Sie sind auf Seite 1von 280

Das Entgegenkommende Denken

Actus
Band XV et I mago

Berliner Schriften für Bildaktforschung


und Verkörperungsphilosophie
Herausgegeben von Horst Bredekamp und
Jürgen Trabant
Schriftleitung: Marion Lauschke
Das
Entgegenkommende
Denken
Verstehen zwischen
Form und Empfindung

Herausgegeben von Franz Engel und


Sabine Marienberg
Publiziert mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
im Rahmen des Exzellenzclusters "Bild Wissen Gestaltung.
Ein Interdisziplinäres Labor" der Humboldt-Universität zu Berlin.

Einbandgestaltung unter Verwendung von Francesco Colonna: „Hypnerotomachia Poliphili“,


1499 (Vorderseite) und Fossil eines Seeigels (Rückseite).

ISBN 978-3-11-043956-4
e-ISBN (PDF) 978-3-11-043089-9
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043102-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data


A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

© 2016 Walter De Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Redaktionelle Mitarbeiterinnen dieses Bandes: Amelie Ochs, Johanna Schiffler


und Patrizia Unger
Reihengestaltung: Petra Florath, Berlin
Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH, Altenburg

Printed in Germany

Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706

www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis

IX Franz Engel & Sabine Marienberg


Out for a Walk
  1 Wolfram Hogrebe
Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens

I. Prozessphilosophie
21 Robert E. Innis
Energies of Objects.
Between Dewey and Langer
39 Sascha Freyberg
Ereignis und Objekt.
Zur Whitehead-Kritik von Edgar Wind und John Dewey

II. Interaktion
57 Michael Kimmel
Embodied (Micro-)Skills in Tango Improvisation.
How a Collaborative Behavioral Arc Comes About
75 Marion Lauschke
„Experience comes whole“.
Zum Rhythmus der Kunsterfahrung
III. Steinartefakte
  89 Harald Floss
Paläolithische Steinartefakte.
Die ältesten Werkzeuge der Menschheit
105 Horst Bredekamp
Der Faustkeil und die ikonische Differenz

IV. Herders Schaaf:


Das Entgegenkommende Vernehmen
121 Johann Gottfried Herder
Abhandlung über den Ursprung der Sprache
125 Tilman Borsche
Herders Scha(a)f.
Wer kommt wem entgegen im Ursprung der Sprache?
135 Jürgen Trabant
Herders Schaaf im Vorbeigehen und Entgegenkommen

V. Bewegung – Geste – Zeichen


147 Ulrich Mosch
Übergänge.
Bewegung – Geste – Zeichen in Carlos Kleibers Dirigieren
163 Sabine Marienberg
Die Möglichkeit der Geste.
Poietisches Handeln zwischen Bewegung und Zeichen bei Oskar Pastior

VI. Bildakte
181 Elisabeth Oy-Marra
Vorsicht! Amor schießt auf den Betrachter.
Guercinos Mars und Venus als handelndes Bild
201 Pablo Schneider
Das fordernde Bild.
Die Verbindung von Eigenverantwortung und Moral
in der frühneuzeitlichen Bildbetrachtung
VII. Formakte
221 Nicola Suthor
Meta/Physik der Skizze.
Zum Nachvollzug des Gedankengangs im Linienzug
237 Yannis Hadjinicolaou
The Mind and the Eye in the Hand.
Arent de Gelder’s Processuality of Paint in the Context
of Early Modern Art Theory

257 Bildnachweise
Franz Engel & Sabine Marienberg

Out for a walk

1.
Im Nachlass von Edgar Wind in der Bodleian Library in Oxford befindet sich ein
Selbstporträt des Philosophen und Kunsthistorikers als Kopffüßler (Bild 1). Es
handelt sich um eine Gelegenheitszeichnung, womöglich an die Bürotür gehef-
tet, um den Kollegen zu signalisieren, dass er, „E.W.“, sich die Beine vertritt: „out
for a walk“. Der großzügige Schwung des Bleistifts bewirkt einen weiten Aus-
fallschritt des langbeinigen Spaziergängers, dem sich der Schriftzug in kursiver
Heiterkeit nachbeugt.
„out for a walk – DAS ENTGEGENKOMMENDE DENKEN“ lautete der
durch diese Zeichnung angeregte Titel einer im Sommer 2013 abgehaltenen

Bild 1  Edgar Wind: „out for a walk“,


Gelegenheitszeichnung, nach 1953,
Oxford, Bodleian Library, Special
Collections.
X
  Franz Engel & Sabine Marienberg

Tagung der Kolleg-Forschergruppe „Bildakt und Verkörperung“ an der Hum-


boldt-Universität zu Berlin. Die in den Versalien angelegte Doppeldeutigkeit war
Programm. Anders jedoch als im scholastischen Disput um die Wahrheit als
Resultat der Angleichung des Verstandes an die Dinge, der Dinge an den Verstand
oder beider aneinander, ging es um die Bewegung der Annäherung selbst – eine
Bewegung, die keine rein verstandesmäßige ist und die Körperlichkeit des sich
Entgegenkommenden ausdrücklich einschließt.
Neben Winds Imprese war der Veranstaltung als Motto eine Passage aus
Leonardo da Vincis Codex Arundel vorangestellt, in der die äußere und innere
Bewegtheit des Forschers einander bedingen:

Und getrieben von meiner sehnsüchtigen Begierde schweife ich umher,


um die große Fülle der verschiedenen und seltsamen Formen zu betrach-
ten, die die kunstfertige Natur hervorgebracht hat; nachdem ich ein
wenig inmitten der schattigen Klippen herumgelaufen war, gelangte ich
zum Eingang einer großen Höhle, vor der ich recht erstaunt und unwis-
send verweilte, den Rücken gebeugt, die müde Hand aufs Knie gestützt,
und mit der Rechten beschattete ich die gesenkten und geschlossenen
Wimpern, und als ich mich mehrmals hin und her beugte, um zu sehen,
ob ich dort etwas unterscheiden könne, verbot mir dies die große Dun-
kelheit, die darin war. Nach einer Zeit erwachte in mir plötzlich zweier-
lei: Furcht und Verlangen, Furcht vor der bedrohlich dunklen Höhle,
Verlangen zu sehen, ob irgend ein wunderbares Ding darin wäre.1

Auch ohne im Text zu erfahren, ob Leonardo den Schritt ins metaphorische


Dunkel gewagt hat, ist anzunehmen, dass seine eingangs nur durch Furcht und
Verlangen bestimmte Haltung dort ihre Fortsetzung in einem zu­nehmend diffe-
renzierteren Spiel von Adaption und Formgebung gefunden hätte. Entgegen-
kommendes begegnet zunächst als bloße Möglichkeit einer Bestimmung. In
seiner so verheißungsvollen wie mitunter bedrohlichen Offenheit gehört es zum
beständig gegenwärtigen „Hintergrund des Nichtwissens”, dem man sich nicht
mit bekannten Deutungsmustern, sondern nur ahnend nähern kann.2 Im Bemü-
hen, „verschiedene und seltsame Formen“ darin auszumachen, artikulieren sich
auch die Gebärden des Deutens, die vor dem Hintergrund eines jeweils mit-
gebrachten und probehalber preisgegebenen Wissens neue Bestimmungen her-
vorbringen.

1 Leonardo da Vinci: Codex Arundel [1478–1518], British Library, Arundel MS 263,


AR 155r (Übersetzung der Autoren). Das gesamte Manuskript ist als Digitalisat
zugänglich unter: http://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=arundel_ms_
263_f001r# (27. 10. 2015).
2 S. den Beitrag von Wolfram Hogrebe in diesem Band.
XI
  Out for a walk

2.
Eine solche wechselseitige Konturierung lässt sich nicht von einem fixen Stand-
punkt aus, sondern nur in teilnehmend bewegter Beobachtung vollziehen – out
for a walk. Allerdings bewahrt auch ein noch so entschiedener Aufbruch ins
Unbekannte nicht unbedingt davor, in schon vorhandenen epistemologischen
Gliederungen befangen zu bleiben.
Als Marco Polo während seiner Indienreise auf Klein-Java (wie Sumatra
auf mittelalterlichen Seekarten bezeichnet wurde) erstmals ein Nashorn sah,
hatte er keinerlei Zweifel daran, was ihm da entgegenkam. Dem hervorste-
chendsten Merkmal des Tieres nach konnte es sich nur um ein Einhorn handeln.
Zwar war es nicht annähernd weiß und um einiges plumper als in den herkömm-
lichen Schilderungen, doch ließ das charakteristische Horn gar keinen anderen
Schluss zu:3

Auf Klein-Java leben viele wilde Elefanten und Einhörner, die kaum klei-
ner als Elefanten sind. Ihr Fell gleicht jenem der Büffel, und Füße haben
sie wie Elefanten. Mitten aus der Stirn wächst das dicke schwarze Horn.
Mit dem Horn verletzen sie niemanden, hingegen mit der Zunge, denn
diese ist voll langer Stacheln […]. Das Einhorn hat einen Kopf wie ein
wilder Eber und neigt ihn unverwandt bodenwärts. Mit Vorliebe hält es
sich im Morast und im Schlamm auf. Zum Ansehen ist es ausgesprochen
häßlich. Diese Tiere haben mit unsern Einhörnern gar nichts gemein,
von denen man ja erzählt, sie ließen sich von Jungfrauen einfangen. Von
diesen Tieren ist in allen Beziehungen das Gegenteil zu sagen.4

Die horngeschmückten Tiere weichen nicht nur graduell vom üblichen Einhorn-
Schema ab, sie sind in vieler Hinsicht sogar konträr dazu. Dennoch wagt Marco
keine Neudeutung, sondern entscheidet sich für die recht mutwillige Einord-
nung in eine bestehende Taxonomie, die für die Daheimgebliebenen um einige
erstaunliche Charakteristika bereichert wird. In den Miniaturen der Ausgabe
einer französischen Handschrift des Milione von circa 1400 ist das Einhorn zu
einem (noch vertrauteren) Hirsch mit demonstrativ herausgestreckter Zunge
geworden, während das Horn auf die Stirn eines der Menschenfresser gewandert
ist, die laut Marco Polo auf der Insel ansässig waren. Einzelne Merkmale tauschen

3 S. hierzu auch Umberto Eco: Kant und das Schnabeltier, München 2003, S. 73f.
4 Marco Polo: Il Milione. Die Wunder der Welt. Übersetzung aus altfranzösischen
und lateinischen Quellen und Nachwort von Elise Guignard, Zürich 2008, S. 293f.
XII
  Franz Engel & Sabine Marienberg

Bild 2  Unbekannter Illustrator: Einhorn und Menschen-


fresser auf Klein-Java, Il Milione, um 1400.

die Plätze, Bezüge verwirren sich und gleiten ins Phantastische ab, während man
sich gleichzeitig weiterhin unbefangen geläufiger Formschemata bedient (Bild 2).
Auch im wenig später von Johann Ohnefurcht in Auftrag gegebenen
Buch der Wunder werden Marcos genaue Beobachtungen vernachlässigt und
das Realität gewordene Fabelwesen erscheint in gewohnt feingliedriger Gestalt
(Bild 3). Dass der unbekannte Illustrator den Text nicht eingehend genug studiert
hat, ist unwahrscheinlich, ist dem Einhorn doch stets ein Elefant gleichsam als
Referenzgröße beigesellt.5
Der Reisebegleiter Ferdinand Magellans und Chronist der ersten Welt-
umsegelung, Antonio Pigafetta, lässt sich auf der Insel Cimbombon, wo man zur
Ausbesserung der Schiffe 42 Tage im Hafen lag, angesichts eines nie zuvor gese-
henen Lebewesens immerhin auf eine Reihe von Experimenten ein. Unter dem
Stichwort Lebende Bäume notiert er zwischen August und September 1521:

Ich begegnete hier seltsamen Bäumen, deren Blätter, wenn sie abgefallen
sind, leben. Diese Blätter besitzen Ähnlichkeit mit denen des Maulbeer-
baums und haben einen kurzen, spitzen Stiel und am unteren Ende an
beiden Seiten Füße. Berührt man sie, laufen sie fort, zertritt man sie,

5 Ders.: Das Buch der Wunder. Aus: Le Livre du Monde [1404–1419], Ms. fr. 2810 der
Bibliothèque Nationale de France, Paris, München 1999. Auf anderen Illustratio-
nen im selben Band ist das Einhorn leuchtend weiß dargestellt (ebd., S. 126, S. 171).
XIII
  Out for a walk

Bild 3  Unbekannter Illustrator: Tierwelt auf Klein-Java, Le Livre du Monde,


1404–1419.

kommt kein Blut heraus. Ich bewahrte solch ein Blatt neun Tage lang in
einer Schatulle auf. Wenn ich die Schatulle öffnete, spazierte das Blatt
umher. Ich glaube, dass diese seltsamen Blätter von der Luft leben.6

Wenn Pigafetta auch nicht ahnt, dass es sich um heuschreckenartige Insekten


handelt und durchgehend an seiner ursprünglichen Deutung festhält, so hat er
doch den Begriff „Blatt“ nicht nur durch bloßen Augenschein erweitert (was im
Fall des Nashorns vermutlich ratsam war), sondern ein vermeintliches Exemplar
der Klasse der Blätter praktischen Erkundungen unterzogen. Er vollzieht so den
Schritt vom distanzierten Beobachter zum auch körperlich involvierten Ent-
decker. Dennoch geht es auch hier nicht darum, die einmal vorgenommene Ein-
ordnung zu suspendieren und sich in einer grundlegend ungewissen Situation
der Frage zu stellen, womit man es eigentlich zu tun hat – also nicht nur einem
bestehenden Schema neue Aspekte hinzuzufügen, sondern das Problem der Klas-
sifizierung und Klassifizierbarkeit selbst aufzuwerfen.
Den sukzessiven Verlust sämtlicher Deutungskategorien hingegen erlebt
der Protagonist der Erzählung There are More Things von Jorge Luis Borges: Ein
junger Mann kurz vor dem Philosophieexamen gelangt während eines nächt-
lichen Unwetters durch die nur angelehnte Tür in das ehemalige Haus seines

6 Antonio Pigafetta: Mit Magellan um die Erde. Ein Augenzeugenbericht der ersten
Weltumsegelung 1519–1522, hg. v. Robert Grün, Wiesbaden 2009, S. 195.
XIV
  Franz Engel & Sabine Marienberg

verstorbenen Onkels. Für den neuen Besitzer waren nach dem Verkauf einige
verstörende Umbauten in Auftrag gegeben worden. Zu Gesicht bekommen hatte
ihn niemand. Die Schilderung des Hauses bewegt sich konsequent jenseits des
Verständlichen und enthält sich jeder ein Gesamtbild erlaubenden Detaillierung.
Im Inneren herrscht schiere Mannigfaltigkeit – selbst die Anzahl der Gegen-
stände und ihre Abgrenzung untereinander ist ungewiss ­– und jeder Versuch
einer Synthesis muss entweder scheitern oder ruft ein geradezu metaphysisches
Entsetzen hervor. Auch Gestalt und Lebensweise des Bewohners anhand eines
möglichen Gebrauchs des befremdlichen Mobiliars zu erschließen, gelingt nicht:
Sonderbare Mulden und Leitern mit unregelmäßigen Abständen zwischen den
Sprossen lassen allenfalls einen monströsen Körper erahnen, der dem mensch-
lichen nicht gleicht. Zwischen Abscheu und Ungeduld bewegt sich der Eindring-
ling auf ein Unfassliches hin, dem er sich, als der Bewohner unerwartet zurück-
kehrt, mit dem letzten Satz der Erzählung ungeschützt stellt: „Meine Füße
berührten die vorletzte Sprosse der Treppe, als ich das Gefühl hatte, daß etwas
die Rampe emporkam, beklemmend und langsam und mehrzählig. Die Neugier
war stärker als die Angst, und ich schloß die Augen nicht.“7

3.
Eine rückhaltlos ahnende Annäherung ans Entgegenkommende ist grundsätz-
lich nicht risikofrei und lässt denjenigen, der sie unternimmt, nicht unverändert.
Von eben solchen Annäherungen handeln die hier versammelten Beiträge aus
Philosophie, Archäologie, Kulturanthropologie, Kunstgeschichte, Sprach- und
Musikwissenschaft. Die äußerliche Diversität der Gegenstände täuscht darüber
hinweg, dass sie eines gemeinsam haben: Sie sind von Menschen gemacht; dabei
lassen sich hier drei Arten von Gegenständen unterscheiden: objekthafte (Arte-
fakte, Kunstwerke), soziale (gemeinsame Praxis, Sprache) und ideelle (Theorien
und philosophische Positionen). Aus zeitlicher und kultureller Distanz kommen
diese dem Betrachter – als vorgefundene und nicht selbst erzeugte – gewisser-
maßen naturhaft entgegen. Dieser Präsenz des entgegenkommenden Denkens
dadurch auszuweichen, dass man seinen funktionalen oder ästhetischen, prakti-
schen oder theoretischen Sinn allein durch die Rekonstruktion geschichtlicher
Voraussetzungen erschließen zu können glaubt, hieße, sein gegenwärtig schöp-
ferisches Potential zu verkennen. Den geformten Gegenständen wohnt eine

7 Jorge Luis Borges: There are More Things [1977], in: Werke in 20 Bänden, Bd. 13:
Spiegel und Maske. Erzählungen 1970–1983, München 1993, S. 129–136, S. 136.
Im Titel klingt eine Passage aus Hamlet an, in der Hamlet dem vom umgehenden
Geist des Königs verwirrten Horatio entgegnet: „And therefore as a stranger give
it welcome. There are more things in heaven and in earth, Horatio, than are dreamt
of in your philosophy.“ William Shakespeare: Hamlet I/5.
XV
  Out for a walk

widerständige Kraft inne, die ihren Deutungsrahmen für den Menschen be­
schränkt. Als unverfügbares Teilmoment der Gegenwart fordern sie eine Hal-
tung, die die Grenzen der Deutungshoheit zu erkunden und anzuerkennen bereit
ist, im Sinne eines handelnden Ausprobierens, das gelingen mag oder auch nicht.
Umberto Eco hat dies jüngst mit dem Beispiel veranschaulicht, dass es – so sehr
wir auch wollten – unmöglich ist, einen Tisch so zu deuten, dass man auf ihm
zwischen Turin und Agognate auf der Autobahn in Richtung Mailand radeln
könne.8
Skepsis gegenüber den eigenen Deutungen ist auch im Umgang mit geis-
teswissenschaftlichen Gegenständen angebracht. Ein Artefakt, ein Werk, eine
gesellschaftliche Konstellation, eine Theorie: Was entgegenkommt, hat einen
bestimmenden Charakter, den wir nicht in eigenmächtigen Interpretationen
zum Verschwinden bringen können. Durch bewusstes Einklammern (oder, wie
bei Borges, durch den schrittweisen Verlust) bestehender kategorialer Formun-
gen kann man es zwar nicht im Sinne einer ursprünglichen Unmittelbarkeit
erreichen, aber doch als den immer wieder aufzusuchenden Anfang eines Ver-
stehensprozesses begreifen, der der Widerständigkeit geformter Objekte Rech-
nung trägt.
Philosophisch gerät damit jede Position unter Rechtfertigungsdruck, die
Tatsachen als bloße Konstrukte unserer Theorien und Methoden betrachtet.
Wolfram Hogrebe hat zu dieser Auffassung eine griffige Gegenformel gefunden:
„Geist ist außen, bricht aber innen durch.“9 In seinem Beitrag entdeckt Hogrebe
in den Schriften Gottlob Freges grundlegende Überlegungen zu einem entgegen-
kommenden Verstehen, das der begrifflichen Erkenntnis vorausgehen muss. Aus
„was ist Erkenntnis?“ wird so „was ist vor der Erkenntnis?“
Entgegenkommendes Denken ist immer auch ein körperliches. Die Phi-
losophie der Verkörperung wählt in der Regel in ihren vier Ausformungen, dem
so genannten 4-E-Ansatz (extended, embedded, embodied, enactive) das den-
kende Subjekt als Ausgangspunkt.10 Die Frage in der gegenwärtigen Diskussion
ist gewöhnlich, welche Rolle unser Körper und sein Umweltverhältnis für das
Denken spielen.11 Im vorliegenden Unternehmen ist Ausgangspunkt ein verkör-

  8 Umberto Eco: Gesten der Zurückweisung. Über den Neuen Realismus, in: Markus
Gabriel (Hg.): Der Neue Realismus, Berlin 2014, S. 33–51, S. 37f.
  9 Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen,
Berlin 2009, S. 17.
10 Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild: Einleitung, in: dies. (Hg.): Phi-
losophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin
2013, S. 9–102, S. 64f.
11 Zur Kritik der Theorie des Extended Mind s. a. Horst Bredekamp: „Sie begreift den
Körper und die Mittel des Denkens im Prinzip weiterhin als Extensionen eines
zerebralzentristisch zu denkenden Kerns, und damit leidet sie an dem Kurzschluss,
dem sie sich zu entziehen sucht.“ Ders.: Der Bildakt, Berlin 2015, S. 18.
XVI
  Franz Engel & Sabine Marienberg

pertes Denken, das uns widerfährt und in einem prinzipiell offenen Dialog zur
Anspannung und Schärfung unserer Erkenntnismittel zwingt.
Auch die Tagung war in diesem Sinne dialogisch angelegt. Die Vortra-
genden der Berliner Forschergruppe wählten jeweils einen Gast zum Austausch
über einen Gegenstand: Sascha Freyberg lud Robert E. Innis ein, den Beitrag der
amerikanischen Prozessphilosophie zum Denken in Objekten zu erörtern. Marion
Lauschke wählte Michael Kimmel als philosophierenden Tanzpartner, um der
Frage nach spontan oder reflektiert gelingender Interaktion der Partner im Tango
nachzugehen. Horst Bredekamp fand in Harald Floss nicht nur den wohl besten
Kenner prähistorischer Steinartefakte, sondern auch einen produktiven, weil
skeptischen Counterpart bezüglich der Frage nach der Bedeutung des Faustkeils
für die Entwicklung des menschlichen Geistes. Um die Anfänge des Denkens geht
es auch in Jürgen Trabants und Tilman Borsches Dialog über das vernehmende
Verstehen in Herders Sprachursprungsszenario. Sabine Marienbergs Frage nach
dem Verhältnis von Lautbewegung und Zeichenhaftigkeit in der Poesie stellt
Ulrich Mosch in analoger Weise für das Dirigieren: Wann wird eine Geste zur
be­­deutsamen Handlungsanweisung und wann ist sie Ausdruck des passiven Mit-
gerissenseins der sie beherrschenden Musik? Die abschließenden Beiträge setzen
sich mit der Theorie des Bildakts auseinander: Pablo Schneider fragt nach dem
moralischen Impetus frühneuzeitlicher Bildkunst, während sich Elisabeth
Oy-Marra jene Bilder vornimmt, in denen der Betrachter nicht nur moralisch,
sondern tatsächlich von den innerbildlichen Figuren unter Beschuss genommen
wird. Spielen hier die inhaltlichen Komponenten zur Konstitution von Bildakti-
vität die entscheidende Rolle, so untersucht der Dialog von Yannis Hadjinicolaou
und Nicola Suthor die Rolle von Farbauftrag und Linienzug für den Bildakt als
Formakt.
Wolfram Hogrebe

F rege als T heoretiker eines


entgegenkommenden V erstehens

Philosophen, die Systeme der Logik analysieren, und solche, die wissenschafts-
geschichtlich interessiert sind, werden Frege als bedeutenden Vertreter des logi-
zistischen Grundlegungsprogramms der Mathematik aufsuchen und präsen­
tieren.1 Diejenigen, die sprachphilosophisch interessiert sind, werden Freges
Semantik und ihre Probleme in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen stellen.
Wer vor allem ontologischen Fragen nachgeht, wird Frege als Theoretiker der
drei Reiche vorstellen, und wer den Ursprüngen einer bestimmten Art zu philo­
sophieren im 20. Jahrhundert nachgeht, wird zu Frege als einem Ahnherren
analytischen Denkens geführt. Dass Freges Werk so viele Zugangsmöglichkei-
ten bietet, mag als Fingerzeig dafür gewertet werden, dass man es hier mit einem
Klassiker der Philosophie zu tun hat.
Dafür spricht zudem der kontingente Umstand, dass Frege inzwischen
wie andere Klassiker der Philosophie auch von einem Versäulungsprozess erfasst
wurde. Seine Bronze-Büste ist im Philosophischen Seminar in Jena seit dem
5. September 1998 neben den Portraits von Fichte, Schelling, Hegel und Fries zu
besichtigen, in gleicher Formation, ohne Fries allerdings, seit dem 15. 12. 2000
auch im Philosophischen Seminar der Universität Bonn (Bild 1).
Frege ist als philosophischer Olympier überall als ein Denker anerkannt,
dessen Gedankenreichtum weit davon entfernt ist, ausgeschöpft zu sein. So gibt
es immer noch Bestandsstücke seines Denkens, die entdeckt sein wollen und
unsere systematischen Interessen auch heute noch befruchten können. Viele
solcher Bestandsstücke verdanken sich dem, was ich die Drift von Freges Denk-
entwicklung nennen möchte.
Frege begann als Mathematiker und ging hier, wie man etwas salopp
sagen könnte, „aufs Ganze“, indem er, wie er noch in seinem letzten Lebensjahr

1 Der vorliegende Text ist eine überarbeitete Fassung von: Frege als Hermeneut, in:
Wolfram Hogrebe: Echo des Nichtwissens, Berlin 2006, S. 67–84.
2
  Wolfram Hogrebe

rückblickend schrieb, die Frage zu beantworten unternahm, „was man unter


Zahlen und unter Arithmetik zu verstehen habe“.2
Kurz: „Von der Mathematik ging ich aus. In dieser Wissenschaft schien
mir die dringlichste Aufgabe in einer besseren Grundlegung zu bestehen.“3
Um diese Grundlegung in Angriff zu nehmen, benötigte Frege wegen
der „logischen Unvollkommenheit der Sprache“ notgedrungen das Instrument
der Begriffsschrift: „So kam ich von der Mathematik zur Logik.“4 Die Drift in
Freges Gedankenentwicklung gibt sich jetzt so zu erkennen, dass man dieses
Schema einfach fortschreibt: Auch in der Logik ging Frege „aufs Ganze“ und
wurde notgedrungen zum Semantiker und Sprachphilosophen. Auch hier ging
er schließlich „aufs Ganze“ und wurde so notgedrungen sogar zum Hermeneu-
ten. Als solcher ist er der Forschung natürlich nicht völlig entgangen,5 aber doch
noch in subtilen Filiationen zu entdecken.
So gibt es immer noch Areale vor allem seines späten Denkens, die es
verdienen, für unsere Zeit fruchtbar gemacht zu werden. Dazu gehört erstens
Frege als Theoretiker des Absurden, zweitens Frege als Theoretiker der Ahnung
und drittens Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens. Ich
beginne rekurrent mit letzterem.
Frege konnte sehr witzig schreiben, in der Regel aber nur, wenn er pole-
misch wurde. Im Genre der Polemik war Frege jedenfalls ein Meister und es ist
bedauerlich, dass es hierüber noch keine Studie gibt. Ein Beispiel für Freges

2 Gottlob Frege: Zahlen und Arithmetik [1924/25], in: Nachgelassene Schriften und
wissenschaftlicher Briefwechsel, hg. v. Hans Hermes/Friedrich Kambartel/Fried-
rich Kaulbach, Bd. 1, Hamburg 1969, S. 295.
3 Ders.: Aufzeichnungen für Ludwig Darmstaedter [1919], in: Nachgelassene Schrif­
ten (wie Anm. 2), S. 273–277, S. 273.
4 Ebd.
5 Insbesondere Gottfried Gabriel, einer der Herausgeber von Freges Schriften, hat
als erster auf Freges Beiträge zur Ästhetik und seine Bedeutung für eine Theorie
nicht-propositionaler Wissensformen hingewiesen; vgl. für unser Thema: Gott-
fried Gabriel: G. Frege über semantische Eigenschaften der Dichtung, in: Linguis-
tische Berichte 8 (1970), S. 10–17; ferner ders.: Freges verborgene Erkenntnistheo-
rie, in: Volker Gerhardt/Norbert Herold (Hg.): Perspektiven des Perspektivismus.
Gedenkschrift für Friedrich Kaulbach, Würzburg 1992, S. 93–111. Angeregt durch
diese Forschungen und ihnen thematisch eng folgend s. a. Christiane Schildknecht:
Sense and Self. Perspectives on Nonpropositionality, Paderborn 2002. Seit 1978
habe ich in diese nicht-propositionale Dimension des Erkennens mit Rückgriffen
auf die Deutungstradition der Mantik hineingedacht: Wolfram Hogrebe: Metaphysik
und Mantik, Frankfurt/M. 1992; ders.: Ahnung und Erkenntnis, Frankfurt/M. 1996.
Vgl. ferner die Arbeiten meiner Mitarbeiter: Carsten Klein: Kategoriale Unter­
scheidungen als Grenzbereich des Propositionalen, Bonn 2000; Joachim Bromand:
Philosophie der semantischen Paradoxien, Paderborn 2001, sowie ders.: „Wovon
man nicht sprechen kann, …“, Bonn 2001; Guido Kreis: Was ist unmittelbare
Erfahrung?, in: Wolfram Hogrebe (Hg.): Mantik. Profile prognostischen Wissens
in Wissenschaft und Kultur, Würzburg 2005, S. 37–55.
3
  Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens

Bild 1  Gottlob Frege


(1848–1925), Bronze von
Karl-Heinz Appelt,
Bonn.

polemische Meisterschaft ist unter anderem sicher auch seine Auseinanderset-


zung mit Alwin Korselt6 unter dem Titel Über die Grundlagen der Geometrie
von 1906.7
Zunächst zeigt sich Frege erfreut, dass Korselt in einigen Punkten, zum
Beispiel mit Ausdrücken wie „Wahrheitswert“, „das Wahre“ und „das Falsche“,
seine, Freges, Terminologie übernimmt.
Dann aber geht es zur Sache, insbesondere in Sachen Definition und
Axiom. Hier vermisst Frege bei Korselt, der Hilbert verteidigt, einen eindeutigen
Wortgebrauch. Frege destilliert allein fünf verschiedene Auffassungsweisen der
Axiome bei Korselt heraus, in die sogar Elemente der formalen Theorie der Arith-
metik etwa von Johannes Thomae eingeschmuggelt seien. Über die Beziehungen
dieser Auffassungen untereinander schwebe zudem ein „geheimnisvolles Dunkel“.

6 Vgl. hierzu Lothar Kreiser: Die Hörer Freges und sein Briefpartner Alwin Korselt,
in: Wittgenstein Studies, Diskette 1 (1995), Datei 24-1-95.txt; s. den nicht redi­
gierten Text unter: http://sammelpunkt.philo.at:8080/448/ (09. 09. 2015).
7 Gottlob Frege: Über die Grundlagen der Geometrie [1906], in: Kleine Schriften,
hg. v. Ignacio Angelelli, Darmstadt 1967, S. 281–323.
4
  Wolfram Hogrebe

Und jetzt bricht es mit Fichte’scher Rigorosität aus Frege heraus: „Klarheit! Klar­
­heit! Klarheit! Meint Herr Korselt, daß es ein Vergnügen sei, sich von ihm durch
diese verworrenen Dickichte führen zu lassen?“8 Mit diesem Ausbruch ist Freges
polemisches Feuer aber noch keineswegs erloschen.
Jetzt legt er erst richtig los, um Hilbert und Korselt gemeinsam zu kari-
kieren:

Herr Hilbert hackt Definition und Axiom beide ganz fein, mengt sie
sorgfältig durcheinander und macht eine Wurst daraus. Herrn Korselt
genügt diese Mischung nicht; er hackt auch noch die Thomaeschen Regeln
über den Gebrauch der Zeichen klein, gibt eine Messerspitze meines
Andeutens dazu und fügt aus eignen Mitteln die Beschreibung der Art
hinzu, wie sich Erfahrungsgegenstände verbinden lassen, mengt alles
gut durcheinander und macht eine Wurst daraus. An Mannigfaltigkeit
der Zutaten fehlt es wenigstens nicht, und ich zweifele nicht, daß für den
Liebhaber etwas Gutes herauskommt.9

Um noch eins drauf zu setzen, bietet Frege ein nach dieser Rezeptur kom­­poniertes
Beispiel, vor allem, um wieder Hilbert zu karikieren:

„Jedes Anej bazet wenigstens zwei Ellah.“


„Wie kann jemand solchen haarsträubenden Unsinn schreiben! Was ist
ein Anej? Was ist ein Ellah?“ So höre ich mit Entrüstung fragen. Bitte
sehr! Das ist ein Axiom, nicht von der alten Euklidischen, sondern von
der modernen Art. Es definiert den Begriff Anej. Was ein Anej sei, ist
eine ganz ungehörige Frage. […] Wenn man keinen Gedanken in diesem
Axiome findet, so schadet das nichts. Der Satz will gar keine Beschrei-
bung bekannter Tatsachen sein, er deutet solche höchstens an, und zwar
sehr fein, z.B. die bekannte Erfahrungstatsache, daß jede Wurst wenigs-
tens zwei Enden hat […].10

Mit seiner Forderung nach definitorischer Eindeutigkeit verbindet Frege nicht


zusätzlich die Forderung, dass alles definiert werden muss, ja er gesteht bekannt-
lich zu, dass es definitorische Grenzen gibt, und zwar genau da, wo man es mit
einfachen Begriffen zu tun hat, die von einer Begriffschemie nicht zerlegt oder

  8 Ebd., S. 285. In Fichtes Kritik an Rousseau heißt es einmal: „Hinstehen und klagen
über das Verderben der Menschen, […] ist weibisch […] Handeln! Handeln! Das ist
es, wozu wir da sind.“ Johann Gottlieb Fichte: Einige Vorlesungen über die Bestim-
mung des Gelehrten [1794], in: Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayri-
schen Akademie der Wissenschaften, Bd. I.3, hg. v. Reinhard Lauth/Hans Jacob,
Stuttgart 1966, S. 67.
  9 Frege: Über die Grundlagen der Geometrie (wie Anm. 7), S. 285.
10 Ebd.
5
  Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens

synthetisiert werden können. Denn, wie Frege sagt: „Die geistigen Tätigkeiten,
die zur Aufstellung einer Definition führen, können doppelter Art sein; zerle-
gend oder aufbauend, ähnlich der Tätigkeit des Chemikers, der entweder einen
gegebenen Stoff in seine Elemente zerlegt, oder gegebene Elemente sich zu einem
neuen Stoff verbinden läßt. In beiden Fällen erfährt man die Zusammensetzung
eines Stoffes.“11
Wo also eine solche Zusammensetzung von Elementen nicht möglich ist,
ist auch keine Definition möglich: „Wir müssen logische Urelemente anerken-
nen, die nicht definierbar sind.“12
Zu solchen Urelementen gehören Frege zufolge leider so wichtige Terme
wie ‚wahr’, ‚gut’, ‚schön’, aber auch ‚Punkt’ und ‚Funktion’. Sie alle sind Frege
zufolge nicht definierbar, da nicht in Elemente zerlegbar, sie sind eben elemen-
tar. Gerade deshalb entsteht hier das Problem, wie wir solche Urelemente über-
haupt verstehen können, wie wir uns mit ihnen verständigen können, wie wir
anderen ihre Bedeutung vermitteln können.
Frege stellt sich diesem Problem und an genau dieser Stelle wird er zum
Hermeneutiker. Übrigens nicht zu seiner Freude, im Gegenteil: Wie die Gelenke
unseres Driftschemas es bezeichneten, wurde er notgedrungen zum Hermeneu-
tiker und versäumte nicht, sogleich auch Maßnahmen zur Schadensbe­grenzung
zu ergreifen.
Zunächst stellt sich für Frege also das sachliche Problem, wie ein Beneh-
men über die Bedeutung nicht definierbarer Terme hergestellt werden kann. Ein
„Einverständnis über das logisch Zusammengesetzte“ ist „durch Definition[en]
leicht erreichbar. Da bei den Urelementen diese nicht möglich sind, muss hier
etwas anderes eintreten; ich nenne es Erläuterung.“13 Solche Erläuterungen von
Wortbedeutungen werden mit Hilfe von Beispielen gegeben, die in der Regel
„der Gebrauchsweise“14 von Wörtern folgen, wie Frege à la Wittgenstein sagt,15
und er ergänzt: Auch „ohne eine Bildlichkeit des Ausdruckes wird oft nicht aus-
zukommen sein“.16 Bilder helfen uns da weiter, wo unsere definitorische Kom-
petenz am Ende ist.

11 Ebd., S. 290.
12 Ebd., S. 288.
13 Ebd.
14 Gottlob Frege: Erkenntnisquellen der Mathematik und der mathematischen
Naturwissenschaften [1924/25], in: Nachgelassene Schriften (wie Anm. 2), S. 286–
294, S. 290.
15 Hans Sluga: Gottlob Frege, London 1999, S. 185f., vermutet sogar, dass Wittgen-
stein durch Freges Kontextprinzip zu seinem Sprachspielkonzept inspiriert worden
sei: „Frege’s context principle has been transformed into the claim that the study of
language must itself be seen as part of the study of human practices.“
16 Frege: Über die Grundlagen der Geometrie (wie Anm. 7), S. 288.
6
  Wolfram Hogrebe

Trotzdem können Erläuterungen oder Bilder ein Verstehen nicht erzwin-


gen. Sie werden, wie im letzten Jahrhundert in der Erlanger Schule gesagt wur-
de, nur einen protreptischen Status haben, sie dienen dazu, wie auch Frege
wörtlich sagt, „auf das Gemeinte hinzuführen“.17
Auch Frege betont, dass „der Zweck der Erläuterungen […] ein praktischer
ist“, sie dienen zum Beispiel „den Zwecken der Verständigung der Forscher
untereinander und der Mitteilung der Wissenschaft“.18 Insofern gehören solche
Erläuterungen, und das ist jetzt Freges hermeneutische Schadensbegrenzung,
nicht eigentlich ins „System der Wissenschaft“,19 sie gehen „dem Aufbau des
Systems voraus“.20 Man kann sie daher, so Frege, „einer Propädeutik zuweisen“.21
Frege braucht also Erläuterungen und Bilder, um das Verständnis ele-
mentarer Terme der Wissenschaften aufzubauen, aber er siedelt sie außerhalb
der Wissenschaft an. Das auch deshalb, weil eine Erläuterung ihr Ziel, die Ver-
mittlung eines Bedeutungsverstehens, nur „praktisch“ erreicht. Denn man kann
natürlich nicht ausschließen, dass wir in unseren Erläuterungen „wieder Wörter
der Sprache gebrauchen, die vielleicht ähnliche Mängel zeigen, wie die sind,
denen die Erläuterung abhelfen sollte. So scheinen denn wieder neue Erläute-
rungen nötig zu werden. Theoretisch betrachtet kommt man so eigentlich nie
ans Ziel; praktisch gelingt es doch, sich über die Bedeutung der Wörter zu ver-
ständigen.“22
Der Preis ist allerdings hoch. Darüber macht sich auch Frege als sensibler
Hermeneut, der er hier wirklich ist, keine Illusionen. Auf Seiten derer, denen
solche protreptischen Erläuterungen gegeben werden, muss man mit „etwas
gutem Willen, auf entgegenkommendes Verständnis, auf Erraten“23 rechnen
können. Aber auch auf Seiten desjenigen, der solche Erläuterungen gibt, sind
gewissermaßen explikative Tugenden erforderlich. Erstens kann man von ihm,
trotz gap of definitions, verlangen, „daß er selbst bestimmt wisse, was er meine“,
ferner muss er „mit sich selbst im Einklang“ bleiben und schließlich muss er,
„wenn sich die Möglichkeit eines Mißverstehens auch bei gutem Willen ergibt“,
bereit sein, „seine Erläuterungen zu vervollständigen und zu verbessern“.24
Diese hermeneutischen Überlegungen Freges zu den Gelingensbedin-
gungen von Erläuterungen sind in der Literatur mit Quines Principle of Chari-

17 Gottlob Frege: Logik in der Mathematik [1914], in: Nachgelassene Schriften (wie
Anm. 2), S. 219–270, S. 254.
18 Ders.: Über die Grundlagen der Geometrie (wie Anm. 7), S. 288.
19 Ebd.
20 Frege: Logik in der Mathematik (wie Anm. 17), S. 224.
21 Frege: Über die Grundlagen der Geometrie (wie Anm. 7), S. 288.
22 Frege: Logik in der Mathematik (wie Anm. 17), S. 224.
23 Frege: Über die Grundlagen in der Geometrie (wie Anm. 7), S. 288. Vgl. hierzu
gleichsinnig Frege: Logik in der Mathematik (wie Anm. 17), S. 224.
24 Ebd.
7
  Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens

ty25 in Verbindung gebracht worden.26 Das ist zweifellos ein fruchtbarer Vergleich.
Aber an Freges Text lässt sich zeigen, dass ihm mehr vor Augen schwebte als ein
Nachsichtigkeitsprinzip, ein Vorgriff auf Vollkommenheit (Gadamer) oder ein
principle of optimality (Dennett). Das wird vor allem in dem späten Text Freges
Erkenntnisquellen der Mathematik und der mathematischen Naturwissen-
schaften (1924/25) sehr schön deutlich. Hier resümiert Frege zunächst: „Nicht
alles kann nämlich definiert werden, sondern nur, was begrifflich zerlegt wor-
den ist, kann aus den durch die Zerlegung gewonnenen Teilen wieder zusam-
mengesetzt werden. Was aber einfach ist, kann nicht zerlegt und also nicht defi-
niert werden. Wenn man es doch versucht, kommt Unsinn heraus.“27
Es gibt für Frege also so etwas wie definitorische Schranken, sprachliche
Ausdrucksschranken, die aber, was hier wichtig ist, nicht zugleich auch Ver-
stehensschranken sind. Unser Verstehen und unser Bedeutungswissen reichen
auch bei Frege offenbar weiter als unsere definitorische Kompetenz. Das ist
sachlich insofern nachvollziehbar, als wir uns bei Definitionsversuchen schwie-
riger Terme häufig in Verlegenheit befinden, obwohl wir prägnant zu wissen
glauben, worin die Bedeutung des fraglichen Wortes besteht. Wir bedienen uns
in der alltäglichen Verständigungspraxis problemlos gewisser Terme und wer-
den auch verstanden. Trotzdem können wir ihre Bedeutung auf Nachfrage nur
unter Mühen erläutern. Wer zum Beispiel versuchen würde, so alltägliche Aus-
drücke wie ‚zärtlich’, ‚sanft’, ‚behutsam’, ‚sorgfältig’, aber auch ‚elegant’ oder ‚toll-
patschig’, ‚humorvoll’ oder ‚humorlos’ zu erläutern, wird um Beispiele, Beispiel-
szenen und Bilder nicht herumkommen und wird dennoch – das hat Frege als
Hermeneut richtig gesehen – auf ein entgegenkommendes Verständnis rechnen
müssen. Frege vergleicht diese Situation auch dem Spracherwerb von Kindern,
die in die Phase des Bedeutungsverstehens ja erst hineinwachsen. „Wie lernt das
Kind“, fragt Frege, „die Erwachsenen verstehen?“28
Wenn man mit Quine bereits Schwierigkeiten bekommt, wenn man sich
in Situationen begibt, in denen radikale Übersetzungen vonnöten sind, das heißt
solche, die sich nicht auf bereits vorhandene Lexika stützen können,29 so ist die
Situation beim kindlichen Spracherwerb noch wesentlich radikaler. In Quines

25 Vgl. Willard Van Orman Quine: Word and Object, Cambridge, MA, 1960, § 13 u.
§ 15. Ferner: Donald Davidson: Truth and Interpretation, Oxford 1984, S. 136, 168,
196 et passim. Zur Geschichte vgl. Oliver Scholz: Die allgemeine Hermeneutik bei
Georg Friedrich Meier, in: Axel Bühler (Hg.): Unzeitgemäße Hermeneutik,
Frankfurt/M. 1994, S. 158–191.
26 Meines Wissens zuerst von Werner Stelzner: Selbstbeschreibung und Identität, in:
Wolfram Hogrebe (Hg.): Fichtes Wissenschaftslehre 1794, Frankfurt/M. 1995,
S. 117.
27 Frege: Erkenntnisquellen der Mathematik (wie Anm. 14), S. 290.
28 Ebd.
29 Quine: Word and Object (wie Anm. 25), § 7.
8
  Wolfram Hogrebe

Situation der radikalen Übersetzung verfügen wir ja immerhin noch über einen
kompetenten Sprecher, der sich die ihm völlig unbekannte Sprache erschließen
will. Ein Kleinkind ist in diesem Sinne noch kein kompetenter Sprecher und
muss doch eine beliebige, völlig unbekannte Sprache erlernen. Hier liegt, wie
man analog zu Quine sagen möchte, die Situation eines radikalen Verstehens
vor, die wir alle als Infanten erfolgreich gemeistert haben.
Auch Frege stellt sich mit seiner Frage „Wie lernt das Kind die Erwach-
senen verstehen?“ der Situation eines radikalen Verstehens. Denn, wie er aus-
führt, lernen Kinder dieses Verstehen nicht so, „dass sie das Verständnis weniger
Wörter und grammatischer Verbindungen schon mitbringen, sodass man nur
nötig hat, mit Hilfe dieser schon vorhandenen sprachlichen Kenntnisse ihnen
das Unbekannte zu erklären“.30 Nein, so liegen die Dinge natürlich nicht, denn:
„In Wirklichkeit bringen die Kinder ja nur eine sprachliche Anlage mit.“31
Wie also kann mit dieser Anlage allein in der Standardsituation radika-
len Verstehens der Prozess des Sprachverstehens überhaupt gestartet werden?
Wir bewegen uns hier mit Frege klarerweise in vorsprachlichen Zonen und sollten
doch erläutern können, wie sich von hier aus das Erlernen einer Sprache ohne
selber sprechen zu können aufbaut.
Hiergegen ist die Situation der radikalen Übersetzung Quines geradezu
harmlos. Auch an dieser schlüpfrigen Stelle weicht Frege aber nicht aus, bleibt
indes in der ihm eigenen Art sehr vorsichtig und bietet doch interessante Finger-
zeige. Auf die Frage also, wie Infanten sprachlos in den Spracherwerb überhaupt
eintreten können, antwortet Frege anfänglich mit dem uns aus anderen Kontexten
schon vertrauten, aber hier dann noch überraschend komplettierten ­Hin­­weis:
„Man muss bei ihnen mit einem entgegenkommenden Verständnis rechnen kön-
nen, ebenso wie bei den Tieren, die mit dem Menschen zu einem gegenseitigen
Verstehen gelangen können.“32
Kinder und Tiere verfügen also, so Frege, womit man wenigstens rech-
nen können muss, über ein entgegenkommendes Verstehen, um in ein reziprokes
Verstehen überhaupt eintreten zu können. Dieses reziproke Verstehen ist immer
noch nichtsprachlicher Art, wie das gegenseitige Verstehen zwischen Tier und
Mensch, auf das Frege sich hier bezieht, deutlich macht. An dieser Stelle wird
jedenfalls auch sehr klar, dass Freges These von einem entgegenkommenden
Verstehen sehr viel mehr besagt als das Principle of Charity als kommunikative
Tugend. Über ein entgegenkommendes Verstehen verfügen Frege zufolge ja
auch schon Lebewesen, die entweder noch nicht, wie Infanten, oder prinzipiell
nicht sprechen können, wie Tiere.

30 Frege: Erkenntnisquellen der Mathematik (wie Anm. 14), S. 290.


31 Ebd.
32 Ebd.
9
  Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens

Frege dachte bei Tieren übrigens nicht an Amöben, Termiten oder Qual-
len, sondern an solche, die mit Menschen in einem Sozialverbund leben können,
aber auch nicht an Fliegen, Mücken, Spinnen oder Kakerlaken, sondern vorzugs-
weise an Hunde. So unterhielt er zu seinem eigenen Hund ein sehr vertrautes
Verhältnis. Über solche Details in Freges Leben sind wir – wie so oft – von
Lothar Kreiser unterrichtet. Noch in seinen letzten Jahren mochte sich Frege
von seinem Hund nicht trennen. So besuchte er von Bad Kleinen aus gelegent-
lich Verwandte: „Mußte er bei solchen Besuchen die Eisenbahn benutzen, saß er
in der 3. Klasse unter lärmenden Marktfrauen, nur um sich nicht von seinem
Hund trennen zu müssen.“33
Freges Auffassung eines entgegenkommenden Verstehens ist also sehr
tief verankert und liegt offenbar in nicht näher analysierter Weise den Anfän-
gen eines sozialsemantischen Selbstaufbaus des Geistes zugrunde, was immer
das heißen mag.
Man kann, Frege folgend, zumindest drei Leistungen mit dieser Verste-
hensart verbinden: erstens das gegenseitige Verstehen zwischen Tier und
Mensch, zweitens den kindlichen Spracherwerb und drittens das Verstehen von
Erläuterungen im vorwissenschaftlichen Bereich.
Die ersten beiden Leistungen hat Frege nicht weiter analysiert oder kom-
mentiert. Das Verstehen von Erläuterungen allerdings führt Frege in subtiler
Form noch weiter, indem er gelegentlich auf eine Form des Verstehens zu spre-
chen kommt, die als eine erste, aber noch extrem schwache Form des Bedeu-
tungsverstehens anzusprechen ist, die wir aber dennoch dringend brauchen.
An dieser Stelle vollziehen wir den Übergang zu Frege als passagerem
Theoretiker des Ahnens. Zunächst stoßen wir wieder auf die schon bekannten
Definitionsschranken. Es kann leider auch das Wort ‚Funktion’, so Frege, nicht
definiert werden. Ersatzweise bietet er Erläuterungen an, die in „die Gebrauchs-
weise von Funktionsbezeichnungen“34 einführen, um einem entgegenkommen-
den Verstehen auf die Sprünge zu helfen. Das Ziel solcher Erläuterungen ist die
Herstellung einer „hinreichenden Deutlichkeit“. So beschließt Frege seine exem-
plarischen Ausführungen zur Gebrauchsweise von Funktionsbezeichnungen
mit dem Satz: „[A]uch so wird es hinreichend deutlich sein, was ich meine, und
man wird wenigstens ahnen können, welche Wichtigkeit die Einführung der
Funktion in die mathematische Betrachtung und die der Funktionszeichen und
Funktionsbuchstaben in die mathematische Zeichensprache hat.“35

33 Vgl. hierzu Lothar Kreisers Rezension der Edition von Freges Nachgelassenen
Schriften (wie Anm. 2), in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 21 (1973), S. 519–
524, S. 523.
34 Frege: Erkenntnisquellen in Mathematik (wie Anm. 14), S. 290.
35 Ebd., S. 292.
10
  Wolfram Hogrebe

Dieses Ahnen ist in Freges Sprachgebrauch so etwas wie eine erste Ver-
festigungsform eines entgegenkommenden Verstehens, eine erste, wenngleich
noch fragile, aber doch schon positive Form eines erratenden Verstehens. Man-
tik fundiert Semantik.
Von einem solchen Ahnen macht Frege als Analytiker semantischer Ver-
hältnisse auch selbst Gebrauch. So hält er Mathematikern, die sich bloß mit
ihren Formeln begnügen, entgegen: „Hat man nicht doch im tiefsten Inneren
eine Ahnung, dass der Gedankeninhalt die Hauptsache, ja eigentlich das ist,
worauf es allein ankommt?“36
Ein Rückgriff auf Ahnungen als erste Verfestigungsform unserer ver-
stehenden Bemühungen macht es Frege auch möglich, mit einem Phänomen
nachsichtig umzugehen, das ich als semantische Dissonanz bezeichnen möchte.
Eine solche liegt vor, wenn ein Wortgebrauch einem entgegenkommenden Ver-
stehen signalisiert, dass der Sprecher wohl ahnt, was die korrekte Bedeutung
eines Wortes ist, dass er dieser Ahnung in seinen Explikationen jedoch nicht
immer entspricht. So billigt Frege zum Beispiel Weierstrass zwar zu, dass er
wohl erfasst hat, was eine Zahl ist, dass er dem aber explikativ nicht treu bleibt:
„Weierstrass hat eine richtige Ahnung von dem, was Zahl ist, und aus dieser
richtigen Ahnung heraus verbessert und ergänzt er immer das, was aus seinen
kundgegebenen Definitionen eigentlich folgen müßte. Er bewegt sich dabei in
Widersprüchen und gelangt doch zu wahren Gedanken.“37
Die semantische Dissonanz – auch bei Mathematikern – besteht hier
zwischen dem, was sie, wie Frege sagt, „für ihre Meinung ausgeben“ und dem,
„was ihre Meinung ist. Wir haben das bei Weierstrass gesehen, bei dem wir eine
Ahnung vom Richtigen voraussetzen mußten, im Widerspruch zu seinen eige-
nen Worten.“38
Frege spricht hier geradezu von einem Krankheitsbild von Mathemati-
kern, das solche semantischen Dissonanzen erzeugt, er spricht von einem mor-
bus mathematicorum, dessen „Hauptsymptome in dem Unvermögen bestehen,
zwischen Zeichen und dem Bezeichneten zu unterscheiden“.39 Aber dieser Schritt
in eine Wissenschaftspathologie soll uns hier nicht weiter beschäftigen.
Die wichtigste Funktion, für die Frege die Ahnung in Anspruch nimmt,
ist zweifellos darin gegeben, dass sie uns ein vorläufiges Verstehen auch da schon
sichert, wo Definitionen fehlen und nur Erläuterungen möglich sind. Wie schon
gesagt: Mantik fundiert Semantik.

36 Frege: Logik in der Mathematik (wie Anm. 17), S. 234.


37 Ebd., S. 240.
38 Ebd., S. 241 (Herv. v. Verf.).
39 Ebd.
11
  Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens

Wer sich zum Beispiel den philosophischen Disziplinen der Logik, Ethik
und Ästhetik zuwendet, möchte gern wissen, womit es diese Wissenschaften zu
tun haben. Ein volles Verständnis wird sich gewiss erst nach einiger Beschäfti-
gung einstellen, aber es ist nicht vermessen, vorab schon wenigstens ungefähr
zu erfahren, was einen erwartet.
„Beim Eintritt in eine Wissenschaft“, so Frege, „hat man das Bedürfnis,
vorläufig wenigstens eine Ahnung von ihrem Wesen zu erlangen. Man wünscht
ein Ziel zu sehen, dem man zustreben wird, einen Zielpunkt aufzustellen, der
die Richtung gibt, in der man fortschreiten will.“40
Das hier ins Auge gefasste Zielpunktvokabular für Logik, Ethik und
Ästhetik ist Frege zufolge mit den Worten ‚wahr’, ‚gut’ und ‚schön’ gegeben, aber
keiner dieser Terme ist definierbar und doch verstehen wir sie ansatzweise. Hier
hat also die Ahnung ihr Recht und wenn wir ehrlich sind, wird ein ahnender
Anteil unserem Bedeutungsverstehen auch dann erhalten bleiben, wenn wir uns
begrifflich ins Klare vorgearbeitet haben.
Normalerweise fassen wir ein Zielpunktvokabular mittels abstrakter
singulärer Termini und sprechen dann von dem Wahren, Guten, Schönen, aber
auch von der Gerechtigkeit, der Liebe, der Sympathie etc. Keiner dieser Aus-
drücke ist definierbar, allenfalls ein Stück weit explizierbar. Und wenn wir sol-
che Explikationen miteinander konkurrieren lassen, sie gemeinsam kritisch
gegeneinander abwägen wollen, können wir dies, wenn es um Adäquatheit geht,
wiederum nur im Rückgriff auf unser intuitives oder ahnendes Bedeutungsver-
stehen. Gewiss bewegen wir uns dabei, wie Frege gesehen hat, immer nur im
heuristischen Diskurs, aber es ist die Frage, ob unser Bedeutungsverstehen die-
sen jemals vollständig verlassen kann. Das hat Frege nicht gesehen.
Wenn dem in der Tat so ist, dann wird allerdings unser Zielpunktvoka-
bular auch grundsätzlich nicht eliminierbar sein. Es wird Explikate geben, die
mehr oder weniger adäquat sind, aber kein Explikat erschöpft den geahnten
Bedeutungsgehalt des Zielpunktvokabulars. Satzförmig kann dieser Gehalt offen-
bar nicht ausgeschöpft werden. Und so stellt die Ahnung ein nicht-propositiona-
les Bedeutungsverstehen bereit, das für unsere Verständigungsverhältnisse cha-
rakteristisch ist.
Für diese ist es ferner auch kennzeichnend, dass sie mit dem altehrwür-
digen Wesen umgehen. Auch Frege formuliert so, dass man beim Eintritt in eine
Wissenschaft eine Ahnung von ihrem Wesen erlangen möchte. Hier, im heuris-
tischen Diskurs, sind wir zwangsläufig semantische Essentialisten.
Wenn die Explikation eines Wortes, verglichen mit der Ahnung seiner
Bedeutung, als inadäquat abgewiesen wird, tut man dies mit Bemerkungen wie:

40 Gottlob Frege: Logik [1897], in: Nachgelassene Schriften (wie Anm. 2), S. 137–163,
S. 139.
12
  Wolfram Hogrebe

Das geht am Wesen der Sache vorbei! Das Wesen ist das bloß geahnte, nicht-
propositionale Bedeutungsvollbild und dieses dirigiert unsere explikativen Be­
mühungen. Aber es gibt eben deshalb keine propositionale Repräsentation des
Wesens, propositionale Bedeutungsexplikate bleiben immer fallibel und bleiben
im Rückgriff auf das bloß geahnte, nicht-propositionale Bedeutungsvollbild
revidierbar. Ein propositionaler Essentialismus kann natürlich nicht verteidigt
werden. Das Wesen gehört zur Mantik, nicht zur Semantik.
Dass Frege dem Eigensinn nicht-wissenschaftlicher Rede, also zum Bei-
spiel den Sätzen der Dichtung, Rechnung trägt, ist in der Literatur (vor allem
von Gottfried Gabriel) zu Recht verdeutlicht worden. Frege ist aber stets auch
daran interessiert, alles, was zugleich mit einem Gedanken zum Ausdruck ge­
bracht wird, möglichst sauber von diesem Gedanken selbst abzusondern, also
Ausdrucksmittel, die wahrheitswertindifferent sind wie rhetorische Mittel oder
Konnotationen: „Was man Stimmung, Duft, Beleuchtung in einer Dichtung
nennen kann, was durch Tonfall und Rhythmus gemalt wird, gehört nicht zum
Gedanken.“41 Solche von Frege auch „Winke in der Rede“42 genannten Ausdrucks-
mittel sind für unseren kommunikativen Alltag und die Dichtung wichtig, für
den Logiker nicht: „Dem auf das Schöne in der Sprache gerichteten Sinne kann
gerade das wichtig erscheinen, was dem Logiker gleichgültig ist.“43
Aber auch in den Geisteswissenschaften werden solche rhetorischen Win-
ke häufiger anzutreffen sein. Diese stehen, so Frege, eben deshalb „der Dichtung
näher“, sind „weniger wissenschaftlich“.44
Freges Feststellung braucht hier, obwohl Frege selbst wohl im Stil des
19. Jahrhunderts dazu neigt, nicht abwertend aufgefasst zu werden. Wir wissen
heute, dass jede Wahl von Beschreibungssprachen je nach Strenge von Zweck-
mäßigkeitsüberlegungen und vom Gegenstand der Beschreibung abhängt. Das
besagt schon das bekannte Toleranzedikt für Präzision von Aristoteles. Hier-
nach soll man Genauigkeit (ἀκριβεία) „nicht auf dieselbe Weise bei allen Gegen-
ständen fordern, sondern in jedem Fall gemäß der zugrunde liegenden Materie
und soweit es der Untersuchung angemessen ist. Denn auch der Schreiner und
der Geometer suchen die gerade Linie auf verschiedene Weise.“45
Heute wissen wir zudem, daß jede Wahl auch ihren Preis hat. Strengere
Beschreibungssysteme liefern zwar stärkere Erklärungen, haben aber einen ein-
geschränkten Anwendungsbereich. Wer Ausdrucksstärke bevorzugt, muss Ein-

41 Ders.: Logische Untersuchungen [1918/19], in: Kleine Schriften (wie Anm.  7),
S. 342–394, S. 348.
42 Ebd.
43 Ebd.
44 Ebd., S. 347.
45 Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, München 1972, S. 83 (1098 a 26–30); vgl. a.
S. 83 (1104 a 1–4) et passim.
13
  Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens

bußen in der Erklärungsstärke hinnehmen und umgekehrt. Trotzdem könnte in


beiden Fällen die aufgewendete erkennende Energie – falls es so etwas gibt –
gleich bleiben, jedenfalls dann, wenn man Beehs Hypothese von der „Konstanz
der erkennenden Energie“ akzeptiert: „Die Stärke und Rationalität der Erklä-
rung ist umgekehrt proportional zur Größe ihres Anwendungsbereichs.“46
Auch über diese Hypothese kann man natürlich streiten und man tut es.
Hier steht offenbar eine größere Klarheit über Komplexitätsschranken noch
aus.47
Aber kommen wir zurück zu Frege. Für ihn hat gerade das, was er
„sprachliche Winke“ nennt, also Metaphern und Bilder, nicht nur eine wichtige
heuristische Bedeutung, sondern, wie man sagen möchte, geradezu eine manti-
sche Antennenfunktion: „Wo es darauf ankommt, sich dem gedanklich Unfaß-
baren auf dem Wege der Ahnung zu nähern, haben diese Bestandteile [also
Bilder und Metaphern] ihre volle Berechtigung.“48
Das ist der hermeneutisch riskanteste Satz, den ich von Frege kenne.
Was Frege hier das gedanklich Unfassbare nennt, ist mindestens der weite
Bereich des Nicht-Propositionalen, an den wir angeschlossen bleiben, auch wenn
wir uns um wahre Gedanken allein bemühen. Dass sprachliche Winke auch da
noch ein kreatives Verstehen befördern können, wo es um nicht-propositionale

46 Volker Beeh: Sprache und Spracherlernung unter mathematisch-biologischer Per-


spektive, Berlin/New York 1981, S. 73f.
47 Vgl. hierzu erste Schritte auch mit Blick auf Frege: Volker Beeh: Verständnis ohne
Erkenntnis. Freges Sinn und Tarskis Undefinierbarkeit, in: Jochen Lechner (Hg.):
Analyse, Rekonstruktion, Kritik. Logisch-philosophische Abhandlungen, Frank­
furt/M. 1998, S. 123–139. Komplexitätsschranken sind auch für das Verhältnis von
Funktionen und multiplen Realisierungen charakteristisch, so dass hier reduk-
tionistische Hoffnungen einen schweren Stand haben. Das zeigt Martin Carrier in
der Studie: Bedeutung und Naturbeschreibung, Bonn 2000, sehr deutlich. Auch
mit Blick auf die erstaunlichen jüngsten Ergebnisse der Genforschung taucht der
Verdacht auf epistemische Komplexitätsschranken auf, die jedenfalls einfache Er­­
klärungsstrategien bottom up erschweren und komplementäre Sichtweisen begüns­
­tigen. Genetische Verwandtschaft spricht offenbar nicht immer für phänotypische
Verwandtschaft und umgekehrt. Trotz der genetischen Verwandtschaft haben
Fliege, Wurm und Mensch habituell vergleichsweise wenig gemein. Dasselbe gilt
für Raupe und Schmetterling, die beide sogar dasselbe Genom haben. Andererseits
sind die genetischen Unterschiede zwischen Feldmaus und Hausmaus größer als
zwischen Mensch und Schimpanse; diese Beispiele bringt Barbara Hobom: Die
erstaunliche Ähnlichkeit des Menschen mit dem Wurm, in: Frankfurter Allge-
meine Zeitung (13. Februar 2001). Ferner variiert schon die Proteinproduktion ein
und desselben Gens je nach Kombination in funktionsspezifischer Weise, ganz
abgesehen davon, dass die intrinsische Plastizität dieser Verhältnisse noch unter
die Modellierungsbedingungen der Umwelt gestellt werden muss. Komplexität
und Erkenntnis ist jedenfalls ein spannendes Feld der Erkenntnistheorie. Vgl. hier-
zu Gregory Chaitin: The Unknowable, Berlin/New York 1999.
48 Frege: Logische Untersuchungen (wie Anm. 41), S. 347.
14
  Wolfram Hogrebe

Wissensformen geht, ist nicht erst Frege deutlich geworden, sondern findet sich
vor Frege schon bei Platon im Siebten Brief49 wie ebenso nach Frege bei Witt-
genstein, der gerade für diese informellen Verstehensformen außerordentlich
sensibel war.
Ein prägnantes Beispiel für nicht-propositionales Wissen ist sicher das,
was man Menschenkenntnis nennt. Hier stellt sich Wittgenstein die Frage:
„Kann man Menschenkenntnis lernen?“ Und er antwortet: „Ja; Mancher kann
sie lernen. Aber nicht durch einen Lehrkurs, sondern durch ‚Erfahrung’. – Kann
ein Anderer dabei sein Lehrer sein? Gewiß. Er gibt ihm von Zeit zu Zeit den
richtigen Wink. – So schaut hier das ‚Lernen’ und ‚Lehren’ aus.“50
Dieses Beispiel von Wittgenstein macht vor allem deutlich, dass uns der
größte Teil unserer Lebenswirklichkeit in nicht-propositionalen Wissensformen
präsent ist. Umso erstaunlicher, dass Philosophen sich dieser informellen episte-
mischen Kulisse bis heute, wenn überhaupt, zumeist nur widerwillig gestellt
haben. Bivalente Wissensbestände sind für faule Denker einfach bequemer.
Frege jedenfalls stieß auf solche nicht-propositionalen Wissensformen
gerade in seinem Bemühen, Bedeutungsklarheit unantastbar zu machen. Aber
dieses Bemühen scheiterte an definitorischen Schranken und so erkannte er
außerhalb des propositionalen Raumes der Wissenschaften sogar Ahnungen an.
Sie sind für ihn eine erste Form des Bedeutungsverstehens und bleiben
auch die letzte, ganz einfach um sicherzustellen, dass wir auch die präziseste
Bedeutungsfestlegung gegebenenfalls immer noch kritisch revidieren können.
Woher Freges positive Einschätzung der Ahnung, die seinem wissen-
schaftlichen Naturell nun wirklich nicht liegt, kommen mag, ist von seinen
Texten her schwer zu ermitteln. Ich vermute, dass er in Jena mit dem Text von
Jakob Friedrich Fries Wissen, Glaube und Ahndung (Jena 1805) bekannt gewor-
den ist, der eine positive Theorie der Ahnung bietet, die auch heute noch lehr-
reich ist.51
Jedenfalls scheut Frege sich nicht, die Zonen vorwissenschaftlichen Ver-
stehens positiv zu akzentuieren und ihr Eigenrecht anzuerkennen, gerade um
einer Vermengung mit wissenschaftlichen Verstehensmodi vorzubeugen. So
notwendig Ahnungen als erste Form des Bedeutungsverstehens im heuristi-

49 Platon hält es nicht für sinnvoll, die ultimativen Einsichten in das Wesen der Din-
ge für alle aufzuschreiben oder ans Licht zu ziehen, mit Ausnahme derer, „welche
es selbst vermittels eines leisen Fingerzeiges aufzufinden imstande wären […]“
(Briefe 341 e), übers. v. Franz von Kutschera: Platons Philosophie, Bd. 1, Paderborn
2002, S. 49.
50 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1967, S. 264.
51 Vgl. Hogrebe: Ahnung und Erkenntnis (wie Anm. 5), S. 59ff.; ferner: Gottfried
Gabriel: Fries über „Philosophen des Witzes“ und „Philosophen des Scharfsinns“,
in: Wolfram Hogrebe/Kay Herrmann (Hg.): Jakob Friedrich Fries. Philosoph,
Naturwissenschaftler und Mathematiker, Frankfurt/M. u.a. 1999, S. 165–174.
15
  Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens

schen Bereich auch sein mögen, im doktrinalen Teil bivalenter Wissenschafts-


bestände haben sie natürlich nichts zu suchen. Hier ist umgekehrt jeder Hauch
eines Geheimnisvollen sicherer Index dafür, dass epistemisch etwas nicht klar
definiert, nicht in Ordnung ist. Und damit möchte ich abschließend auf Freges
Miniaturtheorie des Absurden zu sprechen kommen.
Karl Snell, Professor für Physik und Mathematik in Jena (1806–1886),
hat das Klarheitspostulat für die Mathematik so ausgedrückt: „In der Mathema-
tik muß alles so klar sein wie 2 · 2 = 4. Sobald da irgendetwas Geheimnisvolles
erscheint, ist das ein Zeichen, daß nicht alles in Ordnung ist.“52 Frege zitiert
diese Maxime Snells in einer seiner letzten Schriften zustimmend und fügt
noch ergänzend an: „Aber er selbst [Snell] konnte, wenn er über die complexen
Zahlen nach gaussischer Weise vortrug, nicht ganz das Geheimnisvolle ver-
meiden und er fühlte das auch selbst und war unbefriedigt von seinem Vortra-
ge.“53
Das Geheimnisvolle ist hier also ein Zeichen dafür, dass analytisch nicht
alles in Ordnung ist und das kann erstens besagen, dass etwas nicht hinreichend
klar ist oder zweitens, dass etwas irrig oder geradezu falsch ist und drittens, dass
etwas darüber hinaus geradezu absurd ist. Im Sinne dieser gesteigerten Varia-
tion findet sich bei Frege, mehr oder weniger implizit, tatsächlich eine kleine
Theorie des Absurden.
In seiner ebenfalls späten Abhandlung Zahlen und Arithmetik (1924/25)
schreibt Frege: „Dass die Reihe der ganzen Zahlen einmal abbreche, ist nicht nur
falsch, sondern wir finden es absurd.“54
Die Frage ist nur: warum? Frege gibt die Antwort: „Da muss ein Erken-
nen a priori beteiligt sein.“55 Was Frege als Spätkantianer hier andeuten will, ist
vermutlich folgendes: Absurd finden wir etwas genau dann, wenn es sich nicht
nur um etwas Unklares oder Falsches handelt, sondern geradezu um einen Kate-
gorienfehler, eine Sinnwidrigkeit also, die eine lokale Interferenz zweier Kate-
gorien oder Sprachen signalisiert. Im vorliegenden Fall also die Vorstellung, dass
die Reihe der ganzen Zahlen einmal abbricht, oder auch „dass es eine grösste
ganze Zahl geben könne“.56 Bei diesen Konzeptionen interferieren Beobach-
tungssprache und arithmetische Sprache und dies, so Frege, „deutet darauf hin,
dass die Arithmetik nicht auf Sinneswahrnehmung beruhen kann; denn dann

52 Gottlob Frege: Neuer Versuch der Grundlegung der Arithmetik [1924/25], in: Nach-
gelassene Schriften (wie Anm. 2), S. 298–302, S. 300.
53 Ebd.
54 Ders.: Zahlen und Arithmetik [1924/25], in: Nachgelassene Schriften (wie Anm.
2), S. 295–297, S. 297.
55 Ebd.
56 Ebd., S. 296.
16
  Wolfram Hogrebe

müßte man sich eben gegebenen Falls mit dem Abbrechen der Reihe der ganzen
Zahlen abfinden […]“.57
Die Ursache für diese Interferenz sieht Frege im sinnlich eingeübten
Ursprung des Zählens: „Das Zählen, aus einem Erfordernis des handelnden
Lebens psychologisch entsprungen, hat die Gelehrten irre geführt.“58
Eine strukturgleiche Interferenz mit absurden Effekten würde Frege
heute auch in der Neurophilosophie als Gefahr lauern sehen. Empirische Befun-
de der Hirnpsychologie wurden auch zu Freges Zeiten, zum Beipiel von Wilhelm
Wundt, als Basis einer Erkenntnistheorie zu verstehen gegeben. Wir sprechen
heute von neuronalen Erregungsmustern in Hirnarealen, die, wie Wirbel im
Wasser, das Denken begleiten und mit geeigneten bildgebenden Verfahren sogar
sichtbar gemacht werden können. Auch hier droht für Frege Absurdes: „An
einem Flusse stehend bemerkt man oft Wirbel im Wasser. Wäre es nun nicht
absurd, für einen solchen Wirbel den Anspruch zu erheben, er gelte oder er sei
wahr, oder auch, er sei falsch? Und wenn nun die Atome oder Moleküle in mei-
nem Hirn auch noch tausendmal lustiger und toller durcheinander tanzten als
die Mücken am schönen Sommerabend, wäre es nicht ebenso absurd zu behaup-
ten, dieser Tanz gelte oder sei wahr?“59
Immerhin mögen, das räumt Frege ein, hirnphysiologische Befunde für
psychologische Gesetze relevant sein. „Bei logischen Gesetzen dagegen wäre
dergleichen absurd; denn es handelt sich bei ihnen nicht darum, was dieser oder
jener Mensch für wahr hält, sondern darum, was wahr ist. […] Ob es wahr ist,
dass Julius Caesar von Brutus ermordet wurde, kann nicht von der Beschaffen-
heit des Gehirns von Professor Mommsen abhängen.“60
Das Absurde ergibt sich auch hier aus fälschlicherweise zugelassenen
Interferenzen zwischen physiologischen, psychologischen und logischen Spra-
chen oder Kategorien. Und Freges beißende Ironie über den „Schein der Objek-
tivität“,61 der so in der Erkenntnistheorie erschlichen wird, sollte auch heute noch
zur Vorsicht mahnen, insbesondere wenn man an die im Sinne Freges absurden
Folgerungen denkt, die Wolfgang Singer und Gerhard Roth aus den völlig über-
schätzten Experimenten von Benjamin Libet gezogen haben. Trotzdem werden
wir umgekehrt ebenso gehalten sein, Freges starke Version eines Reiches der
Gedanken zu modifizieren, vielleicht im Sinne eines faktizitätsabhängigen Pla-
tonismus, damit wir sicherstellen, dass eine Gerade zwischen zwei Punkten
zwar da ist, bevor sie hergestellt ist, aber doch nicht da, bevor die Lage der beiden
Punkte faktisch angegeben ist. Dieses Beispiel stammt von Goethe und Blumen-

57 Ebd.
58 Ebd., S. 297.
59 Frege: Logik (wie Anm. 40), S. 156.
60 Ebd., S. 160.
61 Ebd., S. 155.
17
  Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens

berg hat es aufgegriffen.62 An irgendeiner Version des Phänomens einer solchen


sekundären Idealität werden wir festhalten müssen, wenn uns das Verweisende
von faktisch Sinnlichem, das heißt das, was uns Zeichen und Symbole gegeben
sein lässt, nicht abhanden kommen soll.
Abschließend möchte ich noch die Frage stellen: Was hat man davon,
wenn man Frege in der vorgestellten Form als Hermeneut entdeckt? Meines
Erachtens zunächst dies: Frege ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass der oft
beschworene Unterschied zwischen analytischer und hermeneutischer façon
d’être der Philosophie nicht besonders interessant ist, vielmehr Züge einer
gewissen epigonalen Künstlichkeit aufweist.
Frege steht jedenfalls dafür, dass die kristallene Härte des Arguments
nicht mit phänomenologischer Impotenz erkauft werden muss. Seine tastenden
und sensiblen Schritte im Bereich informeller Wissensformen und des Bedeu-
tungsverstehens sollten weitere Untersuchungen in diesen ebenso schwierigen
wie faszinierenden Bereichen eher stimulieren als abschrecken.
Mir ist bewusst, um das hier nachzutragen, dass das Format nicht-pro-
positionalen Wissens, für das ein Bivalenzprinzip (wahr/falsch) nicht gilt,63 bei
vielen Erkenntnistheoretikern bestenfalls Kopfschmerzen, schlimmstenfalls
Kopfschütteln verursacht. Aber man bedenke ernsthaft: Auch ein Expertenwis-
sen ist als Wissen gewiss propositional, aber nicht als Wissen von Experten.
Eine gegebene Menge Daten oder Sätze gibt zwar Winke, wo die Sicht-
weise oder die Frage zu suchen ist, zu der sie passen oder eine Antwort sind, aber
diese Suche wird von diesen Daten oder Sätzen nicht suspendiert und verlangt
den Experten.
Und umgekehrt gilt auch: Eine Sichtweise oder Frage gibt zwar Winke,
im Focus welcher Daten relevante Daten sind oder die passende Antwort zu
suchen ist, aber auch hier wird die Suche nicht suspendiert und verlangt den
Experten.
Für diese Verhältnisse von Suchen und Finden ist Freges Unterscheidung
von Sinn und Bedeutung sinnvoll: Das Verstehen einer Suchanweisung impli-
ziert noch nicht das Glück des Findens und erst darin besteht Frege zufolge
Erkenntnis. Deshalb ist das Verstehen meistens leichter64 als das Erkennen, aber
eben auch fragiler.
Aber auch dieser Sachverhalt will erkannt sein. Wer soll das tun? Wir
wollen sagen, solche Dinge sind Sache der Philosophie, ein Unternehmen, das
sich damit abmüht, Klarheit in unsere plastischen Sinnverhältnisse zu bringen,

62 Vgl. Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt/M. 1986, S. 374.


63 Vgl. die bahnbrechende Arbeit von Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des
Wissens, Göttingen 1982.
64 Vgl. Beeh: Verständnis ohne Erkenntnis (wie Anm. 47), S. 131.
18
  Wolfram Hogrebe

ohne hoffen zu können, dass dieses Geschäft je ein Ende findet. So bleibt als Saum
der Klarheit des Bedeutungsverstehens immer ein letztlich Unverstandenes, ein
real unknown, das wir als ultimativen Hintergrund brauchen, um Bedeutungen
und Bedeutungskontraste überhaupt registrieren oder auch nur ahnen zu kön-
nen. Der späte Wittgenstein flankiert diese Vermutung: „Das Unaussprechbare
(das, was mir geheimnisvoll erscheint und ich nicht auszusprechen vermag) gibt
vielleicht den Hintergrund, auf dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeu-
tung bekommt.“65
Diesem „Wink“ folgend erhielte das Unaussprechbare beziehungsweise
darüber hinaus das real unknown eine fundierende Stellung für die Bedeutungs-
möglichkeit des Aussprechbaren, erzeugte ein Nichtverstehen erst die Möglich-
keit des Verstehens. Die sekundäre Idealität baut sich auf, wenn ein Wahrnehm-
bares auf ein Nicht-Wahrnehmbares, Unaussprechliches, Nicht-Gewusstes hin
angesprochen wird. Die Heine-Frage „ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß
p“, macht „daß p“ erst bedeutungsvoll.66 So sehen wir die Weltverhältnisse an,
das Faktische im Lichte einer sich entziehenden, einer entzogenen Bedeutungs-
haltigkeit, auf die das Faktische verweist und dadurch zeichenhaft wird. Das
Nichtverstehen ist der Sache nach das Erste, das Verstehen das Zweite. Aber
erst, wenn das Verstehen dem Begriff nach das Erste ist und das Nichtverstehen
das Zweite, gibt es die sekundäre Idealität, Zeichen und Symbole. Selbst wenn
diese Dinge alles andere als klar sind, so ahnten das schon Frühromantiker wie
Friedrich Schlegel: „Ja, das Köstlichste, was der Mensch hat, […] hängt, wie jeder
leicht wissen kann, irgendwo zuletzt an einem solchen Punkte, der im Dunkeln
gelassen werden muß, dafür aber auch das Ganze trägt und hält, und diese Kraft
in demselben Augenblick verlieren würde, wo man ihm den Verstand auflösen
wollte.“67 Die heutige Philosophie muss das real unknown erst wieder ent-
decken, um ihren Adel aus der Tiefe des Raumes, das heißt bottom up, wieder-
zugewinnen. Sie ist Unterbau, nicht Überbau.

65 Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, Frankfurt/M. 1977, S. 38; zitiert


und interpretiert auch bei Gottfried Gabriel: Literarische Form und nicht-proposi-
tionale Erkenntnis in der Philosophie, in: ders.: Zwischen Logik und Literatur,
Stuttgart, 1991, S. 32–64, S. 51.
66 Vgl. dazu Wolfram Hogrebe: Erlöschende Subjektivität, in: Echo des Nicht­w issens
(wie Anm. 1), S. 357–367, S. 362.
67 Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit, in: Kritische Friedrich-Schlegel-
Ausgabe, hg. v. Ernst Behler, Bd. 2, Abt. 1, München/Paderborn/Wien 1967, S. 362–
372, S. 370. Vgl. Wolfram Hogrebe: „Wer im Mythos lebt …“, in: Echo des Nicht-
wissens (wie Anm. 1.), S. 330–341, S. 337.
1. P roz e s s p h i lo s o p h ie
Robert E. Innis

E nergies of O bjects
Between Dewey and Langer

1. Fra m i ng t he Issues:
O n Consc iousness a nd For m
In his rich and allusive Art as Experience John Dewey developed a pragmatist
approach to the flux of experience that took over and extended to the aesthetic
domain central features of William James’s and Charles S. Peirce’s analyses of
consciousness, key elements and implications of which permeate Dewey’s writ-
ings. In his Principles of Psychology, which lurks in the constant background of
Dewey’s masterwork, James described the “free water of consciousness” as a
dynamic vortex of streams, eddies, and changing currents that encounter resis­
tances that give it an ever changing qualitative feel, manifested in what he called
its “infinite iridescences.”1 These iridescences belong not just to the felt qualities
of the experiential flux itself, to the pulsing life of subjectivity, but also to the
objective field of resistances, the stones, banks, and differential depths at which
they are encountered. Peirce characterized in a related, though still aquatic,
image this complex dynamic phenomenon as the “bottomless lake of conscious­
ness.”2 Implicit in Peirce’s only superficially static image is the idea that conscious-
ness itself is a form or matrix of ordering and is itself ordered, not just by its own
immanent or autogenic impulses but by external or exogenic interruptions of its
ongoing, fluctuating, underwater streams of experience. It is within this multi-

1 William James: Principles of Psychology, vol. 1, London 1891, pp. 255, 235.


2 Charles S. Peirce: Collected Papers, vols. 7–8, ed. by Arthur W. Burks, Cambridge,
MA 1958, vol. 7, par. 547: “I think of consciousness as a bottomless lake, whose
waters seem transparent, yet into which we can clearly see but a little way. But in
this water there are countless objects at different depths; and certain influences
will give certain kinds of those objects an upward impulse which may be intense
enough and continue long enough to bring them into the upper visible layer. After
the impulse ceases they commence to sink downwards.”
22
  Robert E. Innis

leveled matrix that what Cassirer called the “form worlds” of meaning arise,
often without explicit action of our own.
James saw this flux as divided into, or informed by, a triadic structure.
His triad is different from Peirce’s triad of feeling, reaction, and thought, whose
role in Dewey’s work is more implicit, although important, its place being taken
by Peirce’s theory of “quality.”3 The stream of consciousness, as James described
it, is (a) oriented toward a theme or focal core, which is (b) located in a field,
which is (c) surrounded by a margin or fringe, which gives a distinctive “aura”
to the forms of appearing. These forms for Dewey make up, when certain condi-
tions are fulfilled, the boundary-less realm of the aesthetic, a realm that, in his
startling image, arises out of the lowland of experience the way a mountain arises
out of a plain. The Jamesian theme-field-margin or fringe structure informs
Dewey’s experience-based approach to aesthetics and to aesthetic theory, just as
Peirce’s theory of quality did. Such a schema characterizes the “frames” within
which the objective correlates of the experiential flux are accessed and consti-
tuted. These frames are raised to a higher power in the realm of art and distinc-
tively aesthetic experience.
Dewey follows James in his notion that experience grows at its edges.
Consider this passage from Dewey’s Art as Experience:

We are accustomed to think of physical objects as having bounded edges;


things like rocks, chairs, books, houses, trade, and science, with its efforts
at precise measurement, have confirmed the belief. Then we uncon-
sciously carry over this belief in the bounded character of all objects of
experience (a belief founded ultimately in the practical exigencies of our
dealings with things) into our conception of experience itself. We sup-
pose the experience has the same definite limits as the things with which
it is concerned. But any experience the most ordinary, has an indefinite
total setting. Things, objects, are only focal points of a here and now in a
whole that stretches out indefinitely. This is the qualitative “background”
which is defined and made definitely conscious in particular objects and
specified properties and qualities. […]
For although there is a bounding horizon, it moves as we move. We are
never wholly free from the sense of something that lies beyond. Within
the limited world directly seen, there is a tree with a rock at its foot; we
fasten our sight upon the rock, and then upon the moss on the rock, per-
haps we then take a microscope to view some tiny lichen. But whether the

3 See Robert E. Innis: The ’Quality’ of Philosophy. On the Aesthetic Matrix of


­Dewey’s Pragmatism, in: Larry A. Hickman/Matthew Caleb Flamm/Krzysztof
Skowroński/Jennifer A. Rea (eds.): The Continuing Relevance of John Dewey: Re­­
flections on Aesthetics, Morality, Science, and Society, Amsterdam 2011, pp. 43–60.
23
  Energies of Objects

scope of vision be vast or minute, we experience it as a part of a larger


whole and inclusive whole, a part that now focuses our experience. We
might expand the field from the narrower to the wider. But however
broad the field, it is still felt as not the whole; the margins shade into that
indefinite expanse beyond which imagination calls the universe. This
sense of the including whole implicit in ordinary experiences is rendered
intense within the frame of a painting or poem.4

An art work for Dewey, as distinguished from the material art product, is, as he
outlines in a pivotal chapter on the “Organization of Energies” (AE 168–193), a
framed, that is, organized, and realized field of energies of various sorts encoun-
tered in particular objects. In this sense it is a distinctive kind of form or the-
matic unity. For Dewey the art work is defined by, or constituted by, the “work”
the material (in whatever medium) art product does in experience, by the types
of meaning-experiences it gives rise to, including experiences of recollection and
of stretching toward the future.
Although Dewey does not utilize this terminology, we can say that the
art work is a sign-configuration, fundamentally an iconic symbol in Peirce’s
classification. Each instance of such a symbol has a defining felt quality, initiates
specific forms of resistances by means of its differentially pertinent features, and
carries or articulates a core import. The art work is accessed through what Peirce
called the interpretants, or the “proper significate effects,” that the art product,
in becoming an art work, engenders in the perceiver or, more generally, the
interpreter. Following Peirce’s major triad of the typology of signs, we can say
that the art work has a defining quality as an image (iconic aspect), is marked by
differentially pertinent, and effectively constraining, features (indexical aspect),
and is the embodiment of an idea or synthesizing import inseparable from its
perceptual configuration or material quality or feel (symbolic aspect). Peirce
schematized these interpretants, which are clearly derived from his system of
categories and his major triad of signs, into (a) the emotional/affective, (b) the
energetic, and (c) the logical. The point, independent of terminology, is that the
object – indeed, for that matter, any object – gives rise to, and is accessed through,
different types of “proper significate effects.” These effects, or powers to effect
and to affect, are resident in the object but are only activated in the experiential
encounter.5

4 John Dewey: Art as Experience [1934], New York 2005 [AE], pp. 200f.
5 See Robert E. Innis: Peirce’s Categories and Langer’s Aesthetics, in: Cognitio 14/1
(2013), pp. 35–50, for a fuller explication of these correlations as well as chapter two
of id.: Consciousness and the Play of Signs, Bloomington 1994. While the literature
on Peirce’s theory of signs has grown to mountainous proportions, one can still
profitably consult James Jakób Liszka: A General Introduction to the Semeiotic of
24
  Robert E. Innis

Nevertheless, notwithstanding the processes of experience-dependent


activation, these powers themselves are objective and materially embodied as
potencies. They are real even if, for us, they have to be realized in our experience,
which they inform and in their own way activate. On the Peircean-Jamesian-
Deweyan position, both experience and the objects of experience are dynamic
realizations and exemplifications of the interlocked processes of form and sign
production. On the semiotic side, which Peirce explored obsessively, experience
and its objects are dynamic realizations and exemplifications of signifying pro­
cesses. I have argued at length elsewhere that at both the experiential and semio­
tic poles, which ultimately are identical, experience itself is the emergence and
creation of forms of various levels and types of complexity that are sources of
differential degrees and kinds of semiotic energy.6 Of course, this is the focus of
Cassirer’s and his great “continuator,” Susanne Langer’s, exploration of the
“form worlds” emerging out of the protean nature of consciousness and the
matrices of feeling or sentience.7

2. A n E xempl i f y i ng I nst a nc e
How can we foreground and concretize, in the present context and in more detail,
some defining and universal aspects of these energies of objects, especially those
objects that are art images? What gives them their energy or types of energies?
How, further, do the energies of objects mirror the very energies of their origi-
nating matrices?

Charles Sanders Peirce, Bloomington 1996, where these basic distinctions are
sketched.
6 Of special relevance for the theoretical and systematic background of these reflec-
tions see, besides Innis: Consciousness and the Play of Signs (as fn. 5), id.: Pragma-
tism and the Forms of Sense, University Park, PA 2002, and id.: Susanne Langer in
Focus. The Symbolic Mind, Bloomington 2009. They flesh out a wider range of
connections than could be attempted in an essay in this format.
7 Cf. the pregnant text from one of Cassirer’s seminar papers, Ernst Cassirer: Lan-
guage and Art II [1942], in: Donald Phillip Verene (ed.): Symbol, Myth, and Cul-
ture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer. 1935–1945, New Haven 1979, p. 186:
“The sphere of art is a sphere of pure forms. It is not a world of mere colors, sounds,
tactile qualities – but of shapes and designs, of melodies and rhythms. In a certain
sense all art may be said to be language, but it is language in a very specific sense.
It is not a language of verbal symbols, but of intuitive symbols. He who does not
understand these intuitive symbols, who can not feel the life of colors, of shapes, of
spatial forms and patterns, harmony and melody, is secluded from the work of art
– and by this he is not only deprived of aesthetic pleasure, but he loses the approach
to one of the deepest aspects of reality.” Note the references to rhythms, to non-
linguistic symbols, to feeling the life of the play of forms that exemplify the deep
structures not just of art but of nature itself. All these themes are taken up by
Dewey and Langer.
25
  Energies of Objects

Dewey and Langer offer substantial and complementary conceptual tools


for engaging these questions. They will function as surrogates for a vast range
of efforts to delineate the energetic powers of the image-world.
For Dewey, “an esthetic experience, the work of art in its actuality, is
perception.” (AE 169) For Langer, what is perceived, the art product on its way
to becoming the art work, is a presentational symbol that mirrors and projects
the “morphology of feeling” in processes of “symbolic transformation.” Such
symbols must be both perceived and interpreted. In spite of Langer’s peremp-
tory and wrong-headed dismissal of Dewey’s approach to art and the aesthetic,
Dewey’s nuanced investigations of the perceptual conditions effecting the tran-
sitions out of ordinary perception are complemented by Langer’s remarkable
exploration of the heuristic fertility of the art image to uncover the dynamics of
minding and to present the infinite ways we feel the world. Both Dewey and
Langer show that the energies of objects evoke in us deep resonances of self-
recognition and inform our processes of self-interpretation. They enliven us in
their givenness and in their creation, in the processes of undergoing and under-
taking that make up the “swing and sway” of experiencing, the dialectic of activ-
ity and passivity.
Let us follow up these ideas with an example. Consider the following pas-
sage from Iris Murdoch’s novel The Sacred and Profane Love Machine. In this
passage, Harriet Gavender, the wife of Blaise Gavender, the psychological and
narrative pivot (and even butt) of the novel, is visiting the National Gallery in
London and has been viewing a famous picture of St. Anthony and St. George
by Giorgione, today usually called Il Tramonto (Fig. 1):

She had felt very strange that afternoon in the National Gallery. An
intense physical feeling of anxiety had taken possession of her as she was
looking at Giorgione’s picture […] There was a tree in the middle back-
ground which she had never properly attended to before. Of course she
had seen it, since she had often looked at the picture, but she had never
before felt its significance, though what that significance was she could
not say. There it was in the middle of clarity, in the middle of bright dark-
ness, in the middle of limpid sultry yellow air, in the middle of nowhere
at all with distant clouds creeping by behind it, linking the two saints yet
also separating them and also being itself and nothing to do with them at
all, a ridiculously frail poetical vibrating motionless tree which was also
a special particular tree on a special particular evening when the two
saints happened (how odd) to be doing their respective things (ignoring
each other) in a sort of murky yet brilliant glade (what on earth however
was going on in the foreground?) beside a luscious glistening pool out of
which two small and somehow domesticated demons were cautiously
26
  Robert E. Innis

emerging for the benefit of Saint Anthony, while behind them Saint
George, with a helmet like a pearl, was bullying an equally domesticated
and inoffensive little dragon.
Hypnotized by the tree, Harriet found that she could not take herself
away. She stood there for a long time staring at it, tried to move, took
several paces looking back over her shoulder, then came back again, as if
there were some vital message which the picture was trying and failing
to give her. Perhaps it was just Giorgione’s maddening genius for saying
something absurdly precise and yet saying it so marvellously that the
precision was all soaked away into a sort of cake of sheer beauty. This
nervous mania of anxious ’looking back’ Harriet recalled having suffered
when young in the Louvre and the Uffizi and the Accademia. The last
visit on the last day, as closing time approached, indeed the last minutes
of any day, had had this quality of heart-breaking severance, combined
with an anxious thrilling sense of a garbled unintelligible urgent mes-
sage.8

This is a remarkable description of a full and deep encounter with, and problem-
atic interpretation of, a remarkable painting, albeit of murky provenance.9
The body-mediated encounter with this painting – the art product on the
way to becoming the artwork – is for Harriet first and foremost a work of embod-
ied perception, just as the actual production of the painting was and as Dewey
affirmed. Its enigmatic significance, however, elicits a work of interpretation,
just as the painting itself is an interpretation or symbolic projection of a complex
“spiritual” relationship conveying what Murdoch calls a “vital message.” But, in
spite of its explicitness, indeed, its absurd precision, what it means seems to slip
away beyond the bounds of discourse, even though the configuration of marks
on the canvas, its formed matter as Dewey argued in the two chapters (6 and 7)
devoted explicitly to form in his Art as Experience, was as “articulate” as pos-
sible and consummately beautiful. Harriet finds, or experiences rather, a deep
“affective” affinity (not necessarily harmonious) between herself and the world

8 Iris Murdoch: The Sacred and Profane Love Machine, London 1974, pp. 41f.
9 The figure in the foreground is not Saint Anthony. It is an allusion to St. Roch and
his assistant. The background figures are not certain to be from Giorgione’s hand
and St. Anthony is hidden to the far back right of the picture. Indeed, it appears
that the figures of St. George and St. Anthony are reconstructions. This art his-
torical fact in no way contravenes, however, Murdoch’s aesthetically rich descrip-
tion of the aesthetic encounter. I have discussed other aspects of Harriet’s experi-
ence of the painting: Robert E. Innis: Dimensions of an Aesthetic Encounter, in:
SunHee Kim Gertz/Jaan Valsiner/Jean-Paul Breaux (eds.): Semiotic Rotations,
Charlotte, NC 2007, pp. 113–134.
27
  Energies of Objects

Fig. 1  Giorgione: Il Tramonto, 1508, oil on canvas, 73,3 × 91,5 cm, London,


National Gallery.

projected in the painting, what Dewey called its “resonances” and James its “aura.”
The affective quality or affective tone that structures the painting offers her a
source both of self-recognition and of a kind of shattered, even undefined and
indefinable, self-completion. The painting “speaks” to her, energizes her, even
though, by reason of the painting’s non-discursive logic (Peirce’s iconic symbol-
ism), which Langer has explored in depth, she is not able to say or fully compre-
hend what it is “saying.” Indeed, following Langer, it is not saying anything at all.
In this way, (a) the perceptual, (b) the existential hermeneutical, and (c) the
semiotic dimensions of Harriet’s encounter are intertwined and reinforce one
another.
Murdoch pinpoints or foregrounds the distinctive features of the existen-
tial meeting between Harriet and the painting, but in a way that goes beyond
this particular case. The imaginative description of Harriet’s inner conscious-
ness and the described painting (neglecting art historical niceties) are clearly
correlative and mutually defining. Both are perceptually thick, hermeneutically
engaging and nuanced, and exemplify the diversity and complexity of signify-
ing powers of the various sign systems that carry the perceptual qualities, objects,
28
  Robert E. Innis

and significances embodied in, represented by, and expressed in the painting and
in Murdoch’s text.10

3. O n R hy t h ms
The work of art for Dewey is fully found or encountered in perceptual experi-
ence, and its energetic powers depend, first of all, on the existence of rhythms in
nature. Murdoch’s text adverts to these in numerous ways by delineating the
qualities of Harriet Gavender’s perceptual and affective foci. Distinctively aes-
thetic rhythm, though, goes beyond the play of natural rhythms. “[E]sthetic
rhythm,” Dewey says, “is a matter of perception and therefore includes what-
ever is contributed by the self in the active process of perceiving.” (AE 169) This
is certainly something we see exemplified and described in Murdoch’s text,
which, as a presentational form embodied in discursive matter, has its own rhyth-
mic structure. Each point of transition in the described active process of perceiv-
ing is guided by the pull of aspects of the painting and involves “furtherance,
through the energy of the elements, of a complete and consummatory experi-
ence.” (AE 170)11 Rhythm is “ordered variation of manifestation of energy” and
for Dewey “variation is not only as important as order, but it is an indispensable
coefficient of esthetic order.” (AE 170) Aesthetic order, on his view, is a process.
It is an ordering, a carrying forward, a cumulative progression, that is defined and
measured not in terms of static elements but by what he calls “functional and
operative traits.” (AE 172) The issue is not one of recurring units but of recurring
relationships that “serve to define and delimit parts, giving them individuality
of their own.” (AE 172) It is precisely this individuality that initiates Harriet
Gavender’s new response, breaking the familiarity with the painting and
putting her into play.12 She becomes conscious of a new effect – and of a new
affect – and is thereby energized. Taking his lead from James’s acknowledgment
of the “ever, not quite” feature of our experiencing, Dewey writes: “Every
movement of experience in completing itself recurs to its beginning, since it is a
satisfaction of a prompting initial need. But the recurrence is with a difference;
it is charged with all the differences the journey out and away from the begin-
ning has made.” (AE 175)

10 These philosophical implications are expanded in a different way in: Innis: Dimen-
sions of an Aesthetic Encounter (as fn. 9).
11 Dewey’s use of the term “furtherance” is reminiscent of its use later by the psy-
chologist James Gibson.
12 Of course, this reminds one of the Schillerian background to Dewey’s aesthetic
theory as well of its exploitation in the German hermeneutic tradition, especially
by Gadamer, who foregrounds the risk-taking and transformative side of the expe-
rience of art.
29
  Energies of Objects

Fig. 2  Pierre-Auguste Renoir: Bathers in the Forest (Baigneuses dans la forêt),


about 1897, oil on canvas, 73,7 × 99,7 cm, Merion, Barnes Foundation.

Now, is this not precisely what is happening in Harriet’s re-encounter


with the Giorgione, with her sense that it is “charged” with a new import? In her
case and in ours, in Dewey’s words: “The need of life itself pushes us out into the
unknown.” (AE 175) Harriet’s own life rhythm is marked by a dialectic of clo-
sure and awakening, and, as Dewey says, “every awakening settles something.
This state of affairs defines organization of energy.” (AE 176) The “sudden magic,”
in Harriet’s case her new engagement with the Giorgione, “gives us the sense of
an inner revelation brought to us about something that we had supposed to be
known through and through.” (AE 177) It is, as Dewey says, the “variety and
scope of factors which, in being rhythmic each to each” build up and inform our
perceptual frames. (AE 178) Our prior frames have to be “broken through” or
interrupted (an instance of Peircean secondness) in order for the requisite degree
of energy to be evoked, but the energy also has to come from our own willing-
ness to be put into play, to be caught up in and informed by the pregnant image.
This willingness itself can clearly surprise us, manifesting an openness or need
we did not know we had prior to the encounter.
In an analysis of “an actual painting,” albeit unnamed, but apparently
one of Renoir’s bather paintings (Bathers in the Forest) or one of Cézanne’s
30
  Robert E. Innis

Bathers from the Barnes Foundation collection,13 (Fig. 2) Dewey enumerates, in


schematic and illustrative mode, five systems of rhythm or kinds of organic
energy: (1) vertical and (2) horizontal rhythms controlling the movement of
the eye across the painted surface and which offer moments of halt or arrest
(Jamesian perchings) in the visual engagement, (3) color rhythms associated with
areas and masses, (4) spatial rhythms constituted by “spatial intervals deter-
mined by a series of receding and intertwined planes,” giving rise to the impres-
sion of depth, (AE 181) and (5) rhythms of luminosity. It is clear that these are
formal features of the art work as a perceptual object (an art product in Dewey’s
terminology) and their bald enumeration is not unique to Dewey’s aesthetic the-
ory. This seriation of features, however, transcends the commonplace or obvious
because it is clearly informed by James’s differentiation of the transitive and
substantive parts of consciousness and its assimilation to the image of the flights
and perchings of a bird. But it is essential to note that the art work that Dewey
is using as his semi-anonymous illustration can manifest these formal features
without necessarily having any aesthetic power, although the one he is alluding
to does, even if one might ask whether it applies better to the Renoir than to the
Cézanne.
It is the presence of tension and of stretched time or the coordination of
what Dewey called “various sensory-motor energies” that moves the perceiver,
willy-nilly, beyond mere recognitions to engagement and maybe even self-
transformation. The mark of an objective organization of energies, in this and
cognate cases, is that the object “seems to move from within,” (AE 183) an aspect
of engagement certainly found in Murdoch’s linguistic reproduction of Harriet
Gavender’s consciousness, a discursive reproduction which itself exemplifies
what it is about, and as Rilke’s poem on the bust of Apollo does with its imputed
demand to change one’s life. The livingness of the art work instigates and con-
trols the organization of our energies and, Dewey says, it is the factor of living-
ness that engenders in our engagement with the art product “the feeling of
dealing with a career, a history, perceived at a particular point of its develop-
ment,” (AE 183) a process that is not closed, but open.

13 In the critical edition of Art as Experience the Renoir painting is one of the illustra-
tions. But it is placed in the chapter on the natural history of form. From Dewey’s
descriptive analysis, however, one could just as easily infer that it applies to one by
Cézanne.
31
  Energies of Objects

4. O n L iv i ng ness

Langer, for her part, says confirmingly that the sphere of art is where “diverse
means and very subtle ways of projecting ideas force themselves on one’s atten­
tion.”14 Of course, as Dewey remarks, in light of his transactional account of the
organism-environment relation, lack of preparation in the perceiver can blunt or
negate that force with deleterious consequences on multiple levels. The energies
of the object or the art image have to be met by the energies of the perceiver.
These creative energies both depend upon and give rise to the object and, as
Langer shows, are mirrored in it.
Consider the following passage from Langer in light of the connection of
“energy” with “form” or, more pertinently, “living form”:

[T]he artist’s eye sees in nature, and even in human nature betraying
itself in action, an inexhaustible wealth of tensions, rhythms, continuities
and contrasts that can be rendered in line and color; and those are the “in­­
­­ternal forms” which the “external forms” – paintings, musical or poetic
compositions or any other works of art – express for us. [Art] makes form
expressive for us wherever we confront it, in actuality as well as in art.
Natural forms become articulate and seem like projections of the “inner
forms” of feeling, as people influenced (whether consciously or not) by all
the art that surrounds them develop something of the artist’s vision. Art
is the objectification of feeling, and the subjectification of nature. (M 86f.)

In a later passage, Langer claims that in the artistic image there is an objective
presentation of the “feeling of activities interplaying with the moments of envis-
agement,” (M 99) a point consonant with Dewey’s foregrounding of the rhyth-
mic intertwining of undergoing and undertaking and with Murdoch’s “vital and
urgent message” which Harriet Gavender experiences as addressed to her.
Langer, in line with her own construction of a naturalistic semiotic theory
of mind, holds that “[a]ll conscious experience is symbolically conceived experi-
ence; otherwise it passes ’unrealized’”; (M 100) that is, unfelt. Langer’s main
thesis is that this symbolically conceived experience is realized paradigmatically
in art works which are images, not models, of feeling.15 “The image of feeling,”

14 Susanne K. Langer: Mind. An Essay on Human Feeling, vol. 1, Baltimore/London


1967 [M], p. 81 (my emphasis).
15 The distinction between image and model, both of which are classified as icons by
Peirce, is developed more fully in the first volume of Langer’s Mind. Langer thinks
of models as articulating explicitly the principles of construction of their objects,
while images articulate in ways that truly transcend translatability or alternative
formulations. Models can take many different forms and articulate the same object.
Images, as Langer argues, each, in their material quality, are untranslatable. See
32
  Robert E. Innis

Langer writes, “is inseparable from its import; therefore, in contemplating how
the image is constructed, we should gain at least a first insight into the life of
feeling it projects,” for “[f]eeling is projected in art as quality,” (M 106) another
pivotal concept in Dewey’s aesthetics, the ultimate consequence of what he con-
sidered Peirce’s most important contribution to philosophy.16 It is the distinctive
material quality of a sign-configuration, such as the Giorgione or the Renoir/
Cézanne bather-paintings, not primarily what they are about, that first renders
it interruptive, a furtherance for ongoing consciousness and a resistance to
habitual assimilation of experience. Dewey writes elsewhere:

We say with truth that a painting strikes us. There is an impact that
precedes all definite recognition of what it is about. As the painter Dela­
croix said about this first and preanalytic phase, “before knowing what
the picture represents you are seized by its magical accord.” This effect is
particularly conspicuous for most persons in music. The impression
directly made by an harmonious ensemble in any art is often described
as the musical quality of that art. (AE 151)17

The formal structure of the art image, for Langer, animates sensibility in the
ways Dewey charts in his masterful chapter. Langer points out that the organi-
zation of the experiential field involves “symmetry, or correlation of counter-
parts, which creates the axis as a structural element” arising out of the “resting
tonus of the whole organism.” (M 125) This is what Langer, in agreement with
Dewey, called the “whole vital substructure” of our lives. (M 99) Langer confirms
in this way Dewey’s notion that “livingness” is the correlative distinguishing
mark of the energetic object or image, a mark that turns the stream of conscious-
ness toward it. The energetic object is a semiotic “attractor” (René Thom) and
force field of significance. The inner process of art, Langer says, is “from felt
activity to perceptible quality; so it is a ’quality of life’ that is meant by ’living-
ness’ in art.” (M 152) Livingness is the prime mark of the expressive object and
source of its energies.

Langer (M 59): “An image does not exemplify the same principles of construction
[…] recognition and memory.” I have explored this notion in: Robert E. Innis:
Signs of Feeling. Susanne Langer’s Aesthetic Model of Minding, in: The American
Journal of Semiotics 28/1–2 (2012), pp. 43–61.
16 See Innis: The ’Quality’ of Philosophy (as fn. 3).
17 Cf. this cognate text: “Even at the outset, the total and massive quality has its
uniqueness; even when vague and undefined, it is just that which it is and not some-
thing else. If the perception continues, discrimination inevitably sets in. Attention
must move, and, as it moves, parts, members, emerge from the background. And if
attention moves in a unified direction instead of wandering, it is controlled by the
pervading qualitative unity; attention is controlled by it because it operates within
it.” (AE 199)
33
  Energies of Objects

As Langer puts it, in agreement with Dewey’s position, livingness is pres­


ented by a pattern of tensions. This pattern, Langer says, “reflects feeling pre-
dominantly as subjective, originating within us, like the felt activity of muscles
and the stirring of emotions”; (M 164) precisely a characterization of Dewey’s
“live creature” and of what is happening to Harriet Gavender. The livingness of
the image is rooted in a kind of what Langer calls “permanent tonicity” (M 175)
that results from the dialectical fusion of structure and dynamism in the image,
and also in the live organisms that we are, balanced between stability and insta-
bility, what Dewey called the “moving unbalanced balance of things,” in his book
Experience and Nature.18 Structure in the image is derivative from design, to be
sure, but dynamism (or energy) arises through the interaction of diverse ele-
ments that are integrated into the image as a whole, just as the mind is itself, on
Langer’s conception, a process of integration, in fact, self-integration. It is this
mirroring of features of minding (and of existential perplexity) and the support-
ing of self-recognition that Murdoch’s description foregrounds. Dewey’s sche-
matic description of the forms of rhythm indicate that it is the polyrhythmic
structure and tensions of the image-configurations that lend the quality of liv-
ingness to what appears on the marked surface or in the shaped materials,
including linguistic materials, as Murdoch’s text so clearly manifests.

5. O n E x p er ient ia l Forc es
Langer, and Dewey, too, is interested in the ability, as well as the necessity, of an
Endgestalt, the finished artwork or art image, to hold “all the phases of the evolv-
ing vision.” (M 179) In the realized form of the art work, she asserts, we find
retained all the experiential aspects “which an ordinary perceptual datum gives
up as it reaches its full objective status; because the ordinary percept becomes a
thing for the percipient, but the artist’s creation becomes a symbol,” (M 179) a
presentational symbol or expressive form, which, as we all know, is a central
notion in Cassirer’s project.19 It presents, as well as has in its material configura-
tion, a complex physiognomy. Langer writes, with a clear echo of Cassirer’s
insights: “[E]verything that enters into a work has some physiognomy or at least
the seed of physiognomic value […]. There is a reflection of inward feeling in the
most typically outward, objective data of sensation […]. Their character is never

18 John Dewey: The Later Works: 1925–1953, vol. 1: Experience and Nature [1925],
ed. by Jo Ann Boydston, Carbondale/Edwardsville 1988, p. 314.
19 See the comprehensive charting of the development of the aesthetic dimension in
Cassirer’s thought in: Marion Lauschke: Ästhetik im Zeichen des Menschen. Die
ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbo-
lische Form der Kunst, Hamburg 2007.
34
  Robert E. Innis

as fixed and simple as the distillations our conventional store of qualifying adjec-
tives has made from them.” (M 179)
A work’s ultimate character or import transcends discourse, interpretive
discourse offering only gestures toward decipherment, even if the work’s matter
is discursive. Not only do artworks, as pregnant images, arise out of a rich reser-
voir of mental complexity, but Langer’s thesis is that they display, in their mate-
rially embodied inner logic, life and mind itself. For Langer, in short, the art
symbol projects a specific and distinctive image of mind – or phase or dimension
of minding. But it is not about the mind, even if it is permeated by features
proper to minding. These features are what, for both Dewey and Langer, create
in and by means of the art work the semblance of being an organic whole and in
this way a dynamic unity of internal relations. Both Langer and Dewey make
use of the notion of “semblance,” but in slightly different ways and with differ-
ent emphases. But they share a strong sense of the living wholeness of works of
art.
Both works of art and mental acts, Langer argues, have “characteristic
dynamic forms.” (M 200) Langer’s chief, and eminently difficult and conten-
tious, thesis is that the logical form of acts is projected in the art symbol, though
the projection does not entail that the artistic elements themselves appear as
acts. Rather, the elements of the art symbol have formal properties “which, in
nature, characterize acts,” (M 204) such as inviolability, fusibility, revivable reten-
tion of past phases, tension, gestalt-character, contrast, accent, rhythm. All these
properties are also delineated in so many terms by Dewey. When Langer says that
the artwork, in its total qualitative dimension, gives the appearance of “spring-
ing out of a matrix or body of potentialities,” (M 206) she is referring to a phe-
nomenal feature or distinctive mode of appearing of the object. All levels of
feeling attendant upon bodily existence are reflected, according to Langer, in the
art work: substantiality, depth, unity, individuality or “uniqueness,” this last
property being the source of the work’s “aliveness” or “expressivity.” Mind as a
quickening of nature in the rise of feeling is mirrored in the quickening of expres-
sive media in the art work, a key notion in Dewey’s cognate organism-based
aesthetics.
Langer further strengthens Dewey’s notion of the energy of objects by
introducing the very important concept of gradients. “Gradients of all sorts – of
relative clarity, complexity, tempo, intensity of feeling, interest, not to mention
geometric gradations (the concept of ’gradient’ is a generalization from relations
of height) – permeate all artistic structure.” (M 211) It is these gradients that
make up for Langer an art work’s “rhythmic quality.” (M 212) Now, as Dewey
remarked, rhythm is “rationality among qualities.” (AE 175) Langer confirms
Dewey in her contention that the phenomenon of phase beauty, a notion clearly
connected with gradients and transitions, is a mark not only of a work’s comple-
35
  Energies of Objects

Fig. 3  Hans Hofmann: The Golden Wall, 1961, oil on canvas, 152,4 × 182,9 cm,
Chicago, Art Institute.

tion, but that it is the result of successive phases. So, the organization of ener-
gies, to return to Dewey, is “cumulating and conserving,” analogous to the
onward motion of the “waves of the sea.” (AE 179)
Indeed, in one sense, the wave structure of the flow of consciousness is an
alternation of compressions and releases and forms of resistance that prevent
immediate discharge of its energy. Following James’s image of the flights and
perchings of a bird as exemplifying the flow of consciousness, Dewey conceives
of experience as “progressively enacted,” reaching, through a series of “flights,”
balance and equilibrium in the “perchings” or resting places, a process James
schematized conceptually in terms of the “transitive” and “substantive” parts of
the field of consciousness. But the “final measure of balance or symmetry is the
capacity of the whole to hold together within itself the greatest variety and scope
of opposed elements,” (AE 187) mirrored in our bodily existence as a field of
integrated tensions. This is a reformulation of the unitas in varietate principle
of the classical tradition, a gesture toward the centrality of the “interworking of
opposed forces” in a work of art that entails that everything depends “upon the
scale attempted.” (AE 187)
36
  Robert E. Innis

Fig. 4  Jackson Pollock: Autumn Rhythm (Number 30), 1950, enamel on canvas,
266,7 × 525,8 cm, New York, Metropolitan Museum of Art.

Dewey speaks of “reciprocal oppositions” that generate tension that


unfolds in “ordered extension” (AE 189) and give a work of art “volume,” which
is by no means to be identified with bulk. As he puts it, the property of “exten-
sion, of related variety, is the kinetic phase which marks the release of energies
that are restrained in ordered intervals of rest,” another echo of the flights and
perchings of a bird image of James. Is this not a proper characterization of such
markedly different images as Hans Hofmann’s The Golden Wall or Jackson Pol-
lock’s Autumn Rhythm (Figs. 3 and 4)?20
Dewey recognizes that speaking of energy may seem to some to be out
of place in dealing with art, but that one must acknowledge its centrality if we
want to understand art’s “power to move and stir, to calm and tranquillize” and
to keep these aspects in some rhythmic balance. Aesthetic effect, as Dewey under-
stands it, “is due to art’s unique transcript of the energy of the things of the
world.” It is not a transcript of things alone, but of their energies. These tran-
scripts, symbolic images of all sorts, connect aesthetic effect with “qualities of
all experience as far as experience is unified.”
Art, as Dewey says, “operates by selecting those potencies in things by
which an experience – any experience – has significance and value.” (AE 192) The

20 Hans Hofmann: Search for the Real and Other Essays, ed. by Sara T. Weeks/
Bartlett H. Hayes, Jr., Cambridge 1967, p. 44: “A line concept cannot control picto-
rial space absolutely. A line may flow freely in and out of space, but cannot inde-
pendently create the phenomenon of push and pull necessary to plastic creation.
Push and pull are expanding and contracting forces which are activated by carriers
in visual motion. Planes are the most important carriers, lines and points less so.”
37
  Energies of Objects

energies of objects are, or arise from, the potencies in things. Art works strive to
make them manifest. It is clear, however, that Dewey demands what he calls
“commensurate perception” in order for the art work – or any object engaged in
the aesthetic mode – to be seen as having an “ideal quality,” that is a kind of
significance transcending and not reducible to mere factuality. But such a qual-
ity arises out of experience and, for Dewey, does not enter into it from some
eternal realm of essences. “Order, rhythm and balance, simply means that ener-
gies significant for experience are acting at their best.” (AE 192)
For an artifact to be classified as having energy entails that it has a dis-
tinctive experiential force. Simply recognizing that it is an art product does not
entail acknowledging it as having any worth. It has value and force to the degree
that it emerges as a striking figure out of labile grounds, the flat lands of com-
mon experience, and thus becomes an art work. Dewey has shown that it is this
sense of emergence, and its distinctive unique quality of condensed and cumula-
tive intensive rhythmic order(s), that attracts us and holds us in its grip. This is
the point of Langer’s claim, which is also Cassirer’s, that the absence of a sense
of uniqueness, of a distinguishing physiognomic quality, is the source of a work’s
deadness or lack of expressiveness. It does not give rise to an experiential field
with “gradients of growth and development” (M 214) embodied in or enfolded
in it.

6. Be t ween Desc r ipt ion a nd Presc r ip t ion


Dewey’s critique of a separate realm of “ethereal things” that ignore the univer-
sal structures and matrices of experiencing broadens the aesthetic field to encom-
pass nature itself in all its forms of manifestation. Langer, for her part, remarks
that the artistic image is “incomparably simpler than life” and that the “theory
of art is really a prolegomenon to the much greater undertaking of constructing
a concept of mind adequate to the living actuality.” (M 244) The implication of
these claims is twofold.
First, if life itself, in all its forms, is more complex than art, which mirrors
it and is itself a form of natural processes, that is, human processes, then all of
life, and all natural processes, can become objects of aesthetic appreciation or be
looked at aesthetically. The universe itself becomes a realm of ramifying forms
of the organization of energies. It is, in the last analysis, our perception and
cognate activities that are slack, not the universe, which is itself a vortex of ener-
gies.
Secondly, one of the upshots of Dewey’s Art as Experience is that it
arrives at a position that is almost Zen-like in its prescription to experience the
suchness of things, to see them as embodiments of qualities in a mode of vision
that simply lets them be in both their ordinariness and extraordinariness. At its
38
  Robert E. Innis

best, both art and nature itself in its continuous upsurge of forms present to us
objects, as Dewey puts it, “to the construction [and perception] of which the self
has surrendered itself in devotion.” (AE 193) Because, as Langer writes, “[l]ife is
incoherent unless we give it form,”21 we both construct forms as well as open
ourselves to all the formative processes of nature. In this sense Dewey, and
Langer, too, are both describing the dynamics of our experiencing and prescrib-
ing not just how we must cultivate these practices of attending but also what
types of objects are most worthy of our engagement.

21 Susanne K. Langer: Feeling and Form, New York 1953, p. 400.


Sascha Freyberg

E R E I G N I S U N D O BJ E K T
Zur Whitehead-Kritik von Edgar Wind und John Dewey

1.
Im zweiten Teil von Lewis Carrolls Roman Sylvie and Bruno ist an einer Stelle
die Rede von einem seltsamen Spaziergang:1 „Once a coincidence was taking a
walk with a little accident, and they met an explanation – a very old explanation
– so old that it was quite doubled up, and looked more like a conundrum.“2 Der
Inhalt dieser alten, bereits „gebeugten“ Erklärung bleibt im Dunkeln, um nicht
unnötig von der Form abzulenken. Statt der üblichen lebenden Akteure sind die
Protagonisten dieser Anekdote Umstände und Ereignisse.3 Durch dieses Verfah­
ren wird die Methodik des ganzen Werkes dargestellt (der implizierte Alte-
rungsprozess kann außerdem als Bonmot zur Philosophiegeschichte gelesen
werden). Nach fast zwei Jahrzehnten Arbeit schreibt Lewis Carroll im Vorwort
zur Entstehung des Buches: „The task, at first, seemed absolutely hopeless, and
gave me a far clearer idea, than I ever had before, of the meaning of the word
‚chaos’: and I think it must have been ten years, or more, before I had succeeded
in classifying these odds-and-ends sufficiently to see what sort of a story they
indicated: for the story had to grow out of the incidents, not the incidents out of
the story.“4

1 Robert E. Innis und Nils Röller sei hier für Spaziergänge und Gespräche gedankt.
Ivan Boldyrev, Viola Nordsieck, Tullio Viola und den Herausgebern danke ich
herzlich für ihre Hinweise zum Text.
2 Lewis Carroll: Sylvie and Bruno Concluded, New York/London 1894, S. 376.
3 Die zitierte Stelle wird wie folgt eingeführt: „‚Why should you always have live
things in stories?’ said the Professor. ‚Why don’t you have events, or circumstanc-
es?’ – ‚Oh please invent a story like that!’ cried Bruno. The Professor began fluent-
ly enough“, um dann jedoch bald feststellen zu müssen, dass dies gar nicht so ein-
fach durchzuhalten ist. Ebd., S. 375f.
4 Lewis Carroll: Sylvie and Bruno, London/New York 1889, S. x.
40
  Sascha Freyberg

Ein anderer berühmter britischer Mathematiker, Alfred North White­


head, vollzog eine ähnlich radikale Wende hin zum Ereignisdenken. Er wurde
dabei jedoch neben den Grundlagen- und Anwendungsproblemen der Mathe-
matik – die auch den Hintergrund von Carrolls Werk bilden – vor allem durch
die Umwälzungen der modernen Physik angetrieben. Die kosmologischen Ver-
änderungen und ihre allgemeinen Konsequenzen wurden zur Motivation seiner
Prozessphilosophie. Darin wird jene relationslogische Wende deutlich, die Ernst
Cassirer mit dem Wechsel vom Substanz- zum Funktionsbegriff gekennzeich-
net hat und die bereits bei Carroll angedeutet wird.5 Statt an fantastischen
Geschichten begann Alfred North Whitehead an einer Naturphilosophie zu
arbeiten, die sich zu einer oft nicht weniger abenteuerlich anmutenden Kosmo-
logie auf der Grundlage einer spekulativen Prozessmetaphysik entfaltete. Vom
Anfang dieser Entwicklung an war der Begriff des Ereignisses grundlegend, um
eine Philosophie zu entwickeln, für die Werdensverhältnisse die Struktur der
Wirklichkeit bilden. Wirklichkeit ist demnach das beständige Auftauchen von
Neuem, eine Aktualisierung, die in einem engen Verhältnis zur Potentialität
steht.
Es ist kein Zufall, dass Whiteheads Ansatz oft an platonische und aristo-
telische Konzeptionen erinnert – sein Werk kann auch als stetige Auseinander-
setzung mit dem metaphysischen Formbegriff angesehen werden – jedoch sind
seine Grundbegriffe geprägt, um die Spaltung der Welt, die bifurcation of
nature, in einen subjektiven Bereich der „Erfahrung“ und einen objektiven
Bereich der „Tatsachen“ zu vermeiden.6 Gleichzeitig schließt er an die antike
Ansicht von der Notwendigkeit der Metaphysik im Zusammenspiel mit der
Empirie an: „By ‚metaphysics’ I mean the science which seeks to discover the
general ideas which are indispensably relevant to the analysis of everything that
happens.“7 In seinem metaphysischen Hauptwerk Process and Reality. An Essay
in Cosmology findet er hierfür den Begriff der „spekulativen Philosophie“ und
definiert diese als „the endeavour to frame a coherent, logical, necessary system
of general ideas in terms of which every element of our experience can be
interpreted“.8 Dieser Anspruch muss zwangsläufig zu methodischen Überlegun-
gen führen.

5 Vgl. Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über


die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910. S.a. Michael Hampe: Alfred
North Whitehead, München 1998, S. 62. Zu Carrolls Ereignisdenken in Verbin-
dung mit seinen sprachlichen Verfahren s. Gilles Deleuze: Logik des Sinns [1969],
übers. v. Bernhard Dieckmann, Frankfurt/M. 1993.
6 Vgl. Alfred North Whitehead: The Concept of Nature, London 1920, S. 30.
7 Ders.: Religion in the Making, New York 1926, S. 72.
8 Ders.: Process and Reality [1929], New York 1985, S. 3.
41
  EREIGNIS UND OBJEKT

Whitehead ist im Laufe der Zeit immer stärker auf die Schwierigkeiten
bei der Formulierung metaphysischer Entwürfe eingegangen. So betont er zuneh-
mend die Unangemessenheit und Begrenztheit der Sprache und der philosophi-
schen Darstellungsform sowie den notwendig hypothetischen Charakter von
Kategoriensystemen: „Metaphysical categories are not dogmatic statements of
the obvious; they are tentative formulations of the ultimate generalities.“9
Nachfolgend sollen Whiteheads Ansatz und seine Schwierigkeiten anhand
der (sympathetischen) Kritiken von Edgar Wind und John Dewey nachvollzogen
werden. Dem heutigen Generalverdacht gegenüber „Metaphysik“ zum Trotz,
soll „mit ihm gedacht“10 und so daran erinnert werden, dass die bei Whitehead
zentrale Insistenz auf die Bedeutung von unhinterfragten Vorannahmen wei-
terhin gültig ist.11 Die Reflexion des Verhältnisses von „Ereignissen“ und
„Objekten“ impliziert bei Whitehead das Problem der verkörperten Form. Die
Diskussion dieses Verhältnisses, die sich in den Kritiken von Dewey und Wind
findet, kann daher auch im Anschluss an den Beitrag von Robert E. Innis gese-
hen werden,12 zumal die dort dargestellten Konzeptionen von John Dewey und
Susanne Langer (in unterschiedlicher Weise) in engem Zusammenhang mit
Whiteheads Philosophie stehen.13 Wenn ästhetische Erfahrung als paradigma-
tisch angesehen, aesthetic order als Prozess verstanden und in Analogie bezie-
hungsweise Kontinuität zu natürlichen Ordnungen gedacht wird, so stellen sich
genau die Fragen, die Whitehead seinem Systementwurf der ungespaltenen Natur
und seiner „organismischen Philosophie“ zu Grunde gelegt hat.14 Statt nun von

  9 Ebd., S. 4. u. 8.
10 S. Isabelle Stengers: Penser avec Whitehead. Une libre et sauvage création de con-
cepts, Paris 2002.
11 Momentan könnte davon insbesondere die Reflexion der Lebenswissenschaften
profitieren. S. dazu Michael Hampe: Die Wahrnehmungen der Organismen. Über
die Voraussetzungen einer naturalistischen Theorie der Erfahrung in der Meta-
physik Whiteheads, Göttingen 1990.
12 S. Innis in diesem Band.
13 Zu Dewey und Whitehead s. z.B. Maria-Sybilla Lotter: Erfahrung und Natur. Von
der Philosophie der Naturwissenschaft zur pragmatistischen Metaphysik der
Erfahrung, in: Michael Hampe/Helmut Maaßen: Die Gifford Lectures und ihre
Deutung. Materialien zu Whiteheads „Prozeß und Realität“, Bd. 2, Frankfurt/M.
1991, S. 234–275; zu Langer, die eine Schülerin Whiteheads war, s. Donald Dryden:
Whitehead’s Influence on Susanne Langer’s Conception of Living Form, in: Process
Studies 26 (1997), S. 62–85; vgl. a. Robert E. Innis: Susanne Langer in Focus. The
Symbolic Mind, Bloomington 2009.
14 Whiteheads Metaphysik ist durch einen Vorrang des Ästhetischen geprägt. Die
Aufgabe seines organismischen Ansatzes beschreibt Whitehead in Anlehnung an
Kant dementsprechend als „critique of pure feeling“. Whitehead: Process and Rea-
lity (wie Anm. 8), S. 113. Dies kann in Richtung einer philosophischen Ästhetik
spezifiziert werden. Vgl. Martin Kaplický: Aesthetics in the Philosophy of White-
head, in: Estetika 48/2 (2011), S. 157–171; Reiner Wiehl: Philosophische Ästhetik
42
  Sascha Freyberg

verkörperten Formen auszugehen, will Whitehead diese quasi erst synthetisieren,


denn aus seiner Sicht ergibt sich die Aufgabe der metaphysischen Legitimierung
von Beschreibungen, die eine Kontinuität von Natur und Erfahrung anneh-
men.15 Insofern dieses Programm auch im zeitgenössischen Pragmatismus ver-
folgt wurde, verstand Whitehead sein Projekt selbst als eine entsprechende
Metaphysik und „Kosmologie des Pragmatismus“.16 Durch die pragmatistischen
Kritiken von Wind und Dewey wird vor allem die Legitimität des Vorgehens
diskutiert und die Frage aufgeworfen, inwiefern Whiteheads Darstellungsweise
seinem Vorhaben angemessen ist.

2.
Anders als Dewey, der durch seine Kritik in direkten Dialog mit Whitehead tritt,
verfasst Edgar Wind seine Auseinandersetzung im Modus von Prolegomena,
wobei er den Anspruch erhebt, der deutschsprachigen Philosophie das Grund-
problem Whiteheads darzulegen. Wind, der heute eher als Kunsthistoriker denn
als Philosoph bekannt ist, hat sich im Rahmen seiner Habilitationsschrift Das
Experiment und die Metaphysik mit Whiteheads Ansatz beschäftigt.17 Die
pragmatistischen und prozessphilosophischen Debatten hatte er zuerst in den
USA der 1920er Jahre ken­nengelernt, wo er nach seiner Dissertation (bei Erwin
Panofsky und Ernst Cassirer) einige Jahre verbrachte, bevor er 1927 als Mit-
arbeiter der Bibliothek Warburg nach Hamburg zurückkehrte.
Das Verhältnis von künstlerischem Objekt, Sinneserfahrung und Be­
schrei­bung bestimmt den Ausgangspunkt, von dem aus er sich dem Werk von
Whitehead nähert. Methodologische und erkenntnistheoretische Fragen der
ästhetischen Wechselwirkung bilden den Fokus seiner Untersuchungen zu den
Möglichkeitsbedingungen einer „konkreten Kunstwissenschaft“ in seiner Dis-
sertation Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand von 1922.18
Das Interesse an Whiteheads Ansatz wird dann aber besonders durch die Pro-
blemstellung der Habilitationschrift geprägt, in der die Kritik des Naturbegriffs
und die Kantische Trennung von noumenon und phaenomenon im Mittelpunkt
stehen.

zwischen Immanuel Kant und Arthur C. Danto, Göttingen 2005, S. 124–157. Als
„Ästhetik der inneren Form“ wird dieser Gedanke durch die Verbindung der Pro-
zessphilosophien von Bergson, Whitehead und Cassirer entwickelt von Viola
Nordsieck: Formen der Wirklichkeit und Erfahrung, Freiburg/München 2015.
15 S. Alfred North Whitehead: Adventures of Ideas, New York 1933, S. 237.
16 S. Lotter: Erfahrung und Natur (wie Anm. 13), S. 259 u. 266.
17 Edgar Wind: Das Experiment und die Metaphysik. Zur Auflösung der kosmologi-
schen Antinomien [1934], hg. v. Bernhard Buschendorf, Frankfurt/M. 2001.
18 Edgar Wind: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand. Ein Beitrag zur
Methodologie der Kunstgeschichte [1922], hg. v. Pablo Schneider, Hamburg 2011.
43
  EREIGNIS UND OBJEKT

Unter dem Titel Mathematik und Sinnesempfindung. Materialien für


eine Whitehead-Kritik19 hat Wind 1932 die erste kritische deutschsprachige
Auseinandersetzung mit der Philosophie Whiteheads vorgelegt.20 Dabei hat er
sich bewusst auf die Diskussion der naturphilosophischen Werke beschränkt,21
da er die in diesem Bereich vollzogene Unterscheidung von Ereignissen und
Objekten als die grundlegende philosophische „Tat“ von Whitehead ansieht,
welche die Basis für dessen metaphysische Systembildung bildet. Wind zeigt
dabei, dass die Vermeidung der bifurcation of nature bei Whitehead nicht Prä-
misse, sondern Konsequenz der Auseinandersetzung mit der physikalischen
Forschung ist. Daraus folgt für ihn die Notwendigkeit der Bildung einer neuen
Terminologie. „Was Whitehead behaupten will, ist lediglich dies: daß, solange
die Grundbegriffe der Physik jene Schwierigkeiten [des Dualismus] irgendwie
in sich enthalten, jede Einzellösung, mag sie technisch noch so gewandt sein,
doch nur auf ein Kompromiß hinausläuft. Was verlangt wird, ist die Aufstellung
von Grundbegriffen, die auf jene Schwierigkeiten überhaupt nicht erst hinfüh-
ren.“22 Für die begriffliche Überwindung der Spaltung der Natur in der physika-
lischen Forschung gibt es zunächst zwei Bedingungen: die Aufhebung der
Unterscheidung von Raum und Zeit und das Ineinandergreifen der raum-zeitli-
chen Ausdehnung (anstelle eines Nebeneinanders von einzelnen Lokalisations-
punkten). Auf die physikalische Begründung dieser Forderungen kann hier
nicht näher eingegangen werden. Wichtig ist, dass Wind Whiteheads terminolo-
gische Lösung der Grundprobleme fokussiert und den Grundbegriff des Ereig-
nisses hervorhebt.

19 Edgar Wind: Mathematik und Sinnesempfindung. Materialien zu einer White-


head-Kritik, in: LOGOS. Internationale Zeitschrift für die Philosophie der Kultur
21 (1932), S. 239–280.
20 Eine kurze allgemeine Besprechung von Whiteheads Werk hatte zuvor Hugo Berg-
mann präsentiert. Vgl. Hugo Bergmann: Der Physiker Whitehead, in: Die Kreatur 2
(1927–28), S. 356–362. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg folgte eine, wenn auch
zunächst sehr begrenzte, Auseinandersetzung mit Whitehead im deutschsprachi-
gen Raum, an der u. a. Max Bense und Gottfried Martin beteiligt waren. Vgl. George
Kline: Whitehead in the Non-English-Speaking World, in: William Reese/Eugene
Freeman (Hg.): Process and Divinity, La Salle, IL 1964, S. 235–268; s. a. Ernest
Wolf-Gazo: Die Whitehead-Rezeption im deutschen Sprachraum seit 1945, in:
ders./Harald Holz (Hg.): Whitehead und der Prozeßbegriff, Freiburg/München
1984, S. 53–70.
21 Wind unterteilt, wie auch heute noch üblich, Whiteheads Werk in eine mathema-
tische, eine naturphilosophische und eine metaphysische Phase. Durch alle Phasen
gibt es jedoch eine ausgeprägte Kontinuität der Probleme. Ivor Leclerc hat dies als
sukzessive Erweiterung der Perspektive von den mathematischen zu den metaphy-
sischen Problemen beschrieben. S. Ivor Leclerc: Whitehead and the Problem of
Extension, in: Journal of Philosophy 58/19 (1961), S. 559–565, S. 559.
22 Wind: Mathematik und Sinnesempfindung (wie Anm. 19), S. 249.
44
  Sascha Freyberg

Das Ereignis als Grundelement der Wirklichkeit bezeichnet bei White­


head konkret raum-zeitliches Geschehen im allgemeinen Sinne und ist (im
Gegensatz zum einfachen Punkt Euklids) als komplexer Punkt, d.h. als Fülle
konzipiert. Seine Grundeigenschaft ist die der Umfassung beziehungsweise Ein-
beziehung von bereits vergangenen Ereignissen, so dass ein kontinuierlicher
Zusammenhang von Ereignissen im Modus der Ausdehnung folgt, die sich als
stetige Verschachtelung veranschaulichen lässt. Wind präzisiert, dass die Ereig-
nisse in zwei Beziehungen gestellt sind: In die Ausdehnungsrelation des Ein-
beziehens und Umfassens sowie in die Beziehung zu ihrer Bestimmung. Dieser
entspricht dasjenige, was das Ereignis zu einem bestimmten Ereignis macht, was
seine Selbst-Verwirklichung ermöglicht. Im traditionell platonischen Sinne
wäre das seine „Form“, Whitehead spricht aber vom „Objekt“, um Objektivie-
rung und Gegenständlichkeit zu betonen. Erst durch das Einbeziehen (ingressi-
on) der Objekte in den Verwirklichungsprozess werden Ereignisse zu Konkreti-
sierungen, um dann im Moment ihrer Verwirklichung von der Aktualität
wieder zur Potentialität (für neue Ereignisse) überzugehen.23
Wind erkennt die Bedeutung dieser Konzeption an (insbesondere als
Fortschritt gegenüber dem Logizismus von Moore und Russell), macht aber einen
durchgängigen „Trugschluß“ aus, der sich durch Whiteheads Werk zieht: die
Atomizität des Objektbegriffs.24 Problematisch findet er die Ableitung als logi-
scher Gegenpart des Ereignisses, denn Whitehead muss den Objekten (eben als
Objekten) die entgegengesetzte Eigenschaft zusprechen: nämlich innerlich unge-
gliedert und äußerlich unverbunden zu sein.“25 Das bedeute, dass Objekte ganz
außerhalb der Ausdehnungsbeziehung der Wirklichkeit stehen und quasi fertige
Elemente bilden. Wind kennzeichnet die Schwierigkeiten, die dies für Beschrei-
bungen impliziert, daran, dass die Rede von einem Teil des Objekts bei White-
head ein „logisches Monstrum“ sei.26 Zudem muss am Objekt noch einmal das
„Ereignishafte“ (zum Beispiel das Sichtbarwerden) und das „Objekthafte“ (das,
was sichtbar wird) unterschieden werden.27 Wind kritisiert dementsprechend die
Einteilung in „sense objects“, „perceptual objects“ und „scientific objects“ (die
Whitehead später aufgegeben hat), da die Kategorie, unter die die meisten Dinge
fallen würden („perceptual objects“, d. h. Wahrnehmungsobjekte im alltäglichen

23 Whitehead spricht später in Process and Reality auch von „actual occasions“ und
„actual entities“.
24 Wind: Mathematik und Sinnesempfindung (wie Anm. 19), S. 241f. Wind führt dies
auf den Anschluss an Moores Methode im Streit um Bradleys „interne Relationen“
zurück, wobei zu berücksichtigen sei, dass Whitehead auch diesen gerecht werden
wolle.
25 Ebd., S. 252.
26 Ebd.
27 Ebd., S. 251.
45
  EREIGNIS UND OBJEKT

Sinne), widersprüchlich sei. Während beispielsweise Farben (als „sense objects“)


und Elektronen (als „scientific objects“) durchaus der ideellen Trennung zugäng-
lich seien,28 werde es für ganz alltägliche „Wahrnehmungsobjekte“ schwer fal-
len „das Objekt vom Ereignis derartig zu trennen, daß es alle Ausdehnung und
damit alle Teilbarkeit verliert“.29 Hier kann Whitehead nicht auf die hypotheti-
sche Verfasstheit des konzeptuellen Schemas verweisen, das später ganz prag-
matisch als Ermöglichung von Beobachtungen verstanden wird, denn Wind
insistiert genau auf der Umsetzung dieser Möglichkeit der Beobachtung. White-
head selbst hatte postuliert: „For natural philosophy everything perceived is in
nature.“30 Dies bedeutet aber, dass die Naturprozesse und unsere Wahrnehmun-
gen von ihnen in einem Zusammenhang betrachtet werden müssen. Aus diesem
Problem ergibt sich eine systematische Dynamik: „Mit einer gewissen Folge-
richtigkeit entwickelt sich so aus der ursprünglichen Meisterschaft Whiteheads
in der Handhabung der mathematischen Technik ein Bedürfnis, die Grundlagen
der Naturerkenntis zu erforschen; und der Empirist, der sich in diesen Forschun-
gen durchzusetzen sucht, verwandelt sich unversehens in einen Metaphysiker.“31
Wenn Whiteheads Theorie haltbar sein soll, so Wind, muss sie sich anhand kon-
kreter Beobachtungen testen und auch entsprechend modifizieren lassen.
Begriffliche Unterscheidungen können zunächst gelten, ohne dass sie direkt
bestätigt oder widerlegt werden können, aber dies bedeutet nicht, dass sie völlig
außerhalb jeglicher prozessualer Formung und Rückwirkung stehen. Diesen
Anschein machen aber Whiteheads Objekte und dementsprechend schlägt Wind
vor, sie als „Begriff“ im Sinne einer Bestimmung zu übersetzen, obwohl er ver-
mutet, dass Whitehead sich gegen eine solche Lesart wenden und darauf beste-
hen würde, dass sich in seinem Objektbegriff konzeptuelle und gegenständliche
Aspekte verbinden lassen. Genau dies bezweifelt Wind jedoch, denn die ideelle
Geltung werde nicht genügend mit sinnlicher Erfassung verbunden. Daher fol-
gert er, dass Whitehead sich in seiner Naturphilosophie auf die „Beobachtbarkeit
der Natur“ stützt, ohne zureichende Bedingungen für echte Beobachtungen
zuzulassen und wirft ihm vor, damit einen Begriff der Beobachtung zu vertre-
ten, der eher projektiv-mathematisch im Modus der Vorstellung operiert: „Die-
se Art der ‚Schau’ hat den Boden der Sinneswahrnehmung (im gewöhnlichen wie
im Humeschen Sinne des Wortes) längst verlassen. Sie ist ein Akt der wissen-
schaftlichen Einbildungskraft und kann ihr Recht nur durch den Ausbau eines

28 Auch hier findet Wind die Anwendbarkeit praktisch begrenzt. So würde man nach
der rein ideellen Auffassung sagen müssen, dass Farbe immer eine bleibt, auch
wenn sie durch Intensität und Schattierung je nach Ausdehnung und Lage auf der
Leinwand eines Gemäldes faktisch unterschiedlich wahrgenommen wird.
29 Wind: Mathematik und Sinnesempfindung (wie Anm. 19), S. 251.
30 Whitehead: The Concept of Nature (wie Anm. 6), S. 3.
31 Wind: Mathematik und Sinnesempfindung (wie Anm. 19), S. 246.
46
  Sascha Freyberg

Systems erweisen, das logisch in sich geschlossen ist und zugleich alle Tatsa-
chen, über die es reflektiert, in sich aufnimmt.“32
Nun ändert sich durch die Erweiterung der Perspektive von der Natur-
philosophie zur Metaphysik bei Whitehead auch der Begriff des Objekts. Schon
in Science and the Modern World spielt beispielsweise besagte Einteilung der
Objekte keine große Rolle mehr. Während damit einige Schwierigkeiten ver-
schwinden, ist Whitehead weit entfernt davon, seine Grundunterscheidung von
Ereignissen und Objekten in ihrer Rolle als Existenzkategorien aufzugeben. Er
stellt nun aber die reine Funktion der Objekte stärker heraus und differenziert
bereits verwirklichte, also objektivierte Ereignisse, sowie „andauernde“ und
„ewige Objekte“. Die andauernden Objekte ersetzen größtenteils die scheinbar
wirren Wahrnehmungsobjekte und sind als sich stabil haltende „societies“ von
Ereignissen („actual entities“) gekennzeichnet, während die „ewigen Objekte“
die Potentialität und die „forms of definiteness“ umfassen. Winds Diagnose,
dass Whiteheads Metaphysik in weiten Teilen die Entfaltung und Bearbeitung
seiner Grundunterscheidung darstellt, scheint sich zu bestätigen. Durch die
Kritik von John Dewey wird noch deutlicher, dass es nicht nur um das Problem
der Beobachtung und Sinneswahrnehmung, sondern auch um die angemessene
Beschreibungsweise, das heißt um die philosophische Darstellungsform geht.

3.
Deweys Philosophie ist von circa 1920 bis 1950 im nordamerikanischen Raum
bestimmend gewesen33 und hat auch auf Whiteheads Entwicklung eingewirkt.
Beispielhaft für Whitehead, der seit der Berufung nach Harvard 1924 in den
USA lebte, ist die pragmatistische Konzeption der Philosophie, die Dewey mit
Peirce und James teilt und die den Graben zwischen Theorie und Praxis über-
winden will. Speziell Dewey dürfte außerdem durch die Emphase auf eine
Metaphysik des nichtreduktionistischen Naturalismus auf Whitehead Einfluss
gehabt haben.
Wie Wind erkannte auch Dewey die große Bedeutung von Whiteheads
Philosophie. Da man es also mit einer freundlich gesinnten Lesart zu tun hat,
erscheint die Kritik, die er an Whiteheads Konzeption übt, umso wichtiger. Erst-
mals hat sich Dewey in einer Rezension von Whiteheads Adventures of Ideas
ausführlicher zu dessen Philosophie geäußert: „Mr. Whitehead is preeminent

32 Ebd., S. 276. Vgl. Maria-Sybilla Lotter: Die metaphysische Kritik des Subjekts. Eine
Untersuchung von Whiteheads universalisierter Sozialontologie, Hildesheim/
Zürich/New York 1996, S. 67ff.
33 So auch festgestellt von Alfred North Whitehead: John Dewey and His Influence
[1933], in: Paul Arthur Schilpp (Hg.): The Philosophy of John Dewey [1939], New
York 1951, S. 475–478.
47
  EREIGNIS UND OBJEKT

among living thinkers for his extraordinary sensitiveness to the movement of


things.“34 In diesem Zusammenhang verortet er auch das Grundproblem der
Philosophie Whiteheads als „the question of how eternal objects can be influen-
tially embodied in the processes of change that constitute the actuality of the
universe.“35 In Deweys weiteren Kritiken wird dieser Punkt wieder aufgenom-
men. Jedes Mal betont er, dass er in Ausgangspunkt und Richtung mit White-
head übereinstimme und die Differenzen in der Durchführung, in der „question
of basic method“ lägen.36 Probleme ergäben sich nicht durch die Grundüberzeu-
gungen Whiteheads, wie seine „fundamental conception of experience“ und sei­
nen „integrated Naturalism“, sondern durch den „intermediary apparatus“,
einen Begriffsapparat, den Whitehead benötige, um die Elemente seines Sys-
tems miteinander zu verbinden – „the interweaving being required only because
of the assumption of original independence and not being required if they
emerge to serve functionally ends which experience itself institutes.“37
Dewey kritisiert also ebenso wie Wind die Trennung von „events“ und
„objects“ beziehungsweise von „actual occasions“ und „eternal objects“ und kon-
statiert zudem ein Schwanken zwischen experimentellen („genetic-functional“)
und mathematischen („formal-mathematic“) Auffassungen bei Whitehead, wofür
er dessen Betonung eines „Rationalismus“ verantwortlich macht, der die kate-
gorische Koordination bevorzuge. Die metaphysische Methodik Whiteheads,
obwohl sie in eine sprachliche Form gekleidet ist, bewahre das „rationalistische“
Moment der Mathematik. Demgegenüber beruft sich Dewey immer wieder auf
eine „empiristische“ Perspektive – eine Insistenz, die sicherlich auch aus seiner
frühen psychologischen Forschung und seiner Beschäftigung mit den Problemen
der Bildung herrührt. Zudem ist für Dewey ein „Objekt“ (wenn er den Begriff
terminologisch verwendet) als „Ereignis mit Bedeutung“ definiert. Aus seiner
Perspektive erfüllt eher der genetisch-funktionale Ansatz durch kontinuierliche
Erkundung der Welt (von innen) die kritische Funktion der Überprüfung und
Veränderung von metaphysischen Vorannahmen, während der formale Ansatz
zwar nicht verworfen, aber nachgeordnet wird. Bei Whitehead sieht Dewey die
gegenteilige Auffassung. Dementsprechend findet er auch in dessen Art der Dar-

34 John Dewey: The Adventure of Persuasion [1933], in: The Later Works, Bd. 8: 1933.
Essays and How We Think, Carbondale 1986, S. 355–359, S. 355.
35 Ebd., S. 356.
36 Vgl. John Dewey: Whitehead’s Philosophy [1937], in: The Later Works, Bd. 11:
1935–1937. Essays, Reviews, Trotsky Inquiry, Miscellany and Liberalism and
Social Action, Carbondale 1987, S. 146–155, S. 153: „Because Whitehead’s philoso-
phy is fraught with such potentialities for the future of the philosophizing of all of
us, I have raised the question of basic method, instead of limiting myself to the
more congenial task of selecting some one of its many suggestive developments for
special comment.“
37 Ebd.
48
  Sascha Freyberg

stellung der Prozesse eine Doppeldeutigkeit, die in der Verbindung von an sich
zeitlosen Elementen in ein umfassendes Geschehen besteht. Das Problematische
der Unterscheidung von Ereignis und Objekt, so Dewey, sei die Trennung von
Aspekten, die in der konkreten Situation immer zusammenhängen. In seiner
Logic von 1938 schreibt er: „What is designed by the word ‚situation’ is not a
single object or event or a set of objects and events. For we never experience nor
form judgements about objects and events in isolation, but only in connection
with a contextual whole. This latter is what is called ‚situation’.“38 Die Kon-
textualität und Situiertheit der (temporären) „Ganzheit“ ist hier entscheidend.
Den Begriff der „ewigen Objekte“ lehnt Dewey dagegen rundweg ab, da er der
allgemeinen Richtung von Whiteheads Philosophie als einer deskriptiven Pro-
zessmetaphysik entgegen stünde. „The plea, then, for the alternative direction of
development of his thought is in essence a plea for recognizing the infinite fertil-
ity of actual occasions in their full actuality.“39
Nun würde auch Whitehead nicht bestreiten, dass Ereignis und Objekt
zusammenhängen, jedoch auf der logischen Notwendigkeit der Unterscheidung
bestehen. Die Unterscheidung entspricht einer Differenz der metaphysischen
Existenzweise: Beide Entitäten sind „real“, aber nur Ereignisse sind wirklich
(actual), während Objekte keine eigenständige Wirklichkeit haben, sondern als
bestimmte Potentialitäten nur Funktionen des Aktualisierungsprozesses, das
heißt abhängige Entitäten sind. Whitehead hat das Verhältnis später oft mit den
Aristotelischen Begriffen energeia und dynamis beschrieben.40 Entscheidend
ist, dass sie einander bedingen: „[N]amely Actuality is the exemplification of
Potentiality, and Potentiality is the characterization of Actuality, either in fact
or in concept.“41
Das Ereignis ist Konkretisierung, das heißt Exemplifizierung einer echten
Potentialität. Die Wirklichkeit ist Verkörperung. Doch wenn die Ereignisse zu­
sammenhängen und somit eine Wirklichkeit bilden, etwas verwirklichen und
zugleich individuell sein sollen, muss es Whitehead zufolge etwas geben, das in
die Verwirklichungsprozesse als bestimmte und bestimmende Form eingeht. Das
Umgebende, das Entgegenkommende, Erfahrung überhaupt wäre sonst entweder
disparat oder immer gleichartig – in beiden Fällen abgeschnitten vom Mögli-
chen und bedeutungslos. Deswegen korrespondiert dem Ereignis als Wirklich-

38 Ders.: The Later Works, Bd. 12: 1938. Logic, The Theory of Inquiry, Carbondale
1986, S. 71f.
39 Ders.: Whitehead’s Philosophy (wie Anm. 36), S. 154.
40 Vgl. Ivor Leclerc: Whitehead and the Theory of Form, in: Reese/Freeman (Hg.):
Process and Divinity (wie Anm. 20), S. 127–137. Zur metaphysischen Diskussion
des Verhältnisses von Whitehead zu Platon, Aristoteles, Spinoza etc. s. ders.: Being
and Becoming in Whitehead’s Philosophy, in: Kant-Studien 51 (1960), S. 427–437.
41 Alfred North Whitehead: Modes of Thought, New York 1938, S. 70.
49
  EREIGNIS UND OBJEKT

keit (actuality) bei Whitehead das Objekt als reale Potentialität,42 die einen
Aspekt des Verwirklichungsprozesses bildet. Ohne selbständige Existenz, rein
als Ingredienz des Geschehens, soll es die Funktion der platonischen Formen
erfüllen, ohne die Natur zu spalten.

4.
In der gleichen Ausgabe des Philosophical Review, in der Deweys Symposiums-
rede von 1936 erschien, wurde auch eine Remarks betitelte Antwort von White-
head auf die Beiträge des ihm gewidmeten Symposiums veröffentlicht.43 In
seinem Text setzt er sich fast ausschließlich mit Deweys Kritik44 auseinander:
„John Dewey asks me to decide between the ‚genetic-functional’ interpretation
of first principles and the ‚mathematical-formal’ interpretation. There is no one
from whom one more dislikes to differ, than from Dewey. William James and
John Dewey will stand out as having infused philosophy with new life, and with
a new relevance to the modern world. But I must decline to make this decision.“45
Whiteheads Anwort geht zunächst an der Kritik vorbei, denn Dewey hatte nur
nach dem Primat der Methode gefragt, ohne in Abrede zu stellen, dass beide
zusammenhängen müssen. Er scheint viel­mehr mit dem Bezug auf die Metho­
den auf Deweys Kritik seiner Konzepte ein­zugehen: „The historic process of the
world, which requires the genetic-functional interpretation, also requires for its
understanding some insight into those ultimate principles of existence which
express the necessary connections within the flux.“46 Auch für Whitehead ist
zwar die „genetic-functional interpretation“ das Ziel, und so betont er hier eben-
so wie an anderen Stellen die notwendige Kooperation der verschiedenen Metho-
den (Spekulation und Empirie, Logik und Beobachtung) sowie die Kontingenz
jedes philosophischen Anfangs.47 Er besteht allerdings gegenüber Deweys
„Empirismus“ auf dem Vorrang der konzeptuellen Koordinierung, die den Beob-

42 Im Sinne einer Möglichkeit, die sich in Wirklichkeit überführen lässt, ist bspw. für
Whitehead auch die Zukunft real. Wirklichkeit und Realität können insofern (wie
im Deutschen) bei Whitehead unterschieden werden.
43 Alfred North Whitehead: Remarks, in: Philosophical Review 46 (1937), S. 179–185.
44 Eine Antwort auf den späteren Aufsatz von Dewey in Band 3 der Living Philoso-
phers von Paul Schilpp zu Whiteheads Philosophie von 1941 gibt es leider nicht.
Statt der sonst üblichen Antwort auf geäußerte Kritikpunkte wurden im Band nur
neuere Aufsätze von Whitehead abgedruckt.
45 Whitehead: Remarks (wie Anm. 43), S. 179. Dewey hat Whitehead in ähnlicher
Weise gepriesen und gegen die philosophische „Professionalisierung“ abgesetzt.
Dewey: Whitehead’s Philosophy (wie Anm. 36), S. 149.
46 Whitehead: Remarks (wie Anm. 43), S. 179.
47 Ebd., S. 185.
50
  Sascha Freyberg

achtungsordnungen zu Grunde liegt. Neue Erkenntnisse ergäben sich eher durch


eine Kritik der konkreten Beobachtung und einen damit verbundenen Perspek-
tivwechsel.48 Aus der Erfassungsform von Strukturen, Gesetzen und Regel-
mäßigkeiten folge notwendig der Vorrang des mathematischen Denkens, das
zur kohärenten Aufstellung eines konzeptuellen Schemas entscheidend sei.49
Mathematische Methoden sind für Whitehead vor allem wegen ihrer speziellen
Verbindung zur Abstraktion und der die Sprache übersteigenden konfiguralen
Darstellungsweise wichtig,50 die explorativ genutzt werden könne. In der Zusam-
menarbeit von formalisierter Figuration und Sprache könne also eine alternative
Terminologie entwickelt werden,51 die es ermöglicht, die notwendigen Reduk-
tionen und Abstraktionen der Einzelwissenschaften zu kritisieren.52
Bei der Aufstellung eines spekulativen Schemas geht es Whitehead nicht
darum, die Wirklichkeit, die er als emergent begreift, einer Kategorisierung zu
unterwerfen, sondern er versteht letztere als tentatives Mittel zur Bildung neu-
er Beschreibungsweisen, die uns Wirklichkeit erst begrifflich erschließen. Ihre
Vorläufigkeit nehme der metaphysischen Aufgabe dabei nichts von ihrer Not-
wendigkeit, denn nur die Aufklärung der grundlegenden Begriffe und Ideen
verhindere Verwirrung in der Empirie.53 Da letztere von bestimmten Faktoren
absehen muss, könne man sich den „ultimate generalities“ (beziehungsweise
dem „totalen Fakt“) nicht anders als spekulativ und asymptotisch annähern.
Der „Sprung der Imagination“ ist jedoch nicht willkürlich, sondern folgt einer

48 Vgl. ders.: Adventures of Ideas (wie Anm. 15), S. 155.


49 Schon in seiner Introduction to Mathematics hat er die Ansicht von der notwendi-
gen Mathematizität der Erklärung von Ereignisrelationen vertreten und formu­
liert dort wegweisend: „Let us try to make clear to ourselves why explanations of
the order of events necessarily tend to become mathematical. Consider how all
events are interconnected.“ Alfred North Whitehead: An Introduction to Mathe-
matics, New York/London 1911, S. 11.
50 Vgl. Whitehead: Remarks (wie Anm. 43), S. 183.
51 In einem Dialog mit Lucien Price sagt Whitehead: „I do not think in words. I begin
with concepts, then try to put them into words, which is often very difficult.“ Dia-
logues of Alfred North Whitehead as Recorded by Lucien Price, Boston 1954,
S. 150. Whiteheads Konzepte haben offensichtlich einen erweiterten, konfiguralen
Sinn. So heißt auch ein frühes Werk: Mathematical Concepts of the Material
World, London 1905.
52 Vgl. Michael Hampe: Vernunft, Gefühl und wissenschaftlicher Wandel. Feyer-
abend – Dewey – Whitehead, in: ders.: Erkenntnis und Praxis. Zur Philosophie des
Pragmatismus, Frankfurt/M. 2006, S. 229–253, insbesondere S. 242.
53 Whitehead: Adventures of Ideas (wie Anm. 15), Kap. IX, S. 154. Lotter hat dement-
sprechend Deweys fehlende Begründung für die normative Seite seines Naturalis-
mus kritisiert. Vgl. Lotter: Erfahrung und Natur (wie Anm. 13), S. 268–271. Für
eine solche Begründung, wie auch für die Kritik der Empirie spiele die Ausbildung
einer eigenen „begrifflichen Matrix“ eine wichtige Rolle. Vgl. Hampe: Vernunft,
Gefühl und wissenschaftlicher Wandel (wie Anm. 52), S. 246f.
51
  EREIGNIS UND OBJEKT

Methode: „The true method of discovery is like the flight of an aeroplane. It


starts from the ground of particular observation; it makes a flight in the thin air
of imaginative generalization; and it again lands for a renewed observation ren-
dered acute by rational interpretation.“54 Die „imaginative generalization“
ersetzt in der Metaphysik Induktion und Deduktion und wird nur durch die
logischen Bedingungen der Kohärenz sowie die faktischen Erfahrungen und
Beobachtungen begrenzt, so dass Interpretation und Beobachtung, rationale und
empirische Aspekte in ein wechselseitig regulatives Verhältnis gebracht werden
können. Hier wird die zu Grunde liegende mathematische Denkweise deutlich.
Mathematik im grundlegenden Sinne ist für Whitehead die Erforschung der
Konfigurationen und der „Verbundenheit aller Dinge“ und somit zwar abstrakt,
aber niemals bloß „formal“, sondern ebenfalls eine Wissenschaft mit Methoden
der Entdeckung.55 Der mathematische Symbolismus und die Verschiedenheit
der Kalküle impliziere zudem eine kreative Nutzung, so dass zukünftige For-
men und Anwendungen noch gar nicht absehbar seien.56 Für Whitehead beinhal-
tet dieser Symbolismus eine durchaus anschauliche Seite. Es scheint also mög-
lich, dass sich mathematische Schau und experimentelle Beobachtung nicht
einfach nur gegenüber stehen, sondern sich verbinden lassen. In der „eigentüm-
lichen sinnlich-mathematischen Methode“57 spiegelt sich auch die bereits ange-
deutete ästhetische Grundauffassung Whiteheads und so beendet er seine Ant-
wort auf Deweys Kritik nicht zufällig mit platonischen Obertönen und dem
Hinweis auf einen „dritten Weg“: „My own belief is that at present the most
fruitful, because the most neglected, starting point is that section of value-theo-
ry which we term aesthetics. Our enjoyment of the values of human art, or of
natural beauty, our horror at the obvious vulgarities and de-facements which
force themselves upon us – all these modes of experience are sufficiently abstract-
ed to be relatively obvious. And yet evidently they disclose the very meaning of
things.“58
Da er diesen Ansatz selbst jedoch nicht konkret verfolgt hat, bleibt auch die
Verbindung von Mathematik und sinnlicher Wahrnehmung, von axiomatischen
und experimentellen Verfahrensweisen bei Whitehead unbestimmt. Sowohl eine
umfassende Integration in seine Darstellungsform als auch eine genauere Ana-
lyse der Verbindung mit ihren medialen, performativen und ästhetischen

54 Whitehead: Process and Reality (wie Anm. 8), S. 6.


55 Vgl. Whitehead: Remarks (wie Anm. 43), S. 183.
56 „[O]ur mathematics and our symbolic logic, as hitherto developed, represent only
a minute fragment of its possibilities.“ Ebd., S. 184.
57 Wind: Mathematik und Sinnesempfindung (wie Anm. 19), S. 247.
58 Whitehead: Remarks (wie Anm. 43), S. 185. Hier ergibt sich noch einmal ganz
deutlich die Verbindung zu den Ansätzen von Susanne Langer und dem späten
Dewey.
52
  Sascha Freyberg

Dimensionen fehlen, ohne dass ihre Bedeutung eigentlich verkannt wird. So hat
Whitehead auch später immer stärker die Nähe der Philosophie zu poetischen
Verfahren herausgestellt, ohne den Bezug auf die Mathematik aufzugeben.59
Damit scheint Whitehead zwar grundlegend mit Charles S. Peirce und dessen
diagrammatic reasoning übereinzustimmen, jedoch ohne wie dieser die Pro-
blematik selbst expliziert zu haben.60 Es sind diagrammatische Prinzipien wie
Anschaulichkeit und Modifizierbarkeit, die Wind und Dewey in Whiteheads
Systementwurf vermissen. Für sie ist dieser Entwurf ohne Zweifel wichtig. Die
Frage ist nur, ob er nicht besser wie ein Diagramm oder eine Fiktion gelesen
werden muss. Während Whitehead die Aufgabe der spekulativen Philosophie in
der Bestimmung der Abstraktionsebenen und der Hervorbringung einer Termi-
nologie zur Entdeckung neuer Zusammenhänge sieht, weisen Wind und Dewey
auf die Probleme der Methodik hin. Immer wieder scheint die kategorische
metaphysische Darstellung apodiktisch und assertorisch zu werden. Dem könn-
te eine „fiktionale“ Lesart abhelfen, denn so würde der zugleich rationale und
tentative Charakter deutlich. In einem solchen Sinne des begründeten Vorschlags
hat auch Whitehead seinen Entwurf aufgefasst und dabei versucht, so abstrakt
wie nötig und so konkret wie möglich zu sein. Dewey weist darauf hin, dass dies
nicht in eine perfekte Symmetrie gebracht werden könne; insofern Whitehead
dies versucht, bringe er seinen Gesamtentwurf in Gefahr.61 Wenn man den Aus-
gang von einer organismischen Konzeption nehme, sei man der konkreten
Erschließung des asymmetrischen Zusammenhangs von Umwelt und Organis-
mus in einer genetisch-funktionalen Sichtweise verpflichtet.62 „Aristotle dis-
sected fishes with Plato’s thoughts in his head“63 – sicherlich, aber die Frage
bleibt, wie die im Fisch verkörperten Formen mit den Formen ihrer Erfassung
verbunden sind.

59 Whiteheads letztes Buch endet mit den Worten: „Philosophy is akin to poetry […].
In each case there is reference to form beyond the direct meanings of words. Poet-
ry allies itself to metre, philosophy to mathematic pattern.“ Whitehead: Modes of
Thought (wie Anm. 41), S. 237f.
60 Vgl. Helmut Pape: Was ist Peirce’ bildnerisches Denken?, in: Franz Engel/Moritz
Queisner/Tullio Viola (Hg.): Das bildnerische Denken. Charles S. Peirce, Berlin 2012,
S. 65–91.
61 Das Problem stellt sich auch auf einer relationstheoretischen Ebene, wobei die Fra-
ge besteht, inwiefern Whitehead den Ansatz in seiner Metaphysik durchhalten
kann. Einen ebenfalls platonisch inspirierten relationstheoretischen Ansatz skiz-
ziert bspw. Julius Schaaf: Beziehung und Idee, in: Kurt Flasch (Hg.): Parusia,
Frankfurt/M. 1965, S. 3–21.
62 Whiteheads Rede von „emotions“ bzw. „feelings“ sieht Dewey in diesem Zusam-
menhang als mögliche Verwechslung von Funktion und Inhalt an.
63 Whitehead: Adventures of Ideas (wie Anm. 15), S. 136.
53
  EREIGNIS UND OBJEKT

5.

Es sollte deutlich geworden sein, dass sich die verschiedenen Perspektiven nicht
ausschließen. Es geht hier eher um einen Perspektivismus und Betonungen, die
sich mit der Art der gestellten Probleme verändern können. Verkörperungspro-
zesse zu beschreiben bedeutet, Konkretheit und Abstraktheit in ein angemesse-
nes Verhältnis zu bringen. Darin, dass im Falle der Wissenschaft die Verbindung
von Experiment und Metaphysik beziehungsweise Empirie und Spekulation
grundlegend ist, stimmen Whitehead, Wind und Dewey überein. Während nun
Dewey und Whitehead die Akzente jeweils anders setzen, hat Wind versucht, in
seiner Theorie des Experiments und im Begriff der instrumentellen Verkörpe-
rung die verschiedenen Aspekte in einen sukzessiv selbstregulierenden System-
bezug zu bringen. Seine Konzeption könnte sich in diesem Punkt als möglicher
Kompromiss erweisen. Da dies einer weiteren Untersuchung bedarf, sei abschlie-
ßend nur noch auf die verschiedenen Auffassungen von Situiertheit und Zeit
eingegangen.
Während Whitehead ein Modell der „Verbundenheit aller Dinge“ mit
Hilfe von Elementen in einem mathematischen Modus der Unendlichkeit kon-
struiert, betonen Wind und insbesondere Dewey die Begrenztheit und Endlich-
keit von Handlungskontexten und die Bedeutung provisorischer „Ganzheiten“
– also Historizität und Deixis. Die Forschungsmethode des Pragmatismus impli-
ziert für sie die Erforschung von konkreten problematischen Situationen. Dabei
ist das Ziel der Forschung, unklare in entscheidbare Situationen umzuwandeln.
Eine Situation steht in einer Kontinuität zu anderen Situationen, bildet aber
einen immer nur von innen heraus erforschbaren Zusammenhang, in den For-
schung und Reflexion selbst rückwirkend eingeschaltet sind.64 Der Bezug auf die
Erfahrung soll bei Whitehead die Anwendbarkeit der metaphysischen Spekula-
tion sichern, die auch die Koordination von Werten betrifft, aber laut Wind und
Dewey steht dem bereits Whiteheads Darstellungsweise im Weg. Sein Ansatz
entwickelt in ihren Augen eine Eigendynamik, die zur Aufnahme immer kom-
plizierterer Termini – bis hin zu alles verbindenden Prinzipien (zum Beispiel
Whiteheads God) – führt, was insbesondere Dewey moniert.65 Aber lässt sich
dies überhaupt vermeiden, wenn man so radikal wie Whitehead an der „Verbun-
denheit der Dinge“ festhalten will? Diese Radikalität in Bezug auf die umfassende
Strukturierung bedingt die Darstellungsform und ist von einem Klarheitspos-

64 Wind bezeichnet diesen Aspekt der „Immanenz“ der Forschung als das „Prinzip
der inneren Grenzsetzung“ und ihre Progression als Zyklus, der sich „selbst regu-
liert“, s. Wind: Das Experiment und die Metaphysik (wie Anm. 17), S. 100. Dewey
hat sich mit diesem Problem ausführlich in seiner Logik beschäftigt, die er explizit
als „Theorie der Forschung“ definiert. Vgl. Dewey: Logic (wie Anm. 38).
65 Dewey sah darin wahrscheinlich auch ein Zugeständnis an dogmatische Ganz-
heitsvorstellungen, die er aus emanzipativ-pädagogischer Sicht ablehnt.
54
  Sascha Freyberg

tulat an­getrieben, das noch die letzte Vorannahme explizieren will.66 Whitehe-
ads Konzept der Verbundenheit aller Dinge mag für ihn die konsequente Durch-
führung der pragmatistischen Begriffsbestimmung bedeuten, nämlich den
Begriff eines Gegenstandes aus seinen Erfahrungsrelationen zu gewinnen.67 Der
Punkt ist, dass Whitehead meint, ausnahmslos alle möglichen Relationen mit-
denken, das heißt vom Prinzipiellen ausgehen zu müssen. Wenn die Verbunden-
heit aller Dinge in den Blick genommen werden soll, kann es für ihn daher
keinen bevorzugten Ort geben. Der pragmatistische Ansatz zielt jedoch darauf,
die konkrete Beschaffenheit einer raum-zeitlich bestimmten Forschungssituation
miteinzubeziehen. Nimmt man Whiteheads Formulierung auf, dass von kon-
kreten Er­fah­rungen auszugehen sei, diese aber immer die „Haare geschnitten
bekommen“,68 damit sie überhaupt kommunizierbar werden, so wird deutlich,
dass man sich nicht einfach weigern kann, die schmutzigen Wirrköpfe der
Erfahrung zu frisieren, jedoch der Versuch erfolgen muss, auch ihre Wildheit
zur Geltung zu bringen.

66 Das vermerkt ähnlich auch Dewey: The Philosophy of Whitehead [1941], in: The
Later Works, Bd. 14: 1939–1941. Essays, Reviews, and Miscellany, Carbondale 1988,
S. 123–140, S. 124.
67 Schon vor seiner Zeit in Amerika hat Whitehead eine ähnliche Auffassung vertre-
ten: „Consider in your mind some definite chair. The concept of that chair is simply
the concept of all the interrelated experience connected with that chair.“ Alfred
North Whitehead: The Organisation of Thought, London 1917, S. 111f.
68 Diese schöne Illustration des Unterschiedes von Whitehead und Dewey hat Allison
Heartz Johnson aufgezeichnet: „When asked by Dewey: Are you a rationalist or an
empiricist, Whitehead replied that rationalism is needed to determine what system
of abstraction is important – otherwise you get a muddle-headed empiricism. […]
However, rationalism is not the basic factor. We must start with some insights.
Rationalism then ‚cuts their hair; washes their faces and fixes them up’ so as to be
presentable in the available universe of discourses.“ Allison Heartz Johnson: White-
head as Teacher and Philosopher, in: Philosophy and Phenomenological Research
29/3 (1969), S. 351–376, hier S. 353 (Herv. v. Verf.).
1I . I n t e r a k t i o n
Michael Kimmel

E mbodied ( M icro -) skills


in Tango I mprovisation
How a Collaborative Behavioral Arc Comes About

1. I nt ro duc t ion
My present topic is the nature of experts’ skills that “reach out into” other bod-
ies, while achieving coordinated interactional feats.1 The enabling conditions of
joint embodied improvisation are thrown into relief through tango argentino, a
pair dance emphasizing togetherness, precision in execution, and virtuosic
improvisation. The following analysis draws on cognitive-phenomenological
research, notably on micro-genetic interviews, think-alouds, a 6-year diary of
my participatory experience as a tanguero, as well as a motion capture study with
dancers.
Sophisticated systems like tango highlight a twofold issue: How can two
agents move as one, with minimal response delay, as the proverbial “four-legged
beast”? And how is dynamic structure, which is recognizable and frequently
quite spectacular, brought about despite a shared, pre-arranged plan (as one
might see in ballroom dancing) being conspicuously absent? Argentine tango is
an emergent, yet formally precise and non-arbitrary joint achievement. So what
ensures its coordinated unfolding, a perfectly synchronized, functionally mean-
ingful, and dynamically stable whole, as opposed to a freewheeling dynamic?
I shall argue that no single capability is responsible, but a set of well-
integrated skills providing for repertoire, dexterity, sensory acuity, musicality,
and bodily self-cultivation, but also for a resonance loop to manage intersubjec-
tivity in real-time, which is the locus of highly specialized interaction skills.

1 This research was supported by the Austrian Science Fund (FWF) under the project
grants P-19436 and P-23067. The author also wishes to thank Germano Milite and
Betka Fislova for their continuous support and their participation in the photo ses-
sions.
58
  Michael Kimmel

1.1. Con f r ont i ng t he Sup er i nd iv idu a l

Well-connected joint improvisation – at the intersection of expressive, sensori-


motor and interactional abilities – is arguably one of the most difficult things
humans achieve. Tango constitutes a prime example of a new frontier in research,
where social cognitive science takes on issues of non-scripted joint action and
intersubjectivity. Scholarship focuses on “how changes at the micro-level of rela-
tionships between the system’s constituents give rise to new patterns of behavior
at macro-levels” and on how “constituents of a system act together to constrain
the multiple actions of other constituents.”2
Quandaries haunting social science since Durkheim’s day – the dialectics
of structure versus emergence – have recently been receiving considerable stim-
ulation from this new field. We are on the way to an exciting new view respect-
ing the ontology of the superindividual, a dynamically emergent realm, while
also recognizing the partial autonomy of the brain- and body-bound cognitive
base.3 Pioneered by studies of mother-child interaction, empirical research now
extends to collaborative creativity, bodywork, and sports science. Meanwhile, an
integrative backdrop for theorizing collaborative sense-making is found in enac-
tivist philosophy and dynamic systems research.4 New tools for dynamic analy-

2 Manuela Lavelli/Andréa P.F. Pantoja/Hui-Chin Hsu/Daniel Messinger/Alan Fogel:


Using Microgenetic Designs to Study Change Processes, in: Douglas M. Teti (ed.):
Handbook of Research Methods in Developmental Science, Malden, MA 2006,
pp. 40–65, p. 45.
3 Steve Torrance/Tom Froese: An Inter-Enactive Approach to Agency: Participatory
Sense-Making, Dynamics, and Sociality, in: Humana.Mente 15 (2011), pp. 21–53.
4 Alan Fogel/Andrea Garvey/Hui-Chin Hsu/Delisa West-Stroming: Change Pro-
cesses in Relationships. A Relational-Historical Research Approach, Cambridge
2006; Keith Sawyer: Group Creativity. Music, Theater, Collaboration, Mahwah, NJ
2003; Michael Kimmel/Christine Irran/Martin A. Luger: Bodywork as Systemic
and Inter-Enactive Competence: Participatory Process Management in Felden-
krais: Method and Zen Shiatsu, in: Frontiers in Psychology for Clinical Settings
5/1424 (2015), pp. 1–23; Jérôme Bourbousson/Carole Sève/Tim McGarry: Space-
time Coordination Dynamics in Basketball: Part 2. The Interaction Between the
Two Teams, in: Journal of Sports Sciences 28/3 (2010), pp. 349–358; Thomas Fuchs/
Hanne De Jaegher: Enactive Intersubjectivity: Participatory Sense-Making and
Mutual Incorporation, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 8/4 (2009),
pp. 465–486; Valentina Fantasia/Hanne De Jaegher/Alessandra Fasulo: We Can
Work It Out: An Enactive Look at Cooperation, in: Frontiers in Psychology 5/974
(2014), pp. 1–11; Alan Fogel: Dynamic Systems Research on Interindividual Com-
munication: The Transformation of Meaning-Making, in: The Journal of Develop-
mental Processes 1 (2006), pp. 7–30; Olivier Oullier/Scott J.A. Kelso: Social Coor-
dination from the Perspective of Coordination Dynamics, in: Robert A. Meyers
(ed.): Encyclopedia of Complexity and Systems Sciences, Berlin 2009, pp. 8198–
8212.
59
  Embodied (Micro-)skills in Tango Improvisation

sis are proposed, responding to the daunting challenges of non-scripted interac-


tion:
1. Available interaction patterns are not only extremely numerous, but
relative to an environment in flux. Accordingly, constraints are dynami-
cally evolving such that competent responsiveness to them requires
“smart” ways of exploiting perception and reducing complexity.
2. Tango adds the twist that two bodies functionally (and phenomenologi-
cally) interpenetrate each other. Communication is not merely “symbolic.”
3. The interactional whole is difficult to decompose: Emergent effects are
not reducible to the sum of the parts. Describing how a complex coordina-
tion dynamic emerges requires genuinely new conceptual tools.
4. We need a multi-causal theory of constrained emergence to explain how
contextual, biomechanic, interactional and other factors conspire to bring
about the dynamic. Accordingly, individual skills – which may take years
to master in their multiplicity – exhibit a complex synergetic interplay.
5. We need a multi-timescale description, from permanent constraints as
backdrops to situated ones in permanent flux.

1. 2 . St r uc t u r e d I mpr ov i s at ion

Tango argentino allows for perfectly connected joint action on the spur of the
moment as dancers respond to their creative fancy and the momentarily arising
spatial and musical possibilities. A dance in a milonga – the prototypical tango
venue – is created step by step. Without substantially planning ahead tangueros
fluidly generate as many as four or five elements per second (walking, rotations,
leg crosses, displacements, leg wraps or swings, embellishments). The 10–15
minutes a couple remains on the dance-floor one might see hundreds of combi-
nations. These in turn draw from a yet larger pool of generative possibilities. The
systemic “matrix” tango is set on includes literally thousands of states and link-
ages between them. That said, many dancers are less interested in virtuosity than
togetherness and musicality. They seek enjoyable joint improvisation while trans-
ducing the music into bodily expression and, at the same time, harmoniously
blending with the overall flow on the dance-floor.
Overall, tango exhibits tremendous precision with constrained form
both in terms of individual and interaction rules, thus manifesting structured
improvisation.5 Only this fact and the contraints of leader-follower structure
allow tango to be fluid and interpersonally coordinated despite the challenges of

5 Michael Kimmel: Intersubjectivity at Close Quarters: Shared, Distributed, and


Superindividual Imagery in Tango Argentino, in: Cognitive Semiotics 4/1 (2012),
pp. 76–124.
60
  Michael Kimmel

a musically and spatially changing environment. That is, tango developed basic
constraints of form and role so dancers can rapidly deal with a variety of spe-
cific challenge.

1. 3. Role- s p e c i f ic Sk i l l s

Tango has complementary roles, a kind of distributed cognition,6 in which lead-


ers and followers execute functionally complementary, yet perfectly synchro-
nized actions. As a basis for extemporizing a leader “incorporates” offerings of
the music, the partner, and the dance-floor in real-time, picking up what James
J. Gibson calls affordances.7 These real-time action solicitations are specified by
perceptual signatures (visual, tactile, balance, etc.) that are essentially ephem-
eral; they evolve and devolve on a moment-to-moment basis. The leader must
match the perceived affordances of the moment with the action-related reper-
toire.
The follower responds to “invitations” signaled by the leader with almost
imperceptible delay. In between “invitations” followers remain neutrally poised
in a good “axis” for immediate action-readiness, stay well-grounded and calm,
for example to let their body be loaded with enough “passive” energy. Followers
have some leeway for step timing or ornamentation, but without impairing the
lead. In traditional tango, they shape the “how” by ensuring dynamic stability,
relaxation, and precision, but not the “what,” the improvised choices made.

1.4 . D i a log ue a nd Mut u a l I nc or p or at ion

Dancers frequently characterize tango as a dialogue with “kinetic connectivity”8


and an invitation-response structure. Unlike speech, followers “answer” the lead
nearly continuously (and visibly wait their turn only a “requests” pause or are
building up). Yet, even in the flux of near-simultaneous actions dancers easily
pinpoint request and response onsets. Are invitations conventional in the same
sense social invitations are? They are clearly more than this. Interaction via
communicative cues, a symbolic interactional semiotics is augmented through
physical push-pull connections in a joint weight system. Lead cues have immedi-
ate biomechanic consequences for a trained follower as long as she controls her
body form (for example by not letting the open arm slip away when force
impinges) and freezes many general degrees of freedom. Leader invitations like

6 Edwin Hutchins: Cognition in the Wild, Cambridge, MA/London 1995.


7 James J. Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, Boston 1979.
8 Brandon Olszewski: El Cuerpo del Baile: The Kinetic and Social Fundaments of
Tango, in: Body and Society 14/2 (2008), pp. 62–81.
61
  Embodied (Micro-)skills in Tango Improvisation

a reorientation of the chest suggestively point to a new direction on the right or


left, which followers “amplify” into full-body movements. Informational and
mechanistic coupling are thus hard to separate. The more the follower is organ-
ized the more mere suggestions will appear as physically compelling. Further-
more, dancers create musculoskeletal inter-body chains and literally expand into
the other body, hence creating body extensions.9 Extensions establish a closed
sensory control loop allowing the leader to “remote control” the follower’s legs
incrementally without ever touching or seeing them. Froese and Fuchs speak of
“mutual incorporation.”10 Thus, the coordinative dynamics belonging to two
separate nervous systems are so closely coupled as if they comprised a single
nervous system.

2. Ta ngo a s “Mu lt i-sk i l l”


For the superindividual system to have a chance of working, a suite of basic skills
needs to be mastered and integrated by both individuals. Only adherence to
them makes movements “tango-like” to the observer. With the increasing
automatization of these basic skills, notably by training multiple variations in
different contexts, attention is freed for creative aspects, yet they remain the
basis for all tango whether extemporized or choreographed.

2 .1. Bo dy H abit s

Both tango partners cultivate a particular fundamental body organization.


Dancers activate a characteristic tango habitus when entering the dance-floor as
prerequisite for everything that follows: Postural uprightness, inner connection
of legs and chest, balancing the body into a neutral action-ready state (“being in
axis”), initiating movements from the body center, making the arms and torso
muscles into flexible conduits passing information from the embrace to the hips
and legs, and finding synergies that minimize fatigue, for instance letting the
strong core muscles do much of the work. Functionally speaking, fundamental
habits appropriately reduce degrees of freedom for both individual biomechanics
and the interaction system to work. They can also be understood as a basic “gram-
mar” with syntax and semantics in which many things are off-limits (“un-
words”), such as bending the torso, stepping in directions that are not the cardinal
ones (i.e. “bad word order”), uncontrolled loss of core tension or decoupling of

  9 Andy Clark: Supersizing the Mind. Embodiment, Action, and Cognitive Extension,
Oxford 2008.
10 Tom Froese/Thomas Fuchs: The Extended Body: A Case Study in the Neurophenom­
enology of Social Interaction, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 11/2
(2012), pp. 205–235, p. 213.
62
  Michael Kimmel

the chest-hip connection (i.e. “sloppy speech”). Much like a grammar, funda-
mental habits thus predetermine the bounds of what one can possibly say with-
in the system, the dance genre. Basic “grammar” therefore prefigures organic
responses by optimizing effort within bounds. Such somatic “pre-settings” are
conducive to action-readiness, effortless and more indirectly, also to interper-
sonal communication: ones own good body habits make step onsets become
“crisp” for the partner, i.e. the differential between inaction and action is felt
more quickly when the body axis is precisely aligned and not wobbly.

2 . 2 . Mo tor Re p er toi r e s

Within the language analogy, dancers also need a vocabulary. Tango has a finite
number of basic “movemes.” “Movemes” are dynamic representations furnish-
ing material for improvisation; they may be discussed at two levels. At the level
of a single body, everything is either a step in a cardinal direction or a rotation
in two possible ones (albeit in various degrees of weight transfer between legs).
Much training revolves around mastering basic forms of that sort: Precise walk-
ing demands a measured use of controlled lability to generate energy through
one’s body center. Pivoting requires minimizing resistance by aligning the axis
and body lengthening, keeping hips level, slightly bent knees for grounding
(“rotating into the ground”), and closing the heels in time. Thus motor control
relies on basic action concepts. Dancers also acquire body-part specific motor
commands, like shoulder opening, chest rotation, controlled lability (“weight
projection”) and weight transfer. Experimenting with how a subtle adjustment
at this level affects the partner is crucial.
Beyond individual action concepts dancers will also learn dyadic “mo­­v­
emes,” elementary interaction concepts such as {partners in open-legged stance,
knees facing each other}  ROTATION, WEIGHT SHIFT TO REAR LEG 
{crossed legs}. The difference to individual action concepts, obviously, is that the
partner’s motor commands and states cannot be directly perceived, although the
resulting sensory outcomes can. These outcomes, qua extended body (see below),
have similar control-related consequences for the leader and almost match the
immediate responsiveness to motor commands in one’s actual body.
At both levels, dancers will master increasingly finer units as expertise
grows. Motor commands and incremental responsiveness will become sensitive
to subdivisions, such as the phases of a step. An added benefit is that improvisa-
tional decision options grow finer in tandem.
63
  Embodied (Micro-)skills in Tango Improvisation

2 . 3. Com mu n ic at ion

Configurational habits that are mutually reproduced at each moment make sig-
nal transmission fast, precise, and unambiguous. Information flow thus owes to
proper geometry, a dyadic grammar, notably by pointing the breastbones towards
each other to ensure optimal energy/signal transmission. Establishing muscu-
loskeletal inter-body chains from A’s legs to B’s torso and vice versa is equally
essential. Such enabling dyadic “pre-calibrations” do a large part of the work in
specific tasks by sufficiently narrowing the initial degrees of freedom of the couple.
Dancers also acquire practical knowledge of how to issue signals and of
reading their significance, so that a follower will learn to distinguish the onset
threshold of the leader’s weight shift for initiating a step. Some of this intersub-
jectivity related knowledge is task-specific, some general. Especially followers
can get around by concurrently respecting about eight or ten general precepts
for receiving and channeling the leader’s energy and incorporating them as part
of their body-grammar fundamentals.
Further intersubjectivity skills for feeling and being felt add to this:
Knowing how to calibrate the embrace, how and where to touch in order to
gather the requisite information, and how to maximize feedback for the part-
ner’s benefit. This can consist in improving one’s axis (or other body grammar),
which inherently makes for clear communication and better distinction of tech-
niques, amplifying signals in the lead by adapting the embrace or clarifying the
abovementioned sternum-to-sternum connection. Finally, optimization and
repair skills are needed whenever miscommunication occurs, either by dynami-
cally correcting against deviations from an ideal trajectory underway or, on the
leader’s part, rerouting on-the-fly if any other than the intended “moveme”
seems easier to realize. Agents thus possess “good tricks” for dealing with fluc-
tuations (micro-repairs, reciprocal compensation, etc.) and for returning the
system to a metastable state of action-readiness.

2 .4 . Per c e p t ion

For dancers it is crucial to feel the partner’s axis position, the weighted leg and
step phase he or she is in through a potentially very small and peripheral inter-
face. Following enactivist theory, perception involves subtle, yet skilled explor­
atory action such as dynamic touch.11 For example resistance can only be probed

11 J. Kevin O’Regan/Alva Noë: A Sensorimotor Account of Vision and Visual Con­


sciousness, in: Behavioral and Brain Sciences 24/05 (2001), pp. 939–973; Michael T.
Turvey/Claudia Carello: Obtaining Information by Dynamic (Effortful) Touching,
in: Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences 366/1581
(2011), pp. 3123–3132.
64
  Michael Kimmel

actively by feeding impulses into the other body system. Thus, so-called epi­
stemic actions elicit specific kinds of useful percepts. In tactile cases this is most
evident. To feel what the partner’s body “offers,” a certain embrace with the
right degree of flexibility is crucial, in which signals get passed on to the body
center. A degree of controlled weight sharing via controlled lability in the part-
ner’s direction can amplify the signal. Epistemic actions in gaze patterns (eye
saccades) are less evident, but the principle remains the same.
According to Gibson, expertise requires “educating one’s attention” by
attuning it to meaningful perceptual variables.12 That is, reliably tracking “what
counts” in a moving body orients the dancers. When observing others or when
dancing themselves, the dancers attentionally highlight tango’s functionally
important body segments and relations, including hip, breastbone, and shoulder-
points in their interrelation. The hip points reveal the current movement direc-
tion of a body. How long the imaginary diagonal stretches, the upper- to lower-
body dissociation reveals how “loaded” the “body-coil” is. Other variables concern
the dyadic status and include relative distance, speed and acceleration differen-
tials, step phase synchronicity (or not), relative configuration of body fronts, and
relative placement of weighted legs. The angle between the body fronts at hip
level (opposite, T-form, V-form, …) reveals relative motion trajectories. The abil-
ity of integrally perceiving all these tell-tale factors may be dubbed “smart per-
ception,” which works by extracting complex relational variables without dis-
tracting or time-consuming inferential synthesis.
Situational percepts also indicate (inter)action affordances (“doables”).
Thus, dancers with the torso above their supporting leg can always pivot. Or, a
partner in mid-step position, provided one’s front is directed towards him or her,
always allows a sacada (invasion) into the open step. Thus, tango situations pos-
sess perceivable geometric or dynamic signatures indicating (inter)action options
ad hoc. The open degrees of freedom need not be known, they can be felt.

2 . 5. I m a ger y

While being widely used by teachers, ultimately most dancers generate geomet-
ric and dynamic imagery (like “imagine yourself suspended from a string”).
Imagery summarizes good habits in a simple didactic way by focusing on par-
ticular aspects around which the rest of the movement tends to organize itself.
Typical imagery includes whole-body trajectories, postural geometries, balance
around an axis, the distribution of active and relaxed zones across the body

12 Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception (as fn. 7).


65
  Embodied (Micro-)skills in Tango Improvisation

highlighting the center of gravity as a leading edge of movements. Imagistic


reduction, for example reducing the torso to a ball in the abdomen rolling
through space, can be quite effective provided that secondary aspects are autom-
atized such as an upright inner axis that “takes the rest of the body along.” Other
imagery specifies ideal pair geometries such as the different ways in which the
torsos can be configured or how parallelograms in the body can be shifted.
Imagery can also support “smart” perception, for example when one
reads the center of gravity or body-axis into the perceived silhouette based on
their key role for tango movement. Or, body-axis imagery can serve as a crystal-
lizing core for organizing perceptual input by focusing attention on everything
that impacts the axis status.

2 .6. Mu sic

In listening to tango music, the ability to understand its “solicitations” is trained


with increasing familiarity with tango pieces. This is prima facie a perceptual
skill of temporal parsing and understanding musical micro-gestalts, of noticing
small interesting variations in the rhythm. However, when followers complain
about a leader’s “lacking musicality” this is frequently a superficial criticism.
Transposing well-heard music into motor commands requires dexterity and
timing skills in their own right, no matter how good one’s ear. Leaders in par-
ticular must train micro-motor skills of initiating and completing steps precisely
on the beat. Music is thus the field par excellence demanding an integration of
perceptual and motor skills, while making both commensurate with the avail­
able repertoire and with lightning-quick choices for staying with the music.
Temporal micro-coordination to fit rhythms and melodies comes from listening
to and interpreting the music with different intentionalities. Alternatively, dif-
ferential perception of music styles like tango vals and the quick double-time
milonguero rhythm may be trained.

2 .7. I mpr ov i s at ion

In tango the demands of dexterity, interaction and the expressive medium con-
verge for the leader. The expressive aspect is associated with “improvisation skills,”
cognitively a highly complex topic.13 Suffice it to mention different modes for
creating serial structure: In one mode leaders use planning ranges of two to eight

13 Michael Kimmel: A Cognitive Theory of Joint Improvisation: The Case of Tango


Argentino, in: Vida Midgelow (ed.): Handbook of Dance Improvisation, Oxford
(forthcoming).
66
  Michael Kimmel

steps, in other words a mini-script. Scripting can work in interactive contexts,


but only in a non-enforced mode, that is with sensitivity to the partner’s reaction
or dancefloor contingencies and a willingness to reroute if necessary. Another
mode is to select elements as small as a half-step at a time. (This may be a result
of learning to decompose, adapt, reshuffle, or truncate scripts.) Node points fur-
nish an auxiliary structure that supports basic step chaining as salient pair con-
figurations stored in memory. “Surfing” the tango matrix by linking such nodes
or even generating fitting pieces between distant nodes can serve as intuition
pump. Finally, distinguished improvisers have a profound grasp of the generic
logic of tango. They recognize momentary affordances by extracting invariants
even from situations that are essentially new to them, because the sum total of
pair geometry, weight distribution and related aspects signals possible options.

3. The Behav iora l A rc


The behavioral arc notionally complements the idea of (micro-)skills by asking
how these temporally and causally interpenetrate whilst “feeding” the interac-
tion event. Willy-nilly, we study arcs whenever we aim to capture characteristic
structures of becoming. A behavioral arc characterizes time-series segments of
the dance with integrality to them, hence event clusters. Constituents of an arc
are interwoven micro-events that (a) extend mutual cross-influences of a syn-
chronic or diachronic sort (anticipation, planning, premodulation and prepara-
tion, dealing with after-effects) and (b) display synergetic trade-offs exceeding
the sum of their parts. Arcs form a kind of bracket whether they arise as pre-
designed causal chains or as intentional links being woven on-the-go.

3.1. Sy nerg ie s

Firstly, the arc concept highlights the synchronic complementariness of micro-


skills within recognizable tango forms. Agents create contextually appropriate
synergies of characteristic sorts. In many techniques proper posture, a particular
geometry in the couple, a way of sensing, an (inter)action concept, and the right
dynamic timing must coalesce for the task to succeed. In case of a volcada, an
off-axis technique, the follower needs to manage her center of gravity adroitly to
minimize weight in leaning. The leader must know how to step to create more
distance to the partner’s legs to make her lean forward, but just enough, must
know his step geometry to make the follower’s leg trace a circle, and must recog-
nize the sensory signature of the endpoint to set her down. Synergies may involve
key items that need to be present at all costs and frequently also need to come first
so the rest can fall into place. In other synergies we see more equality between
synergetes: Most often the movement works out when enough of them are present.
67
  Embodied (Micro-)skills in Tango Improvisation

Despite synergy requirements, tango also has a certain simplicity – or


“simplexity”14 – to it. Multi-skill systems have evolved to intelligently reduce
complexity and maximize efficiency by packing functions into integral syner-
gies that crosscut the skill types listed earlier. Notably a good tango “axis” kills
several birds with one stone: it is conducive to dynamic stability qua upright-
ness, to motility by providing a neutral starting position, to esthetics by virtue
of elegance, to motor efficiency because the required core tension minimizes
fatigue of weaker peripheral muscles, and to signal transmission by recruiting
diagonal muscle chains that pass on impulses.
Secondly, we see a diachronic build-up in which quite different micro-
skills are deployed in a phase-sensitive, well-coordinated fashion that is jointly
constitutive of a tango element. Each phase guides attention to specific sub-
skills. A task might begin with subtle motor preparations while the previous
task is still going on, e.g. checking neutral axis while perceiving that a potential
decision point lies ahead. That this point has been reached is perceived as a
moment of axis stability. A follower will now wait for the leader to initiate and
simultaneously collect signals. The leader might inversely wait for the follower
to perfect the axis before initiating while attending to the relevant feedback
signatures and performing subtle exploratory (“epistemic”) actions15 like micro-
rotating the follower to gauge feedback about her preparedness. When the lead-
er begins a full-out (“pragmatic”) action this happens with slight leading ahead,
but in controlled increments. The follower’s response is finely coordinated with
the minuscule sequencing of lead increments. She actively monitors micro-sig-
nals like the degree of counter-body rotation from the leader, actively “melding
into” them. She may also prepare her legs for the point of a step where her own
“engine” kicks in. The leader monitors both his dynamics and whether the fol-
lower’s response fits to trigger micro-compensatory and task-protective routines
as needed. In both dancers, certain body parts may subtly prepare for braking or
stabilizing, for example calves and abdominals, without fully doing it yet.

3. 2 . Ti me s c a le s a nd Conte x t

The arc concept applies at hierarchically embedded timescales:


At the micro-timescale it has the span of a motor command of a modular
“moveme” from the repertoire, which the leader matches with a minimal deci-
sion unit. Even this level of the arc displays causal nesting of micro-events.
While the leader’s motor planning, usually 150–500 milliseconds in a joint step,

14 Alain Berthoz: Simplexity, New Haven/London 2012.


15 David Kirsh/Paul Maglio: On Distinguishing Epistemic from Pragmatic Action, in:
Cognitive Science 18 (1994), pp. 513–549.
68
  Michael Kimmel

commits to a chosen “moveme” the “how” of executing this choice allows for
modulation. Perceived “micro-affordances”16 between decision points guide the
fine-tuning the incipient action to ensure its correct timing, micro-control, and
dynamic correction in case of deviations from the ideal trajectory.
At the meso-timescale leaders may envisage mini-scripts for the next
few seconds. These collocations of “movemes” are analogous to multi-word for-
mulaic speech. Scripting means planning and fluidly executing two to eight pre-
planned motor units, akin to “licks” in jazz, while bracketing out all rerouting
options in-between. Dancers equally pay heed to “architectural” constraints for
fitting several steps into a musical phrase. For instance, the tango vals music’s
asymmetrical beat timing requires envisaging accentuation in advance.
The entire dance may, in a weaker, but still relevant sense, have its macro-
arc. Characteristic, although non-deterministic structures may arise by and by,
but may also involve a degree of sketch planning. Especially in performances,
event templates are held in mind, such as “start with a quick passage, then vary,
repeat an earlier theme, but make it more difficult, and end with an esthetic
pose.” This reflects a weak type of intentionality only, as the main decisions of
the leader occur after single steps or small multi-step scripts, at which time the
system consolidates and opens its possibilities.
The weaving of the arc begins with entering the dance-floor, the behav-
ioral setting.17 Proper body habits and a good somatic milieu are actively pre-set
in posture, being manoeuvrable, using specific muscles. Dancers then fine-tune
their habits task-specifically to optimize synergies. Concerning tango milongue-
ro, which has comparatively simple forms, but a double-time pacing, perfect neu-
tral axis, soft knees, clear counter-body motion, a long upper body, a tight
embrace and general relaxation will make the challenge of quick small move-
ments easy.
Moreover, dancers interpret momentary affordances in the light of pre-
quel events or even the full interaction history; what dancers feed into the arc,
notably if risks are taken, is frequently adapted to the couple’s perceived middle-
or long-range dynamics. For example, a leader who recalls his partner introduc-
ing a lot of forced ornamentations might want to curb his speed or avoid complex
options for fear of “struggles,” or a follower recalling a rushed, insecure lead will
strive to stand her ground with some exaggeration. Immediate precursor events
also interwave elements of the arc in a more basic way: Improvised actions always
pick up on positions of the previous moment (a spatial continuity requirement)
and dynamic properties like high energy may spill over into the present mo­­ment.

16 Kimmel: Subjectivity at Close Quarters (as fn. 5), p. 103.


17 Harry Heft: Ecological Psychology in Context: James Gibson, Roger Barker, and
the Legacy of William James’s Radical Empiricism, Mahwah, NJ 2001.
69
  Embodied (Micro-)skills in Tango Improvisation

3. 3. D y n a m ic Sk i l l s
The behavioral arc is the substrate for characteristic dynamic skills used to delib-
erately weave diachronic intentionality. At a relatively wide temporal grain,
experts apply broadband modulators like breathing together, reducing energy
for enhanced “interiority”, or staying close and present to relax the partner.
Such modulators heighten the success of subordinate actions non-deterministi-
cally. That is, they indirectly tweak the entire system towards more efficient
self-organization (control parameters in dynamic systems theory).18
At a smaller arc resolution of a half second or so leaders factor in skills
for bringing about usable configurations at a remove (“I do X to enable/impel my
partner to do Y, which enables action Z for me”). They strategically bring about
affordances because they have experienced coregulative causalities many times
over. They can anticipate proximal interaction outcomes not because they just
“know” them, but because they are part of making it happen by active shaping
and repairs on-the-fly. Leaders may promote desired affordances and “repair”
dwindling ones by compensatory actions like increased contact or directivity.
Dynamic specification of a goal while already moving is crucial. Fully
improvising leaders who plan at most a “moveme” at a time specify the trajectory
dynamically. This applies a fortiori to leaders who opportunistically exploit
affordances of sudden occurrences or even incorporate mishaps and fluctuations
to inspire their creativity, rather than blocking it. They skilfully exploit infor-
mation gathered on the way. So too when wanting to improve rapport, dancers
can optimally attune with the partner after beginning a step since the feedback
picked up after initiation specifies what to further optimize. Experts make the
dynamic their confederate and progressively add specifications both to task-
structure and means while the interaction is underway.
It was said that synergies need not be pre-planned, not even for the next
step. Nor need synergies be “off-the-shelf.” With growing experience, experts
will rely less on “ready-mades,” and soft-assemble solutions instead.19 This
means, leaders creatively blend in the here-and-now what is needed from semi-
independent aspects of tango logic (maximal distance, maximal angle, etc.) and
ensure a sufficient fit between these factors, often while experimenting rather
freely within these bounds. Multiple micro-systems can coalesce under situated
constraints in potentially unique ways. Soft-assembly requires a very advanced
understanding of tango, its multiple constraints, and how these fit together.

18 Hermann Haken/Günter Schiepek: Synergetik in der Psychologie. Selbstorganisa-


tion verstehen und gestalten, Göttingen 2006.
19 Esther Thelen/Linda Smith: A Dynamic Systems Approach to the Development of
Cognition and Action, Cambridge, MA 2004.
70
  Michael Kimmel

4. D ia log ic De ter m i nat ion of t he A rc


The behavioral arc arises collaboratively from causal interdependencies between
micro-actions of two partners. From the individual contributions recurrent
higher-level coordination patterns manifest tango techniques. Leaders and fol-
lowers establish a resonance loop with each other through the embrace, a “mutu-
al dynamical entanglement” of their bodies.20 These interdependencies are char-
acterized as coregulation, a loop of constant reciprocal causation based, at each
moment, on bidirectional information flow and on participatory sense-making
of two a priori autonomous agents who, via structural coupling, produce an
emergent coordination dynamic that is irreducible to the sum of its parts.21 Yet,
I am not satisfied with letting matters rest with these necessarily limited short-
hand abstractions.

4 .1. M ic r o -A n a lysi s of Col l ab or at ive E merge nc e

For fully lifting the numinous aura from the superindividual “emergent,” we
must shed light on the collective dynamic by specifying what links individual
dynamics. This avoids ontological pitfalls associated with the collective realm
and putting forth a micro-description that needs no such reifications. We shall
now look at how individual contributions give rise to phase-by-phase action
interdependencies, from which coordinative pattern arise. Within a “moveme,”
leaders and followers micro-coordinate their action increments with respect to
the partner, for example in forward walking: Each step demands a well-connected
joint weight transfer and staying together, avoiding leg collisions (the follower’s
free leg must have moved before the leader places his), and the step must end by
collecting energy again and without overshooting (but to be kept “rolling” if
desired). Individual micro-percepts and micro-actions link both roles tightly
enough to ensure this coordinated unfolding (Fig. 1):

… (0) {Leader senses that both partners are in start position}


– (1) {Forward weight projection of leader, a controlled lability,
informs the follower of incipient intention}
– (2) {follower “loads up” torso, but stays in position, while channeling
the information to the free leg, which extends backwards}

20 Froese/Fuchs: The Extended Body (as fn. 10), p. 205.


21 Alan Fogel: Developing Through Relationships. Origins of Communication, Self,
and Culture, Chicago 1993; Fuchs/De Jaegher: Enactive Intersubjectivity (as fn. 4);
Floor Van Alphen: Tango and Enactivism: First Steps in Exploring the Dynamics
and Experience of Interaction, in: Integrative Psychological and Behavioral Science
48/3 (2014), pp. 322–331.
71
  Embodied (Micro-)skills in Tango Improvisation

– (3) {sensing the follower’s leg stretch, the leader releases his weight
fully while the follower activates the supporting leg to generate thrust}.

Thus, the leader starts with a balance related percept of both bodies being in
torso-above-leg-support position. This suggests readiness. He begins to send the
torso forward by five or ten centimeters, thus making his body labile. This incip-
ient weight shift is felt by the follower via resistance, tension changes, and diag-
onal forces in the embrace. The follower responds in the free leg. In turn, the

Fig. 1  Micro-coordination in a tango-foward step.

leg’s extension is felt by the leader through her shoulder-blade and diagonal forces
in the embrace. When the leg has moved far enough, the leader releases his
weight forward. As the follower reaches mid-step position she begins to actively
push herself off while receiving the leader’s body weight until both pass through
the start position again. In this way both roles take guidance from percepts in
the partner and in themselves to initiate micro-actions phase-by-phase. Impor-
tantly, a step can be paused or reversed in most phases.

4 . 2 . “Con ne c t ive A lgor it h m s” I nter ac t i ng D y n a m ic a l ly

The above said yields an informational model of causal interdependencies stretch-


ing across body-parts, agents, and phases (for example B’s leg reacts to A’s torso).
The implication is that role- and task-specific control laws guide the agents.22
These robust perception-action linkages allow reacting to phase specific cues

22 William H. Warren: The Dynamics of Perception and Action, in: Psychological


Review 113/2 (2006), pp. 358–389.
72
  Michael Kimmel

through a “connective algorithm” and hereby execute a locomotion pattern in


finely scaled increments. Note that a similar micro-level task analysis is possible
for other techniques to specify phase- and role-specific triggers. Even task tran-
sitions can be explained analogously, either via salient “gatekeeper” cues trig-
gering the appropriate control laws or because dancers simultaneously attend to
all tango-relevant control dimensions and activate the situatively applicable
laws. The reason for tasks being aborted or for rerouting, in this view, is the
perceptual value of a control law moving out of the leader’s comfort zone. In such
perceptual situations, good improvisers will reroute dynamically if possible,
rather than enforce anything.
In sum, two dancers connected in a tight resonance loop fully coregulate
each moment of the interaction. Clearly, coordinated emergence is insufficiently
explained through rote-learned contributions left to unfurl automatically after
a joint task sets in. This would neither allow for precise timing, nor for interrup-
tions at any point or ad hoc changes of trajectory. A fortiori, it is far-fetched to
assume a numinous superindividual agency that simply makes the dancers behave
in complementary patterns. They clearly remain semi-autonomous agents.
However, it is the dynamic itself that, once initiated, calls up individually acti-
vated control structures which stepwise generate further percepts and actions
cumulating to the appearance of superindividual agency.

4 . 3. E le me nt s of Col l ab or at ive E merge nc e

Wrapping my analysis up, we get a multi-causal, but far from mysterious expla-
nation of why collaborative emergence is structured. Tango’s functionally and
esthetically coordinated unfolding has several ingredients: First, collaborative
emergence requires permanent systemic structuration mechanisms in terms of
consensual interaction frames, the wish to tango together, respecting etiquette,
etc.23 Moreover, the superindividual purpose of tango is subtly reflected in the
individual rules of posture, and, in a more tangibly interactional way, through
the rapport enabling configurations and relational constraints of distance, angle,
and the like. The aims of tango collaboration are thus embodied in the proper
pre-calibrations serving as a “grammar.” Note that these enabling structures are
not once set and then forgotten, but constantly monitored and actively main-
tained. Dancers know what proper rapport and a functional communication loop
feels like, know sources of contact loss and learn appropriate countermeasures to
micro-compensate.
Next, we must explain how – via the interaction of role-bound micro-
strategies – coordinated meaningful tango forms and a characteristic dynamic

23 Fogel: Developing Through Relationships (as fn. 21).


73
  Embodied (Micro-)skills in Tango Improvisation

arc emerge. Why each role does the right thing at the right time is highlighted
by how leaders and followers link up via interactive resonance mechanisms: both
a sensorimotor and a musical resonance loop, which solicit individual contribu-
tions in real-time, increment-by-increment, and hereby support coordinated
emergence. Such dynamic immediacy ensures a complementary unfolding down
to the lowest timescale. Both loops require sensorimotor micro-skills whereby
each emergent increment can be dynamically responded to. This happens through
“connective algorithms” such as role-specific control laws. Thanks to constant
monitoring the dancers can also fine-tune the interaction and repair glitches
on-the-fly. When this fails further micro-skills allow dynamic rerouting, rene-
gotiating stability, and troubleshooting in case of mishaps.
While resonance loop mechanisms explain how coordination is main-
tained within incipient steps or rotations, the leader’s micro-intention deter-
mines which element is selected next. Leaders actively project ahead a joint out-
come as imagery of the couple completing a “moveme.” This expressive intention
is not strictly deterministic (any action can fail or the dancefloor be blocked), yet
is a necessary counterpart to resonance mechanisms that coordinate the partners.
Finally, when enough of the previous factors are present bonuses are
reaped. Dyadic self-organizing tendencies arise such as partners mutually stabi-
lizing each other in rotations. This is a case of the pair system “enslaving” the
individual systems for their own good. Notably, good individual habits can add
up to a dyadic surplus in organization that, by virtue of a circular causality,24
considerably facilitates the individual actions in return. A well-structured super-
individual dynamic occasionally leads to novelty in the improvising couple feel-
ing as if coming from a “third mind.” With everything else in optimal balance,
chance fluctuations may self-organize into something genuinely new, yet viable.
Unfortunately, a not so skilled pair dynamic can also “enslave” individual dynam-
ics by enlisting them in a non-functional superindividual pattern of hesitation,
blockage, and effort. Unexperienced dancers may self-perpetuate misunder-
standings. Experienced dancers can be said to be experts in systemic dynamics
with skills in breaking incipient negative stabilizations soon enough, for instance
by “rebooting” the system.

5. Conc lusion
In dissecting a sophisticated joint improvisation system I have inquired into
feats of superindividual coordination both as regards their substrate and emer-
gent dynamics arising through kinetic and informational coupling.

24 Haken/Schiepek: Synergetik in der Psychologie (as fn. 18), p. 83.


74
  Michael Kimmel

Interactive capabilities in tango argentino – precise and efficient, yet rich


in variability – necessitate a multi-skill ecology. Skilled dancers recruit con-
glomerates of perceptual, motor, interactional, and – with improvisation in view
– cognitive decision skills. Multiple skills must become confluent both syn-
chronically and diachronically as dynamic interdependencies with the partner,
space and music arise. In making the behavioral arc my notional lynchpin I pro-
vided a conceptual linkage (a) between various micro-skills in their emergent
synergies (b) between the leader’s and follower’s role-specific strategies and the
emergent dance structure. From the viewpoint of expertise, my inquiry sits well
with metatheories for superindividual process management, for example in psy-
chotherapy research (cf. synergetics).25 From this angle, possessing joint impro­
visational skills implies that agents manage emergence. They actively relate to
multiple timescales of the behavioral arc.
Finally, how does the superindividual “get into” a brain-and-body-bound
system, the locus of skill? How can individuals incorporate the (intended and
perceived) collective dynamic? My answer was that the superindividual is in
leaders’ minds qua micro-intention for the next interaction concept, but more
than this, that it is encapsulated in dynamic micro-skills working to connective
ends (control laws, dynamic repairs) as well as in how dancers constantly and
skilfully limit the degrees of freedom, both individually and as a couple. Thus,
our viewpoint depicts dancers as (semi-)autonomous agents, yet linked in a sys-
tem establishing its higher-order reality, provided both individuals “feed” this
system in the appropriate ways.
My argument ultimately sheds light on the structure versus emergence
conundrum: How can one have both precision and improvisational flexibility/
creativity? No doubt, in other dances, martial arts, teamwork, and other social
interactions, the mix of elements and their underlying (micro)-skills will differ,
yet the type of systemic account needed to understand collaborative emergence
will be similar. The present paper in sum illustrates the necessity of a multi-
causal and synergetic analysis of individual skills put into their context of
dynamic interaction where transactional models of criss-crossing information
flow support constant mutual adaptation.

25 Günter Schiepek/Heiko Eckert/Brigitte Kravanja: Grundlagen systemischer The-


rapie und Beratung: Psychotherapie als Förderung von Selbstorganisationsprozes-
sen, vol. 1: Systemische Praxis, Göttingen 2013; Guido Strunk/Günter Schiepek:
Therapeutisches Chaos. Eine Einführung in die Welt der Chaostheorie und Kom-
plexitätswissenschaften, Göttingen 2014.
Marion Lauschke

„ E xperience comes whole“


Zum Rhythmus der Kunsterfahrung

Edmund Husserl geht mit Alexander Pfänder am Bodensee spazieren.


Sie werden Zeugen eines großartigen Sonnenuntergangs.
Pfänder fragt Husserl: „Glauben Sie wirklich, dass Sie diesen
Sonnenuntergang konstituiert haben?“1

1. DA S EN TGEGEN KOM M EN DE
DEN K EN den ken

Tagungstitel sowie Buch- oder Aufsatztitel sind Abstraktionen oder Konzen-


trate. In ihnen bringen Veranstalter und Autoren das für sie thematisch oder
methodisch Wesentliche in prägnanter Kürze zum Ausdruck. Der im Tagungs-
programm in Versalien gesetzte Titel DAS ENTGEGENKOMMENDE DEN-
KEN eröffnet einen Spielraum der Interpretation. In seiner Doppeldeutigkeit
changierend, ermöglicht er, einem Kippbild ähnlich, entweder ein durch Eigen-
bewegung gekennzeichnetes, also lebendiges und aktives Objekt zu denken oder
ein anschmiegsames, konziliantes, bewegliches – entgegenkommendes – Den-
ken zu konzipieren. DAS ENTGEGENKOMMENDE DENKEN wendet sich in
dieser Auslegung gegen die Fiktion eines omnipotenten ego cogito als Ursprung
der Weltkonstitution, als dessen Karikatur Edmund Husserl in den Eingangs-
zeilen herhalten musste, das heißt gegen einen Konstruktivismus, der sich selbst-
referentiell gegen die Herausforderungen des Objekts immunisiert; und es
wendet sich gegen den körperlosen Tanz postmoderner Reflexionsakrobatik um

1 Husserl sei Pfänder eine Antwort auf die Frage schuldig geblieben. Diese Anekdo-
te, die sich auf eine Begebenheit bezieht, welche sich im Sommer 1921 ereignet
haben soll, wird von Hans-Georg Gadamer überliefert. Vgl. Herbert Spiegelberg:
Neues Licht auf die Beziehungen zwischen Husserl und Pfänder, in: Tijdschrift
voor Filosofie 36/3 (1974), S. 565–573.
76
  Marion Lauschke

die Leerstelle des Sinns und der Sinne. DAS ENTGEGENKOMMENDE DEN-
KEN favorisiert Entwürfe, die einen Vorrang der Objekte als entgegenkom-
mende postulieren und sie in dieser Eigenschaft beziehungsweise Potenz ana-
lysieren; und es favorisiert Entwürfe, die das Subjekt in seiner (mentalistisch
eingeschlossenen) Konstitutionsleistung depotenzieren und eine Rezeptivität
voraussetzen, der körperliche Bewegung – going out for a walk – inhärent ist,
wie es bei denjenigen Ansätzen der Kognitionstheorie der Fall ist, die das
menschliche Denken auf sensomotorische Fähigkeiten zurückführen. Versucht
man, die doppelte Bewegung des einander Entgegenkommenden zu denken,
fällt auf, dass eine Begegnung nicht vorgesehen ist.
Es hieße jedoch, die mit der Formulierung des Tagungstitels verbundene
Intention grob misszuverstehen, würde man sich ausschließlich auf den Dualis-
mus des doppelten Entgegenkommens fokussieren. In Bezug auf Artefakte –
deren Entgegenkommen hier im Zentrum steht – kann davon gesprochen werden,
dass sie ihre Betrachter „ansprechen“ oder „treffen“ und somit in Bewegung, das
heißt lebendig, erscheinen, und ein entgegenkommendes Denken wird in der
Bewegung auf Objekte stoßen.
Mit der Explikation des Denkbildes als spiegelbildlicher Bewegung soll
jedoch auf einen Problembereich hingewiesen werden, der aus der Perspektive
pragmatistischer Ästhetik in den Blick gerät. Aus dieser Perspektive erscheinen
die in der Äquivokation enthaltenen Postulate aktiver Artefakte und motori-
scher Denker als Brückenpfeiler eines Bauwerks, dessen Verbindungsglied fehlt:
Die duale Konstruktion lässt die Möglichkeit außer Acht, das intrikate trans-
formative Geschehen zwischen Artefakt und Betrachter zu adressieren und die
Erfahrung des lebendig wirkenden Kunstwerkes als Emergenz dieses Prozesses
in actu zu begreifen. Es fehlt, in der Formulierung von Robert Innis: „The body-
mediated encounter with this painting – the art product on the way to becoming
the artwork.“2
Ein weiteres prozesslogisches Problem stellt aus dieser Perspektive die
Substantivierung beziehungsweise Objektivierung des hinsichtlich seiner Attri-
bute nicht weiter bestimmten „Entgegenkommenden“ dar. Im einsetzenden Pro-
zess der (peripheren) Bewegungswahrnehmung, dass und wie etwas entgegen-
kommt, die sich von der (fokussierten) Gegenstandswahrnehmung dessen, was
entgegenkommt, unterscheidet, lassen sich Subjekt und Objekt nicht trennen.
Eine Objektkonstitution findet nicht statt. In dem Moment hingegen, in dem
etwas als entgegenkommend gedacht wird, in dem also ein Subjekt einem Objekt
gegenüber steht, kommt es nicht mehr, ist es schon angekommen, wird es aus

2 Robert E. Innis: Perception, Interpretation, and the Signs of Art, in: The Journal of
Speculative Philosophy. New Series 15/1 (2001), S. 20–32, S. 21.
77
  „Experience comes whole“

der lebendigen Erfahrung abgesondert, entgegengestellt und vergegenständ-


licht.
Das Entgegenkommende lässt sich nicht denken. Sobald es als etwas, als
Substanz, gedacht wird, kommt es nicht mehr; solange es kommt, affiziert es
und wird nicht als etwas gedacht. Denn in dem Moment, in dem das Ereignis
geschieht, das mit „Entgegenkommen“ bezeichnet werden soll – etwa die leben-
dige Anmutung des Kunstwerkes – ist der Betrachter bereits von ihm ergriffen
und durchdrungen. Will man das Geschehen der lebendigen Kunsterfahrung
erfassen, lassen sich keine einander entgegenkommenden Entitäten denken. Sie
sind ineinander verwoben.3
Werden beide Akteure getrennt beschrieben, lassen sich Kunstprodukt
und Rezipient zwar in ihrer Potentialität, nicht jedoch in der Aktualität des
Geschehens selbst denken. Durch Hypostasierung eines Vorrangs des Objekts,
dessen Emphase der eingangs skizzierten Gegenbewegung geschuldet ist, wird
zwar ein übersteigerter Konstruktivismus korrigiert, jedoch abermals ein Dua-
lismus riskiert und eine erneute Trennung zweier in der Kunsterfahrung inter-
agierender „Akteure“ zementiert.

3 Zur Verdeutlichung dieser „primären Indifferenz“ sei an die von Ernst Cassirer
charakterisierte Ausdruckswahrnehmung erinnert. Cassirer beschreibt das Aus-
drucksphänomen als eine „Grenzscheide der geistigen Entwicklung, als sie noch
völlig in der Unmittelbarkeit des sinnlichen Lebens steht und doch andererseits
über sie bereits hinausgeht“. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen For-
men. Teil 1: Die Sprache, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 11, hg. v. Birgit Recki,
Hamburg 2001, S. 125. In der Ausdruckswahrnehmung gibt es die „Gewißheit
einer lebendigen Wirksamkeit, die wir erfahren“. Ders.: Philosophie der symboli-
schen Formen, Teil 3: Phänomenologie der Erkenntnis, in: ders.: Gesammelte Wer-
ke, Bd. 13, hg. v. Birgit Recki, Hamburg 2002, S. 82. Kennzeichnend ist für die
Ausdruckswahrnehmung, „daß ein bestimmtes, klar entwickeltes Ichbewußtsein
ihr nicht von Anfang an eignet. Denn alles Erleben – Ausdruck ist zunächst nichts
anderes als ein Erleiden; ist weit mehr ein Ergriffenwerden als ein Ergreifen […].“
Ebd., S. 83. Das mythische Bewusstsein, an dem Cassirer die Ausdrucksfunktion
exemplifiziert, „,hat‘ den Gegenstand nur, indem es von ihm überwältigt wird; es
besitzt ihn nicht, indem es ihn fortschreitend für sich aufbaut, sondern es wird
schlechthin von ihm besessen“. Ders.: Philosophie der symbolischen Formen. Teil
2: Das mythische Denken, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 12, hg. v. Birgit Recki,
Hamburg 2002, S. 88. Der Unterschied zur Wahrnehmung von Kunstwerken besteht
jedoch darin, dass der Betrachter sich freiwillig affizieren lässt und (prinzipiell)
jederzeit von der Haltung des affizierten Objekts, dem die Gegenstände auf den
Leib rückten, in diejenige des distanzierten Betrachters wechseln kann. Der Begriff
der „primären Indifferenz“ entstammt Thiemo Breyers Aufsatz: Philosophie der
Verkörperung – Grundlagen und Konzept, in: Gregor Etzelmüller u.a. (Hg.): Ver-
körperung als Paradigma der theologischen Anthropologie, Berlin 2016 (in Vorbe-
reitung).
78
  Marion Lauschke

2. E x p er ienc e c omes whole

Mark Johnson konstatiert in The Meaning of the Body zur Skizzierung der
ästhetischen Erfahrung im Anschluss an John Dewey und in dem DAS ENT-
GEGENKOMMENDE DENKEN äquivalenter Prägnanz: „Experience comes
whole“.4 „Experience comes whole“ ist eine Formulierung für dasjenige dyna-
mische Moment der Erfahrung, in dem keine Gegenstände des Denkens identi-
fiziert werden, sondern sich die Erfahrung selbst in spezifischer Qualität aus
dem Fluss der Erfahrung heraushebt und dem Subjekt der Erfahrung entgegen-
zukommen scheint – ein Moment, das dem routinierten, der Zweckrationalität
unterliegenden Umgang mit bekannten Gegenständen des Alltags entgeht, mit
ästhetischen Mitteln jedoch in Szene gesetzt und prolongiert werden kann.
In dem Aufsatz Qualitative Thought von 1930 hat Dewey die Initial-
phase des Denkens, die unübersehbar ästhetische Züge trägt, wenngleich Dewey
sie an den Anfang jedes Denkens setzt, dicht beschrieben, weshalb die Passage
im Folgenden umfänglich zitiert wird:

The only thing that is unqualifiedly given is the total pervasive quality;
and the objection to calling it “given” is that the word suggests some-
thing to which it is given, mind or thought or consciousness or whatever,
as well possibly as something that gives. In truth ,given‘ in this connec­
tion signifies only that the quality immediately exists, or is brutely there.
In this capacity, it forms that to which all objects of thought refer, al­
though, as we have noticed, it is never part of the manifest subject-mat-
ter of thought. In itself, it is the big, buzzing, blooming confusion of
which James wrote. This expresses not only the state of a baby’s experi-
ence but the first stage and background of all thinking on any subject.
There is, however, no inarticulate quality which is merely buzzing and
blooming. It buzzes to some effect; it blooms toward some fruitage. That
is, the quality, although dumb, has as a part of its complex quality a move-
ment or transition in some direction. It can, therefore, be intellectually
symbolized and converted into an object of thought.5

Robert Innis schematisiert diesen beginnenden Formprozess der Erfahrung als


einen Berg, der sich aus einer Ebene erhebt.6

4 Mark Johnson: The Meaning of the Body. Aesthetics of Human Understanding,


Chicago/London 2007, S. 145.
5 John Dewey: Qualitative Thought, in: The Late Works, Bd. 5: 1925–1953, hg. v. Jo
Ann Boydston, Carbondale/Edwardsville 1984, S. 254.
6 „These forms for Dewey make up, when certain conditions are fulfilled, the bound-
ary-less realm of the aesthetic, a realm that, in his startling image, arises out of the
79
  „Experience comes whole“

Kennzeichnend für die These „experience comes whole“ sind folgende fünf
Aspekte, die in der Schematisierung sichtbar werden:

1. „Whole“, ungeschieden, sind in der skizzierten Erfahrung Subjekt und


Objekt. Wir sehen nur eine Linie oder Formation, nicht zwei einander
entgegenkommende Entitäten. Werden Subjekt und Objekt in dieser Ini-
tialphase der verkörperten Erfahrung als getrennt gedacht, wird es nicht
mehr gelingen, sie als in der lebendigen Kunsterfahrung interagierend
zusammenzuführen. Sie sind zwar separat zu adressieren, aber nicht als
Ausgangspunkt, sondern als Ergebnis der Interaktion. Kennzeichnend
für die Ansätze von John Dewey und Mark Johnson ist ihr konfigurati-
ver Ausgangspunkt, durch den sie einen „methodischen Individualis-
mus“, der die Interaktion aus dem Blick verliert, vermeiden.
2. „Whole“ kennzeichnet die Integrität der affektive, volitionale und kogni-
tive Elemente beinhaltenden Erfahrung. Über diese Integrität verankern
Dewey und Johnson auch abstraktere Formen des Denkens in basalen
Lebensprozessen und Aktivitäten und vermeiden einen Dualismus.
3. „Whole“, ohne Binnendifferenzierung (oder „konfus“ in der Tradition
Leibniz-Baumgartens), ist auch die Erfahrung selbst. Es geht in der ästhe-
tischen Erfahrung nicht um das erkennende Studium einzelner Details
des Kunstwerkes oder seiner Wirkungskomponenten, sondern um seine
Wirkung als Ganzes. In diesem Sinne ist sie ein Gestaltphänomen.
4. Des weiteren beinhaltet das Auftauchen des Berges eine zeitliche Aus-
dehnung, was darauf hinweist, dass es sich nicht um die Betrachtung
statischer Entitäten, sondern um einen Prozess handelt. Die Verlaufs-
form wiederum weist auf spezifische Qualitäten der Erfahrung wie
Intensität und Intensitätskontur hin.
5. Ein weiterer Aspekt, der nicht schematisiert werden kann, ist der vekto-
rielle Charakter der Erfahrung selbst. „Pervasive“, durchdringend, sich
ausbreitend ist der von Dewey verwendete Begriff für diese Erfahrung.
Sie ist nicht in sich geschlossen,7 sondern drängt über sich hinaus zur
transformierenden, medialen Semiotisierung.

Das „Kommen“ einer Erfahrung bezeichnet ihre dynamische Qualität. Sie


macht sowohl den belebenden Aspekt einer ästhetischen Erfahrung, die leben-
dige Anmutung des Kunstwerkes als auch die Spannung aus, die den Transfor-

lowland of experience the way a mountain arises out of a plain.“ Robert E. Innis in
diesem Band, S. 22.
7 Die prozessphilosophische Konzeption von Gegenständen als Foci der Aufmerk-
samkeit innerhalb eines nicht scharf begrenzten Feldes kann hier nicht entfaltet
werden; vgl. dazu den Beitrag von Robert E. Innis in diesem Band.
80
  Marion Lauschke

mationsprozess des Denkens motiviert, in dem der Denkende sich vom zu Den-
kenden trennt und distanziert und sich ein Objekt des Denkens ausdifferenziert.
Der Verzicht auf Trennung von Subjekt und Objekt, Körper und Geist,
Gefühl und Denken und ihre Integration als Faktoren eines Prozesses ist
Voraussetzung für die Beschreibung der vorbegrifflichen dynamischen Erfah-
rung, in der ein an sich statisches Objekt wie ein Artefakt als bewegt, als auf uns
zukommend wahrgenommen wird.
Gegenstand der folgenden Argumentation sind Versuche, die Dynamik
solcher Interaktionen zu beschreiben.

2 .1. Vit a l it ät sfor me n a l s I nter a k t ion smu ster

In dem ungeschiedenen Ganzen der lebendigen Anmutung eines Artefaktes ist


ein Moment relevant, das sich schematisch erst dann darstellen lässt, wenn
nicht mehr abstrakt, sondern über konkrete Qualitäten der Erfahrung gespro-
chen wird.8
Mark Johnson hat den gemeinsam mit George Lakoff entwickelten Begriff
des image schema9 für räumliche sowie dynamische Muster der Erfahrung wei-
terentwickelt, um sie an die Erfordernisse einer Beschreibung ästhetischer Erfah-
rung anzupassen. Diese Weiterentwicklung erfolgt unter Bezug auf Maxine
Sheets-Johnstone, die in zahlreichen Publikationen10 auf kinetisch wie kinästhe-
tisch wahrnehmbare Bewegungsqualitäten hinweist, durch die Bewegungen als
Raum generierende Prozesse betrachtet und nicht auf einen – den Prozess und
seine spezifischen Qualitäten ignorierenden – Wechsel statisch konzipierter
Orte reduziert werden können. Den Begriff „vitality affect contours” entlehnt
Johnson jedoch Daniel Stern, der ihn bereits 1985 in The Interpersonal World
of the Infant zur Charakterisierung der Affektabstimmung in der nonverbalen
Kommunikation zwischen Säuglingen und Bezugspersonen verwendet hat.11
Affektabstimmung stellt Stern zufolge die erste und wichtigste Form der Inter-
subjektivität dar. Vitality affect contours – oder dynamic forms of vitality bezie-
hungsweise temporal feeling shapes (Stern verwendet verschiedene Begriffe,
um Aspekte desselben Phänomens zu konturieren) – kennzeichnen die grund-

  8 S. nächste S., Bild 1.


  9 George Lakoff: Women, Fire, and Dangerous Things, Chicago 1987; Mark Johnson:
The Body in the Mind, Chicago 1987; George Lakoff/Mark Johnson: Philosophy in
the Flesh, New York 1999.
10 S. die 2., erweiterte Auflage von Maxine Sheets-Johnstone: The Primacy of Move-
ment, Amsterdam 2011.
11 Daniel Stern: The Interpersonal World of the Infant. A View from Psychoanalysis
and Developmental Psychology, New York 1985, S. 56.
81
  „Experience comes whole“

legenden dynamischen Formen der Wahrnehmung, die entscheidend dafür


sind, dass wir jemanden und etwas als lebendig wahrnehmen.
Für Affektabstimmung ist, so Stern, eine hinsichtlich bestimmter Eigen-
schaften analoge, hinsichtlich des „Mediums“, in dem die Handlung stattfindet,
jedoch modifizierte Nachahmung erforderlich. Die Entsprechung hat hier trans-
modalen Charakter, und die Abstimmung stellt eine selbständige charakteristi-
sche Form affektiver Transaktion dar. Was wahrnehmbar und in der Interaktion
transformiert reproduziert wird, ist die Form, die Qualität einer Handlung, deren
Merkmale Intensität, Intensitätskontur, Takt, Rhythmus, Dauer und Gestalt
sind.12 Bei dieser „bislang noch rätselhaften, amodalen Repräsentation, die dann
in jedem Sinnesmodus wiedererkannt werden kann“, handelt es sich nicht um
„Bilder, Töne, haptische Eindrücke“, deren transmodale Wahrnehmung für Syn-
ästhesie charakteristisch ist, sondern vielmehr um „Formen, Intensitätsgrade
und Zeitmuster“.13 Sie sind nicht mit diskreten kategorialen Affekten wie Freu-
de oder Traurigkeit identisch, sondern mit deren dynamischen Erscheinungs-
formen (Bild 1).

Bild 1  Schema aus Daniel Stern: Forms of Vitality. Exploring Dynamic


Experience in Psychology, the Arts, Psychotherapy, and Development,
Oxford 2010, S. 8.

12 Im späteren Buch, Daniel Stern: Forms of Vitality: Exploring Dynamic Experience


in Psychology, the Arts, Psychotherapy, and Development, New York 2010, unter-
scheidet Stern die Komponenten Kraft, Zeit, Raum und Intention bzw. Gerichtet-
heit.
13 Stern verwendet die Begriffe „metamodal“, „crossmodal“ und „amodal“ syno­
nym. Zur Diskussion des unglücklich gewählten Begriffs „amodal“ sei auf John-
son: The Meaning of the Body (wie Anm. 4), S. 42, verwiesen.
82
  Marion Lauschke

Obwohl die einzelnen Komponenten wie Kraft, Zeit, Raum und Intention
beziehungsweise Gerichtetheit, die Bewegungen kennzeichnen und sie als Vita-
litätsformen wahrnehmbar machen, getrennt analysierbar und messbar sind,
ergeben sie nur gemeinsam das Phänomenen „Lebendigkeit“. Vitalitätsformen
sind Gestaltphänomene und – dies ist aus der relationalen Perspektive, den die-
ser Text einnimmt, von Bedeutung – sie sind nicht auf „Dynamik“ zu reduzie-
ren: „The forms of vitality are different. They are psychological, subjective phe-
nomena that emerge from the encounter with dynamic events.“14
Ansätze wie derjenige von Daniel Stern verfahren notwendigerweise
disziplinär mehrgleisig, und so verbindet Stern die phänomenologische Beschrei-
bung und Reduktion des zu untersuchenden Phänomens auf seine Basisform
mit Versuchen, es naturwissenschaftlich zu erklären. Neurologisch lässt sich
das Phänomen bislang jedoch nur in Ansätzen nachvollziehen. Die Erforschung
von Spiegelneuronen richtet sich, so Stern, derzeit auf zielgerichtete Handlun-
gen; Erklärungen der Feinabstimmung der sozialen und kulturellen Welt lassen
noch auf sich warten. Als vielversprechenden Kandidaten bewertet er den Ver-
such, die qualitativen Verlaufsformen dynamischen Erlebens auf Aktivierungs­
kurven des zentralen Nervensystems zurückzuführen: „The complexity of this
system [the arousal system] and its differentiation into separate parts provides
support for the idea that the arousal system could produce a multitude of highly
specific and complex arousal profiles, each eliciting a specific vitality form.“15 Ob
Arousalprofile als Ursachen für Vitalitätsformen betrachtet werden können, es
sich also um eine Kausalität und nicht nur um eine faszinierende Isomorphie
handelt, ist nicht ausgemacht: „Forms of vitality are not directly based on phys­
ical nature. Yet they correspond with realities in nature that may not exist inde-
pendent of mind.“16
Von Bedeutung in dem hier behandelten Zusammenhang ist, dass Vita-
litätsformen nicht einem einzelnen Akteur der Interaktion zuzuschreiben sind,
sondern aus der affektiven Interaktion zweier Akteure als „matching“ emergie-
ren, die Interaktion strukturieren und sich zu Interaktionsmustern der betref-
fenden Dyade habitualisieren können. Die als körperliche Resonanz erlebbare
Abstimmung von Vitalitätsformen lässt sich nicht nur in der Interaktion zwi-
schen Menschen, sondern ebenso in ästhetischer Erfahrung beobachten. Ohne die
Rezeption von Kunst mit spontanem Verhalten gleichzusetzen, weist Stern auf
Ähnlichkeiten hin und bezeichnet Affektabstimmung bereits in seinem frühen
Werk The Interpersonal World of the Infant als Vorläufer des Kunsterlebens.17

14 Stern: Forms of Vitality (wie Anm. 12), S. 7 (Herv. v. Verf.).


15 Ebd., S. 62f.
16 Ebd., S. 30.
17 Stern: The Interpersonal World of the Infant (wie Anm. 11), S. 161.
83
  „Experience comes whole“

2 . 2 . Pa r t ic ip ator y S e n s e-M a k i ng – D er R hy t h mu s
der I nter a k t ion

Der entscheidende Punkt, der Dewey, Johnson und Stern eint, ist, dass sie For-
men dynamischer Qualitäten der Erfahrung beschreiben, die aus der Resonanz
von Rhythmen des Objekts mit solchen des resonierenden Subjekts emergieren.
Durch die Überlegungen zu Rhythmen, die aus der Interaktion verschiedener
Agenten hervorgehen, sich akkumulieren, im Verlauf selbst wiederum produk-
tiv werden und Beziehungen prägen, das heißt zu Faktoren dynamischer Syste-
me werden, können die Theorien Deweys, Johnsons und Sterns als Matrix aktu-
eller Forschungen betrachtet werden, in denen versucht wird, enaktivistische
Kognitionstheorien für das Verständnis sozialer Interaktion fruchtbar zu machen.
Interaktionsrhythmen stehen ebenfalls im Zentrum der Überlegungen
Hanne de Jaeghers zum Participatory Sense–Making, einem Ansatz, den sie in
Zusammenarbeit mit Ezekiel Di Paolo, Thomas Fuchs und anderen fortent-
wickelt.18 De Jaegher unterscheidet in ihrer Analyse sozialer Interaktion zwi-
schen pre-coordination oder kontinuierlicher Koordination auf der Basis senso-
motorischer Adaption, die sich unwillkürlich zwischen Personen vollzieht: „an
interaction rhythm starts to be generated as soon as people meet“19 und inter-
actional coordination: das heißt „interaction that generates coordination“20 –
also einer Koordination, die durch die Interaktion erst entsteht.
Zur Erklärung von pre-coordination referiert de Jaegher auf mecha-
nisch-behaviouristische Momente der Synchronisierung, welche durch Kopp-
lung sensomotorischer Systeme entstehen und die so weit gehen, dass sich der
Herzschlag von Therapeuten und Klienten in der Musiktherapie synchronisie-
ren kann.21 De Jaegher zufolge ist pre-coordination eine Art kontinuierlicher
Zustand der Antizipation, in dem Aktion und Perzeption der Interakteure eng
miteinander verwoben sind. Sie vollzieht sich nach dem Modell adaptiver Oszil-

18 Hanne de Jaegher: Social Interaction Rhythm and Participatory Sense-Making: An


Embodied, Interactional Approach to Social Understanding, with Some Implica-
tions for Autism, University of Sussex 2006, unter: http://hannedejaegher.files.
wordpress.com/2010/05/hannedphilboekformaat.pdf (22.04.2015). Vgl. auch Tho­
mas Fuchs/Hanne de Jaegher: Enactive Intersubjectivity: Participatory Sense-
Making and Mutual Incorporation, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences
8/4 (2009), S. 465–486, und Hanne de Jaegher/Ezequiel Di Paolo: Participatory
Sense-Making. An Enactive Approach to Social Cognition, in: Phenomenology and
the Cognitive Sciences 6/4 (2007), S. 485–507.
19 De Jaegher: Social Interaction Rhythm and Participatory Sense-Making (wie
Anm. 18), S. 134.
20 Ebd., S. 144.
21 Ebd., S. 119.
84
  Marion Lauschke

latoren, deren Sendefrequenzen sich kontinuierlich bereits während des Emp-


fangs an eingehende Frequenzen angleichen.22
Um soziale Interaktion zu verstehen, genügt es jedoch nicht, eine kon-
tinuierliche präkognitive Koordination vorauszusetzen. Das spontane, unreflek-
tierte Nachahmen oder Spiegeln der Bewegungen anderer in Interaktionszusam-
menhängen, bei dem unsere Körper sich mit denen anderer synchronisieren, ist
ein Aspekt des komplexen Phänomens. Auf der Beobachtung, dass bereits die
pure Wahrnehmung eines bestimmten Verhaltens die Wahrscheinlichkeit erhöht,
dass wir uns genauso verhalten, basiert die Annahme eines „perception-behav­
ior link“.23 Hier handelt es sich jedoch nicht um eine Kausalkette, sondern um
eine erhöhte Bereitschaft.
In Bezug auf Rhythmen kann es nicht nur zu Synchronisierungen kom-
men. Die Spannung zwischen Individuen, die jeweils ihren eigenen Rhythmen
folgen,24 spielt bei der Entstehung von Interaktionsrhythmen ebenso eine Rolle:
„[W]hat happens is that we both participate in an interactive rhythm, which at
the same time also already manifests itself in ourselves. The interaction rhythm
is one process, but one in which the individual interactors actively participate.“25
In diesem Sinne gibt es keinen individuellen Rhythmus, der nicht immer schon
durch andere Rhythmen mitkonstituiert ist, und es gibt das Beharrungsver-
mögen, dem (scheinbar) eigenen Rhythmus zu folgen. Durch die Fähigkeiten
zur Regulation und Koregulation entsteht soziale Interaktion. Gemeinsame
Bedeutungsgebung – participatory sense making – entsteht jedoch erst dann,
wenn soziales Verhalten durch Intentionalität und eine „rhythmische Kapazi-
tät“ gesteuert wird, die der Interaktion die Flexibilität gibt, dem eigenen Rhyth-
mus zu folgen, sich dem Rhythmus anderer anzupassen und auf Reibungen, die

22 Port, Cummins und McAuley haben dieses Modell für die Erklärung muskulärer
Reaktionen eines Hörers auf akustische Signale eines Sprechenden entwickelt, die
in einer solchen Geschwindigkeit erfolgen können, dass sie unterhalb der gewöhn-
lichen Reaktionszeit auf einen externen Reiz liegen; vgl. Robert Port/Fred Cum-
mins/Devin McAuley: Naive Time, Temporal Patterns and Human Audition, in:
Robert Port/Tim van Gelder (Hg.): Mind as Motion, Cambridge, MA 1995, S. 339–
437. Je ähnlicher die Eigenfrequenzen von Sender und Empfänger einander sind,
umso einfacher ist die Adaption. De Jaegher weist aber auch auf Untersuchungen
hin, die einen derartigen Mechanismus auch in anderen Sinneskanälen erforschen.
Dewey verwendete für ein solches Phänomen bereits 1896 die Formulierung „the
so-called response is not merely to the stimulus; it is into it“. John Dewey: The
Reflex Arc Concept in Psychology, in: Psychological Review 3 (1896), S. 357–370,
S. 359.
23 Tanya Chartrand/John Bargh: The Chameleon Effect. The Perception-Behavior-
Link and Social Interaction, in: Journal of Personality and Social Psychology 76/6
(1999), S. 893–910.
24 Gemeint sind z.B. Sprechrhythmen oder Atemrhythmen.
25 Jaegher: Social Interaction Rhythm and Participatory Sense-Making (wie Anm. 18),
S. 131.
85
  „Experience comes whole“

zwischen unterschiedlichen Rhythmen von Personen entstehen, zu reagieren.


Die aus Interaktionserfahrungen von Individuen resultierenden Interaktions-
rhythmen prägen als „relational knowledge“26 zukünftige Interaktionen: Soziale
Interaktionsrhythmen haben Geschichte und prägen Geschichten.

2 . 3. Ku n st a l s I nter a k t ion s er f a h r u ng

De Jaegher hat gezeigt, welche Bedeutung Rhythmen für die soziale Interaktion
haben. Sense-making findet jedoch auch in der Interaktion mit Artefakten statt.
Der einzige Unterschied, den sie konstatiert, ist der, dass in der Interaktion mit
Artefakten das sense-making keine Wechsel-, sondern einseitige Orientierung
ist. Objekte haben keine Intentionen. Sie seien nur reaktiv.27 Trifft diese Unter-
scheidung auf Interaktionen mit allen Objekten – auch mit Artefakten – zu?
Eine Anwendung des Participatory-sense-making-Ansatzes auf Inter-
aktion mit Artefakten ist unter zwei Voraussetzungen möglich:
1. Der Integration einer medialen Komponente, die berücksichtigt, dass
Artefakte ihrerseits Ergebnisse der Interaktion zwischen Mensch und
Umwelt sind und durch ihren Zeugnischarakter zu quasi-sozialen Agen-
ten werden. „[T]he expression of the self in and through a medium, con-
stituting the work of art, is itself a prolonged interaction of something
issuing from the self with objective conditions, a process in which both
of them acquire a form and order they did not at first possess.“28
2. Die Verlaufsform der Wahrnehmung wird nicht als willkürlich, sondern
als durch das Artefakt selbst forciert betrachtet. In Forms of Vitality, in
dem Stern Erfahrungen qualitativer Dynamik erstmals explizit in Bezug
auf die Kunst untersucht, fokussiert er auf die „zeitgebundenen“ Künste
wie Musik, Theater und Film. Mit Rekurs auf Paul Klee und Heinz Wer-
ner weist er jedoch darauf hin, dass auch in Bezug auf Bilder, deren Erfas-
sung von zeitlicher Dauer ist, von einem sich entfaltenden Narrativ ge­
sprochen werden kann. Die Bewegungswahrnehmung führt Stern zum
Beispiel auf farbliche Kontraste zurück, die dafür verantwortlich sind,
dass Elemente in der Wahrnehmung vor- oder zurücktreten.29

26 De Jaegher/Fuchs: Enactive Intersubjectivity (wie Anm. 18), S. 482.


27 Ebd., S. 477.
28 John Dewey: Art as Experience [1934], New York 2005 [AE], S. 67f.
29 Daniel Stern: Forms of Vitality (wie Anm. 12), S. 31, Anm. 1. Die Narrative einer
sich in der Wahrnehmung vollziehenden Dynamik habe ich an einem Gemälde
von Mark Rothko exemplifiziert; vgl. Marion Lauschke: Presymbolic Formation.
Reflections on Bodily Communication between Humans and Artefacts, in: Cas-
sirer Studies 5/6 (2012/13), S. 139–156.
86
  Marion Lauschke

Die von Dewey und Johnson untersuchten „Interaktionen“ beziehungs-


weise das vitality form matching, das Stern beschreibt, vollziehen sich unter-
halb der Bewusstseinsschwelle und nicht als intentionale Akte. Fokussiert man
jedoch die Potenz ihrer Form, wird es möglich, auch hier von Interaktion zu
sprechen. Dazu ist eine begriffliche Unterscheidung notwendig, die Dewey in
Art as Experience vornimmt.
Um die ästhetische Erfahrung als emergentes Phänomen beschreiben zu
können, trennt er zwischen dem materiellen „Kunstprodukt“ und dem „Kunst-
werk“ als Erfahrung: „The first is physical and potential; the latter is active and
experienced.“ (AE 168) Erst im Prozess der Erfahrung, das heißt in der Inter-
aktion von Kunstprodukt und Rezipient, entsteht das „Entgegenkommende“. Es
sind zu Rhythmen organisierte Energien auf beiden Seiten, die den Prozess in
Gang setzen, und erst wenn sie ein Rhythmus in der Erfahrung selbst werden,
sind sie ästhetisch. (AE 169) Dennoch erschöpft sich die Interaktion von Betrach-
ter und Kunstwerk nicht in der als „qualitativ“ bezeichneten initialen Phase der
unmittelbaren Erfahrung. Sie ist nach Dewey zwar conditio sine qua non: „[A]n
esthetic necessity: the immediacy of esthetic experience. It cannot be asserted
too strongly that what is not immediate is not esthetic.“ (AE 123) Aber aus der
ästhetischen Erfahrung wird nur dann ein Kunstwerk, wenn ihr Phasen der
reflexiven Auseinandersetzung folgen. (AE 150) Hier geht es jedoch um die ini-
tiale Phase körperlicher Resonanz. Dewey schreibt: „We say with truth that a
painting strikes us. There is an impact that precedes all definite recognition of
what it is about.“ (AE 151) Wenig später liefert er die Begründung: „Interaction
of environment with organism is the source, direct or indirect, of all experience
and from the environment come those checks, resistances, furtherances, equi-
libria, which, when they meet with the energies of the organism in appropriate
ways, constitute form. The first characteristic of the environing world that makes
possible the existence of artistic form is rhythm.“ (AE 153) Dewey stellt sich
jeder auf Konvention beruhenden Interpretation der lebendigen Wirkung von
Kunstwerken entgegen. Der beschriebenen rhythmischen Formkraft der Natur
korrespondiert eine „acute sensitivity of response“. (AE 159)
Es zeigt sich somit, dass Dewey nicht nur als veritabler Enaktivist avant la
lettre gelten kann. Mit seiner Ästhetik hat er dem Enaktivismus ein Feld abgesteckt,
das dieser erst noch bestellen muss. Eine integrale Theorie der Kunst(erfahrung),
die die in den Kulturwissenschaften realisierte Formreflexion der Artefakte, die
wahrnehmungspsychologische und kogni­tionswissenschaftliche Reflexion von
Lebens- und Denkprozessen, subtile phänomenologische Beschreibungen von
Kunst- und Bewegungserfahrung sowie dynamische System- und Interaktions-
theorien vereint, kann jedoch nur im interdisziplinären Verbund entstehen.
Form lässt sich nicht statisch denken. Sie ist ein Interaktionszusammenhang.
1I I . S t ei n a rt e fa k t e
Harald Floss

Paläolithische S teinartefakte
Die ältesten Werkzeuge der Menschheit

Die ältesten von Menschen belegbar hergestellten Erzeugnisse sind Steinarte-


fakte.1 Ihr erstes Auftreten markiert nach gängiger archäologischer Definition
damit gleichsam den Beginn der Menschheit. Für die Kunstgeschichte sind Stein-
artefakte dadurch interessant geworden, dass der Bildbegriff, Horst Bredekamp
zufolge, jedwede Form von Gestaltung umfasst und Steinartefakte damit, dieser
Hypothese folgend, als von Menschen geformte Objekte zu den ältesten Ergeb-
nissen eines Bildaktes geworden wären.2
Im Folgenden geht es darum, aus Sicht der Ur- und Frühgeschichte zu
klären, was paläolithische Steinartefakte sind und welche komplexen Faktoren
für ihr jeweiliges Aussehen verantwortlich zeichnen können. Vorweg genom-
men sei, dass auch Ur- und Frühgeschichtler paläolithische Artefakte selbstredend
als Ergebnis eines Gestaltungsprozesses betrachten, da sie nun einmal von Men-
schen geformt wurden. Ebenfalls wird bestimmten Einzelstücken gewisserma-
ßen eine symbolische Aufladung zuerkannt, da es Artefakte gibt, die Charakte-
ristika ausweisen, die über den reinen ergonomischen Nutzen hinausgehen.
Diese Erkenntnisse sollten aber nicht dahingehend instrumentalisiert werden,
Steinartefakten eine unmittelbare und zielführende Vorläuferrolle dessen bei-
zumessen, was im Allgemeinen unter dem Begriff der Eiszeitkunst subsumiert
wird.

1 Harald Floss (Hg.): Steinartefakte – vom Altpaläolithikum bis in die Neuzeit,


Tübingen 2012.
2 Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007,
Berlin 2010; s.a. seinen Beitrag in diesem Band.
90
  Harald Floss

Werk zeug gebrauc h a ls c o n d it i o hum a n a?


Den Werkzeuggebrauch als conditio humana zu verstehen, ist heute zwar eine
verbreitete Annahme. Sie ist allerdings in einen gewissen Erklärungsnotstand
geraten, da auch Tiere, wie etwa Affen oder manche Vögel, durchaus den Werk-
zeuggebrauch kennen. Eine Lösung hin zum Alleinstellungsmerkmal des Men-
schen gelingt auf mühsame Weise den Kognitionswissenschaften durch das
Heranziehen der sogenannten Planungstiefe. Während etwa Schimpansen pri-
märe Werkzeuge zum Sammeln von Ameisen oder zum Extrahieren von Ter-
miten verwenden, kennen die frühen Menschen einen sekundären Werkzeug-
gebrauch. Dies bedeutet, dass man ein Werkzeug verwendet, um ein Werkzeug
herzustellen, mit dem man ein bestimmtes Ziel verfolgt. Diese Verkettung ist
auf der Erde seit circa 2,7 Millionen Jahren belegt.

Da s Pa läol it h i k u m
Das Paläolithikum, auch Altsteinzeit genannt, ist die erste und bei weitem
längste Periode der Menschheitsgeschichte. Ihr Beginn wird derzeit in Afrika mit
dem Vorkommen ältester Steinartefakte vor circa 2,7 Millionen Jahren ange-
setzt. Berücksichtigt man Schnittspuren auf Knochen, die nur von solchen Arte-
fakten stammen können, verschiebt sich der Beginn der Altsteinzeit möglicher-
weise sogar auf ein Alter von circa 3,4 Millionen Jahren. In Europa beginnt diese
Periode vor circa 1,2 Millionen, Georgien eingerechnet sogar vor circa 1,7 Mil-
lionen Jahren. Die Altsteinzeit endet vor circa 10.000 Jahren mit dem Ende der
letzten Eiszeit und dem Übergang zum Mesolithikum (Mittelsteinzeit), der
Periode der nach-eiszeitlichen Sammler und Jäger vor Beginn von Ackerbau und
Viehzucht. Das Paläolithikum nimmt damit zeitlich 99,7 Prozent der Mensch-
heitsgeschichte ein.

Stei na r tefa k te u nd Geofa k te


Ein erstes großes Problem bei der Beschäftigung mit Steinartefakten liegt in
ihrer einwandfreien Authentifizierung. In der Natur gibt es zahlreiche Prozesse,
aus denen Objekte hervorgehen können, die man leicht mit Artefakten verwech-
seln kann (Bild 1). Durch das Aneinanderschlagen von Steinen in Flüssen, Meeres-
ufern und Gletschermoränen, durch Windschliff, Sedimentdruck und Bodenbe-
wegungen sowie durch Veränderungen durch Frost und Hitze ist die Natur in
der Lage, Gegenstände hervorzubringen, die Geofakte beziehungsweise Pseudo-
artefakte genannt werden und die prähistorischen Steinartefakten sehr ähnlich
werden können. Dieselben Vorgänge können andererseits in der Lage sein, reelle
Steinartefakte so zu überprägen, dass ihre Erkennbarkeit eingeschränkt ist.
91
  Paläolithische Steinartefakte

Bild 1  Faustkeil oder nicht? Nicht das kantenscharfe Stück


rechts ist ein Faustkeil, sondern das Stück links. Dabei handelt
es sich um einen in Schottern der Garonne verrundeten
Acheuléenfaustkeil aus einem vulkanischen Rohmaterial.
Rechts sieht man ein völlig durch Frostabplatzungen über­
prägtes Stück Kalkstein von der Schwäbischen Alb, das formal
sehr einem Faustkeil ähnelt, aber ein Naturprodukt ist.

D ie Merk ma le der A r tefa k te

Dessen ungeachtet hat die Urgeschichtsforschung, unterstützt durch Erkennt-


nisse der Bruchmechanik und der glastechnischen Physik, ein Instrumentarium
erarbeitet, das die einwandfreie Erkennbarkeit von Steinartefakten ermöglicht
(Bild 2). Die Steinartefakte des Paläolithikums sind sogenannte geschlagene
Steinartefakte. Übt man mit Hilfe eines Schlaginstrumentes, zum Beispiel eines
Steins oder eines Geweihhammers, auf einen glasähnlichen Körper – in der Urge-
schichte handelt es sich vor allem um Feuerstein oder ähnliche Materialien –
einen Schlag aus, so kommt es allein oder in Kombination zu Brüchen, die mit
typischen Merkmalen verknüpft sind, zum Beispiel Hertz’scher Kegel, Schlag-
buckel (Bulbus), Schlagnarbe, Schlagwellen oder Radialstrahlen.3 Grundsätzlich
können Bearbeitungstechniken, die auf das Abschlagen von Stücken von soge-
nannten Kernen abzielen, von Herstellungsweisen unterschieden werden, bei
denen es umgekehrt darauf ankommt, ein substanzielles Kernstück zuzuformen.

3 Harald Floss: Grundbegriffe der Artefaktmorphologie und der Bruchmechanik, in:


ders. (Hg.): Steinartefakte (wie Anm. 1), S. 117–132.
92
  Harald Floss

Bild 2  Typische Schlagmerkmale von Steinartefakten. Oben links


Hertz’scher Kegel in vollkommener Ausprägung, oben rechts
Ventralfläche eines Abschlags mit typischen Merkmalen (partieller
Kegel, Bulbus, Radialstrahlen, etc.), unten Abschlagmorphologie mit
Dorsal- und Ventralfläche und im Profil.

Kerne, Abschläge sowie die letztgenannten Kerngeräte verfügen ebenfalls über


ganz spezifische Flächen und Einzelmerkmale.

Fragestel lu ngen
Bei der Beschäftigung mit Steinartefakten kommen vier grundsätzliche Fra-
gestellungen zum Tragen: Zunächst kann bei einem Artefakt das zugrunde lie-
gende Rohmaterial erörtert werden. Eine zutreffende Art- und Herkunfts-
bestimmung der Gesteine kann Rückschlüsse auf die begangenen Territorien
der paläolithischen Sammler und Jäger sowie über Tauschverbindungen mit
anderen Gruppen gestatten. Die Technologie als Arbeitsgebiet beschäftigt sich
mit den Herstellungsweisen von Artefakten. Die Typologie oder Formenkunde
widmet sich den fertig gestellten Werkzeugen, ihrer Form und den chronologi-
schen beziehungsweise kulturellen Rückschlüssen, die daraus gezogen werden
können. Schließlich dient die sogenannte (Mikro-)Gebrauchsspurenanalyse der
Ermittlung der reellen Anwendung und Funktion eines Steinartefaktes.
93
  Paläolithische Steinartefakte

Rea le u nd ver mei nt l ic he


E nt w ic k lu ngstenden zen
Bei der Entwicklung der paläolithischen Steinartefakte gibt es gewisse Tenden-
zen, die mit bestimmten Ausprägungsformen verbunden sind (Bild 3). Die ältes-
ten Steinartefakte auf der Erde sind sogenannte Geröllgeräte und einfache Ab­
schläge. Diese einfachen Artefakte sind mit dem Begriff des Oldowan verbunden
und kommen in Afrika seit circa 2,7 Millionen Jahren vor. Vor circa 1,8 Millio-
nen Jahren treten sodann die ersten Faustkeile auf. Dabei handelt es sich um
mehr oder weniger flächig überprägte Kerngeräte, die über eine Spitze und ein
meist sich kontinuierlich verbreiterndes und verdickendes Basisteil verfügen.
Faustkeile gelten als Multifunktionsgeräte. Sie kommen in Europa, Afrika und

Bild 3  Vier Meilensteine in der Entwicklung paläolithischer


Steinartefakte. Oben links Geröllgerät des Oldowan, oben rechts
Faustkeil des Acheuléen, unten links Levalloisspitze des Moustérien,
unten rechts Klinge aus dem Magdalénien. Verschiedene Fundstellen.
94
  Harald Floss

in den südwestlichen Teilen Asiens vor. Die letzten Faustkeile gibt es am Ende
des Mittelpaläolithikums vor circa 40.000 Jahren.
Eine weitere wichtige Etappe in der Entwicklung von Steinartefakten
liegt in der Vorpräparation von Kernen, die es ermöglicht, Form und Größe des
erwünschten Zielproduktes besser vorherzubestimmen. Der wichtigste Vertre-
ter dieser Präparationen ist die sogenannte Levalloismethode. Dabei wird ein
Kern aufgewölbt und ein Zielabschlag abgetrennt. Die Methode ist sehr mate-
rialaufwendig. Ihre Anfänge liegen vor circa 350.000 Jahren und definieren den
Beginn des Mittelpaläolithikums, ihr Ende fällt in etwa in dieselbe Zeit wie das
Ende der Faustkeile vor circa 40.000 Jahren.
Ein weiterer Meilenstein prähistorischer Steinartefakte ist die Erzeu-
gung von Klingen. Ihre Anfänge liegen im Mittelpaläolithikum, ihre regelhafte
Verbreitung und serielle Erzeugung beginnt allerdings erst mit dem Jungpaläo-
lithikum. Klingen und ihre kleinen Brüder und Schwestern, die Lamellen, sind
lang-schmale Artefakte mit parallelen Dorsalgraten und Kanten. Mittels der
sogenannten Kernkantenmethode erlangt die Klingenproduktion im Jung-
paläolithikum zweifellos einen Höhepunkt. Während etwa noch die Levallois-
methode meist auf die Erzeugung eines oder weniger Zielprodukte ausgerichtet
war, führt die serielle Klingenerzeugung insbesondere am Ende des Jungpaläo-
lithikums zu einer standardisierten, um nicht zu sagen vorindustriellen Erzeu-
gung von Klingen. Dabei kam es darauf an, aus einem bestimmten Volumen
Rohmaterials möglichst viele Schneidekanten zu erzeugen. Am Ende der letzten
Eiszeit nimmt das Ausmaß der Klingenerzeugung ab, wofür vermutlich die ver-
änderten Umweltbedingungen verantwortlich zeichnen.
Nach diesem groben Abriss der wichtigsten Vertreter paläolithischer Stein­
a­ rtefakte muss allerdings die Frage erlaubt sein, inwieweit es tatsächlich eine
lineare und stringente Entwicklung paläolithischer Steinartefakte gibt und ob
von den verschiedenen im Paläolithikum vertretenen Menschenformen und
ihren jeweiligen intellektuellen wie physischen Eigenschaften auf die Herstel-
lung spezifischer Steinartefakte geschlossen werden kann. Mit anderen Worten
stellt sich die Frage, ob eine bestimmte kognitive Grunddisposition ausschließ-
lich beziehungsweise vornehmlich für spezifische Ausprägungen von Steinarte-
fakten verantwortlich ist.
Hier verkomplizieren sich die Dinge dann doch deutlich. Denn zunächst
wäre die gestellte Frage vermutlich mit „Ja“ zu beantworten, da Geröllgeräte vor­
­­
nehmlich mit entwickelten Australopithecinen, Faustkeile mit dem Homo erectus,
die Levalloismethode mit dem Neandertaler und die Klingenerzeugung mit
Homo sapiens in Verbindung zu bringen sind. Kommt aber ein engmaschigerer
Maßstab zur Anwendung, wird offenkundig, dass Geröllgeräte sehr wohl auch
in nach-altpaläolithischem Kontext vorkommen können, dass Faustkeile sowohl
von Homo erectus und Derivaten, wie vom Neandertaler erzeugt wurden, dass
95
  Paläolithische Steinartefakte

die Levalloismethode in verschiedenen Erdteilen sowohl von Neandertalern als


auch anatomisch modernen Menschen eingesetzt wurde und dass auch Klingen
sowohl bei Neandertalern als auch bei Homo sapiens eine Rolle spielten.
Bei näherer Betrachtung eines bestimmten Artefakttyps, wie zum Bei-
spiel des Faustkeils, wäre vielleicht zunächst zu vermuten, dass sich diese von eher
grob und partiell hin zu filigran und minutiös bearbeiteten Formen entwickelt
haben. Die herzförmigen Typen des Moustérien de tradition acheuléenne vom
Ende des Mittelpaläolithikums mögen zunächst auch in diese Richtung weisen.
Allerdings sind seit einer Weile auch sehr fein bearbeitete Faustkeile aus sehr
alten Kontexten bekannt, zum Beispiel aus der circa 500.000 Jahre alten Fund-
stelle Boxgrove in Südengland (Bild 4).

Fa k toren der E i n f lussna h me


Es ist also schwierig, eine stringente Entwicklungslinie von Steinartefakten zu
rekonstruieren. Bezüglich der frühen Phasen des Paläolithikums entsteht der
Eindruck, als habe es über längere Zeiten hinweg ein Hintergrundset von Tech-
niken und Methoden gegeben, das nur unter ganz bestimmten Bedingungen so

Bild 4  Fiktive, nicht quantitativ untermauerte Darstellung zur Entwicklung alt- und
mittelpaläolithischer Steinartefakte am Beispiel eines ca. 500.000 Jahre alten, minutiös
bearbeiteten Faustkeils aus Boxgrove, Südengland. Nicht der gerade Pfeil, der eine
stringente Entwicklung andeutet, entspricht der Realität. Vielmehr folgt die Evolution
alt- und mittelpaläolithischer Steinartefakte mit der ondulierten Kurve einem über
längere Zeiten hinweg vorhandenen Grundfundus, der unter bestimmten Verhältnissen
zu lithischen Umsetzungen kommen kann, die weder in der Quantität und Ausprägung
der Produkte, noch in der Feinheit der Bearbeitung stringenten Entwicklungslinien
folgen.
96
  Harald Floss

oder so zur Anwendung oder gewissermaßen zum Ausbruch kam. Dennoch gibt
es spätestens seit dem späten Mittelpaläolithikum Hinweise auf differenzierte
kulturelle Traditionen. Steinartefakte sind hier nach wie vor in der Lage, Infor-
mationen von Chronologie und kultureller Prägung zu transportieren.
Steinartefakte auf die x-te Detailebene herunterzubrechen, wie es in den
Arbeiten der aufstrebenden französischen Technologengeneration zu beobach-
ten ist, ist insofern problematisch, als die Gefahr besteht, sich in Details zu ver-
rennen und die Übersicht über das Ganze zu verlieren. Es ist schlicht falsch, die
Typologie als ein starres und überkommenes Konzept abzulehnen, denn tech-
nologische Prozesse und die Funktion von Artefakten sind nur zum Teil für die
Form der Stücke verantwortlich. So finden wir seit dem späten Mittelpaläoli-
thikum unterschiedliche Stränge der Tradierung von Steinartefakten (Bild 5).
Blattspitzen der Blattspitzengruppen, Abschlaggeräte des Moustérien sowie die
Keilmesser und Faustkeile des Micoquien können sehr wohl in identischer Wei-
se eingesetzt worden sein, ihre Form ist jedoch sehr verschieden. Damit zeigt
sich, dass die Aussage, die Form von Artefakten sei ausschließlich von funktio-
nalen Aspekten beeinflusst, falsch ist. Der Leitsatz form follows function ist nur
bedingt auf Steinartefakte übertragbar. Ein gewöhnliches mitteleuropäisches
Taschenmesser kann ohne Zweifel auch zum Abisolieren von Kabeln oder zum
Säubern von Fingernägeln verwendet werden, deswegen wird es aber formal
wie nomenklatorisch weder zum Abisolierer noch zur Nagelfeile.

Bild 5  Spätmittelpaläolithische Steingeräte unterschiedlicher kultureller


Tradition, aber mit ähnlicher Funktion. Von links nach rechts Blattspitze,
Moustérienspitze, Micoquienfaustkeil. Verschiedene Fundstellen.
97
  Paläolithische Steinartefakte

Letztlich sind die Faktoren, die Einfluss auf das Aussehen von Steinarte-
fakten haben, sehr vielfältig (Bild 6), und es ist ein komplizierter Vorgang, die
jeweils maßgeblichen Kriterien herauszufiltern. Als erstes muss das zugrunde
liegende Rohmaterial genannt werden. In manchen Regionen gibt es keine hoch-
wertigen Rohstoffe. Dort sehen die Artefaktinventare dann deutlich ärmer aus
als in Regionen, die von erstklassigen Silices nur so strotzen. Deshalb sind die
archäologischen Hinterlassenschaften in diesen Gegenden aber nicht kulturell
weniger bedeutsam oder kulturhistorisch weniger repräsentativ. Auch wenn der
rein umweltdeterministisch geprägte Ansatz der New Archaeology zweifellos
überwunden wurde, so können dennoch Klima und Umwelt einen erheblichen
Einfluss auf den Habitus von Steinartefaktensembles ausüben. Es ist ein Trug-
schluss anzunehmen, dass Steinartefakte, die in gemäßigten Klimaten entstan-
den sind, „schöner“ oder signifikanter aussähen, als solche, die in kalt-trockenem
Klima hergestellt wurden. Das Gegenteil ist richtig. In der kalt-trockenen Umwelt
des Eiszeitalters gibt es weniger zur Verfügung stehende organische Rohmateria-
lien, wie etwa Holz. In kalten Klimaten neigen Sammler und Jäger auch zu einer
saisonal bedingten starken Strukturierung der Siedlungsweise, die neben Phasen
der Wanderung auch längere Phasen der Sesshaftigkeit beinhaltet. In einem
solchen Milieu bestehen erheblich bessere Möglichkeiten zur systematischen
Beschaffung von Rohstoffen und zur sorgfältigen Präparation der Rohstücke als

Bild 6  Am Beispiel eines Faustkeils werden die Faktoren dargestellt, die auf das
Aussehen eines Steinartefaktes Einfluss ausüben können.
98
  Harald Floss

in einem stärker bewaldeten Milieu, in dem die Vereinzelung des Wildes die
Wildbeuter zu einer hohen Mobilität und einem unsteten Lebenswandel zwin-
gen. Am Ende der letzten Eiszeit, als ein ständiger Wechsel zwischen kalten und
gemäßigten Klimaphasen herrschte, ist folglich ein mehrmaliger Wandel von
„gut“ (kalt) und „schlecht“ (warm) gearbeiteten Artefaktensembles zu beob-
achten.
Einen unerwarteten Einfluss auf die Ausprägung von Artefakten, so wie
sie von Archäologen schließlich aufgefunden werden, hat sodann auch die Besied-
lungsdauer prähistorischer Fundstellen. Steinartefakte sind keine statischen Ge­­­­
bilde. Sie sind in stete Umformungs- und Nachschärfungsprozesse eingebun-
den. Je länger Artefakte in den Siedlungszyklus eingebunden sind und je länger
eine Fundstelle besiedelt wird, desto mehr kommt es zu Reduktions- und Um­
formungsprozessen. Mit anderen Worten: Ein von Archäologen aufgefundenes
Steinartefakt hätte möglicherweise völlig anders ausgesehen, wäre die zu­grunde
liegende Fundstelle nur einige Tage länger besiedelt worden. Wie bereits ange-
sprochen, können schließlich auch die kognitive und physische Grunddisposi­
tion, der jeweilige chronologische wie kulturelle Hintergrund und auch die
Funktionsvielfalt der Fundstelle Einflüsse auf das Aussehen von Steinartefakten
aus­­üben. Noch wenig erforscht sind darüber hinaus individuelle Züge der her-
stellenden Person. Klar wird, dass die Frage der anthropologischen Trägerschaft
mit der jeweiligen kognitiven und physischen Grunddisposition nur einen von
vielen Faktoren darstellt, die den Habitus von Steinartefakten beeinflussen kön-
nen. Die kognitive Disposition des Menschen ist als Voraussetzung notwendig,
erklärt aber nicht hinreichend die jeweiligen spezifischen Ausformungen der
Artefakte.

Stei na r tefa k te – meh r a ls nu r Werk zeuge?


Ohne Hochrechnungen bemühen zu wollen, dürfte die Gesamtzahl der über-
lieferten paläolithischen Steinartefakte der Erde grob geschätzt im Milliarden-
bereich liegen. Der Alltag beschert dem Archäologen auf den Ausgrabungen
viele kleine Feuersteinsplitter und jedes signifikante Stück, mit dem zum Beispiel
die Fundstelle datiert werden kann, ist eine große Freude. Selten tauchen Arte-
fakte auf, die den Eindruck erwecken, als setzten sie sich vom Gros des sonstigen
Artefaktbestandes ab, so als seien sie über einen längeren Zeitraum im Umlauf
gewesen. Dieser in der angloamerikanischen Literatur mit dem Begriff curation
umschriebene Vorgang kann bedeuten, dass sie über einen längeren Zeitraum
bei den Wanderungen und beim Lagerplatzwechsel der altsteinzeitlichen Samm-
ler und Jäger mitgeführt wurden, es kann aber in Fällen besonders weiter Trans-
portdistanz auch für eine Einbindung in überregionale Tauschverbindungen
sprechen. Solche Stücke sind meist daran zu erkennen, dass es sich um Einzel-
99
  Paläolithische Steinartefakte

stücke aus besonders seltenen und exotischen Rohmaterialien handelt. Diese


länger behaltenen Stücke können aber zunächst, so wie die schneller verworfe-
nen auch, in den alltäglichen Arbeitsprozess eingebunden gewesen sein. Schließ-
lich gibt es, von der Sekundärliteratur gerne aufgegriffen, sehr selten auch Stücke,
die sich durch verschiedene Besonderheiten auszeichnen, so als seien sie ihrem
Hersteller und/oder Besitzer besonders wichtig gewesen und als habe man für
ihre Herstellung mehr Aufwand betrieben, als es für ein simples Werkzeug nötig
gewesen wäre. Solche Stücke können aus besonders attraktiven Rohmaterialien
bestehen (zum Beispiel aus Bergkristall, Jaspis oder sonstigen Halbedelsteinen),
besonders groß sein, besonders symmetrisch, besonders minutiös zugearbeitet,
sie können sich durch andere Charakteristika wie etwa ein Loch zum Aufhän-
gen oder ein beinhaltetes Fossil auszeichnen oder in Depots gefunden worden
sein. Zu außergewöhnlicher Berühmtheit haben es in diesem Zusammenhang
Faustkeile gebracht, deren Symmetrie und feine Bearbeitung manche Kollegen
dazu veranlasst hat, sie als Ausdruck ästhetischen Empfindens anzusehen, bis hin
zu Hypothesen, Faustkeile haben in der Altsteinzeit als Repräsentationsgut und
gar als Hochzeitsgeschenke gedient. Insbesondere der Faustkeil von West Tofts,
Norfolk, ist wegen eines zentral platzierten Fossileinschlusses berühmt und
wird auch von Horst Bredekamp besonders gewürdigt.4
Während das Herausheben solcher Einzelstücke aus dem unübersicht-
lichen Konvolut altsteinzeitlicher Artefakte durchaus gerechtfertigt erscheint,
stellt sich dennoch die Frage, was diese Stücke über die frühe Menschheitsge­
schichte sagen.
Es ist zweifelhaft, ob ein steinzeitliches Werkzeug, so ansprechend es von
einem ästhetischen Standpunkt aus auch sein mag, auf derselben Bewertungs-
ebene behandelt werden sollte, wie die Eiszeitkunst am Beispiel der komplexen
Höhlenmalerei der Grotte Chauvet oder des Vogelherdpferdes aus dem Auri-
gnacien der Schwäbischen Alb. „Waffen und Werkzeuge haben neben ihrem
ästhetischen stets auch einen technisch-praktischen Wert. Sie können und müs-
sen insofern von Objekten unterschieden werden, die ausschließlich eine orna-
mentale Bedeutung haben.“5
Auf die Gegenwart übertragen – und die provokative Note dieses Ver-
gleichs ist durchaus beabsichtigt – würde eine Mistgabel, so symmetrisch sie
auch geformt und so sehr ihr Stahl auch gleißen mag, kaum zum Vergleich mit
dem Blauen Pferd eines Franz Marc taugen. Manchmal scheint es, als neige der
mit altsteinzeitlichen Inhalten weniger vertraute Wissenschaftler dazu, diesen
langen und ältesten Abschnitt der Menschheitsgeschichte kulturgeschichtlich
als wabernde und undifferenzierte Masse anzusehen, in die Realisierungen aus

4 S. Horst Bredekamps Beitrag in diesem Band.


5 Winfried Menninghaus: Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin, Berlin 2011, S. 223.
100
  Harald Floss

den unterschiedlichsten Ebenen zusammengeworfen werden können. Zwar ist


es richtig, insbesondere Sammler/Jäger-Populationen holistische Sichtweisen
zu attestieren, andererseits verdienen diese frühen Gesellschaften Anerkennung
ob ihrer komplexen und differenzierten Lebensbereiche.

H i nterg r u nd i n for mat ionen


Vermutlich dürfte sich der neutrale Leser ob des Gesagten ungläubig die Augen
reiben. Nun interessiert sich die deutsche Kunstgeschichte nach einer längeren
Phase erstmals wieder für Inhalte der Steinzeit und dann ist es den Prähistori-
kern offenbar auch nicht recht. Um diesen Vorgang zu erklären, bedarf es eines
weiteren Bogens. Die Urgeschichtsforschung ist eine recht junge Wissenschaft.
Ihre Anfänge liegen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich zu den theoreti-
schen Grundlagen des Evolutionismus herausragende Entdeckungen gesellten,
wie der des Neandertalers aus dem gleichnamigen Talabschnitt der Düssel in der
Nähe von Mettmann. Allerdings hatten es diese frühen Menschenformen, ins-
besondere der Neandertaler, lange schwer, und bis weit in das 20. Jahrhundert
hinein wurde er eher diskreditiert, als eine dem Homo sapiens vergleichbare
Anerkennung zu erfahren. Erst in den zurückliegenden Jahrzehnten setzte eine
berechtigte Ehrenrettung dieser verkannten Menschenformen ein, indem ihnen
viele unerwartete kulturelle Errungenschaften attestiert wurden. Zu denken ist
hierbei an Bestattungen, die kunstfertige Bearbeitung verschiedener Materia-
lien oder die Sprachfähigkeit. Allerdings gibt es seit einer Weile eine nach
Dominanz strebende Fraktion unseres Faches, zu nennen sind unter anderen
João Zilhão und Francesco d’Errico, die in einer Art Kreuzzug unter Ziehung
sämtlicher Register in ihrer Beurteilung so weit geht, sämtliche Unterschiede
zwischen frühen Menschenformen – zum Beispiel dem Neandertaler und dem
Homo sapiens zu negieren – mit anderen Worten den Übergang vom europäi-
schen Mittel- zum Jungpaläolithikum als einen x-beliebigen Moment der
Menschheitsgeschichte abzutun. In diesem Vorhaben werden – unter dem faden
Begriff der kulturellen Modernität subsumiert – jegliche auch noch so unzu-
sammenhängenden und insignifikanten Äußerungen assembliert, die den Peri-
oden jenseits des europäischen Jungpaläolithikums Innovation, Dynamik und
Modernität attestieren. In diesem Zusammenhang werden eben auch, um zum
Ausgangspunkt zurückzukommen, Steinartefakte bemüht, eine Art Protokunst
zu vertreten.
101
  Paläolithische Steinartefakte

Besser, sc h lec hter? A nder s!


Dies ist der Punkt, an dem eine kritische Hinterfragung des Status quo der Ur-
und Frühgeschichte angebracht ist. Es bleibt festzustellen, dass sich zwischen
dem europäischen Mittel- und Jungpaläolithikum deutliche gesellschaftliche
und vermutlich auch religiöse Unterschiede bemerkbar machen und dass es
einen völlig unterschiedlichen Vorgang darstellt, ein regelmäßiges Steinarte-
fakt zu schlagen oder in tiefe Höhlen einzudringen, um dort Malereien an den
Höhlenwänden zu verewigen. Ein Werkzeug ist und bleibt ein Werkzeug. Es
mag zwar kunstfertig gestaltet sein, aber es bleibt ein Werkzeug. Zwar sind die
Höhlenmalereien des Jungpaläolithikums wie Werkzeuge im weiteren Sinne
ebenfalls utilitär zu beurteilen, da eine steinzeitliche Gesellschaft solche Akti-
vitäten zweifelsfrei nicht nur als l’art pour l’art vollzogen hat. Ein derart großer
Aufwand, wie er für Höhlenkunst nötig war, wurde nur betrieben, weil eine
Notwendigkeit dafür bestand. Dennoch handelt es sich hierbei um eine völlig
andere Ebene. Das Eindringen in tiefe Höhlen muss außergewöhnlich motiviert
gewesen sein, denn es gab vordergründig keinen alltagstauglichen Grund, in
dunkle, gefährliche und nasse Unterwelten vorzudringen. Auch wenn es Speku-
lation bleibt, so erscheint es dennoch offensichtlich, dass es dort Dinge zu klären
gab, Probleme, die man im Alltagsleben angehäuft hatte. Sammler und Jäger
töten Tiere und in animistisch geprägten Gesellschaften können in Tieren auch
Ahnen wohnen. Dadurch erwächst – um der Argumentation Constantin Rauers
zu folgen – ein Problem, das nur im Ritual gelöst werden kann.6 Im Dunkel der
Höhlen scheint man sich auf die Suche nach der Geisterwelt gemacht zu haben.
Die verbreiteten Handnegative als Teil der Höhlenmalerei scheinen gleichsam
apotropäische Züge zu tragen: Wir wissen, dass wir etwas verbrochen haben,
aber bleibt, wo ihr seid, wir machen das schon wieder gut. Auch die verbreitete
jungpaläolithische Gepflogenheit, in Spalten und Löchern der Höhlenwände Kno-
chensplitter und Steinartefakte zu stecken, deutet sehr auf eine Art Opfergabe
hin.
Im Jungpaläolithikum treten verschiedene Innovationen auf, zum Bei-
spiel die figürliche Kunst, Musikinstrumente und formüberarbeiteter Schmuck.
Im vorherigen Mittelpaläolithikum scheint demgegenüber keine gesellschaft­
liche Notwendigkeit bestanden zu haben, derartige Objekttypen herzustellen.
Vielleicht war der Neandertaler – und dies ist ein heißes Eisen – von seiner Bild-
kompetenz her auch nicht dazu in der Lage. In jedem Fall sollte deutlich gewor-
den sein, warum manche Autoren so vehement dafür argumentiert haben,

6 Constantin Rauer: Homo Cultus. Vom Ursprung des Menschen, Berlin 2016 (in Vor-
bereitung).
102
  Harald Floss

Steinartefakten aus der Frühphase der Menschheit mehr Aufmerksamkeit zu­


kommen zu lassen, als ihnen zusteht.

Fig ü rl ic h b ea rb eite te Stei na r tefa k te


Tatsächlich ändern sich die Bedingungen ab dem Beginn des Jungpaläolithi-
kums. Nun treten erstmals – und das sollte schon zu denken geben – in einem
Milieu, das figürliche Darstellungen kennt, interessanterweise auch Steinarte-
fakte auf, die so geschlagen sind, dass sie figürliche Formen annehmen. Beispiel-
haft seien einige Artefakte in Tierform und in Form stilisierter Frauenfiguren
angeführt. Am Ende der letzten Eiszeit, im Magdalénien, zeigt die Eiszeitkunst
Tendenzen zur Abstraktion. Die einst voluminösen Frauenfiguren des Gravet-
tien werden nun zu stabförmig reduzierten Wesen, bei denen an körperlichen
Details nur noch das Gesäß und die Brüste verbleiben. Ohne die Kenntnis um
verschiedene Grade der Reduktion wäre es nicht möglich, manche dieser stili-
sierten Gebilde als Frauenfiguren zu identifizieren. Normalerweise in Elfen-
bein, Knochen oder schnitzbaren Gesteinen umgesetzt, gibt es sie, wie hier
gezeigt, auch in Form geschlagener Steinartefakte. Ein besonderes Artefakt in
Tierform ist ein, zunächst wertfrei beschrieben, Vielfachbohrer aus der gravet-

Bild 7  Figürlich zugeformte paläolithische Steinartefakte. Oben links Mehr-


fachbohrer in Tiergestalt (stehender Bär, Fellbalg?), Senozan, Frankreich, Fund
Jean Duriaud; oben rechts Artefakt in Tiergestalt, Le Cap Blanc, Dordogne; unten
links Artefakt in Tiergestalt, Etiolles, Pariser Becken; unten rechts zwei stilisierte
Frauenfiguren, Wilczyce, Polen.
103
  Paläolithische Steinartefakte

tienzeitlichen Freilandfundstelle Senozan nördlich von Mâcon (Saône-et-Loire,


Frankreich). Dieses Steinartefakt fiel unmittelbar durch seine Tiergestaltigkeit
auf (Bild 7). Ob hier ein aufrecht stehender Bär oder die Silhouette eines Fell-
balges wiedergegeben werden sollte, bleibt allerdings derzeit noch unklar.

Fa z it
Steinartefakte sind nach wie vor der bedeutendste Vertreter der materiellen
Kultur des Paläolithikums. Sie liefern uns zahlreiche wertvolle Informationen
zur Lebensweise unserer frühesten Vorfahren. Durch ihre ununterbrochene
Präsenz in den archäologischen Fundstellen sind sie zudem deutlich besser für
Vergleiche geeignet als seltene Objektkategorien.
Steinartefakte sind vornehmlich Werkzeuge zur Ausübung von Tätig-
keiten des alltäglichen Lebens. Man hat mit ihnen Tiere zerlegt, Felle bearbeitet,
Bäume gefällt und Werkzeuge aus organischen Rohmaterialien gefertigt. Ein
optisch ansprechendes Aussehen solcher Stücke entbindet sie im Übrigen nicht
zwingend von einer praktischen Anwendung. Dennoch erwecken einige wenige
Stücke darüber hinaus den Eindruck, dass sie mehr waren als ein reines Werk-
zeug. Man hatte für ihre Herstellung deutlich mehr investiert, als es zur Aus-
übung des ihnen zugewiesenen Tätigkeitsfeldes nötig gewesen wäre. Solche
Artefakte attestieren dem jeweiligen Hersteller beziehungsweise Besitzer ein
affektives Verhältnis zu diesem Stück. Derartige Verhaltensweisen können bereits
für sehr frühe Menschenformen, wie etwa den Homo erectus oder den Neander-
taler, nachgewiesen werden. Dies ist angesichts der lange währenden Diskre­
ditierung dieser Menschen ein sensationelles Ergebnis. Der Enthusiasmus ob
dieser Erkenntnisse darf allerdings nicht dazu verleiten, anzunehmen, dass solche
Objek­­te bereits als Vorläufer von Kunst oder gar als Kunst selbst anzuerkennen
wären. Der Weg von Steinartefakten hin zu den Höhlenmalereien und den
Skulpturen der Eiszeitkunst ist ein weiter. Die Grunddisposition der Menschen,
ihre basalen Fähigkeiten sind eine Sache. Die gesellschaftliche Realität, das kol-
lektive Gedächtnis, die Tradierung von Gebräuchen und Ritualen, von Kult und
Religion eine andere. Die Feinheit einer Blattspitze und Schönheit der Malerei-
en von Lascaux betrifft zunächst beiderseits den Sinn für Ästhetik. Das Formen
eines Faustkeils und das Formen einer Tierskulptur berührt zunächst gleicher-
maßen den Vorgang von Gestaltung. Hinter diesen vordergründigen Gemein-
samkeiten liegen aber Welten des Unterschieds.
Horst Bredekamp

D er Faustkeil und
die ikonische D ifferenz
Für Gottfried und Margret Boehm1

1. D ie I n novat ionstec h n i k des Faust kei ls


Im neunzehnten Jahrhundert gehörten Werke der Frühzeit zum ersten Element
des kunstgeschichtlichen Kanons. So vertrat Franz Kuglers Handbuch der Kunst-
geschichte von 1842 ein Konzept, das von der Gegenwart über die Renaissance,
den Islam, das europäische Mittelalter, die römische, griechische und ägyptische
Antike und über die Kunst der außereuropäischen Gemeinschaften bis schließ-
lich zur Kunst der Frühzeit und zu ihren ersten Steinartefakten reichte. Die
erste Tafel der illustrierten Ausgabe von Hermann Guhl lässt die Steinmonu-
mente von Carnac und Stonehenge deutlich erkennen (Bild 1).2
Angesichts der erstaunlichen Entdeckungen und Durchdringungen nicht
nur der Höhlenmalerei, sondern auch und vor allem im Bereich der Analyse der
Steinartefakte, wie sie durch Harald Floss geleistet worden ist,3 stellt sich die
Frage, ob die im späteren 19. Jahrhundert vollzogene Trennung zwischen vor-
und frühgeschichtlicher Archäologie und Kunstgeschichte4 auf diesem Gebiet
nicht in Ansätzen aufgehoben werden sollte, um die kunsthistorischen Metho-
den des Formvergleichs und der Formanalyse zu rehabilitieren.
Als Gebrauchs- und Symbolform war die Gestaltung des Faustkeils über
mehr als eineinhalb Millionen Jahre in der Grundform stabil. In der konkreten

1 Der Artikel stellt den Auszug eines Vortrages dar, den ich im Rahmen des Sympo-
siums aus Anlass von Gottfried Boehms Emeritierung an seinem 70. Geburtstag in
Basel halten konnte. Ihm und seiner Frau Margret (†) sei dieser Artikel, der die
wesentliche Anregung aus seinem Konzept der „ikonischen Differenz“ gezogen hat,
gewidmet.
2 Ernst Guhl/Joseph Caspar: Denkmäler der Kunst, Bd. 1, Stuttgart 1851, A. Taf. I.
3 Harald Floss (Hg.): Steinartefakte – Vom Altpaläolithikum bis in die Neuzeit,
Tübingen 2012.
4 Zu dieser Aufspaltung s. Ulrich Pfisterer: Altamira – oder: Die Anfänge von Kunst
und Kunstwissenschaft, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus 10 (2007), S. 13–80.
106
  Horst Bredekamp

Bild 1  Joseph Caspar: Denkmäler des nordeuropäischen Alterthums,


Stuttgart 1845, Taf. 1.

Ausprägung aber machten sich zeitlich großflächige Schwankungen bemerkbar,


die keinesfalls einen linearen Fortschritt bedeuteten; vielmehr traten teils frühe
Fertigkeiten einer überaus differenzierten und gekonnten Vollendung der Form
auf, die später wieder verloren gehen konnten.5
Es scheint, als ob die Schulung der Formgebung und die Anwendung der
Faustkeile während des Altpaläolithikums gleichsam in die Genetik des körper-
bezogenen Formempfindens eingeschrieben worden sei.6 Auf dieser Basis wurde
die seit dem frühen 20. Jahrhundert bekannte Schildkern-Technik entwickelt,
bei der die Schlagführung auf eine horizontal durch den Stein gehende Ebene
reagierte. Jeder Schlag zielte auf einen unsichtbaren Horizont, der imaginativ
die Bedingungen der Abschläge definiert. Es handelte sich um eine Gestaltungs-

5 Jean-Marie Le Tensorer: Faustkeile, in: Floss: Steinartefakte (wie Anm. 3), S. 209–
218, S. 216.
6 Dies allein schon auf Grund der in die zweistellige Milliardenzahl gehenden Men-
ge der hergestellten Faustkeile. Vgl. Michael Brandt: Wie alt ist die Menschheit?
Demographie und Steinwerkzeuge mit überraschenden Befunden, Holzgerlingen
²2006, S. 122; Paul Natterer: Philosophie der Biologie. Mit einem Abriss zu Kants
Kritik der teleologischen Urteilskraft und einer interdisziplinären Bilanz der Evo-
lutionsbiologie, Norderstedt 2010, S. 134.
107
  Der Faustkeil und die ikonische Differenz

Bild 2  Herausarbeiten des


Faustkeils nach der
Levallois-Technik.

form, die ein markantes Durchdringungsvermögen der räumlichen Struktur


des Steines voraussetzte. Das Ziel war, von dem derart präparierten Stein die
Abschläge mit jeweils einem einzigen Schlag abzusprengen (Bild 2).7
Diese hochdifferenzierte Technik bezeugt das Entwicklungs- und Diffe-
renzierungspotential, das mit der Produktion des Faustkeils verbunden war, und
dieses hat mit der Erfindung der Innovation auch die Möglichkeit, wenn nicht
den Zwang hervorgebracht, Variationen zu entwickeln. Damit aber vermochte
die Faustkeilproduktion jenes Moment der Entwicklung zu erzeugen, das Ent-
scheidungen über die Gestaltung erforderte. Der Prähistoriker Michael Walker
hat in diesem Sinn von verschiedenen „Moden“ gesprochen, gegenüber denen
sich der Skulpteur hätte verhalten müssen.8 Es ist dieses Zusammenwirken von
Nutzen und überschüssiger Gestalt, aus deren Spannung ein markantes Element
der Evolution des Humanum entstand.

7 Vgl. Fiorenzo Facchini: Die Ursprünge der Menschheit, Stuttgart 2006, S. 142.
8 Michael J. Walker: Long-Term Memory and Middle Pleistocene „Mysterians“, in:
Sophie A. de Beaune/Frederick L. Coolidge/Thomas Wynn (Hg.): Cognitive Archae-
ology and Human Evolution, New York 2009, S. 75–84, S. 82ff.
108
  Horst Bredekamp

Von besonderer Bedeutung ist die immer wieder auftretende, gekonnt


eingesetzte asymmetrische Gestalt, wie sie vier von Jean-Marie Le Tensorer in
Syrien ausgegrabene Faustkeile in besonders subtiler Form aufweisen (Bild 3).9
Für eine derart fein eingesetzte Minimalstörung der spiegelbildlichen Asym-
metrie aber ist der differenzierende Vergleich die Basis; auf ihr gründet jede
bewusste Stiftung von Ordnung und Freiheit. Der Grund der Gestaltung, Wert-
schätzung und Sammlung besonders ausgewiesener Gegenstände beruht hier
allgemein auf der Fähigkeit, den durch Vergleich geschaffenen Sinn für Diffe-
renz zu schärfen, und hierzu muss die asymmetrische Fertigung gedient haben.
Sie stellt den Beweis für den unlösbaren Bedingungszusammenhang von Funk-
tion und Form, in dem unscheidbar die Gestalt die Funktion wie die Funktion die
Gestalt prägt.10

2. D ie I n k lusion von Fossi l ien


Eine Reihe von nicht anders als spektakulär zu nennenden Funden hat diese
Dialektik von Nutzen und Freiform auch für die Binnengestaltung der Faustkeile
belegt. So hat eine Gruppe französischer Forscher eine Fülle von Indizien zusam-
mengeführt, die für nicht-utilitäre Gestaltungsformen der Steinzeit sprechen.
Dem Ton der Publikation ist anzumerken, dass sie auch eine Art Mutprobe
gewesen ist.11 Eine Teilgruppe bezieht sich auf Fossilien, die in einer Pionier-
arbeit von Kenneth P. Oakley aus dem Jahr 1985 als Motive einer differenzie-
renden Ästhetik thematisiert worden sind.12 Es handelt sich um Fossilien, die in
Faustkeilen oder anderen Steinartefakten eingeschlossen und in dieser Inklusion
in besonderer Weise hervorgehoben wurden. Ihre Bedeutung ist schwerlich zu
überschätzen. Insofern sie ein Minimum von Formgestaltung in der Art der
Inklusion, also der bewussten Wahrnehmung der formalen Differenz offen-

  9 Michel Lorblanchet: La naissance de l’art. Genèse de l’art préhistorique, Paris 1999,


S. 141.
10 Eine Grundlage für all diese Fragen ist durch das von Harald Floss herausgegebene
Handbuch „Steinartefakte“ geschaffen worden, insofern hier mit den Fragen des
Materials und der Technik auch das Problem des symbolischen Gehalts neu gestellt
worden ist. Insbesondere Le Tensorer betont geradezu mit Inbrunst, „dass diesen
Stücken ein Bemühen um Ästhetik innewohnt. Der funktionellen schließt sich
wahrscheinlich eine spirituelle Dimension an, sofern der Hersteller das Material in
Richtung einer von ihm als notwendig erachteten Idealform gestaltet, die in funk-
tioneller Hinsicht keinen Vorteil bedeutet.“ Le Tensorer: Faustkeile (wie Anm. 5),
S. 215.
11 Marie-Hélène Moncel/Laurent Chiotti/Claire Gaillard/Gérard Onoratini/David
Pleurdeau: Non-Utilitarian Lithic Objects from the European Paleolithic, in:
Archeology, Ethnology and Anthropology of Eurasia 40/1 (2012), S. 24–40.
12 Kenneth P. Oakley: Decorative and Symbolic Uses of Fossils, Avon 1985.
109
  Der Faustkeil und die ikonische Differenz

Bild 3  Vier Faustkeile, Nadaouiyeh Ain Askar, Syrien, Acheuléen, Finder: Jean-Marie
Le Tensorer, Photographie: E. Jagher.
110
  Horst Bredekamp

baren, bekräftigen sie jenes Formdenken, das Gottfried Boehm die ikonische
Differenz nennt.13
Diese Inklusionen müssen Fall für Fall daraufhin befragt werden, ob das
Fossilium in seinem Eigenwert erkannt und herausgestellt wurde, oder ob der
Zufall im Spiel war. Ein erstes Beispiel mag dies verdeutlichen. Bei einem jener
Quarzit-Polyeder, wie sie als dritte Sonderform neben Faustkeil und Cleaver ver-
mutlich in der Funktion als Schaber vorkommen, einem aus dem Mittelpaläo­
lithikum stammenden Exemplar des in der Osteifel gelegenen Kraterkegels
Schweinskopf, besticht zunächst die Finesse, in der dieser Stein an den Seiten in
Flächen begradigt worden ist (Bild 4).14 Eine der Flächen weist das Fossil einer
herzförmigen Muschel auf. Es könnte eingewandt werden, dass die Muschel in
dieser Fläche derart exzentrisch sitzt, dass von einer Hervorhebung nicht wirk-
lich gesprochen werden könne. In der Umzeichnung wird jedoch deutlich, dass
über dieser Muschel und rechts von ihr vermutlich kein Stein vorhanden war,
der es ermöglicht hätte, sie stärker in den Mittelpunkt zu rücken (Bild 5). Umso
erstaunlicher ist die Behutsamkeit, mit der die rechte Seite der Muschel bewahrt
wurde, obwohl die Fläche, in der sie sitzt, hier eine Begradigung verlangt hätte.
Was auf den ersten Blick in seiner Position als zufällig gelten könnte, erweist
sich bei näherer Betrachtung als besonders feines Bemühen, die Intaktheit der
speziellen Form zu erhalten.
Ein ähnlich komplex zugehauener, in Tercis-les-Bains ausgegrabener Stein
lässt jenseits seiner polyedrischen Bestimmung bis auf eine Erhebung, die nach
rechts oben absteht, zunächst keine Besonderheit erkennen (Bild 6).15 Daran, dass
die Erhebung wie ein Hals oder ein Kragen sauber herausgeschlagen ist, kann
kein Zweifel bestehen. In der frontalen Sicht auf diesen Steg zeigt sich auf seiner
Oberfläche das Fossil eines relativ genau in der Mitte sitzenden Seeigels (Bild 7).
Mit verblüffender Exaktheit ist dieses Gebilde in die Mitte einer ovalen Form
gesetzt worden, als blicke man auf die ornamentierte Kalotte eines Kopfes mit
einem daruntersitzenden Korpus (Bild 8). Vermutlich diente der gesamte Stein
als eine Art Handschmeichler, aus dem, wenn er mit der Hand umschlossen war,

13 Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.): Was ist ein Bild?,
München 1994, S. 11–38, S. 30; ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des
Zeigens, Berlin 2007, S. 34–38.
14 Joachim Schäfer: Der altsteinzeitliche Fundplatz auf dem Vulkan Schweinsberg-
Karmelenberg, Köln 1990, Abb. 43, 2, Taf. 37; ebd., S. 81, S. 129f.; Lorblanchet: La
naissance de l’art (wie Anm. 9), S. 91, S. 93 sowie S. 92, Abb. 2; Gerhard Bosinski:
Urgeschichte am Rhein, Tübingen 2008, S. 142.
15 Gilles Serge Odin/Jacques Pelegrin/Didier Néraudeau: Un fossile d’oursin préservé
sur un nucléus paléolithique (site de plein air de Tercis, Landes, France), in: Paléon-
tologie humaine et préhistoire (Archéologie préhistorique)/Human Palaeontology
and Prehistory, Comptes Rendus Palevol 5/5 (2006), unter: doi: 10.1016/j.crpv.2006.
01.004, S. 743–748 (10.04.2015).
111
  Der Faustkeil und die ikonische Differenz

Bild 4  Schaber mit Inklusion einer Muschel, Devonischer Quarzit, Kraterkegel


Schweinskopf/Osteifel, Mittelpaläolithikum, Neuwied, Archäologisches Forschungs­
zentrum und Museum für menschliche Verhaltensevolution, Schloss Monrepos.
Bild 5  Schaber, wie Bild 4, Umzeichnung.

Bild 6  Handschmeichler (?) mit Inklusion eines Seeigels, Tercis-les-Bains, Mittel­­-


paläo­lithikum, Paris, Muséum national d’Histoire naturelle.
Bild 7  Inkludiertes Fossil des Seeigels.

Bild 8  Faustlage des inkludierten Fossils.


112
  Horst Bredekamp

Bild 9  Seitensicht des inkludierten Fossils.


Bild 10  Faustkeil mit Fossil einer Muschel, La Plane/Dordogne, Mittel­
paläolithikum, Finder: Alain Turq.

das Fossil eines Seeigels auf der Spitze des Sporns entgegenblickte: Inkunabel
des haptischen Bildes. Hier ist ein Fossil deutlich aus der Umgebung herausgear-
beitet und erhöht. In dieser erhobenen Isolierung ist die Idee des Sockels ent-
halten (Bild 9). Er hat hier offenkundig seine erste überlieferte Formulierung
erfahren.
Muschelfossilien, wie sie das erste Beispiel aufwies, wurden auch in Faust-
keilen betont. Ein solches Exemplar zeigt eine in Richtung des Steinzentrums
weisende, fossile Muschel aus La Plane in der Dordogne (Bild 10).16 Vor allem ist
auffällig, dass um den nach links hin spitz zulaufenden Kopf der Muschel ein
breiter, wie zum Respekt belassener Streifen stehen geblieben ist, während auf
der Seite der breiten Ausfächerung der Muschelrippen ein schmaleres Band
nicht weniger gleichmäßig herumgeführt wurde. Die Zurichtung des Steins zum
Faustkeil hätte verlangt, dass die linke Seite abgeschlagen worden wäre. Dies
aber ist nicht geschehen. Seine Aufgabe bestand nicht darin, als Gerät genutzt,
sondern gesammelt und gesehen zu werden. Dem fossilen Bildrelief sollte offen-
kundig ein Rahmen gegeben werden, um es in seinem Ambiente hervorzuhe-
ben.

16 Lorblanchet: La naissance de l’art (wie Anm. 9), S. 91, Abb. 82.


113
  Der Faustkeil und die ikonische Differenz

Bild 11  Faustkeil mit Fossil eines Seeigels, Swanscombe/England, Altpaläoli-


thikum, Liverpool, Acheuléen, World Museum.
Bild 12  Seitensicht des Faustkeils mit Fossil eines Seeigels.

Bild 13  Fossil eines Seeigels, Detail.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dieser Gestaltungsformen bietet


ein Faustkeil aus Swanscombe in England (Bild 11).17 Er lädt in der Bauchpartie
relativ breit aus und auf der rechten Seite zeigt er eine ungewöhnliche Ausbuch-
tung. Am Boden stehen ebenfalls zwei Höcker über, die wie zwei Füße wirken.
In der Mitte ist das Fossil eines Seeigels zu erkennen. Auf allen Seiten des Run-
des fällt das Gelände ab, so dass der Seeigel wie auf einem Sockel präsentiert ist

17 Vgl. Kenneth P. Oakley: Emergence of Higher Thought 3.0–0.2 Ma B.P., in: Philo-
sophical Transactions of the Royal Society of London. Series B: Biological Sciences
292/1057 (1981), S. 205–211, S. 209, Fig. 3; Lorblanchet: La naissance de l’art (wie
Anm. 9), S. 90, Abb. 89; Kenneth J. McNamara: The Star-Crossed Stone. The Secret
Life, Myths, and History of a Fascinating Fossil, Chicago/London 2011, S. 22ff.
114
  Horst Bredekamp

(Bild 12). Aller Wahrscheinlichkeit nach, dies zeigt die Seitenaufnahme, war
dies die Situation, die der frühzeitliche Bearbeiter vorgefunden hat. Auf der
linken Seite hat er versucht, den dort hochstehenden Stein entsprechend abzu-
arbeiten und auf diese Weise eine gleichmäßige Hervorhebung des ornamen-
tierten Rundes zu erreichen. Deutlich ist dies links oben von der Mitte zu erken-
nen, wo die Spitze eines Schlagwerkzeuges genau dort angesetzt hat, wo das
Rund sich fortsetzt (Bild 13). Hier ist ein Teil des Seeigel-Kreises mit abgeplatzt.
Vermutlich ist bei diesem Schlag auch das linke Kreissegment verloren gegan-
gen, aber im gesamten südwestlichen Bereich ist versucht worden, entlang des
Rundes in die Tiefe zu gehen. Insgesamt ist die Kreislinie des fossilen Tieres ste-
hen geblieben, so dass die mittlere Positionierung des Seeigels in dessen gesam-
ter Rundung nachvollzogen werden kann. Hier wird deutlich, warum die Fähig-
keit, die Form als autonome Größe zu begreifen, als ein universales Element der
Menschwerdung der Humanoiden anerkannt werden kann. Sie zwingt dem
Schöpfer die Bedingungen der Gestaltung auf.

3. Da s Beispiel von West Tof ts:


D ie Tr iebk ra f t der For m
Eine nochmalige Steigerung dieser ostentativen Steinkunst bildet ein ca. 200.000
Jahre alter Faustkeil aus West Tofts, Norfolk in England (Bild 14).18 Die Silhou-
ette gehorcht dem Stil der symmetrisch-asymmetrischen Zubereitung, aber in
der Mitte des Bauches sitzt zusätzlich die fossile Muschel Spondylus spino-
sus. Mit einer bemerkenswerten Finesse ist sie in die zentrale Achse des Gebildes
gebracht worden. Verwitterungsspuren an der Muschel lassen erkennen, dass
diese an der Oberfläche gelegen hat, um dort auf die Aufmerksamkeit eines
Auges zu treffen, das den Wert dieser Besonderheit erkannte.
Offenkundig bot der zugehörige Stein die Möglichkeit, nicht nur die
Muschel in die Mitte des Bauches zu setzen, sondern auch die Richtungen der
Muschel und des Steines auf derselben vertikalen Achse reziprok gegeneinander
laufen zu lassen. Die Rundkante der Muschel weist nach oben zum Kopf des
Faustkeils, während die Spitze des Fossils nach unten zum breiten Fuß des Stei-
nes ausgerichtet ist. Auf der Basis dieser Differenzbestimmung hat der Fossil-
rahmen etwas Einzigartiges geschaffen. Natürlich hatte der Skulpteur keine
Vorstellung von dem, was ein Fossil war, aber sein Auge muss die Form mit einer
solchen Wertschätzung wahrgenommen haben, dass es dieses mit Sinn für Pro-
portionen rahmte (Bild 15).19 Indem er das Ding durch diese Rahmung in ein

18 Vgl. Oakley: Emergence of Higher Thought (wie Anm. 17), S. 208f.


19 John Feliks: The Impact of Fossils on the Development of Visual Representation, in:
Rock Art Research 15/2 (1998), S. 109–124, S. 114 –116.
115
  Der Faustkeil und die ikonische Differenz

Bild 14  Faustkeil mit Inklusion der fossilen Muschel Spondylus spinosus, West Tofts/
Norfolk (England), ca. 200.000 Jahre alt, Cambridge, Museum of Archaeology and
Antropology.
Bild 15  John Feliks, Schematische Darstellung des Faustkeils von West Tofts.

Bild verwandelte, hat er die Gattung des „Bildes im Bild“ in die Welt gesetzt.
Damit aber ist das Denken in ikonischer Differenz zum raffinierten Monument
seiner selbst geworden. Die Fossilien können als Anstoß gewertet werden, über
die bildliche Differenzerfahrung einen Impuls zur Ausbildung des Distanzbe-
wusstseins an sich zu gewinnen.
Dieses ungeheure kleine Monument war bisher nur durch eine einzige
Photographie der Vorderseite bekannt, die in ihrer Beleuchtung die Grobstruk-
tur der plastischen Gestaltung verdeutlichte (Bild 14). Bei einer weicheren Licht-
gebung auf das Gebilde dagegen kommen die Differenzierungen der Binnen-
struktur stärker zum Vorschein (Bild 16), und diese können nun auch über die
Schmalseiten wie auch die Rückfront verfolgt werden.
Der Blick auf die rechte Schmalseite offenbart die den Faustkeilen eigen-
tümliche schwingende Eleganz auf eine besonders eindrucksvolle Weise (Bild 17).
Die Linienführung zeigt im unteren Teil des Überganges von der Vorder- zur
Schmalseite eine bauchige Erhebung, hinter der die Muschel verborgen und
geschützt wird. Großartig läuft die sich anschließende Muldung nach oben hin
wie eine Dünung aus, um dann wieder zu einem kleineren Hügel anzusteigen.
Die Linie des Überganges zur Rückseite lässt in ihrer unterschiedlichen
Farbigkeit und Materialität erkennen, dass der Stein von der Spitze an zu etwa
zwei Drittel der Fläche abgeschlagen und bearbeitet wurde. Der untere poröse
braune Teil war dagegen der Witterung ausgesetzt. Dieses Verfahren erweist,
dass der Produzent dieses Steinartefaktes nicht nur zwischen Fossil und Umge-
116
  Horst Bredekamp

bung zu unterscheiden wusste, sondern auch die stoffliche und farbliche Diffe-
renzierung zwischen unbearbeiteten und abgeschlagenen Oberflächen für die
Formgebung genutzt hat.
Dieses Prinzip offenbart auf der Rückseite seine erstaunliche Finesse
(Bild 18). Nach rechts hin gabelt sich die Zone der ursprünglichen Oberfläche des
Steins auf, so dass der untere Arm die gesamte Unterseite des Faustkeils bedeckt,
während die obere, nach rechts hin steigende Abzweigung in ihrer gesamten
Länge durch die Flächen des abgeschlagenen Steines nicht weniger gekonnt
gerahmt wird wie die Muschel der Vorderseite. Die poröse braune geschwunge-
ne Fläche ist wie mit einem hellen Halo umgeben. Dieses Prinzip wirkt beson-
ders markant am rechten oberen Rand, wo der Arm in eine Parallele zur äußeren
Konturlinie des Steins gebracht wurde. Dieses Verfahren beeindruckt umso
mehr, als jenseits der hellen perlmuttartigen Kragenbildung die tieferliegende,
dunkle Steinschicht einen zweiten Rahmen für die braune Astform bildet.
Eindrücklich wird auf der linken Schmalseite sichtbar, wie gerade die
Rückseite im Vergleich zur Vorderseite geschlagen worden ist (Bild 19). Durch
diesen Unterschied wird nochmals evident, dass der bauchige Hügel der Vorder-
seite bewusst stehen gelassen wurde. Diese sich aus der Seitensicht erneut deut-
licher abzeichnende Erhebung war geeignet, das Muschelfossil wie in einer
Wanne einzumulden und zu schützen.
Erst durch die Umkreisung dieser Skulptur wird das Prinzip der doppel-
ten Rahmung, das auf der Rückseite das bestimmende Element war, auch auf der
Vorderseite virulent (Bild 20). Der helle, perlmutthafte Kragen läuft auch hier
um die braune Originaloberfläche, um in erster Instanz die Muschel zu rahmen.
Erst dann folgt die tiefere Zone der dunkleren Tönung des Steins zu den Seiten
hin.
Im Vergleich zwischen Vorder- und Rückseite zeigt sich ein durchgehen-
des Gestaltungsprinzip, das nicht nur mit der Möglichkeit zur Höhenkragung
und zur Einmuldung, sondern auch mit der unterschiedlichen Materialität und
Farbigkeit des Steins rechnet. Aus dem Zusammenspiel ergeben sich Differen-
zierungen, die nicht nur dem System der ikonischen Differenz, sondern auch
der farbigen Geometrie ein Denkmal setzen.
In den inkludierten Fossilien und der räumlichen und farbigen Gestal-
tung wird eine Triebkraft der Form erkennbar, die das gegenwärtig intensiv dis-
kutierte Rätsel erklärlich macht, warum die menschliche Evolution relativ unab-
hängig von den unmittelbaren Umwelt- und Klimabedingungen geschehen ist.
In diesem Prozess ist jener Distanzraum erschaffen worden, der für die Ausbil-
dung einer Sphäre der Reflexion die conditio sine qua non darstellt. Die distan-
zierte, dem Menschen entgegenkommende Form birgt in ihrem Überschuss-
charakter jenes Movens, das nichts mit Magie, sondern mit dem seman­tischen
Angebot, der Affordance zu tun hat, die James Gibson der gesamten Umwelt
117
  Der Faustkeil und die ikonische Differenz

Bild 16  Faustkeil mit Fossil einer Muschel, West Tofts/Norfolk (England),
Neuaufnahme 2013, Cambridge, Museum of Archaeology and Anthropology.
Bild 17  Rechte Schmalseite des Faustkeils von West Tofts.
Bild 18  Rückseite des Faustkeils von West Tofts.
Bild 19  Linke Schmalseite des Faustkeils von West Tofts.
118
  Horst Bredekamp

attestiert.20 Es handelt sich um einen scharfen Schnitt gegenüber der neokanti-


schen, subjektzentrierten Weltaufschließung der Egologik.21 Hier ist es aber
nicht die gesamte Umwelt, die sich dem Menschen aus ihrer eigenen Unabhän-
gigkeit heraus anbietet, sondern das Agieren des formgewordenen Differenzbe-
wusstseins als entgegenkommende, sich anbietende und herausfordernde Größe.
In diesem Sinn wäre die milliardenfach erprobte und entwickelte Herstellung
des Faustkeils als einer symbolischen Form, von der ein gewisser Druck auf das
Zusammenspiel handwerklicher und neuronaler Prozesse ausging, ein erster
und elementarer Beleg für das Phänomen des Bildakts.22

Bild 20  Vorder- und Rückseite des Faustkeils von West Tofts.

20 James Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, München 1982.


21 Vgl. Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild (Hg.): Philosophie der Ver-
körperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin 2014, S. 77f.
22 Horst Bredekamp: Der Bildakt, Berlin 2015.
1V. He r de r s S c h A a f :
Da s E n tg e g e n ko m m e n de
Vernehmen
Johann Gottfried Herder

A bhandlung über den U rsprung


der Sprache (1 7 7 2) 1

Der Mensch in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und
diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend, hat Sprache erfun-
den. Denn was ist Reflexion? Was ist Sprache?
Diese Besonnenheit ist ihm charakteristisch eigen, und seiner Gattung
wesentlich: so auch Sprache und eigne Erfindung der Sprache.
Erfindung der Sprache ist ihm also so natürlich, als er ein Mensch ist!
Lasset uns nur beide Begriffe entwickeln! Reflexion und Sprache –
Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei wür-
ket, daß sie in dem ganzen Ozean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen
durchrauschet, Eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die
Aufmerksamkeit auf sie richten, und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke.
Er beweiset Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder,
die seine Sinne vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammlen, auf
Einem Bilde freiwillig verweilen, es in helle ruhigere Obacht nehmen, und sich
Merkmale absondern kann, daß dies der Gegenstand und kein andrer sei. Er
beweiset also Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften, lebhaft oder klar
erkennen; sondern eine oder mehrere als unterscheidende Eigenschaften bei sich
anerkennen kann: der erste Aktus dieser Anerkenntnis giebt deutlichen Begriff;
es ist das Erste Urteil der Seele – und –
Wodurch geschahe die Anerkennung? Durch ein Merkmal, was er abson-
dern mußte, und was, als Merkmal der Besinnung, deutlich in ihn fiel. Wohlan!
lasset uns ihm das ευρηκα zurufen! Dies Erste Merkmal der Besinnung war
Wort der Seele! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden.

1 Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: Werke
in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772, hg. v. Ulrich Gaier, Frank-
furt/M. 1985, S. 695–810, S. 722–725.
122
  Johann Gottfried Herder

Lasset jenes Lamm, als Bild sein Auge vorbeigehn: ihm wie keinem
andern Tiere. Nicht wie dem hungrigen, witternden Wolfe! nicht wie dem blut-
leckenden Löwen – die wittern und schmecken schon im Geiste! die Sinnlichkeit
hat sie überwältigt! der Instinkt wirft sie darüber her! – Nicht wie dem brüns-
tigen Schafmanne, der es nur als den Gegenstand seines Genusses fühlt, den also
wieder die Sinnlichkeit überwältigt, und der Instinkt darüber herwirft; nicht
wie jedem andern Tier, dem das Schaf gleichgültig ist, daß es also klar dunkel
vorbeistreichen läßt, weil ihn sein Instinkt auf etwas anders wendet – Nicht so
dem Menschen! so bald er in die Bedürfnis kommt, das Schaf kennen zu lernen:
so störet ihn kein Instinkt: so reißt ihn kein Sinn auf dasselbe zu nahe hin, oder
davon ab: es steht da, ganz wie es sich seinen Sinnen äußert. Weiß, sanft, wollicht
– seine besonnen sich übende Seele sucht ein Merkmal, – das Schaf blöcket! sie
hat Merkmal gefunden. Der innere Sinn würket. Dies Blöcken, das ihr am
stärksten Eindruck macht, das sich von allen andern Eigenschaften des Beschau-
ens und Betastens losriß, hervorsprang, am tiefsten eindrang, bleibt ihr. Das
Schaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht – sie sieht, tastet, besinnet sich, sucht
Merkmal – es blöckt, und nun erkennet sies wieder! „Ha! du bist das Blöcken-
de!“ fühlt sie innerlich, sie hat es menschlich erkannt, da sies deutlich, das ist mit
einem Merkmal erkennet, und nennet. Dunkler? So wäre es ihr gar nicht wahr-
genommen, weil keine Sinnlichkeit, kein Instinkt zum Schafe ihr den Mangel
des Deutlichen durch ein lebhafteres Klare ersetzte. Deutlich unmittelbar, ohne
Merkmal? So kann kein sinnliches Geschöpf außer sich empfinden: da es immer
andre Gefühle unterdrücken, gleichsam vernichten, und immer den Unterschied
von zween durch ein drittes erkennen muß. Mit einem Merkmal also? und was
war das anders, als ein innerliches Merkwort? »Der Schall des Blöckens von
einer menschlichen Seele, als Kennzeichen des Schafs, wahrgenommen, ward,
kraft dieser Bestimmung, Name des Schafs, und wenn ihn nie seine Zunge zu
stammeln versucht hätte.« Er erkannte das Schaf am Blöcken: es war gefaßtes
Zeichen, bei welchem sich die Seele an eine Idee deutlich besann – Was ist das
anders als Wort? Und was ist die ganze menschliche Sprache, als eine Samm-
lung solcher Worte? Käme er also auch nie in den Fall, einem andern Geschöpf
diese Idee zu geben, und also dies Merkmal der Besinnung ihm mit den Lippen
vorblöcken zu wollen, oder zu können; seine Seele hat gleichsam in ihrem
Inwendigen geblöckt, da sie diesen Schall zum Erinnerungszeichen wählte, und
wiedergeblöckt, da sie ihn daran erkannte – die Sprache ist erfunden! eben so
natürlich und dem Menschen notwendig erfunden, als der Mensch ein Mensch
war.
Die meisten, die über den Ursprung der Sprache geschrieben, haben ihn
nicht da, auf dem einzigen Punkt gesucht, wo er gefunden werden konnte; und
vielen haben also so viel dunkle Zweifel vorgeschwebt: ob er irgendwo in der
menschlichen Seele zu finden sei? – – Man hat ihn in der bessern Artikulation
123
  Abhandlung über den Ursprung der Sprache

der Sprachwerkzeuge gesucht; als ob je ein Ourang-Outang mit eben den Werk-
zeugen eine Sprache erfunden hätte? Man hat ihn in den Schällen der Leiden-
schaft gesucht; als ob nicht alle Tiere diese Schälle besäßen, und irgend ein Tier
aus ihnen Sprache erfunden hätte? Man hat ein Principium angenommen, die
Natur und also auch ihre Schälle nachzuahmen; als wenn sich bei einer solchen
blinden Neigung, was gedenken ließe? Und als wenn der Affe mit eben dieser
Neigung, die Amsel, die die Schälle so gut nachäffen kann, eine Sprache erfun-
den hätten? Die meisten endlich haben eine bloße Konvention, einen Einver-
trag, angenommen, und dagegen hat Rousseau am stärksten geredet; denn was
ists auch für ein dunkles, verwickeltes Wort ein natürlicher Einvertrag der Spra-
che? Diese so vielfache unerträgliche Falschheiten, die über den menschlichen
Ursprung der Sprache gesagt worden: haben endlich die gegenseitige Meinung
beinahe allgemein gemacht – ich hoffe nicht, daß sie es bleiben werde. Hier ist
es keine Organisation des Mundes, die die Sprache machet: denn auch der zeit-
lebens Stumme war er Mensch: besann er sich; so lag Sprache in seiner Seele!
Hier ists kein Geschrei der Empfindung: denn nicht eine atmende Maschine,
sondern ein besinnendes Geschöpf erfand Sprache! Kein Principium der Nach-
ahmung in der Seele; die etwannige Nachahmung der Natur ist bloß ein Mittel
zu Einem und dem Einzigen Zweck, der hier erklärt werden soll. Am wenigsten
ists Einverständnis; willkürliche Konvention der Gesellschaft; der Wilde, der
Einsame im Walde hätte Sprache für sich selbst erfinden müssen; hätte er sie
auch nie geredet. Sie war Einverständnis seiner Seele mit sich, und ein so not-
wendiges Einverständnis, als der Mensch Mensch war. Wenns andern unbe-
greiflich war, wie eine menschliche Seele hat Sprache erfinden können; so ists
mir unbegreiflich, wie eine menschliche Seele, was sie ist, sein konnte, ohne eben
dadurch, schon ohne Mund und Gesellschaft, sich Sprache erfinden zu müssen.
Tilman Borsche

H erders S cha (a)f *


Wer kommt wem entgegen im Ursprung der Sprache?

Ich nehme den Titel das Entgegenkommende Denken beim Wort und lasse Her-
ders Text, den ich nicht zum ersten Mal lese, auf mich zukommen. Mir begegnet
ein alter Freund, der überraschend viel Neues zu berichten hat. Ich lasse mir die
be­rühmte Passage noch einmal auf der Zunge des inneren Ohres zergehen, Wort
für Wort.

1. E i nsa m keit des er sten Wor tes


Wie schon früher, und so wird es vielen Lesern gehen, stolpere ich wieder über
folgende Stelle, die Herders These auf charakteristische Weise zuspitzt:

Der Schall des Blöckens von einer menschlichen Seele, als Kennzeichen des
Schafs, wahrgenommen, ward, kraft dieser Bestimmung, Name des Schafs,
und wenn ihn nie seine Zunge zu stammeln versucht hätte.“ Er er­­kannte
das Schaf am Blöcken; es war gefaßtes Zeichen, bei welchem sich die See-
le an eine Idee [englisch/locke’sch: idea, d. h. bestimmte, hier: „gefaßte“
Vorstellung] deutlich besann – Was ist das anders als Wort? […] Käme er
also auch nie in den Fall, einem andern Geschöpf diese Idee zu geben, und
also dies Merkmal der Besinnung ihm mit den Lippen vorblöcken zu wollen,
oder zu können; seine Seele hat gleichsam in ihrem Inwendigen geblöckt1

* In der Erstausgabe der Herder’schen Abhandlung über den Ursprung der Sprache
von 1772 hatte das Schaf zwei a: „Schaaf“. Die Klassiker-Ausgabe, die wir hier zitie-
ren, Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften 1764–
1772, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt/M. 1985, S. 695–810, modernisiert die Origi-
nal-Orthographie. Es kam uns beim Ur-Schaf aber darauf an, es in seiner gleichsam
blökenden Ursprungs-Form zu präsentieren.
1 Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Berlin 1772,
in: Werke in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772, hg. v. Ulrich Geier,
Frankfurt/M. 1985, S. 724.
126
  Tilman Borsche

Wie bei Hobbes und Locke und letztlich Aristoteles ist die Mitteilungs-
funktion der Sprache wichtig, aber sie ist sekundär. Erst bildet sich das innere
Wort der Seele – und dieses, die deutliche Vorstellung, verdankt sich allein der
Wahrnehmung – dann erst folgt dessen etwaige Mitteilung. Eine dritte Grund-
funktion des Wortes beziehungsweise der Rede wird gar nicht erwähnt, kommt
gar nicht vor: das Vernehmen der Äußerung des inneren Wortes eines anderen,
das als äußeres Wort von außen an mein Ohr dringt und nicht etwa dort, sondern
innen, im sensus communis, vernommen wird. Das vernommene Wort gibt es
wohl auch, aber erst nachträglich, vermutlich als Kollateraleffekt. Mit dem logi-
schen Sprachursprung hat es nichts zu tun. Wir aber sind mit diesem Hinweis
beim Thema angelangt: dem vernehmenden Denken.
Die Darstellung Herders ist hier offensichtlich nicht als rhetorische Über-
treibung zu verstehen. Sie wird von zahlreichen anderen Stellen seines Textes
bestätigt.
„[D]er Wilde, der Einsame im Walde hätte Sprache für sich selbst erfin-
den müssen; hätte er sie auch nie geredet.“2 Hier komme ich ins Staunen: Hatte
sich Herder nicht gerade über seine historischen Gesprächspartner lustig gemacht,
indem er ihnen vorhielt, dass „der Einsame im Walde“ oder in der Wüste oder
wo auch immer nicht nur nicht geredet, sondern, noch vor allen Schwierigkeiten
der Spracherfindung, gar nicht erst überlebt hätte?
Das idyllische Bild vom Schaf zeigt die Sprache als vom einsamen Men-
schen erfunden, auf natürlichem Wege, aus seiner natürlichen Kraft, conatus
(Leibniz), oder sehr schön auf Deutsch: aus einer „Drängnis“.
Herders Denkstil ist die Kritik – wie der Kants und doch ganz anders als
bei Kant. Denn im Gegensatz zum kritischen Geschäft Kants ist Herders Kritik
immer personenbezogen. Das beginnt mit seinen frühesten Literaturkritiken in
der Ersten Sammlung von Fragmenten (1767) und hört noch nicht auf bei der
eben deshalb so unfruchtbaren und kaum lesbaren Metakritik zur Kritik der
reinen Vernunft (1799). Durch diesen kritischen Blickpunkt lässt er sich verlei-
ten, dem Kritisierten von Anfang an zu viel zuzugestehen. Er ist mit einer vor-
liegenden These (einer Antwort, einer Lösung) – im Fall der Sprachursprungs-
schrift sind es zwei entgegengesetzte Thesen – unzufrieden. Aber das Problem,
die Frage lässt er sich vorgeben. Sein kritisches Ziel besteht – auch hier – darin,
eine gegebene Frage neu und anders zu beantworten. Für eine von der Königli-
chen Akademie gestellte Preisfrage ist das gewiss ein sehr passendes, ein ange-
passtes, ein vernünftiges Verfahren. Das Resultat ist bekanntlich revolutionär.
Und doch hätte er, denke ich, mit seinen eigenen Mitteln – durch Denken ver-
standen als Kritik anderen Denkens – weiter kommen können, wenn er das

2 Ebd., S. 725.
127
  Herders Scha(a)f

Schema der Erkenntnisstufen von Aristoteles nicht nur kritisch modifiziert,


sondern verlassen hätte.
Ich befrage den Text also weiter: Was führt den Menschen über die Stu-
fe des animalischen Denkens, der animalischen Erfahrung, die beide nie bestrit-
ten wurden, hinaus zu dem, was man dann, Herder schließt sich hier dem phi-
losophischen Sprachgebrauch an, „Erkenntnis“ zu nennen pflegt?
„[Der Mensch] so bald er in die Bedürfnis kommt, das Schaf kennen zu
lernen“.3 Alle Tiere, einsame wie in Gesellschaft lebende, haben als solche leben-
dige Kräfte, Bedürfnisse, Drängnisse, die ihnen angeboren sind. Beim Men-
schen, dem viele Bedürfnisse fehlen beziehungsweise bei dem sie weniger stark
ausgeprägt sind, soll es zusätzlich auch das Bedürfnis nach Sprache (zur Sprach­
erfindung) sein; Herder expliziert das an dieser Stelle, nach dem Vorherigen gut
motiviert, mit dem Bedürfnis des „Kennenlernens“. Dazu soll keine neue, den
übrigen Lebewesen fremde, okkulte Kraft, kein eigener „übernatürlicher“ Sinn
erforderlich sein (kein „Wissenssinn“), sondern nur ein passendes Verhältnis der
anderen Sinne, die er mit den Tieren teilt, aber in gemäßigter Intensität und in
einem eigenen Verhältnis zueinander gestimmt. Sein Auge sieht, sein Ohr hört,
seine Nase riecht und so weiter, ganz so wie bei anderen Sinnenwesen auch. Aber
keiner dieser animalischen Sinne „lernt kennen“, d.h. „deutlich“ unterscheiden.

Das Bild des wilden und einsamen Menschen, bei dem dieses spezifisch
menschliche „Drängnis“ sich offenbaren muss, übernimmt Herder aus der ihm
vorgegebenen Tradition. Er übergeht dabei, dass, beziehungsweise stellt sich gar
nicht die Frage, ob der Einsame das Bedürfnis hat, überhaupt haben kann, „etwas“
(das „Schaf“) kennenzulernen. Woher sollte er das Kennenlernen kennen? Kei-
ner der Sinne kann es ihm zeigen. Vielmehr müsste man davon ausgehen, dass
er das Kennenlernen nicht kennt, ganz so wie es Herder auch von den Tieren
schildert, die mit Hilfe ihrer Sinne „Erfahrungen“ machen und aus Erfahrun-
gen „lernen“, aber nichts „deutlich“ (d.h. in der terminologischen Tradition von
Leibniz, die hier leitend ist, in Worten beziehungsweise Begriffen) unterschei-
den, mithin nichts „kennen“ und nichts „anerkennen“ – nicht etwas als Schaf
und nicht etwas als Wolf und nicht als dies und nicht als das; sie bilden kein
inneres Wort. Warum aber bilden sie kein „inneres Wort“, wenn der Mensch das
doch tut? „Merkmale“, genauer das, was wir als sprechende Wesen in der Refle-
xion auf unser Denken und Sprechen als Merkmale unterscheiden – Merkmale
für dies und für das – erfassen die tierischen Sinne oft mit weit größerer Präzi-
sion, als die menschlichen Sinne das vermöchten. Das innere Wort, von Herder
im Anblick des Schafs als die Urszene, der Ursprungsort des Sprechens identifi-
ziert, muss eine andere Quelle haben. Kurz, hier ist, in der Logik des Bildes, ein
entscheidender Schritt übersprungen. Nicht nur geschieht die Erfindung der

3 Ebd., S. 723.
128
  Tilman Borsche

Sprache – man kann die „Erfindung“ hier auch streichen, unsere Rede vom
„Erfinden“ führt auf einen Abweg – nicht nur geschehen deutlich unterscheiden-
des Denken und Sprechen niemals in ursprünglicher „Einsamkeit“. Vielmehr
bedarf auch die Kraft des Denkens eines spezifischen Gegenstands, eines spezi-
fischen Widerstands, um sich zu zeigen, zu äußern, wirklich zu sein. Wahrneh-
mung ist daher wesentlich und unverzichtbar – ohne Sinne gibt es kein mensch-
liches Denken. Aber sie genügt nicht für eine Bestimmung des menschlichen
Denkens und Sprechens, sie ist nicht dessen alleinige Voraussetzung. Sonst wür-
den Tiere mit besseren Augen schon länger und vermutlich viel besser sprechen
als wir; das tun sie aber nicht.
Wie das Auge nicht „wirklich“ sehen lernt, wenn ihm nicht sichtbare
Gegenstände im Medium des Lichts entgegentreten (oder wenn es von Anfang
an in absolute Dunkelheit versetzt würde), so lernt auch der Mensch nicht den-
ken und sprechen, wenn nicht – ja, was fehlt hier? Was ist hier das Analogon zu
den Unterschieden der Farben und Formen der Dinge, die wir sehen, und dem
Medium des Lichts, durch das wir sehen, für das Auge? Die Einsamkeit als solche
ist nicht das Problem. Auch zehn Sinnenwesen mit gesunden Augen in absolute
Finsternis versetzt, werden nicht sehen lernen, obwohl sie die natürliche Fähig-
keit und das natürliche Bedürfnis, Drängnis danach haben (doch was heißt in
diesem Fall „haben“?). Mit der Sprachfähigkeit verhält es sich nicht anders als
mit der Sehfähigkeit. Auch sie bedarf eines spezifischen Gegenstands, Wider-
stands, um sich zu zeigen, zu äußern, wirklich zu sein, und sie bedarf eines spezi-
fischen Mediums. Doch welches sind ihre spezifischen Gegenstände? Dinge in
der Welt? Deren Farben und Formen zeigen sich dem Auge, auch dem tierischen.
Ihre Töne? Die tönen dem Ohr, auch dem tierischen. Ihre taktilen Eigenschaf-
ten, ihre Gerüche oder Geschmäcker? Die gelangen – als solche, wie wir denken-
den und sprechenden Wesen sagen – durch die sinnlichen Pforten des lebendigen
Köpers in das Innere der tierischen wie der menschlichen Seele. Aber nur als
„Empfindungen“; und auch diese Darstellung, schon die Bezeichnung von Emp-
findungen als Empfindungen (im Unterschied z.B. zu Wahrnehmungen und
Gedanken) ist eine Darstellung von außen, Fremddarstellung aus der Dritte-
Person-Perspektive. Die tierische Seele, zumindest nach Herder, bildet kein
inneres Wort, keinen deutlichen Gedanken, oder, wie wir eher sagen würden,
keine allgemeinen Begriffe.
129
  Herders Scha(a)f

2. „Gesc höpf der Herde“ –


d a s z weite Nat u rgese t z des Mensc hen
Man kann nicht alles auf einmal sagen. Interpreten sind sich weitgehend einig,
dass Herder in der hier diskutierten Passage nicht eine „wahre“ Geschichte vom
„wirklichen“ Ursprung der Sprache erzählen will, so wenig wie das Hobbes oder
Rousseau getan haben, sondern eher eine Funktionsanalyse der menschlichen
Sprache gibt, die er in eine ansprechende fiktive Erzählung ihres Ursprungs
kleidet. Letzteres ist ihm mit Epochen überdauernder Wirkung gelungen.
Doch die Macht der Erzählung, die Macht der Bilder, die durch die Erzäh-
lung im Geist der Hörer und Leser evoziert werden, reißt auch den Autor mit
sich fort. Genau damit aber verfällt er, so scheint es mir, demselben Fehler, den
er an seinen Vorgängern kritisiert: Seine Begegnung mit dem Schaf setzt die
Sprache als bereits erfunden und im internen Gebrauch befindlich voraus, die
Sprache als ein Gespräch der Seele mit sich selbst; oder in seinen Worten: als ein
Bedürfnis etwas als etwas kennenzulernen. Nur wenn dieses Bedürfnis voraus-
gesetzt ist, kann der Mensch das Gefundene mit einem heureka begrüßen. Man
vergegenwärtige sich: Derjenige, der diesen Ausruf traditionsbildend prägte,
Archimedes, war, als er ihn, seiner Badewanne entsteigend, begeistert ausrief,
sprachlich voll ausgebildet. Er hatte ein neues, ein inneres Wort (einen bestimm-
ten Gedanken) von einer ihm längst vertrauten Art für einen Sachverhalt
gefunden, der ihm im Kontext seiner hoch differenzierten Weltansicht plötzlich
neu aufgegangen war. Diesen Fund teilte er den Syrakuser Mitbürgern durch
das griechische heureka mit.
Für Ursprungsszenen dieser Art passt die Herder’sche Erzählung – eini-
germaßen. Denn heureka beschreibt nur einen Fund überhaupt und sagt nichts
über das Gefundene, wie es das innere Wort ‚Schaf’ ja tun soll. Das innere Wort
‚Schaf’ merkt sich und erinnert das Weiß-Sanft-Wollichte, das blöckt. Das
Gewinnende an dieser Erzählung und zugleich das Verführerische ist Folgendes:
Sie passt besser, fügt sich besser als alle vorangegangenen – als die Erzählungen
der kritisierten Herren Hobbes, Condillac, Rousseau, um nur diese zu nennen – in
die Erfahrungswelt der Leserschaft, die selbst ein sprachlich voll entwickeltes,
zudem literarisch und wissenschaftlich gebildetes, sprich: aufgeklärtes Publi-
kum repräsentiert. Die Erzählung Herders übertrumpft die herrschenden Dis-
kurse, doch dabei blendet sie anderes aus. Um in der Nähe seines Bildes zu blei-
ben: Wenn er, Herder, in Estland auf die Pirsch gegangen wäre und hätte endlich
das Einhorn entdeckt, das er suchte, und sein Schnalzen vernommen, dann wäre
ein „heureka“ fällig gewesen, und dafür hätte die Erzählung vollständig gepasst.
Nicht so für das erste Wort des ersten Menschen, dem – zum wievielten Male?
– ein Schaf entgegenkam. Und zwar nicht nur weil dieser erste Mensch faktisch
nicht allein unterwegs war, sondern weil es wesentlich zur Funktion, Herder
130
  Tilman Borsche

zufolge: zur Kraft des Sprechens und Denkens gehört, dass es nicht allein sei (ich
komme darauf zurück). Vielmehr ist festzuhalten: Das stille Sprechen der Seele
mit sich selbst braucht, vielleicht nicht „vor“, aber doch unabhängig von allen
Mitteilungsabsichten, spezifische Gegenstände, und das sind nicht die Gegen-
stände der bekannten fünf Sinne. Dass auch Sinne sowie die entsprechenden
Gegenstände und Medien notwendige Voraussetzungen für Denken und Spre-
chen sind (wie für das Gesicht sowohl das Auge als auch Licht sowie Farben und
Formen sichtbarer Gegenstände), dass also dem Menschen kein reines Denken
unabhängig von aller sinnlichen Empfindung und Wahrnehmung möglich sei,
das hatte Herder gerade im I. Teil des vorliegenden Textes lang und breit ent-
wickelt. Als Sinnenwesen sind wir allen Tieren ähnlich. Doch das ist jetzt nicht
mehr das Thema.
Lange dachte ich, diese Einseitigkeit und diese Unvollständigkeit der
Erzählung des Sprachursprungs sei allein der Not der Darstellung, nicht alles
auf einmal sagen zu können, sowie den Gegnern, an denen sich der Autor abar-
beitet, geschuldet. Das fehlende Moment werde im II. Teil nachgereicht. Rück-
blickend stellt Herder dort nämlich zusammenfassend fest, dass es im I. Teil um
den „philosophischen Beweis“ ging, „daß der Mensch sich seine Sprache hat erfin-
den müssen“, während es im II. Teil um die Frage geht, „unter welchen Umstän-
den er sie sich am füglichsten habe erfinden können“.4 Gesucht ist hier eine
empirische Plausibilisierung, eine Erhärtung für die im I. Teil präsentierte meta-
physische Hypothese durch historische Belege.
Im ersten Hauptgesetz der Natur des Menschen (Teil II, 1) geht es zunächst
um die inhärente Progression der Sprache. Die vollkommen entwickelte Sprache
steht nicht am Anfang der Menschheit; wer wollte dieser These widersprechen,
die sich kritisch gegen die Idee einer adamitischen Ursprache beziehungsweise
den Mythos des weisen Sprachgesetzgebers (Kratylos) wendet? Die Anfänge der
Sprache sind vielmehr sinnlich und dunkel, emotional und intensiv. Sprache
entwickelt sich aus diesen Anfängen weiter, und die verschiedenen Sprachen
ebenso. Hier malt Herder Evolution in sein Historienbild der Menschheit, eine
Evolution, die keineswegs linear verläuft, sondern eher umweltadaptive und kom-
petitive Züge trägt. Darin unterscheidet sich die Naturgeschichte der Sprache
kaum von der (übrigen) Naturgeschichte, die Herder ebenfalls de facto evolutio-
när beschreibt, auch wenn er das Wort, die Idee, zumindest was den Menschen
betrifft, zu verwenden sich nicht gestattet. Diese treffenden und zukunftwei-
senden Reflexionen zur Sprach(en)geschichte setzen selbstverständlich immer
schon anfängliche Sprache(n) voraus, deren natürliche Veränderungen hier als
Prozesse der Kultivierung und Vervollkommnung, eben als Progressus skizziert

4 Ebd., S. 767.
131
  Herders Scha(a)f

werden. Das passt in das Selbstbild des Jahrhunderts und knüpft zudem an Les-
sing an. So wirkt es überzeugend, aber nicht überraschend. So viel zum ersten
Naturgesetz.
Das zweite Naturgesetz könnte und sollte der Ort sein, an dem die Ein-
seitigkeit der metaphysischen Erörterung der Sprache im Bild des einsamen
Sprachursprungs – in der Begegnung Mensch und Schaf – aufgehoben werden
müsste: „2. Naturgesetz: Der Mensch ist in seiner Bestimmung ein Geschöpf der
Herde, der Gesellschaft“. Daraus schließt Herder unmittelbar: „[D]ie Fortbil-
dung einer Sprache wird ihm also natürlich, wesentlich, notwendig.“5
Ist das schlüssig? Ist das alles? Welche Funktion hat in diesem Zusam-
menhang die Herde? Es geht um gegenseitige Hilfe, um Lehren und Lernen (mit
und durch Sprache).
In Abwandlung des Eingangssatzes der Sprachursprungsschrift ließe
sich hier einwenden: Anders als die Tiere braucht der Mensch Erziehung, um
Mensch zu werden. Doch das trifft nur graduell zu. Auch Tiere haben mehr oder
weniger lange überlebenswichtige Zeiten der Aufzucht, wie es heißt. Aber zur
Aufzucht der Jungen gehört nicht die Spracherziehung. Indirekt gibt Herder das
zu. Er leitet aus der Spracherziehung das Eigentumsrecht des Menschen auf die
von ihm benannten Dinge dieser Welt ab:

[I]ch habe mehr Recht [auf die Dinge (die Kräuter und die Wiesen), die
ich benannt habe] als die Biene, die darauf summet, und das Vieh, das
darauf weidet; denn die haben alle die Mühe des Kennenlernens und
Kennenlehrens nicht gehabt! Jeder Gedanke also, den ich darauf gezeich-
net, ist ein Siegel meines Eigentums, und wer mich davon vertreibet, der
nimmt mir nicht bloß mein Leben, wenn ich diesen Unterhalt nicht wie-
der finde; sondern würklich auch den Wert meiner verlebten Jahre, mei-
nen Schweiß, meine Mühe, meine Gedanken, meine Sprache – ich habe
sie mir erworben! und sollte für den Erstling der Menschheit eine solche
Signatur der Seele auf eine Sache, durch Kennenlernen, durch Merkmal,
durch Sprache, nicht mehr Recht des Eigentums sein, als ein Stempel in
der Münze?
„Wie viel Ordnung und Ausbildung bekommt die Sprache also schon
eben damit, daß sie väterliche Lehre wird!“ wer lernt nicht, indem er leh-
ret? Wer versichert sich nicht seiner Ideen, wer mustert nicht seine Worte,
indem er sie andern mitteilt, und sie so oft von den Lippen des Unmündi-
gen stammlen höret? Hier gewinnt also schon die Sprache eine Form der
Kunst, der Methode! hier würde die erste Grammatik, die ein Abdruck

5 Ebd., S. 783.
132
  Tilman Borsche

der menschlichen Seele, und ihrer natürlichen Logik war, schon durch
eine scharfprüfende Zensur berichtigt.6

Ich fasse zusammen und spitze zu: Für die erste Erfindung hält Herder an dem
einsamen Wilden fest. Erst wenn dieser seine Berufsausbildung als Sprachschöp-
fer abgeschlossen und die ersten Produkte seiner Kunst erstellt hat, gründet er
eine Familie und lehrt nun Weib und Kind in der Kunst der Rede. Braver Bürger.
„Familiensprache“. Und er erhebt einen Besitzanspruch nicht nur auf diejenigen
Dinge, die er sich unmittelbar einverleiben will, auf Vorräte, die er gesammelt
hat, sondern auch auf diejenigen, die er benannt hat, und zwar aus eben diesem
Grund. Die erste Benennung begründet einen Rechtsanspruch auf den Besitz
der Sache.

3. Fremde Ver nu n f t
Die ganze folgende Darstellung zeigt: Der Sprachursprung der Sprachursprungs-
schrift bleibt einsam und damit wirklichkeitsfremd. Das hat sein erster Leser
bereits gesehen und moniert: Johann Georg Hamann.7 Herder ist groß genug,
diesen Mangel zuzugeben. In der zweiten Preisschrift Vom Erkennen und Emp-
finden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume (1774, Erstdruck 1778)
ergänzt er den Sprachursprung, der für ihn ja schon immer mit dem Ursprung
der Vernunft im Menschen gleichbedeutend war, um eine entscheidende Pointe.
Es war nicht das Schaf, das dem Menschen entgegen kam, um ihn zur eigen-
ständigen Spracherfindung zu stimulieren. Es war der Andere: die „Lehre“, ein
„Wink“, der „Sinn eines Fremden“, die die Sprachfähigkeit in ihm zum Leben
erweckten.

Unser Erkenntnis ist also, obs gleich freilich das tiefste Selbst in uns ist,
nicht so eigenmächtig, willkürlich und los, als man glaubet. Das Alles
abgerechnet (was bisher gezeigt ist), daß unser Erkennen nur aus Emp-
findung werde, siehet man, der Gegenstand muß noch durch geheime
Bande, durch einen Wink zu uns kommen, der uns erkennen lehre. Diese
Lehre, dieser Sinn eines Fremden, der sich in uns einprägt, gibt unserm
Denken seine ganze Gestalt und Richtung. Ohngeachtet alles Sehens
und Hörens und Zuströmens von außen, würden wir in tiefer Nacht und
Blindheit tappen, wenn nicht frühe die Unterweisung für uns gedacht
und gleichsam fertige Gedankenformeln uns eingeprägt hätte. Da hob
sich unsre Kraft empor, lernte sich selbst fühlen und brauchen; lange, und

6 Ebd., S. 788f.
7 Vgl. Herders Brief an Hamann vom 1.8.1772, in: Johann Georg Hamann: Briefwech-
sel, Bd. 3, hg. v. Walther Ziesemer/Arthur Henkel, Wiesbaden 1957, S. 10f.
133
  Herders Scha(a)f

oft Lebenslang gehen wir an den uns gereichten Stäben frühester Kind-
heit, denken selbst, aber nur in Formen, wie andre dachten, erkennen,
worauf uns der Finger solcher Methoden winkt; das andre ist für uns, als
ob es gar nicht wäre.8

Der so beschriebene Sprachursprung ist realistischer, er ist viel weniger spekta-


kulär, und er hinterlässt wieder ein Geheimnis, den „Wunderstab“, von dem
schon einmal in der Ursprungsschrift die Rede war, als Herder seinen Lesern
klar machen wollte, dass die Erfindung der Sprache keine absichtliche Tat der
philosophischen Abstraktion gewesen sein konnte: „und denn läßt sich gewiß
nicht mit einem Stabe das Wunder [der Spracherfindung] tun, gewiß nicht mit
der einzigen kalten Abstraktionsgabe der Philosophen je Sprache erfinden –
war das aber unsre Frage?“9
Herdes Untersuchungen, die alte wie die neue, fragen nicht, warum und
weshalb, woher und durch wen Sprache entstand beziehungsweise instituiert
wurde, sondern wie die Sinne und die Triebe des Tieres „Mensch“ sich so mäßi-
gen und zusammenwirken konnten, dass Besinnung möglich wurde, indem ihr
maßvolles Zusammenspiel eine neue Qualität gewann, die Herder mit einem
genialen, weil völlig unauffälligen Neologismus „Besonnenheit“ nannte. Mit
diesem Namen bezeichnete er das, was gewöhnlich „Vernunft“ genannt wurde
und auch wird; mit einem Wort also, das viel richtiger gebildet ist, nämlich aus
„vernehmen“, als es sein Gebrauch in der Philosophie noch erkennen lässt, der
daraus ein eigenständiges, von den Sinnen vollständig getrenntes, unkörperliches
Erkenntnisorgan machen wollte. Am Anfang also steht das innerlich vernom-
mene Wort. Oder: das innere Wort ist eine vernommenes. Dieses Wie des Zusam-
menspiels animalischer Kräfte, Organe und Bedürfnisse des Menschen, die zur
phylogenetischen Entwicklung von Sprache führten, ist auch das Thema vieler
der (hoch spekulativen) empirischen Sprachursprungstheorien der Gegenwart.
Johann Georg Hamanns Antwort auf diese verschärfte Frage nach dem
Ursprung von Sprache und Vernunft war eine theologische: Die Kondeszendenz
Gottes zu jedem einzelnen Menschen. Dieser Rekurs auf die Theologie, den
Hamann vorschlug, weil ihm die bekannten Alternativen, die aufgeklärte Phi-
losophie und Wissenschaft zu bieten hatten, inklusive des Herder‘schen Vor-
schlags, das Schaf zum ersten Lehrer zu erheben, unzureichend zu sein schienen
– sie alle übergehen das Problem, das sie lösen sollten – dieser Rekurs, den der

8 Johann Gottfried Herder: Werke, Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst


und Altertum, hg. v. Jürgen Brummack/Martin Bollacher, Frankfurt/M. 1994,
S. 358f.
9 Herder: Werke, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 782.
134
  Tilman Borsche

Theologe Herder dann faute de mieux ebenfalls akzeptierte, ist heute kaum
noch gangbar.
Die neue Lage zeichnet einen anderen Weg vor. Heute werden sich Leh-
rer und Schüler, Gott und Mensch oder, mit Giambattista Vico zu sprechen, der
Kultur schaffende Heros und seine Anhänger weniger klar unterscheiden lassen
als nach dem Bild von der großen Kette des Seins, des Denkens und der Traditi-
on nach Hamann und Herder, einer Kette, die immer ein erstes Glied verlangt.
Was können wir stattdessen sagen? Das erste Wort geht aus gemein-
schaftlichen Praktiken hervor, die noch keine Sprache sind. Diese Redeweise
hat sich Kredit verschafft, sie hat sich eingebürgert. Ihre Botschaft ist ebenso klar
und leicht zu vermitteln, wie es unklar und schwer zu bestimmen ist, wann das
Produkt, das aus solcher vorsprachlichen Praxis hervorgeht, ein Wort (parole)
genannt zu werden verdient. Dieser Ursprung findet immer und überall statt, wo
gesprochen wird, wie Humboldt in nobler Kritik an Herder feststellt. (Humboldt
schweigt, wenn er kritisiert.) Doch genau das lässt sich bei näherem Hinsehen
auch schon der Herder’schen Analyse entnehmen: Süssmilch, Condillac und
Rousseau, die ihrerseits kritisch auf lange und komplexe Traditionen antworte-
ten, reichten Herder, der ihnen entgegen trat, den Stab der Lehre; Herder griff
ihre Lehren auf, aber er griff sie auf als Fehdehandschuh. Er erfand den Sprach-
ursprung neu, und zwar durch neue metaphysische Hypothesen und philoso-
phische Beweise, ausgestattet zudem mit einem neuen Erfahrungsschatz an
Wissen über Sprachen. Hamann, dem die Sprachursprungsschrift Herders ent-
gegenkam, zeigte dem Freund mit dem Stab der Kritik die Schwächen seiner
Hypothesen auf, die sich in ihrer Fragestellung (zu) eng an den zu Recht kriti-
sierten Positionen orientierten und damit deren Mängeln selbst verfielen. Aber
gerade diese punktgenau zeitgemäße Kritik der zeitgenössischen Autoritäten
hatte für Herder den großen Erfolg der ersten Preisschrift gebracht. Die weisere,
durch Hamann inspirierte spätere Fassung, niedergelegt in der zweiten Preis-
schrift, blieb nicht nur ohne Preis, sie blieb weitgehend ohne Resonanz.
Jürgen Trabant

H E R D E R S S C H A A F I M VO R BE I G E H E N
U N D E N T G E G E N KO M M E N

Nichts kommt dem Denken so vergnüglich und so bedenkenswert entgegen wie


Herders Schaaf1 in der voranstehenden Passage aus der Abhandlung über den
Ursprung der Sprache. Es ist geradezu, als sei Herders Sprachursprungs-Szenario
eine Urszene jenes Denkens des Entgegenkommenden, das hier gedacht werden
soll.

1. E ntgegen kom men u nd St i l lestehen


Die Welt, das Lamm, erscheint zunächst wie eine Art Film, vorübergehend. Das
agnus mundi geht vorbei: „Lasset jenes Lamm, als Bild sein Auge vorbeigehn.“
Dann steht die Welt still: „es steht da, ganz wie es sich seinen Sinnen äußert.
Weiß, sanft, wollicht.“ Aber dann tönt die Welt: „Das Schaf blöcket!“ Und: „Dies
Blöcken, das ihr [der Seele] am stärksten Eindruck macht, das sich von allen
andern Eigenschaften des Beschauens und Betastens losriß, hervorsprang, am
tiefsten eindrang, bleibt ihr.“ Etwas in der Welt reißt sich los, springt hervor,
kommt entgegen. Dies wiederholt sich: „Das Schaf kommt wieder. Weiß, sanft,
wollicht – sie sieht, tastet, besinnet sich, sucht Merkmal – es blöckt, und nun
erkennet sies wieder! ‚Ha! du bist das Blöckende!‘ fühlt sie innerlich.“2
Der Mensch gegenüber steht still. Wieso denke ich, dass der Mensch still-
steht, wieso ist er nicht in Bewegung, out for a walk and walking? Der Mensch ist
von der Natur ausgestattet mit Besonnenheit: „[D]iese ganze Disposition seiner

1 In der Erstausgabe der Herder’schen Abhandlung über den Ursprung der Sprache
von 1772 hatte das Schaf zwei a: „Schaaf“. Die Klassiker-Ausgabe, die wir hier
zitieren, Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften
1764–1772, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt/M. 1985, S. 695–810, modernisiert die
Original-Orthographie. Es kam uns beim Ur-Schaf aber darauf an, es in seiner
gleichsam blökenden Ursprungs-Form zu präsentieren.
2 Ebd., S. 723.
136
  Jürgen Trabant

Natur wollen wir [...] Besonnenheit nennen.“3 Das ist die Fähigkeit, die den
Menschen auszeichnet vor allen anderen Wesen der Natur. Es ist die Fähigkeit,
den „Ozean von Empfindungen“4 anzuhalten, die von der Welt auf den Men-
schen eindringen, oder eben zu denken. Die Welt kommt dem Empfindenden,
der Sinnlichkeit des Menschen, ozeanisch entgegen. Besonnenheit ist eine Still-
Stell-Fähigkeit. Zum Denken muss man stillestehen, man muss anhalten, sich
selbst und das zu Denkende.
Besonnenheit ist des Weiteren ein „Bedürfnis kennen zu lernen“,5 also
ein ganz bestimmter Appetit, den nur der Mensch hat, ein appetitus noscendi,
wie Augustinus das genannt hat. Herder grenzt ihn deutlich ab von den anderen
Appetiten: von dem alimentarischen wie von dem sexuellen: „Nicht wie dem
hungrigen, witternden Wolfe! nicht wie dem blutleckenden Löwen – die wittern
und schmecken schon im Geiste! die Sinnlichkeit hat sie überwältigt! der Instinkt
wirft sie darüber her! – Nicht wie dem brünstigen Schafmanne, der es nur als
den Gegenstand seines Genusses fühlt, den also wieder die Sinnlichkeit über-
wältigt, und der Instinkt darüber herwirft.“6
Nahrungsaufnahme und sexuelle Vereinigung sind die grundlegenden
Dimensionen des Verhaltens des Tiers zur Welt – auch des Menschen, sofern er
ein Tier ist: Inkorporation der Welt zur Erhaltung des Lebens des Einzelnen einer-
seits, Penetration der Welt zur Erhaltung der Art andererseits (wobei Herders
„Darüber-Her-Werfen“ eine völlig männliche Perspektive einnimmt). Beson-
nenheit dagegen, appetitus noscendi, ist als dritter Appetit nur dem Menschen
eigen und die irreduzible anthropologische Differenz zum Tier: „Nicht so dem
Menschen! so bald er in die Bedürfnis kommt, das Schaf kennen zu lernen: so
störet ihn kein Instinkt: so reißt ihn kein Sinn auf dasselbe zu nahe hin, oder
davon ab.“7
Der kognitive Appetit ist nicht zugreifend wie die beiden anderen, son-
dern entgegenwartend. Er ist aber auch nicht völlige Passivität oder Rezeptivität,
er ist ja ein Bedürfnis, also ein Bezogen-Sein auf etwas, eine Art Begehren. Das
versuche ich mit dem Ausdruck „Entgegenwarten“ anzudeuten. Das Denken
selbst kommt also dem Entgegenkommenden durchaus entgegen. Es ist aber
deutlich zurückhaltender als der alimentäre und der sexuelle Appetit. Der kogni-
tive Appetit wird durch das Denken in Sprache befriedigt.

3 Ebd., S. 719.
4 Ebd., S. 722.
5 Ebd., S. 723.
6 Ebd.
7 Ebd.
137
  HERDERS SCHAAF IM VORBEIGEHEN UND ENTGEGENKOMMEN

2. Beson nen heit


Herder benutzt den Ausdruck „Besonnenheit“ statt des in der europäischen Phi-
losophie üblichen Ausdrucks „Reflexion“ (den er aber durchaus ebenfalls weiter
verwendet). Ich denke, es sind zwei Gründe, die Herder zu dieser Wahl ver-
anlasst haben: Erstens möchte er ein ethisches Moment in die theoretische
Dimension übertragen: „Besonnenheit“, die griechische sophrosyne, ist ja ein
Ausdruck der praktischen Philosophie, der die Bedächtigkeit, das maßvolle Ver-
halten meint. Er eignet sich daher gut zur Bezeichnung dieses Anhaltens, des
Stillstellens, und er deutet ein personales Verhältnis zur Welt an: Die Welt ist
nicht nur Gegenstand, Objekt, sondern sie ist wie ein anderes Lebewesen, ein
mir entgegenkommendes Lebendiges. Zweitens möchte Herder mit „Besonnen-
heit“ die Visualität des Ausdrucks „Reflexion“ umgehen oder zumindest mil-
dern. „Reflexion“ ist eine visuelle Metapher. Der visuelle semantische Marker
passt aber nicht recht zu der Art, wie Herder das Denken denkt. „Besonnenheit“
hat keinen Bezug zu einem bestimmten Sinn. Sofern Herder die theoretische
Dimension der Philosophie sogar entschieden ins Akroamatische, ins Hören,
einstellt, ist Besonnenheit ein besseres Wort als Reflexion. Das Visuelle, die
„Re­­flexion“, wird damit nicht getilgt, es ist allerdings nur ein Moment einer
multisensoriellen Erfahrung aus Tasten, Sehen und Hören: „Das Schaf kommt
wieder. Weiß, sanft, wollicht – sie sieht, tastet, besinnet sich, sucht Merkmal – es
blöckt, und nun erkennet sies wieder! ‚Ha! du bist das Blöckende!‘ fühlt sie
innerlich, sie hat es menschlich erkannt, da sies deutlich, das ist mit einem Merk-
mal erkennet, und nennet.“8
Die Seele sieht, die Seele tastet. Aber sie findet sehend und tastend noch
nicht, was sie sucht. Was sie sucht, bringt ihr erst der Laut entgegen. Nicht das
Sehen, nicht das Tasten, sondern das Hören ist die sensorielle Basis der den
Menschen definierenden geistigen Aktivität, der Sprache. Herder begründet aus-
führlich, warum das Hören der Sinn der Sprache, und also des Denkens, ist. Es
gibt eine kleine Phänomenologie der Sinne in der Abhandlung.9 Herder zufolge
kommt die hörbare Welt dem Menschen so entgegen, wie es seiner besonnenen
Natur am meisten entspricht: Sie kommt nicht zu nah, wie das Tastbare, sie ist
nicht zu fern, wie das Sichtbare. Mensch und Welt korrespondieren im Klang am
besten. Das Gehör ist in der Systematik der Sinne der mittlere Sinn.
Zwei Momente sind also an Herders Sprachursprungsszene zentral bezie-
hungsweise neu gegenüber seinen Vorgängern: erstens, dass Sprache Kognition
ist und zweitens, dass Kognition vorrangig akroamatisch und nicht optisch gene-
riert wird.

8 Ebd.
9 Vgl. ebd., S. 746–750.
138
  Jürgen Trabant

3. Kog n it ion
Die Philosophie der Aufklärung hat seit Bacon darüber geklagt, dass sich die
Wörter als schlechte, unwissenschaftliche Gedanken in das Denken einmischen:
„verba vim suam super intellectum retorquent et reflectunt.“10 Sie hat also zwar
die Sprache als Erzeugerin von Denken entdeckt, kritisiert aber gleichzeitig die
Wörter als idola fori, „Götzen des Marktplatzes“. Das heißt, das Denken in der
Sprache ist schlecht, unwissenschaftlich, volkstümlich und stört das wissen-
schaftliche Denken. Die Philosophie denkt daher über das Entstehen der Sprache
und der schlechten Wörter nach und sucht nach Auswegen. Das Denken in Spra-
che ist nach Locke eine Krankheit, die Arzneien, remedies, braucht, die von den
philosophischen doctores verabreicht werden.11 Condillac rekonstruiert zu die-
sem Zweck die Ätiologie dieses kognitiven Leidens, die Sprachentstehung. Aber
er erzählt sie als kommunikatives Geschehen – und verpasst damit das kogniti-
ve Wesen der Sprache.12 Herder kritisiert das messerscharf: Aus dem „Geschrei
der Empfindungen“, dem cri des passions des Anfangs, entstehe niemals mensch-
liche Sprache. Aus dem Expressiv-Appellativen und Kommunikativen kann das
Welterschließend-Kognitive der Sprache nicht hervorgehen. Sprache ist für
Herder nämlich primär „Bildung des Gedanken“, wie Humboldt im Anschluss
an Herder sagen wird und wie es im Übrigen auch die moderne kognitive Lin-
guistik sagt, sei sie nun Chomsky’scher oder Lakoff’scher Prägung. Das spezifisch
Menschliche der Sprache ist Kognition, nicht Kommunikation. Denken und
Sprechen fallen zusammen. Das erste Wort ist bei Herder der erste deutliche
Gedanke: „‚Ha! du bist das Blöckende!‘ fühlt sie innerlich, sie hat es menschlich
erkannt, da sies deutlich, das ist mit einem Merkmal erkennet, und nennet.“
Herder radikalisiert konsequent die moderne gesamteuropäische Intui­
tion, die seit der Renaissance immer mehr zur Gewissheit wird: Sprache ist
Denken, genauer: klares und deutliches Denken: cognitio clara distincta.

10 Francis Bacon: Neues Organon [1620], hg. v. Wolfgang Krohn, Darmstadt 1990,
Aphorismus 59.
11 Vgl. John Locke: An Essay Concerning Human Understanding [1690], hg. v. John
W. Yolton, Bd. 2, London/New York 1971–74, S. 106ff.; Buch III, Kap. XI: Of the
Remedies of the Foregoing Imperfections and Abuses.
12 Vgl. Etienne Bonnot de Condillac: Essai sur l’origine des connaissances humaines
[1746], hg. v. Charles Porset, Auvers-sur-Oise 1973.
139
  HERDERS SCHAAF IM VORBEIGEHEN UND ENTGEGENKOMMEN

4. Hören
Mit dem zweiten Moment, dem akroamatischen Charakter dieses kognitiven
Vorgangs, setzt sich Herder von der gesamten europäischen Tradition ab. In der
so intensiv geführten Debatte des 18. Jahrhunderts um die kognitive Rolle der
Sinne – Locke, Condillac, Mendelssohn, Lessing – spielt der junge Herder eine
herausragende Rolle. Von den Kritischen Wäldchen über die Plastik zu Vom
Erkennen und Empfinden denkt er über die Rolle der Sinne in der Erkenntnis-
theorie nach. Bedeutsam ist bekanntlich Herders Neubewertung des Haptischen.
Vom Erkennen und Empfinden ist Herders philosophisches Programm, ein Pro-
gramm für die Gemeinsamkeit der Sinne, für einen sensus communis. In der
Leibnähe des Denkens liegt im Übrigen auch die Nähe der empiristischen oder
sensualistischen Philosophie des 18. Jahrhunderts zu dem, was man gemeinhin
Philosophie des Embodiment nennt, die gleichsam eine modernisierte Versio-
nen des Sensualismus ist.
Wenn Herder nun in der Abhandlung dem Gehör eine so zentrale Rolle in
der kognitiven Entfaltung des menschlichen Denkens in Sprache gibt, so ist dies
dennoch keine hierarchische Präferenz, kein Sieg des Ohres über das Auge und
die Hand: Zentralität des Hörens meint nicht Superiorität. Im sensus communis
wirken nämlich alle Sinne gleichberechtigt zusammen. Wie stark die Ge­­­mein­
samkeit der Sinne bei Herder ist, zeigt schon der (leicht ungrammatische) Ein-
gangssatz der Ursprungsszene: „Lasset jenes Lamm, als Bild sein Auge vorbeigehn.“
Die Welt präsentiert sich dem Menschen offensichtlich zunächst als Bild.
Das Betonen des Hörens ist dann aber eine subtile Korrektur der alt-europä-
ischen Metaphysik, die exklusiv auf dem Auge und der Hand basiert. Herder
entdeckt hier – im Anschluss an Leibniz – das Ohr als Erkenntnisorgan. Er befreit
es damit auch von seiner exklusiven Bindung an die pragmatische oder ethische
Dimension.
Das fundamentale kognitive Geschehen ist ein akroamatisches Gesche-
hen, das im Psychischen des Menschen wiederklingt, als mentale Resonanz:
Dem Ohr kommt die Welt als Klang entgegen. Der Klang dringt in den Men-
schen ein, so dass er die Welt denken kann. Der Gedanke ist ein innerer Klang.
Diese Interiorität des ersten Gedanken-Worts radikalisiert das Kognitive der
Sprachgenese, indem sie die Sprache ins Mentale verlegt und noch nicht kom-
munikativ entäußert: Das innere Wort ist noch kein Laut, es hat noch keine
Stimme (phonè), es ist Gehörtes, Ge-Horch. Herder legt größten Wert auf die
Feststellung der völligen Abwesenheit von Laut und Kommunikation bei der
Genese der Sprache „ohne Mund und Gesellschaft“: „der Einsame im Walde
hätte Sprache für sich selbst erfinden müssen; hätte er sie auch nie geredet.“13

13 Herder: Werke, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 725.


140
  Jürgen Trabant

Sprache ist akroamatisch und kognitiv. Das Phonetische, der Mund, und das
Kommunikative, die Gesellschaft, kommen dann als weitere Dimensionen hin-
zu, sie sind aber offensichtlich nicht das Wesen der – menschlichen – Sprache.14

5. Bi ld u nd L aut-Bi ld
Das Ohr ins Zentrum der menschlichen Kognition zu stellen, ist tatsächlich
etwas völlig Neues. Das alte Denken richtete Erkenntnis auf das Visuelle aus.
Europas Epistemologie ist ja mitnichten phono-zentrisch, wie Derrida meinte,
sondern ophtalmo-zentrisch und chiro-zentrisch: Das Denken wird vor allem
als ein Sehen und Ergreifen gefasst. Schauen wir uns nur die entsprechenden
Wörter an: Begriff, Anschauung, conceptus, Vor-Stellung, intuitio, idea, Refle-
xion, etwas fassen, das sind alles visuelle und haptische Metaphern. Vernehmen
scheint etwas Auditives zu sein, aber es ist in Wirklichkeit etwas Haptisches: Es
kommt von nehmen. Auch die Vernunft ist daher nichts Akroamatisches. Der
Verstand sowieso nicht. Das französische entendement scheint eine akustische
Metapher zu sein. Intendere, später entendre, ist aber das „Richten-auf“, nicht
primär der Ohren, sondern allgemein der Aufmerksamkeit. Es ist eher eine
Hinwendung des gesamten Körpers. Von da aus spezialisiert sich entendre erst
auf das Hören.
Das Hören-auf ist in der europäischen Tradition keine theoretische Meta-
pher, sondern eine Metapher der praktischen Philosophie. In Europa hört man
nicht auf die Welt, man hört auf den Anderen: ob-audire, „entgegen-hören“,
ge-horchen. Gehört – und also gehorcht – wird im Bereich des Ethisch-Prakti-
schen, nicht im Bereich des Theoretischen. Herders Wende zum Ohr ist daher
etwas Unerhörtes. Und sie bleibt auch völlig isoliert und hat keine unmittelbaren
Nachfolger. Heidegger hat das Hören noch einmal stark gemacht im Zu­sam­men­
hang mit der Thematisierung der Sprache. Aber in Sein und Zeit hört der Spre-
chende nicht auf die Welt, sondern auf die Stimme des Freundes.15 Heideg­ger
siedelt also das Akroamatische traditionell im Intersubjektiv-Pragmatischen an.
Vielleicht kann Heideggers späteres geheimnisvolles „Geläut der Stille“16 als
Quelle der Sprache als ein Echo von Herders akroamatischer Wende betrachtet
werden.
Wenn Herder das Denken – oder das typisch menschliche Denken – auf
das Hören ausrichtet, so bereichert er das Denken des Denkens um die folgenden
Momente:

14 Dies ist genau der Punkt, an dem Tilman Borsches Kritik im vorangehenden
Beitrag ansetzt.
15 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit [1927], Tübingen 161986, S. 163.
16 Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 30.
141
  HERDERS SCHAAF IM VORBEIGEHEN UND ENTGEGENKOMMEN

1. Die Welt, die entgegenkommt, ist eine lebendige: Sie hat eine Stimme
und sie hat ein Inneres, aus dem diese Stimme erschallt, eine Seele, eine
anima. Herder, so scheint mir, steigt mit der Akroamatisierung des Erken-
nens tiefer hinab ins Erkennen, wenn er diesen – sagen wir es ruhig –
vorsichtig „animistischen“ ersten Schritt des Erkennens dem üblichen
sehenden Erkennen voranstellt oder zugrundelegt. Wolfram Hogrebe
schreibt einmal, dass jede Erkenntnistheorie einen methodischen Ani-
mismus annehmen müsse, damit die Menschen irgendetwas verstehen:
„[...] and here I would like to add the suspicion that without a minimum
of animism, our relationship to objects, i.e., our referentiality or inten-
tionality, would collapse.“17
Dieses animistische Minimum könnte im Herder’schen Hören auf die
Welt seine weitere Begründung finden.
2. Wenn das Entgegenkommende eine Seele hat, eine anima, dann ist es
wie Ich, es ist ein Du. Daher ist Besonnenheit eben auch hier im Kogni-
tiven eine ethische Kategorie geblieben. Das Kognitive, auf das Herder
seine Sprachursprungsszene so leidenschaftlich abstellt, ist gleichzeitig
auch personal und damit kommunikativ, die tönende Welt, die ich erken-
ne – „Ha! du bist das Blöckende“ – ist gleichzeitig eine Welt, mit der ich
dialogiere: Du.18
3. Durch die Präferenz des Hörens schwächt Herder gewiss den üblichen
handelnden Zu-Griff auf die Welt. Die Hand greift, geleitet vom Auge,
tätig auf die Welt zu: Be-Griff. Das Ohr ist weniger aktiv als das Auge.
Es kann ja nicht einmal geschlossen werden. Aber es richtet sich auf die
Welt (intendere, entendre), und es lässt die Welt entgegenkommen, es
wartet entgegen. Das begründet gewiss ein kontemplativeres, passiveres
Verhältnis zur Welt. Hören-auf, ob-audire, ist nicht Sehen und Fassen,
Be-Greifen. Das hörende Denken bildet keinen Begriff (con-ceptus),
sondern ein Gehorch (con-auditus). Vielleicht liegt hierin die tiefste Dif-
ferenz – ja der Abgrund – des Herder’schen Denkens zu seinem Lehrer
Kant. Bei Kant sind Auge und Hand die dominierenden kognitiven Meta-
phern: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe
sind blind.“19 Visueller und haptischer kann man nicht denken: Die Hand
greift unter Führung des Auges auf die Welt zu, das Auge schaut auf die

17 Wolfram Hogrebe: Mantics and Hermeneutics, in: Archive of the History of Phi-
losophy and Social Thought 56 (2011), S. 233–245, S. 244.
18 Dies ist zumindest eine Spur des essentiellen Anderen, den Tilman Borsche in der
Abhandlung vermisst.
19 Immanuel Kant: Werkausgabe, Bd. 3, 4: Kritik der reinen Vernunft [1787], hg. v.
Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 111990, A 51.
142
  Jürgen Trabant

gefüllte Hand. Herder erinnert demgegenüber an den vergessenen Klang


der Welt und einen sanfteren Zugang zur Welt.
4. Was da entgegenkommt, auch das ist nicht unerheblich, ist schließlich
ein Lamm. Diese Welt ist nicht feindlich. Sie ist sanft, weiß, wollig. Dies
ist eine weitere Alternative zu den traditionellen Kognitions-Beziehun-
gen. Traditionellerweise kommt die Welt dem Menschen als Furchterre-
gendes entgegen, das ihn bedroht und das er bannen oder besiegen muss.
So denkt zum Beispiel noch Giambattista Vico im Anschluss an antike
Vorstellungen die entgegenkommende Welt: Was bei Vico entgegen-
kommt, ist die feindliche, gewalttätige Macht des Gewitters, als Laut und
Gesehenes, als Donner und Blitz. Die Menschen bannen das Fürchterli-
che in phonischer Mimesis, in einem phonischen eikon, einem Bild des
Donners – Ious – oder des Blitzes – Zeus.20 Herders friedliches Laut-Bild
entsteht dagegen nicht aus Furcht (timor), sondern aus der Freude über
die Begegnung mit der Welt: „Ha! du bist das Blöckende!“
5. Schließlich erweitert Hören den Raum des Denkens erheblich. Akus-
tische Wahrnehmung ist sphärisch, das Gehörte umgibt den Hörenden,
es kommt ihm nicht nur entgegen, also von vorn, sondern es kommt von
allen Seiten. Das akroamatisch Gedachte ist nicht nur Ob-jekt, sondern
Zirkum-jekt.

Diese Züge einer akroamatischen Annäherung an die Welt sind im Kontext


einer Theorie der Gemeinsamkeit aller Sinne, eines sensus comunis, Momente
einer alternativen Bild-Theorie und keine Feind-Bilder oder Bilder-Feinde.

6. Fa z it
– Die Genesis der Sprache und des Denkens ist eine Antwort auf den Ruf
der Welt. Meine kognitive Disposition antwortet auf den Klang der Welt:
„Ha! du bist das Blöckende!“
– Mein erster Gedanke, mein Wort, ist ein Gehorch, kein Begriff.
– Die Welt ist ein (von allen Seiten) Entgegenkommendes.
– Die Welt ist ein Lebendiges, sie hat eine Stimme, sie ist ein Du.
– Die Welt ist ein friedliches Entgegenkommendes.
– Sofern er keinen Antagonismus zum Sehen kennt, lädt Herder dazu ein,
das im Akroamatischen Durchgespielte auf Kognition überhaupt, auf die
anderen Sinne in der Gedanken- und Sprach-Bildung, auszudehnen. Die

20 Vgl. Giambattista Vico: Princìpi di scienza nuova d’intorno alla comune natura
delle nazioni [1744], in: Opere, hg. v. Andrea Battistini, Bd. 1, Mailand, S. 411–971,
§ 447.
143
  HERDERS SCHAAF IM VORBEIGEHEN UND ENTGEGENKOMMEN

Besonnenheit heißt bei Herder immer noch „Reflexion“, also „Zurück-


Biegung“. Auch das Visuelle und das Haptische kommen entgegen. Sie
bieten sich an: „Das Schaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht“. Also
auch: „Ha du bist das Weiße! Ha! Du bist das Sanfte!“

Damit ist insgesamt eine andere Haltung gegenüber der Welt gegeben als unser
naturalistisches Zugreifen. Das herrische Verfügen-über wird zu einer Ant-
Wort, der Be-Griff zum Ge-Horch.
Herders Hören und Denken des Entgegenkommenden ist im Main-
stream des europäischen Denkens erfolglos geblieben. Das Hören auf die Welt
konnte sich nicht gegen die dominante Philosophie des Be-Griffs durchsetzen.
Übrigens auch politisch nicht: Herders Anti-Kolonialismus hat den zweiten bru-
talen europäischen Zu-Griff auf die Welt, den Kolonialismus des 19. Jahrhun-
derts, ja in keiner Hinsicht verhindert, ebenso wenig wie Alexander von Hum-
boldts vehemente Kritik des spanischen Kolonialismus. Aber beide – Herder und
Humboldt – haben Europas Ehre gerettet.
Auch das spricht dafür, dass Herders alternative Sprach- und Erkenntnis-
theorie zwar erfolglos, aber nicht falsch ist. Sie gemahnt das von Hand und Auge
dominierte europäische Denken an eine sanftere und sinnlich umfassendere
Annäherung an eine Welt, die ihr ja auch manchmal friedlich entgegenkommt.

7. Ausbl ic k
Die nächste Generation folgt Herder zwar in der kognitiven Ausrichtung seiner
Sprachtheorie, nicht aber in seiner akroamatischen Erkenntnistheorie: Wilhelm
von Humboldt fasst wie Herder Sprache als Bildung des Gedanken, wie dieser
hat er eine radikal kognitive Auffassung von Sprache. Dass er bei der Entfaltung
seiner eigenen Theorie der sprachlichen Genese des Denkens an Herder denkt,
entnehme ich der Wiederholung des zentralen Herder’schen Gedankens, dass
„der Wilde, der Einsame im Walde hätte Sprache für sich selbst erfinden müs-
sen“.21 Bei Humboldt heißt es: „Ohne daher irgend auf die Mittheilung zwischen
Menschen und Menschen zu sehn, ist das Sprechen eine nothwendige Bedin-
gung des Denkens des Einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit.“22
Aber Herders akroamatischer Ansatz wird nicht aufgegriffen. Der Prozess des
Denkens ist traditionell als Sehen gefasst: „Subjective Thätigkeit bildet im Den-
ken ein Object. Denn keine Gattung der Vorstellungen kann als ein bloß emp-
fangendes Beschauen eines schon vorhandenen Gegenstandes betrachtet wer-

21 Herder: Werke, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 725.


22 Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Albert Leitzmann/
Bruno Gebhardt/Wilhelm Richter, Berlin 1903–36, S. 55.
144
  Jürgen Trabant

den.“23 Die erste Bewegung des Denkens ist daher auch weniger die der Welt, die
entgegenkommt, als die des Subjekts, das zugreift und „handelt“. „Thätigkeit“
ist der zentrale Ausdruck.
Das Gesehene oder Beschaute verbindet sich dann mit der Stimme: „Sie
[die intellectuelle Tätigkeit] ist aber auch in sich an die Nothwendigkeit geknüpft,
eine Verbindung mit dem Sprachlaute einzugehen.“24
Dann erst tritt auch das Ohr in Aktion, als ein Hören auf die eigene Stim-
me (Humboldts Feststellung dieses kognitiven loops ist im übrigen eine ganz
neue Erkenntnis in der europäischen Sprachreflexion), nicht auf die Welt: „Denn
indem in ihr [der Sprache] das geistige Streben sich Bahn durch die Lippen bricht,
kehrt das Erzeugniß desselben zum eignen Ohre zurück.“25
Auge (Beschauen) und Hand (Tätigkeit), Stimme (Laut) und Ohr wirken
also ausdrücklich zusammen in der Produktion des Denkens, in der Bildung des
Gedanken (wie es gleichsam bildhauerisch heißt): „Die unzertrennliche Ver-
bindung des Gedanken, der Stimmwerkzeuge und des Gehörs zur Sprache liegt
unabänderlich in der ursprünglichen, nicht weiter zu erklärenden Einrichtung
der menschlichen Natur.“26
In der Tätigkeit des Subjekts ist vom Entgegenkommen der Welt nicht
mehr die Rede.
Dennoch ist auch bei Humboldt die Welt keine feindliche oder völlig
fremde: Es muss etwas an ihr sein, das mit dem Menschen korrespondiert, es gibt
„eine vorgängige Uebereinstimmung zwischen dem Subject und Object“.27 Um
die Welt zu verstehen, muss man „sich in einem andren Sinn schon verstanden
haben“, das heißt, dass ich ihr – wie dem Herder’schen Lamm – eine Stimme und
eine anima unterstellen muss, damit wir über die „Brücke der Verständigung“
zueinander kommen können: „Wo zwei Wesen durch gänzliche Kluft getrennt
sind, führt keine Brücke der Verständigung von einem zum andren, und um sich
zu verstehen, muss man sich in einem andren Sinne schon verstanden haben.“ 28
Das Prinzip des Gesprächs durchwaltet schon den fundamentalen Prozess
der Bildung des Gedanken.

23 Ebd. (Herv. v. Verf.).


24 Ebd., S. 53.
25 Ebd., S. 55 (Herv. v. Verf.).
26 Ebd., S. 53 (Herv. v. Verf.).
27 Wilhelm von Humboldt: Ueber die Aufgabe des Geschichtschreibers, in: Gesam-
melte Schriften (wie Anm. 22), Bd. 4, S. 47.
28 Ebd.
V. B e w e g u n g – Ge s t e – Zei c h e n
Ulrich Mosch

Ü BE RG Ä N G E
Bewegung – Geste – Zeichen in Carlos Kleibers Dirigieren

Vorb emerk u ng z u m Gegenst a nd


Die Musikwissenschaft versteht sich heute, wenn auch längst nicht mehr aus-
schließlich,1 immer noch weithin als Philologie, die sich mit musikalischen Texten
befasst, weniger dagegen mit dem Akt ihrer klanglichen Hervorbringung, der
Aufführung. Das ist an sich erstaunlich, denn erst der Akt der klanglichen Repro-
duktion verhilft der Musik zum Dasein als einem sinnlich erfahrbaren Zeit-
gegenstand. Ohne Aufführung bliebe der Text totes Zeichen. Die Scheuklappen
aufgrund dieses Selbstverständnisses als Philologie gingen so weit, dass in
einem Standardwerk wie der seit den neunziger Jahren neu bearbeiteten Enzy-
klopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart ein Artikel über Aufführung
gänzlich fehlt und der Artikel „Aufführungspraxis“ den Begriff ‚Aufführung‘
verwendet, ohne ihn näher (historisch) zu bestimmen.2 Im 2001 erschienenen
englischsprachigen Pendant The New Grove Dictionary of Music and Musicians
ist unter dem Stichwort „Performance“ wenigstens ein kurzer Artikel zu finden,
der sich allerdings auf Äußerliches beschränkt und sich nicht einmal ansatz-
weise auf eine Analyse dessen einlässt, was während des Aktes der klanglichen

1 Vgl. dazu etwa jüngst Nicholas Cook: Beyond the Score, Oxford 2013, sowie die
umfangreiche Literatur zum Thema „musikalische Geste“, u.a. Anthony Gritten/
Elaine King (Hg.): Music and Gesture, Farnham, Surrey/Burlington VT 2006; dies.
(Hg.): New Perspectives on Music and Gesture, Farnham, Surrey/Burlington VT
2011; Rolf Inge Godøy/Marc Leman (Hg.): Musical Gestures: Sound, Movement,
and Meaning, New York 2010.
2 Vgl. Dieter Gutknecht: Aufführungspraxis, in: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik
in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1: Sachteil, Kassel u.a. 1994, Sp. 954−986; ein-
zelne Aspekte werden in Hermann Danusers Artikel „Vortrag“ in dieser Enzyklo-
pädie abgehandelt; vgl. ebd., Bd. 9, Sp. 1817−1836.
148
  Ulrich Mosch

Realisierung eines Musikstückes passiert.3 Ich schicke dies voraus, weil ich mich
mit meinen Überlegungen auf ein noch wenig beackertes Terrain begebe, dazu
noch mit der Schwierigkeit behaftet, dass es nicht einfach ist, über die Phänome-
ne zu sprechen.

1.
Womit ich mich im Folgenden befassen werde, ist der Akt der Aufführung von
Musik, ein Akt, der nicht nur seine hörbare, sondern in der Regel auch seine
sichtbare Seite hat. Igor Strawinsky galt, wie er in den 1939 an der Harvard Uni-
versity unter dem Titel Poétique musicale auf Französisch gehaltenen John Eliot
Norton Lectures hervorhob, das „Sehen“ des Musizierens gar als unabdingbar,
um Musik zu verstehen.4 Er stellte sich damit ganz in Gegensatz zu Richard
Wagner, der im Festspielhaus in Bayreuth das Orchester und damit die instru-
mentale Klangerzeugung ausdrücklich vor den Augen des Publikums verbergen
wollte, indem er den Orchestergraben vom Zuschauerraum aus uneinsehbar
bauen ließ. So mag es fast als Ironie erscheinen, wenn ich mein Thema unter
anderem anhand von Wagners Tristan und Isolde entwickeln werde, und zwar
anhand eines ganz außerordentlichen Dokuments: Einer Filmaufnahme aus
Bayreuth aus dem Jahre 1976 aus dem Blickwinkel der Inspizientenkamera, die
auf den Dirigenten, und nur auf ihn, gerichtet ist. Über die gesamten dreiein-
halb Stunden sind weder die Bühne noch das Orchester zu sehen, sondern allein
der Dirigent, und dieser war damals Carlos Kleiber.5
Warum Carlos Kleiber als Beispiel? Zum einen natürlich, weil er ein
großartiger Dirigent war, der es wie kaum ein anderer verstand, mal das Orches-
ter förmlich zu elektrisieren, mal in unvergleichlicher Weise die Musik strömen
zu lassen und sie dabei gleichwohl großräumig als Zeitgegenstand zu disponie-
ren, und zum anderen – nicht unwichtig für meinen Zugang – weil er außer-
ordentlich bewegungsbegabt war. Des Weiteren ist bei ihm immer wieder zu
beobachten − und dies nicht nur in dem hier vorgestellten Dokument − wie sich

3 Vgl. Jonathan Dunsby: Performance, in: Stanley Sadie (Hg.): The New Grove Dic-
tionary of Music and Musicians, Bd. 19, London 2001, S. 346–349. Die Situation
der Musikwissenschaft ist vergleichbar zu jener der Literaturgeschichte als Philo-
logie im Verhältnis zu den sogenannten Sprechkünsten. Vgl. dazu Reinhart Meyer-
Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001.
4 Vgl. Igor Strawinsky: Poétique musicale, hg. v. Myriam Soumagnac, Paris 2000,
S. 148.
5 Diese Aufnahme aus der Frühzeit des Videomitschnitts weist unübersehbare tech-
nische Schwächen auf, die aber dem Quellenwert keinerlei Abbruch tun.
149
  ÜBERGÄNGE

das Verhältnis zum Orchester, für Momente wenigstens, vom Bestimmen zu


einem Sich-Bestimmen-Lassen wandelt, ein im Hinblick auf die Funktion des
Dirigenten, nämlich das Orchester zu leiten, hochinteressantes Changieren
zwischen Führen und … ja, was eigentlich? Sich der Musik zu überlassen, sich
dazu zu bewegen, wie es ein Tänzer tut? Was mich an den einschlägigen Stellen
interessiert, ist die sich wandelnde äußere Erscheinung der Bewegungen, je
nachdem, worauf sich die Intentionen des Dirigenten richten: Nicht mehr die
Geste, das Zeichen für die Orchestermusiker, scheint an diesen Stellen das Ziel
zu sein, sondern die Bewegung selbst.
Wenn wir einem Dirigenten wie Carlos Kleiber zugleich zuschauen und
zuhören, wird das Entgegenkommende, das wir, die Wahrnehmenden, wie Hus-
serl gesagt hätte, als Zeitgegenstand konstituieren, jedenfalls für Augenblicke,
phasenverschoben gleich doppelt greifbar: Sichtbar als vom Dirigenten verkör-
pertes Vorgestelltes, Vorausimaginiertes, und hörbar als das tatsächlich Reali-
sierte – mit den Worten Walter Benjamins könnte man sagen: Zugleich das Pro-
jekt einer Musik und dessen „Totenmaske“, das heißt die daraus tatsächlich
gewordene Musik. Entgegenkommendes aber auch noch in einem weiteren Sin-
ne: Dass nämlich das vom Dirigenten hervorgebrachte (Zeit-)Objekt ein Eigen-
leben entfaltet, das Geschehende sozusagen als vorhersehbar Unvorhersehbares,
als Ereignis, auf das Kleiber reagiert und dem er sich wenigstens partiell auch
einmal überlässt: mit Hingabe, Freude, Genuss. Wo das geschieht, verändert sich
die Geste: Sie ist nicht mehr Zeichen für andere Musiker, sondern Bewegung zur
Musik. Dabei scheint sich Kleiber auf einem schmalen Grat zu bewegen, zwi-
schen Verkörperung als Zeichengebung und einer Verkörperung ähnlich jener
bei einem Tänzer, welche gleichwohl für einen Orchestermusiker nach intensi-
vem Probenprozess immer noch ein Stück weit „lesbar“ bleibt.

2.
Bevor wir die ausgewählten Beispiele näher betrachten, zunächst einige Über-
legungen zur Frage, was Dirigieren eigentlich ist. Wir haben es dabei mit einer
besonderen Form von „musikalisch“-körperlichen Bewegungen zu tun: Sie
­dienen nicht wie bei einem Instrumentalisten unmittelbar der Hervorbringung
von Klängen. Vielmehr sind es die Bewegungen eines Menschen, der andere ani-
miert, Klänge mittels ihres eigenen Bewegungsapparates zu produzieren. Es
­handelt sich also um Bewegungen, die zwischen Zeichen und Geste angesiedelt
sind.
In seinem 1929 erstmals publizierten Lehrbuch des Dirigierens unter-
schied Hermann Scherchen drei Momente dieser Tätigkeit: „1. die Darstellung
des metrischen Ablaufs der Musik. 2. die Aufzeichnung [ich würde eher sagen:
die (gestische) Zeichnung] ihrer expressiv gestaltenden Kräfte. 3. die eigentliche
150
  Ulrich Mosch

Führung des Orchesters (zugleich das Vermeiden fehlerhaften Spielens der


Musik und die Ausgleichung von Schwankungen und Ungenauigkeiten).“6
Demnach sind im Hinblick auf eine Analyse unseres Gegenstandes drei
verschiedene Aspekte zu unterscheiden: die Koordination der Musiker und der
Zusammenhalt des gesamten Sänger- und Orchesterapparates, die Gestaltung
der Musik (deren Ausarbeitung im Detail allerdings vor allem während des Pro-
benprozesses stattfindet) und die Aktualisierung des früher Erarbeiteten wäh-
rend der Aufführung: die klangliche Realisierung und Entfaltung der Musik als
Zeitgegenstand.
Notierte Musik ist eben nicht einfach eine Ansammlung von Noten,
deren präzise Ausführung im Einzelnen genügte, um ihr ganzes Potential aus-
zuschöpfen. Sie ist vielmehr ein komplexer musikalischer Zusammenhang, der
im körperlichen Vollzug durch den Dirigenten wie durch die Musiker zu entfal-
ten und zu aktualisieren ist: Durch Phrasieren und Atmen, durch die bewusste
Herstellung von Korrespondenzen oder Divergenzen sowie um die insgesamt
dynamische Architektur des Ganzen sinnfällig zu machen. Andernfalls entsteht
nur, was Theodor Adorno im Hinblick auf zeitgenössische Musik einmal als
„Kauderwelsch“ bezeichnet hat.7 Dabei ist eine Kontinuität als körperlicher Voll-
zug die Basis nicht nur für ästhetische Phänomene wie Ganzheit oder Geschlos-
senheit, sondern genauso für solche wie Brüchigkeit, Festigkeit oder lockere
Fügung, analog zur Differenz zwischen einem physischen Artikulationszusam-
menhang und einem kommunizierten Sinnzusammenhang bei gesprochener
Sprache.
Von diesem Aspekt spricht der Komponist und Dirigent Felix Weingartner
in seinem kleinen Büchlein Über das Dirigieren (1896), wenn er Richard Wag-
ner das Verdienst einer neuen Vorstellung vom Dirigenten zuschreibt, „in des-
sen Tätigkeit man [...] nicht mehr nur das äußerlich zusammenhaltende [Ele-
ment – später im Text nennt er dies abfällig das ‚bloße Taktschlagen‘], sondern
hauptsächlich das innerlich beseelende Element einer orchestralen, choralen
oder dramatischen Musikaufführung zu erblicken sich angewöhnt hat“.8

6 Hermann Scherchen: Lehrbuch des Dirigierens, Leipzig 1929, S. 195. Die ersten
beiden Aspekte waren auch Gegenstand eines Kommentars und einer Vorführung
im Rahmen einer von Leonard Bernstein gestalteten Fernsehsendung zum Thema
„The Art of Conducting“, die am 4. Dezember 1955 über CBS Television Network
im Rahmen der Reihe Omnibus ausgestrahlt wurde; s. Leonard Bernstein:
Omnibus (2009, Archive of American Television, Port Washington, NY: EJ
Entertainment), DVD 2, ca. 15:20–17:10.
7 Theodor W. Adorno: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, in: Nach-
gelassene Schriften, Abteilung I: Fragment gebliebene Schriften, Bd. 2, hg. v. Henri
Lonitz, Frankfurt/M. 2001, S. 240.
8 Felix Weingartner: Über das Dirigieren, Berlin 1896, S. 1.
151
  ÜBERGÄNGE

Zur Veranschaulichung des eben Gesagten mag eine Gegenüberstellung


von Carlos Kleiber und seinem nicht minder berühmten Vater Erich Kleiber die-
nen, die beide im Abstand von einigen Jahrzehnten dasselbe Stück dirigierten,
den Walzer An der schönen blauen Donau von Johann Strauß. Georg Wübbolt
konfrontierte Filmaufnahmen davon im Rahmen seines Dokumentarfilms über
Carlos Kleiber mittels geteiltem Bildschirm (Bild 1a).9

Bild 1a  Erich Kleiber links und Carlos Kleiber rechts, jeweils den Walzer
An der Schönen blauen Donau von Johann Strauß dirigierend.

Bild 1b  Erich Kleiber.

Der wohl auffälligste Unterschied ist zunächst, dass Erich Kleiber in der
Manier der alten Schule dirigiert: Meist allein mit dem rechten Arm − die linke
Hand entspannt herabhängend oder unbeweglich vor dem Bauch (Bild 1b) − und

9 Carlos Kleiber – I Am Lost to the World (2011, Georg Wübbolt, Major


Entertainment).
152
  Ulrich Mosch

mit zackigen Bewegungen; der Sohn dagegen mit weichen, höchst individuellen
Bewegungsformen (Bild 1c−e). Dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass
der Bewegungsstil sich nicht eins zu eins im Klangresultat abbildet. Dass Carlos
Kleiber in dem Ausschnitt nur gelegentlich einmal zu den Zügeln greift – ein
weiteres Beispiel für jenes, wenigstens für Augenblicke, Sich-der-Musik-Über-
lassen – ist wohl der Tatsache zuzuschreiben, dass es sich hier um eine Proben-
situation handelt, in der er sich mehr noch als im Konzert jenen Wechsel von
Führen und Sich-Überlassen erlaubte.
Auch heute noch gibt es verschiedene Dirigententypen: Einerseits den
eher koordinierenden Typus − verkörpert zum Beispiel von Pierre Boulez − der
den Orchestermusikern die Aufgabe überlässt, mit aller Energie ihren jeweili-
gen Part zu realisieren, und andererseits den eher energetisierenden Typus, der
die Musiker mittels suggestiver Bewegungen mitreißt, wie ihn Leonard Bern-
stein repräsentierte. Da hier äußerst komplexe Kommunikationsvorgänge im
Spiel sind, bei denen nicht nur die Armbewegungen, sondern auch die Augen,
die körperliche Ausstrahlung und Präsenz und nicht zuletzt die − auf welchen
Wegen auch immer − übertragene geistige Kraft eine Rolle spielen, lassen sich
jedoch die Dirigenten vielfach nicht einfach der einen oder der anderen Katego-
rie zuweisen. Und es ist ein Irrtum zu glauben, die Schönheit der Bewegung
könne im Hinblick auf das Klangresultat ein Urteilskriterium sein: Georg Solti
wäre hier ein gutes Gegenbeispiel.
Das Verhältnis von Dirigent und Musikern, das auch für Carlos Kleiber
charakteristisch erscheint, beschreibt Weingartner am Beispiel von Richard
Wagner unter Berufung auf einen Flötisten, der unter ihm in der Dresdner könig-
lichen Kapelle gespielt hatte:

[…] die höchstens mittelgroße Figur in strammer Haltung, die Bewe-


gungen des Armes nicht übermäßig groß oder weitausholend, sondern
straff und sehr deutlich markiert; trotz der Lebendigkeit keine Unruhe; im
Konzert meistens die Partitur nicht benötigend, den ausdrucksvollen
Blick auf die Spielenden gerichtet und mit jener königlichen Souveränität
das Orchester beherrschend, die er schon als Knabe bei Weber bewundert
hatte. Der alte Flötist [...] erzählte mir, die Mitglieder der Kapelle hätten
oft, wenn Wagner dirigiert habe, gar nicht mehr das Gefühl gehabt,
geleitet zu werden. Jeder glaubte, frei seinem eigenen Gefühl zu folgen,
und doch habe alles wundervoll zusammengewirkt. Es war Wagners ge­
waltiger Wille, der sich eindringlich, aber ganz unbewusst, auf die einzel-
nen übertragen hatte, so dass jeder sich frei wähnte, während er doch nur
dem Leiter folgte, dessen künstlerische Kraft in ihm lebte und wirkte.10

10 Weingartner: Über das Dirigieren (wie Anm. 8), S. 7.


153
  ÜBERGÄNGE

Bild 1c–e  Carlos Kleiber.


154
  Ulrich Mosch

Auch Carlos Kleiber besaß einerseits eine ungewöhnliche Fähigkeit, das Orches-
ter zu führen und zu diesem Zweck Musik prospektiv in Bewegung zu über-
setzen und zugleich auch, um Weingartners Begriff aufzunehmen, die Fähigkeit,
die Musik „zu beseelen“. Schaut man sich die erhaltenen Filmdokumente an, so
scheint es, als ob er auf einem „lebendigen Instrument spielte“, dem Orchester.
Die Struktur der Musik, so wie sie Kleiber auffasste, ihre Spannungsverläufe,
ihr formaler Bau und ihre innere Dynamik werden in der Sequenz seiner Bewe-
gungen sichtbar. Andererseits gehen die suggestiven Bewegungen des diesbe-
züglich außerordentlich mit Phantasie und Erfindungskraft begabten Dirigen-
ten weit über das bloße Schlagen des Taktes hinaus. Dies brachte ihm immer
wieder den Vorwurf ein, er könne gar nicht richtig dirigieren, ein Vorwurf, der
sich auf die handwerkliche, konventionelle Seite des Dirigierens bezog, der sich
aber beim Hören des Resultats als gegenstandslos erweist. Dabei versteht sich
bei dem Dokument aus Bayreuth, das hier in den Mittelpunkt gerückt ist, dass
ein mögliches Showelement mit Blick auf das Publikum gar keine Rolle spielen
konnte, denn im Festspielhaus sieht das Publikum den Dirigenten ja nicht. Klei-
bers Bewegungen dienten allein der Kommunikation mit den Orchestermusi-
kern und vielleicht auch (gelegentlich) ein Stück weit der puren Freude an der
Bewegung, möglicherweise auch dem Selbstausdruck.

3.
Aus dem umfangreichen Material zu Tristan und Isolde11 habe ich zwei Aus-
schnitte ausgewählt, die ich näher betrachten möchte: Zum einen die Einleitung
zum Ersten Aufzug und zum anderen Isoldes „Liebestod“, der das Werk beschließt.
Was wir in der Einleitung sehen, lässt sich in zweierlei Hinsicht auf-
schlüsseln: Zum einen ist durchgehend die der Konvention entsprechende Schlag-
figur des Sechs-Achtel-Taktes deutlich zu erkennen (Bild 2), allerdings in vielfach
abgestuften, hinsichtlich ihres Charakters unterschiedlichen Realisierungen;

Bild 2  Schlagfigur des Sechs-Achtel-Taktes,


schematisch.

11 Vgl. Anm. 5.
155
  ÜBERGÄNGE

zum anderen sind, ohne dass sich das eine vom anderen scharf trennen ließe, die
individuellen körperlichen Gesten zur Artikulation der zeitlichen Struktur der
Musik und ihrer Spannungsverläufe zu sehen, welche die Schlagfigur überfor-
men und ergänzen. Kleiber führt das Orchester mit großer Souveränität im
Wesentlichen mit der rechten Hand; die linke zeichnet dagegen vor allem melo-
dische Phrasen nach, auch in ihrer inneren Artikulation, oder wird zusammen
mit der rechten für Übergänge oder Betonungen herangezogen. Auffällig ist

Bild 3a−c  Carlos Kleiber in der Einleitung zum ersten Aufzug von Richard Wagners
Tristan und Isolde in den Takten 2 und 6 auf Zählzeit eins und beim weit ausholenden
Auftakt zu Takt 10.

dabei seine hohe Flexibilität hinsichtlich des Tempos, ohne dass aber das Orches-
ter irgendwelche Schwierigkeiten zu haben scheint, ihm zu folgen.
Der allererste Einsatz beginnt, kaum angedeutet, mit Schlag vier und
fünf der Schlagfigur, um den Auftakt auf Schlag sechs vorzubereiten, der zur
Zählzeit eins des folgenden Taktes hinführt. Auf den lang ausgehaltenen Klän-
gen in den Takten 1 und 2 rafft Kleiber die Schläge jeweils nach der deutlich
markierten Zählzeit eins, um den Auftakt zum folgenden Takt sorgfältig präpa-
rieren und ganz in Ruhe nehmen zu können. Kleiber disponiert, das wird gleich
in den ersten Takten sichtbar, großräumig einander korrespondierende Bewe-
gungsverläufe, die den Aufbau der Musik spiegeln (Bild 3a–c). Die drei ersten
Phrasen werden als einander entsprechend und zugleich, den Angaben der Par-
titur genauestens folgend (Bild 4a–c), allmählich steigernd vorgestellt, wobei der
Akzent − jedesmal mit ein wenig gesteigertem Nachdruck − jeweils auf dem
sogenannten Tristan-Akkord (Zählzeit eins der Takte 2, 6 und 10) liegt. Klar
erkennbares Ziel des Spannungsaufbaus ist an dieser Stelle der mit einer dyna-
mischen Steigerung bis zum Fortissimo erreichte Trugschluss zur unteren
Mediante der Grundtonart a-Moll, will heißen zum zunächst mit einem Quart-
vorhalt verbundenen F-Dur in Takt 17.
156
  Ulrich Mosch

Bild 4a–c  Richard Wagner, Tristan und Isolde, Klavierauszug, Takt 1–64.

Die hier mit der Auflösung des Vorhaltes auf Zählzeit vier fast unmerk-
lich einsetzende „unendliche Melodie“ der Celli bringt Kleiber mit nun weiter
ausgreifenden Bewegungen in einen nicht enden wollenden Fluss, den er gleich-
wohl genauestens in feinsten Nuancierungen artikuliert und kontrolliert:
Zunächst in um einen Halbtakt verschobenen Viertaktgruppen mit jeweils kla-
rer Hervorhebung der Zählzeit eins der Volltakte, wobei das Neuansetzen in den
Takten 21 und 24/25 durch Markieren des auftaktigen Sechzehntels beziehungs-
weise der Sechzehntelkette − den Fluss aufhaltend, ohne ihn aber zu unterbre-
chen − vorbereitet wird; dann mittels einer Verkürzung des Rhythmus des Neu-
ausholens durch die Hervorhebung der beiden Bläserakkorde in Takt 29 und 31,
um schließlich mit einem letzten Neuansetzen den Höhepunkt dieser langen
Phrase in Takt 36 anzusteuern. Ab Takt 45 folgende (entsprechend Takt 25 folgen-
de) holt Kleiber dann, nach einem kurzen „Verschnaufen“ in den vorausgehen-
den Takten, zu einer gewaltigen Steigerung (Spannung, Tempo und Dynamik)
aus, die erst in Takt 83 ihr Ziel findet. Dabei ist interessant zu beobachten, dass
er die sforzati der Melodie unmittelbar nach den Bläserakkorden in den Takten
49 (entsprechend Takt 29 ohne sforzato), 51 (entsprechend Takt 31 ohne sforza-
to) und 52 ganz bewusst setzt, im ersten Fall sogar, indem er aufsteht, um den
Akzent umso tiefer ausholend realisieren zu können.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass einerseits Kleibers Auffassung des
Notentextes, der formale Aufbau der Musik und die innere Dynamik, sichtbar
157
  ÜBERGÄNGE

wie hörbar wird. Andererseits zeigt sich, dass der musikalische Zusammenhang
wesentlich ein im Moment der Aufführung verkörperter Zusammenhang ist.
Was sich schon am Anfang des Werkes eindrucksvoll manifestiert, die
dirigierend realisierte großräumige Formdisposition, prägt seinen Schluss −
Isoldes „Liebestod“ − in eminenter Weise. Kleibers Körperhaltung drückt hier
Spannungsverläufe unmittelbar aus. Was zu sehen ist, lässt sich teilweise mit Vor-
stellungen aus der Tanzanalyse interpretieren: Wenn Kleiber etwa bei der Text-
stelle „[…] in mich dringet, auf sich schwinget, holder hallend um mich klin-
get?“ aufsteht und die Arme weit öffnet und ausbreitet (Bild 5a), so lässt sich das
als ein Verströmen interpretieren, als Hingabe – hier seine Hingabe an den
Klang – und zugleich als eine Offenheit, den Klang entgegenzunehmen. Sich
unter höchster Körperspannung hinter das Dirigentenpult zu ducken und sich
allmählich, zunächst mit sparsamsten Bewegungen, dann zunehmend weiter
ausgreifend aufzurichten, bis er ganz erhoben ist (Bild 5b−e), stellt eines von Klei-
bers Mitteln der großräumigen Spannungssteigerung dar. Der musikalische
Spannungsverlauf korrespondiert hier genau der Spannungskurve des Körpers.
Dabei scheint es so, als ob die Energie über die Hände und den Dirigentenstab
auf das Orchester überginge und von diesem unmittelbar in Klang umgesetzt
werde. Die markantesten Gesten dieses Schlusses: Das Sich-Öffnen, das plötzli-
che Ducken, der halb erhobene und schließlich der ganz aufgerichtete Körper
erscheinen an den formal zentralen Punkten dieser mit einem ungeheurem Sog
158
  Ulrich Mosch

Bild 5a–e  Carlos Kleiber im Schlussabschnitt, dem sogenannten „Liebestod“,


während der Steigerung in den Takten 32–19 vor dem Schluss des Werkes.

fließenden Musik, eingeschlossen gelegentlich durchaus auch kuriose Bewe-


gungserfindungen an der Schwelle des Entgleitens.
Auch beim Dirigieren ist die Bewegung eigentlich Mittel zum Zweck. Es
gibt aber Momente, in denen der Dirigent sich der Musik oder auch das Orches-
ter sich selbst überlassen kann. Betrachtet man diese Bilder, so scheint es hin
und wieder – davon war schon die Rede – als ob sich Kleiber zur Musik bewegte,
159
  ÜBERGÄNGE

nicht sie führte. Dies dürfte auch tatsächlich der Fall gewesen sein. Dass so etwas
überhaupt möglich ist, hat damit zu tun, dass jede Aufführung das Resultat
eines nicht selten langen Probenprozesses ist. Das heißt: Die Bayreuther Musi-
ker damals kannten Kleibers Auffassung des Tristan genau und folgten ihm
auch dann, wenn er momentan die Zügel schleifen ließ, wobei er, sobald nötig,
die Initiative wieder ergriff. Dies sind Momente, in denen Kleiber dem nahe
kommt, was für den Tanz entscheidend ist: Dass die Bewegung nicht mehr Mit-
tel zum Zweck ist – jenem der Koordination, der Führung und der Energetisie-
rung beim Dirigenten oder der Klangproduktion bei den Musikern – sondern
selbst Ziel. Auch an solchen Stellen verliert Kleiber indessen den Kontakt mit
dem Orchester nicht. Was sich ändert, ist aber die Art der Beziehung. Sie wird
gelockert bis zur Grenze der Belastbarkeit. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass
die Suggestionskraft seiner Bewegungen ungebrochen ist, vielleicht sogar noch
einmal zunimmt. Für die Musiker bleiben die Gesten somit wenigsten ein Stück
weit „lesbar“.

4.
Abschließend seien vier Aspekte des Angesprochenen durchaus erratisch noch-
mals fokussiert:
1. Verkörperung: Für einen Instrumentalisten gilt: Bewegung − einmal
abgesehen vom Virtuosengehabe − ist allein resultatorientiert; sie zielt auf ein
bestimmtes Klangresultat. Instrumentalisten, ganz gleich ob Solisten oder
Orchestermusiker, müssen aber schon allein aus praktischen Gründen (Atem,
Bogentechnik bei Streichern, „Bewegungschoreographie“ bei Schlagzeugern
und so weiter) immer über den Einzelklang hinausdenken, müssen das Kom-
mende vorbereiten und in jedem Augenblick, auf ihren Part und seine Funktion
im Ganzen bezogen, eine Vorstellung davon haben, woher sie im Stück musika-
lisch kommen und wohin sie gehen wollen.
Der Dirigent muss führen, und das ist nur möglich, wenn er mit der Vor-
stellung das Ganze umfassend dem gegenwärtig Geschehenden (weit) voraus ist.
Er muss das, was gleich geschehen soll, im Hinblick auf das Ziel des musika-
lischen Fortgangs, einer Entwicklung oder eines Prozesses, und letzten Endes bis
hin zum Schluss des Satzes, Aktes oder Werkes disponieren. Auch sein Tun ist
resultatorientiert, allerdings in anderer Weise: Beim Dirigenten besteht kein
direkter kausaler Zusammenhang zwischen Bewegung und Klang. Die Form des
Zeitgegenstandes wird artikuliert mittels Gesten, die hinsichtlich Ausgreifen,
Intensität und körperlichem Einsatz variieren; Spannungsbögen sind wesentlich
körperliche Spannungsbögen. Dabei spielt der untere Rücken, bei Kleiber schön
zu sehen, offenbar als Kraftzentrum eine besondere Rolle, von gleichsam gefes-
selter bis hin zu entfesselter Bewegung.
160
  Ulrich Mosch

Bei Tänzern dagegen ist die Bewegung selbst das Ziel: Sie folgt zwar der
Musik, doch auch hier muss die Vorstellung immer schon dem aktuell Gesche-
henden voraus sein, etwa bei einer komplexen Sprungfolge, die hinsichtlich Ver-
lauf und Kraftaufwand antizipiert werden muss, um sie angemessen vorbereiten
und wunschgemäß ausführen zu können. Bei den Tänzern geht es darüber hinaus
darum, die eigenen körperorientierten Projektionen – das, was Husserl „Pro-
tentionen“ genannt hat – im Einklang mit der Musik zu halten.12
2. Körperschema: Das Körperschema von Carlos Kleiber als Dirigent, das
legen die Bilder nahe, umfasst mehr als nur das physisch mit den Armen direkt
Erreichbare: Es umfasst das ganze Orchester, den Chor und die Gesangsolisten
auf der Bühne.13 Kleiber ist während der Aufführung intentional bei ihnen; sie
werden Teil seines Körpers, gehen gleichsam in ihm auf, jedenfalls dort, wo er
aktiv führt. Zu sehen ist dieses innige Verhältnis insbesondere da, wo er den Fluss
und die Qualität der Klänge förmlich mit den Armen und Händen zu modellie-
ren scheint.
3. Wissensformen: Wie jeder Dirigent es tut, entwickelte Kleiber aus dem
Partiturstudium die eigene Auffassung von Wagners Musik. Diese ist − das ist
offensichtlich, wenn man ihm zuschaut − mehr als nur eine Klangvorstellung. Sie
besteht zugleich aus einem das musikalische Ganze umfassenden körperlichen
Vollzug, der − gerade bei ihm − in jedem Detail genau gewusst wird, ohne dass
hier jedoch ein Wissen in propositionaler Form vorläge. Kleiber war berühmt
für seine Vergleiche, mit denen er das, was er sich vorstellte, vermittelte.14 Sie
waren aber nur Behelfsmittel, um in einem nicht-propositionalen Wissens-
bereich das Gewünschte zu erzielen. Die Erfahrung der inneren Dynamik, das
ruhige Strömen, manchmal auch das Mitreißende des musikalischen Flusses
lässt sich allenfalls metaphorisch beschreiben, kaum aber erfahrbar machen

12 Genau hier liegt die Problematik von Xavier Le Roys Solo-Choreographie zu Stra-
winskys Le Sacre du printemps aus dem Jahre 2007: Als Dirigent vor einem
Orchester würde der Choreograph unweigerlich scheitern, da die prospektive
musikalisch gestaltende Vorstellung fehlt. Er folgt lediglich der Musik mit seinen
einem Dirigat Simon Rattles nachgebildeten Bewegungen.
13 Vgl. dazu Maurice Merleau-Pontys Ausführungen zur Intentionalität des Leibes
in: ders.: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt
und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm, Berlin 1966, insbesondere
S. 175ff.
14 Schöne Beispiele dafür stammen aus der filmisch dokumentierten Probenarbeit zu
Carl Maria von Webers Freischütz in Stuttgart. Um zu Beginn der Ouvertüre
einen Einsatz aus dem Nichts zu erreichen, wies Kleiber die Musiker an: „Lassen
Sie immer den anderen anfangen.“ Und das Resultat entsprach genau dem, was er
sich vorgestellt hatte (s. hierzu auch den Beitrag von Sabine Marienberg in diesem
Band). Oder in Bezug auf eine tänzerische Partie bat er die Musiker, nicht zu spie-
len, als ob der Tänzer „Übergewicht“ hätte, sondern tänzerisch leicht, nicht „so
elefantisch“.
161
  ÜBERGÄNGE

über die Sprache. Wollte man dies doch erreichen, so müssten diese Qualitäten
in eine sprachliche Form übersetzt werden, die das scheinbare Nicht-Enden-
Wollen, die großräumigen Steigerungen in ihrem Medium realisiert.
4. Wandlungen der Körpererscheinung: Die dokumentierten Dirigate
Kleibers lassen an verschiedenen Stellen erkennen, dass sich durch den Wechsel
der intentionalen Fokussierung des sich Bewegenden die Körpererscheinung
verändert: Wenn Kleiber sich auf sich selbst zurückzieht und in die Rolle desje-
nigen schlüpft, der der Musik zuhört und ihr bewegungsmäßig nur folgt, wird
dies auch in Nuancen an seinem Körper und den Bewegungen sichtbar. Für die-
sen Aspekt besitzen wir als von außen Beobachtende offenbar ein außerordent-
lich gut entwickeltes Sensorium, das wir auch im Alltag diagnostisch einsetzen,
eine Art „somatischer Aufmerksamkeit“15 für den anderen. Beschreibend sind
solche Phänomene aber schwer zu fassen.

15 Zustände „somatischer Aufmerksamkeit“ sind auch für Marion Lauschkes Überle-


gungen zum Rhythmus der Kunsterfahrung zentral (s. Lauschke in diesem Band).
Sabine Marienberg

D I E M Ö G L IC H K E I T D E R G E S T E
Poietisches Handeln zwischen Bewegung und Zeichen bei Oskar Pastior

1.
„Die sprachliche Geste“, schreibt Maurice Merleau-Ponty in seiner Phänome-
nologie der Wahrnehmung, „bringt, wie jede andere Gebärde, ihren Sinn selber
hervor.“1 Mit dieser Erweiterung des Gestischen von den körperlichen Gebärden
in die Sprache hinein bricht er mit gleich zwei traditionellen Vorannahmen dar-
über, was eine Geste ausmacht. Zum einen ist sie in Merleau-Pontys Verständnis
alles andere als eine bereits lexikalisierte Zeigehandlung: Sie wird nicht einfach
im Rahmen eines schon bestehenden und davon unberührten Bedeutungszu-
sammenhangs vollzogen, sondern sie öffnet und verändert ihn. Zum anderen
gilt sie nicht als vorsprachliches oder lediglich redebegleitendes Geschehen, son-
dern als der Sprache wesentlich zugehörig. „Vorsprachlich“ ist die Geste nur im
Sinne einer die Sprache zuallererst ermöglichenden Tat, die – als weder rein
natürlich-motorischer Lautvorgang noch als bloß konventionelles Zeichen – die
Sinngenese im lebendigen Sprechen begründet. Gemeint ist damit ein ursprüng-
liches Sprechen im emphatischen Sinn: „das des Kindes, das sein erstes Wort
spricht, das des Verliebten, der zuerst sein Gefühl entdeckt, das des ‚ersten Men-
schen, der gesprochen hat‘, oder das des Schriftstellers oder Philosophen, der, die
Überlieferung durchstoßend, eine ursprüngliche Erfahrung zu neuem Leben
erweckt.“2 Ein solcherart anfängliches Sprechen, auch das „des ersten Menschen,
der gesprochen hat“, vollzieht sich jedoch immer schon in der Sprache. Nur als
Ausdrucksbewegung innerhalb einer geteilten sprachlichen Welt ist Verstehen
überhaupt denkbar:

1 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung [1945]. Aus dem


Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm, Ber-
lin 1966, S. 220.
2 Ebd., S. 212.
164
  Sabine Marienberg

[D]ie schon verfügbaren Bedeutungen verknüpfen sich plötzlich nach


einem bislang unbekannten Gesetz, und ein neues kulturell Seiendes hat
ein für allemal seine Existenz begonnen. Gedanke und Ausdruck konsti-
tuieren sich somit in eins und zumal, wenn unser kultureller Erwerb
jenem noch unbekannten Gesetz gemäß in Bewegung gerät – so wie
unser Leib, eine bislang fremde Gewohnheit erwerbend, plötzlich eine
neue Geste sich zu eigen macht. […] Soll das Wunder geschehen, so muss
die phonetische Gestik sich eines Alphabets bereits erworbener Bedeu-
tungen bedienen, die Wortgebärde in einem den Unterrednern gemein-
sam eröffneten Ausblick sich einzeichnen, so wie das Verständnis jeder
anderen Geste eine gemeinsame Wahrnehmungswelt voraussetzt, in der
sie sich abspielt und ihren Sinn entfaltet.3

Die Gleichursprünglichkeit von Ausdruck und Gedanke, Mitteilung und Verste-


hen in der Geste ist eine wiedergewonnene Ursprünglichkeit, die lebendige Ver-
wirklichung des sprachlichen In-der-Welt-Seins. Begriffliche Bedeutungen sind
diesem gestischen Erfassen nachgeordnet, und was immer begrifflich verfügbar
ist, verdankt sich einer vorgängigen erstmaligen Verbindung von lautlicher und
gedanklicher Artikulationsbewegung, die einerseits leiblichen Vollzügen ent-
springt und andererseits über sie hinausweist.4 Gesten sind somit schöpferisch
und bedingt zugleich, sie sind freie Setzungen und doch gebunden an die unhin-
tergehbare Leiblichkeit des Sprechers wie der Sprache selbst. In dieser Perspektive
ist das Gestische kein Teilmoment der Sprache, es ist ihre Substanz.
Ein solcherart weit gefasster und differenzierter Gestenbegriff lässt sich
mit einem Blick auf die Wortgeschichte durchaus rechtfertigen: Das lateinische
gestus wird gebildet aus der Wurzel gero, die ein erstaunlich breites Bedeu-
tungsspektrum hat: gero heißt zunächst ‚tragen‘, reflexiv ‚sich betragen‘, ‚sich
verhalten‘, es bedeutet sowohl (verborgen) ‚in sich tragen‘ als auch (sichtbar) ‚zur
Schau tragen‘ und ‚zeigen‘; es heißt darüber hinaus auch ‚tun‘ – umfasst jedoch
gleichzeitig dessen weniger intentionale Seiten, nämlich ‚vorgehen‘ und ‚gesche-
hen‘, bis hin zum ‚ertragen‘.5

3 Ebd., S. 217, S. 229.


4 „Eine stets aufs neue inmitten der Fülle des Seins geschaffene Öffnung ist die
notwendige Bedingung […] der Schöpfung der Worte wie der Begriffe. Dies ist
jene Funktion, die wir durch die Sprache hindurch erahnen: eine stets sich erneu-
ernde, auf sich selber sich stützende, der Welle gleich, die immer aufs neue sich
sammelt, um sich neuerlich über sich hinaus zu werfen.“ Ebd., S. 232f.
5 Josef M. Stowasser/Michael Petschenig/Franz Skutsch: Der kleine Stowasser. Latei-
nisch-deutsches Schulwörterbuch, München 1979, S. 199. Zu Etymologie und
Wortgebrauch von ‚Geste‘ s.a. Jean-Claude Schmitt: Die Logik der Gesten im euro-
päischen Mittelalter, Stuttgart 1992, S. 28–33, S. 36f.
165
  DIE MÖGLICHKEIT DER GESTE

Von der Bewegung ist die Geste ursprünglich gar nicht so klar zu tren-
nen. Gestus wurde im Lateinischen oft synonym mit motus gebraucht – im
engeren Sinne mit dem motus corporis, der dann oft, aber nicht notwendiger-
weise, mit den Bewegungen der Hände gleichgesetzt wurde. Darüber hinaus
bezeichnete es die Bewegung von Tieren, Seelen und Planeten. Enthalten sind
auch hier wieder eine aktive oder sich vollziehende und eine passive Seite: Aktiv
ist der motus in Form der von Menschen hervorgebrachten, mitunter absichts-
voll als Zeichen eingesetzten Körperbewegungen. Passiv ist er in Form des Ein-
gebundenseins in und des Konfrontiertseins mit Bewegungen allenthalben –
Bewegungen, die das ganze Universum durchziehen, vermutlich sogar geheimen
Bewegungsgesetzen, die man zunächst einmal am eigenen Leib erfahren muss,
um sie zu verstehen.6
Die Geste ist damit nach zwei Seiten hin durchlässig, nämlich einerseits
zu Bewegung und Vorgang, zum bloßen und noch gar nicht „als etwas“ erkann-
ten Geschehen oder Widerfahrnis, und andererseits zum Zeichen, das sich in
Form allgemein verständlicher Zeigeschemata denotativen und kommunikati-
ven Absichten widerstandslos beugt und ein augenblickliches Verständnis ver-
heißt. Man könnte Gesten demnach auch als einen Zwischenschritt oder Über-
gang verstehen, in dem eine Bewegung schematisch Gestalt gewinnt, in ihrer
formalen Eigenschaft ins Zeichenhafte umschlägt beziehungsweise ein Zeichen
ermöglicht – oder, in umgekehrter Blickrichtung, in dem ein Zeichen sich als ein
schematischer Aspekt an einer vollzogenen Bewegung zeigt und so sowohl die
Bewegungsgesetze des Materials als auch die es aktuell artikulierenden Verfah-
ren freilegt.

2.
Oskar Pastior hat den Spielraum zwischen Bewegungen einerseits und ihren
bedeutsamen Schematisierungen andererseits unablässig durchmessen, ihn in
sprachlichen, klanglichen und auch zeichnerischen Gesten beständig neu aufge-
spannt und zum Kollabieren gebracht. Seine bange Neugier richtet sich, Leonar-
dos forschendem Blick in die Höhle nicht unähnlich,7 auf vielfältige und wun-
dersame Formen, darunter insbesondere diejenigen, die die kunstfertige Sprache
hervorbringt.
Das dergestalt Entgegenkommende zu denken bedeutet, es selbst im
Medium der Sprache zu erkunden, es als geformtes Material gleichermaßen ernst

6 In diesem Sinne lässt sich auch die Spannung zwischen Bestimmen und Sich-
Bestimmen-Lassen im Dirigieren Carlos Kleibers verstehen (s. hierzu den Beitrag
von Ulrich Mosch in diesem Band).
7 Vgl. Engel/Marienberg, S. IX in diesem Band.
166
  Sabine Marienberg

zu nehmen und aufs Spiel zu setzen, in einer Art der Aneignung, die so sorgfäl-
tig und behutsam wie respektlos ist. Man könnte von Subversion durch Aner-
kennung sprechen. Die Anerkennung gilt allerdings weniger den bestehenden
sprachlichen Schemata als solchen als vielmehr dem flüchtigen Augenblick ihres
Zustandekommens. Oder anders: Dass sich immer nur rückblickend zeigt, was
zunächst ein Vorgang war,8 lässt die Hoffnung zu, dass Vorgänge weiterhin statt-
finden; und selbst das Innehalten zwischen zwei hervorgebrachten oder wahrge-
nommenen Vorgängen, die sich in ihm nach vorn und rückwärts voneinander
abgrenzen, findet nicht klanglos statt:

Das Aufhören im Wort ist ein langsamer Vorgang, der erst von seinem
Ende her, also lieblos anfällt. Dann sehen wir, wie die Zerstückung einer
Mondscheibe an die Zerstückung eines Daches fällt, aber das schleifende
Geräusch, das wir uns vorstellen, weil es das Aufhören im Wort hervor-
ruft und nicht in unserer Vorstellung, hören wir nicht, wie es aufhört,
noch den Staub, den es wirbelt, wie er unerfahren zurückfließt, noch den
Rand, wie er glost, weil ein Brennglas ihn schiebt. Von seinem Ende her
betrachtet, ist das Aufhören im Wort ein schmerzloser Abgang vom
Abschied des Haltens, also ein wortloser Zustand, der aufhört, weil mit
dem Wort das was im Wort das langsame Aufhören hervorruft, anzufal-
len aufgehört hat.9

Pastiors Versuche, der Dynamik zwischen Bewegung und Zeichen sprachlich


nachzuspüren, haben etwas hartnäckig Methodisches und erforschen das gesti-
sche Potential in sämtlichen Sprachschichten, deren jeweilige Eigengesetzlich-
keiten in Form vorhandener oder wechselnder selbst auferlegter Regeln ihm
willkommene Hindernisse sind. Dies können begrenzte Lautvorräte sein, sich
verselbständigende phonetische oder grammatikalische Vorschriften oder auch
Versschemata und Gedichtformen. All diese Vorgaben versteht er, ganz unme-
taphorisch, als Denkmodelle, als irreduzible Handlungsanweisungen, die eine je
eigene Art der „Kenntnisnahme durch Sprache“10 provozieren und mitunter zu
geradezu alchemistischen Materialfügungen führen.11

  8 „gegen unbestimmtheit lesen wir zu schnell, damit im rückspiel klappt, was sonst
vorgang heißt“, Oskar Pastior: Das Unding an sich. Frankfurter Vorlesungen,
Frankfurt/M. 1994, S. 51.
  9 Aus: Oskar Pastior: Höricht, in: Werkausgabe, Bd. 2: „Jetzt kann man schreiben
was man will“, hg. v. Michael Krüger, München 2003, S. 106.
10 Oskar Pastior/Francesco Petrarca: 33 Gedichte, München/Wien 1983, S. 78.
11 Vgl. Oskar Pastior: Jalousien aufgemacht. Ein Lesebuch, hg. v. Klaus Ramm, Mün-
chen/Wien 1987, S. 34: „Wahrscheinlich kommt man nicht herum, sich in einem
speziellen Sinn als Mystiker zu sehen. […] Der im Einzelfall, am Einzeltext also,
die Wirrnis, indem er sie leibhaftig demonstriert, leibhaftig zu entwirren versucht.
Mit leibhaftig meine ich die Sprache als Leib.“
167
  DIE MÖGLICHKEIT DER GESTE

3.

Unter den selbst gewählten und zu Anlässen umgedeuteten Hindernissen findet


sich auch eine beachtliche Reihe von poetischen Auseinandersetzungen mit
fremdsprachlicher Literatur, von denen beispielhaft nur das Petrarca-Projekt
herausgegriffen sei. Es handelt sich hierbei um einen Versuch, den Rime aus
Petrarcas Canzoniere (1327–74) in eigenen Texten zu begegnen, ihre später
petrarkistisch erstarrte Zeichenhaftigkeit als erstmaliges Sprechen zu verstehen
und seinerseits mit Pastiorschen Sprachgesten in Bewegung zu versetzen; der
Klappentext spricht von der „wörtlich-unwörtlichen Erotik eines Denkstreits“.12
Der systematische Charakter und der feststehende motivische Reigen des
Canzoniere müssen dabei ein besonderer Anreiz gewesen sein, ein Anreiz näm-
lich, den Bildern und Bildernetzen ihre Selbstverständlichkeit zu rauben, die
Metaphern, wie es im Nachwort heißt „in statu nascendi zu überraschen“,13 sie
„abzuklopfen, anzurubbeln, wie Abziehbilder; […] um herauszufinden, was sich,
eher matt, monochrom, an Anschauung, Erkenntnisvorgängen, ja vielleicht Er­­
kenntnistheorie ‚darunter‘ verbirgt; bei Petrarca verborgen haben mag.“14 Wobei
es ein „Darunter“ im Sinne außersprachlicher Referenz für Pastior ebenso wenig
gibt wie ein sprachliches „Darüber“, das nicht selbst in seinen Gegenstand ver-
strickt ist.15
Die Aufgabe bestand darin, so zu tun, als ob man von Amors Pfeilen,
Augen und Sternen, bitterer Süße und stummen Schreien zwar schon einmal
gehört habe, ihr Auftauchen aber nicht als bekannte „Anwendungsfälle von“,
sondern als prototypische, Bedeutung erst ermöglichende „Beispiele für“ ver-
stehe – Beispiele für etwas, das eben erst im Entstehen begriffen ist und dessen
Bedeutungen und Nebenbedeutungen aus ihrem momentanen und lokalen Mit-
und Gegeneinander erwachsen.16

12 S. hierzu auch Stefan Matuschek: Im Unerreichbaren heillos verheddert. Oskar


Pastiors ‚Petrarca-Projekt‘, in: Arcadia 29/3 (1994), S. 267–277.
13 Bei Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (wie Anm. 1), S. 232, fin-
det sich ein ganz ähnlicher Hinweis auf die Verlebendigung systematischer Spra-
che im gestischen Akt des Sprechens: „[…] man könnte zwischen sprechender
Sprache und gesprochener Sprache unterscheiden. In der sprechenden Sprache
begegnet uns die Bedeutungsintention in statu nascendi.“
14 Pastior/Petrarca: 33 Gedichte (wie Anm. 10), S. 78.
15 Vgl. Pastior: Das Unding an sich (wie Anm. 8), S. 91: „Und immer noch vom
Unsinn, hier ,über‘ Chaos und ,über‘ Ordnung zu sprechen, so als stünde uns eine
Sprache außerhalb von Chaos und Ordnung zu Gebote; als sei jedes ,Sprechen dar-
über‘ fraglos davon ausgenommen und diesem Spannungsfeld enthoben; ja als sei
das nicht nur möglich, sondern auch tauglich zur Klärung eines Sachverhaltes, der
unbedingt bedingt, also ein Sprachverhalt ist.“
16 Vgl. Pastior: Jalousien aufgemacht (wie Anm. 11), S. 56: „Metaphorisch: bereits das
‚so und nicht anders‘ (‚hier und nicht dort‘, ‚zu diesem und nicht zu jenem Zeit-
168
  Sabine Marienberg

Die von Petrarcas Rime angeregten Dichtungen Pastiors sind, von verin-
selten rhythmisierten Verseinschüben abgesehen, allesamt Prosastücke. Inwie-
fern hier erlittene Bewegung in Eigenbewegung artikuliert wird und sich im
Sinne eines Denkmodells von ihr artikulieren lässt, kann man daher weniger an
Versformen, wohl aber anhand von in ihnen wirksamen Sprach- und Gedanken-
figuren andeuten.
Ein Motiv, das den gesamten Canzoniere durchzieht, ist der Unsagbar-
keitstopos, d.h. der Umstand, dass Petrarca sich außer Stande sieht, seiner so
erfüllenden wie aussichtslosen Liebe zur für ihn unerreichbaren Madonna Laura
sprachlich gerecht zu werden und eben dies zum Ausgangspunkt seines Spre-
chens nimmt. Der so beredt um Ausdruck ringende glücklich-verzweifelte Zwie­­
spalt bringt oft ganze Kaskaden von antithetischen Reihungen, Parallelismen
und Chiasmen hervor, die nur in heutigen Ohren klischeehaft gestanzt wirken.
In der Rima CXXXIV durchweben sich diese so mustergültig, dass sie in späte-
ren petrarkistischen Dichtungen einen fast zwanghaften Mo­­dellcharakter bekam:

Pace non trovo e non ho da far guerra;


E temo, e spero; e ardo e son un ghiaccio;
E volo sopra ’l cielo, e giaccio in terra;
E nulla stringo, e tutto ’l mondo abbraccio.
Tal m’ha in prigion, che non m’apre nè serra;
Nè per suo mi riten, nè scioglie il laccio;
E non m’ancide Amor, e non mi sferra;
Nè mi vuol vivo, nè mi trae d’impaccio;
Veggio senz’occhi, e non ho lingua, e grido;
E bramo di perir, e chieggio aita;
Ed ho in odio me stesso, ed amo altrui:
Pascomi di dolor, piangendo rido;

Egualmente mi spiace morte e vita:


In questo stato son, Donna, per vui.17

Was macht nun aber Pastior aus dieser Vorgabe? Er folgt den Figuren des Hin-
und Hergerissenseins, nur ist das Dilemma, das ihn quält und von seiner Qual

punkt‘) eines Textes; die Privatsprache (Geheimjargon) mit der sich der Autor, im
Vertrauen auf die Solidarität einzelner Leser, gegen die Vereinnahmung durch
totale Zeichensysteme wehrt; der Grundwiderspruch zwischen Sprechen und Spra-
che, dem singulären Material-Akt (Leibhaftigkeit) und, sagen wir, dem Ideologie-
anspruch (Leisten); die Zwischenbereichlichkeit (Physiologie, Naturphänomen,
Erfahrung, Bedeutung, Einklang und Störung…); und sicher noch vieles andere mehr.
Da erschiene mir die Unterhaltung bloß über Stilfiguren doch ein wenig wenig.“
17 Pastior/Petrarca: 33 Gedichte (wie Anm. 10), S. 47.
169
  DIE MÖGLICHKEIT DER GESTE

singen lässt, ein ganz anderers: Das unerreichbare Du ist keine geliebte Frau. Es
ist Petrarca beziehungsweise dessen antithetischer Sprachgestus, der Pastiors
eigene Gesten schmerzhaft bestimmt und in dieser Begrenzung zugleich unab-
lässig herausfordert:

Kein Grund zum Aufhören, kein Grund zum Weitermachen; das


Schlimmste kommt noch, die Hoffnung dauert; ich behaupte zu brennen
und nehme einen Gletscher wahr; wer sagt, daß man nicht anderswo sein
könnte – aber ich bin hier; außerstande, etwas zu besitzen, umarme ich
die Welt: Du bist die Klammer, die mich weder schützt noch bedroht,
weder ein- noch ausschließt; darum ist auch mein Inbild von dir weder
tödlich noch gesund – es braucht mich so wenig wie es mich losläßt; bald
werden die Sinne ersetzt – womit hörst du, wenn ich keinen Mund habe?;
im Begriff, nicht mehr zu sein, klammere ich mich an ihn; im Eigensinn
„den ich hasse“ liebe ich „was ich nicht habe“ – am Widerspruch mich
weidend, tun mir die Paare weh; Ja und Nein sind mir gleichermaßen
verdächtig; so also steht und fällt es, Partner, um mich durch dich.18

Eine Verschmelzung mit dem Objekt der Sehnsucht ist hier ebenso wenig
erwünscht wie dort, fiele damit doch der Grund zum Weitersprechen weg; und
das von Petrarca vielfach formulierte Ungenügen an den eigenen Versen gerät
Pastior zum Zweifel am Sinn seiner strategischen Annährung an den Canzoniere,
von der er doch nicht lassen kann: „Das Schlimmste kommt noch, die Hoffnung
dauert.“
Dass Pastiors Verse Petrarca-Gedichte sind, so wie Petrarcas Rime Laura-
Gedichte, zeichnet sich schon im ersten Text des Bandes ab, der Petrarcas allite-
ratives Spiel mit dem Namen der nie explizit genannten Laura zunächst aufgreift,
dann aber an die Leerstelle der nur in sprachlichen Umkreisungen verkörperten
Geliebten Petrarca setzt: „Wenn um mir Luft zu machen ich den Laut bewege,
der dich bei mir ‚wie eingefleischt‘ vertritt“.19 Verständlich werden Pastiors
Gesten nur, wenn man sie als Figuren der aktiven Hingabe an Petrarcas fremdes
Sprechen liest, ohne die das eigene gestaltlos bliebe: „Aber was wäre ‚im eigenen
Namen‘ denn anderes als ‚im Hinblick auf dich‘?“20
Um Übersetzungen im eigentlichen Sinn geht es hier nicht, eher schon
um eine Art widerstrebende, bisweilen rebellische Aneignung, in der immer
neue Durchlässigkeiten und Abgrenzungen zwischen Petrarcas und Pastiors

18 Ebd., S. 11.
19 Ebd., S. 7.
20 Ebd., In der Aneignung der Rima CXXXIV verschiebt sich dann auch das Spiel mit
dem ‚L‘ zum Petrarca und Pastior gemeinsamen ‚P‘: „am Widerspruch mich wei-
dend, tun mir die Paare weh […] so also steht und fällt es, Partner, um mich durch
dich.“
170
  Sabine Marienberg

Texten zum Vorschein kommen.21 Der Gedanke an eine Übersetzung wäre übri-
gens schon deshalb verfehlt, weil Pastior gar kein Italienisch sprach. Zwar war
ihm durch das vertraute Rumänisch das Italienische nicht völlig fremd, aber
doch fremd genug, um die Unternehmung abenteuerlich werden zu lassen; und
wo sich im Verlauf der Arbeit Fremdes in Bekanntes aufzulösen drohte und
Petrarcas Dichtung Zeichencharakter annahm – wo also im Grunde nichts mehr
entgegenkam, weil es zunehmend schon da zu sein schien – hat Pastior Wörter-
bücher und Grammatiken konsequent dazu benutzt, seine Gewissheiten zu zer-
streuen und den Wörtern und Konstruktionen ihre Vieldeutigkeit zurück­­zu­
verleihen. Die entgegenkommende Sprache Petrarcas war insbesondere auch
deshalb gegen übereilte Verständnisversuche schützenswert, weil, wie er schreibt,
„unter der Kuppel der fremden Sprache … ihre Eigengeräuschlichkeit überdeut-
lich wird“,22 also eine weitere leibhaftige Sprachschicht, an der es sich zu reiben
lohnt.

4.
Auch innerhalb ein und derselben Sprache gibt es Eigengeräuschlichkeiten,23 die
in ihrer folgenreichen Verflechtung mit Syntax und Semantik eine Art gegen-
seitiges gestisches Differenzierungsgeschehen auslösen. Obwohl ein Gedicht-
band Pastiors speziell als Höricht betitelt ist, richten sie sich doch allesamt auch,
wenn nicht sogar vornehmlich, an das Gehör.24 Dem „Unsinn, Text auf Musik

21 Vgl. Pastior: Jalousien aufgemacht (wie Anm. 11), S. 23: „Es gibt […], streng
genommen, kein Übersetzen. Nur Konfrontation, Begegnung mit der Grenze, die
Illusion des Kennens und Lernens – und wie ich sprachlich reagiere“; Pastior: Das
Unding an sich (wie Anm. 8), S. 99: „Nur solange ‚meine Petrarca-Gedichte‘ unver-
gleichlich erscheinen, schenkt der Leser ihnen Glauben, oder nicht.“
22 Pastior/Petrarca: 33 Gedichte (wie Anm. 10), S. 78.
23 Mit Bezug auf den Band Oskar Pastior: Lesungen mit Tinnitus: Gedichte 1980–85,
München/Wien 1986, spricht Pastior vom Tinnitus als „eine[r] Art Metapher für
das Eigengeräusch des Materials ohne das es nicht funktioniert; für die grundsätz-
liche Unreinheit von Sprache und Denken schlechthin.“ Pastior: Jalousien aufge-
macht (wie Anm. 11), S. 179.
24 „Eine materiale Auffassung von Sprache setzt immer auch auf Lautung. Selbst
wenn sie die klanglich nicht auffälligen Dinge wie Relationen, Wertigkeiten von
Absenzen, Syntagmatisches und Spielregeln (oder Verstöße gegen sie) ebenfalls
durchaus zu den Materialien zählt. Die Haut (der Laut) ist mir dabei näher als das
Hemd (die Letter)”, so Pastior in Michael Lentz: Interview mit Oskar Pastior, Salz-
burg, 13.6.1996, in: ders.: Lautpoesie/ -musik nach 1945. Eine kritisch-dokumenta-
rische Bestandsaufnahme, Bd. 2, Wien 2000, S. 1089–1096, S. 1089. Zum Klangli-
chen bei Pastior s. insbesondere Ludwig Harig: Der Mensch mit dem geflügelten
Ohr. Oskar Pastior und seine Hör-Poesie, in: Klaus Schöning (Hg.): Hörspielma-
cher. Autorenporträts und Essays, Königstein/Ts. 1983, S. 257–265; Klaus Ramm:
Zehrt das Ohr vom Ohr das zehrt. Ein Radioessay über die verschlungene Akustik
171
  DIE MÖGLICHKEIT DER GESTE

zu reduzieren“ misstraut Pastior allerdings ebenso wie dem „Unsinn, Text auf
ein Sinnkonstrukt zu reduzieren“:25

Und die Musik des Textes ist eben nicht nur die physikalische Frequenz
der Vokaltöne und Mitlautgeräusche oder die rhythmische Kaskade im
Silbenfall – Sprachmusik kommt ja, und das ist ihre Stärke, vor allem aus
dem Beziehungsgeflecht der Sprache selber, den Tentakeln der Gramma-
tik, der Syntaxerfüllung (oder Nichterfüllung), der assoziativen Weiter-
führung (oder Streuung, oder Blockade), den logisch-alogischen Interfe-
renzen – ein ganzes Gewimmel von Vorgängen und Nachdenklichkeiten,
die „hinter“ der Akustik stattfinden, auch wenn sie über die akustisch ver-
nehmbaren Sätze laufen. Man sollte also nicht zu leichtfertig unter Sprach-
musik nur diese mimetisch-abziehbildchenhafte ‚Lautmalerei‘ verstehen.26

Bei dem Experiment, lautlich vollzogene Unterscheidungen semantisch und syn-


taktisch wirksam werden zu lassen, hat man es mit einem Hören durch Spre-
chen zu tun – mit einer doppelten gestischen Konturierung, die aus einer Art
hochsensiblem gegenseitigem Nachlauschen entsteht und so die Eigenbewegun-
gen beider Bereiche überzeichnet. Erleiden und Hervorbringen der Geste schlie-
ßen einander nicht aus.27 Im Abschnitt Der Leib als Ausdruck und die Sprache
bemerkt Merleau-Ponty, dass „dem geglückten Ausdruck die Bedeutung ein
Dasein im Text gleich dem eines Dinges, ein Leben im Organismus der Worte
verdankt, daß sie dadurch dem Schriftsteller und dem Leser gleichwie ein neues
Sinnesorgan zuwächst und so durch den Ausdruck sich uns ein neues Erfah-
rungsfeld, eine neue Erfahrungsdimension eröffnet.“28

in der Poesie Oskar Pastiors, in: Jörg Drews (Hg.): Vergangene Gegenwart – Gegen-
wärtige Vergangenheit. Studien, Polemiken und Laudationes zur deutschsprachi-
gen Literatur 1960–1994, Bielefeld 1994, S. 73–96.
25 Pastior: Das Unding an sich (wie Anm. 8), S. 76.
26 Stefan Sienerth: Interview mit Oskar Pastior: „Meine Bockigkeit, mich skrupulös
als Sprache zu verhalten“, in: ders.: „Daß ich in diesen Raum hineingeboren wur-
de...“. Gespräche mit deutschen Schriftstellern aus Südosteuropa, München 1997,
S. 199–216, S. 216.
27 Während einer Probe zur Freischütz-Ouvertüre mit dem Südfunk-Sinfonieorche-
ster bat Carlos Kleiber die Musiker, bei den ersten Tönen nicht selbst mit dem
Spielen zu beginnen, sondern die anderen anfangen zu lassen. Diese nur vorder-
gründig widersinnige Anweisung hatte nicht etwa eine endlose Generalpause zur
Folge, sondern vielmehr ein empfindliches Aufeinander-Hören, aus dem allmäh-
lich ein tastend-wartender Klang hervorging; Carlos Kleiber. Probe und
Aufführung (2008, Naxos). Ausführlich zu Kleiber s. den Beitrag von Ulrich
Mosch in diesem Band.
28 Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (wie Anm. 1), S. 216. Pastior
spricht vom „Wort als Ohr der Kognition“. Pastior: „Jetzt kann man schreiben was
man will“ (wie Anm. 9), S. 339.
172
  Sabine Marienberg

In einem seiner bekanntesten Lautgedichte, Testament auf jeden Fall,


greift Pastior zurück auf sein allererstes Gedicht. Es besteht aus vier Wörtern –
„Jalousien aufgemacht, Jalousien zugemacht“ – und veranschaulicht laut einer
autobiographischen Notiz „den siebenbürgischen Sommernachmittag eines
Kindes in Hinsicht auf die Nichtverlässlichkeit geschlossener Räume“.29 Analog
zum Öffnen und Schließen der Jalousien geht es um Gegensatzbildung im Klein-
sten, Mittleren und Großen. Hierdurch wird ein Faltungs- und Entfaltungspro-
zess in Gang gesetzt, die der Prädikator ‚Jalousie‘ solange (verborgen) in sich
trägt, bis er ihn, durch Sprachbewegung, auch sichtbar zur Schau trägt:

Testament – auf jeden Fall

Jalousien aufgemacht, Jalousien zugemacht.


Jaluzien aufgerauft, Zuluzien raufgezut.
Luluzien zugemault, Zulustoßen zugemault.

Maulusinen angenehm, Aulusinen zugenehm.


Zufaliden aftamat, Infaliden aftamat. A-
fluminion zugesaut, Aluflorion zugebart.

Marmelodien zusalat, Marmeloiden busalat.


Aufgemalt o aufgemalt, zugedaut o zuge-
duzt. Duzentrum o Lepenslau, Hufenbruzen

Openbrekt. Primolimes Heiferzocht, Bene-


lalia Zuverzum. Ma mu, Amarilles off off.
Bulamanium Absalom, Albumenium Zusalon.

Nostradamul Hanomag, Lanatolior Gartem-


slauch. Futusilior Abfallgeist, Mutuna-
lia Pirrenholst. Zephaluden Enziaul, Ze-

phaleden Ychtiol. Nebelnieren Löwentran,


V-Scharnieren Besenraum. Ebeltüren C-Streu-
salz, Aventuiren Abstrahldom. Stalagmisda

Oberom, Virostrato Luftballon. Jalopeten


angemacht, Sulalaika Kukumatz. Mulu aufu,
mulu zuzu, zuzu muz. Monte Ma o Monte Zu.30

29 Pastior: Jalousien aufgemacht (wie Anm. 11), S. 215.


30 Ebd., S. 215f.
173
  DIE MÖGLICHKEIT DER GESTE

Es sind die interferierenden, sich überlagernden und durchkreuzenden Laut-


und Bedeutungsbewegungen, die momentan und überraschend ihre jalousien-
haften Konturen aufblitzen lassen. Man erlebt ein Überspringen von klangli-
chen auf gedankliche Assoziationen, ein atemloses Vorwärtsdrängen, erstauntes
Nachfolgen oder sich Verfangen in Wiederholungen, ein anschließendes Wie-
deraufnehmen eines akustischen Fadens, semantische Auffächerungen, die wenig
später in Assonanzen zersplittern – wodurch die Sprache letztlich sich selbst
abzutasten beginnt und die Bemerkung über die Unzuverlässigkeit geschlosse-
ner Räume eine ganz andere Dimension gewinnt.31
Die Erfahrung einer so unermüdlichen Durchführung lässt sich schwer-
lich subsumierend aussagen, und selbst ein vermeintlich metapoetisches Spre-
chen, wie etwa in den Gedichtgedichten, ist ein nur vordergründiges „Sprechen
über“, das seinen Vollzug gleichermaßen vorführt und verlangt.

in der ersten zeile steht ein A und noch ein A es sind die beiden A der
ersten zeile in der zweiten zeile steht ein A und noch ein A es sind die
beiden A der ersten zeile aber untereinander vertauscht in der dritten
zeile steht ein A und noch ein A es sind nicht mehr die beiden A der
ersten zeile sondern die beiden A der vierten zeile allerdings untereinan-
der vertauscht das kommt in der vierten zeile zum vorschein wo ein A
steht und noch ein A also die beiden A der vierten zeile allerdings unter-
einander nicht vertauscht das gedicht kann horizontal und vertikal gele-
sen werden wodurch die wirkung frappant gesteigert wird bitte nach-
zeichnen.32

Der abschließenden Bitte durch die Anordnung von je zwei ‚A‘ in vier Zeilen
Folge leisten zu wollen, ohne auch den bewegten Hergang ihrer Vertauschungen
zu veranschaulichen, würde sie zweifellos unerfüllt lassen. Das bloße Vorführen
des Formschemas „A A“ bleibt ebenso leer, wie eine zwar behauptete, aber nicht
sinnfällig gemachte Interpretation der internen Beziehungen der Formelemente
fragwürdig ist. Um die abenteuerliche horizontale und vertikale Dynamik wirk-
sam werden zu lassen, müssten das abstrakte Schema und seine leibhaftige Ver-
wirklichung sich zeichnerisch in einer Weise durchdringen, die das zeitlose
Modell zugleich mit seiner einzigartigen Genese zu erfassen erlaubt.

31 Von Pastior selbst gelesen nachzuhören auf: Oskar Pastior. Die Letzte Les-
art (2007, Hörbuch Verlag).
32 Oskar Pastior: Gedichtgedichte, München 1976, S. 10; ebenfalls von Pastior vorge-
tragen zu hören auf: oskar pastior. die Letzte Lesart (wie Anm. 31).
174
  Sabine Marienberg

5.

Die Aufforderung zum Nachzeichnen in Form eines Nachvollzugs, der von


Mimesis nichts wissen will, ist unter anderem wörtlich zu nehmen. Pastior selbst
ist ihr vielfach in Zeichnungen nachgekommen, die sich als durchgeführte Arti-
kulationen seiner Denkmodelle in einem anderen Medium verstehen lassen –
zeichnerische Kenntnisnahmen der eigenen Verfahren, die, einmal begonnen,
ebenso wie die sprachlichen Kenntnisnahmen zur Verselbständigung neigen.33
Eine der bemerkenswertesten zeichnerischen Kenntnisnahmen findet
sich, unter zahlreichen anderen, in dem kleinen Band „sestinenformulate“.
monadengraphiken und minisestinen.34 Umgetrieben wurde Pastior in diesem
Projekt von den transformatorischen Entfaltungsmöglichkeiten, die sich in den
Handlungsanweisungen für das Verfassen von Sestinen verbergen. Die Herstel-
lungsregel für eine Sestine, eine ursprünglich provenzalische Gedichtform aus
sechs Strophen zu je sechs Zeilen und einer dreizeiligen Coda, besteht in der
fortgesetzten Vertauschung der Endwörter der sechs Zeilen der ersten Strophe
in den nachfolgenden: Aus 1-2-3-4-5-6 wird 6-1-5-2-4-3 wird 3-6-4-1-2-5…, bis
nach sechs Durchläufen in der Coda die Endwörter, jeweils in der Mitte und am
Ende der Zeile, wieder in der Ausgangsreihenfolge aufgegriffen werden. Das
fortlaufende Durchspielen von Endwörterkombinationen schafft ein vielfältiges
internes Echo in immer neuen Brechungen, wodurch der präsentierte Gedanke
unermüdlich vertieft und gleichzeitig ins Unendliche fortgesponnen und fort-
spinnbar erscheint. Dies ist ein auf den ersten Blick schlichtes, beim Versuch
seiner graphischen Aneignung aber zur Verzweiflung treibendes generatives
Prinzip, ein Denkmodell mit unabsehbaren Folgen, das zunehmend nach der
dritten und vierten Dimension zu verlangen scheint (Bild 1).
Die Zeichnung trägt den Schriftzug Mit der Zeit von Laokoon lernen –
ein Bezug sowohl auf das Leiden an der Sestine als auch auf die von Lessing
vorgenommene Unterscheidung zwischen Poesie und bildenden Künsten, d.h.
die scharfe Trennung der Dichtung, die aufeinander Folgendes in seiner ganzen
Vielfalt zeigt, von Malerei und Skulptur, die nebeneinander Existierendes in
einem einzigen Augenblick darstellen. Die vierte Dimension wird im Titel zwar
ausdrücklich genannt, muss in der Betrachtung der bildlichen Darstellung aber
erst geduldig investiert werden. Um das lose verknotete Gebilde – das durch die
gestrichelten Linien so plastisch greifbar wirkt, dass es eine Berührung gerade-
zu herausfordert – zu verstehen, muss man es leibhaftig erfassen. Was beim

33 Vgl. Sienerth: Interview mit Oskar Pastior (wie Anm. 26), S. 208: „Wenn ich hin
und wieder zeichne, bin ich neugierig, was für eine Aufgabe ‚dieser Stift da‘ löst,
indem er sie stellt.“
34 Oskar Pastior: „sestinenformulate“. monadengraphiken und minisestinen, Paris
2003 (La Bibliothèque Oulipienne numéro 126).
175
  DIE MÖGLICHKEIT DER GESTE

Bild 1  Oskar Pastior: „sestinenformulate“: Mit der Zeit von Laokoon


lernen.

bloßen Hinsehen verborgen bleibt, enthüllt sich, sobald man die Schlingen des
Knäuels kontinuierlich mit dem Finger verfolgt: Um einen in Form einer liegen-
den Acht gedrehten Strang ohne Anfang und Ende windet sich ein weiterer,
dessen freundlich dargebotene Enden zu Unrecht glauben machen, dass ein
leichter Zug daran genügen würde, um das ganze Gefüge weich in ein einziges
Band auseinander fallen zu lassen.35
Wir haben es mit einer im Grunde unmöglichen Figur zu tun, in der
zeitloser Augenblick und zeitlicher Vorgang einander durchschleifen und weder
in ein augenblicklich klares Nebeneinander zu bringen sind, noch allein mit dem
den Windungen folgenden Finger erschlossen werden können.36 Bei dem Ver-
such, die Beziehungen zwischen einem zu Grunde liegenden Schema und seiner
Verwirklichung selbst gestisch anschaulich zu machen, gerät man unweigerlich
in ein Dilemma zwischen Wissen und Tun. Der so unwiederholbare wie ewige
Gegenstand wird nur im unterschiedenen Miteinander von durchlaufener Bewe-
gung und Vergegenwärtigung des Modells gewonnen, im Auffinden der grenz-

35 S. hierzu auch den Essay von Ann Cotten: Zum Stillschweigen, Brüllen und For-
mulieren, mit einer Bemerkung über die Möbiusschleife, in: Heinz Ludwig Arnold
(Hg.): Oskar Pastior. Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur 186/IV, 10 (2010),
S. 59–64.
36 Dies gilt auch für die durchgeführte Sestine: „Denn durch den anamorphotischen
Innen-Außen-Spiegel betrachtet, etwa einer Möbiusschleife, wäre sie [d.h. die Sesti-
ne] ja die Zeitlupe „in effigie“ (also auf zeitenthobenem Papier) bzw. der Raumraf-
fer im Prozeß – Ding und Unding in einem.“ Pastior: Das Unding an sich (wie
Anm. 8), S. 86f.
176
  Sabine Marienberg

bildenden Kontur, die abhanden kommt, solange man sich nur auf den motori-
schen Vorgang oder den schematisierenden (Rück-)Blick verlässt.
Wie die zeichnerische ist auch die Kenntnisnahme durch Sprache – ob
diese nun als Deutsch, Italienisch, Sestine,37 Sonett, Anagramm oder Palindrom
auftritt – eine gegenseitige, d.h. die Kenntnisnahme eines Modells im leibhafti-
gen Vollzug und umgekehrt. Der einmalige Sprechakt ist die unableitbare Ver-
wirklichung eines Schemas, das ihn sowohl ermöglicht als auch aus ihm hervor-
geht. Es ist die ursprüngliche Geste, die der kontinuierlichen Bewegung Form
gibt und das sprachliche Modell bewegt.38

6.
Das plötzliche Innehalten, die rückblickend potentiell zum Zeichen gerinnende
Geste samt dem dadurch entstehenden Spalt inmitten eines kontinuierlichen
Vorgangs, hat immer auch etwas Gespenstisches – und ist doch notwendig, um
zeitliche Verläufe überhaupt artikulieren zu können. In den Tanztraktaten der
Renaissance wurden solche Einschnitte durch eine ebenfalls gespenstische Meta-
pher fasslich zu machen versucht, nämlich durch die Vorstellung von fantasmata,39
wellenartig fließenden Schatten in schwer greifbarer Bewegung, die in gewissen
Momenten durch die Vorstellung wirkmächtiger Bilder plötzlich todesähnlich
einfrieren und sogleich wieder in einen lebendigen Schwung überführt werden.
So sollte der Tänzer in der Bassa Danza zwischen einer langsamen ausgreifen-
den und einer anschließenden schnelleren und kürzeren Bewegung für einen
kaum wahrnehmbaren Augenblick erstarren, als habe er geradewegs die Medu-
sa erblickt – um unmittelbar darauf, dem Aufflug eines hungrigen Falken gleich,
zu neuer Lebendigkeit zu finden. Was durch den imaginierten Anblick des
Medusenhauptes entstand, war eine im Moment versteinerte Geste, konturiert
durch die haarfeine Zäsur, die einen Schritt und den nächsten, Langsam und
Schnell, Schwer und Leicht voneinander trennt und die so hergestellten lokalen
Polaritäten als zwei auf einander bezogene Momente eines individuell geglie-
derten Vorgangs ersichtlich werden lässt.

37 Ebd., S. 86: „Linguistisch besehen aber wäre die Sestine […] natürlich bloß eine
unter vielen Sprachen […] eigenwilliger vielleicht, so hoffe ich, als andere Spra-
chen, deren es noch und noch gibt.“
38 Vgl. Pastior: Das Unding an sich (wie Anm. 8), S. 102: „Sprachen sind eben nicht
nur bewegliche Normen, sondern auch die normenbewegenden Texte; und ein Text
lebt, weil er, singulär, Normen nicht gerecht wird und das auch weiß (wer sonst?).“
39 S. Fifteenth-Century Dance and Music. Twelve Transcribed Italian Treatises and
Collections in the Tradition of Domenico da Piacenza, vol. 1: Treatises and Music,
Translated and Annotated by A. William Smith, Hillsdale, NY 1995, S. 12, S. 88;
s.a. Jennifer Neville, The Eloquent Body. Dance and Humanist Cultur in Fifteenth-
Century Italy, Bloomington 2004, S. 70 u. 86f.
177
  DIE MÖGLICHKEIT DER GESTE

In der Aufzeichung von Carlos Kleibers Proben zur Freischütz-Ouvertü-


re bemerkt man erstaunt, dass fantasmata auch noch im 20. Jahrhundert durch
die musikalische Praxis geistern: „Glauben sie an Geister?“, fragt Kleiber die
Musiker. Gemischte Reaktionen aus dem Orchester lassen annehmen, dass nicht
alle gleichermaßen empfänglich für übernatürliche Erscheinungen sind. „Egal“,
lautet die Antwort, „für die Dauer dieser Ouvertüre: Glauben sie an Geister!“ 40
Ob die Musiker nun selbst als Geister agieren oder sich von ihnen umge-
ben fühlen sollen, ist hier nicht zentral. Zu fragen wäre eher, ob die Geister, von
denen Kleiber spricht, überhaupt noch eine gestisch gliedernde Kraft im Sinne
einer ursprünglichen Erfahrung besitzen, oder ob sie längst selbst zum Zeichen
geworden sind, indem wir etwa vor dem Hintergrund des romantischen Reigens
seliger Geister recht genau wissen, was wir uns darunter vorzustellen haben.
Oder inwiefern man es beim die musikalische Bewegung artikulierenden Schlag
des Dirigenten nicht nur mit einer zeichenhaften Wiederkehr des Gleichen zu
tun hat, sondern auch mit Gesten, die zunehmend zum bestürzend Unvergleich-
lichen werden und sich selbst mehr und mehr in Bewegung auflösen, wenn man
„das Brennglas auf das Aufhören im Wort [oder Schlag] hält“ und der „Staub,
den es wirbelt […] unerfahren zurückfließt.“41

40 Carlos Kleiber. Probe und Aufführung (wie Anm. 27).


41 Pastior: Höricht (wie Anm. 9), S. 106.
V I . B i l da k t e
Elisabeth Oy-Marra

VOR SIC H T! A M OR S C H I E S S T
AU F D E N BE T R AC H T E R
Guercinos Mars und Venus als handelndes Bild

Kaum einer hat mögliche Konsequenzen der Bildbetrachtung so eindringlich


geschildert wie Giambattista Marino in dem Gedicht Statua di Bella Donna, in
dem die Wirkung einer Porträtskulptur einer schönen Frau beschrieben wird:

La figura ritratta
Medusa mi rassembra.
La scultura si è fatta.
Ch’altrui cangia le membra.
Già già sento cangiarmi a poco a poco
Di fuor tutto in macigno, e dentro in foco.
[…] E sì di senso lo stupor mi priva,
Ch’io son quasi la statua, ella par viva.1

Der in diesen Zeilen als Austausch von Bild und Betrachter beschriebene Vor-
gang der Bildbetrachtung setzt das Bild, von dem ein Verwandlungsprozess aus-
geht, als ein „auf Augenhöhe“ handelndes. Der Betrachter ist nach dem eindring-
lichen Anblick des schönen Bildnisses nicht mehr der gleiche, sondern bleibt in
seinem Erstaunen starr und regungslos, während das Bild stattdessen zum Leben
erwacht. Gleich zu Beginn bindet Marino den von ihm beschworenen reziproken
Prozess der Bildbetrachtung an den Blick der Medusa zurück, der der Mythologie

1 Giambattista Marino: La Galeria [1619], hg. v. Marzio Pieri/Alessandra Ruffino,


Trento 2005, S. 405; Giambattista Marino: La Galeria, zweisprachige Auswahl (Ita-
lienisch–Deutsch), übers. v. Christiane Kruse/Rainer Stillers, Mainz 2009, S. 348f.:
„Das Porträt scheint mir Medusa zu sein. / Die Skulptur ist so gemacht, / dass sie
anderen die Glieder verwandelt. / Schon fühle ich nach und nach mich wandeln, /
außen ganz in einen Felsblock und innen in Feuer. […] /Und so sehr raubt mir die
Statue die Sinne, / dass ich beinahe die Statue bin und sie lebendig scheint“; vgl. a.
Elizabeth Cropper: The Petrifying Art. Marino’s Poetry and Caravaggio, in:
Metropolitan Museum Journal 26 (1991), S. 193–212.
182
  Elisabeth Oy-Marra

zufolge all jene, die von ihm getroffen wurden, in Stein verwandelte. In Marinos
Gedicht geht die Verwandlung des Angeblickten jedoch nicht von der Medusa
aus, sondern von dem Porträt einer Frau. Es ist hier nicht das von Leonardo und
Caravaggio gemalte furchteinflößende Antlitz der Gorgo, sondern im Gegenteil
der Blick einer Schönheit, der eine vergleichbare Wirkung entfaltet.
Der Medusenblick und insbesondere dessen Beschreibung von Marino
spielt auch heute noch für bildtheoretische Fragen, so zum Beispiel in Horst
Bredekamps Theorie des Bildakts, eine große Rolle.2 Tatsächlich lässt sich gera-
de an diesem wie eine Waffe wirkenden Blick eine besondere, auf den Betrachter
zielende Wirkung konstatieren, die seinen Blick auf das Bild zu verwandeln ver-
steht: Anstatt das Bild durch seinen Blick zu beherrschen, ist es der Blick aus dem
Bild, der Macht über den Betrachter gewinnt. Der von Bredekamp anhand des
reziproken Blicks entwickelte intrinsische Bildakt markiert daher eine der For-
men des handelnden Bildes.
Ob und wie uns ein Bild ansieht, ist jedoch nicht allein an den Blick aus
dem Bild gebunden. Georges Didi-Huberman hat die Frage, wann wir uns von
einem Bild oder Objekt angesehen fühlen, auch an Beispielen aufzeigen können,
die keine Repräsentationen von etwas darstellen. Der Akt des Sehens ist ihm
zufolge nicht die „Tätigkeit einer Wahrnehmungsmaschine, der die Wirklich-
keit als aus tautologischen Evidenzen zusammengesetzt erscheint. Der Akt des
Zu-sehen-Gebens besteht nicht darin, Augenpaaren sichtbare Evidenzen zu
geben, damit sie sich der ‚visuellen Gabe‘ einseitig bemächtigen, um damit ein-
seitig Befriedigung zu erlangen.“3 Der Akt des Zu-sehen-Gebens muss statt-
dessen das Subjekt beunruhigen können.4 Dies kann genauso gut durch Dinge
des täglichen Lebens geschehen, auch wenn die Kunst hierbei eine Sonderstel-
lung einnimmt. Bilder der Kunst seien nämlich in der Lage, so die These Didi-
Hubermans, die psychischen Bedingungen einer Beunruhigung des Sehens
präsentieren zu können.5 Die Beunruhigung des Sehens im Sinne Didi-Huber-
mans gehört zu den Voraussetzungen für das handelnde Bild. Der Medusenblick

2 Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007,


Berlin 2010, S. 233–306, S. 236.
3 Georges Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des
Bildes, München 1999, S. 61f.
4 Didi-Huberman betont, dass das „Sehen stets eine Operation eines Subjekts [ist],
also eine gespaltene, unruhige, bewegte, offene Operation“. Ebd., S. 62. Die Frage,
wann und warum sich der Betrachter von einem Bild oder von einem Objekt ange-
blickt sieht, denkt er dialektisch als ein Spiel mit den das Subjekt umgebenden
Dingen, ihrer Präsenz und Absenz. Es sind vor allem die minimalistischen Kuben
von Tony Smith, anhand derer er die verstörende, das Sehen in Unruhe versetzen-
de Macht aufzeigt; s. ebd., S. 63–101.
5 Ebd., S. 81.
183
  VORSICHT! AMOR SCHIESST AUF DEN BETRACHTER

Bild 1  Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino: Mars, Venus und Amor,
1633, Öl auf Holz, 139 × 161 cm, Modena, Galleria d’Este.

gehört sicherlich zu den wirkmächtigsten Möglichkeiten, einen frühneuzeitli-


chen Betrachter verstören zu können.

1. Der b egeh rl ic he Bl ic k des Be t rac hter s


Im Folgenden möchte ich ein wenig diskutiertes Gemälde des Malers Francesco
Barbieri (1591–1666), Mars und Venus, in die Diskussion einbringen, welches
das handelnde Bild geradezu wörtlich in Szene zu setzen scheint (Bild 1).6 Die
Bildhandlung ist gleichsam auf den Betrachter bezogen, ohne dass dies jedoch
allein durch Blicke geschieht. Vielmehr sind es die Gesten, die sich an den
Betrachter wenden, so als könne er Gegenstand der Bildhandlung werden. Wenn
Guercinos Gemälde auch nicht als „kritisches Bild“ im Sinne Walter Benjamins
diskutiert werden kann, so nimmt es doch ohne Weiteres den Stellenwert einer

6 Zum Gemälde vgl. Ausst. Kat.: Giovanni Francesco Barbieri. Il Guercino 1591–1666,
hg. v. Denis Mahon, Bologna 1991, Nr. 77, S. 212–214.
184
  Elisabeth Oy-Marra

Bild 2  Jacopo Tintoretto: Vulkan überrascht Venus und Mars, um 1555,


Öl auf Leinwand, 135 × 198 cm, München, Alte Pinakothek.

gemalten Kunsttheorie ein,7 von der aus die These, es handele sich um ein aktives
Bild, einen Aktanten im Sinne Bruno Latours im Hinblick auf seinen Betrach-
ter, erst aufgezeigt werden kann.
Dargestellt ist eine mythologische Szene, wie sie sehr häufig gemalt wur-
de: An den drei Protagonisten der Handlung, Mars, Venus und ihrem Sohn, dem
Amorknaben, lässt sich erkennen, dass die Szene vom illegitimen Liebesver-
hältnis zwischen Venus und ihrem Liebhaber Mars handelt. Anstatt nun aber
das Liebesverhältnis in Szene zu setzen, wie dies etwa Tintoretto mit viel Humor
getan hatte (Bild 2), wird die Erwartung des Betrachters abrupt verunsichert.
Angezogen von der Schönheit der nur dürftig mit einem Tuch bedeckten Göttin,
die auf dem dicht an den Bildrand herangerückten Bettlager sitzt, scheint der
Betrachter Venus tatsächlich für sich interessiert zu haben, denn diese wendet
sich ihm verhalten zu, ohne ihn jedoch anzublicken, während sie von ihrem
empörten Liebhaber, der im Hintergrund herrisch den schweren Samtvorhang
vorgezogen hat, keine Notiz nimmt. Noch überraschender ist jedoch das Ver-
halten des kleinen Amorknaben, der – dem blinden Amor spottend – es ganz und
gar auf den Betrachter abgesehen hat. Sein Pfeil ist tatsächlich allen Grenzen des

7 Zum Begriff des kritischen Bildes vgl. Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns
an (wie Anm. 3), S. 159–190.
185
  VORSICHT! AMOR SCHIESST AUF DEN BETRACHTER

Bild 3  Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino: Venus, Mars, Cupido


und der Vater Zeit, um 1624/26, Öl auf Leinwand, 127 × 175 cm,
Altrincham, National Trust.

Bildes zum Trotz genau auf ihn gerichtet. Er zielt so direkt und unverwandt auf
ihn, dass man vor dem Bild nur in Deckung gehen kann, will man nicht von
diesem verhängnisvollen Pfeil getroffen werden. Dabei folgt er den Weisungen
seiner Mutter, die ebenso unverhohlen mit ihrem rechten Zeigefinger aus dem
Bild weist. So unmissverständlich Zeigefinger und Pfeil auch aus dem Bild
herausweisen, werden die Gesten doch gemildert, weil die Blicke der Göttin und
ihres Sohnes unbestimmt bleiben. Sie treffen sich nicht mit dem des Betrachters,
sondern schauen diesen scheinbar aus höheren Gefilden an, ohne eine Konfron-
tation mit dem Ziel ihres Handelns anzustreben. Dass es Venus ist, die ihrem
Sohn befiehlt, wird nicht nur durch ihren Zeigegestus deutlich. Vielmehr stützt
sie sich mit ihrer linken Hand auf dem Köcher mit den Pfeilen ab und macht so
abermals deutlich, dass nicht ihr Sohn, sondern sie selbst Herrin über diese
Geschosse und damit die Auftraggeberin des Knaben ist. Damit weicht der
Maler in zweifacher Hinsicht von der kodifizierten Ikonographie von Mars und
Venus ab: Nicht nur ist im Bild nun der Liebhaber der Göttin, Mars, mit der
Untreue seiner Geliebten konfrontiert, die er – nicht anders als sein Rivale, der
ewig betrogene Ehemann Vulkan – durch das beherzte Lüften des Vorhangs beim
Versuch überrascht, mithilfe ihres Sohnes einen neuen Liebhaber zu finden. Auch
nimmt Guercino durch den Verzicht auf die Augenbinde Amors Abstand von
der humanistischen Interpretation, die den „blinden“ Amor, der eben nicht auf
186
  Elisabeth Oy-Marra

bestimmte Personen mit seinem Liebespfeil zielt, sondern blind und damit
zufällige Opfer findet, zum Gegenstand hatte.8
Mit diesen deutlichen Abweichungen erweist Guercino sich als einer
jener Maler, der sich in der Nachfolge Caravaggios nicht mehr sklavisch an die
ikonographische Tradition hält, sondern mit seinem Gemälde interpretierend
eingreift, indem er mythologisch-ikonographische Diskurse im Bild weiterdenkt.
Ähnliches hatte der Maler bereits zehn Jahre zuvor getan, als er Venus, Mars und
den Vater Zeit darstellte und zwischen ihnen den Amorknaben, den Venus mit
dem gleichen aus Eisen geschmiedeten Netz bedeckt, mit dem Vulkan sie und
ihren Liebhaber einst während des Liebesaktes gefangen genommen hatte (Bild
3).9 Die dabei entstehende Ambiguität gehört zu einem neuen Bildverständnis,
das seinen Betrachter mit einer poetischen Auffassung konfrontiert und dabei
von einer wörtlichen Textinterpretation abweicht.10
Zudem spielt diese ungewöhnliche Darstellung von Mars und Venus
zum einen mit der auf Täuschung angelegten Bildstrategie, die durch Verwischung
der Grenzen zwischen Bild und Betrachter diesen bewusst zu verunsichern ver-
sucht. Zum anderen haben wir es hier mit einer Form der Reziprozität zu tun,
die nicht vom Blick aus dem Bild ausgeht. Dennoch scheinen die Protagonisten
des Bildes auf den von ihnen selbst provozierten Blick des Betrachters zu reagie-
ren. Der aus dem Bild gerichtete Pfeil kann durchaus als Reaktion eines interes-
sengeleiteten Sehens gedeutet werden, das von der Schönheit des weitgehend
nackt sich darbietenden Körpers der Venus hervorgerufen wird. Doch wäre sie
keine Göttin, wenn sie sich voyeuristischen Blicken aussetzen ließe. Dies ist
sicher einer der Gründe, warum der Maler die Gefahr inszeniert, die von derlei
Ansinnen ausgeht. Es ist nicht ihr Blick, den der Betrachter spürt, und den sie,
die in höheren Gefilden Weilende, eben nicht direkt auf ihn richtet, sondern ihr
Fingerzeig und der ihm folgende Pfeil Amors, der auf die Präsenz des Betrachters
vor dem Bild reagiert und dessen vermeintliche Neutralität demaskiert. Zudem
deckt der auf ihn gerichtete Pfeil das Begehren auf, mit dem sich der Betrachter
dem Bild nähert, und verweist auf die Gefahr, die mit seinem Blick auf die Göt-
tin verbunden ist. Tatsächlich scheint der Bildbetrachter seine im Blick auf das
Bild ausgeübte Souveränität in dem Maße zu verlieren, in dem er den Reizen der

  8 Zum humanistischen Verständnis des blinden Amors vgl. Erwin Panofsky: Studi-
en zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, übers. v.
Dieter Schwarz, Köln 1980, S. 153–202, (Erwin Panofsky: Studies in Iconology.
Humanistic Themes in the Art of the Renaissance [1939], New York u.a. 1962).
  9 Ausst. Kat.: Giovanni Francesco Barbieri (wie Anm. 6), S. 182ff.
10 Vgl. Lorenzo Pericolo: Caravaggio and Pictorial Narrative. Dislocating the Istoria
in Early Modern Painting, London u.a. 2011; Valeska von Rosen: Einleitende Über-
legungen, in: dies. (Hg.): Erosionen der Rhetorik? Strategien der Ambiguität in den
bildenden Künsten, Dichtung und Musik, Wiesbaden 2012, S. 1–28.
187
  VORSICHT! AMOR SCHIESST AUF DEN BETRACHTER

Bild 4  Annibale Carracci: Schlafende Venus, 1602, Öl auf Leinwand, 190 × 328 cm,
Chantilly, Musée Condé.

Venus erliegt. Doch nicht nur die Gefahr, von Venus selbst „beherrscht“ zu
werden, droht dem allzu ergebenen Betrachter. Dass seine Liebe nicht gut für
ihn ausginge, macht auch die Erscheinung des Mars im Hintergrund deutlich.
Dieser versucht ja gerade durch seine herrische Haltung, Venus für sich zurück
zu gewinnen. Der in seiner blank polierten Rüstung und dem bestimmt auf dem
Bett aufgestützten Kommandostab dargestellte Kriegsgott wird – soviel scheint
klar – jeden Konkurrenten einschüchtern. Zugleich enttarnt er alle begehrlichen
Blicke, indem sie von seiner blanken Rüstung geradezu zurückgeworfen werden.
Die dunklen im Hintergrund aufziehenden Wolken tun ihr übriges, um die
Bewegung der nackten und scheinbar schutzlosen, sich aus dem Bild wendenden
Göttin als Unheilvolle zu entlarven.
Indem das Bild die Blicke herausfordert und zugleich darauf antwortet,
wird der Betrachter Teil eines performativen Prozesses der Wahrnehmung. Die-
ser geht vom Bild aus, das sich nicht als passiv in Besitz genommenes Ding sei-
nen Wünschen fügt, sondern im Gegenteil aktiv daran beteiligt ist, geheime
Wünsche nicht nur zu provozieren, sondern auch ihre Gefahren erfahrbar zu
machen; eine Erfahrung zu vermitteln, die auch als Selbstvergewisserung durch
den Dialog mit dem Bild bezeichnet werden kann.
Dass im Bild dargestellte Figuren als handelnde begriffen werden konn-
ten, lässt sich beispielhaft an einer dem Maler bekannten Bildbeschreibung
Giovan Battista Agucchis über das Gemälde der Schlafenden Venus von Anni-
bale Carracci zeigen, die die Wohlgefälligkeit und Ambivalenz des erotischen
Blicks und die in den Putten zum Ausdruck gebrachten vielfältigen Formen der
188
  Elisabeth Oy-Marra

Liebe thematisiert (Bild 4).11 Zwar sei die Göttin schon immer von allen bewun-
dert worden, doch habe sie darüber hinaus begehrt, dass – während sie schlief –
ihre Schönheiten mit Bewunderung betrachtet würden: „sue bellezze con ammi-
razion contemplate“.12 Mit diesen Worten begründet der Autor seine Beschreibung
der im Schlaf ihre Reize darbietenden Göttin und – mehr noch – er glaubt, sie
habe sich nur deswegen zum Schlafen gelegt, damit ein ausgezeichneter Maler
sie porträtieren möge: „in tal guisa si accomodò, presaga di dover una volta esse-
re in quella ritratta da un eccellente pittore“.13 Bereits nach der ersten Andeu-
tung ihrer wunderschönen Körperteile bemerkt Agucchi, wie sehr das Verlan-
gen gesteigert werde, wenn den begehrlichen Augen der Blick verwehrt wird.14
So ist es nur folgerichtig, wenn Agucchi konstatiert, dass das vom Bild provozier-
te Begehren sich nicht im Sehen erschöpft, sondern auch das Berührenwollen
mit einschließt. So beschreibt er denn auch, dass – nähere sich der Betrachter
schließlich dem Gemälde – dieser sich kaum zurückhalten könne, die Göttin und
ihre Putten nicht doch mit der Hand zu fühlen: „di non istendere la mano su le
figure“,15 um ihre Weichheit und das Relief zu überprüfen. Doch er warnt ihn
zugleich, nicht ganz und gar in das Bild einzutreten, denn er würde dann nicht
nur die Schönheiten der Göttin betrachten wollen, sondern könne sich sicher
nicht zurückhalten, ihr Lager heimzusuchen: „non che ad avviccinarti al letto
per ammirarle, ma quasi quasi a salirvi sopra“.16 Dies aber, so ist sich der Autor
sicher, würde den Zorn und die Rache der Göttin provozieren.17 Mit diesem Spiel
der Betrachtung der schlafenden Göttin, deren Schlaf er zur Bedingung seiner

11 Giovan Battista Agucchi: Descrizione della Venere dormiente di Annibale Carrac-


ci, erstmals abgedruckt in: Carlo Cesare Malvasia: Felsina pittrice. Vite de’ pittori
bolognesi, Bologna 1678, S. 360–367. Für eine ausführlich kommentierte Überset-
zung vgl. Anne Summerscale: Malvasia’s Life of the Carracci. Commentary and
Translation, University Park, PA 2000, S. 334–355; zur Beschreibung vgl. Julian
Kliemann: Bellori verwendet Agucchi. Ein Vergleich ihrer Beschreibungen der
Schlafenden Venus von Annibale Carracci, in: Elisabeth Oy-Marra/Marieke von
Bernstorff/Henry Keazor (Hg.): Begrifflichkeit, Konzepte, Definitionen. Schreiben
über Kunst und ihre Medien in Giovan Pietro Belloris Viten und der Kunstlitera-
tur der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2014, S. 215–256.
12 Kliemann: Bellori verwendet Agucchi (wie Anm. 11), S. 243: „ihre Schönheiten mit
Bewunderung betrachtet“.
13 Ebd.: „auf diese Weise machte sie es sich bequem, so als ob sie sich darüber bewusst
gewesen wäre, einmal von einem berühmten Maler porträtiert zu werden.“
14 Ebd.: „quanto la vista ne toglie a gli occhi cupidi di mirar troppo oltre, tanto ne
accreschi il disio“ („in dem Maße, in dem den gierigen Augen eine Schranke ge­­
setzt wird, nicht darüber hinaus zu schauen, wächst das Begehren“).
15 Ebd.: „nicht die Hand nach den Figuren auszustrecken“.
16 Ebd.: „nicht nur sich ihrem Lager zu nähern, sondern es heimzusuchen“. Mit
„salirvi“, was soviel wie hinaufsteigen, besteigen bedeutet, wird zudem auf die
Phantasie des Geschlechtsakts mit der Göttin angespielt.
17 Ebd., S. 252f.
189
  VORSICHT! AMOR SCHIESST AUF DEN BETRACHTER

Betrachtung erhebt, steht Agucchi nicht nur in der petrarkistischen Tradition


der Beschreibung schöner Frauen,18 sondern ruft auch den Topos des schlafenden
Amor auf, dessen Reiz ebenfalls darin bestand, nicht zu wissen, ob der Betrach-
ter durch sein Hinzutreten den Schlaf des göttlichen Knaben stören könne samt
der damit verbundenen Ungewissheit über die Folgen seines Erwachens.19 Inso-
fern lässt sich Guercinos Mars und Venus-Gemälde auch als Kommentar zur
berühmten Beschreibung von Annibales Schlafender Venus lesen, die Guercino
sicherlich während seines Rom-Aufenthaltes in den Jahren 1621–23 im Palazzo
Farnese bewundert haben wird und deren Beschreibung er mit großer Wahr-
scheinlichkeit kannte.20 Tatsächlich ist auch Guercinos Venus auf einem Bett
dargestellt, von dem sie sich jedoch gerade aufgerichtet hat. Daher gibt sich seine
Venus gerade nicht den Blicken der Betrachter hin, sondern verhält sich ihnen
gegenüber als Wählende und Handelnde, ohne jedoch ihren Blick auch tatsäch-
lich zu suchen.
Ähnlich wie im Fall der Schlafenden Venus von Annibale Carracci, die
der Maler für Odorado Farnese schuf, lässt sich der Betrachter von Guercinos
Mars und Venus genau benennen. Es handelt sich um keinen geringeren als den
Herzog von Modena, Francesco d’Este I.21 Vermittelt durch den mit seiner Samm-
lung beauftragten Cesare Cavazza malte Guercino das Gemälde für Francesco I.
im Lauf des Jahres 1633. Dass es für den Herzog bestimmt war, geht nicht nur
aus den Quellen eindeutig hervor, sondern wird auch im Gemälde selbst thema-
tisiert: Der Köcher des Amor, auf den Venus sich stützt, trägt das Wappenzei-
chen von Francesco I., den Adler. Leider ist keine eindeutige Aussage darüber
überliefert, wie der Herzog das Gemälde verstanden hat. Wahrscheinlich wird
er sich geschmeichelt gefühlt haben, da die Göttin hier dem Herzog vor ihrem

18 Zur petrarkistischen Tradition der Beschreibung einzelner Körperteile vgl. Eliza-


beth Cropper: On Beautiful Women. Parmigianino, Petrarchismo, and the Ver-
nacular Style, in: The Art Bulletin 58 (1976), S. 374–394.
19 Zum schlafenden Amor Caravaggios im Palazzo Pitti in Florenz vgl. David M.
Stone: In Praise of Caravaggio’s Sleeping Cupid: New Documents for Francesco
dell’Antella in Malta and Florence, in: Melita Historica. A Scientific Review of Mal-
tese History 12/2 (1997), S. 165–177; sowie Valeska von Rosen: Caravaggio und die
Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei
um 1600, Berlin 2009, S. 201–224, wo zudem die fließenden Grenzen zwischen
schlafendem Amor und schlafendem Christuskind ausgelotet werden.
20 Zum Ort des Gemäldes vgl. Uta Grünberg: Potestas amoris. Erotisch-mythologi-
sche Dekorationen um 1600 in Rom, Petersberg 2009, S. 136–140, sowie Elisabeth
Oy-Marra: Spiegelbilder/Liebesblicke: Annibale Carraccis Rinaldo und Armida
und seine Schlafenden Venus als Gegenbilder?, in: Jörn Steigerwald/Valeska von
Rosen (Hg.): Amor sacro e profano. Modelle und Modellierungen der Liebe in Lite-
ratur und Malerei der italienischen Renaissance, Wiesbaden 2012, S. 305–332.
21 Vgl. hierzu und im Folgenden: Ausst.: Kat.: Giovanni Francesco Barbieri (wie Anm.
6), S. 212f.
190
  Elisabeth Oy-Marra

Liebhaber, dem Kriegsgott Mars, den Vorzug gibt.22 Dass Venus es auf Francesco I.
von Modena abgesehen hat, mag jedoch auch inhaltlich im Sinne eines panegy-
rischen concetto verstanden worden sein: Tatsächlich erzählt der Mythos von
der Liebesbeziehung der Venus zu einem Sterblichen, nämlich zum Trojaner
Anchises, dem sie einen Sohn, Aeneas, gebar. So gesehen konnte der Herzog sich
geschmeichelt fühlen und sich durch den Fingerzeig der für den Herzog unerreich­
baren Venus nun als zweiten Anchises ausgezeichnet verstehen, womit Venus
dann als potentielle Stammmutter der Este erscheint.23
Dieser mythologisch-dynastische Deutungsrahmen schmälert das Hand-
lungspotential des Bildes jedoch nicht. Das Gemälde verweist nämlich keines-
wegs auf eine Tradition, sondern inszeniert die dynastische Geschichte als eine
noch nicht vollzogene, die sich vor den Augen des Herzogs an ihm selbst erst
erweisen muss. Insofern appelliert das Bild auch an die mit der Wahl der Venus
verbundene Verpflichtung, sich der virtus Anchises’ würdig zu erweisen. Damit
erklären sich auch die Unterschiede zu Jacques de Gheyns II. Bogenschützen aus
dem Jahr 1610 (Bild 5), der ganz ähnlich wie Guercinos Amor mit seiner Waffe
aus dem Bild heraus auf den Betrachter zielt. Doch abgesehen von seiner Arm-
brust hat dieser Bogenschütze wohl eher eine Betrachterin im Auge, denn die
gespannte Armbrust korrespondiert unübersehbar mit seinem erigierten Penis.
Dabei versucht die Frau hinter ihm, ihn davon abzuhalten und ihn stattdessen
für sich zu interessieren. Bei de Gheyn II. fallen Auge und Pfeil jedoch so deut-
lich zusammen, dass Hans Belting darin sogar den „Maler, der den Betrachter
mit dem Sehstrahl ins Auge trifft“ sehen wollte.24 Während der Bogenschütze
de Gheyns II. sein linkes Auge zusammenkneift, um besser zielen zu können,
hat der Amor Guercinos zwar seinen auf der Augenhöhe des Betrachters liegen-
den Bogen gespannt, doch schaut er wie seine Mutter eher auf sein Ziel herab,
anstatt es genau mit dem Pfeil ins Auge zu fassen. Nun mag der Maler schon
aufgrund von so ungleichen Protagonisten wie der (falschen) Göttin und ihrem

22 Ebd. In einem Brief des Herzogs an den Maler aus der Zeit, veröffentlicht von
Adolfo Venturi: La Reale Galleria Estense di Modena, Modena 1888, S. 188, lässt
sich ein Passus: „mi rimetto alla prudenza di lei circa il fare altra figura che potesse
anche meglio rappresentare bizzaria“ dahingehend erschließen, dass er den Kunst-
griff des Malers als „bizzaria“, als Kunststück angesehen hat. Demgegenüber hat
Carlo Cesare Malvasia: Felsina Pittrice, Bd. 2, Bologna 1678, S. 263, in seiner Vita
Guercinos die Haltung von Venus und Amor als „con una Venere che insegna ad
Amore di saettare; ed un Marte“ missverstanden.
23 Gerade die Este haben den Aeneas-Mythos dynastisch ausgedeutet; vgl. Amalia
Mezzetti: Le Storie di Enea del Dosso nel camerino d’alabastro di Alfonso I d’Este,
in: Paragone 189 (1965), S. 71–84. Auch in der Galleria Farnese ist Venus mit
Anchises als Venus genetrix und damit als Stamm-Mutter der Farnese dargestellt.
24 Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, Mün-
chen 2009, S. 236.
191
  VORSICHT! AMOR SCHIESST AUF DEN BETRACHTER

Bild 5  Jacques de Gheyn II.: Bogenschütze und Milchmagd, 1610, Kupfer-


stich von Andries Stock (?), um 1610, 41,2 × 32,8 cm, Amsterdam,
Rijksmuseum.

hochgestellten Betrachter auf eine direkte Konfrontation des Betrachters mit


dem Blick der Göttin verzichtet haben. Gerade indem er den Blick der Venus und
den Amors gegenüber dem Betrachter erhöht hat, übt das Bild aber umso mehr
Macht über seinen Betrachter aus, da dieser sich der Entschlossenheit seiner
Protagonisten nicht entziehen kann. Obgleich beide Bilder die eigene ästhetische
Grenze bewusst verletzen, lassen sich Bogenschütze und Amor daher nur
bedingt vergleichen. Folgt der Bogenschütze seinem derben Verlangen, um das
kein Hehl gemacht wird, handelt Amor stattdessen in göttlichem Auftrag, des-
sen in Aussicht gestellter Vollzug nicht auf den Geschlechtsakt beschränkt ist,
sondern das Verlangen des Betrachters im Hinblick auf den Vollzug einer dynas-
tischen Geschichte erregen will.
192
  Elisabeth Oy-Marra

2. Bi ld gesc h ic ht l ic he Ü b erleg u ngen


z u Guerc i nos Pfei l
Die Invention eines auf den Betrachter zielenden Schützen wurzelt bildgeschicht-
lich jedoch in einer viel weiter zurückreichenden Tradition. Sie spielt vor allem
mit einer ästhetischen Grenzverletzung: Der Fingerzeig und mehr noch der aus
dem Bild zielende Pfeil scheinen keine Rücksicht zu nehmen auf die Tatsache,
dass es sich hierbei um ein Bild handelt, das eine eigene Wirklichkeit besitzt und
dessen Protagonisten sich nicht im gleichen Raum bewegen wie der Betrachter.
Bereits Carlo Ginzburg ist – ohne Guercinos Venus und Amor zu berücksichti-
gen – dieser Tradition im Sinne einer Spurensuche des berühmten Plakats I
Want You for U.S. Army nachgegangen, auf dem ein Mann mit ausgestrecktem
Zeigefinger den Betrachter zum Eintritt in die Armee bewegen will.25 Ginzburg
führt in dieser Studie den aus dem Bild weisenden Zeigegestus des Mannes auf
dem Plakat auf eine Tradition zurück, die in Plinius’ Beschreibung eines Jupiter-
Gemäldes des Apelles ihren Anfang hat. Tatsächlich beschreibt der antike Autor
ein Gemälde des Zeus im Artemis-Tempel von Ephesos, dessen Besonderheit im
deutlichen Hervortreten der Finger bestand und in dem der Blitz sogar außer-
halb des Gemäldes war: „digiti eminere videntur et fulmen extra tabulam esse“.26
Dank der Übersetzung der Naturgeschichte durch Cristoforo Landino 1476:
„Pare che le dita sieno rilevate et el fugore sia fuori della tavola“, wird, wie
Ginzburg zeigen kann, diese Beschreibung zum locus classicus für perspektivi-
sche Verkürzungen in der Malerei.27 Neben Michelangelos Darstellung Gott-
vaters mit ausgestrecktem, befehlendem Arm für die Erschaffung der Welt an der
Sixtinischen Decke, erscheint auch in Pontormos Aktstudie eines Mannes (Bild 6)
dieses Motiv, in dem der rechte Arm und Zeigefinger kraftvoll aus dem Bild
hinausweisen. Ob Guercino die Zeichnung Pontormos gekannt hat, ist ungewiss,
doch wird auch er die Textstelle des Plinius über das Bild des Zeus in Ephesos

25 Carlo Ginzburg: ‚Your Country Needs You‘. A Case Study in Political Iconography,
in: History Workshop Journal 52 (2001), S. 2–21.
26 C. Plinius Secundus d. Ä.: Naturalis Historia, XXXV, 92, übers. v. Roderich König,
Düsseldorf/Zürich 21997, S. 75: „Es scheint, als würden die Finger deutlich hervor-
ragen und der Blitz außerhalb des Gemäldes sein.“
27 Ginzburg: ‚Your Country Needs You‘ (wie Anm. 25), S. 8–12; Plinio: Historia
Naturale, Ed. C. Landino, Venetiis 1476; zu Ludovico Dolce: Dialogo della pittura
… intitolato l’Aretino, Venezia 1557, fol. 37r. Ginzburg beschränkt sich jedoch
nicht auf diese Plinius-Stelle, sondern zieht auch diejenige über ein Artemis-
Gemälde des Apelles heran, die den Betrachter immer angesehen habe, egal von wo
aus er sich ihr genähert habe (Naturalis Historia XXXV, 120), sowie den Bericht
über Pausias, der den Stier von vorn gemalt habe, ohne dass dabei die Größe des
Körpers nicht zur Geltung gebracht worden sei (Naturalis Historia XXXV, 126).
Ich messe diesen Stellen jedoch keine große Bedeutung bei.
193
  VORSICHT! AMOR SCHIESST AUF DEN BETRACHTER

Bild 6  Jacopo da Pontormo: Aktstudie, um 1522/25,


Zeichnung, 28,1 × 18,5 cm, London, British Museum.

gelesen haben. Dabei ist es allerdings nicht ganz unbedeutend, dass Guercino den
aus dem Bild weisenden Zeigefinger nicht einem Mann, sondern einer Frau –
wenngleich einer Göttin – zuerkennt. Obgleich ihre Geste die so oft kopierte
Handhaltung von Caravaggios Christus in der Berufung des Matthäus (Bild 7)
paraphrasiert, scheint es ihr doch im Unterschied zu Pontormos Akt an Kraft zu
mangeln. Dies ist jedoch weniger der Haltung als vielmehr der Tatsache geschul-
det, dass ihr Blick nicht wie bei Pontormo der Hand folgt. Während Zeigefinger
und Pfeil auf den Betrachter treffen, blicken Venus und Amor scheinbar von
einem höheren Standort auf ihre „Opfer“ herab.28

28 Deshalb lässt sich der Blick der Venus nicht mit den Christus-Porträts von Dirk
Bouts, Antonello da Messina oder Hans Memling in Verbindung bringen, die
194
  Elisabeth Oy-Marra

Bild 7  Caravaggio: Berufung des heiligen Matthäus, 1599/1600, Öl auf


Leinwand, 322 × 340 cm, Rom, San Luigi dei Francesi.

3. A mor a ls Si n nbi ld der Ma lerei


Obgleich Amor im Gemälde von Guercino als Sohn der Verbindung von Venus
und Mars präsentiert wird, hat Guercino in Amor mehr als nur eine mythologi-
sche Figur gesehen. In seinem rätselhaften Selbstporträt des Malers in der Natio-
nal Gallery of Art in Washington D.C. (Bild 8) nimmt ein Amor fedele das
Gemälde auf der Staffelei im Hintergrund ein, vor dem sich der Maler selbst
porträtiert hat. Jener hält mit seiner Rechten das Halsband eines Windhundes,
mit der Linken den Bogen, während er sinnierend aus dem Bild schaut. Anders
als im Gemälde von Mars und Venus ruhen Amors Pfeile jedoch alle im Köcher,
dafür hält der Maler seine Pinsel aber ganz ähnlich wie ein Pfeilbündel in Hän-

Ginzburg auf Cusanos Visione Dei und die von Plinius beschriebene Minerva
zurückführt (Naturalis Historiae XXXV, 92), die ihren Betrachter egal von wel-
chem Standpunkt aus angeschaut hätte; s. Ginzburg: ‚Your Country Needs You‘ (wie
Anm. 25), S. 9f.
195
  VORSICHT! AMOR SCHIESST AUF DEN BETRACHTER

Bild 8  Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino: Selbst-


bildnis vor einem Gemälde des „Amor Fedele“, 1655, Öl auf
Leinwand, 116 × 95,6 cm, Washington D.C., National Gallery.

den, von dem er einen gezückt hat und bereit hält. Durch die Nähe der Pfeile im
Köcher Amors zu den Pinseln in den Händen des Malers werden beide mit-
einander deutlich in Beziehung gesetzt. Handelt es sich bei dem gemalten Amor
auf dem Bild hinter ihm also um eine Metapher der Malerei, deren Werkzeuge
ihre Pfeile sind?
Tatsächlich lässt sich der Pfeil nicht nur als Metapher der Rede, sondern
auch als Metapher der Malerei verstehen. Die Analogie von Rede und Pfeil ist
zunächst ein klassischer Topos, der seinen Ursprung in Homers „gefiederten
Worten“ hat und der sowohl in der antiken als auch in der italienischen Literatur
der Renaissance sowie in der Rhetorik häufig bemüht wurde.29 Er beruht auf
dem Bild des treffenden Pfeils, der durch seine harte Spitze in das Tier oder den

29 Christine Ott: Pfeile ohne Ziel? Worte, Sachen und Bilder bei Giovan Battista
Marino, in: Rainer Stillers/Christiane Kruse (Hg.): Barocke Bildkulturen. Dialog
der Künste in Giovan Battista Marinos Galeria, Wiesbaden 2013, S. 107–134.
196
  Elisabeth Oy-Marra

Menschen nicht immer tödlich eindringt, in jedem Fall jedoch eine Wunde hin-
terlässt. Tatsächlich fordert Quintilian, bei dem die Wirkung der Rede auf den
Rezipienten im Vordergrund seiner Überlegungen steht, der Hörer solle durch
die Pfeile der sprachlichen Energeia getroffen und verwundet werden.30 Auch
die Empfehlung Cesare Ripas, die Eloquenza mit Brustpanzer, Stoßdegen und
Rute gerüstet darzustellen, steht in dieser Tradition.31 Bekanntlich hat Domeni-
chino in seinem Gemälde Die Jagd der Diana anhand der Übertragung der
Erzählung des Wettschießens der Männer im Gefolge des Aeneas auf die Nym-
phen der Diana eine Allegorie der verschiedenen Arten der Rede geschaffen, die
Rede und Bild zudem deutlich in Beziehung setzt (Bild 9).32 Bereits Leon Battis-
ta Alberti hat diese Analogie gezogen. Seiner Meinung nach spannt ein Maler
den Bogen vergeblich, wenn er nicht weiß, worauf er mit dem Pfeil zielen soll.33
Im Gegensatz dazu findet die Analogie von Pfeil und Pinsel ihre Zuspitzung im
Topos des Amor pictor, von dem Petrarca sagt, er habe mit seinen Pfeilen das
Bild seiner Geliebten ins Herz gemeißelt.34 Während die Redemetapher sich
gerade die scharfe Spitze des Pfeils zu Nutze macht, um die treffsichere und
nachhaltige Wirkung der Worte zu beschreiben, haben Pinsel eine weiche Spit-

30 Vgl. Caroline Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theo-


rie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002, S. 172–196, besonders
S. 186f., sowie Christine Ott: Pfeile ohne Ziel (wie Anm. 29), S. 110, die zeigt, dass
das Pfeilmotiv sowohl die Lebendigkeit (Aristoteles) als auch die Überzeugungs-
kraft (Quintilian) sowie die Treffsicherheit (Aischylos) bezeichnen kann. Ott
betont auch den Unterschied von Enargeia (Anschaulichkeit, Bildhaftigkeit der
Rede) und Energeia (die Lebendigkeit der Rede).
31 Cesare Ripa: Iconologia, Perugia 1603, S. 207: „Giovane, bella & armata si dipinge“;
vgl. Ott: Pfeile ohne Ziel (wie Anm. 29), S. 110, sowie Valeska von Rosen: Die Enar-
geia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des „Ut-pictura-poesis“ und sei-
ner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jahrbuch für
Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 171–208.
32 Vgl. Julian Kliemann: Kunst als Bogenschießen. Domenichinos Jagd der Diana in
der Galleria Borghese, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 31 (1996),
S. 273–312.
33 Vgl. David Summers: The Judgement of Sense. Renaissance Naturalism and the
Rise of Aesthetics, New York 1987, S. 34.
34 Vgl. Ott: Pfeile ohne Ziel (wie Anm. 29), S. 116–125; Margot Kruse: Das Porträt der
Geliebten und ‚Amor pictor‘. Tradition und Abwandlung einer petrarkistischen
Motivkombination in Ronsards Amours de Casandre, in: Andres Kablitz/Ulrich
Schulz-Buschhaus (Hg.): Literarhistorische Begegnungen. Festschrift für Bern-
hard König, Tübingen 1993, S. 197–212; Margot Kruse zitiert hier aus den Rerum
vulgarium fragmenta das Sonett CXXX, V. 1–15, und ein Sonett von Antonio
Tebaldeo, in dem die Bezeichnung „Amor pictor“ auch tatsächlich nachzuweisen
ist; Ulrich Pfisterer: Lysipp und seine Freunde. Liebesgaben und Gedächtnis im
Rom der Renaissance. Das erste Jahrhundert der Medaille, Berlin 2008, S. 298f.,
erweitert die Beispiele bis zu den Gedichten Michelangelos.
197
  VORSICHT! AMOR SCHIESST AUF DEN BETRACHTER

Bild 9  Domenichino: Jagd der Diana, 1617, Öl auf Leinwand, 225 × 320 cm,
Rom, Galleria Borghese.

ze, die die Oberfläche des Bildgrundes nicht verletzt, sich vielmehr ihrer anpasst
und gerade nicht in sie eindringt.35
Vor dieser Tradition wird die Gegenüberstellung des Malers mit seinem
Gemälde des Amor verständlicher. Guercino scheint sich in seinem Selbstpor-
trät in Washington selbst als Amor pictor zu verstehen, indem er wie dieser mit
seinen den Amorpfeilen ähnlichen Pinseln Amor malt, der jedoch nicht mit
seinen Pinseln beschäftigt ist, sondern den aus dem Bild strebenden Windhund
am Halsband festhält, während die sich in den Schwanz beißende Schlange in
Stein gemeißelt vor ihm liegt. Der Maler Guercino zeigt auf seiner Leinwand
offenbar den mythischen Maler Amor, dessen Bilder, die er in die Herzen der
Betrachter meißelt, der vergänglichen Zeit trotzen. Es ist jedoch auffällig, dass
der Amor auf der Leinwand des Selbstporträts nicht mit dem Pfeil agiert, son-
dern mit seinem Finger im Ring des Halsbandes den Windhund festhält, wäh-
rend er mit seiner linken Hand den Bogen vor sich her trägt. Stattdessen ist es
der Maler, der seinen pfeilartigen Pinsel gezückt hat, womit er sich als Urheber
des so lebendig erscheinenden Amor auf der Leinwand ausweist.

35 Treffend beobachtet von Elisabeth von Samsonow: Die Bewaffnung der Sinne: Die
Vernunft und ihre Instrumente in der Renaissance, in: Josef Rupitz/Elisabeth
Schönberger/Cornelius Zehetner (Hg.): Achtung und Anthropologie: interdiszipli-
näre Studien zum philosophischen Empirismus und zur transzendentalen Anthro-
pologie. Michael Benedikt zum 70. Geburtstag, Wien 1998, S. 129–139.
198
  Elisabeth Oy-Marra

Obgleich sich das später entstandene Selbstporträt in Washington durch


die geradezu eingefroren wirkenden Gesten und Haltungen seiner Figuren von
den lebendigen und scheinbar spontan agierenden auf dem Mars und Venus
Gemälde in Modena deutlich unterscheidet,36 weist es doch auf den Amor als
Guercinos persönliches Sinnbild der Malerei hin, die nicht erst im Selbstporträt
zur Geltung gelangt sein dürfte. Insofern lässt sich der aus dem Bild zielende
Amor in Guercinos Gemälde von Mars und Venus auch auf den Topos des Amor
pictor beziehen, wobei es hier allerdings das Bild selbst ist, das sich dem Amor
gleich in die Herzen der Betrachter einschreibt.
Es ist in diesem Zusammenhang interessant, das Gedicht Giambattista
Marinos Sopra il ritratto della sua Donna. Ad Ambrogio Figino heranzuzie-
hen, das mit dem Topos des Amor pictor spielt.37 Das lyrische Ich des Gedichts
fordert hierin die Liebesgötter auf, dem Maler Figino bei dem Bild seiner Venus
behilflich zu sein:

Lasciate Cipro, e qua volate Amori,


Doue del mio FIGINO il chiaro ingegno
Di Dea più bella ombrando alto disegno
Prende di Zeusi a superar gli honori.38

Für sein Gemälde, so fordert das lyrische Ich, möchten ein Teil der Amoretten der
Leinwand Figinos Stütze bilden, der andere Teil aber soll dem Maler den Pinsel
wählen.39 An der Stelle, die nun folgt, greift Marino auf die Analogie von Pinsel
und Pfeil zurück, wenn er schreibt: „e pennel degno / Fia la saëtta onde piagate i
cori“.40 Wie das geschieht, ist Thema der darauffolgenden Strophe, in der Marino
das Bild von Farben mischenden Amoretten entwirft: „altri ala cote, usa a temprar
gli strali, / Tempri i colori; altri il sembiante altéro / Moua ancor freso ad asciugar

36 Bekanntlich ist das Werk Guercinos von einem Stilwandel gekennzeichnet, der um
1630 einsetzt, und mit dem das zunächst so sehr an unmittelbaren und lebendigen
Gesten und Handlungen der Figuren ausgezeichnete Schaffen sich dann in eine
sehr repräsentative, statische Auffassung wendet. Vgl. Denis Mahon: Studies on
Seicento Art and Theory, London 1947, S. 32–50.
37 Das Gedicht ist publiziert in Marino: La Galeria, hg. v. Pieri/Ruffino (wie Anm. 1),
S. 343; für die Übersetzung s. Marino: La Galeria, hg. v. Stillers/Kruse (wie Anm.
1), S. 263; vgl. die Interpretation von Ott: Pfeile ohne Ziel (wie Anm. 29), S. 120ff.,
mit einer leicht abweichenden Übersetzung, S. 120, Anm. 30.
38 Marino: La Galeria, hg. v. Stillers/Kruse (wie Anm. 1), S. 262f.: „Lasst Zypern und
fliegt hierher, Amoretten, / wo der ruhmreiche Geist meines FIGINO / die erhabe-
ne Zeichnung der schönsten Göttin schattiert / und sich anschickt, die Ehren des
Zeuxis zu übertreffen.“
39 Ebd.: „Parte ala tela, ov’ei pinga i colori, / Faccia del’arco e dela man sostegno, /
parte il pennel gli scelga.“
40 Ebd.: „und ein würdiger Pinsel wird der Pfeil sein, mit dem ihr die Herzen ver-
wundet.“
199
  VORSICHT! AMOR SCHIESST AUF DEN BETRACHTER

con l’ali.“41 Die etwas verschobene Analogiebildung vom Pinsel auf das Mischen
der Farben als Vergleich zum Spitzen des Pfeils, die Marino hier vornimmt, ist für
unseren Zusammenhang und mit Blick auf Guercinos Gemälde von besonderem
Interesse. Denn mit ihr kommt es zu einer bedeutsamen Parallele der Verwun-
dung durch den Pfeil zur Wirkung der Farben und damit des Bildes. Ein Bild kann
also wie eine Pfeilspitze seinen Betrachter kraft seiner Farben verwunden. So lässt
sich Marino im übertragenen Sinne verstehen. Doch der Dichter, der die Amo-
retten als Gehilfen Amors in der vorletzten Strophe noch mit diesem Ansinnen
evoziert hat, endet sein Gedicht, indem er nun Amor selbst anruft und ihn bittet,
ihm, dem Maler Figino, nun das wahre Vorbild im Herzen des lyrischen Ichs zu
zeigen: „Ma tu, Signor, c’hai soura gli altri impero, / Dele sue forme angeliche
immortali / Móstragli nel mio cor l’essempio vero.“42 Mit diesem Bild im eigenen
Herzen kommt Marino wieder auf das Bild Amors, das der Venus zurück, das
dieser im Herzen des Dichters gemalt hatte. Ein unsichtbares Bild, das jedoch das
wahre Vorbild (die Idee) für das Gemälde Figinos darstellt und nun mit dem seinen
verglichen werden soll.43 Es ist aber zu vermuten, dass es dasjenige Figinos noch
überragt, denn der Maler Figino misst sich zwar mit Zeuxis – wie zu Beginn

41 Ebd.: „Einer reibe mit dem Wetzstein, der sonst die Pfeile schärft, die Farben, der
andere nehme das erhabene noch frische Bild, um es mit den Flügeln zu trocknen.“
Ott: Pfeile ohne Ziel (wie Anm. 29), S. 120, Anm. 30, hat darauf hingewiesen, dass
das Spiel mit der Bedeutung des Wortes „temprare“, das so viel heißen kann wie
‚einen Pfeil spitzen‘, ‚Metall härten‘, aber auch ‚etwas mischen‘ und damit mildern
und mäßigen, im Deutschen nicht möglich ist.
42 Marino: La Galeria, hg. v. Stillers/Kruse (wie Anm. 1), S. 262f.: „Doch Du, Herr,
der über die anderen herrscht, / zeige ihm in meinem Herzen das wahre Vorbild /
ihrer engelgleichen, unsterblichen Gestalt.“
43 Ott: Pfeile ohne Ziel (wie Anm. 29), S. 121, hat auf die Ambivalenz des Begriffs
„Signor“ in der letzten Strophe des Gedichts hingewiesen, von dem nicht ganz klar
sei, ob damit Amor oder der christliche Gott gemeint sei. Das ist sicher richtig,
doch liegt der Zusammenhang mit Amor schon deshalb näher, weil dieser als
„Amor pictor“ Bilder in die Herzen malt, die für Marino die Verbindlichkeit von
„Ideen“ als Vorbilder annehmen. Zwar setzt Federico Zuccari mit seinem „disegno
interno“ und auch später Giovan Battista Bellori in seiner Akademierede aus dem
Jahr 1664, die er dann 1672 seinen Viten voranstellt: „L’idea del pittore, dello scul-
tore e dell’architetto scelta dalle bellezze naturali superiore della Natura“, die pla-
tonische Idee in den Zusammenhang eines christlichen Weltbildes in Analogie
zum Schöpfergott, doch ist mit dem Sitz der Idee im Künstler weniger das Herz als
vielmehr der Verstand gemeint. Die Vorstellung, dass Bilder an Ideen orientiert
sind, findet sich bereits bei Raffael und ist auch in Marinos Zeit weit verbreitet. Zu
dem „Signor Conte“ betitelten Brief Raffaels s. John Shearman: Raphael in Early
Modern Sources (1483–1602), New Haven/London 2003, S. 734–741, bes. S. 735;
zur Verankerung der „Idea“-Rede Belloris vgl. Elizabeth Cropper: L’Idea di Bellori,
in: Ausst. Kat.: L’Idea del Bello. Viaggio per Roma nel Seicento con Giovan Pietro
Bellori, hg. v. Anna Gramiccia, 2000, S. 81–86.
200
  Elisabeth Oy-Marra

erwähnt – doch kann er die Bilder des Gottes Amor in ihrer Vollkommenheit nicht
erreichen.
Mit Amors Pfeilen zu malen meint daher eine Malerei, die ihre Betrach-
ter genauso verwundet wie Amors Pfeile seine Opfer. Die Metapher umschreibt
eine Malerei mit starken affektiven Qualitäten, die sich in die Herzen der
Betrachter einritzt und in ihnen Begehren auszulösen versteht.44
Auf das Gemälde Guercinos übertragen tritt uns also ein Amor entgegen,
der sich, indem er seinen Pfeil aus dem Bild richtet, insofern auch als Maler betä-
tigt, als er mit seinen Farben seinen Betrachter verwunden und ihm das Bild
Guercinos ins Herz einschreiben wird. Malerei wird damit als eine Form der
Liebe verstanden und zwar nicht allein der sich opfernden Liebe des Malers zu
seinem Werk, sondern vor allem jener Liebe, die die Leinwand zum Leben erwe-
cken kann und damit auch im Gegenüber Liebe zu entzünden versteht. Die
dynastische Botschaft des Gemäldes kommt dadurch zum Ausdruck, dass die
Protagonistin Venus und ihre Rolle als Stammmutter der Este nicht als ein weit
in die Geschichte zurückliegendes Ereignis im Bild festgehalten, sondern im
Gegenteil als eine sich noch zu vollziehende Handlung präsentiert wird. Diese
kann sich aber nur dann vollziehen, wenn es Amor tatsächlich gelingt, Liebe im
Betrachter auszulösen. Bildhandlung und Bildtheorie sind also untrennbar mit
dem zielenden und zugleich malenden Amor verbunden. Nur indem die Farben
die gleiche Wirkung im Herzen des Betrachters erzielen, wird es zum notwendi-
gen Vollzug der Liebe zwischen Francesco I. als Anchises und der Venus kom-
men.
Das Gemälde Guercinos kann also nicht allein deshalb als Beispiel eines
Bildakts angesehen werden, weil der Maler seine Protagonisten scheinbar direkt
mit dem Betrachter interagieren lässt. Dieser Versuch des Heraustretens aus
dem Bild ist bereits von Plinius in einem Bild des Apelles gerühmt worden und
hat im Laufe der Jahrhunderte den Ehrgeiz der Künstler bis hin in die Plakat-
kunst angestachelt. Guercino jedoch konfrontiert uns mit einer anderen, auf die
Beschaffenheit des Bildes selbst zurückgehenden Voraussetzung für das handeln-
de Bild, in dem er die affektiven Energien der Malerei hervorhebt. Dies geschieht
in einer Aktualisierung des Amor pictor-Topos, der mit einer direkten Anspra-
che des Betrachters durch Fingerzeig und Pfeil das Bild mit den Mächten der
Liebe gleichsetzt und damit eine Reziprozität inszeniert, die auch noch dann
fortwirkt, wenn das Bild seinen idealen Betrachter und damit seine dynastische
Botschaft verloren hat. Diese kann aber auch zu Lebzeiten des Herzogs von Mode-
na nicht anders denn als „Beunruhigung“ des Betrachters im Sinne Didi-Huber-
mans verstanden worden sein, verlegte sie doch den Vollzug der (dynastischen)
Geschichte in die Gegenwart und machte sie von einem Bild abhängig.

44 S. a. Ott: Pfeile ohne Ziel (wie Anm. 29), S. 122.


Pablo Schneider

Das fordernde Bild


Die Verbindung von Eigenverantwortung und Moral in
der frühneuzeitlichen Bildbetrachtung

E i n leit u ng
Das Thema der Kreuzigung Christi wurde in der Frühen Neuzeit in einer nicht
mehr zu überschauenden Zahl an Variationen umgesetzt. Gemälde jeglichen
Formats, Skulpturen, Zeichnungen und graphische Fassungen visualisierten die-
sen dramatischen Höhepunkt der Passion. Das Motiv samt seiner moralisch mah-
nenden Implikationen war im Alltag des 15., 16. und 17. Jahrhunderts allgegen-
wärtig. Es bedurfte keiner tiefgehenden ikonographischen Kenntnisse, um zu
begreifen, was hier gezeigt wurde und in welcher angemessenen Form der Be­
trachter mit dem Dargestellten umzugehen hatte. Der bisher modern gedachte
Begriff der Bilderflut wäre dementsprechend in einer dezidiert historischen und
sozial-ethischen Prägung zu denken. Eine Schlussfolgerung für die Rezeption
frühneuzeitlicher Kunst kann daher lauten, dass die Themen der Darstellungen
in der Regel bekannt waren.1
Eine berichtende oder narrative Ausrichtung trat in den Hintergrund, da
die jeweilige Geschichte nicht erstmals, nicht als Nachricht erzählt wurde. Der
Horizont an Rezeptionsmöglichkeiten weitete sich, wurde aber zugleich durch
den theologischen, politischen und sozialen Deutungsrahmen sanktioniert.2 Doch
beruhte jener keineswegs auf eindeutig bestimmten Vorgaben und vermochte

1 Zur Konstellation von bekanntem und verborgenem Inhalt s. Edgar Wind: Heid­
nische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt/M. 1987. Die hier angestellten
Überlegungen zum Wissen des Betrachters orientieren sich auf der methodischen
Ebene an Wind, der den Zusammenhang von Text- und Bildwissen als ein gegen-
seitiges Reagieren und Interagieren deutete; s. a. ders.: Bild und Text, in: Horst
Bredekamp/Bernhard Buschendorf/Freia Hartung/John Michael Krois (Hg.): Edgar
Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, S. 259–262.
2 S. zu diesen Überlegungen Hanna Deinhard: Bedeutung und Ausdruck. Zur Sozio­
logie der Malerei, Neuwied 1967.
202
  Pablo Schneider

Bild 1  Baccio Baldini (zugeschrieben): Judith mit dem Haupt des Holofernes,
1465/80, Kupferstich, 13,2 cm Durchmesser, Chicago, Art Institute.

dem Betrachter Spielräume für eine individuelle Handhabung zu eröffnen. Dies


konnte dazu führen, dass etwa ein Kupferstich ausgeschnitten und auf ein Käst-
chen mit persönlichen Dingen aufgebracht wurde (Bild 1).3 Die beabsichtigte
Aussage des Motivs war hierbei offensichtlich, die visuelle Drohung überdeut-
lich. Eine thematische Legitimierung, sei es durch die Religion oder Mythologie,
war in der Frühen Neuzeit unumgänglich. Wenn die Themen oder zumindest
ihre Ausrichtung nicht geklärt werden mussten, was machte dann den Reiz der
immensen frühneuzeitlichen Bildproduktion aus? Eine Frage, welche nicht
abschließend beantwortet werden kann. Sie kann jedoch Überlegungen ansto-

3 Hierzu Suzanne Karr Schmidt/Kimberly Nichols (Hg.): Altered and Adorned. Using
Renaissance Prints in Daily Life, New Haven/London 2011; Pablo Schneider: Vom
Gebrauch der Bilder, in: Tobias Pfeifer-Helke (Hg.): Mit den Gezeiten. Frühe
Druckgraphik der Niederlande. Katalog der niederländischen Druckgraphik von
den Anfängen bis um 1540/50 in der Sammlung des Dresdner Kupferstich-Kabi-
netts, Petersberg 2013, S. 33–41.
203
  Das fordernde Bild

ßen, die sich von einem ikonographischen Fokus entfernen und zu einer Betrach-
tung führen, welche sich mit einer Ikonologie der Interaktionen auseinander zu
setzen versucht. Denn wenn die Identifizierung des Sujets in den Hintergrund
rückt oder sogar mit Absicht zurückgedrängt wird, können Faktoren wie Emo-
tionalität und unmittelbares Nacherleben an Bedeutung gewinnen. Es ist die
individuelle Vorstellungskraft, welche die Auseinandersetzung mit dem Motiv
bis zu einem Grad anzutreiben vermag, an dem der Betrachter sich vor eine Ent-
scheidungssituation gestellt sieht.
Die überaus umfangreiche Bildproduktion der Frühen Neuzeit zeichnete
sich durch ein eingeschränktes Themenfeld aus. Neben der Vergegenwärtigung
von Personen – Heiligen und Monarchen – wurde der Vorstellung von Tugenden
eine große Bedeutung zuerkannt. Unter Tugenden sollen hierbei nicht nur Per-
sonifikationen verstanden werden, sondern vielmehr das in den Bildwerken her-
vorgebrachte Spektrum angemessener Lebensformen und -regeln, die den sozialen
Frieden in der Gesellschaft bewahren sollten. Hierfür waren nicht nur belehrende
Bildformen wichtig, sondern auch jene große Anzahl an Motiven, die es vermoch-
ten, sich unmittelbar an das Verantwortungsgefühl der Betrachter zu richten.
Die Kenntnis des Beurteilungsvermögens und der Entscheidungskom-
petenz der Rezipienten war ein integraler Bestandteil frühneuzeitlicher Bild-
konzeptionen. Die Bedeutung des dargestellten Inhalts kann durchgehend – und
dies ist ausschlaggebend – als bereits bekannt vorausgesetzt werden. Ob in der
Tiefe des differenzierten Zusammenspiels aller Details oder bestenfalls in einer
basalen Ausrichtung ist hierbei nur ein gradueller Unterschied. Es existiert in
diesem Sinne für die Kunst der Frühen Neuzeit das unbekannte Motiv nicht.
Hierauf gründen Rezeptionsmöglichkeiten von hoher intellektueller Spannung.

Perlen
In den Jahren zwischen 1580 und 1590 schuf Jacopo Tintoretto ein Gemälde,
dessen Motiv die Urteilskraft des Betrachters herausforderte (Bild 2). Es sind die
beiden nahezu nackten Körper, welche zunächst die Aufmerksamkeit auf sich
ziehen. Der weibliche ist in den Vordergrund gerückt und die Haut leuchtet hell
im von links einfallenden Licht. Erhöht und weiter im Hintergrund liegend ist
eine muskulöse männliche Figur zu erkennen, deren Erscheinung dunkler gehal-
ten ist.4 Auf den ersten Blick, insofern der Betrachter einer körperlich bestimm-

4 Zur besonderen Auffassung des Inkarnats in der Venezianischen Malerei s. Daniela


Bohde: Haut, Fleisch und Farbe. Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden
Tizians, Emsdetten 2002.
204
  Pablo Schneider

Bild 2  Jacopo Tintoretto: Tarquinius und Lucretia, um 1578/80, Öl auf


Leinwand, 175 × 151,5 cm, Chicago, Art Institute.

ten Schaulust freien Lauf lässt, deutet nichts auf eine dramatische Situation hin.5
Einzig das Durcheinander aus fallenden Stoffen und weiteren Objekten könnte
Irritationen auslösen.
Mit der rechten Hand hält der Mann ein nahezu durchsichtiges Tuch,
welches die weibliche Nacktheit eher betont, als dass es bekleidend wirkt. Er ver-

5 Zur Rekonstruktion frühneuzeitlicher Formen der Bildbetrachtung anhand Giovan


Battista Marinos La Galeria, erschienen 1620 in Venedig, s. exemplarisch Christiane
Kruse: Imagination, Illusion, Repräsentation. Bildbetrachtung als Kulturtechnik,
in: Horst Bredekamp/Christiane Kruse/Pablo Schneider (Hg.): Imagination und
Repräsentation. Zwei Bildsphären der Frühen Neuzeit, München 2010, S. 195–217;
s. a. den Beitrag von Elisabeth Oy-Marra in diesem Band.
205
  Das fordernde Bild

sucht, die Frau in seine Richtung zu ziehen, was diese wiederum mit einem Griff
an seinen Kopf eher zu gewähren, denn abzuwehren scheint. Die Gestik ihrer
Hand scheint von Zärtlichkeit bestimmt, keinesfalls von Abneigung. Gleich-
zeitig könnte ihr Körper auf dem glänzenden Stoff in nahezu alle Richtungen
gleiten. Dieses Gesten- und Bewegungsgeflecht wird augenscheinlich von einer
bemerkenswerten Vertrautheit getragen, welche in diesem Stadium der Bild-
betrachtung keineswegs irritierend wirkt. Dennoch haben die Handlungen der
beiden eine geradezu wild unkontrollierte Intensität erreicht, die unter den Zeit-
genossen als unangemessen und damit als inakzeptabel gelten musste. Dieser
Eindruck wird noch weiter zugespitzt durch das herunterfallende helle Kissen
am vorderen Bildrand. Eine Statue ist umgestürzt und droht im nächsten Moment
aus dem Bildraum herauszufallen. Die Skulptur tritt aber aufgrund ihrer Far-
bigkeit nicht betont aus dem Hintergrund hervor. Eine zerrissene Kette ist bei
eingehender Beobachtung umso deutlicher zu erkennen. Ihre Perlen fallen zu
Boden und leiten den Blick zu einem Gegenstand, der zunächst nicht zur Hand-
lung passen mag: einem Dolch mit dunkler Klinge und goldenem Griff.
Obwohl das Geschehen auf dem Bett und davor raumgreifend bewegt ist,
kommt die Waffe in einer instabilen Position zum Liegen. In diesem Moment
des Erkennens wird unmittelbar deutlich, dass die dargestellte Begebenheit einen
völlig anderen Charakter besitzt. Die Gesten des mutmaßlichen Begehrens erwei-
sen sich als Schritte hin zu einer Vergewaltigung.6 Im Durchlauf einer intensi-
ven Betrachtung löst sich die im Ansatz positive Stimmung auf und schlägt
dadurch, dass die fallenden Perlen auf die Waffe verweisen, in ihr Gegenteil
um.7 Mittels des Dolches wendet sich die inhaltliche Frage mit größter Radika-
lität. Nun wird deutlich, dass es sich um die Vergewaltigung der Lucretia durch
Tarquinius handelt. Was zunächst als Gelegenheit erscheint, unentdeckt eine
scheinbar erotische Handlung zu beobachten, schwingt unwillkürlich in die
Augenzeugenschaft eines Verbrechens um. Schlagartig tritt die historische Bege-
benheit vor Augen des Betrachters und mit ihr die ethisch-politischen Implika-
tionen, die gegen den sichtbaren Befund abgewogen werden müssen.8 Die Grün-
dung des römisch-republikanischen Staatsgefüges durch ein Verbrechen ist
hierbei nur eine frühneuzeitliche Perspektive – und der Tyrannensturz könnte im

6 Zur bildlichen Darstellung sexuell bedingter Gewalt s. die grundlegende Untersu-


chung von Diane Wolfthal: Images of Rape. The „Heroic“ Tradition and Its Alter-
natives, Cambridge 1999.
7 Zum Motiv der zerrissenen Perlenkette s. Eddy de Jongh: Pearls of Virtue and
Pearls of Vice, in: Simiolus 2 (1975/76), S. 69–97, bes. S. 88.
8 Zum frühneuzeitlichen Verständnis s. Ian Donaldson: The Rapes of Lucretia. A
Myth and Its Transformations, Oxford 1982.
206
  Pablo Schneider

Bild anhand der fallenden Skulptur angedeutet sein.9 Doch das Verhalten der
Lucretia war immer Gegenstand von Deutung und diese werden durch visuelle
Störungen nachhaltig befördert.
Der Augenblick der drohenden Vergewaltigung der Lucretia durch Tar-
quinius findet sich auch in einem Kupferstich nach Giulio Romano, der zwischen
1524 und 1530 entstand (Bild 3). Das Geschehen, so wie es das Blatt vorstellt,
erfährt eine verstörende Wendung, die vor dem Hintergrund eines konfronta­
tiven Umgangs mit frühneuzeitlichen Moral- und Verhaltensvorstellungen nur
in Details beschrieben werden soll. Im Vordergrund eines sich in die Tiefe erstre-
ckenden Raums ist auf der linken Seite ein Bett mit geschwungenen Seitenteilen
zu erkennen. Es wird von schweren Stoffbahnen nach hinten abgeschirmt. Über
dem Kopfende hängt eine Laterne, aus deren Schale Flammen nach oben zün-
geln. Das hauptsächliche Geschehen findet nun in diesem Bildteil statt, dem eine
Szene rechts korrespondiert. Der Darstellung Tintorettos vergleichbar, deutet
im Kupferstich auch nur das nicht sofort sichtbare Schwert auf das Drama hin.
Mit seinem linken Knie stützt sich Tarquinius bereits auf das Bett, während das
andere Bein unmittelbar zu folgen scheint. Die Hand des linken Arms hat die
Decke ergriffen und von Lucretia weggezogen. Der völlig entblößte Tarquinius
blickt ruhig, gelassen und mit halb geschlossenen Augen auf die ebenfalls nackte
Frau und scheint offensichtlich im Begriff zu sein, sich zu ihr legen zu wollen.
Lucretias Verhalten in dieser Situation ist ambivalent. Ihr Gesicht drückt
kaum Angst oder Abscheu aus. Einzig ihr bewegtes Haar, dessen wellige Formen
nach links verlaufen, könnten als Visualisierungen von fluchtartigen Bewegungen
interpretiert werden, nur bleibt dieses Detail eine Andeutung. Mit ihrer linken
Hand berührt sie den Oberkörper des Bewaffneten. Diese Geste als Abwehrgeste
zu verstehen, erscheint unangebracht, besonders da sich Spekulationen um die
Lage ihrer rechten Hand anschließen können. Obwohl nicht sichtbar, lässt sich
unschwer vermuten, dass sie sich etwa in Höhe von Tarquinius Geschlechtsteil
befinden muss.
So entstehen Deutungsmöglichkeiten gegenüber ihrem Verhalten, die
durch eine nicht vollständige Sichtbarkeit provoziert werden. Es wird denkbar,
dass Lucretia die verwerfliche Tat des Tarquinius unterstützte oder möglicher-
weise nicht behindert hat. Doch dieses Detail ist vor dem Hintergrund der früh-
neuzeitlichen Rechtspraxis als überaus problematisch anzusehen, da auch nur
die Andeutung einer Zustimmung für den Vergewaltiger strafmildernd gewer-
tet worden wäre. Der sich später anschließende Selbstmord der Lucretia stünde
damit in einem anderen Licht. Er wäre nicht mehr als Beweis ihrer Unschuld zu

9 Zu den politischen Implikationen s. Melissa M. Matthes: The Rape of Lucretia and


the Founding of Republics. Readings in Livy, Machiavelli, and Rousseau, Univer-
sity Park, PA 2000.
207
  Das fordernde Bild

Bild 3  Nach Giulio Romano: Tarquinius und Lucretia, um 1524/30,


Kupferstich, 27,5 × 40,7 cm, London, British Museum.

bewerten, sondern müsste als Todsünde gelten, die der Verschleierung eines frag-
würdigen Handelns diente. Die Konsequenz daraus wäre die Umkehrung des
römischen Gründungsmythos: Wenn Lucretias Tugend hinfällig ist, dann fußt
der römische Staat auf einem Betrug.
Ein Gemälde wie das von Tintoretto oder der Kupferstich nach Giulio
Romano, beide exemplarisch für eine große Anzahl frühneuzeitlicher Bildfin-
dungen, lassen im zeitlich ausgedehnten Akt der Betrachtung eine Situation
entstehen, welche die Person vor dem Bild empathisch anspricht und moralisch
herausfordert.10 Diese Motivgestaltungen sind somit nicht als Tugendexemplare
zu verstehen, sondern sie bringen tugendhaftes Verhalten in den Deutungen und
Entscheidungsmöglichkeiten erst hervor. Diesem Verständnis zufolge sind die
dargestellten Vorgänge niemals abgeschlossen. Die Motive haben keine narrative,
oder belehrende Ausrichtung, sondern eine bildaktive in dem Sinne, dass sie in
der Betrachtung Sinn generieren. Das Wissen des Betrachters kommt als ein ent-
scheidendes, dramatisierendes Element hinzu. Die zunächst exklusive Perspekti-
ve schwingt um in eine bedrückende Konstellation von Tat und Anschauung,11

10 Zum Bedeutungsspektrum des frühneuzeitlichen Verständnisses der Emotionen


s. Dominik Perler: Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheo-
rien 1270–1670, Frankfurt/M. 2011.
11 Zu Raum- und Anordnungsfragen s. Thomas Puttfarken: The Discovery of Picto-
rial Composition. Theories of Visual Order in Painting, 1400–1800, New Haven
2000, bes. S. 37f. u. 156.
208
  Pablo Schneider

Bild 4  Lucas van


Leyden: Susanna
und die beiden
Alten, um 1508,
Kupferstich,
19,6 × 14,3 cm,
London, British
Museum.

in der sich das vorangehende und das sich anschließende Geschehen, aber auch
die gesamte moralische und politische Belegung des Themas aufwerfen.

Stei ne
Anhand eines weiteren Beispiels soll der hier aufgeworfenen Frage abermals
nachgegangen werden. Lucas van Leyden schuf um 1508 einen Kupferstich, der
eine feinsinnig durchdachte Konstellation von Bild- und Betrachterwelt vorstellt
(Bild 4). Das Thema ist „Susanna und die beiden Alten“.
Hinter einem Baum und vor einem hoch aufragenden massiven Felsen
sind die beiden Richter zu erkennen. Von ihrem Standpunkt aus können sie
Susanna unbemerkt beobachten. Diese sitzt bekleidet an einem Teich und hat
ihren Rock bis über die Knie hochgezogen, um die Füße ins Wasser zu tauchen.
Sie schaut mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck nach unten. Die beiden
männlichen Figuren befinden sich in einer ganz anderen Stimmungslage. Der
rechte kniet auf dem Boden, weist mit einer Hand in Richtung der Susanna und
209
  Das fordernde Bild

Bild 5  Jacob Matham, nach Hendrik


Goltzius: Die Wollust, 1593,
Kupferstich, 32,5 × 17 cm, London,
British Museum.

sieht gleichzeitig nach hinten. Mit einem fragenden Gesichtsausdruck blickt er


seinen Komplizen an. Dieser beugt sich nach vorn, um die Frau ebenfalls sehen
zu können. Er hat die Augen leicht zusammengekniffen und den Mund ein
wenig geöffnet. Mit seiner linken Hand hält er sich an einem abgestorbenen Ast
fest; mit seiner rechten zieht er seinen Umhang zusammen.
Die Figur des stehenden Mannes, der seinen Mantel rafft, tritt in Jacob
Mathams Serie Die sieben Todsünden, die nach Vorlagen von Hendrik Goltzius
gefertigt wurden, wieder auf, wo die Wollust den Stoff in vergleichbarer Weise
hält (Bild 5). Auch der erste Teil der Bildunterschrift – „Wen bringt die wilde
Fleischeslust nicht um den Verstand?“ – scheint durchaus anwendbar auf die
Geschichte von Susanna und den beiden Alten zu sein.12 Während die stehende
Figur bei van Leyden im Licht steht, befindet sich der Kniende im Schatten. Die
Gesten der beiden erzeugen den Eindruck, als seien sie sich über ihr Vorgehen

12 S. Kornelia von Berswordt-Wallrabe (Hg.): Sinnbild und Realität. Niederländische


Druckgraphik im 16. und 17. Jahrhundert, Schwerin 1998, S. 134f.
210
  Pablo Schneider

noch nicht ganz einig. Die frühneuzeitliche Gestenlogik legt nahe, dass Körper-
haltung und Gesichtsausdruck Auskunft über die Absichten der Seele geben.
Exemplarisch wurde diese Überlegung in Leonardo da Vincis Malereitraktat
ausgeführt, der in der Frühen Neuzeit umfänglich rezipiert wurde: „Ein guter
Maler hat zwei Hauptsachen zu malen, nämlich den Menschen und die Absicht
seiner Seele. Das Erstere ist leicht, das Zweite schwer, denn es muss durch die
Gesten und Bewegungen der Gliedmaassen ausgedrückt werden.“13 So wird die
unentschiedene Situation deutlich vorgestellt.
Susanna ist in den seitlichen Mittelgrund des Blattes gerückt, so dass der
Abstand zwischen den Richtern und ihr groß ist. Die räumliche Trennung wird
durch ein weiteres Detail betont: Die Pforte zum Garten ist verschlossen. Die
beiden Männer haben sich zwar versteckt, wie es im Buch Daniel berichtet wird,
sind aber noch nicht in Susannas Nähe. Den Variationen in der Lucretia-Thema-
tik vergleichbar, bot auch die biblische Erzählung Spielräume für ihre bildliche
Darstellung. So wurde in der Emblemliteratur, etwa in den Emblemas Morales
des Sebastián de Covarrubias Orozco von 1610, die Möglichkeit der Mitschuld
Susannas am Vergehen, das an ihr verübt wurde, thematisiert.
Mit dem Rückgriff auf das fünfte Buch der Metamorphosen Ovids wur-
de die Szene von Susanna und den beiden Alten unter dem Motto nuda visa sum
paratior (weil ich nackt bin, erscheine ich als leichte Beute) vorgestellt. Die sich
anschließende Erläuterung wird noch eindeutiger: „Die Gelegenheit weckt den
Trägsten auf und gibt dem Niederträchtigen und Kleinmütigen Stärke. Sie ver-
führt den Dieb und Vorwitzigen zu unbedachter Tat. Sogar der Altersschwache,
der zufällig die nackte Venus an seiner Seite liegen sah, entflammet vor Begier-
de und Liebeswut – wie jene beiden Greise der Susanna.“14 Diese Auslegung deu-
tet an, welches Deutungsspektrum sich aufbauen konnte.
Die Gestensprache der beiden Männer, besonders des Knienden, findet
sich auch auf einem etwa zeitgleich entstandenen Blatt van Leydens, dem Sün-
denfall von 1508 (Bild 6). Die Grafiken sind nicht nur auf kompositorischer Ebe-
ne ähnlich angelegt. So ist es Adam, der sich mit vergleichbaren Handbewegun-
gen Eva zuwendet und im Begriff ist, den Apfel vom Baum der Erkenntnis in
Empfang zu nehmen. Adam ist spiegelbildlich zu der Figur des Knienden aus
Susanna und die beiden Alten wiedergegeben. Er wendet sich mit geradezu spre-
chenden Händen der weiblichen Hauptfigur zu. Eine weitere Parallele besteht in
Adams Gesichtsausdruck, der wiederum dem Stehenden des Susanna-Blattes

13 Leonardo da Vinci: Buch von der Malerei. Deutsche Ausgabe. Nach dem Codex
Vaticanus 1270, hg. v. Heinrich Ludwig, Neudruck der Ausg. v. 1882, Osnabrück
1970, S. 128.
14 Sebastián de Covarrubias Orozco: Emblemas Morales, Madrid 1610, S. 231;
s. Arthur Henkel/Albrecht Schöne (Hg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst
des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart 1996, Sp. 1856f.
211
  Das fordernde Bild

Bild 6  Lucas van Leyden: Der Sündenfall, um 1508, Kupferstich,


11,7 × 8,7 cm, London, British Museum.

ähnlich ist. Die Gesichter der männlichen Figuren in beiden Bildern unterstrei-
chen eine auf die unmittelbare Zukunft gerichtete, fragende und überlegende
Haltung der Personen.
Dieses entscheidende Moment in der Anlage des Alten sowie Adams ist
ebenso in den Figuren der Susanna und Eva präsent. Beide lassen sich ihrer
nachsinnenden Haltung gemäß zunächst auf den Themenbereich der Melan-
cholie beziehen. An diese visuelle und thematische Anbindung schließt sich der
Bezug zur vita contemplativa an, die immer auch den Konterpart der vita activa
impliziert. Doch nicht nur im impliziten Dualismus werden die beiden Pole –
aktiv versus kontemplativ – deutlich, sondern auch in den Personen selbst. Der
Kniende und Adam kommunizieren mittels der Bewegungen ihrer Hände. Ihre
Gedanken werden dem Betrachter durch die Gestik angezeigt. Das, was auf der
inhaltlichen Ebene geschieht, scheint zunächst unzweifelhaft zu sein, verliert
212
  Pablo Schneider

jedoch bei eingehender Betrachtung seine Eindeutigkeit. Dieser Rezeptionsver-


lauf lässt sich in vielen frühneuzeitlichen Bildern beobachten. Die vermeintlich
unmissverständlich inhaltliche, manchmal belehrend wirkende Ausrichtung
wird in die Richtung einer produktiven Verunsicherung des Betrachters gelenkt.
Folglich muss der Rezipient Entscheidungen treffen, die sowohl in ihrer intellek-
tuellen als auch emotionalen Brisanz den Moment eines moralischen Dilemmas
evozieren.
In ihrer Tendenz ähneln sich die Bildthemen insofern, als es um die Hand-
lungen des Verführens und Widerstehens geht. Diesen Aspekt rückt van Leyden
in beiden Graphiken in den Vordergrund seiner bildlichen Interpretation. Den-
noch bleibt ein Unterschied bestehen: In ihrer Bedeutung können die Ereignisse
um Adam und Eva nur schwer auf eine vergleichbare Ebene mit der von Susanna
und den beiden Alten gebracht werden. Denn letztere, als auch historisch unmit-
telbar nachvollziehbare Erzählung, bietet den Betrachtern eine weitaus größere
Möglichkeit zur Distanzierung. Beide Bilder sind aber keineswegs als erzählend
im Sinne einer Historiendarstellung zu deuten. So stellt das eine den Moment
des Sündenfalls dar: Die Äpfel werden empfangen, aber noch nicht gekostet. Die
Vorstellung, der Betrachter könne in die Situation eingreifen, ist zwar möglich,
widerspricht jedoch der heilsgeschichtlichen Logik, da der Betrachter selbst
eigentlich noch nicht existent ist. Er kann jedoch den dramatischen Ablauf beob-
achten, welcher Raum für Meinungsbildung und individuelle Er­kenntnisse lässt.
Indem eine unabgeschlossene Bewegung stattfindet, werden Handlungsverläufe
und Handlungseventualitäten sichtbar beziehungsweise bedenkbar. Die Distanz
zwischen biblischer Erzählung und der Gegenwart des 16. Jahrhunderts bleibt
allerdings gewahrt, wodurch Adam und Eva als ein distanziertes Denkobjekt
erscheinen. Bei Susanna und die beiden Alten verhält es sich jedoch anders. Die
Fassung van Leydens, die sich in ihrer differenzierten Anlage von den gängigen
Bildfindungen des 16. Jahrhunderts unterscheidet, baut die Bezüge zum Betrach-
ter auf verschiedenen Ebenen auf.
Das zentrale Moment in beiden Darstellungen liegt, wenn auch mit gra-
duellen Unterschieden, darin, dass das endgültige Ergebnis der Handlungen
noch nicht entschieden ist.15 Der Betrachter hat zwar Kenntnis hiervon – Sünden-
fall beziehungsweise die Bestrafung der Alten – doch wird in den Motiven ein
sicheres Wissen hierum ausgeblendet. Zunächst verlegt van Leyden die bibli­sche
Geschichte in die Lebenswelt des Betrachters; ein bekannter Vorgang, der für die
Rezeption der Darstellung relevant ist. Hierzu gehört auch die Kleidung der
Alten, welche nicht nur der Zeit entspricht, sondern auch keine exotischen bezie-
hungsweise fremden Merkmale aufweist, wie sie in anderen Gemälden und

15 S. Herman Roodenburg: The Eloquence of the Body. Perspectives on Gesture in the


Dutch Republic, Zwolle 2004, S. 120.
213
  Das fordernde Bild

Graphiken genutzt wurden. Ebenso fehlt eine negative Wertung der Figuren, die
etwa mittels der Physiognomik hätte bewirkt werden können. Van Leyden
wählte also nicht die Form einer narrativen Distanzierung.
Die Kontextualisierung wurde gesteigert, indem bereits die Identifizie-
rung der beiden Figuren unterlaufen wird; im Gegensatz zu den im 15. und
16. Jahrhundert verbreiteten Darstellungen als Bärtige sind sie hier keineswegs
als Alte zu beschreiben. Dieses gegen die Ikonographie gerichtete Detail unter-
läuft dennoch nicht die Thematik. Auch ohne dieses Detail war die dargestellte
Begebenheit für die Betrachter erschließbar, zumal sie als allgemein vertraut
gelten konnte. Die Ereignisse aus dem 13. Buch Daniel waren in Grundzügen – in
ihrem Ausgang und dem moralischen Verständnis – Allgemeingut. Hier bestand
kein Interpretationsbedarf, es konnte vielmehr der Kenntnisstand des Publi-
kums genutzt werden, was allein durch den umfangreichen Fundus an bild-
lichen Darstellungen dokumentiert wird. Es sind die kleinen Abweichungen der
Bildfindungen gegenüber der tradierten Erzählung, die in der Betrachtung eine
moralische Frage aufkommen lassen.
Durch das Wissen um die Geschichte vermögen kleine Details im Bild
eine weitaus größere als die zu erwartende Wirkung zu entfalten, da diese nicht
so sehr zur Identifikation des Sujets dienen, sondern vielmehr als widerständige
Objekte agieren, die das individuelle Denken befeuern. Die Urteilsbildung des
Betrachters wird gefordert, wie es sich auch in frühneuzeitlichen Fürstenspie-
geln oder den religiösen Tendenzen zur Eigenverantwortlichkeit beobachten
lässt. So fasst bei van Leyden ein Halbkreis von fünf Steinen die beiden Alten ein,
welcher rechts vom Knienden beginnt und etwa in der Mitte des unteren Bild-
randes endet. Dieses der natürlichen Umgebung angemessene Detail kann als
eindrücklicher Hinweis auf die spätere Steinigung verstanden werden, vor der
Susanna durch rechtzeitige Aufdeckung der Wahrheit bewahrt wurde, während
die Richter später durch diese Bestrafungsart zu Tode kommen sollten. Hier
werden die beiden Männer allerdings nur dabei gezeigt, wie sie beobachten und
kommunizieren. Ein Fehlverhalten hat noch nicht stattgefunden. Der Betrachter
wiederum wird in den Kreis der Beobachtenden mit einbezogen. Direkt vor ihm
liegt jedoch der größte Stein, der Instrument der Hinrichtung werden kann. Aus
dem Akt des Betrachtens heraus gedacht und im thematischen Kontext von
Theologie und Empathie gesehen, befindet sich die einzig mögliche Person in
der Konstellation, die einen Stein nehmen könnte, vor dem Bild und so wird das
bibli­sche Diktum „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf
sie.“ (Joh. 8,7) augenblicklich vergegenwärtigt.
Die Darstellung von Susanna und die beiden Alten, wie sie van Leyden
konzipierte, ist auf die Präsentation eines Entscheidungsmomentes ausgerichtet.
Doch wird dieser nicht als exemplarisch für die gesamte Begebenheit vorgestellt.
Es ist in diesem Sinne keine Erzählung zu erkennen, sondern vielmehr „nur“
214
  Pablo Schneider

eine Situation in einer längeren Geschichte. Diese wird wiederum nicht zu einer
symbolischen Form der biblischen Begebenheit, die der Betrachter zu durch-
denken hat. Es wird vielmehr eine andere Ebene angesprochen, die im Kontext
von Überlegungen zum Vorgang des moralischen Dilemmas verortet werden
kann.
Die Person vor dem Bild wird zu einer dritten im Bild, ohne hierfür
eigens angedeutet zu werden. Ähnlich wie die beiden Alten ist sie gegenüber der
Susanna verborgen und steht somit auf der verschatteten, dunkleren Seite des
Hügels, hinter welcher sich der Kniende befindet. Die räumliche Lage gegenüber
der Susanna bringt die Alten und den Betrachter zusammen. Ihre Darstellung
als nicht alt, nicht fremd und nicht negativ verstärkt den sich ergebenden
Zusammenhang zwischen inner- und außerbildlichen Personen. Die Handlung
des Beobachtens, in der die beiden Alten begriffen sind, ist einer verheirateten
Frau gegenüber zwar unangemessen, doch nicht strafbar. Es ergeben sich aber
nach frühneuzeitlichem Verständnis erste Andeutungen einer charakterlichen
Schwäche der beiden männlichen Personen, befinden sie sich doch in einem
Zustand, der die gebotene Zurückhaltung gegenüber der Susanna vermissen
lässt. Ihr triebhaftes Verlangen beginnt sie zu dominieren und das rationale, der
Vernunft unterworfene Agieren verliert seine lenkende Position. Mit dem Wis-
sen um den Verlauf der Geschichte kann der Betrachter diesen Prozess gedank-
lich detailliert vorwegnehmen und befindet sich in diesem frühen, bereits pro-
blematischen aber noch nicht fatalen Zeitpunkt am Geschehen beteiligt. Die
Person des Stehenden mit seinen zusammengekniffenen Augen und der Hand,
die den Stoff in der Nähe des eigenen Schoßes rafft, liefern eindeutige visuelle
Hinweise darauf, was dann beide zu unternehmen beabsichtigen: eine Ver-
gewaltigung.
Die hier exemplarisch vorgestellten Bilder weisen dem Betrachter eine
hohe Bedeutung zu, indem sie ihn in eine moralische Grenzsituation leiten. Sein
Wissen um die biblischen Ereignisse ist hierbei von ausschlaggebendem Gewicht
und wird in die Konstellation von Sehen und Deuten konstitutiv mit einbezo-
gen. Diese mündet darin, dem Betrachter eine Eigenverantwortlichkeit gegen-
über dem dargestellten Geschehen zuzuschreiben, das sich nie in einer abschlie-
ßenden Deutung auflösen lässt. Zum Thema werden zentrale ethische Fragen, die
auf den Kern eines harmonischen Zusammenlebens zielen.
Die Motive zeigen einen Moment der historia. Nun ist, wie bereits aus-
geführt, nicht nur der Ablauf der Gesamterzählung bekannt, sondern auch der
moralische Deutungsrahmen. Doch kann mittels der Darstellungsform eine
Situation entstehen, die dazu führt, den individuellen Standpunkt gegenüber
dem Geschehen zu bedenken. Nicht nur mit dem Blick auf die bildlichen Protago-
nisten, sondern auch mit der Perspektive auf die persönliche Entscheidungskom-
petenz. Es bleibt zu fragen, ob die Darstellungen aus dem Leben der Lucretia
215
  Das fordernde Bild

Bild 7  Pieter Claesz: Großer Römer mit Früchten, um 1627,


Öl auf Leinwand, 49,3 × 39,7 cm, Privatbesitz.

oder Susanna Einzelfälle im Kontext dramatischer Begebenheiten darstellen.


Oder kann der Frage auch in einer generellen Perspektive nachgegangen wer-
den?

Spiegelu ng – Resü mee


Um 1627 fertigte Pieter Claesz ein Stilleben an (Bild 7), das als Großer Römer
mit Früchten summarisch zu beschreiben ist.16 Auf einer steinernen Platte sind
Birnen, Quitten, Pfirsiche sowie Johannis- und Brombeeren zu erkennen. Alle
Details können symbolisch gedeutet werden, manche mit mehrschichtigen Kon-

16 Zu Claesz s. Martina Brunner-Bulst: Pieter Claesz. Der Hauptmeister des Haar-


lemer Stillebens im 17. Jahrhundert. Kritischer Œuvrekatalog, Lingen 2004; Pieter
Biesboer u.a. (Hg.): Pieter Claesz. Stilleben, Zwolle 2004.
216
  Pablo Schneider

notationen.17 So wurden Birne und Quitte mit Liebe, Fruchtbarkeit und sexuel-
lem Verlangen assoziiert, wohingegen die Johannisbeere als Mittel gegen ein
Übermaß an Genuss betrachtet wurde. Ob der zeitgenössische Betrachter davon
Kenntnis hatte, ist nicht das zentrale Moment. Es ist vielmehr von Bedeutung,
dass ihm bewusst war, dass diese inhaltlichen Faktoren existierten.
Von links oben fällt sanftes, natürliches Licht in den Raum und reflek-
tiert sich im Glas in mannigfaltigen Spiegelungen und Brechungen. Das natür-
liche Phänomen lässt den Betrachter im bauchigen Römer die physikalischen
Eigenschaften des Lichts beobachten. Diese Bildwelt im Rund des Glases ist eine
natürliche Erscheinung und kann als solche gedeutet werden. Das Aufeinander-
treffen von Licht, Wein und Gefäß findet in einer abgestuften Farbigkeit statt.
Das Spektrum umfasst Braun- und Beigetöne sowie Grau und Weiß. So kann
der Betrachter zunächst einmal unterschiedliche Farbschleier wahrnehmen und
diese als natürliche optische Phänomene ansehen.
Doch wann wird ein von der Natur geschaffenes, also nicht von Men-
schenhand beeinflusstes sichtbares Phänomen zum Bild? Diese Motive mit einem
unmittelbar an die Natur gebundenen Ursprung sind von einer hohen Bedeu-
tung, da sie die Verantwortung des Betrachters einfordern, indem er zum Deu-
ten aufgefordert wird: natürliche Erscheinung versus mahnendes Symbol. In der
Kombination der Tonwerte ist die Szene im Glas beispielsweise mit Rembrandts
Kreuzabnahme von circa 1633 verwandt. Das eingespiegelte Fensterkreuz muss
dementsprechend entweder als natürliches Phänomen oder moralischer Hinweis
in seiner Tragweite eingeordnet werden.
Die Aspekte des Sehens und die des Wissens standen so in einem heiklen
Spannungsverhältnis.18 Denn in der Frühen Neuzeit existierte im engeren Sinne
kein unvoreingenommenes Sehen. Der Betrachter war im Gegenteil gefordert,
sehr genau zu überlegen, was er eigentlich sah.19 Die Pfirsiche beispielsweise

17 S. zu diesem Konflikt – sichtbarer Befund versus Ikonologie – die Betrachtungen


von Hecht und weiterführend von Westermann. Peter Hecht: The Debate on Sym-
bol and Meaning in Dutch Seventeenth-Century Art. An Appeal to Common
Sense, in: Simiolus 2/3 (1986), S. 173–187; Mariëte Westermann: After Iconogra-
phy and Iconoclasm. Current Research in Netherlandish Art, 1566–1700, in: Art
Bulletin 2 (2002), S. 351–372.
18 Zu diesen Überlegungen mit Orientierung auf Michael Baxandalls Konzeption des
„period eye“, die er 1972 in: Painting and Experience in Fifteenth-Century Italy. A
Primer in the Social History of Pictorial Style, Oxford 1972 (dt. Übers.: Die
Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts,
Frankfurt/M. 1987) vorstellte, vgl. Allan Langdale: Aspects of the Critical Recep-
tion and Intellectual History of Baxandall’s Concept of the Period Eye, in: Art His-
tory 4 (1998), S. 479–497.
19 Zum Stellenwert des Sehens zu dieser Zeit vgl. Svetlana Alpers: Kunst als Beschrei­
bung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 21998, bes. S. 88–146. Zur
zeitgenössischen Kritik an der Aussagekraft des Sehens s. Erich Kleinschmidt: Actio
217
  Das fordernde Bild

konnten als Ausdruck fleischlicher Lust gedeutet werden. Doch der dreiteilige
Aufbau der Frucht – Fruchtfleisch, Kern, Samen – war ebenso als Verweis auf
die Dreieinigkeit zu verstehen.20 Das sich prominent auf dem Römer zeigende
Fensterkreuz löste die prekäre Situation keineswegs auf. In erster Linie war es
als natürliche und physikalisch korrekt wiedergegebene Spiegelung zu verste-
hen. Dennoch ist es so angelegt, dass der Verweis auf das Kreuz der Hinrichtung
Jesu offensichtlich ist. Die Entscheidung darüber, dieses so und nicht anders zu
sehen, wurde bewusst dem Betrachter überlassen.
Wie bereits angesprochen, gab es in der Frühen Neuzeit kein im ethisch-
religiösen Sinne wertfreies Sehen und Denken. Das Gesicht etwa, gedacht als
Spiegel der Seele, präsentierte den moralischen Zustand des jeweiligen Individu-
ums.21 Negative oder despektierliche Gedanken waren mit der Konsequenz der
visuellen Deformation verbunden – „hässliche“ Gedanken hatten eine „hässliche“
Physiognomie zum Ergebnis. In dieser Perspektive verliert die Anschauung alle
Neutralität oder Unschuld. Die Distanz zur Darstellung verschwindet und kann
nur durch eine moralisch im christlichen Sinne gefestigte Betrachtung erlangt
werden.
Die hier besprochenen Gemälde und Kupferstiche kreieren eine Situati-
on, die den Rezipienten fordert und die gerade eben die Selbstbefragung forciert.
Ein gespiegeltes Fensterkreuz stellte dementsprechend eine visuelle Herausfor-
derung dar. Allen hier vorgestellten Werken ist gemeinsam, dass sie den Betrach-
ter bemühen, sich über das Sichtbare und über das Denkbare klar zu werden. Es
sind mit Nachdruck fordernde Bilder, die sich an die Eigenverantwortung und
Entscheidungskompetenz richten und ihren Status als bildaktive Werke begrün-
den.

per distans. Begriffsstrategien der Sichtbarkeit, in: Maria-Theresia Leuker (Hg.):


Die sichtbare Welt. Visualität in der niederländischen Literatur und Kunst des 17.
Jahrhunderts, Münster 2012, S. 19–35.
20 Vgl. Brigitte Röser: Niederländische Stilleben. „Nichts ist in den Dingen ohne Sinn“,
Mainz 2005, S. 37.
21 Hierzu Thomas Lentes: Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Dis-
kussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten
Mittelalters, in: Klaus Schreiner/Marc Müntz (Hg.): Frömmigkeit im Mittelalter.
Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München
2002, S. 179–220, S. 179; Hans Belting: Das Bild und sein Publikum im Mittelalter.
Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion, Berlin 1981.
VII. Formakte
Nicola Suthor

M eta / P hysik der S kizze


Zum Nachvollzug des Gedankengangs im Linienzug

Anfang des 19. Jahrhunderts brachte der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich
Hegel die Faszination an der skizzenhaften Zeichnung prägnant zum Ausdruck.
Er stellte in seinen Vorlesungen zur Ästhetik und Philosophie der Kunst fest,
dass „hauptsächlich beim Skizzenhaften […] der innere Geist […] erfindungsreich
und phantasievoll […] aus der gleichsam durchsichtigeren, leichteren Hülle der
Gestalt unmittelbar heraustreten kann“.1 Die Wortwahl „heraustreten“ ist sig-
nifikant: Hegel suggeriert damit die Möglichkeit der Überschreitung der Gren-
ze, die ein Innen von einem Außen trennt. Die Skizze ist damit als eine Bewe-
gung beschrieben, welche die Polarisierung von Geist und Materie überwindet,
indem sie einen Schwellenraum schafft. Wenn Hegel von einer „gleichsam durch-
sichtigeren, leichteren Hülle“ spricht, dann stellt er eine Transparenz in Aussicht,
die jedoch durch die Steigerung ‚durchsichtiger‘ zugleich relativiert ist – und im
Folgenden problematisiert wird.
Hegels enorme Wertschätzung der Skizze als unmittelbare Entäußerung
des Geistes ist in der kunstliterarischen Bezeichnung der eiligen Skizzierung als
first thought vorbereitet.2 Ein Jahrhundert vor Hegel erklärt der Porträtmaler
und Kunsttheoretiker Jonathan Richardson in The Theory of Painting (1715)
den steigenden Marktwert der first thoughts, die er an anderer Stelle als „very
flight, but spirituous scrabbles“3 beschreibt, wie folgt: „[T]hey are the very spirit

1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik [1838], Bd. 3,
Frankfurt/M. 1990, S. 69.
2 Vgl. zu der Bezeichnung der Skizze als „erster Gedanke“ Baldinuccis Formulier-
ung in einem Brief an Vincenzo Capponi vom 28. April 1681: „opere d’arte non solo
le pitture, ma anche i disegni che i pittori fanno nelle carte, e fino a’ primi pensieri
o schizzi.“ Filippo Baldinucci: Notizie dei Professori del Disegno da Cimabue in
Qua, Bd. 6: Appendice, hg. v. Paola Barocchi, Florenz 1975, S. 469f.
3 Jonathan Richardson: Of the Knowledge of Hands [1773], in: The Works, hg. v.
Jonathan Richardson Jr., Hildesheim 1969, S. 202–222, S. 216.
222
  Nicola Suthor

and quintessence of the art: Here we see the steps the master took […] these are
undoubtedly altogether his own, and true and proper originals.“4
Doch wie nah am schöpferischen Denken und also am Ursprung der
Kunst sind die rohen Skizzen? Kann dieses Denken tatsächlich derart verfügbar,
unmittelbar greifbar sein? Wenige Jahre später gibt Richardson in seinem Essay
Of the Knowledge of Hands zu bedenken: „In all the works of art there are to be
considered, the thought and the workmanship, or manner of expressing or exe-
cuting that thought. What ideas the artist had we can only guess at what we see,
and consequently cannot tell how far he has fallen short, or perhaps by accident
exceeded them.“5 Für Richardson geht also die künstlerische Idee nicht zwangs-
läufig in ihrer Realisierung auf, sondern kann dabei unter- oder sogar überboten
werden, jedoch ist das Zusammenspiel von „thought“ und „workmanship“ für
den Betrachter nicht einsehbar. Richardsons Unterscheidung geht von der unge-
sicherten Perspektive des Betrachters aus – „we can only guess“ – der Gedanke
kann nur unterstellt werden. Jedoch suggeriert Richardson die Möglichkeit, dass
der Gedankengang, den der Linienzug der Zeichnung dokumentiert, durchaus
nachvollziehbar ist, wenn er über die Skizze schreibt: „there we see the steps the
Master took“ – eine Erwartung, die de facto eine Wunschvorstellung ist, die bis
heute die Zeichnungsforschung motiviert.
Roland Barthes hatte in seinem einflussreichen Essay zu Cy Twombly
den Duktus der Linie als faszinierendes Moment der Zeichnung, in welchem die
einstige Körperbewegung des Zeichners und ihre Kraft spürbar werden, beleuch-
tet. Sein Gedanke, dass der sich im Linienzug versenkende Betrachter sich in „die
Fußstapfen der Hand“ des Künstlers begibt und dessen Bewegung reproduktiv
nachvollzieht,6 hat unlängst David Rosand in Drawing Acts aufgenommen und
für die Kunstgeschichte fruchtbar gemacht.7 Die agency der Linie, die Barthes
herausstreicht, wenn er die Linie als energon, als „ein Arbeiten“, beschreibt,8

4 Ders.: The Theory of Painting, in: The Works (wie Anm. 3), S. 1–157, S. 82.
5 Ders.: Of the Knowledge of Hands (wie Anm. 3), S. 202.
6 Roland Barthes: Cy Twombly ou „non multa sed multum“, in: Œeuvres complètes,
Bd. 3: 1974–1980, hg. v. Éric Marty, Paris 1995, S. 1043.
7 Für David Rosand: Drawing Acts: Studies in Graphic Expression and Representa-
tion, Cambridge 2002, S. 240, gibt es nachvollziehbarerweise nur einen Weg: „How
do we get to that ‚mind‘ or that ‚vision‘ if not through the making of the hand?“
Vgl. a. jüngst den innovativen Beitrag von Hanna Gründler, die ausgehend von der
metaphorischen Nähe, die der Philosoph Wittgenstein zur Praxis der Zeichnung
herstellt, Leonardos componimento occulto als Denkleistung begreift: „A Labyrinth
of Paths“: Ludwig Wittgenstein on Seeing, Drawing and Thinking, in: Marzia
Faietti/Gerhard Wolf (Hg.): Linea II: Giochi, Metamorphosi, Seduzioni della Linea,
Mailand 2012, S. 223–235.
8 „Le trait […] c’est un energon, un travail.“ Barthes: Cy Twombly ou „non multa
sed multum“ (wie Anm. 6), S. 1042.
223
  Meta/Physik der Skizze

findet in Rosands Vorstellung von dem „desire of the line“ eine Entsprechung.9
Rosands Zuspitzung „meaning is generated by the stroke itself“10 begreift den
Linienzug schließlich als immanente Denktätigkeit und koppelt ihn damit von
der motivierenden Instanz des Vorstellungsvermögen des Künstlers ab.
Die Leistung des Betrachters im Nachvollzug der Linie ist jedoch eine
eigenständige „innere“ Bewegung, die das eigene Vorstellungsvermögen bean-
sprucht, wie schon Wilhelm Worringer in Rückgriff auf die Einfühlungsästhe-
tik Theodor Lipps11 in Abstraktion und Einfühlung herausstellte:

Jede einfache Linie mutet mir, damit ich sie als das, was sie ist, erfasse,
eine apperzeptive Tätigkeit zu. Ich muß den inneren Blick ausweiten, bis
er die ganze Linie umspannt; ich muß innerlich das so Aufgefaßte abgren-
zen und für sich aus seiner Umgebung herausnehmen. Also mutet jede
Linie mir schon jene innere Bewegung zu, die die beiden Momente in
sich schließt: die Ausweitung und Begrenzung. Außerdem aber stellt jede
Linie vermöge ihrer Richtung und Form noch allerlei spezielle Zumutun-
gen an mich.12

Worringers Vorstellung, dass die Linie „ihre Schönheit nur durch unser Vital-
gefühl [erhält], das wir dunkel in sie hineinversenken“,13 wird uns leiten, um der
Abschattung (formuliert im Komparativ), die Hegel zufolge medial die Trans-
parenz des Gedankens in Aussicht stellt, begrifflich näher zu kommen.
Vasari definiert die schizzi als „eine erste Art von Zeichnungen, die man
macht, um die Art und Weise der Haltungen und eine erste Zusammenfügung
des Werkes zu finden“; und fügt hinzu: „sie sind gemacht in der Form eines
Flecks“.14 Macchia ist zweifellos abschätzig gemeint und hat das in der Skizze
noch Unausgegorene im Blick. Im folgenden Jahrhundert wendet sich der Begriff

  9 Rosand: Drawing Acts (wie Anm. 7), S. 9, bezieht sich diesbezüglich auf Aussagen
von Henri Matisse und Paul Klee.
10 Ebd., S. 226; vgl. a. S. 16: „The drama is in the line. Meaning is generated in and by
the act of drawing itself.“
11 Worringer zitiert Theodor Lipps’ Ästhetik: „Es ist eine Grundtatsache aller Psy-
chologie und erst recht aller Ästhetik, daß ein ‚sinnlich gegebenes Objekt‘ genau
genommen ein Unding ist, etwas, das es nicht gibt und nicht geben kann. Indem es
für mich existiert […], ist es von meiner Tätigkeit, von meinem inneren Leben
durchdrungen.“ Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung, in: ders.: Schrif­
ten, Bd. 1, hg. v. Hannes Böhringer/Helga Grebling/Beate Söntgen, München 2004,
S. 68.
12 Ebd., S. 67.
13 Ebd., S. 73 (Herv. v. Verf.).
14 Giorgio Vasari: Le vite de’ più eccellenti pittori scultori e architettori nelle reda­
zioni del 1550 e 1568, Bd. 1, hg. v. Rosanna Bettarini/Paola Barocchi, Florenz 1966–
1987, S. 117.
224
  Nicola Suthor

ins Positive. Filippo Baldinucci fasst den Begriff der macchia in seinem 1681
publizierten Vocabulario toscano dell’arte del disegno wie folgt zusammen:

Maler benutzen dieses Wort, um die Qualität einiger Zeichnungen, und


manchmal auch Malereien [d.h. Ölskizzen] auszudrücken, die mit einer
außerordentlichen Leichtigkeit und mit einem solchen Zusammenhang,
und Frische, ohne viel Bleistift oder Farbe gemacht sind, dass es gleich-
sam erscheint, als wären sie nicht von der Hand eines Künstlers, sondern
als würden sie durch sich selbst auf dem Blatt oder der Leinwand erschei-
nen, und sie sagen, dieses ist eine schöne macchia.15

Die generative Kraft der macchia, die sich quasi selbst hervorbringt, veranschau-
licht Baldinucci in seinem Eintrag zu bozza – seit Vasari synonym für macchia
verwendet – durch eine weitere metaphorische Bezeichnung. Bozza wird hier
semantisch auf enfiatura (Anschwellung) beziehungsweise lateinisch tumor,
tuberculum zurückgeführt.16 Diese Konnektur ist von erheblicher kunsttheo-
retischer Tragweite, denn die Metapher suggeriert die Externalität des Formfin-
dungsprozesses. Die scheinbare Natürlichkeit des sich selbst generierenden Lini-
enzugs ist es, welche an den Nachvollzug des Gedankengangs im Linienzug
glauben macht, doch sollten wir den Konjunktiv der Formulierung nicht über-
hören.
Alexander Perrig hat in seinen wegweisenden wie kritisch diskutierten
Michelangelo-Studien schon auf die Unmöglichkeit des vollen Nachvollzugs
einer im Strichbild sich abzeichnenden Gesamtbewegung mit dem Hinweis auf
das Argument aufmerksam gemacht, dass deren Rekonstruktion notwendig die
„unausgeschriebenen Phasen“ innerhalb des zeichnerischen Prozesses unter-
schlage.17 In diesen Zwischenphasen konstituiert sich Perrig zufolge ein „neuer
Vorstellungsimpetus“, der die „blitzschnelle Vorausschau“ der sich im Prozess der
Skizzierung herausbildenden Bildidee motiviert.18
Das Abheben des Bewegungszugs vom Blatt unterstreicht in seiner Imma-
terialität denjenigen Aspekt der Zeichnung, der notwendig uneinsichtig bleibt
und nur vom Vorstellungsvermögen ansatzweise einskizziert werden kann. Es
sind insbesondere diese Bewegungen des Pausierens in der Konturierung, die
eine Reserve in die Zeichnung einlassen, welche die Konkretion eines inneren
Bildes dem Betrachter als gedanklicher Prozess – über dem Blatt schwebend, aber
von ihm abgehoben – transparent machen. Was sich durch die Absetzung eröff-
net, ist der reflexive Denkraum der Skizzierung, der mit dem kunsttheoreti-

15 Filippo Baldinucci: Vocabolario toscano dell’arte del disegno, Florenz 1681, S. 86.
16 Ebd., S. 23.
17 Alexander Perrig: Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 1: Michelangelo und die
Zeichenwissenschaft. Ein methodischer Versuch, Frankfurt/M./Bern 1976, S. 15.
18 Ebd., S. 17f.
225
  Meta/Physik der Skizze

schen Begriff disegno erfasst ist. Federico Zuccaros Unterscheidung von disegno
interno und disegno externo, die er in seiner Akademieansprache am 17. Januar
1594 darlegt, benennt die Spaltung innerhalb der Zeichnung in Einsichtiges und
Uneinsichtiges, welche die Gradlinigkeit des Nachvollzugs des Gedankengangs
im Linienfluss durchkreuzt. Laut Zuccaro leistet der disegno interno die specu-
latione, die sich als „Leistung des Intellekts“ („operatione dell’intelletto nostro“)
von der Handhabung dieser Spekulation in der Materialisierung des disegno
interno im disegno externo absetzt.19
Lizzie Boubli hat in ihrem Artikel Le plaisir et la nécessité, une voie en
transit den Abstand zwischen Imagination und Wirklichkeit als Ursprung der
Skizze beschrieben: „Es ist die Spaltung zwischen Imagination und dem Wirk-
lichen, aus der heraus das Bedürfnis entsteht, das Zufällige und die Verirrungen
einer Form auf dem Papier zu erleben.“20 Laut Boubli lässt „die Antinomie zwi-
schen dem Aufscheinen der Vision in der Intuition des Augenblicks und der
Aufzeichnung auf dem Blatt […] die visionäre Zeit und den visionären Raum“
auseinander gehen.21 Boublis Forderung einer Grenzziehung, die den Raum, der
nunmehr Imaginationsraum geworden ist,22 konturiert, ist in dem Slash reflek-
tiert, der im Titel dieses Aufsatzes „Meta“ von „Physik“ trennt.
Inwiefern ist also der Abstand zwischen Imagination und Wirklichkeit,
der sich in der Skizze phänomenal abzeichnet, Bedingung der Möglichkeit der
Erfahrung eines first thought? George Kublers Definition der Aktualität in The
Shape of Time mag einen ersten Anhaltspunkt bieten: „Aktualität ist, wenn der
Leuchtturm dunkel ist zwischen den Lichtblitzen: es ist der Augenblick der Stil-
le zwischen dem Ticken einer Uhr: es ist das leere Intervall, das auf ewig durch
die Zeit schlüpft […] Dennoch ist der Augenblick der Aktualität alles, was wir je

19 Zuccaro führt fort: „[…] e altra cosa è il disegno, che è termine di essa speculatione,
come diremo poi, & di più perche l’intelletto, non pone egli stesso in essecutione le
cose disegnate, ma la mano che opera tutte le cose fattibili.“ Federico Zuccaro:
Origine e Progresso dell’Academia del Disegno de’ Pittori, Scultori, & Architetti di
Roma, Pavia 1604, S. 18.
20 „[C]’est bien de cet écart entre l’imagination et le réel que naîtrait le besoin
d’éprouver la contingence et les errements d’une forme sur le papier.“ Lizzie Boubli:
Le plaisir et la nécessité, une voie en transit, in: Ausst. Kat.: Le plaisir au dessin:
Carte blanche à Jean-Luc Nancy, hg. v. Jean-Luc Nancy/Eric Pagliano/Sylvie Ray-
mond, Paris 2007, S. 205–213, S. 207.
21 „[C]ette antinomie entre l’éclair de la vision dans l’intuition de l’instant et la trans­
cription sur la feuille, qui diffère donc le temps et l’espace visionnaires.“ Ebd.,
S. 209.
22 „Ouvrir l’exposition sur la nécessité de tracer une ligne qui délimite un espace
devenu désormais un espace de l’imagination, c’est aussi démontrer la nécessité de
la matérialité et de la temporalité en lui donnant, si on peut dire, une part d’éternité
par cette inscription même sur la feuille.“ Ebd.
226
  Nicola Suthor

unmittelbar erfahren können.“23 Kubler begreift die von Streichungen und Kor-
rekturen durchsetzten Notizen und Skizzen als „verschwommene Umrisse des
im Dunkel liegenden Kontinents des ‚Jetzt‘, wo die Zukunft von der Vergangen-
heit geprägt wird.“24 Die Aktualität bezeichnet also den Leerhorizont, der sich
zwischen den Markierungen abzeichnet. Die Markierungen signalisieren folg-
lich den Moment des Einfalls, gehen jedoch nicht in diesem auf. Sie sind allein
dessen Spur und also im Tempus des „Dort und Damals“ und nicht im „Hier und
Jetzt“. Dass diese Spuren jedoch eine Unmittelbarkeit retrospektiv herstellen
können, liegt eben in dem Abstand zwischen den Signalen, der Raum für eine
neue Aktualität, nun für den Betrachter, schafft.
Nicht Transparenz, sondern die Einsicht in das Stolpern im Dunkeln, das
sich im Linienzug zeigt, stellt die Nähe zwischen Künstler und Betrachter her.
Wenn also der Linienzug ins Straucheln kommt und graduell von der Konturie-
rung ablässt, eröffnet sich ein Denkraum, der dem Vorstellungsvermögen – im
ersten Schritt des Künstlers selbst, im zweiten Schritt des den Gedankengang des
Künstlers nachvollziehenden Betrachters – Orientierungspunkte bietet, ohne
jedoch unmissverständlich in eine klare Richtung zu weisen. Die in der Offen-
heit unartikuliert erscheinenden Setzungen, in denen der Möglichkeitshorizont
des Vorstellbaren aufreißt, sind in der kunsthistorischen Literatur, wenn über-
haupt in der Beschreibung in Betracht gezogen, hauptsächlich als sinnentleert
beziehungsweise autonom aufgefasst worden. Der Grund hierfür ist, dass diese
Manifestationen der Unentschlossenheit des Künstlers im Unausgegorenen der
vorläufigen Form in der Lektüre der Zeichnung als Entwurf von etwas Bestimm-
tem an Bedeutungslosigkeit grenzen.
Es ist bezeichnend, dass das imaginierte Bild, das die Betrachtung der
Zeichnung im Betrachter hervorruft, sich meist aus Wiedererkanntem zusam-
mensetzt. Ein Großteil der Linien in der Skizze geht nicht im Umriss von etwas
Bezeichenbarem auf. Sie sind jedoch keine bloßen Leerstellen. Henri Bergson
hat in seinen Überlegungen zu Das Mögliche und das Wirkliche dargelegt, dass
in der Möglichkeit „nicht ein Weniger, sondern ein Mehr als in ihrer Verwirk-
lichung“ zu finden ist.25 Bergsons Erklärung dieses Surplus hilft zugleich, das
ästhetisch Vielversprechende der Entwurfszeichnung zu erklären: „Tatsächlich
aber steckt in den Ideen der Unordnung und des Nichts, wenn sie überhaupt
etwas bedeuten, mehr als in denen der Ordnung und der Existenz, weil sie meh-
rere Ordnungen und mehrere Existenzen und außerdem ein Spiel des Geistes
enthalten, der unbewußt mit ihnen jongliert.“26 Dieses unbestimmte Möglich-

23 George Kubler: The Shape of Time, New Haven/London 61970, S. 17.


24 Ebd., S. 18.
25 Henri Bergson: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, hg. v.
Friedrich Kottje, Frankfurt/M. 1985, S. 119.
26 Ebd.
227
  Meta/Physik der Skizze

keitsfeld fasst Perrig mit dem Begriff der Pause, Boubli mit „écart“. Beiden
gemein ist die Konstatierung einer Hemmung im Prozess der Reifung eines
Vorstellungsbildes, die, unter der Perspektive Bergsons betrachtet, die Indeter-
miniertheit des „Innersten“ beweist.27
Im Folgenden wird beispielhaft ein Skizzenblatt aus dem British Muse-
um in London analysiert, das heute Guercino zugesprochen wird (Bild 1). Nicholas
Turner verbindet die Skizzierungen mit dem Altarbild Franz von Assisi und der
Heilige Ludwig vor der Lucas Madonna, das für die Kirche Francesco in Brisi­
ghella um 1618 entstanden ist (Bild 2).28
Das Recto bietet drei Etappen des Entwurfs der Positionierung eines
Knienden in Mönchskutte. Eine freihändig gezogene feine vertikale Linie trennt
die beiden zentralen Skizzen des knienden Heiligen Franziskus: Er ist linker-
hand von vorn, rechts von der Seite dargestellt.29 Während die linke Figur die
Hände über der Brust gekreuzt hält und eine leichte Drehung des Oberkörpers
aufweist, seine rechte Schulter ist nach vorn geschoben, der Kopf auf diese Seite
geneigt, hat die rechte Figur die Arme gehoben, die Hände sind zum Oranten-
gestus geöffnet. Die Verkürzungen der Gesichtszüge innerhalb der Profilansicht
(die runde Schädelpartie, das Zusammenrücken der Indikationen von Auge und
Nase, das tiefsitzende Ohr) lassen auch hier die Vorstellung entstehen, dass der
Kopf des Anbetenden leicht schräggestellt ist. Während die Positionierung des
Körpers und die Gestik im Gemälde dem Franziskus sehr nahe kommen, ähnelt
die Kopfhaltung hingegen derjenigen des Königs auf der rechten Seite des Altar-
bildes. Der Blick über die rechte Schulter, welche eine Wendung zum Betrachter
indiziert, verbindet wiederum die Franziskusgestalt im Gemälde mit der linken
Skizzierung auf der Zeichnung.
Auch wenn die Skizzierung der Körperhaltung auf beiden Seiten bereits
einen Grad an Deutlichkeit erreicht hat, der es erlaubt, die Skizze auf das Altar-
bild des Malers zu beziehen, tritt ihre Suchfunktion in derartig offenen Passa-
gen der Strichführung, die sich nicht auf eine Konturierung festzulegen scheint,
nichtsdestotrotz hervor.
Insbesondere in denjenigen Bewegungsspuren der Linien, welche sich von
der Konturierung absetzen, zeichnet sich ein Denkprozess ab, der im Rahmen
des vorherrschenden Umrisses eine andere Möglichkeit aufreißt, die jedoch im

27 Ebd., S. 112f.: „Sollte die Tatsache der Zeit nicht beweisen, daß das Innerste der Dinge
indeterminiert ist? Und sollte die Zeit nicht diese Indetermination selbst sein?“
28 Nicholas Turner/Carol Plazzotta: Drawings by Guercino from British Collections,
London 1991, S. 42f., Kat.-Nr. 9.
29 Die Horizontalen, welche den Blattrand markieren, sind mit einem Lineal vermut-
lich von einer anderen Hand nachträglich gezogen, wie die Unterbrechung der
Linie um den sie überschneidenden Kopf auf der rechten Seite der Skizzierung
anzeigt.
228
  Nicola Suthor

Laufe der Ausarbeitung in den Hintergrund getreten ist. Die Kopfform des
Mönches der linken Skizzierung setzt sich von der Bildung einliniger Ovale ab,
die noch jegliche Konkretisierungen hin zum Gesicht vermissen lassen. Die
unmittelbare Lesbarkeit dieser Form beruht auf der Konventionalität der Schema-
tisierung, die den Künstler von der Ausarbeitungslast der Mimesis entlastet.30
Das Kopf-Kürzel ist ein Indiz dafür, dass Guercinos Aufmerksamkeit hier nicht
auf die zu ziehende Linie, sondern auf das Darzustellende fokussiert war. Perrig
begreift derartige „Formstenographe“ allgemein gesprochen als „provisorisches
Gerüst“.31 Sie sind provisorisch in zweifacher Hinsicht: Sie dienen einerseits als
Stellvertreter für etwas, das sich in der Ausarbeitung erst definiert. Anderseits
fungieren sie als technische Grundlage für die Vorausschau, welche die Skizze
betreibt.

Bild 1  Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino: Der heilige Franziskus,


Feder, braune Tinte auf Papier, 131 × 187 mm, London, British Museum.

Eines dieser Ovale ist doppeldeutig, denn es geht in die Profilierung des
Eierkopfes des Mönches über und unterstreicht seine Rundung. Durch das Neben-
einander der Linienzüge, die Ovale bilden, entsteht für den Betrachter der Ein-
druck eines potentiellen Bewegungsablaufes: Der Kopf scheint sich von der linken

30 Vgl. Ernst Gombrich: Formula and Experience, in: ders.: Art and Illusion, London
14
1996, S. 126–152, bes. S. 144f.
31 Perrig: Michelangelo und die Zeichenwissenschaft (wie Anm. 17), S. 36.
229
  Meta/Physik der Skizze

Bild 2  Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino: Der


heilige Franziskus und der heilige Ludwig aus Frankreich in
Anbetung eines heiligen Bildes, 1618, Leinwand, 252 × 152 cm,
die Öffnung, wo sich einst das heilige Bild befand, misst
75 × 57 cm, Brisighella (Faenza), Kirche des Hl. Franziskus. 

zur rechten Schulter geneigt zu haben. Die Potentialität ist jedoch Ver­­gangenheit.
Die Akkumulierung mehrerer parallel laufender Linien, welche durch die Indi-
kation der linken Ohrmuschel Körper erhalten, drückt eine klare Entschieden-
heit für diese Position aus. Eine ähnliche Wendung, wenn auch in der Präferenz
unentschieden, lässt sich an der rechten Hand feststellen: Deren Zeigefinger weist
quasi in zwei Phasen über sich hinaus nach links. Die alternativen, voneinander
230
  Nicola Suthor

abgegrenzten Umrisse schaffen ein Möglichkeitsspektrum für die motivische


Fixierung einer Bewegung in der Geste, die plausibel scheint, jedoch nicht not-
wendig ist; schließlich könnte es sich bei dem noch weniger abgespreizten Finger
auch um den Mittelfinger handeln, der vom Zeigefinger überschnitten ist. Es
liegt nahe, die obere der beiden Linien, die den vorderen Finger unterteilen, als
Kontur des zweiten Fingers zu lesen. Jedoch ist es auch möglich, hier eine
Zusammenfassung der Phalanx proximalis zu sehen. Also würde es sich eher
um Konstruktions- als Konturierungslinien handeln. Die Phasen werden allein
durch das Vorstellungsvermögen des Betrachters in Fluss gesetzt, nicht durch
die Bewegungsbahn der Linie.
Auch in der linken Skizzierung zeichnet sich eine Verdoppelung ab, hier
in dem Umriss des Fußes, die es dem Betrachter nahelegt, sich Phasen einer
Bewegung vorzustellen. Irritierend ist, dass beide Alternativen in der Dicke des
Strichs gleichwertig ausgearbeitet sind. Dieses verleitet dazu, die beiden heraus-
ragenden Füße als Paar zu betrachten. De facto handelt es sich beide Male um
den linken Fuß, dessen Abstand und Aufsicht korrigiert ist. Der zum Körper
näherliegende Fuß wird allein durch den starken Schatten, der unterhalb seiner
in Parallelschraffur eingetragen ist, ein körperlich stärkeres Gewicht gegeben.
Der Saum des Gewandes, der – mit Voraussicht auf das fertig gestellte Gemälde
– oberhalb des Knöchels mit einem dünnen Kontur angesetzt zu sein scheint,
wird durch zwei Linienzüge sekundiert, die die Skizzierung des näher am Kör-
per liegenden Fußes durchkreuzen und derart lose aufliegen, dass ihre Motivie-
rung als mögliche Einzeichnungen alternativer Saumverläufe fraglich ist. Ob
Guercino hier anhand der dünnen Linien die Bedeckung des Fußes vor dem inne-
ren Auge durchspielt – die Striche hätten also eher als eine Vorstellungsstütze
fungiert, als dass sie an ihrer Realisierung schon arbeiteten; sie wären demzufolge
im Vagen belassen, um die Entscheidung offen zu halten – oder als Richtlinien
für eine räumliche Verkürzung des linken Fußes dienten, ist nicht zu beant-
worten.
Zwei Phasen lassen sich auch innerhalb der Skizzierung der aufrechten
Positionierung der durchgedrückten Oberschenkel ableiten. Durch einen festen,
harten Strich scheint der Beugungswinkel des Kniens korrigiert zu sein. Die
straffen Linien ziehen den Körper nach vorn und versetzen die Knie zurück. Ein
Umdenken im Prozess der Skizzierung zeichnet sich ab. Die Veränderung des
Kniemotivs versetzt die Figur quasi in Bewegung und kann hypothetisch eine
Wendung in Guercinos Gedankengang dokumentieren. In der Entschiedenheit
der Strichbewegung, welche einer Ausstreichung gleicht, kommt ein Missfallen
an der darunterliegenden Skizzierung zum Ausdruck. Insbesondere die Massie-
rung von parallelen Linien im Beugungswinkel, welche die Position des Knien-
den gestrafft erscheinen lassen, liegt schwer auf der lockeren, zur Rundung des
Strichs tendierenden Skizzierung der Kutte. Er ist im Vergleich zu einer vom
231
  Meta/Physik der Skizze

rechten Bildrand überschnittenen, ähnlichen Parallelschraffur unregelmäßiger


gezogen, denn seine Linien fügen sich, wenn auch sperrig, in die der Konturie-
rung, während jene offensichtlich mimetisch ungebunden ist. Zwischen beiden
Feldern und auf einer Achse mit ihnen liegt eine Parallelschraffur, die jedoch in
einer ununterbrochenen Bewegung gezogen ist und weit flüssiger erscheint. Es
liegt nahe, zu vermuten, dass Guercino hier in diesen fleckenartig aus der Zeich-
nung herausfallenden Feldern seine Feder beziehungsweise Hand durch eine
mimetisch unmotivierte, rein mechanische Bewegung elastisch gemacht hat, die
dort, wo sie in die Skizzierung eingreift, eine gewisse Härte gegenüber der zu
korrigierenden, ihr zugrunde liegenden Konturierung zeigt.
Die sich in der Distanzierung zum Skizzierten aufbauende negative Ener-
gie wird im Allgemeinen in Ausstreichungen abgebaut. Auf der Skizze Guercinos
zeichnet sich innerhalb dieser annullierenden Bewegung eine Motivation der
Strichführung hin zu einer Überblendung des Beanstandeten durch eine alter-
native Setzung deutlich ab.32 Éric Pagliano verweist in seiner epochenübergrei-
fenden Untersuchung der Praktiken der Ausstreichung innerhalb der Zeichnung
bezeichnenderweise auf das Motto, das Piranesi dem Frontispiz einer Samm-
lung von Gravuren nach Zeichnungen Guercinos eingeschrieben hat – „Col
sporcar si trova“ (durch Beschmutzen findet man)33 – um schließlich die Aus-
streichung als optionale Eröffnung darzustellen.
Die beiden deutlich ausgearbeiteten Skizzierungen stehen einem vagen
Umriss am linken Bildrand gegenüber. Sowohl diese mit weniger als zehn Lini-
en skizzierte Figurenstudie als auch die scheinbar darstellerisch unmotivierte
Parallelschraffur auf der Rechten sind fragmentiert. Die äußerst flüchtig skiz-
zierte, quasi vom linken Bildrand in die Szene drängende Figur wirkt wie eine
geisterhafte Vorahnung der Figurenstudie auf der rechten Bildhälfte, die den
Heiligen im Orantengestus mit geöffneten Armen in Seitenansicht wiedergibt.
Wenn das kleine Oval in der Skizzierung des untersichtigen Haupts als Auge
gelesen wird, dann könnte daraus eine Drehung des Kopfes über die Schulter
zum Betrachter abgeleitet werden. Die Beugung des Kniens ist allein durch
einen stark gekrümmten Strich umrissen. Oberhalb dieser Konturierung findet
sich ein Linienzug, der schräg nach unten rechts geführt die Breite des Bauchs
bemisst, um dann senkrecht sturzartig abfallend in äußerst dünnem Strich die

32 Vgl. Éric Pagliano: La rature en suspens. Pratiques de la rature dans le dessin


(XVIe–XIXe siècles), in: Ausst. Kat.: Le plaisir au dessin (wie Anm. 20), S. 191–203,
S. 191: „La biffure, la rupture, la rayure seraient donc la conséquence graphique du
déplaisir. Un déplaisir qui serait toutefois passager, dépassé par le reprise du geste
qui cherche en traçant sur le support.“
33 Ebd., S. 203.
232
  Nicola Suthor

Außenkontur zu umreißen. Darüber arbeiten nicht mehr als vier Linien an der
Festlegung der Armstellung. Die längste Linienführung setzt an der Konturie-
rung der hochgezogenen Schulter an und läuft den rechten Arm entlang aus. Die
Ausdünnung der Linie, welche für ein Nachlassen von Druck und Tinte spricht,
begreifen wir also als Indiz einer gerichteten Bewegung. Die Orientierung der
Bewegungsbahn bleibt jedoch zwangsläufig hypothetisch. Die ausgestreckten
Gliedmaßen sind nur als Stümpfe gegeben.
Ein markanter Linienzug, der offensichtlich die Konturierung der Unter-
seite des rechten Arms im Blick hat, stellt sich zur Konturierung der Armstre-
ckung quer und knickt jäh nach oben ab. In nächster Nähe zueinander befinden
sich auf diesem Blatt also zwei stark geknickte Linienführungen, die jedoch
nicht allein deshalb eklatant auseinanderdriften, weil die eine nach oben und die
andere nach unten schwingt. Die Differenz liegt vor allem in der Motivierung
des Strichs. Die Linie, die den Bauch umreißt, variiert in der Breite des Strichs
stark und lässt durch die leichte Wellenbewegung, welche die menschliche Ana-
tomie beschreibt, die Plastizität des Skizzierten anschwellen. Sofern der darüber
befindliche Linienzug darstellerisch motiviert ist, kann in ihn eine Markierung
des Ellenbogens hineingelesen werden. In der gleichmäßigen Breite des Duktus
zeigt sich jedoch vordringlich die Entschiedenheit des Strichs und damit die
Charakteristik der Handschrift Guercinos – und zwar gerade weil der Strich sich
kaum einer Darstellungsabsicht beugt und in deren Konturierung nicht aufgeht.
Noch deutlicher tritt diese Eigenständigkeit der Linie als Markierung der
Handschrift in der Zickzacklinie zu Tage, welche den oberen Ansatz des Umris-
ses des Kniemotivs durchzustreichen scheint. Sie etwa als Stauung des Gewands
zu motivieren, grenzt schon an eine Überfrachtung des visuell Gegebenen. Die
Zickzacklinie korrespondiert mit der bereits beschriebenen flüssig gezogenen
Schraffierung im rechten Bildfeld und diese phänomenale Ähnlichkeit des Lini-
enzugs löst rückwirkend auch die Zickzacklinie aus ihrem Zusammenhang
heraus.
Die in ihrer Mechanik einer Schreibbewegung gleichkommende Bewe-
gung steht dem Schwung des ondulierenden Linienzugs gegenüber, der in der
Skizzierung der Gewandpartie der frontalen Figur am ausschweifendsten ist.
Unterhalb des angewinkelten und erhobenen Arms, welcher mit vergleichsweise
steifen feinen Strichen skizziert ist, wellt sich ein an der Schulterpartie anset-
zender Linienzug, der schließlich unterhalb des Ellenbogens abbricht. Eine ähn-
lich stark, jedoch deutlich kürzere gewellte Linie setzt hier an, welche auf Höhe
des Bauchnabels den Ansatz einer feinen vertikalen Linie umkreist, die nach
unten laufend die Markierung der Gewandfalten durchkreuzt, um schließlich in
eine über die Körpergrenze ausufernde Linienbahn zu münden. Die derart abge-
hobene Vertikale hat vermutlich die Funktion, die bei Franziskusdarstellungen
stets hervorgehobene Kordel zu bezeichnen. Eine ähnlich steife aus dem Strichbild
233
  Meta/Physik der Skizze

herausfallende, unmittelbar links neben dem rechten Knie befindliche Vertikale,


dessen obere Hälfte in die Konturierung der Verkürzung des Unterschenkels ein-
schwingt, konterkariert jedoch die Eindeutigkeit dieser Bedeutungszuschrei-
bung. An dem Umriss der Beinstellung ansetzende und Gewandbahnen vorstel-
lende ausschwingende Linienzüge schaffen dem Knien Terrain. Die Konturierung
des Gewandsaums löst sich auf und schlingert nach unten. Deren überbordende
Linie ist im Sinne ihrer Motivierung deshalb so wirksam, weil sie durch die
Gratwanderung zwischen Loslösung von und Rückverweis auf die Konturie-
rung das Symptomatische auf das Symbolische überspringen lässt und dadurch
mit einer ihr quasi eigenen „Innerlichkeit“ affiziert. Die mutwillige Fahrlässig-
keit der Linienführung bringt die Darstellung an ihre Grenzen. Die ausschwei-
fende Linie schafft Raum für die Vorstellung der Zuspitzung des dargestellten
Moments: Das Auf-die-Knie-Fallen ist zugleich als Enthobensein visualisiert
und vermag also den ekstatischen Rausch der mythischen Schau des Heiligen
Franziskus in dem fließenden Gewand zu veranschaulichen.
Das Kursorische der Skizze formuliert einerseits ein Versprechen auf
Darstellbarkeit, das die Zeichnung ideell übersteigt. Denn sie definiert das
Angedachte nicht aus, lässt es im Vagen bestehen. Dieses ist hingeworfen, allein
projektiert. Die Vorstellungskraft des Betrachters ist aufgerufen, sich das Ange-
deutete auszumalen, und dessen Leistung identifiziert erst eigentlich den Bild-
gedanken. Andererseits ist die Skizze ein greifbarer Tatbestand, ein factum, denn
sie weist ein eigenes Profil in der Handhabung des Linienzugs auf, der für den
Betrachter nachvollziehbar ist. Es gilt folglich zwei Ebenen auseinanderzuhal-
ten: diejenige des Symbolischen – hier formuliert sich die Bildidee – und die
Ebene des Symptomatischen – hier, in der Charakteristik des Strichs, zeigt sich
die Persönlichkeit des Künstlers. Diese Zusammenschau zweier Aspekte eines
„Inneren“ kompliziert die Wahrnehmung jedoch enorm. Eine derartig differen-
zierte Sicht ist durchaus diffizil, denn beide Ebenen sind in der einzelnen mate-
riellen Linie verwoben. Die Schnelligkeit der Ausführung, Garant der Unmit-
telbarkeit der künstlerischen Äußerung, scheint den Spalt zwischen den Ebenen
zu schließen. Aber wodurch? Die Schnelligkeit des Kursiven (ob im Schriftbild
oder im Linienfluss) schafft Abbreviaturen, die ans Unleserliche grenzen. Hier
zeigt sich die Routine in der Praxis, die nicht nur Bedingung der schnellstmög-
lichen Skizzierung einer Bildidee ist – die Schnelligkeit verkürzt den Weg zwi-
schen mens und manus – sondern auch Grundlage der Herausbildung der künst-
lerischen Handschrift. Die hohe Wertschätzung der Skizze als unmittelbares
Zeugnis der Phantasietätigkeit des Künstlers, wie sie Hegel prägnant formuliert
hat, erklärt sich aus ihrer Nähe zur Praxis der Aufzeichnung als intellektueller
Äußerungsform. Wie die Bewegung des Schreibens basiert auch die des Umrei-
ßens auf einem feinmotorischen Ablauf. Auch wenn Guercino seine Zeichnung
nicht signiert hat, ist seine schwungvolle Handschrift in der Notierung „Avendo“
234
  Nicola Suthor

Bild 3  Studie für die Kreuzigung des heiligen Petrus, Feder, braune
Tinte auf Papier, 14,4 × 16,8 cm, New York, The Metropolitan Museum.

(habend) am rechten Bildrand buchstäblich greifbar. Inwieweit Guercino hier


bewusst Handschriftlichkeit thematisch werden lässt, sei dahingestellt.
Eine eindrückliche Zusammenkunft von Entwurf und Signatur findet
sich auf einer Federzeichnung, die seinem Zeitgenossen Jusepe de Ribera zuge-
schrieben wird (Bild 3). Eine flüchtige Skizze ist von verschiedenen Schreibweisen
des Künstler-Monogramms umgeben. An der unteren Bildkante und vom lin-
ken Bildrand überschnitten findet sich die lateinische Version seines Namens:
„Joseph de Ribera“.34
Während die Skizzierung eines Märtyrers, der, wie die Aufsicht unmiss-
verständlich nahelegt, auf dem Boden liegend ans Kreuz genagelt wird, eine klare
und insbesondere bezüglich der Verkürzung technisch ausgereifte Bildvorstel-
lung liefert, scheint Ribera in seiner Schreibübung unentschieden zwischen dem
„J“ (für „Joseph“ beziehungsweise „Juseppe“) und dem „G“ (für die italienische
Version seines Namens „Giuseppe“) hin und her zu pendeln. Eine bemerkens-
werte Engführung zwischen Zeichnung und Schrift zeigt sich am oberen Bal-
kenabschluss, der eher hingeschrieben als skizziert erscheint.

34 Ausst. Kat.: The Spanish Manner. Drawings from Ribera to Goya, hg. v. Jonathan
Brown, New York 2010, Kat.-Nr. 7.
235
  Meta/Physik der Skizze

Bild 4  Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino: Landschaft, Der heilige Franziskus,
Feder, braune Tinte auf Papier, Verso von Bild 1.

Auf dem Verso des Blattes von Guercino ist zu sehen, wie eine ondulie-
rende Linie sich völlig losgelöst als kalligraphische „Schreib“-Übung präsentiert
(Bild 4). Zentral im Bild, jedoch im Vergleich zu den Skizzierungen auf dem
Recto wesentlich kleiner ist der auf die Knie gehende Franziskus im Oranten-
gestus dargestellt. Seine Figur ist von der Taille ab durch eine englaufende Paral-
lelschraffur ausgestrichen, die nach unten an Breite zunimmt und schließlich
mit einem großen Schwung nach rechts ausläuft. Darunter befindet sich eine
Landschaft mit einem Gebäudekomplex im rechten Hintergrund – möglicher-
weise eine Klosteranlage – und einer Baumgruppe im Vordergrund. Das Terrain
im Vordergrund und die Seitenansicht der Architektur sind anhand kurzer
Parallelschraffuren gebildet, die Baumkronen hingegen aus fortlaufenden Lini-
endrehungen. In diese Strichbewegung läuft die ondulierende Linie aus, die sich
oberhalb der Skizze Bahn schafft. Sie fällt ähnlich der Schraffurfelder auf dem
Recto aus dem Rahmen des Skizzierten und lässt wie bei diesen an eine unab-
hängige Lockerungsübung in der Handhabung der Feder denken. Vier kürzere
Linienzüge, die die rechte Seite füllen, scheinen das Bewegungsmuster der sich
überschlagenden Linie fortzuführen. Die fließenden sich überschlagenden Lini-
en kontrastieren mit den beiden Feldern, gebildet aus Parallelschraffuren in der
unteren rechten Ecke, deren prominenteres den unteren Teil einer Liniendre-
236
  Nicola Suthor

hung, aus der eine Pflanze herauszuwachsen scheint, durchstreicht. Diese Felder
sind zwar ebenfalls mimetisch ungebunden, jedoch hart gezogen und greifen
entschieden in die Skizzierung ein, denn ein ähnliches Feld streicht, wie bereits
beschrieben, den unteren Teil der Skizzierung des Franziskus durch. Unmittel-
bar unterhalb der Landschaftsschilderung sehen wir eine weitere derartig schraf-
fierende Linie, jedoch fließender und in einer fortlaufenden Bewegungssequenz
gezogen. Sie scheint auf den ersten Blick unmotiviert, eine Bewegungsspur nur,
welche jedoch der Skizzierung eines Terrains innerhalb der Landschaftsskizzie-
rung nahekommt.
Das Schlingern der Linie kann den Betrachter ins Schleudern bringen. Er
ist stets in Gefahr, im Nachvollzug der Gratwanderung der Linie abzugleiten,
eine bloße Spur als Zeichen zu lesen und vice versa. Die Linie stillzustellen und
vom dargestellten Sachverhalt getrennt als hard fact zu behandeln, anhand
dessen Bedeutungszuschreibung praktiziert wird, ist jedoch ebenso wenig eine
Lösung und verkennt die Motiviertheit der Linie zum Gedankengang.
Das Begriffspaar Tendenz-Latenz, wie es der Philosoph Ernst Bloch zu­
sammenbringt, kann helfen, die Motivierung der Formfindung als (vor)schwe-
bende Gedankenbewegung hin auf das „Noch-Nicht-Gekommene“35 zu erfas-
sen. Das Krisenmoment des Anschwellens der Zeichnung im Entwurf kann im
Sinne Blochs als „utopische[r] Motor“, bei dem „das Wesen aus der Erscheinung
fragend, suchend herausgearbeitet“ wird, begriffen werden. Blochs Koppelung
von der „Realgärung“ der Tendenz und der „Realverschlossenheit“36 der Latenz
lässt sich mit dem Doppelaspekt der Zeichnung sinnvoll verknüpfen. Eine Be­
schreibung, die nur auf Realisierungstendenzen schaut, klammert den Prozess
der Gärung aus. Blochs Bedenken, „[a]uch die Wunschlandschaften der Erfül-
lung werden lediglich von der Intention her in den Wesensraum einskizziert, mit
Zeichen der Hoffnung, nicht der Garantiertheit, gar transzendenten Faktizität“,
sollte uns Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker abhalten, Entwurfszeich-
nungen durch die Konstatierung des dargestellten Bildsujets, als Faktizität der
Zeichnung aufgefasst, vorschnell stillzustellen und „Wunsch- oder Idealkatego-
rien als real in den Raum der Nicht- oder Noch-Nicht-Erfahrung“ hinein zu
projizieren, denn „Entschiedenheit, Objektivierbarkeit, Realität [ist hier] noch
nicht vorhanden“.37 Das Engagement des Betrachters im Erkennen des dar-
gestellten Sachverhaltes kann bis zu einem gewissen Grad mit dem „utopischen
Motor“ kurzgeschlossen werden.

35 Ernst Bloch: Einzige Invariante: Tendenz auf Erscheinung des Wesens [1936], in:
ders.: Tendenz – Latenz – Utopie, Frankfurt/M. 1985, S. 261.
36 Ebd., S. 262.
37 Ebd., S. 262f.
Yannis Hadjinicolaou

THE MIND AND THE EYE IN THE HAND


Arent de Gelder’s Processuality of Paint in the Context of
Early Modern Art Theory*

1.
In the spacious interior of a studio two figures are visible in the foreground (Fig. 1).
The male figure is a painter with his tools. He is about to finish a female portrait
and is turning towards the beholder with a broad grin that partially shows his
teeth. The older, slender woman poses rather elegantly dressed, holding an orange
in her hand and looking slightly in the direction of the painter. She appears in
profile. The painter is also sitting, but could raise himself from his position at
any moment. This potential movement is suggested by the cord of his garment
that is moving to the left as if caught by a draught. The table, smeared with chalk,
is covered with painting tools and diverse pots of colour (Fig. 2). The artist seems
to be wiping colour out of his brush, but is more likely only pointing to the colours
or oil as binding medium, possibly referring to his finger painting.1 In this paint-
ing, the focus lies on the craftsmanship of the artistic work, underlining the
elevated social position of this particular artist in question. The picture seems
like an explanation of principles, which challenge the topos of the humanistic
artist.2 Arent de Gelder is a painter who thinks with his hands.
Consequently enough, the traditional symbol for the abstract, art-theo-
retical aspects of art, namely a pair of dividers, is hanging prominently on the
table in the foreground. Even if in effect the drawing and anatomy in the paint-
ing are not “correct” in the sense of the classical rules, it is not being used. Instead,

* This text is an abbreviated version particularly of the second chapter of my Ph.D.,


which is entitled „Denkende Körper – Formende Hände. Handeling in Kunst und
Kunsttheorie der Rembrandtisten” (to be published by Walter de Gruyter 2016).
1 Mirjam Neumeister: Holländische Gemälde im Städel Museum 1550–1800, vol. 3:
Künstler geboren nach 1630, Petersberg 2010, p. 109.
2 Ibid., p. 112.
238
  Yannis Hadjinicolaou

Fig. 1  Arent de Gelder:


Selfportrait as Zeuxis,
signed, 1685, oil on canvas,
144 × 169 cm,
Frankfurt/M., Städelsches
Kunstinstitut.
Fig. 2  Detail from Fig. 1.
Fig. 3  Detail from Fig. 1.
239
  THE MIND AND THE EYE IN THE HAND

the picture manifests a preference for colour, to which de Gelder points, as


already mentioned, in his gesture. In accordance with his palette, the whole scene
is dominated by a dark brownish colouring, which corresponds to the chiaroscuro
values of the palette. The earthy tones dominate – a characteristic of the Rem-

Figs. 4a and 4b  Detail from Fig. 1.

brandtists. At the same time this accentuates their difference from the classicists
and their palette that is made up by the colours of the rainbow.3
The painting, signed and dated to the year 1685, holds the generally
accepted title Selfportrait as Zeuxis.4 Besides his palette, the painter is holding
a maulstick and a bundle of brushes in his left hand, some of which are directed
at the painting inside the painting, as if the portrait of the lady were being pro-
duced by means of a chaotic and accidental application of pigments (Fig. 3). This
picture in a picture, which appears before our eyes, is not yet finished and under-

3 Ulrike Kern: Samuel van Hoogstraeten and the Cartesian Rainbow Debate. Colour
and Optics in a Seventeenth-Century Treatise of Art Theory, in: Simiolus 36/1–2
(2012), pp. 103–114, p. 111.
4 Jan Bialostocki: Rembrandt’s Terminus, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 28 (1966),
pp. 49–60; Albert Blankert: Rembrandt, Zeuxis and Ideal Beauty, in: Joshua Bruyn
(ed.): Album Amicorum J.G. Van Gelder, The Hague 1973, pp. 32–39; Ekkehard
Mai: Zeuxis, Rembrandt und De Gelder – Das Selbstbildnis als Kunstprogramm,
in: Ex. cat.: Arent de Gelder (1645–1727), Rembrandts Meisterschüler und Nach-
folger, ed. by Dordrechts Museum/Wallraf-Richartz-Museum, Gent 1998, pp. 98–
109; Ekkehard Mai: Selbstbildnis als Zeuxis, in: Ex. cat.: Arent de Gelder (1645–
1727), p. 174; Ekkehard Mai: Rembrandt “Selbstbildnis als Zeuxis”, Berlin 2002.
240
  Yannis Hadjinicolaou

lines the process-based character of the form, a central feature of de Gelder’s


painting practice.
His working coat is stained with colour as a visible, active trace of the
painting process (Figs. 4a and 4b). Additionally, colour is applied to his right arm
in a way that gives birth to a further potential image, namely a face. These ele-
ments were presumably put forward as visual arguments in response to Baldi-
nucci’s critique, which followed the report of Rembrandt’s former pupil Bern-
hard Keil and was published in 1686. Baldinucci stylised Rembrandt as a peasant
(una faccia bruta e plebea), who was in the habit of wiping his fingers upon his
clothes while painting.5 In Baldinucci’s opinion, this kind of habit is not appro-
priate for a free and noble artist, but is connected to the milieu of a craftsman
and therefore socially debasing. De Gelder’s palette is, metaphorically as well as
literally, part of the body of the artisan.

2.
In the 1678 Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst. Anders de zicht­
baere werelt by Arent de Gelder’s first teacher, Samuel van Hoogstraten, the
former Rembrandt pupil and assistant describes the ongoing painting contest
between the artists Knipbergen, van Goyen, and Porcellis.6 It seems that this
anecdote was an inspiration for Heinrich Wölfflin’s Kunstgeschichtliche Grund-
begriffe, in which the Swiss art historian wrote about the “double root of style.”
The fact that the first page of the Principles of Art History shows a picture by
Jan van Goyen, thus implicitly championing the “painterly” participant of the
topical contest recounted by van Hoogstraten, is not accidental; Wölfflin how-
ever refers to another story narrated in Ludwig Richter’s Lebenserinnerungen
(1885) (Fig. 5).7

5 Filippo Baldinucci: Notizie dei Professori del Disegno da Cimabue in qua, Florence
1847, vol. 5, p. 307: “Lo scomparire che faceva in lui una faccia brutta e plebea, era
accompagnato da un vestire abietto, e sudicio, essendo suo costume nel lavorare, il
nettarsi i pennelli addosso, ed altre cose fare tagliate a questa misura.” This argu-
ment is further developed in my Ph.D. (as fn. 1), pp. 85–88.
6 Samuel van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst: Anders
de zichtbaere werelt, Rotterdam 1678, pp. 237f.
7 Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilent-
wicklung in der neueren Kunst, Munich 1915, p. 13: “Ludwig Richter erzählt in
seinen Lebenserinnerungen, wie er in Tivoli einmal als junger Mensch, zusammen
mit zwei Kameraden, einen Ausschnitt der Landschaft zu malen unternahm, er
und die andern fest entschlossen, von der Natur dabei nicht um Haaresbreite abzu-
weichen.” Cf. David Summers: Heinrich Wölfflin. Kunstgeschichtliche Grundbeg-
riffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915, in:
Richard Stone/John-Paul Stonard (eds.): The Books that Shaped Art History, Lon-
don 2013, pp. 42–53.
241
  THE MIND AND THE EYE IN THE HAND

Fig. 5  Heinrich Wölfflin:


Kunstgeschichtliche Grund­
begriffe, Das Problem der
Stilentwicklung in der neueren
Kunst, Munich 1915, p. 1.

In the Dutch story, all three had to paint the same landscape, nonetheless
producing three completely different pictures described by the terms Usus, For-
tuna, and Idea. Knipbergen’s landscape was connected with the concept of Usus,
the lowest of the three, which meant a good Imitatio but artistic insufficiency.8
Following the predominance of neo-platonic art theory, Idea and hence Porcellis
won. It is significant that Porcellis was placed in line with Raphael. The mental
image or more generally the Idea, is, according to van Hoogstraten, simply illus-
trated by the artist. In this context, it is important to emphasise that Porcellies
also “acts” with his brush (met zijn penseelen handelde).9 This action, however,
is completely different from van Goyen’s: Porcellis’s brush is guided, as well as
determined, by his mental image.

  8 Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst (as fn. 6),
p. 237: “Knipbergen genoemt, stelde een tamelijk grooten doek op den Ezel, en, de
hand of’t penseel tot zijn wil hebbende, begon dapper te schrijven, dat is, op zulk
een aengewende wijze te schilderen, dat al wat hy ter needer zette, gedaen was.”
  9 Ibid., p. 238: “De derde was onzen Parselles, dien grooten Raphel in’t zeeschilderen!
[…] als zy zagen hoe traegelijk hy met zijn penseelen handelde […] hy […] for-
meerde […] eerst in zijn inbeelding ’t geheele bewerp van zijn werk formeerde, en
in zijn verstandt een schildery maekte, eer hy verw in ’t penseel nam.”
242
  Yannis Hadjinicolaou

The work of van Goyen and thus Fortuna describes van Hoogstraten
appearing “as though the mind and the eye were placed in the artist’s hand.”10 In
another passage, van Goyen’s work is mentioned as “having roughly splashed all
over his panel, here light, there dark, more or less like a multicoloured Agate […]
and in short his eye, trained to see forms that were concealed in a chaos of paint,
directed his hand and understanding so skillfully that one saw a complete
painting before one could rightly perceive what he had in mind [my emphasis].”11
In van Hoogstraten’s account of van Goyen’s technique, the term Handeling is
fully understood in its meaning as “action,” which is used in Dutch to this day,
in addition its meaning as manner or the handling of any kind of instrument. In
contrast to the Handeling performed by Porcellis, the kind of Handeling associ-
ated with van Goyen describes a power, which derives directly from the body
and as shaped form strikes the beholder as an independent force.
With this van Hoogstraten emphasises the central role of the hand, which
partakes or even evokes the activity of thought (in that case opposed to the idea
of classical disegno).12 In the case of the “thinking hand,” form, body, and thought
are a single entity. In his Disegno of 1549, Anton Francesco Doni mentioned the
ability of the Fiamingi or Oltramontani to depict materials such as silk in a most
natural way (in modo che gli fanno parer naturalissimi) and added: “si dice in
proverbio che gl’hanno il cervello nelle mani.”13 The artist north of the Alps is

10 Ibid., p. 237: “of dat het oog in de ruwe schetssen van gevallige voorwerpen eenige
vormen uitpikt, gelijk wy aen den haert in het vuer pleegen te doen; of dat de handt,
door gewoonte, iets formeert, min noch meer als wanneer wy schrijven; want een
goedt schrijver maekt goede letteren, schoon hy ’er niet aen gedenkt, en zijn oog en
verstandt schijnen in zijn hand geplaetst te zijn.” Cf. Ernst van de Wetering: Rem-
brandt. The Painter at work, Berkeley/Los Angeles/London ²2004, pp. 85f.
11 Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst (as fn. 6),
pp. 237f.: “want hy zijn geheel panel in ’t gros overzwadderende, hier licht, daer
donker, min noch meer al seen veelverwige Agaet […] en in ’t kort zijn oog, als op
het uitzien van gedaentens, die in een Chaos van verwen verborgen laegen, afge­
recht, stierde zijn hand en verstandt op een vaerdige wijs, zoo datmen eeb volmaekte
Schildery zag, eermen recht merken kon, wat hy voor hadt.” Thijs Weststeijn: The
Visible World. Samuel van Hoogstraten’s Legitimation of Painting in the Dutch
Golden Age, Amsterdam 2008, p. 251.
12 For the disegno tradition see: Wolfgang Kemp: Disegno. Beiträge zu einer Geschich-
te des Begriffs zwischen 1547 und 1607, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissen-
schaft 19 (1974), pp. 219–240; Ulrich Pfisterer: Die Entstehung des Kunstwerks.
Federico Zuccaris „L’Idea de’ pittori, scultori et architetti, in: Zeitschrift für Ästhetik
und Allgemeine Kunstwissenschaft 38 (1993), pp. 237–268; Ex. cat.: Disegno. Der
Zeichner im Bild der Frühen Neuzeit, ed. by Hein-Thomas Schulze Altcappenberg/
Michael Thimann/Kupferstichkabinett – Staatliche Museen zu Berlin, München
2007.
13 Anton Francesco Doni: Disegno, Venice 1549, cited after Martin Warnke: Der Kopf
in der Hand, in: id.: Nah und Fern zum Bilde. Beiträge zur Kunst und Kunsttheorie,
Köln 1997, pp. 108–120, p. 113. Concerning the “thinking hand” formula see Horst
243
  THE MIND AND THE EYE IN THE HAND

Fig. 6  Arent de Gelder: Portrait of Herman Boerhaave with his Family, signed,
about 1722, oil on canvas, 104,5 × 173 cm, Amsterdam, Rijksmuseum.

considered to have “his brain in his hands.” Also Michelangelo’s lapidary state-
ment is to be understood in this context as a critical comment on insufficient
disegno: “[the artist] should paint with the mind not with the hand.”14 The Flemish
humanist Lampsonius from Bruges formulated a northern answer to this: “The
Italian has brains in his head […] the Netherlander has wit in his hand.”15
Van Hoogstraten’s description of van Goyen’s painting also applies to the
landscape depicted within Arent de Gelder’s family portrait of Herman Boerhaa-
ve with his wife and daughter from around 1722, today in Amsterdam (Fig. 6).16
It is reminiscent of landscapes by Rembrandt and van Goyen (Figs. 7a and 7b)

Bredekamp: Denkende Hände. Überlegungen zur Bildkunst der Naturwissen-


schaften, in: Angela Lammert/Carolin Meister/Jan-Philipp Frühsorge/Andreas
Schalhorn (eds.): Räume der Zeichnung, Nürnberg 2007, pp. 12–24; Juhani Pallas-
maa: The Thinking Hand. Existential and Embodied Wisdom in Architecture, West
Sussex 2009.
14 Warnke: Der Kopf in der Hand (as fn. 13), p. 120.
15 Thijs Weststeijn: Karel van Mander and Francisco Pacheco, in: Anton W. A. Boschloo
(ed.): Aemulatio. Imitation. Emulation and Invention in Netherlandish Art from
1500 to 1800. Essays in honour of Eric Jan Sluijter, Zwolle 2011, pp. 208–223, p. 209.
Lampsonius is cited by Karel van Mander: “Want den Italiaen heeft d’hersens in
zijn hooft/ […] de Nederlander/Heeft in zijn handt vernuft.”
16 See for a detailed description of the painting: Yannis Hadjinicolaou: Malen, Krat-
zen, Modellieren. Arent de Gelders Farbauftrag zwischen Innovation und Tradi-
tion, in: Markus Rath/Jörg Trempler/Iris Wenderholm (eds.): Das haptische Bild,
Berlin 2013, pp. 227–252, pp. 227ff.
244
  Yannis Hadjinicolaou

Fig. 7a  Rembrandt: Stormy Landscape, oil on wood, 52 × 71,5 cm,


Braunschweig, Herzog Anton Ulrich Museum.

Fig. 7b  Jan van Goyen: Riverview with Church at Warmond, about 1644,
oil on wood, 40 × 61 cm, Den Haag, Private Collection.

Fig. 8  Detail from Fig. 6.


245
  THE MIND AND THE EYE IN THE HAND

(according to Roskill, the former adopted the concept of the latter).17 The land-
scape with a city, which appears from a bird’s eye view to the right of Boerhaave’s
wife, derives from a chaos of scratches and colour, developing its own autonomous
force (Fig. 8). This picture emerges out of the partly uncontrolled hand of the
painter.

3.
In van Hoogstraten’s narration it is evident that the thinking dimension of the
form-giving hand is a product of practice. To evoke the intended impression of
chance, it is necessary to achieve a habit in handling the tools.18 In effect, the
pictures appear “automatically” even before it is possible to recognise and under-
stand the “goals” as well as the “ideas” behind the performed actions, similar to
someone playing the lute or riding a bicycle without reflecting upon the action
itself. The so-called “body schema” has been trained to perform the learned
technique, which is therefore performed automatically.19 This practice, however,
is not achieved by neuronal processes alone, but requires a bodily interaction with
the world taking place between the instances of body-action (here in the sense
of handling the brush) and mind. Regarding this “automatic” painting process
and the active force of colour, the Rembrandtists are (rather in a systematic sense)
part of a non-linear tradition that reaches from Titian and Gainsborough all the
way to Courbet and even Pollock.
It is not a coincidence that van Hoogstraten describes the production of
objects by an artist as a searching process in which pictures appear out of cha-
otic, amorphous forms. He advises the young artist, or the art lover – who were
the primary readers of his Inleyding – to first sketch the schematic shapes and
then work them out in detail, thus hunting for forms par excellence.20 Van

17 Mark Roskill: The Languages of Landscape, Philadelphia 1997, p. 78; Ex. cat.: Rem-
brandt’s Landscapes, ed. by Christian Vogelaar/Gregor J. M. Weber, Wilhelmshöhe,
Staatliche Museen Kassel/Stedelijk Museum De Lakenhal, Leiden, Zwolle 2006,
pp. 47–53.
18 Following Marcel Mauss and Pierre Bourdieu, the “bodily memory of habits”
advances into a “habitual memory”; cf. Herman Roodenburg: The Eloquence of the
Body. Perspectives on Gesture in the Dutch Republic, Zwolle 2004, p. 12.
19 Cf. John Michael Krois: Bildkörper und Körperschema, in: id.: Bildkörper und Kör-
perschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, ed. by Horst
Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011 (Actus et Imago 2), pp. 253–271.
20 Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst (as fn. 6), p. 27:
“Overzie in een tronie vry de byzondere leden, ten waer gy alleen met losse streek-
en de holachtige schaduwkens, van oogen, neus, of mond, die zich voornamentlijk
vertoonen, aenweest; doch dat dit niet te vroeg, en buiten haer behoorlijke plaets
geschiede. Deeze manier van in’t gros te schetssen, is by de meeste op een onbed-
wonge wijze in ’t gebruik, maer sommige hebben zich aengewent, met rechte
246
  Yannis Hadjinicolaou

Hoogstraten speaks about the different possibilities of Handeling in drawing as


well as in painting and stresses the importance of the raw sketch, ruwe schets (in
this context we can think of Leonardo’s wall sprinkled with macchie). It is a
permanent process that mediates between an unformed-chaotic and a formed-
specific gestalt. At the same time, despite encouraging young pupils to start with
the fine one, van Hoogstraten advises them instead to choose their own Hande-
ling (in the sense of a fine or rough manner). The Rembrandtists do not follow
the force of the fixed line, which outlines and defines, but prefer instead the
infinite possibilities of the freely flowing, open line or that of the macchia (col-
our stain). Alexander Cozens’s Blot Spot Method from the year 1785 captured by
the statement: “To sketch is to delineate ideas; blotting suggests them,”21 is
implicitly formulated by van Hoogstraten.
As it was seen as a storage space for ideas that were still in the stage of
becoming and could hence be changed at any moment, it is known that the
method of “raw sketching” was very popular among art lovers. For van Hoog-
straten, the ruwe schets is a result of a creative searching for forms. At the same
time, it is unfinished, a fact that again calls to mind the painting contest and the
winner Porcellis.22
Roger de Piles, an admirer of Rembrandt, favoured the fast sketching of
thoughts because it defined freedom and spontaneity. He considered this a sign
of intelligence, revealing again that the Rembrandtists’ schematic, raw habit of
sketching and the process of thought should be taken as a single entity.23 During
this hunt for forms, the motion of the hand interacts with mental processes.

streekjes, de voornaeme gedeeltens in vierkantachtige, langwerpige, en in hoek­


ach­tige formen, doch niet geheel toegehaelt, te begrijpen. Ik lat dit aen de keur des
leerlings: maer wat verder het ruw schetsen belangt, het is de eerste grontvest van
’t wel teykenen.” Cf. Gijsbert M. van de Roemer: Regulating the Arts. Willem
Goeree versus Samuel van Hoogstraten, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek
61 (2011), pp. 184–207, p. 199.
21 Cited after Johannes Stückelberger: Skying. Wolkenmalerei als Übungsfeld einer
autopoetischen Ästhetik nach 1800, in: Friedrich Weltzien (ed.): Von Selbst. Auto-
poetische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006, p. 117. See
further: Werner Busch: Alexander Cozens’ “blot”-Methode. Landschaftserfindung
als Naturwissenschaft, in: Heinke Wunderlich (ed.): Landschaft und Landschaften
im achtzehnten Jahrhundert, Heidelberg 1995, pp. 209–228, esp. p. 209 and p. 220;
Ex. cat.: Turner – Hugo – Moreau: Entdeckung der Abstraktion, ed. by Raphael
Rosenberg/Schirn Kunsthalle Frankfurt, Munich 2007, p. 73. Cf. Dario Gamboni:
“Fabrication of Accidents”: Factura and Chance in Nineteenth-Century Art, in:
RES 36 (1999), pp. 205–225, p. 206.
22 Christopher Atkins: The signature Style of Frans Hals. Painting, Subjectivity and
the Market in Early Modernity, Amsterdam 2012, p. 92ff.
23 Slive: Rembrandt and his Critics (as fn. 5), p. 129. Edgar Wind mentions in another
context how Friedrich Schlegel “Comparing ‘rough drafts of philosophy’ to the
sketches […] proposed to ‘sketch philosophical worlds with a piece of chalk, or char-
247
  THE MIND AND THE EYE IN THE HAND

Ideas can indeed appear while drawing or painting. Balzac expressed this convic-
tion eloquently in his Unknown Masterpiece: “An artist should only think with
the brush in his hand.”24

4.
In the case of Arent de Gelder, this search for potential forms took place through
the principle of chance, the conscious, partly uncontrolled, motion of his hand,
and the radical use of scratches (even more drastically than Rembrandt), which
gradually define objects. This process also occurred when applying colour,
including the modelling function of colour, as de Gelder also used his hands (like
Titian or Rembrandt) when working. The back and forth of the painting action
as a dichotomy between creation and destruction (the scratched colour) is evi-
dent here.
This tension is embodied by the artist’s signature as well as by the partly
scratched garment of the older woman who is blessing a young man (Figs. 9, 10a
and 10b). The principle of scratching becomes a pictorial signature in a meta-
phorical as well as a literal way. Due to this calculated and spontaneous motor
activity of the hand, the painter creates forms that seem to be governed by the
principle of chance. They are characterised by a naturalness that no thoughtful
and diligently applied brushstroke can ever attain. This is mentioned by Rey-
nolds in his twelfth Discourse of 1784 with respect to Rembrandt’s technique:
“Accident in the hands of an Artist who knows how to take the advantage of its
hints, will often produce bold and capricious beauties of handling and facility,
such as he would not have thought of […] Works produced in an accidental man-
ner, will have the same free unrestrained air as the works of nature, whose
particular combinations seem to depend upon accident.”25 The more natural the
result on the painted surface should appear, the more freely and spontaneously
the hand of the artist should act. The freedom of “nature” and the freedom of
picture-making are one and the same because both are process-based. The con-
cept of natura naturans fits together with the principle of chance as well as the
concept of generating images.26

acterize the physiognomy of a thought with a few strokes of the pen.’” Edgar Wind:
Art and Anarchy, Chicago ³1985, p. 39.
24 Honoré de Balzac: Das unbekannte Meisterwerk, in: Georges Didi-Huberman: Die
leibhaftige Malerei, München 2002, p. 160 (trans. by the author).
25 Sir Joshua Reynolds: Discourses on Art, ed. by Robert R. Wark, New Haven/Lon-
don 1997, p. 223. Cf. Ernst van de Wetering: Das Verhältnis von Stil, Technik und
Zufall bei Arent de Gelder, in: Ex. cat.: Arent de Gelder [1645–1727] (as fn. 4),
pp. 18–35, p. 35.
26 Cf. Pamela H. Smith: The Body of the Artisan. Art and Experience in the Scien-
tific Revolution, Chicago 2004, p. 54.
248
  Yannis Hadjinicolaou

Fig. 9  Arent de Gelder: Edna blesses Tobias and Sarah, signed, about 1700,
oil on canvas, 87,5 × 111 cm, Instituut Collectie Nederland.
Figs. 10a and 10b  Details from Fig. 9.
249
  THE MIND AND THE EYE IN THE HAND

Fig. 11  Detail from Fig. 9.

De Gelder’s art-making is of both a bodily and a performative nature –


like van Goyen’s thinking hand – and acts in opposition to every kind of Neo-
platonic art form. Already in the 19th century, John Smith described Rembrandt’s
etchings, as if he had been following van Hoogstraten’s narration, as “a confu-
sion of lines […] crossing each other in all directions; out of this seeming chaos,
his ready invention conceived, and his dexterous hand embodied, the subject […]
came to perfection.”27 This type of “perfection” is, according to Smith, connected
with an embodied hand that works with chance, although accident can never
achieve perfection. But exactly therein lies its beauty: in the emergent aspect of
form.28
In relation to the painting process, de Gelder’s Edna blesses Tobias and
Sara can again serve as an example, especially when observing the rendering of
the elderly man’s beard (Raguel who acts like a Joseph figure) in the background

27 Jeroen Boomgaard/Robert W. Scheller: Empfindliches Gleichgewicht. Die Würdi-


gung Rembrandts in Überblick, in: Ex. cat.: Rembrandt. Der Meister und seine
Werkstatt. Gemälde, ed. by Christopher Brown/Jan Kelch/Pieter van Thiel/Staat-
liche Museen zu Berlin, London/Berlin/Amsterdam 1991, pp. 106–123, p. 114.
28 Cf. Philip Sohm: Pittoresco. Marco Boschini, his Critics, and their Critiques of
Painterly Brushwork in Seventeenth and Eighteenth Century Italy, Cambridge
1991, p. 247.
250
  Yannis Hadjinicolaou

Fig. 12  Detail from Fig. 9.

that is not filled in with colour (Fig. 11).29 The surface onto which the colour
should have been applied is only laid out schematically. It is constituted by the
grey priming paint and thus by the ground of the picture itself, which actively
embodies the facial characteristics and hence also the beard. Parts below the
beard are also scratched away (visible in the rough edges) with the palette knife,
lending them a sculptural quality. Some parts are filled in with colour (the
cheeks) and simultaneously function as shadows because the man is formally, as
well as on a semantic level, in the shadow of the act of blessing. His ear also only
has a schematic form (Fig. 12). It appears out of the ground and is formed as a
shadow produced by a brownish stain of colour. Painted body and canvas, in this
case, are one and the same, they constitute each other. In regard to this, we can
recall Houbraken’s remark concerning the principle of non finito, according to
which the painter (in this case Rembrandt), as soon as his desired goals were ful-
filled, could consider his work finished.30 This is also the function of de Gelder’s
signature on the upper left side of the older man. Brown colour is running down
between the ground and ear, thus forming the border between these elements.
At the same time, colour is the potential agent that fills the beard, and in a fluid

29 See for the interpretation of the painting: Joachim Wolfgang von Moltke: Arent de
Gelder. Dordrecht 1645–1727, Dornspijk 1994, p. 82; Ex. cat.: Arent de Gelder (1645–
1727) (as fn. 4), p. 224.
30 Arnold Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en
schilderessen, vol. 1, Amsterdam ²1759, p. 259.
251
  THE MIND AND THE EYE IN THE HAND

state it can determine its form. Colour is also responsible for the action inside the
painting. Edna is shown while giving her blessing to Tobias. Both women are
painted in a more radical way than the men and at the same time have an abstract
quality. The applied as well as scratched colour on their garments brings forth
the action in the painting. As Louis Althusser wrote in his late essay on the
“Underground Current of the Materialism of the Encounter”: “Thinking doesn’t
move here with the necessity of an accomplished fact, but in the contingency of
a still to be accomplished fact.”31 This idea fits well with the enactive artistic prac-
tice of Arent de Gelder.
In a similar vein, Baldassare Castiglione described the principle of the
thinking hand in the sense of Handeling and its appropriation through the art-
ist. This corresponds with his concept of sprezzatura, which also played an
important role for the Dutch bourgeois culture (thinking of Jan Six or Constan-
tijn Huygens, who eagerly read Il Cortegiano): “the hand, without being guided
by an assiduous diligence or any other kind of art, seems to act towards the inten-
tions of a painter through its self.” 32 As Philip Sohm remarks, the process-based
quality of a picture and the application of paint were conceived by the Venetian
Marco Boschini as a thought process without a prefixed idea: “an artist doesn’t
need to preconceive what the hand will execute but instead can conceive simul-
taneously as he executes.”33 This “pre-reflective self-consciousness” concerning
the idea of a thinking hand as the enactivist Evan Thompson would argue, is of
central importance for the Rembrandtists.34

31 Louis Althusser: Der Unterstrom des Materialismus der Begegnung, in: id.: Mate-
rialismus der Begegnung, ed. by Marcus Coelen/Felix Ensslin, Zürich 2010, pp. 21–
68, p. 27 (trans. by the author).
32 Cited after Peter Burke: The Fortunes of the Courtier. The European Reception of
Castiglione’s Cortegiano, University Park, PA 1996, p. 153; cf. Valeska von Rosen:
Celare Artem. Die Ästhetisierung eines rhetorischen Topos in der Malerei mit
sichtbarer Pinselschrift, in: Ulrich Pfisterer/Max Seidel (eds.): Visuelle Topoi.
Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance,
München 2003, pp. 323–350, p. 348, fn. 86; Roodenburg: The Eloquence of the
Body (as fn. 18); Maria Isabel Pousão-Smith: Sprezzatura, Nettigheid and the Fal-
lacy of Invisible Brushwork in Seventeenth Century Dutch Painting, in: Jan de
Jongh (ed.): Virtus. Virtuositeit en kunstliefhebbers in de Nederlanden. 1500–
1700, Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 54 (2004), pp. 259–279.
33 Sohm: Pittoresco (as fn. 28), p. 247.
34 Evan Thompson: Mind in Life. Biology, Phenomenology and the Sciences of Mind,
Harvard, MA 2010, pp. 249ff.
252
  Yannis Hadjinicolaou

Fig. 13  Roemer Visscher:


Sinne­poppen, vol. 2, p. 8.

5.
In 1614 the motif of a hand in which an eye is implanted (like van Hoogstraten’s
description of van Goyen’s painting) appeared in the Netherlands in Roemer
Visscher’s Sinnepoppen as an emblem (Fig. 13).35 Here, a hand with an eye fixed
in its middle looks towards the beholder, embraced by a laurel wreath. The words
“Dapper gaat voor” (courage comes first) decorate the composition, and are also
combined with a reminder to let go when it is best. This directive seems to be
intuitive in a certain sense and it certainly also has to do with morality and the
educated reading audience addressed by Visscher’s book. A further interpreta-
tion of the emblem was delivered by Celeste Brusati, who coined in this context

35 Georg Braungart: Die tastende Hand, die formende Hand. Physiologie und Ästhe-
tik bei Johann Gottfried Herder, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für His-
torische Anthropologie 1 (2005), pp. 29–39, p. 31; Arthur Henkel/Albrecht Schöne:
Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stutt-
gart 1967, pp. 1010f. Visscher continues a tradition, that can already be found in
Andrea Alciatus: Emblemata, Lyon 1551.
253
  THE MIND AND THE EYE IN THE HAND

the term self-ennoblement.36 Intuition seems to be the common point between


the thinking hand and Visscher’s emblem, which goes together with practice (in
the sense of Habitus) or hard work.37 According to Visscher, the noble origin of
a person is important to a certain degree, as long as it is accompanied by a cor-
responding measure of diligence. This namely constitutes the true nobility of a
person and correlates with Visscher’s protestant ethics. Following this notion,
the working artist must be understood, as in de Gelder’s self-portrait, as some-
one who despite his higher social origin as well as his financial independence
(also in contrast to a common artist) acts as a painter or rather a craftsman who
works, handles, and consequently thinks with his hands (Fig. 1).
The idea of a seeing, intuitive hand is also mentioned by Roger de Piles
in association with the blind sculptor Gonneli, introducing a motive that was
later used in Diderot’s “Letter on the Blind”: “I can’t see anything […] my eyes
are on my fingertips.”38 Here a connection can be drawn between the intuition
of the blind artist and van Hoogstraten’s account of van Goyen’s and Visscher’s
emblems. All three are united by their understanding of practice as a process
that involves the entire body. The hand is not blind, at least not for the Rem-
brandtists.39 The idealistic art theory that disdained the body had to deal with
the topos of the blind, so that it could potentially accept the thinking or seeing
hand. Examples of artists such as Gerard de Lairesse or Giovanni Paolo Lomazzo
are characteristic. After their blindness, they immediately stopped painting and
started writing theory, because they could or did no longer want to deal with the
actual practice of painting. De Lairesse even believed that the body had a second-
ary function because everything in the art of painting, according to him, was
mathematically or geometrically calculable. A similar opinion was held by the

36 Celeste Brusati: Artifice and Illusion. The Art and Writing of Samuel van Hoog-
straten, Chicago 1995, p. 149.
37 Brusati: Artifice and Illusion (as fn. 36), p. 149. Cf. Wolfram Hogrebe: Echo des
Nichtwissens, Berlin 2006.
38 Hans Joachim Dethlefs: Der Wohlstand der Kunst: ökonomische, sozialethische
und eudämonistische Sinnperspektiven im frühneuzeitlichen Umgang mit dem
Schönen, Tokyo 2010, p. 314. Cf. Peter Hecht: The Paragone Debate. Ten Illustra-
tions and a Comment, in: Simiolus 14 1984, pp. 125–136, p. 131: “De Piles obvi-
ously drawing on Baldinucci for the bare bones of the story, asserts, that he has
seen a portrait of Gonnelli in Paris in which the poor prodigy was portrayed with
an eye on each fingertip […] to indicate that his original eyes were no longer of
service to him.” See also Hans Körner: Giovanni Gonnelli. Quellen und Fragen
zum Werk eines blinden Bildhauers, in: Das haptische Bild (as fn. 16), pp. 135–157,
p. 144.
39 Cf. Gottfried Boehm: Das bildnerische Kontinuum. Gattung und Bild in der Moder-
ne, in: Wie Bilder Sinn erzeugen, Berlin 2007, p. 157.
254
  Yannis Hadjinicolaou

contemporary of de Lairesse, Willem Goeree, who argued against every Dutch-


man whose artistic practice did not lie in the head but in the fingertips.40
Against these opinions and due to his apprenticeship in Rembrandt’s
workshop, van Hoogstraten even mentions the importance of hand and mind
even though he was actually quite critical of his former teacher.41 Van Hoog-
straten’s notion is in line with the tradition of Leonardo, who was an important
reference for the Dutch artist and theoretician, as in his theory42 mind and hand
actually collaborate with each other. In van Hoogstraten’s consciously idealisti-
cally-inspired model, there are at the same time rudiments, in which he under-
stands the hand as being the mind’s faithful servant, thus limiting the hand’s
freedom.43 Van Hoogstraten accepts that despite some resulting mistakes, an
opinion he finds supported by Dürer, a certain freedom of the hand could be
fruitful for the learning pupil.44 According to him, the eye should act as a com-
pass, like a bodily navigation system, which reminds us of the rhymed dialogue
by Marco Boschini, Carta del navigar pittoresco, published in 1660.45
Boschini is also the one who in a more radical way than van Hoogstraten,
emphasised the special role of the eye in comparison to the intellect: “The eye
should be the true guide to persuade the intellect; sight, not reason convinces the
intellect.”46 In this case, van Hoogstraten is not consequent enough with respect
to the relationship between eye, hand, and mind. A great part of his book moves
between an unconscious practice inspired by Rembrandt and conscious idealism,
so that often contradictory statements are made. Arnold Houbraken is one of the
first who observed this discrepancy. In his teacher’s biography, he mentions how

40 Van de Roemer: Regulating the Arts (as fn. 20), p. 195. This is a Cartesian idea
adopted by dutch academic art theory.
41 Ibid.
42 Martin Warnke: Der Kopf in der Hand (as fn. 13), p. 112.
43 Ernst van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, in:
id. (ed.): A Corpus of Rembrandt Paintings, vol. V: The Small-Scale History Paint-
ings, Dordrecht 2010, pp. 3–140, p. 119: “So it is now necessary that one should get
used to a way of doing such that it [the Hand] is able to obey readily what the mind
dictates.”
44 Ibid., p. 48; Dürer described the role of the hand in relationship to intellect in the
following way: “Dann der Verstand muß mit dem Gebrauch anfahen zu wachsen,
also daß die Hand künn thon, was der Will im Verstand haben will.” Cited after
Monika Wagner: Geliehene Hände. Antony Gormleys Field, in: Philippe Cordez/
Matthias Krüger (eds.): Werkzeuge und Instrumente, Berlin 2012, pp. 185–198,
fn. 32, p. 197.
45 Brusati: Artifice and Illusion (as fn. 36), p. 225.
46 Sohm: Pittoresco (as fn. 28), p. 116.
255
  THE MIND AND THE EYE IN THE HAND

van Hoogstraten used pure colour without mixing it and that he painted in his
late work in a manner he had criticised earlier in his book.47
This intuitive cautiousness is connected to the vigour of craftsmanship, which
again is characteristic for the Handeling (as an action in the sense of a bodily
articulation) of the thinking hand.48 This was coined by van Hoogstraten’s narra-
tion and characterises the artistic practice of de Gelder. In other words: the think-
ing hand is most of all a working, acting hand which through its own making
gradually acquires its own intelligence, like an organism in space in its bodily
interaction with the world. In the sense of Visscher, this hand is noble through the
intuitive work it executes: The thinking hand as an act. Handeling is the main
agent of the painter as part of his thinking body. As a tool and at the same time
trace or even extension of the artist’s body, it simultaneously involves distance-
making and critical reflection.49
In his famous essay, Henri Focillon also identified this function of the
hand, which may here act as a motto: “The Hand means action: it grasps, it cre-
ates, at times it would seem even to think […]. Knowledge of the worl demands
a kind of tactile flair.”50 The formation of intellect through the practical operation
of the hand’s motoric skills can be understood as a gradually acquired whole
bodily process that includes all the senses and is perceived by the beholder inter-
sensorial. Boschini privileged the paintings of Titian because they included the
sensations of smell, taste, and touch.51 The paintings by the Rembrandtists are
to be understood in a similar way.
Van Hoogstraten underlines an aspect of the painting practice which is
also of central importance for de Gelder: “Painting is constituted through what
one does and not from what one says.”52 All theoreticians who weren’t them-

47 Arnold Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en


schilderessen (as fn. 30), vol. 2, pp. 158f. Cf. Kern: Samuel van Hoogstraeten and
the Cartesian Rainbow Debate (as fn. 3), p. 113; This fact is also observed by Hen-
drik J. Horn: Arnold Houbraken’s References to Samuel van Hoogstraten and his
“Introduction to the Academy of Painting,” in: Thijs Weststeijn (ed.): The Univer-
sal Art of Samuel van Hoogstraten (1627–1678). Painter, Writer, and Courtier,
Amsterdam 2013, pp. 241–258.
48 Ex. cat.: Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit, ed. by Rebekka
von Malinckrodt, Wiesbaden 2008, p. 65; Henkel/Schöne: Emblemata (as fn. 35),
Sp. 1011; Braungart: Die tastende Hand, die formende Hand (as fn. 35), p. 31.
49 Cf. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache
und Kunst, Frankfurt/M. 1988, pp. 305ff. (French: Le geste et la parole, vol. 1:
Technique et langage, Paris 1964).
50 Henri Focillon: The Life of Forms in Art, New York 1989, p. 158, p. 162. (French:
Vie des formes, Paris 1934).
51 Jodi Cranston: The Muddied Mirror. Materiality and Figuration in Titian’s Later
Paintings, University Park, PA 2010, p. 16.
52 “Zeeker de Schilderkonst bestaet in wel te doen, en niet in wel te zeggen.” Van
Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst (as fn. 6), p. 22.
selves familiar with artistic practice were suspect to van Hoogstraten, as well as
to Annibale Carracci.53 This plea for practice and the search of forms for the
gestaltung of images is connected to the principle of the thinking hand.

53 Cf. Roberto Zapperi: Annibale Carracci. Bildnis eines jungen Künstlers, Berlin
1990; Paul Taylor: Flatness in Dutch Art. Theory and Practice, in: Oud Holland 121
(2008), pp. 153–184, p. 161; Weststeijn (ed.): The Universal Art of Samuel van Hoog-
straten (as fn. 47), p. 23.
Bildnachweise

Out for a Walk


Bild 1: Oxford, Bodleian Library, Special Collections, Edgar Wind Papers. Bild 2: Marco
Polo: Il Milione. Die Wunder der Welt. Übersetzung aus altfranzösischen und lateinischen
Quellen und Nachwort von Elise Guignard, Zürich 2008, S. 288f. Bild 3: Marco Polo: Das
Buch der Wunder. Aus: Le Livre du Monde [1404–1419], Ms. fr. 2810 der Bibliothèque
Nationale de France, Paris, München 1999, S. 129.

Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens


Bild 1: Wolfram Hogrebe: Frege als Hermeneut, in: Bonner Philosophische Vorträge und
Studien 16, hg. v. Wolfram Hogrebe, Bonn 2001, S. 3.

Energies of Objects
Fig. 1: Wolfgang Eller: Giorgione. Werkverzeichnis. Rätsel und Lösung, Petersberg 2007,
p. 119. Fig. 2: Irene Bisang/Karin Tschumper/Claudia Wang (eds.): La joie de vivre. Die nie
gesehenen Meisterwerke der Barnes Collection, München 1993, p. 94. Fig. 3: Ex. cat.: Hans
Hofmann, ed. by Cynthia Goodman, Whitney Museum of American Art, New York 1990,
p. 93. Fig. 4: Ellen G. Landau: Jackson Pollock, New York 1989, pp. 201f.

Embodied (Micro-)Skills in Tango Improvisation


Fig. 1: Michael Kimmel/Christine Irran.

„Experience comes whole“. Zum Rhythmus der Kunsterfahrung


Bild 1: Daniel Stern: Forms of Vitality. Exploring Dynamic Experience in Psychology, the
Arts, Psychotherapy, and Development, Oxford 2010, S. 8.

Paläolitische Steinartefakte
Bild 1: Sammlung der Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie, Eberhard Karls
Universität Tübingen. Bild 2: Harald Floss (Hg.): Steinartefakte – vom Altpaläolithikum bis
in die Neuzeit, Tübingen 2012, S. 118ff. Bild 3: Fotoarchiv der Abteilung Ältere Urge-
schichte und Quartärökologie, Eberhard Karls Universität Tübingen. Bild 4: Grafik Harald
Floss, Umsetzung Christian Hoyer. Bild 5: Fotoarchiv der Abteilung Ältere Urgeschichte
und Quartärökologie der Eberhard Karls Universität Tübingen. Bild 6: Grafik Harald Floss,
Umsetzung Christian Hoyer. Bild 7: Zusammenstellung Recha Seitz, graphische Umset-
zung Christian Hoyer.
258
  Bildnachweise

Der Faustkeil und die Ikonische Differenz


Bild 1: Ernst Guhl/Joseph Caspar (Hg.): Denkmäler der Kunst, Bd. 1: Denkmäler der alten
Kunst, Stuttgart 1851, Taf.1. Bild 2: Fiorenzo Facchini: Die Ursprünge der Menschheit,
Stuttgart 2006, S. 142, Abb. 10. Bild 3: Michel Lorblanchet: La naissance de l‘art. Genèse de
l‘art préhistorique dans le monde, Paris 1999, S. 141. Bild 4: Ausst. Kat.: 2006: 600.000 Jahre
Menschheitsgeschichte in der Mitte Europas, hg. v. Olaf Jöris, Museum für Archäologie der
Eiszeit, Schloss Monrepos, Neuwied, Regensburg 2007, S. 25. Bild 5: Lorblanchet: La nais-
sance de l‘art, S. 92, Nr. 2. Bild 6–9: Gilles Serge Odin/Jacques Pelegrin/Didier Néraudeau:
Un fossile d‘oursin préservé sur un nucléus paléolithique (site de plein air de Tercis, Landes,
France), in: Paléontologie humaine et préhistoire (Archéologie préhistorique)/Human
Palaeontology and Prehistory, Comptes Rendus Palevol 5/5 (2006), S. 743–748, Abb. 1–2,
unter: doi: 10.1016/j.crpv.2006.01.004 (10.04.2015). Bild 10: Lorblanchet: La naissance de
l‘art, S. 82. Bild 11: Natural History Museum, London. Bild 12: Kenneth Oakley: Decorative
and Symbolic Uses of Fossils, Oxford 1985, Taf. 4. Bild 13: Natural History Museum, Lon-
don. Bild 14: Museum of Archaeology and Anthropology, Cambridge. Bild 15: John Feliks:
The Impact of Fossils on the Development of Visual Representation, in: Rock Art Research
15 (1998), S. 109–134, S. 115, Abb. 2. Bild 16–20: Museum of Archaeology and Anthro-
pology, Cambridge.

Übergänge. Bewegung – Geste – Zeichen


Bild 1a–c: Carlos Kleiber – I Am Lost to the World (2011, Georg Wübbolt,
Major Entertainment). Bild 2: Georg Schünemann: Geschichte des Dirigierens, Leipzig
1913, S. 147. Bild 3a–c: Videostills, Privatbesitz des Autors. Bild 4a–c: Richard Wagner:
Tristan und Isolde, Klavierauszug nach dem Text der Richard-Wagner-Gesmtausgabe, hg.
v. Egon Voss, Mainz 2013, S. 1–3. Bild 5a-e: Videostills, Privatbesitz des Autors.

Die Möglichkeit der Geste


Bild 1: Oskar Pastior: „sestinenformulate“. monadengraphiken und minisestinen, Paris 2003
(La Bibliothèque Oulipienne numéro 126), S. 22.

Vorsicht! Amor schießt auf den Betrachter


Bild 1: Ausst. Kat.: Il Guercino. Giovanni Franceso Barbieri. 1591–1666, hg. v. Denis Mahon/
Andrea Emiliani, Museo Civico Archeologico, Bologna/Pinacoteca Civica Chiesa, Cento,
Bologna 1991, S. 213. Bild 2: Ingo Walther (Hg.): Malerei der Welt, Köln 1995, S. 183. Bild 3:
Ausst. Kat.: Il Guercino, S. 183. Bild 4: Philippe Morel/Daniel Arasse/Mario D’Onofrio (Hg.):
L‘art italien. De la Renaissance à 1905, Bd. 2, Paris 1998, S. 616. Bild 5: Prometheus Bild-
archiv, http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/amsterdam_rijksmuseum-4-
e4b1f2651e4f0e1e22a71d93b25b7386f093b5bDokument1 (27.06.2015). Bild 6: Janet Cox-
Rearick: The Drawings of Pontormo. A Catalogue raisonné with Notes on Painting, Bd. 2,
New York 1981, Abb. 241. Bild 7: Valeska von Rosen: Caravaggio und die Grenzen des Dar-
stellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600. Berlin 2009,
Farbt. III. Bild 8: Patrons‘ Permanent Fund, National Gallery of Art, Washington D.C. Bild 9:
Prometheus Bildarchiv, http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/bern-45f10
e82b2ba6435891722e4a484864726c1fb59 (24.06.2015).

Das fordernde Bild


Bild 1: Suzanne Karr Schmidt/Kimberly Nichols (Hg.): Altered and Adorned. Using Renais-
sance Prints in Daily Life, New Haven/London 2011, S. 55. Bild 2: Art Institute Chicago,
Inv. 1949.203. Bild 3–6: British Museum, London. Bild 7: Pieter Biesboer/Martina Brunner-
Bulst/Henry D. Gregory (Hg.): Pieter Claesz. Stilleben, Stuttgart 2004, S. 47.
259
  Bildnachweise

Meta/Physik der Skizze


Bild 1, 4: London, British Museum. Bild 2: Ausst. Kat.: Giovanni Francesco Barbieri. Il
Guercino 1591–1666, hg. v. Denis Mahon, Bologna 1991, S. 85, Kat.-Nr. 27. Bild 3: New
York, The Metropolitan Museum of Art.

The Mind and the Eye in the Hand


Fig. 1: Ex. cat.: Arent de Gelder. Rembrandts Meisterschüler und Nachfolger, Dordrechts
Museum 1998, p. 175. Figs. 2–4b: Photograph by Y.H. Fig. 5: Heinrich Wölfflin: Kunst-
geschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst,
Munich 1915, p. 1. Fig. 6: Photograph by Y.H. Fig 7a: Ex. cat.: Rembrandt’s Landscapes, ed.
by Christiaan Vogelaar/Gregor J.M. Weber, Zwolle 2006, p. 48. Fig. 7b: Ernst van de Weter-
ing: Rembrandt. The Painter at Work, Berkeley/Los Angeles/London ²2004, p. 116. Fig. 8:
Photograph by Y.H. Fig. 9: Ex. cat.: Arent de Gelder. Rembrandts Meisterschüler und Nach-
folger, Dordrechts Museum 1998, pp. 225f. Figs. 10a–12: Photograph by Y.H. Fig. 13: Arthur
Henkel/Albrecht Schöne: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahr­
hunderts, Stuttgart 1967, Sp. 1010f.
Actus
et I mago

Berliner Schriften für Bildaktforschung


und Verkörperungsphilosophie

Herausgegeben von Horst Bredekamp und Jürgen Trabant

Bilder sind keine Abbilder, sondern erzeugen im Bildakt, was sie darstellen. Sie
verfügen über eine handlungsstiftende Kraft und wirken selbst lebendig. Bild-
kompetenz lässt sich keineswegs ausschließlich aus der traditionell überbewer-
teten Visualität des Menschen ableiten: Menschen reagieren auch deshalb auf
Bilder, weil ihr unbewusstes neurologisches Körperschema, das aus der Integra-
tion taktiler, propriozeptiver, vestibulärer, visueller und akustischer Informa­
tio­nen entsteht, durch Bildschemata affiziert wird. Diese neuere Erkenntnis der
Kognitionswissenschaften entspricht älteren Vorgaben der Verkörperungsphi-
losophie, die eine genuine Tradition im europäischen Sprachraum hat.
In den Studien der Reihe „Actus et Imago“ wird eine Bild- und Verkörpe­
rungstheorie entwickelt, die in der Lage ist, Bildproduktion, Bildverstehen und
Bildakte zu erklären. Im Ausgang vom belebten Leib leisten sie einen Beitrag
zum Verständnis des menschlichen Reflexionsvermögens, das sich in ikoni­schen
wie sprachlichen Formen und Interaktionen verkörpert.
In der Reihe sind bereits erschienen:

Band 1 Sehen und Handeln


hrsg. von Horst Bredekamp und John M. Krois
ISBN 978-3-05-005090-4

Band II John Michael Krois. Bildkörper und Körperschema


hrsg. von Horst Bredekamp und Marion Lauschke
ISBN 978-3-05-005208-3

B a n d I I I Thomas Gilbhard
Vicos Denkbild. Studien zur „Dipintura“ der „Scienza Nuova“
und der Lehre vom Ingenium
ISBN 978-3-05-005209-0

B a n d I V Stefan Trinks
Antike und Avantgarde. Skulptur am Jakobsweg
im 11. Jahrhundert: Jaca – León – Santiago
ISBN 978-3-05-005695-1

Band V Das bildnerische Denken: Charles S. Peirce


hrsg. von Franz Engel, Moritz Queisner und Tullio Viola
ISBN 978-3-05-005696-8

B a n d V I Verkörperungen
hrsg. von André L. Blum, John M. Krois und
Hans-Jörg Rheinberger
ISBN 978-3-05-005699-9

B a n d V I I Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit


hrsg. von Markus Rath, Jörg Trempler und Iris Wenderholm
ISBN 978-3-05-005765-1
Band VIII John Bender und Michael Marrinan
Kultur des Diagramms
übers. von Veit Friemert
978-3-05-005765-1

Band IX Bodies in Action and Symbolic Forms. Zwei Seiten


der Verkörperungstheorie
hrsg. von Horst Bredekamp, Marion Lauschke und
Alex Arteaga
ISBN 978-3-05-006140-5

Band X Ulrike Feist


Sonne, Mond und Venus. Visualisierungen astronomischen
Wissens im frühneuzeitlichen Rom
ISBN 978-3-05-006365-2

Band XI Paragone als Mitstreit


hrsg. von Joris van Gastel, Yannis Hadjinicolaou und
Markus Rath
ISBN 978-3-05-006425-3

Band XII Bildakt at the Warburg Institute


hrsg. von Sabine Marienberg und Jürgen Trabant
ISBN 978-3-11-036463-7

B a n d X I I I Robert Felfe
Naturform und bildnerische Prozesse. Elemente einer
Wissensgeschichte in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts
ISBN 978-3-11-036455-2

B a n d X I V Carolin Behrmann
Tyrann und Märtyrer. Bild und Ideengeschichte
des Rechts um 1600
ISBN 978-3-11-036350-0

B a n d X V I I Andreas Plackinger
Violenza. Gewalt als Denkfigur im
michelangelesken Kunstdiskurs
ISBN 978-3-11-040346-6

Das könnte Ihnen auch gefallen