sation sieht Jouve in den dreißiger Jahren als endzeitliche Krise: „La psycho-
nevrose du monde est parvenue ä un degre avance qui peut faire craindre
l'acte du suicide"36. Der Symbolismus aber fördert die Enthistorisierung. So
versteht sich die Rollenbestimmung des Dichters: aus einem Eros heraus, der
Sterben und Auferstehen einschließt, die Werte des Lebens neu zu schaffen.
Zwar enthüllt sich dem Analytiker Jouve der Mensch als „monstre de Desir",
mit kannibalischem Appetit und inzestuösen Gelüsten. Doch den Surrea-
listen und ihrem frivolen Sprachspiel — Kunst als „exquisiter Kadaver" —
setzt der Poet provokant sein religiöses entgegen: Der Kadaver vermag we-
der Revolution noch Aktion zu erzeugen, er ist nichts als der Anteil des Dia-
bolischen im Menschen. Gleichwohl billigt Jouve auch ihm heilsgeschichtli-
che Wirkung zu, bauend auf die Dialektik Gottes: „ce pouvoir demoniaque
et cette faute sont peut-etre les facteurs de l'emancipation de l'homme" 37 .
Jouves Gegenwartsbestimmung bleibt eschatologisch getönt. Seine Ge-
schichtskritik folgt sichtlich apokalyptischer Tradition. Die mit sittlicher
Verwesung einhergehenden Missetaten der Völker machen Europa zur Gro-
ßen Hure aus der Vision des Johannes (Apk 17,3), thronend auf dem schar-
lachfarbenen Tier, das bedeckt ist mit Namen der Lästerung und sieben
Häupter und zehn Hörner hat38. Jouve nimmt den Revolutionsbegriff de-
monstrativ aus der politischen Sphäre, in die ihn die Surrealisten agitatorisch
versetzt hatten, heraus und deutet ihn exklusiv religiös. Das Bild vom „Blut-
schweiß" zitiert einen Titel des katholischen Integralisten Leon Bloy von
1893 — in den Augen der Surrealisten durchaus eine Provokation. Program-
matisch stellt Jouve der Geschichte, die sich ihm als Destruktion offenbart,
die inneren Reiche des Eros entgegen: „Nous devons donc, poetes, produire
cette 'sueur du sang', qu'est l'elevation ä des substances si profondes, ou si
elevees, qui derivent de la pauvre, de la belle puissance erotique humaine" 39 .
Die intenüonale Verschränkung von Passion und Erhebung im Sinne des
15
Micha 57. Der politischen Vereinnahmung konnte auch der Dichter nicht entgehen. Im Mai
1945 dankte ihm General de Gaulle dafür, während des Krieges „ein Interpret der französi-
schen Seele" gewesen zu sein.
56
Jouve, Le Noces 143: „Die Psychoneurose der Welt ist an einem fortgeschrittenen Punkt
angekommen, der an den Akt des Selbstmordes glauben läßt."
37
Ebd. 144: „Diese dämonische Macht und diese Schuld sind vielleicht die Faktoren der
Emanzipation des Menschen."
»Ebd.
39
Ebd. „Wir Dichter also müssen diesen 'Blutschweiß' hervorbringen, der die Erhebung
zu so tiefen Stoffen ist, oder so erhabenen, die von der armen und schönen Gewalt des
menschlichen Eros sich herleiten."
247
ewigen Eros, den kurz zuvor Freud in seinem großen Essay Das Unbehagen in
der Kultur (1930) als Hoffnungsträger gefeiert hatte, mischt Christentum mit
Psychoanalyse. Diesen Prozeß versteht Jouve metaphorisch als Wiederge-
burt. Wer eindringt in die Geologie des Unbewußten, kann erkennen, wie
sich der Mensch „aus schwarzem Lehm und einer blutigen Plazenta löst"40.
Das extrem naturalistische Gleichnis verweist auf die für Jouve bezeichnende
Verknüpfung von Spiritualität und Gewalt, auf die Schöpfung des Menschen
aus der Ackererde und auf die Qual der Geburt; es sind Konnotationen der
Genesis. Aber das Heilige leidet auch Gewalt; viele Gedichte spielen an auf
dieses christliche Mysterium (Mt 11,12).
Die in der menschlichen Innenwelt einander bekämpfenden Kräfte -
Eros und Todestrieb, Schuld und Erlösungswunsch, Geschlechtlichkeit und
Spiritualität - treten an die Stelle der äußeren Konflikte, von denen die Welt
der Geschichte beherrscht wird. Jouves Rückbesinnung auf die Natur des
Menschen ist Rückzug aus der äußeren Geschichte. (Er hatte sich 1914 frei-
willig als Krankenpfleger gemeldet, um Dienst in einem Lazarett zu tun.) Der
Paradigmenwechsel von der Geschichte hin zu Natur, die nun Sinngarant
wird, ist im Verlauf der Moderne signifikant auch für die Literatur. Die
Greuel des 20. Jahrhunderts — totale Kriege und Revolutionen, Völkerver-
treibungen und Genozide — löschten nicht nur den Sinn von Geschichte,
sondern zugleich die Traditionslinie einer Kultur aus, die seit Homer
menschliches Handeln als ethisches und rationales erfaßte. Dichtung im
Zeitalter der Diktatoren trägt von daher unübersehbare Stigmen. Gegen die
Totalität des Politischen wehrt sich der Lyriker Jouve auf seine Weise: er
nimmt Eros und Tod konsequent aus der Geschichte heraus, versenkt sie in
das Unbewußte und transformiert seine Psychomachie in naturale Gleich-
nisse. Selbst die Geliebte wird in mystisch-erotische Landschaften verwan-
delt, am schönsten in den Gedichten Pays d'Helene (1936) - Evokationen der
Frau im Medium einer Gebirgsgegend, die Jouve sehr geliebt hat41.
Erhält das Unbewußte den Rang des Schöpferischen und Inspirieren-
den, wird die sichtbare Realität trivial. Nicht umsonst wendet sich Jouve
einem inneren Kontinent zu, wo sich allegorische Szenarien entfalten. Sie
bilden eine hermetisch verschlossene Binnengeschichte der Seele:
40
Ebd. 139
41
Dazu Raible 124ff. „Pays d'Helene" war für Jouve die Gegend um Soglio im Bergell.
248
42
Jouve, aus: Melodrame. 1957. Übs. F.Kemp (Böschenstein/Köhler 252f.)
43
„Die Innenwelt heiligen Schreckens" (ebd.).
«Ebd.
45
„Wer ist schuldig? Der, welcher sich hinreißen läßt zu heiliger Gewalt, denn diese heilige
Gewalt ist auch verdammt" (Micha 18).
46
„Das Leben der Heiligen ist ein langer Schreckensschrei" (Micha 19).
249
Dies ist nicht antibourgeoise Attitüde, wie die Surrealisten sie pflegten, son-
dern das Wagnis, mitten im libertären Zeitalter eine neue Mythologie des
Eros zu schaffen. Jouve greift dabei auf alte Allegorien zurück — mit Vorliebe
auf den vom Psalmisten beschworenen Topos des Hirsches, der in der
Sommerhitze nach Wasser schreit: „Wie der Hirsch lechzt nach dem frischen
Wasser, so lechzt, Gott, meine Seele nach dir" (Ps 42,2). Der freudianisch
geschulte Symbolist transformiert das überlieferte Motiv in einen Themen-
kreis, in dessen Zentrum die heilige Jagd steht. So thematisiert die Klage vor
dem Hirsch die Dialektik von Mystik und Eros im Bild des verwundeten Tie-
res, das erlegt wird von den Liebenden:
Der Kult des Schmerzes und die Ambivalenz der Lust sind ohne Nietzsche
und Freud schwerlich denkbar; doch ebenso bleibt Jouve lebenslang faszi-
niert von dem, was spirituell wie erotisch Passion heißt. Der Hirsch, Sinnbild
reiner Animalität, der den Liebesakt wie einen Tod besteht und „dessen
Wunden die Löcher unsrer Liebe bezeichnen", ist naturale Matapher von sel-
tener Eindringlichkeit. Wie Hölderlin, Blake und Rimbaud pflegt Jouve hier
einen rauhen Stil. Das Gedicht entfaltet sich aus einem Schlüsselsymbol, das
ausstrahlt auf den Text und vielfache Korrespondenzen eröffnet. Das se-
mantische Feld wird beherrscht von einer Metaphorik, worin sexuelle und
religiöse Anspielungen im Entwurf einer sinnlichen Welt sich vereinigen.
D a s Sakralisierungsbedürfnis führt Jouve zu einem poetischen Panthe-
ismus, der die Spannung von Einheit u n d Vielheit, v o n Konzentration und
E n t g r e n z u n g fruchtbar zu machen sucht. Für das Heilige in der N a t u r findet
er Bilder, die keiner Erwartung sich fügen:
Aber alles ist eins, und eins in einem, und alles in einem
Und eins in Gott
Und Gott gegenwärtig in einem toten Baumstumpf.49
49
Jouve, Monde sensible, dt. von F.Kemp (Böschenstein/Köhler 247)
50
Ebd.
51
L'arbre mortel (Jouve, Les Noces 49): „Die Wurzeln verzerrten sich in dem Begehren".
52
Jouve, Les Noces 162
251
zwang entgegen, ist Einbruch der Wildnis in die Zivilisation. Aber das Reich
des Verlangens, kraft seiner grausamen Intensität, ist „Hölle", worin die
S ö h n e (wie bei Freud) den Vater töten, u m Brüderlichkeit zu haben; w o
V e n u s (wie bei Rimbaud) aus d e m Meer steigt, als Göttin eines neuen E v a n
geliums:
Solche Mythologie der Concordia discors sucht Geist u n d Fleisch, die alten
Widersacher, in eine Synthese zu zwingen, gewaltsam und verführerisch zu
gleich, mit dem Pathos des gottfernen Mystikers. Was an Jouve als Psycholo
gie erscheint, ist in der Sprache Schillers das Sentimentalische: Fern der anti
ken Naivität und Sinnlichkeit ist die Moderne zur Reflexion verurteilt. O h n e
das Sentimentausche wäre auch Freuds Analytik nicht denkbar. D o c h jede
Selbstentdeckung führt zur Selbstentfremdung. Ihr begegnet Jouve mit Bil
dern kalkulierter Grausamkeit, in denen die Entzweiung im Schock über
sprungen wird:
Premiere fois
La mante religieuse a detache la tete
De son epoux qui sommeille
53
Enfers (Jouve, Les Noces 51)
54
Jouve, Les Noces 111
252
die Gottesanbeterin (mantis religiosa) das bizarre und tragische Bild der Un-
versöhnlichkeit des männlichen und weiblichen Verlangens. Bei Jouve steht
das grausame Opfer (das archetypisch an die Rache der Judith erinnert) für
das mörderische Geheimnis des naturalen Eros.
Wildnis, Begehren und Epiphanie - mit dieser Trias hat Jouve seine
Auffassung von Natur chiffriert. Alle drei bilden den magischen Kontext der
Dichtung. Das Begehren ist nur eine andere Weise des Andenkens, freilich
maskiert. Mit dieser Naturästhetik konnte sich Jouve auf einen berühmten
Vorgänger berufen: In seiner Sammlung Les Noces findet sich die wörtliche
Paraphrase aus Hölderlins Tinian-Gedicht55. Jouve hatte zusammen mit
Pierre Klossowski von Hölderlin Poemes de la folie übertragen (1930). Seine
Adaption ist ein Programm: „Agreable d'errer dans le desert sacre..."56. Bei
Hölderlin hieß es: „Süß ists, zu irren in heiliger Wildnis"57. Poesie selbst wird
zum Refugium der Wildnis, mithin des Heiligen, dem in der Warenwelt der
Raum abhanden kam. Von hier aus gesehen hat Dichtung etwas Anarchi-
sches. Einbrechend in das Profane, dessen funktionelle Ordnung sie er-
schüttert und dessen Konventionen sie mißachtet, muß sie notwendig skan-
daliseren. Für Jouve hat Dichtung ein „grausames blaues Auge", das uns zu
sehen zwingt, und sie spricht aus, was die Väter noch nicht zu nennen wag-
ten58. Sie ist therapeutische Grenzüberschreitung, rituelle Tabuverletzung:
das Werkzeug, das verwundet, ist jenes, das auch heilt. Wie häufig bei Jouve
ist die Schönheit mit Gewalt verknüpft:
Der reine Dichter ist nicht Kunst- oder Kultfigur, sondern Opfer — verstrickt
in Seelenwildnis, in eine Natur von barbarischer Vitalität. Ihn inspiriert, was
ihn fesselt, verwundet. Für diesen Zustand findet Jouve Bilder von archai-
scher Eindringlichkeit, wie sie im Traum begegnen:
55
Diesen Hinweis verdanke ich Prof. Bernhard Böschenstein( Genf)
56
Jouve, Les Noces 123
57
Hölderlin, Gedichte 407
58
Jouve, Les Noces 178
59
Ebd.
253
Die tradierte Hierarchie des Schönen ist außer Kraft gesetzt. Jouve verwen-
det bewußt häßliche Bilder, um festgefügtes Denken aufzulösen.
Eine Schlüsselrolle bei alledem spielt das Motiv des Gott-Opfers oder
der heiligen Jagd. Jouve kleidet es in ein artistisches Bild aus der Sphäre des
Zirkus, nicht unähnlich gewissen Darstellungen Max Beckmanns:
Dieser Messerwerfer wiederholt auf seine Weise die Geißelung Christi, mit
allen dazugehörigen sadistischen Konnotationen. Noch in der Parodie des
religiösen Themas ist der Opfergedanke präsent, als Teil eines alltäglichen
Vorgangs. Nicht zufällig überschreibt Jouve diesen Zyklus mit dem Titel
Deserts. Es sind die Wüsteneien des Bösen, in denen Gott gejagt wird. Mit ih-
nen legt Jouve die Archetypik von Schuld und Erlösung bloß. Der Hirsch,
Inbild animalischen Begehrens, aber auch Opfertier, bildet die wichtigste
Projektionsfigur für eine Metaphysik des Sexus. Er verkörpert das unaufgeb-
60
Ebd. 180
61
Vorwort zu Sueur de sang Qouve, Les Noces 139)
62
Jouve, Les Noces 189: „Jener, der alles bildet, ist jener, der zerstört."
" E b d . 188
M
Ebd. 61
254
bare Bündnis von Geist und Fleisch, das Jouve am Christentum so faszi-
nierte:
65
Ebd. 161
66
Ebd. 194f.
255
rigste wird mit dem Höchsten verbunden, das Profane wird jählings umge
wertet; der Blitz der Erleuchtung, der die Geschichte auslöscht, errichtet her
risch eine neue Ordnung.
67
Ebd. 163
68
Bataille 85. Roger Caillois hat aus diesem Akt der Transgression seine Theone des Festes
abgeleitet (Der Mensch und das Heilige, München 1988,127ff).
69
Jouve, Die leere Welt 109
256
70
Ebd. 150
71
Dazu aus ethnologischer Sicht, am Beispiel der australischen Abonginals: Maurice Bloch,
Prey into Hunter. The Politics of Religions Experience (Cambridge-New York 1992)
72
Starobinski, La Traversee du Desir Qouve, Les Noces 17f.)
257
ein Mann, der eins wird mit der Frau. D e r Hirsch, ambivalentes Symbol einer
Libido, die bei J o u v e stets Fleischliches u n d Spirituelles vereint, ist Totemtier
des Jägers — auf theologischer E b e n e der in die Kreatur herabgestiegene
G o t t , der sich zum O p f e r bringt. D e r Hirsch paart alle Widersprüche des
Heiligen in sich: „die Notwendigkeit, das O p f e r immer wieder v o n neuem zu
töten, obwohl es göttlich ist, gerade weil es göttlich ist" 73 . D e n Jäger und das
Gejagte aber lockt gleichermaßen das Begehren an u n d bringt sie beide zu-
sammen:
73
Girard311
74
Jouve, Cerf de la nuit, dt. von F.Kemp (Böschenstein/Köhler 246/247)
75
„Dans le corps opaque du Symbole" (Jouve, Les Noces 20)
76
Jouve, Cerf de la nuit (Böschenstein/Köhler 248/249)
258
Die Gottesjagd durchbricht das kontingente Dasein; das blutige Opfer er-
neuert im Reich der Diskontinuität und des Zufalls, also in der Geschichte,
die Ordnung des Heiligen. Georges Bataille hat den Vorgang des Tieropfers
als symbolische Wiederherstellung der Kontinuität des Seins gedeutet, als
notwendige Transgression: „Die göttliche Kontinuität ist gebunden an die
Überschreitung des Gesetzes, das die Ordnung der diskontinuierlichen We-
sen begründet" 77 . Nimmt man den Hirsch als Totemder, bei Jouve auch als
Ersatz des Vatergottes, so stimmte dazu der von Freud bemerkte Wider-
spruch, „daß es sonst verboten ist, es zu töten, und daß seine Tötung zur
Festlichkeit wird, daß man das Tier tötet und es doch betrauert"78. Doch wie
bei Caproni trifft auch bei Jouve die Kugel nicht nur die Beute, sondern auch
den Jäger. Was beide verbindet, ist tödliches Begehren. Worauf es zielt, ist
Unio mystica.
Jede Gottesjagd muß die Grenzen der Geschichte überschreiten, sie
kraft des Opfers verletzen. Das Reich der Kontinuität aber ist die Natur. Für
Jouve, den ,Jansenisten" aus Arras, ist die Geschichte als Reich des Profanen
heillos der Konkupiszenz verfallen, im Abgrund egoistischer Selbstliebe ge-
fangen, von gnadenloser Freiheit zum Bösen regiert79. Das Heilige, verbor-
gen in der Passion des Fleisches, zerstückelt von den Naturmächten Eros
und Tod, ist unauslöschliches Verlangen nach Erlösung. Es verneint die
Verneinung des Lebens. Aber im gewaltsamen Verlangen, in seiner sowohl
spirituellen wie heiligen Lust, ist die göttliche Gnade enthalten, ohne die es
keine Erlösung gibt. Mit Bataille hätte Jouve sich verständigen können, daß
die Erotik die Zustimmung zum Leben bis in den Tod hinein ist80. Die Sym-
bole für das Heilige findet der Dichter bezeichnenderweise in metaphysisch
besetzter Natur: einzig in ihr leuchtet noch Ursprungsnähe auf. In diesem
Licht beschreibt er in dem Roman Paulina 1880 (1925) die religiös-erotischen
Visionen seiner Heldin, der Nonne Paulina Pandolfini, die hernach ihren
Geliebten, den Grafen Michele Cantarini töten wird: „Wüsten, meine Wü-
sten, öffnet euch. Ich atme die Blume und den Glanz der Blume. O leises
Lied unserer Vögel! Es ist traurig. Nein, Berge aus Musik, rosenrote Dinge
erwarten ihn, ich gehe vorwärts" 81 . Und wenig später, die Katastrophe von
ferne vorbereitend: „Die Wasser sind ausgetrocknet, der Himmel ist schwarz,
der Wind weht nicht, alles ist in Unordnung. Die Welt zittert. Du weißt, in
Torano das große Gewitter" 82 . Diese Ästhetik des Erschreckens, der Bestür-
77
Bataille 104
78
Freud, Totem und Tabu (Gesammelte Werke IX, 425)
79
Zum „jansenistischen" Aspekt bei Jouve vgl. Starobinski, Vorrede zu Les Noces 18
Die Lehre des Jansemus skizziert L.Cognet, in: Handbuch der Kirchengeschichte,
hg.von H.Jedin, V( Freiburg-Basel-Wien 1970) 28 - 31
80
Bataille 11
81
Jouve, Paulina 161
82
Ebd. 162
259
Die Fahrt flußaufwärts war wie eine Reise zu den frühesten Anfängen
der Welt, als die Pflanzen über die Erde ausschwärmten und die
Baumnesen Könige waren. Ein leerer Strom, ein großes Schweigen,
ein undurchdringlicher Wald. Die Luft war warm, dick, schwer, träge.
Im Strahlenglanz der Sonne war keine Freude. Die lange Wasserstraße
zog sich hin, öde, in die Düsternis einer überschatteten Feme. Auf
silbernen Sandbänken lagen Nilpferde und Alligatoren Seite an Seite
und sonnten sich. (...)
83
Conrad 59
260
Und diese Stille des Lebens glich nicht im mindesten einem Frieden.
Es war die Stille einer unerbittlichen Kraft, die über einem uner-
gründlichen Plan brütete. Sie blickte einen an mit dem Gesicht einer
Rächerin.84
Der marode Dampfer, den Conrad hier auf gefährliche Fahrt schickt, fährt
buchstäblich aus der Geschichte heraus. Die europäische Technik versagt
Stück für Stück ihren Dienst; vor der Kulisse der Baumriesen kriecht der alte
Kasten dahin „wie ein müder Käfer über den Fußboden eines erhabenen
Portikus kriecht"85. Mit dem Kontrast von Käfer und klassischer Architektur
dreht Conrad das eurozentrische Wertsystem um. Nicht der herunterge-
kommene Steamer, sondern der Urwald mit seinen lebendigen Säulen ist Re-
präsentant des Erhabenen. Der Triumph der Natur widerlegt die viktoriani-
sche Ästhetik der weißen Herrenmenschen. Nilpferde und Krokodile, Ko-
losse, die wie im Buch Hiob (40, 15-32) die Wunder der Schöpfung und
Vorzeit suggerieren, säumen wie Tiergötter den Strom, der gleichsam Pilger-
weg zu einem „monstre sacre" wird.
Zunächst erscheint die Reise ins Herz der Finsternis als Reise ins Para-
dies. Es ist die Schöpfung noch ohne den Menschen, von Pflanzen und Tie-
ren bewohnt, die bei Conrad etwas Idolhaftes haben — ein Reich des Schwei-
gens wie bei den Dichtern des Symbolismus, das profaniert wird vom Lärm
der Entdecker. Über das Scheinidyll fällt ein dämonischer Schatten. Die Stille
zeugt nicht von Frieden, sondern von angstvoller Spannung, als lüde die
Natur sich mit verborgener Kraft auf. Dem dient das Verfahren des Autors,
sie gleichsam animistisch zu beschreiben; die ethnologischen Studien von
Edward B.Tylor (Primitive Culture, 1871) hatten den Begriff bereitgestellt. Das
Faszinosum der Gewaltsamkeit gibt der Wildnis Züge des Sakralen: als
dunkle Gottheit tritt sie, zum Kampf gerüstet, der Zivilisation entgegen.
Conrads Hang zum Naturalismus instrumentiert den Geschichtsverlust als
tiefes Entfremdungserlebnis. Gerade das koloniale Abentuer irritiert das in
den Köpfen der Weißen steckende Ordnungssystem, es läßt den Historismus
brüchig werden. Die sprachlose Wucht der Natur degradiert die Eindring-
linge zu ephemeren Wesen, die keine Geschichte mehr haben:
Wir waren Wanderer auf vorgeschichtlicher Erde, auf einer Erde, die
das Antlitz eines unbekannten Planeten trug. Wir hätten uns einbilden
können, wir wären die ersten Menschen und nähmen ein verfluchtes
Erbe in Besitz, um es uns unter Höllenqualen und maßloser Anstren-
gung untenan zu machen.86
Das ist, wie alle Angstphantasien, zugleich eine Wunschphantasie: die alte
Erde hinter sich zu lassen, einen unbekannten Planeten zu betreten. Die
Konnotation, die Conrad mit dem „verfluchten Erbe" verbindet, ist die von
Miltons Paradise Lost, wo die Menschen wie Kain der Ackerbauer, mit Blut-
schuld beladen, unstet und flüchtig umherziehn.
Doch das vermeintliche Eden enthüllt sich als tropische Spielart der
Hölle. Ihre Bewohner, dunkle Geschöpfe, frenetisch entfesselt, außerhalb
aller Geschichte, erscheinen als Wilde schlechthin:
87
Ebd.
88
Dazu HD.Rauh, Im Labyrinth der Geschichte. Die Sinnfrage von der Aufklärung zu
Nietzsche (München 1990) 43ff
89
Conrad 67
90
Ebd.
91
Ebd
262
Sie hat ihm Dinge über ihn selbst eingeflüstert, die er nicht wußte,
Dinge, von denen er keinen Begriff hatte, bis er Rat hielt mit der gro-
ßen Einsamkeit - und dieses Flüstern hatte ihn unwiderstehlich ange-
zogen. Es hallte dumpf in ihm wider, weil er in seinem Innersten hohl
war.94
92
Ebd. 87
" Ebd. 90
94
Ebd. 108
95
Nietzsche jenseits von Gut und Böse III, 45 (KSA 5, 65)
263
hat daran teil. Der Autor laßt keinen Zweifel daran, wenn er ihn in einem
Vanitasbüd als Schmerzensmann darstellt, den seine Gläubigen auf einer
Bahre herantragen. Mit ähnlicher Würde umkleidet er selbst die Mätresse
von Kurtz, eine mit barbarischem Schmuck behangene schwarze Schöne:
„Sie war stolz und erlesen, wildäugig und herrlich; in ihrem bedachtsamen
Vorwärtsschreiten lag etwas Unheilverkündendes und Feierliches"96. Ihr, die
als Priesterin, ja Schutzpatronin auftritt, hochstilisiert im Sinne einer Ästhetik
der Wildnis, verleiht Conrad einen tragischen, schmerzlichen Ausdruck, als
schwebte ihm das Bild der Düse vor. Die Erscheinung dieser schwarzen
Pallas, deren Haar zu einem Helm aufgetürmt ist, drückt ein verbotenes
Faszinosum aus; tatsächlich handelt es sich um eine Epiphanie. Doch das
Paradies ist verwüstet im Augenblick, da es entdeckt ist, zerstört vom
taxierenden Blick einer Konkupiszenz, mit welcher der Kolonialismus
Europas selbst die Natur infiziert.
Den finsteren Zauber, den Kurtz, schon vom Tode gezeichnet, im Kreis
seiner Anhänger feiert, inszeniert Conrad als schwarze Messe (ein bevorzug-
tes Thema für die Ästheten des Fin de siecle). Das Ethnologische daran ist
nur ein Vorwand: „Eine schwarze Gestalt stand auf, schritt auf langen
schwarzen Beinen, mit langen schwarzen Armen rudernd, durch die Glut. Sie
hatte Hörner — Anolopenhörner, glaube ich — auf dem Kopf' 97 . Der erste
Eindruck täuscht nicht. Der ethnologische Einschub, die Maske erklärend,
entspricht der Realitätsprüfung, die gleichzeitig Freud in seine Traumdeutung
einführte. Denn Conrad beschreibt einen Albtraum, bis hin zur Höllenglut.
Der Kulturschock erschüttert auch tradierte Religion. Kurtz ist „sacer" jen-
seits aller abendländischen Nomenklatur 98 — ein Dämon eigener Art, der
nicht mehr in Gottes oder des Teufels Namen anzurufen ist. Dreißig Jahre
vor Freud hat der Psychologe Joseph Conrad das Unbehagen in der Kultur
beschrieben; bei ihm ist es nicht mehr kurierbar. In der Weltstadt London,
dem Zentrum des Imperialismus und neuen Babylon, geht ihm die destruk-
tive Dynamik des Schuldgefühls auf, das nach dem Tode Gottes den Men-
schen umhertreibt — bis in das Herz der Finsternis. Das Subjekt, nun sein
eigener Herr, peitscht sich selber an auf seiner ,Jagd nach der Totalität", wie
Giorgio Colli mit Blick auf Nietzsche schrieb; in diesem Pathos zeigt sich ein
gieriges, anmaßendes Verlangen99.
Kurtz verkörpert die bindungslose Religiosität, die nihilistisch verwildert
zur Religion der Macht. Ihr Haupttrieb ist Maßlosigkeit, totalitärer Wille
nach dem Unendlichen, metapolitischer Wille zur Allmacht - oder um Josef
Schumpeter, den Soziologen des Imperialismus zu zitieren, „objektlose Dis-
96
Conrad 113
97
Ebd. 122
98
Zu dieser Nomenklatur vgl. Benveniste 441 ff.
99
Colli 53f.
264
100
Zitat bei M.Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866-1918 (Berlin 1983) 283
101
Conrad 124
102
Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Sämtliche
Schriften, ed. K.Bnegleb III, (2.Auflage München 1978) 510
103
Conrad 132
265
Gedicht Un coup de des 1897, zwei Jahre vor Heart qf Darkness, in der Zeit-
schrift „Cosmopolis" erschien. Auch Mallarme verwendet Grauen und
Wahn, Scheitern und Nichts als Schlüsselwörter seiner poetologischen Jagd
nach dem Unendlichen:
le mystere
precipite
hurle
dans quelque proche tourbillon d'hilante et d'horreur
das Geheimnis
überstürzt
zerschrien
in einem nahen Wirbel aus Jubel und Grauen104
Mallanne, Un coup de des, dt. von W.Dürrson, in: Akzente 39 (1992) 120/123
266
Conrad 144. Zur literarischen Kritik des Eurozentrismus bei Joseph Conrad vgl. E.Said,
Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht
(Frankfurt/M. 1994) 60ff.
10. Kapitel
Vergänglichkeitszauber
Nimm fort die Amarylle.
Gottfried Benn
Das Scheitern des Idealismus kann zur Revolte, zur Manie, aber auch zur
schmerzlichen Versöhnung mit dem Realitätsprinzip fuhren. Die vieldeutige
Signatur „Realismus" bezeichnet ein Zentralproblem des 19Jahrhunderts:
die Frage nach dem Sinn und nach der Würde von Wirklichkeit. Der Glaube
an das Leben, gern biologistisch verbrämt oder verklärt, errichtet ein neues
Wunschbild der Unsterblichkeit. Dieses Idol - und nicht mehr die mit dem
Anden regime versunkene Glücksreligion - steht auf dem Altar des Jahr-
hunderts. Nietzsche wird dieses Bild, das als einziges den Schlägen seines
philosophischen Hammers widerstand, mythopoetisch zur Ewigen Wieder-
kehr steigern. Doch gibt es auch die Verweigerung: einer von den Agnosti-
kern ist Gottfried Keller. Nicht, daß es ihm an Glücks- und Unsterblich-
keitswünschen gefehlt hätte. Doch aus Verletzungserfahrung und Versuchen
der Selbstheilung heraus, die Adolf Muschg in seiner psychoanalytisch orien-
tierten Studie plastisch geschildert hat, wendet sich Keller vom schönen
Scheinen ab. Umso inniger läßt er sich trösten von der Natur, die als die
Hüterin des Lebens auftritt, für Keller zugleich eine Art Mutterersatz ist. Das
umkleidet sie mit hoher Würde: so tritt der Naturfrieden buchstäblich an die
Stelle des Gottesdienstes 1 . Das Leben der Natur - nicht umsonst wird das
Grün zum Signum von Kellers Romanhelden Heinrich - hat teil am Tode
wie an der Wiedergeburt. Daraus schöpft Kellers Daseinsglaube, der immer
auch Todesglaube ist. Seit der Begegnung mit Feuerbachs Anthropologie, die
ja realistisch gewendete Theologie sein wollte (seit den Heidelberger Stu-
dienjahren 1848/49 also), verabschiedet sich Keller auch von den Trugbil-
dern Gottes, um der Wahrheit des Lebens die Ehre zu geben. Weltgläubig-
keit, bürgerlich-praktisch gesonnen und doch für das „Stillesein" offen,
macht sich hier frei vom alten Kinderglauben. „Das lyrische Programm von
'Sonnwende und Entsagen' verkündet einen Atheismus im Namen der Le-
bensfreudigkeit und Menschenzuwendung, der freilich seine Herkunft aus
winterlichem Verzicht nicht verleugnet und dieser Brechung den wahren Ge-
fühlston verdankt" 2 . Dem Wahn der schlechten Ewigkeit setzt Keller seinen
Vergänglichkeitszauber entgegen:
1
Muschg 71
2
Ebd. 177
268
Die Sterblichkeit wird nun zum Sinngaranten; daß ihre Hinnahme durchaus
erkämpft ist, steigert den Wert des Daseins. Muschg findet dafür das schöne
Wort von der „Todesbürgschaft für das Leben" 4 . Aus Sinnbedürfnis schafft
sich der Mensch seinen Himmel, um ihn mit Gottesbildern, jedenfalls mit
Phantasien zu bevölkern. Feuerbachs These „In seinen Göttern malt sich der
Mensch" liefert den Hintergrund für diese poetische Verzichterklärung.
Auch Keller vollzieht die anthropologische Wende zur Sinnlichkeit, zur
Würde des Wirklichen mit, wenngleich sein Materialismus ein höchst subli-
mer ist. Sein Gedicht, so gelassen es sich ausspricht, verrät eine Enttäu-
schungsgeschichte. Der Diesseitsglaube erwächst aus einem Seelenwinter, in
dem keine der herkömmlichen Tröstungen mehr Licht und Wärme spendet.
Der Sinnverzicht kommt aus dem Herzen der bürgerlichen Vernunft selbst —
als Absage an überlebte romantische Illusion. Er bringt ein Stück Realpolitik
ins Reich der Poesie. Nicht Aufklärung, sondern Ernüchterung ist Frucht
des Sinnverzichtes. Das Unwiderrufliche solcher Ernüchterung skandiert die
Verse Kellers mit einem neuen prosaischen Pathos. Der schöne Schein wird
nun selber als Wirklichkeit genommen, alle Metaphysik daraus getilgt. Doch
läßt das Sinnbedürfnis sich nicht leicht abspeisen. Der Dichter, um Dichter
zu bleiben, bedarf einer Mythologie, die seinem Sinnverzicht Sinn gibt. In
der Nachfolge des „Realisten" Goethe — ein produktives Mißverständnis -
greift Keller nach dem Mythos Natur; nur hier findet die Hoffnung auf
Sinnbilder Nahrung. Das Werden und Vergehen wird zum Garanten des
Seins:
neuen Glauben. Eine Generation vor Nietzsche wird hier der Tod Gottes
verkündet, werden die tönernen Götzen von Thron und Altar gestürzt.
Damit konnte sich Keller im Einklang mit der Fortschrittsgeschichte
wähnen; in den Grobianismus linkshegelianischer Religionskritik ist er je-
doch nie verfallen. Seine Weigerung, Abgelebtes zu konservieren, reicht tie-
fer. Bei allem Selbstgefühl ist sie geprägt von tapferer Trauer. „Die Ge-
schichte von Kellers Todesglauben trägt deswegen - freiwillig oder nicht -
religiöse Züge, weil sie ein so radikal weltliches Martyrium ist"6. So fällt der
Natur, ihrem leuchtenden Diesseits, fern von allem literarischen Dekor, an-
thropologisch eine neue Rolle und neue Würde zu. Bei Keller wird Natur
gleichsam zu einer Ikone — wie sonst nur bei C.D.Friedrich und Stifter. Sein
Weltvertrauen vertraut noch der Vergänglichkeit des Schönen: erst von hier
erhält es die Magie des Hier und Jetzt. Im Ablösungsprozeß des 1 Q.Jahr-
hunderts von theologisch durchformten Sinnstrukturen kehrt Keller, an der
Geschichtsphilosophie wie aus Instinkt vorübergleitend, sich einer tieferen
Schicht — dem Naturwesen Mensch zu. Zum Lebensgesetz der Natur aber
gehört der Tod, zu ihrer Ästhetik auch der Vergänglichkeitszauber. Goethes
Formel „Stirb und Werde", als Credo eingehend in bürgerliche
Weltfrömmigkeit bis hin zu Haeckel und Bölsche, entfaltet in Kellers Ge-
dicht eine verschwiegene Todeserotik. In seinem Blumenbild scheint das alte
Vanitasmotiv vor dem Verlöschen noch einmal verführerisch auf:
Diese Botschaft meint nicht ein ewiges, sondern ein flüchtiges Nun. Sein
sinnlicher Zauber lockt aus der Geschichte heraus; Natur wirkt kraft des rei-
nen Augenblicks, mit dem sie den Schauenden bannt. In dieser Trauer ver-
birgt sich unaussprechliche Heiterkeit.
Nature morte, Stilleben, tote Natur - daß sie die Lyriker und Maler inspiriert,
sagt etwas über das Distanzerlebnis, mit dem die Neuzeit Wirklichkeit er-
fährt, seit Descartes die Dinge als „res extensae", als bloße Objekte zu be-
trachten lehrte. Der forschende Blick ist zugleich der distanzierende, er ent-
rückt, was er sieht, in den vergänglichen Augenblick. Im Hier und Jetzt der
Stilleben waltet die Vanitas; ihrer Faszination ist schwer zu widerstehen.
Nicht von Naturnähe, sondern von Naturferne sprechen die Stilleben der
6
Muschg 185
7
Keller, Gedichte 259
270
Moderne. Niemand als Benn hat dies tiefer empfunden. Ein Jahrhundert
nach Keller erliegt auch er, sich selbst schon historisch geworden, im Ama-
ryllis-Gedicht dem Zauber melancholischer Entsagung. Altern als Problem
für Künsder -: das von Benn selbst gelieferte Stichwort berührt mehr als eine
lebensgeschichtliche Situation. Es enthält, dem Credo des Nihilismus getreu,
eine nur noch privat formulierbare Ästhetik der Zerstörung: „Es gibt Zerstö-
rung - wer sie kennt, kennt Meines". So Benn brieflich an seinen Freund
F.W.Oelze am 28.November 1952. Im Januar 1953 folgt diesem Prelude
das Amaryllis-Gedicht mit seiner Absage an alle Natura naturans. Selbst die
Schönheit, ziellos erblühend, wird unerträglich in ihrer Leichtigkeit:
Irdische Freuden und Sinnhunger zugleich in sich abtötend, bringt Benn sein
Opfer einem unbekannten Gott. Und dennoch ist es ein Passionsgedicht, das
in radikal verweltlichter Eschatologie im Augenbbck die Letzten Dinge
wahrnimmt:
Das Allerletzt als Augenbbck der Wahrheit, als Ende des selbstgewählten
Truges. Die tiefen Bbcke, das erotisierende Rot, die Fülle des Versprechens —
hier blüht die Illusion zu letzter Schönheit auf. Benn dichtet einen Abschied,
ein Stilleben, also ein Vanitasbild. Der als Zeitgenosse den Untergang von
Reichen miterlebte, bbckt nicht auf die Geschichte — deren Scheitern offen-
bar wurde -, sondern auf eine Blume. Er verabschiedet sich von ihrem Blü-
hen und seinem Verlangen danach. Mit dem Sinn schwindet die Vanitas, die
vom Verlangen nach Sinn lebt:
s Benn, SW I, 259
'Ebd.
i» Ebd.
271
In ictu oculi - „In einem Augenblick" lautete das Warnwort von Vanitasbil-
dern des lö.Jahrhunderts. Benns Verse verabschieden jenes Subjekt, das be-
wußtseinsgeschichtlich mit dem „Erlebnis" bei Goethe erwachte. Bei Benn
regiert der Zauber des Zerfalls. Ihm, der letztes Naturgesetz ist, gibt der
Dichter sich ohne Zögern hin.
In seiner Autobiographie, die bezeichnenderweise Doppelleben heißt, hat
Benn wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, im halbzerstörten, geteilten
Berlin, die Grundlagenkrise der Neuzeit mit Blick auf das Handwerk des
Dichters skizziert. Ein Abschnitt präsentiert die Überschrift Naturfremdheit
wie ein Programm:
Die Natur ist eine seltsame Umgebung, verlaßt man sein Zimmer,
schon die gewöhnliche Luft hat fremdartigen Charakter. Ein Strauch
mit Blüten in einer Stadtstraße - das genügt, oder ein andermal ein
Blick zum Himmel, zu einem grauen Himmel, gegen den ein Vogel
fliegt, kein feiner, ein Star - und dann beginnt die Nacht. Wir sind aus
Riesenstädten, in der City, nur in ihr, schwärmen und klagen die
Musen."
Ein Blick genügt dem Dichter zur Inspiration - die Vision strudelt Bilder,
Töne und Verse heran, Assoziation von kurzer Dauer, Glück auf des Mes-
sers Schneide, Poesie als Gratwanderung. Natur bleibt dem in die Großstadt
Verpflanzten für immer Gegenwelt - als Mythos und Metapher eines Ande-
ren, das sich nicht fassen läßt. Auch hindert Benn eine Scheu, das Phänomen
bis ins letzte analysieren zu wollen. Was der Natur — allenfalls Stadtpark —
entgegentritt, ist Kunst. Sie hat bei Benn den Rang eines Artistenevange-
liums: nur ästhetisch, nicht historisch ist Welt zu rechtfertigen. Benns Abnei-
gung gegen alles Geschichtliche (nach dem gescheiterten Unterwerfungsver-
such unter den Volksgeist von 1933) trägt die Züge aggressiver Enttäu-
schung: „Scharlatan - das ist kein schlimmes Wort, es gibt schlimmere: hi-
storisch und grundsuppig. Und die Einladungen und die Blumen auf dem
Tisch und das Gemüt? Ich persönlich besitze nichts davon. Ich besitze Mü-
digkeiten, Melancholie, produktives Aufbrausen, Zögern, Zaudern, Zau-
bern"".
Kein Gemüt also (Benn haßte die Innerlichkeit), aber dafür ein Vanitas-
rausch, um den Roman des Phänotyp, jenes in der Landsberger Kaserne 1944
verfaßte Fragment, als Wortoper zu inszenieren - mit Rezitativen und Arien.
Eine davon, betitelt Geographische Details, ruft zwischen antik stilisierten, wie
von Marees oder Böcklin gemalten Ideallandschaften (mit den Versatz-
stücken „Styx, Delphi, Olivenwald") ganz unerwartet die hexenhaft herein-
brechende Wildheit sarmatischen Landes herauf:
13
Benn, Roman des Phänotyp. Geographische Details (SW IV, 407f.)
u
Benn, Urgesicht (SW III, 211)
15
Benn, Roman des Phänotyp. Geographische Details (SW IV, 408)
273
Vergänglichkeit und Tod. Benn entwickelt an ihnen, lange vor Cioran und
Gianni Vattimo, seine poetische Lehre vom Zerfall. Was den Lyriker und die
Philosophen verbindet, ist ihre Nachfolge Nietzsches im Zeichen des
Nihilismusproblems. Sie stehen gemeinsam, ästhetisch wie hermeneutisch,
jenseits des von Nietzsche entwerteten Subjekts, das im Zeitalter Hiders und
Stalins vollends ad absurdum geführt wurde. Denn die Geschichte selbst als
Wert- und Sinnzerfall ist nihilistisch, daher zu überwinden 16 . Die Metaphysik
ist zur Fabel geworden, die Umwertung der Werte unumkehrbar. Nach dem
Tod Gottes sind wir nirgendwohin unterwegs; denn „eigentliches" Sein ist
nach Nietzsche bloß Mystifikation. Dabei betont Vattimo in einem herme-
neutischen Ansatz, der Nietzsches Nihilismuskritik kreativ umdenkt, daß ge-
rade die Vergänglichkeit den Dingen und Geschöpfen ihren Wert gibt: „Der
Tod ist der Schrein, in dem die Werte aufbewahrt sind: die Lebenserfahrung
der vergangenen Generationen, die Großen und Schönen der Vergangenheit,
mit denen wir Zusammensein und sprechen wollen, die Personen, die wir
liebten und die verschwunden sind"17. Aus dem Geist solch melancholischer
Retrospektive hat auch Benn seine leuchtende späte Prosa, den Roman des
Phänotyp und den Ptolemäer geschrieben.
Vattimo entwirft eine Ethik im Zeichen der Ehrfurcht (pietas) gegen-
über dem Lebendig-Vergänglichen und seinen Spuren. Seine „Ontologie des
Verfalls" (ontologia del declino) stellt der projektiven Geschichte den Kult
der Erinnerung, der Pietas entgegen18. Angesichts der Umstürze und Schrek-
ken, die das prometheische Zeitalter seit 1789 in die Welt gebracht hat, ent-
scheidet sich der Hermeneutiker für die Vergangenheit, für „Kristallisatio-
nen, Werke, Ruinen", und gegen eine terroristisch hergestellte Zukunft19.
Denn Terror ist die Machbarkeit der Dinge, die der Prometheus der Neuzeit
als Sinnhorizont zu installieren sucht. Die Absage an revolutionäre Verände-
rung in Geschichte und Philosophie - für Vattimo ist Revolution etwas Bar-
barisches - läßt alle Dinge, wie sie sind, beläßt ihnen die Würde des Verfalls:
weil das Leben, mit Nietzsche, Auslegungsspiel, Wachstum und Sterblichkeit
ist20. Darin sieht Vattimo den Kern des „schwachen Denkens" (pensiero de-
bile), das die gepanzerte Stärke der Metaphysik und ihrer Sinnrüstung ablegt
und sich zu seiner Endlichkeit, Alltäglichkeit, ja mit Heidegger zu seinem
Vorlauf zum Tode bekennt. Philosophie wird dann, wie bei den alten Grie-
chen, zur Einübung ins Sterben. Frappierend bleibt, wieviel davon in der
Poetik des späten Benn verwandte Züge zeigt. Benns „Nihilismus" ist eben
nicht lebens- und menschenfeindlich, sondern die gelassene Hinnahme der
16
Vattimo, Das Ende der Moderne 23ff. sowie E.M. Cioran, Lehre vom Zerfall (Stuttgart
1987) 180f. Ähnlich hat sich E.Jünger in seinem Essay Über die Linie (1950) geäußert.
17
Vattimo, Jenseits vom Subjekt 17
18
Ebd. 11
"Ebd. 19
20
Ebd. 33
274
Die Natur gibt poetische Stichworte, aber sie selbst bleibt verborgen —
Stimme hinter dem Vorhang. Ihr Verborgensein ist, im Sinne negativer
Theologie, zugleich ihr Heiliges. Für Benn ist Natur kein metaphysisches
Phänomen, sondern einzig noch ein ästhetisches. Er braucht nicht zu reisen,
das „Südwort" Blau genügt. Seine Meere und Atolle, Gladiolen und
Levkoienwellen sind sämtlich Kunstprodukte - dem Tagtraum eines späten
Ich entsprungen. Sie reihen sich ein in eine umfassende ästhetische Theorie
des Nihilismus: indem sie helfen, die Tabula rasa mit autonomen Zeichen zu
beschreiben, die auf nichts mehr verweisen, sondern Vergängliches feiern,
sich selbst genug, aufleuchtend für die Dauer eines Verses. Das Aggressive,
Zynische, Wilde an Benn, das oft getadelt, öfter noch mißverstanden wurde,
hat in dieser Poetik seine bestimmte Funktion: Es evoziert im Bruch der
Konvention jenes Erhabene, das selbst nicht mehr aussagbar ist. Das Wilde
bei Benn ist die Maske des Schönen. In seiner Aggression verbirgt sich eine
ungezähmte Trauer über Vergänglichkeit.
Solchen Vergänglichkeitszauber hat Benn seit dem Ausklang seines mi-
litanten Expressionismus gerne zelebriert. Ein Vorspiel dazu ist das Gedicht
Stunden, Ströme von 1926: sechs klassisch stilisierte Strophen suchen ein tiefes
Entgrenzungsgefühl in magischer Schwermut zu bannen. Sie feiern das
Fließen der Zeit, heraklitisch gesteigert zum Fließen der Dinge, charontisch
getönt im Anklang an die „Flut der Fährensage". Das Vanitasmotiv geistert
durch Evokationen einer Seelenlandschaft, worin Natur und Geschichte
todesselig ineinanderrinnen:
21
Benn, SW I, 243
22
Ebd. 125
275
Der Gedanke der Endzeit hat niemals sein Faszinosum verloren; es ist, als
hefte sich gerade an ihn die paradoxe Hoffnung, dem Labyrinth der Ge-
schichte doch noch zu entkommen. Guido Morselli, der Skeptiker und Frei-
geist, der wie Pavese durch Selbsttötung endete, hat in seinem letzten Roman
Dissipatio humani generis oder Die Einsamkeit (1977) die Vision einer menschen-
leer, also geschichtslos gewordenen Welt präsentiert. In dieser säkularisierten
Apokalypse holt die Natur sich zurück, was die Geschichte ihr raubte. Mor-
sellis Freude an diesem Vergänglichkeitszauber ist unübersehbar — eine voll-
kommen philosophische Freude, angereichert mit überlegener Ironie. Die
Wonnen der Vanitas kostet Morselli bis zur Neige aus. Der Titel Dissipatio
humani generis (Die Zerstreuung des Menschengeschlechts) spielt an auf eine
apokryphe Schrift des neuplatonischen Philosophen Jamblichos, der um 300
in Syrien wirkte und ein Schüler des Porphyrios war; ausgeprägt okkulte In-
teressen sowie Vorliebe für Mysterien und Magie werden ihm nachgesagt.
"Ebd.
24
Benn, Urgesicht. 1929 (SW III, 202)
276
25
Morselli 83
26
Ebd. 153
27
Ebd. 103
28
Benn, SW I, 7
277
sich in den eingeblendeten Natursequenzen, welche die alte Gattung des Bu-
kolischen wiederbeleben. Die Höhenwege suchend (und den Kontrast zu
Chrysopolis) malt der Autor auf Nietzsches Spuren ein alpines Idyll: „Über-
wuchert von Heidekraut, Wacholderbüschen, von hellen Bächen durchzo-
gen, umgeben von flechtenbewachsenen Felsen; und manch einer dieser
Felsblöcke ist schon für sich ein vollkommes kleines Gebirge. Die Gletscher
des Montäsc öffnen sich fächerförmig, und ich erinnere mich, wie ich sie in
der Morgenröte sich entflammen sah, über den unteren Schneefeldern, die
die Farbe der Nacht bewahrten" 29 . Morgenröte - das war Nietzsches Stich-
wort für den Anbruch einer neuen Ära, Symbol für eine Vitalität und Phan-
tasie jenseits der Herdenmoral. Morsellis Umwertung aller Werte traut dem
Genus humanum freilich keine Daseinskraft mehr zu; darin geht er weit über
Nietzsche hinaus. Utopisches heftet sich einzig noch an die Natur, die als
letzte Instanz nach der Geschichte bleibt und ihr Erhabenes der Einsamkeit
verdankt. Ihr Telos ist Selbstaufhebung, prosaischer: Verschwinden. Das
weltliche Evangelium der Moderne, das historisch-anthropologische Dogma
von Fortschritt und Entwicklung, wird lustvoll preisgegeben: ,,Auf dem Gip-
fel seiner triumphalen Evolution ergründet das Ich die unmittelbaren Wege
zum Nicht-Ich: nicht den langsamen Abstieg in die Entropie, sondern die ra-
sche und totale Autodestruktion" 30 .
Der Wunsch nach Selbstaufhebung als Finalität der Geschichte - diese
postmoderne Ketzerei berührt sich mit den geschliffenen Bosheiten von
Cioran, dem Verächter des Aktionismus, der das Genuine einer Existenz in
ihrem Untergang sieht31. Doch anders als Cioran, der Himmel und Erde
„ausgepreßt", das All „vertrocknet sieht32, stellt Morselli noch die geretteten
Ikonen der Natur auf. Ein Rest von Verehrung für die Ästhetik des Erhabe-
nen, sentimental vielleicht, aber rhetorisch wirksam, gibt der Landschaft in
den Augen des letzten Betrachters einen Hauch ontologischer Würde. Das
Wissen, daß die Geschichte vorbei ist, taucht die Naturphänomene in escha-
tologisches Licht:
Die Gletscher des Montäsc treten aus den Wolken, aber heute kann
man sie leicht mit dem tiefhängenden und eintönig weißen Himmel
verwechseln: Und da sich auch auf der gegenüberliegenden Seite die
Gletscher der Karessa enthüllt haben (ähnlich und ebenfalls mit den
Wolken verschwimmend), habe ich den Eindruck, als bildeten sie eine
einzige zu einem Gewölbe gekrümmte Masse; es gibt keinen Himmel,
ich stehe im Mittelpunkt einer nesigen Eishöhle. Sie wird von den
Wänden der beiden Massive gestützt; im Moment. Von einem
29
Morselli 101 f.
30
Ebd. 101
51
Cioran, Lehre vom Zerfall (Stuttgart 1987) 88
32
Ebd. 151
278
» Morselli 102
M
Nietzsche, Menschliches, allzu Menschliches I, 34 (KSA 2, 54)
* Morselli 103
279
und Stechmücken, wegen des Unheils und der Ärgernisse, die er unermüd-
lich produziert" 36 . Der Mensch als universaler Krankheitserreger, Geschichte
als tödliche Seuche: in solchen Metaphern erfüllt sich der moderne Pessi-
mismus.
Morseliis Sprache ist kühl, zugleich unmißverständlich. Seine Schuldzu-
schreibungen sind schwer zu wiederlegen. ,,Die Menschen haben in 30 Jahr-
hunderten ungefähr 5000 Kriege angezettelt. Sie haben das Unrecht began-
gen (der Gedanke stammt von Albert Camus), die Geschichte, auch wenn sie
nicht von ihnen begonnen wurde, fortzuführen. Ich verurteile sie nicht. Ihre
größte oder jüngste Schuld bestand in der Verunstaltung der Erde" 37 . Der
Hinweis auf die ökologische Jahrhundertkrise gehörte, als Morselli seinen
Essay-Roman schrieb, noch nicht zu den Gemeinplätzen der Literatur - am
wenigsten in Italien, wo ähnliche Komplizenschaft mit der Natur allenfalls
bei Andrea Zanzotto vorkommt. Auch darin war Morselli Außenseiter; der
suizidäre Blick durchschaut gnadenlos die Illusionen des Fortschritts. Die
Zerstörung der Erde, theologisch gesprochen: der Schöpfung, erscheint als
eigentliche Schuld der Gattung Mensch; Himmel und Erde, Wasser und Luft
wurden von ihr vergiftet. Morsellis Abscheu vor dem Verwertungsdenken
hüllt sich ins härene Gewand des Solipsismus. Für ihn gibt es keine Vernunft
in der Geschichte, und darin ist er Hegel überlegen. Was es gibt, sind allen-
falls die „Konditionierung durch das Milieu und die Chromosomen" 38 . Der
größte Sündenfall aber in der Sicht des zynischen Asketen bleibt Chrysopo-
lis, die goldene Stadt, „die triumphale Durchsetzung all dessen, was ich ab-
lehne"39. In laizistischer Umdeutung der Apokalypse ereignet sich das Ende
der Geschichte am Finanzplatz mit seinen Tempeln des Geldes; zur Strafe
wird er in Nekropolis verwandelt.
Vor der Folie solcher Geschichtsfeindschaft erhält Natur eine eschato-
logische Würde, noch im Kontrast zum Gefühlsverlust, den das zurückgelas-
sene Subjekt erlebt: „Der Ort hat an Herbheit gewonnen, er ist intakt wie in
den Anfängen. Seine objektive Schönheit nimmt deutlich zu. Dagegen be-
merke ich, daß ich regungslos bin unbeteiligt. Ich registriere, ohne Emotio-
nen. (...) Die Bedrohung durch diesen so nahen und schweren Himmel ist
real. Als er sich tiefer herabsenkt, bringt der Wind, in Schüben, den Ge-
ruch der Gletscher (jenen gläsernen Geruch nach Höhle und Abgrund), und
in den Pausen ist die Stille tatsächlich urzeitlich; die Wand, die hundert
Schritte vor mir steil emporragt, ist kahl und unerbittlich, sie beschließt die
Welt"40. Die Wildnis, ohne den Menschen, der sie profaniert, ist die letzte
Maske des Heiligen. Doch sie löst keinerlei metaphysische Schauer mehr aus.
36
Ebd. 44
37
Ebd. 67
38
Ebd.
39
Ebd. 9
«° Ebd. 104
280
Ausgelöscht ist selbst jene Melancholie, die sonst am Leben hält. Der
Vergänglichkeitszauber, gebunden an das empfindende Subjekt, stirbt mit
dem Menschen.
Mit seiner Geschichtskritik steht Morselli nicht völlig allein. Wenige Jahre
nach dem Zweiten Weltkrieg hat Karl Löwith, auch er in seiner Zunft ein
Außenseiter, das Verhältnis von Geschichte und Natur radikal differenzie-
rend befragt. Er tat es entgegen allem Zeitgeist und ohne die Sinnkonstrukte
Hegels zu verschonen. In seinem Aufsatz Natur und Geschichte (1950) räumt
Löwith ein, daß dieser Gegensatz, den wir als Zeitgenossen globaler Techni-
sierung so intensiv empfinden, selbst durch Geschichte bedingt ist. Ohne die
weitreichenden Impulse, die Descartes und Vico zur Unterscheidung von
Naturwissenschaft und Geistesgeschichte gaben, wäre das Problem in seiner
Schärfe gar nicht formulierbar. Die Überwindung des Historismus, den
Hegel geschichtsphilosophisch mitbegründet hatte, wäre für Löwith freilich
gleichbedeutend mit der Überwindung seines Widerparts, der modernen
Naturwissenschaft. „Wie weit wir aber davon entfernt sind, zeigt besonders
deutlich der historische Materialismus von Marx"41. Diese Bemerkung, selbst
schon historisch geworden, erweist die Geschichte als Deponie erledigter
Weltentwürfe. Auch Marx wollte so fortschrittlich sein wie ein Industrieller,
so effizient wie ein Techniker, so exakt wie ein Naturwissenschaftler. Natur
war ihm bloß Material, Rohstoff für die Entwicklung der Produktionsge-
schichte. Marx träumte von einer gezähmten Natur. Das tat auf seine Weise
auch der Historismus, der die Geschichte zum einzigen Sinnhorizont erhob 42
und die Natur — für Leonardo und Goethe Vorbild der Kunst und Gesetz-
geberin - als vernunftlos entthronte. Diese Vorstellung reicht tief hinein ins
20.Jahrhundert. „Was an Natürlichem übrigbleibt, scheint ein bloßer Restbe-
stand von noch nicht vom Menschen Bewältigtem zu sein"43.
Dies war der Stand der Dinge um 1950, als die Atombombe den Gipfel
menschlicher Denaturierung anzuzeigen schien und bei Günther Anders und
Jaspers als apokalypüsches Symbol schlechthin füngierte. Heute, nach dem
Ende des Ost-West-Konfliktes, da selbst die Doppelherrschaft von Politik
und Technik an ihre Grenzen stößt, ist Welt als Physis und Kosmos noch
weniger mit Geschichte gleichzusetzen. Das ausgehende 20Jahrhundert hat
Löwiths These bestätigt: Die Frage nach dem Sinn der Welt läßt sich nicht
auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte verengen. Damit entfällt ein
Teil jener Kritik, auf die Karl Löwith stieß. Hatte doch J.Habermas ihm
41
Löwith 158
42
Dazu H.White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19Jahrhundert in Europa
(Frankfurt/M. 1991)
«Löwith 159
281
Damit ist ein Grundpfeiler der Aufklärung, die Konzeption einer Universal-
geschichte, preisgegeben und das Sinnproblem samt der Geschichtsphiloso-
phie als historisches Binnenproblem der europäischen Psyche vom 18. bis
20Jahrhundert relativiert. Was Habermas in den sechziger Jahren, auf der
Woge des Zeitgeistes, der gesellschaftsverändernde Entwürfe pflegte, als
„stoischen Rückzug" zu denunzieren suchte, zeigt sich heute als kühne Vor-
aussicht des Außenseiters Löwith. Der Kenner der Geschichtsphilosophie,
die er als säkularisierte Religion verstand, plädierte für Enthistonsierung, in-
dem er den verborgenen Absolutismus eschatologischen Denkens entdeckte.
Im Fall des Marxismus war dieser Absolutismus schon geschichtsnotorisch.
Löwith schlug vor, in Korrektur solcher Geschieh tsfixierung nach dem
Sinnhorizont der Natur zu fragen - ein eminent theoretischer und dadurch
fruchtbarer Ansatz, um Kontemplation, Ästhetik und Ethik zusammenzu-
bringen. Löwiths Verdienst war es, die historistisch gestellte Sinnfrage als
eurozentrisches Vorurteil enthüllt zu haben, als philosophischen Sündenfall
in einem Zeitalter der Ideologien.
Dem asiatischen Denken jedoch ist der Gegensatz von Natur und Ge-
schichte immer fremd geblieben.
Löwith, der 1936 über Rom in das japanische Exil ging und dort in Sendai
als Philosoph gelehrt hat, mußte das eurozentnsche Vorurteil an sich selbst
«Ebd. 159f.
45
Ebd. 161
282
46
Vgl. dazu seine im Nachgang (1960) verfaßten Bemerkungen %um Unterschied von Orient und
Okzident (Löwith 254 - 284)
47
J.Habermas, Philosophisch-politische Profile (Frankfurt/M. 1971) 125
48
Löwith 223 (nach Tacitus, Annalen III, 18)
283
49
Löwith 169f.
» Ebd. 226
284
Welt und Weltgeschichte einander gleichgestellt, noch ist der von Natur aus
lebende Mensch einfachhin eine geschichtliche Existenz"51. Löwith weist
diese Zumutung des Historismus und einer anthropozentrischen Metaphysik
zurück, wonach sich Himmel und Erde nur um den Menschen drehen.
Die Rückbesinnung auf den Sinnhorizont Natur gerät zur Kritik des eu-
rozentrischen Denkens. Als Opfer der totalitären Geschichte hatte der aus
Deutschland vertriebene Philosoph in Japan Gelegenheit, die Prävalenzen
einer anderen Kultur kennenzulernen: die pagane Naturfrömmigkeit der Ja-
paner hat Löwith sichtlich beeindruckt. Gerade die Shinto-Religion besitzt
die Fähigkeit, den natürlichen Dingen die Würde des Heiligen zu geben. Die
Begegnung mit dem Philosophen Nishida Kitaro (1870 - 1945), dem Denker
des „absoluten Nichts" (zettai mu), hat auf Löwiths skeptische Sicht der Ge-
schichte offenbar eingewirkt. Fragwürdig wird ihm vor allem die Fixierung
der abendländischen Philosophie auf das Subjekt und das Sein - auch da, wo
sie vom Nichts zu sprechen meint. Sie kennt nicht die buddhistische Kon-
zeption eines Nichts, das als allesumfassende Leere zugleich das Erfüllteste
ist. „Nur die absolute Leere, die durch ein Sichleermachen in meditativer
Versenkung erreichbar ist, kann alles, was ist, unversehrt in sich aufneh-
men" 52 . Die „reine Erfahrung" (junsui keiken) ist bei Nishida, der hier dem
Zen-Buddhismus folgt, transrationale Erleuchtung - noch in der Schau all-
täglicher und unscheinbarer Dinge. Solche Metaphysik der Zeitvergessenheit
ist dem linearen Geschichtsdenken Europas, das vom Kairos und der „Fülle
der Zeit" lebt, völlig entgegengesetzt. Für Nishida ist auch die geschichtliche
Welt umgriffen vom absoluten Nichts. Anders als das okzidentale Denken,
das willensgeleitet auf Zukunft gerichtet, daher dynamisch ist, betont er die
Gegenwart; nur in ihr findet reine Erfahrung statt. Zeit ist für Nishida die
Selbstidentität im absoluten Widerspruch des Vielen und des Einen; Ge-
schichte als Selbstentfaltung des schöpferischen Nichts bringt in dialekti-
scher Einheit Subjekt und Objekt, Vergangenheit und Zukunft, Betrachten
und Handeln zusammen 53 .
Daraus ergibt sich eine vertiefte Wahrnehmung der Natur: im absoluten
Augenblick, ohne raum-zeitliche Werthierarchie, ohne Eschatologie und
ohne Ich-Fixierung. Es ist die Wahrnehmung reiner Gestimmtheit. Ihr ent-
spricht in Japan die Ästhetik des leeren Raumes, worin Naturphänomene -
von den Muscheln am Strand bis zur Milchstraße — in ihrer verborgenen Es-
senz erscheinen. Die Haikudichtung Bashos (1644 - 1694) lebt ganz und gar
von solchen Epiphanien. Um ein Inbild des heißen japanischen Sommers zu
geben, eine Erleuchtung vor dem Phänomen, läßt er Natur in das Subjekt
eintreten. Extreme Wahrnehmungen, sonst unvereinbar, heilige Stille und
lärmende Wildnis, gewohnte Aspekte wie Innen und Außen verschmelzen:
51
Ebd. 253
52
Ebd. 265
53
Zur „Logik des Ortes" (basho no ronri) bei Nishida vgl. Brüll 166f.
285
Unser Meister ermahnte uns, über die Fichte von der Fichte selbst
und über den Bambus vom Bambus selbst zu lernen. Er meinte da-
mit, daß wir die Überlegungen, die sich auf unser Ich gründet, völlig
verlassen sollen. (...) Der Meister meinte mit dem 'Lernen' unser Ein-
dringen in den Gegenstand selbst (sei es eine Fichte oder ein Bam-
bus), bis die unsichtbare Essenz (das heißt sein honjo) sich uns offen-
bart.54
Das Verhältnis von Geschichte und Natur tritt auch in Japan nach dem
Zweiten Weltkrieg in neues Licht. Die Kapitulation des Militärstaates, das
Ende des Gottkaisertums und die von den Siegern verordnete Demokratie
unterbrachen die Kontinuität japanischer Geschichte. Die Erosions- und Ni-
vellierungsprozesse der Industriegesellschaft mußten eine traditionell natur-
verbundene Kultur besonders treffen. Der Kontrast von Tradition und Mo-
derne, seit den Meiji-Reformen ein Dauerthema der Literatur, verschärfte
sich56. Abzulesen ist dies vor allem am Werk von Mishima Yukio, der Todes-
erotik und Naturästhetik mit politischem Aktionismus verband, in selbstbe-
wußter Außenseiterrolle den Weg der Samurai-Ethik einschlug und eine Re-
stauration des Kaisertums anstrebte. Seine Roman-Tetralogie Das Meer der
54
Izutsu 149
55
Dazu ebd. 138ff.
56
Zur Wende seit 1945: Shüichi Katö, Geschichte der japanischen Literatur (Darmstadt 1990)
614ff. Dazu F.Coulmas, Das Land der rituellen Harmonie (Frankfurt/M. - New York 1993)
42ff. 178ff.
286
Fruchtbarkeit (Hojo no umi, 1968 - 1970) verfolgt nach dem Vorbild von
Proust und Thomas Mann die Themen Zeit, Erinnern und Generationen
anhand der Lebensgeschichte des Juristen Honda. Der rote Faden, an dem
sechs Jahrzehnte japanischer Geschichte von der Taisho- bis zur Showa-Zeit
aufgereiht werden, ist eine Reihe von Wiedergeburten. Honda glaubt, in drei
Gestalten seinem Freund Kiyoaki wiederzubegegnen, der 1914 jung verstor-
ben war -: in dem idealistischen Terroristen Isao (1932), in der thailändischen
Prinzessin Ying Chan (1952), schließlich in dem sechzehnjährigen Waisen
Toru, den er adoptiert (1970). Doch Honda, ein an westlicher Rationalität
geschulter Kopf, der sich in den Buddhismus zu versenken sucht, muß er-
kennen, daß der Glaube an die Geschichte bloße Illusion ist: Toru erweist
sich als Falsifikat. Der Titel Meer der Fruchtbarkeit spielt an auf die barocke
Astronomie der Keplerzeit. Damals wurde die im Zentrum des Mondes ge-
legene Ebene mit dem poetischen Namen „mare foecunditatis" belegt. Seit
Menschen den Mond betraten, wissen wir aus unmittelbarer Anschauung,
daß dies in Wirklichkeit eine Wüste, ein Reich des Todes ist57. Mishima hat
hier das Nichts, die Leere, das Absterben selber zum Thema gemacht. Nach
Abschluß der Tetralogie, im November 1970, beging er in einer aufsehener-
regenden Aktion - im Hauptquartier der japanischen Streitkräfte - Seppuku
mit dem Schwerte.
Der letzte Band Die Todesmale des Engels (Tennin gosui, 1970) beschwört,
in Anlehnung an eine buddhistische Legende, den Zauber des Verfalls und
der Vergängnis. Der todkranke Honda, der am Ende des Romans erkennen
muß, daß Toru nicht der Erwartete ist, hat den Zusammenbruch seines ge-
samten Sinnsystems vor Augen. Mishima, der Verehrer der Jugend, als Autor
auf der Höhe seines Ruhmes (wenngleich der erhoffte Nobelpreis an seinen
Lehrmeister Yasunari Kawabata ging), fühlt sich auf erstaunliche Weise in
Hondas Altern ein. Wie Sokrates und Wittgenstein empfindet der Japaner
des 20Jahrhunderts die Leiblichkeit als eigentliche Krankheit. Für Mishima
aber ist Leiblichkeit die Übersetzung von Geschichtlichkeit, und dies völlig
sensualistisch: „Daß der Leib in die Zeit gestellt war, diente zu nichts ande-
rem als dazu, das Dahinwelken, das Vergehen zu dokumentieren" 58 . Aus sol-
cher „historischer" Erfahrung am eigenen Leibe destilliert Mishima sein To-
despathos — als Autor wie als Politiker, der den Untergang des alten heroi-
schen Japan mit dem Freitod zu besiegeln gedachte. In der Kunstfigur
Honda verkörpern sich die Wonnen des Widerstreits: Leben und Altern sind
eins, auch wenn der Wille sich dagegen wehrt. Alle Geschichte ist Verfallsge-
schichte. Darin enthüllt sich ihr innerstes Wesen: „Die Geschichte war unter
all dem von Menschen Hervorgebrachten das unmenschlichste Produkt" 59 .
Wie die Göttin Kali, deren Bild Honda einst in Kalkutta sah, verschlingt sie
57
Dazu Yourcenar 40ff.
58
Mishima 248
» Ebd. 249
287
Das vom Geschrill der Zikaden erfüllte Grün des Teegartens loderte
unmittelbar jenseits der Veranda. Hinter einem üppigen Gewirr von
Pflaumenbäumen und Ahomen und Teebüschen waren die roten
Knospen des Oleanders zu sehen. Auf die zwischen den Trittsteinen
wachsenden Bambusgrasblätter mit ihren weißen Spitzen fiel grell das
sommerliche Licht...62
Honda, der Rationalist, der Menschen und Dinge zeidebens wie ein Voyeur
betrachtete, der Meister des Kalküls, scheitert am Ende des Lebens mit sei-
ner Lieblingsidee - der Reinkarnation Kiyoakis, von der er sich die Intensi-
vierung des eigenen Daseins, das Faszinosum der Schönheit, vielleicht sogar
60
Ebd. 252
61
Ebd. 253
62
Ebd. 275
288
Liebe versprach. Mishima, der Ästhet, und Honda, sein Geschöpf, ähneln
einander. Sie erhofften sich von der Reihe der Wiedergeburten etwas wie
Kontinuität — in jenem allesdurchströmenden Trieb, der „das Leben selbst
oder vielleicht ganz einfach die Jugend ist, die sukzessiv in der glühendsten,
der schroffsten und der verführerischsten Form inkarniert wird"63. Doch
flüchtig ist das Ich, buddhistisch gesprochen „fortwährend sich wandelnder,
wütender Strom". Hondas Erschrecken — wenn es den Freund nicht gab,
gibt es auch Honda nicht - läßt jede Geschichtlichkeit ins Nichts versinken.
Mit Kiyoaki läßt Mishima zuletzt das Subjekt und damit alle Historie ver-
schwinden. Nur Natur hat ihr eigenes Leben. Vor ihrer farbig glühenden
Folie löst sich das Ich mitsamt seinen Geschichten auf.
Im Vergänglichkeitszauber, den unvergängliche Natur hier inszeniert,
eröffnet sich die erlösende Leere. Mit vollkommener Unbefangenheit zeigt
die Äbtissin Honda den Südgarten - so als sei dies der eigentliche Zweck
seines Besuches. Der ausgedehnte Garten, hauptsächlich Rasen, darin einige
Steinformationen, am Rande Ahornbäume, ist mit einem Blick zu erfassen.
Und doch enthält er ein Geheimnis, so sparsam er bepflanzt ist, so einfache
Dinge er bietet — etwa das Rufen des Kuckucks (das ,Jahreszeitenwort" in
der Poetik des Haiku) oder das Feuer der Ahornblätter, die ein symbolisches
Brand- oder Blutopfer sind (Motive, die Mishimas Tetralogie durchziehen).
Denn dieser Garten ist leer. Vielleicht enthüllt gerade seine Leere, Heideg-
gers „Lichtung" vergleichbar, die unverstellte Gegenwart göttlichen Seins —
so daß das leere Geviert für Honda zu einem „Meer der Fruchtbarkeit" wird.
Solche Naturästhetik erinnert an die Bewußtseinsphilosophie von Nishida
Kitarö, besonders an seine Theorie vom „Ort des Nichts" (mu no basho).
Für Nishida ist der Bewußtseinsgrund ein ewiges und absolutes Nichts, das
alles Sein umfaßt und in sich alle Gegenstände hat. Der absolute Wille holt
Sein aus dem Nichts; schaffen aber heißt sehen, das Spiegeln im Spiegel des
Nichts betrachten. „Um in den Ort des wahren Nichts vorzudringen, muß
der freie Wille erlöschen"64. Erst durch Vernichtung des Willens entsteht für
Honda der Ort der Erkenntnis: Im leeren Garten wohnt das Heilige. Die
reine Erfahrung, die Subjekt-Objekt-Spaltung überwindend, ist nach Nishida
ein Zustand des Bewußtseins, worin Sehender, Sehen und Gesehenes eins
werden 65 . Die Sanftheit der Leere ist Einbruch eines Wilden, das die Ge-
schichte auslöscht; doch dieses Wilde ist Nichts. Die ferne Entsprechung im
monotheistischen Westen wäre die Leere als Wüste, die eine andere Form
der Wildnis ist - Ort der Berufung und Bewährung für die Heiligen.
Mishimas Betonung der Natur und ihrer Sakralität verweist auf archai-
sche Schichten japanischer Kultur. Die traditionelle Shintö-Religion hatte
63
Yourcenar 53
64
J.Hamada, Art. Nishida-Philosophie, in: H.Hammitzsch, Japan-Handbuch
(Stuttgart 3Auflage 1990) Sp.l295f.
«Brüll 158
stets heilige Orte für die Verehrung der Götter gekannt, deren Präsenz im
Räume der Natur erfahren wird. Der Shintö-Schrein war ursprünglich ein
durch Strohseile oder Steine abgestecktes Geviert — ein Rahmen für die Re-
präsentanz göttlicher Kräfte. „Die Anlage aller Schreine läßt immer wieder
die Grundidee der göttlichen Gegenwart an einem isolierten, reinen und
geweihten Ort inmitten der Natur deutlich werden"66. Es scheint, als habe
das Stück Natur, das Mishima am Ende des Romans herbeizitiert, diesen
Charakter eines Schreines. In einem Garten, überschüttet von der Glut der
Mittagssonne, ereignet sich für Honda der Ausgang der Geschichte. Hier er-
lebt er in der Vision der Leere seine Ekstasis. Was ihn an der Natur ergreift:
daß sie ursprünglich, einfach, vollkommen souverän ist. Doch ihr Unge-
zähmtes wird bei Mishima sofort ästhetisch geordnet; Rahmen und Ekstasis
sind keine Widersprüche, sondern bedingen einander. Erst der Rahmen, der
„Schrein", erlaubt die sinnlich-optische Präsenz einer Natur, die zugleich
Nichts ist. Die heilige Wildnis, allgegenwärtig, ist da im Schrillen der Zika-
den. „Kein anderes Geräusch; die Einsamkeit und die Verlorenheit waren
grenzenlos. Dieser Garten enthielt nichts. Ich bin, dachte Honda, an einem
Ort angelangt, an dem es weder Erinnerung noch sonst irgendetwas gibt"67.
Keine Geschichte mehr; nur noch erleuchtete Leere.
Gegenpol zu dieser Wildnis ist Rom, das Reich der Notwendigkeit und
der Vernunft — für den Verbannten unerreichbar wie ein Stern. Doch dieser
Stern sendet sein kaltes Licht bis in den letzten Winkel. Im poetischen Wi-
derstand gegen den Unstern hat Ovid im Exil die Metamorphosen zu Ende er-
zählt — um freizuwerden vom imperialen Zugriff der Geschichte. Was in ihm
dichtet, ist Werk der Natur, die zuletzt ihren Dichter verwandelt: „Dann war
er wohl auch selbst eingetreten in das menschenleere Bild, kollerte als un-
verwundbarer Kiesel die Halden hinab, strich als Kormoran über die
Schaumkronen der Brandung oder hockte als triumphierendes Purpurmoos
auf dem letzten, verschwindenden Mauerrest einer Stadt"69. Vor der Ge-
schichte flieht auch Cotta in die Wildnis. Wie so viele seiner Zeitgenossen
kehrt er dem Staat den Rücken, „um der Apparatur der Macht zu entgehen,
der allgegenwärtigen Überwachung, den Fahnenwäldern und dem monoto-
nen Geplärre vaterländischer Parolen" 70 . Ransmayr beschreibt eine Bewe-
gung von Aussteigern: er projiziert den sozialistischen Staatskult und die
Symmetrie verordneten Lebens auf die antike Weltstadt. Cottas Verweige-
rung ist nicht politisch, sondern — dem Geist der „Postmoderne" gemäß -
Sehnsucht nach einem Leben ohne Aufsicht, nach Selbstbestimmung im Plu-
ralismus persönlicher Lebensentwürfe. Kein Zweifel, der Autor macht sich
selbst zum Anwalt solcher Zeit- und Politikflucht, zum Fürsprecher romanti-
scher Verwilderung. Mit heimlicher Genugtuung vermerkt er, daß Ovids
Schicksal unter den Schlägen der Politik zu Mythen zerfiel71. Denn Mythen
sind der Stoff, aus dem zuletzt alle Geschichte ist. Der Mythos, mit dem sich
Ovid noch im Exil umspinnt, löscht alles Historische und Biographische aus.
Die symbolische Konfrontation von Geschichte und Natur findet im
Herzen des Imperiums statt. Ransmayr präsentiert sie als surreale Vereini-
gung des Disparaten: Kaiser Augustus, abgeschnitten von aller Wirklichkeit,
unerreichbar für alle Bittschriften und Gnadengesuche, sitzt in seinem Er-
kerzimmer und starrt auf ein Nashorn herab, „an dessen gewaltigem Körper
der Lauf der Zeit keine Spuren zu hinterlassen schien; allein die Generatio-
nen von Fliegen, Ungeziefern und Vögeln, die das Nashorn auf seinem Rük-
ken trug, alterten, starben und erneuerten sich"72. Die traumhafte Konstella-
tion von Kaiser und Nashorn, dem Herrn der Welt und dem häßlichen Tier,
das sich in Staub und Schlamm wälzt und in den Jahren sich gleichbleibt wie
ein Stein, wird zum Emblem: es illustnert die Vergeblichkeit menschlicher
Macht und die massive Selbstbehauptung des Animalischen. Das Verfahren
erzeugt eine Ästhetik der Irritation. In diesem Capriccio wird der Repräsen-
tant der Geschichte, die sich als absurde Anreihung des Ephemeren erweist,
widerlegt durch bloße Konfrontation mit der stoischen Ruhe des Tieres aus
69
Ebd.
70
Ebd. 124f.
71
Ebd. 130
72
Ebd. 128f
291
dem Barbarenland. Ransmayr nähert sich hier einer Ästhetik, die Tiefe und
Oberfläche zu vereinen sucht. Dergleichen hatte bereits Ernst Jünger in den
Figuren und Capriccios des Abenteuerlichen Hertens (1938) erprobt: „Die
durchsichtige Bildung nun ist die, an der unserem Blick Tiefe und Oberflä-
che zugleich einleuchten"73. Jünger erläuterte dies am Kristall, der „sowohl
innere Oberfläche zu bilden, als seine Tiefe nach außen zu kehren vermag" 74 .
Gerade das Exponierte der eigenen Position führt Jünger wie Ransmayr zu
einer betont physiognomischen Beschreibung; hinzukommt bei beiden als
geistiges Gewürz der Manierismus. Diese am meisten vor der Natur sich be-
währende Technik pathetischer Indifferenz führt hin zu einer besonderen
Spielart literarischer Phänomenologie. Wie beim Jünger der dreißiger Jahre
geht sie bei Ransmayr einher mit dem stoischen Rückzug aus der Profange-
schichte. Der von der Politik enttäuschte Ästhet bekehrt sich zur Natur; sie
suggeriert die letzte Ordnungs- und Sinninstanz.
Bei Jünger ergab sich diese Haltung aus der mentalen und historischen
Erfahrung des „verlorenen Postens". Hier treten die Phänomene des Lebens
in eine sonst unbekannte Helle ein75. Das erinnert epochenbedingt (durch die
Zuschärfung des Ideologiekonfliktes zwischen Rechts und Links um 1930)
an Walter Benjamins Begriff der „profanen Erleuchtung". Benjamin hat ihn
fast beiläufig, mit Blick auf den Surrealismus geprägt: „Die wahre, schöpferi-
sche Überwindung religiöser Erleuchtung aber liegt nun wahrhaft nicht bei
den Rauschgiften. Sie liegt in einer profanen Erleuchtung, einer materialisti-
schen, anthropologischen Inspiration"76. Ein eigentümlicher Materialismus
bei dem Versuch, Wirklichkeit beschreibend zu erhellen, läßt sich auch bei
Ransmayr beobachten. Nicht zufällig träumt Cotta von einem „Buch der
Steine", Ovid gleichsam fortdichtend; und die Materie in all ihrer Phänome-
nalität spielt im Roman eine wichtige Rolle. Vierzig Jahre nach dem Zweiten
Weltkrieg, in einer Phase, da monolithisch scheinende politische Systeme zu
bröckeln beginnen und die Geschichte des Ost-West-Konfliktes sinnleer
wird, greift Ransmayr souverän auf den Ovidischen Mythos zurück. Es ist
seine Ästhetik des verlorenen Postens. Die historische Welt verwandelt sich in
ein Panoptikum. Während in Rom Augustus stirbt, wird jedes Geräusch ge-
waltsam unterdrückt. Nur die Natur läßt sich von keinem Caesar befehlen:
„das trauernde Rom war erfüllt von den millionenfachen Stimmen der Vö-
gel"77. Nicht immer bedarf es der Erdbeben, um Katastrophen anzukünden.
Mit Jünger könnte auch Ransmayr sagen, „daß ein historisches Gebäude
durch Ameisenfüße untergraben wird"78.
73
Jünger, Das Abenteuerliche Herz 182
74
Ebd.
75
Ebd. 263
76
W.Beniamin, Surrealismus (1929), in: Gesammelte Schriften II. 1 (Frankfurt/M. 1980) 297
77
Ransmayr 134
78
Jünger, Das Abenteuerliche Herz 263
292
Doch verfügt Ransmyr auch über Bilder des Elementaren. Die Ge-
schichte ertrinkt bei ihm buchstäblich in einer Sintflut; das Motiv ist einer
Vision Ovids entnommen. Diese Strafphantasie war möglicherweise der
Anlaß, der zur Verbannung des Dichters geführt hat: „Der Untergang! schrie
Echo, das Ende der wölfischen Menschheit. (...) Wer wollte denn ausgerech-
net in der größten und herrlichsten Stadt der Welt an das Ende aller Größe
und Herrlichkeit mit jener Leidenschaft erinnert werden, mit der Naso den
Untergang vorhergesagt hatte?" 79 Mißachtung der Historia profana führt bei
Ovid — und auf dessen Spuren bei Ransmayr — zur Imagination der großen
Flut, mit welcher Zeus das Menschengeschlecht ertränkt. Nur Deukalion
und seine Geliebte Pyrrha überleben auf einem Floß. Sie stranden, als die
Flut wieder sinkt, am Parnassos. In einer Tempelruine erhalten sie die Ein-
gebung, Steine hinter sich zu werfen. Aus diesen Steinen entstehen neue
Menschen, hart und gefühllos wie Steine. Der Vergänglichkeitszauber, den
Ransmayr aus der Zerstörung der Kultur gewinnt, wird lustvoll ausgekostet.
Der antizivilisatorische Affekt erinnert auffällig an Guido Morseliis Verdikt
über Chrysopolis. Cotta, der aus der Hauptstadt der Welt in die Wildnis Ge-
flohene, ist wie gebannt von der Erzählung Echos:
Es war eine Vision, von der er in den Reden und römischen Lesungen
Nasos niemals gehört hatte. Mit einer seltsamen, fast fanatischen
Kraft in der Stimme kündigte Echo ihm einen hundertjährigen Wol-
kenbruch an, der die Erde reinwaschen werde und beschrieb die
künftige Flut so bestimmt wie eine Katastrophe aus der Vergangen-
heit.
Schon im ersten Jahr des Regens zerrieb und verwischte jeder Fluß
sein Bett wie eine Spur im Sand, jeder See begrub seine Ufer unter
sich und verwandelte Promenaden und Parks in sperrigen Schlamm-
grund. Dämme barsten oder verloren über der Höhe der Wassermar-
ken jede Bedeutung, und aus den Gebirgen und Tälern sprangen
Sturzbäche in die Ebenen hinaus auf den Ozean zu, der unter einer
unzerreißbaren Wolkendecke lag.80
79
Ransmayr 162
»»Ebd. 162f.
293
Die Wiederkehr der Stille, das Verschwinden des Lärms, der sich Geschichte
nennt, die Utopie der alle Tafeln löschenden und reinigenden Flut erscheinen
als letzte Botschaft einer geschichtsmüden Welt. Der vom Himmel gefallene
Ozean, der alles Partikulare und Differente ertränkt, wird zum Symbol einer
gewaltsam hergestellten Einheit, ja eschatologisch zum Zeichen des Pleroma,
worin die Geschichte versinkt. Zwei Jahrhunderte zuvor hatte Kant die
Frage nach der Aufklärung gestellt: Ransmayr entdeckt am Ende der Mo-
derne, im Ausgang aus selbstverschuldeter Geschichte, nicht das Ende der
Unmündigkeit, sondern die Einsamkeit des letzten Menschenpaares. Aus
dem Gefühl unerträglicher Verlassenheit heraus schleudern sie die Kiesel
hinter sich, um zu erleben, daß aus den Steinen Menschen werden.
Was aber aus dem Schlick eines an seiner wölfischen Gier, seiner
Blödheit und Herrschsucht zugrundegegangenen Geschlechts hervor-
kriechen werde, das habe Naso die eigentliche und wahre Menschheit
genannt, eine Brut von mineralischer Härte, das Herz aus Basalt, die
Augen aus Serpentin, ohne Gefühle, ohne eine Sprache der Liebe,
aber auch ohne jede Regung des Hasses, des Mitgefühls oder der
Trauer, so unnachgiebig, so taub und dauerhaft wie die Felsen dieser
Küste.82
Selbst dem Aufklärer Kant war, um der Ordnung der Welt willen, die Vor-
stellung eines Gerichtstags nicht fremd. In seinem Aufsatz Das Ende aller
Dinge vermerkt er, daß die tradierte Eschatologie „ihren Ursprung nicht von
dem Vernünfteln über den physischen, sondern über den moralischen Lauf
der Dinge in der Welt hernimmt, und dadurch allein veranlaßt wird"83. Doch
was dem Sinnsucher Cotta bei Ransmayr bleibt, ist nichts als eine Unter-
gangsvision, schlimmer: der Mythos einer bösen Wiederkehr. Damit läuft das
Moralische ins Leere. Die Ästhetik des verlorenen Postens, die hier zur
Herrschaft kommt, ist gnadenlos. Das führt im Labor der Moderne zurück
bis auf Adalbert Stifter und seine Liebe zu verkappten Katastrophen. Wie
Stifter pflegt Ransmayr auf exzessive Weise die Naturbeschreibung; sie ist im
Verblassen des Sinns der Rekurs auf die Dinge. Auch Stifters Schneeattak-
ken, Eisregen, Gletscherverirrungen kehren bei Ransmayr wieder, etwa in der
» Ebd. 164
,2
Ebd. 169
i3
Kant, Werke IX (Darmstadt 1983) 176
294
che Landschaft besteht, in der die geistigen Verhältnisse sichtbar sind. Dem
muß eine Art entsprechen, Philosopheme aufzufassen, wie man Reisebe-
schreibungen liest"87. Mit dem Ende der Subjektivität kündigt sich das Ende
der Moderne an. Ovid, der Inbegriff des dichterisch wahrnehmenden Sub-
jektes, und Cotta, sein Interpret und Spurensucher, verlieren sich im Gebirge
Trachilas an eine Natur, deren barbarische Kraft alles Erklären auslöscht.
Wie in Kafkas Variante der Prometheussage: „Blieb das unerklärliche Fel-
sengebirge. Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus
einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden"88.
Es ist der Mythos, der die geschichts- und glaubensmüden Utopien vernich-
tet: mit ihnen ist auch die Neuzeit zu Ende erzählt. Das Gebirge ist der
„letzte Grund", nachdem alle Versionen des Mythos sich als bloße Literatur
enthüllten — in einem Prozeß des Vergessens und Müdewerdens, der selbst
den Konflikt von Göttern und Titanen zu einer verblassenden Schrift macht,
dazu bestimmt, sich selber auszulöschen. Diesem Vergänglichkeitszauber hat
Ransmayr neue Gestalt gegeben.
Auf den Spuren des Mythos sieht Cotta den Dichter der Metamorphosen,
dem Echo seines Echos folgend, eintauchen in den endlosen Fluß der Ver-
wandlungen: „nicht der Dichter Roms lehnte an einem zweiten Kegel, son-
dern ein vom Geröllstrom entrindeter Kiefernstamm"89. Im Fest der Vanitas
und des Vergehens, das bei Ransmayr dionysisch-orgiastische Züge an-
nimmt, wird Rom, die Hauptstadt der Vernunft und der Kultur, zu einer un-
verständlichen Sage. Der Autor schwelgt im Dekonstruktivismus. Die Text-
spuren Ovids, mit Kohle und Kreide auf Steinmale gekritzelt, verwandeln
sich in Natur zurück, so daß ruinöse Erinnerung ihre eigene Lesart hervor-
bringt, ihre eigene Ästhetik des Verfalls:
...Stacheln
aus Silber
...der Dauer...
...ungeschützt
das Herz...
der Schlachterin
...eine Nachtigall90
Noch der zerstörte Mythos strahlt fremde Schönheit aus. Was Ovid, aus der
Manie heraus, seinen Versen Dauer zu verschaffen, in Steinsäulen eingraben
ließ, wird von den Schnecken getilgt; sie haben sich über dem Text „zu pul-
sierenden, glitzernden Mänteln zusammengeschlossen"91. Die Natur selbst
besorgt das Geschäft der „damnatdo memoriae", vollendet so das Werk des
Imperators. Cottas Spurensuche erschöpft sich in hilfloser Pietas. Am Schluß
des Romans verschlingt die Natur die Stadt Tomi, jenen erdichteten Ort am
Rand der Welt, in einer vegetativen Orgie, die von Max Ernst inszeniert sein
könnte; Zeit und Geschichte ertrinken im Regen. Das Feuchte, aus dem einst
am Anfang das Leben entstand (nach der Lehre ionischer Philosophen wie
Thaies), kündigt nunmehr das Ende an. Die Welt schickt sich an, zu ver
schimmeln, der Urwald holt sich die Städte zurück. „Verstohlen und mit gla
sigen Wurzeln zuerst, dann mit grünen Fingerchen, betörenden Blüten und
schließlich mit zähen, von bemooster Rinde gepanzerten Armen griff die
Wildnis nach der eisernen Stadt"92. Ransmayrs Letzte Welt ist kein histori
scher Roman, in keiner Zeile. Er handelt von der Rache der mißachteten
Natur, von der grimmigen Lust, daß Geschichte vergeht, vom Verschwinden
des Subjekts im Text Natur. Bleibt, am Ausgang der Verfallsgeschichte, das
unerklärliche Felsengebirge.
92
Ebd. 279
11. Kapitel
Das ferne Land
Vox clamantis in deserto.
Johannes 1,23
Ungaretti ,1918
1
Baudelaire, AW II, 260
298
2
Leopardi, Gesänge 92. Dt. von R.M.Rilke
3
Vgl. Carsaniga 89
299
Gedicht des 19.Jahrhunderts hat die Magie des Untergangs angesichts des
Taumeins der Geschichte so eingefangen wie dieser junge Dichter.
Ausgelöst wurde sein Scheitern durch die Sehnsucht nach dem Jenseits
der Geschichte. Hamlets Furcht vor dem Unbekannten, die ihn zaudern läßt,
den letzten Schritt zu tun, ist einem verschwiegenen Todesverlangen gewi-
chen. Daß die Geschichte als Sinnsystem Leopardi wenig bedeutete, jeden-
falls die der Moderne, kann nicht überraschen; selbst die Antike, die ihm
Modell gelungenen Daseins, historischer Größe war, ist so unendlich weit
weg, daß sie ins Wesenlose abzugleiten droht. Von daher die Klage, ja Resig-
nation in dem Idyll Der Abend nach dem Fest (1820):
Or dov'e il grido
de' nostri avi famosi, e il grande impero
di quella Roma, e l'armi, e il fragono
che n'andö per la terra e l'oceano?
Wo die Kunde
von unsern großen Ahnen, wo das Reich
der Römer, und die Waffen, der Tumult,
den sie entsandten über Land und Meer?4
Der Topos des „Ubi sunt?", von Petrarca bis Ossian gern zur Kritik der Ge-
genwart verwendet, spricht bei Leopardi vom völligen Verschwinden der
heroischen Geschichte, über die sich das lähmende Schweigen der Nachwelt
breitet: „und niemand mehr redet von ihnen" (e piü di lor non si ragiona). Es
ist ein kleiner, enger und ängstlicher Friede, durchaus der Stimmung der
Metternichschen Restauration entsprechend. „Quieta non movere", das Ru-
hige nicht in Bewegung bringen, hieß die Maxime des Staatsmannes, der an
die Schrecken der Revolution dachte. Der Dichter dagegen evoziert die
„profondissima quiete", die abgrundtiefe Ruhe der Natur. Geschichte als
Vita activa ist nur noch Erinnerung -: der ferne Bronze- und Eisenklang des
alten Rom, nicht des Napoleonischen Empire, das nur lärmendes Imitat war.
In L'Inßnito wird der Ort privaten Rückzugs zum Auslöser einer ins Un-
endliche lockenden Denkbewegung. Das Gedicht, bis auf das herrliche
Schlußbild visuell mit großer Zurückhaltung arbeitend, verlegt sein Entgren-
zungsverlangen demonstrativ in die Einsamkeit. In der „Wüste", hier als
verlassener Hügel kaschiert, öffnet sich der Ausgang aus der Enttäuschungs-
geschichte. Kein Fernblick inspiriert (denn die Hecke begrenzt ja die Sicht),
sondern der Blick ins innere Universum des Subjekts. Sorgsam wählt der
moderne Melancholiker den Schauplatz für den Freitod der Gedanken, in-
dem er alle optischen Reize ausblendet, die zu sehr an Leben erinnern. Leo-
pardis Bezeichnung „Idyll" darf nicht als Miniatur eines anmutigen Ortes
mißverstanden werden; sie meint nicht das Lob einer Kleinwelt und am we-
nigsten harmlose Glücksbilder. „Idyll" bezeichnet hier das subjektive Mo-
ment in der Naturerfahrung, den „Kontrast zwischen einem vertrauten
Raum und einer kosmischen Dimension" 5 . Wie zuvor bei Rousseau, dem der
junge Leopardi viel verdankt, und vor der großen Entzauberung des
19.Jahrhunderts, ist es noch einmal Natur, die solche Entgrenzungsgefühle
befördert.
Auffällig an Leopardis Naturverständnis aber ist der Wandel, der einige
Jahre später (1824) in den Dialogen der Operette morali nachzulesen ist. Wäh-
rend Natur bei aller Strenge zunächst noch menschenfreundlich wirkte, stellt
sie sich wenig später als vollkommen gleichgültig, jenseits von Gut und Böse
dar. „Lebe, sei groß und unglücklich" - so lautet ihr ethischer Imperativ im
„Dialog zwischen der Natur und einer Seele"6. Bündiger läßt sich Leopardis
Pessimismus nicht formulieren. Tod ist das eherne Gesetz in der Natur, ver-
hängt von einem anonymen Schicksal, ebenso wie die Leiden der Menschen:
sie sind in der Ordnung der Schöpfung enthalten. Je größer die Seele, desto
intensiver lebt sie; gerade das intensive Leben wird ihr Unglück, erwächst es
doch aus jenem Glücksverlangen, das die Natur dem Menschen einpflanzt.
Standhaftigkeit im Leiden wird nun zum Maß der Menschenwürde, gekrönt
durch die Aussicht auf Ruhm, den Leopardi antikisch als Spielart der Un-
sterblichkeit versteht. Doch das „male di vita" ist stärker als die Verlockung.
Die absolute Enttäuschung mündet in absolute Regression: Die Seele, um ihr
Leiden zu verringern, bittet die Natur (hier noch als „Mutter" angesprochen)
um Verminderung von Vitalität und Gefühl; ja sie schlägt selbst die Unsterb-
lichkeit aus. Das „ferne Land" ist hier das Reich des Todes.
Erstaunlich, wie kurz darauf, im Dialog ^wischen der Natur und einem
Isländer, der Ton sich verschärft. Der Isländer, der seine Insel verläßt, wo alle
vier Elemente sich menschenfeindlich zeigen, begegnet im Inneren Afrikas
der nämlichen Natur, vor der er fliehen wollte. Als Riesin, die sich an einen
Berg lehnt, das Gesicht zugleich schön und schrecklich, ist sie die allgegen-
wärtige Herrin, die sich um Glück oder Unglück der Menschen nicht küm-
mert. „Wenn ich euch in irgendeiner Weise mißhandle, merke ich es nur sel-
ten.^. .)Und selbst wenn ich versehentlich ein ganzes Geschlecht vernichtete,
ich würde es nicht einmal wahrnehmen" 7 . Diese Natur von titanischer
Gleichgültigkeit trägt alle Züge der Stiefmutter; die Illusionen der Aufklärer
werden vor ihr zunichte. Vergeblich der Einspruch des Isländers, daß er die
Natur niemals gebeten habe, ihn in die Welt zu setzen: Er zerschellt an der
blinden Faktizitat des Geschehens. Als hätte sie die Philosophie der Inder
studiert, vor allem die Konzeption des Samsara, verweist die Natur auf die
unausweichliche Zyklik des Seins: „Du hast offenbar nicht erkannt, daß das
5
F.Janowski, in: V.Kapp (Hg), Italienische Literaturgeschichte (Stuttgart - Weimar 1992) 247
6
Leopardi, Gesänge 305ff.
7
Ebd. 346
301
Leben dieses Universums ein ewiger Kreislauf von Schöpfung und Zerstö-
rung ist"8. Natur ist nichts als diese Doppelbewegung. Damit steht Leopardi
nicht nur an den Grenzen der Vernunft, sondern auch jenseits der Theodi-
zeefrage, die doch am Ursprung der Aufklärung stand. Auch als Philosoph
ist er einsam in seinem Jahrhundert, da er sich weigert, Natur zu instrumen-
talisieren oder ihr gar eine Entwicklung zuzuschreiben.
Leopardis Natur ist eine unergründliche, blinde, ja grausame Göttin,
auch wenn an ihr noch Attribute des Erhabenen haften. Dennoch behauptet
sie sich, aller Entzauberung zum Trotz, als romantischer Archetyp. Ähnliche
Personifikationen der Natur, allerdings freundlicher, gibt es in der deutschen
Frühromantik, etwa im Runenberg von Ludwig Tieck, und später sogar bei
Baudelaire, dessen Sonett ha Geante im Bild einer Riesin den Regressions-
traum des Kindes im Manne besingt, das sich wünscht, im Schatten ihrer
Brüste einzuschlafen. Sinnlicher und unbefangener als Leopardi erdichtet
Baudelaire ein irdisches Paradies, worin die Natur Geliebte und Mutter zu-
gleich ist. Frömmer als seine Zeitgenossen, hätte er nie den Gedanken ge-
wagt, diese Göttin zu entehren und zu schänden. Der Philologe Leopardi
steht mit seiner Naturallegorie überdies in einer Tradition, die auf die Antike
zurückgeht und besonders von den Neupia tonikern bei der Homer- und
Vergilexegese gepflegt wurde. Wie der spätantike Mensch besaß er für die
Allegorese offenbar eine „Erlebnisdisposition" (E.R.Curtius). Als Dichter
hatten schon Ovid und Claudian jene Mythologie der Natur 9 bereitgestellt,
die es Leopardi, dem Kenner der paganen Literatur, erlaubte, Gott und
Natur praktisch ineins zu setzen.
Doch der christliche Schöpfer und die Heilsgeschichte sind abwesend
im Lukianischen Sprachspiel der Operette morali. Der Pessimismus der Bot-
schaft wird kompensiert durch Satire; die Religionskritik ist immanent. Erst
zwei Jahre später, in philosophischen Aufzeichnungen des Zibaldone, datiert
vom 22.April 1826, wagt sich Leopardi an die Verneinung der Schöpfung,
des Weltalls, des Seins schlechthin: „Die Ordnung und der Zustand, die Ge-
setze, der natürliche Gang des Universums sind durchaus von Übel und nur
auf das Übel gerichtet"10. Die Entwertung des Seins führt, wie später bei
Nietzsche, zu einer radikalen Umwertung aller Werte: „Das Weltall: nichts
als ein dunkler Fleck, metaphysisch ein Stäubchen. Das Dasein ist seiner
eigenen Natur, seinem allgemeinen Wesen nach eine Unvollkommenheit,
eine Unregelmäßigkeit, eine Ungeheuerlichkeit"11. Die Inbrunst vor dem
Nichts ist Leopardis Gegenreligion. Das Dasein wird als Zumutung eines
Deus malignus negiert. Das ferne Land, das Leopardi hinter dem Horizont
8
Ebd. 347
9
Da2u E.R.Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (4.Auflage
Bern - München 1964) 116f.
10
Leopardi, Gedankenbuch 537
11
Ebd. 538
302
der Illusionen suchte, enthüllt sich als das Nichts. Nur in ihm ist Erlösung;
denn das Nichts ist die wahre Unendlichkeit.
Mit dem Christentum schwindet zugleich die Vernunftreligion. Die
Metapher des endlosen Kreislaufes, Nietzsche vorwegnehmend, erlaubt als
pagane keine teleologische Geschichte mehr; damit entfällt jeder Gedanke an
Fortschritt, Sinn, Vollendung. So mobilisiert Leopardi antike Denkfiguren
gegen die Moderne. Vor seiner Göttin Natur bleibt als einzige Hoffnung der
Tod. Der Isländer erleidet ihn buchstäblich in einem fernen Land, in einer
Fluchtwelt, die wie bei Baudelaire nur eine andere Ecke im Weltspital ist:
nach einer Version von zwei Löwen getötet, nach einer andereren von einem
Sandsturm begraben und mumifiziert, später von Reisenden gefunden und
im Museum ausgestellt. Die Ironie dieses Schlusses, romantischer Sprung aus
der Wirklichkeit, ist literarische Kaschierung der Verzweiflung.
Damit kommt dem Gedicht Ulnfinito nachträglich eine neue Lesart zu.
In einer Zeit, da der Fortschritt der Technik (den Leopardi in seiner Palinodie
an Gino Capponi satirisch kommentiert hat) jeden mit jedem, alles mit allem
zu verbinden droht, sucht Leopardi das ferne Land in dem, was unbeachtet
vor aller Augen liegt - Hügel, Hecke, Bäume, ein Stückchen Horizont. Keine
Landschaft mehr in Ulnfinito, sondern nur noch Naturzeichen, wenige, die
auf ein Jenseits des Betrachteten verweisen. Der Blick geht nach innen: er
hört. Das Rauschen des Ewigen löscht mit den Bildern die Geschichte aus.
Nicht Grenzüberschreitung lockt Leopardi, der sich in Recanati wie ein Ge-
fangener vorkam, sondern die Entgrenzung überhaupt. Noch steckt in sei-
nem Unendlichkeitspathos ein Verlangen nach Transzendenz. Leopardis
Verzicht auf Weltveränderung gibt seinen Versen Ruhe und Gefaßtheit, trotz
heimlichen Grauens. Im Meer des Unbewußten eintauchen wird zur Lust,
vergleichbar dem, was Schopenhauer als Sabbat des Wollens beschrieb: das
Rad des Ixion steht still. Erfüllung durch die Leere knüpft Leopardi an den
Schiffbruch der Gedanken. Das ferne Land eröffnet sich im Gestus der Er-
gebung, des Selbstvergessens, des Sich-Sinkenlassens. Das Hinab des Willens
läßt einen Ozean heranfluten, in dem das Subjekt seine Leidensgeschichte
begräbt. Zum letzten Mal im 19.Jahrhundert genügen dem Dichter Hügel,
Hecke, ein Stück Horizont, um die Geschichte laudos zu entmachten - jene
Geschichte, die zur gleichen Zeit von Hegel als Weltrichterin inthronisiert
wird. In Leopardis Idyll versinkt die Schädelstätte.
Siebzehn Jahre später unternimmt Leopardi den letzten Versuch, seine
Naturästhetik gültig auszudrücken - in dem großen Gedicht La ginestra o II
fiore del deserto (1836). Der Ton ist noch härter und pessimistischer geworden;
ein erstaunlicher Nihilismus prägt die Verse, in der mit der Geschichte die
Utopie negiert wird. Am Hang des Vesuv — Leopardi wohnte damals in
einem Landhaus bei Torre del Greco - führt die Betrachtung des Ginsters,
der einsam auf den Lavahalden wächst, zur Erkenntnis der menschlichen
Ohnmacht vor der Natur.
303
Mit einem leichten Stoß kann die Natur, die „harte Mutter" (dura nutrice),
den Menschen und seine Werke vernichten. Es ist dieselbe allmächtige
Gottheit, die im Gedicht Der Abend nach dem Fest (1820) den Menschen zum
Leiden schuf13. Der Ginster, auf jenen Hängen wachsend, unter denen Pom
peji ausgegraben wurde, ist ebenso vergänglich wie die Kultur des Altertums;
ihn vermag kein Vulkan mehr zu schrecken. Die Identifikation des Dichters
mit dem Geschöpf, das in der Öde existiert, steht in Zusammenhang mit
seinem Motto aus dem Johannesevangelium: „Und die Menschen liebten die
Finsternis mehr als das Licht" (Joh 3,19). In dieser Pathosformel, ja Selbst
stigmatisierung geschieht die Apotheose des Dichters: Er ist das Licht in der
Finsternis, der gegen sein Jahrhundert, ja gegen alle Profangeschichte steht.
Der Auserwählte ist der, den niemand wahrnimmt.
Der Hauch von Transzendenz, der noch in Ulnfinito spürbar war, ist
hier dem „heroischen Materialismus" (F.Bandini) gewichen. Das unschuldige
Land ist nicht mehr auf Erden zu finden, sondern hat sich verloren in der
Unendlichkeit des Universums, dessen Milchstraßen menschlichen Augen
wie Nebel erscheinen (nodi quasi di stelle,/ ch'a noi paion quäl nebbia). Das
ferne Land als Ort einer Hoffnung ist aufgegeben. Was bleibt, ist der verlo
rene Blick in kalte Unendlichkeit, auf eine Natur, die den Menschen nicht
mehr als die Ameise achtet; denn beides gilt ihr gleich.14
Solche Ästhetik der Natur installiert das Reich der schieren Kontingenz.
Der Radikalismus, mit dem Leopardi die Ideale des 19.Jahrhunderts demon
tiert, ist ohne Beispiel. Der Ginster, der die entblößten Felder mit seinem
12
Leopardi, Gesänge 244/245
13
„L'antica natura onnipossente,/ Che mi fece all'affanno" (Leopardi, Gesänge 94)
14
Ebd. 256/257
304
E piegherai
sotto il fascio mortal non renitente
il tuo capo innocente.
15
Ebd. 260/261
16
F.Bandini in seiner Ausgabe der Canti (Mailand 1975) 304: „La solitudine del Leopardi
non puö essere piü completa."
305
Benn, Drei alte Männer. Gespräche, in: Gesammelte Werke, hrsg. von D.Wellershoff,
II (Stuttgart 1958) 403f.
306
geschichtslosen Urmeer der Seele"18. Denn Benn litt an der Krankheit des
Denkens und kondensierte Verse als Betäubungsmittel.
Hadesmotiv, Leidensmetapher und Trost der Morphine bilden hier ein Erlö-
sungssyndrom. Noch eindrucksvoller, weil unverhohlener, der Regressions-
wunsch in den Gesängen von 1913. Ein Traum von Bewußdosigkeit, der wie
in Wagners Tristan höchste Lust verspricht:
Diese Verse sind nicht nur vom Darwinismus durchtränkt, der um 1900 eine
mystisch getönte Lebensphilosophie erzeugte, sondern verraten auch gehei-
men Geschichtspessimismus. Die Sehnsucht nach vegetativer Ergriffenheit
konnte der junge Benn bei dem bewunderten J.P.Jacobsen wahrnehmen - an
der Figur des Niels Lyhne, der Schopenhauer Hebt und im Mikroskop neue
Welten entdeckt 21 . Die biologistische Mystik der Gesänge mag erklären, wes-
halb Ernst Jünger die Verse besonders geschätzt hat: „Em Zeugnis für das
Maß, in dem das Leiden sich seit Rousseau verdichtete. Dem schwebten
zwar auch ferne, doch humane Archipele vor" 22 .
Mit solchen Regressionswünschen endet das Zeitalter bürgerlicher
Rationalität. Bei Benn kommt neben der Verachtung für den Historismus
noch der Zug in das Exotische hinzu, der ihn empfänglich machte für die
Wallungen des Irrationalen. „Unerinnerlichkeit an das letzte Europäische;
Primitivität, das sind die kalten Reserven"23. Die politische Implikation dieser
Sätze, 1934 geschrieben, ist unüberhörbar, allerdings auch der Unterton fun-
damentaler Enttäuschung. Aus dem Opferfeuer, in dem Benn verbrannte,
was er zuvor angebetet hatte, ist Asche, die kalte Reserve geworden. Denn
Benn, der Großstadtdichter, der Asphaltliterat, suchte das Archaische, Wilde,
Vitale. Mit grimmiger Bereitschaft hatte er Urbanität und Individualismus
preisgegeben, ja Hitlers Machtergreifung in seinem Brief an Klaus Mann als
18
M.Rychner, in: Hillebrand 35
» Benn, Regressiv (SW 1,126)
20
Ebd. 23
21
Dazu H.Fritz, G.Benns Anfänge, in: Hillebrand 261 - 280
22
E.Jünger, Annäherungen. Drogen und Rausch (Stuttgart 1970) 450
23
Benn, Lebensweg eines Intellektualisten. 1934 (SW IV, 175)
307
2i
Dazu die abgewogene Darstellung von D.Wellershoff, in: Hillebrand 133 - 152
» Benn, Berliner Brief. Juli 1948 (SW V, 57)
* Benn, Dorische Welt. 1934 (SW IV, 141)
27
Ebd. 152
28
Benn, Zum Thema Geschichte. 1943 (SW IV, 303)
308
die mit Nietzsche beginnend aus der Geschichte heraus in ein Unendliches
zielt. „Nihilismus ist eine innere Realität, nämlich eine Bestimmung, sich in
der Richtung auf ästhetische Deutung in Bewegung zu bringen, in ihm endet
das Ergebnis und die Möglichkeit der Geschichte" 29 . Vorformen dieser
Fluchtbewegung waren die Exotismen, die Benn in den zwanziger Jahren in
seine Lyrik einmontierte. Der Großstadtmensch par excellence, der in
Doppelleben die Naturfremdheit als Voraussetzung modemer Poesie nannte,
hat 1922 im hektischen Berlin sich dennoch nach dem roten Abend auf
Palau gesehnt:
Das expressionistische Rot dieses Seestücks, wie einem Bild von Nolde,
Pechstein oder Heckel entnommen, signalisiert Erotisches, das sich mit To-
deslust, mit Entformungsgefühl paart: „Singe, auch aus den Kelchen der
Frau / läßt es sich trinken". Das Wogen der See nimmt und gibt auch hier
Gedächtnis, treibt Erinnerungstrümmer heran, aber keine Liebe, die fleißig
die Augen heftet. Stattdessen — wie T.S.Eliot seinen Sweeney im aristophani-
schen Musical singen läßt — „birth, and copulation and death". Nur daß es
bei Benn, dem enttäuschten Romantiker, noch elegischer klingt:
Das Meer als großer Schoß, als gebärende und als verschlingende Göttin,
lockend und furchtbar in einem, erinnert an die mythische Urflut, aus der das
Leben kam — so wie Anaximander es im Frührot der Naturphilosophie am
Ufer der Ägäis sich erdachte: Daß im Feuchten die ersten Lebewesen ent-
standen seien, umhüllt von stachligen Rinden32. Mythos und Geschichte paa-
ren sich im Gedicht; das Meer als Ursprung des Lebens, als Kollektivge-
29
Ebd.
30
Benn, Palau (SWI, 58)
31
Ebd. 59
32
Fragment 30, in: W.Kranz, Vorsokratische Denker (3. Auflage Berlin 1959) 43
309
dachtnis, als Sintflut, als Zeugungsorgie, als Todestraum schwemmt sie heran
und spült sie wieder fort — Megalithen und Äsen, Cäsaren, Zeus und Charon.
Gottfried Benn konnte in seiner Landsberger Kaserne im Januar 1945
den Kanonendonner der Roten Armee hören, die heranrückte wie ein tödli-
che Brandung, als er das Gedicht Ach, das ferne Land schrieb. Geschichte und
Fluchttraum waren in seinem Werk und seiner Biographie niemals entgegen-
gesetzter als hier. Die Epoche selbst, das Reptil Geschichte schnappte nach
ihm, als er seine Chiffern des anderen Zustands montierte. Das ferne Land,
so unbetretbar wie jenes in Mignons Lied, wo die Zitronen blühn, existiert,
weil das Ich am Rande der Großkatastrophe nicht mehr auf Lebensrettung,
sondern auf Verse, auf hinterlassungsfähige Gebilde sinnt. „Ich gehe das Le-
ben an und vollende ein Gedicht. Alles, was sonst das Leben betrifft, ist
fragwürdig und unbestimmt" 33 . Der Ausgang aus der Geschichte ist reine
Illusion; ein paar Worte und Namen strudeln Natur, Entrückung, Kultur-
trümmer heran, Treibgut der Psyche, Tagträume in Block II, Zimmer 66;
selbst der Krieg geschieht wie vor Kulissen. Mit provozierender Kühle be-
kennt Benn seinen „persönlichen Unglauben an eine Bedeutung der ge-
schichtlichen Welt"34. Einzig Naturbilder - Kiesel, Schilf und Mond - liefern
noch die mentale Droge, um auszusteigen aus einem blutigen Wahn der
Vernunft, der Tod und Vernichtung über die Völker bringt:
Das ferne Land, heraufsteigend aus einem Ach, das ans Unendliche rührt, in-
spirierte Benn zu seinem Lieblingsgedicht im neuen statischen Stil: „das war
eine Augenblickssache u. steht mir nahe", wie er seinem Freund Oelze be-
kannte36. Asolo als Lebensform, mit dem Schimmer der Seen, im Alpenvor-
land Venetiens, wo die Düse begraben ist, der alle Kriegsschiffe, selbst die
englischen salutierten, als ihr Sarg auf der „Duilio" Gibraltar passierte -: nur
noch Reminiszenzen, schwebend über dem Abgrund der Zeit, die Namen
ein zart irisierender Schleier über dem Nichts. Was übrigbleibt, sind
Selbstgespräche des lyrischen Ich auf leerer Bühne, „ohne Beziehung auf
Nahes", umgeben von Totemfragmenten, archaischen Relikten, hineinragend
in den Realitätszerfall, in den imaginären Frühling von Asolo: Sogno di un
mattino di primavera hieß ein Stück von D'Annunzio, in dem die Düse die
Hauptrolle spielte. Das ferne Land lockt zu vagantischen Träumen: „etwas
Rosinenbrot im Rock" - doch dieser Taugenichts ist nicht mehr
Eichendorff, sondern ein abgerissener Nietzsche, auch er nur ein Schatten,
vorbei.
Die Verse, absolute Poesie, evozieren Natur kraft der Worte, stellen den Ast
in die Leere, auf dem die Vögel rasten. Daß Benn gerade das Motiv des Ein-
ruhens verwendet, mag eine Erinnerung an seine Nietzschelektüre sein, an
den letzten Aphorismus der Morgenröte, der überschrieben ist Wir Luftschiffer
des Geistes. Dort heißt es: „All diese kühnen Vögel, die ins Weite, Weiteste
hinausfliegen — gewiß! irgendwo werden sie nicht mehr weiterkönnen und
sich auf eine Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken. (...) Was geht
das aber mich und dich an! Andere Vögel werden weiter fliegen!"38 Mit
dieser Ästhetik erleuchteter Leere endet Benns Fluchttraum. Es ist kein Ort
für Hoffnung in der Welt, die Geschichte zermalmt ganze Reiche, doch der
gedichtete Ast hält sich aufrecht im Nichts. Von ihm können die Gedanken
weiterfliegen — zu neuen Meeren hin.
Der „Zusammenhangsdurchstoßung" galt Benns Poetik schon in den
Rönne-Novellen; das expressionistische Grundmotiv drängte zur Ganzheit
des Lebens. Seit Nietzsches und Haeckels Monismus war das „Leben", das
große Thema der Jahrhundertwende, mit mystischen Konnotationen besetzt.
Die Einheit von Leben und Geist wenigstens im poetischen Akt zu retten,
war für Benn der Antrieb seines Schreibens. Die Regression, bewußt herbei-
geführt, macht zum Eckstein der Dichtung, was die bürgerliche Rationalität
verworfen hatte: den Rausch, den Traum, die Trance, die Manie. Für Benn
sind sie die Äquivalente der „heiligen Wildnis", Residuen des verlorenen Sa-
kralen. Er scheute seit seiner Brüsseler Zeit 1915/16 nicht mehr davor zu-
rück, die Droge zu bemühen, um die Entgrenzung zu kosten - „den Ich-
zerfall, den süßen, tiefersehnten", wie ihn das Kokain gewährt39, oder einzu-
tauchen in die „trunkene Flut, trance- und traumgefleckt"40. Selbst eine
37
Benn SW 1,177
38
Nietzsche, Morgenröte § 575 (KSA 3, 331)
39
Benn, Kokain (SW I, 45)
40
Ebd. 56
311
Hymne an die Nacht verdankt sich dem Kokain: „sei, die mich aus der
Nervenmythe / zu Kelch und Krone heimgebar" 41 . Dagegen die Geschichte:
nur nackte Schädelstatten.
Der Dualismus von Kunst und Geschichte, der sich für Benn seit 1933
auftat, verstärkte sich während des Zweiten Weltkriegs. Erkenntnis der Lage
wurde fortan nicht nur zu einem lebenspraktischen, sondern auch poetischen
Prinzip. Im Oktober 1940, nach dem Sieg über Frankreich, der ein Triumph
für Hitler war, schrieb Benn an Oelze: „Es giebt innerhalb der geschichtli-
chen Welt kein Gut und Böse. Es giebt nur das Böse, meine ich. Wer das
nicht sieht, ist in der Substanz schmächtig und seelisch nicht herangereift.
(...) Es giebt nur die geschichtliche Welt — und den einsamen, inneren
Rausch"42. Zur kosmischen Regression aber gehört - darin blieb Benn dem
Vorbild Nietzsche treu — die Ewige Wiederkehr, der große Kreislauf:
„Komm - laß sie sinken und steigen, / die Zyklen brechen hervor". So sug-
geriert es das Gedicht Quartär, geschrieben 1946, als die Enttäuschung an der
Geschichte vollkommen war. Benns Fluchtträume verschleiern auch eine
Ästhetik des Todes. Ihr hat der Träumer gehuldigt, weil sein Kokettieren mit
dem Barbarischen, das der Nationalsozialismus heraufspülte, nach kurzer
Zeit in Depression und Ekel umgeschlagen war. Heil wird allein noch von
der Kunst erhofft. Ein mit Glanzlichtern der Mnemosyne illuminierter Nihi-
lismus, durchaus ethisch-ästhetische Lebensform, stößt alles Politische von
sich.
Das Fragment Roman des Phänotyp, von März bis Juni 1944 in der Kaser-
ne in Landsberg entstanden, nimmt unter dem vielsagenden Titel Der
Stundengott eine Umwertung aller Werte vor; die Vergänglichkeit der bürgerli-
chen Lebensmuster ist offenkundig geworden. Das Moralische und das Na-
turerlebnis, die Stimmungskunst, die Politik und ihr Pathos — alles brüchig
und überholt, mit einem Wort: historisch. .Jedem ist gegenwärtig, daß Poli-
tik, Umstürze, Kriege, mögen sie auch in den unaufhörlichen Folgen eine
Generation treffen (...), nach kurzer Zeit eine halbe Seite eines Geschichts-
buches ausmachen, oder auch nur eine Fußnote zum Text: die Flüge der
Schwalben und die Züge der Robben sind die gleiche Politik und die gleiche
Geschichte"43. Die Relativierung von Geschichte und Natur, um die das
Abendland riesige Theorie- und Erlebniskomplexe angelagert hatte, erfolgt
im Zeichen des Stundengottes. Das neue Wort, das er verkündet, heißt: exi-
stentiell. Benn faßt darin sein Artistenevangelium: „Herrichtung des Ichs zu
einer durchlebten, geistig überprüften Form (...) und keine Furcht vor dem
Ende" 44 . Mit nichts als dieser Botschaft rettet sich der Dichter aus dem Mal-
" Ebd. Zum biographischen Hintergrund vgl. W.Rübe, Provoziertes Leben: Gottfried Benn
(Stuttgart 1993) 1 3 3 - 1 5 4 {Im Irrgarten der Alkaloide)
« Benn, Briefe an Oelze 245f. (27.10.1940)
' 3 Benn, Roman des Phänotyp. Der Stundengott (SW IV, 389)
<* Ebd.
312
Das ferne Land liegt auf der Schneide dieser Verse, jenseits der Geschichte
unangreifbar. Benns Deszendenztheorie, gefaßt in eine eschatologische Trias,
sieht den Kältetod psychisch und physisch als unabwendbares Geschick Eu-
ropas, das seinen Sonnenlauf beendet hat. Benn zelebriert das nämliche Pa-
thos des Untergangs, das gleichzeitig Heidegger im Brief über den Humanismus
(1947) für seine Deutung des abendländischen Denkweges beansprucht.
Heideggers Kritik am Man, das die Wahrheit des Untergangs als eigenste
Möglichkeit des Daseins 47 nicht erträgt, findet ihr Gegenstück in Benns Kult
des gezeichneten Ich, das da ist, um der Leere standzuhalten. Das ferne Land
aber ist, wie Leopardis Unendliches, nur zerebrale Fiktion, erzeugt von Ent-
grenzungsgefühlen. Benn war gewillt, den korrumpierten Historismus der
bürgerlichen Kultur durch Kunst zu überwinden. So versteht sich sein
poetologisches Credo, schon im Berlin von 1927 gegen die Zeit gesprochen:
„Regressionstendenzen, Zerlösung des Ich! Regressionstendenzen mit Hilfe
des Worts, heuristische Schwächezustände durch Substantive — das ist der
Grundvorgang, der alles interpretiert" 48 . Die tiefste Regression zielt auf den
Tod. Dieses Sehnen dem Abgrund zu ist Benns Versuch, sich auf diskrete
Weise dem Heiligen zu nähern: „Verfeinerung, Abstieg, Trauer" heißen die
Leitmotive in Valse triste, 1936 geschrieben, in persönlich schwieriger Zeit.
Es sind Signaturen einer ungezähmten, abweisenden Natur, die das Heilige
gleichsam versiegeln:
45
Ebd. Zusammenfassung 421
46
Benn, Quartär I (SW I, 178)
47
Heidegger, Sein und Zeit 263
48
Benn, Epilog und lyrisches Ich. 1922/27 (SW III, 133)
313
Das Faszinosum des Todes ist ein romantisches Urmotiv, das bei Benn in
unromantischer Zeit, 1946, wieder aufsteigt — diesmal als Hadesbeschwö-
rung. Das lyrische Ich, das in der Maske des Odysseus auftritt, opfert das
Lebende, damit die Schatten sprechen: „Ich schnitt die Gurgel den Schafen /
und füllte die Grube mit Blut"50. Das ferne Land weckt die Erinnerung an
die Auferstehung. Doch Benns Vorbild ist nicht Christi Höllenfahrt, die
Rilke vormals bedichtet hatte, sondern die Nekyia-Episode aus der Was: „Ein
jeglicher trank, erzählte / von Schwert und Fall und frug"51. Nach dem Ende
der Metaphysik ironisiert Benn das Finale des Sinns als großes Spiel mit
Metaphern. Es wird - auf Nietzsches Spuren - gespielt vom „alten Spinnen-
mann", der wie auch immer als Gott die Fäden zieht, in denen die Welten,
die Opfer, die Worte sich fangen. Was bleibt, ist der Regressus ad inferos,
verklärt von Relikten des Mythos und der Eschatologie. So läßt der Dichter
seinen letzten Menschen — als Typus verwandt jenen fragilen Figuren, wie
Giacomettd sie schuf - herauswandern aus dem verkommenen historischen
Szenario:
49
Benn SW I, 69
» Benn, Quartär II (SW 1,178)
" Ebd.
i2
Benn, Quartär III (SW 1,179)
» Benn, Briefe an Oelze 378 (18.1.1945)
314
morte", die dem Dichter in Zeiten des Krieges nahe kam — ablesbar an
jenem Vierzeiler auf das Bild Asphodeles von Matisse, den Benn auf einer
Postkarte an F.W.Oelze schickte, datiert vom 29.9.1941, im Briefkontext ein-
gerahmt von Erörterungen über Rilke und den Rußlandfeldzug54. So wirft
Politik ihre Schlagschatten über die Poesie pure: Mit deren Asphodelen wird
die Geschichte der Gewalt entsühnt. Im Vers, der sie pflückt, ist auch das
Sinnsystem Natur getilgt und aufgehoben — so wie das Unendliche, das
Leopardi einst suggerierte, von Benn im Akt des Beendens berührt wird.
Also „fini du tout"? Die Krisis der Moderne, die der Lyriker Benn zugleich
vorangetrieben und erlitten hat, bestätigt, daß die klassische Form der
Regression der Mythos bleibt. Dauerhafter als jede Historie bewahrt er das
ferne Land vor dem Vergessen.
Aber das ferne Land kann auch ein Meer sein. In Jean Gionos Roman
Fragments d'un Paradis, im Frühjahr 1944 entstanden, ist der Ozean selbst ein
Sinn- und Geheimnisträger und flutender, wilder Text. Die Geschichte des
20.Jahrhunderts hat daran mitgeschrieben: Giono, der schon den ersten
Krieg nicht vergessen konnte, suchte wie Ungaretti ein „unschuldiges Land".
Im September 1939 wurde der überzeugte Pazifist von den französischen
Behörden verhaftet und im Militärgefängnis Fort St.Nicolas in Marseille in-
haftiert. Dort hörte er das Meer an die Mauern schlagen wie ein Versprechen
von Freiheit. Fünf Jahre später, von Februar bis Juni 1944, diktierte Giono
den Roman, der in Wahrheit ein großes Gedicht ist; der Autor bricht seine
Arbeit ab, als die Alliierten in der Normandie gelandet sind. Giono, der Pro-
venzale aus dem Binnenland, der nicht schwimmen konnte und nie das Meer
befuhr, schreibt sich im ozeanischen Tagtraum aus der Geschichte heraus.
Das literarische Vorbild des mythischen, von Leviathanen und anderen Ur-
geschöpfen bevölkerten Meeres fand er in Melvilles Moby Dick; in den dreißi-
ger Jahren hatte er ihn übersetzt und essayistisch gefeiert. Melville und
Baudelaire, der Puritaner und der als Dandy maskierte Moralist, liefern die
poetischen Modelle für das Anrennen gegen die Grenzen der Wirklichkeit.
Auch für Giono ist die Allegorie die letzte Zuflucht des Metaphysischen.
Zwei Gewährsleute kommen hinzu, die im Roman mit Absicht genannt sind:
Milton, der Dichter des Paradise host, und William Blake, der die Hochzeit
von Himmel und Erde besang.
Das Meer der Welt, uralter biblischer Topos für Chaos, Revolte und
Wildheit, ist jenes Element, das hinreißt und zum Entdecken verführt. Das
Fremde, als Wunschziel und dionysische Herkunft, ist anwesend im Namen
des Schiffes „L'Indien", auf dem Giono seine Männer hinausschickt. Aber
im Meer sind Aufruhr und Stille kein Widerspruch; Giono trägt beides in
sein Erzählen hinein. Grundgefühl ist das Thaumazein, das Staunen. Das
gibt dem Text etwas von paradiesischer Unschuld - eine zweite Naivität,
hindurchgegangen durch das Erlebnis der Katastrophengeschichte. Das
Staunen entzündet sich an den Wundern der Schöpfung, den Urtieren, die
für die heilige Wildnis des Ozeanischen stehen - an Hai, Rochen und Rie-
senkrake. Sie ähneln den maritimen Monstern des Alten Testamentes, welche
die Kirchenväter als Personifikationen des Bösen, des Gesetzlosen und der
gefallenen Natur interpretierten. Giono umgibt seinen Leviathan mit luziferi-
scher Aura. Der ungeheure Rochen mit seinen Riesenflügeln, der die Seefah-
rer erschreckt und entzückt, ist ein gefallener Engel, dessen Zuckergeruch
anzieht und ekelt zugleich und dessen Farbenspiel, Blendwerk der Tiefe, die
Augen der Männer betört, so daß sie übergehen55. Das Geheimnis seines in-
fernalischen Parfüms, worin Blumen und Aas sich vermischen (ein sehr
Baudelairesches Motiv), treibt die Mannschaft zu seltsamen Spekulationen.
Schließlich findet ein humanistisch gebildeter Bootsmann — Gionos Schiff ist
auch eine Arche abendländischer Episteme inmitten der Sintflut des Krieges
- daß die Empfindung, die er auslöst, eine „antiarkadische" sei, „etwas, das
Arkadien oder das Paradies leugne"56. Die Wildheit der wechselnden Farben,
in welche der Rochen sich kleidet, ein magisches Blendwerk des Abgrunds,
entzieht sich dem Versuch, ihr sprachlich beizukommen. Die Wildheit ist bei
Giono Allegorie der Angst, und wie bei Kierkegaard, der den Begriff Angst
bis auf den Grund durchleuchtet hat, präsentiert sie sich als ein Begehren,
das vor dem Begehrten sich fürchtet. Mit solchen Ambivalenzen hat Giono,
jenseits aller Mythologie der Psychoanalyse, teil an der Modernität. Seine
Abenteuer sind metaphysische, seine Erzählung, wie er im Tagebuch no-
tierte, ein „kosmischer Kriminalroman" 57 . Das ferne Land der Seele ist jenes,
wo die Angst das Tor zur Unter- wie zur Überwelt bewacht.
Giono verwendet die Angst zur Illustration einer monströsen Erhaben-
heit. Sie nimmt Gestalt an in jenem Riesenrochen, der vor den Männer der
„L'Indien" als Dämon der Tiefe auftaucht. Angekündigt wird er durch eine
Erstarrung des Meeres und durch einen widerlich süßen Geruch, der so in-
tensiv ist, daß man Chlorkalk auf dem Deck verstreut. Dann erscheint das
Traumtier, der Fisch in Vogelgestalt, der ins Weltmeer geworfene Engel:
55
Giono 42
56
Ebd. 51
57
Ebd. 322 (Nachwort von S.Broser)
316
Leder hatte erkennen lassen, die zahllosen Farben und hellen Schim-
mer, wie sie, wenn es windig ist, im Gefieder eines Vogel spielen.58
Das Zwitterwesen entfaltet die Farbe luziferischer Verführung, „an der die
Augen sich nicht sattsehen konnten, und die die Herzen mit einem Leucht-
glanz von unerhörter Traurigkeit erfüllte"59. Der Ozean, der solche Wesen
birgt, ist auch das Meer der Libido — das Giono nicht als Freudianer, sondern
als Dichter beschwört. Das Monstrum ist die verkörperte Ambivalenz des
Begehrens, noch im Verschwinden die tiefste Irritation verbreitend, seine
gewaltsame Spur durch das Erinnern ziehend: „Schließlich verschwand es
und hob dabei jäh einen riesigen, lanzettförmigen Schwanz über zwanzig
Meter hoch in die Luft, dessen Unterseite im Aufblitzen einen rosigen, küh-
len Fleischton wies, der an Frauenfleisch erinnerte und dessen Anblick die
Mannschaft dumpf aufseufzen ließ"60. Das Inkarnat des gefallenen Engels
begegnete schon bei Kafkas Dienstmädchen Rosa (aus dem Landarzt) und im
Rosa Akt von Matisse. Auf der Suche nach dem naturalen Ursprung des Be-
gehrens setzt Giono in einer Ästhetik des Schocks auch die Erotik der Far-
ben ein. Er läßt keinen Zweifel daran, daß man mit jeder Welle der Imagina-
tion an Dingen vorübersegelt, die (wie es Baudelaire formulierte) einen „fris-
son galvanique" erzeugen, weil sie im Spannungsfeld zwischen Erhabenem
und Widerwärtigem die Seele selbst zum Zucken - oder zum Tanzen brin-
gen. Die herkömmliche Bezeichnung dafür lautet: Hölle und Paradies. Giono
rettet das Metaphysische vor Sinnvernichtung, indem er es als ein Phantasma
ausgibt. Im gleichen Ton hatte schon Odysseus von Kirke und dem
Phaakenland erzählt. Die Seefahrt selbst, archetypisch genug, ist der Auszug
aus dem Ägypten der Welt, ihr Ziel eine Vita nuova. Die Anspielung auf
Dante hat ihre Berechtigung. Wie Dantes Odysseus, getrieben vom Eros des
Entdeckens, aufbricht zu einer letzten Fahrt jenseits der Säulen des Herkules,
so erinnert auch Gionos Kapitän seine Leute daran, daß sie nicht geboren
sind, um wie das Vieh zu leben:
Diese Reise aus der Geschichte heraus ist Tollheit, ja mehr: ein Sakrileg. Als
solche beschreibt sie Dante im 26.Gesang seines Inferno; der späte Borges hat
s« Ebd.42
59
Ebd.
60
Ebd. 44
61
Dante, Inferno XXVI, 118-120: „Bedenkt, wes hohen Samens Kind ihr seid/ und nicht
gemacht, um wie das Vieh zu leben!/ Erkenntnis suchet auf und Tüchtigkeit".
Dt. von KVossler
317
der Passage einen eigenen Essay gewidmer52. Odysseus und Dante, Borges
und Giono stimmen darin überein, daß der Hunger nach dem Unbekannten
jedes Risiko rechtfertigt, sogar das Seelenheil, und sie treffen sich darin mit
Melville und Baudelaire: „Pour n'etre pas change en betes, ils s'enivrent /
D'espace et de lumiere et de cieux embrases"63. Auch Gionos Kapitän ist be-
seelt vom Willen zur Grenzüberschreitung. Was er sich und seinen Männern
verspricht, ist ein metaphysisch motiviertes Abenteuer. Als Antimodernist
verstößt er gegen das Dogma der Entzauberung und sucht nach dem Ge-
heimnis, dem Wunder, dem Absoluten. „Ich selber bin mir bewußt, daß es
sich hier weniger um eine Seefahrt als um ein neues Leben handelt"64. Der
Bruch mit der Profanität, für welche die verschmähte Technik steht - die
„L'Indien", die da 1944 in See sticht, ist ein Segelschiff -, ist sprechende Ab-
kehr von jeder Fortschrittsgeschichte. Das Schiff besitzt eine Funkanlage;
aber die Männer haben nicht vor, sich ihrer zu bedienen. Was a. jour ist, zeigt
sich als Unheil: „Es entspricht nicht unserem Vorhaben und kommt uns
nicht zu, die Verbindung mit der in Aufruhr geratenen Welt zu erhalten.
Darauf zu bauen, sie könne und werde uns Hilfe und Rettung bringen, ist
sinn- und zwecklos. (...) Wir brechen auf, um nicht in Tiere verwandelt zu
werden" 65 .
Der neue Odysseus des 20.Jahrhunderts ist entschlossen, alle Verbin-
dungen mit einer depravierten Zivilisation zu kappen. Die Suche nach dem
Land des Absoluten führt mitten im technischen Zeitalter, während sich Im-
perien zerfleischen, zum Exodus aus der politischen Welt: von program-
matischer Ziellosigkeit, versammelt er alle Eskapismen des 19Jahrhunderts.
Die verdrängte Natur kehrt zurück in den Monstern, die heiligen Schauer
erzeugen. Baudelaires melancholischer Wunsch „anywhere out of the world"
verwandelt sich bei Giono, in der Ära der Streitenden Reiche, in radikale
Absage an die Geschichte. Die zeitgenössische Literatur im französischen
Sprachraum bietet kein Beispiel dafür. Zu nennen wäre allenfalls St.John
Perse, dessen Habitus freilich ein völlig anderer war — ein Rhapsode der
Kontinente, nicht des Meeres. Nach dem Debakel Frankreichs suchte auch
er nach poetischen Ausgängen aus der Geschichte; doch brauchte er die
Weite und Fülle des Terrestrischen, um sich zu inspirieren. Sein Exodus in
das unschuldige Land führte ihn am Ende seines Großgedichts Vents (1945
im amerikanischen Exil geschrieben) zum indischen Weltenbaum, der die
unsterbliche Natur verkörpert, die sich inmitten aller Zerstörungsgeschichte
behauptet:
62
Borges, Die letzte Reise des Odysseus (Frankfurt/M. 1992) 22 - 26
63
Baudelaire, Die Blumen des Bösen 428/429: „Um nicht in Tiere verwandelt zu werden,
berauschen sie sich / An Raum und Licht und an entflammten Himmeln" (Le Voyoge 1).
64
Giono 46
65
Ebd. 65
318
Als die Gewaltsamkeit das Bett der Menschen erneuert hatte auf
Erden,
Nahm ein sehr alter Baum, ein ganz endaubter, den Faden seiner
Sprüche wieder auf...
Und ein anderer Baum von hohem Rang stieg schon empor aus dem
großen unterirdischen Indien,
Mit seinem magnetischen Blatt und seiner Last von neuen
Früchten.66
66
St.John Perse, Dichtungen (Darmstadt - Berlin - Neuwied 1957) 406/07. Dt. von F.Kemp
67
Gömez Davila 31
68
Ebd. 167
319
69
Ebd. 61
70
Ebd. 103
71
Ebd. 159
72
Ebd. 124
75
Baudelaire, Die Blumen des Bösen 438 (Le Voyagt VII)
7J
Giono 75
75
Ebd. 212
320
Liturgie des absoluten Staates bildet den Hintergrund für Gionos Natur-
ästhetik. Die Religion der Aggressivität, die ihr eigenes Opferbedürfnis er-
zeugt, den Todestrieb in ihre Dienste nimmt, ist fehlgeleitetes Verlangen
nach Sakralem. Dem Götzen Politik stellt der Dichter die Erinnerung ans
Paradies entgegen; sie entfaltet utopisches Potential. „Ich will, daß wir als die
ersten trunken von dem heiligen Absinth sind, der die Gärten der Erde er-
füllt hat"76. Der von Piaton im Timaios beschriebene Zustand des Enthu-
siasmus, der heiligen Wildheit, öffnet dazu die Tür. Die Absinthmystik, ka-
nonisiert durch Rimbaud, erkennt im Künsder den Ekstatiker schlechthin.
Der Kapitän sucht eine Ewigkeitserfahrung; vom Szenario her wird sie
vermittelt durch ozeanische Natur. Die Langeweile, welche die Seele verar-
men läßt und die Erscheinungen armselig macht, findet nichts, was ihr ge-
nügt; sie macht immun selbst gegen Todesfurcht. Als Seelenwesen sind wir
zum Ennui verurteilt; er treibt uns zur Grenzüberschreitung. Für Giono ist
die Einsamkeit der Entdecker das Signum einer Elite von Metaphysikern,
welche die Volksbeglücker mit Verachtung straft, selbst wenn sie einen
Kreuzzug für die Demokratie führen. Bemerkenswert bleibt, daß der Autor
ausgerechnet vor der Befreiung seines Landes in die poetische Emigration
geht, der drohenden Wirklichkeit ausweicht, auch hier auf den Spuren
Baudelaires: „Notre äme est un trois-mäts cherchant son Icarie"77. Allein das
Ozeanische bietet die „unermeßliche Weide", nach der die Menschen Ver-
langen tragen78. Giono zitiert den Krieg als historischen Gegentext — spar-
sam, doch sehr bewußt. Gerade diesem todbringenden Text will sein Ge-
dicht entrinnen. Es ist von Kämpfen der französischen Armee in Belgien
und von Dünkirchen die Rede, also von realen Ereignissen des Sommers
1940; und gleichzeitig, in einer Art von surrealistischer Collage, vom Narzis-
sen- und Leichengeruch, den der Rochen, das Tier aus der Tiefe verströmt.
Das Meer, Inbild von Freiheit und Wildheit, bringt bei Giono eine anarchi-
sche Mythologie hervor, worin Chaos und Ordnung magisch oszillieren. Es
ist, als wolle der Autor das flüssige Element gegen die Todes er starrung des
Krieges mobilisieren.
Das Absolute aber, das ferne Land, dem alle Suche gilt, bleibt so imagi-
när wie jene Insel Sachsenburg, die Gorri, der Segelmacher, nachts im astra-
len Licht erblickt. Seine Vision wird zwar ins Logbuch eingetragen, doch exi-
stiert die Insel nicht in den angegebenen Positionen, das Phantasma verwei-
gert sich dem Koordinatensystem. So ergeht es mit Kirkes Insel und Dantes
Läuterungsberg; man muß sie in Träumen, also in Texten suchen, nirgends
sonst. Denn die Ästhetik ist das Abenteuer. Gionos Text begibt sich selbst
auf jene „wahnwitzige Fahrt" (varco folle), wie sie Dante seinem Odysseus
76
Ebd. 213
77
Baudelaire, Die Blumen des Bösen 430 (Lc Voyage II)
78
Giono 79
321
zuschreibt 79 . Bei dem Versuch, die Dichtung vor der Wirklichkeit zu retten,
halten auch berghohe Wellen nicht auf. Die Insel Inaccessible mit ihrem
sprechenden Namen ist, poetischer Logik gemäß, unbetretbar — ein Basalt-
block im Mythenmeer, umtost von apokalyüscher Brandung, überlagert von
einer dunklen Wolke wie einst der Sinai. Ein wilder, ein heiliger Ort, ein Al-
tar der Natur, aller Geschichte entrückt: Als würden hier die neuen Tafeln
einer phantastischen Theognosie geschrieben. Erst die benachbarte Insel
Tristan-da-Cunha erlaubt die literarische Landung. Der Name, historisch und
geographisch verbürgt, gehört noch der Menschenwelt an. Doch die Gestalt
der Insel — ein stumpfer Vulkankegel — erinnert an Dantes Läuterungsberg.
Noch merkwürdiger ist, daß sie bewohnt scheint; es gibt ein paar kärgliche
Hütten aus alten Planken, an einer bewegt sich ein Vorhang. Die Männer
finden zwei verstaubte Bücher — den Don Quijote auf spanisch und Miltons
Paradise Lost — und einen Korb mit Frauenkleidern, an denen noch Schweiß-
geruch haftet. Das verschenkte Motiv reicht aus, um die ganze Passage mit
einem erotischen Rätsel zu würzen: Kirkes oder Kalypsos Insel? In diesem
Phantasma, von Männern erdichtet, verbirgt sich eine als Verführerin ima-
ginierte Natur. Die Insel selbst, fast kreisförmig und sich nach oben verjün-
gend, ist wie der Rock einer sich drehenden spanischen Tänzerin80. Wohl
verlockt das Symbol, doch das Geheimnis wird nicht gelüftet. Natur selbst
schiebt sich vor die Metapher und verdunkelt sie; denn die Rockbänder um-
schließen den Rand eines Kraters und keine Mädchentaille. Die Insel, abge-
schliffen vom Wind und wie lackiert, ist einsam und unfruchtbar. Was sich
wie Vogelzwitschern anhört, ist Wind, der in den Felsspalten singt. Gionos
Poetik der Desillusion biegt das Phantasma ab. Wirklich ist nur die unerbitt-
liche Einöde über Tausende von Kilometern hin. Darin verrät sich der
Wunsch, die Katastrophengeschichte bis an den Rand des Denkens zu ver-
drängen: die Einöde (desert) als Ort des Friedens.
Der Wind, der kein Bett hat, wird bei Giono zum Pneuma, das über der
Öde des Urmeeres schwebt. Der Dichter sucht Natur des Schöpfungs-
anfangs. Noel Guimard, sein alter ego, taucht ein in die Bewegungslosigkeit
der Elemente. Liegend am Hang des Vulkans, beginnt er „mit unendlichem
Genuß die unbedingteste Leere anzuschauen, die auf Erden vorstellbar ist"81.
Die Versenkung im Anblick des Nichts - das wie bei Mallarme identisch ist
mit dem Azur - ist Augengenuß und eine Art Kommunion mit der Welt.
Hier kehrt das Nunc stans der Mystiker wieder. Vollkommene Einsamkeit ist
wie in Leopardis Ulnfinito Voraussetzung von Ewigkeitserfahrung. Der So-
lipsismus daran ist das unabwendbare Stigma der Modernität, des in sich
selbst verlorenen Subjekts. Guimard, dem es gelingt, alle Erinnerung an Irdi-
sches auszulöschen, erfährt sich selbst als Mittelpunkt der Welt. Er ist am
79
Dante, Paracüso XXVII, 82f.
80
Giono 149
81
Ebd. 156
322
Ziel seiner Reise. Vom Berg in den Himmel gehoben, erlebt er die Liturgie
des Nichts. „Endgültig war es ihm gelungen, die Welt ringsum zum Ver-
schwinden zu bringen"82. In großartiger Synästhesie, die an gemalte Visionen
Van Goghs unter provenzalischem Himmel erinnert, nimmt Guimard die
Sterne als Glutsymphonie, als astrales Knistern und Singen, als Farbgestöber
wahr. Das ferne Land, das unbetretbar schien, tut sich sich auf in der Kon-
templation. „Sorglich umschlossen ihn die Sterne und hüllten ihn in eine
vollkommene Kugel ein"83. Die Sphäre als vollkommene Figur verbindet die
griechische Kosmologie mit Dantes Ästhetik des Paradiso Celeste. Abenteuer
und Mystik werden eins.
Dagegen sieht Giono die eigene Zeit beherrscht von mentaler Verar-
mung und tödlicher Langeweile. Sie ist blind für Wunder und Geheimnis;
deshalb verwirft er sie. Der Tyrannei des Tödlich-Faktischen setzt der ver-
spätete Romantiker die naturale Freiheit der Phantasie entgegen. Das Auf-
tauchen der Monster zwar rührt die Seele auf, der Krieg der Menschen aber
tötet sie. Giono hatte Gründe genug, die Moderne als Zeitalter psychischer
Verödung, verbrecherischer Politik und diabolischen Geschwätzes zu erken-
nen. Seine Kritik an der Profangeschichte ist ebenso radikal wie die gewisser
mittelalterlicher Theologien, die in augustinischer Nachfolge stehen. Doch
Giono, der in seinen Büchern immer wieder den „Gesang der Welt", den
„chant du monde" anstimmt, verpflanzt das Sakrale mit kühnem Griff in die
Wildnis. Natur, „auf die man längst nicht mehr gefaßt war", läßt von Zeit zu
Zeit Menschen erstehen, die glauben, daß man auch körperlich ins Paradies
gelange84. Diesen Häretikern gilt seine ganze Sympathie. Nicht zufällig ist die
Provence, der Jean Giono enstammt, ein altes Ketzerland. Seine Apologie
des Wilden als des Heiligen kleidet Giono in eine Mythostheorie en minia-
ture: „Aus eben diesem Grunde haben die Menschen, die weniger zivilisiert
als wir sind, die jedoch (und ich sage in vollkommener Absicht 'jedoch1)
naiver als wir sind, den Ursprüngen näher, fähiger, die unmittelbare Nähe der
großen Geheimnisse zu spüren, sich eine Art Vorratskammer an Ungeheuern
angelegt"85.
Das ferne Land empfängt seine Entdecker allegorisch: mit einer Vogel-
wolke über dem Meer (bezeichnenderweise sind es die Albatrosse
Baudelaires). Doch des Phantastischen ist nun kein Ende mehr. Was wie eine
Eisscholle aussieht, wimmelnd von Vögeln, enthüllt sich als Rücken eines
Riesenkraken. Er ist das Gegenstück zu Melvilles weißem Wal, der Inbegriff
des naturalen Bösen, doch geistbegabt, einer der wahren Archonten der
Tiefe. Von Zeit zu Zeit schleudert das Ungeheuer einen seiner weißen Fang-
arme in die Luft, als wollte er den kreisenden Vogelschwarm streicheln. Der
82
Ebd. 165
83
Ebd. 166
84
Ebd. 204f.
«5 Ebd. 203
323
und Wasser. Doch fügt sie ihnen als spirituelles Element das Licht hinzu,
sein Farbenspiel und irisierenden Schleier über dem maritimen Abgrund. In
diesem Schein wird die Natur erlöst. Am Ende treiben die Männer auf ihrer
Arche in Nebel und Regen umher, und dennoch mit dem Gefühl der Frei-
heit. Bei aller Irrfahrt erfahren sie die Lust, im Uferlosen einen Kurs zu hal-
ten - auch wenn das Meer, wild geworden wie jener Gott, der einst Odysseus
verfolgte, mit Tausenden von Walen in den Himmel springt. Denn die Ge-
fahr kommt nicht vom Ozean, sondern vom Tod der Seele. Er ist es, der
ganze Kulturen verwüstet: 1944, als Giono sein Buch diktierte, und weiter
bis heute im Laufe der Unheilsgeschichte. „Darum sind alle Männer des
Schiffes inständig bemüht, in sich eine Seele zu entdecken"89.
89
Giono 308
Kapitel 12
Sinnhorizont Natur. Ästhetische Rettungsversuche
H.H Jahnn, Die Nacht aus Blei. Kurze Prosa und Essays, hg. von U.Bitz und U.Schweikert
(Hamburg 1994) 82
326
phern, und Ereignisse können nur als „Erzählung" existieren2. Zur Dialektik
der Vernunft aber gehört, daß der historische Prozeß selbst an den Punkt
gelangt ist, da die Geschichte als Sinninstanz abdankt. Phantasmen wie Welt-
geist, Entwicklung und Fortschritt haben keine Entsprechung in der Wirk-
lichkeit. Seit Voltaire das Wortspiel „Philosophie der Geschichte" erfand, hat
eine Sinnindustrie zu florieren begonnen, von der in erster Linie die Macht-
politik profitierte. Ihre Grundlage ist die Naturvergessenheit. Nicht umsonst
träumte der heimliche Romantiker Adorno in seiner Ästhetischen Theorie von
einer „Resurrektion der Natur", die theologische Implikation des Begriffes
nicht scheuend. Die Realgeschichte selbst hat uns belehrt, daß wir nicht
Götter, sondern aus Erde sind. Notwendig ist daher eine neue Ästhetik der
Natur als Grundlage einer spirituellen „Erdkultur", wie Beuys es nannte,
oder - politischer gefaßt - eines „Erd-Vaterlandes", wofür der Soziologe
Edgar Morin plädierte3. Vor allem die Chimäre der Entwicklung wird von
Morin scharf kritisiert. Man muß nicht so weit gehen und mit dem Pathos
der Sterblichkeit ein „evangile de la perdition" predigen, um eine neue Ver-
wurzelung im Vaterland Erde attraktiv zu machen. Morins Abkehr vom car-
tesianischen Fortschrittsgedanken ist gerade durch die tragischen Aspekte
der Geschichte motiviert. Aber der Paradigmenwechsel von Geschichte zu
Natur hat nicht nur mit Mentalitäten zu tun, er rührt auch an die ethischen
Grundlagen von Politik. Das Idol des Homo faber, seit der Aufklärung feti-
schisiert (nicht ohne Beistand des Christentums), ist von seinem Sockel zu
holen. Sein Kult verhindert die Achtung vor der Würde der Natur und die
Bewahrung der Schöpfung.
Inzwischen ist die Naturzerstörung weit gediehen. Der prometheischen
Praxis folgen mentale Verwüstungen. Daß der Mensch in seinem Hochmut
nicht wahrhaben will, daß die Erde, auf der er mühsam lebt, das Paradies ist,
beschrieb schon Dostojewskij in den Brüdern Karamasow (1880). Den religiös-
ethischen Kontext bildet der Abfall von Gott und die Suche nach einer gött-
lichen Erde, die sich am ehesten kindhaften Augen zeigt. Die Brüder
masow, von Hause aus ein Kriminalroman, locken mit Sensationen zu einer
Ethik christlicher Weltliebe hin. Durch den Mund des Starez Sosima ver-
kündet Dostojewskij eine damals unbeachtete Naturtheologie: „O Mensch,
überhebe dich nicht den Tieren gegenüber; sie sind sündlos, du aber in all
deiner Erhabenheit verseuchst die Erde durch dein Erscheinen auf ihr und
hinterlassest die Spuren deiner Fäulnis"4. Ein christlich gefärbter Pantheis-
mus, durchaus mit franziskanischen Zügen — der Sünder soll selbst die Vögel
um Verzeihung bitten - situiert die Schöfung als Allzusammenhang, als uni-
versale Vernetzung. Darin erweist sich Dostojewskij als Vorläufer ökologi-
2
Dazu H.White, Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung
(Frankfurt/M. 1990)
3
E. Morin, Terre-Patne (Paris 1993)
4
Dostojewskij, Die Brüder Karamasow 429
327
scher Ethik. Das Kleinste, ob Blättchen oder Sandkorn, hängt mit dem
Größten, mit Himmel und Erde zusammen. Auch Dostojewskij kennt eine
Epiphanie der Natur, die sich im staunenden Menschen ereignet; denn
kindhaftes Staunen und Glauben sind eins. „Alles ist wie ein Ozean, alles
fließt und berührt sich, bringt man es an einer Stelle in Bewegung, so hallt es
vom anderen Ende der Welt wieder"5. Solche Naturmystik ist auffällig bei
einem Autor von Aktionsromanen. Doch das organologische Weltbild der
großen Synthese entspricht der Tradition russischer Orthodoxie; zum me-
chanistischen Denken der Aufklärung steht es in völligem Gegensatz. Be-
wußt konfrontiert Dostojewskij die Logik der Maschine, die tödlich-faktisch
ist, mit der chaotischen Ordnung des Waldes als Ausdruck lebendig-phanta-
stischer Vielfalt. „Schöneres als den Wald kenne ich nicht" läßt er den Vogel-
fänger zu Sosima sagen6. Der Wald ist hier nichts anderes als Abbreviatur
heiliger Wildnis.
Der Vatermord der Brüder Karamasow wird aufgefangen durch eine
Mystik der Mutter Erde. Beim Anblick des gestirnten Himmels über sich er-
fährt Aljoscha das Sittengesetz in der eigenen Brust — und damit ein Ganz-
heitsgefühl, das ihn so überwältigt, daß er zu Boden stürzt, um die Erde zu
küssen. Was Kant in eine karge Maxime gepreßt hatte, entfaltet sich bei
Dostojewskij zu pantheistischer Lyrik, die bei ihm Seltenheitswert hat: „Seine
Seele, die von Entzücken erfüllt war, lechzte nach Freiheit, nach Raum, nach
Weite. Über ihm wölbte sich hoch, unabsehbar hoch die Himmelskuppel,
voll ruhig strahlender Sterne. Vom Zenith bis zum Horizont erstreckte sich
die in zwei Bänder geteilte, blaß schimmernde Milchstraße. (...) Die irdische
Stille schien mit der himmlischen zu verschmelzen, das Geheimnis der Erde
sich mit dem der Sterne zu berühren... Aljoscha stand, schaute, und plötzlich
stürzte er zur Erde nieder" 7 . In dieser Naturekstase fließen Schönheit und
Wahrheit zusammen. Dostojewskijs Roman schöpft aus utopischem Fundus,
der sich dem drohenden Paradigma einer Maschinenwelt ethisch und ästhe-
tisch widersetzt8. Das Ästhetische lebt von der Mnemosyne, von der Erinne-
rung an den ersten Blick. Sie ruft herauf, was einmal war und wieder werden
soll: das Paradies. Als abwesendes, ja als verlorenes ist es nur kraft der Ek-
stase wiederzugewinnen. Der Hochmut der autonomen Vernunft, die dem
Schöpfer die Eintrittskarte in die Welt zurückgibt, verführt Iwan Karamasow
zu der Maxime „Alles ist erlaubt". Erst dieser Hochmut ermöglicht den Va-
termord, der kryptisch ein Gottesmord ist. Für Aljoscha ist der wahre Vater
jedoch der Starez Sosima. Dessen Lehre entwirft eine Gegenwelt, in der
Mensch und Natur im Sinnhorizont einer göttlichen Erde versöhnt sind:
5
Ebd. 430
6
Ebd. 396
7
Ebd. 487
8
Dazu Neuhäuser 180ff.
328
„Wir alle sind im Paradies, nur wollen wir es nicht begreifen; doch wenn wir
es begreifen wollten, so wäre schon morgen die ganze Welt ein Paradies"9.
Wahrnehmung der Natur auf ihren Sinn hin meint Erinnern an ihre
verborgene Wahrheit: daß sie ein göttliches Werk ist. Das Inbild, wie Hop
kins es nannte, eine Verbindung von Stärke und Anmut, ist Ausdruck sol
cher Wahrheit. Der Augenmensch und Physiognomiker Hopkins verbindet
Poesie und Wissenschaft, wenn er Wolken, Bäume und Blumen studiert.
Doch erst muß der Blick sich in den Dingen verlieren, um deren Inbild zu
finden. Für Hopkins hat Aisthesis geistlichen Rang; die Betrachtung von
Atmosphäre und Vegetation ist durchaus ein spiritueller Akt. 1866 war Hop
kins Katholik geworden, vier Jahre später trat er ins Noviziat der Jesuiten
ein. Auf dem Altar der Natur opferte er mit schmerzlichem Enthusiasmus:
„Ich glaube nicht, daß ich jemals etwas Prachtvolleres gesehen habe als die
Glockenblume, die ich lang betrachtet habe. Ich erkenne die Schönheit des
Herrn in ihr"10. Das Ästhetische der Schöpfung, kraft des Staunens erfaßt,
rührt unmittelbar an Sakrales. In den Tagebüchern von Hopkins ist es poeti
scher Askese abgerungen, die sich streng das Literarische versagt und an die
Dinge, die reinen Erscheinungen hält. Das Nordlicht vom 24. September
1870 ist mehr als ein prächtiges Schauspiel: es durchbricht die kalendarisch
geordnete Zeit, reißt neuen Sinnhorizont auf — „so als berichtigte es die Be
schäftigung der Welt". Was heraufsteigt am Rande der Aisthesis, ist das sym
bolisch gegenwärtige Datum des Jüngsten Gerichts. Das Nordlicht als ein
Bezeuger Gottes bringt Fremdes, ja Wildes, den „herrlichen Schrecken" in
die alltägliche Ordnung 11 . Der Betrachter nimmt wahr, daß Natur ihren eige
nen Blick hat und daß die gängige Trennung von Subjekt und Objekt in der
Kontemplation ihren Sinn verliert: „Was man fest anschaut scheint fest zu
rückzuschauen"12. Das Phänomen der Inwucht (instress) schließt bisher
Verborgenes auf.
Die Epiphanie des Frühlings wird zum Inbild (inscape) von Wachstum
überhaupt. Biologie und Ästhetik sind eins; der optische Reiz lenkt das Au
genmerk auf eine Weise der Wahrnehmung, in der sich das Wesen der Ge
stalt enthüllt. Schöpfung ist angelegt auf ein betrachtendes, erkennendes
Subjekt: „Dieses ist die Zeit das Inbild im Gesprüh der Bäume zu studieren,
denn die schwellenden Knospen bringen sie zu einem Apex wie ihn das
Auge ansonsten nicht erfahren könnte" 13 . Apex bedeutet Spitze, Krone, das
was sich auf seinem Höhepunkt zeigt; ästhetische Qualität gewinnt darin
ontologischen Rang. Die Phänomene treten gleichsam als Individuen hervor,
unverwechselbar in ihrem Eigenleben, und dennoch einem Ganzen
14
Ebd. 153
15
Hopkins, Pied Beauty 62/63: „Of realty the rarest-veined unraveller"
16
Hopkins, Journal 72. 188
"Ebd. 168f.
330
Seit Hölderlin haben die Dichter versucht, Natur ästhetisch zu retten. Dieser
Versuch geschieht zumeist im Modus des Erinnerns. Die Philosophie seit
Schelling hat das Bedürfnis nach solcher Anamnese gleichzeitig für sich ent-
deckt. Ihr Fragen zielt auf die wiederzufindende Einheit von Geist und Na-
tur. Das älteste Systemprogramm des Idealismus verfolgte diesen Ansatz:
dem Maschinenwesen ästhetisch, ja mythopoetisch entgegenzutreten19. Im
Zeichen der Mnemosyne blicken Hölderlin und Zanzotto auf Natur als ein
Bedrohtes, Verlorenes - und dekuvrieren so das Wesen der Moderne als
Entzweiung. Den Sinn, den die profane Geschichte gewaltsam zerstreute,
sammeln die Dichter in Bruchstücken in der Natur wieder ein — erinnernd,
was sie war und was sie sein soll. Jede Kontemplation enthält einen eschato-
logischen Kern. Aus dem Pathos der Zerstörung (ein anderer Name für die
Weltgeschichte) soll das Ethos der Versöhnung werden (ein anderer Name
für das Weltgericht). Deshalb ist die Verheißung der Apokalypse (21,1) ein
neuer Himmel und eine neue Erde.
Betrachtung der verwundeten Natur ist seit der Herrschaft der planetari-
schen Technik - für Hölderlin in den Titanen verkörpert — ein Akt der
Pietas. Der Betrachter selbst muß sich verwundbar machen. Der eschatologi-
sche Blick sieht, durch die Zerstörungsgeschichte hindurch, die Spuren ein-
stiger, kommender Herrlichkeit20. Mag auch die Schöpfung nach Erlösung
seufzen, wie Paulus im Römerbrief schreibt (Rom 8, 22) - noch ihr Beschä-
digtes weist hin auf den vollkommenen Entwurf. Die Schönheit der Erde
wohnt im Gedächtnis derer, die ihre Passion miterleiden. Die wahre Aisthe-
sis ist die Erinnerung an Herrlichkeit, mithin an Heilsgeschichte. Das zeigt
noch Benns melancholischer Blick auf seine Amarylle oder Hölderlins Zu-
traulichkeit zu seinen Lilien: „dieweil ich allein/ zum Felde gehe, wo wild/
Die Lilie wächst, furchtlos"21. Nichts daran ist idyllisch im herkömmlichen
Sinn. Die Lilien sind das ästhetische Zeichen für den vergessenen Mythos
'«Journal 82,19.7.1868
" Dazu D.Kremer, Ästhetische Konzepte der „Mythopoeük" um 1800, in: H.Günther
(Hrsg.), Gesamtkunstwerk. Zwischen Synästhesie und Mythos (Bielefeld 1994) 1 1 - 2 7
20
Grundlegend dazu H.U. von Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik I - III
(Einsiedein 1961/69)
21
Hölderlin, An die Madonna (Gedichte 385)
331
der heiligen Wildnis. Sie stehen für die Absichtslosigkeit des puren Schönen.
Zugleich birgt sich in ihnen Erinnerung an jene besondere Wahrnehmung,
die Jesus den Jüngern empfahl: in den Lilien, die wild am Wegrand wachsen
und morgen schon verwelkt sind, die Herrlichkeit der Schöpfung zu erken-
nen (Mt 6,28-29). Dem unaufhaltsamen Vormarsch des Verwertungsden-
kens, das der Hyperion als gottlos geißelte, hat Hölderlin nichts entgegenzu-
stellen als seine Blumen der Pietas.
Solche Kontemplation der Natur führt letztlich über Geschichte hinaus.
Hölderlins Heimkunft gilt nicht umsonst dem „freudigschauernden Chaos",
das im Konzept seiner Naturphilosophie den schöpferischen Part hat. Sein
Eschaton ist die Heraufkunft eines bacchantischen Welttages jenseits aller
Profangeschichte. Der Dichter zertrümmert das Selbstverständliche der Le-
benswelt, um sich erschüttern zu lassen. Sogar der weltstädtische Zyniker
Benn, alles andere als ein Blumendichter, zeigt sich für die Ekstase der Natur
empfänglich:
Erschütterer -: Anemone,
die Erde ist kalt, ist nichts,
da murmelt deine Krone
ein Wort des Glaubens, des Lichts.22
Die Erschütterung kommt aus der Wahrnehmung einer dem Menschen ent-
zogenen Schönheit, die er zerstören, jedoch nicht machen kann. In ihr, als
einer Form von Pietas, wird die Erscheinung vor dem Verfall gerettet; Ver-
gänglichkeit wirkt inspirierend.
Naturästhetik als neue Mythologie beginnt mit Hölderlin. Im Wider-
stand gegen die industrielle Unterwerfung der Natur feiert er ihr Dionysisch-
Wildes als Element der Freiheit. Natur ist heilig, insofern sie unverfügbar,
aorgisch und unschuldig ist. Nur im Raum des Unverfügbaren aber ereignet
sich Sinn. Der „reißenden Zeit" hält Hölderlin die Denkbilder der Mnemo-
syne entgegen und distanziert sich damit von jener Geschichte, die mit der
Revolution sich gewaltsam zu beschleunigen, Natur zu entwerten beginnt.
Daher sein Lob nutzloser Dinge. Hölderlin ahnt, daß mit dem Aufstieg der
Werkstättenwelt die Natur unheilbar profaniert wird. Er widersetzt sich dem
mit einer eigenen Theologie der Elemente, die transformiert wird in eine
Poetik. Natur ist darin das „Aorgische", das Unbegrenzte, Ungegliederte und
Allumfassende, während die Kunst das Organische ist. Im Grund ^um Empe-
dokks (1799) hat Hölderlin diesen Kontrast ausführlich reflektiert: „Die
Kunst ist die Blüte, die Vollendung der Natur, Natur wird erst göttlich durch
die Verbindung mit der verschiedenartigen, aber harmonischen Kunst" 23 .
Erst die ästhetische Praxis arbeitet die göttlichen Züge der Natur heraus und
22
Benn, Anemone (1936): SWI, 134
23
Hölderlin GSA IV, 1,152
332
«Ebd. 153
25
Griechenland III, V.28 (Gedichte 421)
26
B.Phüipsen, Die List der Einfalt. Nachlese zu Hölderlins spätester Dichtung
(München 1995) 116 ff.
27
Hölderlin, GSA VI, 433
»Ebd.
333
der Semiotik macht Hölderlin aus der Natur ein Buch des Lebens, aufge-
schlagen für die Wissenden, wo „Linien und Winkel" idealtypisch Prosa und
Verse bezeichnen: wie Sonnen und Monde auf je verschiedene Weise die
Dinge beleuchtend. Der fast verzweifelte Versuch, aus profanierter Natur
eine neue Mythologie zu gewinnen, stößt an die Schwierigkeit, im Alltägli-
chen gültige Zeichen für das Sakrale zu finden.
Die Unsterblichkeit, nach der das Schauen sich ausstreckt, ist nur im
Andenken da; denn allein Mnemosyne, die Mutter der Musen, vermag das
Wunschbild zu imaginieren. Das gibt dem Text Griechenland, dessen dritter
Entwurf vom Erinnern an Totes, an die untergegangenen Helden Achill und
Ajax lebt, die tragische Grundierung. Durch die Entgrenzung geistert Todes-
sehnsucht, verschwiegene Erinnerung an Diotima. Doch Hölderlin fängt die
Verfallsgeschichte auf durch Hinweis auf die Gesetze der Erde:
29
Griechenland III, V.9-13 (Gedichte 421)
30
Ebd.
31
Hölderlin, Das Werden im Vergehen. 1799 (GSA IV, 1, 283)
334
müssen die Dichter stiften. Viel sind Erinnerungen: machtvoll wie eine
Trommel, die nachhallt im leeren Resonanzraum der Geschichte.
Hölderlin rettet das Göttliche in der erleuchteten, erinnerten Natur. Er
bevorzugt das dionysische Licht des Gewitters. Die heilige Wildnis bewahrt
er, indem er den eigenen Text — auf der Schwelle von Kalkül und Enthu-
siasmus — in ästhetische Wildnis verwandelt, die Diskontinuität zu seinem
Stilprinzip macht. Im Dickicht der Zeichen tun überraschend sich Lichtun-
gen auf; auf ihnen begegnet das menschliche Subjekt den Numina. Im Spiel
der Mächte und Gestalten, die wie ein Mantel Gottes sind, der sich bewegt,
ist das Leuchten der Bilder gleichsam ein Atemholen.
Mit Hölderlin begann die Fragmentierung der Natur als Text. Bei Andrea
Zanzotto wird die Fragmentierung, aufgenötigt von der Profangeschichte,
zur letzten poetischen Möglichkeit. Damit ist der Kreis der literarischen Mo-
derne ausgeschritten. Zanzotto, 1921 in Pieve di Soligo (Provinz Treviso)
geboren und zeitlebens dem Veneto verbunden, ist ein Regionalist mit uni-
versalem Horizont. Als Leser von Levi-Strauss und Lacan, von Foucault und
Dernda kennt er die kontrovers diskutierten Problemfelder Sprache, Subjekt,
Geschichte. Als „Mann vom Lande" aber weiß er zugleich den Wert der
Tradition. Für R.P.Harrison zählt er zu jenen wenigen, die angesichts der
Krise der Moderne „die alten Hausgötter in ein Versteck schafften"32. Ret-
tung der Laren — ein Akt der Pietas. Dieselbe Pietas bringt der Dichter dem
„Wald" entgegen: er rettet ihn im Gedicht, kraft der Memoria. Das Gedicht
ist Austragsort der Krise; es lebt aus einem ursprünglichen Logos, den Zan-
zotto das „reichste Nichts" (richissimo nihil) nennt. Wie sein bester Kenner
Stefano Agosti formuliert: Seit dem Gedichtband La Beltä (1968), dem poeti-
schen Durchbruch Zanzottos, äußert sich ein bislang verborgenes Sein, „in
dem die Aphasie oder das Schweigen abwechseln mit babylonischem Stim-
mengewirr, und die großen Stimmen der Geschichte sich im heimlichen
Murmeln der kleinsten Dinge noch verlieren"33.
Hölderlins Pathos und Zanzottos Ironie, philologisch maskiert, gehören
beide dem Werden im Vergehen an: Nur aus der Annahme des Untergangs
kann Neues entstehen, nur durch ästhetische Transformation kann die Natur
gerettet, in Hegels Lesart aufgehoben werden. Sinn erwächst, durch die Zer-
störung hindurch, aus poetischer Setzung. Der Signifikant, als Deutungsge-
ber, regiert die verwüstete Landschaft aus Wörtern; er entscheidet über Be-
deutung, Erinnern, Vergessen; er löscht in der Emphase des Wahrnehmens
die cartesianische Trennung von Subjekt und Objekt aus. Das sinnsetzende
12
Harason 281
33
S.Agosti, Nachwort zu Lichtbrechung (Zanzotto 256)
335
Ich ist im Elementarsinn „poetisch", indem es die Reliquien der Natur zum
Ausdruck seiner selbst macht. Da es nichts Ganzes mehr gibt, muß der
Dichter sein Stückwerk versammeln, die Trümmer der Tradition mit
etymologisch gebrochenen Sprachspielen illuminieren. Wie schon Montale
erkannte, schreibt Zanzotto eine „inventarisierende Dichtung" (una poesia
inventariale), die gleichwohl wie eine Droge wirkt34. Das Inventarisieren
ergibt sich aus dem Gefühl eines Mangels an Sein, einer Abwesenheit der
ursprünglichen Wahrheit, von der die Sprache nur den Schatten hat. Bei
Zanzotto spielen hier biographische wie historische Momente mit hinein: der
Verlust der Kindheit als authentisches Bei-sich-Sein, dazu die Ka-
tastrophengeschichte des 20.Jahrhunderts. Das Hügel- und Waldland des
Montello am Piave ist der symbolische Ort sedimentierter Geschichte —
Schlachtfeld des Sommers 1918, wo Italiener und Österreicher Zehntau-
sende von Toten hinterließen, die dort begraben oder in Beinhäusern beige-
setzt sind. Es ist ein Ort, der zugleich poetisch und provozierend ist. Doch
trotz der Vernutzung der Landschaft „bleibt etwas von dem Großen Wald,
von seiner Schönheit und Kraft, die wie Reue, wie Erinnerung eine unbe-
stimmbare Fläche durchwehen. Alles ist noch möglich, auf diesem hyper-
sedimentierten Boden. Die Fragen bleiben offen, wie jene aller Wälder, der
pflanzlichen und menschlichen. Wie auch die aller Gewalttaten, Kriege und
menschlichen Opfer: es bleibt die Aufforderung, ihre elende Nutzlosigkeit zu
erkennen, die Schrecken miterleidend" 35 .
Die Landschaft des Montello, stigmatisiert von der Gewaltgeschichte,
präsentiert die Natur als Reliquie. Der Wald selbst wird zum Erinnerungsträ-
ger, zu einer Form der Memoria. So ist der Montello, historisch Ort des To-
des, zugleich Schauplatz unaufhörlich sich erneuernder Natur. Was wie Zer-
setzung aussieht, ist eine andere Art von Rekomposition. Zanzottos Texte
unter dem Titel II Galateo in bosco (1978), der anspielt auf das Anstandsbuch
II Galateo des Giovanni della Casa (1558), erinnern an jene Dichter der Re-
naissance, die noch imstande waren, zwischen Natur und Kultur ein Gleich-
gewicht, ja eine Harmonie herzustellen. Am Ende der Moderne bleibt dem
Poeten das mühsame Geschäft, die feinen Regeln wiederzuentdecken, die
Symbiosen und Übereinkünfte zulassen — dazu das Netzwerk des Symboli-
schen, das Sprache, Gestik, Wahrnehmung umfaßt36. Was so sich erschließt,
ist Natur als ästhetisches Vorbild, danach als Sinnhorizont; auf dritter Ebene
ist sie mimetisch ein Text. Zanzottos Gedichte werden damit zur Erinne-
rungslandschaft, zur etymologischen Ablagerung, zu Wortkörpern, die durch
Verletzung hindurch die Versöhnung von Mensch und Natur als eine Mög-
lichkeit festhalten. Denn der Montello ist auch Ort der Kindheit. Wie bei
Hölderlin - „Im Arme der Götter wuchs ich groß" - ist bei Zanzotto die
34
Zit.bei G.Petronio, Geschichte der italienischen Literatur III (Tübingen-Basel 1993) 345
55
Zanzotto, Kommentar zu 11 Galateo m Bosco (1978), in: Lichtbrechung 235
M
Ebd.
336
Kindheit der Archetyp des dichterischen Daseins, kraft des Thaumazein, des
Staunens. In der italienischen Literatur haben Ungaretti und Montale diese
Spur gebahnt, die Mythologie der Kindheit aufgesucht. Dem Erwachsenen,
der den Riß im Subjekt erfuhr, seit Wort und Welt ihm auseinanderfielen,
bleibt nur das Mißtrauen der Sprache gegenüber. Zanzotto der Modernist
wagt es von daher, im Trevisaner Dialekt zu schreiben, experimentiert mit
einer eigenen Kindersprache, dem Petel. Die Elegie in Petel (aus La Beltä)
schließt mit Versen in einer kindlichen Privatsprache und einem Zitat von
Hölderlin: „Einst hab ich die Muse gefragt"37.
Die Hoffnung, ein Subjekt „hinter der Landschaft" zu finden38, erweist
sich als trügerisch. Die Natur ist sprachloses Gegenüber oder, wie Zanzotto
in seinen Neun Eklogen (1962) beschreibt, nur Reflex unablässiger, verzwei-
felter Sinnsuche:
Zanzotto, Poesie 178: „Ta bon ciatu? Ada ciöl e üna e tee e mana papa./ Te bata cheto, te
bata: e po mama e nana./ Una volta ho interrogato la Musa." Vgl. die Übersetzung von
A.Lochmann/E.Gut-Bozzetti, in: Hölderlin-Jahrbuch 29 (1994/95) 181/183
Dietro üpatsagjo hieß 1951 der erste Gedichtband von Zanzotto.
Zanzotto, Riflesso, aus: IX Ecloght (Poesie 134). Dt.von H.D. Rauh
337
Zanzotto, La quercia sradicata dal vento/ nella notte del 15 ottobre MCMLVIII,
aus: IXEcbghe (Poesie 132). Dt. von H.Böhmer, in: Akzente 12 (1965) 137
338
41
Ovid, Fasti III, 296
42
Ebd. III, 264. Vgl. Ovid, Metamorphosen VI, 392
43
„Neil' orbe disboscato dai mai-piü". Aus: Fosfeni (Lichtbrechung 84/85)
44
Hölderlin, Grund zum Empedokles (GSA IV,1,150)
339
habe" 45 . Die Kräfte, die uns konditionieren, mögen auch schädlich sein.
Nicht umsonst verweist Zanzotto auf Psychoanalyse, Anthropologie und So-
ziologie; sie haben häufig mit destruktiven Energien zu tun, und in gewisser
Weise enthalten sie alle Aspekte der Gewaltgeschichte. Von Hause aus wehrt
sich der Dichter dagegen, die Welt auf rein philosophische und wissen-
schaftliche Modelle zu reduzieren. Er weiß, wieviel Mythisches auch in der
Wissenschaft steckt. Der Dichter Zanzotto bekennt sich, wie seinerzeit
Goethe, ironisch als „Polytheisten". Und gerade die Gewaltgeschichte bringt
ihn dazu, jedem Vertikalismus mißtrauisch zu begegnen: „Wir haben heut-
zutage viel mehr Erfahrungen mit dem uns belagernden Unheil gemacht,
auch in sozialer Hinsicht, so daß wir eben deshalb auf die Suche nach kleinen
Göttern gehen, die alles in allem da sind. Sind sie sympathisch, sollte man sie
aufnehmen und zum Reden bringen, sie hätscheln, sind sie hingegen bösar-
tig, sie zerlegen und entfernen" 46 .
Der Wald, den das Gedicht evoziert, ist auch der Wald der Zeichen. In
diesem sprachlichen Dickicht bewegt sich Zanzotto auf „Holzwegen", in
einem Labyrinth, das letztlich ein Schlupfwinkel ist47. Die Zeichen bilden,
indem sie erinnern, ein Verschwundenes ab; ihre Metaphorik, wie die in
Trakls Waldgedichten, spricht von Untergang. Der Hinweis Zanzottos auf
das „richissimo nihil" ist im Grunde ein religiöser Akt. Die Erosion der Ge-
schichte in die Natur hinein fördert zugleich die ironische Sicht. Seit // Gala-
teo in bosco pflegt Zanzotto diesen Duktus. Jenseits des unmöglich geworde-
nen Idylls, das noch bei Leopardi elementare poetische Kräfte entband, zeigt
er die Narben, Wunden und Risse der Sprache als solche der Natur. Wie
schon einmal in der Romantik, die Zanzotto aus italienischer Sicht gerne mit
Hölderlin verbindet, geht es um das Experiment einer neuen Mythologie. So
konnte der Romanist R.P. Harrison das Schreiben Zanzottos als Suche nach
einem Logos deuten, der tiefer liegt als die Geschichte. Für ihn ist solche
Dichtung waldartig und katakombenhaft, wobei im Dunkeln bleibt, was aus
ihr hervorgehen wird - ein neuer Gott, eine neue Ökologie, eine neue „selva
antica"48. Obschon Zanzotto auch in den Naturwissenschaften das Blühen
von Metaphern und Analogien beobachtet, fürchtet er den Logos des Spe-
zialistentums, jenes bedrohliche Allwissen, das umschlägt in tödliches
Nichtwissen. Mehr noch fürchtet er die psychischen Deformationen, welche
die Allmacht der Medien in den Tiefenstrukturen des Menschen erzeugt. Nur
die Vitalität der Gefühle, das „Aorgische" Hölderlins, vermöchte hier zu hel-
fen; denn das Gefühl ist schöpferische Lust. „Sollte die Emotionalität auf
Null sinken, dann wird auch die Kunst verschwinden" 49 .
45
Capaldi/Paulmichl 475
.
47
Ebd. 470
48
Harnson 285
49
Capaldi/Paulmichl 478
340
50
Aus Fosfem, 1983 (hier in italienischer Schreibung)
51
Zanzotto, Lichtbrechung 86/87
52
Hölderlin, Wenn aber die Himmlischen (Gedichte 395)
53
Ebd. 241
341
Die Empirie der Dichtung, deren erlauchtes Vorbild die Präzision Dantes in
dessen Naturvergleichen ist, deckt hier sehr rasch das Mängelwesen Mensch
auf. Ökologie und Ästhetik des Nestes siegen über die Ingenieurskunst.
Ebenso widerlegen in jenem Logion aus dem Neuen Testament die Vögel
des Himmels, die weder säen noch ernten, das Dasein als Sorge, das Philo-
sophen uns aufgebürdet haben. Was bleibt, stiftet der Dichter - nicht trium-
phal, sondern demütig, „Armer unter Armen, Beleidigter unter Beleidigten",
sich dem Gericht unterstellend, das die Natur der Geschichte und das
Erinnern dem Gedicht bereiten:
Die Verkündigung, auf die der Titel anspielt, blitzt in diesem Text nur noch
in Rissen auf - in „Schwalbenflügeln, zwischen den Blättern, kaum sichtbar".
Kein Ganzes mehr, das nur noch Lüge wäre; aber ein Versprechen, die Sint-
flut aufzuhalten.
Zanzottos Geschichtskritik macht auch nicht halt vor nationalen My-
then. Sein Gedicht auf den 25. April, der die Erinnerung an die Befreiung
Italiens im Frühjahr 1945 festschreibt, transformiert das Geschehen, entmy-
thologisierend, in die „perverse Einsicht des Abends", daß dieser Frühling
nur sich selbst bedeutet. Die Opfer der Geschichte dulden keine Annähe-
rung in Form von Gedenkfeiern mehr. Gegen einen sinnendeerten Ritus, der
den Tod profaniert, stellt der Dichter als seine Form des Gedenkens die
„Schlaflosigkeit", das fragmentierte, von nutzloser Glut sich nährende Erin-
nern. Zur Würde der Toten gehört, daß die Lebenden sie in ihrem Rätsel las-
sen. Das Gedicht lebt von ästhetischer Trauer, die ihre Kraft aus zyklisch
sich erneuernder Natur holt.
M
Ebd. 86
55
Ebd. 88/89
56
Lichtbrechung 148
342
Zanzotto spielt an auf einen Ritus römischer Religion, das Ver sacrum. „Er
besagt, daß alles, was in einem bestimmten Frühling (ver) zur Welt kam,
Menschen und Tiere, dem Mars geweiht (sacer) war. Die Tiere wurden ihm
als Opfer geschlachtet, die Menschen wurden, sobald sie erwachsen waren,
aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Sie mußten sich neue Wohnsitze suchen,
und man vertraute darauf, daß Mars für sie, die als sein Eigentum galten,
sorgen würde" 57 . Die Gewaltgeschichte des 20.Jahrhunderts hat solche Sinn-
konstrukte für immer zunichte gemacht. Und dennoch hält Zanzotto an sei-
ner Transformation des historischen Todes in naturale Auferstehung fest;
nur so ist die Idee des Sakralen zu retten. Über den Trümmern der Ge-
schichte bewahrt die Pietas das Bewußtsein verlorenen Sinns, der wie ein
Stachel wirkt. Natur, zum Sanktuarium geworden, hält diesen Stachel wach.
Ihr Gegenbild ist das verdinglichte Gedenken, ein Werk des Ekels: das
„rituelle Selbstausspeien der Geschichte" 58 . Nur kraft der Trauer aber erhält
sich das Heilige. Versöhnung mit der Geschichte vermag allein aus jener
ästhetischen Schwermut hervorzugehen, die Benjamin, Adorno und Heideg-
ger - auch sie vor dem Hintergrund einer Verfallsgeschichte - bei ihrer Mo-
dernitätskritik angemahnt haben. „In diesem Sinn hat Adorno als die Mitte
der Philosophie Benjamins die 'Idee der Rettung des Toten' ausgemacht, die
die Radikalisierung der eigenen Verdinglichung' zur Voraussetzung hat"59.
Der Dichter verlegt seine Trauer in eine Wildnis von Zeichen, die an das
zerstörte Paradies, an die versagte Utopie erinnern. Sein Ethos des Erinnerns
verbindet sich dem Pathos der Natur, die zum „calvario" der Geschichte
wird, so ihre Wunden zeigt:
Versöhnung, durch die Natur vermittelt, öffnet sich auf einen Sinnhorizont,
worin die Revolte wider die Geschichte in sich zusammensinkt. Der konser-
vative Duktus mag überraschen; aber der Dichter befindet sich jenseits der
Ideologien. Ein anderer Text aus dem Gedichtband Idioma, mit dem Motto
ches zeigen. Hölderlin kultiviert nicht nur die ästhetische Trauer, sondern
auch den ästhetischen Zorn. Dieser Impuls der Moderne, die blindgeworde-
nen Tafeln zu zerschmettern, reicht über Nietzsche weiter bis hin zu Beuys.
Nicht vom Idyll, sondern vom Sinnhorizont Natur spricht dann das nächste
Beste, das sich am Wegrand findet:
Angesichts globaler Technisierung, die alles vernetzt und bis an mentale Tie-
fenstrukturen rührt, war Joseph Beuys ein unzeitgemäßer Künstler. Mit der
absurden Hoffnung des „homo religiosus" und Kryptoromantikers mühte er
sich um Rettung der Natur, um Rettung ihres immanent Sakralen. Wie
Novalis und F.Schlegel versuchte er Natur im Zeichen der Poiesis zu fassen
- als ständigen Schöpfungsprozeß. Seit er sich von der Fluxus-Bewegung
und ihren situationsbedingten Effekten distanziert hatte, war Beuys auf dem
Wege zu einer neuen Naturästhetik. Deren Schlüsselbegriff lautete: Trans-
formation; oder in der Sprache Goethes und R.Steiners: Metamorphose 65 .
Gerade die Kunstphilosophie des deutschen Idealismus hat in Beuys das
Gefühl dafür geschärft, „daß die sozio-ökologische Krise eine Erkenntnis-
krise ist"66. Damit verstand er das Altern der Avantgarde als unaufhaltsamen
Vorgang; ihn zu verzögern, konnte nicht Sache seiner Kunst sein. Beuys war
Philosoph genug, um die Krisis instrumenteller Vernunft zugleich als Krisis
des prometheischen Geschichtsentwurfes zu sehen. Er scheute als Künstler
deshalb nicht vor schroffen Konfrontationen zurück; sie betrafen sowohl
Konzepte wie Materialien. „Nur aus dem Chaos kann etwas kommen" 67 . Bei
63
Hölderlin, Vom Abgrund nämlich V. 18 - 21 (Gedichte 416)
M
Hölderlin, Das nächste Beste V. 27f. (Gedichte 406)
65
Dazu C.Lichtenstern, Die Wirkungsgeschichte der Metamorphosenlehre Goethes.
Von Ph.O.Runge bis J.Beuys (Weinheim 1990) 143ff.
66
Zweite 8
67
Ebd. 19
345
Beuys darf dieses Wort nicht überraschen. Jenseits des ausgelaugten surreali-
stischen Prinzips, Unvereinbares miteinander zu koppeln, führte er — inmit-
ten der durchtechnisierten Gesellschaft - die Kategorien des Wilden, des
Unangepaßten, ja des Sakralen zurück in die Kunst.
Darin lag durchaus Anstößiges. War doch Religiöses, ja Christliches im
Kunstbetrieb, der seinerseits abhängt von einer umfassenden Bewußtsein-
sindustrie, weitgehend tabuisiert. Zwar sah Beuys es als notwendig an, mit
dem abgelebten bürgerlichen Christentum erst einmal aufzuräumen; doch
hatte er ebenso den Mut, in Christus eine kosmischen Kraft, eine absolute
Präsenz zu erkennen - ein Sinnpotential, das er für die eigene „Mythologie"
zu nutzen wußte 68 . Damit war der Garant eines Ganzen ins Spiel gebracht.
Beuys fürchtete den Verlust des Spirituellen, die Blindheit des inneren Auges.
Seine Kunst lebt geradezu von spiritueller .Aufladung". Die Metapher, tech-
nisch inspiriert, verweist auf das Konzept eines universalen Energiekreislau-
fes. Den Sinnschwund der alternden Moderne, verbunden mit der Herr-
schaft der Materie, erlebte Beuys — gut tropologisch - als „Kreuzigung", als
„Inkarnation in die Stoffeswelt", als unabweisbare „Passion"69. Von daher
konnte er Auferstehung ästhetisch als Transformation verstehen - doch
nunmehr durch den Menschen zu vollziehen.
Seine Konzepte hat Beuys aus der Wiederentdeckung eines holistischen
Weltbilds geschöpft. Dazu gehört die berühmte Maxime .Jeder Mensch ist
ein Künsder". Christlich gesprochen heißt dies: Jeder ist berufen, die Natur
als Schöpfung wahrzunehmen. Solche Aisthesis kommt allen zu. Auf die
Frage des Jesuiten F.Mennekes, worin er seinen wichtigsten Beitrag zum
Christusbild sehe, antwortet Beuys: „Der erweiterte Kunstbegriff. Ganz ein-
fach"70. Für ihn war dies nicht Theorie, sondern Figuration - ein Gestal-
tungsprinzip. Es geht darum, die instrumentelle Vernunft, deren Werk bloße
Vernutzung ist, innovativ zu durchkreuzen. Gerade um seine Kunst anstößi-
ger im mehrfachen Sinne zu machen, verwendet Beuys unkonventionelle
Materialien. Sie dienen der Reaktivierung der Sinne, führen hin zu vergesse-
ner Wirklichkeit. Die Aisthesis wird angereichert und aufgerauht durch das,
was bisher als nicht-ästhetisch galt: Fett und Filz, Wachs, Blut und Honig,
Kunststoff, Metall und organische Stoffe, Lebensmittel, technische Teile,
selbst Abfälle. Das hat viel Verwirrung erzeugt, fügt sich jedoch konsequent
in den erweiterten Kunstbegriff. Dieser umfaßt auch die Transformation der
68
Mennekes 16. Der Autor geht soweit, von einer „chnstusbezogenen Kosmologie" bei
Beuys zu sprechen (ebd. 69ff). Die Verbindungen zwischen Beuys und Traditionsformen
christlicher Kunst beleuchtet der Ausstellungskatalog von H Westermann-Angerhausen
(Hrsg.), Joseph Beuys und das Mittelalter, Schnütgen-Museum (Köln 1997)
69
Ebd. 22
70
Ebd. 60. Das Interview fand im März 1984 in Frankfurt am Main anläßlich der Ausstellung
„Menschenbild - Christusbild" statt.
346
die Göttin nackt im Bade gesehen, wurde zur Strafe in einen Hirsch verwan-
delt und von seinen eigenen Hunden zerrissen.
Der Tod des Hirsches steht für die Ambivalenz alles Heiligen; Erleuch-
tung und Gewalt verbinden sich. Von daher konnte Beuys den Hirsch mit
dem Blitz assoziieren, wie seine Installation Blitzschlag mit Lichtschein auf
Hirsch" (1958/85) bezeugt. Mit ihr schließt er die Reihe seiner „Hirschdenk-
mäler" ab. Die Stimmung, die ausgeht von dieser Raumskulptur aus Bronze,
Eisen und Aluminium, meint Finalität und Endzeit. Der Blitz, materialisiert
zum schwarzen Fächer aus Eisen, erstarrtes Verhängnis, ist Drohung und
Gericht. „Alles regiert der Blitz" hieß es bei Heraklit74. Dieser hier erleuchtet,
weil er dunkel wie die Nacht ist. Was denkgeschichtlich von Heraklit bis
Heidegger „Physis" bedeutete, ist aufgehoben in dieser Blitz-Nacht, die alles
Leben auslöscht. Beuys rettet Heiliges, indem er opfert: den Hirsch, die
Ziege, die Urtiere; Hirschwagen und Aggregat bilden gleichsam Assistenz-
figuren. „In diesem Environment scheint die Geschichte der Menschen er-
schöpft. (...) Der Mythos der Natur ist angehalten in Resten. Zu besichtigen
ist der auf sie endlos einwirkende Geist der Vernichtung" 75 . Beuys spricht
selbst von einer „Todesweihe", ohne zu wissen, ob sein Akt der Pietas ver-
standen würde. Tatsächlich rührt dieser Blitzschlag an die Grenze dessen,
was die Beliebigkeitskultur der endenden Moderne noch akzeptieren kann.
Denn es ist Apokalyptik, die Warnung unübersehbar. „Hier hat jemand einen
Mythos zu Ende gedacht, in dem der Mensch nicht die wichtigste aller vor-
übergehenden Erscheinungen war"76. Einzig aus dem Erschrecken darüber
entstünde neuer Sinn. Der Künstler weiß, daß die Physis nur noch durch
Metaphysik zu retten ist; sein Opferritus soll daran erinnern. Bei dieser Ge-
schichtskritik versteht sich Beuys - auf sonst getrenntesten Bergen - mit den
Diagnosen von Benn, Jünger und Levi-Strauss.
Verweise solcher Art bestätigen, daß Beuys seine Naturästhetik, getrie-
ben vom Gedanken der Versöhnung, bewußt mit religiösen Implikationen
auflud. Gerade in seiner späten Phase, besonders in den Gesprächen mit
F.Mennekes (1984), verwendet er zur Erklärung seines künstlerischen Tuns
sakrale Termini: „Die Bewegung kommt zustande durch eine Provokation,
durch eine Einweihung, durch eine Initiation"77. Der erweiterte Kunstbegriff
war sein verzweifelter Versuch, das Heilige in der Schöpfung ästhetisch zu
retten, indem er die Materie gleichsam taufte, ihr einen neuen Geist gab. Zur
Ästhetik des Wilden, die bei Beuys ja nicht naiv, sondern hochreflektiert war,
gehört die Kultivierung der Diskontinuität. Sie betrifft sowohl Themen wie
Materialien und zeigt sich in kalkulierten Sprüngen und Brüchen, in schok-
kierender Paarung von Elementen, die sonst als unvereinbar gelten. Kalkül
74
Fragment B 64 (Snell 22/23)
75
H.Bastian, in: Documenta 8, Bd. 2: Katalog (Kassel 1987) 24
76
Ebd.
77
Mennekes 60
348
und Geheimnis gehen hier ineins. Der Wille, die Einheit von Mensch und
Natur als neuen Sinnhorizont zu setzen, bringt freilich auch Gewaltsamkeit
mit sich. In gut romantischer Tradition möchte Beuys selbst den Tod nicht
als absolute Grenze anerkennen. Dafür steht seine berühmte Aktion Wie man
dem toten Hasen die Bilder erklärt (November 1965, Galerie Schmela,
Düsseldorf). Das Irrationale, Archaische an Beuys, das sich an seinen
Tieridolen, an den Faunessen und Schamanen darstellt, meint Suche nach
verschütteten Quellen der Naturwahrnehmung. Das Erkenntnispotential des
Mythos wird dabei reichlich genutzt, Magie als Mittel der Empathie ver-
standen. „Vielleicht bin ich ein wiedergeborener Höhlenzeichner"78. Der
ironische Beiklang (der eine Schutzfünktion hat) hindert nicht, in seinem
Werk „Urzeit und Spätkultur" (A.Gehlen) miteinander agieren zu sehen.
Die Modernitätskritik von Beuys ist von den Zeitgenossen kaum aufge-
nommen worden, da sie dem Klischee vom Avantgardisten widersprach. Das
bezog sich vor allem auf die Exzesse der individuellen Freiheit. Der be-
rühmteste Künstler der westlichen Welt hielt es 1982 für notwendig, „die
Schwelle der Moderne zu durchbrechen und den Kunstbegriff auf die
menschliche Arbeit schlechthin zu beziehen"79. Diese Spielart des erweiter-
ten Kunstbegriffs rührt im Anthropologischen an Theologisches; sie faßt den
Menschen als Mitarbeiter Gottes, als „cooperator Dei". Dergleichen war seit
dem 18Jahrhundert gewiß antimodern. Umstritten bleibt, inwieweit Beuys
am Begriff der Aufklärung festhielt80 oder ob er nicht eher die Aufklärung
der Aufklärung und somit deren „Verwindung" betrieb — weil ihm Fort-
schritt nichts bedeutete und er bewußt eine neue Mythologie anstrebte. Für
einen gewissen Antimodernismus konnte sich Beuys auf Nietzsche berufen,
mit dessen Denken er schon als junger Mann vertraut war. Nach dem Be-
such des Weimarer Nietzsche-Archivs im Mai 1942, als Soldat von Erfurt
herüber auf Urlaub, notierte er seine Eindrücke: „Der Mensch fühlt, daß die
Pflanzen und Tiere seine Verwandten sind. Dieses - unendliche Kraft, dies
dionysische Streben und Überquellen schafft der Mensch durch seine geistige
Schau der Realitäten in der Natur"81. Hier ist im Zeichen der Transformation
die kommende Naturasthetik bereits angelegt - mit dem inneren Ausstieg
aus einer totalitären Geschichte. Von Nietzsche borgt sich Beuys den Schlüs-
selbegriff „dionysisch", um das Geheimnis der Kreativität zu fassen: „Dies
pflanzliche Wuchern und Überwuchern ohne Grenzen aus immer neuen
Quellen, aus einer überschwenglichen, biologischen Schöpfüngskraft"82. Es
78
W.Kriiger/W.Pehnt, Documenta-Dokumente. Künstler im Gespräch (Köln 1984) 43f.
79
Zweite 20
80
Wofür Zweite plädiert (ebd. 26)
81
Zitat bei H.Stachelhaus, Joseph Beuys (3.Auflage Düsseldorf 1991) 25. Dort allerdings
ungenau datiert und transsknbiert. Ich übernehme die Korrekturen von J.Verspohl,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 162,15.7.1995.
82
Stachelhaus ebd.
349
ist, als hätte Beuys bei dieser Vision auch an Hölderlins „heilige Wildnis" ge-
dacht. Schon im Vorhof seiner Initiation zum Künsder hat er ein Gefühl für
die Ekstase der Natur.
Mittels seiner „sozialen Plastik" wird sich Beuys als Therapeut versu-
chen. Die Krankheit, die er bekämpft, ist jene Daseinsverfehlung, die her-
vorgeht aus Naturverlust. Er weiß, daß das Verhältnis von Mensch und Na-
tur in einem Wirtschaftssystem, das auf Profit und Expropriation gegründet
ist, ein durch und durch gestörtes ist83. Dergleichen Äußerung, 1977 getan,
zeigt noch die Nähe zu einer bestimmten ökologischen Politik. Beuys
scheute nicht die Rolle des Propheten, doch wird auch sie transformiert:
Sinnstiftung und Politik gehen darin zusammen. Er liebte die Offenheit der
Formen, das Fließen der Metaphern, die Verschmelzung von Archaischem
und Aktuellem. Der Schamane spielt mit Elementen der technischen Welt.
Sie werden nicht mehr als Instrumente behandelt, sondern als „Fetische, die
eine düstere Aura umgibt"84. So präsentiert der spätere Beuys keine reine
Natur mehr, sondern eine durch Techne beschädigte, gezeichnete, zerstörte;
die Schocks sind implantiert. Das Archaische ist wie bei Benn Zitat; es spie-
gelt keine rückwärts gewandte Ideologie. In der Ästhetik des Heterogenen,
des erleuchteten Kurzschlusses Technik/Natur steckt eine eigene Ethik:
Beuys ist es um die Würde der Natur zu tun85. Deutlich wird dies an der
Rolle, die er innerhalb der Erdrevolution den Tieren zuschreibt, auch an der
Art, wie er die Spiritualität der Kreatur entdeckt, sich magisch in sie einfühlt.
In Aquarellen aus dem Jahre 1957 mit Rentieren und Elchen, die Frauen
(„Faunessen") auf ihrem Rücken tragen, zeigt sich ein Miteinander von Tier-
und Menschengeist, das über Symbiose hinausgeht, zur hieratischen Chiffer
gerinnt86.
Naturverlust war für Beuys mit Sinnverlust identisch. Seine Rettungsak-
tion 7000 Eichen, 1982 zur 7. Documenta in Kassel, verstand sich durchaus
politisch. Die Absicht war, einen lieblosen städtischen Raum durch Pflanzen
von Bäumen naturnäher, mithin humaner zu machen. „Stadtverwaldung statt
Stadtverwaltung" — wie Beuys mit ironischer Prägnanz formulierte — war ein
Versuch, Ästhetik auf eine breitere Basis zu stellen. Noch in solch öffentli-
cher Inszenierung des Waldmotives — die Eichen sind C.D.Friedrichs Bäume
- erweist sich Beuys als Romantiker. Er hätte seinem Generationsgenossen
Zanzotto zugestimmt, der im Sterben der Wälder eine Kulturkatastrophe
und einen Verlust von Ursprung sah — „weil in den Tiefen des kulturellen
Gedächtnisses Wälder immer noch das Korrelat menschlicher Transzendenz
83
Zweite 23
84
Ebd. 25
85
Vgl. W.Kiüger/W.Pehnt, Documenta-Dokumente. Künstler im Gesprach (Köln 1984) 43f.
86
J.Beuys, Wasserfarben. Aquarelle und aquarellierte Zeichnungen, Kunsthalle Düsseldorf
1986, Nr. 447, 449,450 (Sammlung van der Grinten, Museum Schloß Moyland)
350
sind" 87 . Mit seiner Aktion hat Beuys eine lebendige grüne Skulptur im dena-
turierten Stadtraum errichtet und so der Physis zumindest zeichenhaft zu ih-
rem Recht verholfen. Die „Stadtverwaldung" war ein unübersehbares Bei-
spiel für den erweiterten Kunstbegriff. Doch ihre Implikationen reichen
noch weiter. Die Bäume, die als lebendige Pfeiler Himmel und Erde verbin-
den, halten die Erinnerung an alte Numina wach. Besonders die Eichen sind
mit dem Kult der großen Götter verknüpft: im heiligen Hain von Dodona
war ein Orakel des Zeus; auf dem Mons Caelius, einem der sieben Hügel
Roms, wurde der Jupiter verehrt88. Der Mythos des kosmischen Baumes
kehrt in der Bibel wieder - als Paradiesbaum wie als Kreuzesholz. In der
Schriftauslegung der Kirchenväter wie des Mittelalters verweisen beide im
mystischen Sinn aufeinander: Paradies und Passion kommen im Bild des Le-
bensbaumes zusammen. Beuys selbst, ein ungewöhnlich belesener Künstler,
arbeitet mit solchen Konnotationen. Für ihn sind Bäume intelligente Wesen,
ja Träger einer eigenen Spiritualität.
Im Leiden der Natur entdeckt Beuys eine sakramentale Substanz, die
der Künsder aufzudecken hat. Die religiöse Komponente in solcher Art von
Empathie hat er ungescheut offengelegt. „Wenn der Wind durch die Kronen
geht, dann geht zu gleicher Zeit durch die Kronen, was die leidenden
Menschen an Substanz auf die Erde gebracht haben"89. Die Anspielung auf
das Pneuma öffnet sich auf eine Mystik der Schöpfung. Christliche Aisthesis
ist in diesem Sinnhorizont „Wahrnehmung des Sakramentes, das durch die
Baumwipfel weht"90. In diesem Wehen endet die Schmerz- und
Gewaltgeschichte. Der Plastiker Beuys, der zugleich Ethiker ist, erfaßt den
elementaren Zusammenhang, in dem das Naturwesen Mensch sich befindet.
Der Entrechtung der Natur ein Ende zu machen, bedeutet für ihn: die
Würde des Menschen zu restituieren. Um Natur vor der schieren
Vernutzung ästhetisch zu retten, arbeitet Beuys an der Wiedergewinnung
ihrer sakralen Aura. So sieht er das Waldsterben als ein Passionsgeschehen,
mit überraschendem Hinweis auf das Evangelium (Lukas 23,31): „Denn
wenn das mit dem grünen Holz geschieht, was wird dann erst mit dem
dürren werden?" Beuys transformiert hier das Ökologische, die Rettung von
Lebensqualität auf dieser Erde, mit kühnem Griff ins Theologische. „Die
Bäume sind wichtig, um die menschliche Seele zu retten"91. Solche zentralen
Sätze, keine zwei Jahre vor seinem Tode geäußert, bezeugen, daß Beuys die
Moderne selbst zu transformieren gedachte - in Richtung auf
Wiederentdeckung des Heiligen inmitten der Lebenswelt.
87
Harrison 289
88
Zur religionsgeschichtlichen Rolle der Eiche: J.Brosse, Mythologie der Bäume
(Ölten - Freiburg 1990) 61 ff.
89
Mennekes 46
90
Ebd.
" Ebd. 48
351
Den Entschluß, Sakrales im Profanen aufzusuchen, hat Beuys sehr ernst ge-
nommen. Gegen die Illusionen der Fortschrittsgeschichte hat er die Offen-
barung des Schmerzes, das Zeigen der Wunde gesetzt. In seiner letzten In-
stallation Palasgp Regale vom Dezember 1985 (im Museo di Capodimonte,
Neapel, heute Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf) macht er
den Revolutionär Anacharsis Cloots, 1794 in Paris enthauptet, zu seinem
alter ego. Es ist ein Requiem zu Lebzeiten. Natur und Kultur sind in sym-
bolischer Abbreviatur nebeneinander in der Vitrine versammelt: der Luchs-
fellmantel und das Tritonshorn neben den beiden Klangbecken aus Messing.
Das abgetrennte Haupt, wie schlafend auf der rechten Seite liegend, zeigt
einen tragischen Ausdruck. Die Natur — in der Gestalt von Fell und
Muscheln - läßt ihre Farben spielen: silbernes Grau und Perlmuttrosa. Doch
das Muschelhorn tönt nicht; die Geschichte, endlich zum Stillstand gebracht,
ist wie eingesargt in diesem Schrein. Gegen die Ablenkungsmanöver einer
Erlebnisgesellschaft hat der Künsder das Leiden als Quelle der Erneuerung
verstanden und übertragen in seine Naturästhetik. Beuys wußte, daß Natur,
nach all den Schüben industrieller und technologischer Revolutionen, nur
noch ästhetisch zu retten ist - kraft jener Pietas, die nur ein anderer Name
für Erinnern ist und spirituell nur noch als Trauer möglich.
Dem Bedürfnis der späten Moderne nach Metaphysik (oder nur Esote-
rik) kommt Beuys entgegen, indem er Natur als sinnversprechendes Zei-
chensystem inszeniert. In seinen Ausdrucksformen entfaltet er dabei die
ganze Skala vom Spirituellen über das Sperrige bis hin zum Wilden. Die
Sinnsuche gerät notwendig zu einer Rätselsuche. Beuys selbst, trotz der Ge-
fahr, mit seinen Symbolismen mißverstanden zu werden, sah sich zu Rätseln
genötigt — einfach um das Geheimnis zu retten, ohne das es kein Heiliges
gibt. Er riskierte eine Ikonographie sehr persönlicher Art, stellte die offene
Form seiner „sozialen Plastik" neben das Hermetische. Sein Werk, Ende und
Anfang zugleich, macht die Aisthesis zu einem Schlüsselbegriff; allein kraft
der Wahrnehmung ist jeder Mensch ein Künsder. Beuys sah in seinem
Kunstbegriff die Chance, das Sinnhaft-Sinnliche inmitten eines erneuerten
Lebenskonzeptes wiederzugewinnen. Dieses Konzept sollte Ökologie, Ethik
und Religion zu einer „Erdkultur" verschmelzen. Gerade deshalb appellierte
er an die Unschuld des Auges, an das Staunen Adams, an das naive, ja das
wilde Denken — an eine Wahrnehmung also, die sich losringt von allen Si-
mulationen der Wirklichkeit, mit denen die Medien uns umstellen.
Beuys mochte damit Hoffnungen verbinden, wie sie als Wissenschafts-
theoretiker gleichzeitig Michel Serres formuliert hat: „Uns frei machen von
den Wänden, die Bildschirme sind, und von den täuschenden Effekten.
Hinausgehen. Noch einmal, nach der Scholastik, eine Renaissance durch eine
352
"Serres 165
« Hölderlin, Gedichte 276
94
Heidegger, Wegmarken 194
's Musil, MoE 4,1354
* Musil, MoE 2, 592
353
allen Systemen, die wir errichten, fehlt: das Geheimnis der Ruhe97. Einzig im
Betrachten dieses Geheimnisses wäre Natur — auch die in uns — zu retten.
Inmitten entgleitender, von den Medien verflüssigter Realität ist dies der
Sinn von Aisthesis. Zu retten aber ist Verlorenes: jene Wüsten und Wälder,
in denen der Gott und die Numina wohnen. Dieser Aspekt der Natur als Ort
einer Epiphanie hat für die Vertreter der Profanität keinen Wert; und darin
sind sie völlig konsequent. Gilt doch hier Heideggers Wort, „daß eben durch
die Kennzeichnung von etwas als Wert' das so Gewertete seiner Würde be-
raubt wird"98. Das Heilige und das Wilde sind jenseits der geschlossenen
Wertsysteme, die eine Gesellschaft sich nach ihrem Ebenbild schafft. Und
deshalb begegnet der Garten Eden symbolisch als Wildnis. Wahrnehmung
der Natur zielt stets auf einen Ursprung, den die Geschichte nur verdunkeln
konnte. Von daher blickt jede Naturästhetik, die ihren Namen verdient, hin-
aus in das Verborgen-Offene - in jene Weltlichtung, die Paradies heißt.
97
Musil, MoE 2, 592
98
Heidegger, Wegmarken 179
Literaturverzeichnis
M.H. Abrams, Spiegel und Lampe. Romantische Theorie und die Tradition
der Kritik (München 1978)
Ch. Baudelaire, Die Blumen des Bösen (Les Fleurs du Mal), frz.-dt.,
übs. von C.Fischer (2.Auflage Darmstadt - Berlin - Neuwied 1958)
G. Benn, Briefe an F.W. Oelze 1932 - 1945, hrsg. von H. Steinhagen und
J.Schröder (Frankfurt/M. 1979)
Y. Bonnefoy, Was noch im Dunkel blieb/ Beginn und Ende des Schnees,
frz.-dt., übs. von F. Kemp (Stuttgart 1994)
K. Borowsky - L. Müller (Hrsg.), Russische Lyrik von den Anfängen bis zur
Gegenwart, russ.-dt. (Stuttgart 1994)
E. Chargaff, Das Feuer des Heraklit. Skizzen aus einem Leben vor der Natur
(Frankfurt/M. 1989)
M. Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen
(Hamburg 1957)
G. Flaubert, Die Erziehung der Gefühle, übs. von H.Kirmße (Berlin 1974)
J. Giono, Die große Meeresstille (Fragments d'un Paradis/Les Anges), dt. von
E.Sander und H.Benninghoff (München 1992)
J.W. Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe (=HA), hrsg. von E. Trunz u.a.
I - XTV (Hamburg 1948 - 1960)
M. Hamburger, Die Dialektik der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur
Konkreten Poesie (München 1972)
G.M. Hopkins, Gedichte, Schriften, Briefe, übs. von U. Clemen und F.Kemp
(München 1954)
G.M. Hopkins, Journal. Journal (1866 - 1875) und Frühe Tagebücher (1863
bis 1866), übs. von P.Waterhouse (Salzburg - Wien 1994)
P.J. Jouve, Die leere Welt (Le Monde desert), übs. von F.Kemp
(Stuttgart 1982)
F. Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem
Nachlaß, hrsg. von M.Brod (Frankfurt/M. 1966)
F. Kafka, Zur Frage der Gesetze und andere Schriften aus dem Nachlaß, in:
Gesammelte Werke, nach der Kritischen Ausgabe hrsg. von H.G.Koch,
Bd. 7 (Frankfurt/M. 1994)
I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: Werke IX, hrsg. von
W. Weischedel parmstadt 1983) 5 3 - 6 1
(München 1958)
R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (=MoE), hrsg. von A. Frise, in:
Gesammelte Werke 1 - 5 (2.Auflage Reinbek 1981)
Novalis, Schriften I - III, hrsg. von P. Kluckhohn und R. Samuel (2. Auflage
Darmstadt 1960 - 1968)
C. Pavese, Das Handwerk des Lebens. Tagebuch 1935 - 1950 (München 1963)
M. Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit I - X, übs. von
Eva Rechel-Mertens (Frankfurt/M. 1979)
A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, in: Sämtliche Werke I,
hrsg. von W. von Löhneysen (Darmstadt 1961)
W. Stevens, Der Planet auf dem Tische. Gedichte und Adagia, engl.-dt., übs.
von K.H. Hansen (Stuttgart 1983)
L. Tolstoj, Die Kosaken, in: Die großen Erzählungen, hrsg. von L. Kopelew
(München 1989) 192 - 354